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German Pages 250 Year 2014
Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen (Hg.) Interieur und Bildtapete
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe, Band 2 Herausgegeben von Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen
Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik Universität Bremen Institut für Kunstwissenschaft Kunstpädagogik
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Redaktion und Lektorat: Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen Korrektorat: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN: 978-3-8376-2418-2
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Katharina Eck Astrid Silvia Schönhagen (Hg.)
Interieur u
n
d
Bildtapete Narrative des Wohnens um 1800
wohnen +/− ausstellen
Inhalt
Geleitwort
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Irene Nierhaus und Kathrin Heinz Einleitung
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I m ag i n a t i o n s r ä u m e d e s ( b ü rg e r l i c h e n) S e l b s t Möglichkeiten und Herausforderungen kulturwissenschaftlicher Analysen des Wohnens in BildtapetenInterieurs im frühen 19. Jahrhundert Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen
Subjektformierungen im Wohnraum um 1800 D a s Z i m m e r d e r A l b e r t i n e vo n G r ü n
69
Die Interieurbeschreibung als Zeitkritik Tobias Pfeifer-Helke I n n e r l i c h ke i t u n d Na t u r i n Wa l t e r B e n j a m i n s
87
T h e o ri e d e s I n t e ri e u r s Cornelia Klinger
Ferne Welten an der Wand D e r ‚W i l d e‘ i m Wo h n z i m m e r
111
Überlegungen zur Vermarktung und Rezeption von Panoramatapeten am Beispiel von Les sauvages de la mer pacifique Astrid Arnold Ra u m , Ku l i s s e u n d sy n ä s t h e t i s c h e I m p u l s e
133
Zur Rezeption original chinesischer Bildtapeten in Europa Friederike Wappenschmidt D i e B o n a p a r t i s t - Ut o p i a - B i l d t a p e t e Zur Verschränkung von Alltagsgeschichte, Literatur und französischer (Kolonial-)Politik in Alabama und Texas Betje Black Klier
151
Dekor- und Objektgeschichten des Wohnens O b j e k t wa h l – e i n e A r t vo n Ä s t h e t i k
181
Über ästhetische Wahl und Identitätsbildung Claudia Sedlarz A r a b e s k g ro t e s ke ‚ Z i m m e r ve r z i e r u n g ‘ i n d e r
201
Ra u m ä s t h e t i k d e s I n t e ri e u r s u m 1 8 0 0 Angela Borchert Wa s m a c h t d a s T i e r i m I n t e ri e u r ?
221
Gemälde exotischer Tiere als naturhistorische Objekte und als Mittel der Distinktion am Hof von Schwerin Silke Förschler
Autorinnen und Autoren
243
Abbildungsnachweise
249
Irene Nierhaus, Kathrin Heinz
Geleitwort Die Tapete, die im heutigen Wohnen scheinbar nebensächlich daherkommt, ist Ort der Verhandlungen von Wohnvorstellungen. So markiert beispielsweise die Raufasertapete, die noch immer als die deutsche Wohnoberfläche gilt, in all ihrer Unscheinbarkeit dennoch Erzählrichtungen und Ideologeme des Wohnens. Ihrem Oberflächenrelief wird eine ‚lebendige‘, anheimelnde Wirkung zugeschrieben, die den Gegensatz zur ‚Kühle‘ und ‚Distanz‘ der glatt verputzten, flachen Wand der klassischen Avantgarden betont. In der Raufasertapete wuchern die Fasern, die vom sauberen Weiß, abgetönt ins milde Eierschalenfarbene, an der Wand gehalten und versiegelt werden. Hingegen öffnen die tollkühneren Versionen mit großblumigen Blumenbouquets oder mit musterund farbexzessiven Ornament-Rapporten eine Raumpassage, die etwas Vexierbildartiges hat – was und wer schaut da auf die Bewohnerinnen und Bewohner? Ein Maximum der psychischen Sogwirkung der Tapete beschreibt Charlotte Perkins Gilman: „Natürlich erwähne ich die Tapete den anderen gegenüber nicht mehr – ich bin ja nicht dumm –, aber ich beobachte sie deshalb nicht weniger aufmerksam. Es gibt Dinge in dieser Tapete, um die nur ich weiß und die kein anderer jemals erfahren wird“ (Die gelbe Tapete, 1913). Die Tapete ist hier Imaginationspassage. Darum geht es auch in diesem Band: Welches Anschauen und welche Anschauung lokalisiert sich in Tapeten? Die in dieser Publikation verhandelte Bildtapete hat ihre Nachfahren unter anderem in den wandfüllenden Fototapeten der 1970er Jahre, oft mit exotisierenden Landschaften, in denen auch künstlerische Interventionen stattgefunden haben. So zeigt uns die amerikanische Künstlerin Martha Rosler in ihrer Serie House Beautiful. Bringing the War Home (1967–72) Einsichten in Interieurs aus der Zeitschrift Schöner Wohnen, in die Szenen aus dem Vietnamkrieg einmontiert wurden. An die Stelle der dekorierten Wohnoberfläche traten somit Bilder von Verwüstungen und Toten. Und wieder zeigt sich, dass die Wand des Wohnens eine hochsensible, gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch markierte Fläche ist.
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Geleitwort
Um einen historisch zentralen Ausschnitt aus der Geschichte dieser Fläche geht es in dem vorliegenden Sammelband, der für die Bildtapetenforschung neue Impulse setzt. Das Konzept von Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen, die Tapete in einen kulturwissenschaftlichen und repräsentationskritischen Zusammenhang zu stellen, aktiviert die (inter-)disziplinären Fähigkeiten der Kunstwissenschaft in der Befragung von Bedeutungsproduktionen – seien es Anschlüsse an die Ikonologie, Semiologie, Rezeptionsästhetik und Geschlechterforschung oder postkoloniale Bezugnahmen. Die Verortung des Gegenstands Bildtapete an der Schnittstelle Subjekt/Interieur/Szenerie ermöglicht auch weiterführende Perspektiven im Hinblick auf Raumanordnungen und Subjektbildungen in der Moderne insgesamt. Thema und konzeptiver Zugang dieses zweiten Bandes der Schriftenreihe wohnen +/− ausstellen sind im gleichnamigen Forschungsfeld situiert, das als Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender als Langzeitforschungsschwerpunkt besteht. Das Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen zielt darauf, die mehrheitlich objekt- und meisterorientierte deutschsprachige Wohnforschung in eine aus den Diskursen um Wohnen, Privatheit, Subjekt oder Geschlecht geleitete Forschung zu verwickeln. Denn Wohnen – jener vermeintliche Ort des Privaten – ist in der Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als gesellschaftlicher Schauplatz figuriert, an dem sich die innenorientiert moderne Subjektivität fortwährend ausstellt und ausstellen muss. Im Ausstellen wiederum scheinen Konstellationen sozialer und kultureller Narrative auf, die im Akt des Zeigens Wissen und Vorstellungen produzieren. Wohnen ist also Ort der Äußerung, eingerichtet als weitverzweigtes Beziehungsgefüge, das in und mit den Dingen, Möblagen, Räumlichkeiten in all ihren materialen und medialen Ausstattungen und den darin agierenden Subjekten beziehungsweise Subjektpositionen unablässig kommuniziert. Wohnen ist eine politische, soziale und kulturelle An-Ordnung, ein wörtliches Ein_Richten des Sozialen – hier werden Zuschreibungen an Geschlecht, Ethnie, Körper und Nation erlernt, erprobt und ausgeübt. Wohnen ist eine vorsätzlich gesellschaftliche Formation. Doch das bedeutet keineswegs, dass diese Bedingtheit keine Handlungsmöglichkeiten des Subjekts ermöglicht. Im Gegenteil: Zur Bedingtheit des Wohnens und des Subjekts der Moderne gehört die Aufforderung zum Handeln – zum
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Irene Nierhaus, Kathrin Heinz
‚Selbst‘-Tun in seinen Bezüglichkeiten, Begehrensstrukturen und wechselvollen Verhältnissen. Die Schriftenreihe beabsichtigt eine kritische Reflexion und Analyse der Gewordenheit unseres Wohndenkens und Wohnwissens in ihren spezifischen Erzählungen, Mythensystemen und bedeutungsproduzierenden Diskursverschränkungen. Der vorliegende Band stellt sich diese Aufgabe und untersucht die Konstellation von Bildern, Räumen und Subjekten am Beispiel der Bildtapeten um 1800. Dieser Zeitraum der Ausbildung einer bürgerlichen Wohnkultur ist historisch ein zentraler Ausgangspunkt für Standardbildungen des Wohnens in der Moderne. Irene Nierhaus und Kathrin Heinz
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Einleitung
Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst Möglichkeiten und Herausforderungen kulturwissenschaftlicher Analysen des Wohnens in BildtapetenInterieurs im frühen 19. Jahrhundert
S i c h - E i n r i c h t e n i n B i l d t a p e t e nwe l t e n . S c h n i t t s t e l l e n vo n I n t e ri e u r, Su b j e k t u n d Ta p e t e n s z e n e ri e „Ähnlich, aber einfacher als der Salon der Zwillinge in der Münchner Residenz, war ihr Wohnzimmer im Sommerschloß eingerichtet. Es lag im dritten Stock des Südlichen Pavillons über dem Salon der Königin Caroline. [...] Wie auch in der Residenz war der Salon der Prinzessinnen zum Lernen und Musizieren bestimmt, und die fast spartanische Ausstattung mit einfachen Kirschholzmöbeln entspricht ganz diesem Zweck, ohne Rücksicht auf Bequemlichkeiten zu nehmen. – Die pädagogische Strenge wird durch Landschaftstapeten mit Schweizer Ansichten gemildert, die zwischen den Säulen einer antiken Scheinarchitektur als Ausblicke zu sehen sind. Diese französische Tapete mit Schweizer Idyllen war eine der verbreitetsten und beliebtesten Landschaftsszenerien der Zeit. Die Literatur der Romantik hatte eine große Vorliebe für die Hirtenrepublik. Zum Schmuck allein dienten diese Bildtapeten kaum, es lagen ihrer Wahl wohl auch erzieherische Absichten zugrunde.“ 1 So beschreibt Hans Ottomeyer ein Aquarell Wilhelm Rehlens aus dem Jahr 1820, das den Salon der bayerischen Prinzessinnen Sophie und Marie im südlichen Pavillon von Schloss Nymphenburg wiedergibt (Abb. 1). Dieses Zimmerbild, das in Tapeten-Publikationen immer wieder als visueller 1
Hans Ottomeyer, Das Wittelsbacher Album. Interieurs königlicher Wohn- und Festräume
1799–1848, München 1979, S. 100.
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Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst
(aus dem Wittelsbacher Album), 1820
Abb. 1 Wilhelm Rehlen, Salon der Prinzessinnen Sophie und Marie in Schloss Nymphenburg
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Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
Beleg für das Leben in und mit Bildtapeten angeführt und reproduziert wird, zeigt eine der beiden Prinzessinnen am Klavier sitzend, eingebettet in ein sonst schlicht gehaltenes und spärlich möbliertes räumliches Setting mit Büchertisch und Sitzgelegenheiten, das einer Guckkastenbühne gleicht und das sich mittels der Landschaftsszenerie der Grande Helvétie (1818) der Rixheimer Manufaktur Zuber & Cie in die freie Natur zu erweitern scheint. Die Prinzessin wird als musisch gebildete, naturliebende und belesene Frau inszeniert, die – einer zeitgenössischen Mode folgend – ihr (privates) Wohnzimmer mit einer französischen Bildtapete ausstatten ließ. Damit wird das Interieur zu einem Ort der Selbstinszenierung und -repräsentation, in dem nicht nur persönliche Einrichtungsvorlieben, gesellschaftliche Rollenbilder und (mehr oder weniger persönliche) Lebensinhalte und -ideale aus- und vorgestellt werden, sondern auch und gerade an der Person der abgebildeten Prinzessin verhandelt werden. Anliegen des vorliegenden Sammelbandes ist es, sich solchen Beziehungs- und Anordnungsgeflechten zwischen Interieur, den in Tapetenszenerien entfalteten Inhalten und Figurationen sowie Subjektpositionen methodisch und historisch anzunähern. Die vielfältigen Beziehungen, die sich vor allem auch zwischen den im Wohnraum interagierenden Subjekten entfalten, bedingen dabei eine Begrifflichkeit des ‚Interieurs‘, dem diese wechselseitigen Bezüge und Bezugnahmen bereits im lateinischen Wortstamm inter (dt. ‚zwischen‘, aber auch ‚unter, in[mitten]‘) eingeschrieben sind. Das Konzept des Interieurs, das erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Substantivierung der Komparativform ‚inter‘ entstanden ist,2 stellt somit im hier verwandten Sinn mehr als eine semantische Erweiterung der Begriffe des Innenraums, der Innenausstattung oder der Innenarchitektur dar. Es ermöglicht eine methodische Erweiterung des Verständnisses vom (architektonischen) Wohn- oder Innenraum zum Interaktionsraum verschiedener Subjekte, (Raum-)Ebenen und (Darstellungs-)Modi und hebt damit neben einer Objektgeschichte
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Vgl. Friedrich Kluge, „Interieur“, in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Spra-
che, bearb. von Elmar Seebold, Berlin/New York 2002, S. 444–445, hier zit. n. Günter Oesterle, „Poetische Innenräume des 18. Jahrhunderts“, in: Innenseiten des Gartenreiches. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich, hrsg. von Christiane Holm und Heinrich Dilly, Halle 2011, S. 59–71, Zitat S. 71, Anm. 9. Günter Oesterle betont – mit Verweis auf Kluge – die zweite Bedeutung von ‚inter‘ als ‚innen‘ oder ‚dazwischen‘. Er schreibt: „Das 19. Jahrhundert präsentiert das komparativisch zu verstehende Interieur als Inneres des Innen“, ebd. S. 61 (Hervorhebung K. E./A. S.).
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Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst
insbesondere auf eine Historisierung des Subjekts im Wohnen der Moderne ab. Oder anders formuliert: Das Interieur ist – als Gegenstück zum Außen(raum) – der „Ort, von dem aus das Subjekt als Individuiertes sich zur Welt verhält“, es ist der „Resonanzraum des Subjekts“.3 Die scheinbar offensichtliche Verknüpfung der beiden Forschungsund Erkenntnisbereiche von ‚Interieur‘ und ‚Bildtapete‘, die der Titel der Publikation anbietet, zielt entsprechend auf eine Neubewertung und kritische Befragung der Bildtapete, die über ihre Einordnung als spezifisch zeitbezogener Wandschmuck innerhalb einer Geschichte des Wohnens hinausgeht. Ausgehend von ikonografischen Analysen, die in der Tapetenforschung bereits Praxis sind,4 geht es darum, Bildtapeten einerseits als Teil eines relationalen Raumgefüges und andererseits als Bestandteil und Produzent zeitgenössischer Diskurse einer Epoche zu verstehen, die in und mit Bildtapetenräumen verhandelt wurden.5 Tapetenräume sind also Teil eines Displays, als das die Anordnungen im Interieur verstanden werden können, sie sind Bestandteil einer „Gesamtheit bedeutungsvoller Zueinanderstellungen und Gruppierungen, die sich situativ kon- und defigurieren“.6 3 Beate Söntgen, „Bild und Bühne. Das Interieur als Rahmen wahrer Darstellung“, in: Räume des Subjekts um 1800. Zur imaginativen Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik, hrsg. von Jörn Steigerwald und Rudolf Behrens, Wiesbaden 2010, S. 53–72, hier S. 54. 4
Solche finden sich u. a. in den Beiträgen des grundlegenden Katalogs von Odile
Nouvel-Kammerer (Hrsg.), French Scenic Wallpaper 1795–1865, Paris 2000, oder auch in Lesley Hoskins (Hrsg.), The Papered Wall. The History, Patterns and Techniques of Wallpaper, London 2005, sowie aktuell Bernard Jacqué und Georgette Pastiaux-Thiriat (Hrsg.), Joseph Dufour: Manufacturier de papier peint, Rennes 2010. Hier sei besonders auf das Symposium WIEDER ‚SALONFÄHIG‘. Leinwand- und Papiertapeten des 18. Jahrhunderts hingewiesen, das 2013 von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz aus Anlass der Restaurierung der Bildtapeten im Blücher-Museum in Kaub veranstaltet wurde und das einen seiner Schwerpunkte auf die Frage nach den ikonografischen Vorlagen von Wanddekoren legte. Eine Publikation ist in Vorbereitung. 5
Siehe hierzu Irene Nierhaus, Kathrin Heinz und Christiane Keim, „Verräumlichung
von Kultur. wohnen +/− ausstellen: Kontinuitäten und Transformationen eines kulturellen Beziehungsgefüges“, in: Transformationen des Kulturellen. Prozesse des gegenwärtigen Kulturwandels, hrsg. von Andreas Hepp und Andreas Lehmann-Wermser, Wiesbaden 2013, S. 117–130, sowie Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen, „Spotlight on Scenic Wallpapers. Narratives around Home and Interior Decoration c1800“, in: The Wallpaper History Review, Special Issue 2012, S. 39–42. Für eine rein diskursanalytische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Wohnen siehe Norbert Wichard, Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter, Bielefeld 2012. 6
Irene Nierhaus, „Landschaftlichkeiten. Grundierungen von Beziehungsräumen“, in:
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Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
Dem trägt die transdisziplinäre Ausrichtung dieses Bandes Rechnung, die Impulse und methodologische Ansätze verschiedener Fachrichtungen wie der (ästhetischen) Philosophie, der Literatur- und Kunstwissenschaft sowie der Postcolonial und Gender Studies mit der vorhandenen historischen Tapetenforschung zusammendenkt, um neue Kenntnisse über die Wirkmächtigkeit von Wanddekoren gewinnen zu können. Wie die Beschreibung des Zimmers in Schloss Nymphenburg nahelegt, liegt der Fokus auf der Epoche ‚um 1800‘ 7, jenem Zeitraum zwischen 1750 und 1850, in dem sich das moderne (‚aufgeklärte‘) Subjekt und damit die Diskurse um seinen Ort im (scheinbar) privaten Wohnen herausgebildet haben.8 Da das Interieur als ein Ort der Subjektformierung beziehungsweise der „sozial-kulturellen (Selbst-)Modellierung“9 untersucht wird, ist eine der leitenden Fragestellungen, welche Formen der Subjektformung im Wohnen überhaupt verhandelt wurden. Im Mittelpunkt stehen deshalb – im Bewusstsein um die Historizität und soziokulturelle Verortung des Subjekts sowie die Relationalität von Raum – Fragen nach geschlechtlichen und/oder kulturellen Implikationen im und des Wohnen(s), wie sie im Bremer Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen untersucht werden. Irene Nierhaus etwa hebt hervor, dass es sinnvoll ist, „nicht von einem Raum zu sprechen, sondern von verschiedenen Lagen und Bestimmungen von Raum – so im Sozialverhalten, im tatsächlich Gebauten oder in den Medien –, die sich ineinanderschieben“.10 Mit dem Interieur- und Displaybegriff können sich Innenräume oder einzelne Wohnbereiche also „durch eine über die Ausstattung visualisierte Geschlechtergeografie in weibliche und männliche Orte der Wohnung“ 11 differenzieren. Bei Nierhaus
Landschaftlichkeit zwischen Kunst, Architektur und Theorie, hrsg. von Irene Nierhaus, Josch Hoenes und Annette Urban, Berlin 2010, S. 21–37, hier S. 21. 7
Vgl. hierzu Reinhart Koselleck, „Einleitung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Histori-
sches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1979, S. XIII–XXVII. 8
Für Cornelia Klinger impliziert die Moderne allgemein die „Ausweitung und Um-
deutung der Gesellschaftskritik zur Zivilisations- und Epochenkritik; die Wendung zum Subjekt (als Individuum); die Wendung zur Ästhetik; die Wendung zur Gemeinschaft; die Wendung zur Natur; die Wendung zu Mythologie und Religion“, Cornelia Klinger, Flucht – Trost – Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München/Wien 1995, S. 82. 9 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 15. 10 Irene Nierhaus, Arch6. Raum, Geschlecht, Architektur, Wien 1999, S. 20. 11
Ebd., S. 102.
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Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst
wird in Bezug auf Wohn- und Subjektdiskurse am Ende des 19. Jahrhunderts deutlich, dass sowohl die Raumausstattung (sowie deren visuelle oder textuelle Referenzen) als auch soziale und sozioökonomische Praktiken in Räumen diese als männlich oder weiblich markieren können. Als Beispiele seien zum einen das Schlafzimmer meiner Frau von Adolf Loos mit seiner weißen Einkleidung der Wand als Brautkleid genannt, zum anderen die Verknüpfung von Handarbeiten wie dem Sticken mit der (geschlechtlichen) Semantisierung von Einrichtungsobjekten und der Verortung der Frau im Wohnraum12 – Aspekte, die vor allem in der Epoche des Biedermeier vielfältig im Bild dargestellt wurden.13 Auch Christiane Keim forscht zur „Konstruktion von Geschlecht im Interieur“;14 sie untersucht für die Zeit der Architektur-Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, „wie Geschlecht im Interieur produziert wird, und zwar zum einen als Markierung der Subjekte und zum anderen als Einschreibung in die Objekte“,15 und verortet damit das Interieur sowohl in einer Objekt- als auch in einer Subjektgeschichte der Moderne.16 Neben den genannten Autorinnen, die explizit zum Wohnen forschen, stellen allgemeine Studien zum Themenfeld Raum und Geschlecht, wie sie im Zuge des spatial turn vermehrt seit den 2000er Jahren erschienen sind und wie sie im Rahmen der Doktorandenkolloquien Bild – Raum – Subjekt (Universität Bremen) und Methodologien der kunstwissenschaftlichen Geschlechterforschung (Universitäten Bremen und Oldenburg) verhandelt werden, eine wichtige Referenz und einen methodischen Aus-
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Siehe ebd., S. 91 sowie S. 98. Beide Beispiele finden sich in dem Kapitel „Sichtbare
Seelen. Zur Entwicklung des Inneren im bürgerlichen Wohnen“. 13 Siehe v.a. Ellen Spickernagel, „Wohnkultur und Frauenrolle im Biedermeier“, in: The Wise Woman Buildeth Her House. Architecture, History and Women’s Studies, hrsg. von Margrith Wilke u. a., Groningen 1992, S. 26–36, sowie dies., „Die Macht des Innenraums. Zum Verhältnis von Frauenrolle und Wohnkultur in der Biedermeierzeit“, in: Kritische Berichte 13, 1985, S. 5–15. 14
Christiane Keim, „Performative Räume – Verführerische Bilder – Montierte Bli-
cke. Zur Konstruktion von Geschlecht im Interieur“, in: Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, hrsg. von Stephan Moebius und Sophia Prinz, Bielefeld 2012, S. 143–162. 15 Ebd., S. 145. 16 Als weitere Positionen zu Interieur, Wohnen und Geschlecht seien zudem exemplarisch angeführt: Sonia Front und Katarzyna Nowak (Hrsg.), Interiority/Exteriority in Literary and Cultural Discourse, Newcastle 2010; Penny Sparke, The Modern Interior, London 2008; Sabine Pollak, Leere Räume. Weiblichkeit und Wohnen in der Moderne, Wien 2004; Georges Teyssot, „Thresholds and Folds. Issues of Interiority“, in: UmBau 17, 2000, S. 8–32.
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Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
gangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Gattung Bildtapete in dieser Publikation dar. Zu nennen sind etwa die soziologisch motivierten Studien Martina Löws (zum Beispiel ihre Raum-Soziologie aus dem Jahr 2001) oder die im kunst- und kulturwissenschaftlichen oder architekturhistorischen Kontext angesiedelten Raum-Geschlechter-Forschungen von Autorinnen wie Christina Threuter, Silke Förschler, Margarethe Hubrath, Griselda Pollock, Linda Hentschel, Doreen Massey oder Beatriz Colomina.17 Hingewiesen sei auch auf die Forschungen von Sigrid Schade und Silke Wenk, insbesondere auf die jüngst erschienene Publikation Studien zur visuellen Kultur (2011), in der unter anderem den für die Interieurforschung zentralen Zusammenhängen und Verschiebungen von Bildlichkeit, Blick und (Zwischen-)Raum nachgegangen wird.18 Einen weiteren wichtigen Referenzrahmen stellen – im Hinblick auf Bildtapeten mit exotischen Motiven und die Fragen nach dem Wohnen in und mit Exotik – Studien zur Interdependenz von Geschlecht, Ethnizität und Nation in den Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaften dar. Exemplarisch erwähnt seien die Veröffentlichungen von Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Stuart Hall, Christian Kravagna oder María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan im Bereich der Exotismusforschung sowie der Postcolonial Studies, in denen ethnisch und kulturell codierte Geschlechterstereotype als ‚Symptome‘ europäischer Dominanzdiskurse befragt werden.19 Diese repräsentationskritischen 17
Silke Förschler, Rebekka Habermas und Nikola Roßbach (Hrsg.), Verorten – Ver-
handeln – Verkörpern. Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht, Bielefeld 2014; Susanne von Falkenhausen u. a. (Hrsg.), Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code, Marburg 2004; Doreen Massey, For Space, Los Angeles 2005; dies., Space, Place and Gender, Cambridge/Oxford 1994; Irene Nierhaus und Felicitas Konecny (Hrsg.), räumen. Baupläne zwischen Raum, Visualität, Geschlecht und Architektur, Wien 2002; Christiane Keim, Ulla Merle und Christina Threuter (Hrsg.), Visuelle Repräsentanz und soziale Wirklichkeit. Bild, Geschlecht und Raum in der Kunstgeschichte, 2001; Margarethe Hubrath (Hrsg.), Geschlechter-Räume. Konstruktionen von „gender“ in Geschichte, Literatur und Alltag, Köln 2001; Linda Hentschel, Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001; Griselda Pollock, „Moderne und die Räume von Weiblichkeit“, in: Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, hrsg. von Ines Lindner u. a., Berlin 1989, S. 313 –332; Beatriz Colomina (Hrsg.), Sexuality and Space, Princeton 1992. 18 Sigrid Schade und Silke Wenk (Hrsg.), Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, vgl. beispielsweise die Ausführungen in Bezug auf Aby Warburg und Bewegungsdarstellung auf S. 135. 19
Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom
16. bis 21. Jahrhundert; 15 Fallstudien, Marburg 2010; dies., Karl Hölz und Herbert Uerlings
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Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst
Ausführungen und Analysen an den Konnex von Exotik und Interieur rückzubinden und mit Ansätzen aus dem Bereich der material studies20 zusammenzudenken, ist ein wichtiges Anliegen jeder künftigen Wohnforschung, insbesondere da exotisierende Wanddekore als visuell-räumliche Bedeutungsträger nicht nur in das größere Bezugsfeld der (Welt-) Politik und des sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituierenden europäischen Imperialismus und Kolonialismus, sondern auch in zeitgenössische Diskurse um Geschlecht, Wohnen und Innenraum eingebunden sind.21 Das dritte wichtige Bezugsfeld dieses Bandes sind daher die (aus dem angloamerikanischen Kontext stammenden) kulturwissenschaftlich orientierten material studies, die – neben historischen Kontextualisierungen von Objekten als Teil der Alltagskultur, der auch (Bild-)Tapeten verhaftet sind – theoretisch-methodische Reflexionen in Bezug auf das Forschungsfeld des Wohnens und das wohnende Subjekt ermöglichen.22
(Hrsg.), Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus, Marburg 2004; sowie den Sammelband Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (= Trierer Studien zur Literatur, Bd. 34), Frankfurt am Main 2000; des Weiteren: María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005; Stuart Hall (Hrsg.), Representation: Cultural Representation and Signifying Practice, London/New Delhi 2002; Christian Kravagna (Hrsg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997. 20
Im Hinblick auf die Verknüpfung von Konsumkultur, Geschlecht und ‚Commodity
Racism‘ weiterhin Anne MacClintock, Imperial Leather. Race, Gender, and Sexuality in the Colonial Contest, London 1995. 21
Die bisher in der Tapetenforschung erschienenen Beiträge zu exotisierenden Bildta-
peten sind in erster Linie ikonografische Analysen von Motiven und Vorlagen der Wanddekore, siehe z. B. Verena Baumer-Müller, „Exotik und Abenteuer in den eigenen vier Wänden. Die Panoramatapete ,Les Vues du Brésil‘, 1829/30“, in: Brasilien. Entdeckung und Selbstentdeckung, hrsg. von Guido Magnaguagno, Bern 1992, S. 142–146; Birgit Finger, „Die Ikonografie der Panoramatapete ‚Procession chinoise‘ im Schloss Weesenstein“, in: Papiertapeten. Bestände, Erhaltung und Restaurierung, hrsg. von den Staatlichen Schlössern, Burgen und Gärten Sachsen und dem Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Dresden 2005, S. 97–106; Susan Hall (Hrsg.), Les sauvages de la mer pacifique, Ausst.-Kat. Art Gallery of New South Wales, Sydney 2000. Einen kulturwissenschaftlichen Ansatz entwickelt hingegen Christin J. Mamiya in ihrem Aufsatz „Nineteenth-Century Women, the Home, and the Colonial Vision. Les Sauvages de la Mer Pacifique“, in: Frontiers. A Journal of Women Studies 28, 1/2, 2007, S. 100–120. 22 Siehe v. a. Gudrun M. König (Hrsg.), Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen 2005; dies. und Gabriele Mentges (Hrsg.), Medien der Mode, Berlin 2010. Außerdem: Heinz Drügh, Christian Metz und Björn Weyand (Hrsg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt am Main 2011.
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Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
Mit den Beiträgen, die in dieser Publikation versammelt sind, sollen diese unterschiedlichen Ansätze verschiedener Disziplinen und Forschungsrichtungen vertieft und auf die Thematik von ‚Interieur und Bildtapete um 1800‘ bezogen werden. Die diskursanalytischen Ansätze Michel Foucaults aufgreifend, geht es darum, historisch wirksame Macht- und Herrschaftsstrukturen, (sozio-)kulturelle Praktiken sowie zeitgenössische Bedingungen der Wissensproduktion im Wohnen aufzuzeigen und diese bei der Analyse von tapezierten Interieurs miteinzubeziehen und fruchtbar zu machen. Wenn im Untertitel des Buches von ‚Narrativen des Wohnens‘ die Rede ist, markiert dies folglich, dass das Wohnen alles andere als eine aus sich selbst entstehende, nicht zeichenhafte oder Zeichen produzierende Tätigkeit ist. Wer wohnt, sich einrichtet, sein persönliches Umfeld gestaltet und sich im Alltag wiederholend darin bewegt und dabei mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern kommuniziert, der inszeniert sich und schafft Narrative seines Wohnens und seiner selbst. „Denn wie Menschen denken und leben: so bauen und wohnen sie“,23 postulierte bereits Gottfried Herder (1744–1803) zur Zeit der Weimarer Klassik in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91). Werden im Wohnraum Erzählungen generiert – wie im Fall der Bildtapete in Form zusammenhängender Geschichten und Szenerien –, treffen also verschiedenste Zeichen und Zeichensysteme aufeinander, sodass nicht von einer einzigen kohärenten und linearen Erzählung gesprochen werden kann. Vielmehr entsteht eine Art sich in ständiger Neuund Um-Erzählung befindlicher Mikrokosmos, der vom ‚Außen‘ anderer Räume – seien es Natur-, Garten- oder Siedlungsräume – nicht isoliert betrachtet werden kann. Das Sich-Einrichten 24, wie es im Kontext dieser Publikation verstanden wird, ist somit niemals eine gänzlich individuelle und privat ausgeführte Tätigkeit, sondern geschieht in Interdependenz mit gesellschaftlichen Phänomenen und Epistemen vorherrschender kultureller und sozialer 23 Johann Gottfried Herder, Werke, Bd. III.1: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hrsg. von Wolfgang Pross, München/Wien 2002, 20. Buch, 4. Teil, S. 827. 24
Vgl. die Ausführungen von Irene Nierhaus zum Themenkomplex der Landschaft-
lichkeit und Biopolitik beziehungsweise der Ein-Richtung der Bewohner und Bewohnerinnen: „Landscapeness as Social Primer and Ground. Visual and Spatial Processes between Biopolitics, Habitation and the Body”, in: Space (Re)Solutions, hrsg. von Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer, Bielefeld 2011, S. 29–41, insbes. S. 35–36.
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Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst
Settings einer Epoche. Dabei ‚wohnt‘ dem Sich-Einrichten – schon rein etymologisch – der Aspekt des Habituellen inne. In romanischen Sprachen wie dem Französischen etwa verweist das Verb ‚habiter‘ aufgrund seiner Nähe zum Lateinischen ‚habitare‘ wie selbstverständlich auf eine im Wohnen zum Ausdruck kommende Haltung, einen Habitus im Sinne Bourdieus.25 Auch das deutsche Wort ‚wohnen‘ weist laut Grimm’schem Wörterbuch eine etymologische Nähe zu ‚gewöhnen/Gewöhnung‘ auf.26 Beide Sprachfamilien betonen also die anthropologische Dimension des Wohnraums als Ort zur Einübung von „Sozialformen des täglichen Miteinander[s]“.27 Das Sich-Einrichten ist somit Teil jener machtvollen „kleinen Taktiken des Wohnens“ 28, mit denen sich Subjektpositionen verhandeln oder überhaupt erst erzeugen lassen. Sich diesen aus verschiedenen Richtungen und vom Standpunkt unterschiedlicher Disziplinen anzunähern, ist Anliegen der vorliegenden Publikation.
B i l d t a p e t e n : e i n n a r r a t i ve s G e n re f ü r d i e Wa n d u n d e i n e B ü h n e f ü r d a s Su b j e k t u m 1 8 0 0 Bildtapeten sind ein Einrichtungs- und Ausstattungselement, bei dem die für das Wohnen konstitutiven Vernetzungen von Subjektpositionen und Diskursen besonders augenscheinlich zutage treten. Grundsätzlich können solche Wanddekore aus bis zu 32 einzelnen, aneinandergesetzten Tapetenbahnen bestehen, auf denen sich eine figürliche Szenerie entfaltet. Rhythmisiert wird diese durch Baumgruppen, Felsen oder andere landschaftliche Versatzstücke, die die einzelnen Bahnen und das auf ihnen Dargestellte zu motivischen Einheiten, den sogenannten Panneaux, zusammenfassen. An diesen Stellen bietet sich gleichzeitig die Möglichkeit, Schnitte anzusetzen und die Tapeten den jeweiligen räum-
25
Vgl. u. a. Pierre Bourdieu, „Der Sozialraum und seine Transformationen“, in: ders.,
Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982, S. 171–210. 26
Vgl. das Stichwort ‚wohnen‘ in Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm,
Bd. 30, Leipzig 1854–1961, online zugänglich unter http://dwb.uni-trier.de/de. 27 Gert Selle, Die eigenen vier Wände. Wohnen als Erinnern, Berlin 2011, S. 18. 28
Michel Foucault und Daniel Defert, „Das Auge der Macht“, in: Michel Foucault,
Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III: 1976–1979, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main 2003, S. 250–271, Zitat S. 253.
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Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
lichen Begebenheiten anzupassen oder einzelne Motive wegzulassen. Im Gegensatz zu ornamental gestalteten Wanddekoren besitzen Bildtapeten somit keinen sich wiederholenden Rapport, sondern sind durch eine Koppelung von Landschaft(sraum) und figürlicher Szenerie gekennzeichnet. Ab den 1760er Jahren kamen solche illusionistischen papiernen Landschaften, die den Innenraum vermeintlich nach ‚außen‘ erweiterten, in Mode. Sie waren damit ein Reflex auf die verstärkte Auseinandersetzung mit Landschaftlichkeit in der Malerei und Ästhetik des 18. Jahrhunderts und setzten sich deutlich von den floralen Tapetenräumen des Barock und des Rokoko ab, in denen auf Natur vor allem mit einer formelhaften, ornamentalen Dekorationssprache Bezug genommen wurde.29 Gefertigt wurden Bildtapeten überwiegend in französischen Manufakturen. Zu den wohl bekanntesten gehören die Firmen Dufour, Zuber und Velay, die die szenischen Wanddekore mit einer durchschnittlichen Auflage von 150 Stück im Handdruckverfahren herstellten. In monatelanger Klein- und Feinarbeit wurden mittels geschnitzter Holzblöcke oder Modeln die Szenerien in mehreren Farbschichten händisch auf die Tapetenbahnen gedruckt, sodass sich erst allmählich die ganze Pracht und Vielfalt des figürlichen Landschaftsdekors entfaltete. Ergänzt wurde dieser vielfach durch farblich und motivisch abgestimmte papierne Bordüren, Sockelzonen (Lambrien) oder Supraporten, die die Manufakturen zur weiteren Ausschmückung der Tapetenräume ebenfalls zur Verfügung stellten. So kann und konnte sich in den einzelnen Wohnräumen ein regelrechtes Papiertapeten-Programm aus szenischen Bildern, ornamentalen Bordüren und Sockelzonen, Scheinarchitektur und Supraporten entfalten. Anders als die gemalten Bildprogramme oder Tapisserien in Schlössern, die als Auftragswerke das Repräsentationsbedürfnis eines spezifischen Herrscherhauses bedienten, ist und war das derart an die Wände Gebrachte nur bedingt an individuelle Wünsche anpassbar – etwa durch die bewusste Entscheidung für ein bestimmtes Bildtapeten-Sujet. Das dazu zur Verfügung stehende motivische Repertoire umfasste Schilderungen historischer Ereignisse oder Schlachten, Visualisierungen po29
Vgl. Sabine Thümmler, „Landschaftsmotive im Innenraum. Bemerkungen zur Pa-
noramatapete um 1800“, in: „Landschaft“ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, hrsg. von Heinke Wunderlich, Heidelberg 1995, S. 157–177, bes. S. 157. Illusionistische Landschaftszimmer sind grundsätzlich keine Erfindung des 18. Jahrhunderts, sondern finden sich schon in Wohnräumen der Antike, siehe hierzu weiterhin Eva Börsch-Supan, Garten-, Landschafts- und Paradiesmotive im Innenraum, Berlin 1976.
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pulärer Romane, Darstellungen von Sitten und Gebräuchen außereuropäischer Völker, europäische Stadtansichten sowie Szenen der antiken Mythologie. Die Bildtapeten bilden folglich nicht nur historische oder fiktive Figuren und Landschaften ab, sondern auch ein Stück Geistesund Mentalitätsgeschichte der Epoche um 1800. Rein gattungshistorisch entziehen sich Bildtapeten einer eindeutigen Klassifizierung. Bereits im 19. Jahrhundert oszilliert ihre Rezeption zwischen art majeur und art décoratif, das heißt zwischen den Kategorien ‚schöne Kunst‘, Kunsthandwerk und industrielles Massenprodukt, wie Odile Nouvel-Kammerer in dem als Standardwerk der Tapetenforschung zu bezeichnenden Katalog French Scenic Wallpaper 1795–1865 von 2000 dargelegt hat.30 Dies spiegelt sich auch in den Bezeichnungen dieser szenischen Raumdekore wider. Die Jury der Exposition des produits de l’industrie von 1806 sprach etwa von ‚tableau‘ oder ‚paysage de papier peint‘,31 womit ihre motivische Nähe zu Gemälden (frz. tableau) beziehungsweise gemalten Landschaftsansichten hervorgekehrt wurde. Ebenso gebräuchlich war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Begriff ‚papiers-tentures‘ oder ‚tableaux-tentures‘, der den Akzent auf das Haptische oder Stoffliche der Tapeten legte und so ihre Verwandtschaft mit Tapisserien betonte. Die heute vielfach verwandten Begriffe ‚Panoramatapete‘ oder ‚papier peint panoramique‘ gehen hingegen auf den Tapetensammler und -forscher Henri Clouzot zurück. Er betonte damit, dass diese Dekore keine Wiederholungen von Motiven aufweisen, sondern stattdessen eine in sich geschlossene Bilderzählung sozusagen panoramatisch vor Augen führen, was sie von früheren dekorativen Tapetenformen unterscheide.32 Im Englischen setzte sich hingegen ‚scenic wallpaper‘ durch, womit stärker als im Französischen der Charakter des Raumgreifenden und des Sequenziellen unterstrichen wird. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Bezüge haben sich die Herausgeberinnen dieses Bandes für den heute sehr geläufigen Begriff ‚Bildtapete‘ entschieden, in dem diese komplexe Begriffs- und Deutungsgeschichte mitgedacht wird und der für viele Anschlüsse offen ist.33 30
Nouvel-Kammerer 2000 (wie Anm. 4), S. 7.
31
Vgl. Sabine Thümmler, Die Geschichte der Tapete. Raumkunst aus Papier; aus den
Beständen des Deutschen Tapetenmuseums Kassel, Eurasburg 1998, S. 108. 32
Vgl. Odile Nouvel-Kammerer, „Introduction: Reasons for Silence“, in: dies. 2000
(wie Anm. 4), S. 23. 33
Siehe zur Begriffs- und Kategorisierungsgeschichte der Bildtapete auch Katharina
24
Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
Gleichzeitig wird damit in Erweiterung der bisherigen objekthistorisch und denkmalpflegerisch orientierten Tapetenforschung ein Referenzrahmen eröffnet für die mannigfaltigen interpiktorialen und intermedialen Bezüge, die sich in tapezierten Wohnlandschaften ergeben. Bildtapeten-Motive sind häufig nach druckgrafischen Vorlagen (etwa aus populären Romanen oder Reiseberichten) geschaffen worden. Sie sind also nicht nur Beleg einer literarisierten Gesellschaft in der Epoche der Salonkultur, sondern auch für das Zirkulieren von Bildern und Texten in einer sich zusehends medialisierenden Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Innovative dieser papiernen Wanddekore besteht aber auch in der medialen Kombination unterschiedlicher Elemente (und Effekte), die man teilweise aus der Wandmalerei und von textilen Wandbespannungen kannte und die die Tapeten damit in eine lange Tradition von Raumdekorations- und Raumgestaltungskünsten einreihen. Ein Merkmal ist beispielsweise die Einbeziehung von Scheinarchitekturen oder des trompe-l’œil, um einen größtmöglichen Illusionismus beziehungsweise einen Tiefensog zu erzeugen. Hinzu kommen formale Anlehnungen an das Myriorama, das moving panorama (frz. carmontelle) oder das 1787 von Robert Barker erfundene Panorama, bei dem die All-Ansichtigkeit in der Namensgebung bereits mitschwingt, was zu den erwähnten Begriffsdifferenzen szenischer Wanddekore geführt hat. Auch Bühnenbilder und damit allgemein das Theater spielen mit in den Untersuchungsgegenstand Bildtapete hinein: Neben illusionistischen papiernen, bühnenartigen Dekorelementen (wie Vorhängen) ist es vor allem die Tableau-artige Präsentation der figürlichen Szenerien. Das französische Wort ‚tableau‘ ist dabei einerseits mit Verweis auf die Malerei als ‚Gemälde‘ oder ‚Schilderung‘ zu verstehen, andererseits als Reminiszenz an die Lebenden Bilder oder szenischen Tableaus auf den Theaterbühnen des 18. Jahrhunderts. Der Tapetenforscher Josef Leiss hebt in seiner Publikation Bildtapeten aus alter und neuer Zeit (1961) entsprechend die Kulissenwirkung der Bildtapete hervor, die analog zum Theater den Betrachter in eine andere, imaginierte Welt versetzen soll.34
Eck, „Papiers Peints und ihre Wandgeschichten. Kategorisierungs- und Diskursivierungsstrategien für französische Bildtapeten“, in: Kategorien zwischen Denkform, Analysewerkzeug und historischem Diskurs, hrsg. von Elisabeth Fritz u. a., Heidelberg 2012, S. 293–308. 34 Josef Leiss, Bildtapeten aus alter und neuer Zeit, Hamburg 1961, S. 11.
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In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass der Begriff Tableau (i.S. von Sittengemälde) um 1800 erstmals in der im Entstehen befindlichen Volkskunde und Ethnografie gebraucht wird.35 So spricht etwa Herder in seinen bereits erwähnten Ideen zur Philosophie der Menschheit von „Gemälde[n] der Sitten und Lebensweise“ verschiedener Völker.36 „Es wäre schön, wenn ich jetzt durch eine Zauberrute alle bisher gegebnen unbestimmten Wortbeschreibungen in Gemälde verwandeln und dem Menschen von seinen Mitbrüdern auf der Erde eine Galerie gezeichneter Formen und Gestalten geben könnte. [...] so wäre es ein schönes Geschenk, wenn Jemand, der es kann, die hie und da zerstreueten treuen Gemälde der Verschiedenheit unsres Geschlechts sammlete und damit den Grund zu einer sprechenden Naturlehre und Physiognomik der Menschheit legte.“ 37 Bildtapeten mit Darstellungen exotischer, außereuropäischer Ethnien und Völker sind also in gewisser Weise Visualisierungen der Herder’schen „Wortbeschreibungen“ im Wohnraum. Das private Refugium – für das die Bildtapete im Unterschied zur Theaterkulisse konzipiert ist – wird angereichert mit imaginären Landschaften und Szenerien, die zum Spiegelbild von auf das Exotische gerichteten Wunschvorstellungen oder, allgemein, von nach außen projizierten Befindlichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner werden können. Gleichzeitig kann das Dargestellte aber auch von außen auf diese einwirken und sie analog der Theaterbühne ‚erobern‘. Dabei werden Didaktiken wirksam, die als Teil eines Gegenprogramms zur barock-höfischen Artifizialität den ‚natürlichen Ausdruck‘ in Geistes- und Körpersprache zum Leitbild erhoben haben – Ideale also, die auch in den genannten Lebenden Bildern sowie in deren literarischen Formungen evident werden konnten, denn „[z]wischen dem Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit und der Gefahr, in deren Extrem, nämlich exaltiert dargebotene Empfindung, zu verfallen, bildeten Natur und Vernunft die Eckwerte bürgerlicher Körpersprache. [...] Das na-
35
Siehe Annette Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft,
München 2004. 36 Herder 2002 (wie Anm. 23), 7. Buch, 2. Teil, S. 245. 37 Ebd., 6. Buch, 2. Teil, S. 225–226.
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türliche und glaubhafte Spiel wurde zur Richtlinie. Die inneren Vorgänge der Figuren, ihre Gefühle, sollten in Handlung, Gebärde und Mimik wiedererkennbar dargeboten werden.“ 38 Man ging davon aus, dass sich ‚innere Vorgänge‘ der Subjekte in ihrer Physiognomie ablesen lassen – hier sei vor allem auf Johann Caspar Lavater und seine Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775–78) verwiesen. Durch Mimik und Gestik konnten folglich im Alltag, wie er sich inmitten der mit Bildern tapezierten Räume wie auf einer Bühne ‚abspielte‘, nicht nur Emotionen ausgedrückt, sondern auch gewisse Haltungen und/oder (gesellschaftlich codierte) Identitäten und Rollenbilder theatral hervorgebracht werden. Günther Heeg spricht in diesem Zusammenhang vom „Phantasma der natürlichen Gestalt“ und betont damit die Problematik einer künstlich erzeugten ‚Natürlichkeit‘ oder ‚Authentizität‘, die vom Bürgertum – insbesondere im Hinblick auf Geschlechterstereotype – inszeniert und fortwährend re-inszeniert wurde, um sich selbst zu bestätigen und sich eine anhand von Philosophie, Anthropologie, Medizin und Ethik scheinbar klar umrissene Identität geben zu können: „Der Bürger verlangt von sich und seinesgleichen Authentizität, die sich nicht eigens darzustellen braucht. All dies ist nicht auf dem Weg der Selbstreflexion erlernbar, sondern in der lebenspraktisch fundierten ästhetischen Selbstvergewisserung, für die der Schauspieler Modell steht. An ihm gewinnt der Bürger Gestalt. So erfährt er seine Identität, indem er sich selbst zur Gestalt wird. Dass diese Gestalt auf Illusion beruht und kunstvoll veranstaltet ist, hindert das 18. Jahrhundert nicht daran, sie ‚natürlich‘ zu nennen.“ 39 Es geht also nicht um eine Verdoppelung oder Bekräftigung ‚tatsächlicher‘ Natürlichkeit, sondern um ein theatralisch (immer wieder) aufgeführtes Ver- und Aushandeln von gesellschaftlichen Normen und
38
Rita Wöbkemeier, „Physiognomische Notlage und Metapher. Zur Konstruktion
weiblicher Charaktere bei Jean Paul“, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart u. a. 1994, S. 676–696, hier S. 679. 39
Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im
Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2000, S. 177.
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Schemata, die sich in (geschlechtlich und ethnisch codierten) Körpern ver(sinn)bildlichen oder in Bildern verkörperlichen lassen und die in Räumen der Geselligkeit zirkulieren – oder wie es Hartmut Böhme in Bezug auf die Körpersemiotik des Bürgertums und seiner Werte formuliert hat: „Nicht nur spielen die Körper auf der Bühne ihre undurchsichtigen Rollen, sondern die Körper selbst werden zur Bühne, auf der die moralischen Signifikanten auftreten.“40 Statt fortschreitender individueller Freiheit, die von den Aufklärungsphilosophen hochgehalten wird, erfolgt in der Epoche um 1800 also eigentlich eine „Dramatisierung und Theatralisierung der Selbstdarstellung“,41 die bis in die Gestaltung des Interieurs mit Bildtapeten hineinreicht. Das Sprechen vom Interieur als einer Art Bühne impliziert folglich nicht, dass hier Theaterstücke im engeren Sinne aufgeführt wurden oder vorhandene Bildtapeten als Kulissen dienten (auch wenn dies durchaus denkbar ist und Stoffe oder Motive aus exotischen Gegenden oder mythologischen Geschichten an den Wänden sicherlich das Sich-Hineinversetzen in ein solches Spiel oder Stück förderten). Es geht vor allem um die Schaffung eines lebendigen Wohn-Kommunikationsraumes, in dem eine „kommunikative Praxis des Darstellens und Betrachtens“ im Interieur zur Aufführung kommt.42 Wenn um 1800 von ‚Bühne‘ oder Theatralität die Rede ist, meint dies vor allem kulturelle und soziale Settings und Wissensräume, in die Objekte und Bilder – die wiederum Vorstellungen von Geschlecht, Kultur oder ethnischer Zugehörigkeit sowie Moralia von Körperlichkeit, Haltungen und Kommunikation erzeugen – eingebunden sind43 und die im Zusammenspiel mit Subjekten ‚zur Aufführung‘ gelangen. Die Theaterbühne ist daher im engeren Sinne „nur Extremfall und Vorbild der Bühne der Gesellschaft“,44 auf der sich das Subjekt bewegt.
40 Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988, bes. Kap. „Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition“, hier S. 182. 41 Heeg 2000 (wie Anm. 39), S. 22. 42 Söntgen 2010 (wie Anm. 3), S. 55. 43 Vgl. auch den Artikel von Claudia Sedlarz, Objektwahl – eine Art von Ästhetik. Über ästhetische Wahl und Identitätsbildung in diesem Band. 44 Heeg 2000 (wie Anm. 39), S. 418.
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Ve r b ü rg e r l i c h u n g d e s Wo h n e n s a l s D i s k u r s i n u n d u m Bildtapetenräume Für Karl Philipp Moritz (1756–1793), Schriftsteller und Theoretiker der Aufklärung und Weimarer Klassik, vollzieht sich die Konstituierung dieses bürgerlichen Subjekts im Spannungsfeld zwischen zwei Bereichen, die sich in den Bildtapeten – wie in kaum einem anderen Medium dieser Epoche – durchdringen: Natur und Wohnraum. In seinen Schriften zur Ästhetik und Poetik schreibt er: „Das höchste Ziel seiner Wünsche [des Menschen, K. E./A. S.] ist: Häußliche Zufriedenheit, verbunden mit dem ungestörten Genuß der schönen Natur.“45 Der private Wohnbereich erfährt in diesem Zusammenhang eine Emotionalisierung, die den vorangegangenen Jahrhunderten noch unbekannt gewesen ist: „Der Begriff von Wohnung, Haus oder Obdach führt fast schon so viele dunkle Nebenbegriffe von Sicherheit, Ruhe, Geselligkeit, Beschützung u.s.w. mit sich, daß die Seele dadurch beständig mit einer Reihe angenehmer Bilder erfüllt wird, so oft man sich diesen Begriff lebhaft denkt. / Das Haus, die Wohnung knüpft schon an sich das Band zwischen Menschen fester und ist gleichsam der erste Keim zu den größten menschlichen Verbindungen. – / Aus einzelnen Häusern entstehen Dörfer und Städte, die mit ihrem Zubehör Länder und Königreiche ausmachen. – / Aber die ganze Wohlfahrt von Ländern und Königreichen muß doch immer wieder auf das einzelne Haus, und auf die Glückseeligkeit, die darin herrscht, zurückgeführt werden. [...] / In sein eigentliches Wohnzimmer, in den Schoß seiner Familie, drängt sich sein [des Menschen, K. E./A. S.] wirkliches Daseyn, das durch die bürgerlichen Geschäfte gleichsam zerstreut wurde, am meisten wieder zusammen.“ 46 Für Moritz ist das Wohnzimmer jener Bereich des täglichen Lebens, der – jenseits der öffentlichen Sphäre gelegen – als eine Art Freiraum für das bürgerliche Subjekt fungieren kann und damit auch Freiräume
45
Karl Philipp Moritz, „Häussliche Glückseligkeit – Genuss der schönen Natur“, in:
ders., Schriften zur Ästhetik und Poetik (1785–1793), Kritische Ausgabe, Tübingen 1962, hrsg. von Hans Joachim Schrimpf, S. 33–35, hier S. 35. 46 Ebd., S. 33–34.
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im übertragenen Sinne schafft.47 Mit diesem Verständnis vom Wohnen liefert er nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Ästhetisierung und Theoretisierung des Interieurs im frühen 19. Jahrhundert, sondern ist auch ein Vertreter seiner Epoche, denn die emphatische Aufladung der Begriffe ‚Haus‘ und ‚Wohnen‘ beziehungsweise die Trennung von öffentlichem/gesellschaftlichem und privatem Bereich ist symptomatisch für die Zeit um 1800. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung sowie der Herausbildung privatwirtschaftlicher Unternehmen vollzieht sich im 19. Jahrhundert eine Trennung von Arbeit und Freizeit, die ihr räumliches Korrelat in der Unterscheidung von Wohnhaus und Arbeitsstätte findet.48 Gesinde und Bedienstete, die zuvor wie selbstverständlich zur häuslichen Gemeinschaft (dem sogenannten ‚ganzen Haus‘49) gehörten, werden aus dem engeren Familienverbund (der Klein- oder Kernfamilie) ausgeschlossen, was sich in einer Neubestimmung des griechischen oikos-Begriffs niederschlägt: Er bezeichnet nun nicht mehr wie ursprünglich – in enger Koppelung an das Haus – die Haushaltung oder das häusliche Wirtschaften, sondern die Ökonomie, das Wirtschaften im Sinne eines modernen Wirtschaftssystems, das zwischen Staat und Familie geschaltet ist.50 Dieser Differenzierung wird etwa in Johann Georg Krünitz’ Oekonomischer Encyklopädie Rechnung getragen, wo das ‚Wohnen‘ als gesondertes Stichwort neben der ‚Ökonomie‘ aufgeführt wird.51 47
Vgl. auch die Ausführungen zu Moritz bei Rainer Schoch, „Repräsentation und
Innerlichkeit. Zur Bedeutung des Interieurs im 19. Jahrhundert“, in: Mein blauer Salon. Zimmerbilder der Biedermeierzeit, hrsg. von Christiane Lukatis, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1995, S. 11–16, hier S. 12–13. 48 Siehe hierzu Jürgen Reulecke, „Die Mobilisierung der ‚Kräfte und Kapitale‘. Der Wandel der Lebensverhältnisse im Gefolge von Industrialisierung und Verstädterung“, in: ders. (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918: das bürgerliche Zeitalter, Stuttgart 1997, S. 17–74. 49
Für eine kritische Lesart dieses Begriffs siehe Stefan Weiß, „Otto Brunner und das
Ganze Haus oder: Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte“, in: Historische Zeitschrift 273, 2001, S. 336–369, sowie Claudia Opitz, „Neue Wege in der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚Ganzen Hauses‘“, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1994, S. 88–98. 50 Vgl. Cornelia Klinger, „1800 – Eine Epochenschwelle im Geschlechterverhältnis?“, in: Revolution und Emanzipation. Geschlechterordnungen in Europa um 1800, hrsg. von Katharina Rennhak und Virginia Richter, Köln 2004, S. 17–32, bes. S. 18–19. 51
Siehe die zugehörigen Stichwörter in Johann Georg Krünitz, Oekonomische Ency-
klopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, 242 Bde., Berlin 1773–1858 (online zugänglich unter www.kruenitz1.uni-trier.de/home.htm).
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Gleichzeitig setzt sich die Unterscheidung von produktiver und reproduktiver Arbeit durch. Während Erstere (im Sinne der klassischen Ökonomie) wertschaffende Tätigkeiten des Mannes bezeichnet (so die Arbeit in der Fabrik oder in der Landwirtschaft), meint Letztere das dem weiblichen Geschlecht als ‚natürlich‘ zugeschriebene Leben-Geben.52 Das Gebären wird infolgedessen als nicht monetär abwäg- beziehungsweise abbildbar förmlich aus den Diskursen des produktiven Arbeitens ‚herausgeschrieben‘ und das weibliche Geschlecht dem häuslichen, privaten Bereich zugeordnet. Dies zeigt sich insbesondere an der großen Zahl erhaltener Zimmerbilder, in denen Frauen beim Verrichten von (ebenfalls nicht bezahlten) Hausarbeiten wie Nähen oder Stricken oder als liebevolle Mütter dargestellt sind und in denen das Wohnen als häuslich-intimer Bereich ‚ausgestellt‘ und vorgeführt wird (Abb. 2). Frauen werden also als Teil eines biopolitischen Diskurses imaginiert, der sie als antimodern und häuslich denkt beziehungsweise der das Wohnen als einen Ort konstruiert, an dem Geschlechterdifferenzen verhandelt werden. Cornelia Klinger formuliert dies folgendermaßen: „Während die eine der beiden Arten körperlicher Arbeit einen Artifizialisierungsprozess durchläuft und damit zugleich auf die Seite des Öffentlichen bzw. der modernen Ökonomie rückt, bleibt die andere Art körperlicher Arbeit gewissermaßen im Dunkel des Hauses zurück und erscheint in der Folge als archaisch, den unveränderlichen Gesetzen der Natur unterworfen.“ 53 Dieser Differenzierung von (reproduktiver und produktiver) Arbeit und Freizeit entspricht eine deutliche Trennung der Konzepte ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Privatheit‘.54 Räumlich manifestiert sich dies – allerdings nur für den bürgerlichen Mann – in der bei Moritz angeklungenen Abgrenzung des Arbeitsplatzes vom privaten Wohnraum, in dem sich nun ausschließlich der engere Familienkreis versammelt. Das oben erwähnte Konzept der bürgerlichen Familie begünstigt somit mittelbar auch die Herausbildung einer strikten Trennung von öffentlichen und privaten Bereichen im Wohnen. 52
Zu diesen und den folgenden Ausführungen vgl. Klinger 2004 (wie Anm. 50),
S. 20–27. 53 Ebd., S. 21. 54
Für eine kritisch-analytische Auseinandersetzung mit den Konzepten um Privatheit
und Öffentlichkeit siehe Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt am Main 2001, bes. S. 10–40.
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Abb. 2 Friedrich Georg Kersting, Die Stickerin, 1827
In diesem Kontext erlangen um 1800 Fensterbilder enorme Popularität, denn im (subjektiven) Blick aus dem Fenster tritt die Scheidung von außen und innen, von öffentlich und privat besonders deutlich zutage.55 Geeignet sind vor allem Landschaftsausblicke, da sie den Kontrast zwi-
55
Vgl. Beate Söntgen, „Interieur und Zimmerbild. Zur bürgerlichen Darstellungskul-
tur“, in: Holm und Dilly 2011 (wie Anm. 2), S. 19–33. Außerdem Irene Nierhaus: „Jalousie. Blick und Medien als Verräumlichung der Geschlechterdifferenz“, in: dies. 1999 (wie Anm. 10), S. 35–58.
32
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schen Interieur und Außenwelt in der Gegenüberstellung von Natur und bewohntem Innenraum explizit visualisieren beziehungsweise herausstreichen – ein Aspekt, der sogar in Empfehlungen für die Innenraumgestaltung seinen Widerhall gefunden hat. Im Magazin für Freunde des guten Geschmacks von 1798 steht beispielsweise zu lesen: „Um nun der wirklichen Aussicht ins Grüne einen künstlichen Naturprospekt entgegen zu stellen, ist es rathsam, eine Wandverzierung, wie die gegenwärtige, ausführen zu lassen. Die schlanken Schilfstängel mit den Arabesken zur Seite haben etwas Reiches und Einladendes für die Phantasie, das durch die dahinter gestellte Landschaft etwas Fremdes und Ausländisches erhält.“ 56 (Abb. 3) Die hier angesprochene Verortung des Wohnraums in einem imaginativen Wechselspiel von (exotisiertem) Innen und (heimischem) Außen, das – allerdings unter anderen Vorzeichnen, nämlich der Verschränkung von imaginiertem Landschaftsraum und tatsächlichem Wohnraum – auch charakteristisch für die in diesem Band betrachteten Bildtapetenräume ist, stellt jedoch nur eines der Kennzeichen des Interieurs um 1800 dar. Im Biedermeier wird das Interieur – wie es in dem oben angeführten Zitat von Moritz mehr als deutlich anklingt – zum „affektbetonten Intimbereich“,57 in und mit dem Begriffe wie Innerlichkeit, „Sicherheit, Ruhe, Geselligkeit, Beschützung“58, aber auch bürgerliche Moralvorstellungen verhandelt werden.59 Einen wichtigen Anteil hieran haben die an der Schwelle zum 19. Jahrhundert aufkommenden Mode- und Einrichtungsmagazine, wie das Journal des dames et des modes (1797–1839), das Journal des Luxus und der Moden (1786–1827), Grohmanns Ideenmagazin (1796–1806) oder Friedrich August Leos Magazin für Freunde des guten Geschmacks (1795–1800), das ab 1800 unter dem Titel Artistische Blätter der Verzierung und Verschöne-
56
Magazin für Freunde des guten Geschmacks 4, 3, 1798, o. S. (Beschreibung zu Tafel IX).
57 Diese Charakterisierung ist eine Formulierung Hannes Stekls aus seinem Aufsatz „Die Entstehung bürgerlicher Wohnkultur“ (1979), hier zit. n. Irene Nierhaus, „Die sichtbare Seele. Zur Topologie der Geschlechter im bürgerlichen Wohnen des 19. Jahrhunderts“, in: Frauen Kunst Wissenschaft 13, Februar 1992, S. 69–79, Zitat S. 70. 58 Moritz 1962 (wie Anm. 45), S. 33. 59
Vgl. exemplarisch Söntgen 2011 (wie Anm. 55), S. 19–23, S. 28–32, sowie Spickernagel
1992 (wie Anm. 13), S. 26–36.
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Freunde des guten Geschmacks, Bd. 4, Heft 3, Tafel IX, Leipzig 1798
Abb. 3 Wandverzierung eines Galleriesaales, der an einen Garten stößt, aus dem Magazin für
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rungskunst gewidmet Verbreitung findet. In all diesen finden sich Abbildungen von Zimmerwänden, Einrichtungsobjekten oder Möbelstücken, die das ‚richtige‘ Wohnen denken und gestalten helfen. Charakteristisch ist die starke Verschränkung von Wohndiskursen mit Mode- und Geschmacksfragen in diesen frühen Einrichtungsmagazinen.60 Bereits in der ersten Ausgabe aus dem Jahr 1786 definiert das Journal des Luxus und der Moden das Wohnen als Ausdruck eines kulturund epochenspezifischen Geschmacks: „[Der] Wunsch zu gefallen, und sich auszuzeichnen, ist der Geist[,] der mit dem Grundstoffe der menschlichen Natur bey allen Völkern der Erde innigst verwebt ist. Nur Materie und Zeichen sind verschieden. Je reicher und verfeinerter eine aufgeklärte Nation ist, desto bequemer, schöner, geschmackvoller und mannigfältiger sind auch ihre Moden.“ 61 Das Journal des Luxus und der Moden betont, wie auch andere Schriften, die anthropologisch-historische Dimension des Wohnens im Wechselspiel der Stile, Kulturen und Epochen und koppelt diese an den Begriff der Mode(n). Autoren wie Christian Garve heben hingegen, in der Tradition moralischer Wochenschriften aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Verknüpfung von Wohndiskursen und zeitgenössischen Moralvorstellungen deutlich hervor.62 In seiner Schrift Über die Moden (1792) argumentiert er, dass den Moden (und damit dem Wohnen als ästhetischer Praxis) die Funktion der Scheidung von Schönem und Hässlichem mittels des Geschmacks zukomme. Anhand der Einrichtung einer Wohnung könne so auf das „Gemüth“ der Bewohnerinnen und Bewohner geschlossen werden: „In Zeitaltern, und bey Nationen, wo die Menschen beynahe darauf eingeschränkt sind, sich Ländereyen und Geld, oder Herrschaft zu wünschen, und die in ihrer täglichen Haushaltung Einförmigkeit und Einfalt haben, kann das Gemüth der Menschen zuweilen ruhig werden, und hat, wenn
60 Siehe hierzu Wichard 2012 (wie Anm. 5), Kap. „Bürgerliches Wohnen. Eine Entdeckung für die Literatur“, S. 47–63. 61 Georg Melchior Kraus und Friedrich Justin Bertuch, „Einleitung“, in: Journal der Moden [später: Journal des Luxus und der Moden] 1, Januar 1786, S. 1–16, Zitat S. 11. 62 Zu Garve siehe Wichard 2012 (wie Anm. 5), S. 48–54.
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edlere Anlagen der Wißbegierde oder der Tugendliebe in ihm sind, Zwischenzeiten, wo es, von niedrigern Wünschen ungestört, an der Erreichung dieser Endzwecke arbeiten kann. Aber in einer Nation, wo der Luxus der Moden eingeführt, und dieser in alle Theile des einsamen und des geselligen Lebens eingedrungen ist: da ist die Anzahl der Dinge, welche die Begierden der Menschen reitzen, unendlich; und jeder Tag biethet ihnen etwas neues dar, wonach sie entweder mit Heftigkeit streben, oder dessen sie mit Unzufriedenheit entbehren. Bald macht uns ein modisches neues Putzstück, bald ein geschmackvolleres oder bequemeres Meubel, lüstern und unruhig [...].“ 63 Das Wohnen wird – eine Formulierung Norbert Wichards aufgreifend – also zum „Schauplatz moralischer Integrität“.64 Ein schlichter, zumeist am Klassizismus orientierter Einrichtungsstil korrespondiert dabei in der Epoche um 1800 mit einer an den Idealen von Sittlich- und Tugendhaftigkeit orientierten bürgerlichen Lebenshaltung. Stellvertretend für die zahlreichen Briefe und Erinnerungen, die dies belegen, sei hier eine Zimmerbeschreibung des Berliners Karl Gutzkow (1811–1878) zitiert. „Welch ein Reiz liegt in der traulichen Geselligkeit eines gebildeten Hauses! [...] Die Ordnung und die Pflege verbreiten überall eine Wärme und Behaglichkeit, die neben den äußeren Sinnen auch das Gemüt ergreift. Die kleinen Arbeitstische der Frauen am Fenster, die Nähkörbchen mit den Zwirnrollen, [...] das aufgeschlagene Nähkissen des Tischchens, nebenan das Piano mit den Noten, [...] ein Teppich im Zimmer, der jedes Auftreten abmildert, an den Wänden die Kupferstiche, die Beseitigung alles nur vorübergehenden Notwendigen auf entfernte Räume, die Begegnungen der Familie unter sich voll Maß und Ehrerbietung [...]. [...] im Zusammenhang aller dieser Akkorde liegt eine Harmonie, ein sittliches Etwas, das jeden Menschen ergreift, bildet und veredelt.“ 65
63
Christian Garve, „Über die Moden“, in: ders., Versuche über verschiedene Gegenstän-
de aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben, 1. Theil, Breslau 1792, S. 117–294, hier S. 229–230 (Hervorhebung K. E./A. S.). 64 Wichard 2012 (wie Anm. 5), S. 52. 65
Zit. n. Anna-Louise Hübner, Zur Verbürgerlichung preußischer Wohnkultur. Schloß
Charlottenhof und Berliner Interieurs der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext zeitgenössischer Magazine und Vorbildhefte für Möbel, Berlin 2004, S. 21–22, Anm. 48.
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An dieser ‚bürgerlichen‘ Wohn- und Lebensart, die sich (scheinbar) weniger auf Repräsentation als auf Intimität und Privatheit konzentriert, partizipiert auch der Adel.66 Es macht daher Sinn, im Hinblick auf das Wohnen um 1800 von der Verbürgerlichung des Wohnens zu sprechen.67 Der Begriff ‚Bürgerlichkeit‘ fungiert hierbei, wie Norbert Wichard betont, als ein Konzept, eine Art „Scharnier“, das nicht nur „Bürger“ im engeren Sinne bezeichnet, „sondern alle, die bürgerlich leben bzw. wohnen“ und an der „Ausbildung einer bürgerlichen Kultur“ beteiligt sind.68 Wichard bezieht sich damit auf Diskussionen um ‚Bürgerlichkeit‘ im 18. und 19. Jahrhundert, konkret auf die Ausführungen von Autoren wie Clemens Albrecht, Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems.69 Deren Ansatz aufgreifend, definiert er Verbürgerlichung als eine bestimmte, typische Art der Lebensführung, die mit Bürgerlichkeit assoziiert wird und die, vermittelt über bestimmte kulturelle Praktiken, Techniken und Diskurse, aber auch Inneneinrichtungsobjekte wie die in diesem Band betrachteten Bildtapeten, im Wohnen ihren Ausdruck findet.
Wo h n e n u n d P r a k t i ke n d e s A l l t ag s Promenade réelle. Die bürgerliche Praxis des Spazierens Zu jenen Praktiken, die einen wichtigen Anteil an der „Ausbildung einer bürgerlichen Kultur“ hatten, gehört der Aufenthalt in der freien Natur beziehungsweise im (Landschafts-)Garten. Insbesondere der gestaltete englische Landschaftsgarten war dabei immer auch ein Raum,
66
Siehe hierzu Heidrun Zinnkanns Publikation Der feine Unterschied. Biedermeiermöbel
Europas 1815–1835, München u. a. 2007, in der die Autorin den Einfluss des Adels auf das Biedermeier betont. Für eine kritische Hinterfragung des kunsthistorischen (Epochen-) Begriffs des Biedermeier als ‚rein bürgerlich‘ siehe auch die zahlreichen Schriften Hans Ottomeyers; exemplarisch sei hier der Ausstellungskatalog Biedermeier: die Erfindung der Einfachheit, Ostfildern 2006, erwähnt. 67
Den Begriff ‚Verbürgerlichung des Wohnens‘ verwendet auch Hübner 2004 (wie
Anm. 65), S. 13–33. 68 Wichard 2012 (wie Anm. 5), S. 25. 69 Clemens Albrecht, „Bürgerlichkeit“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Darmstadt 2005, Bd. 2, Sp. 567–572, zum ‚Scharnier‘: Sp. 568; Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems, „Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert“, in: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hrsg. von dens., Tübingen 2006, S. IX–XL.
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der Narrationen von Tugend, Geselligkeit, Partnersuche, Paarfindungen und damit von kultureller und geschlechtlicher Identität mitgestaltete. Gudrun M. König analysiert in ihrer Kulturgeschichte des Spaziergangs (1996) diesen als eine kulturelle, explizit bürgerliche Praxis. Sie setzt sich vor allem mit den Ideen von Karl Gottlob Schelle auseinander, der 1802 in seiner Schrift Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen den Gedanken formuliert, dass das Spazierengehen eine gesellschaftliche Tätigkeit mit entsprechenden Anforderungen an das jeweilige Mitglied einer Gemeinschaft sei und somit kein unreflektiertes und beiläufiges Naturerlebnis. Es „gehöre zum ‚guten Ton‘, sich dann [im Garten, K. E./A. S.] einzufinden, wenn er von der ‚geselligen Welt‘ besucht werde, damit ‚das Vergnügen des Lustwandlers darin ein gesellschaftlicher Genuss von Natur‘ sein könne. Sich dann einzufinden, wenn sich die ‚gesellige Welt‘ versammelt, setzte einen ähnlichen Lebensrhythmus und eine relativ freie Zeiteinteilung voraus. Exklusivität zeigte sich nicht nur in der Wahl des Ortes, sondern auch in der Verfügung über freie Zeit.“ 70 Der Aufenthalt in der freien Natur impliziert und verstärkt also jene Ausschluss- und Abgrenzungsmechanismen, die bereits im Zusammenhang mit den Diskursen um Öffentlichkeit und Privatheit, von Arbeit und Freizeit im Wohnen angeklungen sind. Im Hinblick auf das Spazierengehen erfahren sie sogar eine Verstärkung, denn – so König – „der Spaziergänger wollte als Nicht-Arbeitender identifiziert werden, ohne als Müßiggänger und Zeitvergeuder zu gelten: Die Wende zum bürgerlichen Selbstbild kristallisierte sich heraus, dessen Pole Arbeit und Muße hießen.“71 Vor diesem Hintergrund wird der Aufenthalt in der Natur im Sinne Rousseaus zum Topos des Heraustretens aus den zivilisatorisch deformierten, zusehends von Industrialisierungsprozessen bestimmten Lebensund Arbeitsbedingungen. Der Landschafts- oder Gartenraum wird zum Spiegelbild für „Natursehnsucht, Weltschmerz und Gesellschaftskritik“ der Spazierenden.72 So schreibt Schelle:
70 Gudrun M. König, Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 40. 71 Ebd., S. 28. 72 Ebd., S. 13.
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„Städtische Verhältnisse engen [...] den Geist, der sich ihnen nie entzieht, endlich ganz ein; man muß deshalb durch erhabene Eindrücke der Natur seinen Geist bisweilen erheben und erweitern. Die großen und freyen Ansichten der Natur entfesseln von den kleinlichen Verhältnissen des städtischen Zwanges.“ 73 Das heißt, das Spazierengehen als kulturelle Praxis entfaltet sich in einem Spannungsfeld zwischen Natursehnsucht und geselligem Beisammensein. Beide sind nicht nur Ziel- und Vergleichsgröße bei der Wahl von Ort, Zeit und Verhaltensmustern, sondern darüber hinaus wichtige Kategorien und Grundvoraussetzungen für die Selbstvergewisserung und die Ambitionen des sich ausdifferenzierenden Bürgertums. Dabei werden stets auch Geschlechterverhältnisse mit verhandelt. Es ist sehr aufschlussreich, sich in diesem Zusammenhang die Beschreibungen der Parkanlagen von Louis Carmontelle (1717–1806), dem französischen Landschaftsgestalter im Dienste Louis Philippes II., anzuschauen. Carmontelle hat Stiche mit Ansichten des von ihm angelegten Parc de Monceau nebst Texten veröffentlicht, die auch in drei Bildtapetenszenerien zu sehen sind – in den Jardins anglais (vor 1804, Manufaktur Dufour), im Château de Versailles (um 1825, Manufaktur Carré) sowie in Les Jardins français (um 1822, Manufaktur Zuber).74 Der Park wird hier zu einem Ort des Schauspiels umcodiert, der durch die Augen von Malern gesehen wird, die ihn wiederum den Spaziergängern durch ihre Erfindungsgabe schrittweise zu enthüllen vermögen (Abb. 4): „Parcourez avec eux [les peintres, K. E./A. S.] la nature, ils vous arrêtent à chaque pas pour vous en faire observer les beautés. [...] ils vous dévoilent l’espace [...]. [...] transportons, dans nos Jardins, les changements de Scene des Opéra; faisons-y voir, en réalité, ce que les plus habiles Peintres pourroient y offrir en décorations, tous les temps & tous les lieux.“ 75
73
Karl Gottlob Schelle, Der Spatziergang oder die Kunst spatzieren zu gehen, Leipzig
1802, S. 67. 74
Monique Mosser, „Les promenades du regard. Les panoramiques et la théorie des
jardins“, in: Nouvel-Kammerer 2000 (wie Anm. 4), S. 194–209. 75 Louis Carmontelle, Jardin de Monceau, près de Paris, Appartenant A Son Altesse Sérénissime Monseigneur Le Duc De Chartres, Paris 1779, Kap. 1, S. 3–4.
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Abb. 4 Manufaktur Dufour, Les jardins anglais, Bahnen 5–8, vor 1804
Die Natur wird zum Schauspiel und zu einem von Malern gestalteten Ort, wie es bei Diderot zu dieser Zeit anklingt, wenn er feststellt, dass es bei der Naturbetrachtung eben nicht mehr um Natur, sondern um Kunst gehe.76 Auf einer weiteren Ebene spielen hier nun die Beziehungen zwischen den Geschlechtern hinein, für die der Garten, die verkunstete Natur zum Aushandlungsort von Verhaltenscodes wird. Carmontelle beschreibt besonders deutlich, wie sich in einer solchen kulissenhaften, von den großen Künstlern der Zeit überformten Parklandschaft Liebende zusammenfinden und den Ort ihres Beisammenseins imaginativ, aber auch realiter gemeinsam erkunden und ihn dabei in eine Art festliche Bühne im Spiel der Geschlechter verwandeln:
76 Vgl. den Kommentar bei Werner Busch zu Diderots Salons von 1763 und 1767, in: ders., Landschaftsmalerei (= Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 3), Berlin 1997, S. 185–194.
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„Pour l’homme qui fait voir, tout est spectacle dans la nature, & le moindre objet détaillé devient pour lui une source de réflexions. [...] C’est donc à la campagne qu’on goûte mieux la douceur d’être ensemble, que l’on se connoît davantage, qu’on se choisit, & où se forment ces liaisons qui y renouvellent sans cesse les plaisirs [...]. [...] tout y devient fête.“ 77 Dieser Textausschnitt belegt, wie eng Vorstellungen eines (sich selbst) reflektierenden Beobachtersubjekts mit der Praxis der Paarfindung unter der Prämisse von Leichtigkeit und der scheinbaren Ausblendung von Arbeit und Sorge in einem Park – letztlich also in der Natur – verknüpft sind, um schließlich an einem Ort des Glücks verräumlicht zu werden. Dabei wird betont, dass es um eine Feier und eine Inszenierung geht, sodass der Entwurf dieses Ortes nicht etwa mit einem politisch gedachten Programm verwechselt werden kann. In Carmontelles Park soll letztlich versucht werden, den Frauen als den „Wonnen der Gesellschaft“ zu gefallen. Carmontelle schreibt: „On s’occupe de plaire aux femmes; ce sont elles qui sont les délices de la société [...].“78 So wird der Garten zu einem Ort der Weiblichkeits- und Männlichkeitsformung und der Einübung von Geschlechterrollen. Auch König spricht von einem Laufsteg, „wie er zur Erprobung kultureller und geschlechtsspezifischer Identität diente“.79
P ro m e n a d e d u re g a rd u n d vo ya g e i m a g i n a i re Dem Spazieren im und durch den Landschaftsgarten ist auch eine ästhetische Dimension inhärent, die sich mit den Praktiken der Subjektivierung und der Geschlechterformung verklammert. Claude-Henri Watelet (1718–86), einer der wichtigsten Gartentheoretiker aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, betont in seinem Essai sur les jardins (1774) die stimulierende Wirkung des (Landschafts-)Gartens auf die sich darin bewegenden Subjekte,80 und Barbara Stafford argumentiert mit Verweis auf 77 78 79 80
Carmontelle 1779 (wie Anm. 75), S. 3–4. Ebd., S. 4. König 1996 (wie Anm. 70), S. 295. Siehe Sylvia Lavin, „Sacrifice and the Garden. Watelet’s Essai sur les jardins and
the Space of the Picturesque“, in: Assemblage 28, Dezember 1995, S. 16–33, sowie Michele Crogiez Labarthe, „Claude-Henri Watelet, poète et graveur“, in: La Littérature et les arts
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diesen schlüssig, dass der Garten ein Ort sei, wo die Aufmerksamkeit der Spazierenden unentwegt gefesselt und ihre Empfindungen intensiviert würden.81 Zwischen Landschaft und Betrachter wird also eine Wechselwirkung imaginiert, die durch den Blick, die Sinne (Olfaktorik, Haptik ...) sowie vor allem die Einbildungskraft in Gang gesetzt wird. „Die Einbildungskraft des empfindsamen Betrachters stärker zu erregen, als dies eine bloß natürliche Gegend vermöchte“, wie der deutsche Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–1792) schreibt, wurde so zum künstlerischen Hauptziel der Gartenkunst.82 Auch die von französischen und italienischen Künstlern für Bildungsreisende zur Erinnerung geschaffenen Landschafts- und Stadtansichten haben entsprechend weniger mit den tatsächlichen topografischen Gegebenheiten und mehr mit einer spezifischen Stimmungsästhetik und Poesie zu tun.83 Gartentheoretiker wie Watelet und Hirschfeld beschäftigen sich außerdem mit der Durchwandelbarkeit und Vielansichtigkeit des englischen Landschaftsgartens, der die Sinne und die Fantasie anregen soll. Die einzelnen Elemente des Gartens – Gartenarchitekturen, Wegesysteme, ‚Gartenbilder‘, offene Flächen und Begrenzungen – sollen Anlass und zugleich ursächlicher Reiz für die eigene, ins potenziell Unendliche tendierende kreative Geistestätigkeit sein. Stafford unterstreicht in diesem Zusammenhang den Aspekt des mentalen Wanderns, einer „arousal of a sequence of ideas that, by definition, flee from the object“.84 Der Imagination wird somit ein höherer Stellenwert beigemessen als den tatsächlich beschrittenen Gartenwegen. Das Postulat der Imagination schwingt im Rahmen der Naturbetrachtung auch in Denis Diderots Salonkritiken mit, die nur wenige Jahre vor Watelets Essai sur les jardins erschienen sind. Besonders seifigurés, de l’Antiquité à nos jours (= Actes du XIVe congrès de l’Association Guillaume Budé, Limoges 1998), Paris 2001, S. 637–643. 81 Vgl. Barbara Maria Stafford, Voyage into Substance. Art, Science, Nature, and the Illustrated Travel Account, 1760–1840, Cambridge/MA 1984, S. 22. 82 Adrian von Buttlar, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989, S. 16. 83
Thomas Habersatter, „Alle Wege führen nach Rom – Grand Tour und französische
Reisebeschreibungen Italiens im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Sehnsucht Süden. Französische Barock- und Rokokomaler in Italien, hrsg. von Thomas Habersatter u. a., Salzburg 2002, S. 11–22, hier S. 17. 84 Stafford 1984 (wie Anm. 81), S. 24.
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ne Besprechung der Gemälde Vernets im Salon von 1767 prägte eine Auffassung von Landschaft, die dramatisch belebt sein sollte, um die Fantasie und die Empfindungen der Betrachtenden anzuregen.85 Horace Vernets (1714–1789) Landschaftsbilder werden darin zum Ausgangspunkt für Diderots mentales Durchwandern der Landschaft. Erst in diesem Sich-Hineinversetzen in die verbildlichte Landschaftsszenerie wird die Natur als Kunst und somit als bereits durch die Einbildungskraft der Betrachtenden geformt erkennbar.86 Dieses Verständnis von der Filterwirkung der Imagination durch die (Künstler-, Betrachter-)Subjekte bestimmt auch noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – also zum Zeitpunkt der Entstehung der Bildtapeten – maßgeblich den philosophisch-ästhetischen Diskurs um Landschaft und Naturerfahrung, beispielsweise wenn Carl Ludwig Fernow 1803 das Idealische beschwört, das der Künstler „nicht aus der Wirklichkeit entlehnt, sondern in seiner Einbildungskraft erzeugt“.87 Die hier angesprochene Evokation der Imaginationskraft spielt nicht nur bei der Festschreibung und Verhandlung von geschlechtsspezifischen Eigenschaften und Verhaltenscodes, wie sie im Zusammenhang mit dem Spazierengehen thematisiert worden sind, eine wichtige Rolle, sondern auch bei der (sich ebenfalls geschlechtsspezifisch vollziehenden) ‚Entdeckung‘ der Welt beziehungsweise ferner Länder durch europäische Reisende. Während die Spazierenden im Landschaftsgarten allerdings das nahe Umfeld (imaginativ) erkunden, treibt die Welt-Reisenden die (imaginäre) Aneignung ihnen fremder Erfahrungsräume an, wobei der imaginativ durchwebte Raum zum Ort der Selbst-Verortung und der Verhandlung des europäischen Subjekts wird. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts tritt – parallel zur wissenschaftlichen Erforschung außereuropäischer Völker, Ethnien und Geografien im sogenannten ‚zweiten Entdeckungszeitalter‘ – die Reise in entfernte Erdteile verstärkt neben die klassische Bildungsreise nach Italien; vor allem Künstler und das Bildungsbürgertum begeben sich auf solche Rei85
Vgl. Busch 1997 (wie Anm. 76), bes. S. 191.
86 Ebd.; hierzu auch Oskar Bätschmann, Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750–1920, Köln 1989, Kap. „Grenzüberschreitungen“ (S. 11–21). 87
Carl Ludwig Fernow, „Ueber die Landschaftsmalerei“, in: Neuer Teutscher Merkur,
Bd. 3, 1803, S. 527–557 sowie S. 594–640, Zitat S. 528; hier zit. n. Hilmar Frank, „Landschaft“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, hrsg. von Karlheinz Barck, Stuttgart 2010, S. 617–646, hier S. 625.
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sen durch die Fremde.88 Das dabei entstehende reiche Bildmaterial wird nach der Rückkehr in Form von Druckgrafiken in Reiseberichten oder Prachtbildbänden, den sogenannten voyages pittoresques, publiziert, die wiederum vielfach als Vorlagen für Bildtapeten dienen. Damit hält die rege Reisetätigkeit der Epoche – vermittelt über das Medium des Wanddekors – auch in europäische Wohnräume Einzug und hat Anteil an der Konstruktion und (künstlerischen) Produktion des ‚Fremden‘ und der ‚Fremde‘ durch das beziehungsweise im ‚Eigene(n)‘. Etwa zeitgleich gewinnt in der (Reise-)Literatur seit den 1770er Jahren eine Form des literarischen Schreibens an Popularität, in der sich das schreibende Subjekt seiner eigenen Sprecherposition vergewissert. Damit wird der Akt des Schreibens zu einem Akt der Verortung im Raum, zu einem „Hinausgehen des Subjekts in den Raum“ und zu einer „Aneignung des Raums“ durch dasselbige.89 Vollzogen wird diese „Selbstverräumlichung“, indem sich das Erzähl-Subjekt – wie etwa in Rousseaus Rêveries oder Chateaubriands Text Itinéraire de Paris à Jérusalem (1801), der eine Verarbeitung realer Reise-Erlebnisse ist – eine Position in einem topografischen Gefüge zuweist und, in der Suggestion von Bewegung, sich in Raum und Zeit verortet.90 In diesem Kontext entwirft sich auch das weibliche Geschlecht, das als ‚Frauenzimmer‘ (wie der Begriff bereits nahelegt) in der Geschlechterdichotomie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vornehmlich dem Haus beziehungsweise der Privatsphäre zugeordnet ist und damit vermeintlich zu den Nicht-Reisenden gehört, zusehends als reisendes – sowohl in der Literatur als auch in der Porträtmalerei.91 Frauen konnten sich durch
88 Siehe hierzu exemplarisch Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen, hrsg. von Hermann Arnhold, Ausst.-Kat. LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Westfälisches Landesmuseum Münster, Regensburg 2008; Nana Badenberg, „Die Exotik des Dokumentarischen. Künstler auf Forschungsreisen im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Kunstgeschichte und Weltgegenwartskunst. Konzepte – Methoden – Perspektiven, hrsg. von Claus Volkenandt, Berlin 2004, S. 33–62; Michael Jacobs, The Painted Voyage. Art, Travel and Exploration 1564–1875, London 1995. 89
Rudolf Behrens und Jörn Steigerwald, „Raum – Subjekt – Imagination um 1800.
Einleitende Überlegungen“, in: Steigerwald und Behrens 2010 (wie Anm. 3), S. 1–13, Zitat S. 6. 90 Vgl. Rudolf Behrens, „Imaginativ durchwirkter Raum und gleitendes Subjekt in französischer Erzählliteratur um 1800“, in: Steigerwald und Behrens 2010 (wie Anm. 3), S. 117–143, Zitat S. 117. 91
Siehe exemplarisch Janina Christine Paul, Reiseschriftstellerinnen zwischen Orient und
Okzident. Analyse ausgewählter Reiseberichte des 19. Jahrhunderts; weibliche Rollenvorstellungen, Selbstrepräsentationen und Erfahrungen der Fremde, Würzburg 2013; Nina Trauth, Maske
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das Reisen also ungeahnte Freiräume schaffen. Deren spätere literarische Verarbeitung wiederum eröffnete den zu Hause gebliebenen ‚Frauenzimmern‘ imaginäre Freiräume, indem sie sich auf eine mentale Nach-Reise in den eigenen vier Wänden, im Lehnstuhl sitzend, begeben konnten. Dem Innenraum, dem „Gehäuse“, das zum „Bildspender der bewegungslosen Reise“ wird,92 kommt daher in der Literatur auch besondere Aufmerksamkeit zu. Einerseits bezieht sich der Begriff des ‚Gehäuses‘ hier real-räumlich auf einen Ort, etwa die Koje eines Schiffs, von dem aus die vorbeiziehende, erreiste Landschaft betrachtet werden kann. So beschreibt etwa die Schriftstellerin Therese Huber (1764–1829), von der auch zahlreiche Zimmerbeschreibungen überliefert sind, ihre Reise über die holländischen Grachten als ein sehendes Erfahren der Landschaft durch das Fenster: „So weit ich die Kanäle sah, sind sie immer so schmal, daß die Straße, welche meist zu beiden Seiten hinläuft, was darauf wandert, und was an ihr wohnt, mit in den Schauplatz des Ruefs [Schiffs] hineingezogen ist. Das Fahrzeug selbst bietet immer ein verändertes Personal des Theaters dar, denn es wird beständig gelandet, neue Gefährten aufzunehmen, und alte ans Land zu setzen [...].“ 93 Andererseits kann das ‚heimische‘ Interieur aber auch zum Ausgangspunkt des Reisens, einer sogenannten voyage imaginaire, werden. Als Ursprungstext dieser literarischen Gattung, die das Interieur imaginär erschließt beziehungsweise zum Ausgangspunkt von gedanklichen Reisen durch die eigenen vier Wände oder gar in die jenseits des Innenraums befindliche Ferne nimmt, gilt Xavier de Maistres Voyage autour de ma chambre aus dem Jahre 1790.94 Hierin beschreibt der Autor, wie er sich auf eine gedankliche Reise durch sein Zimmer begibt. und Person. Orientalismus im Porträt des Barock, Berlin u. a. 2009; Annegret Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln u. a. 1993. 92
Annegret Pelz, „Gehäuse – Bildspender der bewegungslosen Reise“, in: Construction
de l’identité dans la rencontre des cultures chez les auteurs d’expression allemande. II: Le voyage immobile/Die bewegungslose Reise, hrsg. von Patricia Desroches, Saint-Étienne 2009, S. 21–30, hier S. 26. 93 Zit. n. ebd., S. 24. 94 Zur literarischen Gattung der Zimmerreise vgl. Pelz 1993 (wie Anm. 91), S. 46–67; zu Xavier de Maistre siehe auch die knappe, aber informative Einführung in: Alain De Botton, Kunst des Reisens, Frankfurt am Main 2002, S. 261–265.
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„Des milliers de personnes qui avant moi n’avaient point osé, d’autres qui n’avaient pu, d’autres enfin qui n’avaient pas songé à voyager, vont s’y résoudre à mon exemple. L’être le plus indolent hésiterait-il à se mettre en route avec moi pour se procurer un plaisir qui ne lui coûtera ni peine ni argent? – Courage donc, partons. – Suivez-moi, vous tous qu’une mortification de l’amour, une négligence de l’amitié, retiennent dans votre appartement, loin de la petitesse et de la perfidie des hommes. Que tous les malheureux, les malades et les ennuyés de l’univers me suivent! – Que tous les paresseux se lèvent en masse! [...] – aucun obstacle ne pourra nous arrêter; et, nous livrant gaiement à notre imagination, nous la suivrons partout où il lui plaira de nous conduire.“ 95 Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu den Tapetenräumen, in denen fremde Völker und Kulturen vor Augen gestellt werden und die mit dem Topos der imaginären Reise beworben wurden. So schreibt etwa Jean-Julien Deltil, der die Model für die Vues du Brésil der Manufaktur Zuber entwirft, in einem auf den 4. April 1830 datierten Brief an den Firmenchef: „Nous avons pensé que rien n’était plus propre à exciter la curiosité que d’offrir au public un voyage pittoresque dans le Brésil [...]. On peut ainsi voyager sans sortir de chez soi.“96 Die Bildtapeten sind also visueller Ausdruck eines „spezifisch bürgerlichen und auf das Interieur gerichteten Weltverhältnisses“,97 das dem Imaginären eine wichtige Rolle in der Alltagskultur zuweist. Rudolf Behrens charakterisiert die von Diskursen um die imaginäre Erschließung des Raums durchwebte Zeit um 1800 daher auch als eine Epoche mit einer „ausdifferenzierte[n] Topographie [...] landschaftliche[r] Aussichtspunkte, Sehnsuchts-, Rückzugs-, Angst- und Gefährdungsorte. Sie bilden zusammen ein topologisches Netz, in dem der Erzähler seine Figuren sehnsuchtsvoll ausschreiten, aber eben auch immer in Differenz zu absenten, latent im
95 Xavier de Maistre, Œuvres complètes du Comte Xavier de Maistre. Précedé d’une notice sur l’auteur par M. Sainte-Beuve, Paris 1866, S. 5–6. 96 Zit. n. Bernard Jacqué, „1830–1862, Zweimal Brasilien: Zwei Panoramatapeten, zwei Blickpunkte und zwei dekorative Ausdrucksformen“, in: Brasiliana: Aquarelles de Jean-Baptiste Debret et vues panoramiques du XIXe siècle, hrsg. von Yvonne Lehnherr, Ausst.-Kat. Musée d’Art et d’Histoire Fribourg; Museus Castro Maya, Rio de Janeiro, Villars-sur-Glâne 2000, S. 65–75, hier S. 74. 97 Vgl. Pelz 1993 (wie Anm. 91), S. 62.
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Imaginären mitgeführten Orten bis zu einem nie erreichten Glückszustand ihre Selbstfindung aufschieben lässt.“ 98 Das „Neuartige der subjektzentrierten Literatur [und Kultur, K. E./A. S.] um 1800“ ist, so Behrens, also die „gleitende Bewegung durch differente Räume, seien es unmittelbar gegebene oder imaginär eingespielte“,99 die Vermischung von Real- und Imaginationsraum qua Text, Bild oder Wohnraum. Die Gestaltung der eigenen vier Wände mit Bildtapeten und das damit in den begeh- und bewohnbaren Raum implementierte ikonografische Programm folgt dieser in der Garten- und Kunsttheorie sowie der Reiseliteratur vorbereiteten Verknüpfung von Einbildungskraft und real vor Augen Gestelltem. Sie ist ‚Symptom‘ einer neuen „Art der Konstitution von Subjektivität im Medium von ‚Bildern‘ bzw. Texten“,100 wobei ein sich in den tapezierten Innenräumen aufhaltendes Subjekt, „dem eine kreative Einbildungskraft zugeschrieben wird“,101 zu einem „sich auf imaginäre ‚Bilder‘ beziehende[n]“ wird.102 Die kreative Gestaltung der eigenen Innenräumlichkeiten ist folglich immer mit der Imaginationsfähigkeit des Wohn-Subjekts zusammenzudenken, wenn es sich in einem mit Bildtapeten gestalteten Raum bewegt – ein Aspekt, der übrigens auch in Inneneinrichtungsmagazinen seinen Niederschlag gefunden hat, wenn es dort heißt: „Die schlanken Schilfstängel mit den Arabesken [...] haben etwas Reiches und Einladendes für die Phantasie [...].“103 Damit ist das Wohn-Subjekt, eine Formulierung Flussers aufgreifend, vergleichbar einem „Knotenpunkt [...], in welchem Informationen zusammenlaufen, sich überlagern (prozessiert werden), sich stapeln und durch den Menschen hindurch weiterlaufen“.104
98 99
Behrens 2010 (wie Anm. 90), S. 118. Ebd., S. 131.
100 Jochen Schulte-Sasse, „Einbildungskraft/Imagination“, in: Ästhetische Grundbegriffe (wie Anm. 87), Bd. 2, S. 88–120, hier S. 92. 101 Ebd. 102 Ebd., S. 93. 103 Magazin für Freunde des guten Geschmacks 1798 (wie Anm. 56), o. S. 104 Vilém Flusser, „Urbanität und Intellektualität“, in: Zeitmitschrift 6, 1989/90, S. 94–105, Zitat S. 102–103, hier zit. n. Heiko Christians, „Landschaftlicher Raum. Natur und Utopie“, in: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Stephan Günzel, Stuttgart 2010, S. 250–265, Zitat S. 260.
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Ku l t u re l l e u n d m o r a l i s c h e S e l b s t -Ve ro r t u n g e n i n Bildtapetenräumen Mit den geschilderten Intensivierungen der individuellen Wahrnehmung und der damit verbundenen Schulung der Verarbeitung von Sinneseindrücken ist das größere Feld der Wahrnehmungsästhetik und der Subjektivierungspolitiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts und frühen 19. Jahrhunderts umrissen, das für die Untersuchung der Bildtapetenräume so wichtig ist. Die imaginär erfahr- und bereisbaren Tapetenräume können aber auch zum Ausgangspunkt kultureller Selbst-Verortung und/ oder moralischer Erziehung werden. Wie eingangs erwähnt, umfasst das Repertoire szenischer Wanddekore neben Darstellungen historischer Ereignisse oder Schilderungen aus populären zeitgenössischen (Bildungs-)Romanen auch Darstellungen außereuropäischer Völker, Kulturen und Regionen (darunter Indien, Südamerika, China oder die Südsee). Diese erfahren durch die Form ihrer Präsentation sowie Zurschaustellung, genauer gesagt durch die geschickte Verknüpfung von Personenstaffage, als fremdartig empfundenen Stilelementen und einer als unberührt vorgestellten Natur, eine Exotisierung.105 Dabei sind es vor allem die Tableau-artig inszenierten Schilderungen oder „Gemälde der Sitten und Gebräuche“ der abgebildeten fremden Völker, um die bereits angeführte Formulierung Herders aufzugreifen, die dem Raumgefüge in den Augen der europäischen Bewohnerinnen und Bewohner den Charakter des Ungewöhnlichen und des Exotischen verleihen. Solche Tapetenräume verweisen damit auf ein gesteigertes allgemeines Interesse an der Auseinandersetzung mit alteritären Kulturen im ‚zweiten Entdeckungszeitalter‘ (ca. 1770–1830), wie es im Hinblick auf die Künstlerreisen, die nicht selten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsvorhaben stattfanden, schon angeklungen ist. Sie sind Spiegelbilder des stetig wachsenden Wissensdrangs sowie der Vertiefung von Kenntnissen über das ‚Fremde‘, das in unterschiedlichen medialen Formen – von Reiseberichten über Druckgrafiken bis hin zur Innenraumgestaltung – in Europa seine Verbreitung fand. 105 Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit des ‚Exotischen‘ siehe Carlos Rincón, „Exotisch/Exotismus“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, hrsg. von Karlheinz Barck, Stuttgart 2001, S. 338–366, sowie Charles Forsdick, „Revisiting Exoticism. From Exoticism to Postcolonialism“, in: Francophone Postcolonial Studies. A Critical Introduction, hrsg. von dems. und David Murphy, London/New York 2003, S. 46–55.
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Das Sprechen über das ‚Fremde‘/das ‚Andere‘, das zumeist (ebenso wie das Sprechen über Geschlechter) eine Differenz zum ‚Eigenen‘ impliziert und auch vom eurozentristischen Standpunkt her konstruiert,106 ist dabei in der Epoche um 1800 einem grundlegenden Wandel unterworfen. Es oszilliert zwischen der wissenschaftlichen Erforschung entfernter, außereuropäischer Weltgegenden, Völker und Kulturen und zivilisationskritischen philosophischen Diskursen, die im Alteritären den (vermeintlichen) Gegensatz von Kultur und Natur zu verhandeln suchen. Einen entscheidenden Anteil hieran hat ein verändertes Geschichtsverständnis: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird die Historie (griech. historia) als eine rein erzählende, berichtende abgelöst durch die Geschichte ‚moderner‘ Prägung, durch Geschichte als Wissenschaft und Analysekategorie, die nicht mehr an vorwissenschaftliche, teils christliche Zeitalterlehren gekoppelt ist.107 An die Stelle des zyklischen Zeitverständnisses tritt – erstmals mit dem Theologen und Historiker Johann Martin Chaldenius (1710–1759) – die lineare Vorstellung von Zeit sowie das Bewusstsein, einer bestimmten Epoche anzugehören.108 Dieses neue Verständnis von Geschichte impliziert auch das Bewusstsein für die Historizität von Kulturen beziehungsweise der eigenen Kultur. Parallel zur Geschichtswissenschaft (und der etwa zeitgleich entstehenden Geografie) entwickelt sich so die Anthropologie oder Ethnoanthropologie.109 Zu ihren wichtigsten Vertretern zählen Buffon (1707–88), Johann Reinhold
106 Hierzu exemplarisch die Beiträge in Ethnizität und Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, hrsg. vom Graduiertenkolleg „Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität“ an der Universität Trier, Köln 2005; Herbert Uerlings, Karl Hölz und Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hrsg.), Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2001. 107 Vgl. Reinhart Koselleck, „Vom Sinn und Unsinn der Geschichte“, in: Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, hrsg. von Klaus E. Müller und Jörn Rüsen, Hamburg 1997, S. 79–97, bes. S. 89–91. 108 Vgl. Cornelia Klinger, „Modern/Moderne/Modernismus“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, hrsg. von Karlheinz Barck, Stuttgart 2002, S. 121–167, hier S. 128. 109 Vgl. hierzu exemplarisch Jörn Garber, „Die ‚Bestimmung des Menschen‘ in der ethnologischen Kulturtheorie der deutschen und französischen Spätaufklärung“, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 14, 2002, S. 161–204; Hansjörg Bay und Kai Merten (Hrsg.), Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850, Wiesbaden 2006.
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Forster (1729–98) und Georg Forster (1754–94), Marie-Joseph Degérado (1772–1842), Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) sowie – mit ihrer „ästhetischen Anthropologie“110 der Gesichtswinkel und Profillinien des Menschen – auch Petrus Camper (1722–89) und Johann Caspar Lavater (1741–1801). Im Hinblick auf die historisch divergenten Entwicklungsstufen von Kulturen und Völkern weisen diese Autoren, stärker als in den vorangegangenen Jahrhunderten, jeder Ethnie einen festen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu – mit dem Ziel, diese in hierarchische Relation zum europäischen Subjekt beziehungsweise zur europäischen Kultur zu setzen. Die Spätaufklärung, die eigentlich die Gleichheit aller Menschen verfechten wollte, legt damit die ideengeschichtlichen Grundlagen für die taxonomische Einteilung der Menschen nach ‚Rassen‘111 und ethnischer Zugehörigkeit, die in der Hochphase des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, vermehrt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Legitimierung von Unterdrückung und Ausbeutung alles Nicht-Europäischen herangezogen werden sollten. Es überrascht daher wenig, dass sich die Hierarchisierung von Kulturen auch in Stildebatten rund um das Wohnen sowie in Einrichtungsmagazinen und -ratgebern niederschlägt, etwa in der Darstellung und Geschichte des Geschmacks der vorzüglichsten Völker in Beziehung auf die innere Auszierung der Zimmer und auf die Baukunst (1796–99) des Dresdner Hofmarschalls Joseph Friedrich von Racknitz. Dieses Werk ist (wie der Titel impliziert) eine Art „Geschichte des Geschmacks“, die – als Sammlungswerk publiziert – an die Stil- und Charakterdebatten um 1800 anknüpfen und in diese eingreifen möchte.112 Seine besondere Brisanz besteht 110 Helke Kammerer-Grothaus prägt den Begriff der „ästhetischen Anthropologie“ in ihrem Aufsatz „Der ‚veredelte Wilde‘. Exotismus und Schönheit nach Vorbild der Antike“, in: Hephaistos 16/17, 1998/99, S. 161–176, Zitat S. 163. 111 Für eine kritische und eingehende Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Begriffs der ‚Rasse‘, besonders in der Epoche der Aufklärung, siehe Annette Barkhaus, „‚Rasse‘ – Zur Genese eines spezifisch neuzeitlichen Ordnungsbegriffs“, in: Bay und Merten 2006 (wie Anm. 109), S. 33–52; dies., Rasse – zur Konstruktion des Begriffs im anthropologischen Diskurs der Aufklärung, Konstanz 1993. 112 Siehe hierzu Klaus Jan Philipp, Um 1800. Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1810, Stuttgart 1997, Kap. „Die Stimme des Adels: Racknitz’ Darstellung des Geschmacks“, S. 123–127; Hendrik Bärnighausen und Margitta Çoban-Hensel, „Joseph Friedrich Freiherr von Racknitz (1744–1818), seine ‚Darstellung und Geschichte des Geschmacks der vorzüglichsten Völker‘ und ein Ausstattungsprojekt für Schloss Moritzburg (1792/1793)“, in: Jahrbuch der Staatlichen Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen 11, 2003 (2004), S. 40–71.
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in der Mischung von ethnografisch-historisierender Beschreibung (u. a. von Sitten, Religion und Gebräuchen eines Volkes oder Kulturkreises), umfangreichen Schilderungen zum Stellenwert der bildenden Künste und Architektur in den verschiedenen Ländern sowie Vorschlägen für Zimmerverzierungen (zumeist Exterieur-Interieur-Ansichten) und Möblierungen zur gezielten Geschmacksbildung, die jeweils an konkrete Bewertungen und Hierarchisierungen gekoppelt sind, um den Leserinnen und Lesern die Wahl eines bestimmten (nationalen) Stils zu erleichtern (Abb. 5 & 6). Parallel dazu zirkuliert weiterhin, vermehrt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die Figur des ‚Edlen Wilden‘ in (Reise-)Literatur, Bildender Kunst und Geistesgeschichte. Der bon sauvage, dem Rousseau in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) mit der Idee des homme naturel Vorschub geleistet hat, verkörpert ein stereotyp-ideales Gegenbild zum Barbaren oder Wilden. In einem paradiesischen Ambiente lebend, zumeist einem Inselparadies, oder in ein Goldenes Zeitalter (zurück-)versetzt, zeichnet er sich vor allem durch ‚edle‘ Charaktereigenschaften wie Anspruchslosigkeit, Unvoreingenommenheit, den Wunsch nach Harmonie (mit der Natur und seinen Mitmenschen) sowie moralische Integrität aus. Einem Mythos gleich, verweist der Topos des ‚Edlen Wilden‘ auf einen Idealzustand des Menschen im Naturzustand, auf eine „paradiesische Anfangsphase der Menschheitsgeschichte“,113 in der das menschliche Geschlecht noch nicht durch die Zivilisation und ihre negativen ‚Segnungen‘ korrumpiert war und in der die Menschen in Frieden und Sorglosigkeit miteinander lebten. Damit ist der ‚Edle Wilde‘ vor allem eine Trope, die für Zivilisationskritik an der europäischen Gesellschaft(sordnung) steht oder die, wie Friedrich Schiller (1759–1805) es formuliert, zeigt, „was er [der Europäer, K. E./A. S.] selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist“.114 113 Urs Bitterli, Die Wilden und die Zivilisierten. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, 3. Aufl., München 2004, S. 377; für eine ausführliche Diskussion des Begriffs des ‚Edlen Wilden‘ siehe Monika Fludernik, Peter Haslinger und Stefan Kaufmann (Hrsg.), Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos (= Identitäten und Alteritäten, Bd. 10), Würzburg 2002; auch weiterhin Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt am Main 1986. 114 Friedrich Schiller, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede (1789)“, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 17: Historische Schriften: Erster Teil, hrsg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 359–376, hier S. 365.
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Geschichte des Geschmacks der vorzüglichsten Völker (1796–99)
Abb. 5 Neu-persischer Geschmack, aus Johann Friedrich Freiherr zu Racknitz’ Darstellung und
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Abb. 6 Neu-persischer Geschmack, aus Racknitz’ Darstellung und Geschichte des Geschmacks der vorzüglichsten Völker (1796–99)
In der Epoche um 1800 sind es vor allem die Bewohnerinnen und Bewohner der Südseeinseln – insbesondere Haitis –, die als Repräsentanten eines solchen verlorenen Naturzustands imaginiert werden. Einer der wichtigsten Literaten in diesem Zusammenhang ist Philibert de Commerson (1717–1773), der Haiti nicht nur als bukolisches Eiland in der Tradition de Bougainvilles konstruiert hat, sondern die Insel sogar in „Utopie“ umbenennen wollte.115 Auch in Robinsonaden, fantastischen Reisebeschreibungen und utopistischen Erzählungen spielt der Topos des ‚Edlen Wilden‘ – der zeitgenössischen Tendenz des Eskapismus entsprechend – eine wichtige Rolle.116 In ihnen erreicht die Stilisierung und Romantisierung des ‚Edlen Wilden‘ als Trope für Realitätsflucht und Zivilisationskritik, welche in der Unzulänglichkeit und Unzufriedenheit mit der eigenen (europäischen) Kultur begründet liegt, ihren literarischen Höhepunkt. Die hier angesprochenen Diskurse um Kultur, Zivilisation(sflucht) und Natur, aber auch die weiter oben angeführten unterschiedlichen 115 Vgl. Bitterli 2004 (wie Anm. 113), S. 388. 116 Ebd., S. 392–411.
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Wertigkeiten von Völkern und Ethnien finden – vermittelt über die Bildwelten tapezierter exotistischer Wanddekore – um 1800 auch in den Wohnraum Einzug. Die In-Bezug-Setzung von exotischer Landschaft(szenerie) und real-architektonischem Wohnraum dient dabei der Subjektformierung auf Seiten der Bewohnerinnen und Bewohner beziehungsweise Besucherinnen und Besucher. Das für Bildtapetenräume so charakteristische Changieren von Innen- und Außenraum kann hierbei mehrere Funktionen erfüllen: Einerseits impliziert es eine räumliche Vergegenwärtigung der Differenz von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘. Je nach Motiv wird den Bewohnerinnen und Bewohnern entweder ein zeitlich und/oder räumlich weit Entferntes oder das Binnenexotische, das die Differenz in der geografischen Nähe (etwa im Bäuerlichen oder im osmanisch besetzten Griechenland der frühen 1820er Jahre) sucht,117 vor Augen gestellt. Die exotischen Landschaftsdarstellungen und Menschenszenerien verweisen dabei auf ein fremdes und nur imaginär im tapezierten Bildraum zugängliches Außen im Innen. Andererseits ist dieses Außen – das meist durch unberührte Naturräume repräsentiert wird – das visuell-räumliche Gegenstück des ‚heimischen‘, auf Innerlichkeit, Privatheit und Intimität gerichteten Interieurs. In und mit diesem inszenieren sich die Bewohnerinnen und Bewohner respektive das bürgerliche Subjekt in Abgrenzung zu ‚unzivilisierten‘ Völkern und Ethnien entweder als „Kulturschöpfer und Naturbewältiger“118 oder verleihen, mit Verweis auf die moralische Integrität des ‚Edlen Wilden‘ und die bei diesem Konzept implizit mitschwingende Zivilisationskritik, ihrer Natursehnsucht und Weltflucht Ausdruck. Bildtapeten mit Darstellungen fremder Völker und Kulturen haben also einen wichtigen Anteil an der Formung kultureller Identität(en). In gewisser Weise sind sie ein Korrelat jenes modernen bürgerlichen europäischen Subjekts, das sich um 1800 nicht nur in seiner Privatheit, sondern auch als zugehörig zu einer bestimmten Kultur sowie (seit dem Ende der Napoleonischen Kriege im Jahr 1815) einer Nation einzurichten und zu verorten sucht.119 117 Zum Begriff des Binnenexotischen siehe Hermann Bausinger, Fremde Nähe. Auf Seitenwegen zum Ziel. Essays, Tübingen 2002, sowie ders., Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse, 11. Aufl., Tübingen 1999, Kap. „Folklore als Gegenwelt“. 118 Mit diesen Begrifflichkeiten charakterisiert Karl-Heinz Kohl in seinem Buch Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation (1986) das Selbstbild des bürgerlichen Subjekts um 1800, zit. n. Barkhaus 2006 (wie Anm. 111), S. 41. 119 Siehe hierzu exemplarisch Astrid Silvia Schönhagen, „Räume des Wissens – Räume
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In der Bezugsetzung zu Landschaften und den in sie gesetzten Elementen und Figuren formen sich Subjekte aber nicht nur, indem sie sich dem ‚Fremden‘ und seinen exotistischen Bildwelten gegenüber entwerfen. Sie verorten sich auch im Wechselspiel und in der Auseinandersetzung mit dem ‚eigenen Fremden‘, dem geschlechtlich Anderen. Hierzu verknüpfen sie das sinnliche Erlebnis der gestalteten, mittels Bildtapeten-Szenerien in den Wohnraum geholten Natur mit Vorstellungen von (zwangloser) Geselligkeit und geschlechtskonformer Kommunikation, wie sie in moralisierenden Traktaten, Grafiken und ästhetischen Schriften der Epoche Verbreitung finden. Das Verhältnis der Subjekte zueinander sowie zum (imaginierten) Landschaftsraum kann dabei durch die Zuordnung männlicher oder weiblicher Eigenschaften an bestimmte Bereiche der Natur und deren Kontrolle bestimmt sein. In Goethes Wahlverwandtschaften etwa gestaltet Charlotte die Landschaft in der Durchlässigkeit von Außen und Innen(raum) als symbolischen Raum: „An der Türe empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Tür und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte.“ 120 Wie Michael Niedermeier zeigt, macht die Protagonistin auf diese Weise deutlich, inwiefern ihr Lebensentwurf und der ihrer Mitmenschen auf „Requisiten einer nur gespielten Einsamkeit“ beruht und ihre Umgebung auf „Kulissen für einen auf exklusive Zweisamkeit hin berechneten Lebensgenuß“ ausgerichtet ist.121 Das Berechnende, Kalkulierte dieser Haltung wird vor allem darin offensichtlich, dass die Landschaft vor der Tür dem Ehemann wie einzelne Bildausschnitte, die wiederum ein zusam-
des Reisens. Vom Überschreiten imaginärer topografischer Grenzen im Wohnen“, in: archimaera 5, Juli 2013, S. 51–71 (www.archimaera.de/2012/grenzwertig/raeumedeswissens/index_html); dies., „Tapezierte Kolonialfantasien. Auf den Spuren der Inkas im Münsterland“, in: Nierhaus, Hoenes und Urban 2010 (wie Anm. 6), S. 173–182, sowie den Beitrag von Betje Black Klier in diesem Band. 120 Johann Wolfgang von Goethe, „Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman“, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. VI, hrsg. von Benno von Wiese und Erich Trunz, Hamburg 1960, S. 242–490, hier S. 243. 121 Michael Niedermeier, Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, ‚Gartenrevolution‘ in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, Berlin 1992, hier S. 20.
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mengesetztes Ganzes ergeben, präsentiert wird und diese somit Teil einer von, mit und durch Charlotte inszenierten Aufführung ist. Der weiter oben angeführte Diskurs von einer vorgeformten ‚Authentizität‘ und von gelebten Moral- und Natürlichkeitsvorstellungen im Alltag, in den sich auch die Bildtapeten einfügen, ist hier also literarisch und gleichsam als Konzentrat der verschiedenen Ebenen von Moral, Geschlecht, Wohnen und Landschaft bearbeitet. Der Wohnraum, in dem die Beziehungen zwischen den Geschlechtern unter anderem geformt und ausgehandelt werden, ist somit Teil eines Programms über die ästhetische Erziehung des Menschen, wie es von Friedrich Schiller und anderen Literaten mit dem hochmoralischen Ziel, die Gesellschaft über die Ästhetik in einen Zustand von Freiheit zu führen, in immer neuen Ansätzen entworfen wird. Dieses Freiheitsprinzip, das vor allem als Kulturmodell einer sich unaufhörlich vervollkommnenden (Bildungs-)Gesellschaft zu verstehen ist, lässt sich allerdings nur in einem fortwährenden philosophischen und poetologischen Erkenntnisprozess erschließen. Mikrokosmische Versuchsanordnungen – als Text, wie in Goethes Wahlverwandtschaften, oder als Bildwelten, wie in tapezierten (Landschafts-)Zimmern – haben folglich einen wichtigen Anteil an der Produktion eines solchen didaktischen Programms oder Kulturmodells.
A n n ä h e r u n g e n a n Wo h n d i s k u r s e i n d i e s e m B a n d Um die hier vorgestellten Bereiche der (ethnischen und geschlechtlichen) Subjektformierung, der Abgrenzung und Selbstvergewisserung, des Moralischen und zugleich Modischen, die alle in der Interaktion der Bewohnerinnen und Bewohner mit Bildtapeten-Interieurs aufscheinen und diese als didaktische Programme zu erkennen geben, in der Gliederung des Bandes sichtbar zu machen, haben sich die Herausgeberinnen für drei große Ideen- beziehungsweise Themenbereiche entschieden: Subjektformierungen im Wohnraum um 1800, Ferne Welten an der Wand sowie Dekor- und Objektgeschichten des Wohnens. Auf diese Weise kann der Diskurskomplex ‚Wohnen in und mit Bildtapeten‘ beziehungsweise das Feld, in dessen Koordinaten solche Bildtapeten einzuordnen sind, spezifischer aufgefächert werden.
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S u b j e k t f o r m i e r u n g e n i m Wo h n ra u m u m 1 8 0 0 Der erste Teil der Publikation widmet sich – ausgehend von zwei unterschiedlichen Textgattungen – der Formierung von Subjektpositionen im Interieur. Verhandelt werden Vorstellungen von Geschlecht und Alterität im Wohnen und wie diese an unterschiedliche Mitteilungstechniken und -strategien sowie allgemeine Reflexionen zu Innerlichkeit oder den Rückzug ins Private gekoppelt sind. Die Beiträge des Bereichs S u b j e k t f o r m i e r u n g e n i m Wo h n r a u m u m 1 8 0 0 zeigen exemplarisch auf, wie das Private und das Öffentliche, das mitnichten natürlich-vertraute Heim und die „Gesellschaftsarchitektur“ beziehungsweise ihr in das Interieur reichender „Maskenball“ (Cornelia Klinger) miteinander verknüpft sind und welche gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse oder (geschlechtlichen) Ausschlussmechanismen im Innenraum zum Tragen kommen können. Dabei wird das Interieur sowohl als Gedankenfigur im Sinne Walter Benjamins verstanden als auch ganz konkret als (fiktionalisierter) Ort zur Be- und Umschreibung von Geschlechterrollen, die in Wechselwirkung mit diesem gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer dunklere und groteskere Züge annehmen. To b i a s P f e i f e r - H e l ke analysiert unter dem Titel Das Zimmer der Albertine von Grün. Die Interieurbeschreibung als Zeitkritik einen Briefwechsel der jungen Hachenburgerin mit Johann Heinrich Merck. Ausgehend von dem Befund, dass in der Beschreibung ihres Zimmerinventars deutliche intertextuelle Bezüge zu Sophie von La Roches Aufsatz Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer aus der Zeitschrift Pomona erkennbar sind, arbeitet Pfeifer-Helke die Funktion der Interieurbeschreibung bei Albertine von Grün heraus, die eine ganz andere gewesen ist als bei der bekannten Salonnière. In den Spuren ihrer Biografie, die (einen Begriff Bettina Baumgärtels aufgreifend) in den „Trauerikonen“ an der Wand versinnbildlicht sind und die in ihrem Zimmer erwandert werden können, liest Pfeifer-Helke die „Zweifel“ der jungen Briefschreiberin über das Rollenbild der Frau in der Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts sowie ihre eigenen prekären Lebensumstände. Die literarisierende Beschreibung der Ausstattung ihres Zimmers spiegelt vor diesem Hintergrund die „Vielschichtigkeit der Interieurbeschreibung um 1800“, die sich eben nicht in einem an das Literatentum Sophie von La Roches angepassten Schreibstil erschöpft.
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Während bei Pfeifer-Helke ein historischer Briefwechsel im Mittelpunkt des Interesses steht, widmet sich C o r n e l i a K l i n g e r in ihrem Beitrag einem Text von Walter Benjamin, den sie in seinen Mikrostrukturen analysiert, um Benjamins Reflexionen zu einer Theorie des Interieurs herauszukristallisieren. Ausgehend von Fragen nach der Innerlichkeit und Natur in Walter Benjamins Theorie des Interieurs stellt sie anhand ausgewählter Textpassagen aus Louis-Philippe oder das Interieur – die der Philosoph und Literaturkritiker mit Blick auf das späte 19. Jahrhundert schrieb – das sprachlich zum Vorschein kommende Verständnis einer „weltbildenden Funktion des Interieurs“ heraus. Mit Bezug auf Niklas Luhmann und ein Gedicht Charles Baudelaires zeigt sie eindrücklich, wie sich das „einen ex-zentrischen Standort“ einnehmende Individuum sowie Diskurse um Ferne und Vergangenheit (als Entgegensetzungsverhältnisse) und der Rückzug in ein privates Refugium gegenseitig bedingen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Analyse der Schnittstellen zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Wohnstube und Natur, wie sie Benjamin entwickelt. Klinger legt dar, inwiefern sich das mit Phantasmagorien von Ferne, Exotik und Vergangenheit angefüllte Interieur in Form von in den Innenraum hineingeholten Pflanzen, aber auch Zwischenräumen wie Balkonen, Loggien, Pergolen und Wintergärten „in Richtung Natur“ ausdehnt. Dabei werden auch die Subjekte im wahrsten Sinne des Wortes naturalisiert – so der Hausherr, der als Spinne im Netz charakterisiert wird, oder die Interieurbewohnerin in Baudelaires Gedicht Une martyre, die als schöne Blume sowohl mit Tod als auch mit Verlebendigung assoziiert wird und die Benjamin seinem Text als Leitmotiv vorangestellt hat. Klinger spannt so einen Bogen von den Interieur-Imaginationen bei Benjamin und den darin aufgegriffenen Diskursen über geschlechtliche Zuschreibungen und Naturalisierungen im und mit dem Interieur bis zur modernen Gesellschaftsordnung, die sich in und mit dem Interieur bildet und weiterformt. Auf diese Weise verknüpft die Autorin Naturalisierungstendenzen im und um das Interieur mit Überlegungen zur Subjektformierung um 1800 und plädiert für eine Diskursgeschichte des Wohnens, die das Interieur und seine medialen Repräsentationen (wie etwa Zimmerbilder) als Teil der Gesellschaftsarchitektur und als „Privat-Mythologien“ entlarvt.
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Fe r n e We l t e n a n d e r Wa n d Anschließend an diese Überlegungen zu Subjekt und Interieur stehen im zweiten Themenblock, der mit Fe r n e We l t e n a n d e r Wa n d überschrieben ist, konkrete tapezierte Bildwelten im Mittelpunkt. Ernst Bloch charakterisiert im Prinzip Hoffnung (1959) den Wunsch, außereuropäische Völker, Geografien und Landschaften im Interieur einzufangen als Nicht-Sein oder „Kein-Sein im Scheinen“, als die Lust, „die alltägliche Wohnung unter anderer Flagge segeln zu lassen“.122 Anhand ausgewählter, exotischer und exotisierender Wanddekore wird diesem „Segeln unter anderer Flagge“ in der europäischen Wohngeschichte nachgegangen. Die leitende Fragestellung ist, welche Topoi außereuropäischer Destinationen – genauer Asiens, Amerikas und der Südsee – über Reiseberichte oder druckgrafische Medien Einzug in den (privaten) Wohnraum fanden und damit an einer Exotisierung des Interieurs um 1800 teilhatten. Dabei wird auch gefragt, ob und inwiefern über die Wahl bestimmter Tapeten und Tapetenmotive und die damit verbundene Evokation zeitgenössischer Diskurse über das ‚Fremde‘ und das ‚Eigene‘ eine Politisierung des Wohnraums stattgefunden haben könnte. Es wird also diskutiert, wie sich in der Visualisierung und Verräumlichung des ‚Fremden‘ (oder gar der Kolonie) Inneneinrichtungsmoden, politische Diskurse und (historisch-politische) Mythenbildung gerade auch im Hinblick auf das ‚Eigene‘/die eigene europäische Nation oder Kultur verschränken. A s t ri d A r n o l d widmet sich in ihrem Beitrag Der ‚Wilde‘ im Wohnzimmer. Überlegungen zur Vermarktung und Rezeption von Panoramatapeten am Beispiel von Les sauvages de la mer pacifique einer ausführlichen Analyse einer Dufour’schen Bildtapete, die unter dem Namen Die Wilden des Pazifik (oder: Die Reisen des Kapitän Cook) bekannt ist und als eine der frühesten exotisierenden Bildtapeten überhaupt gilt. Diese Tapete, auf der sich ein wahres Panorama der Völker und Ethnien der Südsee entfaltet, wurde damit beworben, dass sie zu (Bildungs-)Reisen in den Pazifik einlade. Arnold diskutiert vor diesem Hintergrund, inwiefern sich in den Darstellungen sowie der Rezeption dieses Wanddekors die Modi des (ethnografischen) 122 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, in fünf Teilen, Kap. 1–32 (= Werkausgabe, Bd. 5), Frankfurt am Main 1985, S. 438.
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Reiseberichts sowie des ‚Edlen Wilden‘, insbesondere im Hinblick auf die Bewohnerinnen und Bewohner Tahitis, mit der zeitgenössischen Mode des Landschaftszimmers durchdringen. Sie bettet die Bildtapete ein in ein breiteres ideengeschichtliches Diskursfeld, das weiterführende Aussagen, etwa zum Bildungsstand oder der sozialen Käuferschicht solcher Wanddekore, ermöglicht. Ein wichtiges Referenzfeld ist dabei – neben der Literatur – das Theater beziehungsweise die Bühne. Mit Verweis auf die Tableau-artige Inszenierung der Personenstaffagen auf Bildtapeten sowie die (bürgerliche) Mode, Lebende Bilder um 1800 in privaten Interieurs aufzuführen, stellt Arnold die These auf, dass Bildtapeten auch als Theaterkulissen fungiert haben könnten. Auch F r i e d e r i ke Wa p p e n s c h m i d t befasst sich in Raum, Kulisse und synästhetische Impulse. Zur Rezeption original chinesischer Bildtapeten in Europa mit dem Aspekt des Bühnenhaften, allerdings unter anderen Vorzeichen. Sie koppelt den Themenkomplex des Theatralen an konkrete Raumgefüge sowie Überlegungen zu synästhetischen Wahrnehmungsprozessen in selbigen. In ihrem Beitrag zu sogenannten original chinesischen Bildtapeten, die als Luxusprodukte in Asien produziert und später in europäische Innenräume (zumeist Schlösser) integriert wurden, zeigt sie den Wandel der Chinarezeption zwischen dem 18. und frühen 19. Jahrhundert auf, die – bedingt durch das Aufkommen des Orientalismus sowie die allgemeine Abwertung Chinas im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts – Bezugnahmen auf diesen Kulturkreis allmählich als unzeitgemäß erscheinen ließ. Gleichzeitig entwickelt sie eine Typologie dieser spezifischen Form der Inneneinrichtungsmode. Sie unterscheidet zwischen floralen Tapeten, die vor allem im 18. Jahrhundert als authentische Informationsquellen über China betrachtet wurden, und panoramatischen Tapetenformaten, auf denen Sitten, Gebräuche und Geografien der ‚Sinesen‘ abgebildet sind. Letztere erinnern in ihrer formal-ästhetischen Komposition an jene szenischen, allerdings (teils) später entstandenen Wanddekore, die im Mittelpunkt dieser Publikation stehen und die, ebenso wie die chinesischen Panoramatapeten, mit dem Topos der ‚Augenreise‘ beworben wurden. Wappenschmidt legt jedoch noch einen anderen, in der Tapetenforschung bisher nicht berücksichtigten Aspekt der Chinamode offen. Sie erörtert, dass chinesische Wanddekore seit 1750 in Bezug zu fulminanten Opern und Dramen der Chinamode sowie der Festkultur gesehen wurden oder – wie im Fall des Bühnentrakts des
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Neuen Palais in Potsdam, in dem sich die „Scheinwelten Europas und Chinas“ in der Szenerie eines chinesischen Neujahrsfestes sowie der Commedia dell’Arte spielerisch durchdringen – zur Inszenierung synästhetischer Raumerlebnisse in und mit asiatischen Kulissen dienten. In diesem Sinne verknüpft der Beitrag von Wappenschmidt das Themenfeld der Exotik im Innenraum mit Fragen nach der Interdependenz von Theater/ Bühne, (bühnenartiger) Inszenierung, Repräsentanz und Selbstformierung im kulturellen Umfeld des europäischen Adels um 1800. Die Frage nach der Bedeutung und Formierung kultureller Subjektpositionen spielt auch in den dritten Beitrag des Themenbereichs zu tapezierten Darstellungen außereuropäischer Bildwelten hinein. B e t j e B l a c k K l i e r beleuchtet in Die Bonapartist-Utopia-Bildtapete. Zur Verschränkung von Alltagsgeschichte, Literatur und französischer (Kolonial-) Politik in Alabama und Texas die vielfältigen historischen Bezüge, die sich im Spannungsfeld von europäischer (respektive französischer) und amerikanischer Geschichte ergeben, beziehungsweise wie diese in der Innenraumgestaltung ihren Widerhall fanden. Sie nähert sich zu diesem Zweck einer als Bonapartist Utopia bezeichneten handgemalten Bildtapete, die eine sehr spezifische Episode der postnapoleonischen Ära illustriert, aus verschiedenen Richtungen an. 1817/18, also für knapp zwei Jahre, existierten im Grenzgebiet der Vereinigten Staaten und des heutigen Mexiko zwei französische Kolonien, die unter dem Namen Champ d’Asile und Aigleville bekannt geworden sind und die von französischen Exilanten bewirtschaftet wurden. Ausgehend von der Figur des soldat-laboureur (des Soldaten-Bauern), der für Klier die Kultivierung und Inbesitznahme des Landes durch die Franzosen versinnbildlicht, diskutiert die Autorin, wie die idyllische Landschaftstapete zum Medium anti-bourbonischer Propaganda werden konnte. Sie identifiziert die visuellen Vorlagen des Wanddekors, verweist auf die Rezeption der französischen Kolonie in der Literatur (insbesondere bei Balzac) sowie im Vaudeville-Theater der Epoche und stellt Bezüge zur tagesaktuellen Presse in Frankreich her, in der die französischen Kolonisten zum Spielball sowohl von Royalisten als auch Anti-Royalisten wurden. In dieser Verknüpfung von Literatur, Kulturgeschichte, Politik und Mythenbildung führt sie die Fragilität von Geschichte beziehungsweise Geschichtsschreibung und deren ideologischen Subtexten vor Augen und zeigt, dass Letztere bis in die Gestaltung von Innenraumdekoren hineinwirken können.
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Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst
D e k o r - u n d O b j e k t g e s c h i c h t e n d e s Wo h n e n s Nach diesen Analysen von Untersuchungsgegenständen aus dem Bereich der Tapetenkunst stehen im dritten Teil des Bandes, der mit dem Titel D e ko r - u n d O b j e k t g e s c h i c h t e n d e s Wo h n e n s überschrieben ist, noch einmal eine Diskursgeschichte und kulturwissenschaftliche Betrachtung des Wohnens mit Tapeten, aber auch anderen Bild-, Ornament- und Objektanordnungen im Mittelpunkt des Interesses. C l a u d i a S e d l a r z stellt in ihrem Beitrag Objektwahl – eine Art von Ästhetik. Über ästhetische Wahl und Identitätsbildung Überlegungen zur Verschränkung von Inneneinrichtung und politischen respektive nationalen Diskursen an. Anders als Klier in ihrer Untersuchung der BonapartistUtopia-Bildtapete als Ausdruck und Referenz auf die (post-)koloniale Geschichte Frankreichs betont Sedlarz dabei den ästhetischen Kontext der Epoche um 1800, um das Wohnen als Teil einer allgemeineren Objektgeschichte umkreisen zu können. Ausgehend von der Schilderung des antiken Paris-Urteils sowie Porcias Kästchen-Episode aus William Shakespeares Der Kaufmann von Venedig legt sie dar, wie sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit Autoren wie Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Karl Philipp Moritz in der Ästhetik die Kategorie des Geschmacksurteils herausbildete. Insbesondere in Preußen wurde der Geschmack zum Medium gesellschaftlicher Interessensverteilungen und staatlicher Reglementierungen. Einen entscheidenden Anteil hieran hatte die Berliner Akademie der Schönen Künste und Mechanischen Wissenschaften, die über ihre Schriften und ihre Ausstellungstätigkeit auf die handwerkliche Warenproduktion des Landes Einfluss zu nehmen suchte und so eine Ästhetisierung des Alltagslebens und der Wohnkultur vorantrieb, welche den Klassizismus zum nationalen Stil erhob. Sedlarz beleuchtet in ihrem Artikel die damit einhergehende Semantisierung von Objekten und zeigt, wie sich Konsum, Bildungsdiskurse und die Herausbildung einer bürgerlichen Identität in dieser Zeit durchdringen und der (ästhetisch vermittelte) Staatsapparat – der „Staatsklassizismus“ – in gewisser Weise an die Stelle des Marx’schen Kapitals tritt. A n g e l a B o rc h e r t analysiert in ihrem Beitrag eine andere, im weiteren Sinne ebenfalls ‚klassische‘ Form der Alltagskultur: die Arabeskgroteske. In ihrer Untersuchung zur Raumästhetik um 1800 geht sie auf eine ara-
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Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen
beske Leinwandtapete von 1753 sowie eine handgedruckte Papiertapete der Wende zum 19. Jahrhundert ein, die beide auf ein in dieser Zeit sehr beliebtes Pierrot-Motiv rekurrieren. Das hierin aufscheinende „Spiel der Bildmodi“ nimmt Borchert zum Anlass, über Wahrnehmungsirritationen, Bühnenwirkung und Grenzüberschreitungen im Wohnen zu reflektieren. Mit Verweis auf ein klassizistisches Arabeskenprogramm Christian August Semlers aus dem Journal des Luxus und der Moden kommt sie außerdem auf die räumliche Positionierung und Anbringung von Arabesken, sprich ihren Weg von der Peripherie ins Zentrum von Gebäuden zu sprechen. Borcherts Argumentation in Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘ in der Raumästhetik des Interieurs um 1800 verzahnt so die Bereiche der Arabeskentheorie des Rokoko und Klassizismus, der Wahrnehmungsästhetik und der Traktat-Literatur (zu Zimmerfolgen) mit Didaktiken aus (Mode-)Journalen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt die Arabeske schließlich eine Psychologisierung, der die Autorin am Beispiel von Edgar Allan Poes Text Ligeia, mit dem der Schriftsteller die vorangegangene „Historie der Arabeskgrotesken“ zu übertrumpfen suchte, nachspürt. Damit wird kultur- und motivgeschichtlich der Bogen gespannt zu Cornelia Klingers Überlegungen zu Erotik und Exotik sowie der Unheimlichkeit des Interieurs im ersten Themenblock dieses Sammelbandes. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts geht es zurück in die höfische Welt der Aufklärung und deren Bild- und Raumprogramme. Unter der Fragestellung Was macht das Tier im Interieur? Gemälde exotischer Tiere als naturhistorische Objekte und als Mittel der Distinktion am Hof von Schwerin wendet sich S i l ke Fö r s c h l e r dem Themenkomplex von Interieur und Exotik zu, wobei sie den Fokus auf die Verschränkung von Diskursanalyse, Repräsentationskritik und topologischen Gesichtspunkten legt. Sie untersucht dazu die Menagerie-Serie Jean-Baptiste Oudrys (1686–1755), der Mitte des 18. Jahrhunderts exotische Tiere aus den königlichen Gehegen in Versailles für den Schweriner Hof abbildete. Diese visuell in den Raum geholten Tiere haben, so die Argumentation Förschlers, die Funktion von Naturalia, die als (repräsentierende) Wandbebilderungen der „naturhistorischen Erkenntnisfindung“ dienten. Indem die Autorin präzise Analysen des Bildaufbaus der einzelnen Gemälde in Bezug zu Beschreibungen aus Buffons Histoire naturelle setzt, legt sie dar, dass die Tierdarstellungen zu „Objekten des studierenden Blicks“ werden konnten. Auf einer weiteren Ebene thematisiert sie die Positionierung des
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Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst
betrachtenden Subjekts inmitten dieser Tierbilder sowie ihre Bedeutung für die Selbstdarstellung und -repräsentation des (besitzenden) Subjekts. In der gemalten Menagerie spiegle sich nicht nur die zeitgenössische Begeisterung für Naturstudium und -beobachtung, sondern auch ein klassenspezifisches Bedürfnis des Adels wider, der in der Verknüpfung von Luxus, Kunst, Naturstudium und Exotik den persönlichen Status und Reichtum sowie die eigene Macht in Innenräumen zur Schau stelle. Somit wird deutlich, dass sich ‚Augenreisen‘ auch in Form einer Erkundung von Tier-Exotik in einem visuell aufgerufenen ‚Interieur-Zoo‘ vollziehen können und dass über die Tierdarstellungen und deren diskursive Verortung im Raum ganz spezifische topologische Relationen und Subjektpositionierungen aufgerufen werden, die den ‚bloßen‘ Objektstatus von Dekor- und Inneneinrichtungsgegenständen infrage stellen. Die auf den vorangegangenen Seiten skizzierten Beiträge, die sich aus verschiedenen Blickrichtungen Subjektivierungsprozessen im Wohnen um 1800 annähern, sind infolge des internationalen Workshops Tapezierte Interieur-Anordnungen entstanden. Dieser fand im Rahmen des Forschungsfeldes wohnen +/− ausstellen und als ein Ergebnis des intensiven Austauschs innerhalb der Forschungsgruppe am 04./05. Mai 2012 an der Universität Bremen statt. Sowohl diese Veranstaltung als auch die Drucklegung dieser Publikation wären ohne die großzügige finanzielle und ideelle Unterstützung des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender nicht möglich gewesen. Ein ganz herzlicher Dank geht daher an Irene Nierhaus und Kathrin Heinz, die beiden Leiterinnen des Forschungsfeldes und des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender sowie Herausgeberinnen der Schriftenreihe wohnen +/− ausstellen. Danken möchten wir außerdem Christian Heinz für den Satz und das Layout dieses Buches, Ulf Heidel für das Korrektorat, Bernhard Geyer für die Übersetzung des Textes von Betje Black Klier aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche sowie allen Autorinnen und Autoren, die durch ihre intensive und in hohem Maße transdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ‚Interieur und Bildtapete‘ zum Gelingen dieser Publikation beigetragen haben. Die Herausgeberinnen im Februar 2014
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Subjektformierungen im Wohnraum um 1800
Tobias Pfeifer-Helke
Das Zimmer der Albertine von Grün Die Interieurbeschreibung als Zeitkritik
In einem Brief zur Jahreswende 1784/85 erkundigte sich der Darmstädter Literat, Kunstschriftsteller, dilettierende Naturforscher und Herausgeber Johann Heinrich Merck (1741−1791) nach den Lebensumständen seiner Briefpartnerin Albertine von Grün (1749−1792), die im Beust’schen Haus in der Residenzstadt Hachenburg im Westerwald lebte.1 In der Antwort vom 6. Januar 1785 beschrieb sie ihm – seinem Wunsch folgend – die Gegenstände ihres privaten Zimmers, dessen Wände voller Reproduktionen nach Gemälden hingen.2 An einer ersten, grau gestrichenen Wand links des Eingangs hing an zentraler Position die Kopie einer Druckgrafik, die Kleopatra mit dem sterbenden Marcus Antonius in ihren Armen darstellt (Abb. 1). Das Motiv war nach einem Gemälde von Pompeo Girolamo Batoni (1708−1787) aus dem Jahr 1778 gefertigt und von Johann Georg Wille (1715−1808) in Paris gestochen worden.3 Darüber hing die Phyllis von Heinrich Sintzenich
1
„Von meinem Stübchen wollen Sie wißen“, schrieb Albertine an Merck. Der vor-
ausgegangene Brief des Darmstädter Dichters hat sich nicht erhalten. Siehe Johann Heinrich Merck, Briefwechsel, hrsg. von Ulrike Leuschner u. a., Göttingen 2007, Brief Nr. 721, S. 635–643, hier S. 637. Zu Albertine von Grün siehe Albertine von Grün. Ein Frauenleben im Umkreis des jungen Goethe. Briefe, Biographien, Würdigungen, hrsg. von Heinrich Schneider, Darmstadt 1986, sowie Albertine von Grün und ihre Freunde. Biographien und Briefsammlung, hrsg. von Karl Schwartz, Leipzig 1872. Das Beust’sche Haus befand sich in Hachenburg in der Nähe des Rathauses. Zur Geschichte des Gebäudes siehe www.regionalgeschichte.net/regionen/weitere-regionen/westerwald/hachenburg/ bauten-und-oertlichkeiten-623/beustsches-haus-379.html (6.4.2013). Für wertvolle Hinweise möchte ich ganz herzlich Frau Prof. Dr. Angela Borchert danken. 2 Vgl. Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 3, Brief Nr. 721, S. 637–638. 3 Charles Le Blanc, Catalogue de l’oeuvre de Jean Georges Wille, graveur, avec une notice biographique, Leipzig 1847, S. 7−8, WV 4.
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Das Zimmer der Albertine von Grün
Abb. 1 Rekonstruktion der ersten Wand im Zimmer der Albertine von Grün
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(1752−1812) nach einem Gemälde von Carlo Dolci (1616−1686), eine griechische Sagengestalt, die sich aus Gram über die Abwesenheit ihres Geliebten das Leben nahm und in der Ikonografie als Schäferin dargestellt wurde.4 Eingefasst wurde das Blatt von den weiblichen Allegorien der Musik5 und der Malerei6. Die streng symmetrisch aufgebaute Hängung umfasste weiterhin Porträts des Malers Anton Raphael Mengs (1728−1779)7 unterhalb der Kleopatra-Darstellung sowie der Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749−1832) und William Shakespeare (1564−1616).8 Ebenso waren die Prophetin Kassandra9, eine als Beschützerin des Feuers bekannte Vestalin10, eine Madonna mit Christus11, die christliche Märtyrerin Cecilia12, Sophonisbe13, Emilia14, die asiatische Königin Semiramis15 und das Paar Petrarca und Laura zu sehen.16 Darüber 4
Charles Le Blanc, Manuel de l’amateur d’estampes contenant un dictionnaire des graveurs
de toutes les nations, Bd. 3, Paris 1857−88, S. 526, WV 32. 5
La Musique von Heinrich Sintzenich nach einem Gemälde von Rosalba Carriera
(1675–1757), 1704, in: ebd., S. 527, WV 36. 6
La Peinture von Heinrich Sintzenich nach einem Gemälde von Angelika Kauffmann
(1741−1807), 1770, in: ebd., WV 37. 7 Ebenfalls ein Druck von Heinrich Sintzenich nach einem Selbstporträt von Mengs, siehe ebd., S. 526, WV 9. 8
Das Porträt Goethes findet sich in Johann Caspar Lavater, Physiognomische Frag-
mente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig 1775–78, Dritter Versuch, nach S. 222. Das Shakespeare-Porträt ebd., Vierter Versuch, Tafel XXI. 9 Kassandra von Heinrich Sintzenich nach einem Gemälde von Anton Hickel (1745– 1798), 1784, in: Le Blanc 1857−88 (wie Anm. 4), S. 526, WV 28. 10
Ein Stich von Sintzenich aus dem Jahr 1781 nach einem Gemälde von Anthon
Schoonjans (1650–1726), in: ebd., WV 27. 11 Ebd., WV 18 und 19. 12 Die heilige Cäcilia von Heinrich Sintzenich nach einem Gemälde von Domenichino (1581−1641), in: ebd., WV 23. 13 Sophonisbe von Heinrich Sintzenich nach einem Gemälde von Francesco Solimena (1657−1747), 1783, in: ebd., WV 31. Sophonisbe ist eine Gestalt der griechischen Mythologie, die sich vergiftete, um im Zweiten Punischen Krieg nicht den Feinden in die Hände zu fallen. 14 Emilia von Heinrich Sintzenich nach einem Gemälde von Angelika Kauffmann, in: ebd., S. 527, WV 38. 15 Nach einem Gemälde von Giovanni Battista Cipriani (1727–1785). Die Darstellung bezieht sich auf die Oper Zémire et Azor, die am 2. Mai 1780 in Mannheim aufgeführt wurde. Siehe ebd., S. 526, WV 33. 16
Die Begegnung von Laura de Noves (1307–1348) mit Francesco Petrarca im Jahr
1327 inspirierte den italienischen Dichter über 20 Jahre hinweg und ging als Beispiel der platonischen Liebe in die europäische Geschichte ein. In der Literaturwissenschaft gibt es zum Petrarkismus beziehungsweise zum petrarkistischen Liebesdiskurs umfangreiche Forschungen, grundlegend Gerhard Regn, „Petrarkismus“, in: Historisches Wörterbuch der
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Das Zimmer der Albertine von Grün
hingen insgesamt 16 Gipsabgüsse und zwei Miniaturgemälde. Sie zeigten die weissagenden Sibyllen sowie Albertine von Grüns Familienmitglieder. In einer Ofennische hingen nicht weniger als 22 der um 1800 sehr beliebten Silhouetten. Dann folgte ein kleines Segment, an dem jeweils zwei holländische Landschaften nach den Malern Jan Both (1618−1652)17 und Philips Wouwerman (1619−1668)18 hingen. Hier waren auch vier Gipsabgüsse angebracht. Es folgten sodann eine Tür in einen Nachbarraum und ein Ölgemälde der Freundin Caroline von Wieger sowie ein weiteres von Albertines Vater Detmar Heinrich Grün (1714−1792). Ebenso reich gestaltet war die dritte Wand: Hier hingen das Porträt der Gemahlin des Herodes Antipas, der Johannes den Täufer enthaupten ließ19, ein Druck mit Beatrice Cenci (1577−1599)20, die aus Furcht vor weiteren Gewalttätigkeiten ihres Vaters diesen ermordete, Christus mit einem Kind21 und eine nicht näher identifizierbare Madonna. Es folgten ein Fenster und ein Spiegel, über dem fünf Porträtsilhouetten hingen, ein zweites Fenster und schließlich neben diesem Skizzen von Johann Heinrich Merck und dem von Albertine verehrten Johann Wolfgang von Goethe. An der vierten und letzten Wand stand ein Bücherregal. Als Mobiliar befanden sich im Raum ein Schreibtisch mit sechs Porträts sowie Büsten der Götter Apollo22 und der Venus Medici23. Weiterhin gab es einen Tisch mit sechs Stühlen und eine Kommode, in der Albertine Utensilien zum Malen, Stricken, Nähen und Kochen verwahrte. Rhetorik, Bd. 6, hrsg. von Gert Ueding, Tübingen 2003, Sp. 911–921, sowie Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn (Hrsg.), Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, Stuttgart 1993. 17
Es könnte sich um ein Bildpaar aus einer Folge von insgesamt vier großformatigen
italienischen Landschaften handeln. Siehe Friedrich W. H. Hollstein, Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts ca. 1450−1700, Bd. 3, Amsterdam 1949, S. 158, WV 1−4. 18 Eine Identifizierung ist nicht möglich. 19 Das Blatt ist nicht zu identifizieren. Zur Geschichte siehe Mt 14, 1–11 sowie Mk 6, 14–29. 20
Siehe die Reproduktion des Gemäldes von Guido Reni in Lavater 1775–78 (wie
Anm. 8), Vierter Versuch, nach S. 124. 21 Es könnte sich dabei um eine Darstellung wie Christus mit dem Kind handeln, die Johann Heinrich Lips (1758−1817) nach einem Gemälde von Benjamin West (1738−1820) radierte und die Johann Caspar Lavater (1751−1801) in den Physiognomischen Fragmenten publizierte, siehe ebd., nach S. 450; zur Grafik von Lips siehe Joachim Kruse, Johann Heinrich Lips (1758–1817). Ein Zürcher Kupferstecher zwischen Lavater und Goethe (= Kataloge der Kunstsammlung Veste Coburg), Coburg 1989, S. 118−119, Kat. 54. 22
Vermutlich handelt es sich dabei um eine Büste nach der berühmten Statue des
Apollo Belvedere, http://census.bbaw.de/easydb/censusID=150779 (3.12.2012). 23 Siehe http://census.bbaw.de/easydb/censusID=158343 (3.12.2012).
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A l b e r t i n e vo n G r ü n u n d S o p h i e vo n L a Ro c h e Die Objekte im Zimmer der Albertine waren entweder Kopien nach druckgrafischen Reproduktionen bekannter Gemälde oder massenhaft hergestellte Gipsabgüsse nach Skulpturen. Offensichtlich ging es ihr also nicht darum, einen Raum voller künstlerischer Preziosen vorzustellen. Und doch schilderte sie ihr unmittelbares Wohnumfeld in einer geradezu detailbesessenen Weise, sodass man sich bereits bei einem ersten Blick auf den Text fragt, was sie mit dieser Auflistung bezweckt haben mag. Meinte sie, dass sich Merck tatsächlich für jedes noch so kleine Detail interessierte? Hier sei argumentiert, dass Albertine mit ihrer Beschreibung keinen Spiegel ihres innersten Seelenzustands gab, für den das Interieur häufig herangezogen wird.24 Ihr Brief artikuliert im Medium des Zimmerinventars eine versteckte, aber eindeutige Kritik an den Lebensumständen, für die sie ihr gesellschaftliches Umfeld und die familiäre Situation verantwortlich machte. Bekannt ist, dass der Text auf einen anderen Bezug nimmt, ohne diesen ausdrücklich zu erwähnen.25 Es handelt sich dabei um den von Sophie von La Roche (1730−1807) in ihrer Zeitschrift Pomona veröffentlichten Aufsatz Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer aus dem Jahr 1783: Darin beschrieb die Dichterin ausführlich und detailliert ihr persönliches Wohnambiente im Haus des Geistlichen Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld (gest. 1822) in der Nähe des Doms zu Speyer, in dem sie mit ihrer Familie in den Jahren von 1780 bis 1786 lebte (Abb. 2).26 Vergleicht man beide Texte miteinander, fällt auf, dass Albertine Objekte ihr Eigen nannte, die auch 24
Siehe Claudia Becker, Zimmer – Kopf – Welten. Zur Motivgeschichte des Intérieurs im
19. und 20. Jahrhundert, München 1990; Rainer Schoch, „Repräsentation und Innerlichkeit. Zur Bedeutung des Interieurs im 19. Jahrhundert“, in: Mein blauer Salon. Zimmerbilder der Biedermeierzeit, hrsg. von Christiane Lukatis, Nürnberg 1995, S. 11–16; Sabine Schulze (Hrsg.), Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov, Ausst.-Kat. Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie Frankfurt, Ostfildern-Ruit 1998. 25
Der Hinweis auf die Vorlage in Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 3, Brief Nr. 721,
S. 640–641, Anm. 3. 26 Sophie von La Roche, „Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer“, in: Pomona für Teutschlands Töchter 3, 1783, S. 227−249. Zu Sophie von La Roche siehe zuletzt „Meine Freiheit, nach meinem Charakter zu leben“. Sophie von La Roche (1730–1807) – Schriftstellerin der Empfindsamkeit, hrsg. von Jürgen Eichenauer, Ausst.-Kat. Haus der Stadtgeschichte Offenbach, Weimar 2008, sowie Gudrun Loster-Schneider, Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturgeschichte, Bd. 26), Tübingen 1995.
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Das Zimmer der Albertine von Grün
Abb. 2 Rekonstruktion des privaten Zimmers der Sophie von La Roche, Hohenfeld’sches Haus, Maximilianstraße 99, Speyer, in dem sie mit ihrer Familie in den Jahren 1780–1786 lebte
Sophie von La Roche erwähnte. Es waren vor allem Grafiken, die beide Räume zierten. Sie zeigten insbesondere Frauendarstellungen aus Literatur, Mythologie, Geschichte und der christlichen Religion. Weiterhin fanden sich Büsten, Silhouetten, einige wenige Landschaften und auch Bildnisse der Familie. Die medial suggerierte Anwesenheit von Dichtern wie Goethe und Shakespeare sowie die zahlreichen Elemente der klassisch-antiken Poesie dokumentierten die Belesenheit und umfassende literarische Bildung der Bewohnerinnen.27 Beide Texte können als Bezugnahme auf einen Typus des gelehrten Interieurs gelesen werden, den seit der Frühen Neuzeit das studiolo oder die Bibliothek als räumliche Idealtypen vertraten.28 Doch im konkreten Vergleich der beiden beschriebenen Räume überwiegen die Unterschiede, die es festzuhalten gilt. Da ist die Fülle der Werke an den Wänden im Text der Albertine: An der ersten Wand hingen nicht weniger als 20 Bilder und 16 Gipsabgüsse sowie in der Nische mit dem Ofen insgesamt 22 Silhouetten. Weiterhin fällt auf, dass Albertine keine Erklärungen zur Auswahl und Hängung gab. Ganz anders
27
Zum Topos der literarischen Gelehrsamkeit siehe Silvia Bovenschen, Die imaginierte
Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1979. 28
Wolfgang Liebenwein, Studiolo. Storia e tipologia di uno spazio culturale, Modena 2005.
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Abb. 3 Rekonstruktion der vierten Wand im Zimmer der Sophie von La Roche im Hohenfeld’schen Haus in Speyer
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bei Sophie von La Roche (Abb. 3): Die vierte Wand hatte sie mit zwei englischen Landschaften nach einer Stichserie von Luke Sullivan (1708− um 1764)29 sowie einer Schweizer Landschaft von Johann Ludwig Aberli (1723−1786)30 mit der Stadt Thun in der Mitte geschmückt. Darüber befand sich die Büste des griechischen Politikers Solon (640−560 v. Chr.), der für seine staatsrechtlichen Reformen im antiken Athen bekannt war. Er zählte zu den sogenannten Sieben Weisen der Alten Welt. Sophie von La Roche erklärte das Arrangement so: „Mich dünkt, daß Solon der würdige Gesetzgeber einer alten Republik recht gut über Gegenden glücklicher Freystaaten gestellt ist, wo gewiß manches mit seinem Geist verbrüderte Genie lebt.“ 31 Das alte Athen, England und die Schweiz galten als Länder eines republikanischen Geistes und waren damit politisches Gegenmodell zum Absolutismus Frankreichs. Erklärungen der Arrangements sucht man bei Albertine hingegen vergebens. Sie erwähnte zwar die Positionierung der Dinge im Raum, ging aber nicht näher darauf ein. Die Objekte wurden lediglich wie in einem Inventar aufgezählt. Als Beispiel sei hier die Beschreibung der ersten Teilwand angeführt: „Darauf Hängen Bunde Kupferstiche, und Zeichnungen mit Bunden Duschen – die Hauptzeichnung ist: der Todt des Marc – in den Armen der Cleopatra, [...] oben aber 2 die Philis nach Carlo Dolci, von Zinzenicht gestochen [...] – unter dem Hauptbilde 3 Mengs – ein Bundes Kupfer, Auf Beyden seiden der Philis – Music und Mahlerei, Bunde Kupfer von Zinzenicht – auf den Seiten von Musick und Mahlerei – Göthe und Schaackspear von mir mit Büsten, aus der Phisionomick [...].“ 32
29 Es handelt sich dabei um eine Folge von englischen Landsitzen, die Sullivan 1752 herausgab. Siehe Le Blanc 1857−88 (wie Anm. 4), S. 609, WV 7. 30
Das Blatt ist aufgeführt in Bernhard Geiser, Johann Ludwig Aberli (1723–1786). Leben,
Manier und graphisches Werk, Belp 1929, WV 95. 31 La Roche 1783 (wie Anm. 26), S. 240. 32
Siehe Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 3, Brief Nr. 721, S. 637. Bei den „Bunden Duschen“
handelte es sich entsprechend dem Wortgebrauch um 1800 allgemein um Farbstoffe, im Fall der Albertine von Grün um mit Gummi Arabicum angemischte Wasserfarben, die entweder opak oder transparent gewesen sein können.
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Ein weiterer Unterschied betrifft die Ausfertigung der Bilder: 15 von den insgesamt 20 Bildern auf der ersten Wand wurden von Albertine nach Reproduktionsgrafiken oder Buchillustrationen kopiert. Sie waren farbig gefasst, also mit Farben koloriert. Damit stellt sich die Frage, wie der Briefpartner Johann Heinrich Merck mit dieser Aufzählung eigentlich umgehen sollte, umso dringlicher. Welche Absichten verfolgte Albertine mit ihrem Brief?
Ko p i e re n a l s I m i t i e re n Die Kultur der Reproduktion, des Imitierens, ja Kopierens und Nachahmens, die Albertine vor Merck sowohl hinsichtlich der Textgattung als auch der beschriebenen Bilder breit auffächert, ist in den letzten Jahren zu einem eigenen Forschungsfeld in den unterschiedlichsten Disziplinen avanciert und nach ihren spezifischen Semantiken und Praktiken befragt worden. Dabei konzentriert sich das Interesse auf die produktiven und sinnstiftenden Aspekte der Reproduktion, auf ihr kreatives und transformatorisches Potenzial.33 Kopieren gehörte zur malerischen Grundausbildung von Laien und war der Einstieg in die künstlerische Beschäftigung. Auch wenn es den Weg zu höheren Künstlerweihen versperrte, da es als unselbstständig galt, war es besonders im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreitet. Die Hauptbeschäftigung vieler in den freien Stunden zeichnender und malender Kunstjünger war das Zeichnen nach Vorlagen.34 Das Nachzeichnen einer Vorlage war allerdings nur dann zu rechtfertigen, wenn sich auf diesem Weg der Kopist mit dem Stil, der Handschrift, dem Duktus eines bedeutenden künstlerischen Vorbildes vertraut machte.35 Dennoch führte
33 Hierzu etwa Sibylle Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität, München 2004. Für den Bereich der grafischen Medien siehe Stephen Bann, „Der Reproduktionsstich als Übersetzung“, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 6, 2002, S. 43−76, sowie Christian Rümelin, „Stichtheorie und Graphikverständnis im 18. Jahrhundert“, in: Artibus et Historiae 22, 2001, S. 187−200. 34
Grundlegend dazu Wolfgang Kemp, „... einen wahrhaft bildenden Zeichenunterricht
überall einzuführen“. Zeichnen und Zeichenunterricht der Laien 1500–1870, Frankfurt am Main 1979, sowie zuletzt besonders Elke Schulze, Nulla dies sine linea. Universitärer Zeichenunterricht – eine problemgeschichtliche Studie, Stuttgart 2004. 35
Siehe den Eintrag „Handzeichnung“ in Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der
Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artickeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig 1775, S. 943−944.
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Das Zimmer der Albertine von Grün
es in den Augen der Zeitgenossen nie zu einem eigenen, unverkennbaren künstlerischen Stil, nie zur Kunst. Prominent vertrat diese Haltung besonders Johann Wolfgang von Goethe in seinem Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl.36 Doch Goethe konzentrierte sich dabei allein auf das künstlerische Tun. Die produktive Seite des Imitierens im Sinne einer viel weiter gefassten Anverwandlung von gesellschaftlichen und kulturellen Codes stand bei ihm nicht zur Diskussion. Dieser performative Aspekt einer bewussten Gestaltung von Wirklichkeit auf Basis eines imitativen Kopierens rückte erst seit den 1980er Jahren verstärkt in den Fokus der Forschung.37 Deutlich wurde, dass auch Handlungen, Tätigkeiten, ein spezifischer Habitus, eine gesellschaftliche Position, ein Beruf, eine Person oder eine Haltung nachgeahmt wurden, um sich in diese einzufühlen.38 Damit stellt sich die Frage, ob es Albertine tatsächlich allein um eine künstlerische Imitation der Vorlagen oder nicht viel eher um eine spezifische Reaktivierung und Indienstnahme der Bildthematiken und Vorlagen ging.
A l b e r t i n e s g r a f i s c h e „Tr a u e ri ko n e n“ Die Porträts von Freunden wie Caroline von Wieger sowie die Silhouetten in ihrem Zimmer, von denen wir nicht wissen, welche Personen sie darstellten, könnten im Zusammenhang mit dem Freundschaftskult der Zeit gesehen werden.39 Sie bestimmen jedoch nicht den Charakter des Raums. Wesentlich sind die zahlreichen weiblichen Figuren, die keine Porträts darstellen, sondern spezifische Erzählungen, Mythologeme und Historien repräsentieren. Es fällt auf, dass sie für besonders leidvolle Geschichten stehen. So hielt Kleopatra den sterbenden Marcus Antonius 36
Siehe Johann Wolfgang von Goethe, „Einfache Nachahmung der Natur, Manier,
Styl“, in: Teutscher Merkur, Februar 1789, S. 113−120. 37 Anne-Röver Kann, In Rembrandts Manier. Kopie, Nachahmung und Aneignung in den graphischen Künsten des 18. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Bremen 1986; Annette Strittmatter, Das „Gemäldekopieren“ in der deutschen Malerei zwischen 1780 und 1860, Münster 1998. 38
Siehe besonders Luiz Costa Lima, „Mimesis/Nachahmung“, in: Ästhetische Grundbe-
griffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, hrsg. von Karlheinz Barck, Stuttgart/ Weimar 2000, S. 84−121. 39
Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.), Frauenfreundschaft – Män-
nerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen 1991.
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in ihren Armen, nahm sich Phyllis aus Sehnsucht das Leben, wurde Cecilia zur Märtyrerin, glaubte niemand den Weissagungen der Kassandra, vergiftete sich Sophonisbe, stand die babylonische Königin Semiramis für den tragischen Vatermord, während Petrarcas Liebe zu Laura von einer unabänderlichen Unerfüllbarkeit bestimmt war. Diese Geschichten sind in Albertines Zimmer jedoch nicht direkt vor Augen geführt. Sie werden stattdessen durch ihre Protagonistinnen aufgerufen, müssen den Betrachtenden also bereits bekannt sein und zuallererst imaginiert werden. Bettina Baumgärtel hat im Werk der Malerin Angelika Kauffmann (1741–1807) eine Vielzahl von Frauendarstellungen beschrieben, deren verbindendes Element eine „spezifisch weibliche Leidensfähigkeit“40 ist, wie sie sich auch als Grundtenor in der Bildauswahl Albertines findet. Dieser Seelenschmerz kreist um das Motiv der verlassenen Frau.41 Baumgärtel bezeichnet die entsprechenden weiblichen Darstellungen als Trauerikonen, die sich in ihr Schicksal ergeben – unfähig, in den Lauf der Geschehnisse aktiv einzugreifen, und zu untätiger Passivität verurteilt.42 In Albertines Interieur hingen Grafiken nach Gemälden von Angelika Kauffmann. Es ist naheliegend, diese von Baumgärtel als Trauerikonen bezeichneten Bildwerke als Reflex auf die eigenen prekären Lebensumstände der Albertine von Grün zu verstehen. Dabei ist es sinnvoll, die oben beschriebene Kultur des Kopierens und Imitierens von Bildern und Vorlagen mitzubedenken.43 Setzt man diese in Bezug zur konkreten Indienstnahme von Bildthematiken in der Epoche um 1800, so lassen sich Sinnschichten im Interieurtext der Albertine erschließen, die auf den ersten Blick nicht offen zutage treten. Hierfür ist es notwendig, kurz auf die biografischen Umstände der Briefschreiberin einzugehen. Albertine von Grün war die älteste Tochter des Gräflichen Kanzleirates Detmar Heinrich Grün (1714–1791) und stammte aus dessen erster 40
Viktoria Schmidt-Linsenhoff, „Häuslichkeit und Erotik. Angelika Kauffmanns
Haremsphantasien“, in: Angelika Kauffmann, hrsg. von Bettina Baumgärtel, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, Haus der Kunst München, Ostfildern-Ruit 1998, S. 60–68, hier S. 65. 41
Vgl. hierzu Bettina Baumgärtel, Angelika Kauffmann (1741–1807). Bedingungen weib-
licher Kreativität in der Malerei des 18. Jahrhunderts (= Ergebnisse der Frauenforschung, Bd. 20), Weinheim 1990, S. 232–237. 42 Vgl. ebd., S. 237–245. 43
Zur Mode, Druckgrafiken nach Bildern Angelika Kauffmanns zu stechen, siehe
David Alexander, „‚The whole world is angelicamad‘. Angelika Kauffmann und der Markt für Druckgrafik im 18. Jahrhundert“, in: Baumgärtel 1998 (wie Anm. 40), S. 73–78.
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Das Zimmer der Albertine von Grün
Ehe mit Louise Charlotte Katharine Johannette Clotz (1732–1752). Ihre Mutter starb, als sie drei Jahre alt war. Den Dichter Johann Heinrich Merck lernte sie über die befreundeten Darmstädter Familien Höpfner und Schleiermacher kennen. Die erste Begegnung muss vor 1781 erfolgt sein. Aus diesem Jahr datiert der erste Brief.44 1779 ging der Vater zum Immerwährenden Reichstag nach Regensburg. Der feinsinnigen, an Literatur und Kunst interessierten Albertine wurde von nun an die Aufgabe übertragen, sich um die gemütskranke Halbschwester Maria Charlotte Philippine Luise (geb. 1756) aus zweiter Ehe zu kümmern, in deren Haus sie zog und die sie ständig zu betreuen hatte. Die Pflege kranker beziehungsweise erkrankter Familienmitglieder wurde zu Albertines Lebensaufgabe. Dies führte zur sozialen Isolation, die sie durch Briefeschreiben zu kompensieren suchte. So formulierte sie beispielsweise am 23. Dezember 1781 an Merck: „Ihre Briefe sind ein grosentheil meines Glücks in dieser Einöde.“45 Rasch wurde ihr die schriftliche Korrespondenz zu einem Reservoir für Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte und Projektionen. War die Zimmerbeschreibung der Sophie von La Roche ein Ausdruck weiblicher Gelehrsamkeit, so wies sie bei Albertine also eher auf ihr fehlendes gesellschaftliches Umfeld hin. Dementsprechend könnten die zahlreichen Frauendarstellungen im Interieur der Albertine als eine Anspielung auf ihre eigene prekäre Lage verstanden werden. Doch der Brieftext an Merck reicht weiter: So berichtete Albertine gleich zu Beginn von der Verkleidung der Wände. Wie in Speyer bei Sophie von La Roche hingen auch in Hachenburg Tapeten an den Wänden, die um 1800 als ein Ausdruck von Ordnung und Reinlichkeit verstanden wurden, da sie Ungeziefer und Schmutz fernhielten. Selbstverständlich war die Verwendung der damals hochmodernen Papiertapete auch ein Zeichen von Wohlhabenheit.46 Doch bereits hier geschieht der gezielte Bruch mit der Erwartungshaltung des Empfängers, wenn Albertine erklärt, dass die im Zimmer angebrachte Tapete von „schlechtem Papier“ sei.47 Sophie von La Roche hatte dagegen das „einfärbige 44 45
Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 2, Brief Nr. 445, S. 541–543. Ebd., Bd. 2, Brief Nr. 496, S. 691–692, hier S. 691.
46
Vgl. Friedrich Christian Schmidt, Bürgerlicher Baumeister, Gotha 1796, S. 171. Siehe
auch Sabine Thümmler, Die Geschichte der Tapete. Raumkunst auf Papier; aus den Beständen des Deutschen Tapetenmuseums Kassel, Eurasburg 1998. 47 Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 3, Brief Nr. 721, S. 637.
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Papier“ der Wandbespannungen in ihrem Zimmer sowie die geschmackvolle Einteilung in sieben Wandfelder betont.48 Damit machte Albertine unmissverständlich deutlich, dass ihre Beschreibung nicht diejenige der Dichterin reproduzierte, sondern eine eigene, konträre Perspektive entwickelte, indem sie die literarische Vorlage abwandelte. Merck hatte also im Text auf Brüche zu achten, um das Geschriebene richtig verstehen zu können. Wie bei dem Tapetenvergleich gibt es im gesamten Text Kippmomente, welche die Vorlage geradezu umkehren. Das verdeutlicht besonders eindrucksvoll die Beschreibung der Aussicht: „ich sehe in ein kleines Höfgen Ringsum mit hohen Mauern / umgeben, und dieses ist wieder mit Scheunen und Ställe [sic] eingeschloßen, so daß ich nur eine Handbreit Himmel sehen kann.“ 49 Dagegen wird bei La Roche der pittoreske Ausblick auf die umliegenden Häuser und Höfe episch breit geschildert, ehe er sich – Bauernhöfe und pastorale Viehweiden streifend – in der Ferne mit den mäandernden Bahnen des Rheins am Horizont verliert.50 Albertines Blick durch den Hinterhof mit den umliegenden Gebäuden ist hingegen eingeschränkt; sie kann nicht entrinnen, wie der Schlusssatz zum Ausblick unmissverständlich deutlich macht: „Führe mir hier die Seele aus, sie würde eine Schiefe Richtung nehmen müßen, um sich zu einer höhern Sphäre Schwingen zu können.“51 Die beengten räumlichen Verhältnisse werden als geistige Schranken verstanden. Ihre Auf-sich-selbst-Verwiesenheit erlebt sie als Gefangenschaft.
A l b e r t i n e vo n G r ü n u n d Jo h a n n H e i n ri c h M e rc k In der Korrespondenz zwischen Albertine und Merck findet erstmals im Brief vom 26. Dezember 1784 die von Sophie von La Roche initiierte Zeitschrift Pomona Erwähnung, in der auch die Zimmerbeschreibung
48 49 50 51
Siehe La Roche 1783 (wie Anm. 26), S. 236. Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 3, Brief Nr. 721, S. 638. La Roche 1783 (wie Anm. 26), S. 228–230. Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 3, Brief Nr. 721, S. 638.
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Das Zimmer der Albertine von Grün
abgedruckt wurde.52 Wer das Periodikum zuerst thematisierte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es spricht einiges dafür, dass es Merck war, ein glühender Verehrer der ersten deutschen Berufsdichterin, mit der er seit 1771 in brieflichem Kontakt stand.53 Merck lernte Sophie von La Roche durch Christoph Martin Wieland (1733−1813) kennen, der ihren ersten Roman Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim anonym verlegte.54 Er nahm rege an den gesellschaftlichen Treffen in ihrem Haus in Koblenz-Ehrenbreitstein teil, wo sie vor ihrem Umzug nach Speyer einen literarischen Salon unterhielt. Auf diesem Weg vermittelte sie Merck die Bekanntschaft zu den Gebrüdern Johann Georg (1740−1814) und Friedrich Heinrich Jacobi (1743−1819) und ermöglichte ihm die Mitarbeit am Teutschen Merkur. Sophie von La Roche war zweifelsohne eine intellektuelle Instanz, um deren Bekanntschaft sich Merck intensiv bemühte. So schrieb er ihr am 20. Juli 1771: „Soll ich Ihnen alle Schwärmereyen sagen, die ich mit Ihrem Brief anfing? Er begleitete mich auf meinen einsamen Spaziergängen; ich zog ihn nie ohne Rührung aus der Tasche, [...] und dann entzückte mich der Gedanke, daß Sie meine Freundin wären.“ 55 Wie Merck mit Sophie von La Roche einen Austausch über Fragen der Literatur, Philosophie und Kunst pflegte, so wollte er auch seine schriftlichen Gespräche mit Albertine einrichten. Die zugegebenermaßen neugierige Frage nach dem Interieur, in dem sie lebte, sollte dem gegenseitigen Kennenlernen dienen. Doch bereits der Brief vom 26. Dezember 1784 zeigt, dass Albertine nicht geneigt war, in dieser von ihm angestrebten Art und Weise Briefe mit ihm zu wechseln. Über die von Merck so verehrte Pomona schrieb sie unumwunden, sie sei mit der Zeitschrift unzufrieden, da „die HauptHandlung vernachläßigt, oder so durch Blumen und andere Zirathen versteckt ist, daß man ganz davon abgewendet wird“,
52
Ebd., Bd. 3, Brief Nr. 719, S. 625–632, hier S. 629.
53
Es haben sich 28 Briefe erhalten, die La Roche und Merck miteinander wechselten.
Der erste bekannte Brief datiert vom 31. Dezember 1771. Siehe ebd., Bd. 1, Brief Nr. 88, S. 294–296. 54
Sophie von La Roche, Geschichte des Fräuleins von Sternheim, hrsg. von Christoph
Martin Wieland, Leipzig 1771. 55
Brief von Merck an La Roche vom 20. Juli 1771. Siehe Merck 2007 (wie Anm. 1),
Bd. 1, Brief Nr. 76, S. 246–247.
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der eigentliche Inhalt inmitten stilistischer Sprachakrobatik unterzugehen drohe. Sie sei vergleichbar mit „einem französischen Kupferstich“, gekünstelt, unnatürlich und artifiziell.56 Anliegen der Pomona war es, ein Forum zu schaffen, in welchem gebildete Frauen über Literatur, Kultur oder Musik miteinander ins Gespräch kommen konnten. Sie richtete sich an ein dezidiert weibliches Publikum. Bereits am 9. Oktober 1782 hatte Sophie von La Roche auch Freunde wie Merck gebeten, die Zeitschrift zu unterstützen und bekannt zu machen.57 Vor diesem Hintergrund muss es umso tragischer gewesen sein, wenn sich das Zielpublikum, zu dem zweifelsohne auch Albertine gehörte, nicht angesprochen fühlte. La Roches Text war für Albertine zwar die Vorlage, wurde jedoch nicht zum Vorbild. Versuchte die Dichterin ihr Zimmer inmitten der Stadt Speyer als Ort der Ruhe, Abgeschiedenheit, Natur, ja Idylle zu idealisieren und zu verklären, betonte Albertine mit ihrer Liste des Interieurs ihre konkreten, situativen Lebensumstände. Dass sie dabei nicht nur den tatsächlich existierenden Raum beschrieb, sondern einzelne Objekte auch ergänzte, wird gleich am Anfang deutlich: „Nicht wie mein Stübchen jezo ist, sondern mit den kleinen Veränderungen wie es im Frühling wann ich wieder hineinziehe wie es dann seyn wird, will ich es dann beschreiben.“58 Die Beschreibung Albertines dokumentiert zwar einerseits ihre literarische Bildung und Erziehung, sie wurde jedoch andererseits vor allem zu einem Spiegel ihrer Lebenssituation. Den Erwartungen, die Merck offensichtlich mit der Frage nach ihrem Zimmer hegte, hat sie nicht entsprochen beziehungsweise entsprechen wollen. Stand auf der einen Seite der Versuch von Merck, in eine literarisch interessierte Konversation auch das Interieur einzubeziehen, so nutzte die Briefpartnerin auf der anderen Seite stattdessen die Chance, den Freund auf ihre prekäre Situation hinzuweisen. Die Störungen im gegenseitigen Verständnis spiegelt bereits der Brief vom 7. März 1782, in dem sie Merck Gefühlskälte vorwarf und einige Zeilen verfasste, die vor dem Hintergrund feststehender gesellschaftlicher Normen des Ancien Régime geradezu als ein emotionaler Ausbruch zu verstehen sind. Sie schrieb an Merck:
56 57 58
Ebd., Bd. 3, Brief Nr. 719, hier S. 629. Brief von La Roche an Merck. Siehe ebd., Brief Nr. 554, S. 162–164, hier S. 162. Ebd., Bd. 3, Brief Nr. 721, S. 637.
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Das Zimmer der Albertine von Grün
„Vor Männer würd’in mir gar keine Gnade seyn / ich hätte längst recht Ernstlich angetragen; / sie all in einer Stund zu / Erschlagen / ich selber würde Ungerührter wie ein Stein / Tausendte mit eigenen hohen Händen tödten; / wenn alle Mädchen die in Herzens Nöthen / sich gar nichts hätten zuverzeihn.“ 59 Hatte Sophie von La Roche anhand zahlreicher Publikationen die Rolle der gebildeten Frau in der Gesellschaft um 1800 mitgeprägt und damit den Verhaltenskodex, gesellschaftliche Aufgaben und kulturelle Umgangsformen festgeschrieben, nutzte Albertine diese Vorlage, um einen entscheidenden Unterschied zu markieren: Ging es bei La Roche um ein den Konventionen angepasstes und in der Gesellschaft klar definiertes Frauen- und Rollenbild, hinterfragte Albertine dieses und nutzte das Interieur, um ihren Zweifeln Ausdruck zu verleihen. Ihre Beschreibung war kein die Normen weitertradierendes Exemplum, sondern eine sehr konkret verstandene „Phisionomie meines Herzens und Kopfs“.60 Einer bei La Roche zu beobachtenden Typisierung des Interieurs, die zum Vorbild für viele andere Innenräume um 1800 wurde, stellte Albertine ihre eigene Perspektive entgegen: Sie nutzte ihre Interieurbeschreibung als Versuch, ihre Zweifel an einigen existierenden Festschreibungen wie dem Stereotyp weiblicher Leidensfähigkeit, familiärer Aufopferungsbereitschaft und häuslicher Fürsorglichkeit zu artikulieren. Die täglich zu erduldenden Einschränkungen in ihrem Alltag führten bei ihr zu einem tiefgehenden Unbehagen an den gesellschaftlichen Umständen im Vorfeld der Französischen Revolution. Es verwundert daher nicht, dass Albertine politische und soziale Themen beschäftigten. So erwähnt sie das Journal für Deutschland, das sie anstelle der Pomona gern zur Hand nehme. Die Zeitschrift war ein historisch-politisches Periodikum des Göttinger Geschichtsprofessors August Ludwig von Schlözer (1735−1809), das zwischen 1776 und 1782 erschien und aufgrund der Kritik an den staatlichen und sozialen Zuständen Kontroversen auslöste. Im Gegensatz zu Sophie von La Roche zweifelte Albertine an den feststehenden Strukturen des Ancien Régime und gehörte damit zu einer Generation, die im Sturm und Drang ihren Gefühlen und Ansichten Ausdruck verlieh. Sie kritisierte etwa die Unfähigkeit ihrer Zeitgenossen 59 60
Ebd., Bd. 3, Brief Nr. 507, S. 21–27, hier S. 23. Brief vom 6. Januar 1785 an Merck. Siehe ebd., Brief Nr. 721, S. 638.
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zu religiöser Toleranz und formulierte unumwunden: „Seitdem bin ich Glücklich als ichs Gelernt habe daß ich eben nicht auf der Welt bin um mein[e] Röllgen [Rolle, T. P.-H.] wie andere mitzuspielen.“ 61 Das Beispiel der Albertine von Grün zeigt eindrücklich die Vielschichtigkeit der Interieurbeschreibung um 1800, die keineswegs auf das Diktum der Innerlichkeit eingeschränkt werden kann. Für Albertine war das Interieur vor allem eine Projektionsfläche, in die ganz individuelle Anliegen eingeschrieben werden konnten. Das erklärt auch die Beliebtheit der Interieurbeschreibung in Form des freundschaftlichen Briefes in einer Epoche des Umbruchs zur Moderne.
61
Siehe den Brief vom 26. Dezember 1784, in dem sich Albertine über die immer
wieder ausbrechenden Zwistigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten äußert, die erst mit der Idsteiner Union von 1817 gelöst wurden, Merck 2007 (wie Anm. 1), Bd. 3, Brief Nr. 719, S. 628, sowie Brief Nr. 721, S. 636.
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Innerlichkeit und Natur in Walter Benjamins Theorie des Interieurs 13 Jahre, von 1927 bis zu seinem Tod 1940, hat Walter Benjamin an einem Projekt gearbeitet, das unter dem Titel Passagen-Werk erst in den 1980er Jahren publiziert worden ist. Wäre es Benjamin vergönnt gewesen sein Vorhaben zu vollenden, hätte es „[n]ichts Geringeres als eine materiale Geschichtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts [...] dargestellt“.1 In den umfangreichen Fragmenten zu diesem Werk liegt – unter vielem anderen – auch eine Theorie des Interieurs verborgen. Mein Ziel ist eine Rekonstruktion der Bruchstücke zu einer historischen Theorie des Interieurs im Licht einer Soziologie der Innerlichkeit im Sinne Theodor W. Adornos: „Das Bild des Intérieurs geschichtlich zu explizieren, wäre eine Soziologie der Innerlichkeit not“2 – und umgekehrt ließe sich die Soziologie der Innerlichkeit am explizierten Bild des Interieurs illustrieren. Die hier folgenden Überlegungen sind nicht mehr als ein paar erste Schritte auf dem langen Weg zu diesem Ziel. Den Ausgangspunkt bildet der erste Teil einer kurzen Text-Passage unter dem Titel Louis-Philippe oder das Interieur aus dem Exposé Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, das im Jahr 1935 entstanden ist. „La tête ... Sur la table de nuit, comme une renoncule, Repose.“ Baudelaire: Une martyre
1 Siehe die Einleitung des Herausgebers Rolf Tiedemann in Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (im Folgenden PW), Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 11–41, hier S. 12. Alle Zitate aus Benjamins Werken stehen kursiv, ohne Anführungszeichen. 2
Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, Bd. 2: Kierkegaard. Kons-
truktion des Ästhetischen (1933), hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1997, S. 70.
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Innerlichkeit und Natur in Walter Benjamins Theorie des Interieurs
Unter Louis-Philippe betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz. [...] Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte. Der erste konstituiert sich im Interieur. Das Kontor ist sein Komplement. Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist um so dringlicher, als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.3 In diesen wenigen Sätzen skizziert Benjamin die infolge des Modernisierungsprozesses eintretende Ausdifferenzierung der Sphären des Öffentlichen und Privaten, den zwischen Lebensraum und Arbeitsstätte entstehenden Gegensatz, die gegenstrebigen Bestimmungen von Kontor und Interieur; oder anders gesagt, er umreißt den mit dem bürgerlichen Zeitalter einsetzenden Strukturwandel der Gesellschaft, in dessen Folge sich auf der Seite des Öffentlichen die beiden großen modernen Handlungssysteme von Politik und Ökonomie als Staat und Markt herausbilden, wohingegen das von politischen und wirtschaftlichen Funktionen entlastete Haus sich zur Privatsphäre in einem ganz neuen, spezifisch modernen Sinn entwickelt. Dementsprechend teilt sich das männliche bürgerliche Subjekt in die Rollen von citoyen (Staatsbürger) und bourgeois (Wirtschaftsbürger), während der Privatmann als homme, als Mensch schlechthin, seine Innerlichkeit, seine Subjektivität und Individualität entfalten darf. Inmitten einer zur System-Maschine beziehungsweise zum Maschinen-System aufgerüsteten Gesellschaft wird das Interieur zu einer Art Enklave des Lebens beziehungsweise der Kultur und Natur. Ich lasse hier beiseite, dass Benjamin die Ausbildung dieser Binnen- und Innenwelt auf ein Verfehlen der richtigen Verhältnisbestimmung von Politik und Ökonomie zurückführt, wenn er behauptet, dass der Privatmann seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. Ich lasse beiseite, dass Benjamin die Gestaltung der Privatsphäre aus einem Akt der Verdrängung dieses Faktums resultieren sieht und
3
PW 1, S. 52–53.
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Kontor und Interieur einander unter den Vorzeichen von Realität vs. Illusion gegenüberstellt. Vielmehr wende ich mich Benjamins Darstellung der Phantasmagorien des Interieurs zu.
D i e we l t b i l d e n d e Fu n k t i o n d e s I n t e ri e u r s In den drei kurzen Sätzen, die den Abschnitt beschließen, zeichnet Benjamin die Innenausstattung der Privatsphäre mit wenigen, kräftigen Strichen: [1.] Es [das Interieur, C. K.] stellt für den Privatmann das Universum dar. [2.] In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. [ 3.] Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.4 Der erste und der dritte Satz bringen die weltbildende Funktion des Interieurs zum Ausdruck. Auf den ersten Blick finden darin jene gesellschaftstheoretischen Thesen einen Widerhall, die von einem komplementären Zusammenhang zwischen Lebenswelt und System ausgehen. So fordert beispielsweise Niklas Luhmann, das Individuum solle ein Selbstverständnis ausbilden, das „für ein Leben und Handeln in pluralen, nicht integrierten Kontexten geeignet ist“.5 Diese Eignung beruht aber nicht etwa auf einer Fähigkeit zur Anpassung an diese „Kontexte“. Im Gegenteil, dem Individuum wird zugetraut und zugemutet, der zentrifugalen, ins Offene, prinzipiell ins Unendliche gehenden Dynamik der modernen Wissens- und Handlungssysteme eine zentripetale Bewegung entgegenzusetzen, um so das Perpetuum mobile der modernen Gesellschaft, das auf Differenzierung und Diversifizierung, auf grenzenlose Expansion und Fortschritt angelegte System, auszubalancieren, zu stabilisieren und zu kompensieren. Dem Individuum wird somit die Rolle eines „still point in a turning world“ zugewiesen.6 4
Ebd., S. 52.
5
Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie
der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989, S. 215. 6 Vgl. Stuart Hall, „The Local and the Global. Globalization and Ethnicity“, in: Dangerous Liaisons. Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives, hrsg. von Anne McClintock, Aamir Mufti und Ella Shohat, Minneapolis 1997, S. 173–187, hier S. 175. Siehe auch Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und
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Innerlichkeit und Natur in Walter Benjamins Theorie des Interieurs
„[T]his turning world“ kann ‚an sich‘ also nicht mehr als Welt vorgestellt werden. In der Folge des Übergangs von einem geschlossenen, endlichen zu einem unendlich offenen Universum, von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ergibt sich, „daß eine repräsentative Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems im ganzen sich in der Gesellschaft nicht mehr aufdrängen läßt“.7 In dieser Situation wird die Aufgabe der Zentrierung und Weltbildung dem Individuum überantwortet: „Das Individuum wird als einmaliges, einzigartiges, am Ich bewußt werdendes, als Mensch realisiertes Weltverhältnis begriffen; und Welt (oder sozial gesehen: Menschheit) ist eben das, was im Individuum ‚selbsttätig‘ zur Darstellung gebracht wird.“8 Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss das Subjekt einen ex-zentrischen Standort einnehmen; es muss jenseits des pluralen, nicht integrierten, sich prinzipiell ungebremst weiter ausdifferenzierenden und dynamisierenden Gesellschaftssystems platziert sein: „Was immer das Individuum aus sich selbst macht und wie immer Gesellschaft dabei mitspielt: es hat seinen Standort in sich selbst und außerhalb der Gesellschaft. Nichts anderes wird mit der For-
USA im Vergleich, Frankfurt am Main 1994, S. 56: „Funktionale Differenzierung und Ich-Zentrierung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Sie verlaufen nicht zufällig im Groben parallel. Ich-Zentrierung findet auf der Systemebene ihre Entsprechung im Prinzip einer dezentrierten Gesellschaft, zusammengesetzt aus (begrenzt!) autonomen Teilsystemen. [...] Ich-Zentrierung soll heißen, daß die Maßstäbe von Weltdeutung und praktischem Handeln nicht mehr aus traditionalen und transzendentalen Vorgaben entlehnt, sondern autonom gesetzt werden. Letzter Bezugspunkt dieser Setzung ist das Individuum [...]“, sowie S. 53: „Die Moderne bringt die Idee des Individuums hervor, das sich in den Mittelpunkt rückt [...].“ 7
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzie-
rung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 68. Da die moderne, selbstinstitutionalisierte Gesellschaft keinen transzendenten Verankerungspunkt mehr hat, kann sie, wie Niklas Luhmann es formuliert, „nicht selbst in sich selbst als Ganzes nochmals vorkommen“, Luhmann 1989 (wie Anm. 5), S. 158. Nach herkömmlicher Auffassung lässt sich die ‚Welt‘, die ‚Gesellschaft‘ beziehungsweise irgendein Ganzes nur von außen als Ganzes erkennen oder umgekehrt ausgedrückt, nur in einem äußeren Punkt lassen sich Einheit und Ganzheit einer Entität repräsentieren. Fehlt der modernen Gesellschaft ein solcher äußerer Bezugspunkt, so „bietet sie dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als ‚gesellschaftliches Wesen‘ existieren kann. Er kann nur außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren“ (ebd.). Mit anderen Worten, der Mensch selbst, das Individuum wird zu einem solchen äußeren Bezugspunkt, in dessen Perspektive Welt beziehungsweise Gesellschaft zur Einheit gebracht werden soll – allerdings nur für das jeweilige Individuum allein. Luhmann 1989 (wie Anm. 5), S. 215. 8
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mel ‚Subjekt‘ symbolisiert.“9 Mit anderen Worten, das Subjekt nimmt die quasi-transzendente Position des souveränen Herrn ein, jenseits einer in endloser Bewegung und ständigem Wandel befindlichen, un(be)greifbaren Wirklichkeit. Mit der Feststellung: Das Interieur stellt für den Privatmann das Universum dar, zeigt sich Benjamin im Vergleich zu Luhmann insofern als der bessere Gesellschaftstheoretiker, als er dem Subjekt nicht einfach „Selbsttätigkeit“ unterstellt, sondern jenen besonderen Raum in den Blick nimmt, der gleichzeitig im Innersten der Gesellschaft und doch außerhalb ihres Betriebs liegt und der diese Positionierung des Subjekts erlaubt. Mit dem dritten und letzten Satz des ersten Abschnitts stellt Benjamin die weltbildende Funktion dieses Raumes noch weiter heraus: Sein Salon ist eine Loge im Welttheater. In den Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk notiert er außerdem, dass der Privatmann die ganze Weltgeschichte am Interieur ablesen kann.10 Hier schwebt nicht nur Hegels Weltgeist über dem Interieur, auch Goethes Idee der Weltliteratur lässt sich hineinlesen. Diese Welt existiert weder irgendwo ‚da draußen‘ in der Wirklichkeit, noch erzeugt das Individuum sie aus sich heraus. Vielmehr wird sie erschaffen mit den alten Mitteln der Sprache und der Kunst sowie weiter verstärkt und verändert, intensiviert und revolutioniert durch neue Kommunikationstechnologien. Theater, Literatur, Bücher und darüber hinaus die damals noch neuen Medien, die Zeitungen und Zeitschriften, die frühe Fotografie: Sie allesamt sind (welt-)bildgebende Medien, sie bringen die Welt ins Haus, sie setzen den Zuschauer und Leser ins Bild, sie bilden ihn, sie machen den betrachtenden, reflektierenden Privatmann zum Bildungsbürger, zum Weltbürger. Aber das Verb ‚darstellen‘ meint nicht nur ‚bedeuten‘, ‚repräsentieren‘, ‚stellvertreten‘, sondern auch ‚simulieren‘, ‚mimen‘: Das Interieur unterhält den Privatmann, indem es das Universum spielt, das es (so) nicht gibt. Wenn Benjamin im letzten Satz vom Welttheater spricht, dann bleibt der universale Anspruch bestehen, aber der fiktionale Charakter der Installation verdeutlicht sich. Das Scheinhaft-Spielerische, genauer das Schau-Spielerische, das Theatralisch-Bühnenhafte, und zwar nicht nur das Ästhetische, Künstlerische, sondern auch das Künstliche, das un9 10
Ebd., S. 212. Vgl. PW 1, S. 286.
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Innerlichkeit und Natur in Walter Benjamins Theorie des Interieurs
echte Moment, wird stärker betont. Auch ist der Salon des Privatmanns kein Ort der Geselligkeit, kein Ort, an dem gemeinsame Aktivitäten stattfinden, wo zusammen gespielt oder diskutiert wird mit Ergebnissen, die vielleicht über den privaten Raum hinaus in die Öffentlichkeit hinein wirken könnten. Die solipsistische Souveränität des Individuums beschränkt sich auf die passive Position eines deus absconditus, eines roi fainéant, ohne Einfluss auf die Wirklichkeit, ohne Macht. Die Exklusion des menschlichen Subjekts aus dem Betrieb des Systems ist zwar einerseits die Voraussetzung seiner Erhöhung und Sakralisierung zum souveränen Herrn; andererseits resultiert daraus seine Entmachtung, Marginalisierung und Degradierung. Das Individuum steht auf diese Weise zugleich ober- und unterhalb der Gesellschaft. Während im ersten Satz das Interieur etwas tut (darstellt) und im dritten Satz der Salon etwas ist (Loge), wird im zweiten und mittleren Satz der Privatmann zum Satzsubjekt und Akteur: Er versammelt die Ferne und die Vergangenheit. Diese Aussage steht im Zentrum der kurzen Passage. Also dürfte hier Aufschluss darüber zu erwarten sein, auf welche Weise der Innenraum dem Individuum dazu verhilft, die ihm übertragene Mission der Weltzentrierung zu erfüllen, wie sie die beiden rahmenden Sätze formulieren.
Fe r n e u n d Ve rg a n g e n h e i t i m I n t e ri e u r An eben dieser Stelle kippt die Perspektive vom Ganzen zum ganz Anderen: Statt Universum und Universalität tritt jene Polarisierung in Erscheinung, die Benjamins Überlegungen zum Interieur von Anfang an prägt. So wie Interieur und Kontor, so wie Lebensraum und Arbeitsstätte, Schein und Wirklichkeit müssen auch Ferne und Vergangenheit auf ein – nun gleich doppeltes – Entgegensetzungsverhältnis hin gelesen werden, nämlich ihr Verhältnis zum Hier und Jetzt, das heißt zur Präsenz im räumlichen und zeitlichen Sinne: zu Europa und Moderne. Im Verhältnis zur modernen westlichen Zivilisation einmal zeitlich als vorher und einmal räumlich als außerhalb ausbuchstabiert, meinen Ferne und Vergangenheit dasselbe: das vollkommen Fremde, das radikal Andere, Alterität im Kontrast zum Eigenen. Dass es die Welt, als deren Zuschauer der Privatmann in seiner Salonloge sitzt, nicht real-gegenständlich ‚gibt‘, das geht aus dem ersten und
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dritten Satz hervor. Die zweite, zentrale Aussage bringt zum Ausdruck, dass der Privatmann in seinem Salon nicht nur etwas (ver)sammelt, was es (so) nicht gibt, sondern geradewegs alles, was diese Wirklichkeit da draußen nicht ist, was in der modernen Gesellschaft keinen Platz hat – ebenso wenig wie er selbst. Mit anderen Worten, in seinem Interieur macht der Privatmann sich kein Bild von der Welt ‚da draußen‘, sondern er sieht, imaginiert das von und aus der Wirklichkeit Entfernte. Wenn er in seinem Eigensten und Innersten das Fernste und Fremdeste sich vorstellend nahebringt, dann manifestiert sich daran seine Entfremdung von der ihn umgebenden Wirklichkeit, ein Riss in der Gesellschaft, eine Kluft zwischen Akteur und System. Um das zu verdeutlichen, beziehe ich mich auf eine besonders eindrucksvolle und oft zitierte Passage in den Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk: Interieur des 19ten Jahrhunderts. Der Raum verkleidet sich, nimmt wie ein lockendes Wesen die Kostüme der Stimmungen an. Der satte Spießer soll etwas von dem Gefühl erfahren, nebenan im Zimmer könnte sowohl die Kaiserkrönung Karls des Großen, wie die Ermordung Heinrichs IV., die Unterzeichnung des Vertrags von Verdun wie die Hochzeit von Otto und Theophano sich abgespielt haben. Am Ende sind die Dinge nur Mannequins und selbst die großen welthistorischen Momente sind nur Kostüme, unter denen sie die Blicke des Einverständnisses mit dem Nichts, dem Niedrigen und Banalen tauschen. Solch Nihilismus ist der innerste Kern der bürgerlichen Gemütlichkeit; eine Stimmung, die sich im Haschischrausche zu satanischem Genügen, satanischem Wissen, satanischem Ruhen verdichtet, eben damit aber verrät, wie das Interieur dieser Zeit selbst ein Stimulans des Rausches und des Traums ist [...].11 Die zeitliche Ferne, die Vergangenheit wird in vier Beispielen angeführt, die sich auf das europäische Mittelalter beziehungsweise die Frühe Neuzeit beziehen. So ganz von ungefähr und „selbsttätig“ dürften sich deren Bilder im Inneren des einsamen Individuums wohl kaum einstellen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert wird in Europa das Mittelalter entdeckt wie ein verheißungsvoller ferner Kontinent. Im Unterschied zum
11
PW 1, S. 286.
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gemeinsamen ‚klassisch-antiken‘ Erbe, das in den gesamteuropäischen Bildungssprachen Griechisch und Latein tradiert wird und bis in den Klassizismus hinein dominiert, suchen die zu modernen Nationalstaaten sich umgestaltenden Länder Europas im jeweils (volkssprachlich) distinkten romantischen Mittelalter ihre Wurzeln, ihre nationale Identität. Mithilfe der Rückversicherung auf den eigenen Ursprung und Anfang soll ein Gegengewicht geschaffen werden zur Ausdehnungs- und Ausdifferenzierungsdynamik des Modernisierungsprozesses. Allerdings vermag das nichts daran zu ändern, dass diese Art des Rückbezugs etwas völlig Neuartiges ist. Denn die gegen Ende des 18. und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts einsetzenden politischen und gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen stellen eine unhintergehbare Zäsur dar. Der als gewaltsamer Bruch, als An-Bruch einer neuen Zeit intendierte und inszenierte Augenblick der politischen und industriellen Revolution bildet eine Wasserscheide im Zeitverständnis, das von Herkunft auf Zukunft umstellt. Dadurch verliert die Vergangenheit den Status einer lebendigen, für die Gegenwart maßgeblichen Tradition. Die Vergangenheit ist nicht mehr die Zeit, aus der die Gegenwart herkommt im Sinne von Herkunft und Überlieferung, auf deren Autorität sie sich gründet, deren normative Gültigkeit sie anerkennt. Auf Vor-Moderne reduziert, erscheint die Vergangenheit von der modernen Wirklichkeit abgehängt; im Historismus wird sie zur Geschichte. Ihre Abtrennung von der Gegenwart bildet die Voraussetzung dafür, dass sich die Vergangenheit zur Weltgeschichte rundet, im Maskentreiben der Stile, das sich durch das 19 te Jahrhundert dahinzieht.12 Zum Spektakel gemacht, erscheinen die als große welthistorische Momente bezeichneten Ereignisse als Ideal verewigt beziehungsweise permanent präsent. Aber in ihrer simultanen Präsenz werden sie zugleich auch belanglos und beliebig, entwertet und entfremdet. Das heißt, sie rücken in eine exotische Ferne, die zum Fluchtpunkt von Nostalgie wird. Die abgeschnittene Vergangenheit steht in einer ähnlichen Ambivalenz zwischen Überhöhung und Entmachtung wie das aus den Funktionszusammenhängen exilierte Subjekt. Anders als das gleich in mehreren Beispielen plastisch werdende europäische Mittelalter rückt die exotische Ferne an der oben zitierten Stelle nur indirekt ins Blickfeld.13 Der Haschischrauch in der Pfeife, 12
PW 1, S. 288.
13
An anderen Stellen macht Benjamin deutlicher, dass das Maskentreiben der Stile
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der sich zu satanischem Genügen, satanischem Wissen, satanischem Ruhen verdichtet, dürfte jedoch hinreichen, um das Bild des Orients als jener „namentliche[n] Heimat von Sehnsucht“14 aufsteigen zu lassen. Nicht nur von der eigenen Tradition setzt sich die säkulare, nach vorn schauende, grenzenlos fortschreitende westliche Moderne ab, sondern von jeder traditionalen, auf Herkommen und Überlieferung gründenden Gesellschaft überhaupt.15 Der imaginäre Raum des Orients wird mit allen Denk-, Handlungs- und Lebensweisen identifiziert, die der moderne Westen im Öffentlichen hinter sich lässt und abwertet. Indem die westliche Vergangenheit (das Hier-Damals) mit in der Gegenwart in weiter, fremder Ferne liegenden Räumen (dem Dort-Jetzt) in ein Analogieverhältnis gesetzt wird, unterliegen beide derselben widersprüchlichen Sicht. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden wird ein ebenso vollständiger Bruch angesetzt wie zwischen Moderne und Vor-Moderne, was bedeutet, dass die Ferne genauso idealisiert und gleichzeitig vernichtet ist wie die omnipräsent gemachte Geschichte. In beiden Hinsichten ist der Bruch die Voraussetzung von Überhöhung (Sakralisierung) und Herabsetzung zugleich. Mittels Beherrschung und Instrumentalisierung soll die verlore-
Mittelalter und Orient in demselben Reigen erfasst: Der Wechsel der Stile, das Gotische, Persische, Renaissance etc. das hieß: über das Interieur des bürgerlichen Speisezimmers schiebt sich ein Festsaal Cesare Borgias, aus dem Boudoir der Hausfrau steigt eine gotische Kapelle heraus, das Arbeitszimmer des Hausherrn spielt irisierend in das Gemach eines persischen Scheichs hinüber, PW 1, S. 282. 14 Adorno 1997 (wie Anm. 2), S. 65–66, zit. n. PW 1, S. 291. 15 „Wenn nun eine alteuropäische Tradition entmachtet und ferngerückt ist, besitzt sie keinen grundsätzlichen Vorrang mehr vor anderen archaischen oder exotischen Vergangenheiten, die vor oder außerhalb der europäischen Tradition entstanden waren“, Hannelore Schlaffer und Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt am Main 1997, S. 12. Nur so kann die eigentlich recht befremdliche Gleichung aufgehen, die nicht nur Benjamin zwischen europäischer Vergangenheit und außereuropäischen Regionen herstellt: „This translation of cultural distance into temporal disjunction by virtue of the law of progress has been pivotal to the construction of the modern global polity. The designation of Non-European races as relics, archaic survivors whose creative moment belonged to an irretrievable past, has been intrinsic to the West’s sense of its modern destiny“, Scott McQuire, Visions of Modernity. Representation, Memory, Time and Space in the Age of the Camera, London 1997, S. 196. Vgl. auch George Sebastian Rousseau und Roy Porter, „Introduction: Approaching Enlightenment Exoticism“, in: Exoticism in the Enlightenment, hrsg. von George Sebastian Rousseau und Roy Porter, Manchester 1990, S. 9: „The peoples and stages of civilisation of the European past were readily mapped onto the tribes contemporaries encountered in Africa or America; thereby the ‚here and then‘ was mapped upon the ‚there and now‘.“
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ne, verschwundene, vernichtete Vergangenheit ebenso wieder angeeignet werden wie die entfernte, in eine radikale Ferne gerückte Natur. Der Rolle, welche die Wissensmacht der modernen Geschichtswissenschaft und Geschichtsindustrie für den Zugriff auf die Vergangenheit spielt, korrespondieren der auf militärisch-administrativer Rationalität sowie technologischer Potenz gründende Kolonialismus und Imperialismus. Was der Historismus für den Zugriff auf die Vergangenheit, das ist der Kolonialismus für den Zugriff auf die Ferne. Für die moderne Seele resultiert daraus eine Art Bewusstseinsspaltung: Einerseits kann sie sich mit der Überlegenheit der modernen Gesellschaft identifizieren; andererseits sind einer solchen Identifikation aufgrund des spezifischen Charakters dieser Gesellschaft als System Grenzen gesetzt. Infolge der Entfremdung vom Eigenen werden Anhaltspunkte der kollektiven und individuellen Identität im zeitlich-räumlich Anderen gesucht. Identitätssehnsucht und -suche sind klare Signale der Entfremdung, der Dezentrierung und Exterritorialisierung des Menschen aus dem System. Dieser Bewusstseinsspaltung des Selbst entspricht ein doppeltes Bild des Anderen, das zwischen Herabsetzung und Überhöhung, Verachtung und Verherrlichung schwankt. Die Unterwerfung und Verfügbarkeit des Anderen ist die Voraussetzung beider Einstellungen gleichermaßen: Nostalgie ist „die mildtätige Seite der Kolonisierung“.16 Seine Aversion gegen das Orientalische bringt Benjamin im dreimal wiederholten Satanischen (Genügen, Wissen, Ruhen) zum Ausdruck. Auch ohne das Adjektiv satanisch wäre die negative Bewertung von Genügen im Gegensatz zum Streben, von Wissen im Gegensatz zum Handeln, von Ruhen im Gegensatz zu Bewegung und Entwicklung evident. Passivität und Müßiggang stehen im Widerspruch zum aktivischen Ethos sowohl des Unternehmers (bourgeois) als auch des Staatsbürgers (citoyen). Aber als Privatmann, als Mensch schlechthin (homme) beziehungsweise als satter Spießer beginnt er sich nach eben diesem entfernten, negierten, verächtlich gemachten (‚abjekten‘) und sogar dämonisierten (satanischen) Fremden zu sehnen. In seinem anderen Selbst in seiner Innenwelt, in
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Beat Wyss, Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1996,
S. 14–15. Vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie (1969), hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 84: „[...] das Bedrohliche der Naturbeherrschung [...] vermählt [sich, C. K.] mit der Sehnsucht nach dem Bezwungenen, die an jener Herrschaft entflammt.“
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seinem Heim gibt sich das moderne Subjekt heimlich der Irrationalität und den Ausschweifungen von Traum und Rausch hin. Damit gelten im Öffentlichen und im Privaten weniger komplementäre als vielmehr einander diametral entgegengesetzte Wertordnungen. Die drei Rollen des rational kalkulierenden, gierigen und knauserigen Geschäftsmanns, des vernünftigen, gemeinwohlorientierten, aufgeklärt-mündigen Bürgers und des einsam Träumenden, insgeheim sich nach dem ganz Anderen Sehnenden fügen sich keinesfalls harmonisch ineinander.
Vo n Ro s e n s t ö c ke n u n d I n s e k t e n l e i b e r n Im Textstück Louis-Philippe oder das Interieur wird sie zwar nicht namentlich angeführt, aber zu den Phantasmagorien der Innenwelt gehört, noch hinter Ferne und Vergangenheit liegend: die Natur. In den Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk taucht sie auf, wenn Benjamin kurz und bündig feststellt: Der Bürger, der mit Louis-Philippe heraufkam, legt Wert darauf, sich die Natur zum Interieur zu machen.17 Als Beispiel berichtet Benjamin von einem Ball in der englischen Botschaft im Jahr 1839: Zweihundert Rosenstöcke werden bestellt. „Der Garten [...] trug ein Zeltdach und wirkte wie ein Konversationssalon. Aber welch ein Salon! Die duftigen, mit Blumen überhäuften Beete hatten sich in enorme Jardinieren verwandelt, der Sand der Alleen verschwand unter blendenden Läufern, anstelle der gußeisernen Bänke fand man damast- und seidenüberzogene Kanapees; ein runder Tisch trug Bücher und Alben. Von weitem drang der Lärm des Orchesters in dieses ungeheure Boudoir herein.“ 18 Während der private Binnenraum von der Gesellschaft hermetisch abgetrennt zu sein scheint, erweist sich das Interieur im Hinblick auf die Natur
17
PW 1, S. 291. An einer anderen Stelle in den Aufzeichnungen und Materialien stellt
Benjamin fest, dass die Verschiebung von Ferne und Vergangenheit zur Natur sich erst in der Zeit des Jugendstils vollziehe: Das Verhältnis des Jugendstilinterieurs zu dem vorangehenden besteht darin, daß der Bourgeois sein Alibi in der Geschichte mit dem noch entlegeneren in der Naturgeschichte (besonders dem Pflanzenreiche) vertuscht, PW 1, S. 298. Aber tatsächlich sind alle Elemente bereits im 19. Jahrhundert präsent, auch die Identifikation der Blume mit dem Interieurbewohner. 18 PW 1, S. 291.
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als ausgesprochen porös. Dabei geht die offenbar höchst erwünschte, mit raffiniertesten Mitteln ins Werk gesetzte Verwischung der Grenzen von Innen und Außen19 in beide Richtungen: Auf der einen Seite werden – je nach finanziellen Möglichkeiten – mit mehr oder weniger Aufwand größere oder kleinere Stücke der schönen Natur, namentlich Pflanzen, Bäume (vorzugsweise Palmen) und ganz besonders Blumen, in die Innenräume hineingeholt, eingetopft und abgebildet (Abb. 1). Auf der anderen Seite dehnt sich das Interieur nach außen hin aus, findet Leben und Wohnen draußen statt, in Gärten sowie in verschiedenen Arten von Zwischenräumen wie Balkonen, Loggien, Pergolen und Wintergärten. Im scheinbar beliebig austauschbaren Verhältnis zwischen Innen und Außen findet ein verwirrendes Maskentreiben statt. Beim Botschaftsball von 1839 spielt der Garten den Konversationssalon, noch intimer sogar, ein ungeheures Boudoir. Genauso atemberaubend artifiziell und kostbar wirkt umgekehrt die spielerische/ gespielte Präsenz der wilden Natur in den zivilisierten und kultivierten Salons. Und es versteht sich von selbst, dass die exotische Ferne auch beim Thema Natur eine besonders wichtige Rolle spielt: Gewächs- und Palmenhäuser rücken eine vorzugsweise fremde Natur in greifbare Nähe (Abb. 2). Wohl nicht zuletzt, weil die Präsentation des Interieurs als Natur beziehungsweise die Versammlung der Natur im und um das Interieur herum aufwendig und entsprechend kostspielig ist, findet beides seltener real statt; stattdessen übernehmen Kunst, Kunsthandwerk und neue industrielle Techniken die Aufgabe der Vermittlung. Im Bild, auf Fotografien, Grafiken, Zeichnungen, Gemälden und nicht zuletzt als Bildtapete20 wird die schöne fremde Natur im Interieur an die Wand gehängt (Abb. 3). Die
19
Genauer gesagt, die Grenze zwischen Innen und Außen bildet nicht die Haustür,
sondern der Gartenzaun. Der Garten und auch die Landschaft, jene phantasmatisch-ästhetische Sphäre, die jenseits der Stadtmauern beginnt und in die Ferne führt, gehören noch in den Einzugsbereich des Interieurs beziehungsweise bilden Spiegel, Projektionsflächen des einsamen Subjekts und seiner Innerlichkeit (vgl. Cornelia Klinger, „Zwischen Haus und Garten. Weiblichkeitskonzepte und Naturästhetik im 18. Jahrhundert“, in: Frauen und Gärten um 1800. Weiblichkeit – Natur – Ästhetik, hrsg. von Christiane Holm und Holger Zaunstöck, Halle 2009). Auf eine „Komplementarität von Interieur und Landschaft“ macht Anselm Haverkamp aufmerksam, Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt am Main 2002, Kap. „Innenbild. Die Dialektik des Innen im Außen“, S. 201–215, insbesondere S. 202 und S. 208. 20
Siehe den Beitrag von Astrid Arnold in diesem Band, Der ‚Wilde‘ im Wohnzimmer.
Überlegungen zur Vermarktung und Rezeption von Panoramatapeten am Beispiel von Les sauvages de la mer pacifique.
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Abb. 1 August von Bayer, Schreibkabinett der Kronprinzessin Marie, spätere Königin von Bayern, in der Residenz Bamberg (aus dem Wittelsbacher Album), 1844
relativ junge und zunächst als nachrangig angesehene Kunstgattung der Landschaftsmalerei gelangt nicht zufällig im 19. Jahrhundert zu besonderer Prominenz. Durch alle Prozesse der Ästhetisierung, Artifizialisierung, Fiktionalisierung und Denaturierung hindurch ist und bleibt Sehnsucht nach und Liebe zur Natur ein Kernbestandteil bürgerlicher Identität. Signifikanter noch als die Affinität zwischen Interieur und äußerer, schöner Natur ist die Ausdehnung der Phantasmagorien Ferne und Vergangenheit in Richtung Natur. Übergangslos gleitet sowohl das räumlich als auch das zeitlich Fremde von der ‚alten‘ Kultur zur ‚zeitlosen‘ Natur. In den Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk zitiert Benjamin aus Adornos Habilitationsschrift: „Geschichtlich scheinhafte Gegenstände werden [...] als Schein unveränderlicher Natur eingerichtet. Archaische Bilder gehen im Intérieur auf: das der Blume als des organischen Lebens; das des Orients als der namentlichen Heimat von Sehnsucht; das des Meeres als das der Ewigkeit selber.“ 21
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Abb. 2 Carl Blechen, Das Innere des Palmenhauses, 1832
Richtet21sich die Sehnsucht auf die in der Ferne liegende Vergangenheit, auf die ‚alten‘ Kulturen Chinas, Japans, Indiens, der Türkei oder Arabiens, so findet deren Status als menschliche Gesellschaft, als ‚Zivilisation‘ in der Regel durch den Zusatz ‚hoch‘ zu ‚Kultur‘ Anerkennung. Dabei sind die Räume und Orte genauso beliebig austauschbar wie die historischen Zeiten und Ereignisse der sogenannten Weltgeschichte: Orient ist ein dehnbarer Begriff und reicht vom Nahen bis zum Fernen Osten. Wenn die Sehnsucht aber noch weiter über die alten Hochkulturen hin21
Adorno 1997 (wie Anm. 2), S. 65–66, zit. n. PW 1, S. 291; das lange Zitat ist hier
gekürzt wiedergegeben.
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Abb. 3 Manufaktur Zuber & Cie, Les zones terrestres, 1854
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aus- und zurückgeht zu den archaischen, primitiven, wilden ‚Naturvölkern‘ Ozeaniens, Australiens oder Afrikas, dann findet so etwas wie eine Naturalisierung der Ferne statt. Auch diese Destinationen der Sehnsucht wechseln beliebig vom Osten in die Weite des wilden Westens, in den hohen Norden oder in die tiefe Südsee. Besonders im späteren Verlauf des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts verschiebt sich im Übergang von Orientalismus zu Primitivismus die Perspektive in immer größere räumlich-zeitliche Entfernungen – den kolonialen Erforschungs- und Eroberungszügen auf dem Fuße folgend. Überraschender als die Naturalisierung des fernen Raumes ist die Naturalisierung der Zeit, der ‚großen Weltgeschichte‘, also der eigenen westlichen Vergangenheit in Benjamins kühnem, von den eigenen Haschisch-Experimenten inspiriertem Bild: In diesen Innenräumen leben war ein dichtes sich eingewebt, sich eingesponnen haben in ein Spinnennetz, in dem das Weltgeschehen verstreut, wie ausgesogene Insektenleiber herumhängt. Von dieser Höhle will man sich nicht trennen.22 Hier erfährt der elegante Salon des gebildeten modernen Bürgers, in dem Weltgeschichte und Rosenbusch zunächst artig in allerlei bunte Kostüme gekleidet, höchst kunstvoll und künstlich verpuppt einen Maskenball veranstalten, eine seltsame Verwandlung. Das nach der letzten Mode gestaltete Interieur entpuppt sich nun auf einmal als Höhle, in der verstreute Fetzen von Vergangenheit wie fossile Überreste von Tieren herumhängen. Im Interieur wird Natur nicht nur als Blumentopf oder Bildtapete ge- oder versammelt, sondern die ganze Privatsphäre, dieser aus den Funktionszusammenhängen des modernen Systems ausgegrenzte, exterritorialisierte gesellschaftliche Ort wird schlussendlich mit Natur identifiziert. Erscheint das Interieur als Höhle, so mutiert l’homme selbst zum Naturwesen. Der Haschisch rauchende Privatmann sitzt als Spinne in diesem Netz, der satte Spießer haust – samt Nachtmütze und Pantoffeln – in seiner Höhle wie ein Grottenolm. Letztlich wird alles, was das moderne westliche Gesellschaftssystem von sich ab- und ausgrenzt, auf Natur reduziert – auch das menschliche Subjekt. 22
PW 1, S. 286. An dieser Stelle verzeichnet Benjamin auch eine Erinnerung an mei-
nen zweiten Haschischversuch. Er bezieht das Ablesen der Weltgeschichte, das er dem satten Spießer zuschreibt, ausdrücklich auf sich selbst: Habe die Möglichkeit, mit winzigen Hebelchen die ganze Beleuchtung umzustellen. Kann aus dem Goethehaus die Londoner Oper machen. Kann die ganze Weltgeschichte daraus ablesen. [...] Kann alles im Zimmer sehen; die Söhne Karls III. und was Sie wollen.
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W i e e i n e Ra n u n ke l : d i e d u n k l e S e i t e d e s I n t e ri e u r s Tatsächlich nimmt das ausgegrenzte und eingesperrte Leben in der Verinselung des Individuellen, in der Isolation des Privaten teilweise ‚abnorme‘ Züge an. Je vollständiger die Abtrennung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein scheint, desto enger wird das Luftloch der Natur im Interieur. Das Refugium des Lebens und der Lebendigkeit wird zum Vakuum, zum Ort klaustrophobischer Einsamkeit und schlussendlich des (Erstickungs-)Todes. Auch diesen dunklen Aspekten des Phänomens ‚Interieur‘ ist Benjamin auf der Spur und dabei wechselt der Interieur-Bewohner das Geschlecht: Statt des souveränen Hausherrn rückt die zum Opfer der häuslichen Verhältnisse gewordene Frau ins Bild. Am besten lässt sich diese Spur an Charles Baudelaires Gedicht Une martyre aus den Fleurs du mal (1857) aufnehmen. Diesem Gedicht ist das Zitat entnommen, das Benjamin seiner Text-Passage Louis-Philippe oder das Interieur voranstellt. Am Anfang des Gedichtes zeichnet Baudelaire das typische Bild des Interieurs und seiner verblichenen Bewohnerin. Sie lebte: „Au milieu des flacons, des étoffes lamées Et des meubles voluptueux, Des marbres, des tableaux, des robes parfumées Qui traînent à plis somptueux, Dans une chambre tiède où, comme en une serre, L’air est dangereux et fatal, Où des bouquets mourants dans leurs cercueils de verre Exhalent leur soupir final [...].“ 23 Wie im gefährlichen Treibhausklima dieses Zimmers die Blumensträuße in ihren Vasen wie in Glassärgen sterben, so wird die vergewaltigte und ermordete Frau selbst zur Blume. Ihr vom Rumpf abgetrennter Kopf ruht auf dem Nachttisch wie eine Ranunkel, so heißt es in der Zeile, die Benjamin seiner Reflexion zum Interieur als eine Art Motto vorausschickt: 23 Hier aus der Ausgabe: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Deutsch und Französisch, übertragen von Carl Fischer, 5. Aufl., Neuwied/Berlin 1966.
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„La tête ... Sur la table de nuit, comme une renoncule, Repose.“ Die im Plüschgehäuse des Interieurs lebende Frau wird ästhetisiert, zum Kunstwerk, zum schönen Objekt inmitten schöner Objekte und damit selbst zum toten Gegenstand – noch bevor sie Opfer eines Gewaltverbrechens wird. Im Leben verdinglicht, wird sie – perverserweise umgekehrt – im Tod zur lebendigen Natur.24 In der modernen Gesellschaft ist Natur Vergangenheit und die Vergangenheit ist abgetrennt von der Gegenwart wie der Rumpf vom Kopf: La nature morte wird Ding oder Bild, Stillleben. Weiteren Aufschluss über die dunkle Seite des im Interieur eingesperrten Lebens gibt eine Stelle aus Benjamins Einbahnstraße: Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger Jahre [des 19. Jahrhunderts, C. K.] mit seinen riesigen von Schnitzereien überquollenen Büffets, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, der die Balustrade verschanzt und den langen Korridoren mit der singenden Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. ‚Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden.‘ Die seelenlose Üppigkeit des Mobiliars wird wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam [...]. In jenem üppigen Orient [...] feiert der Hausherr seine Orgien mit den Wertpapieren, [...] bis jener [edle kaukasische, C. K.] Dolch im silbernen Gehänge überm Divan eines schönen Nachmittags seiner Siesta und ihm selber ein Ende macht.25 Wenn Benjamin Baudelaires Gedicht über ein Sexualverbrechen zitiert und selbst schreibt: die bürgerliche Wohnung [zittert, C. K.] nach dem namenlosen Mörder [...], wie die geile Greisin nach dem Galan,26 dann thematisiert er das in der Privatsphäre eingesperrte Leben am Gegenpol des Todes und in den extremen, pervertierten Formen von Verbrechen 24
Der Vergleich des Kopfes der toten Frau mit der Ranunkel ist nicht die einzige Iden-
tifikation der Frau mit Natur; das Gedicht beschreibt die Mordszene mit einer ganzen Fülle von Naturmetaphern. 25
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und
Herrmann Schweppenhäuser (= Werkausgabe Edition Suhrkamp), Frankfurt am Main 1980, S. 89. 26 Ebd.
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und Gewalt. Indessen verrät er damit indirekt und unwillkürlich die zwischen Rausch und Traum verschwiegenen positiven Aspekte des Lebens, das süße Geheimnis des lockenden Wesens des Interieurs: Lust und Liebe, Sexualität und Generativität und die damit verbundenen unendlich vielschichtigen, zwischen Zuneigung und Abneigung, zwischen Liebe und Hass, Angst und Aggression oszillierenden emotionalen Beziehungen, die sich zwischen den nach Geschlecht und Generation unterschiedenen, im Interieur anwesenden Akteuren entfalten. Selbstverständlich hat das alltägliche und zumal das nächtliche Leben in sozialen Nahbeziehungen, namentlich um die Lebensgrenzen von Geburt und Tod herum, sowie in den Grenzsituationen des Lebens (zu den Hoch-Zeiten ebenso wie auf den Abwegen des Wahnsinns, in den Niedergängen von Krankheit und Alter) immer schon im Interieur stattgefunden – jedenfalls seit Menschen Höhlen bewohnt, Zelte errichtet, Hütten und Häuser gebaut haben. Aber erst auf der Rückseite des Auszugs politischer und wirtschaftlicher Funktionen aus dem Haus ‚spezialisiert‘ sich die häusliche Sphäre als private Lebenswelt auf alles, was in den Funktionszusammenhängen der modernen Gesellschaft keinen Platz mehr hat, auf alles Entfernte und Vergangene, das heißt unter anderem auch auf alle natürlichen Vorgänge des Lebens und Sterbens: Sexualität und Generativität, Morbidität und Mortalität beziehungsweise Reproduktion, Rekreation und Regeneration in ihrem alltäglichen Ablauf ebenso wie im Lebenszyklus – kurzum, auf alles zugleich Verächtliche und doch Unentbehrliche, das Bedrohliche und trotzdem Verlockende, alles Verhasste und gleichwohl Begehrte der menschlichen Kontingenz. In der schroffen Entgegensetzung, die sich infolge des Ausdifferenzierungsprozesses beziehungsweise der Mechanisierung und Artifizialisierung aller anderen gesellschaftlichen Handlungsfelder herausbildet, wird die Natürlichkeit des Lebensprozesses einerseits als das ganz Andere exponiert, herausgestellt und herausgehoben, andererseits wird es exkludiert, schamhaft verborgen und ausgeblendet. Im sich zum bürgerlichen ‚Heim‘ wandelnden Haus wird das Leben heimisch, ver-heimlicht und damit auch verunheimlicht, tabuisiert und pervertiert, verrätselt und mystifiziert. Es nimmt teilweise monströse Züge an.
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Fa z i t : B e n j a m i n s I n t e ri e u r i n B i l d e r n Benjamins aus eigenen Kindheits- und Lebenserfahrungen (samt Haschisch-Experimenten) gespeiste Vision des Interieurs ist keine Privat-Mythologie, sondern Skizze eines wesentlichen Bestandteils der modernen Gesellschaftsarchitektur. Das Szenario der Privatsphäre, das Benjamin mit Worten entwirft, entfaltet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in einer schier unendlichen Fülle von Innenraum-Installationen, Dekorationen, Einrichtungsgegenständen und vielen anderen Accessoires, von denen Bilder, Skizzen, Grafiken und frühe Fotografien überliefert sind. Vor allem aber wird das Interieur selbst zum Bild-Sujet, sei es zweckgebunden in Gestalt von Entwürfen für zu realisierende (Wohn-) Räume oder – nicht selten – für fiktionale Räume (wie Theater, Opern, Puppenhäuser o. Ä.), sei es zweckfrei in Gestalt von Kunstwerken, Bildern und Zeichnungen von Interieurs, die ihrerseits nicht selten private Innenräume geschmückt haben: Interieur-Bilder im Kontext ästhetisch-künstlerisch gestalteter Interieurs, gleichsam Bilder in Bildern. Diesem Aspekt hat Benjamin selbst keine Aufmerksamkeit geschenkt: „Benjamin hat seine Theorie an den Interieurs des 19. Jahrhunderts entwickelt, aber nicht auf das Interieur als Bild bezogen.“27 Umso mehr drängt es sich auf, jene Bilder von Ferne und Vergangenheit, die Benjamin vor Augen und im Kopf hat, ohne sie direkt anzusprechen, sichtbar zu machen, wie es in diesem Band der Fall ist.
27
Haverkamp 2002 (wie Anm. 19), S. 214.
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Ferne Welten an der Wand
Astrid Arnold
Der ‚Wilde‘ im Wohnzimmer Überlegungen zur Vermarktung und Rezeption von Panoramatapeten am Beispiel von Les sauvages de la mer pacifique
25 Jahre nachdem Kapitän James Cook (1728–1779) auf Hawaii von Einheimischen getötet worden war, entstand viele tausend Meilen entfernt in der französischen Manufaktur Dufour1 in Mâcon eine der ersten farbigen Panoramatapeten überhaupt. Von diesem kultur- wie tapetengeschichtlich gleichermaßen interessanten Wanddekor mit dem nach Abenteuer und Exotik klingenden Namen Les sauvages de la mer pacifique ou Les voyages du Capitaine Cook (im Folgenden: Les sauvages)2 haben sich weltweit an die 40 Exemplare, davon wiederum 15 komplett erhalten.3 Geht man von einer etwa 150 Tapeten umfassenden Erstauflage sowie von höchstens zwei Wiederauflagen aus, entspricht dies in etwa einem Elftel des ursprünglich Vorhandenen.4 Provenienzen sind nur durch jeweils vier in situ sowie museal erhaltene Beispiele bekannt. Eine intensivere Beschäftigung mit den in
1
Zur aktuellen Forschungslage vgl. Bernard Jacqué und Georgette Pastiaux-Thiriat
(Hrsg.), Joseph Dufour. Manufacturier de papier peint, Rennes 2010. 2
Die gesamte Tapete ist abgebildet in: Susan Hall (Hrsg.), Les sauvages de la mer
pacifique, Ausst.-Kat. Art Gallery of New South Wales, Sydney 2000, S. 40–41. Eine Gesamtabbildung sowie zahlreiche Detailabbildungen finden sich in: Céline Borello, „Joseph Dufour et l’exotisme. Les Océaniens du début du XIXe siècle, histoire d’une rencontre à travers le papier peint“, in: Jacqué und Pastiaux-Thiriat 2010 (wie Anm. 1), S. 161–181. 3
Auflistung in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 44–47.
4
Für diese mündliche Mitteilung danke ich Bernard Jacqué. – Odile Nouvel-Kammerer
(Hrsg.), Papiers peints panoramiques, Paris 1990, S. 308–309, Kat.-Nr. 78, erwähnt hingegen nur die Erstauflage. Bei dem zwölf Bahnen umfassenden Exemplar des Deutschen Tapetenmuseums in Kassel (3–10 und 17–20, DTM Inv.-Nr. 476) handelt es sich – erkennbar an dem Endlospapier – um eine Wiederauflage nach 1830.
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Der ‚Wilde‘ im Wohnzimmer
ihrem architektonischen Kontext überlieferten Stücken könnte erste Anhaltspunkte für Überlegungen zum sozialen Stand der ehemaligen Bewohner sowie zur Anbringung und Rezeption von Panoramatapeten im Allgemeinen liefern, steht bisher in der Tapetenforschung aber noch aus. Auch wenn konkrete Quellen zu der Tapete Les sauvages, die die Rezipientensicht beleuchten, bislang fehlen, so ist es doch möglich, sich der Frage über Analogieschlüsse zu nähern. Eine Quelle, die aufschlussreiche Einblicke in die Marketingstrategien der Verkäuferseite gewährt, ist die 48 Seiten umfassende Verkaufsbroschüre der Manufaktur Dufour, mit der diese 1804/05 die Bildtapete Les sauvages bewarb.5
D i e V i s u a l i s i e r u n g d e r C o o k ’s c h e n Re i s e n a u f d e r B i l d t a p e t e – a u t h e n t i s c h e Re i s e d o k u m e n t a t i o n o d e r ve r k l ä r t e s I d e a l b i l d ? Im Gegensatz zu der gleichzeitig realisierten Tapete Les Vues de Suisse aus der Manufaktur Zuber & Cie in Rixheim mit beschaulichen und dem europäischen Kulturkreis vertrauten Ansichten der Schweiz6 mutete die von den Reisen des Kapitän Cook inspirierte fremdländische Szenerie mit ihrer exotischen Vegetation und den teils halbnackten, teils aufwendig mit Federn und Umhängen bekleideten verschiedenen Ethnien mehr als ungewöhnlich an. Sie erweckte daher auch die Aufmerksamkeit der Jury auf der Exposition des produits de l’industrie française, auf der beide Tapeten 1806 in Paris ausgestellt waren: „Monsieur Joseph Dufour hat neuartige Tapeten entwickelt, deren von den Reisen des Kapitän Cook inspirierte Themen das Ungewöhnlichste sind, was der Markt momentan zu bieten hat.“ 7
5 Ein Teil dieser Broschüre ist auf Englisch abgedruckt in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 32–41. 6
Bernard Jacqué, „Ein Mythos wird konkret: die Panoramatapete mit Schweizer
Bilderwelten“, in: Tapeten: Wände sprechen Bände. Die Sammlungen des Schweizerischen Nationalmuseums, hrsg. von Helen Bieri Thomson, Ausst.-Kat. zur gleichnamigen Ausstellung, Lausanne 2010, S. 41–55, bes. S. 41–43, und Philippe de Fabry, „Vues de Suisse. Die Vermarktung einer Panoramatapete im Ersten Kaiserreich (1804–1815)“, in: ebd., S. 57–61. 7
Zit. n. Nouvel-Kammerer 1990 (wie Anm. 4), S. 308, Übersetzung der Verfasserin.
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Astrid Arnold
Aus der Verkaufsbroschüre Dufours erfahren wir die genauen geografischen Zuordnungen der einzelnen Bahnen, die ungefähr 14 unterschiedliche Inseln des Pazifischen Ozeans abbilden sollen.8 Die Einhaltung einer Chronologie der Cook’schen Reisen stand bei deren Visualisierung indes genauso wenig im Vordergrund wie die realistische Darstellung der geografischen, klimatischen und ethnischen Unterschiede zwischen den einzelnen Inseln. Auf der ersten Bahn ist eine friedliche Szene mit eher dunkelhäutigen Ureinwohnern dargestellt, die Hüte und Überhänge tragen und gerade dabei sind, Fische zu trocknen. Nur anhand der Kleidung kann man erahnen, dass sie sich in kühleren Breiten aufhalten. Laut der Broschüre sind die Einwohner vom Nootka-Sund in Kanada dargestellt, der von Cook während seiner dritten Reise im März des Jahres 1778 besucht wurde. In direktem Anschluss würde der Betrachter nun eine Landschaft erwarten, die in geografischer Nähe zu dieser Meerenge liegt. Ein logischer geografischer wie zeitlicher Anschluss wäre beispielsweise die Darstellung des Prinz-William-Sunds gewesen. Diese von Cook nur zwei Monate später, am 12. Mai 1778, entdeckte Meerenge im Golf von Alaska wird allerdings erst auf der Bahn XII thematisiert. Tatsächlich geht die Darstellung auf der ersten Bahn nahtlos in eine Szene auf der zweiten Bahn über, die sich laut Broschüre auf der im südpazifischen Ozean gelegenen Insel Ulietea, dem heutigen Raiatea in Französisch-Polynesien, abspielt.9 Die Unterschiede zwischen den beiden Regionen manifestieren sich weniger in der Darstellung einer veränderten Vegetation als in der Kleidung und der Repräsentation der menschlichen Körper. Die Männer und Frauen Ulieteas sind gemäß dem klassischen Schönheitsideal als schlanke Personen mit weißem Teint wiedergegeben. Im Gegensatz zu den Einwohnern vom Nootka-Sund mit ihren etwas plump und unförmig wirkenden Umhängen sind sie in antikisch anmutende Gewänder gehüllt und mit allerlei bunten Federn geschmückt. Dieser Kleidungstyp zieht sich wie ein roter Faden von der zweiten bis zur siebzehnten Bahn der Tapete. Auf der dritten Bahn werden die Ureinwohner der Inselgruppe Ha’apai abgebildet, die zu den Tonga Islands gehört. Kapitän Cook, der hier mehrmals 1774 und 1777 Halt machte, gab dem Archipel, der
8
Die Beschreibungen Dufours sind ins Englische übersetzt abgedruckt in: Hall 2000
(wie Anm. 2), S. 34–41. 9 Vgl. ebd., S. 38.
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heute als Königreich Tonga bekannt ist, den Namen „Freundschaftsinseln“. Dufour beschreibt in der Verkaufsbroschüre, dass der Häuptling von Ha’apai prächtige Festlichkeiten ausrichten ließ, bei denen getanzt, gekämpft und gegessen wurde.10 Eine vergleichbare Festivität, eine Tanzszene, die allerdings auf der Insel Tahiti lokalisiert wird, ist auch in zentraler Position auf der Tapete dargestellt (IV–VI). Die Insel wird von Dufour in allen nur denkbaren positiven Superlativen beschrieben, weshalb ihre paradiesische Vegetation auch als Landschaftsstaffage für die gesamte Panoramatapete diente. Als ebenso vorbildhaft wurden die Menschen auf der Insel, ihre Körper, Physiognomie und Kleidung angesehen.11 Auf Bahn VII sind die Einwohner der Insel Tanna dargestellt, die zu den Neuen Hebriden gehört.12 Kurze Baströckchen signalisieren hier die Darstellung einer anderen Kultur. Charakteristisch für die Insel Tanna ist der Vulkan Mount Yasur, der erst auf den nächsten beiden, die Insel Hawaii abbildenden Bahnen VIII und IX zu sehen ist (Abb. 4). Auf Kupferstichen des 18. Jahrhunderts, die die Insel Tanna zeigen, war dieser ein sehr beliebtes Motiv.13 Auf der Tapete sollen der rauchende Vulkan ebenso wie die Rückenfigur, die an einen trojanischen Krieger erinnert, wohl auf die spannungsgeladene Hintergrundszene hinweisen, die auf den ersten Blick unspektakulär erscheint. An Land haben sich Gruppen von Menschen versammelt, zwei europäische Schiffe liegen vor Anker. Die eigentliche Handlung aber wird nicht präzisiert. Erst durch die ausführliche Erklärung in der Broschüre erfährt der interessierte Leser, dass es sich hierbei um eine Szene handelt, die den Tod Kapitän Cooks am 14. Februar 1779 thematisiert. Auf den nächsten Bahnen14 sind in rasch wechselnder Folge Neuseeland (X, XI), der Prinz-William-Sund, Alaska (XII), das Königreich Tonga (XIII), das zur Zeit Kapitän Cooks – wie bereits erwähnt – unter dem Namen „Freundschaftsinseln“ bekannt war, sowie Neu-Kaledonien (XIV) dargestellt. Auf den Bahnen XV und XVI soll eine der „Freundschaftsinseln“, Tongatapu, abgebildet sein. Die visualisierte Kampfszene steht dabei unter dem Eindruck eines Festes, das 10 11 12
Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 35–36. Vgl. ebd., S. 36.
13 Vgl. James Cook und die Entdeckung der Südsee, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, München 2009, S. 33. 14 Vgl. Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 37–41.
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Abb. 1 Manufaktur Dufour, Les sauvages de la mer pacifique, Bahnen XVII–XX, 1805
König Paulaho von Tongatapu zu Ehren Kapitän Cooks 1777 ausrichten ließ, und bei dem Wettkämpfe, Tänze, musikalische Unterhaltung und Bankette geboten wurden. Als Abschluss der Panoramatapete werden auf den Bahnen XVII und XVIII die Marquesas-Inseln mit dem König und der Königin von St. Christine, auf der Bahn XIX die bei Dufour als ‚hässlich‘ beschriebenen Einwohner der Osterinseln sowie auf Bahn XX die Einwohner von Palau dargestellt, die aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe mit Afrikanern verglichen werden (Abb. 1). Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die von den Europäern als ‚hässlich‘ empfundenen Ethnien, wie die Bewohner des Nootka-Sunds auf der ersten Bahn sowie die dunkelhäutigen Ureinwohner Palaus auf der letzten Bahn, kompositorisch an den Rand gedrängt wurden.
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Die Abfolge der verschiedenen Szenen sollte – entsprechend den Vorschlägen in der Verkaufsbroschüre Dufours – variierbar sein.15 Aufgeteilt auf jeweils zehn Bahnen ergaben sich zwei Hauptszenen: zum einen die der tahitianischen Tänzerinnen, deren Darbietung vermutlich nicht zufällig an die ikonografische Tradition der drei Grazien anknüpft, und zum anderen die der an antike Athleten erinnernden Kämpfer. Eine andere Untergliederung war die in drei Szenen à sechs Bahnen mit den Hauptszenen des tahitianischen Tanzes (IV bis IX), den Szenen des Kampfes auf Tongatapu (XII bis XVII) und Darstellungen aus dem Leben der Bewohner von Palau sowie der Oster- und Marquesas-Inseln (Bahnen XVIII bis XX, I bis III). Die übrigen zwei Bahnen wurden für den Zwischenraum von Fenstern angeraten (X und XI). Schließlich erlaubte die Komposition eine Unterteilung in vier Szenen à fünf Bahnen: Der tahitianische Tanz (III bis VII), der – kaum erkennbare – Tod Kapitän Cooks (VIII bis XII), die Bahnen XVIII bis II, auf denen die dichteste Konzentration von als ‚hässlich‘ beschriebenen Ethnien vorherrscht, und schließlich die Kampfszene auf Tongatapu (XIII bis XVII). Die erste und letzte Bahn waren dabei so konzipiert, dass sie zusammengesetzt wieder eine Szene ergaben. Solche Darstellungen vom Tod Kapitän Cooks, aber auch der Bewohner der von ihm auf seinen Reisen entdeckten exotischen Inseln waren im frühen 19. Jahrhundert durch Literatur, Grafik und Ölmalerei hinlänglich bekannt.16 Ebenso waren die Dimensionen der exotischen Szenen nicht ungewöhnlich, mussten sie sich doch an großflächigen Wänden orientieren. Neuartig war jedoch die lebensnahe Darstellung verschiedener Ethnien außerhalb des allegorischen Kontextes, die als Wanddekoration einen zumeist repräsentativen Raum schmückte. Dieser fremdartigen Szenerie stand der Betrachter von Angesicht zu Angesicht unmittelbar gegenüber. Dufour nahm folglich mit der Produktion der Panoramatapete Les sauvages ein doppeltes Verkaufsrisiko auf sich: Er betrat nicht nur markttechnisch, sondern auch thematisch Neuland, im 15
Ebd., S. 33–34.
16
Abbildungen in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 9, 11, 29; Rüdiger Joppien, „The Artistic
Bequest of Captain Cook’s Voyages. Popular Imagery in European Costume Books of the Late Eighteenth and Early Nineteenth Century“, in: Captain James Cook and His Times, hrsg. von Robin Fisher und Hugh Johnston, Vancouver/London 1979, S. 187–210 (Fußnoten: S. 256–261), sowie Ausst.-Kat. James Cook 2009 (wie Anm. 13), S. 33, 57, 68, 99, 105, 171, 180–181, 192, 212.
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Gegensatz zu seinem Konkurrenten Zuber, der die für viele Adelige durch ihre Bildungsreise (Grand Tour) bestens bekannte Schweiz zum Sujet wählte. Die Risiken der hohen Herstellungskosten, die etwa durch höher bezahlte Künstler wie Jean-Gabriel Charvet (1750–1829)17 entstanden, mussten daher durch eine ästhetisch ansprechende Szenerie aufgefangen werden. Die kurze Beschreibung der einzelnen Bahnen macht deutlich, dass dem Betrachter allein durch die Beschäftigung mit den Bildern weder eine rein geografische Reisedokumentation des Pazifischen Ozeans noch eine historische Beschreibung der Cook’schen Reisen vermittelt werden konnte. Erst durch die Lektüre der Verkaufsbroschüre und des ab 1780 in 32 Bänden erschienenen Werks Abrégé de l’histoire générale des voyages von Jean-François de la Harpe, das auch Dufour empfiehlt, wird dem Betrachter bewusst, dass die einheitlich anmutende Szenerie als Gesamtschau zahlreicher Inseln konzipiert wurde.18 Diese ‚geografische Ungenauigkeit‘ wird in der Broschüre mit dem Argument der künstlerischen Freiheit, „die der nachsichtigste Geist nur aufgrund der Leichtigkeit des Motivs akzeptieren kann“,19 und der Informationsmasse, „da viel Unbekanntes in kurzer Zeit gesagt und auf wenig Raum gezeigt werden sollte“,20 verteidigt. Solche ‚Ungenauigkeiten‘ ziehen sich wie ein Leitmotiv durch die gesamte Gestaltung der Tapete, negative Aspekte konnten sogar ganz weggelassen werden. So schreibt Dufour: „Wir haben uns erlaubt, die lächerlichen Teile des Bildes wegzulassen, da es allein die angenehmen Dinge für die Augen der Betrachter abbilden soll.“21 Zu diesen „angenehmen Dingen“ gehörte zweifelsohne die Schönheit Tahitis und seiner Bewohner. Insofern Tahiti bereits im 18. Jahrhundert zum Inbegriff eines Südseeparadieses geworden war, verwundert es nicht, dass sich der Künstler Jean-Gabriel Charvet in der künstlerischen Gestaltung der Vegetation und der Ethnien am kollektiven Idealbild Tahitis orientierte. Auf dieses nimmt auch Dufour in seiner Verkaufsbroschüre ausführlich Bezug: Aufgrund der Freundlichkeit und der Schönheit, Sanftmut und
17 18 19 20 21
Biografie in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 42. Vgl. dazu Borello 2010 (wie Anm. 2), bes. S. 164–173. Zit. n. Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 32, Übersetzung der Verfasserin. Zit. n. ebd., S. 33, Übersetzung der Verfasserin. Zit. n. ebd., S. 38, Übersetzung der Verfasserin.
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Eleganz der tahitianischen Frauen rückt er die Bewohner sogar in die Nähe der zivilisierten Gesellschaften Europas.22 Auch die von den Europäern immer wieder stereotyp postulierte sexuelle Offenheit der Frauen erhält durch den Vergleich mit der im antiken Griechenland für seinen Venuskult bekannten Insel Cythera nicht nur moralische, sondern auch künstlerische Legitimation. Die klassische Antike, von der italienischen Renaissance bis ins 19. Jahrhundert unbestrittenes Vorbild für die bildenden und dramatischen Künste, hatte auch auf die Komposition und Figurengestaltung der Tapete einen maßgeblichen Einfluss. Die beiden zentralen Szenen – der tahitianische Tanz (Abb. 2) und die spielerische Kampfszene auf Tongatapu – folgen einem an den Kunstakademien gelehrten, an der Antike orientierten Schönheitskanon. So scheinen die drei Grazien als verführerische Tahitianerinnen, deren Gewandung erstaunliche Ähnlichkeit mit der zeitgenössischen Mode des Empire und seiner Vorliebe für federreichen Kopfschmuck (Abb. 3) aufweist, in dem Panorama zu schweben. Auf diese Weise entsteht auf der Panoramatapete Les sauvages nicht nur ein durch Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) geprägtes Bild vom ‚Edlen Wilden‘, der lange als Inbegriff eines von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen galt, sondern zudem eine locus amoenus-gleiche Szenerie. Im Dienste der ‚Leichtigkeit des Motivs‘ steht auch die reiche Verwendung dekorativer Versatzstücke wie Umhänge, Federkronen oder die an griechische Helme erinnernden, mit Federn geschmückten Kopftrachten Hawaiis.23 Ob der Künstler Jean-Gabriel Charvet sich der Bedeutung dieser auf die soziale Stellung der Dargestellten hinweisenden ‚Requisiten‘ bewusst war? Denn: Rote Federn, Kronen und Helme waren nur Häuptlingen oder Priestern vorbehalten. Auch stellten Tatoos und Piercings den sozialen Rang ihrer Träger gemäß der Regel ‚je mehr, desto wichtiger‘ heraus.24 Aber diese auch damals bekannte Tatsache fand in der Darstellung Dufours keinen Widerhall.
22
Vgl. ebd., S. 35–36.
23
Solche mit Federn besetzten Helme haben sich in mehreren Beispielen weltweit
in ethnografischen Sammlungen erhalten, vgl. hierzu Ausst.-Kat. James Cook 2009 (wie Anm. 13), S. 253, Kat.-Nrn. 512–513, und S. 254, Kat.-Nr. 515, sowie den Kupferstich in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 9. 24 Abbildungen in: Ausst.-Kat. James Cook 2009 (wie Anm. 13), S. 171, Kat.-Nr. 189, S. 173, Kat.-Nr. 195, und Dufours Beschreibung in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 37, „Inhabitants of New Zealand“.
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Abb. 2 Manufaktur Dufour, Les sauvages de la mer pacifique, Bahn V, Detail
Abb. 3 Dame im Ballaufzuge, aus dem Journal des Luxus und der Moden, Bd. 15, Tafel 35, Weimar 1800
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Abb. 4 Manufaktur Dufour, Les sauvages de la mer pacifique, Bahnen VII–VIII
Während Angenehmes auf der Panoramatapete besonders betont wurde, drängte der Künstler hässliche und negative Dinge an den Rand oder bildete sie gar nicht ab. Diese in der Broschüre erwähnte Strategie lässt sich an der den Tod Cooks suggerierenden Szene auf der Panoramatapete gut veranschaulichen (Abb. 4). Das eigentliche Thema wird nicht präzisiert; nur der rauchende Vulkan ebenso wie die an einen trojanischen Krieger erinnernde, auf das Ereignis in der Ferne blickende Rückenfigur lassen die spannungsgeladene Hintergrundszene erahnen, die dem interessierten Betrachter wieder einmal erst durch die ergänzende
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Abb. 5 Johann Joseph Zoffany, Der Tod Captain Cooks am 14. Februar 1779, um 1789
Lektüre der Verkaufsbroschüre entschlüsselt wird.25 Erwartet hätte der zeitgenössische Betrachter hier wohl eher, dass das Ereignis gemäß den Regeln der Historienmalerei heroisch in den Mittelpunkt künstlerischer Betrachtung gerückt wird, wie im Bild des englischen Malers Johann Joseph Zoffany (1733–1810) geschehen (Abb. 5). Auf der Panoramatapete wurden hingegen – aus Reisebeschreibungen oder Bildquellen herausgefiltert – ausschließlich die positiven Versatzstücke in tradierten Kompositions- und Farbschemata einer Theaterstaffage gleich komponiert. Die negativen Aspekte konnte der interessierte Betrachter nur über andere Medien erfahren. Die Komposition und Figurengestaltung ebenso wie die Abbildung von positiv konnotierten Themen oder die Ausgrenzung unangemessener Sujets und deren Vermittlung über andere Medien zeigt auffallende
25
Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 36–37.
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Parallelen zu den Vorgaben der doctrine classique, einem für das französische Theater des 17. und 18. Jahrhunderts relevanten Regelwerk.26 Insbesondere die Regel der bienséance (Angemessenheit), gemäß der das Dargestellte sich im Rahmen des guten Geschmacks und der sittlichen Norm abspielen muss und damit die Darstellung von Themen wie Hässlichkeit, Krankheit und Tod auf der Bühne ausgegrenzt wird, scheint auch für die Panoramatapete angewendet worden zu sein und kann wohl mit dem von Dufour ausdrücklich in der Verkaufsbroschüre verwendeten Begriff der ‚Leichtigkeit des Motivs‘ gleichgesetzt werden.27 Die negativ konnotierten Themen wurden in der Tragödie daher in der Regel von einem Boten erzählt. Eine ähnliche Boten- beziehungsweise Hinweisfunktion scheint in der Szene, die den Tod Cooks thematisiert, bei der Rückenfigur zu liegen, die die Ermordung des Kapitän Cook in der Ferne betrachtet und durch die der Blick des Betrachters der Panoramatapete in die Ferne, zum Ort der Tragödie hin gelenkt wird. Der bereits von Horaz in seiner Ars poetica 14 v. Chr. erwähnte Zweck von Literatur, nützlich zu sein und zu erfreuen (prodesse et delectare), scheint auch auf die Darstellungen auf der Panoramatapete übertragbar zu sein. Die pazifische Welt wurde so ganz im Zeitgeschmack des idyllischen Landschaftszimmers und nach dem verklärten Idealbild des ‚Edlen Wilden‘ im Paradies in der Tradition Jean-Jacques Rousseaus sowie der klassischen Doktrin entworfen und realisiert.
B i l d u n g s k u l i s s e o d e r T h e a t e r s t a f f ag e ? D e r r ä u m l i c h - s o z i a l e Ko n t e x t vo n B i l d t a p e t e n Bildtapeten als Bildungskulisse Durch einige Zitate aus der Werbebroschüre zu Les sauvages konnten wir uns ein Bild davon machen, welche wirkungsästhetischen Maßstäbe Dufour an die Bildtapete stellte. Doch welche Käuferschicht hoffte er konkret anzusprechen? Sein Zielpublikum war ein Bildungsbürgertum, 26 Vgl. hierzu René Bray, La formation de la doctrine classique en France, Paris 1974. 27 Das Motiv der Angemessenheit wurde nachweislich nicht nur im Bereich des Theaters, sondern auch in der Architekturtheorie diskutiert. Vgl. hierzu Anne Röver-Kann, Bienséance. Zur ästhetischen Situation im Ancien Régime, dargestellt an Beispielen der Pariser Privatarchitektur (= Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 9), Hildesheim 1977. – Vgl. das Zitat in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 32.
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das durch das Medium Tapete nicht nur die Möglichkeit bekam, ferne Welten zu betrachten, sondern das auch zu einer aktiven Teilnahme an einer Expedition aufgefordert wurde: „Indem wir unsere Augen in die Ferne schweifen lassen und den Kühnsten aller Entdecker sozusagen begleiten, hoffen wir, etwas Neues und Spritziges auf dem Gebiet der Tapete realisiert zu haben.“ 28 In welchem sozialen Kontext wurde die Tapete aber letztendlich präsentiert? Und wie nahmen die Rezipienten sie wahr? Inwieweit können die von Dufour in der Verkaufsbroschüre als Möglichkeit beschriebenen Rezeptionsweisen tatsächlich nachgewiesen werden? Hält man sich die Beispiele mit bekannter Provenienz vor Augen, lassen sich als Käuferschicht Vertreter des Groß- beziehungsweise Bildungsbürgertums sowie der Aristokratie vermuten.29 Ob dieser Beobachtung repräsentativer Charakter zukommt, ist zu bezweifeln, wissen wir doch nicht, ob die große Zahl verschollener Exemplare nicht auch in durchschnittlich begüterten Haushalten zu finden war. Unabhängig vom sozialen Umfeld, kristallisiert sich als Anbringungsort meistens ein repräsentativer Gesellschaftsraum wie ein Speisesaal, ein Raucher- oder ein Wohnzimmer heraus. Dieser Eindruck wird von den spärlich überlieferten Bildquellen, wie Interieuransichten oder historischen Fotografien, bestätigt. Zu den wohl am häufigsten ab-
28
Zit. n. Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 32, Übersetzung der Verfasserin.
29
In situ: Privathaus, Dinant, Namur, Belgien: Raucherzimmer, 24 Bahnen, um 1820
durch den Architekten Duckers angebracht; Château de Toulongeon, Champlitte, Haute Saône, Frankreich: 20 Bahnen, 1804 im Auftrag von François-Emmanuel Graf von Toulongeon angebracht ; Château Authon, Authon, Loir et Cher, Frankreich: 20 Bahnen, 1805 im Auftrag des Generals Perron angebracht; Burg Kommern, Mechernich, Deutschland: Hauptsaal des Herrenhauses, 20 Bahnen, 1806 angebracht; Haus des Kaufmannes Bauch, Göteborg, Schweden: 1913 erbaut, 1920 Bischofshaus, 25 Bahnen, Anbringungszeit unbekannt. Nicht mehr in situ, Provenienz bekannt: Ruel Williams Mansion, Augusta, USA: oktogonales Gesellschaftszimmer, 20 Bahnen, 1807 Ruel Williams vermutlich anlässlich seiner Hochzeit durch James Bowdoin, Gouverneur, später amerikanischer Botschafter Frankreichs, überreicht; Samuel Ham House, Peabody, USA: um 1800 errichtet, Tapete 1810 angebracht (vgl. Foto der Tapete in situ in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 17); Villa Medici, Poggio a Caiano, Italien: Zweites Obergeschoss; Château de Mas d’Agenais, Lot-et-Garonne, Frankreich: 20 Bahnen, Hängung im Rahmen der Umgestaltungen des Gesellschaftszimmers im englischen Stil 1808. Vgl. die Auflistung der bekannten Exemplare mit weiterführender Literatur in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 44–47 und S. 15–19 (Kap. „List of Holdings“).
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gebildeten von den insgesamt drei überlieferten Interieuransichten, die einen eingerichteten Raum mit einer Panoramatapete zeigen,30 gehört der 1820 von Wilhelm Rehlen (1795–1831) in einem Aquarell festgehaltene Salon der Prinzessinnen Sophie und Marie in Schloss Nymphenburg mit den Ansichten der Panoramatapete La Grande Helvétie, die 1818 in der Manufaktur Zuber & Cie in Rixheim erstmals auf den Markt gebracht wurde. Inmitten von schweizerischen Landschaften wurde in diesem offensichtlich als Gesellschaftszimmer genutzten Raum musiziert – wie die anmutige Dame am Klavier zeigt – oder aber – das lassen die in der linken Ecke des Raumes auf einem Tisch liegenden Bücher vermuten – literarischen Beschäftigungen nachgegangen. In Ergänzung zu den erhaltenen Panoramatapeten sowie den überlieferten Text- und Bildquellen erhärten die unten zitierten Quellen die Vermutung, dass Bildtapeten verstärkt in den öffentlich-repräsentativen Räumen wie dem ‚Saal‘ oder dem ‚Wohnzimmer‘ präsentiert wurden. Dass die Panoramatapete allein die Gäste des Hauses in einem privaten Gästezimmer des Obergeschosses erfreute, wie das in dem eher schlichten Kolonialhaus Oak Lawn in Mecklenburg County, North Carolina, der Fall war, wird wohl eher die Ausnahme gewesen sein.31 Ist bereits die Zusammenstellung eines möglichst repräsentativen Querschnittes von Exemplaren der Panoramatapete Les sauvages, die in einem räumlichen Zusammenhang archivalisch oder in situ überliefert sind, mühsam, stellt sich die Beantwortung der Frage nach ihrer Wahrnehmung durch die Betrachter als tendenziell hypothetisches Unterfangen heraus. Beim derzeitigen Forschungsstand können auf der Grundlage der Verkaufsbroschüre sowie einiger weniger Schrift- und Bildquellen zu anderen Panoramatapeten oder anderen Gattungen des Interieurs dazu nur Vermutungen angestellt werden – eine extensive Quellenforschung wäre hier wünschenswert. Die Art der Rezeption war sicherlich vom Bildungsgrad und Berufsstand der Bewohner sowie von deren persönlichen Vorlieben abhängig. Eine Person, die sich wissenschaftlich mit ethnogra-
30
Vgl. Bernard Jacqué, „Eine Typologie der Präsentation von Panoramatapeten im
19. Jahrhundert“, in: Papiertapeten. Bestände, Erhaltung und Restaurierung, hrsg. von Staatliche Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen und dem Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Dresden 2005, S. 15–25, bes. S. 16, Abb. 1, S. 18, Abb. 2, sowie S. 20, Abb. 3. 31 Siehe zu diesem Aspekt Roger Butler,„Les Sauvages de la Mer Pacifique: in England, America and Australia“, in: Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 14–19, insbes. S. 18. Von diesem Exemplar sind nur noch wenige Fragmente in situ erhalten: Oak Lawn, Huntersville, Mecklenburg County, North Carolina, Georgian-Federal Wood Plantation House. Vgl. ebd., S. 47.
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fischen Themen auseinandersetzte, wie beispielsweise der Direktor des Städtischen Museums für Natur-, Völker- und Handelskunde in Bremen (heute Überseemuseum), Professor Hugo Hermann Schauinsland (1857– 1937), nahm ein Exemplar der Les sauvages sicher anders wahr als der von Dufour beschriebene ‚typische‘ Bildungsbürger. Vielleicht hätte Professor Schauinsland die Tapete programmatisch in seinem dem individuellen Studium vorbehaltenen studiolo oder in seiner auch als Versammlungsraum mehrerer Ethnologen genutzten Bibliothek in Szene gesetzt, einer langen Einrichtungstradition des Gelehrtenzimmers folgend.32 Als Ergänzung einer ethnografischen Sammlung im Hause Schauinsland, wie sie der Stellung und den Interessen eines Professors angemessen gewesen wäre, hätte sie sicherlich Anlass zu (fachwissenschaftlichen) Diskussionen gegeben.33 Als Beispiel einer solchen Verknüpfung von Bildungsanspruch, Forschungsinteresse und Interieurgestaltung sei die Villa Kérylos in Beaulieu-sur-Mer bei Nizza erwähnt. Sie wurde für den französischen Altertumswissenschaftler Théodore Reinach (1860–1928) auf der Grundlage archäologischer Erkenntnisse nach antik-griechischem Vorbild im frühen 20. Jahrhundert erbaut und eingerichtet. In diesem passenden Ambiente sprach er mit Kollegen, mit einem antiken Chiton bekleidet und durch eine Sammlung antiker Stücke angeregt, Altgriechisch und Latein und ließ so Architektur, Innenraumgestaltung, Einrichtung und sogar die der Antike folgenden Lebensweisen zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen, das als Hommage an die griechisch-antike Kultur gedacht war.34 Mit einem hohen Bildungsanspruch waren insbesondere auch Rekonstruktionen des römischen Hauses im 19. Jahrhundert verknüpft. Als herausragendes Beispiel sei hier das Pompejanum in Aschaffenburg (1840–1848) genannt, mit dem Ludwig I. (1786–1868), König von Bayern, sein Volk erziehen und Geschichte lehren wollte.35
32
Vgl. Wolfgang Liebenwein, Studiolo. Die Entstehung des Raumtyps und seine Entwicklung
bis um 1600 (= Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 6), Berlin 1977 (Diss. Frankfurt 1974), und Hans-Peter Schwarz, Das Künstlerhaus. Anmerkungen zur Sozialgeschichte des Genies (= Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie), Braunschweig 1990 (Diss. Marburg 1982), S. 9. 33
Die systematische Überprüfung der Interieurs von Ethnologen wäre in diesem
Kontext ein reizvolles Unterfangen. 34
Siehe hierzu Astrid Arnold, Villa Kérylos. Das Wohnhaus als Antikenrekonstruktion,
München 2003, S. 99–101. 35 Vgl. weitere Beispiele in: ebd., S. 72–81, S. 83–86 und S. 88–89.
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Den Bildungsaspekt von Wanddekorationen betont auch Dufour in seiner bereits mehrfach zitierten Verkaufsbroschüre: „Ein wissbegieriger Mensch kann – ohne den Wohnraum verlassen zu müssen – durch das gleichzeitige Schauen und Lesen in der Histoire des voyages den Text mit den ausgeführten Bildern vergleichen. Dadurch entsteht der Eindruck, als befände man sich direkt im Geschehen, und durch die Möglichkeit, die formalen Unterschiede und die der Kostüme genau betrachten zu können, verfolgt der Betrachter die Erzählung mit einem so großen Interesse, als sei er vor Ort.“ 36 Diesen von der Broschüre besonders hervorgehobenen didaktischen Wert als Anleitung zum ‚reisenden Lesen‘ wird ein Großteil der Käufer besonders geschätzt haben. Im Gegensatz zu der Panoramatapete Les Vues de Suisse forderte die Dufour’sche Schöpfung allerdings zu einer Reise in ein Universum auf, das bislang nur von wenigen Europäern erforscht worden war. Als besonderer Kaufanreiz wurde daher – neben den ästhetischen Vorzügen – auch die inspirierende Wirkung der Bildtapete in der Broschüre hervorgehoben: „Das Ziel der Tapete ist der Versuch, dem Auge zu gefallen und die Vorstellungskraft anzuregen, ohne diese zu ermüden. Wir hofften, dass die Betrachter erfreut sind, in einer angemessenen und lebendigen Art diese Vielfalt an unterschiedlichen, weit voneinander entfernt lebenden Bevölkerungen derart vereint vorzufinden.“ 37 Aber auch als Medium für den Unterricht wird die Tapete angeraten: „Eine Mutter wird ihrer eifrigen, wissbegierigen und intelligenten Tochter mühelos Geschichts- und Geografiestunden geben können [...]. Sogar die beschriebene Vegetation kann als Einführung in die Geschichte der Pflanzen verwendet werden.“ 38
36 37 38
Zit. n. Hall 2000 (wie Anm. 2), S. 33, Übersetzung der Verfasserin. Zit. n. ebd. Zit. n. ebd.
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Eine ähnlich kommunikative Rolle, wie sie in Sophie von La Roches ‚Zimmerreisen‘ den arrangierten Dingen im Zimmer, wie Blumen und Porzellangestalten, zukommt, wird man auch bei Panoramatapeten annehmen können: „[...] so helfen sie manchmal zu einer Unterredung entweder für Blumenliebhaber, oder für Kunstkenner in Bildhauerey, in gutem Geschmack, der eine kann dies, der andere das, was er auf Reisen sah, oder was er gelesen, bey dieser Gelegenheit zeigen, und andere können sich im Spiegel begucken. [...] In seinem Besuchzimmer soll man entweder eine künstliche Frauenzimmerarbeit haben, die Aufmerksamkeit verdient, oder sonst etwas seltenes aufzustellen suchen, woran man im Fall der Noth, und den Personen, die nicht spielen, den abgebrochenen Faden der Unterredung wieder anknüpfen kann.“ 39
B i l d t a p e t e n a l s l i t e ra r i s c h e I n s p i ra t i o n s q u e l l e Die auratische Kraft von Panoramatapeten zeigt sich exemplarisch an einigen wenigen literarisch überlieferten Beschreibungen. So schreibt der Dichter Börries Freiherr von Münchhausen (1874–1945): „Als ich ein kleiner Junge war und etwas lang aufgeschossen, zu schlechter Haltung neigte, verordnete mir der Arzt, ich solle täglich eine Stunde lang auf der Diele liegen. Meine Augen wanderten dabei über die schöne Tapete des Saales. Sie war die erste ihrer Art, die ich sah, und der Eindruck ihrer Gestalten grub sich mir tief in die weiche Seele [...].“ 40 Bei der Tapete, die einen Saal des Göttinger Elternhauses des Dichters schmückte, handelte es sich um die 1824 bei Dufour et Leroy in Paris
39 Sophie von la Roche, „Briefe an Lina“, in: Pomona für Teutschlands Töchter 5, 1783, S. 235, zit. n. Günter Oesterle, „Poetische Innenräume des 18. Jahrhunderts“, in: Innenseiten des Gartenreiches. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich, hrsg. von Christiane Holm und Heinrich Dilly, Halle 2011, S. 58–71, hier S. 64. 40
Börries Freiherr von Münchhausen, zit. n. Ernst Wolfgang Mick, „Erlesene Tapeten.
Tapeten des 19. Jahrhunderts nach literarischen Vorlagen“, in: Weltkunst 54, 8, 1984, S. 1110–1114, hier S. 1112.
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entstandene Supraporte Naissance de Bacchus.41 Ein anderes literarisches Fundstück findet sich in der autobiografischen Schrift Das Leben des Justinus Kerner, die der schwäbische Dichterarzt gemeinsam mit seiner Tochter Marie Niethammer veröffentlichte. Die hier erwähnte Panoramatapete mit dem Titel Scènes Turques wurde wohl 1815 von derselben Manufaktur gefertigt und schmückte das Wohnzimmer in der Beletage des Kernerhauses, Öhringerstraße 3 in Weinsberg.42 Sie wird wie folgt beschrieben: „[...] sie war im Wohnzimmer unser Entzücken. Sie stellte eine schöne morgenländische Landschaft dar. Man sah schlanke Minaretts und eine Stadt, dann kamen beladene Kamele und Reiter auf flinken Pferden, da saßen Männer mit langen Pfeifen, vor welchen getanzt wurde, alles in schönster Gruppierung [...].“ 43 Panoramatapeten erzeugten aber nicht nur ein angenehmes und anregendes Ambiente, sondern inspirierten gleichermaßen zu dichterischer Schaffenskraft. Kein Geringerer als Heinrich Heine (1797–1856) nämlich hatte in einer handschriftlichen Vorstufe zu dem Prolog-Gedicht seines Frühlingslieder-Zyklus die 1831 erstmals gedruckte Panoramatapete Renaud et Armide aus der Manufaktur Dufour44 vor Augen, deren Darstellungen wiederum auf der 1575 erschienenen Veröffentlichung La Gerusalemme Liberata des italienischen Dichters Torquato Tasso (1544–1595) basieren: „In Gemäldegalerien siehst du auf Tapete einen blanken Rittersmann, der verstrickt in süßen Nöthen nicht vom Platze kommen kann. Ihn umringen Amoretten, rauben Lanze ihm und Schwert, binden ihn mit Blumenketten [...].“ 45
41 42 43
Vgl. ebd. Vgl. Nouvel-Kammerer 1990 (wie Anm. 4), S. 304–305, Kat.-Nr. 70. Zit. n. Mick 1984 (wie Anm. 40), S. 1112.
44
Vgl. Nouvel-Kammerer 1990 (wie Anm. 4), S. 268–269, Kat.-Nr. 12. – Von dieser
weltweit nur noch in wenigen Exemplaren existierenden Tapete besitzt das Deutsche Tapetenmuseum Kassel seit 1975 27 von insgesamt 32 Bahnen. 45 Prolog-Gedicht zum Frühlingslieder-Zyklus, handschriftliche Vorstufe, Heinemann Collection, Pierpont Morgan Library, New York, zit. n. Mick 1984 (wie Anm. 40), S. 1110.
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Astrid Arnold
B i l d t a p e t e n a l s m u s i s c h - s ze n o g ra f i s c h e Ku l i s s e Auch als Kulisse musischer Beschäftigung eigneten sich Panoramatapeten ideal. Überliefert ist uns das Interieur des Musikzimmers im ehemaligen Amtmann-Ziegler-Haus im niedersächsischen Peine. Dieses war mit der auf dem gleichnamigen Versepos von Sir Walter Scott (1771–1832) basierenden Panoramatapete Lady of the Lake, stilistisch harmonierend mit einem neugotischen Rahmendekor, ausgestattet.46 Die Auswahl des Sujets – hier handelt es sich um ein Thema, das Musikgeschichte schrieb – erfolgte offenbar nicht beliebig.47 Die Nähe zwischen Panoramatapeten und Theaterkulissenmalerei, die in der Forschungsliteratur stets hervorgehoben wird, lässt die Vermutung, dass solche Tapetenschöpfungen auch leicht zur Theaterkulisse werden konnten, sehr wahrscheinlich werden.48 Vielleicht inspirierten sie zu den durch Lady Hamilton im 18. Jahrhundert so berühmt gewordenen tableaux vivants, in denen berühmte Bilder von lebenden Personen in entsprechenden Kostümen nachgestellt wurden.49 Möglicherweise dienten Panoramatapeten aber auch als Hintergrund für kleinere private Theateraufführungen im häuslichen Kontext. Derartige Belustigungen sind für das 19. Jahrhundert etwa für pompejanische Interieurs vielfach überliefert.50 Als besonders eindrucksvolles Beispiel sei die von dem französischen Architekten Alfred-Nicolas Normand (1822–1909) zwischen 1856 und 1860 für Prinz Jérôme Napoléon (1822–1891) errichtete maison pompéienne in Paris er-
46 Insgesamt sind in der Manufaktur Dufour sieben und in der Manufaktur Zuber & Cie drei auf literarischen Stoffen basierende Panoramatapeten realisiert worden. Vgl. Georgette Pastiaux-Thiriat, „Les sources littéraires des panoramiques de la manufacture Dufour et les mystères d’Anthénor“, in: Jacqué und Pastiaux-Thiriat 2010 (wie Anm. 1), S. 183–199, hier S. 183–184. 47 Seit 1968 befindet sich die Tapete als Leihgabe der Stadt Peine in der Sammlung des Deutschen Tapetenmuseums Kassel. – Vgl. auch die historische Fotografie des Raumes in: Arthur Zechel, Die Geschichte der Stadt Peine, Bd. 3: Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Peine 1982, Abb. S. 54. 48 Nouvel-Kammerer 1990 (wie Anm. 4), S. 178–191 (Kap. „L’opéra et ses décors“); zu Les sauvages besonders die beiden Abbildungen auf S. 182. 49
Dazu Kirsten Gram Holmström, Monodrama, Attitudes, Tableaux Vivants. Studies
on Some Trends of Theatrical Fashion 1770–1815, Uppsala 1967; Ulrike Ittershagen, Lady Hamiltons Attitüden, Mainz 1999. 50
Beispiele in: Arnold 2003 (wie Anm. 34), besonders Kap. „‚Historia vita memoriae‘.
Die Wiederbelebung eines antiken Erlebnisraumes als Ausdruck kultureller Erinnerung“, S. 95–98.
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Der ‚Wilde‘ im Wohnzimmer
Abb. 6 Gustave Boulanger, Die Wiederaufführung von „Der Rattenfänger von Hameln“ und „Die Frau des Diomedes“ im pompejanischen Palais des Prinzen Napoléon in Paris 1860, 1861
wähnt.51 Hier fanden Kostümfeste und Dichterlesungen sowie im antiken Geist verhaftete Theateraufführungen in einem als authentisch rezipierten pompejanischen Ambiente statt. Geschichte machte der Prolog La femme de Diomède der griechischen Komödie Le joueur de flûte, der uns in dem 1861 entstandenen Gemälde von Gustave Boulanger (1824–1888) eindrucksvoll überliefert ist (Abb. 6). In diesem wacht die Römerin Arria nach einem 2000-jährigen Schlaf in der maison pompéienne in Paris wieder auf, wähnt sich aber in dem Haus ihres Gatten Diomedes in Pompeji. Ähnliches ist für die Panoramatapete Les sauvages vorstellbar: Als ‚Edler Wilder‘ verkleidet, in einem reich mit Federn besetzten Kostüm, hätte man dann vor der Südsee-Kulisse im Sinne der im 18. und 19. Jahrhundert beliebten tableaux vivants posiert.
51
Zur Baugeschichte: ebd., S. 76–77.
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Astrid Arnold
Re s ü m e e Mit der Panoramatapete Les sauvages de la mer pacifique ou Les voyages du Capitaine Cook wurde 1805 einer der ersten Wanddekore dieser Art geschaffen. Er bietet dem Betrachter auf insgesamt 20 Bahnen eine Schau von 14 pazifischen Inseln an, die ein bereits durch Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert geprägtes Idealbild des ‚Edlen Wilden‘ im Paradies vermitteln. Dieser fischt, pflückt Früchte vom Baum, tanzt, ist in prächtige Gewänder gekleidet oder trägt – in antikisch geprägtem Muster – sportliche Wettkämpfe aus. Die positiven Versatzstücke wurden aus Reisebeschreibungen oder Bildquellen entsprechend den Regeln der bienséance herausgefiltert und mit akademisch geschulten Kompositions- und Farbschemata einer Theaterstaffage gleich zusammengesetzt. Negatives wie Menschenfresserei in Neuseeland, Nacktheit und Tätowierungen – Ausdruck einer sozialen Hierarchie – ebenso wie der Tod des Kapitän Cook auf Hawaii werden nicht dargestellt oder nur angedeutet; die im Bild zensierten Aspekte werden allein in der Verkaufsbroschüre beschrieben. Es entstand so ein noch in der Tradition des idyllischen Landschaftszimmers stehendes Interieur, das sich bereits im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Einen neuen Akzent dieser Gattung sollte 25 Jahre später Jean Zuber mit der Herausgabe der Panoramatapete Les Vues du Brésil (1829/30) setzen, deren Politisierung mit Szenen wie etwa dem ‚Überfall der Weißen auf die Indianer‘ neuartig war. Die Verkaufsbroschüre Dufours liefert nicht nur wichtige Hinweise zur Genese der Tapete, sondern beschreibt darüber hinaus die Möglichkeiten ihrer Rezeption aus der Verkäuferperspektive heraus. Der Frage, wie die Tapete von ihren Käufern wahrgenommen wurde, musste sich die Autorin aufgrund bislang fehlender Quellen über Analogieschlüsse nähern. Die von Dufour in seiner Verkaufsbroschüre besonders hervorgehobene Bildungsfunktion wird – neben der ästhetischen Dimension – die wichtigste Funktion der Bildtapete gewesen sein. Aber auch als literarische Inspirationsquelle oder als Theaterkulisse eignete sich eine Bildtapete auf ideale Weise.
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Friederike Wappenschmidt
Raum, Kulisse und synästhetische Impulse Zur Rezeption original chinesischer Bildtapeten in Europa
Mehr als 200 Jahre hatten chinesische Malerzeugnisse und die daraus entwickelten ‚Chinatapeten‘ aufgrund ästhetischer, landeskundlich und geistesgeschichtlich faszinierender Eigentümlichkeiten im Fokus abendländischer Wissbegierde gestanden. Um 1800 – zu dem für diesen Band relevanten Zeitraum – schien dieses Interesse ausgereizt. Es entstand sogar der Eindruck, als würden Motivzitate aus chinesischen Tapetenmalereien nur noch für ein „muthwilliges Spiel der Phantasie“ (Karl Philipp Moritz, 1793)1 auf chinoisen Arabeskentapeten oder in Theaterkulissen und -kostümierungen Duldung finden.2
C h i n e s i s c h e M a l e re i e n i n S a m m l u n g e n d e r Fr ü h e n Ne u z e i t Erste chinesische Malerzeugnisse waren um die Mitte des 16. Jahrhunderts in fürstliche Sammlungen in Madrid, Ambras, Prag oder München gelangt, wo sie als fremdartiger Ausdruck einer bis dahin wenig bekannten,2aber als hochstehend beschriebenen Kultur betrachtet
1
Karl Philipp Moritz, Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe, hrsg. von
Joachim Schrimpf, Neudrucke Deutscher Literaturwerke, Tübingen 1962, S. 211, Zeile 10–17, Zeile 34–36. 2
Allgemeine Literatur zur Chinoiserie: Madeleine Jarry, Chinoiseries. Le rayonnement
du goût chinois sur les arts décoratifs des XVlle et XVllle siècles, Fribourg 1981; Alain Gruber, Chinoiserie. Der Einfluß Chinas auf die europäische Kunst, 17.–19. Jahrhundert, Ausst.-Kat. Abegg-Stiftung, Bern 1984; Dawn Jacobsen, Chinoiserie, New York/London 1993; Friederike Ulrichs, Johan Nieuhofs Blick auf China (1655–57). Die Kupferstiche in seinem China-
133
Raum, Kulisse und synästhetische Impulse
wurden.3 Beginnend mit Marco Polo im 12. Jahrhundert hatten Missionare, Reisende und Kaufleute über das Kaiserreich im Fernen Osten berichtet, und in Hof- oder Gelehrtenbibliotheken gaben Bücher wie Juan González de Mendozas Historia ... de la China (1585) Auskunft über das Land am anderen Ende der Welt. Um 1600 waren chinesische Bildrollen in der Madrider Gemäldesammlung König Philipps II. neben Gemälden von Tizian und Arcimboldo zu sehen, während sie in den Kunstkammern von Ambras, München oder Prag zur Betrachtung erst aus Schränken und Schubladen hervorgeholt werden mussten.4 Im Vergleich mit Meisterwerken der abendländischen Malkunst des 16. Jahrhunderts wirkten chinesische Bilder von Menschen, Landschaften, Blumen und Vögeln von der motivischen und stilistischen Ausführung her befremdlich, zumal die Beispiele der Akademie- und Berufsmalerei der Ming-Dynastie (1368–1644) auf Seiden- oder Papierrollen mit schwarzen Tuscheumrissen und leuchtend bunten Gouachefarben gemalt waren. Im 17. Jahrhundert betrieb der Kunsttheoretiker Joachim von Sandrart (1606–1688) in fürstlichen und jesuitischen Sammlungen und mittels einer eigenen kleinen Kollektion stilistische und ikonografische Studien, die ihn in der 1675 erschienenen Teutschen Academie zu dem Urteil veranlassten, dass die Chinesen weder Farbmischungen oder Claire-obscure-Effekte noch die Zentralperspektive kannten.5
werk und ihre Wirkung auf den Verleger Jacob van Meurs, Wiesbaden 2002; Sheng-Ching Chang, Das Chinabild in Natur und Landschaft von Athanasius Kirchners „China illustrata“ (1667) sowie der Einfluss dieses Werkes auf die Entwicklung der Chinoiserie und der europäischen Kunst, Berlin 2003 (Diss. Berlin 2001). Zur chinoisen Arabeskentapete vgl. Friederike Wappenschmidt, „Le vocabulaire de la chinoiserie dans le langage de l’arabesque“, in: Les papiers peints en arabesques de la fin du XVIIIe, hrsg. von Bernard Jacqué, Paris 1995, S. 126–131; dies., „ABC der Chinoiserie“, in: Weltkunst 9, 2005, S. 16–19. 3
Friederike Wappenschmidt, „‚Selzame und hir Landes fremde Sachen‘. Exotica
aus Fernost im Münchner Kunstkammerinventar von 1598“, in: Die Münchner Kunstkammer, Bd. 3: Aufsätze und Anhänge, vorgelegt von Willibald Sauerländer, bearbeitet von Dorothea Diemer u. a. (= Abhandlungen/Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Abhandlungen, Neue Folge, Heft 129), München 2008, S. 293–310. 4
Friederike Wappenschmidt, „Abbild der Wirklichkeit oder Ausflüge in eine Märchen-
welt? Chinesische Exportmalerei und die Europäer“, in: minima sinica 21, 1, 2009, S. 3–5. 5
Zu Sandrarts Teutscher Academie von 1675 sowie zum Zitat vgl. die Forschungsplatt-
form http://ta.sandrart.net/191 (25.3.2013), Bd. I, S. 100. Siehe auch Friederike Wappenschmidt, „Sandrarts ‚indianischer‘ Maler Higiemond. Eine authentische Künstlerpersönlichkeit oder ein Synonym für die fremdartige Malerei Asiens?“, in: Aus aller Herren
134
Friederike Wappenschmidt
Sandrarts Kritik bestimmte bis ins frühe 19. Jahrhundert europaweit das Rezeptionsverhalten von Ästheten und Sammlern, die überdies mit der inhaltlichen Aussagekraft der Darstellungen haderten, sodass sie einzig von europäischen Künstlern illustrierten Büchern wie Martino Martinis (1616–1661) Novus Atlas Sinensis (1655), Athanasius Kirchers (1602–1680) China ... illustrata (1667) oder Jan Nieuhofs (1618–1672) L’ambassade de la Compagnie orientale (1665) Glauben schenken wollten. Dennoch konnte sich die feudale Gesellschaft dem märchenhaft-bunten Reiz der Malereien aus China, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in steigender Zahl von den Ostindischen Kompanien Europas importiert wurden, nicht entziehen, und so gab sie Innenarchitekten Order, die Bilder ebenso wie Lacke oder Porzellane als exotischen Wanddekor zu nutzen, womit die Genese vom chinesischen Rollbild zur Bildtapete für Europa einsetzte.6
D i e E n t d e c k u n g d e r c h i n e s i s c h e n M a l e re i f ü r d i e e u ro p ä i s c h e Ra u m k u n s t Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entwarf Daniel Marot (1661–1752) für Wilhelm III. (1650–1702) und Maria von Oranien (1662–1694) mit dem Cheminée à la Hollandaise eine Schauwand, die asiatische Porzellane, Lacke, aber auch in die Täfelung eingefügte chinesische Malereien zur Geltung brachte.7 Designer wie Marot wiesen damit chinesischen Bildern den Weg aus den Kunstkammern in Interieurs, in denen Wanddekore aus chinesischen Malereien und Grafiken der exzentrischen Ästhetik der Chinamode entsprachen und dem Betrachter nun auch außerhalb von Kunstkammern oder -bibliotheken Einblicke ins Reich der Mitte boten. Diesem neuartigen Impuls, die chinesische Bilderwelt in tapezierte Interieur-Anordnungen zu integrieren, folgte als einer der ersten europäischen Fürsten Max Emanuel von Bayern (1662–1726). Den Kurfürsten hatte während eines langjährigen Exils in Brüssel die Chinamode am Hof Länder. Die Künstler der „Teutschen Academie“ von Joachim von Sandrart (in der Reihe Théorie de l’art (1400–1800), hrsg. von Michèle-Caroline Heck), Turnhout 2014 (im Erscheinen). 6
Vgl. Friederike Wappenschmidt, Chinesische Tapeten für Europa. Vom Rollbild zur
Bildtapete, Berlin 1989. Eine neuere Gesamtdarstellung chinesischer Tapeten steht immer noch aus. 7
Oeuvre du Sr D. Marot, Amsterdam 1712, Bl. 2 aus der Folge „Nouvelles Cheminées ...“.
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Raum, Kulisse und synästhetische Impulse
Ludwigs XIV. und in den Schlössern der Oranier inspiriert.8 Als er 1715 nach München zurückkehrte, ließ er 1716–1719 von seinem Baumeister Joseph Effner die Pagodenburg im Schlosspark der Nymphenburger Sommerresidenz erbauen und im Obergeschoss zwei Räume mit lackierten Vertäfelungssystemen ausstatten, in deren Kompartimente eingefügte chinesische Blumen- und Vogelbilder die Illusion fernöstlicher Gartenzimmer evozieren.9 Beeindruckt von diesen Interieurs ließ Markgräfin Sibylla Augusta von Baden-Baden (1675–1733) im Sommerschloss Favorite bei Rastatt um 1730 ebenfalls eine gartenhafte Wanddekoration aus chinesischen Holzschnitten mit Blumen- und Vogelmotiven tapezieren, zumal sie asiatische Malereien, Porzellane und Lacke sammelte und Basteleien für die Raumkunst und für ein chinesisches Fest fertigte.10 In der Folgezeit arrangierten Tapezierer chinesische Holzschnitte und Malereien immer häufiger zu ‚Chinatapeten‘, sodass die Bilderwelt Chinas zur unverzichtbaren Narrative des repräsentativen Wohnens wurde. Nach den Wünschen feudaler Auftraggeber und Auftraggeberinnen fügten sie das heterogene Bildmaterial in Collagetechnik zu pittoresken Erzählungen, die chinoisen, das chinesische Vorbild mit eurozentrischem Überlegenheitsgefühl anverwandelnden Fantasien freien Lauf ließen.11 Und dies obwohl zeitgleich in Gelehrten- und Adelskreisen Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716) Bild von China als hochkultiviertem „Europa des Ostens“ diskutiert wurde.12 8
Siehe Ulrika Kiby, Die Exotismen des Kurfürsten Max Emanuel in Nymphenburg. Eine
kunst- und kulturhistorische Studie zum Phänomen von Chinoiserie und Orientalismus im Bayern und Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts, Hildesheim/New York 1990. 9 Zur Anbringung der chinesischen Rollbilder in den beiden Räumen der Pagodenburg vgl. nach wie vor: Friederike Wappenschmidt, „‚Indianische Tapezereyen‘ in den Münchner Schlössern des 18. Jahrhunderts. Eine Studie zum Bestand original chinesischer Papiertapeten im Nymphenburger Schloß und seinen Parkburgen“, in: Ars Bavarica, Bd. 31/32, München 1983, S. 97–120. 10
Ulrike Grimm, „Favorite, a Rare Place Exuding the Spirit of an Age When Chi-
noiserie Reigned Supreme“, in: Riggisberger Berichte 14: A Taste For The Exotic. Foreign Influences on Early Eighteenth-Century Silk Designs, Riggisberg 2007, S. 77–90. Zur chinoisen Bastelkunst der Markgräfin vgl. Friederike Wappenschmidt, „‚Nutzbringende Frauenergötzung‘. Das Kunstschaffen adeliger Damen im 18. Jahrhundert“, in: Weltkunst 15/16, 1997, S. 1592–1593. 11 Vgl. Anm. 2. 12 Vgl. hierzu Margarete Kühn, „Leibniz und China“, in: China und Europa. Chinaverständnis und Chinamode im 17. und 18. Jahrhundert, Ausst.-Kat. Schloss Charlottenburg, Berlin 1973, S. 30–36; Willy Richard Berger, China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln/Wien 1990, S. 120–122.
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Friederike Wappenschmidt
C h i n o i s e Ta p e t e n - Fa n t a s i e n u n d d i e B i l d e r we l t chinesischer Panoramatapeten Derartige theoretische Erörterungen über ein illusionäres Utopia am anderen Ende der Welt brachten immer neue chinoise Träumereien und Erfindungen hervor, die in Räumen mit ‚Chinatapeten‘ greifbar wurden, wie sie etwa für Maria Theresia von Habsburg (1717–1780), Friedrich Carl Graf von Watzdorf († 1764) und seine Gemahlin Henriette Sophia, Max III. Joseph von Bayern (1727–1777) und Maria Anna von Sachsen (1728–1797), Franz Maria Graf von Seinsheim (1707–1787) sowie John Parker (späterer Baron Boringdon) (1734/35–1788) zwischen 1750 und 1770 entstanden. Diese Liebhaber der Chinamode ließen im niederösterreichischen Schloss Schlosshof (nach 1754), im sächsischen Schloss Lichtenwalde (vor 1750), in der Nymphenburger Badenburg bei München (1763), im oberpfälzischen Schloss Sünching (1768) sowie in Saltram House, Surrey (um 1768), exotische Dekorationsfolien tapezieren, die fantasievoll-pittoreske Augenreisen zu den Bewohnern von Cathay, wie China von den Europäern seit Marco Polo auch bezeichnet wurde, suggerieren.13 In der maria-theresianischen Sommerresidenz Schlosshof fügten Hofkünstler unterschiedliche chinesische Malerzeugnisse, komplettiert durch chinoise Malereien, zu einer Bilderzählung zusammen, die keinen Tiefenraum zu erkennen gibt, sondern eine Art Wandbühne als farbenfrohe, plakative Kulisse erzeugt, auf der, durch Fensterausblicke und -einblicke geleitet, Innen und Außen, Nähe und Ferne einander durchdringen (Abb. 1). Schiffe segeln zwischen Fensterbögen, auf Meeresinseln stehen Gottheiten, Gelehrte und schöne Frauen, und über Gartenveduten auf den Fensterstürzen schauen verträumte Damen in den Raum. Es ist, als lockten diese den europäischen Betrachter in Anlehnung an Watteaus Einschiffung nach Kythera zu einer ‚Einschiffung nach Cathay‘ oder geradewegs in die Welt des Theaters. Fast ist man geneigt, die ‚Chinatapeten-Collage‘ im Zusammenhang mit der 1754 während eines
13
Zu Lichtenwalde vgl. Christiane Ernek, „Neochinoiserien in Sachsen: Das Gelbe
Teezimmer in Schloss Pillnitz und das Chinesische Zimmer in Schloss Lichtenwalde. Ein stilistischer Vergleich“, in: China in Schloss und Garten. Chinoise Architekturen und Innenräume, hrsg. von Dirk Welich, Dresden 2010, S. 226–237, Abb. 12. Zu Schlosshof und Sünching vgl. Wappenschmidt 1989 (wie Anm. 6), S. 109–110, S. 102–104.
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Raum, Kulisse und synästhetische Impulse
Schlosshof a. d. March, alte Aufstellung des Raum-Inventars im Mobiliendepot, Wien, Foto um 1920/1930
Abb. 1 ‚Chinatapeten‘-Collage aus chinesischen Holzschnitten und chinoisen Malereien, 1750er Jahre, vormals Schloss
138
Friederike Wappenschmidt
Festes in Schloss Schlosshof aufgeführten Oper Le Cinesi zu sehen, deren Musik von Christoph Willibald Gluck (1714–1787) zu einem Libretto von Pietro Metastasio (1698–1782) komponiert worden war.14 Die Handlung spielt in China, wo ein aus Paris heimgekehrter Prinz drei Hofdamen mit der Kunst der Opernarie bekannt macht. Zwei der Schönen werben mit tragischen und pastoralen Gesängen um den Jüngling, während die dritte in einer komödiantischen Arie den Elegant verspottet, weil ihm Europa den Kopf verdreht hat. Mit Le Cinesi erfand Metastasio ein Spiel mit Schein und Sein, mit Nähe und Ferne, Ernst und Ironie, wie es auch die ‚Chinatapeten‘-Collage bestimmte, die an die Wände kam, nachdem Maria-Theresia Schloss Schlosshof noch im Jahr der Opernaufführung für ihren Gemahl kaufte und umgestalten ließ.15 Nicht nur die Tapetencollage in der Sommerresidenz Schlosshof holt auf ironisch-verspielte Weise das Reich der Mitte ins Zentrum Europas. Auch in der Schlafzimmer-Suite von Saltram House konnte sich der Europäer in der Ankleide inmitten der Bewohner Cathays fühlen.16 Im sächsischen Schloss Lichtenwalde fügen sich in die Vertäfelung eines Zimmers integrierte Holzschnitte von Chinesinnen zu einer asiatischen Schönheitengalerie,17 in Schloss Sünching zieht eine Prozession vornehmer Chinesen über die Wände zweier Räume (Abb. 2) und in der Nymphenburger Badenburg sind farbige Drucke zu einer fernöstlichen Bilderfolge montiert worden, die an die Schautafel eines Moritatensängers erinnert (Abb. 3).18 Das chinesische Tapeziermaterial zu diesen ‚Chinatapeten‘ lieferten Auktionen der Ostindien-Kompanien sowie Asien- oder Grafikhändler in den europäischen Metropolen. Die dort angebotenen Holzschnitte und Malereien waren preiswerter als die seit etwa 1750 erhältlichen, technisch perfekt ausgeführten Panoramatapeten aus
14
Zu Le Cinesi vgl. auch Berger 1990 (wie Anm. 12), S. 305.
15
Oper und Fest gehörten zur Verkaufsstrategie des vormaligen Besitzers Joseph Fried-
rich Prinz von Sachsen-Hildburghausen, von dem Maria Theresia Schloss Schlosshof erwarb. 16
Abbildungen der ‚Chinatapeten‘ in Saltram House finden sich auf nttreasurehunt.
wordpress.com (6.11.2012) sowie in Gill Saunders, „The China Trade: Oriental Painted Panels“, in: The Papered Wall. The History, Patterns and Techniques of Wallpaper, hrsg. von Lesley Hoskins, London 1994, Abb. S. 47. 17
Vlg. die Abbildung des Chinesischen Salons in Lichtenwalde in Ernek 2010 (wie
Anm. 13). 18
Moritaten- oder Bänkelsänger traten bereits im 18. Jahrhundert in Städten und auf
Jahrmärkten auf und trugen wahre, erstaunliche und oft schaurige Begebenheiten vor, deren Dramatik durch Leinwandbilder oder Schautafeln veranschaulicht wurde.
139
Raum, Kulisse und synästhetische Impulse
Abb. 2 ‚Chinatapeten-Collage‘ aus chinesischen Holzschnitten und Malereien, vor 1768 angebracht, erstes chinesisches Zimmer, Schloss Sünching, Oberpfalz, Zustand 1982
China, mit denen inzwischen die technische und motivische Genese vom chinesischen Rollbild zur Bildtapete in Europa vollzogen worden war.19 Für die Herstellung von Panoramatapeten griffen die Exportmaler in Kanton auf die altbewährte chinesische Technik ineinander übergehender Szenemalereien (tongjing hua) zurück, die – auf Seiden- oder Papierbahnen gemalt und anschließend auf wandhohe mehrteilige Faltschirme montiert – eine Figurenszenerie, ein Landschafts- oder Gartentableau ergaben. Solche Malereien waren bestens geeignet, europäische Wän19
Diese chinesischen Tapeten, die figürliche oder florale Bildpanoramen auf den
Wänden ausbreiteten, blieben in Europa technisch bis ins späte 18. Jahrhundert einzigartig und unerreicht. Einzig chinesische Exportmaler belieferten den europäischen Markt mit auf Papier oder Seide bemalten Panoramatapeten, lange bevor europäische Tapetenmanufakturen im frühen 19. Jahrhundert den Luxusmarkt mit Tapetenpanoramen zu erobern begannen. Vgl. Wappenschmidt 1989 (wie Anm. 6). Erst in den 1770er Jahren schuf die Tapetenmanufaktur Réveillon mit der Entwicklung von Papierrollen die Voraussetzung für die Herstellung von Panoramatapeten auf Papier. Vgl. dazu Jacqué 1995 (wie Anm. 2) sowie Elisabeth Hutzenlaub, Historische Tapeten in Hessen von 1700 bis 1840, Diss. Frankfurt am Main 2005, S. 27–40, S. 49; Carolle Thibaut-Pomerantz, Wallpapers. A History of Style and Trends, Paris 2009, S. 84–130.
140
Friederike Wappenschmidt
Abb. 3 ‚Chinatapete‘ aus kolorierten chinesischen Holzschnitten, chinoise Ergänzungen, um 1763 angebracht, Garderobe, Badenburg, München-Nymphenburg
de mit einer in sich geschlossenen figürlichen oder floralen Szenerie zu bekleiden, die von Tapezierern nur noch in der richtigen Reihenfolge zusammengeklebt werden musste. Für die Ausfuhr wurden in Kanton 12- bis 24-teilige Bildrollen-Sets mit genormten Maßen hergestellt, die in Europa – wegen ihrer technischen Perfektion als luxuriöse Prestigeobjekte geschätzt – sowohl in Audienzgemächern als auch in ‚privateren‘, der Repräsentation dienenden Räumen Verwendung fanden. Allerdings hatten Asienhändler und Einrichtungsspezialisten neben diesen Bildpanoramen auch weiterhin preiswerteres, aus chinesischen Albumblättern, unmontierten Rollbildern oder kolorierten Holzschnitten bestehendes Tapeziermaterial im Angebot, das Käufer beiderlei Geschlechts zu chinoisen Basteleien für den Wandschmuck animierte. So ließen sich Albumblatt-Serien mit Darstellungen des Alltags und der
141
Raum, Kulisse und synästhetische Impulse
Handwerke in ein ornamentales Rahmensystem einkleben, wie es die seit den 1750er Jahren in England beliebte Print-Room-Tapete vorgab.20 Einige Tüftler schnitten Motive aus chinesischen Tapetenpapieren aus und hefteten diese auf Seidenbespannungen oder auf Paravents. 1772 traf Lady Mary Coke die Herzogin von Norfolk beim Sortieren von Schmetterlingen, „cut out of indien paper, for a room She is going to furnish“, an.21 Am 21. Februar 1783 schrieb Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen (1744–1797) seiner Geliebten Wilhelmine Ritz (1758 –1820), der späteren Gräfin Lichtenau, er habe für sie einen Paravent mit einem großen Papagei angefertigt, und versprach ihr noch mehr „mit alerhand façons [...], so aus China gekomen seindt“.22 Während derartige Dekorationskünste einer frei fabulierenden, bizarren Chinoiserie des Rokoko als eurozentrische Reaktion auf die chinesische Figurenmalerei bewertet werden können, weckten chinesische Blumen- und Vogelmalereien Bewunderung. Gartenfreunde wie Madame de Pompadour oder der Botaniker Sir Joseph Banks zeigten sich von der Farbgebung und Naturtreue von Gartenpanoramen enthusiasmiert. Die floralen Bildtapeten boten Einblicke in südchinesische Gärten, wie sie William Chambers (1726–1796) in seinen Designs of Chinese buildings, ... [and] gardens (1757) oder in A Dissertation on Oriental Gardening (1772) schilderte. Der Wissenschaftler und Weltreisende Banks befand sogar die darauf dargestellten Pflanzen für „better figured there than in the best botanical authors, that I have seen“.23 Es verwundert daher nicht, dass Gartentableaus als naturgetreu und daher authentisch empfundene Darstellungen chinesischer Botanik und Fauna den figürlichen Bildtapeten in der Wertschätzung den Rang abliefen. Figürliche Szenerien des Alltagslebens wurden im Gegensatz dazu als stilistisch fragwürdig und wenig aussagekräftig beurteilt. Dennoch lud die auf Tapetenwänden ausgebreitete asiatische Bilderwelt zur Interaktion mit dem schaulustigen und
20
Zu Print-Room-Tapeten vgl. Gill Saunders, Wallpaper in Interior Decoration, London
2002, S. 83–87. Zu chinesischen Print-Room-Tapeten im Speziellen vgl. Wappenschmidt 1989 (wie Anm. 6), S. 62–64. 21 Letters and Journals of Lady Mary Coke, Vol. IV: 1772–74, hrsg. von James Archibald Home, Bath 1970, S. 101. 22
Die Kenntnis vom Brief des Kronprinzen Friedrich Wilhelm verdanke ich Dr. Alfred
Hagemann, SPSG, Berlin. Zum Einfluss der Gräfin Lichtenau auf die Kunst vgl. Alfred Hagemann, Wilhelmine von Lichtenau (1753–1820). Von der Mätresse zur Mäzenin, Köln 2007. 23
Zit. n. Eric Arthur Entwisle, A Literary History of Wallpaper, London 1960, S. 49.
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fantasiebegabten Rezipienten ein. Sie stand – wie noch gezeigt werden wird – in Interferenz mit der Festkultur des Spätbarock und der Aufklärung und erwies sich als Ideenquelle für chinoise Maskenfeste, Umzüge und Theaterinszenierungen, die im Innen- wie Außenraum stattfanden.24
I n t e r f e re n z e n z w i s c h e n Ra u m d e ko r u n d B ü h n e n k u l t u r Eine Durchdringung von Raumdekor, Gesprächs-, Fest- und Bühnenkultur lässt sich am Beispiel des Münchner Hofes zur Zeit Max III. Joseph von Bayern und seiner Gemahlin Maria Anna von Sachsen anschaulich rekonstruieren. Zwischen 1745 und 1773 boten ‚Chinatapeten‘ in Schloss Nymphenburg und der dortigen Badenburg die Kulisse für rhizomatisch ausgreifende Diskussionen etwa über den durch Jesuitenmissionare gesteuerten Zufluss von Kenntnissen aus China, über dessen Verklärung als utopisches Ideal durch abendländische Philosophen und Opern der Chinamode am Münchner Residenztheater. 1745 hatte Max III. Joseph den Leibniz-Schüler Christian Wolff (1679–1754) nach München geholt, der konfuzianisches Denken in Analogie zur humanistisch-christlichen Philosophie interpretierte. Gleichzeitig berichtete der in Peking akkreditierte Jesuit Florian Bahr (1706–1771) über den hochkultivierten Hof Kaiser Qianlongs (reg. 1736–1796), aber auch über erschreckende soziale Zustände im Reich der Mitte.25 Dabei wurde das Interesse des Kurfürstenhofes gewissermaßen vor und von chinesischen Tapetenkulissen genährt, die sich in der Pagodenburg, in der Badenburg und im Nymphenburger Schloss befanden. Diese Tape-
24
Siehe Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer
Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 105; Berger 1990 (wie Anm. 12), S. 52–85; Dietrich Gronau und Johann Sembritzki, „Feste, Theater und Literatur im Verhältnis zu den modischen Strömungen ihrer Zeit“, in: China und Europa 1973 (wie Anm. 12), S. 171–216. 25 Ronnie Po-chia Hsia, Noble Patronage and Jesuit Missions. Maria Theresia von Fugger-Wellenburg (1690–1762) and Jesuit Missionaries in China and Vietnam, Rom 2006 (= Monumenta Historica Societatis Iesu, Nova Series, Bd. 2); Friederike Wappenschmidt, „Christliche Mildtätigkeit, moralische Ansprüche und der Austausch von Geschenken. Aus dem Briefwechsel der Gräfin Maria Theresia von Fugger-Wellenburg mit dem Jesuitenmissionar Florian Bahr in Peking“, in: Die Wittelsbacher und das Reich der Mitte. 400 Jahre China und Bayern, hrsg. von Renate Eikelmann, Ausst.-Kat. Bayerisches Nationalmuseum München, München 2009, S. 148–153.
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tenkulissen boten sozusagen das bildliche Anschauungsmaterial für die aus China übermittelten oder durch Lektüre erworbenen Kenntnisse über das Reich der Mitte. 1763 war das Schlafzimmer des Badeschlösschens mit der bereits erwähnten ‚Chinatapete‘ aus chinesischen Holzschnitten ausgekleidet worden, die wie Moritatentafeln Vertreter der von Leibniz und Wolff gepriesenen und vom Jesuiten Bahr beschriebenen chinesischen Adels-Elite vor Augen führten (Abb. 3). Die Holzschnitt-Tapete im Schlafzimmer der Badenburg wurde möglicherweise bereits um 1769 mit einem großfigurigen chinesischen Bildpanorama überklebt, das eine vornehme Gesellschaft bei der Falkenjagd zeigt und suggestiv wie ein Schauspiel den Betrachter ins Reich der Mitte entführt (Abb. 4).26 Beide Tapeten – die heute voneinander getrennt im Schlafzimmer und in der Garderobe der Badenburg zu sehen sind – appellieren an die theatralische Fantasie des Rezipienten.27 So wurden im März 1771 und im November 1772 zwei eigens für Max III. Joseph librettierte und komponierte Opern, nämlich L’eroe Cinese und Il Kam Cinese, am Residenztheater in München aufgeführt. Laut Regieanweisungen der Operndichtungen spielen beide in idyllischen Landschaftsszenerien, wie sie auf der chinesischen Panoramatapete zu sehen sind. Die 1771 inszenierte, von Antonio Maria Gasparo Sacchini komponierte Oper basierte auf Pietro Metastasios musikalischem Schauspiel Der chinesische Held (L’eroe Cinese), das 1752 nach dem im 6. Jahrhundert verfassten original chinesischen Theaterstück Das Waisenkind von Zhao geschrieben worden war.28 In Metastasios Drama rettet ein kaiserlicher Gefolgsmann den letzten Spross einer ausgelöschten Herrscherfamilie, indem er sein eigenes Kind den Meuchelmördern ausliefert. Der edelmütige Held zieht die Waise groß und bringt sie schließlich auf den Thron, womit die von den Jesuiten betonten Analogien zwischen dem konfuzianischen Menschenbild der Chinesen und dem humanistisch-christ-
26
Der Zeitpunkt der Anbringung der Panoramatapete wird seit 2010 kontrovers dis-
kutiert. Vgl. hierzu Johannes Erichsen, „Zur Datierung der chinesischen Tapeten der Badenburg im Schlosspark Nymphenburg“, in: Welich 2010 (wie Anm. 13), S. 150–153. 27
Martha Heise, „Die Restaurierung zweier chinesischer Tapeten aus dem ehemaligen
Schlafzimmer der Badenburg“, in: Ars Bavarica 1983 (wie Anm. 9) , S. 121–124. 28
Das Stück erschien in Jean Baptiste du Halde, Description ... de la Chine, Paris 1735. Vgl.
auch Wolfgang Kubin, Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 6: Das traditionelle Theater. Vom Mongolendrama bis zur Pekinger Oper, München 2009, S. 93–101; Friederike Wappenschmidt, „‚Die Waise von Zhao‘. Europäische Verwandlungen eines chinesischen Motivs auf Theater- und Tapetenbühnen der Chinamode“, in: minima sinica 1, 2013, S. 21–40.
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Abb. 4 Chinesische Panoramatapete, Kanton, 1760er Jahre, Schlafzimmer, Badenburg, München-Nymphenburg
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lichen der Europäer 1771 auch für das Münchner Theaterpublikum mit den vom Helden personifizierten Tugenden der Loyalität, Opferbereitschaft und Nächstenliebe beeindruckend veranschaulicht wurden. Mit der im Folgejahr 1772 inszenierten Oper Il Kam Cinese, die von Matteo Rauzzini komponiert und von Giacomo Fiorini librettiert worden war, schlug wenige Monate vor dem Verbot des Jesuitenordens – der mit seiner allzu positiven Einschätzung chinesischer Kultur seit Langem in die Kritik geraten war – das Pendel der Chinarezeption auch in München in groteske Imaginationen um.29 In Il Kam Cinese ist der vom Volk von „Cina“ gewählte Herrscher und Hohepriester der Gottheit Kam ein in China gestrandeter Italiener namens Tuberone (‚Kartoffel‘). Sein Sohn sowie ein aus Frankreich herbeigereister Edelmann verlieben sich in tartarische Prinzessinnen; bis zum glücklichen Ende durchleiden die Paare zahlreiche Irrungen und Wirrungen der Liebe. Das Libretto beschreibt für den Schlussakt das Bühnenbild einer Landschafts- und Seenkulisse mit Palmen und exotischen Pflanzen, in dem der Herrscher, Hofbeamte und Soldaten sowie asiatische Prinzessinnen in chinesischen Kostümen agieren. Und wie in L’eroe Cinese erinnern die Regieanweisungen von Il Kam Cinese an die Panoramatapete im Schlafzimmer der Badenburg, wo ein Mandarin umgeben von seinem Hofstaat an einem Seeufer thront (Abb. 4).30 In der Bühnen-Staffage huldigen die Opern-Akteure der Gottheit Kam, die lehrt, dass die Welt entstand, als eine Kuh im Monat Mai ein Ei zertrat. „Lasst uns (aus Cina), diesem Land heidnischer Barbarei und Dürre fliehen!“, heißt es in der Arie des französischen Junkers Adolfo.31 Dies rief in München kurz vor dem Ende der jesuitischen Chinamission alle eurozentrischen Voreingenommenheiten in Erinnerung, womit sich auch der Blick auf chinesische Tapeten kritisch verfinsterte.
29
Vgl. Wappenschmidt 2013 (wie Anm. 28), S. 36–38, sowie Irene Wegner, „China in
Fest- und Theaterkultur Bayerns“, in: Eikelmann 2009 (wie Anm. 25), S. 342–347. Zur Jesuitenmission siehe Julius Oswald, „Die China-Mission der Jesuiten“, in: Die Jesuiten in Bayern 1549–1773, Ausst.-Kat. München, München 1991, S. 229–252, S. 293 –311. Zum Wandel des China-Bildes allgemein vgl. Berger 1990 (wie Anm. 12); Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 301, S. 375 –382, S. 403. 30 Metastasio hatte für die Szenenbilder in L’eroe Cinese unter anderem auf Athanasius Kirchers Werk China ... illustrata zurückgegriffen, das ebenfalls in der Münchner Hofbibliothek vorhanden war. 31 Giacomo Fiorini, Il Kam Cinese: drama Giocoso in musica da rappresentari nel teatro vecchio di Monaco, 1772.
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Wa n d e l d e s C h i n a b i l d e s – ‚C h i n a t a p e t e n‘ u m 1 8 0 0 Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts war die europäische Gesellschaft mehrheitlich der philosophisch verklärenden Rezeption Chinas überdrüssig, sodass nach der Französischen Revolution von 1789 sowie dem Ende des Ancien Régime in Europa die Chinamode mitsamt den chinesischen Tapeten als typisches Repräsentationsobjekt des Adels und eines weiblichen Geschmacks verächtlich gemacht wurde.32 Beim Anblick einer chinesischen Figurentapete im Schlafzimmer der Königin Marie Antoinette in Saint Cloud mokierte sich 1790 Anton von Halem (1752–1819) über den „Geschmack, sich mit [...] häßlichen [...] Gesichtern“ zu umgeben.33 Dennoch fühlten sich fürstliche Bauherren weiterhin der Repräsentation des Ancien Régime und der Verwendung chinesischer Tapeten als exotischer Dekorationsfolie in Räumen einer standesgemäßen Selbstdarstellung verpflichtet. Friedrich Wilhelm II. von Preußen, der – wie erwähnt – bereits 1783 als Kronprinz ein Faible für Basteleien mit chinesischen Motiven hatte, ließ 1786 kurz nach seinem Regierungsantritt auf Seide und Papier gemalte Bildtapeten aus China in den Schlössern Monbijou und Charlottenburg anbringen.34 Zu diesen asiatischen Erzählkulissen gehörte die noch heute in der chinesischen Galerie von Schloss Charlottenburg befindliche chinesische Panoramatapete mit der Darstellung einer Jagdgesellschaft, die bis auf wenige Einzelheiten identisch ist mit der Badenburger Bildtapete (Abb. 4). An solchen farbenschillernd gemalten, detailreich unterhaltenden Bilderwelten wanderten die Rezipienten nicht nur in Charlottenburg oder Monbijou, sondern auch in anderen europäischen Schlössern und Herrenhäusern auf und ab. Sie betrachteten das ihnen dargebotene chinesische Alltagsleben allerdings mit eurozentrischer Voreingenommen-
32
Walter Demel, „Abundantia, Sapientia, Decadencia. Zum Wandel des Chinabildes
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“, in: Die Kenntnis beider ‚Indien‘ im frühneuzeitlichen Europa, hrsg. von Urs Bitterli und Eberhard Schmitt, Akten der zweiten Sektion des 37. Deutschen Historikertages in Bamberg 1988, München 1991, S. 129–153, hier S. 148; Wappenschmidt 2009 (wie Anm. 4), S. 23. 33
Gerhard Anton von Halem, Blicke auf einen Theil Deutschlands, der Schweiz und
Frankreichs bey einer Reise vom Jahre 1790, Bremen 1990, S. 236. 34
Vgl. hierzu Susanne Evers und Christa Zitzmann, Seiden in den preußischen Schlössern.
Ausstattungstextilien und Postamente unter Friedrich II. (1740–1786), Bestandskat., Berlin 2014, Kat.-Nr. 31.
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heit als unwirkliche Märchenveduten.35 Aus diesem Grund begrüßten sie die Verbreitung der Kupferstichillustrationen in George Stauntons siebenbändigem, europaweit vertriebenem Werk Reis van Lord Macartneij naar China (1798–1801). Lord Macartney hatte in den Jahren 1792/93 im Auftrag des englischen Königs Georg IV. eine englische Gesandtschaft an den Hof des Qianlong-Kaisers geleitet, darunter auch der Maler William Alexander (1767–1816). Dieser aquarellierte auf der Reise durch China Landschaften, Bauwerke und Menschen, womit in den Augen der Europäer chinesische Malereien als authentische Bilddokumente vollends entbehrlich wurden. Wie sehr die nach Alexanders Vorlagen gefertigten Kupferstiche die Erwartungen westlicher Interessenten zufriedenstellten, zeigte sich, als Friedrich August von Sachsen (1750–1827) im Jahr 1804 den Chinesischen Pavillon im Landschaftspark von Pillnitz vom Maler Johann Ludwig Giesel (1747–1814) mit chinesischen Landschaften und Sehenswürdigkeiten ausmalen ließ.36 Den Kupferstichen aus dem Reisebericht folgend, erzeugte Giesel einen Realismus, der den Besucher des Pavillons geradezu zum Mitglied der britischen Gesandtschaftsreise macht – ein Resultat, das die Bilderwelten chinesischer Exportmaler bei den Rezipienten des frühen 19. Jahrhunderts nicht einzulösen vermochten, denn diese fühlten sich beim Anblick original chinesischer Malereien nach wie vor nicht in die Lebenswirklichkeit, sondern in eine fiktive Theaterwelt versetzt.
C h i n a m o d e u n d O ri e n t a l i s m u s Auch in Friedrich Schillers Tragödie Turandot und die drei Rätsel, die seit 1802 in Weimar, Berlin, Dresden, Hamburg, Leipzig, Stuttgart und München aufgeführt wurde, war China ein märchenhafter Schauplatz. Der Intendant des Dresdner Hoftheaters wünschte wegen der kostspieligen Kostümierung „in chinesischem Geschmack mit einiger Übertrei35
Berger 1990 (wie Anm. 12), S. 86–134 (Kap. VI: „Sinophobie – China im Spiegel
europäischer Kritik“); Osterhammel 1998 (wie Anm. 29), S. 375–403 („Der Aufstieg des Europazentrismus“). 36
Dirk Welich, „Der Chinesische Pavillon im Schlosspark Pillnitz. Wie viel Chambers
ist drin, wo Chambers draufsteht, und wie authentisch ist, was wir glauben?“, in: Welich 2010 (wie Anm. 13), S. 218–227, Abb. 1 sowie Abb. 9–14.
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bung“ jedoch eine Verlegung der Handlung nach Persien.37 Schiller erfüllte die Bitte, da China im Zuge der aufkommenden Orientmode ohnehin nur noch eine marginale Rolle spielte – eine Tendenz, die auch in den folgenden Jahrzehnten auf der Theaterbühne, in der Festkultur und im Interieur deutlich spürbar blieb. Nur noch gelegentlich wurden chinesische Maskenfeste veranstaltet, denen meistens eine chinesische Oper vorausging; so 1835 in München, als der Adel in Chinesenkostüme schlüpfte und die Damen sich als schöne Chinesinnen geschminkt hatten und Frisuren und Einblattfächer wie die Hofdame auf der chinesischen Tapete im Schlafzimmer der Badenburg trugen.38 Der Berliner Hof hatte 1825 einen chinesischen Kostümball veranstaltet, der, wie Herzog Karl Friedrich August zu Mecklenburg (1785–1837) äußerte, nur „für den Augenblick [...] geschrieben“ war.39 Und dennoch hatte ein derartiges Vergnügen, das in der Tradition des 18. Jahrhunderts chinoise Inhalte mit Elementen der tragikomischen Commedia dell’Arte verschmolz, einen Nachhall, als Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) den Bühnentrakt des Neuen Palais in Potsdam zwischen 1848 und 1853 neu ausgestalten ließ. Bereits auf dem Weg zum Bühnenraum begann das Amüsement, denn das königliche Publikum wurde im Vorraum von in Watteau’scher Manier in Öl auf Leinwand gemalten Figuren der Commedia dell’Arte empfangen.40 Mit komödiantisch beschwingter Grazie laden diese noch heute den Besucher ein, die Tür zur anschließenden Kammer am Bühnentreppenhaus zu öffnen, wo eine chinesische Bildtapete, die ins frühe 19. Jahrhundert zu datieren ist, in eine fernöstliche Märchenwelt entführt. Das Panorama breitet die Szenerie des chinesischen Neujahrsfestes mit der Aufführung eines Theaterstücks auf den Wänden aus, womit der Betrachter, der aus der Sphäre der Commedia dell’Arte den Raum betritt, Zeuge der spielerischen Durchdringung der Scheinwelten Europas und Chinas wird. Im Königreich Bayern erwachte in den 1840er Jahren unter Ludwig I. ein neues, allerdings tiefergreifendes ethnografisches Interesse an China, als dieser 1845 die chinesische Sammlung des italienischen Kaufmannes 37 38
Zit. n. Polaschegg 2005 (wie Anm. 24), S. 208. Abb. in: Ausst.-Kat. China und Europa 1973 (wie Anm. 12), Kat.-Nr. Q 103.
39
Carolin Philipps, Friederike von Preußen. Die leidenschaftliche Schwester der Königin
Luise, München/Zürich 2008, S. 286–287. 40 Abb. in: Magazin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 4, 2011, www.spsg.de/media/ de/SPSG_sans-souci_2011-04_download.pdf, S. 9 (26.3.2013).
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Onorato Martucci kaufte, um sie dem geplanten Völkerkundemuseum einzuverleiben.41 Diese Entwicklung hatte allerdings keine Aufwertung der chinesischen Tapetenkulissen als aussagekräftige Tableaus des chinesischen Lebens zur Folge. Fest verbunden mit den Interieurs des Rokoko und Klassizismus und ihren historistischen Neo-Stilen blieben sie das Echo eines asiatisch maskierten Augenblicks in der Festkultur, der für erheiternde Impressionen sorgte.
Fa z i t Die mit original chinesischem Bildmaterial gestalteten Wände europäischer Interieurs des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ermöglichten dem Rezipienten Augenreisen in eine exotische Welt. Letztere wurde, wenn sie Einblicke in das chinesische Alltagsleben bot, als Fiktion und keineswegs als künstlerisch eigenständig oder – im Gegensatz zu floralen Panoramen – als authentische Informationsquelle akzeptiert. Dennoch faszinierten die fernöstlich bunten Farben und Motive; sie appellierten an die Sinne und lösten kreative Gestaltungsimpulse aus, die zum Schnitt europäischer Tapezierer ins fernöstliche Bildmaterial führten. Die chinesischen Tapetenmalereien leiteten zudem von optischen zu haptischen Anreizen, die sich in chinoisen Festzügen und Maskenbällen manifestierten. Zugleich können chinesische Tapeten seit 1750 in Beziehung zu fulminanten Opern oder Dramen der Chinamode gesehen werden, deren Inszenierungen synästhetische Erlebnisse in asiatischen Kulissen waren und an die Szenerien der in Kanton bemalten Tapetenveduten erinnerten. Selbst nachdem China um 1800 seine Faszination als ein von Leibniz oder Voltaire beschworenes „Europa des Ostens“ verlor und im frühen 19. Jahrhundert der Orientalismus die Chinamode weitgehend verdrängt hatte, tauchte Letztere mancherorts wie in Berlin und München als nostalgisches Relikt des 18. Jahrhunderts in der Raumkunst und in der „für den Augenblick [...] geschrieben[en]“ Festkultur auf.42
41
Vgl. Bruno J. Richtsfeld, „Bayern und China zwischen 1800 und 1914 im Spiegel
der Ostasien-Sammlung des Münchner Kgl. Ethnographischen Museums“, in: Eikelmann 2009 (wie Anm. 25), S. 438–448. 42 Philipps 2008 (wie Anm. 39), S. 286–287.
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Betje Black Klier
Die Bonapartist-UtopiaBildtapete Zur Verschränkung von Alltagsgeschichte, Literatur und französischer (Kolonial-)Politik in Alabama und Texas
Verborgen in den Beständen des Alabama Department of Archives and History liegt ein seltener Schatz, der dort schlicht „die französische Tapete“ genannt wird und Betrachter und Historiker seit mehr als einem Jahrhundert in Staunen versetzt.1 Die schriftliche Überlieferung zu diesem Objekt reicht von einer Andeutung Balzacs im Jahr 1842 bis ins Jahr 1925, als André Carlhian es für sein exklusives Pariser Dekorationshaus erwarb. Die Messieurs Carlhian trugen sich mit dem Gedanken, eine Enzyklopädie der Bildtapetenkunst zusammenzustellen, und dokumentierten jedes Exemplar, mit dem sie in ihrem Bekannten- und Geschäftskreis in Kontakt kamen. Eine Bahn der restaurierten Tapete wurde im Auslagenfenster ihrer Firma ausgestellt. Elizabeth Shelly, Sekretärin
1
Die Originaltapete kann auf Anfrage im Alabama Department of Archives and
History (ADAH) in Montgomery, Alabama, betrachtet werden. Eine Kopie ist ständig im Bereich vor dem Hale Room ausgestellt. In der Bestandsliste ist das Werk als „Tapete mit Darstellung der Wein- und Olivenkolonie, einer frühen französischen Ansiedlung nahe dem heutigen Demopolis, Alabama“, verzeichnet. Obwohl die Kolonien in Alabama und Texas, die beide auf der Tapete wiedergegeben sind, von zahlreichen Historikern untersucht wurden, hat die Tapete selbst bisher nur die Aufmerksamkeit eines einzigen Reiseschriftstellers und einer Kunsthistorikerin, der Autorin dieses Aufsatzes, erregt. Siehe Hudson Strode, „Bonapartists in the Alabama Canebrake“, in: Travel 80, April 1938, S. 18–21, S. 55; Betje Black Klier, „The Bayeux Tapestry and the Papier Peint of Dijon, known as the ‚French Wallpaper‘ in Montgomery, Alabama“, in: The Consortium on Revolutionary Europe 1750–1850, Institute on Napoleon and the French Revolution, FSU, Tallahassee 1993, S. 403–423; dies., „The Influence of Jacques-Louis David on Representations of Champ d’Asile“, in: First Empire. The International Magazine for the Napoleonic Enthusiast, Historian, and Gamer, Juli 2008, S. 30–34; Kent Gardien und Betje Black Klier, „Champ d’Asile“, in: Handbook of Texas Online, hrsg. von der Texas State Historical Association, www.tshaonline.org/handbook/online/articles/uec02 (16.9.2013).
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Die Bonapartist-Utopia-Bildtapete
der amerikanischen Botschaft in Paris, ging 1928 an dieser Auslage vorüber. Da sie aus Alabama stammte, fiel ihr die Aufschrift „Aigleville“ ins Auge. Shelly schrieb unverzüglich ihrer langjährigen Freundin Marie Bankhead Owen, Direktorin des Alabama Department of History and Archives, dass ein Kunstgegenstand aus Alabama bei einem Pariser Dekorateur zum Verkauf stünde. Owen, von der Nachricht begeistert, bat Shelly, ein Fachgutachten über den Wert des Stücks einzuholen, das ihr unzweifelhaft von historischer Bedeutung schien. Der Name der von Shelly beauftragten Person wird in der Korrespondenz der beiden Frauen nicht genannt. Aus Dokumenten des Cooper-Hewitt National Design Museum geht jedoch hervor, dass es sich um die Tapetenexpertin Nancy McClelland handelte, die 1937 eine Ausstellung im Pennsylvania Museum of Art in Philadelphia organisierte und die Carlhians bat, Panoramatapeten einschließlich der Aigleville nach Amerika zu senden. McClelland hängte die undatierte, handgemalte Tapete neben französische Modeldrucke, die in Auflagen von 200 bis 300 Exemplaren produziert wurden. Da das Unikat aus Einzelblättern zusammengesetzt ist, lässt es sich auf die 1820er Jahre datieren, in denen die Herstellung von Endlospapierrollen in Frankreich noch nicht gebräuchlich war. Die Franzosen in Aigleville, oder die Gründung des Staats Marengo war Nr. 21 von 34 Exponaten. Wie gelangte McClelland zu dem Werktitel, der in der Ausstellung verwendet wurde? Auf der Panoramatapete sind fünf Schriftelemente verteilt: zwei entrollte Fahnen an baumhohen Masten und drei Holzschilder. Die Fahnen tragen den Schriftzug „Champ d’Asile“, den Namen einer kurzlebigen Kolonie französischer Einwanderer in Südost-Texas, damals eine Provinz des Vizekönigreichs Neuspanien. Die Holzschilder verkünden „Aigleville“, „Place Marengo“ und „rue d’Austerlitz“, drei Namen, in denen imperiale Größe anklingt. Während Aigleville (Adlerstadt) an Napoleons Wappenadler erinnert, verweisen Marengo und Austerlitz auf zwei Siege der Grande Armée. McClelland ignorierte die Aufschrift der Fahnen und übernahm den von ihren französischen Kollegen vorgeschlagenen Titel, dessen Ortsbezeichnungen Aigleville und Marengo passenderweise auf die Geschichte Alabamas anwendbar waren. Ob sich die abgebildete Kolonie in Texas oder Alabama befand, blieb während des Jahrzehnts, das zwischen Shellys Entdeckung der Aufschrift „Aigleville“ in einer Pariser Auslage und der Untersuchung ihres Funds durch Thomas W. Martin (1881–1964) 1937 in Philadelphia
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Betje Black Klier
verstrich, eine offene Frage. Der ebenfalls in Alabama geborene Philanthrop und Amateurhistoriker erkannte den potenziellen Wert der Tapete und erwarb sie trotz der ungeklärten Herkunft für seinen Bundesstaat. Um an ihrer Überzeugung, es müsse sich um Alabama handeln, festhalten zu können, tat Owen, die Direktorin des Alabama Department of Archives and History, alle auf Texas verweisenden Details als ‚künstlerische Freiheit‘ ab. Der wissenschaftlicher denkende Martin ließ die Frage hingegen offen. Da beide ihre Meinungsverschiedenheiten hintanstellten, um den Erwerb des Dokuments für das Staatsarchiv nicht zu gefährden, blieb die endgültige geografische Zuweisung nachfolgenden Historikergenerationen überlassen. In dem vorliegenden Aufsatz wird dieses Rätsel im Kontext der Expansion der Vereinigten Staaten und der Politik Frankreichs im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts unter Bezugnahme auf kunsthistorische und historische Quellen gelöst. Beginnen wir also mit einer Beschreibung der Dinge, die auf der „französischen Tapete“ zu sehen sind. Ein schimmernder Himmel breitet sich über einen weiten Landstrich, aus dem das Licht einzelne Szenen hervorhebt, welche den neugierig gewordenen Betrachter einladen, näher an die einzelnen Tableaus heranzutreten. Figuren in historischen Kostümen aus dem Ersten Kaiserreich geben sich en plein air verschiedenen Beschäftigungen hin; sie bebauen und kultivieren das Land und fügen sich dabei harmonisch in die sie umgebende Natur ein (Abb. 1). Ein schneidiger soldat-laboureur2 (Bauernsoldat) in sauberen weißen Hosen und orange-roter Weste übernimmt in der visuellen Schilderung dieser Ereignisse die Rolle des Erzählers. Während er mit dem Spaten symbolisch von der Scholle Besitz ergreift, leitet uns sein seitwärts nach rechts gerichteter Blick in den Bildraum hinein. Gruppen von weiteren soldats-laboureurs sind über die Landschaft verstreut, vereint in einer geschützten Agrarkolonie in der Neuen Welt, fern vom kriegserschütterten Europa.3 Vereinzelte Bauwerke im Mittel-
2
Zu Beginn der Französischen Revolution bestand die Bevölkerung zu 80 Prozent
aus Bauern. Sie bestellten das Land (le pays) und zählten als paysans zur niedrigsten Schicht des dritten Standes. Laboureurs hatten Grundbesitz und mindestens ein Pferd für den Pflug und nahmen deshalb innerhalb ihres niedrigen Standes eine relativ privilegierte Stellung ein. Sie waren weder Bauern (die zumeist kein Land und keine Gerätschaften besaßen) noch Tagelöhner (die nur tageweise oder saisonbedingt arbeiteten). Das französische Verb labourer bedeutet ‚pflügen‘. Die Wortfügung aus soldat und laboureur verband die Pflege und den Schutz des heimatlichen Bodens.
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Die Bonapartist-Utopia-Bildtapete
der Bonapartist-Utopia-Bildtapete, 1820er Jahre
Abb. 1 Unbekannter Hersteller, Verschiedene Szenen der Kultivierung von Land, aus
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grund – eine Kombination aus Befestigungen (ohne sichtbare Kanonen) und militärischen Unterkünften – vermitteln ein Gefühl von Sicherheit, ohne dominieren zu wollen. Im Vordergrund sind weitere Szenen der Urbarmachung sowie des Zusammentreffens von Siedlern auszumachen. Hierbei handelt es sich um Übernahmen von druckgrafischen Vignetten, auf die unten noch näher eingegangen werden wird. Sie entfalten sich vor einer vegetativen und geografischen Kulisse, die in dieser Zusammenstellung wohl nicht realistisch ist.3
Vo n Ro b e r t Fu l t o n s P a ri s e r P a n o r a m e n z u r B i l d t a p e t e im trauten Heim Die Konventionen der Landschafts- und der Genremalerei verschmolzen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts zu einer hybriden Form des Kunsthandwerks, den sogenannten Panoramatapeten4, die als fortlaufende Wandbehänge die Wohnräume mit lebhaften Szenen schmück-
3
Dubreton, Rémond, Athanassaglou-Kallmyer und de Puymège verfassten die maß-
geblichen Studien über die Figur des soldat-laboureur. Den Napoleon-Kult und das Schicksal seiner Anhänger nach 1815 behandelt Lucas Dubretons kunst- und sozialwissenschaftliche Untersuchung Le Culte de Napoléon, Paris 1960, die Tatsachen vom Mythos scheidet. René Rémond, Les Etats-Unis devant l’opinion française, 1815–1852, 2 Bde., Paris 1962, analysiert die französischen Presseberichte über die Kolonien in Texas und Alabama im Archiv der Pariser Bibliothèque Nationale de France. Nina M. Athanassaglou-Kallmyer, „Sad Cincinnatus: The Soldat-Laboureur as an image of the Napoleonic Veteran after the Empire“, in: Arts Magazine 60, Mai 1986, S. 65–75, befasst sich mit dem Bild des soldat-laboureur während der Restauration. Mit besonderem Augenmerk auf Cincinnatus-Darstellungen beschreibt sie die Eigenschaften des traurigen Veterans, der zu seiner Familie und seiner Scholle in der Alten Welt zurückkehrt. Athanassaglou-Kallmyers Charakterisierung des traurigen soldat-laboureur liefert den sokratischen Kontrast, auf dem meine ikonologische Unterscheidung in traurige Cincinnati, in Frankreich gebliebene Veteranen, und glückliche Kolonisten in Texas und Alabama basiert. Gérard de Puymège, Chauvin, le soldat-laboureur. Contribution à l’étude des nationalismes, Paris 1993, fasst die bisherige Forschung über die napoleonischen Veteranen zusammen. Dabei widmet er sich eingehend der Figur des Chauvin, eines naiven und enthusiastischen soldat-laboureur, dessen Name in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist. Siehe auch Betje Black Klier, The Myth of Champ d’Asile, Magisterarbeit, Stanford University, 1998. 4 Anm. der Hrsg. dieses Bandes: Die Autorin verwendet im englischen Originaltext den Begriff ‚scenics‘, womit sie die panoramatische Raumwirkung szenischer Wanddekore unterstreicht (siehe hierzu auch die Ausführungen in der Einleitung dieses Bandes). Im Folgenden wird ‚scenic‘ daher mit ‚Panoramatapete‘ übersetzt.
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ten.5 Ausgelöst wurde die Begeisterung für das Panoramatische, die um 1800 das Pariser Bürgertum ergriff, von dem Amerikaner Robert Fulton. Fulton war ein künstlerisches und wissenschaftliches Genie, ein moderner Leonardo da Vinci, der Geschäftssinn mit Vorstellungskraft verband. Seine Panoramen, in zwei Rotunden mit einem verglasten Verbindungsgang in der heutigen Passage des Panoramas untergebracht, begeisterten die Besucher und läuteten das Zeitalter ein, das den Einkaufsbummel durch Schaufensterstraßen zum Zeitvertreib erhob. Man versuchte, dieses ‚Wunder‘ auch für den Privatgenuss nachvollzieh- und erlebbar zu machen. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums fanden daher Nachahmungen von Fultons kreativer Erfindung in Form von Wanddekoren ihren Weg in die Pariser Salons. Großformatige Tapetenentwürfe wurden mit handgeschnitzten Modeln und Temperafarben auf Papierbahnen übertragen und zu Gesamtkompositionen zusammengefügt, sodass es möglich wurde, diese neue Art der Wahrnehmung in den eigenen vier Wänden zu genießen. Ein Charakteristikum solcher Panoramatapeten ist der kontinuierliche Verlauf der Landschaft, der sich unter dem endlosen Blau des Himmels entfaltet und dem die Funktion zukommt, die Wohn-Mauern ‚hinwegzureißen‘ und die Grenze zwischen Innen und Außen im Raum und in der Wahrnehmung verschwimmen zu lassen. In diesem nach außen gekehrten Innen ereignen sich punktuell aus dem Leben gegriffene Szenen. Auf der Panoramatapete vom Alabama Department of Archives and History werden diese von Akteuren unterschiedlicher Größenordnungen belebt, die sich hier und dort vignettenartig über das gesamte Wanddekor verteilen. Mehrere der größeren Figuren lassen sich anhand zeitgenössischer Porträts als historische Persönlichkeiten identifizieren. Die meisten mittelgroßen Figuren sind hingegen allegorische Verkörperungen geistiger oder philosophischer Ideen wie Wiedervereinigung, Brüderlichkeit oder Gleichheit. Die kleineren Figuren verrichten alltägliche Arbeiten wie Pflügen oder Roden, während manche auch aus rein künstlerischen Erwägungen eingefügt sind, etwa um als Farbakzente das Kompositionsgleichgewicht herzustellen. Auf diese Weise verbinden sich Assoziationen und Symbole in einer idyllischen Landschaftsszenerie – zum Beispiel im Motiv des kameradschaftlichen Handschlags, der Wie5
Das Standardwerk über die Bildtapetenkunst verfasste Odile Nouvel-Kammerer,
French Scenic Wallpaper 1795–1865, Paris 2000.
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Abb. 2 Szene mit Ochsengespann und Pflug aus der Bonapartist-Utopia-Bildtapete
Abb. 3 Baumfällerszene aus der Bonapartist-Utopia-Bildtapete
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dervereinigung und Brüderlichkeit versinnbildlicht und dem ein Hund als Inbegriff der Treue beigesellt ist. Dieses Sujet, das zu vielfachen Sinnbildungen einlädt, erscheint insgesamt zweimal: In einer Szene mit Ochsengespann begleitet der junge Victor Grouchy, Sohn des Marschalls Emmanuel Grouchy,6 einen General im marineblauen Überrock mit rotem Futter, der sich als General Charles Lefebvre-Desnouettes entpuppt (Abb. 2). Der General beweist, dass er bereits die Landessitten angenommen hat, denn er schüttelt einem Mann in oranger Weste, der seinen Pflug angehalten hat, nach Art der Amerikaner und Thomas Jeffersons die Hand; in anderen Bildpartien umarmen sich hingegen Figuren nach französischem Brauch. Auch in der zweiten Szene mit General Lefebvre-Desnouettes schüttelt dieser die Hand eines Siedlers, diesmal eines Holzfällers (Abb. 3). Der gefällte Baum fungiert dabei als Symbol der Eroberung: Im Gegensatz zum umgestürzten Baum, der verfault und vermodert, indiziert er die Verbreitung der französischen Kultur.7 Nach den Regeln der Ikonologie setzt der Held seinen Fuß auf das unterworfene Subjekt oder Objekt. Zum Glück handelt es sich in der Panoramatapete um einen unterworfenen Baum, der die amerikanische Wildnis repräsentiert, und nicht um die ‚besiegten Indianer‘. Das Land, das den französischen Siedlern in Alabama zugesprochen wurde, war nämlich erst kurz zuvor den Red Sticks, einer Fraktion der Muskogee-Indianer, abgenommen worden, nachdem General Andrew Jackson sie in der Schlacht am Horseshoe Bend (27. März 1814) besiegt hatte.8 Dessen ungeachtet wird die Landschaft weder vom Typus des ‚besiegten Indianers‘ noch von jenem des ‚Edlen Wilden‘ bevölkert. Die abgebildeten Ureinwohner passen wohl eher auf eine Pariser Bühne.
6
Emmanuel de Grouchy, 2ème Marquis de Grouchy (1766–1847). Napoleon er-
nannte Grouchy während der Herrschaft der Hundert Tage zum Marschall, doch diese letzte Beförderung durch den scheidenden Kaiser blieb während der gesamten Restaurationszeit umstritten. Der Marschall selbst hat die amerikanischen Kolonien nicht besucht, doch sein Sohn Victor Grouchy (1796–1864) ging mit Lefebvre-Desnouettes nach Alabama. 7 Nicolai Cikovski, Jr., „‚The Ravages of the Axe‘. The Meaning of the Tree Stump in Nineteenth-Century American Art“, in: Art Bulletin 61, Dezember 1979, S. 611–626. 8 Die Red Sticks erlitten eine vernichtende Niederlage. Mehr als 800 Krieger fielen, die meisten stürzten in den Tallapoosa River. Jackson zwang die überlebenden Häuptlinge im Vertrag von Fort Jackson zur Kapitulation. Für die Einstellung der Kriegshandlungen mussten die Muskogee ca. 81.000 Quadratkilometer Land abtreten, darunter auch jenen Teil Alabamas, der 1817 französischen Siedlern zugesprochen wurde.
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H i s t o ri s c h e r Ko n t e x t : Na p o l e o n ve r ka u f t L o u i s i a n a an die USA Es war einer der Zufälle der Geschichte, die eigentlich gar keine Zufälle sind, dass Fultons Paris-Aufenthalt zu Beginn der Herrschaft Napoleons mit dem Verkauf der französischen Kolonie „La Louisiane“ an die USA zusammenfiel (1802/03). Kurz nach der Unterzeichnung des Vertrags mit Napoleon Bonaparte durch den späteren US-Präsidenten James Monroe und den New Yorker Richter Robert R. Livingston erhielt Livingston Besuch von seinem Bruder Edward, der ihn dem anderen Robert (Fulton) vorstellte. Fulton hatte gerade das Urheberrecht an den Panoramen verkauft und finanzierte mit einem Teil des Honorars seine Experimente mit dem Unterseeboot Nautilus. Der amerikanische Erfinder des Panoramas war bei den Parisern nun noch beliebter geworden, denn sie durften kostenlos den Fahrversuchen der Nautilus auf der Seine zusehen.9 Napoleon bewunderte die Erfindung, versagte ihr aber seine Unterstützung. Fulton und die Gebrüder Livingston machten sich daraufhin zu Teilhabern einer Dampfschiff- und Torpedogesellschaft. Das Dreigespann verließ Paris mit dem Plan, in den Vereinigten Staaten ein Dampfschiffmonopol zu errichten. Obwohl Monroe und Robert Livingston Anwälte waren und Livingston zudem ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann, fehlte im Vertrag der ‚naiven Amerikaner‘ mit dem weitaus gerisseneren und skrupelloseren Napoleon eine Klausel, die festlegte, wo Louisiana im Westen enden sollte. Der ‚Gelegenheitskauf‘ ließ die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko also offen und machte den Konflikt zwischen den Nachbarn unvermeidlich. Es ist einer dieser geschichtlichen Zufälle, dass genau in dieser Region die Kolonie Champ d’Asile entstehen sollte! Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Texas die nordöstlichste Provinz Mexikos und Mexiko als nördlichster Staat des Vizekönigreichs Neuspanien ein eifersüchtig bewachter Besitz der spanischen Krone. Napoleon Bonaparte gelang es durch geschickte Schachzüge, den spanischen Anspruch auf Louisiana auszuschalten. Kurz nachdem er Kaiser geworden war, setzte Napoleon 1808 anstelle des Bourbonenkönigs Karl IV. seinen Bruder Joseph auf den spanischen Thron. Es kam zum 9
Heute erinnert eine Inschrift an die Stelle am Kai, wo Napoleon mit Regierungs-
beamten stand, um die Vorführung von Fultons Unterseeboot zu beobachten.
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Volksaufstand mit blutigen Folgen. Der Konflikt Frankreichs mit Spanien – oder vielmehr der Konflikt Napoleons mit allen europäischen Monarchien – überquerte den Atlantik und erreichte die spanischen Kolonien. Vielerorts kamen Unabhängigkeitsbewegungen auf, die sich erst wieder beruhigten, als Napoleon nach St. Helena verbannt wurde. Das Fehlen einer klaren Grenze zwischen Louisiana und Texas sowie der Machtverlust Spaniens in seinen amerikanischen Kolonien (aufgrund der vorübergehenden Besetzung Spaniens durch französische Truppen) führten zu erhöhten territorialen Spannungen zwischen den USA und Spanien. Nach der Schlacht bei Waterloo kam es fast gleichzeitig zur Restauration der Bourbonenmonarchie in Frankreich und Spanien. Politische und ökonomische Flüchtlinge strömten nach Amerika. Manche ließen sich in den umstrittenen Gebieten in Texas nieder, andere drangen weiter nach Süden vor, wo sie sich den Unabhängigkeitsbewegungen in den spanischen Kolonien anschlossen. Sie setzten damit die Theorie in die Welt, dass Champ d’Asile als Ausgangsbasis für den Versuch gedient haben könnte, Napoleon aus der Verbannung auf St. Helena zurückzuholen. Kann ein dekorativer, idealisierender Wandschmuck diese Zeit gewaltsamer Veränderungen und Grenzverschiebungen widerspiegeln? Man sucht vergeblich nach Anzeichen tatsächlicher Kampfhandlungen. Stattdessen illustriert die tapezierte Pastorale mit den soldats-laboureurs einen vergessenen, nichtsdestoweniger bedeutsamen historischen Moment, als es nach Waterloo zur Restauration der Bourbonen (1815–1830) kam und die Royalisten viele Bonapartisten vertrieben – von denen so mancher in die französischen Kolonien in Amerika floh, wie die Panoramatapete für die Nachwelt dokumentiert. Abgesehen von Berichten aus der Feder von Missionaren und Offizieren hatte Texas damals das erste Kapitel seiner eigenen Geschichte noch nicht geschrieben. Die nicht ausgebildeten Einwanderer aus Spanien überließen das Lesen und Schreiben den Priestern und Amtsschreibern, deren Zahl außerordentlich gering war. Diese führten Buch über Geburten, Taufen, Hochzeiten und Todesfälle, mehr konnte man nicht erwarten. Als die protestantischen Neuankömmlinge in den 1830er Jahren begannen, ihre eigene Geschichte aufzuzeichnen, hatten sie wenig Interesse an der gescheiterten Kolonie katholischer Franzosen aus dem Jahr 1818. Champ d’Asile überdauerte nur wenige Monate und hinterließ keine Spuren. Mexikanische Soldaten hatten die bereits seit
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Wochen verlassene Ansiedlung entdeckt und die Holzpalisaden niedergebrannt. Mexiko – dem Texas noch immer angehörte – entglitt der spanischen Kontrolle zum Teil auch deshalb, weil die französischen Kolonien bewiesen hatten, wie schwer das Territorium zu verteidigen war. (Spanien hatte Florida den USA überlassen, die im Gegenzug versprachen, ihre Ansprüche auf Texas aufzugeben.) Um 1830 änderte sich die politische Lage zu beiden Seiten des Atlantiks. Verbannte Franzosen durften aus Amerika in die Heimat zurückkehren. Angloamerikanische Siedler strömten nach Texas. Die Republik Texas spaltete sich 1836 von Mexiko ab und wurde 1845 ein Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Internationale Konflikte und Bürgerkriege überschatteten die Erinnerung an Champ d’Asile. Die Ansiedlung fiel dem geschichtlichen – wenn auch nicht dem literarischen – Vergessen anheim. Ein einziger Schriftsteller, Honoré de Balzac, befasste sich 1842 in seiner Comédie humaine mit den soziopolitischen Fragen, die die kurzlebige Faszination der Pariser mit Champ d’Asile in den Jahren 1818 und 1819 aufwarf.10 Balzac bezeichnet die Figur des soldat-laboureur als „jenes große Sinnbild von Napoleons und seiner Helden Schicksal, das schließlich mehrere Operetten hervorbrachte“. Besonders interessant ist die Anmerkung: „Noch heute findet man ‚Soldaten als Landwirte‘ in der tiefsten Provinz auf den Tapeten.“11
10
Balzacs Sammlung La Comédie humaine umfasst beinahe 100 Romane, deren Hand-
lung in der Zeit von 1815 bis 1848 spielt, in die auch die Ereignisse der Panoramatapete fallen. La Rabouilleuse (Ein Junggesellenheim) gehört einer Gruppe von drei Romanen über das Leben in der Provinz an. Die drei unter dem Titel Les Célibataires (Die Ehelosen) zusammengefassten Bände untersuchen die Auswirkungen des Junggesellendaseins auf das individuelle Leben in der Gesellschaft. Im Mittelpunkt von La Rabouilleuse steht die Beziehung zwischen zwei Brüdern. Philippe Bridau, der Bösewicht des Romans und eine der verkommensten Figuren der gesamten Comédie humaine, wird Siedler in Champ d’Asile. 11
Honoré de Balzac, Ein Junggesellenheim, Leipzig 1908, S. 56. Seit seiner Erstaus-
gabe 1841 und seiner ersten Veröffentlichung als illustrierter Fortsetzungsroman 1842 in La Presse erschien La Rabouilleuse in Hunderten Ausgaben und vielen Sprachen. Sowohl der französische als auch der deutsche Titel wurde mehrmals geändert. Neben La Rabouilleuse existieren unter anderem die Titel Les deux frères, Un ménage de garçon en province und Les Célibataires beziehungsweise Ein Junggesellenheim, Junggesellenwirtschaft, Die Krebsfischerin und Die Fischerin im Trüben.
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B a l z a c s ‚ S o l d a t a l s L a n dw i r t‘ Der schriftliche Hinweis auf die „französische Tapete“ findet sich in Balzacs Roman La Rabouilleuse, der Teil der Comédie humaine ist und der sich mit dem Konflikt zwischen Royalisten und der liberalen Opposition in der Restaurationszeit auseinandersetzt.12 Philippe Bridau, der pathologische Bösewicht der Erzählung, war einer der soldats-laboureurs, die das Champ-d’Asile-Debakel miterlebten. In einem bemerkenswerten Exkurs schildert Balzac, wie weitverbreitet der Typus des ‚Soldaten als Landwirt‘ geworden war, denn eine andere Romanfigur entgegnet Bridau: „Aber Sie waren doch noch ein wenig jung, um ‚Soldat als Landwirt‘ zu werden.“ Balzac erklärt die Ironie dieser Bemerkung: „Die Bitterkeit dieses Scherzes können nur die verstehen, die sich der Sintflut von Kupferstichen, Wandschirmen, Uhren, Bronzen und Gipsabgüssen erinnern, die der Gedanke des ‚Soldaten als Landwirt‘ zur Folge hatte, jenes große Sinnbild von Napoleons und seiner Helden Schicksal, das schließlich mehrere Operetten hervorbrachte.13 Dieser Gedanke hat mindestens eine Million abgeworfen. Noch heute findet man ‚Soldaten als Landwirte‘ in der tiefsten Provinz auf den Tapeten.“ 14 Der Bauernsoldat ist bei Balzac eine Erscheinung der Vergangenheit, die zum Zeitpunkt der Entstehung von La Rabouilleuse offenbar bereits aus der Mode gekommen war. Doch noch in einem Vaudeville von Théophile Marion Dumersan (1780–1849) aus dem Jahr 1821 singt der heldenhafte 12
Rabouillage ist ein schwer übersetzbarer Begriff aus Mittelfrankreich. Er bezieht
sich auf ein Verfahren beim Fischfang, wobei eine Person stromaufwärts mit einem Stab auf das Wasser schlägt, um Fische oder Krebse aufzuscheuchen. Balzac gab der Ausgabe von 1842 den Titel La Rabouilleuse, der sich auf eine Frau bezieht. Den meisten Übersetzungen des Titels entgeht die soziale Metapher, die durch den Akt der rabouillage angedeutet wird. Vgl. www.cnrtl.fr/definition/rabouiller (2.11.2012). 13
Mehrere Melodramen (hier als Operetten bezeichnet) trugen den Titel Le Sol-
dat-laboureur. Zu den belegten Vorstellungen zwischen 1819 und 1823 zählen: anonym, Mimodrame, Théâtre du Cirque Olympique; Le Soldat-laboureur, 1819; Henri Franconi und Louis Portelette Ponet, Le Soldat-fermier, ou le bon seigneur; dies., Le Soldat-laboureur, 1821; Francis d’Allarde, Nicolas Brazier und Théophile Dumersan, Les Moissoneurs de la Beauce ou le Soldat-laboureur, 1821; Marie Emmanuel de Lambert und Armand d’Artois, Le Laboureur ou Tout pour le Roi, tout pour la France, 1823. Vgl. das Kapitel „Le vaudeville militaro-agrarien“ in: de Puymège 1993 (wie Anm. 3), S. 68–85. 14 Balzac 1908 (wie Anm. 11), S. 56.
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soldat-laboureur fröhlich von seiner Rückkehr zur Scholle, um für Frau und Mutter zu sorgen. Im letzten Couplet plädiert er dafür, die Bauernsoldaten wieder in die französische Gesellschaft einzugliedern. Der Held Francœur (Franzosenherz!) tritt vor und singt: „Ich habe Ruhm und Frieden erobert. Nachdem ich mich ohne Furcht und Reue in die Gefahr gestürzt habe, kehre ich zurück und lege meine Waffen nieder.“ Francœur zeigt seine leeren Hände: „Nach dem Getümmel der Schlacht bestelle ich nun das geliebte Land [...] dieser Landmann streckt dir die Arme entgegen. Es wird ihn doch keiner im eigenen Land als Feind empfangen.“ 15 Zumindest ein Spezialist für die Geschichte Alabamas zog die Möglichkeit in Erwägung, dass unsere Panoramatapete als Kulisse für eben dieses Vaudeville-Stück gedient haben könnte.16 Ein genaues Studium des Texts schließt diese Zuschreibung aus, nicht jedoch die Relevanz von Balzacs Erwähnung der Tapeten mit Bauernsoldaten „in der tiefsten Provinz“.
D e ko n s t r u k t i o n d e r Hyb ri d i t ä t – f r a n z ö s i s c h e Ko l o n i e n i n A m e ri ka Die eingangs erwähnten Aufschriften „Aigleville“ und „Marengo“ auf den Holzschildern und „Champ d’Asile“ und „French Colony“ auf den Flaggen weisen darauf hin, dass die Szenen auf der Tapete jene beiden Kolonien abbilden, die französische Einwanderer nach Waterloo in den amerikanischen Territorien Alabama (1817) und Texas (1818) gründeten. Dort bezeichnete man sie pauschal als Bonapartisten, was nicht immer zutreffend war, wie Saugera anmerkt: „Nicht wenige der militärischen und zivilen Gegner der Bourbonen wurden tatsächlich des Landes verwiesen, weil sie während der Herrschaft der 15 16
Zit. n. de Puymège 1993 (wie Anm. 3), S. 68–85. Strode 1938 (wie Anm. 1), S. 18–21, S. 55.
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Hundert Tage dem Kaiser zu Hilfe geeilt waren. Doch eine weitaus größere Zahl zog es vor, vorübergehend oder dauerhaft auszuwandern, als unter einem verhassten oder unfähigen Regime zu leben, das keine Zukunft versprach. Der bonapartistische Offizier, der wegen seiner Taten oder seiner politischen Einstellung floh, ist der Baum, der den Wald von Arbeitern und Händlern verbirgt, die in erster Linie von wirtschaftlichen Überlegungen getrieben waren.“ 17 Die soldats-laboureurs hatten Schwerter gegen Pflugscharen getauscht und sich mit ihren Waffenbrüdern als Pioniere versucht. Leider verstanden sie nur wenig vom Landbau und noch weniger vom Leben in der Wildnis. In der Zwischenzeit bildete sich in Paris eine Koalition gegen die wiedereingesetzte Monarchie. Liberale, Bonapartisten und Orléanisten lehnten König Ludwig XVIII. ab, dem fremde Truppen den Thron sicherten, während der französische Soldat vor dem Nichts stand. Um der Verhaftung zu entgehen, leisteten sie indirekten Widerstand, etwa indem sie eine subscription, eine Spendensammlung für die beiden amerikanischen Kolonien organisierten, wo „Soldaten des Pflugs“ das biblische Gebot, „ihre Schwerter zu Pflugscharen“ zu machen, erfüllten.18 Die Namen der Spender wurden in der populären Oppositionszeitung Minerve française veröffentlicht. Binnen kurzer Zeit entwickelten sich in der Kunst der Restaurationszeit zwei entgegengesetzte Charaktere des Bauernsoldaten – ein glücklicher und ein unglücklicher. Als Vorbild diente der römische Adlige und Staatsmann Lucius Quinctius Cincinnatus, der 458 und 439 v. Chr. zum Diktator ernannt worden war. Seine Amtszeit sollte ursprünglich sechs Monate dauern, er besiegte aber die Feinde in 16 Tagen und legte daraufhin sein Amt nieder, um zu seiner Familie und zur Feldarbeit zurückzukehren. Sein zurückhaltender Umgang mit der politischen und militärischen Macht machte Cincinnatus zu einem Symbol bürgerlicher und ländlicher Tugenden. Neue Popularität erreichte sein Beispiel, als General George Washington gegen den Widerstand seiner Parteigänger, die ihn auf unbestimmte Zeit im Amt halten wollten, als Präsident der Vereinigten Staaten zurücktrat, um sich auf seinem Landgut zur Ruhe zu setzen. Gemeinsam
17 Eric Saugera, Reborn in America. French Exiles and Refugees in the United States and the Vine and Olive Adventure, 1815–1865, Tuscaloosa 2011, S. 373. 18 Mi 4,3.
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mit Offizierskollegen aus der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gründete er den Orden Society of the Cincinnati. Einer französischen Assoziation dieser Bruderschaft gehörten Offiziere wie La Fayette und Rochambeau an, die an der Seite Washingtons gekämpft hatten. Verständlicherweise bestand während der Restauration die Hoffnung, dass viele Waffengefährten Napoleons dem Vorbild Washingtons und nicht jenem des abgedankten Kaisers folgen würden. In einer fast komisch anmutenden Geste versuchte Napoleon sogar selbst, auf der Insel St. Helena in die Fußstapfen Cincinnatus’ und Washingtons zu treten, indem er einen Pflug an ein Ochsengespann schirrte und eine Furche zog. Obwohl es nur bei diesem einen Versuch blieb, sind mehrere Lithografien erhalten, die den ehemaligen Kaiser beim Pflügen zeigen. Ob er bei dieser praktischen Aneignung des Cincinnatus-Motivs glücklich war, ist nicht überliefert. Zeitgleich mit der Geburt des glücklichen Veteranen oder Bauernsoldaten nach dem Vorbild Cincinnatus’ erschienen Kupferstiche, die das Leben in den amerikanischen Kolonien illustrierten und reiches Quellenmaterial für eine Bonapartist Utopia lieferten. Alle soldats-laboureurs in Texas und Alabama gehören der fleißigen, fröhlichen Spezies an, während die des traurigen Cincinnatus ausschließlich in Frankreich beheimatet ist. Dieser schwermütige Landmann, der in die Betrachtung von Totenschädeln und anderen Relikten vergangener Kriege versunken ist, erinnert an Vergils Georgica: „Siehe, dereinst wird kommen der Tag, da in jenen Bezirken, / Mit gebogenem Pfluge die Erd’ aufrüttend, der Landmann / Römische Speer’ auswühlt, vom schartigen Roste zernaget, / Oder mit schwerem Karst hohlklingende Helme hervorschlägt, / Und die großen Gebein’ anstaunt aus durchhöhleten Gräbern.“ 19 In der Manier eines Jacques-Louis David oder Théodore Géricault wandten französische Künstler solche klassischen Sujets auf zeitgenössische Themen an, wie es der Geschmack des Publikums und die staatliche
19 „Des Publius Virgilus Maro Landbau. Vier Gesänge“, in: Des Publius Virgilus Maro ländliche Gedichte, Bd. 3, Altona 1800, S. 43. Lateinisches Original: „Scilicet et tempus veniet, cum finibus illism / agricola, incurvo terram molitus aratro / exesa inveniet scabra robigine pila, / aut gravibus rastris galeas pulsabit inanis, / grandiaque effossis mirabitur ossa sepulcris.“
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Zensur verlangten. So greift die Bildunterschrift des Drucks Le Soldat Cultivateur (1818) Vergils Bild auf und verwandelt die letzte Ruhestatt der römischen Soldaten in „die Gräber der glorreichen Leiber unserer tapferen Krieger“. Sie „zerbröckeln unter seinem Tritt und ihre Gebeine rollen in seine Furchen“.20 Wir haben keinen siegreichen Feldherrn vor uns, der sich auf seinem Landgut mit seiner Familie vereint, wie es Cincinnatus oder George Washington vormachten. Der Waterloo-Veteran als Landwirt trägt einen Bauernkittel und sinniert über den Tod. In seiner nächsten Inkarnation oder besser Visualisierung wandert dieser traurige Cincinnatus nach Texas aus, wo er am harmonischen Leben mit der Natur gesundet. Der amerikanische soldat-laboureur ist damit eine Personifikation der Ideale von Jean-Jacques Rousseau.21 Das Vaterland (la patrie), argumentiert Rousseau, kenne keine Untertanen wie der Herrschaftsbereich eines Fürsten, in dem dessen Rechtshoheit gilt. Auch der Handel, der Reichtum schafft, beschneide die Freiheit. Nur der Landbau schaffe daher die Unabhängigkeit, die Rousseau als einzigen Garanten der Freiheit versteht, und nur die allgemeine Wehrpflicht könne Bauern und Soldaten gleiche Rechte und damit Frieden, Freiheit und Wohlstand gewährleisten. Der Bauernsoldat in Texas oder Alabama, der mit seinen Waffenbrüdern ein sicheres Vauban’sches Gemeinwesen anlegt, gehört dieser glücklichen Variante an. Folgerichtig geben sich die soldats-laboureurs, die auf der Panoramatapete vor säuberlichen Heuhaufen abgebildet sind, landwirtschaftlichen Tätigkeiten wie Roden oder Ackerbau hin. Sie erfüllen damit die Erwartungen der amerikanischen Regierung, die französischen Einwanderern im Jahr 1817 Landstriche in Alabama für den Anbau von Wein und Oliven überließ. Franzosen, die sich bereits länger in Amerika aufhielten, gesellten sich zu den Bonapartisten – die Großzügigkeit der amerikanischen Regierung ausnutzend, die vielleicht von ihrer Abneigung gegen die Staats-
20
„Quand le Cultivateur, dans des jours plus tranquilles, / Viendra rouvrir le sein de
ces plaines fertiles, / Le fer de sa charrue, à ses regards surpris, / Découvrira soudain de funestes débris: / Des casques mutilés, des dards rongés de rouille / De nos braves guerriers glorieuse dépouille: / Il verra leurs tombeaux sous ses pas s’écrouler / Et parmi les sillons leurs ossements rouler.“ Les Géorgiques de Virgile, traduites en vers français par Abbé Jacques Delille, avec les notes et les variantes, Bd. 1, Paris 1818, S. 77. 21 Die Society of the Cincinnati, nach dem langen Unabhängigkeitskrieg in der neuen Republik gegründet, übertrug offenbar Traditionen von der ‚Alten Welt‘ auf die ‚Neue‘. Vgl. Athanassaglou-Kallmyer 1986 (wie Anm. 3), S. 65–75.
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form der Monarchie oder von ihrem Mitleid mit politischen Flüchtlingen motiviert war. Sicherlich beabsichtigten die US-Gesetzgeber auch, die Dienste dieser kampferfahrenen Veteranen in Anspruch zu nehmen, falls es zum Krieg mit England oder Spanien kommen sollte. Letzteres wurde angesichts der unbestimmten Westgrenze Louisianas, deren vertragliche Sicherung 15 Jahre nach dem Kauf weiter auf sich warten ließ, immer wahrscheinlicher. Vertriebene des Sklavenaufstands in Saint-Domingue, französische Siedler aus Kuba, Waterloo-Veteranen und Einwanderer, die in Amerika ein besseres Leben suchten, gründeten also gemeinsam die French Emigrant Association, die auf dem unbesiedelten, ihr als Schenkung zugesprochenen Teil des Alabama-Territoriums eine „Vine and Olive Colony“ namens Demopolis plante. Nach ersten Rodungsarbeiten musste der Standort 1819 allerdings um wenige Meilen verlegt werden. Diese zweite, Aigleville genannte Ansiedlung ist stolz auf der Panoramatapete abgebildet. In Frankreich erschienen tendenziöse (und oft erfundene) Berichte über Aigleville, die die Erinnerung an die imperiale Vergangenheit wachrufen sollten. Mittlerweile ist Aigleville verschwunden, doch in der heutigen Stadt Demopolis in Marengo County gemahnen Inschriften an die Siedler, deren wenige Nachfahren in den Schmelztiegel der amerikanischen Gesellschaft eingegliedert wurden. Zur gleichen Zeit, als die Kolonie in Alabama Fuß fasste, führte der französische General Charles Lallemand (1774–1839), als Kommandant der kaiserlichen Kavallerie bei Waterloo in absentia verurteilt, einen fast nur aus Männern bestehenden Zug nach Texas. Dort angekommen errichteten sie in einem Gebiet, dessen Zugehörigkeit zu den USA oder zu Spanien seit dem Louisiana Purchase umstritten war, auf eigene Faust ein Asyl für heimatlose Soldaten: das bereits erwähnte Champ d’Asile, das auf der Tapete glückliche soldats-laboureurs bevölkern.
(A n t i - ) Roya l i s t i s c h e P ro p ag a n d a m a s c h i n e ri e u n d re p u b l i ka n i s c h e Ut o p i e Oppositionelle Künstler in Frankreich nahmen praktisch nur dann von der legalen „Wein- und Olivenkolonie“ in Alabama Notiz, wenn Druckblätter erschienen, die für die Ansiedlungen warben. Als wichtige historische Quelle für das kurze Intermezzo französischer Siedlungspolitik in der Geschichte Texas’ gilt das Buch Le Texas der nach Hause
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zurückgekehrten Kolonisten Louis Hartmann und Jean-Baptiste Millard.22 Zwischen 1818 und 1827 schufen darüber hinaus Pariser Künstler, die in der Welt herumgekommen waren (wenn auch nicht bis Amerika), fantasievolle Darstellungen der Kolonien, angereichert mit Beobachtungen von eigenen Reisen. So entstand ein Inventar von Bildformeln, aus dem der anonyme Erfinder der Panoramatapete schöpfen konnte. Das im Umlauf befindliche Druckmaterial war propagandistischer Natur, da alle Zeitungen und Blätter von politischen Gruppierungen kontrolliert wurden. Berichte in Affaires étrangères, dem Organ royalistischer Einwanderer in den USA, zeichneten ein völlig anderes Bild als jene des Oppositionsblatts Minerve française. Da es während der gesamten Restaurationszeit zu keiner Annäherung der politischen Lager kam, müssen alle künstlerischen Schöpfungen der Ära unter dem Vorzeichen ihrer Parteizugehörigkeit bewertet werden und sind damit Ausdruck einer tief gespaltenen Nation. Zweck der ersten Werbeblätter dieses Genres (1818) war es, Siedler anzulocken. Selbst nachdem Ende 1819 in Paris bekannt wurde, dass die Kolonie gescheitert war, ließen die Drucke, die unter anderem als Vorlage für die Bildtapete dienten, nicht davon ab, das paradiesische Siedlerdasein zu verherrlichen, wohl um eine utopische Vision aufrechtzuerhalten, die dem einfachen französischen Bürger abhanden gekommen war.23 Die antibourbonische Opposition erkannte bald, dass der Topos vom verlorenen Paradies gut in ihren Plan passte, die Schuld am Fehlschlag der bonapartistischen Kolonie in Texas den Bourbonen in die Schuhe zu schieben. Arkadische Siedlerszenen wurden mit einem Begleittext versehen, der die Wiedervereinigung der Vertriebenen glorifizierte. Die Gegner der Restauration hofften wohl, solche Idealbilder könnten sowohl auf Seiten der royalistischen als auch der liberalen Opposition Sympathien erwecken, vielleicht sogar bei manchen Royalisten, die ja am eigenen Leib erfahren hatten, was es hieß, aus dem geliebten Vaterland vertrieben zu werden. Es bedurfte einer Politik, die eine gemeinsame Gefühlsbasis ansprach, um alle Männer, die für Frankreich Blut und Leben geopfert hatten, aus der Verbannung in la patrie zurückzuholen.
22
Louis Hartmann und Jean-Baptiste Millard, Le Texas, ou Notice historique sur le
Champ-d’Asile comprenant tout ce qui s’est passé depuis la formation jusqu’à la dissolution de cette colonie, les causes qui l’ont amenée, et la liste de tous les colons français, Paris 1819. 23 Weiterführende Informationen zu diesem Thema enthält Klier 1993 (wie Anm. 1).
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Die Spendenkampagne Ende 1819 unter der Führung von Benjamin Constants Minerve française übersteigerte die paradiesische Idealität der Kolonie. Die Mär von den napoleonischen Veteranen, die das Himmelreich auf Erden gefunden hatten, schuf die Kulisse, vor der sich die Schuld der Bourbonen am folgenden Zusammenbruch der Siedlerutopie umso schärfer abhob. Hatte die Pariser Opposition konkrete Anhaltspunkte dafür in der Hand, dass die bourbonischen Monarchen für das von der Presse hochgespielte Scheitern der texanischen Kolonie verantwortlich waren? Sie hatte und sie nutzte sie. Bourbonische Könige – Cousins! – regierten Frankreich und Spanien, das in Mexiko immer mehr an Einfluss verlor. Der unbändige Hass der Bourbonen, so lautete die Beweisführung, habe jenseits des Atlantiks in der Gestalt (kolonialer und folglich royalistischer) mexikanischer Soldaten Champ d’Asile, die blühende bonapartistische Niederlassung in der nordöstlichen Provinz Mexikos, zerstört. Das Ende kam also nicht, weil sich die Gemeinde als nicht lebensfähig erwies. In den Augen der Opposition war sie das Opfer eines Komplotts des bourbonischen Hasses, ausgeführt von mexikanischen Handlangern.
Intermedialität oder die Bildquellen der B o n a p a r t i s t - Ut o p i a - B i l d t a p e t e Welche Aspekte dieser höchst politisierten Debatte fanden ihren Niederschlag in der Tapete? Wie sich gezeigt hat, ist deren endgültige Komposition geprägt von assoziationsreichen Begriffen und Bildern, von Erinnerungen und von kulturellen Traditionen. Wort und Schrift verbreiteten Fragmente der kolonialen Narrative in Zeitungen, Romanen und Gedichten, da reine Textpassagen häufig der Zensur entgingen. Dessen ungeachtet gehen die Schlüsselszenen der Tapete auf Paare von Kupferstichen zurück, die Texas und Alabama darstellen sollen. Sie wurden von zwei Pariser Künstlern und Druckgrafikern geschaffen: Ludwig Rullmann (1765–1822), einem in Bremen gebürtigen Porträtmaler, und Ambroise Louis Garneray (1783–1857), einem französischen Marinemaler mit dem Künstlernamen Yerenrag. Die Stiche verschmelzen historische Figuren, Landschafts- und Architekturelemente und Landkarten zu einer glaubhaften Komposition, in deren Form und Aufbau die unsichtbare Hand des Festungsbaumeisters Sébastien Le Prestre de Vauban (1633–1707) am Werk ist (Abb. 4).
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Abb. 4 Ambroise Louis Garneray (del.), Deuxième Vue d’Aigleville, Colonie du Texas ou Champ d’Asile, 1820
Napoleon und seine Zeitgenossen verehrten Vauban. Napoleons Aufstieg begann mit einem Sieg gegen die Engländer bei Toulon, dessen Hafen nach Plänen des großen Schanzmeisters befestigt worden war. Ingenieure in Amerika und Frankreich studierten Vaubans Baupläne und Schlachtstrategien. Die Grande Armée benutzte sie zur Eroberung Europas. Garneray – kein Ingenieur, aber ein Künstler und Seemann, der nach Ende der Feindseligkeiten ‚gestrandet‘ war – hatte eine Mappe mit Kupferstichen begonnen und ergriff die Gelegenheit, erneut die Segel zu setzen, um Ansichten der französischen Küstenstädte anzufertigen. Ludwig XIV. hatte Vauban mehr als 100 Jahre zuvor den Auftrag erteilt, die Küste des Ärmelkanals zu befestigen. Garneray skizzierte die Wehranlagen und kehrte nach Paris zurück, um sein Bildmaterial zu stechen. Dort erhielt er vermutlich den bezahlten Auftrag, Werbedrucke für ein Buch über Champ d’Asile zu produzieren. Noch bevor Garnerays Veduten
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in Paris erschienen, tauchten Vauban’sche Befestigungen, die er im Hafen von Saint-Malo studiert hatte, wie von Zauberhand versetzt in einem Fantasiebild der texanischen Kolonie auf. Von dort ‚übersiedelten‘ sie auf die Tapete.24 In dem Buch Le Texas findet sich ein einziger Hinweis auf die Vortrefflichkeit der Wehranlagen von Champ d’Asile, die „streng den Regeln der Baulehre und Baukunst entsprechen und nicht einmal von den Befestigungen des berühmten Vauban oder der besten Schanzmeister unserer Zeit übertroffen werden“.25 Auch andere Elemente aus den Stichen Garnerays und aus einer Illustration zum Roman Paul et Virginie wurden fast unverändert in die „französische Tapete“ übertragen. Freimütige Anleihen bei anderen Künstlern waren in der Bilderproduktion dieser Epoche, die noch kein Urheberrecht kannte, gang und gäbe. So bediente sich zum Beispiel der Grafiker, der für die Tapetenmanufaktur Dufour den Roman Paul et Virginie illustrierte, der beliebten Stiche von Frédéric-Jean Schall. Bruchstücke davon wurden etwas weniger direkt als Garnerays Forts auf die Tapete transponiert (Abb. 5 & 6). Manche Konturen blieben gleich, andere erscheinen verändert oder seitenverkehrt. So ist die Frauengruppe aus Paul et Virginie in umgekehrter Reihenfolge auf der Bonapartist Utopia, zu Füßen eines Baumes wiedergegeben, an dem ein Schild mit der Aufschrift „Aigleville“ befestigt ist – im Mittelgrund dahinter ein Wall Vauban’scher Bauart. Die drei Damen lauschen dem Gespräch zwischen einem französischen General und einem Ingenieur, die für den Bau der Wehranlagen der Kolonie verantwortlich sind. Der mit einem Winkelmesser vor der Karte kniende Ingenieur hat seinen Vorahnen in einem Yerenrag-Stich, was belegt, dass auch Garneray sich keine intertextuelle oder interikonische Referenz entgehen ließ (Abb. 7). Die kniende Figur zeichnet bei ihm eine Karte von Le Camp retranché des Français, die 1819 in dem anonymen Roman L’Héroïne du Texas erschien. Das umstrittenste Element befindet sich jedoch nicht im Bild, sondern in dessen Unterschrift, die meldet, die Siedler hätten gerade begonnen, das Leben zu genießen, als „die Spanier anmarschierten und sie vertrieben“.26 24 Die zuverlässigste Quelle zum Leben und Werk Garnerays ist Laurent Manœuvre, Louis Garneray 1783–1857. Peintre, Ecrivain, Aventurier, Arcueil 1997. 25
„Les principes de l’art avaient été strictement observés, et les fortifications élevées
par le célèbre Vauban, ou par les meilleurs officiers du génie de notre temps n’offraient rien de mieux.“ Hartmann und Millard 1819 (wie Anm. 22), S. 40. 26
First View of Aigleville Texas Colony or Champ d’Asile, lizensiert: 8. April 1820, No. 225.
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Abb. 5 Landvermessungsszene aus der Bonapartist-Utopia-Bildtapete
Abb. 6 Manufaktur Dufour, Detail aus der Panoramatapete Paul et Virginie, ca. 1824, Niedersgegen, Schlossgut Petry, in situ
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Abb. 7 Ambroise Louis Garneray (del.), Première Vue d’Aigleville, Colonie du Texas ou Champ d’Asile, 1820
Die ungewöhnliche visuelle Verschmelzung von Aigleville und Champ d’Asile, die – wie eingangs geschildert – die eindeutige Identifikation der Panoramatapete erschwerte, findet jedoch nicht in den Druckgrafiken Garnerays, sondern in den Rullmann-Stichen aus dem Jahr 1819 statt (Abb. 8). Hier steht unter den Porträts dreier bekannter Kolonisten aus Alabama die Ortsangabe „Colonie du Texas“ (Abb. 9). Absichtliche Täuschung oder Irrtum? Dass es sich bei dem Mann, der den Pflug angehalten hat, um Lefebvre-Desnouettes die Hand zu schütteln, um George Strother Gaines (1784–1873), Handelsagent des Choctaw Trading House, handelt, bestätigt Gaines’ auf dem Sterbebett diktierte Autobiografie, die ein halbes Jahrhundert nach den dargestellten Ereignissen erschien. Zeitgenössische Briefe und Dokumente erlauben es, den Jüngling mit relativer Sicherheit als Victor Grouchy zu identifizieren. Grouchy hielt sich vorübergehend mit Lefebvre-Desnouettes in Alabama auf und kehrte über New Orleans nach Paris zurück. Es ist wahrscheinlich, dass er seiner Mutter Skizzen mitbrachte, die Arsène Lacarrière Latour (1778– 1837), ein Freund Edward Livingstons und der abgebildeten Persön-
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Die Bonapartist-Utopia-Bildtapete
Abb. 8 Ludwig Rullmann (del.), Charles Etienne Pierre Motte (imp.), Les Lauriers seuls y croîtront sans culture, 1819
lichkeiten, in Alabama angefertigt hatte. Madame Grouchy könnte die Bilder in den liberalen Kreisen, in denen sie verkehrte, herumgereicht haben. Demnach wäre es vorstellbar, dass die Vignetten der Bildtapete als Aufzeichnungen begannen, die ein Ingenieur sur place und en plein air in Alabama zu Papier brachte. Diese wurden dann zunächst nach New Orleans und später per Schiff nach Paris gebracht, wo sie als Vorlagen für Kupferstiche und diese wiederum für einen Wanddekor dienten. Ein Jahrhundert verging, ehe die Bonapartist-Utopia-Bildtapete ihren Weg zurück nach Alabama fand, wo sie heute 100 Meilen von Aigleville entfernt in einem Museum hängt. Meine Analyse behandelt die beiden Stiche als einheitliche Komposition, die durch eine Szene im Mittelgrund – die baumfällenden Veteranen – verbunden wird. Der Künstler, der dieses Bildmaterial zur Panoramatapete collagierte, teilte das Rullmann’sche Tableau, um Erfindungen aus Yerenrags Champ d’Asile einzufügen. Bei Rullmann bilden die Einzelszenen eine konzeptuelle, synchrone Einheit. Seine Darstellung eines Moments im Leben echter Menschen verliert in ihrer ‚künstlerischen
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Abb. 9 Ludwig Rullmann (del.), Charles Etienne Pierre Motte (imp.), Colonie du Texas, 1819
Ausschlachtung‘ (als Rohstoff für die Tapete) allerdings an historischer Wahrheit, denn sie enthält nun eine geografische Anomalie – die Vauban’schen Befestigungen der texanischen Kolonie 1.000 Meilen weiter westwärts. Dem Künstler geht es hierbei jedoch nicht um topografische Genauigkeit. Das gilt auch für die beiden Druckpaare, die sich in ihrer Behandlung von Ort und Zeit unterscheiden. Rullmanns Momentaufnahme kontrastiert mit Yerenrags visueller Erfassung des geschichtlichen Zeitverlaufs, die unterschiedliche Bauphasen der Kolonie dokumentiert. Alle vier Drucke liefern damit das motivische Repertoire für die Panoramatapete, die die eigenständige künstlerische Schöpfung eines bisher unbekannten Dekorationsmalers ist. Von historischen Überlegungen abgesehen ist es wahrscheinlich, dass auch Rullmann seine beiden Bilder als einheitliche Szene oder zumindest als breit angelegtes, in zwei Teile zerfallendes Panorama begriff. Die Heuhaufen im Mittelgrund, ungefähr gleich hoch und zu beiden Seiten gleich weit von der zentralen Baumgruppe entfernt, symbolisieren die erfolgreiche Landnahme der französischen Kolonisten in Amerika, die der Kreis-
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lauf Roden – Pflanzen – Ernten unterstreicht. Kompositionell bilden beide Drucke also Spiegelbilder (Abb. 8 & 9). Der Mittelgrund des Paars enthält zudem jeweils eine Flagge, die links die Aufschrift „Colonie Française“ und rechts die Aufschrift „Colonie Française du Champ d’Asile“ trägt. Vier Figuren stehen auf einer flachen Anhöhe: drei französische Offiziere mit einem dunkelhäutigen Diener – eine Bildformel der europäischen Kunst. Die Topografie liefert ein Aussichtsplateau, von der Napoleon-ähnliche Akteure das Geschehen dirigieren. Die Erhöhung dieser Figuren über die Sterblichen könnte eine Zukunft andeuten, in der der geliebte Kaiser wieder unter ihnen weilt. In der Zwischenzeit beurteilen sie anerkennend die Fortschritte des kolonialen Werks. Verspielte Hunde, Symbole der Treue, erfüllen den Vordergrund mit Schwung und Bewegung. Die Veteranen umarmen sich in freudiger Kameraderie, fraternité. Emotionalen Ausgleich schafft der nachdenkliche Leser des bonapartistischen Journals Victoires et conquêtes, das hier als Zeichen der treuen Anhängerschaft zu Napoleon und der Grande Armée dient.27 Das Heimweh nach Frankreich verkörpert der weinende Siedler am rechten Bildrand. Insgesamt vereint Rullmanns bonapartistische Utopie historische Persönlichkeiten, Bildquellen, literarische Anspielungen und die bukolische Darstellung des kultivierten und kolonisierten Landes zu einem überzeugenden Ganzen.
Schluss Die Panoramatapete ist übersät mit intermedialen ‚Querschlägern‘ zwischen sprachlichen und visuellen Bildern. Die ‚Munition‘, die die Schöpfer der Kupferstiche gegossen haben, wird zur ikonografischen Ladung des Wandbehangs. Das Kunstwerk und seine Quellen erinnern an die Hinfälligkeit von Geschichte und die dem Zufall überlassene Entscheidung darüber, welche Objekte und historischen Ereignisse weitertradiert werden und welche nicht. Politisch angereicherte Fragmente 27 Victoires et conquêtes war ein Almanach von Umrissradierungen, der die glorreichsten Siege der Grande Armée zwischen 1792 und 1815 verherrlichte. Er galt als Zeichen der Treue zum gestürzten Kaiser. Für genauere Angaben siehe Jacques Philippe Voïart, Monumens des victoires et conquêtes des Français. Recueil de tous les objets d’arts, arcs de triomphe, colonnes, bas-reliefs, routes, canaux, tableaux, statues, médailles, consacrés à célébrer les victoires des Français de 1792 à 1815, Paris 1822.
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unterschiedlicher künstlerischer Provenienz wurden zusammengefügt zu einer hochpolitischen Bilderzählung, einem dekorativen ideologischen Exposé der idealen Gemeinschaft französischer Einwanderer in Texas und Alabama. Als die Kunde vom Scheitern der texanischen Kolonie Paris erreichte, brachten Künstler, Journalisten und Verleger der antibourbonischen Opposition Darstellungen bekannter Persönlichkeiten in idyllischer Umgebung in Umlauf. Denn um die Ereignisse politisch ausschlachten zu können, war es zuallererst nötig, die Bevölkerung zu überzeugen, ihre Landsleute hätten in Amerika ein erfolgreiches und glückliches Leben geführt. Selbst als die Ansiedlung längst aufgegeben war, existierten so in den Köpfen der Franzosen noch fleißige Siedler, die die Früchte ihres Schweißes genossen. Mittels dieser Fiktion gelang es der Opposition, die Schuld an der Tragödie der Soldaten, die für die Glorie Frankreichs ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, auf die restaurierte Bourbonenmonarchie (repräsentiert durch den langen spanisch-bourbonischen Arm in Mexiko) abzuwälzen. Die Liberalen weckten Sympathien für die Opfer der bourbonischen Rachsucht und hinterließen der Nachwelt eine verwirrende Vielfalt von Bildern französischer Flüchtlinge im amerikanischen Paradies. So lässt sich zumindest das geografische Rätsel um den Wandschmuck lösen: Die Panoramatapete vermengte Merkmale von Alabama und Texas zu einem bonapartistischen Utopia – bis das Schicksal aus weiter Ferne zuschlug. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Geyer
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Dekor- und Objektgeschichten des Wohnens
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Objektwahl – eine Art von Ästhetik Über ästhetische Wahl und Identitätsbildung
My t h i s c h e M a s c h i n e n Paris hat keine Wahl, er muss wählen. Dabei weiß er von vornherein, dass er sich unbeliebt machen wird. Zeus hatte es so verfügt. Aphrodite, Athene und Hera versuchen, Paris zu bestechen. Aphrodite bietet am meisten. Weil sie ihm die schönste Frau verspricht, Helena, reicht Paris ihr den goldenen Apfel mit der Aufschrift: „Für die Schönste“ oder „Die Schönste nehme ihn“.1 Warum soll gerade Paris wählen? Weil er selbst der Schönste ist? Erzählt wird lediglich, dass Eris, die Göttin der Zwietracht, die zu einer Hochzeit nicht eingeladen war, den goldenen Apfel „mit der unglückbringenden Inschrift“ in die Runde der Gäste kullern ließ und daraufhin ein Streit unter den drei genannten Göttinnen entbrannte.2 Niemand, selbst Zeus nicht, wollte ihn schlichten, so wurde der Zankapfel an Paris weitergegeben. Ist das Paris-Urteil ein Geschmacksurteil? Nach Kants Definition nicht. Denn es beruht nicht auf interesselosem Wohlgefallen, sondern auf Bestechung. Paris vergibt den Apfel aufgrund dessen, was ihm versprochen wurde. Athene bot ihm Kriegsglück an und dass er „der berühmteste und künstlichste unter allen Menschen werden sollte“,3 Hera versprach 1
Zur variantenreichen Überlieferung des Paris-Mythos vgl. Der Kleine Pauly. Lexikon
der Antike, Bd. 4, München 1979, Sp. 514–516. 2
Zu Eris vgl. Der Kleine Pauly, Bd. 2, Sp. 359–360. Zitat von Karl Philipp Moritz,
„Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten“, in: ders., Werke, Bd. 2, hrsg. von Horst Günter, Frankfurt am Main 1981, S. 806. 3
Benjamin Hederich, Gründliches Mythologisches Lexikon, Nachdruck der Ausgabe
von 1770, Darmstadt 1996, Sp. 1886.
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Objektwahl – eine Art von Ästhetik
ihm Macht und Reichtümer. Beide Angebote verwarf er zugunsten der Liebe „des schönsten Weibes auf Erden“, die ihm von Aphrodite versprochen wurde. Die Wahl ist eine heikle Sache, und am Ende führt sie gar zu Krieg, zum Trojanischen Krieg. Eine andere Wahl: Um Porcia heiraten zu dürfen, muss der Bewerber die richtige Wahl zwischen drei Kästchen treffen. Dies hatte ihr verstorbener Vater verfügt. Im Gespräch mit ihrer Freundin Nerissa beklagt sich Porcia: „O me, the word ‚choose‘! I may neither choose whom I would nor refuse whom I dislike; so is the will of a living daughter curbed by the will of a dead father.“ 4 Auch sie hat keine Wahl. Weder Ja noch Nein darf sie sagen. Die Verwerfung von Möglichkeiten hat einen durchaus positiven Aspekt. Nein sagen zu können zu etwas, das einem missfällt, stellt ein wesentliches Element der Freiheit dar. Nerissa antwortet, dass Porcia der Weisheit ihres Vaters vertrauen solle: „[T]herefore the lottery that he hath devised in these three chests of gold, silver, and lead, whereof who chooses his meaning chooses you, will, no doubt, never be chosen by any rightly but one who you shall rightly love.“ 5 Die Fürsorge von Porcias Vater bestand darin, seine schöne, kluge und reiche Tochter weder dem blinden Begehren anderer noch ihrem eigenen Begehren auszuliefern. In Kenntnis der Paris-Geschichte wusste er, dass die Ablehnung von Bewerbern auch gefährlich sein kann. Deshalb hat er eine Wahrheitsmaschine ersonnen, die nicht nur väterliches Urteil und Rat ersetzen soll, sondern die Ablehnung der Bewerber auf sie selbst zurücklenkt.6 Die Wahl zwischen den Kästchen offenbart das Wesen des Wählers, sie zeigt sein Inneres, so wie auch die Wahrheit der Kästchen in ihrem Innern liegt. Das sichtbare Äußere der Kästchen ist ein Rätsel, das durch ihr zunächst unsichtbares Inneres 4 William Shakespeare, „The Merchant of Venice“, I, 2, zit. n. The Complete Works of William Shakespeare, London 1978. 5 Ebd. 6 Außerdem hat Porcias Vater durch die Vorschrift, dass, wer das falsche Kästchen wähle, auf Heirat für immer verzichten müsse, die Zahl der Bewerber von vornherein eingeschränkt.
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gelöst wird. Sie sind beschriftet, und zwar in der Form, dass sie von sich selbst reden.7 Die Inschrift des goldenen gibt an: „Who chooseth me shall gain what many men desire.“ Das silberne verspricht: „Who chooseth me shall get as much as he deserves.“ Und das bleierne warnt: „Who chooseth me must give and hazard all he hath.“ Die semantische Asymmetrie der Aussagen deutet auf das richtige Kästchen, denn nur die letzte bezeichnet eine echte Tauschbeziehung: Wer das Blei wählt, muss alles geben und wagen, was er hat. Die Wahl des Goldes verspricht Gewinn, des Silbers Verdienst – ohne Gegenleistung. Die falschen Bewerber verstehen nicht, dass nicht ihre Klugheit, sondern ihre Bereitschaft, nicht ihr Kopf, sondern ihr Herz geprüft wird. Wer seine Entscheidung getroffen hat, darf das gewählte Kästchen öffnen. Das Rätsel wird gelöst und ein Urteil gesprochen. Dies übernimmt wiederum das Kästchen mittels eines sprechenden Bildes. Das bleierne Kästchen enthält das Porträt Porcias, das goldene einen Totenkopf, das silberne ein Narrenbild – jeweils Spiegelbilder des Wählenden, wie durch die beigegebenen Texte deutlich gemacht wird. Die Kombination von Materialsemantik, von Aufschrift, Bild und erläuterndem Text, die Dreigliedrigkeit, die Form des Behälters, der – zuerst geschlossen, dann geöffnet – ein zeitlich gestaffeltes Sprechen des Objekts erlaubt, dies alles sind Merkmale der mit viel Geschick ersonnenen Maschine, die ihre Arbeit mit größter Präzision und gutem Erfolg verrichtet. Porcia kann ihrem Vater dankbar sein. Paris dagegen hat kaum einen Grund zu Dankbarkeit. Sein Verhängnis, das seiner Familie und der Stadt, aus der er stammt, beginnt nicht erst mit dem Überreichen des Apfels an Aphrodite, die ihm die Gegnerschaft der beiden verschmähten Göttinnen zuzieht.8 Es entrollt sich, seit Eris von der Teilnahme an der Hochzeit des Peleus und der Thetis ausgeschlossen wurde.9 Dafür rächt sie sich auf erfinderische Weise. Der
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Zu solchen „Werkaussagen“ von Artefakten vgl. Horst Bredekamp, Theorie des
Bildakts, Berlin 2010, insb. S. 57–67. 8
Karl Philipp Moritz schreibt: „[V]on dieser Zeit an hegten Juno und Minerva nicht
nur gegen den Paris, sondern gegen das ganze Haus des Priamus einen tiefen Groll im Busen“, Moritz 1981 (wie Anm. 2), S. 823. – Hom. Il. XXIV, 25–30, spricht vom „Frevel“ des Paris gegen die Göttinnen. 9 Nach anderer Überlieferung war der Krieg von Zeus veranlasst worden. Dass ihr Sohn Troja entflammen würde, träumte Paris’ Mutter schon, als sie mit ihm schwanger war. Deshalb wurde er auf dem Berg Ida ausgesetzt, aber wie auch bei Ödipus nahm das Schicksal trotzdem seinen Lauf.
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goldene Apfel gerät überraschend unter die Gäste, eine machina ex dea, und erzwingt durch seine Aufschrift eine Festlegung, nach der bis dahin gar nicht gefragt worden war. Sind nicht Aphrodite, Athene und Hera auf verschiedene Weise gleich schön? Eris nützt ebenso wie Porcias Vater neben der Schmiedekunst auch den Logos (genauer: Wort, Grammatik und Schrift), um ihre Maschine genau auf Erreichung ihres perfiden Ziels einzustellen. Weil der Apfel sagt, er gehöre „der Schönsten“, weil er also die Besitzzuweisung an einen Superlativ koppelt, löst er einen olympischen Wettstreit aus, der im Gegensatz zu sportlichen und musischen agones nicht durch Leistungsmessung entschieden werden kann. Deshalb delegiert Zeus die Entscheidung an den unschuldigen Schafhirten Paris, der prompt in die Sündenbock-Falle geht.
Gesellschaftsdesign. Ästhetische Praxis und ä s t h e t i s c h e T h e o ri e a m E n d e d e s 1 8 . Ja h r h u n d e r t s Die hier vorgebrachten Überlegungen zur ästhetischen Wahl werden im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts zur ‚Geschmackspolitik‘ angestellt, in dem ich untersuche, wie am Ende des 18. Jahrhunderts der Geschmack zum Medium gesellschaftlicher Interessensverteilungen und zum Gegenstand staatlicher Reglementierung wird.10 Ebenso wie ‚Bildung‘ bezeichnet ‚Geschmack‘ ein Feld von Kenntnissen, Fähigkeiten und Vereinbarungen, die von höfischer Kultiviertheit abgeleitet sind, aber neue Funktionen10erhalten, als sie vom Bürgertum angeeignet werden.11 Dazu gehören nicht nur der beflissene Umgang mit Kunst, das Streben nach Bildung, das Bemühen um eine Theorie des Schönen, sondern auch eine zunehmende Ästhetisierung des Alltagslebens. Sie beginnt in den Städten und schafft eine Verbindung von Teilen des urbanen Raums, von Plätzen und Promenaden, zu öffentlichen Innenräumen und zum privaten Raum als einer Bühne der bürgerlichen Gesellschaft. Darin erhalten auch die Objekte, mit denen der Bürger sich umgibt, Klei-
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Die Ergebnisse sollen unter dem Titel Geschmackspolitik. Klassizismus zwischen
Konsumkultur und Geschichtsphilosophie. Die Berliner Akademie der Künste 1786–1815 voraussichtlich 2015 publiziert werden. 11 Olivier Assouly, Le capitalisme esthétique. Essai sur l’industrialisation du goût, Paris 2008, S. 15–36, Kap. „Le régime aristocratique du goût“.
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Philibert-Louis Debucourt, L’Orange, ou le moderne Jugement de Paris, 1801
dung, Accessoires, Möbel, Bucheinbände, Tafelgeschirr und Kutschen, ihre ästhetische Rolle. Dieser Vorgang ist schon oft im Allgemeinen beschrieben, seltener als konsistenter Prozess im Ganzen beobachtet und analysiert worden.12 Ausgangspunkt meines Forschungsprojekts ist die Geschichte der Berliner Akademie der Schönen Künste und Mechanischen Wissenschaften in der Zeit um 1800, deren 1786 begonnene Reform damit begründet wurde, dass durch sie der gute Geschmack in Preußen gefördert werden sollte. Das 1790 erlassene Statut der Akademie definiert als ihr erstes Ziel die Förderung der Produktion von Konsumartikeln im Wettbewerb mit anderen Nationen. Gleichzeitig wird der Akademie die Aufgabe übertragen, in Sachen des Geschmacks Normen aufzustellen 12
Eine überblicksartige Darstellung bei Michael North, Genuss und Glück des Lebens.
Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln u. a. 2003; Daniel Purdy, The Tyranny of Elegance. Consumer Cosmopolitanism in the Era of Goethe, Baltimore 1998, beschreibt die Rolle des deutschen Zeitschriftenmarkts für die Verbreitung der Alltagsästhetik des Klassizismus; Ingeborg Cleve, Geschmack, Kunst und Konsum. Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik in Frankreich und Württemberg (1805–1845), Göttingen 1996, erarbeitet an archivalischen Quellen die Lenkung des Konsums durch Geschmackserziehung.
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und ihre Einhaltung zu kontrollieren.13 1818 äußert sich Karl Friedrich Schinkel ganz in diesem Sinn: „Eine Akademie soll auf’s Allgemeine wirksam sein, sie soll Geschmacklosigkeit verdrängen, wahren Sinn für Kunst aufschliessen, Urtheil entstehen lassen, kurz die Veredelung des Volks herbeiführen. Eine Kunstakademie soll gewissermaßen als eine große Staatswerkstatt betrachtet werden, welche dazu eingerichtet ist, die Bedürfnisse, Zwecke, die Handlungen des Staats zu schmücken und veredeln.“ 14 Die Förderung des Kunsthandwerks und die Verbindung mit dem Manufakturwesen werden im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts von allen europäischen Akademien und Kunstschulen angestrebt. In Berlin wird die Idee relativ spät aufgegriffen, dann aber umso nachdrücklicher und systematischer umgesetzt. Die Arbeit der Berliner Akademie ist durch einen immensen Aktenbestand detailliert dokumentiert.15 Durch meine jahrelange systematische Auswertung dieser Archivalien kann ich die Umsetzung des Förderprogramms über 30 Jahre hinweg verfolgen. In dieser Zeit – vor der Einrichtung eines Kultusministeriums in Preußen – war die Akademie als staatliche Institution für das Ästhetische im Staat zuständig und koordinierte, kontrollierte oder beeinflusste die praktische und theoretische Beschäftigung mit Kunst, Handwerk, Wirtschaft, Kunsttheorie und Kunsterziehung in ganz Preußen. Durch verbesserte Ausbildung, durch die Schaffung von Strukturen zur Qualitätssicherung, durch Subventionen, Förderung technologischer Innovation und Gewäh-
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Reglement für die Akademie der bildenden Kuenste und mechanischen Wissenschaften
zu Berlin, Berlin [1790]: „Da nun der Endzweck dieses Instituts dahin gehet, daß es auf der einen Seite zum Flor der Künste sowohl überhaupt beitrage, als insbesondere den vaterländischen Kunstfleiß erwecke, befördere, und durch Einfluß auf Manufakturen und Gewerbe dergestalt veredele, daß einheimische Künstler in geschmackvollen Arbeiten jeder Art den auswärtigen nicht ferner nachstehen; auf der andern Seite aber diese Akademie als eine hohe Schule für die bildenden Künste sich in sich selber immer mehr vervollkommne, um in Sachen des Geschmacks, deren Beurtheilung ihr obliegt, durch vorzügliche Kunstwerke jeder Art selbst Muster seyn zu können.“ 14 Zit. n. Friedrich Eggers, „Denkschrift über eine Gesammt-Organisation der Kunst-Angelegenheiten“, in: Deutsches Kunstblatt 2, 31, 1852, S. 242. 15
In ca. 500 Akten (ca. 40.000 Blatt, angelegt in der Zeit von 1786 bis 1809/10),
davon der größte Teil in 415 Akten in der Repositur I. HA Rep. 76 alt III im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz.
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rung von Urheberschutz gelang innerhalb kurzer Zeit die Etablierung erfolgreicher Manufakturen, deren hochwertige Kunsthandwerksprodukte mit denen aus Paris und London konkurrieren konnten.16 Was meint die Rede vom guten Geschmack in diesem Zusammenhang? Weitaus mehr als nur ästhetisches Urteilsvermögen. Zunächst geht es um die Einführung und Verbreitung der Idee von Design, also von geplanter Gestaltung. Zwar benutzte man den Begriff noch nicht, aber vom Zeichnen, disegno, ist in den Quellen allenthalben die Rede, und die Frage, welche Handwerke und Berufe vom Zeichnen profitieren könnten, wird immer wieder diskutiert. „Durch die Erlernung [der Zeichenkunst] wird der Geschmack am schnellsten gebildet und verbessert.“17 Die Systematisierung der Gestaltung sollte auch zu effizienterem Arbeiten führen. Zeichnen helfe, den Zweck einer Arbeit und „die kürzesten Wege“ dahin zu verstehen: „[O]ft bringt [der Handwerker] mehr an, als zum Zwecke nöthig ist; (z. B. Schweifungen, Schnörkeleyen, Verkröpfungen und dergleichen mehr, was er als Dinge ansieht, die ein Werk verschönern sollen). Er kann also Zeit gewinnen, wenn er seine Arbeit gründlich lernt.“ 18 Solche Bemerkungen richteten sich nicht nur gegen das Beharren auf Arbeitsmethoden, wie sie von den Zünften tradiert wurden, sie sprachen auch eine stilistische Präferenz für die bereinigten Formen des Klassizismus 16
Außer den staatlichen Manufakturen für Porzellan (KPM) und Eisenguss sind
z. B. die Bronzewarenmanufaktur Werner & Mieth, der Ofenhersteller Feilner, der Innenausstatter Louis Catel, die Möbelmanufaktur von Friedrich Wichmann zu nennen, vgl. die Studien von Mathias Hahn, Der Einfluß der Geschmacksdiskussion und der von der Akademie betriebenen Handwerkerschulung auf die Dekorationsmalerei zwischen 1780 und 1820, in: www.berliner-klassik.de/publikationen/werkvertraege/hahn_dekorationsmalerei/ dekorationsm.html, 2001 (17.7.2013); ders., Schauplatz der Moderne. Berlin um 1800 – ein topographischer Wegweiser, Hannover 2009; Achim Stiegel, Berliner Möbelkunst. Vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München 2003; Jan Mende, Die Tonwarenfabrik Tobias Chr. Feilner in Berlin. Kunst und Industrie im Zeitalter Schinkels, München 2013; und die Beiträge in: Die Königsstadt. Stadtraum und Wohnräume in Berlin um 1800, hrsg. von Claudia Sedlarz, Hannover 2008. 17 Eine kompakte Zusammenfassung aller Argumente, die für das Zeichnen hervorgebracht wurden, und ihrer Anwendung auf die einzelnen Gewerke findet sich in einer Schrift des Leiters der von der Berliner Akademie initiierten Magdeburger Provinzialkunstschule, Johann Adam Breysig, „Über den Nutzen und die Nothwendigkeit der Zeichenkunst“, in: ders., Skizzen, Gedanken, Entwürfe, Umrisse, Versuche, Studien, die bildenden Künste betreffend, Magdeburg 1800, S. 3–41, hier S. 4. 18 Ebd., S. 6–7.
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aus. Wie Karlheinz Stierle formuliert hat, ist der Klassizismus die „Konkretisation“ des Geschmacks: „Die klassizistische Kunst ist eine Kunst des Geschmacks, der Geschmack ist das ästhetische Wahrnehmungsvermögen klassizistischer Kunst.“19 Und Stierle fährt fort, mit Kant und seinen Vorläufern, den englisch-schottischen Moral- und Sozialphilosophen, zu erklären: „Geschmack ist ästhetischer Gemeinsinn. Er ist nicht nur ein Vermögen ästhetischer Wahrnehmung, sondern der ästhetischen Bezugsetzung.“20 Der pädagogische Aspekt der Akademiereform beschränkt sich deshalb nicht auf die Produzenten von Kunst und Handwerk, sondern zielt auch auf die Rezipienten ab. Die durch die Akademie betriebene ästhetische Erziehung will mehr als nur ein Kunstpublikum, sie will eine ästhetische Öffentlichkeit erzeugen, die sich sowohl kritisch als auch interessiert verhält – nicht nur in Bezug auf die Kunstobjekte, sondern auch in Bezug auf sich selbst. Kritisch verhält sich, wer Urteilskriterien findet und anwendet; interessiert, wer sich auf etwas einlässt und dazu in Kontakt tritt. In den Kategorien der ästhetischen Theorie ist die eine Tätigkeit dem Verstand, die andere den Sinnen zugeordnet. Die drei Autoren, deren Ausführungen zu einer Autonomie-Ästhetik den Beginn eines modernen Kunstverständnisses markieren, Karl Philipp Moritz, Immanuel Kant und Friedrich Schiller, haben sich jeweils unterschiedlich zu Fragen Angewandter Kunst und zur Mode geäußert: Kant nur beiläufig, Schiller recht systematisch, Moritz eher aphoristisch, aber von Amts wegen.21 Er, der als Erster den Autonomiegedanken formuliert hat und schon früh sowohl mit Kant als auch mit Schiller in Kontakt stand, war nach einem zweijährigen Italienaufenthalt seit 1789 an der Berliner Kunstakademie als Professor der Theorie der Schönen Künste und Altertumskunde angestellt.22 Moritz’ ästhetische Gedanken, gerade
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Karlheinz Stierle, „Geschmack und Interesse. Zwei Grundbegriffe des Klassizismus“,
in: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von Herbert Beck, Peter C. Bol und Eva Maek-Gerard, Berlin 1984, S. 75–85, hier S. 78. 20 Ebd. 21 Gernot Böhme, Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt am Main 1999, ist den in die Kritik der Urteilskraft eingestreuten Bemerkungen Kants zur zeitgenössischen Gebrauchsästhetik ausführlich nachgegangen. 22 Zur ästhetischen Theorie Moritz’ im Kontext berlinischen Denkens vgl. IwanMichelangelo D’Aprile, Die schöne Republik. Ästhetische Moderne in Berlin im ausgehenden 18. Jahrhundert, Tübingen 2006, und Cord F. Berghahn, Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck, Heidelberg 2012.
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diejenigen zur Angewandten Kunst, sind in direkter Auseinandersetzung mit Künstlern und Architekten entstanden, mit denen er sich in Rom und Berlin austauschte. Der Kernsatz von Moritz’ Autonomietheorie, „Das Kunstwerk ist in sich selbst vollendet“, besagt, dass ein Werk allein schon aufgrund seiner Gegenständlichkeit oder Dinghaftigkeit eine eigene Semantik besitzt.23 Moritz’ strukturelles und ausgeprägt raumbezogenes Denken benennt Qualitäten, die ansonsten inkommensurable Dinge auf eine Ebene stellen. Eine Kategorie, mit der er häufig operiert, ist das Abgegrenztsein, das eine Entität definiert: „Isoliren, aus der Masse sondern, ist die immerwährende Beschäftigung des Menschen, er mag als Eroberer die Grenzen seines Gebiets um Meere und Länder herziehen – oder aus dem Marmorblock eine in sich vollendete Bildung hervortreten lassen. / Aller Reiz der Dichtung beruht auf diesem Isoliren, Aussondern aus dem Ganzen, und darin, daß dem Isolirten ein eigener Schwerpunkt gegeben wird, wodurch es sich selbst wieder zu einem Ganzen bildet.“ 24 Von hier aus erschließt sich ein Zusammenhang zwischen der Linientheorie des Designs, der Ornamentlehre und der Autonomie-Ästhetik mit moralischen und phänomenologischen Themen, wenn etwa Moritz die Beschaffenheit der natürlichen Umrisse durchdekliniert: „[D]er Mensch scheidet sich durch die genaueste Bestimmtheit seiner Umrisse von allem, was ihn umgibt – er unterscheidet sich von seiner nächsten Umgebung, von der Bedeckung, die er selber erst um sich zieht“, der Umriss der Tiere sei durch das Fell weniger deutlich definiert, Bäume durch eine grobe Rinde abgegrenzt, die von ihrer „inneren Natur am wenigsten durchschimmern lässt“.25 An anderer Stelle wendet Moritz dieselbe Idee auf den Wohnraum an, der nicht nur Schutz, sondern auch Rahmung des privaten Lebens bietet:
23
Karl Philipp Moritz, „Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten“, in: Berlinische
Monatsschrift 5, 3, 1785, S. 225–236, zit. n. dems., Schriften zur Ästhetik und Poetik, hrsg. von Hans Joachim Schrimpf, Tübingen 1962, S. 3. 24
Karl Philipp Moritz, „Vom Isoliren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt“,
in: Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin 2, 3, 1789, S. 66–69, zit. n. Moritz 1962 (wie Anm. 23), S. 116. 25 Ebd.
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Objektwahl – eine Art von Ästhetik
„Der Begriff von Wohnung, Haus oder Obdach führt schon so viele dunkle Nebenbegriffe von Sicherheit, Ruhe, Geselligkeit, Beschützung u. s. w. mit sich, daß die Seele dadurch beständig mit einer Reihe angenehmer Bilder erfüllt wird, so oft man sich diesen Begriff lebhaft denkt. / Das Haus, die Wohnung knüpft schon an sich das Band zwischen den Menschen fester, und ist gleichsam der erste Keim zu den größten menschlichen Verbindungen.“ 26 Gesellschaft entsteht für Moritz also von innen nach außen, sie wächst aus dem privaten in den öffentlichen Bereich. Die Wohnung ist aber der Ort, an dem Menschen nicht nur eine enge Verbindung miteinander, sondern auch mit Gebrauchsgegenständen eingehen. Für ein Verständnis der ästhetischen Aufladung des Raums im Klassizismus ist es wichtig zu verfolgen, wie diese Gegenstände die bedeutungsvolle Grenze zwischen Außen- und Innenraum passieren. Der Prozess beginnt mit dem Überschlag von einer kritischen zu einer interessierten Haltung gegenüber einem bestimmten Objekt. Kritisches Urteil verwandelt sich in Wahl, das ästhetische Objekt zur Ware. Es wird gekauft und in Besitz genommen, Nähe und Zugehörigkeit entstehen. Es gelangt von einem öffentlichen Raum (dem Marktplatz, dem Laden, der Werkstatt) in den Privatbereich des neuen Besitzers und teilt diesen Raum mit ihm und anderen Gegenständen, die ihm gehören – man bedenke den Wortsinn von ‚Interesse‘. Die Tätigkeiten des Auswählens und Zusammenstellens der Objekte, für die jemand sich so sehr interessiert, dass er sie in sein Haus holt, sind auch gestaltende Tätigkeiten. Sie sind im Geschmacksbegriff ebenfalls angesprochen: Die Gestaltung des eigenen Raums und des eigenen Ansehens erfolgt durch die Aneignung und Kombination von Objekten, mit denen man seinen Geschmack sichtbar macht. So wie in der zeitgenössischen Auffassung von Ästhetik das Geschmacksurteil zwischen Subjekt und Gemeinsinn vermittelt, so vermittelt der Moment der Objektwahl zwischen dem, was der zeitgenössische Stil zur Verfügung stellt und den individuellen Vorlieben. Nicht nur im Klassizismus. Die eingangs besprochenen paradigmatischen Wahlsituationen helfen, den Mechanismus der ästhetischen Wahl besser zu verstehen.
26
Karl Philipp Moritz: „Häussliche Glückseeligkeit – Genuss der schönen Natur“,
in: Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen, Berlin 1786, S. 150–153, zit. n. Moritz 1962 (wie Anm. 23), S. 33.
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Wa re n s e e l e u n d ä s t h e t i s c h e r S c h e i n In seinen vergnüglich zu lesenden Ausführungen über Ware und Geld spricht Karl Marx ironisch von einer Wert- oder Warenseele und meint damit die Eigenschaft der Ware als Tauschwert und Äquivalent der in ihre Produktion geflossenen Arbeitskraft.27 Das tertium comparationis ist die Unsichtbarkeit des Tauschwerts, der gleichwohl das Wesen der Ware ausmacht. Der Gebrauchswert dagegen ist nicht Gegenstand der Marx’schen Erörterungen, denn „soweit sie [die Ware, C. S.] ein Gebrauchswert ist, ist nichts Mysteriöses an ihr“.28 Der – weitaus weniger ironisch gemeinte – Ausdruck ‚Warenfetisch‘ bezieht sich auf die Hypostasierung des gesellschaftlichen Werts der Arbeit in der Ware, impliziert aber alle Weiterungen, die dann von Wolfgang Fritz Haug in seiner auf der Marx’schen Analyse aufbauenden Erörterung der Warenästhetik besprochen wurden.29 Vor Haug hat schon Walter Benjamin sich mit dem Zustand der Ware als Objekt des Begehrens, als ästhetisches Objekt auseinandergesetzt und die Marx’sche Begriffsbildung zitiert. Er schreibt über das Verhältnis des Flaneurs zu den Waren: Beide seien der Menschenmenge in den Metropolen preisgegeben. Die Menge sei das Rauschmittel dieser Preisgegebenen, des Flaneurs, aber mehr noch der Ware. Benjamin vergleicht die feilgebotenen Waren mit Prostituierten und spricht von der einfühlsamen Warenseele, die sich den potenziellen Käufern in „Hand und Haus [...] schmiegen will“.30 Am mannigfachen Begehrtwerden berauscht sich in Benjamins Baudelaire-Interpretation die Ware. Wenn der Leser auch
27 Marx redet vom Rock als Produkt der Schneiderarbeit, der aus Leinwand als Produkt der Webarbeit besteht: „Trotz seiner zugeknöpften Erscheinung hat die Leinwand in ihm die stammverwandte schöne Wertseele erkannt“, Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II.10, hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1991, S. 53 (Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 66). 28
Ebd., I.1.4, S. 85.
29 Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Frankfurt am Main 2009. Zur immanenten Marx’schen Ästhetik vgl. Terry Eagleton, Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart/Weimar 1994, S. 204–242, und zu einer affirmativeren Analyse des Konsums Wolfgang Ullrich, Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt am Main 2006. 30
Walter Benjamin, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapita-
lismus“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, S. 511−653, hier S. 558.
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den Eindruck haben könnte, dass eher Benjamin sich an der Imagination solchen Berauschtseins berauscht, ist doch der Erkenntnis zuzustimmen, dass das urbane Leben sich um die Ware drehe und diese das „ungenannte Subjekt“ eines „religiösen Rauschzustands der Großstädte“ sei.31 Dieser Rausch ist weitaus stärker als die ungefährliche „milde Narkose“ durch Kunstgenuss, in die sich zu versetzen Sigmund Freud als eine der möglichen Maßnahmen sieht, um im Rahmen einer „Libidoökonomie“ vorübergehend der unangenehmen Realität zu entfliehen.32 Ein großer Teil unangenehmer Realität steht aber mit dem Rausch der Warenökonomie in ursächlichem Zusammenhang, wie Marx in aller Schärfe gezeigt hat und auch Benjamins Baudelaire weiß: Der Flaneur sieht die „schreckliche gesellschaftliche Wirklichkeit“ von Ausbeutung und Armut, aber die Anwesenheit der Masse macht sie erträglich, sie sorgt sogar dafür, „dass das Grauenhafte auf ihn bezaubernd wirkt“.33 Zu Hause aber, in Abwesenheit der Masse, können dem Einzelnen die Dinge Trost spenden, vorausgesetzt, das Begehren ist gestillt und sie sind in seinen Besitz übergegangen.34 Sie suggerieren Geborgenheit und Beständigkeit. Die Objektwahl als Kaufakt führt also vom wollüstigen Voyeurismus angesichts vielfältigster Optionen zu längerfristigen, soliden, sozusagen ehelichen Verhältnissen zwischen Ware und Käufer. Vor der Schwellenüberschreitung, zwischen Warenrausch und Einverleibung in den bürgerlichen Hausstand liegt der Wahlakt. Die Fabeln von Paris und Porcia stellen ihn als Dialog zwischen wählendem Subjekt und den zur Wahl stehenden Objekten dar. In beiden Fällen gerieren die Objekte sich als Subjekte, sie reden, und sie reden meist irreführend: Die einen werben mit Wunscherfüllung, die anderen geben Rätsel auf. Die Werbe-Angebote, mit denen die Göttinnen Paris’ Gunst gewinnen wollen, ließen sich leicht in Bildern darstellen: Athene zeigt Paris zunächst als Kriegshelden und dann als Dichter oder Priester, Hera lässt ihn als Herrscher auf einem Thron sitzen und Aphrodites Vorschlag malt ihn und Helena in Umarmung, am Frühstückstisch, durch die Meeresbrandung tobend. So 31 32
Ebd., S. 559. Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930), in: ders., Studienausgabe,
Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt am Main 2000, S. 191–270, hier S. 212. 33 Benjamin 1980 (wie Anm. 30), S. 562. 34 Siehe Daniel Miller, Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute, Berlin 2010.
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jedenfalls würde Aphrodite in der Gegenwart ihr Versprechen an Paris darstellen, während Athene ihm ein Dasein als kämpferischer Intellektueller und Bestsellerautor, Hera eines als Global Player im Finanzwesen ausmalen würde. Aphrodites Angebot hätte wohl auch heute den größten Erfolg.35 Der Appeal der Liebesgöttin, der andernorts durch den Besitz ihres Gürtels, das heißt eines magischen Extra-Reizes erklärt wird, liegt in ihrer unverstellten Sinnlichkeit.36 Die Schönste ist sie nicht relativ zu den anderen Göttinnen, sondern absolut, denn sie verkörpert das Ideal des Schönen – reine nackte Schönheit, während die Mitbewerberinnen zwar ebenfalls schön, aber darüber hinaus noch klug oder einflussreich sind. So anziehend aber das Sinnlich-Reizvolle ist, führt es am Ende zu nichts Gutem. Das Wunscherfüllungsszenario verschweigt die Folgen. Paris hätte sich mit Herkules austauschen sollen, der am Scheideweg ähnliche Angebote zu prüfen hatte und kritischer zuhörte.37 Paris hingegen wurde von Zeus aufgrund seiner Unschuld zum Schiedsrichter bestimmt. Aber Unschuld gepaart mit Unkenntnis führt zu Naivität. Der naive Schafhirt fällt auf Aphrodites Versprechen herein und damit beginnt eine Kette tragischer Geschicke. Porcias Freier sind nicht naiv, eher zu klug. Der Prinz von Marokko denkt, das Beste sei für ihn gerade gut genug und erhält eine Zurechtweisung darüber, dass das Beste aber nicht auf materieller Ebene zu suchen sei. Der Prinz von Aragon erklärt, er wähle das goldene Kästchen nicht, weil er gelernt habe, sich anders zu verhalten als „die Torenmenge, die nach Scheine wählt, nur lernend, was ein blödes Auge lehrt; die nicht ins Innre dringt“.38 Dennoch muss er sich nach Öffnung des silbernen Käst-
35
Zur wissenschaftlichen Untermauerung kann die Studie von Eva Illouz dienen: Der
Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2003. 36
Zum Gürtel der Aphrodite vgl. Hom. Il. XIV 214–221 und Friedrich Schillers
Interpretation in „Über Anmut und Würde“, in: ders., Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf-Peter Janz u. a., Frankfurt am Main 1992, S. 330–394, hier S. 330–335. 37 Die durch Xenophon überlieferte Fabel berichtet, wie der junge Herkules sich auf einen Berg zurückzieht, um über seine Lebensplanung nachzudenken. Ihm erscheinen Tugend und Wollust, die ihre Konzepte vorstellen und sich gegenseitig kommentieren. Siehe hierzu Erwin Panofsky, Herkules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe, Berlin 1930, zum kulturhistorischen Zusammenhang des Paris- und Herkules-Motivs dort insbesondere S. 59–62. 38 William Shakespeare, The Merchant of Venice, II, 9.
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chens sagen lassen, dass er sich von den Toren, denen er sich überlegen fühlte, nicht unterscheidet: Auch er ist nur ein Narr. Der dritte Freier hingegen, Bassanio, dem die Gunst Porcias von vornherein gehört, wird vor der Wahl durch einen Gesang auf den Verlust hingewiesen, den Sinnenlust durch die Zeit erleidet. „Tell me where is fancy bred, / or in the heart or in the head? / How begot how nourished? / Reply, reply. / It is engender’d in the eyes, / with gazing fed; and fancy dies / In the cradle where it lies. / let us all ring fancy’s knell: / I’ll begin it, – Ding, dong, bell.“ 39 Bassanio selbst hält angesichts des goldenen und silbernen Kästchens einen langen Monolog über Äußerlichkeiten: „So may the outward shows be least themselves. / The world is still deceived with ornament.“ Am Ende fühlt er sich vom dritten Kästchen angezogen: „But thou, thou meagre lead, / Which rather threatenest than dost promise aught, / Thy paleness moves me more than eloquence.“40 Die Unscheinbarkeit des Bleis hat ihn also angezogen und das Kästchen bestätigt ihm die richtige Wahl: „You that choose not by the view, chance as fair and choose as true!“ In der Schlegel’schen Übersetzung heißt es folglich treffend: „Ihr, der nicht auf Schein gesehen“.41 Aber wenn nicht vom Schein, wovon war Bassanio dann geleitet? Der Gesang gab den Rat, in das Herz zu schauen, in die Seele. Doch wählt Bassanio nicht blind, sondern er reagiert wie seine Vorgänger auf das Aussehen der Kästchen. Das schlichte Äußere bewegt ihn „mehr als Beredsamkeit“ – womit noch einmal die Analogie zwischen visuellem Schein und werbender Rede, wie sie Paris irreführt, betont wird. Das Rätsel bleibt aber: Wie kann ein Gegenstand überhaupt das Herz berühren, wie führt die Wahrnehmung des Äußeren zu innerer Bewegung? Dies ist letztendlich die Kernfrage der Ästhetik. Für Sigmund Freud sind in seinem Aufsatz über Das Motiv der Kästchenwahl genau jene Verse, die Bassanio über Bleichheit und Stummheit
39 Ebd., III, 2. 40 Ebd. 41 „Der Kaufmann von Venedig“, III, 2, zit. n. William Shakespeare, Sämtliche Werke. Erste Abteilung, Dramatische Werke, Komödien, übersetzt von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, Darmstadt 2005.
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des Bleis spricht, der Schlüssel zu der Erkenntnis, dass hier „eine Wunschverkehrung stattgefunden [hat]“ und eigentlich der Tod gewählt wird. „Wahl steht an der Stelle von Notwendigkeit, von Verhängnis. So überwindet der Mensch den Tod, den er in seinem Denken anerkannt hat. Es ist kein stärkerer Triumph der Wunscherfüllung denkbar. Man wählt dort, wo man in Wirklichkeit dem Zwange gehorcht, und die man wählt, ist nicht die Schreckliche, sondern die Schönste und Begehrenswerteste.“ 42 Marx benutzt den Begriff ‚Warenseele‘, um das Verborgensein des Werts in der Ware zu erklären. Benjamin übernimmt den Begriff; seine Beschreibung der berauschenden Wirkung der Waren richtet sich jedoch auf das Gegenteil des Verborgenseins: auf die Zurschaustellung des Warenkörpers vor der Masse, an der sich die Seele der Ware angeblich berauscht. Beide Autoren schreiben der Ware anthropomorphe Züge zu, um mit dem Gegensatz zwischen Verborgenem und Offenbarem, Innen und Außen, Seele und Leib operieren zu können. In den mythologischen Fabeln führt Paris’ Wahl ins Verderben, weil er sich von Äußerlichkeiten leiten lässt; Bassanio wählt richtig, weil er nach innen schaut. Die den Sinnen zugänglichen Äußerlichkeiten sind veränderlich und gelten deshalb als trügerisch, während im Kern der Dinge eine Wahrheit angenommen wird, zuverlässig wie der Tod oder ewig wie die Seele. Doch bleibt das Innere nicht gänzlich verborgen, sondern besitzt die Kraft, das Äußere zu durchdringen. Wie Moritz formuliert, lässt die glatte Haut des Menschen seine Seele „durchschimmern“. Hegels Definition des ästhetischen Scheins knüpft an dieses Bild an: In der Zusammenfassung Peter Szondis ist für Hegel „das Kunstwerk [...] eine Gestalt, in deren sinnlicher Gegenwart die Idee zum Scheinen kommt – wie die Seele im Körper“.43 Bei Hegel und auch bei Moritz wird nicht nur davon ausgegangen, dass der Körper transparent für die Seele ist, sondern auch davon, dass diese (Ideen-)Seele den (Kunst-)Körper von innen heraus formt. So dachten auch die Physiognomiker, die vom Äußeren eines We-
42
Sigmund Freud, „Das Motiv der Kästchenwahl“ (1913), in: ders., Studienausgabe,
Bd. X: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt am Main 2000, S. 181–193, hier S. 191. 43
Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2,
Frankfurt am Main 1991, S. 359, bezieht sich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 13, Frankfurt am Main 1986, S. 203.
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sens Rückschlüsse auf sein Inneres ziehen wollten. Besonders am Profil eines Menschen meinten sie, seine Identität ablesen zu können.
L i ke ! Wa h l u n d ( b ü rg e r l i c h e ) I d e n t i t ä t Wer heute in den sozialen Netzwerken des World Wide Web ein ‚gefällt mir‘ anklickt, hat eine ästhetische Wahl getroffen, und wenn er diesen Inhalt anschließend auch noch ‚teilt‘, hat er etwas zum ästhetischen Gemeinwohl beigetragen. Er hat außerdem eine Wahlmaschine betätigt, die den Zusammenhang von ästhetischer und politischer Wahl deutlicher macht als in den oben besprochenen Beispielen. Der Abstimmungseffekt der gesammelten ästhetischen Urteile im Netz gleicht dem der politischen Wahl. Die Abstimmung scheint demokratisch zu sein. Gleichzeitig wird durch jeden der Wahlakte das ‚Profil‘ des Nutzers geschärft, das die Maschine von ihm aufzeichnet. Das Profil, die Umrisslinie als Medium des Designs, stand am Beginn der Ästhetisierung des bürgerlichen Staats. Nun zeichnet eine überstaatliche Maschine die Designs ihrer Benutzer auf und erstellt damit Porträts und Profile, die mindestens so wahr sind wie diejenigen, die Porcias Freier in den Kästchen erblicken, denn wie die Kästchenmaschine ermöglicht auch die Netzmaschine einen Blick ins Innere der Benutzer. An den wiederholten ästhetischen Wahlen erkennt sie die Vorlieben und daran die Gesinnung. Aus der Summe aller kontingenten, durch irgendein Interesse oder Begehren ausgelösten Wahlen entsteht ein Profil. Die vielen Wahlakte, die jeweils nur punktuelle Entscheidungen waren, haben so über die Zeit hinweg eine unverwechselbare Spur hinterlassen und bringen die Identität des Wählenden zur Erscheinung.44 Nicht anders verhält es sich mit allen anderen Wahlakten und insbesondere mit solchen, die zur Anschaffung von Gegenständen führen, die im Besitz des Wählenden sichtbar sind. Diese Objekte und die Art ihres Arrangements bilden die Identität ihres Besitzers ab. Auch ohne großes Warenangebot, selbst in Mangelgesellschaften. Dass allerdings die Benutzung des Warenangebots nur der Befriedigung von Kauflust und freien Gestaltung des Selbstausdrucks diene, ist eine Suggestion, 44 Zum Verhältnis von Schein und Erscheinung äußert sich Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000.
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die vergessen lässt, dass Wahlen gesteuert werden.45 Eine Instanz veranlasst die Wahlen und gibt vor, wo, unter welchen Bedingungen und was gewählt werden kann. Im Katalog zur Berliner Akademieausstellung 1814, die nach dem endgültigen Sieg über Napoleon eröffnet wurde, wurde die Geschichte jener Akademie als Teil einer Erfolgsgeschichte des preußischen Staates erzählt. Gepriesen wurden die Errungenschaften im Hinblick auf die Ästhetisierung des öffentlichen Raums, ebenso aber auch die Erfolge bezüglich der Perfektionierung der Wohnkultur in Preußen: „Auch das Innere der Wohnungen fast aller Klassen von Privatpersonen zunächst in Berlin und den größeren Provinzialstädten bieten dem aufmerksamen Beobachter eine Menge der mannigfaltigsten Gegenstände in allen möglichen Materien dar, welche durch die Zweckmäßigkeit, Eleganz und Schönheit ihrer Formen, ihrer Einrichtungen und Vorzüge das gebildete Auge eben so sehr ergötzen, als sie dem Bedürfnisse, was sie erzeugte, entsprechen und wohlthätig zu Hülfe kommen.“ 46 „Diese schöne dem Menschenfreunde und Staatsbürger gleich erfreuliche Erscheinung“ wird gepriesen als das „wundervolle Produkt“ landesväterlicher Sorge und der Anstrengungen der Akademie in den Jahren seit der Reform 1786.47 Innerhalb von einem Vierteljahrhundert war es also gelungen, die preußischen Bürger zu gebildeten Konsumenten zu erziehen. Den Erfolg rechnete die Akademie sich und dem Monarchen zu, der bis 1809 der Akademie direkt vorstand und dem alle programmatischen Entscheidungen vorgelegt wurden.48 Das Ziel einer „Verbesserung des Geschmacks“,
45 Dass möglichst viele Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen in der westlichen Kultur für Freiheit gelten, bestätigen Barry Schwartz, The Paradox of Choice. Why More is Less, New York 2005, und Sheena Iyengar, The Art of Choosing, New York 2010. 46 „Geschichte der Entstehung der königlichen Akademie der Künste und ihrer Schicksale bis auf das Jahr 1806“, in: Verzeichnis derjenigen Kunstwerke welche von der königlichen Akademie der Künste [...] öffentlich ausgestellt sind, Berlin 1814, S. I–LXIV, hier S. LX–LXI, zit. n. Die Kataloge der Berliner Akademie Ausstellungen 1786–1850, Bd. 1, bearbeitet von Helmut Börsch-Supan, Berlin 1971. 47 Ebd., S. LXI. 48
Erst 1809, im Zuge der Preußischen Reformen, wurde die Akademie aus ihrem
immediaten Status gelöst und der neu gegründeten Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts im Innenministerium unterstellt.
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das von der Akademie seit 1786 angestrebt wurde, war erreicht worden. Der Bericht im Katalog hob ausdrücklich nicht nur die verbesserte Warenproduktion hervor, sondern auch die Tatsache, dass diese Produktion bereitwillige Abnehmer fand. Die „mannigfaltigsten Gegenstände“ wurden laut Bericht durch ein „Bedürfnis [...] erzeugt“, mit anderen Worten: Es war eine Nachfrage nach zweckmäßigen und eleganten Gegenständen entstanden. Anders als Wolfgang Ullrich es darstellt, entwickelte sich ein ‚Konsumbürgertum‘ nicht nach dem Bildungsbürgertum, sondern gleichzeitig. Demonstrativer Konsum und Bildung bedingen sich gegenseitig.49 Beide setzen Wissen voraus und streben eine Sichtbarmachung dieses Wissens an. Alles, was unter Bildung subsumiert wird: Lektüre, Konversation, Beschäftigung mit Kunst, Theaterbesuche, diente auch dazu, zum angemessenen Konsum zu erziehen. Konsum seinerseits war nötig, um Bildung zu erlangen und sie auszudrücken. Bücher, Kupferstiche, neu gefertigtes Mobiliar, Kleidung à la mode waren Mittel, sich zu informieren, sich informiert zu zeigen und damit andere über sich zu informieren. Das ausgeprägte Modebewusstsein der Zeit setzte ein ähnliches Wissen voraus wie beispielsweise die Betrachtung eines Historiengemäldes auf einer Akademieausstellung und unter Umständen bedienten sich Schneider und Historienmaler derselben Quellen, nämlich illustrierter Werke über historische und orientalische Gewänder und Trachten. Ähnliches galt für zeitgenössische Möbel und Ziergegenstände. Die neuesten Erzeugnisse des Kunsthandwerks wurden konsequenterweise auf den Ausstellungen der Akademie präsentiert und in Rezensionen regelmäßig besprochen. Der Klassizismus brachte eine Ästhetisierung des Alltagslebens mit sich und generierte einen Identitätsraum für die bürgerliche Gesellschaft. Zitate ‚vaterländischer‘ Formen aus dem deutschen Mittelalter und der Renaissance wurden mit Zitaten aus der Antike kombiniert. Diese historisierende Ästhetik wurde im Auftrag des Staates von gelehrten und künstlerischen Experten gelenkt. Die Monarchen waren verantwortlich für die Ernährung und Erhaltung dieser Expertenkultur, die – zumindest noch im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts – ohne große Aufträge der jeweiligen Höfe sich nicht hätte etablieren können. Doch je genauer der ästhetische Rahmen für die städtische Gesellschaft festgelegt war, desto
49
Vgl. Ullrich 2006 (wie Anm. 29), S. 183–193.
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anspruchsvoller stellte sich für den einzelnen Bürger die Aufgabe dar, sein individuell ästhetisches Verhalten in diesen Rahmen einzupassen. Damit wurde der „Staatsklassizismus“50 zu einer Wahlmaschine. Die bisher beschriebenen Wahlsituationen, sowohl die archetypischen von Paris und von Porcias Verehrern als auch diejenigen, die vom Internet generiert werden, zeichnen sich durch eine dritte Instanz aus, die ein vermeintlich bilaterales Wahlverhältnis konfiguriert, die Subjekte zur Wahl veranlasst und die Semantisierung der Objekte lenkt. Eine solche Instanz oder Maschine war auch der staatlich geförderte Klassizismus, der die ästhetische Wahl zum Instrument bürgerlicher Identitätsbildung machte. Der durch Porcias Vater ersonnene Wahlmechanismus leitete zur Selbsterkenntnis und zur Findung des passenden Bräutigams, während der von Eris ins Spiel gebrachte, durch seine Aufschrift vergiftete Apfel Streit, Krieg und großes Leid verursachte. Die gesteuerte Wahl in der Epoche des Klassizismus umfasst diese Polarität: Einem Teil der Bevölkerung dient sie zum Selbstausdruck und zur Selbstvergewisserung, aber gleichzeitig führt sie zu falschen Versprechen, Verdrängungswettbewerb und Verkennung; im industrialisierten Kapitalismus, der in dieser Zeit seinen Aufschwung nimmt, auch zu mörderischer Ausbeutung und Krieg. Das vermeintlich so freiheitliche und genussvolle Moment des WählenKönnens ist ohne Zwang folglich nicht zu haben: Der Wählende hat keine Wahl, er muss wählen, solange die Maschine es will.
50
Gert Selle, Geschichte des Design in Deutschland, Frankfurt am Main 1994, S. 39.
Selle lässt diese Entwicklung erst mit Schinkel beginnen. Tatsächlich beginnt sie schon ungefähr 10 Jahre bevor Schinkel sein Studium an der Berliner Bauakademie antritt.
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Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘ in der Raumästhetik des Interieurs um 1800 An der Konjunktur der europäischen Arabeskgroteske1 vom Rokoko bis zur Romantik ist augenfällig, dass sie das gesamte Spektrum von der Alltagskultur bis zur hohen Kunst auslotet und zugleich ihre mediale Grenze innerhalb der bildenden Kunst zur Literatur und später dann zur Musik hin überschreitet. Arabesken finden sich in der Dekorationskunst klassizistischer französischer Tapeten von Jean-Baptiste Réveillon, in anspruchsvollen Zyklen der bildenden Kunst wie in Philipp Otto Runges Zeiten, in den populären Märchen der Blauen Bibliothek sowie in hochartifiziellen, romantischen Texten wie dem Goldnen Topf von E. T. A. Hoffmann.2 Das Ausgreifen der Arabeske auf andere Medien macht sie zur beliebten Vermittlerin zwischen Text und Bild. So hat zum
1
Arabeske und Groteske sind einander in der Struktur nahe ästhetische Kategorien
der Ornamentdiskussion seit dem 16. Jahrhundert. Um auf die Austauschbarkeit der Begriffe im Bereich der Zimmerverzierung um 1800 hinzuweisen, verwende ich die Bezeichnung Arabeskgroteske, obwohl – wie Günter Oesterle zeigt – in der Ästhetik dieser Zeit die anmutige Arabeske zur ästhetischen Leitfigur wird. Vgl. Ulrich Schütte, Ordnung und Verzierung. Untersuchungen zur deutschsprachigen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts, Braunschweig/Wiesbaden 1986, S. 134–138; Günter Oesterle, „Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske“, in: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von Herbert Beck und Peter C. Bol, Berlin 1984, S. 120–139, insbes. S. 124. 2
Vgl. Bernard Jacqué (Hrsg.), Les papiers peints en arabesques de la fin du XVIIIe siècle,
Paris 1995; Markus Bertsch, Kosmos Runge, München 2010, S. 119–205; Günter Oesterle, „Arabeske Schrift und Poesie in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldne Topf“, in: Athenäum: Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 1, 1991, S. 69–107, hier auch S. 102 zu der von Friedrich Justin Bertuch herausgegebenen, aus dem Französischen übersetzten und umgeschriebenen Blauen Bibliothek.
201
Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘
Beispiel Clemens Brentano den Maler Philipp Otto Runge gebeten, sein neues Werk Romanzen vom Rosenkranz mit eigenständigen Arabesken zu versehen.3 Die Arabeske entfaltet ihr Potenzial auf je eigene Weise im Rokoko, im Klassizismus und in der Romantik. Im Rokoko nutzt sie ihre Herkunft aus den Groteskornamenten der Renaissance zu raffinierten Wahrnehmungsirritationen.4 Im Klassizismus baut sie die Möglichkeiten aus, die das Spiel von Rand und Zentrum eröffnet.5 In der Romantik, beispielsweise in Friedrich Schlegels Rede über Mythologie, werden ihre produktionsästhetischen, ungewöhnlich witzigen Verbindungs- und Verknüpfungsfähigkeiten genutzt.6 Die Arabeske regt einerseits zu konkreten Produkten an, zeigt sich aber auch theoriefähig, sei es in der Ästhetik der Dekoration bei Christian Ludwig Stieglitz oder hochphilosophisch zum Beispiel in Friedrich Schlegels Brief über den Roman.7 Man könnte sagen, die Arabeske beleuchtet wie durch ein Prisma verschiedenste Momente der Kultur und wird um 1800, so Günter Oesterle, zu einer „ästhetischen Grundkategorie“.8 Man hat in der interdisziplinär ausgerichteten Forschung eine Reihe dieser bildkünstlerischen, kunsttheoretischen und literarischen Formen der Arabeske aufgearbeitet und rekonstruiert.9 Ein kulturwissenschaft-
3 Clemens Brentano an Philipp Otto Runge (21. Januar 1810), in: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 32, hrsg. von Sabine Oehring, Stuttgart 1996, S. 200–215, hier S. 204–207. Hannelore Kersting-Bleyl, „Arabesken“, in: Jean Antoine Watteau. Einschiffung nach 4 Cythera, L’Ile de Cythère, Ausst.-Kat. der Städtischen Galerie im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main 1982, S. 50–54. 5
Günter Oesterle, „Das Faszinosum der Arabeske um 1800“, in: Goethe und das
Zeitalter der Romantik, hrsg. von Walter Hinderer, Würzburg 2002, S. 51–70. 6
Siehe Karl Konrad Polheim, Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels
Poetik, München 1966. 7
Helmut Pfotenhauer, „Klassizismus als Anfang der Moderne? Überlegungen zu
Karl Philipp Moritz und seiner Ornamenttheorie“, in: Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner, hrsg. von Victoria Flemming und Sebastian Schütze, Mainz 1996, S. 583–597; Günter Oesterle, „Arabeske und Roman: eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels ‚Brief über den Roman‘“, in: Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte, hrsg. von Dirk Grathoff, Frankfurt am Main 1985, S. 233–292. 8
Günter Oesterle, „Arabeske“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in
sieben Bänden, Bd. 1, hrsg. von Karlheinz Barck, Stuttgart 2000, S. 272–286, hier S. 272. 9
Zuletzt beispielsweise: Werner Busch, „Goethe und Neureuther. Die Arabeske: Orna-
ment oder Reflexionsmedium?“, in: Goethe-Jahrbuch 128, 2011, S. 127–158; Hinrich Ahrend, Verschlungene Lineaturen. Die Poetik der Arabeske in Ludwig Tiecks Erzählwerk, Würzburg 2012.
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liches Desiderat hingegen ist die raumästhetische Bedeutung, die das arabeskgroteske Wanddekor in der Entwicklung des Interieurs um 1800 spielt. Viel spricht dafür, dass die Arabeske, die kunsttheoretisch besehen um 1800 von einer Randposition in der Renaissance ins Zentrum vorrückt, diese Bewegung parallel hierzu auch raumästhetisch vollzieht. Zunächst ist sie Dekoration und Akzidenz; um 1800 bündelt sie dann Raumwahrnehmung und Atmosphäre beziehungsweise Stimmung10, indem sie verschiedene Vermögen und Medien verknüpft: Fantasie und Sensitivität, Wanddekor und Poesie. Im Anschluss an Brentano, der meinte, die Arabeske bringe „treffende Schlüsse auf die Kunstansicht jeder Zeit“ zum Ausdruck,11 werden im Folgenden erstens die Gestaltungsprinzipien der Arabeskgroteske und zweitens der epochale Wechsel zwischen einer anmutigen und doch wahrnehmungsirritierenden Rokokoarabeske und einer die Einheit betonenden klassizistischen Arabeske herausgearbeitet, um drittens im Blickwechsel auf die Literatur der Spätromantik zu zeigen, welches übergreifend groteske Potenzial die Arabeskgroteske im Interieur entfalten kann. Als Beispiel hierfür dient die Erzählung Ligeia von Edgar Allan Poe.
G e s t a l t u n g s p ri n z i p i e n a r a b e s k g ro t e s ke r Wa n d d e ko r a t i o n e n Fünf aus ihrer Geschichte gewonnene Strukturmerkmale der Arabeskgroteske zeigen sich in der Gestaltung der populären arabesken Tapeten, die man ab Mitte der 1780er Jahre bis in die 1790er Jahre vorwiegend in Frankreich produziert hat: mediale Reflexion, periphere Verortung, Ludistik, Kreativitätsprinzip und Traummodell. Die Geschichte des Arabeskgrotesken beginnt in der italienischen Renaissance mit einer spannungsvollen Konstellation. Die Tatsache, dass
10 Mit den hier verwendeten Begriffen Atmosphäre und Stimmung beziehe ich mich eher auf die Arbeiten von Gernot Böhme, der „leibliche[n] Raum und Atmosphäre“ zusammendenkt, als auf einen vorwiegend visuell verstandenen Stimmungsbegriff wie den Saskia Haags. Vgl. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 12–18; Saskia Haag, „Stimmung machen. Die Produktion des Interieurs im 19. Jahrhundert“, in: Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften, hrsg. von Hans-Georg von Arburg und Sergej Rickenbacher, Würzburg 2012, S. 115–126. 11
Brentano 1996 (wie Anm. 3), S. 203.
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die antiken Wandmalereien in den verschütteten unterirdischen Grotten der Domus Aurea wiederentdeckt wurden, bestimmt ihre Aura. Sie gelten als geheimnisvoll, esoterisch und brisant.12 Auch kunsttheoretisch ist die Arabeskgroteske von Anfang an umstritten, denn schon in der Spätantike kritisierte der Architekturtheoretiker Vitruv diese Wanddekorationen als dekadent, modisch und vor allem den Gesetzen der Statik widersprechend: Die abenteuerlichen Metamorphosen von Menschen, Tieren und Pflanzen würden nicht mit den Regeln der Wahrscheinlichkeit übereinstimmen.13 Dieser Herabwürdigung des Arabeskgrotesken tritt der Renaissance-Kunsttheoretiker Vasari entgegen. Er rechtfertigt die fantastische Architekturmalerei mit dem Verweis auf ihre mediale Andersartigkeit. Anders als im Medium der Architektur spielen bei der Wanddekoration Statik und Unwahrscheinlichkeit keine entscheidende Rolle: „Les grotesques sont une catégorie de peinture libre et cocasse inventée dans l’Antiquité pour orner des surfaces murales où seules des formes en suspension dans l’air pouvaient trouver place.“14 Diese von Vasari benannte zentrale Eigenart des Arabeskgrotesken – eine von Anfang an sich mit konstituierende Reflexion auf ihre Funktion als Wanddekoration – muss Gottfried Huth noch 1792 bestätigen, wenn er mahnt, „daß ein Gemälde kein Gebäude ist“.15 Die von Anfang an umstrittene Arabeskgroteske verschafft sich also Rechtfertigung und Spielraum, indem sie spezifische Randbezirke dekoriert. Bis ins 18. Jahrhundert hinein werden ihr nur Räume an der Peripherie zugewiesen. Christian Ludwig Stieglitz betont, in „Gallerien, in Landhäusern, in Kabinetten, in Tanz=Musik und Speise=Sälen, da sind die Arabesken und Grotesken schicklich angebracht“.16 Erlaubt und
12 Siehe André Chastel, La grottesque, Paris 1988, hier S. 7–18. 13 Dorothea Scholl, Von den „Grottesken“ zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster 2004, hier S. 153–155. 14
Giorgio Vasari, „Introduction technique“, in: ders., La vie des meilleurs peintres, sculp-
teurs et architectes, übersetzt von André Chastel, Paris 1981, Kap. 14, zit. n. Chastel 1988 (wie Anm. 12), S. 31. 15
Gottfried Huth, „Über Arabesken und Grotesken“, in: Allgemeines Magazin für die
bürgerliche Baukunst, Bd. 1.2, 1792, S. 93–100, hier S. 98–99. Die Diskussion um die Beziehung von Dekor und Architektur bleibt um 1800 virulent. Vgl. Thorsten Fitzon, Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750–1870, Berlin 2004. 16
Christian Ludwig Stieglitz, „Ueber den Gebrauch der Grotesken und Arabesken“, in:
Allgemeines Magazin für die bürgerliche Baukunst, Bd. 2.2, Weimar 1796, S. 98–137, hier S. 136.
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erwünscht sind sie in Durchgängen wie den Loggien und in Lustgemächern.17 In repräsentativen Räumen wird die Arabeskgroteske dagegen meist vermieden.17Mit Martin Warnke gesprochen ist der Ursprungsort des Fantastischen an der Peripherie, in den Zwickeln und Nischen. Die leere Nische bildet eine weiße oder schmutzige Projektionsfläche für die Spiele der Fantasie.18 Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts eröffnen sich der Arabeskgroteske dann im Zuge der Intimisierung der Wohnräume neue Gestaltungsmöglichkeiten. Den Wandel in der Einschätzung vollzieht Carl Christian Heinrich Rost in seinen Ideen zu einem kleinen Neben-Zimmer, Kabinett oder Solitude. Er wertet diese randständigen, mit Bordüren aus arabesken Ranken dekorierten Zimmer als Privaträume auf, da sie „der Ruhe, der Einsamkeit, dem Lesen oder der Meditation“ dienen.19 Neben die spezifische Medialität und Lokalität des Arabeskgrotesken tritt als drittes und wichtigstes Strukturprinzip das Spiel zwischen zwei Modi. Es lassen sich drei Varianten ausmachen: das Spiel zwischen Rand und Zentrum, das Spiel zwischen Ornament und Bildgegenstand sowie das Spiel zwischen Fläche und plastisch-architektonischer Tiefe.20 Dieser Wechsel der Bildmodi kann in unterschiedlichster Weise gestaltet werden: einerseits als extreme Wahrnehmungsirritation, ein plötzlicher, kaum merklicher Wechsel von Tiefe zu Plastizität, was Manieristen und Romantiker besonders faszinierte,21 oder andererseits als Lenkung des Auges vom Rand ins Zentrum, was Klassizisten wie Goethe bevorzugten.22 Das Anliegen jeder dieser Wechsel zwischen zwei Bildmodi ist dabei die Zerstreuung der Augenbewegung, sozusagen eine dynamische Performativität. Durch dieses in den folgenden Tape-
17
Johann Wolfgang von Goethe, „Von Arabesken“, in: Der Teutsche Merkur vom Jahr
1789, Erstes Vierteljahr, Weimar 1789, S. 120–126. 18
Martin Warnke, „Chimären der Phantasie“, in: Pegasus und die Künste, hrsg. von
Claudia Brink und Wilhelm Hornbostel, München 1993, S. 61–69, hier S. 63. 19 Carl Christian Heinrich Rost, „Ideen zu einem kleinen Neben-Zimmer, Kabinett oder Solitude“, in: Journal der Moden 1, Dezember 1786, S. 424–435, hier S. 425. Vgl. Geert Wisse, „Les papiers peints en arabesques sur le mur“, in: Jacqué 1995 (wie Anm. 2), S. 72–82. 20
Vgl. Oesterle 2000 (wie Anm. 8), S. 272.
21
Sabine M. Schneider, „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne.
Die Ornamentdebatte um 1800 und die Autonomisierung des Ornaments“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63, 2000, S. 339–357. 22 Siehe Oesterle 2002 (wie Anm. 5), S. 54–56.
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tenbeispielen noch genauer untersuchte Grundprinzip des arabeskgrotesken Spiels zwischen zwei Modi entsteht die Spannung von Illusion und Desillusion.23 Ein weiteres konstitutives Element des Arabeskgrotesken, das für die Tapetenproduktion zentrale Bedeutung gewinnt, ist die kreative und variantenreiche Um- und Neugestaltung vorgegebener Muster.24 Das Neue besteht nicht in der Erfindung eines bisher Ungesehenen, sondern in immer wieder neuen Kombinationen der Vorlagenelemente.25 Dabei wird der vorhandene Motivvorrat nach den Prinzipien der ars combinatoria durch aktuelle Muster immer wieder erweitert: „[I]l n’y a pas encore des mots dans la Langue Françoise pour tous ces détails, qui ne sont que les fruits d’un caprice qui s’est perpétué“.26 Die Arabeskgroteske schafft nichts radikal Neues. Sie ist nicht genial, sondern sie ist ingeniös. Die Leistung der meist anonymen Tapetendesigner ist unter Einbezug technischer und ökonomischer Faktoren das Arrangement, die Collage, die gelungene Kombination der einzelnen Elemente.27 Dabei ist auch der Traum ein Modell der Arabeskgrotesken-Verknüpfung. Schon zum Zeitpunkt der Entdeckung der antiken Arabeskgrotesken in Rom kursierten Gerüchte, in den unterirdischen Grotten hätten Mysterien und geheime Kulte stattgefunden, die Morpheus oder Dionysos gewidmet gewesen seien.28 Aus diesem Denkmotiv hat sich bis ins frühe 19. Jahrhundert ein ganzer Weltentwurf herausgebildet. Er leitet die heterogene Struktur des Arabeskgrotesken aus der willkürlichen Ideenassoziation der Träume ab, die sich noch durch die Integration exotischer Elemente oder durch Opiate steigern ließen. Claude-Henri 23 Ohne Wanddekor oder Tapeten einzubeziehen, erklärt Frederick Burwick dieses Konzept in „The Grotesque: Illusion vs. Delusion“, in: Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches, hrsg. von Frederick Burwick und Walter Pape, New York 2000, S. 123–137. 24
Christine Velut, „Between Invention and Production. The Role of Design in the Ma-
nufacture of Wallpaper in France and England at the Turn of the Nineteenth Century“, in: Journal of Design History 17, 1, 2004, S. 55–69, hier S. 64–69. 25 „Ueber Zimmer=Tapezierung“, in: Journal des Luxus und der Moden 2, 1787, S. 427–430. 26
Cabinet des modes ou Magasin des modes nouvelles, françaises et anglaises 3, 18, 10. Mai
1788, S. 137–141, hier S. 139. 27
Véronique de Bruignac, „Des papiers peints en arabesque de la manufacture
Réveillon“, in: Musée du Papier Peint, Bulletin de la Société Industrielle de Mulhouse 2, 1984, S. 117–128. 28 Scholl 2004 (wie Anm. 13), S. 165–180.
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Watelet und Pierre-Charles Levesque differenzieren daher den Albtraum gegenüber dem Traum der Arabeske: „Les arabesques peuvent appelés les rêves de la Peinture. La raison & le goût exigent qu’ils ne soient pas des songes de malades, mais des rêveries semblables à celles que l’opium, artistement dosé, procure aux Orientaux voluptueux“.29 Diese fünf Gestaltungsprinzipien – die mediale Reflexion, die spezielle Ortsverwiesenheit an die Peripherie, die Doppelcodierung zweier Modi, die ingeniöse Kombinatorik von Vorlagen und der Traum als Verknüpfungsmodell – ermöglichen der Arabeskgroteske dreierlei: erstens ein ihr von Gegnern und von Befürwortern gleichermaßen zugesprochenes hohes ludistisches Potenzial. Friedrich Schlegel spricht von „Spielgemälden“.30 Zweitens entsteht eine raffinierte Wahrnehmungsirritation oder Wahrnehmungslenkung. Johann Wolfgang von Goethe empfiehlt die Blicklenkung vom Rand in die Bildmitte.31 Und drittens entwickelt sich ein Wahrnehmungsspiel mit rätselhaft hermetischen Momenten. Christian August Semler verwendet hier das Stichwort „Allegorie“.32 Diese drei Spezialfähigkeiten des Arabeskgrotesken haben eine wahrnehmungsund vermögensästhetische Voraussetzung, welche die Kunst- und Literaturtheoretiker um 1800 in ihren Schriften immer wieder betonen. Es ist die wahrnehmungsästhetische Fähigkeit des „frei hin und her schwei-
29 Claude-Henri Watelet und Pierre-Charles Levesque, „Arabesque“, in: Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure, Paris 1792, S. 90–96, hier S. 91. 30
Friedrich Schlegel, „Brief über den Roman [in: Gespräche über Poesie]“, in: ders.,
Charakteristiken und Kritiken, Bd. 2, hrsg. von Hans Eichner, München/Paderborn/Wien 1967, S. 329–338, hier S. 330. 31 Vgl. Marcel Baumgartner, „Goethes ‚Metamorphose der Pflanzen‘ und die Arabeske bei Tischbein, Runge und Goethe“, in: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829). Das Werk des Goethe-Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur, hrsg. von Arnd Friedrich, Fritz Heinrich und Christiane Holm, Petersberg 2001, S. 211–220, hier S. 216–218. 32
Christian August Semler, „Ueber Verzierung der Zimmer mit allegorischen Arabes-
ken“, in: Journal des Luxus und der Moden 20, März 1805, S. 149–163. Die Rolle der Allegorie wird zumeist auf die romantische Arabeske bezogen, sei es in der bildenden Kunst bei Werner Busch oder in Ästhetik und Poesie bei Winfried Menninghaus. Werner Busch, Die Notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 13–133; Winfried Menninghaus, „Hummingbirds, Shells, Picture-Frames. Kant’s ‚Free Beauties‘ and the Romantic Arabesque“, in: Rereading Romanticism, hrsg. von Martha Helfer, Amsterdam 2000, S. 27–46.
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fende[n] Auge[s]“ zu einem zerstreuten Sehen,33 „im Vorübergehen“, wie es Johann Christoph Frisch nennt.34 Und es ist die vermögensästhetische Fähigkeit der „ungebunden spielende[n] Phantasie“ im Sinne Semlers.35 Diese Fähigkeiten dürften die Grundlage für die Konjunktur der Arabeskgroteske um 1800 sowohl in der Alltagsästhetik – wie beispielsweise bei der Tapete – als auch in Kunst, Literatur und Theorie bilden.
Ra u m ä s t h e t i s c h e Fu n k t i o n e n d e s A r a b e s k g ro t e s ke n i m I n t e ri e u r d e s Ro ko ko u n d d e s K l a s s i z i s m u s Die Geburtsstunde des Interieurs als kulturgeschichtliches Phänomen manifestiert sich bereits, wie Wolfgang Kemp gezeigt hat, in der holländischen Genremalerei der Frühen Neuzeit. Er hat geltend gemacht, dass sich das Interieur aus dem Wechselspiel zwischen der Konzentration auf Innenräumlichkeiten und dem gleichzeitigen Ausblick auf weltgeschichtliche Dimensionen konstituiert.36 Doch erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wird das Interieur diskursfähig – das heißt in ästhetischen Begriffen fassbar und generalisierbar. Der Begriff ‚Interieur‘ entwickelt sich dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich.37 Im Zusammenhang mit poetischen Innenräumen deutet Günter Oesterle den Begriff ‚Interieur‘ als Komparativ zu lateinisch „inter“ und erschließt so die Doppelbedeutung von ‚Interieur‘ als ein gesteigertes Innen und eine Intensivierung von Dazwischen.38 In diesen extrem komprimierten Raum eines Innersten und intensivierten Zwischenzustands nistet sich das Vexierbildhafte der Arabeskgroteske ein, denn ihr Ort verschiebt sich von der Peripherie des Wohnens – der Passage und dem Pavillon – ins Zentrum des Wohnens, das Interieur.
33 Semler 1805 (wie Anm. 32), S. 159. 34 Johann Christoph Frisch, „Über Arabesken und ihre Anwendung“, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 1, 4, 1795, S. 563. 35 Semler 1805 (wie Anm. 32), S. 159. 36
Wolfgang Kemp, „Beziehungsspiele. Versuch einer Gattungspoetik des Interieurs“,
in: Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov, hrsg. von Sabine Schulze, Ostfiltern-Ruit 1998, S. 17–29. 37
Friedrich Kluge, „Interieur“, in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache,
bearb. von Elmar Seebold, Berlin/New York 2002, S. 444–445. 38
Günter Oesterle, „Poetische Innenräume des 18. Jahrhunderts“, in: Innenseiten
des Gartenreichs. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich, hrsg. von Christiane Holm und Heinrich Dilly, Halle 2011, S. 59–71.
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Die Arabeskgroteske in der Tapetenmode erhält dabei unterschiedliche raumästhetische Funktionen. Es lassen sich vor allem zwei Konzeptionen in Rokoko und Klassizismus markant unterscheiden. In der Rokokoarabeske wird vornehmlich das Spiel der Bildmodi – Fläche und Raum, Rand und Zentrum – als raffinierte Wahrnehmungsirritation ausgereizt. Im klassizistischen Arabeskenprogramm werden hingegen durch die Abfolge allegorisch ausgestalteter Räume unter der Betonung einer Hauptidee beziehungsweise eines visuellen Gesamtprogramms die Nebenideen choreografiert und geordnet. Beide Formen arabesker Tapetenprogramme schaffen eine je eigene Raumatmosphäre. Die Rokokoarabeske spielt mit dem Wechselblick von Außen und Innen und ermöglicht damit eine gefühlte Erweiterung und Durchlässigkeit des Raumes. Dagegen konzentriert sich die klassizistische Arabeske in einem hierarchischen Arrangement auf eine Hauptidee, die von zahlreichen untergeordneten Nebenideen stützend umspielt wird. Während die Rokokoarabeske stärker eine zerstreute, auf Überraschung zielende Wahrnehmungsweise bedient, konzentriert und fokussiert die klassizistische Arabeske den Blick. Zwei die Arabeskenkünste ausreizende Tapeten im Inspirationsumkreis von Jean-Antoine Watteau sollen die beschriebene Erzeugung der dem Rokoko eigenen Wahrnehmungsirritation und der Atmosphäre der Durchlässigkeit verdeutlichen. Das erste Beispiel ist eine handbemalte arabeske Leinwandtapete von 1753. Sie befindet sich in einem repräsentativen Raum im Erdgeschoss eines Landguts in der Basler Sandgrube (Abb. 1).39 Die Leinwandtapete zeigt eine Dreierkonstellation im Mittelpunkt. Dem vorn in einer Lichtung idyllisch postierten Pärchen nähert sich ein aus der Tiefe des Raumes heraufsteigender älterer Mann. Ein nach Watteaus Italienischen Komödianten gestochenes Blatt von Bernard Baron ist eindeutig als Vorlage für die beiden elegisch blickenden Hauptfiguren zu identifizieren. Die Figur im Hintergrund stammt aus Watteaus Französischen Komödianten.40 Diese Montage unterschiedlicher Bildquellen durch den unbekannten Maler entspricht den bei Watteau bereits angelegten Produktionsmodi von Variation, Kopie und Neukom-
39
Paul Leonhard Ganz, Die Sandgrube, Basel 1961, S. 46–51, S. 86–88, S. 97.
40
Anne Nagel, „Auf Leinwand gemalt – Wandbespannungen des 18. Jahrhunderts
in Basel“, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 68, 2/3, 2011, S. 77–90, hier S. 78–79.
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Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘
Abb. 1 von unbekannter Hand, Leinwandtapete mit Arabeskendekor, um 1753, in der Sandgrube (Riehenstrasse 154, Basel), in situ
bination.41 Alle Figuren, der Pierrot als trauriger Clown und seine Frau Columbina aus dem Repertoire der italienischen Commedia dell’Arte und der vorwitzige Diener Crispin aus der französischen Komödie, sind mit feststehenden Merkmalen versehen, die nun neue Bedeutungen entfalten können.42 Die entstandene Figurenkonstellation ist aber alles andere als bloß einsinnig komödiantisch, wie es die Vorlagenkombination vorgeben könnte. Stattdessen wird die komisch-idyllisch-elegische Spannung
41 Martin Eidelberg, „How Watteau Designed His Arabesques“, in: Cleveland Studies in the History of Art 8, 2003, S. 68–79. 42 Die in dieser ersten Leinwandtapete entwickelte Dreierkonstellation setzt sich in einem zweiten Panneau am gleichen Ort fort. Die Figuren des greisen Gecks Pantalone, des Großmauls Scaramouche und einem in Maske gestikulierenden Diener Harlekin stammen aus der italienischen Volkskomödie. Zum italienischen Theater und Watteau siehe François Moureau, Le Goût italien dans la France rocaille. Théâtre, musique, peinture (v. 1680–1750), Paris 2011.
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innerhalb der Personengruppe in ein bodenloses, komplexes arabeskes Tableau eingebracht, dessen Elemente, wie Lambrequins oder Satyrkopf, wiederum aus der Vorlage mehrerer Stiche von Louis Crépy stammen. Die verhaltene Farbpalette erzeugt eine Flächigkeit und Dreidimensionalität, die die weiße und türkisblaue Kleidung der beiden Hauptfiguren und des Hintergrunds besonders hervorhebt. Unten durchbricht die mit goldenen Hörnern verzierte Satyrkopfmaske den Bildrahmen sowie die goldenen flächigen Lambrequins. Das Spiel der Bildmodi fördert also den wahrnehmungsirritierenden Effekt, der jedoch durch die Beschränkung auf ein Bildmotiv begrenzt bleibt. Das Beispiel einer handgedruckten Papiertapete aus dem Band Les papiers peints en arabesques de la fin du XVIII siècle, der von Bernard Jacqué zusammengestellt ist,43 steigert diesen Effekt noch, indem durch das Hervorbrechen der Ornamentik aus dem obskuren Dunkel des Raums eine geisterhafte Stimmung erzeugt wird (Abb. 2). Auch hier ist der Ausgangspunkt des ingeniösen Arrangements eines unbekannten Designers die einsame Figur des Pierrot nach Watteau.44 Aufgegriffen werden charakteristische Elemente, wie die weiße, zu groß erscheinende Kleidung, gerundete Schultern, der nach unten gerichtete Blick sowie die Schrittstellung der Füße. Diese festgelegte Ikonografie des traurigen, introvertierten Pierrot variiert der Tapetenzeichner und lädt damit die Differenzen mit Bedeutung auf. Der auf dem Kopf drapierte weiße Hut, das weiße Gesicht und die weißen Hände verweisen auf eine andere Welt. Der Pierrot steht ohne Maske im Dunkeln da. Den Wechsel der Bildmodi vertieft der schwarze Hintergrund. Der Blick schweift zwischen dem Bild im Zentrum und den durch Ornamentierung charakterisierten Rahmen, der sich trotz – oder gerade wegen – der seriellen, rapportartigen Wiederholung des arabeskgrotesken Bildmotivs
43 Bernard Jacqué, „Le secret de mettre en papier les arabesques“, in: Jacqué 1995 (wie Anm. 2), S. 58–71, hier S. 62–65; Lisa Micara-Granelli, „Étude technique et restauration d’un papier peint à fond noir provenant de la Maison du Désert à Lausanne“, in: ebd., S. 132–135. 44 Watteaus Bild im Louvre hat heute den Titel Pierrot, genannt Gilles (circa 1718/19). Die Darstellung enthält Elemente beider Figuren: die Kleidung des Pierrot, aber auch Attribute der werbewirksamen Jahrmarktsfigur des Gilles. Siehe Dora Panofsky, „Gilles or Pierrot? Iconographic Notes on Watteau“, in: Gazette des Beaux-Arts 39, 1952, S. 319–340. Da bei der Papiertapete die Attribute des Gilles fehlen, verwende ich die Bezeichnung „Pierrot“.
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Abb. 2 unbekannter Hersteller aus Lyon (?), Ausschnitt Papiertapete, um 1790, Maison du Désert, Lausanne, Musée Historique de Lausanne, in situ
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ergibt. Die geometrische Form des Rhombus fasst die Medaillons einer mänadenartig auf einem Bein tanzenden Figur und einer auf einem Bein stehenden Minerva klar ein. Dagegen umgeben das Bild im Zentrum jeweils nur die angedeuteten geometrischen Formen des Rhombus und des hochkantigen Rechtecks. Während die Medaillons reliefartig eine Tiefe erahnen lassen, entsteht durch das Piedestal und den Lambrequin, auf dem der Pierrot steht, eine herausragende Terrasse, die wie eine einen poetischen Raum gebende Bühne erscheint. Im unmerklichen Übergang von Tischbein und Vogelflügel spielen Statik und Wahrscheinlichkeit keine entscheidende Rolle. Die Reflexion auf das Spezifische der Medialität ergänzt so den Wechsel der Bildmodi zwischen Rand und Zentrum, Rahmen und Bild, Fläche und Tiefe. Der wie bei Watteau allein und erhöht an der vorderen Kante des Piedestals stehende Pierrot deutet auf ein „semantic vacuum“, wodurch Watteau, laut Norman Bryson, auf fehlende erzählerische Gehalte verweist.45 Die Figur evoziert stattdessen nur eine theatralische Atmosphäre. Auf die Raumatmosphäre verweist auch das Artifizielle der geisterhaft blaugefärbten Bäume, die im Vordergrund auf der Bühne in die Höhe streben, während die Pappeln die Distanz der Tiefe oder auch das Ende der Bühne innen und außen markieren. Ein Bezug von Innen und Außen entsteht zudem durch die ver- und entschleierten Köpfe der Hermen, die die säulenartigen Endpunkte des zeltförmigen Baldachins über der Bühne bilden. Sie schauen auf den Pierrot im Zentrum des Bildes. Hermen finden sich häufig als Grenzfiguren im Landschaftsgarten, jedoch meist nicht verhüllt wie hier. Die Verhüllungen auf der Tapete ermöglichen also Anspielungen nicht nur auf die Grenzen des (Bild-)Raumes, sondern auch auf Grenzüberschreitungen. Der Aufhängungsort kann die in der Tapete gefühlte Erweiterung und Durchlässigkeit des Raumes verdeutlichen. Die beschriebene Tapete befindet sich wahrscheinlich seit 1791 in der ersten Etage46 des Landsit-
45
Norman Bryson, Word and Image. French Painting of the Ancien Régime, Cambridge
1981, S. 74–82. Einen Überblick, wie diese These bestätigt und erweitert wurde, gibt Josephine Touma, „From the Playhouse to the Page. Visual Sources for Watteau’s Theatrical Universe“, in: Studies in Eighteenth Century Culture 40, 2011, S. 83–101. 46 Nach Claire Piguet befindet sich die vermutlich von Victoire Hollard 1791 ausgewählte Tapete in einem später als Esszimmer genutzten Raum in der ersten Etage. Piguet vermutet, dass Dusserre in Lyon diese circa zwei Meter lange, mehrfach nebeneinandergehängte Papiertapete „en arabesques répétitifs à double chemin“ herstellte, siehe Claire
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zes Le Désert außerhalb von Lausanne. Das im Auftrag von Benjamin Constants Vater in den Jahren 1771–82 errichtete Anwesen zeichnet sich durch eine Terrasse und einen 140 Meter langen und sechs Meter breiten, von Pappeln gesäumten Kanal aus.47 Die Tapete enthält Elemente (wie die Form des blauen Lambrequin), die an diesen Kanal erinnern könnten, und auch eine Reihe von Pappeln, die auf die örtlichen Gegebenheiten anspielen könnten.48 Dieser formale Aufbau reflektiert nicht nur die Medialität der Wanddekoration, sondern macht den Innenraum zur eigenständigen Bühne, die sich in der Natur als Bühne auf dem Piedestal und in der Natur des Parks doppelbödig spiegelt. Der hier eingeschlagene Weg der Arabeske von der Peripherie ins Zentrum des Interieurs ist noch anschaulicher und plastischer vor der Kontrastfolie der traditionellen Arabeskenvorgabe. Bei der arabesken Passage, deren Bildsequenz man beim Durchschreiten genießen mag, um einen peripheren Punkt der Schlossarchitektur in einem arabesk ausgezierten Gartensaal zu betreten,49 schweifen die Blicke bei einem Tanz oder Gastmahl hin und her zwischen der Natur im Freien und den verhalten gestalteten, nicht semantisch aufgeladenen Ornamenten des natürlich-künstlichen Arabeskenspiels im Innenraum. Die Pierrot-Tapete fordert zwar auch einen schweifenden Blick, doch vor der auf die Nacht verweisenden Farbe Schwarz könnten die verschleierten Hermen über einem träumerisch-gespenstischen Pierrot eine allegorische Personenfiguration signalisieren, die gute und böse Träume aufsteigen lässt. Diese Tapete liest sich so als ein Bravourstück des Unheimlichen, just zum Zeitpunkt der Genese der Horrorästhetik.50
Piguet, „Un spécimen bien connu pour cent trente fragments à découvrir: les papiers peints de la campagne du Désert, Lausanne“, in: Copier, coller: papiers peints du XVIIIe siècle, hrsg. von Claire Piguet und Evelyne Gozübüyük, Neuchâtel 1998, S. 85–97, hier S. 89, S. 92–93, S. 95–96. 47
Christine Matter, „L’histoire des jardins d’une campagne lausannoise: le Désert“,
in: Mitteilungen/Schweizerische Gesellschaft für Gartenkultur 1, 1992, S. 14–19. 48
Claire Piguet bestätigt brieflich, dass die Tapete nicht in einem Raum mit direktem
Blick auf den Garten hängt. Der Effekt der Steigerung des Interieurs durch die Wanddekoration zu einem Gefühl des Innersten könnte dadurch noch potenziert sein. 49
Ein schönes Beispiel ist der Salon d’été im Château d’Allaman. Bernard Jacqué,
„Présentation de deux ensembles de papiers peints du Château d’Allaman“, in: Les papiers peints du Château d’Allaman (= Actes du colloque du 16 novembre 1994), hrsg. von Isabelle Roland Tevaeari, Lausanne 1995, S. 17–36. 50 Robert Miles, Gothic Writing, 1750–1820. A Genealogy, Manchester 2002.
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Das dritte Beispiel, das im klassizistischen Arabeskenprogramm erst um 1800 von Christian August Semler konzipiert wurde, greift eine solche mögliche allegorische Lesart auf. Es erlaubt, auch wenn es kein Tapeten-, sondern ein arabeskes Wanddekorationsprogramm darstellt,51 den Weg der Arabeske aus der Peripherie ins Zentrum des Interieurs nicht mehr aus der Doppelbödigkeit oder Vexierhaftigkeit zu rekonstruieren wie bei den vorigen Beispielen, sondern aus einer gestalttheoretischen Beziehungslogik. Der romantisch inspirierte Klassizist Semler, der Teilstücke seines allegorischen Zimmerdekorationsprogramms in der populären Modeund Kulturzeitschrift Journal des Luxus und der Moden veröffentlicht, lässt keinen Zweifel an der Intention seines Dekorationsprogramms: Er will bei der „Verzierung der Wohnung“ wegkommen von den „bedeutungslosen Schnörkeln“ und im Gegensatz zur bloß leeren Dekoration ein arabeskes Bild- und Ornamentprogramm auflegen, das „bald mit philosophischem Ernste“ auf das „äußern und innern“, den „öffentlichen und geheimen Sinn“ unserer Gesellschaft hindeutet.52 Im 1806 publizierten Band Ideen zu allegorischen Zimmerverzierungen beschreibt er ein schon im Modejournal dargestelltes Schlafzimmer, ein Wohn- und Studierzimmer, ein Toilettenkabinett und einen Gartensaal. Im Geiste folgt man ihm beim Durchschreiten der arabesk dekorierten Räume. Jeder ganzheitlich choreografierte Arabeskenraum zwingt den Besucher, sofort „dem Zusammenhang seiner Teile“ nachzuspüren53 und die Hauptidee, die Physiognomie, den Charakter dieses Raumes in einem Totaleindruck, das heißt in einem simultanen Blick zu erfassen.54 Dann aber, nachdem die Funktion jedes Raums eindeutig bestimmt wurde, soll und kann ein Meditations- und Gedankenspiel beginnen. Die in einem Bilderzyklus dargelegte Hauptidee, beispielsweise im Ankleideraum „die Diätetik [sic] des Geistes und Körpers“,55 soll von unendlich
51
Zur Differenz siehe Kersting-Bleyl 1982 (wie Anm. 4), S. 53.
52
Christian August Semler, „Ueber Anwendung der Mythologie zu allegorischen
Zimmerverzierungen“, in: Journal des Luxus und der Moden 23, August 1808, S. 567–576, hier S. 568. 53 Semler 1805 (wie Anm. 32), S. 160. 54
Christian August Semler, Ideen zu allegorischen Zimmerverzierungen, Leipzig 1806,
hier S. 47. 55 Ebd., S. 53.
215
Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘
vielen möglichen Nebenideen umspielt werden. Im Jugendzimmer etwa entsteht „eine Allegorie auf den ganzen bürgerlichen Lebenslauf“ in Form einer Schifffahrt.56 Die „Ideenreihe“ besteht aus Gemälden zu den Themen Auslauf aus dem Hafen, günstige Winde, Sturm und Ankunft im Zielhafen. Über den Haupt- und Mittelstücken erheben sich „reiche Arabesken“ aus „See= und Strandkräutern“, Gottheiten, Vögeln, Genien, Gefäßen und unterhalb der Stücke befinden sich Pflanzen, Muscheln, Seeungeheuer, „Schiffergeräthschaften“.57 Exemplarisch interpretieren der fiktionale Darsteller und seine Zuhörerinnen die „Bilderschriften, sehr verschieden, bald klug, bald thöricht“, bald moralisierend, bald theologisch.58 Diese Anordnung ermöglicht letztlich dem Betrachter durch die Vorgabe der Hauptidee innerhalb bürgerlicher Moral- und Sittenstandards zu verbleiben, im Spiel mit den Nebenideen aber zugleich einen eigenen assoziativen Raum zu erschaffen. Die angelegte allegorische Ideenfolge orientiert sich an traditionellen Kulturmustern, Kollektivsymbolen oder in Harmonie auslaufenden Lebensstufen. Der Einsatz der Arabeske, mit der der Betrachter genau in seinem Inneren und dem Innersten der bürgerlichen Gesellschaft anlangt, bleibt trotz aller ludistischen Virtuosität affirmativ. Dass die Arabeskgroteske auch im 19. Jahrhundert das Potenzial hat, die Nachtseiten der Gesellschaft im intimen Interieur zutage zu fördern, zeigt das Gegenstück zu dieser harmonischen Konzeption Semlers durch den Schriftsteller Edgar Allan Poe. Er entwirft in einer fiktionalen Erzählung ein vielschichtig arabeskgroteskes Interieur, das in Wahnsinn und Tod führt.59
56 57 58 59
Ebd., S. 28. Ebd., S. 16–27. Ebd., S. 29. Während Rae Beth Gordon die Arabeske als Metadiskurs zum Lesen fasst, zieht
Dorothea von Mücke Parallelen zwischen der Arabeske und den materiellen Zeichen der Schrift. Rae Beth Gordon, „Decoration in Poe and Gilman“, in: LIT. Literature Interpretation Theory 3, 2, 1991, S. 85–99, hier S. 91; Dorothea von Mücke, „The Imaginary Materiality of Writing in Poe’s ‚Ligeia‘“, in: Differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 11, 2, 1999, S. 53–75, hier S. 66–72.
216
Angela Borchert
D i e Ra u m ä s t h e t i k e i n e r f i k t i o n a l e n a r a b e s k g ro t e s ke n Z i m m e r ve r z i e r u n g b e i E d g a r A l l a n Po e Der Text Ligeia, der zu Edgar Allan Poes Erzählzyklus Tales of the Grotesque and Arabesque (1840) gehört,60 verdeutlicht das Potenzial eines arabeskgrotesk gestalteten Interieurs.61 Poe spielt die Wahrnehmungsirritationen des Rokoko aus und spitzt außerdem, ohne allegorische Momente, die Beziehungslogik des Klassizismus zu einer einheitlichen raumästhetischen Stimmung des Grotesk-Unheimlichen zu. Sehr kurz gefasst entfaltet sich die Handlung folgendermaßen: Der Erzähler zieht nach dem Tod seiner obsessiv verehrten ersten Frau in eine wild-verlassene Klostereinsamkeit und lässt in diesem Kloster seiner durch Opium gesteigerten Fantasie freien Lauf, indem er – wie es heißt, in einem entstehenden Wahnsinn – „gorgeous and fantastic draperies, [...] in the wild cornices and furniture [of Arabesque ...]62, in the Bedlam patterns of the carpets of tufted gold“, gestaltend arrangiert. Im Zentrum dieser erotisch-manierierten Zimmerdekorationswut steht die Gestaltung eines sich „in a high turret“ befindlichen Brautgemachs in der Form eines fünfseitigen Prismas mit nur einem einzigen Fenster.63 Der Erzähler stellt die melancholische Exzentrik „of that one chamber, ever accursed“, dar, angefangen mit der Zimmerdecke, die „with the wildest and most grotesque specimens of a semi-Gothic, semi-Druidical device“ dekoriert ist.64 Nach der knapp gehaltenen Beschreibung der Objekte und Möbel in diesem Raum – des Lüsters, der Ottomanen und orientalischen Kandelabergestalten, der „bridal couch – of an Indian model“ und der vier gigantischen Sarkophage von schwarzem Granit aus
60
Poe überarbeitete den Text nach der Erstpublikation 1838 mehrfach bis zur hier zu-
grunde gelegten Version von 1848. Edgar Allan Poe, „Ligeia“, in: Collected Works of Edgar Allan Poe, Bd. 2, hrsg. von Thomas Ollive Mabbott, Cambridge/MA 1978, S. 305–334, hier S. 320. Siehe auch den Aufsatz „Philosophy of Furniture“, in: ebd., S. 494–505. 61 Bezüge zu einer orientalisierenden Tradition beleuchtet Jutta Ernst, Edgar Allan Poe und die Poetik des Arabesken, Würzburg 1996. 62
Der Zusatz „of Arabesque“ stand in der ersten Fassung von 1838. Poe 1978 (wie
Anm. 60), S. 320. 63 Ebd., S. 321. 64
Ebd., S. 320–321. Bernard Marcadé geht von der These aus, dass „le décor devient
structure et réciproquement“, siehe seinen Artikel „Pour une psychogéographie de l’espace fantastique. Les architectures arabesques et grotesques chez E. A. Poe“, in: Revue d’esthétique 27, 1974, S. 41–56, hier S. 42.
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Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘
dem Tal der Könige bei Luxor – konzentriert sich die Ekphrasis ganz und gar auf eine alles übertrumpfende Steigerung: „But in the draping of the apartment lay, alas! the chief phantasy of all! The lofty walls, gigantic in height – even unproportionably so – were hung from summit to foot, in vast folds, with a heavy and massive-looking tapestry – tapestry of a material which was found alike as a carpet on the floor, as a covering for the ottomans and the ebony bed, as a canopy for the bed, and as the gorgeous volutes of the curtains which partially shaded the window. The material was the richest cloth of gold. It was spotted all over, at irregular intervals, with arabesque figures, about a foot in diameter, and wrought upon the cloth in patterns of the most jetty black.“ 65 Der gesamte Raum ist also in gewebte Leinentapeten von schwerstem Goldbrokat gehüllt, die nicht nur die überhohen Wände, sondern auch den Fußboden, den Teppich und die Bezüge der Ottomanen, das Ebenholzbett und dessen Baldachin sowie die Vorhänge mit großen, ein Fuß hohen Arabeskfiguren jetschwarz mustern. Das heißt, die überbordende goldene Materialfülle und die unregelmäßig verteilten arabesken Figuren dominieren den Gesamteindruck des Zimmers derart, dass die Kontur der verschiedenen Möbel darunter verschwindet. Die düster-schwarze, mit Grotesken ausgelegte Eichenholzdecke und die in den Ecken stehenden, ebenfalls mit Skulpturen geschmückten großen schwarzen Granitsarkophage rahmen dieses visuell-räumliche Arrangement. Es ist also ein Gemach, das durch seine Ausstattung die gewohnten Raumproportionen außer Kraft setzt und den Beschauer in eine klaustrophobisch-haltlose Situation versetzt. Fünf weitere Effekte steigern diesen Zustand, in dem Bewegung im Ornament entsteht. Den „ghastly lustre“ des Lichtes, das durch das gefärbte Fensterglas ins Innerste des Raumes strahlt, ergänzen die „parti-colored flames“, die aus dem einzigen Leuchter mit „serpent vitality“ herausringeln.66 Ein Windstrom hinter den Wandbehängen erzeugt einen „phantasmagoric effect“,67 und jede Bewegung des Besuchers
65 Poe 1978 (wie Anm. 60), S. 322. 66 Ebd., S. 321. 67 Ebd., S. 322. Fred Botting, „Poe’s Phantasmagoreality“, in: Edgar Allan Poe Review 11, 1, 2010, S. 9–21.
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im Raum verändert seinen Blick auf die unregelmäßig verteilten Arabesken.68 Außerdem umfassen die Arabeskgrotesken alles von „simple monstrosities“ bis zu einer endlosen Folge von „ghastly forms“ im Gothic-Horror-Stil.69 Der eigentliche Trick bei dieser höchst detaillierten Interieurbeschreibung besteht aber darin, dass das unregelmäßig angebrachte, ein Fuß große Arabeskgrotesken-Muster selbst nicht beschrieben wird – offensichtlich mit dem Zweck, die wilde Ornamentik ganz allein der Einbildungskraft des Lesers zu überlassen und sie nur metaphorisch mit „the superstition of the Norman“ und „the guilty slumbers of the monk“ zu vergleichen.70 Poe zeigt in jedem Element der Ekphrasis somit nicht nur seine Kenntnis der gesamten Arabeskgrotesken-Geschichte, insbesondere ihrer multimedialen Tricks, Effekte mit Licht, Materialität und Wind zu erzeugen und mit dem schreitenden Betrachter zu arbeiten. Ihm gelingt es zugleich, diese Historie der Arabeskgrotesken zu übertrumpfen, indem er die Architekturfantasie, die bislang eine arabeskgroteske Wanddekoration war, in Architektur verwandelt. Im Opiumrausch kollabiert der gold-jetschwarze Interieurkubus in dem Moment, als im multimedialen Arabeskenmuster die obsessiv Geliebte, deren Tod zur Dekoration des Raumes geführt hat, als ornamentales Hirngespinst oder Wahnsinnsvision grotesk wieder auftaucht. Poe nutzt also das mediale Potenzial der arabeskgrotesken Zimmerverzierung, um die verlorene Geliebte zu verlebendigen. Die Arabeskgroteske dient hier nicht mehr nur der Raumästhetik eines Interieurs, sondern der Erzeugung eines verkörperten Raumgefühls, raffiniert verknüpft mit den für das fortschreitende 19. Jahrhundert zentralen Problemkomplexen von Erinnerung, Erotik, Exotik und Tod.
68
Hier müssten nicht nur Standorte, sondern auch die Wahrnehmungsebenen einbe-
zogen werden. Vgl. Frederick Burwick, „Edgar Allan Poe: The Sublime, the Picturesque, the Grotesque, and the Arabesque“, in: Amerikastudien/American Studies 43, 3, 1989, S. 423–436. 69 Poe 1978 (wie Anm. 60), S. 322. 70
Ebd.; zu Imagination und Arabeske vgl. Gabriele Rippl, „Wild Semantics. Charlotte
Perkins Gilman’s Feminization of Edgar Allan Poe’s Arabesque Aesthetics“, in: Soft Canons. American Women Writers and Masculine Tradition, hrsg. von Karen Kilcup, Iowa City/IA 1999, S. 123–140.
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Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘
Fa z i t Ein Rückblick auf die Kette der hier vorgestellten Beispiele der arabeskgrotesken Wanddekoration aus Rokoko, Klassizismus und Romantik erschließt eine weitere Verortung des Ornaments im Kontext seiner Konjunktur um 1800. Übergreifend verdeutlichen alle Beispiele nicht nur die auratische Ambivalenz des Ornaments, sondern auch sein andauerndes Steigerungspotenzial. Raumästhetisch erschließt die Arabeskgroteske das Innerste des Inneren im Interieur von der Wahrnehmungsirritation zur Wahnsinnsvision und erfasst gleichzeitig auch ein gesteigertes Dazwischen. Zunächst ist der Ort der arabeskgrotesken Verzierungen die Nische oder die Passage oder der mit Innen und Außen spielende periphere Gartensaal. Doch nicht von ungefähr thematisieren die Beispiele um 1800 den Einzug der arabeskgrotesken Dekoration ins Interieur. Die Atmosphäre der Durchlässigkeit im Rokoko, das angestrebte klassizistische meditative Gedankenspiel und die im literarischen Text angelegten imaginativen Phantasmagorien thematisieren die Arabeskgroteske als eine Erfahrung des Dazwischen, dessen Ort nun das Schlafzimmer als Kernwohnbereich wird. Die arabeskgroteske Wanddekoration lotet daher einen neuen Aspekt des eingangs dargestellten Spektrums des Ornaments aus: Sie eröffnet die Möglichkeit für unterschiedliche raumästhetische Erfahrungen des Innersten und des Dazwischen im Interieur.71
71
Mein Dank gilt insbesondere Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen nicht
nur für das anregende Thema, sondern auch für die produktive Tagung und die intensiv weitergeführte Diskussion.
220
Silke Förschler
Was macht das Tier im Interieur? Gemälde exotischer Tiere als naturhistorische Objekte und als Mittel der Distinktion am Hof von Schwerin
Die ‚Rhinomanie‘ oder ‚Claramanie‘ ergreift in der Mitte des 18. Jahrhunderts Bewohner europäischer Großstädte, Naturforscher, Schriftsteller und Künstler. Auf Zeichnungen und Drucken, auf Tellern und Wandbehängen, als Teil einer Spieluhr oder mit einer Chinoiserie-Figur montiert, beherrscht das Rhinozeros Clara, das zwischen 1741 und 1758 in Europa auf Grand Tour ist, adelige Interieurs (Abb. 1).1 Als Clara 1749 in Paris zu bestaunen ist, schreibt der deutsche Kritiker und Schriftsteller Friedrich Melchior Baron von Grimm an Diderot: „Ganz Paris, so leicht von kleinen Dingen berauscht, beschäftigt sich nun mit einer Tierart, die Rhinozeros genannt wird.“2 Auch der Akademie-Künstler und Maler am Hof in Versailles, Jean-Baptiste Oudry (1686–1755), setzt sich mit Clara auseinander: 1749 malt er ein lebensgroßes Porträt des Rhinozeros, das 1750 im Salon ausgestellt wird (Abb. 2).3 Das Ölgemälde ist Teil 1 Glynis Ridley, Claras Grand Tour. Die spektakuläre Reise mit einem Rhinozeros durch das Europa des 18. Jahrhunderts, Hamburg 2008, zeichnet den Erfolg des holländischen Kapitäns van der Meer nach, den dieser auf seiner Tour mit dem indischen Rhinozeros Clara durch Europa hatte. 2 Friedrich Melchior von Grimm, Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, etc., Bd. 1: Nouvelles littéraires 1747–1755, hrsg. von Maurice Tourneux, Paris 1877, Nouvelle XLIII, S. 272–273. Das übersetzte Zitat in: Charissa Bremer-David, „Es wird allen Thierliebhabern Kund gethan“, in: Oudrys gemalte Menagerie. Porträts von exotischen Tieren im Europa des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Kornelia von Berswordt-Wallrabe, Ausst.-Kat. Staatliche Museen Schwerin, München 2008, S. 91–103, hier S. 101. 3
Im Eintrag des Livret de Salon von 1750 wird das Gemälde folgendermaßen beschrie-
ben: „No. 38, le Rhinoceros, grand comme nature, sure une toile de 15 pieds de large sure 10 pieds de hauteur. Cet animal a été peint dans sa loge à la Foire de St. Germain: il appartient à l’auteur.“ Collection des Anciennes Expositions, Salon de 1750, Bd. 15, Reprint Paris 1889.
221
Was macht das Tier im Interieur?
Abb. 1 Jean-Joseph de Saint Germain und François Viger, Rhinozeros-Spieluhr, ca. 1750
der Menagerie-Serie, die der Herzog Christian Ludwig II. von Mecklenburg-Schwerin (1683–1756) 1750 erwarb. Im Folgenden soll anhand der großformatigen Menagerie-Gemälde von Oudry den Fragen nachgegangen werden, was die Serie exotischer Tiere auszeichnet, welche Vorstellungen von Bild(raum) sich an ihnen ablesen lassen und in welchen Bedeutungskontext sie im Schloss Schwerin gestellt werden.
222
Silke Förschler
Abb. 2 Jean-Baptiste Oudry, Rhinozeros, 1749
To p o l o g i e n vo n T i e r u n d Ra u m Geleitet wird die Untersuchung der Relation von Tier und Interieur von den Ansätzen der topografischen und topologischen Beschreibung, die Sigrid Weigel und Stephan Günzel in die Debatte um den spatial turn eingebracht haben. In Abgrenzung der deutschen Kulturwissenschaften von den amerikanischen Cultural Studies macht Weigel einen Raumbegriff stark, der historische, mediale und territoriale Konstruktionen berücksichtigt.4 Damit, so die Autorin, rücken Fragen nach einer eurozentristischen Formierung von Räumen durch Projektionen auf das Andere ebenso wie kausale Zusammenhänge zwischen Räumen, historischen Ereignissen und sozialen Handlungen in den Hintergrund. Mit der Betonung des ‚Grafischen‘ in der Topografie stellt Weigel hingegen die Lesbarkeit kultureller Zeichen für die Konstruktion von Raum sowie
4
Sigrid Weigel, „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raum-
konzepte in den Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2, 2002, S. 151–165.
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Was macht das Tier im Interieur?
Zuschreibungsprozesse in Bezug auf Raumkonstellationen in den Fokus. Mit dieser Engführung kommt die Autorin zu der Aussage, dass Raum selbst „als eine Art Text betrachtet [werden kann, S. F.], dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind“.5 Stephan Günzel ergänzt die topografischen Fragestellungen um topologische Aspekte. Für den Autor zeichnen sich diese dadurch aus, dass eine topologische Beschreibung Verhältnisse fasst, die auch unter veränderten Bedingungen gleich bleiben.6 Im Vordergrund stehen bei Günzel die Relationen von Körpern und Objekten zum Raum und die Frage nach der Art dieser Beziehungen. Für eine kunsthistorische Interpretation mit dem Fokus auf die Konstruktion von Raum bietet es sich an, die grafischen Zeichen der Bilder in ihren Bezügen zu einem kulturellen, geografischen, territorialen oder architektonischen Raum zu untersuchen. Darüber hinaus lassen sich Raumkonstruktionen in der Relation einzelner Bildelemente und in der Erzeugung von Perspektiven in den einzelnen Bildern analysieren. Im Folgenden werden die Anordnungen der Tiere im Bild(raum) daher als Ausdruck einer topologischen Relation verstanden, um Aussagen über die Topografie von exotischem Tier und Betrachtendem im 18. Jahrhundert formulieren zu können. Ebenfalls von Interesse ist, wie das exotische Tier durch seine Anordnung im Interieur zum Legitimationsnachweis für soziale Distinktion wird.
O u d r ys g e m a l t e M e n ag e ri e vo n Ve r s a i l l e s Jean-Baptiste Oudrys Serie der exotischen Tiere, die in der königlichen Menagerie in Versailles leben, werden sowohl mit dem Ziel in Auftrag gegeben, Macht über Güter zur Schau zu stellen und den Besitz der exotischen Tiere durch ihre gemalte Aneignung symbolisch zu präsentieren, als auch mit dem Anspruch, naturhistorisches Wissen in den Bildern zu vermitteln. Die Gemälde entstehen zwischen 1739 und 1745
5
Ebd., S. 160.
6
Stephan Günzel, „Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die
Unterschiede zwischen Raumparadigmen“, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hrsg. von Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld 2008, S. 219–237.
224
Silke Förschler
im Auftrag von François Gigot de la Peyronie (1678–1747), Arzt und Mitglied der Académie royale de chirurgerie. Die Menagerie in Versailles ist die erste eigens entworfene Menagerie in Europa, geplant vom Hofbaumeister und Gartenarchitekten Louis Le Vau (1612–1670). Zwischen 1663 und 1670 wird eine zentrale Anlage gebaut, in der die verschiedenen Tierhöfe radial um einen Mittelpavillon gruppiert sind. Der Kuppelsalon ist exotischen Tieren vorbehalten. Die sieben kreisförmig angeordneten Tierhöfe können die Besucher der Menagerie sowohl vom Balkon des Salons überblicken als auch von dem den oktogonalen Pavillon umgebenden Hof.7 In erster Linie dient die Menagerie der Unterhaltung und Zerstreuung Ludwigs XIV. und der höfischen Gesellschaft. Seit Ende des 17. Jahrhunderts ist der Ort auch ausgewählten Besuchern zugänglich. Oudry fertigt 45 Gemälde von lebenden Tieren der Menagerie. 1750 wird eine Sammlung von 33 Tiergemälden und 43 Tierzeichnungen an Christian Ludwig II. Graf von Mecklenburg-Schwerin verkauft, wo sie sich heute noch befindet. Eine Kollektion von zwölf Gemälden gelangt in die Nationalgalerie Stockholm. Was ist die Funktion von Oudrys Tierporträts? Oudry schreibt am 25. März 1750 an den Kammerherrn von Herzog Christian Ludwig II.: „Vous me faites l’honneur de me dire Monsieur [votre] désire d’avoir quelques tableaux de ma façon? J’en ai actuellement une suite propre à décorer une gallerie. Cette collection unique est composée des tableaux compris au mémoire ci joint. Ce sont les principaux animaux de la ménagerie du Roy que j’ai tous peints d’après nature par ordre de Sa Majesté et sous la direction de Mr. De la Pe[y]ronie Son premier chirurgien, qui vouloit les faire graver, et former une suite d’histoire naturelle pour le Jardin Botanique de Sa Mté. J’ai fait ces tableaux avec grand soin; ils me sont restés par la mort de Mr.
7
Im unteren Bildrand eines Stiches der Menagerie mit dem Titel Château de Versailles
et Château du Trianon von Nicolas Langlois, der um 1640 tätig war, befindet sich folgende Beschreibung: „Le Salon de la Menagerie que l’on voit icy par derriere est entouré d’une cour aussi de figure octogone fermée de grilles de fer, qui la separe de sept autres cours remplies d’oiseaux rares et d’autres animaux de divers pais eloignés. La première cour à main gauche en entrant contient les escuries, les estables, et les bergeries, dans la 3e a main droitte est une voliere magnifique remplie de Pigeons de diverses especes curieuses.“ Inv. GRAV. 465, vgl. Marina Belozerskaya, „Menagerien: Fürstliche Notwendigkeiten und Spiegel ihrer Zeit“, in: von Berswordt-Wallrabe 2008 (wie Anm. 2), S. 59–73, hier Abb. 8, S. 69.
225
Was macht das Tier im Interieur?
De La Peyronie; aussy j’en demande moitié moins que je n’en demanderois si S.A.S. me les avoit commandés.“ 8 Das Zitat zeigt, dass Oudry, der aufgrund des Todes von de la Peyronie gezwungen ist, einen neuen Käufer für seine Menagerie-Gemälde zu finden, selbst die dekorative Funktion der Bilder keineswegs ausschließt, dass er sie aber für einen wissenschaftlichen Zweck gefertigt hat: Sie sollen als Vorlage für naturhistorische Grafiken dienen. Die Gemälde sind als Serie konzipiert und für die dauerhafte Ausstellung im königlichen Botanischen Garten gedacht. Für welchen Botanischen Garten Oudry seine Gemälde fertigt, lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen. Vermutlich handelt es sich, wie Xavier Salmon 2003 dargelegt hat, um den Jardin botanique du roi in der Rue Fauboug Saint Victoire in Paris.9 Dieser Garten wird von Jean-Baptiste Colbert (1619–1683), dem Finanzminister Ludwigs XIV., 1650 als Jardin royal des plantes médicinales angelegt und dient als Schulungseinrichtung, in der die königliche Pflanzensammlung und Tierpräparate aus der Menagerie zu Versailles untergebracht sind. Seit 1739 ist Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) Superintendent dieses Botanischen Gartens. Mit der Umwandlung zum Musée d’histoire naturelle im Jahre 1793 gelangen auch lebendige Tiere dorthin.
D i e M e n ag e ri e - S e ri e i n S c hwe ri n Wie wichtig Naturalia und Artificialia für die Außenwirkung und die Repräsentation des Schweriner Hofes im 18. Jahrhundert sind, zeigt eine Beschreibung des irischen Schriftstellers Thomas Nugent (1700–1772) in seinem Reisebericht Travels through Germany von 1768:
8
Schwerin, Landeshauptarchiv, Älteres Aktenarchiv, 2.12-1/26, Hofstaatssachen,
Kunstsammlungen, Angebote und Erwerbungen, Nr. 109, fol. 9r-10r, zit. n. Christoph Frank, „Künstlerisch-Fürstliche Beziehungen. Neue Erkenntnisse zu Jean-Baptiste Oudry und dem Hof von Mecklenburg-Schwerin“, in: von Berswordt-Wallrabe 2008 (wie Anm. 2), S. 31–55, hier S. 53. Zuerst veröffentlicht von: Paul Seidel, „Beiträge zur Lebensgeschichte Jean-Baptiste Oudrys“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 13, 1890, S. 80–110, hier S. 99. 9
Xavier Salmon, „The Duke and the Cassowary. The Animals by Jean-Baptiste
Oudry“, in: FMR: The Magazine of Franco Maria Ricci 126, Februar/März 2004, S. 69–86.
226
Silke Förschler
„Die Galerie des Herzogs, die aus sieben großzügig bemessenen Räumen besteht, ist mit den exquisitesten Gemälden von den wichtigsten Meistern sowie allerlei seltenen Naturalia und Artificialia bestens ausgestattet. Ich habe alles drei oder viermal besichtigt und kann Ihnen versichern, dass wenige Fürsten in Deutschland ein schöneres Museum besitzen.“ 10 Auch in einem anonymen Brief vom 1. Juni 1775, der sich unter den Papieren des diplomatischen Vertreters Frankreichs in Hamburg, Charles Etienne Coquebert de Montbret (1755–1831), befindet, sind sowohl künstlerische Werke als auch Objekte der Naturgeschichte voller Bewunderung erwähnt: „Nach dem Abendessen (mit der Herzogin) besichtigten wir die Kabinette des Herzogs, wo es sehr schöne Gemälde und eine große Anzahl Originalgemälde von den besten flämischen Malern gibt. Unter den naturgeschichtlichen Objekten entdeckte ich zwei Hörner, die wohl von Büffeln stammten und die 1749 in dem Flüsschen Stör, das gerade gereinigt wurde, entdeckt wurden.“ 11 Deutlich wird mit diesen beiden Zitaten, dass naturhistorischen Objekten und Kunstwerken die gleiche Aufmerksamkeit der Besucher des Schweriner Schlosses zukommt und ihre Präsenz einen Widerhall in den Beschreibungen der fürstlichen Sammlung findet. Das Besondere an Oudrys Menagerie-Gemälden ist die Tatsache, dass ihre exotischen Tiere auch Eigenschaften von Naturalia aufweisen, also als Wunder der Natur verstanden werden können und die kulturelle Aufladung dieser Kategorie präsent machen. Sie sind großformatige Gemälde eines am französischen Hof angesehenen Malers, der von Ludwig XV. immer wieder beauftragt wird, Jagdszenen für die Schlösser in Versailles und Chantilly zu malen. Oudry hat hohe Ämter inne, die dem Hof in Schwerin seinen Status als Künstler deutlich machen; 1726 wird er zum Maler der Teppichmanufaktur Beauvais ernannt, seit 1733 ist er Leiter der Pariser Manufacture des gobelins und 1743 wird er Professor
10 Thomas Nugent, Travels through Germany, Bd. 1, London 1768, S. 229, zit. n. Frank 2008 (wie Anm. 8), S. 31. 11
Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms.n.a.fr. 20102, fols. 120V–121V, zit. n.
Frank 2008 (wie Anm. 8), S. 31.
227
Was macht das Tier im Interieur?
der Académie royale. Allgemein kann in Oudrys Gemälden der zentrale Stellenwert des Zeichnens und Malens nach der Natur abgelesen werden. Die gemalte Serie der Tiere der königlichen Menagerie in Versailles entspricht der zeitgenössischen Erwartung an eine Abbildung, die von einem Augenzeugen umgesetzt ist; für diese dessin d’après nature steht Oudry persönlich ein.12 Sowohl mit der innerbildlichen Ästhetik, die naturhistorischen Ansprüchen folgt, als auch mit dem Namen des Künstlers Oudry eignet sich der Schweriner Hof Normen des französischen Hofes und des Jardin botanique du roi souverän an. Darüber hinaus trägt Herzog Christian Ludwig II. seinen erlesenen Geschmack zur Schau und betont mit der erfolgreichen Eingliederung der Menagerie-Gemälde in das Interieur des Schweriner Schlosses seine Distinktion gegenüber anderen deutschen Fürstentümern.13 Wie eng die Verbindung zwischen dem Schweriner Hof und Oudry ist, lässt sich an erhaltenen Briefen und Berichten nachvollziehen. Seit 1733 ist die Korrespondenz zwischen Oudry und den Schweriner Kammerherren Hafften und Caspar belegt; in den 1750er Jahren gibt es darüber hinaus einen direkten schriftlichen Austausch zwischen Oudry und Herzog Christian Ludwig II. Außerdem hat Oudry die Rolle des marchand mercier für den Schweriner Hof inne: Er beschafft dem Herzog Luxusartikel aus Paris – Möbel, Lampen und Statuen – und beurteilt die Qualität der Waren. So schafft er eine Sammlung von Objekten und Kunstwerken, die dem herrschenden Geschmack der Zeit entspricht, der alles „Französische“ zum Standard erklärt.14 Ein weiterer Kontakt zwischen Oudry
12
Wie Ernst Gombrich herausgearbeitet hat, gibt es diese Bezeugungsformel der eige-
nen Anschauung bei Tierdarstellungen schon seit dem 16. Jahrhundert, jedoch bewahrt sie die Zeichner nicht davor, Fehler anderer Abbildungen zu übernehmen. Ernst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Köln 1967, S. 104–105. 13
So bemerkt Thomas Nugent 1768: „Wenn die Gemälde des Palastes und diejenigen
vom Schweriner Schloss in einer Galerie untergebracht wären, würden sie eine Sammlung bilden, die es mit den besten fürstlichen Sammlungen in Deutschland aufnehmen könnte.“ Nugent 1768 (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 265, zit. n. Frank 2008 (wie Anm. 8), S. 49. 14
Wie das Netzwerk zwischen Oudry und dem Schweriner Hof funktioniert, hat
Christoph Frank grundlegend aufgearbeitet, vgl. Frank 2008 (wie Anm. 8), S. 31–57. Zur populärkulturellen Aneignung von Konsumgütern aus der Metropole Paris im Journal des Luxus und der Moden, das seit 1786 in Weimar herausgegeben wird, siehe: Boris Roman Gibhardt, „Großstadtware im klassischen Weimar. Zur Aneignung von Wissen im Kulturaustausch“, in: Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert, hrsg. von Silke Förschler und Nina Hahne, München/Paderborn 2013, S. 147–161.
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und dem mecklenburgischen Fürstentum lässt sich im Zusammenhang mit dem Besuch des Prinzen Friedrich (1717–1785) in Frankreich nachweisen. Auf seiner Grand Tour von 1737 bis 1739 zu Kunstsammlungen in Brüssel, Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Paris besichtigt Prinz Friedrich auch Oudrys Atelier im Louvre.15 Ein Ergebnis dieses Besuchs ist die Beauftragung eines Porträts, das den Kronprinzen in römischer Rüstung und mit einer der Pariser Mode entsprechenden gepuderten Zopfperücke zeigt, deren offene Haare mit einem Band hinten zusammengehalten werden.16
I n n e r b i l d l i c h e O rd n u n g d e r T i e r s e ri e 16 Das verbindende Merkmal aller Gemälde der Menagerie-Serie von Oudry ist der übereinstimmende Bildaufbau. Ein massiver Tierkörper befindet sich jeweils im Vordergrund, ähnlich wie bei der Bildkomposition eines Porträts ist der das Tier umgebende Raum wenig ausgearbeitet. Die dargestellte Landschaft entspricht nicht dem Habitat der Tiere, sie dient lediglich der Hervorhebung der Präsenz des Tieres und seiner Nähe zum Betrachter. Dies betont auch Oudry in seinem an den Schweriner Hof gerichteten Memorandum mit dem Titel Mémoire d’une collection de tableaux originaux du Sr. Oudry, peintre ordinaire du Roy et professeur en son Académie Royale de peinture et de sculpture vom 25. März 1750: „Tous ces tableaux ont des fonds de paysage suivant les oppositions nécessaires pour faire valoir les animaux“.17 In dieser Aussage Oudrys wird die Relation zwischen 15
Siehe das Tagebuch des Hofmeisters von Nitzschwitz, der Prinz Friedrich auf
seinen Reisen begleitete. Schwerin, Landeshauptarchiv, 2.12-1/7, Reisen mecklenburgischer Fürsten, Nr. 294, n. fol., zit. n. Everhard Korthals, „The Art Tour of Friedrich of Mecklenburg-Schwerin“, in: Simiolus 31, 3, 2004/05, S. 216–250, hier S. 247–248. 16
Öl auf Leinwand, 80,5 × 66 cm, Staatliches Museum Schwerin. Vgl. zur Bedeutung
der französischen Kultur im 18. Jahrhundert am Schweriner Hof Gerhard Graulich, „Von der Niederländischen zur Französischen Kunst. Zur Umorientierung der Mecklenburgischen Sammlungspolitik im 18. Jahrhundert“, in: Verfassung und Lebenswirklichkeit. Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 in seiner Zeit, hrsg. von Matthias Manke und Ernst Munch, Lübeck 2006, S. 297–314. 17
„[Haben] alle Bilder einen landschaftlichen Hintergrund, den nötigen Kontrast
entsprechend, um die Tiere vorteilhaft zu zeigen“, Schwerin, Landeshauptarchiv, Älteres Aktenarchiv, 2.12-1/26, Hofstaatssachen, Kunstsammlungen, Angebote und Erwerbungen, No. 109, fol.11r-11v; Anhang des Briefes von Oudry an T. J. Caspar vom 25. März 1750, zit. n. Frank 2008 (wie Anm. 8), S. 55.
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Tier und Landschaft deutlich. Die dargestellte Natur, bestehend aus Tier und Landschaft, ist eindeutig hierarchisch geordnet. Die Landschaft im Hintergrund hat unterstützende Funktion, sie soll Charakteristika und Besonderheiten der Tiere zur Geltung bringen. Bei der Wiedergabe der Tierkörper und der arteigenen Merkmale werden die Farben und Oberflächen von Haut, Fell oder Gefieder deutlich herausgearbeitet.18 Die strenge Wiederholung des von Oudry zum Programm erklärten Bildaufbaus in allen Menagerie-Gemälden setzt diesen als Darstellungsmuster fest und schafft so ein Paradigma, mit dessen Hilfe die unterschiedlichen Tiere verglichen werden können. Mit diesen standardisierten Tierdarstellungen unterscheiden sich Oudrys Bilder von früheren Tierdarstellungen, beispielsweise Eva und Adam im Paradies von Peter Paul Rubens aus dem Jahr 1615, auf denen die Tiere in eine biblische Narration eingebunden sind. Auf dem Gemälde Antilope aus dem Jahr 1739, einem frühen Bild aus der Menagerie-Serie, wird eine indische Hirschziegenantilope so vor einer Felsenlandschaft platziert, dass sich ihr Kopf und ihre Hörner von dem blauen Himmel abheben (Abb. 3).19 Eingerahmt ist das Tier links von einem steilen Abhang sowie einem Felsen und rechts von einer Gebirgslandschaft in der Ferne. Am Rand eines Felsabgrundes steht die Antilope in Seitenansicht mit leicht gesenktem Kopf, der dem Betrachter zugewandt ist. Der Betrachter wird mit dem rechten Auge direkt angeblickt. Durch die Untersicht, in der die Antilope wiedergegeben ist, ist auch das helle Fell am Unterbauch, am Hals und an den Innenseiten der Beine zu sehen. Sowohl die Untersicht als auch der direkte Blickkontakt zwischen Betrachtenden und Antilope finden sich in der vorangegangenen Gouache-Skizze noch nicht (Abb. 4). Es lässt sich also vermuten, dass die Bildkonzeption der Antilope auch als Ergebnis der Relation von Landschaft und Tier verstanden werden kann, denn die Farbigkeit der Antilope wird durch die sie umgebende Landschaft betont: Das braune Fell setzt sich vor dem Grün des Felsens ab, während sich das Weiß um die Augen und am Unterbauch im Gebirge wiederfindet. Und auch der direkte Blick aus dem Bild und der damit entstehende Kontakt zwischen 18
Vgl. hierzu Kornelia von Berswordt-Wallrabe, „Die Immanenz der Farbe und der
Bildraum im Werk von J.-B. Oudry“, in: Jean-Baptiste Oudry, Jean-Antoine Houdon: Vermächtnis der Aufklärung, hrsg. von Kornelia von Berswordt-Wallrabe, Ausst.-Kat. Sammlung Staatliches Museum Schwerin, Schwerin 2000, S. 25–29. 19 Öl auf Leinwand, 162 × 129 cm, signiert und datiert unten links, Sammlung Staatliches Museum Schwerin.
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Abb. 3 Jean-Baptiste Oudry, Antilope, 1739
Tier und Betrachtenden sind dem Genre des Porträts im Medium des Gemäldes angemessen. Die V-Form der leicht in sich geschwungenen Hörner wird durch die Schräge der Felsen im Hintergrund hervorgehoben. Lenkt die Landschaft den Blick auf die Hörner, als Besonderheit des Tieres, sind diese in ihrer Beschaffenheit detailliert dargestellt. Die Hörner sind von Erhebungen einzelner Ringe durchzogen, die sich wie ein Band an die Spitze schlängeln. An ihnen ist ein genaues Studium der Materialität sowie der Oberfläche des Horns möglich. Der Naturforscher Buffon, der nicht zwischen Gazelle und Antilope unterscheidet, behandelt die Gazelle in seiner Histoire naturelle ausführ-
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Abb. 4 Jean-Baptiste Oudry, Antilope, ca. 1739
lich. Er schreibt, dass ihm die Gazellen der Menagerie sowie einige Hörner, Skelette, ein Fell und in Alkohol konservierte Tiere im Cabinet du roi zur Verfügung stehen. Gleichwohl liest sich sein Text wie eine genaue Beschreibung von Oudrys Antilope.20 Er beschreibt den Sitz der Hörner über den Augen, zählt 13 bis 14 Ringe, schildert deren sich windenden Verlauf und das glatte, spitze Oberende der Hörner. Ebenso von Interesse für Buffon sind die genaue Wiedergabe der farblichen Schattierungen des Fells sowie Besonder-
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Vgl. zur Verbindung zwischen Oudrys Menagerie-Gemälden und Buffons Beschrei-
bungen in der Histoire naturelle bei Löwe und Antilope auch das Kapitel „Jean-Baptiste Oudrys Kaleidoskop der Tiere“ in Ellen Spickernagel, Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.–19. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 84–107, deren Argumentation ich hier folge.
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heiten wie die weißen Hinterbacken und das weiße Unterfell, die spitze Hufform und die Daumenkralle.21 Sicher würde die Feststellung einer Ähnlichkeit zwischen Oudrys Gemälde und seiner Beschreibung den Autor Buffon nicht stören, ist doch die Histoire naturelle gekennzeichnet durch ein akkumulierendes Produktionsverfahren, welches Autoren wie Aristoteles, Plinius, Gesner, Aldrovandi sowie Reiseberichte und textliche Ausführungen zu Tieren, die mithilfe von Zeichnungen einzelner Reisender gemacht wurden, integriert. Gleichwohl haben die Beschreibungen in der Histoire naturelle einen systematischen und empirischen Anspruch, nämlich das Ziel, morphologische und anatomische Merkmale zu bestimmen. Zu den Erweiterungen, die Buffon in die Naturgeschichte einführt, zählen, wie Ellen Spickernagel dargelegt hat, Beobachtungskriterien wie Dauer der Trächtigkeit, Zahl der Jungen, Aufzucht durch Väter und Mütter, Instinkte, Gewohnheiten und die Art zu jagen.22 Die Bedeutung, die Beobachtung in den Beschreibungen Buffons erlangt, korrespondiert mit den Möglichkeiten des genauen Studiums der Tiere, die Oudry den Betrachtenden mit seinen Bildkonzeptionen eröffnet. Zusätzlich zeigen Oudrys kunsttheoretische Ausführungen, dass er sich speziell mit den Möglichkeiten malereispezifischer Mittel auseinandersetzt, um das Fell oder die Federn einzelner Tiere zur Darstellung bringen zu können. Oudry schickt Prinz Friedrich, mit einer persönlichen Widmung versehen und in einen prächtigen Einband gebunden, die Manuskripte seiner Vorträge über Farbe und Malerei, die er am 7. Juni 1749 und am 2. Dezember 1752 in der Académie royale de peinture et de sculpture in Paris gehalten hat.23 Im zweiten Band beschreibt er seine Praktik des „peindre au premier coup“, die er für die Darstellung von Oberflächen, die sehr vergänglich sind, für den Glanz und die Farbigkeit eines Fells oder die Federn toter Tiere entwickelt hat, um den Eindruck von Frische und Lebendigkeit zu erzeugen. Hierfür trägt Oudry eine dünne Farbschicht mit hohem Tempo auf die Leinwand auf, um dann im
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Leclerc Comte de Buffon, „Description de la Gazelle“, in: ders., Histoire naturelle,
générale et particulière avec la description du cabinet du roi, Bd. 12, Paris 1764, S. 249–257. 22 Spickernagel 2010 (wie Anm. 20), S. 101. 23
Die Widmung im ersten Band lautet: „DÉDIÉ A. S. S. LE PRINCE FREDERIC.
PRINCE héréditaire DE MECKLENBOURG. 1750 Par son très humble et très obeissant serviteur J.Bte Oudry.“ Die beiden gebundenen Manuskripte mit dem handschriftlichen Text von Oudry befinden sich heute in der Universitätsbibliothek Rostock, Mss. var. 74 und Mss. var. 75.
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Folgenden die Firnisschichten sorgfältig auszugestalten; am Ende kann so ein illusionistisches „beau terminé“ erreicht werden.24 Dass Oudry Prinz Friedrich die Vorlesungsmanuskripte übersendet, macht deutlich, dass praktisches Künstlerwissen, das für die Herstellung der Gemälde zentral ist, in die Rezeption des Sammlers einfließen und so als Lesehilfe dienen soll. Festzuhalten ist, dass auf formaler Ebene das Besondere der Menagerie-Gemälde im Zusammenspiel von Tierkörper und Bildraum besteht. Es lenkt den Betrachterblick auf charakteristische Bewegungen und Posen der Tiere und darüber hinaus auf Details ihres Äußeren, die in Nahsicht studiert werden können. Diese Verknüpfung der einzelnen Bildelemente wird von Oudry genutzt, um die Tiere zu Objekten des studierenden Blicks zu machen. Im Aufgreifen von bestimmten Haltungen, von Farben ebenso wie von besonderen Körperteilen der Tiere in der von Oudry kreierten Umgebung werden diese ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt.
Tierbeobachtung Auch bei Buffon erhält das Beobachten von Tieren der Menagerie einen zentralen Stellenwert bei der Akkumulation von Wissen über die Natur. Gleichwohl unterscheidet er Beobachtungen, die an gefangenen Tieren vorgenommen werden können, vom Studium einzelner Tiere und ihres Verhaltens in freier Wildbahn. Buffon beschwert sich, dass die Gefangenschaft der Tiere in der Menagerie eine umfassende Beobachtung nicht ermögliche. Die Tiere seien in der Menagerie nur als Stillleben anzutreffen, sie seien gar unbeseelt und wirkten künstlich. Natürliche Verhaltensweisen der Tiere ließen sich nicht mehr ausmachen, da die Tiere vom Menschen eingeschüchtert seien und sich daher nicht für den „Blick des Philosophen, für den die ‚freie, wilde Natur‘ die schöne Natur ist“, eigneten.25 In dieser Beschwerde Buffons kommt das Ideal zum Ausdruck, Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum und in freier Wildbahn zu beobachten. Diesem Ideal stellt Buffon als Negativfolie eine ästhetische Vermittlung von Natur gegenüber, wie sie beispielsweise das Stillleben aufweist. 24 25
Zweites Manuskript von Oudry, ebd., S. 55 sowie S. 58–59. Buffon 1771 (wie Anm. 21), Bd. 17, S. 3–4.
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Den aus ihrem Habitat gelösten Tieren kommt in den Gemälden Oudrys ein Status zu, der sie zu Objekten eines erkenntnisorientierten Blicks macht. Ganz allgemein war das Sehen, wie Jutta Held in Bezug auf Goyas Bildwelt formuliert, eine zentrale Metapher der Aufklärung für die Individualisierung des Menschen, seine Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung auf der Basis eigener empirischer Erkenntnis.26 Als Beispiel für den historisch-zeitgenössischen Stellenwert, den die eigene Beobachtung für eine empirische Wissenserkenntnis einnimmt, lässt sich René Descartes’ Abhandlung Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences anführen, die im Jahr 1637 publiziert wurde. Das Ordnen als Methode, die Descartes wie eine Stufenleiter beschreibt, orientiert sich an einem auf sich selbst gestellten Subjekt, dessen eigene Vernunft den Leitfaden für Erkenntnis bildet. Im Zusammenhang mit Oudrys Tierporträts ist von Interesse, dass ein wesentliches Vorgehen innerhalb der Ordnungsstufen, die Descartes’ Methodologie auszeichnen, darin besteht, die Dinge und die Natur zu beobachten. So formuliert Descartes: „Hinsichtlich der Beobachtungen bemerkte ich sogar, dass sie umso notwendiger sind, je weiter man in der Erkenntnis fortgeschritten ist.“27 Auch in den Meditationes de Prima Philosophia aus dem Jahre 1641, in denen Descartes das Zweifeln als Gedankenexperiment vorstellt, spielt die Beobachtung eine wichtige Rolle, um urteilen zu können. Descartes beschreibt ein Stück Bienenwachs, um zu zeigen, wie wichtig es ist, „Dinge zu betrachten, die man gemeinhin am deutlichsten zu erkennen meint“.28 An dieser Textstelle in den Meditationes wird deutlich, dass die eigene Beobachtung von Dingen und Vorgängen wesentlich ist, um den Prozess der Erkenntnisgewinnung zu demonstrieren. Die Schilderung der eigenen Betrachtung hat hierbei die Aufgabe, den Weg zur Erlangung von Wissen vorzuführen, und ist dahingehend durchaus auch als Anleitung für das einzelne Individuum zu verstehen.
26 Jutta Held, „Goyas Bildwelt zwischen bürgerlicher Aufklärung und Volkskultur“, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 4, 1985, S. 107–131, hier S. 122. 27
René Descartes, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité
dans les sciences/Bericht über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen, hrsg. und übersetzt von Holger Ostwald, Stuttgart 2001, S. 119. 28 René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia/Meditationen über die Erste Philosophie, hrsg. und übersetzt von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986, S. 89.
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Indem Oudry mit ästhetischen Mitteln der Bildkomposition eine unmittelbare Betrachterrelation zu den exotischen Tieren herstellt, sind seine Bilder Teil des veränderten Anspruchs der zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorie und Philosophie, eine direkte Verbindung zwischen Betrachtendem und Objekt für die Generierung von Wissen vorauszusetzen. Dieses Verhältnis funktioniert in Oudrys Bildkompositionen der Menagerie-Serie ganz unabhängig davon, ob sich die Tiere in Gefangenschaft oder in der freien Natur befinden.
A n o rd n u n g e n e xo t i s c h e r T i e re i m S c h l o s s S c hwe ri n Seit dem 16. Jahrhundert ist der Besitz exotischer Tiere im europäischen Adel üblich. Je ausgefallener die Arten, desto höher, so die allgemeine Annahme, die Stellung des Halters.29 Entsprechend dieser Bedeutung von Tieren als Statussymbolen finden sich exotische Tiere in Visualisierungen auf Wandteppichen und auf Gemälden im adeligen Interieur. Das Jagdprivileg des Adels wird zusätzlich mit Geweihtrophäen und Jagdgemälden zur Schau gestellt. Auch das mecklenburgische Schloss Schwerin und die zugehörigen Residenzschlösser Güstrow und Ludwigslust besitzen eine Tradition der dekorativen Ausschmückung mit exotischen Tieren und Jagddarstellungen, an die Christian Ludwig II. mit seinem Ankauf von Oudrys Menagerie-Serie anknüpft.30 Herzog Johann Albrecht I. zu Mecklenburg (1525–1576) gibt 1572 eine zehnteilige Serie von Tiergemälden bei dem flämischen Maler Marten de Vos (1532–1603) für das Schloss Schwerin in Auftrag. Der Bildaufbau der Gemälde hat die Darstellungsweise von Wandteppichen zum Vorbild, die
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Vgl. Regina Erbentraut, „Das wilde Tier und die Fürstentugend“, in: Die Erschaffung
der Tiere. Tiere in der niederländischen Kunst des Manierismus und Frühbarock und an den wandfesten Dekorationen des Schlosses zu Güstrow, hrsg. von Dirk Blübaum und Regina Erbentraut, Schwerin 2010, S. 7–19, hier S. 7. 30 Bereits für das Jahr 1608 ist für das Güstrower Schloss ein Wandteppich mit dem Titel „Ein Stück mit dem Elephanten und Einhorner gewebett“ nachgewiesen. Er gehörte zur Aussteuer Margarethe Elisabeths zu Mecklenburg, der ersten Gemahlin des Güstrower Herzogs Johann Albrecht II. Schloss Güstrow wurde als Residenzschloss von Herzog Ulrich III. zu Mecklenburg 1558 errichtet. Vgl. Kristina Hegner, „Das fürstliche Haus. Bewegliche Ausstattung“, in: Schloss Güstrow. Prestige und Kunst 1556–1636, hrsg. von Kornelia von Berswordt-Wallrabe, Ausst.-Kat. Schwerin, Staatliche Museen 2006, S. 86–99, hier S. 88.
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einzelne Tiere als Hauptgegenstände vor einem narrativ ausgestalteten Hintergrund und in serieller Reihung zeigen.31 Vier der erhaltenen Tafeln befinden sich heute in Güstrow, sie zeigen ein Einhorn, einen Elefanten, ein Dromedar und einen Leoparden. Darstellungen von Löwe und Hirsch sind heute im Landesmuseum Mainz beheimatet. Der Bildhintergrund der Tiere setzt sich jeweils aus ethnografischen Szenen und Ausgestaltungen der Flora zusammen, wobei die Unterschiede auf die geografische Vielfalt der gezeigten Habitate verweisen. Zusammengehalten werden die unterschiedlichen Tafeln durch einen sich wiederholenden Bildaufbau und die immer gleiche Farbgebung.32 Die Präsentation der Tierserie im Interieur des Schlosses Schwerin erfolgt mit repräsentativen Absichten. Wie Ralf Weingart anhand des Grundrissplans, den der Baumeister Giovanni Pieroni (1585–1654) zwischen 1627 und 1630 vom Schweriner Schloss anfertigte, darlegt, hingen die Tafeln im Neuen Saal an den beiden fensterlosen, leicht spitzwinklig zulaufenden Innenwänden.33 In dem trapezförmigen Raum befanden sich gegenüber der Wand, an der die Tafeln aufgehängt waren, Fenster nach zwei Seiten, die einen Ausblick über den See erlaubten und den Raum mit Licht durchfluteten.34 Bis ins 19. Jahrhundert ist der Verbleib von vier Tafeln im Schloss Schwerin nachgewiesen.35 Hinsichtlich der Frage, in welche Tradition sich Christian Ludwig II. mit dem Ankauf von Oudrys Menagerie-Serie stellt, ist von Interesse, 31
Vgl. Armin Zweite, Marten de Vos als Maler. Ein Beitrag zur Geschichte der Antwerpener
Malerei in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1980, S. 245. Wie Bedini dargelegt hat, sind gemalte Menagerien vor Barock und Aufklärung selten anzutreffen. Eine Ausnahme bildet ein Bericht Giorgio Vasaris, der schildert, dass der Raffael-Schüler Giovanni da Udine im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts einen Fries in der Sala dei Palafrenieri im Vatikan mit den Menagerie-Tieren Leos X. ausmalte. Silvio A. Bedini, Der Elefant des Papstes, Stuttgart 2006, S. 20. 32
Regina Erbentraut, Johann Albrecht I. zu Mecklenburg und die großen Tiere, in: von
Berswordt-Wallrabe 2006 (wie Anm. 30), S. 21–31, geht davon aus, dass neben dem inhaltlichen Zusammenhang der Motive der Auftrag außerdem darin bestand, mit den gleich großen Tafeln ein einheitliches Raumkonzept zu schaffen. 33
Ralf Weingart, „Vom Wendenwall zur Barockresidenz. Das Schweriner Schloss vor
dem Umbau im 19. Jahrhundert“, in: Schloss Schwerin. Inszenierte Geschichte in Mecklenburg, hrsg. von Kornelia von Berswordt-Wallrabe, Staatliche Museen Schwerin 2008, S. 8–57, hier S. 38–39. 34 Manfred Franz, Das Schloss zu Schwerin. Ursprung und baugeschichtliche Entwicklung, ästhetische Analyse und Wertung, Schwerin 1993, S. 35. 35
Friedrich Lisch, „Über den Maler Erhard Gaulrap“, in: Jahrbücher des Vereins für
mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 21, 1856, S. 305.
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dass in der Zeit seines kaiserlichen Kommissariats vier von de Vos’ Tafeln vermutlich noch an der ursprünglich für sie vorgesehenen Stelle hingen.36 Die repräsentative Bedeutung einer Serie gemalter exotischer Tiere von hoher künstlerischer Qualität im Interieur, wie sie im 16. Jahrhundert etabliert wurde, muss also noch präsent gewesen sein. Schon zu Zeiten seines Kommissariats beginnt Christian Ludwig II. mit dem Aufbau einer Sammlung. Sowohl seine Regierungszeit von 1747 bis 1756 als auch die seines Sohnes Friedrich des Frommen von 1756 bis 1785 sind geprägt von einer desolaten Wirtschaftslage und von Konflikten mit dem mächtigen Adelsstand. Erfolgreich verläuft hingegen die Vergrößerung der Kunstsammlung. Die Sammlung wächst derart, dass an das Schloss eine eigene Galerie angebaut wird (in zwei Phasen 1736/37 und 1750/51). Für die Außenwirkung des Herzogtums von Mecklenburg ist, so kann der Neubau gedeutet werden, die Präsentation der angekauften Werke als zusammenhängende Kunstsammlung entscheidend. Die Möglichkeit, eine eigene Galerie zu errichten, um die Kunstwerke gemeinsam präsentieren zu können, bildet zudem die Chance der Unterscheidung von den aufkommenden und sich ausbreitenden bürgerlichen Sammlungen. Rudolf Schlögl hat darauf hingewiesen, dass die bürgerliche Sammlungstätigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dadurch eingeschränkt ist, dass nur angekauft werden konnte, was im eigenen Haus zeigbar ist.37 Die neuen Ausstellungsflächen in Schwerin bieten hingegen auch die Chance, Oudrys Gemälde zusammenhängend auszustellen.38 Auch wenn ihre exakte Hängung in der neuen Galerie nicht rekonstruiert werden kann, ist davon auszugehen, dass die Konzeption der Gemälde als Serie auch Auswirkungen auf ihre Rezeption hatte. Die Vermutung liegt nahe, dass das Erfassen, Vergleichen und Betrachten der lebensgroßen exotischen Tiere eine Bewegung im Raum erforderlich 36
So verzeichnet ein Inventar von 1736 „4 Portraits [...] eines einen Tieger, das andere
ein cameel, das 3te ein Einhorn und das 4te eine Türckische Historia vorstellend im Vorgemach zu den französischen Zimmern“, LHAS, 2.12-1/26, Hofstaatssachen Inventare, Nr. 2, zit. n. Franz 1993 (Anm. 34), S. 36. 37
Rudolf Schlögl, „Geschmack und Interesse. Privater Bildbesitz in rheinisch-westfä-
lischen Städten vom 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert“, in: Bürgertum und Kunst in der Neuzeit, hrsg. von Hans-Ulrich Thamer, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 125–157, hier S. 137. Für diesen Literaturhinweis und für die Anregungen zum Zusammenhang von Kunst, Politik und Distinktion im 18. Jahrhundert danke ich Sune Erik Schlitte. 38
Vgl. Mary Morton, „Oudrys gemalte Menagerie“, in: von Berswordt-Wallrabe 2008
(wie Anm. 2), S. 118–123, hier S. 122.
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machte. Eine Ausnahme bildet das Gemälde des Rhinozeros Clara. In seinem Memorandum nach Schwerin beschreibt Oudry den besonderen Rang des Gemäldes und die an der Lebensgröße des Rhinozeros orientierte Umsetzung auf der Leinwand. „Il vient à Paris l’année dernière un Rhinocéros que le dit Sr Oudry a peint d’àpres nature et de la même grandeur de cet animal, il a 12 pieds de la teste à la queue et 6 pieds de haut; cet animal est peint sur une toile de 15 pieds de large sur 10 pieds de haut avec un fond de paysage du prix de ...8000. Sy S.A.S. renoit le Rhinocéros il demanderoit en grace de ne l’envoyer qu’à la fin du mois de Septembre prochain, pour qu’il soit exposé au Salon du Louvre cette année, comme ceux cy dessus y ont été exposés les années précédentes, comme on peut sçavoir par une petite brochure qui s’imprime tous les ans et qui fait le détail des ouvrages des académiciens qui y sont exposés.“ 39 Da das Gemälde noch im Salon ausgestellt werden soll, trifft es erst im März 1752 in Schwerin ein und wird dort zunächst einmal im Schrank verstaut.40 Seinen großen Auftritt hat das Gemälde Claras erst, nachdem Herzog Friedrich der Fromme den 1772 begonnenen Bau des Schlosses Ludwigslust 1776 als Hauptresidenz fertig stellt. Wie Mark Leonard herausgearbeitet hat, befindet sich im Speisesaal von Ludwigslust eine Bildleiste, die genau die Maße des Gemäldes aufweist.41 An der Hängung des Rhinozeros in einem Raum des alltäglichen Gebrauchs und sozialer Rituale kann zweierlei abgelesen werden: Auch knapp 30 Jahre nach Grimms Bericht an Diderot über den Rausch der ‚Rhinomanie‘ in Paris hat das Phänomen noch Bestand. Mit dem bekanntesten Nashorn Europas wird Ludwigslust europäischen Adelsinterieurs vergleichbar und anschlussfähig gemacht. Allein gestellt und isoliert erfüllt Clara in einem Speisesaal des neuen Schlosses die Funktion sozialer Teilhabe am Phänomen der ‚Rhinomanie‘.
39
Jean-Baptiste Oudry, Mémoire d’une collection, zit. n. Frank (wie Anm. 8), S. 54.
40
Schwerin, LHA, 2.12-1/26, Hofstaatssachen, Kunstsammlungen, Angebote und
Erwerbungen, Nr. 109, fol. 25r; Inventarium 1752; „Der sogenannte blaue Saal...1 großer Schrank von Tannen Holtz mit 4 Thüren worinn das Conterfait von dem großen Rhinoceros“, zit. n. Frank (wie Anm. 8), S. 50. 41 Mark Leonard, „Anmerkungen zur Restaurierung von Jean-Baptiste Oudrys Rhinozeros und Löwen“, in: von Berswordt-Wallrabe 2008 (wie Anm. 2), S. 104–117, hier S. 116.
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Schluss Die Menagerie-Serie von Oudry und ihre Hängung in den Schlössern von Schwerin und Ludwigslust lassen sich als Ausdruck einer topologischen Relation begreifen. Relationen finden sich zwischen Betrachtenden und Tier und zwischen exotischem Tier und Raum. Mit der Art der innerbildlichen Anordnung wird ein beobachtendes Subjekt positioniert, das in der Lage ist, sich die Natur empirisch zu erschließen. Gemälde von exotischen Tieren werden in Schlössern als essenziell für die symbolische Aufladung von Räumen mit repräsentativer Funktion definiert. Anhand der Beziehung vom Tierkörper zu einem wenig ausgestalteten Bildraum ist auszumachen, wie im 18. Jahrhundert die Natur erfasst werden soll. Einzelne Merkmale treten beim Beobachten in den Blick, wie beispielsweise das Fell oder die Haut der Tiere, Hörner und Hufe sowie bestimmte Posen. Natur, so die Botschaft, ist in Fragmenten erfahrbar und wird partiell ins Bild gesetzt. Dabei kommt es nicht auf eine evidente Beziehung zwischen den einzelnen Bildteilen an, wie zwischen der Landschaft im Hintergrund und dem Tier im Vordergrund. In den Gemälden exotischer Tiere werden im 18. Jahrhundert Ordnungsmuster naturhistorischer Erkenntnisfindung generiert. Gleichzeitig erfüllt der Besitz von lebenden, ausgestopften oder gemalten Tieren – und hier vor allem von Tieren, die auf anderen Erdteilen beheimatet sind – sowie ihre Ausstellung in adeligen und fürstlichen Interieurs die Funktion von symbolischem Kapital, das die eigene Affinität zu und Vertrautheit mit Luxusgütern unter Beweis stellt. Der Besitz von Gemälden exotischer Tiere zeugt außerdem von einem Traditionsbewusstsein fürstlicher Menagerien seit dem 16. Jahrhundert. Mit der Anordnung exotischer Tiere im Interieur werden Reichtum, Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse und Zugriff auf kulturelle wie natürliche Ressourcen vorgeführt. Das Interieur wird als Ort konstruiert, an dem gleichermaßen Wissen über die Natur erlangt werden kann wie auch künstlerische Qualität erfahrbar ist. In der Gestaltung des Interieurs mit Tieren, die Exotik, Luxus und naturhistorisches Wissen verbinden, zeigt sich im 18. Jahrhundert adelige Statuskompetenz.
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Autorinnen und Autoren
A s t r i d A r n o l d , D r . , studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Französische Philologie an den Universitäten Bonn, Paris IV und Freiburg. Seit August 2010 ist sie Leiterin des Deutschen Tapetenmuseums sowie Sammlungsleiterin der Abteilung Schlossmuseen an der Museumslandschaft Hessen Kassel. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Aufbau des Europäischen Museums für Modernes Glas an den Kunstsammlungen der Veste Coburg sowie als wissenschaftliche Assistentin am Historischen Museum Basel beschäftigt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind historische Interieurs, Antikenrezeption und Sammlungsgeschichte. Publikationen (Auswahl): Villa Kérylos. Das Wohnhaus als Antikenrekonstruktion, München 2003; Die Réveillon-Tapete à l’étrusque. Antike auf Papier „nach Hamiltons bekanntem Werke“, Basel 2006. A n g e l a B o r c h e r t , P r o f . D r , ist Associate Professor of German and Comparative Literature an der Western University in London, Ontario/Kanada. Ihre Forschung befasst sich mit der Zeit um 1800 und den Themen Mode, Modejournale, Geselligkeit und Gelegenheitsdichtung in Weimar (vor allem zur Zeit Goethes) sowie mit Kreativität und Gender. Publikationen (Auswahl): Poetische Praxis. Gelegenheitsdichtung und Geselligkeitsdichtung an Herzogin Anna Amalias Hof in Weimar, Ettersburg und Tiefurt (1759–1807), erscheint voraussichtlich 2014; Das Journal des Luxus und der Moden. Kultur um 1800, Heidelberg 2004 (hrsg. mit Ralf Dressel). Katharina Eck, M.A . , hat nach einem Studium der Komparatistik, Romanistik und Betriebswirtschaftslehre in Tübingen und in Niterói/ Brasilien den Masterstudiengang „Historische Kunst- und Bilddiskurse (Aisthesis)“ an der LMU München, der Universität Augsburg, der KU Eichstätt-Ingolstadt sowie der ENS Paris absolviert. Seit 2010 ist sie Mariann-Steegmann-Stipendiatin und promoviert über sich auf literarische Texte beziehende Bildtapeten der Manufaktur Dufour. Sie ist im Forschungsfeld „wohnen +/− ausstellen“ an der Universität Bremen tätig und insbesondere an transdisziplinären Fragestellungen der Literaturund Bildwissenschaft interessiert. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Interieurgestaltungen und Wahrnehmungsstrukturen sowie philosophische Ästhetik und Gender Studies in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): „Protective Buildings, Exposed Bodies. The Femme Maison-Imagery in the Art of Louise Bourgeois“, in: Women’s Studies 41, 8, 2012, S. 904–924; „Papiers Peints und ihre Wandgeschich-
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Interieur und Bildtapete
ten. Kategorisierungs- und Diskursivierungsstrategien für französische Bildtapeten“, in: Kategorien zwischen Denkform, Analysewerkzeug und historischem Diskurs, hrsg. von Elisabeth Fritz u. a., Heidelberg 2012, S. 293–308. S i l k e F ö r s c h l e r , D r . , ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im LOEWE-Schwerpunkt „Mensch – Tier – Gesellschaft“ an der Universität Kassel, zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg „Dynamiken von Raum und Geschlecht“ und Stipendiatin im Landesforschungsschwerpunkt „Aufklärung, Religion, Wissen“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie promovierte im DFG-Graduiertenkolleg „Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktionen und Interkulturalität“ an der Universität Trier. Die Dissertation ist 2010 unter dem Titel Bilder des Harem. Medienwandel und kultureller Austausch im Reimer Verlag Berlin erschienen. Aktuelle Herausgeberschaften sind: Methoden der Aufklärung. Ordnungsmuster der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert, München 2013 (mit Nina Hahne); Verorten – Verhandeln – Verkörpern. Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht, Bielefeld 2014 (mit Rebekka Habermas und Nikola Roßbach). B e t j e B l a c k K l i e r , D r . , studierte Geschichte und Kunstgeschichte an der Stanford University sowie Fremdsprachenpädagogik und Romanistik an der University of Texas, Austin. Sie unterrichtete Psycholinguistik sowie französische und spanische Kulturgeschichte an der Auburn University, der Texas State University, der Southwestern University und der University of Texas. 2001 wurde sie mit dem Otis Locke Award der East Texas Historical Association in der Kategorie „Best Book in Texas History“ sowie dem Texas Institute of Letters Award der Dallas Public Library ausgezeichnet. Kliers Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Louisianas und Texas’ sowie der Grenzgebiete der heutigen USA. Publikationen (Auswahl): Champ d’Asile: the Music, Art, Literature, and Politics of the Bonapartist Colonies in Texas and Alabama (in Vorbereitung); Théodore Pavie, Souvenirs atlantiques, Paris 2009; Pavie in the Borderlands. The Journey of Théodore Pavie to Louisiana and Texas, 1829–1830, Including Portions of His Souvenirs atlantiques, Baton Rouge 2000. C o r n e l i a K l i n g e r , P r o f . D r . , studierte in Köln Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1983 ist sie ständiges wissenschaftliches Mitglied am Institut für die Wissenschaften vom
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Autorinnen und Autoren
Menschen in Wien, seit 2003 außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Politische Philosophie/Gesellschaftstheorie, Theoriegeschichte der Moderne, Ästhetik und Kulturphilosophie sowie Gender Studies im Bereich Philosophie. Neueste Buchpublikationen: Die Erfindung des Subjekts (im Erscheinen); Blindheit und Hellsichtigkeit. Künstlerkritik an Politik und Gesellschaft der Gegenwart (= Wiener Reihe Themen der Philosophie, Bd. 16), Berlin 2013; Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft (= Wiener Reihe Themen der Philosophie, Bd. 15), Wien 2009 (hrsg. mit Gudrun-Axeli Knapp); Über-Kreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008. T o b i a s P f e i f e r - H e l k e , D r . , studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie in Halle/Saale, Leipzig und Hamburg. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern und ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Grafikgeschichte, das Aufklärungszeitalter, die niederländische Kunst sowie das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Publikationen (Auswahl): Mit den Gezeiten. Frühe Druckgraphik der Niederlande, Petersberg 2013; Die Koloristen. Schweizer Landschaftsgraphik von 1766 bis 1848, München 2011. A s t r i d S i l v i a S c h ö n h a g e n , M . A . , studierte Kunstgeschichte, Medienwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Trier und Stockholm. Sie ist Mitglied des Forschungsfeldes „wohnen +/− ausstellen“ an der Universität Bremen und promoviert zu (exotischen) Reisetopoi in Bildtapetenräumen um 1800. Seit 2010 ist sie parallel dazu in der Daimler Art Collection, Berlin/Stuttgart, tätig. 2006– 2009 war sie Stipendiatin im Internationalen Graduiertenkolleg „InterArt“ an der Freien Universität Berlin sowie der Copenhagen Doctoral School. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Koordinatorin des Centrums für Postcolonial und Gender Studies (CePoG) an der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Exotismen in der europäischen Wohngeschichte, Kunst und visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts, Postcolonial Studies, Raumtheorien sowie medienarchäologische Fragestellungen. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes medeamorphosen. Mythos und ästhetische Transformation, Paderborn 2010. Kürzlich erschienen ist: „Räu-
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me des Wissens – Räume des Reisens. Vom Überschreiten imaginärer topografischer Grenzen im Wohnen“, in: archimaera 5, Juli 2013, S. 51–71. C l a u d i a S e d l a r z , D r . , studierte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft in Stuttgart und München. Sie promovierte in Berlin über „Rom sehen und darüber reden“. Karl Philipp Moritz’ Italienreise und die literarische Darstellung eines neuen Kunstdiskurses (erschienen 2010). Seit 2000 ist sie mit der Leitung des Projekts „Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betraut, innerhalb dieses Projekts forscht sie zur ‚Geschmackspolitik‘ der Berliner Kunstakademie im Klassizismus. Sie ist u. a. Herausgeberin des Bandes Die Königsstadt. Stadtraum und Wohnräume in Berlin um 1800, Hannover 2008. F r i e d e r i k e W a p p e n s c h m i d t , D r . , studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Ostasiatische Kunstgeschichte an der Universität Bonn. Sie war am Museum für Ostasiatische Kunst sowie am Kunstgewerbemuseum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin tätig. Als Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft war sie mit einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt betraut, das unter dem Titel Chinesische Tapeten für Europa. Vom Rollbild zur Bildtapete im Deutschen Verlag für Kunstwissenschaft erschienen ist (Berlin 1989). Seitdem ist sie als freie Autorin tätig und hat zahlreiche Bücher sowie Beiträge in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen zur ostasiatischen Kunst, zur Chinamode sowie zur europäischen Kunst und Kulturgeschichte publiziert. Außerdem ist sie als Mitarbeiterin an diversen Forschungsprojekten sowie Ausstellungen im In- und Ausland beteiligt. Kürzlich ist von ihr erschienen: „‚Die Waise von Zhao‘. Europäische Verwandlungen eines chinesischen Motivs auf Theaterund Tapetenbühnen der Chinamode“, in: minima sinica 1, 2013, S. 21–40.
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Abbildungsnachweise
Arnold Abb. 1: © MHK, Deutsches Tapetenmuseum, Foto: Arno Hensmanns Abb. 2, 4: © Foto: Arno Hensmanns Abb. 3: Journal des Luxus und der Moden, Bd. 15, Tafel 35, Weimar 1800 Abb. 5: © National Maritime Museum, Greenwich, London Abb. 6: © RMN-Grand Palais (Château de Versailles), Foto: Daniel Arnaudet Borchert Abb. 1: © Kantonale Denkmalpflege Basel-Stadt, Foto: Erik Schmidt, Basel Abb. 2: Lisa Micara-Granelli, „Étude technique et restauration d’un papier peint à fond noir provenant de la Maison du Désert à Lausanne“, in: Les papiers peints en arabesques de la fin du XVIIIe siècle, hrsg. von Bernard Jacqué, Paris 1995, S. 133 Abb. 3: Bernard Jacqué, „Le secret de mettre en papier les arabesques“, in: Les papiers peints en arabesques de la fin du XVIIIe siècle, hrsg. von Bernard Jacqué, Paris 1995, S. 65 Eck/Schönhagen Abb. 1: © Wittelsbacher Ausgleichsfonds München, WAF Inv.-Nr. B II 146/24 Abb. 2: © Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv.-Nr. G 50 c Abb. 3: © Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek Abb. 4: Musée du Papier Peint, Rixheim, Inv.-Nr. 998 PP 24 © Musée du Papier Peint, Rixheim Abb. 5, 6: © Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt Förschler Abb. 1: Paris, Musée du Louvre, Département des Objets d’Art Abb. 2, 3: Staatliches Museum Schwerin Abb. 4: Stockholm, Nationalmuseum alle Abb. aus: Oudrys gemalte Menagerie. Porträts von exotischen Tieren im Europa des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Kornelia von BerswordtWallrabe, Ausst.-Kat. Staatliche Museen Schwerin, München 2008, S. 102, 142, 131, 130 Klier Abb. 1, 2, 3, 5: © Alabama Department of Archives and History, Montgomery, Alabama
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Abb. 6: © Foto: Astrid Silvia Schönhagen Abb. 4, 7, 8, 9: © Amon Carter Museum of American Art, Fort Worth, Texas Klinger Abb. 1: © Wittelsbacher Ausgleichsfonds München, WAF Inv.-Nr. B II 146/31 Abb. 2: © bpk Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte/Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie, Foto: Jörg P. Anders Abb. 3: Musée du Papier Peint, Rixheim, Inv.-Nr. 994 PP 16-2 © Musée du Papier Peint, Rixheim Pfeifer-Helke Abb. 1–3: © Tobias Pfeifer-Helke Sedlarz © Courtesy National Gallery of Art, Washington Wa p p e n s c h m i d t Abb. 1: © Foto: Bundesmobilienverwaltung, Sammlung: Bundesmobilienverwaltung, Objektstandort: Hofmobiliendepot, Möbel Museum Wien Abb. 2: © Foto: Friederike Wappenschmidt Abb. 3, 4: © Foto: Bayerische Verwaltung der Schlösser und Gärten, München
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