Interethnische Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas 9783954879663

Die Beiträge dieses Bandes behandeln u.a. den Zusammenhang von Ethnizität und Christianisierung, die Rolle der Frau und

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German Pages 256 Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Deutsche Historiographie und interethnische Beziehungen in Lateinamerika
Ethnizität und Christianisierung im kolonialen „Lateinamerika"
Eine schwarze Conquista. Ethnische Konflikte, Kontakte und Vermischung in Esmeraldas (Ekuador) im 16. Jahrhundert
Zwischen Niedergang und neuem Aufbruch. Interethnische Konflikte und bourbonische Reformen in Neu-Mexiko
Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay: Eingliederung und Konfrontation
Women are more Indian - Zum Verhältnis von Rasse/Ethnie, Klasse/Stand und Geschlecht in der hispanoamerikanischen Kolonialzeit
Konzeptionen für die Stellung verschiedener Rassen in der Unabhängigkeitsbewegung Lateinamerikas. Ein Beitrag zur Gleichstellung von »Minderheiten« im Revolutionszeitalter
Die Reflexion interethnischer Beziehungen in Lateinamerika anhand von in Deutschland rezipierten Reiseberichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beispiele aus Brasilien, Mexiko und Venezuela
Ausländische Kaufleute im Mexiko des 19. Jahrhunderts: Konflikt und Kooperation
Unternehmerisches Innovationsverhalten. Netzwerk und Organisationsform eines zentralmexikanischen Handelshauses zwischen regionalen und atlantischen Märkten
Ethnische Gewalt auf Kuba zwischen Kolonie und Unabhängigkeit
Das Bild „des Indianers" und das ethnische Dilemma des Nationalismus in Guatemala, 1920-1930
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Interethnische Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas
 9783954879663

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Heinz-Joachim Domnick, Jürgen Müller und Hans-Jürgen Prien (Hrsg.) Interethnische Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas

ACTA COLONIENSIA Estudios Ibéricos y Latinoamericanos Editores: Hans-Jürgen Prien y Michael Zeuske I:

Religiosidad e Historiografía. La irrupción del pluralismo religioso en América Latina y su elaboración metódica en la historiografía Actas del Simposio Internacional: «Religiosidad e Historiografía: la irrupción del pluralismo religioso en América Latina y su elaboración metódica en la historiografía» del 15 al 16 de noviembre de 1996 en el Instituto de Historia Ibérica y Latinoamericana de la Universidad de Colonia

II:

Regiones europeas y Latinoamérica (siglos XVIII y XIX) Actas del Simposio Internacional: «Regiones europeas y Latinoamérica (siglos XVIII y XIX)» del 16 al 17 de diciembre de 1995 en el Instituto de Historia Ibérica y Latinoamericana de la Universidad de Colonia

III:

Interethnische Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas Akten des Symposions «Interethnische Begegnungen, Konflikte und Probleme in der Geschichte Lateinamerikas seit 1492», vom 28. und 29. November 1997 an der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln Redaktion: Heinz-Joachim Domnick und Jürgen Müller

Heinz-Joachim Domnick, Jürgen Müller und Hans-Jürgen Prien (Hrsg.)

Interethnische Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas

Vervuert • Frankfurt am Main • 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Interethnische Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas : [Akten des Symposions „Interethnische Begegnungen, Konflikte und Probleme in der Geschichte Lateinamerikas seit 1492", vom 28. und 29. November 1997 an der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln] / Heinz-Joachim Domnick ... (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 ( A c t a C o l o n i e n s i a ; Vol. 3) ISBN

3-89354-193-4

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlagentwurf: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Vorwort Heinz-Joachim Domnick/Jürgen Müller. Deutsche Historiographie und interethnische Beziehungen in Lateinamerika Hans-Jürgen Prien: Ethnizität und Christianisierung im kolonialen „Lateinamerika" Christian Büschges: Eine schwarze Conquista. Ethnische Konflikte, Kontakte und Vermischung in Esmeraldas (Ekuador) im 16. Jahrhundert Holger M. Meding: Zwischen Niedergang und neuem Aufbruch. Interethnische Konflikte und bourbonische Reformen in Neu-Mexiko Bernd Schröter. Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay: Eingliederung und Konfrontation Barbara Potthast-Jutkeit: Women are more Indian - Zum Verhältnis von Rasse/Ethnie, Klasse/Stand und Geschlecht in der hispanoamerikanischen Kolonialzeit Karin Schüller: Konzeptionen für die Stellung verschiedener Rassen in der Unabhängigkeitsbewegung Lateinamerikas. Ein Beitrag zur Gleichstellung von »Minderheiten« im Revolutionszeitalter Ulrike Schmieder. Die Reflexion interethnischer Beziehungen in Lateinamerika anhand von in Deutschland rezipierten Reiseberichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beispiele aus Brasilien, Mexiko und Venezuela Walther L. Bernecker: Ausländische Kaufleute im Mexiko des 19. Jahrhunderts: Konflikt und Kooperation Reinhard Liehr. Unternehmerisches Innovationsverhalten. Netzwerk und Organisationsform eines zentralmexikanischen Handelshauses zwischen regionalen und atlantischen Märkten Michael Zeuske: Ethnische Gewalt auf Kuba zwischen Kolonie und Unabhängigkeit Volker Wünderich: Das Bild „des Indianers" und das ethnische Dilemma des Nationalismus in Guatemala, 1920-1930

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Vorwort

In dem vorliegenden Band sind die Ergebnisse einer Tagung niedergelegt, die im November 1997 in Erinnerung des hundertsten Geburtstages von Richard Konetzke (1897-1980), des Gründers der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln, stattfand. Eingeladen waren deutsche Lateinamerikahistoriker, um vor dem Hintergrund der Arbeitsschwerpunkte Konetzkes ihre Forschungen und die Historiographie unter dem Leitmotiv „Interethnische Begegnungen, Konflikte und Probleme in der Geschichte Lateinamerikas seit 1492" zu präsentieren. Besonderer Dank gebührt Renate Pieper, Peer Schmidt und Max Zeuske, die die Diskussionsrunden moderierten. Für die Veröffentlichung haben die Teilnehmer ihre Vorträge überarbeitet und aktualisiert. Um eine Zweitveröffentlichung zu vermeiden, hat Michael Riekenberg auf eine Publikation an dieser Stelle verzichtet. Sein Vortrag über „Ethnische Kriege in Lateinamerika im 19. Jahrhundert im Vergleich" ist in dem Band „Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika" (Hg. v. Wolfgang Höpken und Michael Riekenberg, Köln 1999) nachzulesen. Der Geist Konetzkes hat es vermocht, die große Mehrheit der deutschen Lateinamerikahistoriker in Köln zu versammeln. Trotz wiederholter Verschiebungen des Redaktionsschlusses sind jedoch leider folgende zugesagte Beiträge nicht eingetroffen: Horst Pietschmann: Der Paradigmenwechsel in der Historiographie Lateinamerikas zu dem Problem 'Interethnische Beziehungen' seit Mitte der 80er Jahre und das historiographische Werk Richard Konetzkes. Hans-Joachim König: Begegnung und Konfrontation im Aufstand der Comuneros in Neu-Granada 1781. Die Vorbereitung, Durchführung und Abwicklung der Veranstaltung sowie die Redaktion der Symposionsakten haben in bewährter Manier Heinz-Joachim Domnick und Jürgen Müller übernommen. Hierfür spreche ich ihnen meinen besonderen Dank aus. Hans-Jürgen Prien

Deutsche Historiographie und interethnische Beziehungen in Lateinamerika Heinz-Joachim

Domnick und Jürgen

Müller

Einführung Die in diesem Band versammelten Aufsätze demonstrieren, obwohl es sich hier nur um einen Ausschnitt handeln kann, welche inhaltliche und methodische Bandbreite und nicht zuletzt personelle Ausdehnung die deutsche Forschung zur Geschichte Lateinamerikas seit der Etablierung des Faches in den 50er und 60er Jahren erreicht hat. Dabei war schon die Gründergeneration, die kaum eine Handvoll Personen zählte, durchaus wegbereitend - was sich deutlich am Werk Richard Konetzkes und der Konzeption des von ihm mitbegründeten Jahrbuchs für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas (seit 1998 unter dem Titel Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas) belegen läßt, in denen die Begrenzungen der in Deutschland seinerzeit noch vorherrschenden Beschäftigung mit politischer Geschichte überschritten wurden. Sie mußte es allerdings auch sein, um im internationalen wissenschaftlichen Diskurs zur lateinamerikanischen Geschichte wahr- und ernst genommen zu werden: Dieser war in erheblichem Maß von Differenzierungstendenzen bestimmt, die sich auch in den verschiedenen Ausprägungen der „Gesellschaftsgeschichte", wie z.B. der französischen Schule der Annales, manifestierten, lange bevor diese Strömungen in Deutschland in breiter Weise rezipiert wurden. Die Situation hat sich grundlegend geändert. Inzwischen sind Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auch in Deutschland anerkannte Disziplinen, die sich ihrerseits gegen Verkrustungen und den Verdacht der Dogmenbildung wehren müssen. Die „Entdeckung" der „Dritten Welt", Diktatoren und Revolutionen machten lateinamerikanische Geschichte attraktiv, ebenso wie das Interesse für area studies, das zur Einrichtung fächerübergreifender Studiengänge unter Einbeziehung der Historiographie führte. Heute wird die Geschichte Lateinamerikas an einer Reihe von deutschen Universitäten gelehrt - namentlich in Berlin, Eichstätt, Erfurt, Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig und Nürnberg - , an denen eine konstant auf hohem Niveau bleibende Zahl von Studierenden bei Prüfungen und Abschlußarbeiten betreut wird. Von den Fachvertretern werden regelmäßig Tagungen organisiert und als Ergebnis breiter Forschungstätigkeit Spezial- und Überblicksdarstellungen publiziert. International findet die deutsche Forschung gro-

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ße Beachtung - vorausgesetzt, sie wird in den iberischen Sprachen oder Englisch publiziert - , auch wenn sie aufgrund der geringen Zahl von Spezialisten, verglichen etwa mit der US-amerikanischen Historiographie zu Lateinamerika, nur sektoral Bedeutung hat. Die Probleme des Faches am Ausgang des 20. Jahrhunderts sind charakteristisch für viele Wissenschaftsbereiche: Die alles ergreifende Globalisierungsdiskussion, lies Ökonomisierung aller Lebensbereiche, hat die Akzeptanz vor allem der Geisteswissenschaften oder Philologien so weit vermindert, daß - zugespitzt - beinahe nur noch der schulische Ausbildungsbedarf die Existenz so manchen Studienganges sichert. Vor diesem Hintergrund wirken sich die staatlichen Finanznöte immer gegen diejenigen aus, von denen nicht umgehend die Erwirtschaftung von Mehrwert erwartet werden kann. Die Etats für Bibliotheken und Vortragsveranstaltungen werden zuerst gekürzt; die Zahl der Stellen und Stipendien dürfte wohl zurückgehen. Das derzeitige Niveau kann damit kaum gehalten werden. Dabei zeigt sich im Alltag, zumal in Deutschland mit seiner kontroversen Vergangenheit, daß gerade Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit in einem Maße präsent sind, von dem Soziologen oder Germanisten nur träumen können: Kaum eine Woche, in der nicht Dokumentationen über das „Dritte Reich" via Satellit die Haushalte erreichen, oder im Feuilleton über aufwendige Ausstellungen zu China oder den Königreichen im Sudan berichtet wird. Auch die Geschichte Lateinamerikas wird dabei nicht ausgeklammert. Maya und Azteken, aber auch Kolumbus, Cartagena, der Texasverein und Alexander von Humboldt - ganz zu schweigen von Adolf Eichmann - kommen dem Publikum durch Fernsehen und Museen näher. Damit besitzt lateinamerikanische Geschichte nicht nur für die Spezialisten an Bedeutung. Ihr Gegenstand findet Interesse, wenn er ent-, d.h. ansprechend vermittelt wird, zur Lebenswirklichkeit der Menschen in Beziehung steht oder gar Teil der deutschen Geschichte ist. Darin liegt sicherlich eine Chance, die Öffentlichkeitswirksamkeit des Faches zu erhöhen - auch wenn es naiv wäre zu glauben, dies führe postwendend zur Sicherung oder gar Erhöhung der Etats. Aus diesem Blickwinkel betrachtet besitzt das auf den nachfolgenden Seiten behandelte Thema der interethnischen Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas einen kaum zu bestreitenden Gegenwartsbezug, da es zahlreiche Anknüpfungspunkte an Fragen der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland enthält. Es ist dies ein Thema, das in der lateinamerikanischen Geschichte (spätestens) seit der „Entdeckung" des Kontinents durch Christoph Kolumbus im Jahre 1492 manifest ist und beständige Aufmerksamkeit erfordert(e): Keine andere Weltregion dürfte in einem solchen Maße ein

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Ziel (und in der jüngeren Geschichte auch ein Ausgangspunkt) von Migrationen und ein Ort der Begegnungen von Ethnien gewesen sein wie Lateinamerika. Zuerst trafen spanische und portugiesische Eroberer auf Indianer, wie die autochthone Bevölkerung in Anklang an die Bewohner Indiens irrtümlicherweise genannt wurde. Mit dieser folgenschweren Benennung wurden auf einen Schlag die ethnische und sprachliche Vielfalt und die diversifizierte gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Organisation des präkolumbinischen Amerika übertüncht, die von den „Stammesgesellschaften" in weiten Teilen des Kontinents bis hin zu den Hochkulturen der Inka, Maya und Azteken im Andenraum und in Mexiko reichte. Den Seefahrern, Kriegern und Geistlichen von der iberischen Halbinsel folgten Holländer, Franzosen, Engländer und andere, die vorwiegend nach Nordamerika, aber auch in die Karibik gingen. Nach dem starken Rückgang der indianischen Bevölkerung durch Seuchen, Zwangsarbeit, Krieg, Verfolgung und Mord wurden zur Deckung des Bedarfs an Arbeitskräften Millionen von schwarzen Afrikanern als Sklaven nach Amerika verschleppt, als sich die Plantagenwirtschaft etablierte. Im Zuge der Abschaffung der Sklaverei nach der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts versiegte allmählich der Zustrom aus Afrika. Dagegen setzte erneut verstärkt die Auswanderung von Europäern ein: Bevölkerungswachstum, Nahrungsmittelknappheit und Arbeitslosigkeit vertrieben Spanier, Italiener, Iren, aber auch Deutsche aus ihrer Heimat in die „Neue Welt". Einwanderer aus Asien und den arabischen Ländern trugen vor allem im 20. Jahrhundert weiter zur ethnischen Vielfalt Lateinamerikas bei. Welche Meinungen die verschiedenen Ethnien voneinander hatten bzw. ausbildeten, wie sie miteinander umgingen und welche Entwicklung sie nahmen, das zeigen an ausgewählten Beispielen und schlaglichtartig die Beiträge dieses Sammelbandes. Die Autorinnen und Autoren weisen damit nach, daß sich die deutsche Lateinamerikageschichtsschreibung - trotz Konkurrenzkämpfen, Schulenbildung und Konservativismus, die die Institutionalisierung einer wissenschaftlichen Disziplin nach sich ziehen - beständig weiter entwickelt und über ein bemerkenswertes Innovationspotential verfugt: Sie erschließen bisher ungenutzte Quellen und betrachten bekannte Quellen und Forschungsergebnisse unter aktualisierten Fragestellungen, sie übernehmen Anregungen aus der deutschen oder internationalen historiographisehen Diskussion, und sie setzen Ansätze und Sichtweisen von Nachbardisziplinen um. Gerade dieser letzte Aspekt erscheint hier von zentraler Bedeutung, verweist doch der Gegenstand der interethnischen Beziehungen auf spezifische Forschungsbereiche der Ethnologie, und damit auf Arbeitsfelder, die in der traditionellen, vorwiegend politisch aus-

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gerichteten Geschichtsschreibung kaum thematisiert worden sind und erst seit kurzer Zeit in der Historiographie und der historischen Anthropologie ihren Platz gefunden haben. Eine Beschäftigung mit diesem Thema setzt daher zuerst bei der Bestimmung des sprachlichen Instrumentariums an, wie es in der Ethnologie verwendet wird. Dabei fällt schnell ein in den Geistes- und Sozialwissenschaften verbreitetes Charakteristikum auf: Es ist bisher nicht gelungen, einen verbindlichen Rahmen des Begriffs ethnos (Volk, Stamm), bzw. seiner Ableitung Ethnie und Kunstwörtern wie Ethnizität, festzulegen; vielmehr hat er als wesentliche Konnotationen seine Unbestimmtheit und den Verweis auf das Fremde bewahrt. Akzeptiert ist, daß Ethnos bzw. Ethnie eine Menschengruppe bezeichnen, die sich von anderen Gruppen durch eine nach ihrem Selbstverständnis und/oder zugewiesene spezifische Kultur abgrenzt. Kultur meint dabei die Gesamtheit der materiellen und immateriellen Produktion dieser Gruppe. Ethnien sind somit, als Ergebnisse von Identifikationsprozessen, konstruierte „Einheiten". Sie sind keine abgeschlossenen und statischen Gemeinschaften, sondern befinden sich in Kontakt und beständiger Auseinandersetzung mit anderen Ethnien, wodurch ihr Selbstverständnis wie die Beziehungen der Ethnien untereinander einem Wandel unterworfen sein können. Interethnische Beziehungen sind daher immer auch in den Kategorien von „Eigenem" und „Fremdem" zu betrachten. Nichts zeigt die Veränderbarkeit von Ethnien besser als die Möglichkeit von Individuen, ihre ethnische Zugehörigkeit und Identität anerkannt zu wechseln. Aufgrund ihrer Unbestimmtheit konkurriert Ethnie mit dem Begriff Rasse, der in der deutschen Wissenschaft nurmehr sehr verhalten benutzt wird - im Gegensatz zu seiner anhaltenden Verbreitung in der englischsprachigen Forschung. Vielfach hat Rasse heute eine synonyme Entsprechung in der Bezeichnung Population gefunden. 1 In den nachfolgenden Beiträgen werden unter Ethnien Gruppen von Menschen unterschiedlicher Größenordnungen verstanden. Es handelt sich dabei 1 Zusammengestellt nach Thomas Bargatzky: Ethnologie. Eine Einführung in die Wissenschaft von den urproduktiven Gesellschaften. Hamburg 1997, bes. S. lff. und 74; Gert Dressel: Historische Anthropologie. Eine Einfuhrung. Wien u.a. 1996, bes. S. 30ff.; Friedrich Heckmann: Ethnos - eine imaginierte oder reale Gruppe? Über Ethnizität als soziologische Kategorie, in: Robert Hettlage/Petra Deger/Susanne Wagner (Hg.): Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Region, Nation, Europa, Opladen 1997, S. 46-55. Wolfgang Rudolph: Ethnos und Kultur, in: Hans Fischer (Hg.): Ethnologie: Einführung und Überblick. Berlin 3 1992, S. 57-77; Annemarie Schenk: Interethnische Forschung, in: Rolf W. Brenderich (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 2 1994, S. 335-352. Zur gewundenen Begriffsgeschichte Marco Heinz: Ethnizität und ethnische Identität: eine Begriffsgeschichte. Bonn 1993.

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sowohl um Weiße, Schwarze, Indianer - Bezeichnungen, mit denen unter Hervorhebung der Hautfarbe Menschen, die aus verschiedenen Kontinenten stammten, zusammengefaßt werden und für die auch der Begriff der Rasse Verwendung findet als auch um Kategorisierungen von Gemeinschaften auf der terminologischen Grundlage der verschiedenen lateinamerikanischen und europäischen Staaten, wodurch eine inhaltliche Verwandtschaft mit den Bezeichnungen Volk und Nation naheliegt, schließlich um sub-, binnen- oder außerstaatliche, auf Kriterien wie Abstammung, Sprache und/oder Kulte beruhende Identifikationsverbände. Die Geschichte der interethnischen Beziehungen in Lateinamerika Die Geschichte der interethnischen Beziehungen in Amerika beginnt zwar schon lange vor der Begegnung zwischen Europäern und Amerikanern am Ende des 15. Jahrhunderts, doch ist dieser vielschichtige Vorgang unzweifelhaft der Beginn umfassender und dauerhafter Veränderungen und deshalb auch der Ausgangspunkt der nachfolgenden Betrachtungen. Vertreter der aufstrebenden europäischen Großmacht Spanien, die ihre Ideale in Kampf, Religiosität und dem Streben nach Ehre und Reichtum fanden, trafen auf schriftlose, räumlich begrenzt mobile, technisch und taktisch unterlegene Stammesverbände. Die Wirkungsmacht von Ethnizität und ethnischer Identität setzte bereits damals ein. Weder die ersten Aufeinandertreffen von Europäern und Amerikanern noch die öffentliche wie theologische Diskussion des späten 15. und 16. Jahrhunderts verliefen - was die europäische Seite angeht - gemäß der historischen Singularität unvoreingenommen und frei von Vorurteilen, sondern reflektierten die im ideologischen wie geographischen Sinne - Standortgebundenheit der Protagonisten. Hans-Jürgen Prien zeigt in seinem Beitrag auf, daß vom ersten Moment der „Entdeckung" an, erkennbar an den Berichten des Christoph Kolumbus, die Sichtweise und die ethnische Identität der Europäer den Umgang mit den „Entdeckten" bestimmte. Der in den Inkulturationen des ersten Jahrtausends nach Christi Geburt noch anzutreffende Respekt des Christentums bzw. seiner Prediger und Missionare vor fremden Kulturen und Ethnien war zu Beginn der Neuzeit längst geschwunden. Das Christentum der Renaissance besaß demgegenüber eine deutliche europäische ethnozentrische Prägung, welche die Akzeptanz und das Verstehen des Anderen verhinderte. Für die europäischen Eroberer galt nur die eigene Kultur als Norm, nicht-christliche Völker wurden verachtet, sogar das Menschsein konnte ihnen abgesprochen werden. Stimmen wie die von Bartolomé de Las Casas, der die Gleichheit aller Menschen pro-

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klamierte, konnten sich im pejorativen Diskurs über das Fremde nicht durchsetzen. Auch und gerade in der zeitgenössischen theologischen Diskussion und in den Formen der Christianisierung spiegelt sich die herrschende Meinung wider: Während Las Casas für eine friedliche Mission plädierte, rechtfertigte der Jesuit José de Acosta, der etwa in seinen Schriften die Indianer mit Barbaren gleichsetzt, deren Unterwerfung und die Anwendung von Gewalt bei der Evangelisierung. Auch bei Antonio de Vieira klingt dieses Grundproblem des Christentums an: die Verwicklung der Kirche in die Händel der Politik, indem sie Enteignung und Entrechtung nicht-christlicher Völker ideologisch absichert. Christianisierung und Eroberung in Lateinamerika können daher nicht getrennt behandelt werden. Erst in jüngster Zeit, ab Mitte des 20. Jahrhunderts, hat die Katholische Kirche zu einem neuen, von Respekt geprägtem Verständnis und Verhalten gegenüber der autochthonen Bevölkerung Lateinamerikas gefunden. Interethnische Begegnungen fanden in der Kolonialzeit nicht zur zwischen „Siegern" und „Besiegten" statt, sondern auch zwischen verschiedenen Gruppen von „Opfern". Charakteristisch für deren Beziehung, und zwar im kolonialherrschaftsfreien Raum, scheint die (Re-)Organisation hierarchischer Verhältnisse, weniger eine Solidarisierung gegen die Unterdrücker zu sein. Christian Büschges stellt einen solchen Fall vor, nämlich die „Eroberung" eines bis dahin ausschließlich von Indianern bewohnten Küstenstreifens im nördlichen Ekuador durch schiffbrüchige schwarze Sklaven in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Möglich war dies nur, da die Region Esmeraldas faktisch außerhalb des spanischen Herrschaftsbereiches blieb - trotz zahlreicher Expeditionen von Konquistadoren, Missionaren oder anderen Abgesandten der Kolonialmacht, die jedoch scheiterten, da es sich um Einzelaktionen handelte. Die Vorgehensweise der ehemaligen Sklaven bei der Erringung und Sicherung ihrer sozialen und politischen Stellung ähnelte derjenigen der europäischen Eroberer andernorts. Der kleinen Gruppe von Fremden gelang es durch geschickte Ausnutzung vorhandener Rivalitäten und Bildung von Allianzen, eine Führungsrolle in der alteingesessenen Bevölkerung einzunehmen, wobei der Konfrontation die Kooperation und schließlich die biologische wie kulturelle Vermischung folgten, welche die neue Herrschaft stabilisierten. Interethnische Beziehungen in einer Grenzregion, im Norden des spanischen Kolonialreiches in Amerika, untersucht auch Holger M. Meding - etwa 200 Jahre später, zur Zeit der Bourbonischen Reformen. Das Beispiel zeigt, daß diese nicht allein von Perzeptionen und Zielsetzungen der jeweiligen Gruppen, sondern in hohem Maße auch von der geopolitischen Lage und dem Zustand des internationalen Systems bestimmt wurden. Die Wahrnehmung einer Bedro-

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hung von außen bewirkte, daß die Existenz eines Gebietes, in dem die Herrschaft der Zentralmacht nicht uneingeschränkt galt, nicht mehr hingenommen werden konnte. Spanien sah sich nach der Niederlage im Siebenjährigen Krieg und der fast vollständigen Verdrängung seines französischen Verbündeten aus Amerika gezwungen, die an die Besitzungen des Siegers England grenzenden strategisch wichtigen Gebiete einer verstärkten Kontrolle zu unterwerfen, um nicht durch die Unterminierung seiner Macht in diesen Regionen allmählich die gesamte Kolonialherrschaft in Amerika zu gefährden. In besonderem Maße war dies in Neu-Mexiko notwendig, wo die spanische Herrschaft nur formell bestand. Die Mißstände in dem Gebiet waren vielfältig. Militärisch war es kaum gesichert, eine funktionierende Verwaltung war nicht vorhanden. Die spanischen Siedler lebten verstreut, mißachteten Gesetze und zuweilen sogar die etablierten Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens. Daneben gab es in das Kolonialsystem integrierte Indianer, schließlich Indianerstämme, die mit den vorangegangenen Gruppen in beständigem Krieg lebten. Vor diesem Hintergrund setzte der 1787 zum Gouverneur ernannte Juan Bautista de Anza in seiner zehnjährigen Amtszeit, im Einklang mit seinen vorgesetzten Dienststellen, ein Maßnahmenpaket zur Neuorganisation des Territoriums um, in dem eine abgestufte Bevölkerungspolitik - gegenüber Spaniern und den verschiedenen Indianergruppen einen hervorragenden Platz einnahm. Die Spanier wurden, zum Teil gegen ihren Willen, in Wehrdörfern zusammengefaßt, Komantschen und andere Indianer, auf deren Kooperation und Loyalität Spanien nun in verstärktem Maße angewiesen war, wurden durch ein flexibel gehandhabtes System von Gewalt und Belohnungen in den spanischen Herrschaftsverband integriert. Dadurch wurden die interethnischen Beziehungen nachhaltig konsolidiert und befriedet. Anzas Politik war die Grundlage dafür, daß die territoriale Integrität im Norden des Kolonialreiches stabil blieb. Betrachtet Holger M. Meding das Handeln von Regierung und Verwaltung gegenüber den Bevölkerungsgruppen, so stellt Bernd Schröter die Betroffenen in den Mittelpunkt, indem er an zahlreichen Fallbeispielen Leben und Handlungsspielräume von Schwarzen in Uruguay, ebenfalls einer Grenzregion, von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende untersucht. Sklaven aus Afrika, weniger aus Brasilien und Portugal, und ihre Nachkommen stellten dort Anfang des 19. Jahrhunderts ca. 40 Prozent der Bevölkerung. Nach ihrer Ankunft arbeiteten sie vorwiegend in der Haus- und Landwirtschaft, in geringerem Maße in Produktion und Dienstleistung. Bedingt durch den hohen materiellen Wert der Sklaven, die geringe Zahl von Sklaven pro Haushalt und

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die regelmäßige räumliche Nähe war das Verhältnis zwischen Herr und Sklave überwiegend patriarchalisch geprägt. Häufiger als Begünstigungen, wie etwa Freilassungen, sind jedoch die Konflikte zwischen beiden Seiten dokumentiert. Danach waren Sklaven Opfer vielfältiger Formen von Gewalt, die von der alltäglichen, impulsiven Züchtigung bis zur systematisch-kontrollierten Grausamkeit reichten. Die Sklaven entwickelten dagegen eine Spannbreite von Widerstandsformen, die von Obstruktion über den Mord am Herrn bis zur Flucht reichen konnten. Gerade die letzten beiden Formen des Widerstandes waren im kolonialen Uruguay, der Banda Oriental, jedoch selten. Selbst in den überlieferten Fällen besaß das Motiv, der Gewalt ein Ende zu bereiten bzw. zu entkommen, nur eine marginale Bedeutung. Auch läßt sich keine Zunahme des Ungehorsams oder eine erhöhte Bereitschaft zum Umsturz gegen Ende der Kolonialzeit nachweisen. Waren sie übermäßigen Härten oder Vernachlässigung, aber auch sexueller Gewalt ausgesetzt, konnten die Sklaven zudem die Gerichte anrufen. Verfahren verliefen, wie die Akten zeigen, für die Kläger häufig erfolgreich, da ihnen, wie allen Armen, ein Verteidiger zustand und die Rechtssicherheit groß war. Die Sklaven in der Banda Oriental mußten damit offenbar weniger Elend, Demütigung und Unrecht ertragen als ihre Leidensgenossen in den anderen Gebieten des spanischen oder portugiesischen Kolonialreiches. Schröters Untersuchung belegt, daß die interethnischen Beziehungen in der Kolonialzeit nicht statisch verstanden werden dürfen und Verweise auf die ethnische Zugehörigkeit oder die rechtliche Stellung allein nicht genügen, um die Komplexität der Hierarchien der kolonialen Gesellschaft angemessen zu erfassen. Die Auswertung lokaler Quellenbestände - vor allem auch serieller zur Ergänzung der narrativen die Methode des Vergleichs, aber auch das Hinzuziehen weiterer Anlaysekategorien ermöglichen es hingegen, weitergehende Charakteristika wie Besonderheiten der Position und der Entwicklungsmöglichkeiten von Individuen und Gruppen nachzuzeichnen. Ein Faktor, für den dies in hervorragender Weise gilt, der aber erst in jüngster Zeit die ihm zustehende Bedeutung erlangt hat, ist der des Geschlechts. Barbara Potthast-Jutkeit zeigt auf, daß in der Verbindung der Schichtungskriterien Ethnizität, Klasse und Geschlecht ein fruchtbarer Ansatz fiir die Analyse der Gesellschaft im spanischen Kolonialreich in Lateinamerika liegt. Ausgangspunkt ihrer Beweisführung ist die historiographische Auseinandersetzung über Klasse/Stand bzw. die Bedeutung von Herkunft/ethnischer Zugehörigkeit versus wirtschaftlicher Kriterien in der späten Kolonialzeit. Hier hat sich als Konsens die Position herauskristallisiert, daß die Ständegesellschaft bereits in Bewegung geraten war und der gesellschaftliche Status von einer Vielzahl von

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Merkmalen abhängig war. Die Kategorie Geschlecht wurde bei diesen Überlegungen bisher allerdings noch nicht berücksichtigt. In der Historiographie zu Lateinamerika ist dieser Forschungsstrang entsprechend noch jung und nicht fest etabliert. Überblicksdarstellungen, mit Ausnahme eines Abschnitts in der Cambridge History of Latin America, fehlen derzeit noch. Vorhandene Beispiele, in denen das Heiratsverhalten im Mittelpunkt steht, machen jedoch klar, daß die bisherigen Untersuchungen bereits einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Wandels der kolonialen Gesellschaft liefern. So wird anhand von Untersuchungen mehrerer Orte im 18. Jahrhundert deutlich, daß für Frauen ethnisch-ständische Schichtungskriterien noch eine größere Bedeutung besaßen als für Männer. Ein ethnischer Aufstieg gelang jungen Frauen nur durch Heirat, während Männer diesen auch über die Berufsausübung erreichen konnten. Weißen Frauen war es zwar nunmehr leichter möglich, unverheiratet allein zu leben, ohne in ein Kloster eintreten zu müssen. Die Unmöglichkeit, mangels geeigneter weißer Kandidaten einen Ehepartner aus einer niedrigeren casta zu heiraten, bestand aber fort. Manifest werden Veränderungen und Grenzen im 18. Jahrhundert auch an den Möglichkeiten und der Akzeptanz der Partnerwahl. Einsprüche der Eltern wurden, zumindest in dynamischen Zentren wie Buenos Aires, gegen ein Prozent der Eheschließungen vorgebracht und mit der ökonomischen Ungleichheit begründet. Im traditionelleren Cördoba dagegen wurde immerhin in jedem zehnten Fall versucht, die Heirat zu unterbinden. Als Hindernis galten hier vorrangig die ethnisch-sozialen Unterschiede. Rechtshistorisch orientierte Studien, wie sie von Richard Konetzke durchgeführt wurden, können einen derartigen Wandel weder feststellen noch erklären. Durch die Unabhängigkeitskämpfe am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die iberische Kolonialherrschaft in Lateinamerika weitgehend beseitigt. Der übergreifende rechtliche Rahmen der interethnischen Beziehungen wurde damit ungültig und mußte in Verfassungen und Gesetzeswerken der souveränen Staaten neu definiert werden. Anhand von drei Beispielen - Haiti, Mexiko und Großkolumbien - untersucht Karin Schüller, welche Konzeptionen in dieser Frage die jeweiligen politischen Eliten von der Stellung der Weißen, Indianer bzw. Schwarzen besaßen. In Haiti revoltierte die schwarze Bevölkerungsmehrheit und konnte die einmal erreichte Unabhängigkeit auch gegen den Versuch der Rückeroberung durch ein französisches Expeditionskorps bewahren. Erstmalig erlangten damit Schwarze die Macht der Definition der Rassenbeziehungen. Die beiden Verfassungen, die nach der Jahrhundertwende entstanden, spiegeln den Verlauf des Unabhängigkeitskrieges wie den individuellen Hinter-

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grund der politischen Führer wider. Nach einer moderaten Version des Aufsehers Toussaint Louverture, in der das Eigentum der weißen Plantagenbesitzer garantiert wurde, setzte nach dessen Gefangennahme durch die Franzosen der ehemalige Feldsklave Jean Jaques Dessalines seine Vorstellungen durch: Weißen blieb es danach untersagt, in Haiti Eigentum zu erwerben. In Mexiko konnten die Indianer dagegen keine derartigen Initiativen durchsetzen. Aufständische und Loyale umwarben sie zeitweilig, um sie als Kämpfer für ihre Zwekke zu rekrutieren, stellten aber sozialreformerische Ideen in den Hintergrund, als sie die Kreolen als kriegsentscheidende Gruppe gewinnen wollten. Zwar wurde 1821 den Indianern die Gleichstellung mit den anderen Bevölkerungsgruppen gewährt, ihre soziale und wirtschaftliche Lage änderte sich dadurch jedoch nicht. Die schwarzen Sklaven in Großkolumbien wurden von den Kriegsgegnern ebenfalls umworben: Für die Teilnahme am Kampf wurde ihnen die Freiheit versprochen. Hintergrund dieser Propaganda war das Ziel, möglichst viele Soldaten auszuheben, aber auch - auf Seiten der Insurgenten - die schwarze Bevölkerung zu dezimieren bzw. die weißen Bevölkerungsteile vor dem Tod zu bewahren. Der ökonomisch motivierte Widerstand der kreolischen Oligarchie verhinderte die Abschaffung der Sklaverei nach der Niederlage Spaniens. Bis zum Erreichen der Unabhängigkeit blieben die Kenntnisse in Europa über die lateinamerikanischen Staaten weitgehend auf die Kolonialmächte beschränkt. Nur wenige, wie Alexander von Humboldt zwischen 1799 und 1804, erhielten die Genehmigung zu einer Reise durch den Teilkontinent. Neugier, Abenteuerlust, aber auch handfeste politische und wirtschaftliche Interessen ließen in den darauffolgenden Jahren eine Flut von Besuchern an den Küsten Lateinamerikas anlanden, die ihre Erlebnisse schriftlich niederlegten und publizierten. Ulrike Schmieder untersucht die Wahrnehmung der interethnischen Beziehungen in Brasilien, Mexiko und Venezuela durch europäische Reisende in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Reiseberichte haben in jüngster Zeit zunehmend an Bedeutung für die Kenntnis der lateinamerikanischen Wirklichkeit gewonnen, da die Fremden Dinge wahrnahmen, die den Einheimischen und mit der Realität Vertrauten selbstverständlich erschienen, und keine Notwendigkeit zur Rechtfertigung, etwa der Sklaverei, besaßen. Die Berichte dürfen jedoch nicht als getreues Abbild der Wirklichkeit verstanden werden, sondern müssen einer eingehenden Quellenkritik unterzogen werden, da sie häufig die Vorurteile der Autoren und - in geringerer Zahl - Autorinnen reflektieren oder innere Widersprüche aufweisen. Vorgestellt werden hier die Beziehungen zwischen den verschiedenen, in die koloniale und nachkoloniale Gesellschaft zumindest

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partiell integrierten ethnischen Gruppen. Die Reisenden berichteten mehr über die Schwarzen (Sklaven) als über Indianer, häufiger über die Lage in den Städten als auf dem Land, eher über die Ober- als über die Unterschicht - ein Ergebnis der Reiserouten und der Herkunft der Autoren. Ethnische und soziale Zugehörigkeit fielen danach nicht zusammen, auch wenn deutlich war, daß für Schwarze der gesellschaftliche Aufstieg schwerer, für Weiße leichter war. Die Unabhängigkeit bedeutete keine wesentliche Veränderung der sozialen Lage der schwarzen Bevölkerung, obwohl sie in Venezuela und Mexiko rechtlich den Weißen gleichgestellt wurde. In Deutschland bestand offenbar ein großes Interesse an Berichten über Lateinamerika, da Reisende keine Schwierigkeiten hatten, einen Verleger zu finden, und Werke, vor allem französischer und englischer Herkunft, bald nach ihrer Erstveröffentlichung in Übersetzung auf dem deutschen Markt erschienen. Neben Reisenden, die einzelne Staaten oder Regionen für einen kurzen Zeitraum besuchten, kamen vor allem Kaufleute nach Lateinamerika, um die politische und wirtschaftliche Öffnung des Teilkontinents gewinnbringend zu nutzen. Sie übernahmen mangels Kapital, Kontakten und Know-How der Einheimischen die Aufgabe, die kommerzielle Verbindung zu Europa und den USA herzustellen und Lateinamerika in den Weltmarkt zu integrieren, konnten im Falle von Konflikten mit den lateinamerikanischen Regierungen aber auch Interventionen und Kanonenboot-Zwischenfälle provozieren. Das Verhältnis dieser Kaufleute, die überwiegend aus England, den USA, Frankreich, Deutschland und Spanien stammten, zu einheimischer Bevölkerung und Politik wie untereinander war von Konflikten und Kooperationen geprägt. Ein Ausgangspunkt von Auseinandersetzungen zwischen Regierung und ausländischen Händlern im Mexiko des 19. Jahrhunderts - so legt Walther L. Bernecker dar - waren Darlehen und Zwangsanleihen. Beide Transaktionsformen bargen für die Händler Chancen, aber auch erhebliche Risiken: Der chronisch finanzschwache mexikanische Staat vergab etwa für Darlehen Zollgutscheine, mit denen Importzölle bezahlt werden konnten, mit hohen Nachlässen, so daß der vorgeschriebene Zolltarif erheblich unterschritten wurde. Damit konnten hohe Gewinne gemacht werden; die Kaufleute hatten aber andererseits wegen der instabilen politischen Strukturen keine Garantie, daß die Gutscheine auch eingelöst wurden. Um sich gegen die Unwägbarkeiten der politischen Entwicklung abzusichern, konnten die ausländischen Kaufleute ihre eigenen Regierungen um Hilfe angehen oder aber geschäftliche oder private (in Form einer Heirat) Verbindungen zu Mexikanern eingehen. In der mexikanischen Gesellschaft spielten tatsächliche oder fiktive Verwandtschaftsbeziehungen (z.B.

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compadrazgo) für wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Status eine erhebliche Rolle. Dadurch wurden Loyalitäten und Abhängigkeiten geschaffen, die in Regierung und Verwaltung reichen und im Konfliktfalle zugunsten der eigenen Interessen aktiviert werden konnten, um nachteilige Regelungen zu umgehen. Die Beziehungen der ausländischen Händler untereinander waren weniger ambivalent, sondern durch den Kampf um Marktanteile bestimmt. Kollegialität und Solidarität bestanden vorwiegend zwischen den Angehörigen einer Nation - wie auch bevorzugt Landsleute in den einzelnen Handelshäusern angestellt wurden. Verhandlungen mit der Regierung um die Absenkung von Zolltarifen oder die Gewährung von Vergünstigungen wurden daher nicht von allen Ausländern gemeinsam, sondern nur zum Vorteil der eigenen Staatsangehörigen bzw. der eigenen Waren geführt. Reinhard Liehr ergänzt die hier gewonnenen Einsichten auf geradezu paradigmatische Art, indem er auf der Grundlage eines außergewöhnlich ergiebigen Privatarchivs Netzwerke und unternehmerisches Verhalten eines zentralmexikanischen Handelshauses untersucht, das an der Schnittstelle zwischen heimischem Markt und zugewanderten ausländischen Kaufleuten im 19. Jahrhundert in Puebla tätig war. Das von Spaniern gegründete und von dem Mexikaner Andrés Torres (1807-1877) nach der Spaniervertreibung 1829 übernommene Familienunternehmen importierte u.a. luxuriöse ausländische Textilien zum Verkauf an die betuchte Klientel Pueblas. Aus der Stadt wurden einfache Stoffe, die im Auftrag oder von Tochterfirmen hergestellt wurden, in die benachbarten Regionen exportiert. Im Laufe der Jahre expandierte Torres auch in andere Wirtschaftssektoren und vermarktete erfolgreich etwa lokale Agrarprodukte. Den Kern des merkantilen Netzwerkes von Torres und seiner Vorgänger bildeten die dreigenerationelle Großfamilie und Landsleute, die durch Patenschaften {compadrazgos) eingebunden und verpflichtet wurden. Torres unterhielt auch ökonomische Beziehungen zu Ausländern, vor allem zu westeuropäischen und US-amerikanischen Handelshäusern - vermittelt allerdings durch mexikanische Makler die durch deren internationale Kontakte und Torres' spezifische Geschäftstätigkeit erforderlich waren. Persönliche Freundschaften entstanden dabei nicht. Daneben arbeiteten eingewanderte Techniker aus Frankreich und England in den firmeneigenen Spinnereien und Webereien für Torres. Torres wurde auch in der Politik aktiv. Er übernahm mehrfach einflußreiche Positionen im Magistrat von Puebla, die den wirtschaftlichen Erfolg seines Unternehmens absicherten und erleichtern halfen. Interethnische Beziehungen in Lateinamerika sind, das beweist auch die Betrachtung der ausländischen Kaufleute, in hohem Maße von Konflikten belastet

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- Konflikten, die nicht immer eine friedliche Regelung fanden. Die im 19. Jahrhundert ins Land gekommenen Ausländer blieben jedoch überwiegend vor systematischer Verfolgung oder vor Mißhandlungen bewahrt. Im Gegenteil: Eher war es die einheimische Staatsmacht, die in Auseinandersetzungen unterlag, vor allem, wenn das englische, US-amerikanische oder französische Heimatland der Ausländer mit dem Einsatz von Kriegsschiffen drohte. Ethnisch motivierte Gewaltexzesse und Mord blieben auf die traditionellen Opfer der kolonialen und Sklavenhaltergesellschaft begrenzt. Michael Zeuske präsentiert zwei derartige Vorgänge auf Kuba, die für die kubanische Identitätsfmdung zentral sind wie sie die Geschichtsschreibung beschäftigen. Es handelt sich um die Niederschlagung einer Aufstandsbewegung durch die Staatsmacht in den Jahren 1843 und 1844, die unter Verweis auf die gängigste Foltermethode als La Escalera bekannt ist, und die guerra de razas des Jahres 1912. In beiden Fällen waren in erster Linie Schwarze und Farbige die Leidtragenden. Das hat seitens einer revisionistischen historiographischen Schule um Aline Helg dazu gefuhrt, den weißen Rassismus gegenüber den „Schwarzen" ursächlich hierfür auszumachen, während die integrationistische Interpretation (auch Allianzansatz) der kubanischen Geschichte sozioökonomische Gründe bzw. den „Import" des USamerikanischen Rassismus während der Interventionen von 1898-1902 und 1906-1909 verantwortlich machte. Danach hätten sich im Laufe der Unabhängigkeitskriege schwarz-weiße Allianzen ausgebildet, die eine Mentalität der Gleichheit hervorgerufen hätten. Beide Ansätze sind in ihren Sichtweisen exklusiv. La Escalera ist jedoch nicht auf der Grundlage eines Rassismus-Modells zu erklären, da ein Rassismus nach heutigem Verständnis sich erst danach entwickelte, als kubanische Intellektuelle eine aus Weißen gebildete kubanische Nationalität konzipierten, der sie eine konstruierte raza negra gegenüberstellten, deren Angehörige tatsächlich als cabildos organisiert waren und sich als durch Sprache und religiöse Kulte definierte (und abgrenzbare) Abstammungsverbände verstanden. Entscheidener für die blutige Niederschlagung dürfte aber gewesen sein, daß es wirklich einige Verschwörungen mit destabilisierender Wirkung gab, deren weiße und schwarze Mitglieder zudem Konflikte untereinander nicht lösen konnten. Auch im Falle der guerra de razas besitzt der Allianzansatz Plausibilität. Zahlreiche Beispiele widerlegen die Folgerungen von Helg, daß der virulente weiße Rassismus nach den Unabhängigkeitskriegen aktualisiert wurde. Noch im Jahr der blutigen Auseinandersetzung gab es eine Vielzahl von Kontakten auf höchster politischer Ebene. Der amtierende Präsident war sogar bereit, die Unterstützung des Partido Independiente de Color, einer von Schwarzen gegründeten Partei, für seine Wiederwahl zu akzeptieren.

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Die hier angerissene Diskussion macht deutlich, daß zum Verständnis ethnischer Konflikte, und gerade im Falle von Gewaltausbrüchen, eine Vielzahl von Ansätzen und Quellen geprüft werden muß. Sie macht auch deutlich, daß nationale Identitätsentwürfe, die Bevölkerungsgruppen ausschließen oder ihre Kulturen auslöschen, letztlich mißlingen, weil sie ihr Ziel, die nationale Einheit, konterkarieren. Diese Erfahrung - von Volker Wünderich vorgestellt - wurde auch in Guatemala gemacht. Zu Beginn der 20er Jahre, in der Aufbruchstimmung nach dem Sturz von Estrada Cabrera, mußte die politische und intellektuelle Elite des Landes konstatieren, daß die Versuche, die Indianer zu ladinisieren oder durch Arbeitszwang zu erziehen, gescheitert waren. Vielmehr war dadurch die ethnische Spaltung verfestigt und die Ausbildung eines die heterogene und lokale indianische Struktur überschreitenden ethnischen Bewußtseins gefördert worden. In dem einsetzenden Diskurs blieben Stereotype wie der von den feigen, arbeitsscheuen und trunksüchtigen Indianern - Kindern, die der Staat an die Hand nehmen muß - dominant. Bei einigen Intellektuellen setzte jedoch ein, allerdings nicht immer auf den ersten Blick erkennbarer, Prozeß der Neuorientierung und -besinnung hinsichtlich der Rolle der Indianer in Guatemala und der Beziehungen zwischen ihnen und dem Staat ein. Festmachen läßt sich dies bereits in der Dissertation von Miguel Angel Asturias über El problema social del Indio aus dem Jahre 1923. Obwohl unverkennbar rassistisch, reproduziert Asturias nicht allein Vorurteile, sondern deckt die Ursachen der elenden Lage der Indianer auf, klagt den oligarchischen Staat an und stellt die bisherige Integrationspolitik in Frage. Bei der Neudefinition nationaler Identität konnte auch die vorkoloniale Vergangenheit, deren archäologische Aufabeitung in den 20er Jahren vor allem von Europäern und Nordamerikanern vorangetrieben wurde, nicht unberücksichtigt bleiben. Analog zur europäischen Geschichte galt die Geschichte der Maya als guatemaltekische Antike, die aber bereits am Untergehen war, als die Conquista eine neue Epoche der Größe einleitete. Die altamerikanische Hochkultur wurde indes nicht mit der indianischen Aktualität in Verbindung gesetzt. Letztlich blieben die Ansätze zur Aufweichung der ethnischen Spaltung in den 20er Jahren auf Randgruppen beschränkt und hatten keine weitreichenden Auswirkungen auf die offizielle Politik. Die Militärdiktatur Jorge Ubicos setzte ab 1931 allen weiteren Diskussionen ein Ende. Erst sein Sturz im Jahre 1944 brachte eine deutliche Wende in den interethnischen Beziehungen in Guatemala.

Ethnizität und Christianisierung im kolonialen „Lateinamerika" Hans-Jürgen

Prien

1. Einleitende Überlegungen Daß der erst in der 2. Hälfte des 19. Jhs. geprägte Begriff Lateinamerika in Anfuhrungsstrichen steht, bedarf keiner Begründung. Es geht um den von den iberischen Mächten in Amerika eroberten Raum, wobei ich mich wesentlich auf das Ende des 15. Jhs. und das 16. Jh. beschränke. Auch der Begriff Christianisierung als Synonym für Mission oder Evangelisierung bedarf keiner Definition. Man kann eventuell hier die neutestamentliche Zielvorstellung heraushören, daß der Missionierte sich dem neuen Volk der Christenheit anschließt. Schwieriger sieht es mit dem Begriff Ethnizität aus. Die Ethnologie des 19. Jhs. wandte sich zunächst den schriftlosen Stammeskulturen zu, wobei sie von der objektiven Überlegenheit der staatlich verfaßten euroamerikanischen Schriftkulturen und deren Rationalitätsmonopol ausging. Beide Prämissen sind inzwischen relativiert. 1 Ethnizität wird heute in der Völkerkunde als Prozeß kultureller Abgrenzung oder kultureller Revitalisierung definiert. Ethnizität soll hier ähnlich als historisch gewachsene kulturelle Gruppenidentität verstanden werden, die durch das Gesamt von Religion, Weltanschauung, Sprache, Sitten, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen sowie Land bestimmt wird. Im Vorfeld des Gedenkens an den Fünfhundertsten Jahrestag des Beginns der iberischen Penetration der Neuen Welt haben indigene Organisationen, die sich mit Campes/wo-Organisationen zusammengetan haben, in der Kampagne 500 Jahre Leiden und Widerstand letzteren z.B. auf der Konferenz in Bogotá 1989 eindringlich klarzumachen versucht, daß es ihnen nicht nur um soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit geht, sondern auch um die Bewahrung ihrer jeweiligen Gruppenidentität, was die marxistisch beeinflußte Linke lange Zeit nicht verstanden hat. Denn Weltorganisationen wie seinerzeit die Zentrale des real existierenden Sozialismus in Moskau mit ihrem Ziel der Weltrevolution oder die zentralisierte römisch-katholische Kirche ziehen der Gedanken einer Weltidentität vor, der eine zentrale Steuerung und Verwaltung der Menschen zu ermöglichen scheint. Aber die Menschen leben in einer konkreten Gesellschaft und sind in eine ganz konkrete Gruppe hineinsozialisiert worden. 1

Vgl. Georg Elwert: „Ethnologie", in: EKL I J 1986, Sp. 1157-1160.

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Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenidentität bzw. Ethnizität und Christianisierung ist erst von der modernen Missionswissenschaft grundsätzlich thematisiert worden. In der 2. Hälfte des 20. Jhs. hat sich in der Christenheit mehr und mehr die Einsicht durchgesetzt, daß „rassische und kulturelle Identität [...] göttliche Geschenke und menschliche Errungenschaften" sind, „die in die christliche Identität aufgenommen werden müssen", wie es 1973 auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok formuliert worden ist. 2 Man sollte freilich besser den unwissenschaftlichen Begriff rassisch vermeiden und von ethnischer Identität sprechen. 3 Diesbezüglich wird der Neologismus Inkulturation des Christentums seit dem Pontifikat Pauls VI. auch vom katholischem Lehramt benutzt. Luque und Saranyana ist zuzustimmen, wenn sie feststellen, daß eine gute Evangelisierung zu einer Verchristlichung der ursprünglichen Kultur fuhrt, nicht aber wenn sie meinen, daß es sich immer um die Begegnung zwischen dem Evangelium und einer Kultur handele. 4 Hier übersehen sie geflissentlich, daß das Evangelium immer im Kontext einer bestimmten Kultur vermittelt wird, genau wie die Menschwerdung Gottes, mit der sie die Inkulturation vergleichen, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Judentum erfolgte. 5 Außerdem sollten Missionare mehr darauf vertrauen, daß der Heilige Geist im Zusammenhang mit der Evangelisierung notwendige kulturelle Veränderungen im Laufe der Zeit durch die Evangelisierten selbst bewirken wird. Inkulturation ist lange vor dem Aufkommen dieses Begriffs unreflektiert praktiziert worden, zumal im ersten Jahrtausend, was durch die modernen Be2

Vgl. Konrad Raiser: „Identität", in: Taschenlexikon Religion und Theologie, Bd. 2, Göttingen 1983, S. 300-302. 3 Der Begriff „rassische Identität" scheint in Bangkok etwas unreflektiert aufgegriffen worden zu sein, wenn man an die Irrwege des Rassegedankens seit dem 19. Jh. denkt - vgl. diesbezüglich zu Lateinamerika: The Idea of Race in Latin America, 1870-1940. Edited with an Introduction by Richard Graham. With chapters by Thomas E. Skidmore, Aline Helg and Alan Knight, Austin 1990. 4 Elisa Luque Alcaide/Josep-Ignasi Saranyana: La Iglesia Católica y América, Madrid 1992, S. 137f.; vgl. hierzu: Hans-Jürgen Prien: Artgemäßes Christentum und lateinamerikanische Volksfrömmigkeit, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 194 (1983), S. 338-356. Vgl. auch Antonio do Carmo Cheuiche: La Inculturación en la Historia de la Iglesia, in: Qué es la Historia de la Iglesia. Actas del VXI Simposio Internacional de Teología de la Universidad de Navarra. Edición dirigida por Josep-Ignasi Saranyana/Enrique de La Lama/Miguel LluchBaixauli, Pamplona 1996, S. 235-251. 5

So spricht Paulo Suess: 500 Jahre Christentum in Lateinamerika. Herausforderungen einer nachkolonialen Evangelisierung, in: Orientierung 55 (1991) Nr. 19, 15.10.91, S. 207-211, S. 209 von an Kulturtransfer gebundener missionarischer Vermittlung z. B. hinsichtlich Bekleidung, Siedlungsweise etc.

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griffe Hellenisierung, 6 Romanisierung und Germanisierung des Christentums angedeutet werden soll, 7 denen noch die „Slavisierung" hinzugefugt werden müßte. Der brasilianische Theologe Beozzo bemerkt, daß möglicherweise die Evangelisierung der slawischen Völker durch Kyrill und Methodius im 9. Jh. die letzte große Inkulturation gewesen sei. Und er äußert die Vermutung, daß im 16. Jh. „die europäische Ethnozentrik im Christentum sowohl in ihrer katholischen wie in ihrer protestantischen Ausfuhrung bereits zu stark für den Versuch" gewesen sei, „in Amerika, Afrika und Asien [...] »den Griechen ein Grieche, den Juden ein Jude und den Rechtlosen ein Rechtloser zu werden« (1 Kor 9,19.23)." 8 Man könnte auch sagen, daß die iberischen Kirchenvertreter als Menschen der Renaissance unreflektiert ihre Kultur als normativ betrachteten und sie deshalb im Sinne des scholastischen Zweistockwerkdenkens zur Voraussetzung der Evangelisierung machten9 - vgl. die Stichworte pulicia,]0 policia, pulimento.n In Auseinandersetzung mit den Hochkulturen Indiens, Chinas und Japans ist einigen Jesuiten zwar das Problem der Inkulturation aufgegangen. Aber Puristen warfen ihnen vor, sich zu sehr der örtlichen Kultur angepaßt zu haben, was den Riten- und Akkomodationsstreit auslöste, 12 durch den die Bewältigung dieses Problems bis ins 20. Jh. verzögert worden ist.13

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Dieser Begriff ist besonders umstritten wegen der inhaltlichen Füllung, die ihm Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums (1900) gegeben hat, ein Bestseller, der bis 1927 in 14 Auflagen erschienen ist. 7 Vgl. hierzu: Hans-Jürgen Prien: Von der alten Kirche bis zur Kirche in Lateinamerika heute. Synkretismus als kirchengeschichtliches Problem, in: Wolfgang Greive/Raul Niemann (Hg.): Neu glauben? Religionsvielfalt und neue religiöse Strömungen als Herausforderung an das Christentum, Gütersloh 1990, S. 45-63. 8 José Oscar Beozzo: Evangelisierung und 500 Jahre Lateinamerika, Kath.-Theol. Fakultät der Universität Würzburg, Entdeckung, Eroberung, Befreiung, Würzburg 1993, S. 82-98, S. 95. 9 Vgl. Modelación humana del indio como hispanización, in: Hans-Jürgen Prien: La Historia del Cristianismo an América Latina, Salamanca/Säo Leopoldo 1985, S. 204ff. 10 Vgl. Luque/Saranyana: La Iglesia Católica, S. 138. 11 Vgl. José de Acosta: De procuranda indorum salute o Predicación del Evangelio en las Indias, Biblioteca de Autores Españoles, Obras del P. J. de Acosta, Madrid 1954, S. 387-633, Lib. I, c. 8, zu den Schwierigkeiten der Erziehung der Indianer: „Es cosa averiguada que más influye en la índole de los hombres la educación que el nacimiento [...] mucha más fuerza tiene la educación y el buen ejemplo, que entrando desde la misma infancia por los sentidos, modela el alma aún tierna y sin pulimento [...]" (S. 412). 12 Vgl. Hans-Jürgen Prien: Evangelium und Kultur, in: Evangelische Pressestelle für Weltmission (Hg.): Evangelium in indianischen Kulturen, Hamburg 1980, S. 5-16. 13 Vgl. auch den Sammelband: Evangelium und Inkulturation (1492-1992). Im Auftrag des Direktoriums der Salzburger Hochschulwochen als Jahrbuch hg. v. Paulus Gordan, Graz, Wien, Köln 1993 und Horst von der Bey: Vom kolonialen Gottesexport zur befreienden Mis-

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2. Ethnizität als Pejorativum Wenden wir uns Christoph Kolumbus zu. Schon im Bordbuch seiner ersten Reise wird die Ethnizität bzw. Alterität der Insulaner, also ihr Anderssein, als abwertend, ja ihr Menschsein in Frage stellend bewertet. Das Wahrnehmungsproblem des Kolumbus, das ja paradigmatisch für das der Konquistadoren werden sollte, ist seit Anfang der achtziger Jahre besonders durch die Arbeiten von André Saint-Lu 14 und Tzvetan Todorov 15 in der wissenschaftlichen Diskussion thematisiert worden. Dadurch sind die Probleme des Andersseins oder der Alterität und des europäischen Ethnozentrismus einer breiteren Öffentlichkeit bewußt geworden. Kolumbus gibt dem Eiland, das er als erstes betreten wird, sogleich den Namen San Salvador, ohne zu wissen, wie dessen Einwohner es nennen. Was ich bereits 1977 in meiner Geschichte des Christentums in Lateinamerika geschrieben habe, bestätigt auch Tzvetan Todorov 1982: „Das Benennen kommt überdies einer Besitznahme gleich." 16 Morales Padrón weist ergänzend darauf hin, daß die Tatsache, daß der Admiral sogleich Kaps, Buchten und Landmarken aller Art mit europäischen, genauer gesagt, spanischen Namen belegte, eine mangelnde Bereitschaft offenbart, sich dem Fremden, dem Anderen, dem absolut Neuen zu öffnen, weshalb er die Entdeckung als unvollständig bezeichnet. 17 Kolumbus war von den Eigenschaften der Aruak beeindruckt, „von ihrer natürlichen Güte, ihrer Einfachheit, Demut, Sanftheit, Fügsamkeit und tugendhaften Neigungen, guten Erfindungsgaben, Bereitschaft oder äußerster Bereitwilligkeit, unseren heiligen Glauben zu empfangen und mit der christlichen Religion erfüllt zu werden." 18 Ohne deren Sprache auch nur ansatzweise zu verstesion. Eine franziskanisch orientierte Theologie einer inkulturierten Evangelisation, Bonn 1996. 14 André Saint-Lu: La perception de la nouveauté chez Christophe Colomb: Études sur l'Impact culturel du Nouveau Monde. Séminaire Interuniversitaire sur l'Amérique Espagnole Coloniale, Paris 1981, Bd. 1, S. 11-24. 15 Tzvetan Todorov: La conquête de l'Amérique. La question de l'autre, Paris 1982, bzw. Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985. 16 Todorov: Eroberung Amerikas, S. 38. 17 Atlas Histórico Cultural de América, Bd. 1, Las Palmas de Gran Canaria 1988, S. 98: „Por eso el descubrimiento no fue total." " Fray Bartolomé de Las Casas: Obras Completas 3, Historia de las Indias. Primera edición crítica, Tomo I, Madrid 1994, Lib. I, XL, S. 553f. „de su bondad natural, de su simplicidad, humildad, mansedumbre, pacabilidad e inclinaciones virtuosas, buenos ingenios, prontitud o prontísma disposición para rescibir [sic] nuestra sancta [sic] fe y ser imbuidos en la religión cristiana [...]".

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hen, meinte Kolumbus also gute Missionsobjekte gefunden zu haben. „Und weil sie uns viel Freundschaft erwiesen, ich erkannte, daß sie Leute waren, die man sehr gut befreien und zu unserem heiligen Glauben bekehren könnte, und zwar besser durch Liebe als durch Zwang, gab ich einigen von ihnen rote Mützen und einige Glasperlenspiele." 19 Und an einer dritten Stelle heißt es: „ich sehe, daß sie sehr schnell alles nachsprechen, was ihnen gesagt worden ist und glaube, daß sie leicht zu Christen gemacht werden konnten, da sie keiner Häresie anhingen, etc." 20 Kolumbus schließt auf eine schnelle Auffassungsgabe der Lucayos, weil sie wie die Papageien schnell nachplappern, was man ihnen vorsagt. Im übrigen finden wir hier, wie gesagt, den ersten Hinweis auf das spätere Missionsunternehmen, das mit dem törichten Fehlschluß begann, Menschen, die keine ohne weiteres erkennbaren Kultzeichen und Kultstätten haben, hätten auch keine Religion, während wir heute wissen, daß diese Attribute bei Menschen der Kultur der Jäger, Sammler und beginnenden Ackerbauer nicht vorkommen. Diesen Irrtum hat übrigens auch ein Las Casas übernommen bzw. er fühlte sich dadurch in seiner Missionsmethode bestärkt. 21 Todorov zeigt eindrucksvoll, daß Colon insgesamt keine menschliche Kommunikation mit den Eingeborenen gelang, obgleich er ständig behauptet, zu verstehen, was man ihm sagt. 22 Die Lucayos gaben alles, was sie besaßen, gutwillig ab und nahmen alles an. Sie erschienen Kolumbus in jeder Hinsicht als arm. Auch diese Bemerkung zeigt, daß Kolumbus' Denken auf die Profitgewinnung fixiert war, 23 aber auch, daß er ihre Wirtschaft nicht verstand oder nicht verstehen wollte, denn es war ein Wirtschaftssystem auf Gegenseitigkeit, wie Meliä zeigt, das sehr wohl Überschüsse erzeugte, aber nicht vermarktete und folglich die Kolonialwirtschaft bedrohte. 24 19

Ebenda, S. 555: „Y, porque nos tuviesen muncha [sie] amistad, porque cognoscí [sie] que era gente que mejor se libraría y convertiría a nuestra sancta [sie] fe con amor que por fuerza, les di a algunos dellos unos bonetes colorados y unas cuentas de vidro [sie]." 20 Ebenda, S. 556: „veo que muy presto dicen todo lo que les decía; y creo que ligeramente se harían cristianos, que pareció que ninguna secta tenían, etc." 21 Vgl. Historia de las Indias I, 41 nach Manfred Tietz: Auszüge aus dem Bordbuch des Kolumbus, in: Eberhard Schmitt: Die großen Entdeckungen, Bd. 2, München 1984, S. 100125, hier S. 114 Anm. 8. 22 Vgl. ebenda, S. 43ff. 23 Vgl. Saint-Lu: Perception, S. 17. 24 Vgl. Bartomeu Meliá: O Encobrimento da América, in: Roberto Zwetsch (Hg.): 500 Anos de Invasäo. 500 Anos de Resistencia, Säo Paulo 1992, 67-80, S.73f., der auch auf Marshai Sahlins: Stone Age Economies, Chicago 1974 verweist, der nachweist, daß die SteinzeitWirtschaft eine Überflußwirtschaft war.

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Vom ersten Augenblick an faszinierte Kolumbus die Nacktheit der Insulaner. Sie widersprach völlig den Erwartungen der „zivilisierten" Entdecker, wie Saint-Lu bemerkt, denn sie erwarteten, andere Zivilisierte zu treffen, nämlich Untertanen des Großkhans. 25 „Sie gehen umher, wie ihre Mutter sie geboren hat", haben eine verhältnismäßig helle Hautfarbe wie die Einwohner der Kanaren und bemalen sich mit schwarzer oder weißer Farbe.26 Die verhältnismäßig helle Hautfarbe galt übrigens als Beweis, daß man nicht in Afrika, sondern in Asien war! Von der kultischen Bedeutung der Körpersprache ahnte Kolumbus natürlich nichts. Für den damaligen abendländischen Menschen beschrieb der Schöpfungsbericht in Gen 2 einen historischen Vorgang. Danach empfanden die ersten Menschen nach dem verbotenen Apfelgenuß im Paradies Scham und bedeckten ihre sexuelle Blöße. Deshalb stellte die völlige Nacktheit der Lucayos aus europäischer Sicht ihr Menschsein in Frage. Darum bemerkt Kolumbus erstaunt, „daß die Indianer trotz ihrer Nacktheit den Menschen näher zu stehen scheinen als den Tieren".27 Spätere Missionare deuteten die Nacktheit als Zeichen für die paradiesische Unschuld der Urbewohner der Neuen Welt.28 Kolumbus und die Seinen dürften sie eher als Zeichen der Primitivität und Unterlegenheit gedeutet werden. Darauf könnte auch die anschließende Feststellung deuten: „Ellos deben [de] ser buenos servidores [...]" 29 Wenn man servidores wie Tietz mit „Arbeitskräfte" übersetzt,30 kommt das darin mitschwingende erniedrigende Moment nicht genügend zum Ausdruck. Man könnte eher „Dienstboten" sagen, worin für Adelige oder Reiche immer der Klang einer niederen Art Mensch gelegen hat. Insgesamt zeigt sich im Bordbuch die Ten25

Vgl. ebenda, S. 13. Vgl. Las Casas: Obras, S. 556. 27 Vgl. Todorov: Eroberung Amerikas, S. 48, der hier ohne Seitenangabe zitiert aus: A. Bernáldez: Historia de los Reyes Católicos don Fernando y doña Isabel, Granada 1856. Engl. Übers.: Select Documents Illustrating the Four Voyages of Columbus, Bd. 1, London 1930. Annerose Menninger bemerkt in ihrer rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung der Berichte Stadens und Schmidels, daß Nacktheit bzw. Halbbekleidung des Indios im Abendland gern mit Unkultur im allgemeinen und ausschweifender Schamlosigkeit assoziert worden zu sein scheint - Unter »Menschenfressern«? Das Indiobild der Südamerika-Reisenden Hans Staden und Ulrich Schmidl zwischen Dichtung und Wahrheit, in: Kolumbus' Erben. Europäische Exansion und überseeische Ethnien im Ersten Kolonialzeitalter, 1415-1815 - hg. v. Thomas Beck/ Annerose Menninger/Thomas Schleich, Darmstadt 1992, S. 63- 98, S. 73. 26

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Vgl. Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München (1991) 4 1992, S. 60. Saint-Lu: Perception, S. 15 weist auf eine entsprechende Äußerung Las Casas', Historia de las Indias, Lib. I, c. XL hin. 29 Las Casas: Obras, S. 556. 30 Tietz: Auszüge, S. 114: „Sie sind sicher hervorragende Arbeitskräfte".

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denz, wie Tietz zu Recht bemerkt, „die indios als Untertanen und »ökonomische Faktoren« der Katholischen Könige" zu sehen.31 Meine pejorative Interpretation wird gestützt durch die etwas spätere noch deutlichere Feststellung des Admiráis: Sie sind unbewaffnet, nackt und feige, woraus er folgert: „und folglich sind sie als Befehlsempfänger und Arbeiter geeignet, um zu säen und alles andere zu erledigen, was nötig sein mag".32 De facto sollten sie bald als Arbeitssklaven behandelt werden. Übrigens ist im Bordbuch in den wörtlichen Zitaten zunächst noch nicht von indios die Rede, sondern immer von hombres. Da aber Las Casas in seinen verbindenden Textabschnitten ständig die längst eingebürgerte Bezeichnung indio benutzt und die wörtlich von ihm zitierten Passagen nur den kleineren Teil des Textes bilden, läßt sich praktisch nicht mehr ermitteln, wann Kolumbus diesen Begriff eingeführt hat.33 Im Brief an Santángel bemerkt der Admiral einerseits, er habe mit dem König des Nordwestens Hispaniolas eine innige Freundschaft geschlossen, andererseits läßt er seine Verachtung ihm und seinem Volk gegenüber durchblicken: „Sollte er seinen Sinn ändern und wollte er meinen Männern etwas zufügen, so könnte ihnen nicht viel geschehen, weil weder er noch seine Untertanen sich der Waffen zu bedienen wissen und nackt und wehrlos herumlaufen. So dürfte es meinen dort zurückgelassenen Leuten nicht schwer fallen, die ganze Gegend zu beherrschen und nötigenfalls zu verteidigen. Wenn die Spanier sich vernünftig verhalten, können die Inselbewohner für sie keine ernstliche Gefahr bedeuten."34 Die ausufernde Diskussion, die um das Jahr 1992 über den Begriff Entdekkung geführt worden ist, soll hier nicht fortgesetzt werden, aber doch an die Anmaßung erinnert werden die daraus spricht. Denn obgleich Marco Polo wahrscheinlich der erste Europäer war, der China erreicht hat, jedenfalls derjenige, der es in Europa bekannt gemacht hat, ist nie jemand auf die Idee gekommen, ihn den Entdecker Chinas zu nennen. „Warum? Vielleicht, weil es in China keine europäischen Kolonisten gibt, denen daran gelegen ist, Marco Polo als 31

Ebenda, 114, Anm. 7. Auch Saint-Lu: Perception, S. 17 sieht hierin einen Ausdruck der merkantilistischen und kolonisatorischen Absichten Kolumbus'. 32 Unter dem 16. Dez. 1492 - Las Casas: Obras, c. LIV, S. 621: „y así son buenos para les mandar y les hacer trabajar, sembrar y hacer todo lo otro que fuere menester [...]" 33 Insofern bleibt unverständlich, wie Morales Padrón: Atlas, S. 94 behaupten kann: „El 17 de octubre habla ya de indios y de las Indias [...]" 34 Ein Brief des Christoph Kolumbus an Luis de Santángel, in: Christoph Kolumbus: Bordbuch. Mit einem Nachwort von Frauke Gewecke und zeitgenössischen Ilustrationen Frankfurt a. M./Leipzig 1992, S. 287-299, S. 294.

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Symbol einer erfolgreichen, aber noch immer umstrittenen Eroberung in Erinnerung zu rufen", urteilt der US-Amerikaner Jack Forbes.35 Ignacio Ellacuría, ein spanischer Jesuit, der sein Leben wegen seiner Bemühungen um den Frieden 1989 in El Salvador lassen mußte, schreibt zum Thema Entdeckung: „Das Erste, was passiert, ist, daß sich der Conquistador oder Beherrscher offenbart. Mit der »Entdeckung« der sogenannten »Neuen Welt« vor 500 Jahren wurde in Wirklichkeit entdeckt - offengelegt - , was Spanien, was die westliche Kultur und was die Kirche zu jenem Zeitpunkt wirklich waren. Sie entlarvten sich, stellten sich bloß, ohne es zu merken. Ihr Gegenüber haben sie nicht »entdeckt«, sondern verdeckt. In Wirklichkeit war es die »Dritte Welt«, die die »Erste Welt« von ihrer schlechtesten und zugleich wirklichsten Seite entdeckte." Das Europa, das die Indianer damals entdeckten, war das Europa der Moderne, die eben mit der außereuropäischen Kolonisierung begann.36 Todorov liefert eine Fülle von Hinweisen dafür, daß die wesentlichen Momente der Conquista ganz zur heraufziehenden Moderne gehören. Die Mentalität der Vernunft, die der Conquista zum Erfolg verhilft, ist nichts anderes als die „moderne Vernunft". Rottländer kommentiert: „Die Art und Weise, wie die Konquistadoren mit den gänzlich anderen Menschen umgegangen sind, wie sie die Andersheit begriffen und bewältigt haben, gehört demnach nicht in eine uns fremde Epoche, sondern steht am Anfang einer Entwicklung, deren Erfolg und deren Aporien auch und gerade in der Gegenwart zu bedrängenden Fragen geworden sind." Todorov stellt Moctezuma und Cortés gegenüber, d.h. die traditionelle Vernunft einer rein zweckorientierten Vernunft. Dabei zeigt sich, daß die zweckorientierte, instrumenteile Vernunft weit besser als die traditionsgeleitete in der Lage ist, „die Andersheit der Anderen wahrzunehmen (und so die Chancen ihrer Unterwerfung zu erhöhen)".37 Der aus der Bevormundung befreiten, der entfesselten, instrumenteilen Vernunft, „die zum reinen Mittel der »Selbsterhaltung« geworden ist, eignet ein spezifischer Umgang mit dem Anderen: Das und der Andere, Fremde, das Äußere, Neue usw. wird »eingeordnet« - im begrifflichen wie im realen Sinne. Die 35

Jack D. Forbes: Columbus und andere Kannibalen, Wuppertal 1992, S. 46. Zum Vergleich des europäischen und chinesischen Selbstverständnisses vgl. Walter Demel: Europäisches Überlegenheitsgefühl und die Entdeckung Chinas, in: Beck et al.: Kolumbus' Erben, S. 99143, S. 103ff. 36 Peter Rottländer: Die Eroberung Amerikas und wir in Europa. Mit Beiträgen von Ignacio Ellacuría und Christa Kargl-Schnabl, Aachen 1992 (Hg.: Bischöfliches Hilfswerk Misereor), S. 34, bzw. im einzelnen Ignacio Ellacuría: Fünf Jahrhunderte Lateinamerika: Entdeckung oder Verschleierung?, in: Ebenda, S. 132ff. 37 Rottländer: Eroberung, S. 35f.

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moderne Vernunft duldet kein Anderes", aber sie ist keineswegs „ignorant gegenüber dem Anderen, sie zermalmt es nicht etwa, weil sie es gar nicht zu erkennen in der Lage wäre, sondern umgekehrt: sie kann sich das Andere unterwerfen, gerade weil sie es besonders schnell versteht, kennt, durchschaut und sich so verfügbar machen kann. Aus dem Kennen folgt nicht das Anerkennen, sondern im Gegenteil, die Assimilation! Todorov spricht dreimal vom »todbringenden Verstehen« (155)". 38 Die Meinung Bartolomé de Las Casas', der von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ausgeht und betont, daß die indianischen Kulturen als Zivilisationsformen der christlich-abendländischen nicht nachstehen, 39 sollte ein einsames Minderheitsvotum bleiben. Wirkungsmächtiger wurde das Urteil des Juristen und Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda, der im Anschluß an Aristoteles nicht Gleichheit, sondern Hierarchie für den natürlichen Zustand der Menschheit hielt, allerdings nur die Relation Superiorität-Inferiorität kannte und im Democrates alter schrieb: „Das Vollkommene muß über das Unvollkommene, das Starke über das Schwache, die Vortrefflichkeit der Tugend über ihr Gegenteil herrschen." Zur Rechtfertigung der Conquista fehlt dann nur noch die Folgerung: „An Klugheit und Scharfsinn, Tugendhaftigkeit und Menschlichkeit sind die Spanier diesen Barbaren so weitaus überlegen wie die Erwachsenen den Kindern und die Männer den Frauen; zwischen ihnen besteht ein ebenso großer Unterschied wie zwischen wilden, grausamen Menschen und solchen von großer Sanftmut, zwischen vollkommen maßlosen und solchen, die maßvoll und enthaltsam sind, und fast möchte ich sagen wie zwischen Affen und Menschen." 40 3. Christianisierung Die Art der Mission hing wesentlich von der Wahrnehmung der Ethnizität der indigenen Völker ab. So ist es sicher kein Zufall, daß Las Casas, der die indigenen Kulturen hoch schätzte, für eine absolut friedliche, evangeliumsgemäße Mission eintrat. Er betrachtete den Eroberungskrieg nicht nur als Missionshindernis, sondern sowohl als Verstoß gegen das Naturrecht als auch gegen das göttliche Recht, 41 mithin als Todsünde. 38

Rottländer: Eroberung, S. 20 und 47. Vgl. Mariano Delgado: Glaubenstradition im Kontext. Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 1, Paderborn u.a. 1994, S. 35-58, S. 45. 40 Zitiert nach Todorov: Eroberung Amerikas, S. 184f. - Democrates alter, S. 20. 41 Vgl. Fray Bartolomé de Las Casas: Obras completas, 2. De Unico vocationis Modo. Edición de Paulino Castañeda y Antonio García del Moral, O.P, Madrid 1990, c. VII, § 1, S. 484ff. 39

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Der zweite bedeutende Missiologe Amerikas hingegen, der hauptsächlich in Peru tätig gewesene Jesuit José de Acosta (1540-1600), ließ sich von Sepülveda und dem Aristotelismus beeinflussen. 42 Er ist 1572, als Vizekönig Francisco de Toledo das Land inspizierte und das Vizekönigreich organisierte, nach Peru gekommen, das er dann sogleich bereiste. 1575 wurde er Provinzial. 1582-83 spielte er als Theologe eine maßgebliche Rolle auf dem 3. Limenser Konzil, das die pastoralen Leitlinien für das Erzbistum Lima ausarbeitete. Acosta hat ab 1576 die Verantwortung für den Anfang des Missionsexperiments in Juli gehabt. In den Jahren 1576/77, als wegen des Scheiterns der ersten Evangelisationsversuche großer Pessimismus unter den Kirchenleuten in Peru herrschte, 43 hat er seinen Traktat De procurando indorum salute o Predicación del Evangelio en las Indias geschrieben, den er dann 1588 in Spanien veröffentlichte. Die Schrift war einem größeren Kreis zugänglich, weshalb sein Einfluß nicht zu unterschätzen ist.44 Acosta drückt sich freilich etwas verklausuliert aus, so daß man immer etliche Kapitel lesen muß, bis man schließlich seine wahre Meinung erfahrt. In Kap. 5 geht Acosta auf Aristoteles' Meinung ein, daß die Barbaren von Natur aus Diener seien, da in einem Gemeinwesen (res publica) die Weisen regieren und die Rohen gehorchen müßten. Daraus dürfe aber nicht geschlossen werden, daß man Heranwachsenden oder Frauen die Macht entreißen dürfe (S. 437). Er relativiert auch Aristoteles' Ansicht, daß man gerechterweise denjenigen Heiden, die nicht dienstwillig seien, den Krieg erklären dürfe und meint, Aristoteles habe Alexander d. Gr., der von Machtgier getrieben, sein Reich ausgeweitet habe, schmeicheln wollen. Und was Rom anbelangt, zitiert er Augustin, der dessen Reich als ein „Reich von ehrenvollen Diebstählen" bezeichnet. 45 Acosta kommt zu dem Schluß, „daß die Barbaren nicht Barbaren von Natur aus sind, sondern aus Lust und Gewohnheit, sie sind Kinder und sind aus Neigung kindisch gesinnt, nicht von Natur aus; deshalb ist niemand berechtigt, sie zu züchtigen, wenn sie sich vergehen." 46 Er lehnt also Aristoteles' These ab, daß 42

J. de Acosta: De procuranda indorum salute o Predicación del Evangelio en las Indias, Madrid 1588: Obras, ed. por F. Mateos, Madrid 1954 (BAE 73). 43 Vgl. Manuel M. Marzal SJ: Kulturanthropologie und Mission. Conquista und Evangelisation, S. 293-312, S. 308. 44 „[...] estuvo al alcance de los »obreros de indios« para su posterior estudio y reflexión", ebenda, S. 138. 45 Acosta: De procuranda indorum salute, S. 436: „llama a su imperio honoríficos latrocinios". 46 Ebenda, S. 439f.: „que los bárbaros no son tales por naturaleza, sino por gusto y por hábito; son niños y dementes por afición, no por su ser natural; por tanto lo que delinquen, no le toca a nadie castigarlo."

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es von Natur aus minderwertigere Völker gebe! Er lehnt auch die These berühmter Theologen ab, „die versichern, daß man die Verteidigung der Unschuldigen als gerechten Grund für den Krieg gegen die Indianer anfuhren könne".47 Aber dann kommt Acosta in Kap. 8 doch zu dem Schluß, daß die alte apostolische Methode der Verkündigung in Amerika nicht angewandt werden könne, wie die Jesuiten sie z.B. bei den Indern, Persern, Arabern, Äthiopiern, den Einwohnern der Malabaren, den Japanern und den Chinesen angewandt hätten. Als Beispiel dient ihm Florida, wo dreimal Dominikaner und Jesuiten unbewaffnet gelandet und ermordet worden seien. Hier würde gegenüber Gästen und Fremden das Völkerrecht überhaupt nicht beachtet.48 In vielen Gegenden drohen die Missionare der Anthropophagie anheimzufallen. Die Apostel hatten es mit der Christuspredigt bei Juden und Griechen auch schwer (vgl. 1 Kor 1,13). Aber sie hatten es doch mit Vernunftmenschen zu tun. Im übrigen stünden den heutigen Missionaren nicht mehr die apostolischen Wunderkräfte zur Verfugung, die der Predigt nachhelfen konnten.49 Deshalb hätten die Ordensoberen den Jesuiten verboten, sich der Willkür der Barbaren auszusetzen. Schließlich postuliert er in Kap. 13, ausgehend von Aristoteles,50 auch das Recht der Christen, in die Länder der Barbaren einzudringen, denn jene benötigen die Fremden, damit sie ihnen helfen, ihr Gemeinwesen nach den Naturgesetzen aufzubauen und sie zu zivilisieren, denn sie leben eher wie wilde Tiere. Hierzu dürfe Zwang angewandt werden, der aber nicht zu Sklaverei oder Tod fuhren dürfe.51 Für Acosta war wie für Aristoteles klar, daß die Barbaren sich dagegen wehren würden, weshalb man sie durch gerechten Krieg zwingen dürfe. Aber im Gegensatz zum Requerimiento von 1513 lehnt Acosta eben Versklavung als Strafmaßnahme ab.52 Und er läßt es sich angelegen sein, die Missionare zu überzeugen, daß sie 47

Ebenda, Kap. 6: „que afirman se puede alegar como justo título de la guerra contra los indios la defensa de los inocentes." 48 Vgl. S. 443: „[...] con los huéspedes y extranjeros no observan ningún derecho de gentes, cuando ni entre sí conocen las leyes de la naturaleza; por lo cual confiarse a la razón y libre albedrío de éstos será como pretender entablar amistad con jabalíes o crocodilos." 49 Ebenda, S. 442f. 50 1 Polit. c. 5 (nunc n. 8). II, 1256 b 25. 51 Ebenda, Lib. II, XIII, S. 451"[...] necesitan de los extraños, para organizar debidamente su república; más aún, para poder tener república digna de este nombre, puesto que hacen más bien vida de fieras, y, por tanto, se les ha de atraer a la vida social y a las leyes conforme a la naturaleza, y si resisten, forzarlos de alguna manera, excluyendo, sin embargo, la esclavitud y la muerte". 52 Ebenda, Lib. II, XIII, S. 45 lf. ,,Y por tan cierto lo tuvo el Filósofo, que a los bárbaros que rehusan obedecer determina ser justa por naturaleza someterlos con la guerra [(Aristot. 1 Polit. c. 5 (nunc n. 8). II, 1256, b 25], lo cual nosotros lo admitimos con la siguiente moderación,

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nicht minder apostolisch seien, nur weil sie das E v a n g e l i u m e n t g e g e n der alten Art u m g e b e n v o n e i n e m militärischen Apparat verkündeten, vielmehr sollten sie sich der göttlichen Weisheit fugen, denn sie lebten eben in einer anderen Zeit als die Apostel. 5 3 M a n kann diese Art der Argumentation nur als opportunistisch b e z e i c h n e n , denn s o läßt sich fast alles begründen. A c o s t a ist hier als G e g e n p o s i t i o n eines T h e o l o g e n der z w e i t e n Generation zu Las Casas gewählt, w e i l er kein Extrem verkörpert und lange nach der päpstlichen Bestätigung der m e n s c h l i c h e n Natur der Ureinwohner der N e u e n Welt durch die Bulle Pauls III. Sublimis

Deus v o n 1537 5 4 gelebt und geschrieben hat.

Trotzdem w e c k t er tierische A s s o z i a t i o n e n hinsichtlich der Natur der Indianer, w e n n er schreibt, sich ihrem freien W i l l e n anzuvertrauen sei, als ob m a n sich W i l d s c h w e i n e n oder Krokodilen anvertraue. Oder w e n n er äußert: „Also, angesichts des m a n g e l n d e n Urteilsvermögens und der Unvernunft der Hunde und S c h w e i n e m ü s s e n wir auch daran denken, daß uns durch Christus geboten ist", die Perlen nicht vor die Säue zu werfen, „damit sie sich nicht g e g e n uns w e n den". 55 Solche n e g a t i v e n V e r g l e i c h e finden sich auch bei Nöbrega, d e m ersten Jesuitenoberen in Brasilien. 5 6 Der freilich hatte es mit Völkern der Stufe der Jä-

que no permitimos de ninguna manera tomar por esclavos a los bárbaros, o matarlos o aniquilarlos, porque no admitimos ninguna esclavitud connatural al hombre; pero consentimos sean encomendados generosamente a los que son mejores y más sabios para que los rijan y enseñen en orden a su salvación." 53 Ebenda, c XVI, S. 453f.: „Y sea la primera advertencia que, como tiene que anunciar el evangelio de un modo nuevo y rodeado de soldados y aparato vario, en contra de la antigua manera, no por eso crea que es menos apostólico, ni pierda el ánimo, como si no predicase el evangelio de modo evangélico. Conviene que el siervo de Dios se someta en todo prontamente a la voluntad divina y consiente generosamente en ser regido por la eterna sabiduría. No son unos mismos todos los tiempos [...]" Acostas an anderer Stelle geäußerte Hinnahme der Kommende erscheint nach den Kämpfen Las Casas' dagegen nachgerade als naiv. Lib. III, c. 11 (S. 475ff.) rechtfertigt er ausfuhrlich die Kommende und zeigt sich mehr um Neueinwanderer besorgt, daß auch sie Kommenden erhalten, als um den Schutz der Indios, die er bei den Altgläubigen gut aufgehoben sieht! 54 Vgl. Hans-Jürgen Prien: „Sublimis Deus", in: Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, Bd. 4, Göttingen 3 1996, Sp. 538f. 55 „Pues, conociendo la falta de juicio y la imprudencia de los puercos y los perros hemos de pensar que también nos es mandado por Cristo no arrojar en vano las preciosas margaritas delante de ellos para que la pisen, y revolviénose contra nosotros nos destrocen." (Mt 7,6) (S. 444). 56 Vgl. Diálogo sobre a conversào do Gentio do P. Manuel da Nóbrega [Baía 1556-1557]: Monumenta Histórica Societatis IESU, Monumenta Brasiliae I (1538-1553) ed. por Serafim Leite S. I., Roma 1956, S. 317-345, S. 320; vgl. dazu: José Oscar Beozzo: O Diálogo da Conversào do Gentio. A evangelizaçào entre persuasäo e força, in: Universidade Católica Portu-

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ger und Sammler mit beginnender Landwirtschaft zu tun, die teilweise der Anthropophagie huldigten, während es Acosta mit Quechua-Hochlandindianern zu tun hatte, die zum Inkareich gehört hatten. Diesbezüglich darf daran erinnert werden, daß der vorletzte in Vilcabamba regierende Inka, Titu Kusi Yupanki (1560-1571), häufig spanische Gesandte empfangen und sogar Priester ins Land gelassen hat. Er hat die Taufe seines Sohnes zugelassen und ist schließlich sogar selbst Christ geworden.57 Freilich hat er auch stets Widerstand gegen die Spanier geschürt. Das verdeutlicht paradigmatisch das Grundproblem der Christianisierung in Amerika, das selten so deutlich angesprochen ist wie von dem großen portugiesisch-brasilianischen Jesuiten Antonio Vieira (1608-1697) in seiner Predigt am Dreikönigstag 1662 vor der portugiesischen Königin. Ausgehend von der Prämisse, daß Christus die drei Heiligen Könige vor Herodes geschützt habe, weil er nicht wollte, daß sie „Heimat noch Souveränität noch ihre Freiheit" verlören, legt Vieira dar, daß die Portugiesen in diesen drei Kernpunkten hinsichtlich der Indianer genau entgegengesetzt wie Christus handelten. „[...] wir stimmen nicht nur zu, daß diese Heiden ihre Heimat verlieren, sondern wir selbst sind es, die wir ihnen mit der Macht der Überredung und mittels Versprechen - die sicher nicht gehalten werden - ihr Land entreißen." „[...] wir stimmen zu, daß diese Heiden die naturgegebene Souveränität verlieren, mit der sie auf die Welt gekommen sind und daß sie fern von jeder Vorherrschaft leben, sondern wir selbst sind es, die sie auch unter die weltliche Macht der Krone zwingen, wenn wir sie dem geistlichen Joch der Kirche unterwerfen und sie den Treue-Eid schwören lassen." Christus befreite die Heiligen Könige aus der Macht und Tyrannei des Herodes. „Und wir, wir verteidigen nicht die Freiheit, sondern verbünden uns so mit ihnen als ihre Beschützer, daß sie halbe Sklaven werden, und wir zwingen sie, die Hälfte des Jahres nun als Sklaven zu arbeiten. Nichts reicht aus, um die Gier und die Tyrannei unserer Ausbeuter zu besänftigen; denn sie sagen, daß sie (die Indios) Schwarze sind und Sklaven sein müssen."58 Beozzo resümiert: „Das

guesa. Congresso Internacional de Historia. Missionafäo Portuguesa e Encontro de Culturas, Actas, Vol. II, Braga 1993, S. 551-587. 57 Vgl. Titu Kusi Yupanki: Die Erschütterung der Welt. Ein Inka-König berichtet über den Kampf gegen die Spanier. Hg., mit einer Einfuhrung versehen und aus dem Spanischen übersetzt von Martin Lienhard, Freiburg 1985, S. 137ff. 58 P. Antonio Vieira: Sermäo da Epifanía (6.1.1662), in: Peixoto Afránio: Os melhores sermöes de Vieira, Rio de Janeiro 3 1933, S. 255-256, zit. nach José Oscar Beozzo: Evangelisierung und 500 Jahre Lateinamerika: Kath.-Theol. Fakultät der Universität Würzburg:, Entdeckung, Eroberung, Befreiung, Würzburg 1993, S. 82-98, S. 84; vgl. auch Heinz-Jürgen

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ist mithin die Ursünde der Evangelisierung Lateinamerikas: die Teilnahme am politischen Ziel der Vorherrschaft und der Ausbeutung, bei der die einheimische Bevölkerung vernichtet wurde und ebenfalls die afrikanischen Sklaven." 59 Dabei handelt es sich nicht um ein spezifisch katholisches oder iberisches, sondern offenbar um ein europäisches Mentalitätsproblem mit tiefen kirchengeschichtlichen Wurzeln, denn es lassen sich auch protestantische Stimmen finden, die diese Ziele legitimieren. 60 Evangelisierung und Eroberung sind in Amerika so eng miteinander verbunden, das sie nicht getrennt von einander untersucht werden können, ohne ideologisch verfälscht zu werden. 61 Wir haben es hier mit einem Grundproblem des Christentums zu tun. Seit der Konstantinischen Wende ist die Kirche immer wieder durch die Verbindung mit staatlicher Macht korrumpiert worden. Der heilsame Schock, den die Eroberung Roms i. J. 410 durch die Westgoten unter Alarich bei Augustin ausgelöst hat und den er in seiner De civitate Dei verarbeitet hat, hat nicht vorgehalten. Augustins Gedanke des Missionszwangs wurde geschichtsmächtiger. Durch die Aristoteles-Rezeption Thomas von Aquins hat sich der Gedanke des Missionszwangs mit der Legitimierung der Sklaverei 62 und der These verbunden, daß es der Natur wegen widriger Umstände nicht immer gelinge, hochwertige Menschen hervorzubringen, weshalb es auch minderwertige Menschen gebe. Solche geistige und sittliche Minderwertigkeit lokalisierte der Aquinat vor allem bei den Naturvölkern und erklärte, ihnen gegenüber seien Zwang und Gewalt am Platze, da sie geborene Sklaven seien. Die Minderwertigen können ihr Leben nicht kraft eigener Vernunft gestalten, sondern müssen durch die Vernunft an-

Loth: Padre Antonio Vieira S.J. Zum dreihundertjährigen Todestag eines großen lusobrasilianischen Jesuiten": BRASILIEN DIALOG 1/2/97 (Mettingen), S. 13-20. 59 Beozzo: Evangelisierung, S. 85f. 60 So weist Beozzo: Evangelisierung, S. 85 auf den niederländischen Chronisten Gaspar Barleus hin, der „schamlos die Rolle und den Platz der Religion im Gesamtprojekt der Kolonialherrschaft", in diesem Fall der Generalstaaten in Brasilien, bekannt habe - vgl. Gaspar Barleus: Historia dos feitos recentemente praticados, durante oito anos no Brasil, Belo Horizonte/Säo Paulo 1974. 61 Vgl. Giulio Girardi: La Conquista, ¿Con qué Derecho? Madrid 1992, S. 77, der zugleich betont, daß dadurch die subjektive Qualität des moralischen und religiösen Einsatzes vieler Missionare nicht in Zweifel gestellt oder herabgewürdigt werden solle. 62 H.-D. Wendland: Sklaverei und Christentum, in: R G G 3 VI (1962), Sp. 101-104, 102f. bemerkt, daß Thomas unter Berufung auf Aristoteles die Sklaverei „sittlich und rechtmäßig legitimiert" habe, weil sie nicht dem Naturrecht widerspreche.

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derer geleitet werden, 63 eine These, die wir z. B. bei Acosta wiedergefunden haben. Hatte Innozenz IV. behauptet, der Papst habe das Recht, den Heiden zu befehlen, christliche Glaubensboten in ihren Ländern zuzulassen, im Weigerungsfalle könne er ihnen den gerechten Krieg erklären, so konnten die Katholischen Könige die Bullen von 1493 so interpretieren, daß Rom ihnen kraft des päpstlichen Universalismus die Länder in Westindien überlassen habe, so daß sie im Falle von Widerstand bei der Inbesitznahme einen gerechten Krieg fuhren konnten. Dieses Rechtsverständnis kommt in der Konquistadorenproklamation von 1513 zum Ausdruck. Freilich handelte es sich bei den Bullen um präasiatische, die sich auf Inseln und Festlandsküstenstützpunkte bezogen, wie Weckmann zu Recht betont. 64 Das Problem liegt in der Umdeutung der Bullen in präamerikanische und ihrer Anwendung auf einen ganzen Kontinent und seine Menschen. Eine derart umfassende Expansion hatte Europa noch nie erlebt. Aus den päpstlichen Bullen des 15. Jhs. für Portugal und Kastilien scheint sich die offizielle Kolonialdoktrin der iberischen Seemächte, von der Bitterli spricht, entwickelt zu haben, nämlich daß „die Bewohner überseeischer Gebiete Menschen waren, die das Unglück hatten, der christlichen Offenbarung nicht teilhaftig geworden zu sein; dadurch daß man sie zu bekehren versprach, erwarb man das Recht, ihre Gebiete in Besitz zu nehmen." 65 Von da aus ist es kein so großer Schritt mehr bis zu der vom Vetter des peruanischen Vizekönigs Francisco de Toledo, von Garcia de Toledo im Gutachten von Yucay 1571 vertretenen These, daß Gott den Katholischen Königen Westindien zum Lohn für die erfolgreiche Beendigung der Reconquista geschenkt habe. Da aber die Menschen in Westindien „häßlich, würdelos und stumpfsinnig" seien, habe Gott ihnen Gebirge von Gold und Silber als Mitgift gegeben, damit ihr Duft die Menschen anziehe, „die um Gottes willen hierher kommen wollten, das Evangelium

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Vgl. Joseph Höffner: Kolonialismus und Evangelium, Trier 2 1969, S. 78 mit Bezug auf Suppl. qu. 52, 1 ad 2; 1. 2. 95. 1 c. und „Contra gentiles" Lib. III c. 81 - vgl. Aristoteles, In Pol. I, lect. 1 + 4 . 64 Constantino el Grande y Cristóbal Colón. Estudios de la supremacía papal sobre islas (1091-1493), Méx. 1992 (2. Aufl. von: Las Bulas Alexandrinas de 1493 y la teoría del papado medieval, Méx. 1949). 65 Urs Bitterli: Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jh., München 1992, S. 25, der sich diesbezüglich auf J. Höffner, Kolonialismus und Evangelium, Trier 3 1972 beruft.

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zu predigen, sie zu taufen und diese Seelen mit Christus zu vermählen". 66 Gutiérrez kommentiert: „In einer sonderbaren Vermengung von Philosophischem und Geistlichem regt der Duft des Goldes solch einzigartige Evangelisatoren an, aus Liebe zu Gott in diese Länder zu kommen. Eine unverhohlenere Bekundung von Rassismus und Eurozentrismus wird kaum zu finden sein. Der Autor behauptet die Überlegenheit der weißen Rasse und der westlichen Kultur („wir"), während er für die Eingeborenen nichts als Verachtung hat („diese")." 67 Dieses Überlegenheitsgefühl trug zweifellos dazu bei, „daß die Kulturberührung meist in einen Kulturzusammenstoß umschlug, der die kulturelle Existenz des militärisch und machtpolitisch schwächeren Partners bedrohte und seine physische Existenz gefährdete oder gar auslöschte".68 und wie es in dem einmaligen Religionsgespräch in Mexiko 1524 zum Ausdruck kommt, wurde die militärische Niederlage auch als Niederlage der eigenen Götter verstanden.69 Mit der indianischen Religion wurden ihre Weltsicht, ihre Mythologie, ihre Kunst und Wissenschaft zum Untergang verurteilt. Da die Eroberer die „Seele des indios" nicht verstehen konnten, wurden alle Möglichkeiten einer organischen Evolution verbaut, wurde das Evangelium unter dem Stichwort „Ausrottung der Götzenanbetung" 70 der indianischen Religiosität übergestülpt, was nicht hinderte, daß es zu Synkretismen kam. Indem etwa die Visitatoren in Peru zwar nicht die Indianer, aber doch die verehrten Mumien ihrer Vorfahren verbrannten, verstärkte sich in ihnen, wie Alain Milhou schreibt, das Gefühl, Waisen zu sein. „Waisen ihrer Götter, Waisen ihrer Vorfahren, Waisen ihrer Erde: das

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Gustavo Gutiérrez: Gott oder das Gold, (Übersetzung Horst Goldstein) Freiburg, Basel, Wien 1990, S. 65f., 140, nach Y 142, Kursivierung von Gutiérrez (Dios o el oro en las Indias, Lima 1989). 67 Ebenda. S. 140, der S. 142ff. zeigt, daß selbst Acosta im Geiste des Gutachtens von Jucay sagen kann: „Dazu sagt ein weiser Mann. Was ein Vater mit einer häßlichen Tochter tut, um sie zu verheiraten, d.h.: er gibt ihr viel Mitgift, das hat Gott mit diesem mühseligen Land getan, will sagen: er hat ihm großen Reichtum an Minen gegeben, damit es auf diese Weise jemanden fände, der es wolle." 68 Bitterli: Alte Welt - neue Welt, S. 27. 69 Vgl. Hans Wißmann: Sind die Götter auch gestorben. Das Religionsgespräch der Franziskaner mit den Azteken von 1524, Gütersloh 1981 (Missionswissenschaftliche Forschungen, Bd. 15). 70

Vgl. Pablo José de Arriaga: Eure Götter werden getötet. Ausrottung des Götzendienstes in Peru (1621), hg. v. Karl A. Wipf, Darmstadt 1992 (Extirpación de la idolatría del Pirú); Pierre Duviols: La Lutte contre les religions autochtones dans le Pérou coloniale, Lima 1971.

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Wort wakcha bedeutet nach José María Arguedas in Quechua gleichzeitig arm, ohne Boden und Waise." 71 Indem die indianische Religiosität in Bausch und Bogen als Teufelszeug 72 verdammt wurde, wurden die indigenen Völker also praktisch ihrer Identität beraubt und zu Wesen zweiter Klasse degradiert, deren Menschentum nach dem Urteil der Eroberer davon abhing, inwieweit sie sich iberische Zivilisation und Religion angeeignet hatten. 73 Indem die von außen kommende iberische Zivilisation die indianische unterdrückte, wurde eine Reihe von Anpassungsmechanismen ausgelöst, die das schufen, was Oscar Lewis eine neue „Kultur der Armut" nennt, eine krankhafte Folge des Kolonialismus, die menschenunwürdig ist, da sie im Menschen den unerträglichen Eindruck hervorruft, ein Fremder im eigenen Hause zu sein. 74 Dabei spielen die materiellen Bedingungen gar nicht die primäre Rolle, sondern die Bedingungen, die die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit verhindern. Die Indianer warfen den Missionaren vielfach vor, sie seien nur Prediger des „Gottes der Spanier". Und manch einen Missionar mögen Zweifel angekommen sein, ob es lohne, ftir den „Gott der Spanier" zu leben und zu sterben. Deshalb mögen sie, wie der jesuitische Linguist und Ethnologe Melià meint, nach Kräf71

Alain Milhou: Misión, Represión, Paternalismo e Interiorización. Para un balance de un siglo de evangelización en Iberoamérica (1520-1620), in: Heraclio Bonilla (Hg.): Los Conquistados. 1492 y la población indígena de las Américas, Quito, Bogotá 1992, S. 263-296, S. 280 mit Verweis auf J. M. Arguedas & A. Ortíz Rescaniere: La posesión de la tierra. Los mitos posthispánicos y la vision del universo en la población monolingue quechua, in: Les problèmes agraraires des Amériques Latines, Paris 1967, S. 305-315. 72 So spricht z.B. José de Acosta: De procuranda indorum salute, lib. V, c. IX, Madrid 1987, S. 255, von „la peste odiosísima de la idolatria", und der niederländische Missiologe Arnulf Camps OFM bemerkt dazu kritisch: „Die Idolatrie war eine Sache des Teufels [...] Der Teufel hatte die Heiden fest im Griff, obgleich sie eigentlich Kinder Gottes waren." („Begegnung mit indianischen Religionen. Warnehmung und Beurteilung in der Kolonialzeit", in: Conquista und Evangelisation. 500 Jahre Orden in Lateinamerika, hg. v. Michael Sievernich u.a., Mainz 1992, S. 348-372, S. 372). Selbst die gründlichsten Untersuchungen der indigenen Religiosität z.B. durch Sahagún in Mexiko dienten nur zu ihrer wirksameren Bekämpfung. 73 Vgl. Rudolf Grossmann: Geschichte und Probleme der lateinamerikanischen Literatur, München 1969, S. 106. Vgl. ähnlich Juan B. Olaechea Labayen: El Indigenismo Desdeñado. La lucha contra la marginación del indio en la América Española, Madrid 1992, S. 18: „La descalificación de sus divinidades y el subsiguiente descrédito y demonstración de inanidad de las creencias religiosas que impregnaban la vida y el pensamiento del pueblo indio dejó a éste en suspenso sin cielo ni tierra, sin puntos de referencia en un universo desmoronado, sin base histórica para apoyar su identidad." 74

Vgl. Oscar Lewis: Five families (Mexican Case Studies in the culture of Poverty), New York 1959, und The children of Sánchez, autobiography of a Mexican family, New York 1961.

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ten die indianische Religion verdeckt haben - er bezieht sich dabei auf die Religion der Guaraní - , die mit ihrer Hochschätzung des inspirierten Wortes, der Prophetie, der mystischen Gegenwart Gottes im ganzen Leben und des Festes, das Ausdruck einer Wirtschaft auf Gegenseitigkeit ist, das iberische Christentum von manchen kulturellen Fesseln hätte befreien können. 75 In der Schlußbotschaft des 3. Lateinamerikanischen Treffens zur indianischen Theologie, das im August 1997 in Cochabamba stattgefunden hat, heißt es: Um die zerstörte Harmonie zwischen den Menschen und der Natur wiederherzustellen, lehrt die „indianische Weisheit, daß ein wahrer Dialog stattfinden muß, bei dem die Würde des anderen und sein Anderssein respektiert werden, indem seine Botschaft und sein Wort gehört werden". Der Garant der Würde aller Menschen aber ist Gott, der mit den Worten der Kuná als Nana/Mutter und 7ato/Vater verstanden wird. Er bildet das Fundament der Harmonie zwischen Frauen und Männern und der Natur. 76 Dieser Text stammt von heutigen christianisierten Indianern und ist von der Religiosität der Kuná aus Panama beeinflußt. Er belegt natürlich nicht, daß alle indigenen Kulturen des 16. Jhs. in einer derartigen Harmonie mit der Natur lebten, sondern nur, daß die große Mehrheit der in Cochabamba Versammelten sich dieses Verständnis von indianischer Weisheit zu eigen gemacht hat und daß Religiosität sich ständig verändert. Zur Diskussion Dieser Vortrag hat eine besonders lebhafte Diskussion ausgelöst, die symptomatisch scheint für die hier erörterte Problematik von Ethnizität und Christianisierung, weshalb sie hier referiert werden soll. Schnell wird der Vorwurf der Methoden Vermischung und ahistorischer Beurteilung erhoben. In den sechziger Jahren hat ein Prozeß kritischer historischer Reflexion der kolonialen Vergangenheit Europas begonnen. Er folgte dem durch den Zweiten Weltkrieg, die Gründung der Vereinten Nationen und die UNO-Menschenrechtserklärung ausgelösten zweiten großen Entkolonialisierungsprozeß. Das erste Kolonialzeitalter, 1415-1815, und der darauf folgende Entkolonialisierungsprozeß Amerikas war im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit vor der verstärkten Publizität, die das Jahr 1992 mit sich gebracht hat, kaum mehr 75

Bartomeu Meliá: O Encobrimento da América, in: Roberto Zwetsch (Hg.), 500 Anos de Invasäo, 500 Anos de Resistencia, Säo Paulo 1992, S. 67-80, S. 76. 76 Indianische Weisheit - Quelle der Hoffnung, Schlußbotschaft des 3. lateinamerikanischen Treffens zur indianischen Theologie, in: Weltkirche 7 (1997), S. 217f.

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präsent. Die Diskussionen um das Jahr 1992 herum aber haben die iberische Kolonisation dann zu sehr von dem Gesamtphänomen des europäischen Kolonialismus isoliert. In bezug auf beide Kolonialzeitalter muß noch sehr viel mehr komparativistisch gearbeitet werden. Aber es ist auch eine bleibende Aufgabe der Vertreter des Faches Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, nicht nur den ersten Entkolonisierungsprozeß zu erklären und seine Rezeptionsgeschichte in Deutschland zu untersuchen, 77 sondern ebenfalls die besonderen Bedingungen der iberischen ÜberseeExpansion zu erklären und dabei nicht im positivistischen Sinne rein deskriptiv zu verfahren nach dem unausgesprochenen Motto: Tout comprendre c'est tout pardonner. Am Ende der Moderne, die mit der iberischen Übersee-Expansion begonnen und mit dem Zweiten Kolonialzeitalter im 19. und 20. Jh. einen weiteren Höhepunkt erreicht hat, stellt sich unausweichlich dem Historiker die Frage nach den Wurzeln dieses Prozesses, der von so vielen Grausamkeiten begleitet war. Hier kommt die instrumentelle Vernunft, die sich im Zeitalter des RenaissanceHumanismus in Europa immer deutlicher ausprägte, in den Blick. Die Annahme eines abendländischen Vernunftmonopols, wie sie in dem spanischen Satz anklingt: „Somos gente de razón", scheint eine entscheidende Triebfeder bei der Durchfuhrung des Kolonialunternehmens gewesen zu sein, die Überzeugung, die allein seligmachende Religion zu besitzen und ausbreiten zu müssen, eine weitere. Daß die größte Expansion des abendländischen Christentums im 16. Jh. begann, also im Zeitalter seiner größten inneren Krise, der Reformation, stellt ein ökumenisches Forschungsproblem dar, das katholische und protestantische Kirchenhistoriker im internationalen Rahmen zusammen mit Profanhistorikern angehen müßten. Da das ganze iberische Kolonialunternehmen des 16. Jhs. ohne die Komponente Mission, Evangelisierung oder Christianisierung undenkbar ist, denn ohne die Tausenden von Ordéns- und Weltpriestern und ohne die Verpflanzung der hierarchischen Kirchenstruktur wäre eine Stabilisierung der Kolonialherrschaft wohl kaum möglich gewesen, muß auch die kritische historische Reflexion methodisch auf zwei Ebenen erfolgen: 1. auf der profangeschichtlichen und 77

Als vorläufig letztes Glied dieser rezeptionsgeschichtlichen Forschung hat Joachim Gartz im Sommersemester 1998 in Köln seine Dissertation „Liberale Illusionen: Unabhängigkeit und republikanischer Staatsbildungsprozeß im nördlichen Südamerika unter Simón Bolívar im Spiegel der deutschen Publizistik des Vormärz" (Frankfurt a. M. 1998) vorgelegt.

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2. auf der kirchen- oder christentumsgeschichtlichen Ebene. Diesbezüglich scheint die Dialogfähigkeit zwischen den Fachvertretern noch unterentwickelt zu sein, sonst könnte nicht so schnell der Vorwurf der methodischen Ungenauigkeit erhoben werden. So ist es inkongruent, einem Kirchenhistoriker vorzuhalten, sein Missionsbegriff sei unreflektiert, weil er die Massentaufen zumal der ersten Hälfte des 16. Jhs. als Mission betrachte, obgleich doch gar keine Einzelbekehrung stattgefunden habe. Denn erstens hat es z.B. auch in der Germanenmission wahrscheinlich unter dem Einfluß des Gefolgschaftsdenkens immer wieder Massenübertritte ganzer Stämme zum Christentum gegeben, und zweitens muß der Historiker bekanntlich vom Selbstverständnis der Protagonisten des jeweiligen Zeitalters ausgehen. Und die agierenden spanischen Ordensleute waren zunächst von der Wirksamkeit der Massentaufen überzeugt. Das mag mit dem scholastischen Denken zusammenhängen, nach dem ein Sakrament, also auch die Taufe, ex opere operato wirkt, d.h. durch den bloßen Vollzug, ohne Rücksicht auf die Qualität des Spendenden oder die Disposition des Empfängers. Aber bald erinnerte man sich in Neuspanien, daß auch die fromme Vorbereitung auf ein Sakrament von Bedeutung ist, ja ex opere operante eine besondere Gnadenwirkung zur Folge haben kann, weshalb eine gründliche Katechisierung immer nachdrücklicher gefordert und zumal eine liturgisch abgekürzte Zeremonie bei der Taufe von den Dominikanern abgelehnt wurde. Das ist der Hintergrund des Taufstreites zwischen Dominikanern und Franziskanern, den Papst Paul III. 1537 mit der Bulle Altitudo Divini Consilii zu Gunsten der strikten Auffassung der Dominikaner entschied. In der Anfangsphase des Eroberungs- und Kolonisationsunternehmens wäre außerdem wegen der völlig ungenügenden Stärke des Kirchenpersonals eine intensive Katechese ganz unmöglich gewesen. Außerdem hatten die Massentaufen auch einen machtpolitischen Hintergrund. Es ging um die möglichst schnelle, wenn auch oberflächliche Integration der indianischen Massen in das corpus christianum, also um eine Unterstellung unter die potestas spiritualis des regnum christianum, die durch die Verpflanzung der Struktur der Domkapitel nach Amerika, zumindest im spanischen Gebiet, relativ schnell aufgebaut worden ist. Für die kirchengeschichtliche Forschung stellt die Verbindung von militanter Kolonisierung und Evangelisierung das Kernproblem der iberischen ÜberseeExpansion dar. Für diese enge Verbindung gibt es viele historische Erklärungen vom Aristotelismus über die Entwicklung des Barbarenbegriffs, die AristotelesRezeption Thomas von Aquins, Augustins Missionsbegriff, den päpstlichen

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Universalismus und die Übertragung des deuteronomistisehen LandnahmeParadigmas auf die spanische Landnahme in Amerika. 78 Die auch in diesem Symposium gestellte Frage lautet nun, ob moderne Historiker den Akteuren des 16. Jhs. die Verbindung von Gewalt und Mission kritisch vorhalten dürfen, zumal die päpstlichen Bullen von 1493 gerade diese Verbindung noch gefördert zu haben scheinen. Die Bullen von 1493 dürfen aber nicht, wie dies allzu oft geschieht, losgelöst von der Bulle Sublimis Deus von 1537 betrachtet werden. Die hierin von Paul III. aufgestellten Grundsätze stellten im Grunde das ganze Kolonialunternehmen in der seinerzeitigen Form in Frage. Durch die Einbeziehung von Sublimis Deus wird außerdem die Missionstheologie Las Casas' aus ihrer scheinbaren Isolierung gelöst. Im übrigen ist daran zu erinnern, daß dessen Denken weit ausgestrahlt hat. Ich erinnere nur an die Haltung von Juan del Valle, des ersten Bischofs von Popayán, dessen 2. Diözesan-Synode 1558 das System der encomienda scharf verurteilt hat, oder an den Dominikaner Luis Beltrán (1526-1581), den 1671 heiliggesprochenen Apostel Neugranadas, der die Neue Welt aus Protest gegen das System der Kommende wieder verlassen hat. 79 Die Epiphanias-Predigt des berühmten portugiesischen Jesuiten Antonio de Vieira von 1662 vor der portugiesischen Königin habe ich erwähnt. All' das zeigt, daß es sehr wohl zeitgenössische Kritiker der Kolonial-Symbiose von Gewalt und Evangelisierung gegeben hat, so daß die Zeitgenossen sich nicht auf völlige Unkenntnis der unevangelischen Grundlage dieser Symbiose berufen können. Wenn man demgegenüber José de Acostas De procurandum indorum salute analysiert, kommt man zu einem doppelten Schluß. Als Historiker stellt man fest, daß dieser Jesuit sich an die Kolonialsituation angepaßt hat, und als Kirchenhistoriker, daß er sie auch theologisch gerechtfertigt hat, und zwar nicht mit einer neutestamentlichen, sondern eher mit einer opportunistischen Beweis-

78

Vgl. Hans-Jürgen Prien: Christlicher Universalismus und europäischer Kolonialismus, in: Ders. (Hg.): 1492 und die Folgen (Arbeitskreis für Iberisch-Lateinamerikanische Studien der Philipps-Universität Marburg) - CEILA-Marburg Bd. 4, Münster/Hamburg 1992, S. 76-140; Ders.: Las Bulas Alejandrinas de 1493, in: Bernd Schröter/Karin Schüller (Hg.): Tordesillas y sus consecuencias, Frankfurt a. M. 1995, S. 11-28; Mariano Delgado: Glaubenstradition im Kontext. Voraussetzungen, Verdienste und Versäumnisse lascasianischer Missionstheologie, in: Bartolomé de Las Casas. Werksauswahl hg. v. Mariano Delgado, Bd. 1, Paderborn, München, Wien, Zürich 1994, S. 35-58. 79

Vgl. Hans-Jürgen Prien: Heiligenverehrung in Lateinamerika und lateinamerikanische Heilige, in: Gerhard Ludwig Müller (Hg.): Heiligenverehrung - ihr Sitz im Leben des Glaubens und ihre Aktualität im ökumenischen Gespräch, München, Zürich 1986, S. 79-101.

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führung. Das zeigt, wie sich die historische und die kirchengeschichtliche Methode ergänzen. Eine andere Herausforderung des Symposions ist das Problem der Ethnizität. Ich habe die Formulierung der Weltmissionskonferenz von Bangkok 1973 zitiert, daß „rassische und kulturelle Identität [...] göttliche Geschenke und menschliche Errungenschaften sind". Dabei ist zu berücksichtigen, daß der angelsächsische Begriff race ganz andere Konnotationen hat als der deutsche Terminus Rasse, jedenfalls nicht biologisch gemeint ist. Vielleicht sollte man besser von ethnischer und kultureller Identität sprechen, wie es die IV. Allgemeine Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats 1992 in Santo Domingo getan hat. 80 Mancher goutiert Todorov nicht, der schließlich kein Historiker ist. So stellte ein Kollege die polemische Frage: Müssen wir die „anderen" denn überhaupt verstehen? Diese Frage stellt meines Erachtens die Grundlage der Geschichtswissenschaft in Frage. Denn wenn jahrhundertelang so viel Mühe darauf verwandt wird, die Europäer und ihr Handeln in der Übersee-Expansion seit dem 15. Jhs. zu erklären und zu verstehen, besteht doch ein enormer Nachholbedarf bezüglich des Verständnisses der anderen Seite, eine Herausforderung, der sich die Historiker in Zusammenarbeit mit den Ethnologen stellen müssen. Todorov stellt nach den Quellen die traditionelle Vernunft Moctezumas der instrumenteilen Vernunft Cortés' gegenüber. Wer meint, hier irre er, sollte es aus den Quellen beweisen. Jedenfalls erscheint es als plausibel, daß das Problem des Nichtverstehens des anderen eine Erklärungshilfe für die Conquista darstellt, so daß Alterität zumindest als heuristisches Prinzip dienen kann. In diesem Zusammenhang wurde auf Phänomene innereuropäischer Gewalt im 16. Jh. verwiesen - Stichwort: der Bauernkrieg. Da es sich hier nicht um andere gehandelt habe, folgerte der Fragesteller, daß die Alterität Gewaltanwendung nicht erklären könne. Demgegenüber kann man freilich leicht einwenden, daß die höheren Stände sich wohl kaum bemüht haben, die Probleme der niederen Stände zu verstehen. Insofern waren die Bauern für sie unverstandene andere. Die Bauern wollten im Namen des Evangeliums die ständische Ordnung umstürzen, der Adel verteidigte sie im Namen des Neuen Testaments unter fun80

Diese Formel begegnet nicht wörtlich, sondern implizit - vgl. Horst von der Bey: Vom kolonialen Gottesexport zur befreienden Mission. Eine franziskanisch orientierte Theologie einer inkulturierten Evangelisation, Bonn 1996, S. 265f., 276ff. Bey bemerkt: „Wenn schon die Anerkennung des »Armen« mitsamt den zu reflektierenden sozio-politischen Kategorien schwierig war, so scheint es noch schwieriger zu sein, den »Anderen« anzuerkennen, weil dieser zusätzlich noch eine ethnisch-religiöse Alterität in die Diskussion einbringt." (S. 265)

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damentalistischer Berufung etwa auf Rom 13,1 ff. - „Jedermann sei Untertan der Oberkeit [...] denn es ist keine Oberkeit ohn von Gott". Martin Luther hat die Forderungen der Bauern als gesetzliche Verfälschung des Evangeliums bzw. die Vermischung von irdischer und himmlischer Gerechtigkeit zurückgewiesen. In der Ablehnung biblisch und also mit dem göttlichen Gesetz begründeter Reformforderungen besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Luther und den Schweizer Reformatoren. Luther teilte offenbar das Grundgefuhl des Mittelalters, daß die Ständeordnung 81 gottgewollt sei. Gegen Versuche, die Rechtsordnung außer Kraft zu setzen, predigte er Obrigkeitsgehorsam. 82 Darin daß Luther zwar allgemein die Sozialverpflichtung des Eigentums betont hat, aber gleichzeitig mit seiner Forderung nach Aufrechterhaltung der grundherrschaftlichen Eigentumsordnung und der Leibeigenschaft der Bauern sozialreformerische Ansätze auf dem Lande blockiert hat, liegt seine geschichtliche Beschränkung. Das dürfte nicht zuletzt auch daran gelegen haben, daß er als Stadtmensch die Lage der Bauern nicht richtig verstanden hat, wie die heutige Forschung betont 83 - also auch hier ein Problem der Alterität. Übrigens versucht Richard Konetzke ja auch eine Erklärung für die spanische Gewalttätigkeit zu finden, wenn er vom Typ des spanischen Herrenmenschen spricht, der sich in der langen Epoche der Reconquista herausgebildet habe. 84 Abschließend bleibt nur noch festzustellen, daß in der ganzen Kirchengeschichte das Evangelium in die doppelte Gefangenschaft von Macht (besonders seit der Konstantinischen Wende) und Kultur zu geraten droht. Aber während die Verbindung mit der Macht immer schädlich ist, ist die Verbindung mit Kultur nur dann schädlich, wenn dadurch das Evangelium verfälscht wird oder es sich um die Bindung an eine dominierende Kultur handelt, die angeblich um des Evangelium willen durchgesetzt werden muß (die für die Kolonialzeit typische Verbindung von Zivilisierung und Evangelisierung), während die Aufgabe der Inkulturation in die jeweilige regionale Kultur eine ständige Herausforderung bleibt, die in jedem Zeitalter neu zu bewältigen ist.

81

Im übrigen hat seine Dreiständelehre ganz andere Konnotationen als die feudale Ständehierarchie - vgl. Hans-Jürgen Prien: Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen 1992, S. 162ff. 82 Zu Luthers Haltung im Bauernkrieg vgl. Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 2, Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1531, Stuttgart 1986, S. 178-193. 83 Vgl. ebenda, Bd. 1, Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 2 1983, S. 32 bzw. Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 49ff., und zu Luthers Verständnis von Gesetz und Evangelium vgl. ebenda, S. 170ff. 84 Das spanische Weltreich. Grundlagen und Entstehung, München 1943, S. 9.

Eine schwarze Conquista. Ethnische Konflikte, Kontakte und Vermischung in Esmeraldas (Ekuador) im 16. Jahrhundert Christian

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Im Jahre 1599 fertigte der indianische Maler Adrián Sánchez Galque in der Stadt Quito ein Gemälde mit dem Titel Los primeros mulatos de Esmeraldas an, das heute im Museo de América in Madrid zu sehen ist. Das Bild zeigt drei „Mulatten" bzw. - gemäß der im spanischen Amerika während der Kolonialzeit geläufigen ethnisch-biologischen Terminologie - zambos, d.h. Mischlinge indianischer und schwarzer Abstammung, die in kostbare spanische (bzw. europäische) Stoffe gekleidet sind und goldenen Nasen-, Ohren- und Lippenschmuck indianischer Herkunft tragen. Dieses Porträt ist eines der außergewöhnlichsten Zeugnisse der kulturellen Annäherung und Verschmelzung, welche die spanische Eroberung Amerikas mit sich brachte. Aus dem Rahmen fällt der im besagten Gemälde veranschaulichte Fall insofern, als es sich hierbei um das Ergebnis einer „schwarzen Conquista" handelt, die im Jahre 1553 in Esmeraldas, an der Nordküste des heutigen Staates Ekuador stattfand und drei ethnische Gruppen miteinander in Kontakt brachte: geflohene schwarze Sklaven, freie Indianer und spanische Abenteurer, Beamte und Missionare. Der Name „Esmeraldas" rührt von - wenn überhaupt vorhandenen, so zumindest nie gefundenen - Smaragdvorkommen in der Region her und bezeichnet heute die nördlichste Küstenprovinz des Staates Ekuador an der Grenze zu Kolumbien. Der entsprechende Küstenstreifen wurde erstmals 1525 bei einer Schiffahrt des Andalusiers Bartolomé Ruiz von europäischer Seite entdeckt. In der Eroberungsepoche blieb Esmeraldas zunächst ein unklar umrissenes Gebiet, das sich etwa von der Bucht von Buenaventura (an der pazifischen Südküste Kolumbiens, ein wenig oberhalb der Höhe der Stadt Cali) bis zum ekuadorianischen Kap Passao erstreckte und im Landesinneren bis an die schwer zugänglichen westlichen Abhänge der Andenkordillere reichte. Im Rahmen der administrativen Erschließung des Vizekönigreiches von Peru bildete Esmeraldas schließlich die südlich an die Gobernación von Popayán und nördlich an die Gobernación von Guayaquil angrenzende Gobernación von Esmeraldas. Im Osten schlössen sich die im Hochland von Nord nach Süd erstreckenden Corregimientos der Gobernación von Quito an, die jedoch auf-

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grund der äußerst dichten Vegetation und der schwer passierbaren Flußläufe an den Andenabhängen nur mit großer Anstrengung und Gefahr zu erreichen waren. Die im Gebiet der Gobernación von Esmeraldas lebenden indianischen Ureinwohner umfaßten im wesentlichen zwei größere indianische Gruppen: zum einen die vom Fuße der Anden bis zur Küste entlang des Rio Esmeraldas und an der Küste zwischen dem Delta des Esmeraldas und dem Kap San Francisco lebenden friedfertigen Niguas; zum anderen die südlich angrenzend bis zur Höhe der Bucht von Caraquez das küstennahe Bergland besiedelnden kriegerischen Campaces.1 Für die Provinz von Esmeraldas wurden in der Kolonialzeit diverse spanische Gouverneure ernannt und eine Reihe von - meist erfolglosen - Expeditionen zur Erkundung, Eroberung und Eingliederung des Gebietes in den spanischen Herrschaftsraum durchgeführt. 2 Nach dem Urteil des ersten großen ekuadorianischen Historikers, Federico González Suárez, „hat es keine Provinz gegeben, die so oft von durch Missionare und Konquistadoren geleiteten Expeditionen besucht worden ist, wie die von Esmeraldas". 3 Die Anziehungskraft, die das Gebiet auf Konquistadoren, Missionare und Beamte der Audiencia von Quito ausübte, hatte dabei verschiedene wirtschaftliche, religiöse oder politische Gründe. Neben dem Wunsch nach persönlichem Ruhm und der Sorge um das Seelenheil der Urbevölkerung standen insbesondere wirtschaftliche Interessen. Zum einen sind die unentwegt kursierenden Gerüchte und Berichte über angebliche und zumeist bescheidene - tatsächliche Goldvorkommen zu nennen. Zum anderen hofften die (v.a. spanischen) Bewohner des bevölkerungsreichen und bald wirtschaftlich prosperierenden Hochlandes um die Stadt Quito und die villa von Ibarra, mit einem Weg durch das Gebiet der Gobernación von Esmeraldas eine schnellere und zudem den Einfluß Guayaquils ausschaltende Handelsverbindung zu den nördlich gelegenen Küstenprovinzen bis nach Panama etablieren zu können. 4 1 Vgl. Jacinto Jijón y Caamaño: El Ecuador interandino y occidental antes de la conquista castellana, Bd. 2, Quito 1941, S. 70-87. 2 Vgl. José Alcina Franch/Encarnación Moreno/Remedios de la Pefla: Penetración española en Esmeraldas (Ecuador): Tipología del Descubrimiento, in: Revista de Indias, 36/143-144 (1976), S. 65-121; John L. Phelan: The kingdom of Quito in the seventeenth Century. Bureaucratic politics in the Spanish empire, Madison u.a. 1967, S. 3-22. 3 Federico González Suárez: Historia General de la República del Ecuador, Bd. 2, Quito 1970, S. 481. Nach José Alcina Franch u.a. wurden in der Kolonialzeit insgesamt 65 Expeditionen nach Esmeraldas unternommen (Franch: Penetración, S. 78-103). 4 González Suárez: Historia, Bd. 2, S. 486f.

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Diese Wegeprojekte fanden jedoch weder bei der Krone noch bei den für das Gebiet zuständigen Vizekönigen in Lima bzw. Bogotá eine konsequente und dauerhafte Unterstützung, da man befürchtete, die Anlage einer neuen Hafenstadt würde dem Schmuggelhandel Vorschub leisten. Das Wegeprojekt wie auch die Erschließung des Gebietes von Esmeraldas insgesamt sollten somit erst im 19. Jahrhundert verwirklicht werden. Der historischen Unzugänglichkeit von Esmeraldas entspricht die beschränkte Quellenlage und Forschung zu dieser Region. Hauptquelle für das 16. Jahrhundert und wichtigste erzählende Quelle der Kolonialzeit überhaupt ist die Verdadera descripción y relación larga de la Provincia y Tierra de las Esmeraldas (...) von Miguel Cabello Balboa. 5 Darüber hinaus gibt es einige weitere Berichte aus der Kolonialzeit, welche das Gebiet behandeln bzw. meistens nur streifen. 6 Schließlich ist noch auf die - in Auszügen veröffentlichten - Akten der Audiencia von Quito und des Indienrates zu verweisen, die im Rahmen der verschiedenen Erkundungs-, Eroberungs- und Missionierungsexpeditionen entstanden sind. 7 Im Auftrag der Audiencia und mit Unterstützung des Bischofs von Quito unternahm der genannte Priester Miguel Cabello Balboa, ein Großneffe des „Entdeckers" des Pazifiks, Vasco Núñez de Balboa, im Jahre 1577 eine Expedition, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Region von Esmeraldas und ihre Bevölkerung in den Jurisdiktionsbereich der Audiencia von Quito einzugliedern. Der Bericht, den Cabello im Anschluß an seine Reise verfaßte, enthält wichtige Informationen über die geographische, wirtschaftliche und ethnische Struktur sowie über eine Reihe politischer Ereignisse, welche für die Geschichte der Gobernación von Esmeraldas im 16. Jahrhundert von Bedeutung sind. Im folgenden möchte ich zunächst einen kurzen geschichtlichen Überblick über die für das Thema bedeutsamen Ereignisse der zweiten Hälfte des 16.

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Der Text ist abgedruckt in Miguel Cabello Balboa: Obras, Bd. 1, Quito 1945, S. 1-76. Vgl. u.a. Martín de Carranza: Relación de las provincias de las Esmeraldas... (1569), in: Relaciones Geográficas de Indias, hg. v. M. Jiménez de la Espada, Bd. 3, Madrid 1897, S. 134139; Salazar de Villasante: Relación general de las poblaciones españoles del Perú (1568/71), in: Relaciones histórico-geográficas de la Audiencia de Quito (siglos XVI-XIX), hg. v. Pilar Ponce Leiva, Bd. 1 (siglo XVI), Madrid 1991, S. 59-66.

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Für das 16. Jahrhundert s. Archivo General de Indias, Audiencia de Quito, legajos 17, 209, 211, 212; hg. v. José Rumazo González, Bde. 1 u. 4, Madrid 1949. Colección de documentos para la historia de la Audiencia de Quito.

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Jahrhunderts geben. Anschließen wird sich eine Erörterung der wichtigsten strukturellen Aspekte des behandelten Zeitraums. Im Jahre 1553 legte ein Schiff des Sevillaner Kaufmanns Alonso de Illescas von Panama ab und nahm Kurs auf Peru. An Bord befanden sich Handelswaren und 23 schwarze Sklaven. 30 Tage nach der Abfahrt passierte das Schiff bei starkem Seegang das Kap San Francisco und warf wenig später den Anker aus, da das Unwetter eine sichere Weiterfahrt unmöglich machte. Einige Seeleute gingen mit den 17 männlichen und sechs weiblichen schwarzen Sklaven an Land, um nach Verpflegung zu suchen. In der Zwischenzeit setzte der Seegang dem bereits beschädigten Schiff jedoch so zu, daß es vor der Küste sank und die restlichen Leute von Bord gehen und sich an Land retten mußten. Die Sklaven nutzten derweil die Gunst der Stunde und flüchteten sich in die angrenzende Wald- und Bergregion. Mannschaft und Passagiere des gesunkenen Schiffes machten sich auf den beschwerlichen Fußweg zur weiter südlich gelegenen Stadt Portoviejo auf; die wenigen, die sie erreichten, starben bald nach der Ankunft. Die zurückgebliebenen Schwarzen zogen dagegen, gewappnet mit dem, dessen sie von den Trümmern des Schiffes an Ausrüstung und Waffen hatten habhaft werden können, durch das Waldgebiet, wo sie sich nach einem kurzen erfolgreichen Kampf in der Siedlung einer indianischen Gruppe der Niguas niederließen. Den ehemaligen Sklaven gelang es schließlich, unter der Führung eines „caudillo" namens Anton, mit einer Mischung aus Diplomatie und Gewalt den Respekt und das Vertrauen der Niguas zu gewinnen, mit denen sie fortan gemeinsam lebten und gegen verschiedene indianische Gruppen der Campaces kämpften. 8 Die Schwarzen waren offenbar in das Grenzgebiet zwischen den Niguas und den Campaces eingedrungen. Nach einigen Jahren kam es zu Machtkämpfen in der schwarzen Gruppe, so daß schließlich nur noch sieben männliche und drei weibliche Schwarze übrig blieben. Aus den internen Rangstreitigkeiten ging ein neuer Anfuhrer namens „Alonso Illescas" hervor, der in einem spanischen Haushalt in Kap Verde (Senegal) geboren war und vom 18. Lebensjahr in Sevilla im Haus des genannten Kaufmanns Antonio Illescas gelebt hatte, von wo aus er mit 25 Jahren nach Übersee mitgenommen worden war.9 Unter Alonsos zwischen aufbrausender Grausamkeit, taktischem Geschick und versöhnlicher Großzügigkeit schwankenden Führung erlangte die kleine schwarze Gruppe die unumstrittene Herr8 9

Cabello Balboa: Obras, S. 19. Ebenda, S. 17 u. 20.

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schaft über ein ausgedehntes, traditionell von Niguas und Campaces bewohntes Gebiet, das von der Bucht von San Mateo im Norden bis zum Kap Passao im Süden reichte und sich im Osten bis zu den unteren Ausläufern der Anden erstreckte. Neben die periodisch aufflackernden Kampfhandlungen, denen einige indianische Kaziken des Gebietes zum Opfer fielen, traten bald die kulturelle und biologische Vermischung der schwarzen und indianischen Gruppen. Einige Jahre später stieß ein schwarz-indianisches Paar zur Gruppe um Illescas, das von einem aus Nicaragua stammenden Schiff geflohen war, das in der Bucht von San Mateo Station gemacht hatte. Die indianische Frau gebar zwei Kinder, deren schwarzer Vater bald bei Kämpfen im Gefolge von Illescas umkam. Illescas' Herrschaft war unter den Indianern bald ebenso gefurchtet und berühmt wie seitens der Spanier, die von Portoviejo und Guayaquil aus verschiedene, allesamt gescheiterte Eroberungsexpeditionen in das Gebiet unternahmen. Bei einer Expedition im Jahre 1570 gelang es zwar zunächst, Illescas gefangen zu nehmen. Ein spanischer Expeditionsteilnehmer, Gonzalo de Avila, freundete sich jedoch mit ihm an und verhalf ihm zur Flucht, auf der er ihn selbst begleitete, um sich fortan der Führungsgruppe um Alonso Illescas anzuschließen. In das Gebiet eindringende Spanier wurden in der Regel von Illescas oder den mit ihm verbündeten Indianern getötet, an der Küste strandende Spanier dagegen mitunter verpflegt und für die Weiterreise gerüstet. Unter letzteren war auch ein aus Panama stammender Novize des dortigen Merzedarier-Konvents, der von Illescas aufgenommen und gesund gepflegt wurde. In der Zeit, die dieser Novize dort verbrachte, taufte er die Kinder von Illescas und unterrichtete diesen in der Taufzeremonie, von der dieser in Zukunft selbst Gebrauch machen sollte. Ein anderer von Illescas unterstützter spanischer Schiffbrüchiger berichtete der Audiencia und dem Bischof in Quito von seinen Erlebnissen und verwies auf die von Avila geäußerte grundsätzliche Bereitschaft der Gruppe, sich im Falle der Straffreiheit der spanischen Verwaltung zu unterstellen. Daraufhin wurde im Jahre 1577 die besagte Expedition von Miguel Cabello Baiboa zusammengestellt, der Illescas ein konkretes Angebot unterbreiten sollte, das unter anderem die Vergabe des Gouverneursamtes von Esmeraldas und weitere Privilegien umfaßte. Die aus fünf Spaniern bestehende Expedition erreichte über Guayaquil, Manta und Portoviejo die Bucht von Atacames, wo sie ein Lager errichtete. Nach einigen Tagen erschien Illescas in Begleitung seines mit Goldschmuck behangenen „Hofstaates" aus zambos und Indianern in der Bucht. Eine äußerst

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respektvolle und feierliche Zeremonie begann, in deren Verlauf Cabello Illescas die von der Audiencia ausgestellten königlichen „Instruktionen" bekanntgab. 10 Die gegenseitige soziale und politische Anerkennung beider Parteien brachten Cabello und Illescas unter anderem dadurch zum Ausdruck, daß sie sich jeweils respektvoll mit der grundsätzlich fiir angesehene, meist adlige Spanier und hohe weltliche und kirchliche Amtspersonen reservierten Anrede „Don" bedachten. Das Treffen dauerte mehrere Tage, wonach sich Illescas und sein Gefolge ins Hinterland zurückzogen, nicht ohne für die kommenden Tage Flöße und Proviant für die Heimkehr der Expedition versprochen zu haben. Nachdem jedoch mehrere Tage kein Lebenszeichen von Illescas erfolgt war, machte sich eine kleine Gruppe vom Strand flußaufwärts in den Urwald auf, bis sie zu einer Stelle kam, an der sie eine große Menge unbrauchbar gemachter Baumstämme für den Floßbau fand. Ängstlich und desillusioniert kehrte die Gruppe zurück. Cabello vermutete, daß sich einige Indianer gegen die von Illescas vereinbarte Unterwerfung unter die spanische Herrschaft gewandt und gegen ihn und seine Verbündeten die Waffen erhoben hatten. Die Gruppe am Strand beschloß schließlich, auf dem Landweg nach Portoviejo zu reisen, da einfache Flöße zu schwach für die Wind- und Strömungsverhältnisse an der Küste waren. Unter schwierigsten Bedingungen erreichte die Gruppe völlig erschöpft die Stadt Portoviejo, von wo aus Cabello - sieben Monate nach seinem Aufbruch - nach Quito zurückkehrte. Cabello versuchte im Jahre 1578 mehrfach, die Audiencia zur Entsendung von Expeditionen von Quito aus ins Tiefland von Esmeraldas zu gewinnen. Eine erste Expedition gelangte durch Gebiete der missionierten Yungas und Niguas bis an das Grenzgebiet von Illescas' Herrschaftsraum; weiter wagten sich die die spanische Gruppe begleitenden Niguas jedoch nicht vor. Weitere Versuche Cabellos, eine Expedition fiir einen direkten Weg von Quito nach Esmeraldas anzuregen, scheiterten an politischen Vorfällen, zunächst an indianischen Überfällen auf spanische Siedlungen im Ostandenraum, dann am Auftauchen von englischen Korsarenschiffen vor der peruanischen Pazifikküste, wodurch die spärlichen militärischen Kräfte der Stadt Quito gebunden wurden. Im Jahre 1585 gelang es zwar einer weiteren Expedition, Illescas gefangen zu nehmen, dieser konnte jedoch erneut fliehen. Als er im Jahre 1598 starb, wurde einer seiner Söhne zu seinem Nachfolger. Ab dem Ende des 16. Jahrhunderts entstanden an der Küste von Esmeraldas die ersten Dörfer, u.a. die gleichna-

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Cabello Balboa: Obras, S. 35-45.

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mige Stadt sowie einige Missionsdörfer. 1598 lebten in der Provinz etwa 5.000 Indianer, 15 Schwarze, 20 zambos und fünf Weiße." 1585 reiste der zambo Juan Manganche nach Quito, um für sich das Amt des Gouverneurs von Esmeraldas sowie Spanier zur Bevölkerung der Provinz zu erbitten. In den folgenden Jahren kamen weitere Schwarze, meist in Begleitung von Geistlichen aus der Region, nach Quito, wo sie ein großes Aufsehen erregten. Unter diesen Schwarzen war auch ein Francisco Arobe, der, als „Don Francisco de Arobe" tituliert, neben Sebastián Illescas, Sohn des Alonso Illescas, auf dem oben genannten Gemälde von Adrián Sánchez Galque porträtiert ist.12 Manganche wie Arobe waren möglicherweise Söhne der erwähnten Indianerin aus Nicaragua.13 Im Jahre 1600 kamen weiterhin zwei „Brüder Illescas" nach Quito.14 Wie ein Bericht aus dem Jahre 1604 zeigt, war die Provinz zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keinesfalls erschlossen und von den Spaniern kontrolliert.15 Die Beweggründe, die der Durchdringung und Verteidigung der Region von Esmeraldas im 16. Jahrhundert zugrunde lagen, entsprechen denen anderer Gebiete des spanischen Amerika im Zeitalter der Entdeckung und Eroberung. Hierzu gehören zum einen der Herrschaftsanspruch der kastilischen Krone, der Missionsauftrag der Kirche und die Suche nach Ruhm, Reichtum und Ämtern seitens der (einfachen) Spanier, zum anderen die Verteidigung der persönlichen Freiheit und der Herrschaftsanspruch der indianischen und - in diesem besonderen Falle - der schwarzen Bevölkerung. Die „schwarze Conquista", die in Esmeraldas der weißen Eroberung vorausging, zeigte in ihrer Verbindung von Gewalt, Kooperation und biologisch-kultureller Vermischung durchaus Parallelen zur spanischen Vorgehensweise in der Neuen Welt.16 Der Übergang von der Konfrontation zur Kooperation, der die

" Fernando Jurado Noboa: Historia social de Esmeraldas. Indios, negros, mulatos, españoles y zambos del siglo XVI al XX, Quito 1995, Bd. 1. 12 Phelan: Kingdom, S. 8. 13 Jijón y Caamaño: Ecuador, S. 77; Jurado Noboa: Historia, S. 104. 14 Jurado Noboa: Historia, S. 142. 15 In einer „relación de Guayaquil" von 1604 heißt es über die Provinz: „Está todavía ocupada y tiranisada de los mulatos y despoblada de indios y no beneficiaba ni descubierta de los españoles", Jurado Noboa: Historia, S. 14. 16 Mit der Zeit - und über das 16. Jahrhundert hinaus - entwickelte sich in dem von den Schwarzen und ihren indianischen Verbündeten kontrollierten Gebiet allerdings eher eine Art Widerstands- und Fluchtkultur, wie sie aus anderen Grenzgebieten des spanischen Kolonialreiches bekannt ist; vgl. hierzu die jüngste Erörterung des Forschungsstandes von Bernd Schröter: Bemerkungen zu einer Historiographie der Grenze, in: Jahrbuch für

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Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen in der Region kennzeichnete, mündete in eine die neuen Herrschaftsverhältnisse stabilisierende ethnische Vermischung. So erhielt Alonso Illescas - nach Cabello Balboa - von den Niguas „eine schöne Indianerin, Tochter eines hohen Kaziken mit einer bedeutenden Verwandtschaft, die ihn zusammen mit weiteren engen Freunden unterstützte, wodurch er zu Macht und Herrschaft (mando y señorío) unter den Schwarzen und Indianern kam" und bald der „absolute Herr {señor absoluto) aller jener Provinzen" war.17 Illescas zeugte zudem mit weiteren indianischen Frauen mehrere Kinder, die sich wiederum mit hochrangigen Indianern verbanden und zusammen mit den wichtigsten indianischen Kaziken Illescas „Hofstaat" bildeten. Auch der spanische Abenteurer Gonzalo de Avila, der über Guinea, Cabo Verde und Panama nach Peru gekommen war, wurde auf diese Weise in die Illescas umgebende rituelle und Blutsverwandtschaft integriert. Beide redeten sich mit „Schwiegervater und „Schwiegersohn" an.18 Neben der biologischen kam es auch zu einer kulturellen Vermischung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen der Region. Seitens der Schwarzen bedeutete dies zunächst die überlebensnotwendige Anpassung an die natürliche und kulturelle indianische Umgebung. Aufgrund ihrer afrikanischen Herkunft waren die Schwarzen - gegenüber den Spaniern - zunächst weitaus besser in der Lage, sich an das klimatische und geographische Umfeld anzupassen. Darüber hinaus übernahmen die Schwarzen bald die Bräuche und Kleidung der Indianer. Selbst der Spanier Avila trug beim offiziellen Treffen zwischen der Expedition Cabellos und dem Hofstaat Illescas indianischen Goldschmuck. Umgekehrt lernten die Indianer von den Schwarzen die Anlage und Nutzung von einfachen Schmiedeherden zur Herstellung von - freilich recht primitiven Metallspitzen für ihre Pfeile sowie einige Kampftechniken und -taktiken.

Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 31 (1994), S. 329-360. Die heutige, stark negroid geprägte Bevölkerung der Provinz Esmeraldas geht allerdings nur zu einem verschwindend geringen Teil auf das 16. Jahrhundert zurück. Im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts kamen kontinuierlich entflohene schwarze Sklaven aus den Goldminen der zur Gobernación von Popayán gehörenden Küstenprovinz Barbacoas und von den nach 1767 aufgelösten ehemaligen Jesuitenhaziendas der Corregimientos von Quito und Ibarra in die Region. Die stärkste schwarze Einwanderung erlebte die Provinz allerdings erst im 19. und 20. Jahrhundert als Folge „normaler" Migrationsbewegungen aus den zu Kolumbien gehörenden Minengebieten von Barbacoas. 17 18

Cabello Balboa: Obras, S. 20. Ebenda, S. 26.

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Die Hauptsprache der gesamten Gruppe war eine lokale indianische Sprache. Neben Avila und Illescas sprachen und verstanden auch die zambo-Kinder der Indianerin aus Nicaragua (ein wenig) Spanisch, Illescas' Kinder und die Indianer dagegen überhaupt nicht. Die Kontinuität spanischer Kulturelemente zeigte sich vor allem in der Übernahme der von dem erwähnten Novizen eingeführten Taufzeremonie durch Illescas. Außerdem ist zu bemerken, daß, obwohl die Schwarzen in Anpassung an das indianische Milieu in einfachen Hütten im Urwald lebten, Illescas die in den von Cabello mitgebrachten königlichen Instruktionen angewiesene Gründung eines Dorfes in der Bucht von San Mateo guthieß und das eigene Leben im Urwald als - negative - Folge ihrer Flucht aus dem spanischen Herrschaftsund Kulturraum und ihrer Angst vor Entdeckung und Ergreifung ansah. Für die spanische Bevölkerung, freilich mit Ausnahme Gonzalo de Avilas, war Esmeraldas ein abweisendes und einige für die Entdeckungs- und Eroberungsepoche typische Mythen bergendes Gebiet. So fehlen auch in Cabellos Bericht nicht die aus dieser Zeit geläufigen Hinweise auf menschenfressende Indianer und Spuren unheimlicher Riesen. Cabellos Haltung gegenüber den von ihm selbst angetroffenen Schwarzen und Indianern war zunächst durch seinen politischen und missionarischen Auftrag geprägt. Darüber hinaus war Cabello von Illescas' würdevollen Auftreten beeindruckt, ohne ein grundsätzliches, durch die von diesem begangenen Greueltaten und das fremde, feindliche Umfeld gleichermaßen genährte Mißtrauen und Unbehagen zu verlieren, was sich in Illescas' häufiger Titulierung als „der Schwarze" (el negro) nur zu deutlich zeigt. Dagegen kommt der spanische Abenteurer Avila grundsätzlich sehr schlecht weg, da Cabello ihm in seinem Bericht einen verwahrlosten, dumpfen und opportunistischen Charakter bescheinigt. Cabello vertraute den Schwarzen und vor allem Illescas auch mehr als der indianischen Bevölkerung. Er hebt zwar grundsätzlich die Friedlichkeit der Niguas hervor, sieht in ihnen aber ansonsten durchweg nur „Barbaren". Die Tatsache, daß Cabellos Bemühungen in besonderem Maße der schwarzen und zamöo-Bevölkerung galt, mag darin begründet sein, daß die ehemaligen schwarzen Sklaven bereits hispanisiert gewesen waren und es damit sowohl dringlicher als auch leichter erschien, diese und ihre Nachkommen in den spanisch-christlichen Kultur- und Herrschaftsraum zurückzuführen. Die Achtung, die Cabello der schwarzen Herrschaft im Auftrag der obersten staatlichen und kirchlichen Autoritäten des Distrikts der Audiencia entgegenbrachte, war eine Folge der besonderen geographischen Bedingungen der „Grenze" der spanischen Expansion in Amerika, welche die außergewöhnlichen

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ethnischen und politischen Beziehungen in der Region von Esmeraldas erst möglich machten.

Zwischen Niedergang und neuem Aufbruch. Interethnische Konflikte und bourbonische Reformen in Neu-Mexiko Holger M. Meding

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veränderte sich das Machtgefiige in Amerika in einer für Spanien bedrohlichen Weise. Abgesehen vom karibischen Raum, wo sich die europäischen Seemächte traditionell um Einflußzonen stritten, kam es zu neuen Konflikten in Nordamerika. Spanien war bereits seit Beginn des Jahrhunderts an der Nordgrenze Floridas mit England zusammengestoßen, doch erst der Ausgang des Siebenjährigen Krieges sollte ein wahrhaft geopolitisches Problem schaffen. Diesen Weltkrieg zwischen Frankreich und England hatte Frankreich vollständig verloren: es mußte seine umfassende Nordamerikavision einer Verbindung von Quebec über die Große Seenplatte mit dem Zentrum Détroit über das Illinois-Gebiet, die Mississippi-Achse entlang mit dem Zentrum St. Louis, über das Territorium von Louisiane mit dem Zentrum Nouvelle Orléans aufgeben. Aber auch für den Verbündeten Frankreichs, das Spanien Karls III., endete der Krieg in einem Desaster: England hatte das schwerbefestigte Havanna besetzt, und zur Freigabe dieses Juwels der spanischen Krone mußte Madrid Florida abtreten. Spaniens extreme Verwundbarkeit im karibischen Raum hatte sich in aller Deutlichkeit offenbart, vor allem aber war in Nordamerika Frankreich als bündnisfähige Großmacht verschwunden, und der Puffer des Gebietes von Louisiane war einer Grenze gewichen, so daß Spanien jetzt am Mississippi allein der Siegermacht England gegenüberstand. Als Konsequenz dieser schweren Niederlage sah sich Spanien zu weitgehenden Reformen gezwungen: im militärischen, fiskalischen und administrativen Bereich. Die Konsequenzen dieser imperialen Reorganisation waren einschneidender Natur und sollten bald bis in die Randregionen des spanischen Überseereiches spürbar sein: Im folgenden soll am Beispiel des Reino de Nuevo México, des nördlichsten Gebietes in Spanisch-Amerika, dargelegt werden, welche Auswirkungen die große Reformbewegung an der Peripherie zeitigte, auf welche Weise die angestrebten Maßnahmen umgesetzt wurden und mit welchem Erfolg. Die spezifischen Konfliktlagen zwischen den Ethnien der Region sollen skizziert werden sowie die Lösungsansätze, die im Zuge der Reformbewegung Anwendung fanden. Es handelt sich dabei um Auseinandersetzungen in einem

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Raum, in welchem die letzte große Expansionsbewegung des spanischen Amerikareiches stattfinden sollte, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die militärischen Konflikte der Spanier mit den nomadisierenden Indianern im Norden in einer bedrohlichen Weise zugespitzt hatten. Der demographische Druck der angloamerikanischen Siedler, welche ihre Grenze (im Sinne der frontier) über die Alleghenies weit nach Westen schoben, trieb die verdrängten Indianerstämme ihrerseits gegen die spanische Siedlungsgrenze. Für die Indianer der plains, der großen Ebenen des Mittleren Westens, wurde der vorhandene Lebensraum beständig enger und der Kampf ums Dasein unweigerlich härter. Die Schwelle zur Gewalt wurde immer häufiger überschritten. In den siebziger Jahren gelangten Woche für Woche Nachrichten an den vizeköniglichen Hof NeuSpaniens, die von Feindseligkeiten und Toten an der Nordgrenze Kenntnis gaben. In den anliegenden Provinzen griff die Angst um sich. Karl III. erachtete die Situation für derart gefährlich, daß er eine großräumige Verteidigungsstrategie (defensa del imperio) ausarbeiten ließ. Madrid befürchtete, daß Spanien als europäische Macht zwischen dem siegreichen England und dem revanchebegierigen Frankreich selbst in Amerika in eine zweite Reihe gedrückt werden könnte. Zu dieser Furcht trat seit Mitte des Jahrhunderts noch die Besorgnis vor einer russischen Gefahr aus dem äußersten Nordwesten, wiewohl man seinerzeit nur vage Berichte besaß. Doch der spanische Gesandte in St. Petersburg hatte beunruhigende Nachrichten nach Madrid gesandt. Es galt wachsam zu sein. Spanien sah seine Interessensphäre bedroht, und der potentielle Verlust von besessenen oder beanspruchten Gebieten im Norden hing wie ein Damoklesschwert über den Amerikabehörden des Mutterlandes und zwang die Krone, sich mit dieser armen, aber strategisch um so bedeutsameren Nordregion, die solange im Windschatten des Interesses gestanden hatte, verstärkt zu befassen. I Pläne Eine Art Dominotheorie - nach dem Fall des Nordens würden alle überseeischen Besitzungen Spaniens eine nach der anderen fallen - führte zu intensiven Überlegungen, wie man die Nordgebiete Neu-Spaniens (Provincias lnternas) stärken und besser schützen könnte. 1760 bereits war das Projekt geboren worden, ein nördliches Vizekönigreich mit der Hauptstadt in Durango (NeuVizcaya) zu errichten. Ein Vizekönig, so verhießen diese Pläne, könnte dem französischen Vordringen über Louisiane Einhalt gebieten und ebenso den Engländern; auch ließe sich das Ziel der Befriedung der Indianer und ihrer Zivilisierung kontrollierter und erfolgversprechender vorantreiben. Doch aufgrund

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der hohen Kosten, die die Schaffung eines nördlichen Vizekönigreiches für die Krone bedeutet hätte, gab man das Projekt schließlich wieder auf. 1 Die Anregung des Marqués de Rubi, des späteren königlichen Beauftragten der Grenzbefestigungen {Mariscal Inspector de los Presidios Internos), einen gigantischen Limes zwischen dem Atlantik und dem Pazifik zu errichten, um den Drohungen aus dem Norden und dem Osten zu begegnen, erschien daher realistischer, vor allem, weil die abzusehenden Kosten weitaus niedriger lagen. Der Plan sah die Errichtung einer Linie von Grenzforts {presidios) von Niederkalifomien bis zur Heiliggeistbucht im Mexikanischen Golf vor in Verbindung mit der Gründung von Wehrsiedlungen im Grenzbereich, deren Milizen den Soldaten gegen jedweden Feind beistehen sollten. Mobile Einheiten (compañías volantes) waren zur Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen den einzelnen presidios vorgesehen und damit zur Vorneverteidigung der rückwärtigen Provinzen. Diese Defensivlinie wurde im Jahre 1771 von Karl III. genehmigt. 2 Doch Verteidigung allein stellte noch keine Zukunftsperspektive dar. José de Gálvez, seinerzeit ein mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteter königlicher Untersuchungsbeamter (Visitador General) von Neu-Spanien, später als Friedensbringer im Nordwesten Sonoras (pacificador de Sonora) gefeiert, war eine in der Region sowie in Madrid hochangesehene Persönlichkeit. Er entwikkelte, gestützt auf die gescheiterten Pläne des Vizekönigreiches, das Konzept einer Generalkommandantur {Comandancia General de las Provincias Internas del Norte de Nueva España) und schlug vor, den Nordteil Neu-Spaniens unter einem militärischen Oberbefehl und einer zivilen Autorität zusammenzufassen. Dieser Comandante General, der in Unabhängigkeit vom Vizekönig geschilderte Gewalt in sich vereinigen sollte, wurde nach Gálvez' Vorschlag direkt dem König unterstellt. Er sollte zentral und verantwortlich Entscheidungen treffen können im Hinblick auf Verteidigung, Expansion, Missionsgründungen, Friedensverträge und Kriegsaktionen. 3

1 Richard Konetzke: Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt/ M. 1995 ('1965), S. 130. 2 Hierzu: INSTRUCCIONES para formar una Linea ó Cordon de quince Presidios sobre las Fronteras de la Provincias Internas de este Reino de Nueva-España y NUEVO REGLAMENTO del número y calidad de Oficiales y Soldados que estos y los demás han de tener, sueldos que gozarán desde el dia primero de Enero del año próximo de mil setecientos setenta y dos, y servicios que deben hacer las Guarniciones [1771]: Archivo General de Indias, Sevilla (AGI), Guadalajara 273. Siehe auch: Luis Navarro García: El norte de Nueva España como problema político en el siglo XVIII, Sevilla 1960, S. 24. 3

José de Gálvez, Memorandum vom 23. Januar 1768: AGI Indiferente General 1713.

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Noch vor der königlichen Zustimmung zum genannten Projekt wurden in der nördlichen Grenzregion die expansiven Kräfte intensiviert, und verschiedene Expeditionen - Soldaten, Missionare, Kolonisten - erkundeten neue Gebiete im Norden. Gálvez versuchte ein Räderwerk in Gang zu setzen, um durch bereits vollendete Tatsachen den langwierigen Entscheidungsweg in Madrid lenkend, bestimmt aber beschleunigend, zu beeinflussen. 1769 wurde Oberkalifornien von See her erkundet, und 1774 gelang es dem erfahrenen Grenzkommandanten Juan Bautista de Anza, erfolgreich eine Landexpedition dorthin zu fuhren. Damit stand der Weg offen für eine Kolonisierung des Gebietes, für eine faktische Eingliederung in das Spanische Reich. Das Vizekönigreich bereitete daraufhin, wiederum unter Anzas maßgeblicher Leitung, eine kombinierte Land-See-Expedition vor, während die Missionierung der Einheimischen dem Orden der Franziskaner oblag. 1776, sechs Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung der USA, wurde San Francisco gegründet. 4 Einige Monate zuvor, endlich, hatte der König die Errichtung der Comandancia General de las Provincias Internas del Norte de Nueva España veranlaßt, in welcher die Provinzen Sonora, Neu-Vizcaya, Ober- und Unterkalifornien, Coahuila, Texas und Neu-Mexiko zusammengefaßt wurden. Zur Hauptstadt bestimmte man Arizpe (Sonora), das in Äquidistanz zu den Flügelprovinzen dieser ausgedehnten politischen Einheit stand. 5 In diesem Gesamtzusammenhang erwuchs die Idee, den nördlichsten Pfeiler des Imperiums zu stärken und die Grenze zu begradigen, d.h. die großen spanischerseits kaum kontrollierten Gebiete zwischen Kalifornien und Neu-Mexiko bzw. zwischen letzterer Provinz und Texas zu schließen unter Einschluß der Idee, die dort lebenden nomadisierenden Indianer zu befrieden. Die strategische Position von Neu-Mexiko wies der Provinz eine zentrale Rolle in der jungen Generalkommandantur zu und machte sie zum Glacis der neuen spanischen Politik im Norden des Kolonialreiches. Diese neuralgische Lage sah man im fernen Madrid sehr deutlich, so daß von den jeweiligen Gouverneuren profunde Erfahrungen im Umgang mit den Indianer erwartet wurden

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Zur Erkundung Oberkaliforniens: Herbert Eugene Bolton: Anza's California expeditions (5 Bde.), University of California Press 1930; Mario Hernández Sánchez-Barba: La última expansión española en América, Madrid 1957, sowie Sylvia L. Hilton: La Alta California española, Madrid 1992, Kap. IV-VIII. 5 Zu dieser Generalkommandantur stammen die grundlegenden Studien von Luis Navarro García: La gobernación y Comandancia General de las Provincias Internas del Norte de Nueva España. Estudio institucional, Buenos Aires 1963; Don José de Gálvez y la Comandancia General de las Provincias Internas del Norte de Nueva España, Sevilla 1964.

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sowie Weitsicht und politische Vision, um eigene Entscheidungen zu treffen, wie auch eine schöpferische Unruhe, um über administrative oder militärische Maßnahmen das Gebiet zu konsolidieren. Es kann daher nicht verwundem, daß am 9. Februar 1777 auf Anregung des Indienministers José de Gálvez mit Juan Bautista de Anza der Mann zum Gouverneur von Neu-Mexiko ernannt wurde, der sich mit seinen Kalifornienexpeditionen für einsatzfordernde Aufgaben im Rahmen der neuen und ausgreifenden königlichen Politik qualifiziert hatte.6 II Mißstände in Neu-Mexiko Neu-Mexiko bildete den nördlichsten Punkt Spaniens in Amerika. Seit seiner Eroberung im Jahre 1598 und der Kolonisierung bis zur Unabhängigkeit Mexikos 1821 war das Reino de Nuevo México eine Grenzprovinz, umgeben von nomadisierenden Indianern und von den übrigen Provincias Internas durch eine ausgedehnte Wüste geschieden. Es war ein Außenposten, die Peripherie schlechthin, oder, wie es in einer Stellungnahme aus dem Jahr 1771 hieß: „frontera separada". 7 Die Grenzen waren unbestimmt. Das tatsächlich spanisch beherrschte Gebiet reichte seit Mitte des 18. Jahrhunderts von Tomé im Süden bis zum Handelsplatz Taos im Norden über eine Distanz von etwa 300 km. El Paso zählte formell zu Neu-Mexiko, blieb aber durch eine gut 400 km messende Wüstenstrekke von der übrigen Verwaltungseinheit getrennt. Als westlichster Punkt wurde die Siedlung Nuestra Señora de Guadalupe der Zuñi-Indianer genannt, und im Osten, 400 km entfernt, war dies Nuestra Señora de los Angeles der PecosIndianer.8 Diese Herrschaftsgrenze war definiert durch Seßhaftigkeit der India6

Zu Anza: Mario Hernández Sánchez-Barba: Juan Bautista de Anza - un hombre de fronteras, Madrid 1962; Teresa Lluch y Berga: Juan Bautista de Anza. Colonizador español del Suroeste americano, in: Humanidades (Mérida, Venezuela), Jg. 5/6/Bde. 5/6 (1963/64), Nr. 11/12, S. 9108. Umfangreiches biographisches Material wurde zusammengetragen durch die Sociedad Sonorense de Historia in ihrem Tagungsband Simposio sobre Juan Bautista de Anza. Tiempo, vida y obra, 1788-1988, Hermosillo (Sonora) 1988. 7 INSTRUCCIONES 1771, Punkt 33. Zur Geschichte Neu-Mexikos: Hubert H. Bancroft, History of Arizona and New Mexico, 1530-1888, Albuquerque 1962 ('1888); Benjamin M. Read: Historia Ilustrada de Nuevo México, Santa Fe 1911; Alfonso Trueba: Nuevo México, Mexiko-Stadt 1965; Marc Simmons: Spanish Government in New Mexico, Albuquerque 2 1990 ('1968); Donald C. Cutter: España en Nuevo México, Madrid 1992. Zudem ist auf das New Mexico Historical Review (NMHR) als eine seit 1925 erscheinende historische Zeitschrift zu verweisen. 8

So beispielsweise in der „Importante Relación" von [Gouverneur] Mendinueta an [Vizekönig] Antonio Maria Bucareli, Santa Fe, 26. März 1772, in: AGI, Guadalajara 267. Anfang des 19. Jahrhunderts zieht Alexander v. Humboldt die politische Linien zwischen dem

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ner, deren hispanisch beeinflußte Zivilisation in Landwirtschaft, Kleidung, Ernährung, ihre Einbindung in das spanische Wirtschaftssystem, sowie ihre Eingliederung in das System der Kolonialverwaltung. In der Zeit nach der Jahrhundertmitte war diese Herrschaftsgrenze, welche sich in der Vergangenheit trotz mancherlei Rückschläge ausgedehnt hatte, bestenfalls durch Stagnation gekennzeichnet. Die eigentliche Siedlungsgrenze der Kreolen ist deutlich enger zu ziehen und reichte nur wenig über das schmale spanisch dominierte Ufergebiet am Rio Grande hinaus.9 Das demographische Wachstum verlief hier zwar stetig, aber dennoch so langsam, daß die Ausdehnung wenig dynamisch-expansiven Charakter erreichte. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kam es zu einer staatlicherseits unkontrollierten Streusiedlung jenseits der befestigten Plätze, was die Behörden in Santa Fe zunehmend beunruhigte. Deutlich schwieriger ist die Missionsgrenze zu bestimmen, die vielfältigen Schwankungen ausgesetzt war. Sie reichte über die spanische Siedlungs- und Herrschaftsgrenze weit hinaus und umfaßte vor allem die seßhaften und halbseßhaften Indianerstämme. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als NeuMexiko nach dem verheerenden Pueblo-Aufstand von den Spaniern rückerobert wurde, strebten flankierend die Jesuiten von Sonora gen Norden in die sogenannte Pimeria Alta. Mitte des 18. Jahrhunderts folgten die Franziskaner, welche nach 1767 auch die jesuitischen Missionen übernahmen. Die Dynamik der Missionsgrenze im Sinne einer latenten Ausdehnungstendenz war beträchtlich, allerdings von wechselnder Stetigkeit. Eine sinkende Bevölkerungszahl der seßhaften Indianer, Aufstände (der Pima-Indianer 1750, der Yuma-Indianer 1781) und die zunehmende Bedrohung seitens der Apatschen seit der Jahrhundertmitte führten immer wieder zu Rückschlägen. 10 Das gesamte Gebiet nördlich von Chihuahua und Sonora war ein militärisches Verteidigungsfeld. Seine exponierte Lage machte Neu-Mexiko hier zu 31. und 38. Grad nördlicher Breite bei eine Ost-West-Ausdehnung zwischen 170 und 280 Kilometern (Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne, Paris 1811/ FaksimileNachdruck Amsterdam, New York 1971, Bd. 1, S. 301). 9 [Gouverneur] Juan Bautista de Anza an [Generalkommandant] Teodoro de Croix, Santa Fe, 1. November 1779 (Kopie in: Croix an [Indienminister] José de Gálvez, 23. Februar 1780: AGI, Guadalajara 517). 10 Hierzu Fernando Aparicio: Políticas de poblamiento en la Pimeria Alta (frontera de Arizona y Nuevo México), 1690-1818, in: Revista Milenio (Panama-Stadt), 1 (1995), Nr. 1, S. 133170. Zu Neu-Mexiko: Eleanor Adams/Angélico Chávez (Übers, und Hg.): The missions of New Mexico 1776. A description by Fray Francisco Atanasio Domínguez, Albuquerque 1956, passim.

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einem strategischen Außenposten und zur einzigen verläßlichen Größe zwischen Texas und Kalifornien. Die Dynamik der Militärgrenze war trotz konstanter Auseinandersetzungen in diesem Raum eher gering, da die spanische Politik lange Zeit zumeist aufbewahrende Stabilität und weniger auf Expansion setzte. Erst nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges sollte sich eine Änderung zeigen. Diese diffuse Militärgrenze markierte vor allem einen politischen Anspruch, und der neumexikanische Abgeordnete auf den Cortes von Cádiz münzte sie denn auch in eine Jurisdiktionslinie um, nach welcher die Provinz bis zum 45. Breitengrad (Höhe von Ottawa) gereicht und eine Fläche von gut 3,6 Mio. km 2 (annähernd die Größe des heutigen Indien) besessen hätte. 11 Neu-Mexiko war relativ arm, und sein Name trog. Es gab im Norden kein neues, kein zweites Mexiko mehr; es gab keine Edelmetalle (bzw. kannte man ihre Lagerstätten nicht), und die lokale Industrie war auf einige Manufakturbetriebe beschränkt, welche die regionale Nachfrage in Textilien bedienten. Die Provinz lebte von der Landwirtschaft, der Viehzucht und dem Handel. Ihre Bevölkerung setzte sich aus Kreolen, Mischlingen und den befriedeten PuebloIndianern zusammen, die seit dem großen Aufstand von 1680 treue Verbündete der Spanier geworden waren. Nach einer Statistik von 1765 lebten in NeuMexiko 9.580 gente de razón, d.h. Spanier und hispanisierte Nichteuropäer. Die Indianer werden mit 10.524 Seelen angegeben - viel zu genau, als daß die Zahl stimmen könnte. Von den Siedlungszentren entfernt lebten die Halbnomaden und die wilden Indianerstämme (vor allem die Navajos, Komantschen und Apatschen, letztere wiederum zwischen Mescalero-, Jicarillo- und GilaApatschen geschieden), die sich zudem noch in einander befehdende und bekriegende Untergruppen aufspalteten. Schwarze gab es nicht. 12 Um die gefahrliche Lage der Provincias Internas zu bessern und um das Vorgehen zu koordinieren, trafen sich 1778 in Chihuahua, im Rahmen der Comandancia General, die Gouverneure dieser Provinzen und hielten einen Kriegsrat (junta de guerra) ab. Anwesend waren auch der Generalkommandant Teodoro de Croix, Oberst Jacobo Ugarte y Loyola, der abgelöste Gouverneur

" Noticias históricas y estadísticas de la antigua provincia de Nuevo México presentadas por su diputado en cortes D. Pedro Bautista Pino en Cádiz el año de 1812, Mexiko-Stadt 1849, S. 9. 12 Donald C. Cutter: An anonymous Statistical report on New Mexico in 1765, in: NMHR, Oktober (IV) 1975. Der Begriff „gente de razón" ist in seiner Definition nicht ganz eindeutig. Während andernorts hierunter zuweilen ausschließlich Spanier samt Kreolen fallen, so sind zumindest hier an der Peripherie auch Mestizen und ggf. auch Mulatten gemeint, die der hispanischen Zivilisation zuzurechnen waren (Aparicio: Políticas de poblamiento, S. 149).

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von Neu-Mexiko, Pedro Fermín de Mendinueta und der designierte Nachfolger, Juan Bautista de Anza. In dieser Runde wurden die schwerwiegenden Mißstände, die im Reino de Nuevo México vorlagen, eingehend erörtert und Möglichkeiten ihrer Lösung diskutiert.13 Um die Stabilisierung der gefährdeten Nordprovinz zu erreichen, gab man Anza detaillierte Instruktionen mit auf den Weg, gewährte ihm aber aufgrund seiner Erfahrungen weitgehend freie Hand in seinen Aktionen. Die Aufgabe war bei weitem keine einfache. Nicht nur das Indianerproblem lag dräuend über der Provinz, sondern auch der innere Zustand war aus der Sicht der Behörden katastrophal. Statt zusammenzuleben, um sich geeint gegen alle Feinde wehren zu können, hatte sich die kreolische Bevölkerung, ohne Kohärenz, zunehmend über die Provinz zerstreut. Somit waren die außenstehenden Siedlungen eine leichte Beute für die Apatschen oder andere Stämme, da dort keine allzu große Gegenwehr zu befürchten und auch keine Verfolgung möglich war. Diese Bevölkerungsverteilung schuf nicht nur administrative Probleme, sondern auch religiöse und sogar moralische: einige dieser Siedler bedeckten nicht einmal ihre Blößen zureichend, was selbst die barbarischen Indianer empöre - heißt es tadelnd in einem zeitgenössischen Bericht.14 Die Pueblo-Indianer hingegen erwiesen sich in Neu-Mexiko als die eigentlichen Träger der hispanischen Zivilisation: im Gegensatz zu den Spaniern gingen sie regelmäßig in die Messen und empfingen die Sakramente; sie sorgten für eine organisierte Bewachung ihres Pferde- und Viehbestandes, so daß ihre Verluste wesentlich geringer blieben als auf der spanischen Seite; Raub war ihnen unbekannt und ihre Wirtschaft florierte.15 Auf der anderen Seite war es nicht einmal möglich, selbst schwere Verbrechen unter den Weißen zu ahnden, so daß viele Straftaten ungesühnt blieben. Der neue Gouverneur sollte diese Mißstände {desórdenes) beseitigen. Er müsse, so wollte es die junta de guerra, die Verarmung der Provinz stoppen, die Korruption bekämpfen und die Verschuldung eindämmen. Die Zielvorgabe im wirtschaftlichen Bereich war die Eigenversorgung der Provinz. Autarkie aber konnte nicht im Alleingang, sondern nur im Zusammenwirken mit den Indianern erreicht werden, so daß hier dauerhaftere Formen des Miteinander zu finden waren: Die betrügerischen Praktiken der spanischen Händler gegenüber den 13 Desordenes que se advierten en el Nuevo México y medios que se juzgan oportunos á repararlos para mejorar su constitución y hacér feliz aquel Reyno, Chihuahua, 22. Juli 1778, (AGI, Guadalajara 267, Nr. 236, carpeta 3). 14 „Desordenes en lo moral que escandalizan a los mismos Barbaros", ebd., Abschnitt 6. 15 „[Los indios pueblos] viven en la abundancia" (Desordenes, ebd., Abschnitt 7).

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Indianern mußten beendet werden: Betrug, Verkauf von Alkohol, sowie das Leben in den Indianerdörfern waren schließlich durch die königliche Gesetze verboten. Spanier und Mischlinge sollten gemäß der bestehenden Gesetzeslage von den indianischen Dörfern ferngehalten werden. 16 Daneben sollte die Provinzregierung gegen den Despotismus der alcaldes mayores in ihren Jurisdiktionsbezirken vorgehen, deren ausbeuterische Praktiken Teile der Indianer zu Todfeinden der Spanier gemacht hatten. Mit einem Wort: Der neue Gouverneur sollte die antagonistischen Kräfte der Provinz harmonisieren, um alle Energie gegen den äußeren Feind richten zu können. Neu-Mexiko war mit diesen festgestellten Mißständen wahrlich kein Einzelfall im spanischen Kolonialreich, und gerade die alcaldes mayores besaßen allenthalben den negativen Ruf, sich ihre Einkünfte durch illegale Geschäfte in ihrer Jurisdiktion aufzubessern. In Neu-Mexiko hatte jedoch das Ausmaß der Mißbräuche einen derartigen Verfall von Sitten begünstigt, daß sich die semizivilisierten Indianer aus dem Verbund mit den Spaniern lösten und den nomadisiernden Prärieindianern anschlössen, so daß man schließlich um die schiere Existenz der gesamten Provinz Sorge tragen mußte, die ja von 1680 bis 1693 schon einmal vollständig in die Hände aufständischer Indianer gefallen war. Ein Eingriff gegen die geschilderten Praktiken, die man andernorts durchaus weiterhin tolerieren sollte, war also in den Augen des Staates mittlerweile eine Frage von Gedeih und Verderb geworden. Trotz dieser Standortbeschreibung lehnte der Generalkommandant dennoch verschärfte Bestimmungen ab; es genüge, wenn dem bestehenden Recht Geltung verschafft werde. 17 III Interethnische Konflikte und normative Politik Im spanischen Kolonialsystem stellte der Gouverneur eine starke Figur dar. Je nach den Umständen besaß er in seiner Provinz umfängliche administrative, militärische, juristische und sogar legislative Kompetenz, so daß sein Machtbereich vergleichsweise groß war.18 Dies galt insbesondere für Neu-Mexiko. Die Isolation der Provinz, ihr geringer Kontakt mit den übrigen Siedlungszentren, sowie die Tatsache, daß der Gouverneur gleichzeitig der Kommandant des presidio der Hauptstadt Santa Fe war, machten ihn zu einem Quasi-Vizekönig sei-

16 Desordenes, ebd. Abschnitt 34ff. In einem Fall ergeht sogar die Anweisung: „reducir los Españoles a su Pueblo" (Desordenes, ebd., Abschnitt 48). 17 „[...] bastará se observen las Leyes Reales" (Desordenes, ebd., Abschnitt 44). 18 Konetzke: Indianerkulturen Altamerikas, S. 127f.

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ner Provinz. 19 Dieser zivile und militärische Mandatsträger konnte sich ohne Mühe in einen lokalen Tyrannen verwandeln. Und genauso sollte Juan Bautista de Anza aufgrund seiner rigorosen Politik dann auch bezeichnet werden. Mit seiner Amtseinführung am 8. August 1778 begann für Neu-Mexiko eine entscheidende Dekade in der Provinzgeschichte - der ehrgeizige Versuch der Konsolidierung und Stabilisierung der Grenzregion. Der Erfolg dieser Aufgabe hing im wesentlichen damit zusammen, ob es gelingen würde, die verstreut lebende und degenerierte hispanische Bevölkerung zusammenzuführen, die in den Augen des Staates zu einem großen Ärgernis geworden war. Anzas Reformkonzept basierte auf seinen Erfahrungen, die er als Kommandant des presidio von Tubac erworben hatte. Er wollte Wehrdörfer schaffen, vom Gouverneur militärisch, juristisch, verwaltungstechnisch und auch religiös kontrollierbar, welche in der Lage sein sollten, effektiv gegen den Feind zu kämpfen, ihn im Fluchtfalle zu verfolgen und erfolgreich zu attackieren. Die Realisierung dieses Programms begann Anza gleich nach seiner Amtsübernahme. Mit Finanzmitteln ausgestattet, mit erweiterten Kompetenzen und klaren Instruktionen versehen, mit 1500 Pferden ausgerüstet, waren die Ausgangsbedingungen, welche die Generalkommandantur der Nordprovinz stellte, weitaus günstiger als die unter dem früheren Grenzregime. Die neue Regierung ließ geordnete Dörfer errichten mit Verteidigungsmauern, nahe den Ackerflächen gelegen, für jeweils 50 Familien. Das immense Programm der Reorganisation der Provinz, welches Anzas Vorgänger für nicht realisierbar erachtet hatte, stieß auf den erbitterten Widerstand der Betroffenen, welche solcherlei gravierende Eingriffe in ihr Leben nicht hinnehmen wollten. Wiederholt wandten sie sich mit ihren Beschwerden an den Generalkommandanten. Doch drangen sie mit ihren Klagen nicht durch, denn gerade die Generalkommandantur war ja der Ausgangspunkt dieser Politik gewesen. Der Erfolg sollte ihr recht geben. Stolz war 1781 zu vermelden, daß bereits der größte Teil der hispanischen Bevölkerung zusammengeführt worden war. 20 Alexander v. Humboldt, der 20 Jahre später die Provinz begutachtete, lobte die sinnvolle Verteilung der Bevölkerung auf die Städte und Dörfer, die den Zweck erfüllte, sich gegen alle Gefährdungen schützend zusammenzubinden. 21 19

Simmons: Spanish Government in New Mexico, Kapitel VI: The Office of Governor. Croix an José de Informe General, 29. Juli 1781, 3 /4 135: AGI, Guadalajara 279. 21 Alexanderv. Humboldt: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne, Paris 1811, wo es zu Neu-Mexiko heißt: „C'est à cause de manque de sûreté qu'offre la vie des champs, que les villes sont plus peuplées qu'on ne devroit s'y attendre dans un pays aussi désert", um nach einem Vergleich mit europäischen Siedlungen im Mittelalter zu folgern: „Aussi long20

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Zweifellos war das Konzept der Generalkommandantur aufgegangen: Die Autorität des Staates an der Grenze war wiederhergestellt. In der Wirtschaftspolitik war der neue Gouverneur nicht weniger rigide. Er schritt gegen die eigenmächtigen Praktiken lokaler Händler gegenüber der Indianern ein, die mit selbstgeschaffenem Geld („monedas imaginarias", wie die spanischen Behörden abschätzig meinten) einen mikroökonomischen Wirtschaftsraum geschaffen hatten, der zu Lasten des indianischen Verbrauchers und Produzenten ging und den Zwischenhändler zu einer entscheidenden Figur machte. Indem der neue Gouverneur zudem die seit jeher geltenden, aber außer acht gelassenen Konditionen zum rechtmäßigen Verkauf von Indianerland wieder in Kraft setzte,22 wurde dem Mißbrauch der Unkenntnis der Indianer in Fragen des Eigentumsrechtes eine Grenze gezogen. Die Gouverneure dieser Randprovinz hatten die Sanktionierung der königlichen Gesetze bislang nicht zu einer Priorität gemacht. Unter Anza wehte jetzt ein rauher Wind und Übertretungen wurden tatsächlich auf der Basis bestehenden Rechts geahndet: indianische Arbeitsverpflichtungen waren schließlich gesetzlich geregelt; gezielte Verschuldungstechniken der Händler waren gesetzlich verboten; das Leben von Weißen und Mestizen in den indianischen Dörfern war gleichermaßen gesetzlich untersagt. Anza setzte diese Bestimmungen, gestützt auf den Rückhalt seines Generalkommandanten, nunmehr durch. Die neue militärische Großeinheit der Comandancia General erwies sich somit als eingreifstärker und reformfähiger als das alte System. Allerdings hatte der Gouverneur mit seinen Maßnahmen wesentliche Einkommensquellen der hispanischen Händler (mercaderos) beschnitten. Die Maßnahmen, die von Santa Fe nunmehr durchgesetzt wurden, bedeuteten einen schweren Rückschlag für das herausgebildete einseitig deregulierte Wirtschaftssystem. Eine ökonomische Krise war die unmittelbare Folge. Um aber den Handel dennoch anzuregen, um den Produkten auch der wilden Stämme einen Markt zu geben und sie somit schleichend in die spanische Sphäre einzubeziehen, begründete Anza mehrere Handelsmessen {ferias) in Neu-Mexiko. 23 In der

temps que l'isolement expose l'homme à des dangers personnels, aucun équilibre ne peut s'établir entre la population des villes et celles de la campagne" (Bd. 1, S. 304). 22 Ausdrücklich wird Bezug genommen auf die Verkaufbestimmungen gemäß der Ordenanza vom 17. Dezember 1603 (Verkauf von Indianerland mußte 30 Tage vorher öffentlich angezeigt werden, es mußte das tatsächliche Eigentumsrecht nachgewiesen werden sowie geprüft werden, ob dem indianischen Verkäufer noch genügend Land zum Eigenbedarf verblieb). 23 [Generalkommandant] Jacobo Ugarte y Loyola an [José de Gálvez], Chihuahua, 21. Dezember 1786: AGI Guadalajara 541, Nr. 54.

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Beschränkung des Warenaustausches auf diese ferias, die zu festgesetzten Zeiten stattfanden, wurde eine umfassende staatliche Kontrolle über den Handel und die damit verbundene fiskalische Hoheit zurückgewonnen. Mit den mercaderos und weiteren ehemaligen Profiteuren des herkömmlichen Wirtschaftsregimes hatte sich Anza auf diese Weise zweifellos unversöhnliche Feinde gemacht, die sich heftig zur Wehr setzten. Angesichts einer Fülle von Eingaben und Klageschriften forderte der neue Generalkommandant Felipe de Neve schließlich die Ablösung Anzas. 24 Einzig Neves Tod verhinderte das Diktum, denn seine Nachfolger hielten die rigorose Politik Anzas für unverzichtbar für die Comandancia General. Interpretiert man das Handeln des Gouverneurs und die ihn leitenden Instruktionen allerdings seitens der Zwangsumgesiedelten und finanziell Beeinträchtigten, ergibt sich durchaus ein sehr anderes Bild, denn das Verhalten der kreolischen Siedler war keineswegs so unverständlich oder gar bösartig, wie die staatlichen Behörden es darstellten: 25 In der Abgeschiedenheit Neu-Mexiko hatte sich nämlich ein Grenzerleben etabliert, welches durchaus Vergleichsmomente zur späteren US-amerikanischen frontier aufweist. 26 Der Staat wurde mit zunehmendem Abstand von Santa Fe nicht mehr respektiert, da er weder Sicherheit garantieren konnte noch Prosperität, und vor allem dem Gesetz zur Geltung zu verhelfen nicht mehr in der Lage war. Die Siedler sahen sich zu eigenständigem Handeln genötigt: staatliche Bestimmungen wurden nur noch dann eingehalten, wenn man sie selber als Grundlage annahm. Was die Generalkommandantur als weitgehende Rechtlosigkeit interpretierte, war vom legalistischen Standpunkt durchaus zutreffend, dennoch war die Will24

„[...] una infinidad de quejas": [Generalkommandant] Felipe de Neve an [José] de Gálvez, Arizpe 26. Januar 1784, (AGI Guadalajara 300), auch: Neve an Anza, Arizpe 20. Januar 1784 (ebd.). 25 So ist im Falle der Siedlung Albuquerque von einer „maliciosa é infundamental fuga de los vecinos" die Rede (Croix an José de Gálvez, Arizpe, 26. März 1781, unter Bezug auf seine Korrespondenz mit Anza: AGI Guadalajara 272, Nr. 628). 26 Zur Grenzdebatte: Bernd Schröter: Bemerkungen zu einer Historiographie der Grenze, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 31 (1994), S. 329-360; in Anwendung auf Neu-Mexiko: Frederic J. Atheam: The Spanish frontier in Colorado and New Mexico, 1540-1821, Denver 2 1992; Cynthia Radding: Wandering peoples. Colonization, ethnic spaces, and ecological frontiers in northwestern Mexico, 1700-1850, Durham, London 1997; David J. Weber: La Frontera Norte de México, 1821-1846. El sudoeste norteamericano en su época mexicana, [MAPFRE] Madrid 1992. Ausgangspunkt all dieser Untersuchungen ist natürlich der brillante Vortrag von Frederick Jackson Turner vor der American Historical Association: The significance of the frontier in American history aus dem Jahre 1893 (Washington D.C. '1894).

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kür vor Ort keineswegs absolut: es hatte sich eine selbstdefinierte Rechtssphäre gebildet, vom geschriebenen Gesetz gelöst und auf Gewohnheitsstrukturen basierend. Es war ein primitiveres Recht mit atavistischen Zügen, wenig verläßlich, wenig formalisiert, aber es war kein rechtsfreier Raum. Mit den monedas imaginarias schuf man sich parallel ein Mittel für einen unabhängigen Warenaustausch an der Grenze, vor allem mit den Indianern. Der Staat betonte den betrügerischen Aspekt gegenüber den Indianern, den es auch zweifellos gab. Ein durchaus wesentliches Motiv aber war darüber hinaus sein fiskalisches Interesse. Mit ihrer Kunstwährung besaßen die lokalen Händler ein probates Tauschmittel: es gab keinen lähmenden Geldmangel mehr und damit Abhängigkeit von staatlichen Institutionen; der Staat seinerseits konnte keine Kontrolle mehr ausüben und war an der Wertabschöpfung im Handel nicht mehr beteiligt. Allerdings waren der Verselbständigung durchaus Grenzen gezogen. Zwar mochten die Siedler sich der Kontrolle, Verfügbarkeit und Besteuerung entziehen und für ein unreglementiertes Leben Gefahren in Kauf nehmen, doch eine allein von der hispanischen Bevölkerung getragene Expansionsbewegung war in Neu-Mexiko nicht denkbar; es fehlte eine Massensiedlung, die demographischen Druck und eine fortlaufende Landnahme im Sinne der Turnerschen frontier erzeugen konnte. Eine wirkliche Alternative zur staatlichen Kontrolle über die Grenzregion bestand daher zu keinem Zeitpunkt. IV Interethnische Konfrontationen und die Politik der Abhängigkeit Das Wohlergehen, ja die schiere Existenz der Provinz Neu-Mexiko hing von den Beziehungen der Spanier zu den Indianern ab, die sie umgaben. Jede politische Entscheidung in der Hauptstadt Santa Fe mußte vor diesem Hintergrund abgewogen werden. Die Pueblo-Indianer waren befriedet, und die Yutas standen zumindest nicht im offenen Krieg, doch sowohl die Koalition der Navajos mit den Apatschen vom Gila-Fluß, die den Süden und Westen mit Überfällen, Mord und Entfuhrungen heimsuchten, als auch die Komantschen im Norden und Osten hielten die Provinz in beständiger Gefahr. Croix sah sogar seinerzeit das Gespenst eines zweiten 1680 heraufziehen; Neu-Mexiko, so der Generalkommandeur, müsse daher unter allen Umständen gehalten werden, nur so könne ein Dammbruch verhindert werden. 27 Das war der strategische Kern aller Instruktionen und der eigentliche Sinn der Grenzpolitik. 27

„Su conservación [de Nuevo México] és tán importante como que si perdiéramos segunda véz al nuevo México, tendríamos sobre la Vizcaya, Sonora y Coaguila todos los Enemigos

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Der neue Gouverneur war ein mit einem starken Willen ausgestatteter Pragmatiker. Für die Herbeiführung von guten Beziehungen zu den einzelnen Stämmen besaß er keine festen Rezepte, sondern nutzte politische Umstände, ja Zufälle, aus. Verbündete bei diesem Tun waren die nach 1693 befriedeten und hispanisierten Pueblo-Indianer mit ihren überlegen organisierten und auf Verteidigung ausgerichteten Steinsiedlungen. Diese dienten Anza wirtschaftlich, organisatorisch und verteidigungstechnisch als Vorbild für die Wehrsiedlungen, die nunmehr für die kreolischen Siedler gegründet wurden. Der Pueblo-Stamm hatte sich zudem in das spanische Verwaltungssystem eingefügt und profitierte davon. Eine wachsende ethnische Vermischung beschleunigte den Prozeß, der als vorbildhaft angesehen wurde. 28 Gegen die nomadisierenden Indianer und ihre Raubzüge allerdings praktizierte man eine Politik der Lockungen und Drohungen und stellte mit gut gesetzten graduellen Abstufungen die verschiedenen Stämme vor die Alternative Handel und Frieden oder Boykott und Krieg. 29 Es war eine Mischung aus ökonomischem Anreiz und militärischem Druck, die vor allem mit einer Art friedenspolitisch konditionierter Meistbegünstigungsklausel operierte. Das Eingehen auf die Bedürfnisse der einzelnen Indianerstämme je nach Maßgabe des Zivilisationsstandes basierte dabei auf der genauen Kenntnis der indianischen Gruppen. Mit dem Angebot der Bedürfnisbefriedigung - materiell oder sicherheitsrelevant - wurde ein beträchtlicher Konfliktstoff in die Indianergemeinschaften hineingetragen, die jetzt intern ihre Haltung zu den Spaniern neu und verbindlich definieren mußten. Die Aufspaltung in einen traditionellen Sektor und einen progressiven Sektor (um die Begrifflichkeit der modernen Entwicklungstheorie zu verwenden, die nicht ganz unangebracht ist) war die Folge mit dem Ergebnis einer spanisch-indianischen Interessengemeinschaft. Seßhaftmachung und Missionierung blieb für die Comandancia General dabei das Fernziel; friedliche Koexistenz war das erstrebte Etappenziel. que aora lo invaden" (Croix an José de Gálvez, Informe General, 29. Juli 1781, Vi 128: AGI, Guadalajara 279). 28 „Los vínculos de comercio, y los enlaces por casamientos" wurden staatlicherseits als unbedingt forderungswiirdig erachtet (Ugarte an Anza, Chihuahua, 5. Oktober 1786, Kopie dieses Briefes in: Ugarte an José de Gálvez, Chihuahua, 21. Dezember 1786, AGI Guadalajara 521). 29 Hierzu auch: Cutter: España en Nuevo México, S. 171; hilfreich ist auch die Auswahl von Dokumenten zu Anzas Indianerpolitik, die Alfred Bamaby Thomas in englischer Übersetzung vornahm: Forgotten Frontiers. A study of the Spanish Indian policy of Don Juan Bautista de Anza, Governor of New Mexico, 1777-1787. From the original documents in the archives of Spain, Mexico and New Mexico, translanted into English, edited and annotated by Alfred Barnaby Thomas, Norman 1932.

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Die Indianerpolitik Anzas ist durch seine eigenen ausfuhrlichen Berichte und Kriegstagebücher dokumentiert. Als Beispiel für die praktische Umsetzung seiner Befriedungspolitik (pacificación) seien an dieser Stelle die Komantschen angeführt. Von allen Stämmen in der Umgebung von Neu-Mexiko hatten die Komantschen den schrecklichsten Ruf: sie galten als besonders kriegerisch und tapfer. Selbst die Apatschen sahen in ihnen ihren gefährlichsten Feind. Die Komantschen schlössen keine feste Bündnisse, sondern kämpften zumeist auf sich allein gestellt. Der einzige friedliche Kontakt, der bestand, war der Handel auf der feria von Taos mit den Pueblo-Indianern und den Yutas. Anza nun wandte gegenüber den Komantschen eine Doppelstrategie an. Er führte regelmäßige Strafexpeditionen in ihr Gebiet durch und verbot ihnen den Warenaustausch in Taos. Die ersten Händler, die 1779 zur Messe kamen, informierte man von diesem Wirtschaftsboykott und teilte ihnen mit, daß nur eine umfassender Friedensschluß (paz general) die Verfügung wieder aufheben könne. Die Folge war Krieg. 1779 zog Anza ins Komantschengebiet, weiter als jeder seiner Vorgänger. Bei einem Überraschungsangriff gerieten die höchsten Krieger des Stammes in seine Hand, vor allem der gefürchtete Häuptling Cuerno Verde.30 Es war ein entscheidender Sieg. In der Folgezeit versuchten die Indianer noch Gegenattakken, waren aber durch Anzas Schlag in ihrer Kampfkraft gelähmt. 1784 kamen sie nach Taos und baten um Frieden. Anza und Häuptling Ecueracapa unterzeichneten einen förmlichen Vertrag.31 Die Komantschen nahmen wieder an der feria von Taos teil und wandten sich gegen ihren nunmehr einzigen Feind: die Apatschen. Die Yutas, einstmals erbitterte Gegner der Komantschen, wurden in der Folgezeit durch Anza mit diesen versöhnt und in eine Tripel-Allianz mit den Spaniern geführt, so daß ein weiterer Unruheherd beseitigt war. Durch ähnliche Maßnahmen - Drohungen und wirtschaftliche Anreize - bewegte Anza auch die

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Anza an Croix, Santa Fe, 1. November 1779, Diario de la Expedición que Sale apracticar Contra la Nación Cumanche el Infraescriptor Theniente Coronel Govemador ... in: Croix an José de Gálvez, 23. Januar 1780: AGI Guadalajara 300, Nr. 462. 31 Relación de los sucesos ocurridos en Nuevo México ..., Ugarte an [José de Gálvez], Chihuahua, 21. Dezember 1786, darin: Artículos de Paz nach einem Schreiben Anzas vom 14. Juli 1786: AGI Guadalajara 287, Nr. 43.

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Navajos zum Frieden. Durch Land und Saatverteilung konnte er diesen großen halbnomadischen Stamm zu seßhaftem Siedeln anregen.32 Die Indianerpolitik, welche die Provinzregierung in Neu-Mexiko zur Anwendung brachte, nutzte die Rivalitäten, Vorurteile und Ängste der Stämme untereinander. Hinter dem scheinbar sehr pragmatischen Agieren jedoch läßt sich ein klares Stufenkonzept erkennen, das sich in aufeinander abgestimmten Vorgehensweisen manifestiert: 1) Unprovozierte und einseitige Ergreifung von Maßnahmen, welche die Indianer zu einer Reaktion zwingen (z.B. ökonomischer Druck gegen Navajos und Komantschen, militärischer Druck gegen die Komantschen), 2) Verhandlungen mit Unterhändlern. Politik der Annäherung und der Lokkungen in Kombination mit handfesten Drohungen bei Weigerung, 3) Gezielter Aufbau von ranghohen indianischen Persönlichkeiten zu autorisierten Gesprächspartnern. Gewährung einer regelmäßigen Besoldung und Vergabe von Herrschaftssymbolen mit dem Ziel der Einigung aller Gruppen und Faktionen eines Stammes unter einem den Spaniern gewogenen Kaziken, der wiederum in seiner Stellung vom Bündnis mit den Spaniern abhängen sollte (der Komantsche Ecueracapa, der Navajo Don Carlos), 4) Herstellung freundschaftlicher bilateraler Beziehungen zwischen den Spaniern und dem jeweiligen Indianerstamm, 5) Einbindung der einzelnen Stämme in das spanische Allianzsystem über multilaterale Verträge; Versöhnung von ehedem verfeindeten Stämmen, 6) Verfestigung dieses Systems durch gemeinsame Militärkampagnen, intensive Handelsbeziehungen und gegenseitige militärische Schutzgarantien, 7) Seßhaftmachung und Missionierung als Fernziel. Anzas Diplomatie und seine zuweilen erstaunliche fortune erreichten die Einbindung der Komantschen, Yutas, und Navajos in ein politisches System, in welchem jeder Angst haben mußte, daß er im Falle eines Vertragsbruchs mit den beiden restlichen Stämmen und den Spaniern im Krieg stünde. Das zusätzliche Netz der wirtschaftlichen Verflechtungen festigte den Frieden: Über die Kontrolle des Handels auf den ferias wurde politisches Wohlverhalten der Handelspartner erzwungen. Die Kraft aller war nunmehr gegen einen einzigen Friedensstörer gerichtet: den Apatschen.

32

Zu den Yuta-Indianem: ebd.; zur Befriedung der Navajos: ebd; siehe auch: Ugarte an Marqués de Sonora, Chihuahua, 21. Dezember 1786 mit der Anlage Relación de lo practicado (...) por J. B. de Anza (AGI, Guadalajara 521, Nr. 44).

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Zwischen den heutigen US-Bundesstaaten Texas und Arizona lebte der Stamm der Apatschen mit seinen zahlreichen Untergruppierungen. Er war der spanischen Diplomatie, den wirtschaftlichen Anreizen und den Missionaren weitgehend unzugänglich. Die Taktik - zahlenmäßig überlegene Reiterangriffe, schnelle Aktion und rasche Flucht - machte organisierte Gegenwehr schwierig, und die Meldungen über Kannibalismus, das Abschlachten von Kindern und schwangeren Frauen 33 sorgten bei den Spaniern für beträchtlichen Schrecken. Bald tauchte in den Berichten der Gedanke an Ausrottung (exterminio) als einzige verbleibende Lösung auf. 34 Den Spaniern war diese Vorstellung allerdings eher fremd, aber die Notwendigkeit, den jahrhundertealten, ewigen Krieg im Norden zu beenden, galt als starkes Argument. Gegenüber diesem Erbfeind ging die Comandancia General nun von der bisher vorherrschenden Vornewerteidigung zur ForwärtsVerteidigung über. Anza unternahm jedes Jahr Züge weit ins Apatschengebiet, militärisch erfolgreich zwar, aber ohne nachhaltige Wirkung. Stärker traf die Apatschen seine neue Bevölkerungspolitik, welche schnelle Raubzüge auf einzelne Siedlungsniederlassungen unmöglich machte. Als Anza 1786 schließlich seine Große Allianz geschmiedet hatte, wurde der Apatsche plötzlich vom Jäger zum Gejagten. 1787 ist er im spanischen Herrschaftsbereich in Neu-Mexiko quasi nicht mehr präsent.35 V Ertrag der Reformära Im Jahre 1778, beim Amtsantritt von Juan Bautista de Anza, befand sich die Provinz Neu-Mexiko in einem niederschmetternden und bedrohten Zustand: im Kampf mit nahezu allen sie umgebenden Indianerstämmen war sie in Gefahr, verlorenzugehen. Eine Dekade später, 1787, übergibt Anza seinem Nachfolger eine nahezu befriedete Provinz: die ehemaligen Feinde sind jetzt Verbündete

33

So Nicolas de Lafora in seiner Relación del viaje que hizo a los Presidios Internos situados en la frontera de América Septentrional (Mexiko-Stadt 1939, S. 83) aus dem Jahre 1766. 34 „En la sujeción voluntaria ó forzada de estos últimos [los apaches], ó en su total exterminio consiste la felicidad de la Provincias Internas, in: [Vizekönig] Bernardo de Gálvez, Instrucción formada en virtud de Real Orden de S.M. que se dirige al Señor Comandante General de Provincias internas Don Jacobo Ugarte y Loyola para gobierno y puntual observancia de este Superior Gefe y de sus inmediatos Subalternos, (hier: Unterpunkt 51), Mexiko-Stadt, 26. August 1786: AGI, Guadalajara 268. 3Í

Luis Navarro García: José de Gálvez, S. 457. Einen historisch-ethnologischen Überblick zu den Indianern an der spanischen Peripherie gibt Thomas Weaver (Los indios del Gran Suroeste de los Estados Unidos, Quito 1996).

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und der damals omnipräsente Apatsche ist deutlich zurückgedrängt worden. Ein solch schlagender Erfolg verlangt nach einer Erklärung. In keinem Moment der Kolonialgeschichte war die Nordgrenze von Spanisch-Amerika völlig befriedet. In der Phase der Conquista war die spanische Expansion in den dünnbesiedelten Weiten des nordamerikanischen Kontinentes zum Stehen gekommen. Der sich anschließende, nahezu endemische Kriegszustand - allenfalls vergleichbar mit dem dreihundertjährigen Kampf der Spanier gegen die Araukaner im Süden Chiles - forderte Tausende von Menschenleben und verschlang Unsummen an Geld. Friedensvereinbarungen und Stillhalteabkommen sorgten für temporäre Sicherheit, doch die Angst des Grenzsiedlers vor dem Indianer war eine Konstante; jedes Kind wuchs inmitten einer Kriegspsychose auf. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelte sich an der Nordgrenze eine dauerhaftere Form von interethnischer Koexistenz,36 die mit der Schaffung der Comandancia General eine zusätzliche administrative Ordnungsinstanz erhielt. Die Zusammenbindung aller militärischen und zivilen Kräfte innerhalb dieser Großeinheit zeitigte nach weniger als einem Jahrzehnt die ersten positiven Ergebnisse. Die Ausstattung der Generalkomandantur mit beträchtlichen politischen, militärischen und vor allem finanziellen Mitteln hatte es überhaupt erst möglich gemacht, daß der soeben ernannte Gouverneur auf seiner Reise nach Neu-Mexiko 1500 Pferde mit sich führen konnte, dazu große Mengen an Pulver, Waffen und Munition. Damit ließen sich die Kampfkraft der Truppe und Miliz in Neu-Mexiko wesentlich stärken. Darüber hinaus machte sich Anza an eine Aufgabe, vor der alle seine Vorgänger bislang zurückgeschreckt waren: die Zusammenfassung der hispanischen Bevölkerung - z.T. mit Gewalt - in Dörfern mit Schutzmauern: zur besseren Verteidigung und zur Kontrolle. Anza gelang es, sich gegenüber der scharfen Opposition der Kolonisten zu behaupten. Das Risiko unpopulären Handelns auf sich nehmend, stellte er das Wohl der Gemeinschaft über egoistische und ephimäre Vorteile einzelner Individuen. Der Erfolg gab ihm recht: die neuen Dörfer waren nicht mehr derart leicht zu attackieren, und mit einer gut bewaffneten Dorfmiliz konnten eventuelle Angreifer effektiv verfolgt werden. Wenn von Mai bis November 1777 insgesamt 69 Spanier den indianischen At-

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Carlos Lázaro Avila (Los tratados de paz con los indígenas fronterizos de América: evolución, historia y estado de la cuestión, in: Estudios de Historia Social y Económica de América 13, 1996, S. 15) spricht für das 18. Jahrhundert vom Übergang zu einem „complejo y amplio entramado de relaciones políticas de consenso-disenso".

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tacken zum Opfer gefallen waren, und von April 1780 bis März 1781 noch immerhin 53, so reduzierte sich die Zahl der Todesopfer für den Zweijahreszeitraum von Januar 1783 bis Dezember 1784 auf 44 und im folgenden Biennium auf 39. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich, jedes Jahr, die Zahl der bei solchen Überfällen ums Leben gekommenen indianischen Angreifer. 37 Anzas neue Militärpolitik, basierend auf besserer Ausstattung und Organisation von Truppe und Miliz sowie aufbauend auf regelmäßigen und weitreichenden Zügen ins feindliche Hinterland (campañas regulares), hatte auf längere Sicht den gewünschten Erfolg. Auch gab der erfolgreiche Versuch, Neu-Mexiko ökonomisch und strategisch an Sonora anzubinden, der Provinz neue Kraft. Nach Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzungen war Neu-Mexiko im Jahre 1787 schließlich eines der stärksten und sichersten Glieder der Comandancia General. Die Politik der Interessenharmonisierung, die in ihrem Rahmen umgesetzt werden konnte, verschaffte der Provinz eine Periode der Sicherheit. Mit der Herstellung einer politischen Stabilität im Rahmen von politischen und militärischen Bündnissen mit den halbnomadischen Indianern wurde ein zentrales Anliegen der bourbonischen Grenzsicherungspolitik, das auch andernorts zur Geltung kommen sollte, erfolgreich umgesetzt. 38 Das Hauptproblem blieb allerdings, die verschiedenen zentrifugalen Kräfte der heterogenen und daher labilen interethnischen Allianz unter Kontrolle zu halten und zu verhindern, daß die Einzelglieder, ehedem Feinde, wieder zu ihren alten Kriegshandlungen zurückkehrten. Anzas Amtsnachfolger, Fernando de la Concha (1787-1793), wußte dies. Nach einer dreimonatigen Einftihrungsperiode, während welcher ihn Anza über die Situation der Provinz aufklärte, setzte Concha die gleiche politische Linie fort und konnte in der Folgezeit die Quadrupelallianz von Komantschen, Yutas, Navajos und Spaniern gegen die Apatschen aufrechterhalten. Der Warenaustausch zwischen Weißen und Indianern vermehrte sich, die Bevölkerung stieg

" Angaben nach den Auflistungen in der Correspondencia del Comandante General con el Ministro de Indias, Unterpunkt Novedades, für den Zeitraum 1777-1787 der Sektion Guadalajara (AGI). 38 Ein laufendes MAPFRE-Projekt erforscht in vergleichender Sicht und mit Schwerpunkt auf dem bourbonischen Neuansatz die spanische Diplomacia fronteriza con los indios americanos. Carlos Lázaro Avila (Tratados de paz con los indígenas fronterizos, S. 15) konstatiert eine generelle „imposición reformista sobre la política fronteriza" im Rahmen der bourbonischen Reformen.

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von 21.000 auf 34.000, 39 und in den Indianerdörfern Neu-Mexikos wurde über die Errichtung von Schulen mit spanischer Unterrichtssprache eine weitere Homogenisierung der verschiedenen ethnischen Gruppen angestrebt. 40 Bis zum Ende des Jahrhunderts durchlebte die Provinz die friedlichste Phase ihrer Geschichte. Statt eines Schußwortes: Fünf Thesen 1. Nicht die bourbonischen Verwaltungsrzformen fuhren zur Stabilisierung in Neu-Mexiko, sondern ihr expansiver Geist und die Verbesserung der materiellen Mittel. 2. Die interethnischen Konflikte in Neu-Mexiko sind nicht auf einen spanisch-indianischen Gegensatz reduzierbar. Die Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Untergruppen der großen Stämme standen denen zwischen Spaniern und Indianern in nichts nach. Auf der anderen Seite bestand zwischen den Spaniern und den Pueblo-Indianern eine Interessengemeinschaft von Dauer. 3. In Neu-Mexiko wird im Zuge der bourbonischen Reformbewegung ein schleichender Dezivilisierungsprozeß umgekehrt. Neben der militärischen ist dies eine erhebliche kulturelle Leistung. Parallel dazu wird gleichwohl eine eigenständige kreolische Siedlungsbewegung gestoppt. 4. Indem es gelingt, sowohl den Indianern als auch den widerstrebenden Weißen die Unverzichtbarkeit friedlichen Miteinanders deutlich zu machen, kann die Comandancia General die tödliche Gefahr, in welcher die Provincias Internas durch die demographischen Verschiebungen auf dem nordamerikanischen Kontinent schwebten, dämpfen, und die schwere und letzthin unvermeidbare Krise der interethnischen Konfrontation für entscheidende Dezennien verschieben. In der Hochphase der Comandancia General werden somit Gebiete erobert und gesichert, die noch für zwei bis drei Generationen spanisch bzw. mexikanisch sein sollten, und die trotz der Übernahme durch die USA ihr Erbe bis heute nicht völlig verloren haben. 5. Das planvolle Vorgehen in Kolonisierung und Ansiedlung, in staatlichem Dirigismus und in der integrierenden Indianerpolitik machen im Beispielsfalle 39

Hierzu Jack August: Balance-of-Power-Diplomacy in New Mexico. Governor Fernando de la Concha and the Indian policy of conciliation, in: New Mexico Historical Review, April 1981. 40 Real Cédula para que el gobernador de Nuevo México cuide del establecimiento de escuelas y uso del idioma castellano, San Lorenzo, 3. Oktober 1803, unter Bezug auf vorangegangene königliche Verfugungen: Richard Konetzke: Colección de documentos para la historia de la formación social de Hispanoamérica, Bd. III/2, Madrid 1962, Nr. 361.

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Neu-Mexiko die deutlichen Unterschiede zwischen der spanischen frontera im Peripheriebereich und der US-amerikanischen frontier deutlich, die sich Ende des 18. Jahrhunderts aufeinander zubewegten und wenige Jahrzehnte später nicht zuletzt in Neu-Mexiko aufeinandertreffen sollten.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay: Eingliederung und Konfrontation Bernd Schröter

Der folgende Beitrag beleuchtet eine sich unter den Bedingungen der »Grenze«1 verankernde Sklaverei in der Banda Oriental del Río de la Plata von 1726 bis 1810. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach dem Stellenwert von wirtschaftlichen, demographischen und kulturell-mentalen Faktoren für den Charakter und die Ausprägung der Sklaverei, ein Problem, das seit den Arbeiten von Tannenbaum und Freyre im Zentrum der historiographischen Auseinandersetzung über die Sklaverei steht. Methodische Orientierungen sind zumeist die unlängst von Magnus Mörner hervorgehobenen Prämissen eines regionalen Vergleichs von Sklavereigesellschaften im portugiesischen und spanischen Amerika.2 Im einzelnen werden zunächst demographische Aspekte, danach Herkunft, Transport und Verkauf sowie die wirtschaftliche, soziale und insbesondere die rechtliche Stellung der Sklaven untersucht. Die folgenden Ausfuhrungen basieren im wesentlichen auf Quellen uruguayischer, argentinischer und vereinzelt auch britischer Archive sowie des Archivo General de Indias (AGÍ) von Sevilla. 3 Besonders bei der Sklavereigesetz1 Vgl. Bernd Schröter: Bemerkungen zu einer Historiographie der Grenze, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 31 (1994), S. 329ff. 2 Vgl. Magnus Mömer: African Slavery in Spanish and Portuguese America: Some Remarks on Historiography and the Present State of Research, in: Slavery in the Americas, hg. v. Wolfgang Binder, Würzburg 1993, S. 57-87. 3 Systematisch wurden folgende Quellen benutzt: Libros de casamientos (Nummer 2-6), Libros de bautismos (2-12), Libros de defunciones (1-6) der Kathedrale von Montevideo (ACM); Libros de bautismos der Kirchen La Merced und Nuestra Señora de la Inmaculalda Concepción von Buenos Aires; Actas de esponsales des Kurialen Archivs von Montevideo sowie caja 291, 1805, Epoca colonial, Creación de curatos en la Banda Oriental, exp. 2-4 (ACuriaM); Aufnahmeanträge für die Venerable Orden Tercera (carpetas VOT, años 1785 a 1800) des Centro de Información y Promoción Ecológico Franciscano (CIPFE); Beitragsbuch des VOT, Archivo del Museo Martín Pérez; Rechtsakten des Nationalarchivs in Montevideo (AGNSJ), Civil 1, legajo 1-168; Notariatsakten des Nationalarchivs in Montevideos (AGNSJ), Protocolos 1760-1810; verschiedene padrones des Nationalarchivs in Montevideo (AGN), ExAGA, Libros 246, 247, 278, 279, 287 und AGN, GyH, diverse Akten ab 1785; Juan Alejandro Apolant: Génesis de la familia uruguaya, Montevideo 1966; Ders.: Operativo Patagonia, Montevideo 1970; Ders.: Padrones olvidados de Montevideo del siglo XVIII, Bd. 1 u. 2, Montevideo 1966, Band 3 - 1 0 , Montevideo 1968; Vicente O. Cicalese: Los esclavos del Sacramento, Montevideo 1983.

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gebung und b e i m Sklavenhandel konnte auch an vorliegende Forschungen angeknüpft werden, w i e w o h l sonst die Sklavenproblematik in der B a n d a Oriental nur eine geringe systematische Bearbeitung erfahren hat. 4 Für die generellen R a h m e n b e d i n g u n g e n der Entwicklung der Sklaverei kann an dieser Stelle nur kurz darauf verwiesen werden, daß es sich bei der Banda Oriental u m eine der typischen Grenzregionen Spanisch-Amerikas handelte, daß dort i m w e s e n t l i c h e n erst in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts eine kontinuierliche und flächengreifende B e s i e d l u n g einsetzte, daß die Viehwirtschaft die Ö k o n o m i e dominierte, die mit d e m comercio

libre

einen enormen A u f -

s c h w u n g nahm, und daß die indianische K o m p o n e n t e für die demographische und gesellschaftliche Entwicklung nur eine untergeordnete R o l l e spielte. 1. H e r k u n f t u n d d e m o g r a p h i s c h e r E f f e k t Wann und w i e der erste Sklave in die Banda Oriental ( a u s g e n o m m e n der Gebiete v o n M i s i o n e s und v o n C o l ö n i a do Sacramento) gelangte, ist bisher nicht bekannt. Es ist anzunehmen, daß dies bereits in den ersten Jahren der spanischen Kolonisation g e s c h a h und w o h l zunächst in Verbindung mit Portugiesen, die auf verschiedene Art und W e i s e als Siedler in den spanischen Machtbereich kamen. S o verfugte der Portugiese und e h e m a l i g e Soldat v o n Colönia

do

Sacramento, Francisco de Acosta, spätestens i m Juli 1731 s c h o n über mehrere 4

Die ersten und bislang einzigen, expliziten und umfangreicheren Behandlungen der Sklaven in der Banda Oriental wurden von dem Schriftsteller und Essayisten Ildefonso Pereda Valdes und dem Historikertrio Petit Muñoz, Narancio und Traibel vorgelegt. Partiell auf historische Quellen gestützt, versucht Pereda in halb wissenschaftlicher, halb essayistischer Weise ein Bild über das Sklavendasein und dessen Rahmenbedingungen zu zeichnen. Vgl. Ildefonso Pereda Valdes: El negro rioplatense y otros ensayos, Montevideo 1937; Ders.: El negro en el Uruguay. Pasado y presente, Montevideo 1965. In dem lediglich zur Verfügung stehenden 1. Band der Arbeit von Petit Mufioz, Narancio und Traibel werden in erschöpfender Weise die allgemeinen und speziell fiir die Banda Oriental geltenden Rechtsgrundlagen sowie einzelne Seiten der Rechtspraxis behandelt. Vgl. Eugenio Petit Muñoz/Edmundo M. Narancio/José M. Traibel Nelcis: Condición jurídica, social, económica y política de los negros durante el coloniaje en la Banda Oriental, Bd. 1, Montevideo 1948. Die weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen beschränken sich auf sehr wenige komprimierte oder auf Einzelbeispiele ausgerichtete Darlegungen. Vgl. Lucía Sala de Tourón/Nelson de la Torre/Julio C. Rodríguez: Estructura económico-social de la colonia, Montevideo 1967, S. 141-145; Homero B. Martínez Montero: La esclavitud en el Uruguay, in: Revista Nacional, t. XI, XIV, XV, XIX, Montevideo 1940-1942; Carlos M. Rama: The passing of the Afro-Uruguayans from caste society into class society, in: Race and class in Latin America, hg. v. Magnus Mörner, New York/London 1970, S. 28-50. Die neuere Arbeit von Erna Isola: La esclavitud en el Uruguay desde sus comienzos hasta su extinción (1743-1852), Montevideo 1975, stand leider nicht zur Auswertung zur Verfügung.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

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Sklaven.5 Die schwierige materielle Situation fast aller Erstsiedler dürfte es allerdings in dieser frühen Zeit noch verhindert haben, daß schon eine größere Zahl von Sklaven in Montevideo anzutreffen war.6 Erst seit den 40er Jahren7 kam ein sehr unregelmäßiger schubweiser Zustrom von Sklaven für den offiziellen Verkauf zustande, der - wie bis zum Ende der 80er Jahre generell für ganz Spanisch-Amerika - an Konzessionen für Privatpersonen oder Kompanien gebunden war. Andere Kanäle für den legalen und illegalen Erwerb von Negersklaven waren zu dieser Zeit Buenos Aires und Colönia do Sacramento. Mit den ersten Sklavenhochzeiten setzte seit 1741 die bodenständige legitime Fortpflanzung von Sklaven ein, der aber schon seit 1733 vereinzelte Taufen von illegitimen Sklavenkindern vorausgegangen waren.8 All diese Entwicklungen führten dazu, daß um 1751 bereits mehr als ein Drittel aller in einem padrön erfaßten vecinos von Montevideo im Besitz von Negersklaven waren; diese stellten dadurch schon nach nur drei Jahrzehnten der Kolonisierung ca. ein Viertel der fest eingesessenen Bevölkerung. 9 Über die Ausweitung der Einfuhrkonzessionen an Privatpersonen und Kompanien erhöhte sich der Zustrom der Negersklaven seit den 70er Jahren erheblich. Das ergab sich nicht unwesentlich aus der 1773 erfolgten de facto Erhebung Montevideos zum puerto ünico für alle aus Übersee im La Plata-Raum einlaufenden Schiffe. Dabei konnten bei der Einfuhr von 5

Vgl. AGNSJ, leg. 1, exp. 3. Nach Meinung einiger Autoren hatte der Erstsiedler Jorge Burgués bereits 1728 einen Sklaven. Vgl. Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 40. 6 Die Preise für die ersten offiziell getätigten Sklavenkäufe Ende der 40er Jahre lagen bei ca. 250 pesos, eine Summe die in den 30er Jahren nicht wesentlich niedriger gelegen haben und bei weitem den Wert des Gesamtbesitzes vieler Siedler überstiegen haben dürfte. Vgl. AGNSJ, Protocolo, año 1760, t. 1, f. 54f., 65f.; t. 2, f. 52f. Die noch geringen Kapitalakkumulationsmöglichkeiten konnten es auch mit sich bringen, daß ein Sklave gegen materielle Güter eingetauscht werden konnte, wie im Falle von Bartolomé Galván, der 1748 für eine entsprechende Anzahl Kühe von Francisco de Herrera einen Sklaven erwarb. Vgl. AGNSJ, leg. 3, exp. 70, f. 1. 7 Nach einer unbelegten Angabe von Rama kam die Einfuhrung von Sklaven auch nach verstärkten Forderungen der Bürger und ihres Stadtrates 1738 stärker in Gang. Vgl. Rama: The passing, S. 30. Für den Beginn des Sklavenhandels im La Plata-Raum wird zumeist auf das Jahr 1742 verwiesen. Vgl. z.B. Elena Fanny Scheuss de Studer: La trata de negros en el Río de la Plata durante el siglo XVIII, Buenos Aires 1958, S. 324; Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 40. 8 Vgl. ACM, Libro 1 de bautismos. 9 Bei dem vom cabildo in Auftrag gegeben Verzeichnis (padrón) wurden 168 steuerpflichtige Haushaltsvorstände mit insgesamt 156 Sklaven beiderlei Geschlechts erfaßt. Man kann davon ausgehen, daß unter besonderer Berücksichtigung des relativ hohen Ledigenanteils bei den erfaßten Militärs jeder Haushaltsvorstand im Durchschnitt 4 Personen vertrat. Vgl. Apolant: Padrones olvidados, Bd. 1, S. 8-29.

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Sklaven auch ausländische Unternehmen beteiligt sein. Das resultierte nicht zuletzt daraus, daß die eigenen, spanischen Versuche des Sklavenhandels nicht von Erfolg gekrönt waren,10 und es zur teilweise massenhaften illegalen Anlandung von portugiesischen Sklavenschiffen unter den verschiedensten Vorwänden gekommen war." So richtete am 27. November 1787 der Gouverneur von Montevideo, Joaquín del Pino, eine von großer Unsicherheit geprägte Anfrage an den Indienminister, Antonio Valdés, wie er sich denn nun hinsichtlich „[...] der in diesem Hafen erwarteten Anlandung von 1000 Sklaven durch zwei englische Fregatten, die die königliche Erlaubnis dafür erhalten hatten [...]",12 verhalten sollte. Als Kontaktperson für dieses Geschäft vor Ort fungierte José de Silva, der die Real Compañía de Filipinas und ihren Vertreter in Buenos Aires, Martin de Sarratea, repräsentierte. Dieser Vorgang belegt auch, daß die durch den rasanten ökonomischen Aufschwung inzwischen enorm gewachsene Nachfrage nach Sklaven selbst höchste königliche Weisungen partiell unwirksam machte, wie die vom 20. Januar 1784, „[...] die den Hafen absolut für alle ausländischen Schiffe verschloß".13 Das wurde möglich durch die ausdrückliche Billigung der in Buenos Aires residierenden Vizekönige.14 Mit der Real Cédula vom 24.11.1791 erfolgte schließlich die zunächst auf sechs Jahre beschränkte freie Einfuhrung von Sklaven auf spanischen und ausländischen Schiffen. In der Folge kam es zur massenhaften Anlandung von Sklaven und zur endgültigen Untermauerung der führenden Position Montevideos als Drehscheibe des Sklavenhandels im südlichen Spanisch-Amerika.15 Von 1792 bis 1796 wurden auf diesem Weg fast 7000 Sklaven eingeführt. 16 10

Vgl. Arturo Ariel Bentancur: Montevideo colonial: Puerto, comercio, industria e inmigración (im Druck befindliches Manuskript), S. 228. Vgl. hierzu auch Bibiano Torres Ramírez: La Compañía Gaditana de Negros, Sevilla 1973; Scheuss de Studer: La trata. " So mußte der Gouverneur Joaquín del Pino beispielsweise allein für das Jahr 1783 dreizehn Ankünfte portugiesischer Schiffe, davon wenigstens sieben mit Sklaven, verzeichnen, von denen mindestens fünf einen Teil (oder mehr) ihrer »schwarzen Ladung« in Montevideo löschten. Vgl. AGI, Buenos Aires, leg. 141, Pino an Gálvez, Nr. 41, 42, 44, 48, 49; ACM, Libro de defunciones, Nr. 3. 12

AGI, Buenos Aires, leg. 141, Pino an Valdés, Nr. 5, f. 1. AGI, Buenos Aires, leg. 333, Sanz an Gálvez, Nr. 290, f. 2. 14 So verwies der Superintendant Paula Sanz 1785 auf den Umstand, daß Schiffe „[...] que vengan con trafico de Negros directamente, o que hayan tenido permiso del anterior Virrey para conducirlos, deven ser admitidos [...]". Ebenda, f. 3. 15 In einem Schreiben vom gleichen Tag (24.11.1791) von Diego de Gardoqui, als Vertreter des abwesenden Conde de Lerma, an den Conde de Floridabianca offenbarten sich wesentliche Beweggründe für diesen Schritt. „El puerto de Montevideo q.e hasta aquí ha estado cerrado para el Comercio libre de Negros, se halla al fin abierto por la vondad del Rey. Como el 13

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

83

N e b e n dieser äußeren Quelle g e w a n n e n seit den 50er Jahren auch die Geburten v o n Sklavenkindern z u n e h m e n d e Bedeutung für das A n w a c h s e n der Sklav e n b e v ö l k e r u n g in der Banda Oriental (vgl. Graphik 1 am Schluß dieses Beitrages). Betrug der Anteil dieser getauften Kinder in den 50er Jahren z w i s c h e n 7 und 10% aller Täuflinge, w u c h s er bis z u m Ende der Kolonialzeit auf 18 bis 2 6 % an. 17 D a s entsprach z.B. für den Zeitraum v o n 1792 bis 1 7 9 4 e i n e m Anteil v o n knapp 5% v o n allen in diesen drei Jahren nach M o n t e v i d e o eingeführten Sklaven. 1 8 D a v o n letzteren allerdings nur ein kleinerer Teil in der Banda Oriental verblieb, dürfte sich der Anteil der vor Ort geborenen Sklaven am jährlichen Z u w a c h s deutlich erhöht und bei ca. e i n e m Fünftel g e l e g e n haben. 1 9 Beobachter der Szenerie am Ende der Kolonialzeit betonten i m m e r w i e d e r den hohen Anteil der negriden B e v ö l k e r u n g M o n t e v i d e o s , v o n d e m die Stadträte 1803 in ängstlich übertriebener W e i s e behaupteten, daß er sogar über d e m der weißen B e v ö l k e r u n g l i e g e n würde. 2 0 U n d tatsächlich waren sie damit für diese Zeit nicht sehr weit v o n der Realität entfernt, denn für 1812 scheint ihre Befürchtung

Rio Janeiro y otros Puertos del Brasil están muy cercanos al nuestro, conbendria, que asi como se va a admitir en él, a los Portugueses que conduzcan Negros, admitiesen los Portugueses en los suyos a las Embarcaciones Españolas que se dediquen a este trafico; la qual producirá utilidades reciprocas a los Dominios de ambos soberanos. En este concepto me manda S.M. lo haga a V.E. para que si la tiene por asequible, se sirva pasar los oficios convenientes a la Corte de Lisboa con el expresado fin; como igualmente para que se admita en sus Establecimientos de la Costa de Africa a las Embarcaciones Españolas que quieran comprar de ellos dichos Negros." AHN, Estado, leg. 4405, exp. 7. " Vgl. Bentancur: Montevideo colonial, S. 230. 17 Vgl. ACM, Libro de bautismos 1 bis 12. 18 So standen für diesen Zeitraum den 3965 eingeführten 190 vor Ort geborene Sklaven gegenüber, d.h. 4,8%. Zur gleichen Zeit weisen die Sterberegister 59 verstorbene Sklavenkinder aus, so daß der Anteil auf ca. 3,3% sinken würde, wenn man die nur schwer kalkulierbare Sterberate der angelandeten negros bozales nicht berücksichtigen würde, die allerdings deutlich über dieser Marke gelegen haben dürfte, wie später noch zu zeigen sein wird. Vgl. ACM, Libro de bautismos, Nr. 6, Libro de defunciones, Nr. 4. " Ein wichtiges Indiz für diese ungefähre Kalkulation stellt das später noch genauer zu beleuchtende Heiratsverhalten der Sklaven für den Zeitraum ab 1792 dar, das für ausgewählte Jahre (1792-1797, 1801-1802, 1808-1810) ausgewertet wurde. Von insgesamt 1153 erfaßten Hochzeiten entfielen 256 auf Eheschließungen von Sklaven, d.h. 22,2%. Von den Eheleuten waren wiederum höchstens 79,3% (204) bei den Männern und höchstens 80,0% (205) bei den Frauen negros bozales, d.h. stammten direkt aus Afrika, bei insgesamt ansteigendem Gewicht zugunsten der nicht dort geborenen. Vgl. ACM, Libro de casamientos, Nr. 3-6. 20 Vgl. Bentancur: Montevideo colonial, S. 248 Anm. 9. Auch der Gouverneur von Montevideo, José Bustamante y Guerra, war zu dieser Zeit der Meinung, „...que es menos el Número de blancos que de Negros...". So zitiert in: Homero B. Martínez Montero: La esclavitud en el Uruguay, in: Revista Nacional (Montevideo) 57 (1942), S. 417.

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dann fast eingetreten zu sein.21 D.h., im Gegensatz zu der bis heute verbreiteten Auffassung von einem Sklavenanteil von maximal 18%, lag dieser in Montevideo weit über 40%.22 Selbst in den Landgebieten wurden diese 18% nur selten unterschritten, und wenn, dann vor der massenhaften Einführung von Sklaven in den 90er Jahren.23 Die damit noch unlängst von Mörner vorgenommene Einstufung der Banda Oriental in die unterste Kategorie bei der Beurteilung der Bedeutung der Sklaverei muß demzufolge stark korrigiert werden.24 Die wesentlichen Gründe für den enormen Anteil der Sklaven an der Bevölkerung am Ende der spanischen Kolonialherrschaft sind zum einen aus ökonomischen Zwängen bzw. Konstellationen erwachsen und zum anderen aus dem Streben nach sozialem Prestige. Beide Bereiche, zusammen mit den rechtlichen Bestimmungen, determinierten in entscheidendem Maße die Art und Weise der Eingliederung der Sklaven in die entstehende Grenzgesellschaft am Rio de la Plata. Sieht man von der zunächst sehr kleinen Gruppe von Sklaven ab, die bereits in Amerika geboren war und an der Seite ihres Eigentümers oder über den Verkauf in die Banda Oriental gelangte, war der erste Schritt zur Eingliederung in die neue Gesellschaft die gewaltsame und schmerzhafte Herauslösung von Teilen der afrikanischen Bevölkerung aus ihrem angestammten Lebensraum.25 Zusammengepfercht in mehr oder weniger große Gruppen, mußten die Sklaven die 21

Ein bruchstückhaftes, aber dennoch repräsentatives Einwohnerverzeichnis Montevideos für 1812 weist 2206 freie Bürger gegenüber 1161 Sklaven aus, d.h. dies entspräche einem Sklavenanteil von 52,6%. Allerdings dürfte er letztlich etwas tiefer angesiedelt gewesen sein, da durch die Wirren der im vollen Gange befindlichen Unabhängigkeitsbewegung nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung, der die Stadt bereits verlassen hatte, aus Sklaven bestanden hatte. Ein Indiz dafür ist die Zusammensetzung der mit José Artigas Ende 1811 die Banda Oriental im Rahmen des berühmten Exodo del Pueblo Oriental verlassenden Teils der Bevölkerung, zu dem auch eine große Zahl vom Bewohnern Montevideos gehörte. Nachweislich schlössen sich dem éxodo insgesamt 4031 Menschen und davon 495 Sklaven an, d.h. 12,3%. Vgl. AGN, EX-AGA, Libro 249; AA, Bd. 6, S. 98-154. 22 Vgl. z.B. Rama: The passing, S. 30f.; Pereda Valdes: El negro, S. 45-47. 23 Selbst in jungen Siedlungsgebieten war bald ein relativ großer Sklavenanteil an der Bevölkerung vorhanden. Er betrug z.B. für Rocha im Jahre 1798 35,9% und für das Gebiet um Melo im Jahre 1824 sogar 54,8%, allerdings unter Einschluß der freien Schwarzen, die aber nirgends mehr als 10% der Einwohner stellten. Vgl. Florencia Fajardo Teran: Historia de la Ciudad de San Carlos. Orígenes y primeros tiempos, Montevideo 1953, S. 285; Germán Gil Villaamil: Ensayo para una historia de Cerro Largo hasta 1930, Melo 1982, S. 92; AGN, ExAGA, libro 246. 24 Vgl. Mörner: African Slavery, S. 64-68. 25 Dabei gehörte zu diesem ersten Schritt die zumeist noch in Afrika zwangsweise erfolgende Massentaufe.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

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Reise über den Atlantik via Amerika antreten. Die zunächst mit Zielen in Brasilien auslaufenden Schiffe hatten in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts in der Regel zwischen 287 und 313 sowie im Extremfall im Jahre 1818 419 Sklaven an Bord.26 Die Schiffe von Eignern aus Montevideo, wie José Milá de la Roca, transportierten demgegenüber durchschnittlich 163 Sklaven. 27 Jedoch kamen auf den Montevideaner Schiffen wesentlich mehr Sklaven auf hoher See ums Leben (27,3%) als bei den über mehr Erfahrung verfugenden und wesentlich länger in diesem Geschäft tätigen Portugiesen und Engländern, wo die Sterberate auf dem Transport zwischen 4,8 und 10,9% lag.28 Allerdings wuchs bei Sklavenschiffen aller Länder mit der steigenden Zahl von Sklaven pro Schiff auch der Anteil der Todesfalle. Schlechte Ernährung und Hygiene sowie das stärkere Zusammenpferchen erhöhte die Seuchengefahr erheblich. So starben auf dem 1812 aus Ilha do Principe in Bahia einlaufenden, extrem mit Sklaven vollgestopften Schiff Espíritu Santo 492 (44,8%) und nur 605 überlebten, und auf der 1799 aus Mocambique kommenden Seguridad des erwähnten Mila de la Roca erreichten 101 (39,3%) von 257 Sklaven ihren Bestimmungsort Montevideo nicht.29 Doch selbst wenn die Sklaven die Überfahrt überlebten, starben viele in den folgenden Wochen und Monaten an den erlittenen Strapazen und durch die Konfrontation mit einer ihnen fremden Kultur und deren Krankheiten.30 Im Jahre 1783 starben z.B. von Januar bis Ende April 52 gerade 26

Public Record Office London (PRO), FO 62, Nr. 220, Chamberlain to Castlereagh, Nr. 6, 6.1.1819, f. 54f.; FO 63, Nr. 168, Strangford an Castlereagh, Nr. 148, f. 169-172. Im März 1803 brachte eine französische Fregatte 410 Sklaven aus Mocambique nach Montevideo. Vgl. AGNBA, IX, 2-10-2, f. 533. 27 Vgl. Bentancur: Montevideo colonial, S. 233, Tabelle 39. 28 Vgl. ebenda. Anfang 1797 kam das spanische Schiff Buen Jardín aus Angola (Banguela) mit 160 Sklaven, von denen 2 an Pocken und 2 an Fieber oder Cholera (Calentura) gestorben waren. Vgl. AGNBA, IX, 2-9-1, f. 68. A m 21.1.1803 informierte der Gouverneur von Montevideo, Bustamante, den Vizekönig über die Ankunft des spanischen Schiffes La Escolástica, die aus Mocambique kommend mit 519 Sklaven die Überfahrt angetreten hatte, von denen 150 starben. Ebenda, IX, 2-10-2, f. 122. Auf einer nordamerikanischen Fregatte unter Kapitän Willian Jainchold (?), die von Gori in Afrika gestartet war, kamen Mitte 1806 von ursprünglich 99 Sklaven nur noch 56 lebend in Montevideo an. Vgl. ebenda, IX, 3-1-1, f. 624. 29

Vgl. ebenda. Vgl. hierzu auch Scheuss de Studer: La trata, S. 326f. Aufgrund der vielen Todesfälle sahen sich die Behörden veranlaßt, immer wieder strenge Quarantäne- bzw. sonstige Schutzbestimmungen zu erlassen. Bereits 1767 war der Stadtrat von Montevideo gezwungen, zur Verhinderung von Ansteckungen dem Kapitän eines Sklavenschiffes die Einfahrt in den Hafen zu verweigern. Er sollte seine »Ware« an anderer Stelle anlanden. Vgl. den unbelegten Hinweis von Pereda Valdes: El negro, S. 41. Diese Praxis kulminierte 1787/88 in der Einrichtung der berüchtigten caserío de los negros, einem Sammellager für die angelandeten Sklaven. Es befand sich zwischen den Bächen Miguelete und 30

Bernd Schröter

86 aus Afrika eingeführte Sklaven ( n e g r o s bozales) 1799 überlebten 17 Sklaven der Republicana

eines e i n z i g e n Transports 31 und

v o n D o n Manuel V á z q u e z die er-

sten Monate nicht. 3 2 D i e Eigentümer der Sklaven waren nach der Anlandung bemüht, ihre » W a r e « schnell zu verkaufen, u m die tödlichen Folgerisiken des Kulturschocks m ö g l i c h s t zu minimieren. D i e Sklaven gelangten über den Verkauf nach vorab angelegten »Bedarfslisten« oder über öffentliche Versteigerung in die Hände ihrer neuen Eigentümer. 3 3 D i e o f f i z i e l l erzielten Preise schwankten j e nach Alter, G e s c h l e c h t und, bei schon länger a n w e s e n d e n Sklaven, eventueller Qualifikation (siehe Tabelle 1). Für qualifizierte Sklaven erzielte man in der Regel höhere Verkaufssummen. 3 4 Für gerade angelandete Sklaven ( n e g r o s bozales)

wurden i m Durch-

schnitt 10% w e n i g e r gezahlt als für die schon länger am Ort weilenden. 3 5

Seco außerhalb der Stadtmauern und des Hafens in der Bahia de Montevideo. In der Nähe des caserío mußten die ankommenden Schiffe ankern, von wo die Sklaven direkt dorthin gebracht wurden. Doch trotz weiterer Maßnahmen, wie der Gründung einer Junta de Sanidad 1804, mußten die Behörden immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf die Abschirmung von Stadt und Hafen gegen die mit den einlaufenden Schiffen verbundenen Seuchen bzw. Ansteckungsgefahren richten. So informierte der Gouverneur von Montevideo im November 1805: „Los negros que introduzcan en este Puerto, serán inmediatamente vacunados si se les advirtiere sin viruelas [...]." AGNBA, IX, 2-10-7, f. 719. Vgl. zu diesem Problem auch Pereda Valdes: El negro, S. 34-36; Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, Bd. 1, S. 470f. 31 Möglicherweise handelte es sich um das portugiesische Schiff Nuestra Señora de los Remedios y San José, das von Rio de Janeiro kommend eigentlich nach Rio Grande unterwegs war und unter Vorgabe eines technischen Schadens am 2. Januar 1783 in den Hafen von Montevideo einlief. Es hatte 200 Sklaven und Holz an Bord. Vgl. ACM, Libro de defunciones, Nr. 3, f. 75ff.; AGI, Buenos Aires, leg. 141, Pino an Gálvez, Nr. 41, 22.2.1783, f. 10. 32 Vgl. ACM, Libro de defunciones, Nr. 4, f. 199vff. 33 Vgl. z.B. AGNSJ, leg. 123, exp. 43, f. 2vff. 34 So wurden 1798 bei einer Taxierung von Negersklaven für einen 24jährigen Schuster 330 pesos veranschlagt, während für nichtqualifizierte 260 (22 Jahre) bzw. 240 pesos (20 Jahre) zu Buche schlugen. Zwei Jahre zuvor wechselte ein 20jähriger Schuster für nur 150 pesos den Besitzer. 1796 verkaufte man einen negro platero von ca. 40 Jahren noch für 190 pesos, während 1785 der Eigentümer eines 18jährigen Sklaven der Handwerker war, gar 500 pesos fuertes erzielte. Vgl. AGN, GyH, caja 37, exp. 24, f. lOv, 11; AGNSJ, leg. 122, exp. 43, f. 2ff.; leg. 125, exp. 86, f. 24; Protocolos, año 1785, f. 645vf. Vgl. auch Sala de Tourón/de la Torre/Rodríguez: Estructura, S. 141. 35 Vgl. ebenda, S. 141.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

87

Tabelle 1: Durchschnittliche Sklavenpreise (in pesos) in Montevideo 178536

Alter (Jahre)

Frauen Anzahl

Frauen Preise

Männer Anzahl

Männer Preise

bis 11

1

150

4

100

12-15

7

225

4

150

16-20

3

300

11

310

21-30

5

270

11

270

über 30

2

290

2

175

total

18

247

32

201

Quelle: AGNSJ, Protocolos, año 1785. Woher stammten die Sklaven in der Banda Oriental? 37 Sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern kam in der ganzen Kolonialzeit der jeweils größte Teil direkt oder über eine Zwischenstation in Brasilien aus Afrika, gefolgt von einer deutlich kleineren Gruppe, die aus Brasilien oder in geringem Maße aus Portugal stammte. Eine jeweils etwa gleich große Anzahl war bereits in der Banda Oriental oder in Buenos Aires sowie den übrigen Provinzen des späteren Vizekönigreiches Rio de la Plata geboren worden (siehe Tabelle 2).

36

Dabei ist hier davon auszugehen, daß es sich in der Regel nicht um negros bozales handelte, da es unüblich war, für diese einen notariell beglaubigten Vertrag aufzusetzen. Zu Preisen für bozales in Buenos Aires für das Jahr 1786 vgl. Scheuss de Studer: La trata, S. 329. Die Preise in Montevideo lagen im Vergleich dazu etwas höher. 37 Den folgenden Betrachtungen liegen die in den Heiratsbüchern der Kathedrale von Montevideo registrierten Hochzeiten der Sklaven von ausgewählten Jahren 1727-1729, 1742-1744, 1752-1754, 1759-1761, 1773-1775, 1782-1797, 1801-1802 und 1808-1810 zugrunde. Vgl. ACM, Libro de casamientos, Nr. 1-6.

88

Bernd Schröter

Tabelle 2: Herkunft der in Montevideo heiratenden Sklaven in Prozent (ausgewählte Jahre)

Herkunft

1727-1810 Fr. Mä.

1727-1776 Fr. Mä.

1777-1791 Fr. Mä.

unbekannt

37,5 26,7

61,3 61,5

65,2 46,6

21,1

14,2

Brasil./Portugal

7,3 6,9

3,2

3,8

5,3

5,9

8,7

7,8

Kolonien*

0

0,5

0

0

0

0

0

0,8

Buenos Aires

4,2 3,2

0

0

3,1

2,5

5,3

3,9

4,2 4,4

9,7

3,8

0,8

1,6

5,3

5,8

46,9 58,2

25,8 30,8

25,8 43,2

59,8 67,7

100,0 100,0

100,0 100,0

100,0 100,0

100,0 100,0

Banda Oriental Afrika total

1792-1810 Fr. Mä.

* Kolonien anderer europäischer Mächte in Amerika. Quelle: ACM, Libro de casamientos, Nr. 1-6. Bei den aus Afrika in die Banda Oriental eingeführten Sklaven dominierten während der ganzen Kolonialzeit diejenigen, die als Herkunftsregion Angola bzw. Banguela oder andere dort befindliche Gebiete angaben. Die engere Heimat einer ansteigenden Zahl waren der Kongo oder die Goldküste (Mina). Zum Ende der Kolonialzeit kamen neue Herkunftsregionen hinzu, aus denen bis dahin keine oder nur wenige Sklaven stammten. Die bedeutendsten von diesen waren Mocambique und Mojumbe. Insbesondere Mocambique gehörte nach der Freigabe des Sklavenhandels 1791 zu den bevorzugten Zielgebieten der Unternehmungen von Kaufleuten aus Montevideo. Allein von sieben der von dem Kaufmann Mila de la Roca zwischen 1797 und 1800 ausgerüsteten Sklavenschiffe hatten 5 die dortige Küste als Ausgangspunkt (siehe Tabelle 338).39 38

Durch die phonetische Übertragung der Herkunftsregionen in die Heiratsregister durch die Geistlichen ist deren genaue geographische Bestimmung erheblich erschwert. Es könnten sich

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

89

Tabelle 3: Herkunftsregionen der afrikanischen Sklaven nach deren A n g a b e n bei den Eheschließungen in M o n t e v i d e o (in Prozent) Herkunft

unbekannt Angola Angola-Banguela

1727-1810

1727-1776

Fr.

Mä.

6,0

0

0

0

14,5

0

0

4 0 , 3 34,5

100,0

7,5

Fr. Mä.

62,5

1777-1791

1792-1810

Fr. Mä.

Fr. Mä.

5,9

6,3

0

23,5 2 1 , 6

4,4

13,1

47,1 4 9 , 0

35,8 29,0

0

0,5

3,8

0

0

0

0

0,6

Lubolo/Volo

14,4

5,5

0

12,5

8,8

7,8

16,3 4,5

Kongo

8,0

14,5

0

12,5

2,9

11,8

9,4

15,3

Mina

5,5

10,2

0

0

3,0

5,9

6,3

11,9

Mojumbe

2,0

3,0

0

0

0

0

2,5

4,0

Mocambique

5,5

5,1

0

0

0

0

7,0

6,8

andere

10,3 8,9

0

12,5

8,8

3,9

10,7 10,8

total

100

100

100

100

100

100

Camunda (?)

100

5,1

100

Quelle: ACM, Libro de casamientos, Nr. 1-6. folgende Zuordnungen ergeben: 1. Lubolo bzw. Volo = inneres Angola; 2. Mojumbe = Majumba bzw. Majoumba an der Goldküste; 3. mit Camunda könnte Cabinda gemeint sein; 4. in die Spalte „andere" gingen u.a. folgende Herkunftsbezeichnungen ein: Casanchi = Kasanchi im inneren Angolas (jeweils 3 Männer und Frauen ab 1792); Ambaca = Ambaka am Fluß Kongo (1 Mann bis 1776); Muchame möglicherweise Muschima in Angola (2 Frauen ab 1792). Vgl. Andree, R., Allgemeiner Handatlas, Bielefeld und Leipzig 1881, S. 94 und 3. Ausgabe 1896, S. 117, 119. Zur Herkunft der Sklaven im La Plata-Raum und auch in der Banda Oriental vgl. auch Scheuss de Studer: La trata, S. 324f. und Martinez Montero: La esclavitud, S. 416f. 39 Vgl. Bentancur: Montevideo colonial, Tabelle 38, S. 231.

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Bernd Schröter

2. Die wirtschaftliche Eingliederung der Sklaven War der erste Schritt der gewaltsamen Einverleibung der Sklaven vollzogen, das heißt, Anlandung und Verkauf, erfolgte deren Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Gefiige der Kolonialgesellschaft. In wirtschaftlicher Hinsicht herrschte in den ersten Jahrzehnten der Einsatz der Sklaven in der Hauswirtschaft vor, in erster Linie bei den Eigentümern, die nur über einen Sklaven oder eine Sklavin verfugten. 40 Mit sich entfaltender Wirtschaftstätigkeit wurde dann eine zunehmende Zahl von Sklaven in nahezu allen Zweigen des Produktions- und Dienstleistungsbereichs eingesetzt, so in den Bäckereien und Mühlen, den Produktionsstätten von Kerzen, Möbeln und Schmierstoffen, im Baugewerbe, offenbar besonders häufig als Schuster, im Transport-, Lager- und Hafensektor sowie später in der entstehenden Pökelindustrie. 41 Sogar im hochspezialisierten Handwerk, wie bei den Juwelieren, waren sie beschäftigt. 42 Verpachtungen von Sklaven waren üblich, und wohl nicht selten stellte ihre Arbeitsleistung die entscheidende Einkommensquelle wenig begüterter Personen dar. So beklagt z.B. eine Sklavenbesitzerin die äußerst negativen Folgen der Haft ihres einzigen Sklaven, „[...] da ihr ganzes Einkommen aus dem besteht, was er mit seiner Arbeit produziert". 43 Dagegen waren sie in den Verkaufseinrichtungen, insbesondere in den pulperías und bei den qualifizierten Handwerkern im Hafenbereich kaum oder gar nicht anzutreffen. 44 Mit dem zunehmenden Aufschwung des Ackerbaus, aber insbesondere der Viehnutzung, überschritten die Sklaven dann auch die Grenzen Montevideos und wurden bald eine unverzichtbare Arbeitskraft in der Landwirtschaft. Man setzte sie dort zum großen Teil als wichtige Ergänzung zu den Familienarbeitskräften, den agregados und den bezahlten peones ein und das sowohl auf den Viehwirtschafts- (estancias) als auch auf den Ackergütern {chacras). Von An-

40

Vgl. den padrón von 1751, Apolant: Padrones olvidados, S. 8ff. Vgl. AGN, GyH, caja 37, exp. 24, f. lOv, 11; AGNSJ, leg. 122, exp. 43, f. 2ff.; leg. 38, exp. 38, f. 4v; protocolo, año 1785, f. 645vf.; ACuriaM, Causas varias, año de 1809, f. 1. Vgl. auch Sala de Tourón/de la Torre/Rodríguez: Estructura, S. 142; Bentancur: Montevideo colonial, S. 184. 42 Vgl. AGNSJ, leg. 125, exp. 86, f. 24. 43 ACuriaM, causas varias, año 1809, f. 2. 44 Zu den vermutlich wenigen Ausnahmen gehörte etwa der Sklave von Francisco Ortiz, José Antonio, der um 1804 als Kalfaterer im Hafen arbeitete, einer Tätigkeit, die vergleichsweise sehr hoch bezahlt wurde. Vgl. AGNSJ, leg. 153, exp. 24, f. 1. 41

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

91

fang der 50er Jahre bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stellten die Sklaven knapp ein Fünftel aller in der Landwirtschaft tätigen Arbeitskräfte. 45 Tabelle 4: Anteil der Sklaven an den festangestellten Arbeitskräften in der Landwirtschaft 1752-1805 (ausgewählte Jahre)

Landgut

Familienarbeitskräfte

peones

agregados

Sklaven

chacra

380 44,1%

110 12,8%

246 28,6%

125

estancia

223 19,4%

280 24,4%

412 35,8%

234 20,4%

1149

total

603 30,0%

390 19,4%

658 32,7%

359 17,9%

2010

6,9%

total = 100% 861

Quelle: ACuriaM\ Apolant, Padrones olvidados, op. cit. Auf einzelnen Besitzungen spielten sie eine dominierende Rolle und traten dort auch in entsprechend hohen Konzentrationen auf. Auf diesen Gütern waren die Sklaven zum Teil völlig unter sich, d.h., auch der Verwalter stammte aus ihren Reihen. 46 Auf 2,6% der Ländereien traf diese Situation zu und auf weiteren 6,6% arbeiteten ausschließlich Sklaven unter einer anderen (Aufsichts-) Person. Dabei handelte es sich zumeist um Güter, die den Spitzen der Gesellschaft gehörten, wie dem Durân-Clan, Bartolomé Pérez, Manuel Solsona, Mateo Gallego und dem zu seiner Zeit reichsten und über großen Einfluß verfugenden Francisco de Alzaybar; auch Ländereien der Jesuiten waren darunter. 47 45

Siehe das Kapitel über die Kolonisierung und Landnahme in der vorliegenden Arbeit. Die Berechnungen beruhen auf insgesamt 542 Landgütern (233 estancias und 309 chacras) für die in drei zeitlichen Zäsuren (1752, 1773 und 1805) die jeweils eingesetzten festangestellten Arbeitskräfte, d.h. peones, die zur Eigentümer- bzw. Nutzerfamilie gehörigen Arbeitskräfte, die agregados und die Sklaven, ermittelt werden konnten. Die entsprechenden Daten wurden im wesentlichen aus drei padrones der Jahre 1751/52, 1772/73 und 1804/05 entnommen. Vgl. Apolant: Padrones olvidados, S. 8ff. u. S. 50ff.; ACuriaM, caja 291, Epoca colonial, Creación de curatos en la Banda Oriental, exp. 2-4. 46

Zur konkreten Situation auf einer estancia von Juan Francisco García de Zúñiga um 1786 vgl. AGNSJ, leg. 75, exp. 81, f. lv-3v. 47 Vgl. ACuriaM, carpeta: creación de curatos, 1805, C. 291, f. 39, 41, 42, 46, 48f.; ebenda, Padrón Trinidad, Bl. 12, 16, 17; Apolant: Padrones olvidados, Bd. 1, S. 8; 417f.; ebenda, Bd. 2, S. 10; AGN, GyH, Expedientes encuadernados y traídos de Buenos Aires, Nr. 59/60, S. 3f.;

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Diese generelle Konstellation verdeutlicht, daß zwar ein größerer Teil der Sklaven in der Hauswirtschaft und im städtischen Bereich arbeiten mußte, sie aber auch in der Landwirtschaft eine bedeutende Rolle spielten. Dies traf insbesondere für die Viehwirtschaft zu. Die Sklaven gehörten damit zu einer wichtigen Säule der Kolonisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Nur wenige zeitgenössische Zeugnisse weisen den in ihrem produktiven Einsatz bestehenden direkten Beitrag für diesen Aufschwung aus, doch das um so prägnanter. 1795 hoben die in einer Junta versammelten Landbesitzer angesichts mangelnder freier Arbeitskräfte die nachgerade existentielle Rolle der Sklaven für den Betrieb der Güter hervor: „Es gibt Fälle, bei denen die, die nicht auf Sklaven zurückgreifen können, mit unsäglichem Schmerz ihre Besitzungen dem Verfall entgegengehen sehen, weil sie keine Leute gegen Bezahlung finden können [...]".48 Doch auch »im kleinen« trugen die Sklaven erheblich zum ökonomischen Aufstieg der Region bei. So erwirtschaftete der Sklave Manuel Correa seinem Herren, Tomás de Aranzana, nach seinen eigenen Angaben ca. 12 pesos Gewinn pro Monat und das über 12 Jahre. Damit hatte er bereits nach zwei Jahren seinen ursprünglichen Kaufpreis erwirtschaftet. 49 Doch auch fast 40 Jahre vor dieser Taxierung setzte man den zu erwartenden reinen Arbeitsertrag eines Negersklaven schon hoch an. Im Jahre der Ausweisung der Jesuiten 1767 forderte ein Bürger Montevideos, José de Torres, daß ihm sein Schuldner, Marcelo Fernández, an Stelle der noch ausstehenden Gelder, seinen Sklaven für eine entsprechende Zeit zur Verfugung stellen sollte. Nach Abzug der Unterhaltskosten kalkulierte Torres drei reales für die Arbeitsleistung pro Tag, so daß ein Gewinn von ca. 9 pesos im Monat zu erwarten war. 50 Bei einem durchschnittlichen Arbeitsleben von 20 bis 25 Jahren konnte ein produktiv arbeitender Sklave wenigstens das Zehnfache seines ursprünglichen Kaufpreises einbringen. So erwies sich nicht nur der Sklavenhandel sondern auch der Arbeitseinsatz der Sklaven als eine wichtige Akkumulationsquelle von Geld und Macht in der Banda Oriental. In diesem Bewußtsein und unter diesen Bedingungen erfolgte teilweise auch die weit über die engere ökonomische Sphäre hinausgehende soziale Eingliederung der Sklaven.

21vff., 58; Lucía Sala de Tourón/Julio C. Rodríguez/Nelson de la Torre: Evolución económica de la Banda Oriental, Montevideo 1967, S. 23f.; Revista del Archivo General Administrativo, t. II, S. 64 u. 185. 48 AA, Bd. 2, S. 5. 49 Vgl. Sala de Tourón/de la Torre/Rodríguez: Estructura, S. 141 f. 50 Vgl. AGNSJ, leg. 38, exp. 35, f. 6f., 18.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

93

3. Die soziale Eingliederung Noch bleiben viele Seiten des konkreten, alltäglichen Lebens der Sklaven in der Banda Oriental im Dunkeln und bedürfen - über Einzelbeispiele hinaus weitergehender Forschungen. Das gilt auch für eine Differenzierung der bisher in der Historiographie feststellbaren Polarität bei der Einschätzung des Sklavendaseins. Für diese Polarität kann man einerseits stellvertretend die Meinung wiedergeben, nach der „[...] es fast eine Selbstverständlichkeit der Historiographie des La Plata-Raumes ist, den Lebensbedingungen der Sklaven in anderen Regionen Amerikas, die breit belegten wesentlich günstigeren der Sklaven von Buenos Aires und Montevideo gegenüberzustellen". 51 Das wird vor allem auf das Fehlen von Bergwerken und Plantagen sowie auf den hohen Anschaffungspreis fur Sklaven zurückgeführt. Andererseits, nahezu im gleichen Atemzug, wird betont: „Aber der Sklave wurde hart bestraft" und er sah sich „[...] tausender Arten der Demütigung und Erniedrigung f...]"52 ausgesetzt. Zweifellos schlagen beide Aspekte schwerwiegend zu Buche. Doch zwei Gesichtspunkte, die sich gerade aus der vergleichenden Betrachtung anbieten, haben nicht weniger Gewicht. Zum einen kamen die mehrheitlich erst vor kurzem gewaltsam entwurzelten Sklaven in eine noch weitgehend ungefestigte, sehr dynamische Gesellschaft, die mit den vielseitigen Begleiterscheinungen der Grenze konfrontiert war und deren Mitglieder selbst in großer Zahl einen weitgehenden Bruch mit ihrer bisherigen Lebenswelt gerade hinter sich gebracht hatten. Beide Seiten mußten sich so, natürlich in ungleicher sozialer Position, oft ihrer neuen Situation erst bewußt werden, Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Handelns abstecken. Zum anderen trafen beide in einem Rechtsraum aufeinander, in dem - geprägt durch bereits mehrhundertjährige Praxis und Erfahrung - relativ klare Pflöcke eingeschlagen waren, der ihnen aber zunächst weitgehend unbekannt und zudem durch die bourbonischen Reformen in Bewegung geraten war. Diese grenztypische Konstellation barg eine Vielzahl von Folgewirkungen und Begleiterscheinungen in sich, die für das Dasein des Sklaven und seine Eingliederung in die Gesellschaft von erheblichem Gewicht sein konnten. Das gilt insbesondere für die komplexen Problemfelder der noch im vollen Fluß befindlichen Ausprägung autochthoner Werte und der Übernahme gesellschaftlicher Werte aus der Alten Welt durch die Siedler. Ebenso wichtig waren die konkreten Folgen des Grenzcharakters der Region für das Rechtssystem, wie geringe Präsenz und Durchsetzungskraft der Behörden, Sonderprivilegien etc. Von der

51 52

Sala de Tourón/de la Torre/Rodriguez: Estructura, S. 144. Ebenda.

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Behandlung dieser Problemfelder muß im folgenden weitgehend abgesehen werden. Lediglich einzelne wichtige Aspekte der Rechtssituation und davon ausgehend der Bewegungsspielräume und -grenzen der Sklaven sollen Betrachtungsgegenstand sein, da sich hier ein besonders unmittelbarer Zugang zum Leben der Sklaven, nicht selten aus ihrer eigenen Perspektive, ergibt. Als wichtigster Bezugspunkt für die Analyse der Stellung des Sklaven fungiert dabei das Verhältnis zwischen Herr und Sklave, als dem zentralen Scharnier für die Eingliederung der Sklaven in ihre neue gesellschaftliche Umwelt und für ihre Konfrontation mit den veränderten Lebensbedingungen. Die bereits geschilderte wirtschaftliche Funktion der Sklaven ging damit einher, daß es in der Regel zu keiner räumlichen Separierung und Abschließung der Sklaven in der Banda Oriental kam. Im Gegenteil, die meisten der in der Stadt, aber auch auf dem Lande arbeitenden Sklaven wohnten im unmittelbaren Umfeld ihrer Herren, fast immer in deren Häusern,53 die kaum über spezielle, separierte Räume für sie verfugten wie etwa in brasilianischen oder kubanischen Gebieten.54 Insbesondere die Frauen, die für die Hauswirtschaft verantwortlich waren, wohnten nicht selten Wand an Wand mit ihren Herren. Im Jahre 1757 verfugten von 210 allein 55 Haushalte in Montevideo über genau eine Sklavin, von der mit großer Sicherheit angenommen werden kann, daß diese fast immer im Haus ihrer Herren lebte und für den Haushalt zuständig war.55 Eine gewisse Separierung erfolgte offensichtlich nur dort, wo die größere Anzahl der Sklaven dies erforderte, wie auf einzelnen estancias und chacras oder bei einigen größeren Produktionsbetrieben wie saladeros, Kalköfen, Ziegelbrennereien oder, wie im Falle des almacenero Fernando Ortiz, dessen 5 Sklaven in der Dachkammer über dem Lager wohnten. 56 Ebenso konnte es dazu kommen, daß freie Arbeitskräfte zusammen mit Sklaven untergebracht waren, so auf der estancia von Sebastián Rivero im Sommer 1745.57 Die im Handel oder Handwerk beschäftigten 53

Dies belegen die überlieferten padrones von Montevideo und einzelner Dörfer über den gesamten Betrachtungszeitraum, die nur selten gesonderte Häuser, außer dem der Eigentümerfamilie, aufweisen. Vgl. u.a. Padrones de Minas, AGN, ExAGA, libro 287; „Padrón general de los avitantes q.e existen en la calle de S.n Joaquín [...]", ebenda, libro 251; „padrón de las Familias [...] en los Part.s de Piedras, Puntas del Canelón y Arroyo Colorado", ebenda, libro 279; padrón von Montevideo vom 1.Oktober 1757, AGNBA, Biblioteca Nacional, leg. 190, Nr. 016357. 54 Vgl. Pereda Valdes: El negro, S. 68f. 55 Vgl. AGNBA, Biblioteca Nacional, leg. 190, Nr. 16357. 56 Vgl. AGNSJ, leg. 153, exp. 24, f. 3v. 57 Vgl. AGNSJ, leg. 2, exp. 51, f. 3v. Ähnlich war es auch auf den Ländereien von Victorio Turreiro 1791. Vgl. ebenda, leg. 99, exp. 37, f. 1.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

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Sklaven mieteten mitunter eigene Zimmer. Diese räumliche Trennung von Sklave und Herr, die in wenigen Fällen auch über den Río de la Plata hinweg reichen konnte, 58 betraf aber nur einen kleinen Teil der Sklaven. Zumeist blieben sie in engem räumlichen Kontakt mit ihren Besitzern. Das leistete in Verbindung mit der geringen Anonymisierung dieses Kontaktes durch fehlende größere Sklavenkonzentrationen einem persönlichen, patriarchalischen Verhältnis zwischen Herr und Sklave Vorschub. Als Zeugnisse dafür können die zumeist in den Testamenten verfugten Freilassungen von Sklaven angesehen werden. Zum Teil erfolgten diese Freilassungen ohne weitere Bedingungen, oft „[...] als Ausgleich für die Mühe und Treue [,..]" 59 mit der sie ihrem Eigentümer gedient hatten. Andere Züge dieses patriarchalischen Verhältnisses wurden sichtbar, wenn sich der Herr bei angeblichen oder wirklichen Verfehlungen seines Sklaven schützend vor ihn stellte oder umgekehrt, die Sklaven sich bei Konflikten treu zu ihrem Herren verhielten. 60 Auch die Erziehung von Nachkommen der Sklavinnen im Rahmen der eigenen Familie war Ausdruck eines patriarchalischen Verhältnisses, besonders wenn es sich um eigene »Bastarde« handelte. So hatte die zu den reichsten Familien Montevideos gehörige Doña Inés Durán ein Mulattenmädchen „[...] seit 13 Jahren mit der ihr eigenen und gebotenen religiösen Verpflichtung aufgezogen und erzogen [...]",61 und Pedro Xénez Castellanos ließ die Sklavin Benita in seinem Hause aufwachsen. 62 Auch im Umfeld des Heiratsgeschehens sind Elemente patriarchalischen Verhaltens festzustellen, etwa wenn die Eigentümer oder Mitglieder von deren Familien als Trauzeugen bei Sklavenhochzeiten fungierten oder gar Patenschaften für die Kinder von Sklavinnen übernahmen. 63 Besonders markant könnten sich patriarchalische Verhaltensweisen gezeigt haben, wenn die heiratenden Partner gemeinsame Eigentümer hatten und diese als Trauzeugen in Erscheinung traten. Bei der Eheschließung von Isabel und Pedro 1796 war z.B. ihr Herr Don Juan Fernández Trauzeuge, bei Fatima und Joaquín im Jahre 1809 ihre Herrin Doña 58

Vgl. z.B. AGNSJ, leg. 38, exp. 38, f. lvff. AGNSJ, Protocolos, año 1805, t. 1, f. 86. Vgl. z.B. auch ebenda, f. 447v, 526v. 60 Ein typisches Beispiel hierfür stellen die Sklaven des vecino vom Bach Miguelete, Victorio Turreiro, dar. Die Sklavin eines mit ihrem Herrn verfeindeten Nachbarn wurde während eines Krankenbesuchs bei einer befreundeten Sklavin im Hause von Turreiro ergriffen und verprügelt. Als es zum Prozeß kam, sagten alle seine Sklaven wider besseren Wissens für ihren Herrn und gegen die eigene Leidensgefährtin aus. Vgl. AGNSJ, leg. 37, f. 1 ff. 61 Vgl. AGNSJ, leg. 39, exp. 18, f. 2f. 62 Vgl. AGNSJ, Protocolos, año 1785, t. 1, f. 86. 63 Vgl. z.B. ACM, Libro de casamientos, Nr. 3, f. 18vf.; Nr. 4, f. 84; Nr. 3, f. 147 u. ACuriaM, Esponsales, leg. 4, año 1783, exp. 76. 59

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Margarita de Viana, eine Tochter des ersten Gouverneurs von Montevideo. 64 In einigen wenigen Fällen handelte es sich sogar um Sklavenpaare, bei denen beide zusammen aufgezogen worden waren, so wie bei Maria und José, criados von Hauptmann Vicente Saavedra. 65 In wahrscheinlich nur wenigen Fällen konnte der Sklave aus den patriarchalischen Beziehungen auch Eigentum erlangen, wohl vor allem durch testamentarische Verfügungen. Auf diesem Weg erbte der Sklave Manuel 100 Rinder seines verstorbenen Eigentümers Domingo Santos de Uriarte. 66 Aber auch andere Formen des Erwerbs von Eigentum waren möglich, 67 die sich nicht von patriarchalischen Beziehungen ableiteten und eher auf der Basis gegenseitigen Nutzens entstanden. Wie in anderen Regionen Spanisch-Amerikas, 68 kam es in der Banda Oriental, wie bereits erwähnt, neben dem Verleih bzw. der Vermietung der Arbeitskraft des Sklaven, ansatzweise auch dazu, daß ausgebildete Sklaven aus der direkten Abhängigkeit ihres Herren entlassen wurden und auf sich gestellt, den eigenen Unterhalt und einen vereinbarten Betrag für ihren Eigentümer erwirtschaften mußten. 69 Den Überschuß konnten sie aber als Gewinn, als ihr Eigentum verbuchen. 70 Das wurde nicht selten zur wichtigsten finanziellen Quelle für den angestrebten Freikauf. 4. Desintegration und Konfrontation Viel deutlicher und häufiger als die patriarchalischen sind die konfliktbeladenen Seiten des Verhältnisses zwischen Herr und Sklave dokumentiert. Diese Seiten der Konfrontation und deren Öffentlichkeit verdeutlichen sowohl die in-

64

Vgl. ACM, Libro de casamientos, Nr. 4, f. 115; Nr. 6, f. 88. Vgl. ACM, Libro 1 de militares, f. 18v. 66 Vgl. AGNSJ, leg. 8, exp. 11, f. 1. 67 So ließ sich ein Negersklave z.B. eine Gitarre bauen, die sein Eigentum war. Vgl. AGNSJ, leg. 38, exp. 38, f. 4v. 68 Vgl. z.B. Richard Konetzke: Einige Grundzüge der geschichtlichen Besonderheit Lateinamerikas auf der westlichen Hemisphäre, in: Lateinamerika. Entdeckung, Eroberung, Kolonisation. Gesammelte Aufsätze von Richard Konetzke, hg. v. Günter Kahle und Horst Pietschmann, Köln/Wien 1983, S. 679. 69 Vgl. ACuriaM, causas varias, año 1809, f. 2. 70 Dieser Mechanismus macht deutlich, warum sich der Eigenbesitz (Peculium) des Sklaven auch in der Banda Oriental entwickeln konnte, obwohl er in den Festlegungen der Siete Partidas über die Sklaven nicht vorgesehen war. Zu den Rechtsgrundlagen für den Erwerb von Eigentum durch die Sklaven vgl. Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 215f., 219221. Die Autoren unterscheiden zwischen einem auf den Freikauf gerichteten und einem frei verfügbaren Peculium. 65

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dividuelle Haltung der Betroffenen als auch die Haltung der Gesellschaft in Gestalt ihrer Rechtsprechung zur Eingliederung und Behandlung der Sklaven. Ein markantes Merkmal des konfrontativen Umgangs zwischen Herr und Sklave bzw. zwischen Weißen und Sklaven war die häufig in den Vordergrund rückende unmittelbare Gewalt. Sie wurde von beiden Seiten zur Anwendung gebracht, wenngleich weit häufiger von Seiten des Sklavenbesitzers. Die Spannweite dieser Gewalt reichte von der allgemein in der Gesellschaft verbreiteten, alltäglichen impulsiven Gewalt, über die von verbreiteten Klischees und Vorurteilen getragene Gewaltanwendung bis hin zur systematischkontrollierten Gewalt. Die alltägliche Gewalt wurde geboren aus einem komplizierten Geflecht von charakterlich-mentalen und mehr oder weniger deutlichen rassistischen Befindlichkeiten der betroffenen Personen. 71 Nicht selten war hierfür die pulpería bzw. der Alkohol der Ausgangspunkt und Nichtigkeiten des Alltags der Anlaß. So hatte Juan Antonio, Sklave von Marcos Pérez, unter Schikanen zu leiden, „[...] welche [sein Herr] gewöhnlich anwandte [...]". Einmal, „[...] aus keinem anderen Grund als dem, daß er mich [...] zur Messe schickte und nachdem ich seine eigenen Anordnungen befolgt hatte und nachdem ich zum zweiten Mal zur Messe ging, wollte er mich [deshalb] bestrafen [...]"; und ein anderes Mal „[...] hatte er seinen Herren um einige Unterhosen gebeten, und lediglich deswegen hatte er mich dreizehn Tage eingesperrt und mir jeden Tag die ungerechte und schwere Strafe von 50 Stockschlägen gegeben". 72 Klischees und Vorurteile, deren Ursprünge zumeist in den Urgründen weißen Überlegenheitsgefíihls gegenüber den seit Jahrhunderten herabgewürdigten Schwarzen zu suchen sind und die auf die verschiedenste, wohl konkret kaum noch nachvollziehbare Weise Eingang in das Bewußtsein der Siedler in der Banda Oriental gefunden haben, waren nicht selten Grund für Gewalt gegen die Sklaven. Teilweise fanden diese Vorurteile Nahrung durch selbst erlebtes bzw. kolportiertes »Fehlverhalten« und durch Ausbrechen der Negersklaven aus den

11

Zumeist wird in der Historiographie davon ausgegangen, daß sich rassistische Verhaltensweisen explizit und systematisch erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts - im Anschluß an eine Phase des »Proto«-Rassismus - ausgeprägt hätten. Vgl. z.B. Imanuel Geiss: Geschichte des Rassismus, Frankfurt a.M. 1988, S. 14, 18-20. Im Gegensatz dazu ist für die spanische Welt auf das Problem der de facto staatlich und moralisch sanktionierten „Reinheit des Blutes" (limpieza de sangre) und davon abgeleitete rassisch determinierte Verhaltensmuster hinzuweisen. Diese Verhaltensmuster hat es auch in der Banda Oriental gegeben. Deren Behandlung würde aber den gesetzten Rahmen diese Kapitels sprengen. 72 Vgl. AGNSJ, leg. 129, exp. 29, f. lf.

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ihnen gesetzten Grenzen, etwa durch Diebstahl und Ungehorsam. 73 Als Ausdruck dieser Vorurteile ist der Überfall von zwei Brüdern auf einen Sklaven anzusehen, der sich 1786 ereignete. Anlaß war die Suche nach einem abhanden gekommenen Pferd, bei der die Brüder auf einen ihnen völlig unbekannten Sklaven stießen, der gerade dabei war, ein Pferd zu satteln. Die vermeintliche Ähnlichkeit mit dem gesuchten Pferd genügte, den Sklaven des Diebstahls zu bezichtigen und ihn anzugreifen. Bald stellte sich heraus, daß das Pferd dem Herren des Sklaven gehörte und kaum Ähnlichkeit mit dem gesuchten auf74

wies. Die systematische kontrollierte Gewaltanwendung erfolgte vor allem zur Disziplinierung der Sklaven, um sie möglichst bedingungslos dem Eigentümer unterzuordnen. In diesem Sinne versuchte der Großhändler Francisco Ortiz, die trotz seiner mehrmaligen Interventionen - fortgesetzten Diebstähle seiner Sklaven durch eine Züchtigung des Schuldigen endgültig und demonstrativ zu beenden, was zum Tod des Sklaven Fernando führte. 75 Doch wie in anderen Regionen des spanischen Imperiums zeigten sich die Sklaven in der Banda Oriental durchaus in der Lage, Formen des Widerstandes gegen die sie umgebende Gewalt und Reglementierung hervorzubringen, ohne daß es hierfür bereits bodenständige Traditionen gegeben hätte. Die wohl verbreitetste Form war sicherlich die alltägliche Obstruktion »der kleinen Nadelstiche«, insbesondere durch Frauen. Die zweite Möglichkeit bestand darin, Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Das bedeutete, den Herrn zu töten und entweder darauf zu hoffen, nicht überfuhrt oder dadurch zur Flucht aus der Gesellschaft gezwungen zu werden. Diese Art von Geschehnissen gehörte allerdings zu den absoluten Ausnahmen in der Banda Oriental, obwohl 1803 eine gewisse Sklavenfurcht in Montevideo aus Anlaß eines solchen Deliktes aufkam. 76 Zwischen 1730 und 1810 sind lediglich drei Fälle der Tötung des Herrn durch seine Skla-

73

Ein typisches Beispiel eines „ladrón" unter den Sklaven, war der Mulatte Cayetano, der, trotz mehrmaliger Gefängnisstrafen, immer wieder Diebstähle beging. Vgl. AGNSJ, leg. 75, exp. 78. 74 Vgl. AGNSJ, leg. 74, exp. 63, f. lff. 75 Vgl. ebenda, leg. 153, exp. 24, f. lff. Viele weniger dramatisch ausgehende und eher »alltägliche« Beispiele der Gewalt gegen Negersklaven schimmern durch die verschiedensten Fälle, die vor den beiden Stadtrichtern Montevideos verhandelt wurden, und es ist anzunehmen, daß das nur die Spitze des Eisberges darstellte. 76 Vgl. Bentancur: Montevideo colonial, Anm. 9, S. 248.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

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ven überliefert, 77 was wohl nur zu einem geringen Teil auf die drohende Todesstrafe und die blutige Art ihrer Vollstreckung zurückzuführen sein dürfte. Eine dritte Variante, sich der Gewalt zu entziehen, war die bewußte Herauslösung aus den gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen, die Flucht. Aus der Grenzsituation erwuchsen hierfür außerordentlich günstige Konstellationen. Zum einen konnte man relativ rasch dem Zugriff der lange Zeit ohnehin auf nur wenige Punkte konzentrierten spanischen Behörden entkommen, und zum anderen boten Schmuggel und Schmuggler eine nahezu ideale logistische Basis. Zudem war man im portugiesischen Machtbereich weitgehend und auf Dauer vor den Spaniern sicher, verbunden mit dem möglichen Aufstieg zum freien Schwarzen. Dennoch machten die Sklaven der Banda Oriental, entgegen traditioneller Auffassungen, 7 8 relativ selten Gebrauch von der Flucht Richtung Brasilien oder in benachbarte spanische Gebiete, wie nach Buenos Aires, obwohl sich Teile von den auf den estancias arbeitenden Sklaven schon weit im Grenzgebiet befanden. Die Motive für das trotz günstiger Umstände nicht ungefährliche Wagnis einer Flucht waren vielfältiger Natur. Weil sie heiraten wollte, versuchte die Sklavin von Manuela Ruiz, Feliciana, mehrmals zu fliehen, „[...] wofür ein freier Mulatte namens Feliciano der Anstifter war [...], der, während er in (ihrem) Hause wohnte, die betreffende Schwarze aufhetzte [...], sie dann die ganze Zeit verbarg und mit ihr im Zimmer eines Schusters schlief [...] Dieser Mulatte wollte mit der betreffenden Schwarzen nach Buenos Aires gehen f...]". 79 Ähnliche Gründe spielten u.a. auch bei der Flucht von zwei Sklavinnen und zwei Sklaven aus Montevideo eine Rolle, die sich im November 1785 ereignete. Der Drahtzieher der Flucht, der freie Schwarze Pablo Silva aus Rio de Janeiro wollte dort Josefa, eine der geflohenen Sklavinnen, ehelichen, weil „[...] deren Herr, obwohl sie es mehrmals von ihm gefordert hatte, ihr keine Erlaubnis geben wollte, in dieser Stadt [Montevideo] zu heiraten". 80 Josefa allerdings gab ihrerseits nichts dergleichen zu Protokoll, sondern verwies vielmehr auf die ihr ge-

77

Der erste dieser Fälle ereignete sich im Januar 1745, als der estanciero Sebastián Rivero von seinem Sklaven Juan mit einer Axt erschlagen wurde. Da bei ihm Diebesgut gefunden wurde, ging man von einem Raubmord aus. Er wurde zum Tode verurteilt. Vgl. auch AGNSJ, leg. 2, exp. 51, f. 1 ff".; leg. 21, exp. 16, f. lff. Vgl. auch AGN, GyH, leg. 137, exp. 93, f. lff. 78 Nach Meinung von Martínez Montero „...las fugas resultaban frecuentes...". (La esclavitud, S. 405). 79 AGNSJ, leg. 39, exp. 13, f. 1 u. 3. 80 AGNSJ, leg. 69, exp. 75, f. 26v.

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machte Versprechung, nach der Flucht nach Brasilien „[...] dort frei zu sein".81 Diese Freiheitsaussicht war offensichtlich auch bei einer anderen Flucht von Sklaven verschiedener Eigentümer das entscheidende Motiv, denn zumindest einer äußerte, sicherlich auch berechnend, daß er „[...] sehr gut mit (seinem) Herren stünde, und der (ihm) keinerlei Motive gegeben hätte [...],"82 sich der Flucht anzuschließen. Die Hoffnung auf Freiheit war vermutlich auch der treibende Grund für die Flucht von zwölf Sklaven verschiedener Eigentümer aus Montevideo, die im März 1802 die Behörden beschäftigte und sehr wahrscheinlich erfolgreich war.83 Und nur ein Jahr später sah sich die Kolonialadministration dann mit der wohl spektakulärsten Aktion dieser Art konfrontiert, als 20 freie Schwarze und Sklaven aus Montevideo auf eine Insel im Rio Yi flohen, um dort ein eigenes unabhängiges Gemeinwesen zu errichten. Wahrscheinlich durch Verhandlungen konnte dieses Unternehmen ohne Konsequenzen für die Beteiligten beendet werden.84 Obwohl die Sklavenfluchten in den letzten Jahren der spanischen Macht tatsächlich zunahmen, erscheint es sehr problematisch, diese Fluchten als unmittelbaren Ausdruck einer Tendenz anwachsenden Ungehorsams zu bewerten, wie es Carlos Rama tut. Dabei sieht er diese Tendenz ausgelöst durch die nachlassende Wirkung des Paternalismus, durch die Krise des Kolonialregimes und „[...] augenscheinlich inspiriert von der Französischen Revolution und der Haitianischen Rebellion [...]".85 Im Ergebnis all dessen „[...] ist es klar, daß nach 1800 die Schwarzen als eine unterdrückte Kaste in Rebellion zu handeln begannen." 86 Trotz vereinzelter, punktueller Hinweise der Zeitgenossen auf eine von den Ereignissen in Frankreich und Haiti beeinflußte Insubordination von Sklaven oder auf eine Grande Peur gegenüber den Schwarzen, läßt sich keine generelle Tendenz dieser Art anhand der gesichteten Quellen feststellen. Gerade in einer Grenzgesellschaft mußte Freiheitsstreben die Sklaven nicht immer »über die Grenze« führen, ergab sich doch durch die konkreten Gegebenheiten durchaus die Möglichkeit, in der Vielzahl der formell »am Rande« der Gesellschaft lebenden Personen, wie der mehr oder weniger lose verbundenen Banden oder Gruppen von gauchos, auf längere Zeit erfolgreich unterzu81

Ebenda, f. 21. AGNSJ, leg. 41, exp. 25, f. 4v. 83 Zumindest wurden keine weiteren Bezüge zu dieser spektakulären Flucht aufgefunden. Vgl. AGNBA, IX, 2-10-2, f. 366. 84 Vgl. hierzu Rama: The passing, S. 33f. 85 Ebenda, S. 33. 86 Ebenda, S. 34. 82

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tauchen. Eine solche Bande, die um 1769 ihr Unwesen trieb, setzte sich z.B. aus drei desertierten Soldaten, die sich gegenseitig bei ihrer Flucht geholfen hatten, einem Portugiesen, drei Indianern, einer Frau, zwei Mulatten und einem geflohenen Sklaven zusammen. 87 Bei einem Fluchtversuch, bei dem die Sklaven einen Mann töteten, gaben die Beteiligten, nach den Gründen befragt, an, „[...] daß ihr Herr schlecht sei [und] sie drangsaliere [,..]".88 Dies war die einzige der vereitelten Unternehmungen, wo dieses Argument expressis verbis als Motiv angegeben wurde.89 Bei einigen wenigen anderen Fällen, wo man der Geflohenen zumeist nicht habhaft werden konnte, hatte augenscheinlich die Angst vor den möglichen Folgen einer begangenen Straftat den Anlaß für die Flucht gegeben.90 Typisch für das Fluchtverhalten war, daß, ausgenommen einiger Fälle einer »Liebesflucht«, immer mehrere Sklaven beteiligt waren. Dabei umfaßte die größte Gruppe ca. ein Dutzend Personen, und es gehörten immer Frauen und Männer dazu. Ein ebenso typisches Charakteristikum zeigte sich darin, daß es sich bei den Fluchten ausschließlich um organisierte, zumeist von langer Hand vorbereitete Aktionen handelte. Ausdruck dessen war auch, daß immer Sklaven mehrerer Herren einbezogen waren. In allen geschilderten Fällen waren es außenstehende Personen, freie Schwarze und Indianer, die an den einen oder anderen Sklaven herantraten, um ihn mehr oder weniger zur Flucht zu animieren oder eine entsprechende Absicht zu verstärken.91 Danach kamen Kontakte innerhalb der Sklaven bei der Zusammenstellung der Gruppe zum Tragen. Einen entsprechend typischen Fall repräsentiert die Flucht von zwei Sklavinnen und zwei Sklaven von vier verschiedenen Eigentümern aus Montevideo im November 1785. José, aus Angola stammend, Sklave von Nicolás Fernández Miranda,

87

Vgl. AGNSJ, leg. 20, exp. 10, f. 5vf. AGNSJ, leg. 81, exp. 73, f. 6v u. 8v. Natürlich muß dabei die unsichere Lage des aussagenden Sklaven berücksichtigt werden, der sich ja zumeist der Möglichkeit gegenübersah, wieder zu seinem alten Herrn zurückkehren zu müssen. So konnte es für ihn mitunter besser sein, das Verhältnis zu seinem Herrn nicht mit Anschuldigungen gegen diesen weiter zu belasten. 89 Lediglich ein wieder eingefangener Sklave brachte noch freimütig zum Ausdruck, daß es ,,[fue] aburrido de servir a su Arno, y biendo que no viviendo gustaso con el aun que le havia pedido papel de venta por dos ocasiones no se lo havia querido dar [...]". AGNSJ, leg. 70, exp. 75, f. 35f. 90 Vgl. AGNSJ, leg. 124, exp. 57, f. 1; leg. 154, exp. 46, f. lff.; leg. 157, exp. 45, f. 3ff. 91 Vgl. auch AGNSJ, leg. 68, exp. 56. Da es sich um gescheiterte Unternehmungen handelte, ist es naheliegend, daß die Rolle des quasi Verführten von den aufgegriffenen Sklaven stark in den Vordergrund gespielt wurde, um möglichst die Konsequenzen für sich zu verringern, was oft mit Erfolg gelang, wie noch zu zeigen sein wird. 88

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hatte mit einem Paraguayer aus der großen Gruppe der ortskundigen Führer, der berüchtigten baquianos, Vereinbarungen für seine Flucht getroffen, in die sich dann der bereits erwähnte Pablo Silva aus Rio de Janeiro einschaltete. Die Sklavin Josefa, ebenfalls aus Angola, sah sich dann mit folgender Situation konfrontiert: „Eines nachmittags, als ich gerade dabei war, Wasser vom Brunnen an der Hafenmole zu holen, sprachen mich der freie Schwarze Juan Pablo Valencia [sie] und ein anderer Schwarzer, José, an und sagten mir, daß, wenn ich mit ihnen weggehen würde, sie bald zwei baqueanos hätten, die uns alle zum Rio Pardo brächten, wo wir alle frei sein würden [...]". 92 Josefa sprach daraufhin mit ihrer tía Juana María. Diese gab zu Protokoll, daß „[...] eines nachts, als ich von der Wasserstelle zurückkam [...], die betreffende Negerin Josefa zu mir sagte, daß sie beschlossen habe zu fliehen und daß zwei Schwarze sie mitnehmen würden, und wenn ich mitkäme, könnten wir zusammen fliehen, worauf ich zustimmte [...]".93 In einer bestimmten Nacht wurden sie dann von den anderen benachrichtigt und alle zogen teilweise bewaffnet und mit gestohlenem Geld versehen über mehrere vorbereitete Stationen Richtung portugiesisches Hoheitsgebiet. Nach wenigen Tagen wurden sie dann allerdings auf einem der »Berge«, den verwilderten unwegsamen Rückzugsgebieten von Schmugglern und sogenannten Vagabunden (vagos), nach einer regelrechten »Treibjagd« gestellt. Das gleiche Schicksal ereilte auch eine andere Gruppe, allerdings erst in der siebten Fluchtwoche. Bei dieser Unternehmung kam ebenfalls die Nutzung der Schmuggelverbindungen durch die wechselnden baquianos zum tragen, die die Gruppe über verschiedene Etappen Richtung Rio Pardo begleiteten. 94 Eine andere Möglichkeit, sich der gegen ihn ausgeübten Gewalt zu entziehen, eröffnete sich dem Sklaven aus seinen juristisch festgelegten Rechten. 95 Fast am Ende der Kolonialzeit beklagt der Sklave Juan Antonio sein elendes Dasein, insbesondere die permanenten Mißhandlungen durch seinen Herren, der ihm und anderen Sklaven nicht einmal die notwendigen Lebensmittel zukommen lasse, „[...] so daß es notwendig ist, daß wir [selbst] unseren Unterhalt suchen müssen [...]"; deshalb bittet er die Stadtrichter festzulegen, „[...] daß mein Herr Don Marcos Pérez mir das Verkaufspapier gibt, weil es unter keiner Bedingung mehr mein Wille ist, diesem Herrn weiter zu dienen". 96 D.h., Juan Antonio klagte hier das den Sklaven gemeinhin zugestandene Recht ein, bei übermäßi92 93 94 95 96

AGNSJ, leg. 69, exp. 75, f. 21. Ebenda, f. 18v. Vgl. ebenda, leg. 41, exp. 25, f. 5. Vgl. hierzu besonders Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 57ff. und 488ff. AGNSJ, leg. 129, exp. 29, f. lvf.

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gen und andauernden körperlichen Züchtigungen sowie grober Vernachlässigung seiner grundlegenden Bedürfnisse, an einen anderen Herren verkauft zu werden. Mit diesem Vorgehen stand Juan Antonio bei weitem nicht allein. Andere vor und nach ihm versuchten, diese legale Möglichkeit zu nutzen, um ihr Schicksal zu verbessern.97 Mitunter führten diese Forderungen der Sklaven zu Prozessen, in die dann sogar die Audiencia einbezogen werden mußte, wie im Falle Juan Antonios. In anderen Fällen entschied darüber der Rechtsbeauftragte eines bestimmten Bezirks, wie bei Joaquin, einem Sklaven von Martin Marterena, vecino von Solis Grande. Bei beiden ging, trotz bestimmter Winkelzüge wie der ungerechtfertigten Höhe des angesetzten Verkaufspreises, letztlich die juristische Entscheidung zugunsten der Sklaven aus.98 Eine weitere Möglichkeit, seine Situation gegenüber dem Herrn partiell zu verbessern, bestand in der Verheiratung (vgl. Graphik 2 am Schluß dieses Beitrages).99 Wie in anderen Teilen des spanischen Imperiums förderte die katholische Kirche auch in der Banda Oriental die Eheschließungen der Sklaven, um Moral und Sitte aller Bevölkerungsteile besser zu wahren. Ebenso unterstützte sie die Integration der Sklaven in die Gesellschaft und in ihre Normen. Insbesondere für Frauen bot sich durch eine Heirat ein höherer Schutz gegenüber sexueller Gewalt ihres Eigentümers100 und gegen willkürlichen Verkauf. Beide Erscheinungen waren in der Banda Oriental kaum anzutreffen bzw. wurden nicht publik.101 Im Extremfall konnte der Sklave seinen Verkauf verlangen, " V g l . z.B. AGN, GyH, leg. 79, año 1805, exp. 119, f. lf.; AGNSJ, leg. 153, exp. 24, f. 1.; leg. 129, f. lf. Vgl. auch Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 197ff. Die Autoren verweisen hypothetisch auf die Möglichkeit, den Herrn auch bei nicht erfolgter schlechter Behandlung wechseln zu können. Vgl. ebenda, S. 228ff. 98

Das bedeutete im Falle des Sklaven Joaquín, daß eine offizielle Taxierung seines Wertes angeordnet wurde, um einen gerechten Preis zu fixieren, den sein Herr - trotz körperlicher Schäden des Sklaven - auf 400 pesos festgelegt hatte. Vgl. AGN, GyH, leg. 79, exp. 119, f. lvf. 99 Vgl. zu den juristischen Grundlagen Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 21 lff. 100 Möglicherweise trafen z.T. die Ehefrauen der Sklavenbesitzer auch gewisse Vorkehrungen, um im eigenen Interesse eventuellem sexuellem Mißbrauch der Sklavinnen durch ihren Ehemann vorzubeugen, indem deren Eheschließung besonders gefordert wurde. In diesem Sinne bemerkenswert war z.B. der Umstand, daß von 7 erwachsenen männlichen Sklaven des Ehepaars Juana Lorenzo de Villa und Antonio Mendez nicht einer und von ihren vier in Frage kommenden Sklavinnen drei verheiratet waren und es sich bei der vierten um die Tochter einer der Sklavinnen handelte. Vgl. AGNSJ, leg. 4, exp. 40, f. 4vf. 101 Bei der Durchsicht von allen überlieferten Rechtsfällen, die vor den Stadtrichtem oder in Ausnahmefällen vor den comisionados der Distrikte verhandelt wurden, fand sich nur ein expliziter Fall über sexuelle Gewalt des Besitzers gegen seine Sklavin. Vgl. AGNSJ, leg. 1 bis 169 (1730 bis 1810). Die illegitimen Mulattenkinder sind natürlich auch für die Banda Orien-

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wenn ihm, trotz mehrmaligen Ersuchens nach Heiratserlaubnis, diese ohne stichhaltige Gründe von seinem Herrn verweigert wurde. Es scheint aber, daß den Sklavenhochzeiten in der Regel keine Steine in den Weg gelegt wurden, denn ihr Anteil an der Gesamtzahl der Hochzeiten war ausgesprochen hoch.102 Durch die Eheschließung und der damit gegebenen Möglichkeit der Zusammenführung der Partner eröffnete sich den Sklaven auch ein Weg, um den Herrn zu wechseln, ein Weg, der den Sklaven von José Molas, Mariano, allerdings zunächst ins Gefängnis führte, da sein Herr ihm anfänglich dieses Recht verweigerte.103 Eine weitere Variante, durch gesetzliche Regelungen sein Schicksal wesentlich zu verändern, bestand für die Sklaven im Freikauf. Obwohl hier im zeitgenössischen Verständnis über die konkreten Auslegungen größere Unklarheiten geherrscht zu haben scheinen,104 nutzten viele Sklaven diese Möglichkeit bzw. strebten sie an. Allerdings konnten sich hierbei größere Schwierigkeiten für die betreffenden Sklaven ergeben. Manchmal sahen sie sich der mehr oder weniger offenen Ablehnung ihrer Bestrebungen nach Freikauf gegenüber, so etwa Juan, Sklave des Artillerieobersten Francisco Betbezé de Ducos, der seine Frau, eine Sklavin von Monica Arce, ablösen wollte.105 Soldaten und Unteroffiziere der Einheit seines Herren bestätigten Freikaufsabsichten und Rechtschaffenheit von Juan und daß bei Monica Arce keinerlei materielle Gründe für eine derartige Verweigerung vorlagen. Der Fall wurde an die Audiencia überwiesen und ging - auch aufgrund der für sie positiven Haltung des Stadtrichters - nach ca. zweijähriger Dauer zugunsten des Sklaven und seiner Frau Maria aus. Allerdings war dies offensichtlich nur dadurch möglich, daß der Oberst seinem Sklaven mit der sehr großen Summe von 660 pesos für Prozeßkosten u.ä. »aushalf«, so daß die Freiheit der Frau Juans praktisch direkt in eine Art Schuldknechtschaft führte.106

tal als ein Indiz für den Geschlechtsverkehr zwischen Herr und Sklavin zu bewerten, ohne allerdings über das sensible Problem sexueller Gewalt bereits Schlußfolgerungen zuzulassen. 102 Siehe zu diesem Problem auch das Kapitel zum „Heiratsverhalten von Frauen und Männern" in dieser Arbeit. "" Vgl. AGNBA, IX, 2-10-3, f. 305. 104 Vgl. Estructura económica, S. 144f. Zu den rechtlichen Bestimmungen vgl. Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 214-219. 105 Vgl. AGNSJ, leg. 80, exp. 42, f. lff. 106 In der von Betbezé an die freie Schwarze María Arce gewährte Obligation, versprach die Freigelassene „[...] a pagarselo con el travajo personal [...]". Vgl. AGNSJ, Protocolos, año 1790, f. 381 f.

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Eine andere Schwierigkeit für den Freikauf konnte sich aufgrund der Festlegung überhöhter Ablösesummen durch die Sklavenbesitzer ergeben. Doch das war nicht die vorwiegende Praxis, wie in der Geschichtsschreibung teilweise suggeriert wird. 107 Bei allen 13 für das Jahr 1805 notariell beglaubigten Freilassungen gegen Geld ergaben sich höchstens in einem Fall deutliche und in zwei weiteren geringfügige mögliche Abweichungen gegenüber den sonst üblichen Verkaufspreisen; auch in anderen Jahren wie 1760, 1785, 1790 und 1810 zeigten sich ähnliche Proportionen. 108 Die Freiheit für Sklaven konnte auch durch einen Vorgang herbeigeführt werden, den zu vermeiden die Staatsgewalt alle Hebel in Bewegung setzte, der aber letztlich durch sie selbst sanktioniert wurde: Die Gewährung der Freiheit der zumindest während Kriegszeiten geflohenen Sklaven der jeweils anderen Seite. Es gehörte auch zur Realität der Grenze in der Banda Orientai, daß sich über große Zeiträume diese Konstellationen sowohl aus Konflikten vor Ort als auch aus internationalen Konflikten ergaben, die Spanien und Portugal fast immer als Gegner sahen. Der Siebenjährige Krieg war sehr wahrscheinlich die erste Konfrontation dieser Art, die zur Flucht von Sklaven in den spanischen Machtbereich führte. Anlaß hierfür war der zunächst erfolgreiche Kampf Spaniens um die portugiesische Exklave Colònia do Sacramento und deren zeitweilige Besetzung. Im Zuge dieser Kämpfe traten u.a. die Sklaven José Cabrai und Antonio de Acevedo auf spanisches Gebiet über und erhielten dafür die Freiheit. Grundlage war ein Dekret des kommandierenden spanischen Generals, Pedro de Cevallos, von 1762 nachdem „ [...] alle Sklaven, die [...] von Colonia geflohen sind, nicht dahin zurückgegeben werden, sondern [...] als zeitweilig Festgehaltene und Beschäftigte in den öffentlichen Arbeiten auf unserer Seite verbleiben, wobei sie eine Soldatenration täglich und jedes Jahr Bekleidung erhalten [,..]".109 Dies wurde dahingehend erweitert, „[...] als die während Kriegszeiten desertierten Sklaven für frei erklärt wurden [...]", eine Regelung, die auch in späteren Kriegen ihre Gültigkeit behalten sollte. 110 Obwohl am 20.1.1770 gemäß höherer Weisungen eine Vereinbarung zwischen dem Gouverneur von Colònia und dem damaligen Militärbefehlshaber von Real de San Carlos,

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Vgl. Sala de Tourón/de la Torre/Rodríguez: Estructura, S. 145. Vgl. z.B. AGNSJ, Protocolos, año 1760, f. 49f.; año 1785, f. 523v; año 1790, f. 330, 375; año 1805, libro 1, f. 133vf„ 283vf„ 312, 374, 432, 493, libro 2, f.568, 644, 685, 729v, 867, 897, 916f.; año 1810, f. 289f. ,09 Vgl. AGNSJ, leg. 20, exp. 34, f. 8, 8v. 110 Ebenda, leg. 22, exp. 32, f. 3. Allerdings galt dieser Sachverhalt nicht für die Sklaven, deren Herren ebenfalls aus Colonia flohen. Vgl. ebenda, leg. 20, exp. 34, f. 6, 6v. 108

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Oberstleutnant Nicolás de Elorouy, über die gegenseitige Rückgabe geflohener Sklaven getroffen worden war, blieben die Sklaven José und Antonio in Freiheit. Es kam sogar dazu, daß der Versuch des Bürgers von Montevideo, Juan José Goyes, Antonio angesichts der Festlegungen von 1770 erneut zu versklaven, damit endete, daß Goyes, obwohl er vecino war, gemaßregelt wurde.'11 D.h., letztlich setzten sich die Behörden Montevideos über die getroffenen Vereinbarungen zwischen Spanien und Portugal hinweg. Mit der Königlichen Verordnung (Real Cédula) vom 14. April 1789 wurde endgültig die Freiheit für die in Kriegszeiten in den spanischen Machtbereich geflohenen Sklaven verfügt." 2 Dementsprechend verfuhr man auch während der Napoleonischen Kriege, so daß die aus Brasilien geflohenen Sklaven freigelassen wurden." 3 Aber auch Sklaven, die sich während der englischen Besetzung Montevideos im Jahre 1807 dem Zugriff der Okkupanten entzogen, konnten auf dieser Grundlage freikommen." 4 Allerdings ging das nicht immer völlig reibungslos, wie eine Flucht von 8 Sklaven aus Brasilien belegt, die allesamt zunächst im Gefängnis sitzen mußten.115 ' " Vgl. ebenda, leg. 22, exp. 32, f. 3v. 112 Vgl. z.B. ebenda, leg. 157, exp. 45, f. 5. Vgl. auch Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 241 ff. 113 Vgl. AGNSJ, leg. 157, exp. 45, f. lff. 114 So forderte im Oktober 1807 der Schwarze Antonio, der vor den englischen Truppen geflohen war, in nahezu ultimativer Weise vom Gouverneur von Montevideo: „Herr, die Vernunft und das Gesetz fordern, daß Eure Exzellenz befehlen, mich in Freiheit zu setzen [...]". (AGN, GyH, leg. 86, exp. 52, f. 4) Selbst gegen den massiven Widerstand seines alten Eigentümers und dessen Versuch, ihn erneut zu versklaven, wofür dieser auch den Regidor Defensor General de Menores, den außerordentlich einflußreichen Kaufmann und Sklavenhändler, Francisco Juanicó, aufbot, wurde zunächst interimistisch festgelegt: „Da die Versklavung des Schwarzen gegen die Gesetze des Königreiches verstößt, setze man ihn unverzüglich in seine natürliche Freiheit [...]". (Ebenda, f. lOv) Selbst die ausgefeilteste Argumentation Juanicós verhinderte letztlich nicht, daß der spätere Vizekönig, Francisco Xavier Elío, der drastischen Abfuhr des Richters zustimmte: „Hiermit wird erklärt, daß Don Francisco Juanicó bar jeden Rechts ist [...], die emeute Versklavung des Schwarzen Antonio einzufordern, der seit der Invasion der Stadt durch die Feinde und seines Einsatzes für die Verteidigung unseres geliebten Souveräns nach dem Gesetz frei war, und [dadurch] die Repräsentation von Juanicó beleidigend, inhuman und ungerecht ist sowie die uns regierenden weisen Rechte verachtet; aufgrund dessen wird der Schwarze Antonio für frei erklärt, dem man für seinen Schutz die erbetenen Legitimationen ausstellen soll, und Juanicó wird zu den Prozeßkosten verurteilt und ihm wird ewiges Schweigen auferlegt [...]; dem Schwarzen Antonio wird das Recht freigestellt, wann und wo es ihm beliebt, die vorgebrachten Schäden und Schmähungen einzuklagen." (Ebenda, f. 18). 115 In einem Schreiben an den Vizekönig heißt es: „Gonzalo Lavea, Josef Barrios, Francisco; Joaquín Conde, Joaquín; Diego, y Vicente, y Juan puestos ante V.E. [...]. Que en virtud de

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Ging diese Form der Beendigung des Sklavendaseins nahezu automatisch mit einer Flucht aus der bisherigen Gesellschaft einher, verdeutlicht ein in vieler Hinsicht ambivalenter und komplexer Vorgang einen weiteren Weg in die Freiheit, der nicht über die »Grenzen« der Gesellschaft hinausführte. Im Herbst 1804 sah sich der Schmiedemeister Don José Molas in schwerer Bedrängnis bei der Rückzahlung einer Obligation von 12 Unzen Gold. Ein normaler Vorgang, wäre da nicht der ungewöhnliche Umstand, daß er dieses Gold einer Doña Manuela Corral schuldete für den Verkauf der Negersklavin, Maria Teresia, von ihm an die Doña." 6 Der Hintergrund für diese scheinbar seitenverkehrten Geschäftsgebaren war ein anhängiger Prozeß „[...] aufgrund der Freiheit, die eine Negersklavin, die (Molas') Sklavin war, mit der Erklärung einforderte, daß (er) mit ihr einen Beischlaf begangen hatte"." 7 Er erklärte sich angesichts dieser Tatsachen als völlig überfordert, er wäre nur ein einfacher Schmiedemeister und „[...] deshalb bin ich ein Mann, der nicht die Fähigkeiten hat, meine Rechte zu verteidigen f...]"." 8 Trotz eines inzwischen bestellten Bevollmächtigten, dem Rechtsanwalt Bruno Méndez, wird er vorläufig ins Gefängnis gesperrt. Von dort richtet er einen empörten Brief an den Gouverneur von Montevideo, in dem er zwar einräumt, mit der Sklavin geschlafen zu haben, dann jedoch fragt: „Aber ist das nun ein Grund, die Schwarze freilassen zu müssen?".' 1 9 Dabei erkenne er durchaus an, daß „die Gesetze weise festgelegt haben, daß die Sklavin frei sei, deren Herr sie fleischlich mißbraucht, und daß es sehr gerecht gewesen sei anzuordnen, die Eigentümer in den Grenzen zu bestrafen, die die Gerechtigkeit erfordert, um so eine schwerwiegende Inkonsequenz zu vermeiden, die seine Autorität und Macht untergraben würde". 120 Doch, wo kein Zeuge, keine Tat: „Aber welches Gesetz hat angeordnet, daß auch die Sklavin frei sei, nur wegen

presentarnos con esta solecitacion somos los ocho suplicantes morenos Portugueses, que en el tiempo délas Guerras, movida nuestra pación a la España, nos venimos voluntariamente a esta de Montevideo para servir a Carlos Quatro, en una Compañía (sie) de Morenos, que haviamos tenido noticia, que lo havia en esta Ciudad; Haze mas de un año que nos hallamos aqui, y no nos han dado ningún Destino mas que nos tienen entretenidos en el Cárcel como arrestados asistiendo a los Presos que se hallan en ella; sin producir ninguna cosa, para ganar para comprar una poca de Ropa para vestirnos [...]. Viendo, señor que nuestra voluntad como Libres, que nos venimos de nuestra Patria para servir a tan exelente monarca (que Dios guarde) [...]," bitten wir nun in die Einheit eintreten zu können. AGNBA, IX, 2-10-2, f. 637f. 116 Vgl. AGNSJ, leg. 153, exp. 31, f. 1-3. 111 Ebenda, f. 3. 1,8 Ebenda. 119 120

Ebenda, f. 23. Ebenda, f. 22v, 23.

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der Tatsache, daß sie sich prostituiert [...]? Ein solches Gesetz zu dulden, würde nach Ablauf weniger Jahre die Sklaverei beenden und alle wären frei. Welche Sklavin würde sich nicht prostituieren, wenn sie dadurch als Resultat den beachtlichen Vorteil bekäme, frei zu werden?" 12 ' Trotz der Unterstützung durch den Rechtsanwalt und ungeachtet dessen, was Molas in obigen Schreiben an den Gouverneur zum Ausdruck brachte, kam für ihn lediglich ein von allen Seiten empfohlener Vergleich heraus, dem er unter der „[...] Bedrohung, sonst nicht aus dem Gefängnis gelassen zu werden [...]",122 schließlich zustimmte. Demnach mußte er das Gold an die Frau übergeben, alle sonstigen Kosten tragen und alles weitere sollte erfolgen „[...] ohne Einschränkung der Freiheit [...] der Schwarzen Maria Teresia [...]".123 Wie auch immer die konkreten Umstände für diesen Fall tatsächlich gewesen sein mögen, d.h. ob - aus zeitgenössischem Verständnis - die Sklavin nun alle Beteiligten hinters Licht führte oder nicht, wirft er - abgesehen von der zweifellos verbreiteten Realität des mehr oder weniger erzwungen Beischlafs zwischen Sklavinnen und ihren Eigentümern - das vielschichtige Problem von Rechtspraxis und -bewußtsein in der damaligen Gesellschaft der Banda Orientai auf. Die aus Europa in die Banda Orientai kommenden Siedler mußten eine mehr oder weniger lange »Lernphase« in bezug auf die Rechtsgegebenheiten durchlaufen, die gerade in einer Grenzgesellschaft ohnehin nur embryonal sein konnten. Nicht nur einmal sahen sich die Stadtrichter aufgrund der Kompliziertheit der Fälle gezwungen zu kapitulieren, d.h. diese entweder ständig aufzuschieben, sich hilferufend an die noch sehr wenigen Rechtsgelehrten zu wenden oder den Fall an die übergeordnete Instanz (Audiencia) zu verweisen.124 Was für die Siedler galt, traf in abgewandelter Form auch für die in die Banda Orientai mitgebrachten bzw. verschleppten Sklaven zu. Deutlich wird dies in zwei verschiedenen Fällen von Bestrafung. So zog es der von seinem Sklaven Luis beraubte Kaufmann José Silva vor, statt selbst eine Bestrafung vorzunehmen, sich an den Stadtrichter zu wenden, „[...] damit dieser jenem eine mode-

121

Ebenda, f. 23. Ebenda, f. 30. 123 Ebenda, f. 25v. 124 So mußte der Stadtrichter Francisco Sierra 1786 in zwei Fällen von Geldschulden, in die der Großkaufmann Nicolás La Cort verwickelt war, offen die Überforderung seiner Behörde und die Notwendigkeit der Überantwortung der Angelegenheit an andere Institutionen eingestehen. Vgl. AGNSJ, leg. 71, exp. 6, f. 13f.; ebenda, exp. 7, f. 7v. Vgl. auch ebenda, leg. 78, exp. 13, f. 1 ff.; leg. 79, exp. 33, f. 3v. 122

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rate Strafe verabreicht, da (er) dies nicht in (seinem) Hause selbst tun [,..]"' 25 und erst die näheren Umstände der Tat geklärt haben wolle, um kein Unrecht zu begehen. 126 Bei dem Fall eines Nachbarschaftsstreits zwischen den beiden vecinos Figarola und Turreyro, hielt Figarolas Sklavin vor dem Züchtigungsversuch durch Turreyros Ehefrau dieser entgegen, „[...] daß sie nicht ihre Herrin sei, und sie sie deshalb nicht schlagen dürfe [...]". 127 Viele der erwähnten Fälle unterstreichen die wachsende Fähigkeit zumindest von Teilen der Sklaven, die Rechtsräume auch ftir sich zu nutzen. Ein »klassisches« Beispiel, wie in Kenntnis der Rechtslage ausgefeilteste Argumentationen zur Untermauerung der eigenen Forderungen Anwendung fanden, stellt der bereits angesprochene Fall der Freiheitsforderung des Sklaven Antonio dar, der während der englischen Invasion von 1807 seinen Herrn verließ. So verwies Antonio u.a. darauf, daß - während der englischen Besetzung der Stadt - sein Eigentümer „[...] mich gegen meinen Willen an einen englischen Händler verkaufte, dem ich unter keinen Umständen gehören wollte, da man mir sagte, daß dieser Jude sei, und darüber hinaus wollte ich nicht dieses Land verlassen, weil ich nicht meinen katholischen Glauben oder sogar die Hoffnung, in den Dominien des Königs von Spanien, meines Herren, zu leben, aufs Spiel zu setzen bereit war".' 28 Eine wesentliche Rolle für die Wahrung der Sklaveninteressen in diesem und allen anderen Fällen dürfte die obligatorische Bestallung eines offiziellen Verteidigers für alle Armen gespielt haben, unter die auch sie bald automatisch fielen. 129 Dem Verteidiger war es nicht selten zu verdanken, daß die Sklaven zu ihrem Recht kamen. Voraussetzung war allerdings, vor allem wenn sie Opfer waren, daß die Sklaven ihre Interessen vor die Stadtrichter brachten. Natürlich bleibt die Zahl derer im Dunkeln, die aus den verschiedensten Gründen nicht den dafür notwendigen ersten Schritt unternahmen. Außerdem sind Fälle belegbar, in denen mit unterschiedlicher Elle bei Weißen bzw. Freien und Sklaven

125

Vgl. AGNSJ, leg. 118, exp. 10, f. 30. Vgl. ebenda, f. 30-31. Laut Bestimmung durfte der Herr nur maximal 50 Peitschen- bzw. Stockschläge als körperliche Strafe zur Anwendung bringen. Darüber hinaus gehende Strafen mußten vom Scharfrichter durchgeführt werden. 126

127 Vgl. ebenda, leg. 99, exp. 37, f. 45. Zu den rechtlichen Grundlagen des ausschließlich ftir den Herrn (und z.T. für dessen Verwalter) geltenden Bestrafungsrechts vgl. Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 188ff., bes. S. 193. 128 AGN, GyH, leg. 86, exp. 52, f. 1. 129 Vgl. hierzu Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 225ff. und 512ff.

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gemessen wurde und man letztere gezielt diskriminierte, obwohl sie einen Verteidiger hatten. So verurteilte man in einem Beleidigungsfall nur auf die Aussage von Weißen hin drei Sklavinnen, ohne sie zur Sache gehört zu haben, 130 und nach einem gemeinsam begangenen Diebstahl durch einen Weißen und einen Sklaven wurde über die für beide gleiche Strafe hinaus letzterem noch eine zusätzliche körperliche Strafe auferlegt. 131 Zum Teil kam es auch zur willkürlichen Ablehnung von Sklaven als Zeugen, obwohl sie oft in dieser Funktion auftraten. 132 Dennoch bekundet eine Vielzahl von Fällen, daß eine gewisse, oft unterschätzte Rechtssicherheit für die Sklaven bestand. Zum Teil aufwendige Prozesse, in die mitunter auch die Audiencia einbezogen wurde, umfangreiche Zeugenbefragungen und ausgefeilte Argumentationen der Verteidiger waren häufige Praxis. Es scheint, daß nur selten Indizienbeweise allein zur Verurteilung eines Sklaven anerkannt wurden. Ein extremes Beispiel für diese Rechtspraxis ist der Fall von Roque Jacinto, Sklave der Frau des ehemaligen Gouverneurs von Montevideo, María Francisca de Alzaybar. Im Verlaufe einiger Jahre hatte dieser Sklave mehrere schwere Straftaten, u.a. zwei Morde begangen, für die er in Buenos Aires und Montevideo gesucht wurde. Dabei hatte er ebenfalls einen Unteroffizier schwer verwundet, dem er kurz vorher noch prahlerisch verkündet hatte, daß er wenige Tage zuvor in Montevideo einen Mann getötet habe. Nach langen Untersuchungen auch vor der Audiencia in Buenos Aires, die sich von 1776 bis 1793 hinzogen, konstatierte der Richter im Jahre 1793, daß man nun genügend Indizien für die Schuld des Angeklagten hätte und die Höchststrafe verlangen könne. 133 Der Verteidiger - unter Hinweis auf fehlende direkte Be-

130

Vgl. AGNSJ, leg. 87, exp. 65, f. lff. Vgl. ebenda, leg. 118, exp. 10, f. 58ff. 132 So stellte in einem Fall der Verteidiger fest: „Que el Negro Joaquín [...] aun quando uviese dado su declaración bajo el devido Juramento, como esclabo que es no puede servir de testigo, ni hace fee su dicho, pues no bale para otra cosa mas q.e para instruir la causa conforme por la Ley R.l se halla prebenido." Vgl. AGNSJ, leg. 69, exp. 56, f. lOv. In einem anderen Fall führte die anerkannte Zeugenaussage eines Sklaven zu einer deutlichen Wende in einem Prozeß. Vgl. ebenda, leg. 37, exp. 7, f. 10. 131

133

„Que de las declaraciones del sumario, resulta contra este reo sobrados Yndicios y presumpciones vastantes que le constituyen autor de aquel omicidio: y constando de autos la fuga que hiso de la cárcel, debe según la ley séptima, titulo veynte y seys, libro octabo de las de Castilla, dársele también por echor de tan horrendo y punible delito. En esta Virtud pues, le acusa el fiscal grabe y criminalmente formándole culpa, y poniéndole por cargos los que contra el constan del processo, para que Vmd en su vista, y a su debido tiempo, se sirba condenarlo en las grabes y seberas penas en que por fuero y derecho se alia Incurso, para que a él le sirban de condigno castigo a los demás de escatamiento, y de desagravio a la Verdicta publica [...]" AGNSJ, leg. 37, exp. 12, f. 43f.

Die Stellung der Schwarzen im kolonialen Uruguay

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weise und Zeugen - forderte die Freilassung seines Klienten. Trotz erneuter Verlängerung des Verfahrens zum Zwecke der Beweisführung mußte der Stadtrichter schließlich feststellen, „[...] daß die Seite des königlichen Richters ihren Standpunkt nicht im notwendigen Maße bewiesen hat [...] und daß der Generalverteidiger der Armen im Namen von benanntem Roque seine Argumente und Beweisführungen vollständig belegen konnte [...], so daß ich ihn [...] vom Vorwurf des ihm angelasteten Verbrechens freisprechen muß [...]".134 Auch der Antrag der schwarzen Sklavin Isidora Viera an den Stadtrichter auf Freilassung verdeutlicht die rechtlichen Möglichkeiten für Sklaven. 135 Denn diese Forderung basierte lediglich auf mündlichen Absprachen mit ihrer verstorbenen Eigentümerin, die nunmehr von den Erben angefochten wurden. 136 Sie erhielt den ihr zustehenden Verteidiger, der die Sache offensiv vertrat, ob letztlich erfolgreich, ist allerdings nicht bekannt. Auch auf anderen Gebieten der Rechtsprechung konnten die Sklaven auf die Gewährung von Schutz und Beistand hoffen, etwa als der Sklave Juan Baptista de la Rosa nach seiner Festnahme wegen Totschlags in die Kathedrale von Montevideo floh, um sich durch das Kirchenasyl der Verfolgung zu entziehen. Nach wenigen Stunden wurde er allerdings dort auf Weisung des Stadtrichters herausgeholt und erneut ins Gefängnis gesperrt. Der Verteidiger des Sklaven, der Großgrundbesitzer und Sklavenbesitzer Miguel Ignacio de la Quadra, legte sofort Einspruch ein und verlangte, daß vor dem zuständigen Gremium des Bistums zu klären sei, „[...] ob diesem, seinem ihm Anvertrauten die besagte Immunität zustünde oder nicht [...]". 137 Der Pfarrer, Vikar und kirchliche Richter von Montevideo, Felipe Ortega, gab daraufhin unmißverständlich zu verstehen, daß sich das erfolgte Vorgehen im Widerspruch zur Kirchenverfassung befinde, die „[...] die Immunität Juans schützte, aus der man ihn herausgeholt hatte und in die man ihn wieder zurückbringen müsse, wie es die Justiz und das Recht

134

Ebenda, f. 54f. Dabei verwies der Stadtrichter, wohl nicht zuletzt, um das Gesicht zu wahren, auf die zwölf Jahre Gefängnis, die Roque quasi in Untersuchungshaft inzwischen abgesessen hätte. 135 Vgl. ebenda, leg. 125, exp. 73, f. lff. Allerdings ist mit der Übernahme der Angelegenheit durch die Audiencia von Buenos Aires der Fortgang des Prozesses nicht mehr nachvollziehbar gewesen. 136 Wie Isidora selbst aussagte, basierte ihre Forderung lediglich darauf, „daß, als meine Herrin Dona Josefa Viera verstarb [...], sie mit den Mercedariermönchen dahingehend sprach, daß es ihr gefallen würde (die Sklavin) und ihre kleine Tochter in Anerkennung der geleisteten Dienste freizulassen [...]." Ebenda, leg. 125, exp. 73, f. lv. AGNSJ, leg. 38, exp. 38, f. 1 lf.

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Bernd Schröter

vorsehen". 138 So mußte der Stadtrichter, Bruno Muñoz, auf Weisung des Gouverneurs wenig später die Zurückfuhrung des Sklaven in die Kathedrale anweisen. Auch hinsichtlich von selbständigen wirtschaftlichen Aktivitäten, für die zumindest Teile der Sklaven die Berechtigung hatten, konnten sie offensichtlich auf juristischen Beistand hoffen. Dementsprechend wandte sich 1760 Manuel, Negersklave der Jesuiten, an den Stadtrichter, weil er sich beim Verkauf von Kühen an Roque Ibarra übervorteilt gefühlt hatte und - wie er angab - auch keinerlei Erfahrung in diesem Geschäft besaß. Seinem Gesuch wurde stattgegeben und der Verkauf unter Aufsicht einer kompetenten Person wiederholt. 139 So wie die Möglichkeiten deuten sich hier aber auch die Grenzen der Handlungsfreiheit für Sklaven auf wirtschaftlichem Gebiet an, mußte Manuel doch einräumen, daß er seine Herren von diesem Geschäft nicht in Kenntnis gesetzt hatte. D.h., - wie es viele Jahre später eine Sklavenbesitzerin in bezug auf mißlungene Geldgeschäfte ihres Sklaven geltend machen konnte - „[...] es steht geschrieben, daß Kindern der Familie und Sklaven niemand Geld leihen oder im Gegenteil sie für verlorenes Geld verantwortlich machen kann, wenn der Vater oder die Herren dem Geschäft nicht zustimmen [...]".140 So wie auf dem Gebiet wirtschaftlicher Aktivitäten waren die Sklaven einer Vielzahl von weiteren Beschränkungen unterworfen, die aber oft unterlaufen und so vereinzelt auch zu Rechtsfällen wurden. Das betraf vor allem solche Verbote, wie das Tragen von Waffen jeglicher Art, den Genuß von Alkohol oder das Reiten von Pferden. 141 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß am Ende der Kolonialzeit annähernd die Hälfte der Bevölkerung der Banda Oriental Sklaven waren, d.h. weit mehr als bisher angenommenen. Des weiteren muß hervorgehoben werden, daß aufgrund der konkreten Elemente des Grenzcharakters der Region sich der Sklave einerseits relativ großen Spielräumen bei der Integration in die Gesellschaft und andererseits einem (noch) relativ geringen Konfrontationspotential gegenüber sah. Objektiv bestimmten der hohe materielle Wert und die Unverzichtbarkeit in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen die Stellung des Sklaven in der Gesellschaft. Für den kulturell-mentalen Bereich schlugen Patriarchalismus, 138

Ebenda, f. 13. Vgl. ebenda, leg. 8, exp. 11, f. lff. 140 ACuriaM, causas varias, año de 1809, f. lv. 141 Vgl. z.B. AGNSJ, leg. 6, exp. 42, f. 1 lv; leg. 37, exp. 12, f. 2; Sala de Tourón/de la Torre/ Rodríguez: Estructura, S. 143. 139

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Prestigegebaren der Eigentümer, das sie über die Sklaven zu realisieren versuchten, und die noch im Flusse befindlichen Verhaltensnormen besonders zu Buche. D.h., für die Banda Oriental war der Charakter der Sklaverei, die Resultante aus noch weitgehend ungefestigten kulturell-mentalen Verhaltensmustern auf beiden Seiten, aus dem hohen Stellenwert von vorwiegend dezentralisiertem wirtschaftlichen Einsatz und hohem negriden Bevölkerungsanteil. Die Realitäten des Daseins der Sklaven in der Banda Oriental unterstreichen, daß sie - wie überall in Spanisch-Amerika - gleichermaßen Objekt und Subjekt, Opfer und Täter, Handelnder und Mißhandelter, Wissender und Unwissender innerhalb der gesetzlichen Normen und der Rechtspraxis sein konnten. Es scheint, daß die konkreten Umstände in der Banda Oriental für sie das Pendel weniger weit auf der Skala des Leids, der Demütigung und des Unrechts ausschlagen ließen, sieht man einmal - aus unserer heutigen Sicht - von dem im Sklavendasein generell verkörperten Unrecht und menschlichem Leid ab. Wesentliche Gründe dafür waren das bessere und weniger gewalttätige Verhältnis zwischen Besitzer und Sklave142 sowie eine für sie relativ weitgehende Rechtssicherheit, die sich zumeist auch mit einer „Milde"143 in der Rechtspraxis verband.

142

Diese Auffassung wird auch von Rama vertreten, der aber neben der dominierenden Haussklaverei, der vorwiegenden Absiedlung in der Stadt auch deren insgesamt geringe Zahl und schnelle Akkulturation als die wesentlichsten Ursachen für dieses Verhältnis ansieht. Vgl. Rama: The passing, S. 33. So wie zur Anzahl der Sklaven das Gegenteil belegt werden kann, scheint auch die These von einer schnellen Akkulturation der Sklaven als sehr problematisch. Zum einen wissen wir immer noch zu wenig über die innere Verfaßtheit der Sklaven, etwa in »Nationen«, Korporationen etc., und zum anderen ist in Rechnung zu stellen, daß die Masse der Sklaven am Ende der Kolonialzeit erst wenige Jahre in der Banda Oriental weilte, und sich daraus die Frage ergibt, ob dadurch die Herausbildung von Elementen einer Akkulturation noch gar nicht so richtig in Gang kommen konnte. 143 Petit Muñoz/Narancio/Traibel: La condición, S. 202. Das schließt nicht aus, daß es vereinzelt auch zu drakonischen Bestrafungen kam.

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Graphik 1: Anteil von Weißen u. Sklaven an den Taufen in Montevideo 700

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1731

1735

1743 1751 1759 1767 1775 1789 1805 1739 1747 1755 1763 1771 1782 1793 1809

Quelle: ACM, Libro de bautismos, Nr. 1-12.

Graphik 2: "Ethnische" Zusammensetzung der Bräute

1729

1751

1759

1774

1784

1788

1792

1796

Quelle: ACM, Libros de casamientos; ACuriaM, Esponsales; CIPFE; AGNSJ; Apolant, Génesis; Ders., Operativo Patagonia.

1808

Women are more Indian - Zum Verhältnis von Rasse/Ethnie, Klasse/Stand und Geschlecht in der hispanoamerikanischen Kolonialzeit Barbara Potthast- Jutkeit

Der Obertitel diese Vortrages - Women are more Indian - ist nicht Ausdruck eines allzu naiven feministisch-indigenistisch angehauchten Denkens, das in allem Autochthonen etwas Positives und in den Frauen die bessere Hälfte der Menschheit sieht, sondern ein Zitat eines neueren Aufsatzes über die Zuschreibung ethnischer Identitäten in einem Dorf in der Nähe von Cuzco. Die Autorin analysiert dort, wie heute die Hierarchie- und Machtstrukturen des Dorfes durch eine Verbindung von Ethnizität, Klasse und Geschlecht bestimmt werden. 1 Ansätze, diese Zusammenhänge auch für die Vergangenheit zu diskutieren, gibt es erst seit kurzem in der Historiographie zu Lateinamerika. Bislang wurde im allgemeinen entweder um die Frage nach den Analysekategorien Ethnie, Rasse, Stand oder Klasse (in den USA oft verkürzt auf race and class) gestritten, oder es ging um die Bedeutung der Geschlechtergeschichte. Diese ist zwar mittlerweile allgemein als ein wichtiger Teil der historischen Analyse akzeptiert, im Gegensatz zur nordamerikanischen oder europäischen Geschichtsschreibung hat über deren Zusammenhang mit anderen Schichtungskriterien jedoch keine explizite Debatte stattgefunden. Die Ergebnisse der Frauen-, Geschlechter- und Familienforschung bergen jedoch erheblichen Erkenntnisgewinn auch für die Diskussion um die adäquate Beschreibung der kolonialen Gesellschaft. Daher möchte ich versuchen, im folgenden diese beiden Diskussions- und Forschungsstränge zueinander in Beziehung setzen, um so ihre gegenseitige Bedingtheit und Befruchtung deutlich zu machen. Der enge Zusammenhang zwischen beiden Aspekten zeigt sich bereits darin, daß Richard Konetzke als einer der Begründer der modernen Sozialgeschichte zu Lateinamerika sich mit beiden Feldern beschäftigt hat. Die meisten Lateinamerikahistoriker kennen seine Aufsätze zur Mestizisierung oder zur Stellung der verschiedenen sozialen Gruppen in der kolonialen Gesellschaft (zum Adel, zu den

' Marisol de la Cadena: Women are more Indian. Gender in a community near Cuzco, in: Brooke Larson/Olivia Harris (Hg.): Ethnicity, Markets, and Migration in the Andes: At the Crossroad of History and Anthropology, Durham 1995, S. 329-348.

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Kreolen und den Mestizen, zur rechtlichen Stellung der Ausländer etc.).2 Weniger bekannt und für viele verwunderlich ist eher, daß er bereits 1945 einen Aufsatz über die Auswanderung von Frauen nach Lateinamerika verfaßt hat. 3 Ich möchte hier weniger auf die Art und Weise eingehen, mit der Richard Konetzke dieses Thema behandelt hat - obwohl es hierzu aus der Sicht der 90er Jahre einiges zu sagen gäbe 4 - sondern lediglich darauf hinweisen, daß wir bei ihm keinerlei Überlegungen zum Zusammenhang von Ethnie und Geschlecht als historische Analysekategorien finden, wohl aber implizite Hinweise auf deren Verschränkung. Im folgenden werde ich zunächst die Diskussion um die sozialen Schichtungskriterien und die Charakterisierung der kolonialen Gesellschaft kurz in Erinnerung rufen, sodann diejenige um die Entwicklung der Frauen- und Geschlechtersowie der Familiengeschichte - vor allem im Hinblick auf ihre Aussagen über die sozialen Gruppen - , um am Ende beide Stränge aufeinander zu beziehen. 1. Race and Class - Ethnie, Stand und Klasse Die Diskussion um die Position der eingeborenen Bevölkerung Amerikas und die Strukturierung der kolonialen Gesellschaft begann naturgemäß in dem Augenblick, als die beiden Welten aufeinandertrafen und die Spanier bzw. Portugiesen5 Besitz von Amerika ergriffen. Hier soll es jedoch lediglich um die historiographische Diskussion gehen, wie sie im Rahmen der modernen Sozialgeschichte seit Beginn der 60er Jahre geführt wurde. Bahnbrechend waren in diesem Zusammenhang ein Aufsatz von Lyle McAlister in der Hispanic American Historical Review von 1963 mit dem Titel Social Structure and Social Change in Colo-

2 Vgl. hierzu die Bibliographie seiner Publikationen in Richard Konetzke: Lateinamerika. Entdeckung, Eroberung, Kolonisation. Gesammelte Aufsätze, hg. von Günther Kahle, Köln 1983, S. XIII-XXI. 3 Richard Konetzke: La emigración de mujeres españolas a América durante la época colonial, in: Revista Internacional de Sociología 3 (1945), S. 123-150. Als Neudruck in: Richard Konetzke: Lateinamerika. Entdeckung, Eroberung, Kolonisation. Gesammelte Aufsätze, hg. von Günther Kahle, Köln 1983, S. 1-28. 4 Neuere Kritik bezöge sich sowohl auf seinen allzusehr von den rechtlich-administrativen Normen ausgehenden Ansatz als auch auf seine sprachliche Darstellung und sein Frauenbild, die heute teilweise nicht mehr tragbar sind. Vgl. z.B. seine Aussage, die Indianerinnen hätten sich den Spaniern „willig und wollüstig hingegeben". Richard Konetzke: Süd- und Mittelamerika I. Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt/M. 1965, S. 89. 5 Ich werde mich in diesem Aufsatz auf das spanische Kolonialreich beschränken. Viele der angeführten Aussagen können jedoch, mit den gebotenen Modifikationen, auch auf die koloniale Gesellschaft Brasiliens übertragen werden.

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nial New Spain, sowie die inzwischen als klassisch zu bezeichnende Studie von Magnus Mörner über Race Mixture in the History of Latin America von 1967.6 McAlisters Herausforderung lag vor allem darin, daß er den Wandel der kolonialen Gesellschaft von einer auf rechtlichen Privilegien basierenden Ständegesellschaft hin zu einer offeneren, eher auf Besitz und Reichtum basierenden Klassengesellschaft beschrieb. Mörner hielt an dem Begriff der ethnisch basierten Ständegesellschaft fest, auch wenn er im Verlaufe des 18. Jahrhunderts vor allem im ländlichen Raum eine Entwicklung hin zu ökonomisch determinierten Klassen erkennen konnte.7 Die wesentlichen Kriterien, um die sich die Diskussion bis heute dreht, sind damit ausgemacht. Es ist einmal die Geschlossenheit der Ständegesellschaft, der die relative Offenheit einer Klassengesellschaft entgegengesetzt wird. Sodann ist es die Begründung für die soziale Position, die in dem einen Falle eher von der Herkunft bzw. von dem besonderen rechtlichen Status der Korporation bestimmt wird, im anderen Falle von ökonomischen Kriterien. Innerhalb dieser Diskussion entspann sich dann eine weitere Debatte um das Verhältnis von Stand und Beruf. Mörner hatte die koloniale Gesellschaft, die in Anlehnung an die zeitgenössische Terminologie als sociedad de castas bezeichnet wird, als die Übertragung des europäischen Ständemodells auf eine multiethnische koloniale Situation charakterisiert.8 Durch die Verwendung des Begriffs Ethnie machte Mörner deutlich, daß der bis dahin allgemein gebräuchliche Terminus Rasse in diesem Zusammenhang wenig sinnvoll ist, da es sich bei der Einteilung in castas weniger um eine auf rein biologischen Kriterien beruhende Klassifizierung handelte, als vielmehr um eine Kombination von soziokulturellen Faktoren, die unter dem Begriff Ethnie zusammengefaßt werden, wobei sich Mörner auf die Definition von ethnischen Gruppen bei Max Weber bezog.9 Magnus Mörner: Race Mixture in the History of Latin America, Boston 3 1967. Vgl. auch seine im wesentlichen unveränderte Position in Ethnicity, social mobility and mestizaje in Spanish American colonial history, in: Felix Becker, Holger Meding, Barbara Potthast-Jutkeit und Karin Schüller: Iberische Welten. Festschrift zum 65. Geburtstag von Günter Kahle, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 301-314. 8 Magnus Mörner: Race Mixture, S. 54. 5 „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht »Sippen« darstellen, »ethnische Gruppen« nennen, ganz einerlei ob eine Blutsgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht." Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 5 1985, S. 237. 6

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So herrscht heute weitgehend Einigkeit darüber, daß es einen Rassismus im modernen Sinne in der kolonialen Gesellschaft nicht gegeben hat, sondern daß die Einteilung in castas eher auf einer kulturellen Zuschreibung basierte.10 Andererseits stimmten sozio-ökonomische und rassische Position häufig weitgehend überein, so daß selbst in der wissenschaftlichen Literatur - vor allem im angloamerikanischen, aber teilweise auch im hispano-amerikanischen Sprachraum bis heute vielfach relativ unbedacht von »Rasse« gesprochen wird." Da in der ethno-historischen und anthropologischen Literatur neueren Datums der kulturelle Faktor bei der Definition von Ethnizität immer stärker betont wird,12 und der Begriff Rasse zudem im Deutschen extrem belastet ist, verwende ich im folgenden stets den Terminus Ethnie. Uneinigkeit herrscht in der Forschung noch über den Zusammenhang von Beruf bzw. ökonomischer Lage und Ethnie oder casta. Mörner ordnete in seiner Studie den jeweiligen castas in tabellarischer Form bestimmte Berufe zu. Diese zunächst auf erzählenden Quellen basierende Zuordnung wurde von der neueren Forschung anhand statistischer Daten im großen und ganzen bestätigt, es wurde aber auch deutlich, daß innerhalb der Berufsgruppen erhebliche ökonomische und statusrelevante Unterschiede gemacht werden müssen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, bedeutet die Zugehörigkeit zu ein und derselben Berufsgruppe selbst in einer ständisch geprägten Gesellschaft noch nicht soziale Gleichheit.13 10

Weder die Integration des autochthonen Adels in die hispano-amerikanische Elite, noch das blanqueamiento ist ohne die kulturelle Dimension der Zuschreibung zu einer »Rasse« zu erklären. 1 ' Auch die Diskussion zu Beginn der 80er Jahre lief z.T. noch unter dem Titel »Race and Class« (vgl. die in Anm. 13 und 14 genannten Titel). Cecilia Rabell spricht in einem Aufsatz von 1996 zumindest von „socio-racial", Cecilia Rabell Romero: Trayectoria de vida familiar, raza y género en Oaxaca colonial, in: Pilar Gonzalbo Aizpuru/Cecilia Rabell Romero (Hg.): Familia y vida privada en la historia de Iberoamérica, S. 75-118. Vgl. auch Ramón María Serrera: Sociedad estamental y sistema colonial, in: Antonio Annino/Luis Castro Leiva/Francisco-Javier Guerra (Hg.): De los imperios a las naciones: Iberoamérica, Zaragoza 1994, S. 45-74, hier S. 46. 12 Siehe z.B. Larson/Harris: Ethnicity, Markets, and Migration in the Andes, S. 35. 13 Vor allem Chance und Taylor hatten Beruf und Klasse gleichgesetzt, was einer der Hauptkritikpunkte von McCaa, Schwartz und Grubessich an deren Ansatz war. Vgl. auch die Anmerkungen von Seed in diesem Zusammenhang. Harris betonte dagegen, daß im Vergleich zu heute die berufliche Spannbreite der indianischen Bevölkerung in der Kolonialzeit erheblich größer war. John K. Chance und William B. Taylor: Estate and Class in a Colonial City: Oaxaca in 1792, in: Comparative Studies in Society and History 19 (1977) (im Folgenden CSSH), S. 454-487; Robert McCaa, Stuart Schwarz und A. Grubessich: Race and Class in Colonial Latin America: A Critique: CSSH 21 (1979), S. 421-433; Patricia Seed und Philip Rust: Estate and Class in Colonial Oaxaca Revisited, in: CSSH 25 (1983), S. 703-710; Patricia Seed: Social Dimensions of Race: Mexico City, 1753: Hispanic American Historical Review 62 (1982) (im Folgenden HAHR), S. 569-606; Olivia Harris: Ethnie Identity and Market Relations: Indians

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Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und beruflicher Position verweist jedoch wieder auf die Frage nach Stand oder Klasse, und um diese Frage entspann sich zu Beginn der 80er Jahre eine neue Diskussion, die nun stark von dem Einsatz quantitativer Methoden und der daraus resultierenden Meßprobleme geprägt war. Wenn sich Ständegesellschaft und Klassengesellschaft im wesentlichen durch die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit sozialer Mobilität unterscheiden, war die Frage, ob im Laufe des 18. Jahrhunderts die Chancen zum sozialen Aufstieg größer geworden waren, mit entscheidend für diejenige nach dem strukturellen Wandel der Gesellschaft. Dieser läßt sich besonders gut am Heiratsverhalten messen, und durch den Aufschwung der historischen Demographie und die Verbreitung quantifizierender Methoden im Laufe der 70er Jahre konnte man diesem Phänomen näher kommen. Diese zu messen ist jedoch nicht einfach, und so kam es vornehmlich in der Hispanic American Historical Review und den Comparative Studies in Society and History es zu einer lebhaften Debatte über dieses Thema.14 Jede der beiden Seiten konnte für ihre jeweilige Interpretation Klasse oder Stand - Argumente anführen, so daß die Diskussion schließlich zu einer für Uneingeweihte kaum noch nachvollziehbaren Debatte über Percentages, Cohen 's Kappa, and Log-Linear Models (so der Untertitel einer Erwiderung von McCaa und Schwartz) führten. Diese Probleme sollen uns hier nicht interessieren, es sei denn im Hinblick darauf, daß sie einmal mehr gezeigt haben, daß auch quantitative Methoden und die ihnen zugrunde liegenden Daten einer sorgfältigen Kritik bedürfen.15 Patricia Seeds etwas resignierendes Resümee, daß man sich and Mestizos in the Andes, in: Larson/Harris: Ethnicity, Markets, and Migration in the Andes, S. 351-390. 14 Vgl. die in Anm. 13 genannten Titel von Chance und Taylor, McCaa, Schwartz und Grubessich, Seed, Seed und Rust sowie Robert McCaa und Stuart Schwarz: Measuring Marriage Patterns: Percentages, Cohne's Kappa, and Log-Linear-Models in: CSSH 25 (1983), S. 711-720; Robert McCaa: Modeling Social Interaction: Marital miscegenation in Colonial Spanish America, in: Historical Methods 15:2 (1982), S. 45-66, und ders.: Calidad, Clase and Marriage in Colonial Mexico: The Case of Parral, 1788-90, in: HAHR 64:3 (1984), S. 477-501. l5 Mömers Einwand von 1994 (Magnus Mörner: Ethnicity, social mobility and mestizaje in Spanish American colonial history, in: Felix Becker, Holger Meding, Barbara Potthast-Jutkeit und Karin Schüller: Iberische Welten. Festschrift zum 65. Geburtstag von Günter Kahle, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 301-314), daß man nur die Heiraten, nicht aber die weit verbreiteten Konkubinate erfasse, trifft zwar ein Grundproblem dieser Analysen, in unserem Zusammenhang ist es jedoch von untergeordneter Bedeutung, da es hier nicht um das Ausmaß der tatsächlichen Vermischung der verschiedenen castas ging, sondern um die Frage nach sozialer Mobilität. Diese schlägt sich auch im Heiratsverhalten nieder. Nicht-eheliche Beziehungen über die castaGrenzen hinweg waren seit Beginn der Conquista üblich, wenn diese aber nun formalisiert wurden, kann man von einer schwindenden Bedeutung ethnischer Schichtungskriterien ausgehen.

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statt der Diskussion über Messmethoden und statistische Indikatoren wieder auf die Inhalte konzentrieren sollte,16 mag man zwar gern zustimmen, doch scheint mir die Verlagerung der Debatte auf diese Ebene auch anzudeuten, daß ein gewisser Grundkonsens besteht im Hinblick darauf, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Ständegesellschaft in Bewegung geraten war und die Debatte lediglich um die Frage geht, welcher Einfluß dem Stand noch zukam und wieweit er schon von kapitalistischen Denkweisen untergraben wurde. Eine lebhafte Diskussion wie in den vorhergehenden Jahrzehnten hat es in den 90er Jahren nicht mehr gegeben. Symptomatisch für die von mir konstatierte grundlegende Annäherung der Positionen ist dagegen ein neuerer Aufsatz von Ramón Maria Serrera, der die Sociedad Estamental y Sistema Colonial zum Thema hat. 17 Die Diskussion um Stand oder Klasse spielt bei ihm keine Rolle, 18 sondern er setzt sich lediglich mit dem Problem der Ständegesellschaft auseinander. Zunächst fuhrt er fünf Gründe dafür an, warum dieser Begriff seiner Meinung nach nicht geeignet ist für eine Kennzeichnung der hispanoamerikanischen Kolonialgesellschaft. Allerdings kann er damit nicht ganz überzeugen, u.a. weil er vorgibt, man wolle dieses Konzept mehr oder weniger unverändert anwenden, doch bereits die Kurzdefinition von Mömer von 1967 ging deutlich darüber hinaus und stellte klar, daß dies besonders aufgrund der multi-ethnischen Zusammensetzung der Gesellschaft in der Neuen Welt nicht der Fall sein kann. Serrera betont hingegen die Machtverhältnisse und die Unterscheidung in Kolonisten und Kolonisierte und kommt zu dem Schluß, der Terminus Kolonialgesellschaft träfe am ehesten zu. In Anlehnung an Horaclio Bonilla definiert er diese dann als eine Gesellschaft, die auf verschiedenen Hierarchien basiere und die verschiedenen Kriterien für den gesellschaftlichen Status kenne, die alle miteinander in Beziehung stünden, aber nicht identisch seien. 19 Dieser Definition kann nicht widersprochen werden, und sie kann als ein Hinweis auf den von mir bereits oben konstatierten Grundkonsens über Vielheit der Schichtungskriterien gedeutet werden, sie bringt uns in ihrer Allgemeinheit aber nicht weiter. Insofern kann sie auch bedeuten, daß wir wieder am Anfang der De-

16

Seed: Social Dimensions of Race, S. 604. Ramón Maria Serrera: Sociedad estamental y sistema colonial, in: Annino/Castro Leiva/ Guerra: De los imperios a las naciones, S. 45-74. 18 Was vielleicht auch mit den unterschiedlichen Diskussions- und Lesezirkeln zusammenhängt. Der Sevillaner Serrera rezipiert - leider - weitgehend eine andere Literatur als die nordamerikanische, während diese ebenfalls dazu tendiert, die englisch-sprachigen Publikationen überproportional zu berücksichtigen. 19 Serrera: Sociedad estamental y sistema colonial, S. 50. 17

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batte stehen, denn nun müssen wir beginnen, die hier angesprochene Mehrdimensionalität zu beschreiben. In allen genannten Ansätzen wird aber ein wichtiger Faktor sozialer Ungleichheit, nämlich das Geschlecht, völlig übersehen. 2. Women and Family, Sex and Gender - von der Frauen- zur Geschlechterund Familiengeschichte Einzelne Abhandlungen über berühmte oder berüchtigte Frauen hat es natürlich seit langem gegeben, ebenso Aufsätze, die die Frauen als soziale Gruppe behandelten, wie der erwähnte Artikel von Richard Konetzke, doch gehen diese selten über die Beschreibung der Position der Frauen aus rechtshistorischer Perspektive hinaus. Diese stellt zwar eine wichtige Grundlage der sozialhistorischen Analyse dar, kann jedoch nicht als Frauen- oder Geschlechtergeschichte im eigentlichen Sinne verstanden werden. Hinzu kommt, daß die neuere sozialhistorische Forschung immer wieder belegt, daß zwischen rechtlicher Norm und sozialer Realität in Lateinamerika eine große Diskrepanz bestand, und dies gilt für das Geschlechterverhältnis und die damit einhergehenden Verhaltencodices in besonderem Maße. Frauengeschichte ist mehr als nur die Beschreibung der rechtlichen oder sozialen Rolle des weiblichen Teils der Bevölkerung, und auch mehr, als der Versuch, diesen sichtbar zu machen, indem man z.B. nach der Rolle von Frauen bei der Entwicklung der kolonialen Hierarchien oder kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen fragt. Es geht nicht nur darum, dem männlichen Blick auf die Geschichte in kompensatorischer Absicht nun den weiblichen entgegenzusetzen, sondern vielmehr um Auswirkungen bestimmter historischer Ereignisse oder Prozesse auf die Frauen. Dabei werden manchmal grundsätzliche historische Paradigma hinterfragt. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die von Joan Kelly gestellte Frage: „Did women have a Renaissance?" und ihrer Antwort: „No, at least not during the Renaissance", die eine ganze Reihe von weiteren Studien anregte.20 Ähnliches gilt für die von der Frauenbewegung übernommene Debatte über die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, die mit dem Schlagwort: „Das Private ist das Öffentliche" nicht nur eine politische Provokation darstellte, sondern auch auf die unauflösbaren Verschränkungen zwischen diesen Sphären für beide Geschlechter hinwiesen. Aus solchen Anstößen entstanden in der Ge-

20

Joan Kelly-Gadol: Did Women have a Renaissance?, in: Renate Bridenthal u.a. (Hg.): Becoming visible: Women in European History, Boston 1977, S. 137-64.

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schichtswissenschaft neue Fragestellungen und Perspektiven, die mittlerweile eine Reihe von sozialhistorischen Studien beeinflußt haben. 21 Am Beginn der Debatte um Frauengeschichte und allgemeine Sozialgeschichte stand in Europa und den USA ebenfalls eine teilweise sehr polemisch geführte Auseinandersetzung um die Gewichtung der Faktoren Klasse und Geschlecht. So fragte Jürgen Kocka 1981, ob nicht „die junge, gebildete Adlige in der Hauptstadt des neugegründeten Bismarck-Reichs mit ihrem etwa gleichaltrigen Bruder sehr viel mehr gemein [habe] als mit einer älteren, verwitweten, aus ärmsten Verhältnissen stammenden, weder lese- noch schriftkundigen polnischen Saisonarbeiterin, wie sie zur selben Zeit allsommerlich in Sachsen zu finden waren." 22 Gisela Bock antwortete mit dem Hinweis darauf, daß dieses Bild „zwar plastisch tiefe und tatsächliche Unterschiede zwischen Frauen [zeigt], doch mit Mitteln, die gerade keine Klassenunterschiede sind. Die Adlige ist jung, die Arbeiterin alt; die Adlige ist gebildet, die Arbeiterin kann nicht lesen und schreiben; die Adlige ist ledig, die Arbeiterin verwitwet; die Adlige ist deutsch, die Arbeiterin polnisch; die Adlige lebt in der Stadt, die Arbeiterin auf dem Land. Doch Alter, Familienstand, ethnisch-nationale Zugehörigkeit, städtisches oder ländliches Milieu sind keine Klassenkriterien. [....] Sagt das Bild also nichts über das Verhältnis von Klasse und Geschlecht, so besagt es doch etwas anderes und Wichtiges: Die genannten Unterschiede bezeichnen ebenso große Unterschiede innerhalb eines Geschlechts wie innerhalb einer Klasse. Sie zeigen, daß weder Klassen noch Geschlechter homogene - oder gar immer solidarische - Gruppen sind." 23 Eine ähnlich scharfe Debatte hat es für Lateinamerika nicht gegeben, was auch damit zusammenhängen mag, daß die Frauenforschung zu dieser Region erst relativ spät begann, und damit bestimmte Abgrenzungen und Klarstellungen wie sie die oben dargestellte Debatte widerspiegeln, nicht mehr nötig waren. Dies gilt um so mehr, als die Frauengeschichte hierzu lange Zeit von nordamerikanischen und einigen europäischen Forscherinnen (und einigen wenigen Forschern) dominiert wurde, die mit dieser Diskussion bereits vertraut waren. Für Lateinamerika begann der Aufschwung der Frauenforschung in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, befördert unter anderem durch die 1975 von der

21

Vgl. für Deutschland hierzu die Aufsätze über Öffentlichkeit und Privatheit in Karin Hausen/Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte, Frankfurt und New York 1992. 22 Jürgen Kocka: Frauengeschichte zwischen Wissenschaft und Ideologie, in: Geschichtsdidaktik 7 (1981), S. 99-104, hierS. 104. 23 Gisela Bock: Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 14:3 (1988), S. 364-391, hier S. 384f.

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UNESCO ausgerufene Dekade der Frauen.24 Von einer Männergeschichte im eigentlichen Sinne25 kann aber bislang nicht die Rede sein, es sei denn, man bezieht die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Versuche einer Erklärung des machismo mit ein. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch darauf hinzuweisen, daß Geschlechtergeschichte nicht als Addition von Männer- und Frauengeschichte verstanden werden darf, sondern diese sich mit den Wechselwirkungen beider aufeinander befaßt.26 Weiter fortgeschritten ist dagegen die Familiengeschichte, die sich zunächst auf die Familien der Oberschicht konzentrierte.27 Bei diesen Elite-Studien hatten 24

Die ersten umfassenderen Darstellungen waren Ann Pescatello: Power and Pawn. The Female in Iberian Families, Societies, and Cultures, Westport/Conn. 1976; Asunción Lavrin (Hg.): Latin American Women: Historical Perspectives, Westport/ Conn. 1978; June Hahner: Women in Latin American History, Los Angeles 1980. Diesen folgten Silvia M. Arrom: The Women of Mexico City, 1790-1857, Stanford 1985; Pilar Gonzalbo Aizpuru: Las mujeres en la Nueva España. Educación y vida cotidiana, México 1987, und Asunción Lavrin (Hg.): Sexuality and Marriage in Colonial Latin America, Lincoln und London 1989. Zu einem ausführlicheren Literaturüberblick siehe Susana Menéndez und Barbara Potthast: Introducción: dies. (Hg.): Mujer y Familia en América Latina, siglos XVIII-XX. (Cuadernos de Historia Latinoamericana No. 4), Málaga 1996, S. 7-26. 25 Zu einer genaueren Abgrenzung der Bereiche untereinander vgl. Bock: Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, S. 364-391, und Hausen/Wunder: Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte, bes. S. 12f. 26 Ein erster größerer Versuch mit geschlechtergeschichtlichem Ansatz ist das Buch von Steve Stern: Secret History of Gender: Women, Men, and Power in Late Colonial Mexico, Chapel Hill 1995. 27 Diana Balmori, Stuart Voss und Miles Wortmann: Notable Family Networks in Latin America, Chicago 1984; Christian Büschges: Familie, Ehre und Macht: Konzept und soziale Wirklichkeit des Adels der Stadt Quito (Ecuador) während der späten Kolonialzeit, 1765-1822, Stuttgart 1996; Mary Felstiner: The Larrain Family in the Independence of Chile, 1730-1830, Phil. Diss., Stanford University 1970; Charles Harris: A Mexican Family Empire: The Latifundio of the Sanchez Navarros, 1765-1867, Austin 1975; John E. Kicza: Colonial Entrepreneurs: Family and Business in Bourbon Mexico City, Albuquerque 1984; John E. Kjzca: The Great Families of Mexico: Elite Maintenance and Business Practices in Late Colonial Mexico City, in: HAHR 62 (1982), S. 429-57; Doris Ladd: The Mexican Nobility at Independence, 1780-1826, Austin 1976; Larissa A. Lomnitz/Marisol Pérez Lizaur: A Mexican Elite Family, 1820-1980: Kinship, Class and Culture, Princeton 1987; Larissa A. Lomnitz/Marisol Pérez Lizaur: Dynastic Growth and Survival Strategies: The Solidarity of Mexican Grand-Families, in: Elisabeth Jelin (Hg.): Family, Household and Gender Relations in Latin America, London u.a. 1991, S. 123-132; Susan M. Socolow: Marriage, Birth and Inheritance: The Merchants of Eighteenth-Century Buenos Aires, in: HAHR 60 (1980), S. 387406; Susan M. Socolow: The Merchants of Buenos Aires 1778-1810: Family and Commerce, Cambridge 1978; Susan M. Socolow: The Bureaucrats of Buenos Aires, 1769-1810: amor al real servicio, Durham 1987; John Tutino: Power, Class and Family: Men and Women in the Mexican Elite, 1750-1800, in: The Americas 39 (1983), S. 359-81; Ann Twinam: Miners, Merchants, and Farmers in Colonial Columbia, Austin: Univ. of Austin Press 1982.

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zumeist politische oder wirtschaftliche Fragestellungen im Vordergrund gestanden, sie rückten jedoch nicht nur wirtschaftlich einflußreiche und aktive Frauen ins Blickfeld, sondern gestatteten durch eine günstige Quellenlage in einigen Fällen auch einen Einblick in das private Leben dieser Familien - inklusive ihrer Frauen. 28 Für die unteren Schichten wurde dies durch die Analyse von Testamenten und Gerichtsakten möglich. 29 Eine andere Linie der Frauen- und Familiengeschichte entwickelte sich aus der historischen Demographie, die durch die Analyse von Bevölkerungserhebungen und Kirchenbüchern im Hinblick auf Haushalts- und Familienstrukturen auf das Thema aufmerksam wurde. Besonders die zunächst überraschende Feststellung, daß sich gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem in den Städten ein sehr hoher Prozentsatz von Frauen als Haushaltsvorstände fand, schlug wieder eine Brücke zur Frauengeschichte. 30 Dies könnte zu der Annahme fuhren, daß diese Bereiche inzwischen fest etabliert sind innerhalb der historischen Zunft, doch dieser Anschein trügt. Ein Blick auf die neueren Handbücher zeigt, daß - wenn überhaupt - nur die Frauengeschichte berücksichtigt wird, während die Geschlechter- und Familiengeschichte noch so gut wie gar nicht vorkommen. Andererseits ist aber auch das Fehlen akzeptabler Gesamtdarstellungen offenkundig. Zwar gibt es gerade für die Kolonialzeit inzwischen eine Fülle von hervorragenden Einzelstudien, doch existiert abgesehen von dem Handbuchartikel in der Cambridge History of Latin America - noch keine Gesamtdarstellung. 31 28

Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist die Familie der Condes de Regia; Edith Couturier: Women in a Noble Family: The Mexican Counts of Regla, 1750-1830, in: Asunción Lavrin (Hg.): Latin American Women: Historical Perspectives, S. 129-149. 29 Vgl. hierzu als eines der ersten Beispiele Edith Couturier: Michaela Angela Carillo: Widow and Pulque Dealer, in: David Sweet und Gary Nash (Hg.): Struggle and Survival in Colonial America, Berkely 1981, S. 362-375. 30 Hier leistete Elisabeth Kuznes Pionierarbeit, vgl. The Role of the Female-Headed Household in Brazilian Modernization: Säo Paulo 1765 to 1836, in: Journal of Social History 14 (1980), S. 589-613, und dies.: Household Composition and Headship as Related to Changes in Mode of Production: Säo Paulo, 1765-1836, in: CSSH 22 (1980), S. 78-108. Siehe auch Inge Langenberg: Urbanisation und Bevölkerungsstruktur der Stadt Guatemala in der ausgehenden Kolonialzeit. Eine sozialhistorische Analyse der Stadtverlegung und ihrer Auswirkungen auf die demographische, berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung (1773-1824), Köln und Wien 1981, oder Silvia Arrom: Marriage Patterns in Mexico City, 1811, in: Journal of Family History 3 (1978), S. 376-391. Inzwischen sind eine Reihe weiterer Arbeiten zu diesen Themen hinzugekommen. 31 Asunción Lavrin: Women in Spanish American colonial society, in: Leslie Bethell (Hg.): The Cambridge History of Latin America, Bd. 2: Colonial Latin America, Cambridge 1984, S. 321355. Vgl. darüber hinaus die in Anm. 24 genannten Titel und Sammelbände. Die Darstellungen

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Möglicherweise liegt dies nicht nur daran, daß die Studien zu diesem Themenkomplex in bezug auf Lateinamerika noch relativ neu sind, sondern auch daran, daß man sich der enormen Komplexität des Themas bewußt ist. Die am Beginn der Frauengeschichtsschreibung verbreitete Vorstellung, Frauen hätten im wesentlichen eine gleiche Geschichte, nämlich die der Marginalisierung in einer patriarchalischen Gesellschaft, ist - zumindest in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung - nicht mehr verbreitet. 3. Ethnie, Klasse, Geschlecht und Alter Dies fuhrt uns zu den Zusammenhängen zwischen der Geschlechter- und Familiengeschichte sowie der Debatte um den Charakter der Kolonialgesellschaft und ihren Wandel im 18. Jahrhundert, die im folgenden anhand zweier Beispiele dargestellt werden soll. In beiden spielt das Heiratsverhalten als Ausdruck sozialer Abgeschlossenheit oder Mobilität sowie der Möglichkeit, individuellen Neigungen bei der Partnerwahl nachzugehen und sich von ständischen oder korporativen Zwängen zu entfernen, eine wichtige Rolle. Zunächst wird skizziert, wie man anhand demographischer Daten idealtypische Lebensverläufe nach Geschlecht und casta getrennt rekonstruieren kann. Anschließend soll erneut nach dem Heiratsverhalten gefragt werden, aber nicht auf der Grundlage einer demographischen Analyse von Heiraten über die casta-Grenzen hinweg, sondern auf der Basis der Auswahlkriterien für die Ehepartner und im Hinblick auf das Verhältnis von Eltern und Kindern in diesem Zusammenhang, um so auf der stärker

von Josefina Muriel beziehen sich im wesentlichen auf die Spanierinnen oder die indianischen Caziquentöchter oder Cazicas. Auch ist zumindest der neueste Band methodisch-theoretisch nicht auf der Höhe der Forschung. Für das 19. und 20. Jahrhundert sieht die Situation durch die Darstellung von Francesca Miller über die Frauenbewegung sowie die grundlegende Darstellung von Asunción Lavrin zum Cono Sur ein wenig besser aus. Im Hinblick auf die Familiengeschichte ist ähnliches zu konstatieren wie für die Frauengeschichte. Den hervorragenden Sammelbänden des Colegio de México über die Geschichte der Familie sind bislang keine umfassenden allgemeinen Darstellung gefolgt. Josefina Muriel: Cultura feminina novohispana, Mexiko 1982; Josefina Muriel: Las mujeres de Hispanoamérica. Epoca Colonial, Madrid 1992; Francesca Miller: Latin American Women and the Search for Social Justice, Hanover/NH 1991; Asunción Lavrin: Women, Feminism, and Social Change in Argentina, Chile and Uruguay, 1890-1940, Lincoln 1995; Pilar Gonzalbo Aizpuru (Hg.): Historia de la familia, México 1993; Pilar Gonzalbo Aizpuru u.a. (Hg.): Familias novohispanas, Siglos XVI al XIX, seminario de Historia de la Familia, Mexico 1991; Pilar Gonzalbo Aizpuru/Cecilia Rabell Romero (Hg.): Familia y vida privada en la historia de Iberoamérica, Seminario de historia de la familia, Mexico 1996; Pilar Gonzalbo Aizpuru/Cecilia Rabell Romero (Hg.): La familia en el mundo iberoamericano, México 1994.

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mentalen und kulturellen Ebene dem Wandel der kolonialen Gesellschaft näher zu kommen. Detaillierte Analysen von Haushaltsstrukturen und ihre Korrelation mit casta und Geschlecht, wie sie inzwischen für verschiedene Regionen vor allem des kolonialen Mexiko vorliegen, haben das Weiterbestehen ethnisch geprägter Schichtungskriterien deutlich gemacht. Sie konnten zudem zeigen, daß diese Männer und Frauen unterschiedlich betrafen. Nehmen wir das Beispiel Antequeras, der Hauptstadt Oaxacas, das in der Polemik der 80er Jahre als Ausgangspunkt des Streites um die Meßmethoden diente. Cecilia Rabell hat die Daten jüngst noch einmal auf die für uns relevante Fragestellung untersucht und dabei zunächst festgestellt, daß die Familienformen in bemerkenswerter Weise mit der casta korrelieren. 32 So ist die durchschnittliche Haushaltsgröße bei den Spaniern am größten und nimmt dann, genau entsprechend der sozialen Position der Gruppen, ab. Überraschender ist aber die Erkenntnis, daß die Zugehörigkeit zu einer Gruppe in hohem Maße den Lebenszyklus bestimmte. Dieser war innerhalb derselben Gruppe für Männer und Frauen sehr unterschiedlich, bei den Männern überschritten die Gemeinsamkeiten jedoch die casta-Grenzen, so daß bei ihnen in mancher Hinsicht die Geschlechtszugehörigkeit entscheidender war als die ethnische. Für die Männer verlief der größte Teil des Erwachsenenlebens in Verbindung mit einer Frau, Witwerschaft war fast immer transitorisch. Für die Frauen dagegen war das Fehlen eines Partners eine häufige und frühe Erfahrung. Im Alter war darüber hinaus für die Männer kaum ein Statusverlust zu verzeichnen, d.h. sie blieben zumeist Haushaltsvorstand. Dies war bei den Frauen anders, allerdings weisen sie ein ethnisch unterschiedliches Muster auf: Etwa die Hälfte der weißen Frauen blieb auch im Alter Haushaltsvorstand oder wurde nach der Verwitwung dazu. Bei den Indianerinnen und castas konnte weniger als ein Viertel der Frauen im Alter den Status als Haushaltsvorstand erreichen oder wahren, die meisten wurden zu sogenannten agregadas in einem anderen Haushalt. 33 Hinzu kommt 32

Cecilia Rabell Romero: Trayectoria de vida familiar, raza y género en Oaxaca colonial, in: Pilar Gonzalbo Aizpuru/Cecilia Rabell Romero (Hg.): Familia y vida privada en la historia de Iberoamérica, S. 75-118. 33 Vgl. hierzu McCaa: Calidad, Clase and Marriage, wo er für Parral (Mexiko) gegen Ende des 18. Jhs. feststellt, daß verwitwete Mulatinnen zum größten Teil Dienstmädchen wurden, ebenso die Hälfte aller verwitweten Indianerinnen. Von diesen kam die andere Hälfte in Haushalten von Verwandten unter, während die Spanierinnen in der selben Situation entweder ihren eigenen Haushalt erhalten konnten und somit zum Haushaltsvorstand avancierten oder von Verwandten aufgenommen wurden. Ein Witwendasein als Haushaltsangestellte war für weiße Frauen die Ausnahme.

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dort eine hohe Kinderzirkulation. 34 In allen Gruppen verließen die Kinder das elterliche Haus, um in einem anderen Haushalt zu lernen oder zu dienen, aber das Alter, wann dies geschah, war je nach casta unterschiedlich. 35 Die meisten dieser Beobachtungen lassen sich mit einer Kombination ökonomischer und ethnischsozialer Faktoren erklären. Der Zusammenhang von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht wird aber auch bei anderen Untersuchungen deutlich, die sich der Frage nach den Möglichkeiten sozialen Aufstiegs innerhalb eines Lebens widmen. So kann man z.B. die Eintragungen in Bevölkerungserhebungen mit denjenigen in Kirchbüchern entweder bei der Geburt oder bei der Heirat - vergleichen, und so feststellen, ob ein Auf- oder Abstieg in eine andere casta stattgefunden hat. 36 Robert McCaa konstatierte für Parral in Nordmexiko, daß gesellschaftlicher Aufstieg für Frauen nur über die Heirat möglich war, während Männer auch berufliche Wege einschlagen konnten. Frauen war eine Heirat in eine höhere casta aber nur in sehr jungen Jahren möglich, d.h. das Alter spielte für sie eine wichtige Rolle, nicht hingegen für die Männer. 37 Ein überraschendes Phänomen der ausgehenden Kolonialzeit war der Umstand, daß der Prozentsatz alleinstehender Frauen gerade unter den Spanierinnen recht hoch war, während man dieses Phänomen bislang eher mit den unteren Schichten oder castas assoziiert hatte. 38 Dieses deutet einmal auf einen Wandel in der Gesellschaft in dem Sinne hin, daß die nicht zu verheiratenden weißen Frauen nun nicht mehr unbedingt in ein Kloster eintreten mußten, sondern auch allein leben konnten. Die Beobachtung verweist aber gleichzeitig auf ein Weiterbestehen ethnisch-ständischer Schranken, denn die plausibelste Erklärung hierfür ist, daß es für eine weiße Frau noch immer undenkbar war, einen Partner aus einer niedrigeren casta zu heiraten, so daß diese, angesichts des Mangels an adäquaten weißen Kandidaten, es vorzogen, ledig zu bleiben. Für die Männer hingegen war diese

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Vgl. zu diesem bislang fast unbeachteten Problem jetzt Ricardo Cicerchia: Minors, Gender, and Family: The Discourses in the Court System of Traditional Buenos Aires, in: The History of the Family 2/3 (1997), S. 331-346. 35 Rabell Romero: Trayectoria de vida familiar, raza y género en Oaxaca colonial. 36 Vgl. hierzu auch die Beobachtung über die Entwicklung bei dem Anteil der verschiedenen castas an der Gesamtbevölkerung, die sich nur durch den Wechsel in der Kategorisierung erklären lassen, in Pilar Gonzalbo Aizpuru: Con amor y reverencia. Mujeres y familias en el México colonial: Jahrbuch fur Geschichte Lateinamerikas, 1998, S. 1- 24. 37 McCaa: Calidad, Clase and marriage. 38 Rabell Romero: Trayectoria de vida familiar, raza y género en Oaxaca colonial; Arrom: Marriage Patterns; McCaa: Calidad, Clase and Marriage.

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Schranke nicht mehr so wichtig, bzw. sie hatten die Möglichkeit, mit einer Frau einer anderen casta in einem freien Verhältnis zu leben. Alles in allem belegen diese Daten somit sowohl einen Wandel der Gesellschaft als auch die Fortdauer ethnisch-ständischer Schichtungskriterien, besonders im Hinblick auf die Frauen. Darauf spielt auch Marisol de la Cadena in dem eingangs erwähnten Aufsatz Women are more Indian an. Sie stellt fest, daß bis heute Frauen - im Gegensatz zu den Männern - fast nur über eine Heirat eine ethnische Wandlung durchmachen können. Diese besteht in dem von ihr untersuchten Dorf im wesentlichen in der Mestizisierung der überwiegend indianischen Bevölkerung und geht mit der Aneignung städtisch-mestizischer Qualifikationen wie z.B. dem Erlernen der spanischen Sprache oder eines Berufes einher. Solche kulturelle Mestizisierung ist jedoch fast nur für Männer erreichbar, so daß „die Modernisierung [...] die Indianisierung der Frauen gefördert [hat]." 39 Dieser Prozeß schlägt sich auch in der ethnischen Einteilung der Dorfbewohner nieder, in der bei den Mestizen die Männer mit etwa 70% vertreten sind, bei den Indianern hingegen nur 26%. 74% der als indianisch bezeichneten Personen sind weiblich. Aufschlußreich ist allerdings auch, daß etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Dorfes als im Wandlungsprozeß von indianisch zu mestizisch begriffen angesehen wird. 40 Solche Untersuchungen sozialen Wandels, die die Eigen- und Fremdwahrnehmung mit einbeziehen, sind für die Kolonialzeit naturgemäß kaum zu leisten, doch kann man dem anhand verschiedener Quellengattungen zumindest nahe kommen. Abschließend möchte ich daher noch kurz einige Untersuchungen vorstellen, die die Frage nach einem Wandel der kolonialen Gesellschaft unter dem Aspekt untersuchen, ob sich die Kriterien und Möglichkeiten der Partnerwahl veränderten. Ausgangspunkt ist die für Europa formulierte These, daß die Entstehung des Kapitalismus die patriarchalischen Familienstrukturen schwächte und Individualismus und die Beachtung individueller Gefühle stärkte,41 was eine individuellere und stärker auf Gefühlen basierende Partnerwahl erlaubt hätte. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, analysierte man inhaltlich, semantisch und quantitativ Konflikte um die Wahl des Ehepartners wie sie sich entweder in kirchlichen Do39

de la Cadena: Women are more Indian, S. 343. de la Cadena: Women are more Indian, bes. S. 341. Vgl. auch Linda J. Seligmann: To Be In Between: The Cholas as Market Women, in: CSSH 31:4 (1989), S. 694-721. 41 Edward Shorter: The Making of the Modern Family, New York 1975; Laurence Stone: The Family, Sex and Marriage in England, 1500-1800, New York 1977; Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt/M. 1987. 40

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kumenten oder - besonders seit der R.C. von 1778 über die „ungleichen Ehen" auch in den staatlichen Akten fanden. Die Ergebnisse waren unterschiedlich, letztlich betonten jedoch alle die steigende Bedeutung ökonomischer Faktoren: Patricia Seed kam in ihrer Studie über To love, honour and obey in Colonial Mexico zu dem Schluß, daß wirtschaftlicher Erfolg statt ständischer Position für die Eltern immer größeres Gewicht bei der Eheanbahnung erlangte. Nun hätten fast nur noch ökonomische Kriterien eine Rolle gespielt, während die Ehre, sowohl die weibliche als auch die Familienehre, weniger wichtig wurden. 42 Gutiérrez dagegen stellte - aufgrund anderer Meßkriterien und Quellen und für eine andere Region - das Gegenteil fest. Allerdings gibt er einen deutlichen Hinweis darauf, wie diese Diskrepanz u.a. zu erklären ist, wenn er konstatiert, daß „Kaufleute, Handwerker, Lohnarbeiter und andere sozial unabhängige Arbeiter, die aktiv an der kapitalistischen Produktion beteiligt waren, diejenigen [waren], die ihre Gefühle und Liebe offen als Grund für eine Ehe." 43 Abgesehen davon, daß Seeds Schlußfolgerung aus anderen Gründen angreifbar ist,44 wird der gesellschaftliche Wandel in bezug auf soziale Ungleichheit auch in der Studie von Susan Socolow bestätigt, die die Auseinandersetzungen aufgrund der R.C. von 1778 in Buenos Aires und Córdoba miteinander verglich. 45 Diese ergab nicht nur, daß in der traditionellen Gesellschaft Córdobas gegen ca. 10% aller Eheschließungen Einspruch erhoben wurde, weil sie ungleiche Personen miteinander verbinden wür-

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Patricia Seed: The Church and the Patriarchal Family: Marriage Conflicts in Sixteenth- and Seventeenth-Century New Spain, in: Journal of Family History 10 (1985), S. 284-293; dies.: To Love, Honor, and Obey in Colonial Mexico. Conflicts over Marriage Choice, 1574-1821, Stanford 1988. 43 Ramón A. Gutiérrez: From Honor to Love: Transformations of the Meaning of Sexuality in Colonial New Mexico, in: Raymond T. Smith: Kinship Ideology and Practise in Latin America. Chapel Hill/London 1984, S. 237-263, hier S. 256. 44 So macht Seed nur in einer Fußnote darauf aufmerksam, daß die Zahl der elterlichen Einsprüche insgesamt abgenommen hat (von 389 zwischen 1574 und 1689 auf 49 zwischen 1779 und 1821), und dies trotz des rasanten Bevölkerungsanstiegs in Mexiko in der fraglichen Zeit. Darüber hinaus finden sich für das 18. Jh. fast nur noch Fälle aus der Oberschicht, während vorher alle Schichten beteiligt waren. Man kann die Ergebnisse Seeds auch anders lesen: im 16. Jh. versuchten die Eltern häufig, die Ehen ihrer Kinder zu kontrollieren, die Kirche hinderte sie jedoch meist daran. In der späteren Zeit versuchten nur noch wenige Eltern, dies zu tun (wegen des größeren Individualismus und geringerer Bedeutung des Status) und diese gehörten meist der Oberschicht an. Diese wenigen waren dann jedoch meist erfolgreich. Ein solcher Befund würde dann auch den Ergebnissen von Gutiérrez nicht zuwiderlaufen. Vgl. Silvia M. Arrom: Perspectives on the History of the Mexican Family, in: Latin American Population History Bulletin 17(1990), S. 4-9. 45 Susan Socolow: Acceptable Partners: Marriage Choice in Colonial Argentina 1778-1810, in: Asunción Lavrin (Hg.): Sexuality and Marriage, S. 209-251.

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den, während es im kommerziell aufstrebenden Buenos Aires nur ca. 1% war. Sie stellte auch fest, daß die Ungleichheit in Cördoba vorwiegend ethnisch-sozial begründet wurde, während in Buenos Aires meist ökonomische Kriterien angeführt wurden. Der Wandel hin zu einer offeneren, stärker an wirtschaftlichem Erfolg ausgerichteten Gesellschaft, die zwar vielleicht noch nicht unter dem Begriff einer Klassengesellschaft gefaßt werden kann, aber doch auf eine solche hinsteuert, ist hier also eindeutig greifbar.46 Gerade diese R.C. von 1778 bringt uns zurück zu Richard Konetzke und seinen Leistungen, aber auch den Grenzen seiner Arbeiten. Konetzke hatte schon auf die Bedeutung der Bestimmung hingewiesen, aber ihre gesellschaftlichen Auswirkungen nicht genauer untersucht. Ihm war sie ein weiterer Beweis dafür, daß die Krone „das spanisch-indianische Connubium legalisierte und ihm jede soziale Diskreditierung zu nehmen versuchte", ja er meinte sogar, es habe die „Entstehung eines Mestizentums legitimer Geburt" begünstigt.47 Wie wir heute wissen, war dies nicht so. Hier zeigt sich einmal mehr, daß der rechtshistorische Ansatz nur den Rahmen abstecken kann, eine moderne sozialgeschichtliche Analyse jedoch weiter gehen muß. Die hier vorgestellten Untersuchungen weisen auf weitere Aspekte hin, so auf die Verschränkung von privaten und öffentlichen Interessen oder die Notwendigkeit, soziale Schichtung und deren Auswirkungen auch im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis zu untersuchen, ohne das soziale Ungleichheit sowohl auf der horizontalen als auch auf der vertikalen Ebene nicht hinreichend erfaßt werden kann.

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Ahnliches wird in den Untersuchungen über die Häufigkeit und den Umfang der Mitgift deutlich. Edith Couturier und Asunción Lavrin: Dowries and Wills: A View of Women's Socioeconomic Role in Colonial Guadalajara and Puebla, 1640-1790, in: HAHR 59/2 (1979), S. 280-304. Muriel Nazzari: Parents and Daughters. Change in the Practice of Dowry in Säo Paulo (1600-1770), in: HAHR 70/4 (1990), S. 639-665. 47 Richard Konetzke: Die Mestizen in der kolonialen Gesetzgebung. Zum Rassenproblem im spanischen Amerika, in: Archiv für Kulturgeschichte 42/2 (1960), S. 131-177, hier S. 146.

Konzeptionen für die Stellung verschiedener Rassen in der Unabhängigkeitsbewegung Lateinamerikas. Ein Beitrag zur Gleichstellung von »Minderheiten« im Revolutionszeitalter 1 Karin

Schüller

„Kann man, soll man heute noch über Rassen schreiben? Dürfen wir es in Deutschland, nach dem Furchtbaren, das hier im Namen einer Rassenideologie geschehen ist? Jeder, der das Wort Rasse benützt, setzt sich dem Verdacht aus, ein Rassist zu sein und bewußt oder unbewußt faschistisches Gedankengut zu vertreten. Es gibt jedoch Regionen auf dieser Welt, über die man nicht schreiben kann, ohne mit dem Begriff der Rasse zu operieren." 2 Zu diesen Regionen gehört Lateinamerika. In einem Literaturbericht über die Beziehungen von Rassen in den unabhängigen Staaten Lateinamerikas konstatierte Magnus Mörner, daß diese Problematik für die Zeit der Unabhängigkeitskämpfe noch immer einer Bearbeitung

1 Der vorliegende Aufsatz stellt eine Synthese aus dem auf dieser Tagung gehaltenen Vortrag und einem am 21. Januar vor der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln gehaltenen Habilitationsvortrag dar. 2 Karl Kohut: Einleitung. Rasse als Problem der Karibikforschung, in: Karl Kohut (Hg.): Rasse, Klasse und Kultur in der Karibik, Frankfurt a.M. 1989, S. 9. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Indianern, Weißen und Schwarzen, für die deshalb der Begriff „Rasse" benutzt werden soll, weil der inzwischen gängige Begriff „Ethnie" eher kulturelle Einheiten meint, die etwa durch eine gemeinsame Sprache verbunden sind, während „Rasse" auf Gemeinsamkeiten der Hautfarbe und andere gemeinsame physische Merkmale hinweist. Da es völlig unangemessen erscheint, alle Schwarzen oder alle Indianer Lateinamerikas als eine einzige Ethnie zu bezeichnen, erscheint der Begriff der Rasse treffender. Zum Rassebegriff in der Geschichte vgl. Wener Conze u. A. Sommer: Rasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 135-178. Zum Begriff der „Ethnie", wie er hier verstanden wird, vgl. die sich an Max Weber anlehnende Definition bei Magnus Mörner: Ethnicity, social mobility and mestizaje in Spanish American Colonial History, in: Iberische Welten. Festschrift zum 65. Geburtstag von Günter Kahle, hrsg. v. Felix Becker u.a., Köln u.a. 1994, S. 301. Zur Unterscheidung zwischen den Begriffen „Ethnie" und „Rasse" vgl. z. B. Peter Waldmann: Einleitung, in: Iberoamerikanisches Archiv. Zeitschrift für Sozialwissenschaften und Geschichte. Neue Folge 19 (Ethnizität in Lateinamerika. Zur aktuellen Diskussion über eine alte Frage), (1993), S. 205-206.

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durch den Historiker harre.3 Seit der Veröffentlichung dieses Literaturberichtes im Jahr 1970 wurden die amerikanischen Emanzipationsbewegungen in ihren unterschiedlichen und vergleichbaren Merkmalen mehrfach umfassend dargestellt, wobei allerdings die aktive bzw. passive Rolle der Rassengruppen in den Kämpfen sowie die Politik der Unabhängigkeitskämpfer gegenüber diesen Rassengruppen nur am Rande Erwähnung findet, 4 eine systematische und vor allem vergleichende Darstellung steht nach wie vor aus. Mörner begann seine Ausfuhrungen damals mit dem Satz: „Während der Kolonialzeit in Lateinamerika bestimmte die ethnische Zugehörigkeit des Individuums seinen Rechtsstatus und seine soziale Stellung innerhalb eines hierarchischen Ständesystems sozialer Schichtung".5 Dies traf gleichermaßen für Indianer, Weiße und Schwarze zu, denn um zu allgemein gültigen Aussagen über die Behandlung von Rassen in Lateinamerika zu gelangen, sollten auch die Weißen in die Betrachtung mit einbezogen werden. Zum Beispiel konnte der in der Kolonialzeit herrschende Arbeitszwang auch Weiße betreffen. Neben den Formen der indianischen Arbeitsverpflichtung und der Negersklaverei gab es auch die Institution der weißen engagés bzw. identured servants', das waren Europäer, die sich für eine Anzahl von Jahren zur Arbeit in den Kolonien verpflichteten 6 und die häufig als „weiße Sklaven" bezeichnet werden. In Bereichen außerhalb des Arbeitszwanges läßt sich die ungleiche Stellung verschiedener Rassen in der Kolonialzeit an weiteren Beispielen belegen. Nur Indianer, freie Schwarze und freie Mischlinge mußten in Hispanoamerika eine Kopfsteuer bezahlen, Weiße dagegen nicht. Auf der anderen Seite wurde die Verkaufssteuer der alcabala nur für kastilische, nicht aber für indianische Waren erhoben. In Peru mußten die Indianer die alcabala bis zum Ende des 16.

3 Magnus Mörner: Historical Research on Race Relations in Latin America During the National Period, in: Magnus Mörner (Hg.): Race and Class in Latin America, New York, London 1970, S. 205. 4 Vgl. etwa James Lockhart/Stuart B. Schwartz: Early Latin America. A history of colonial Spanish America and Brazil, Cambridge u.a. 1983, 61993, S. 405-426. Jorge I. Domínguez: Insurrection or Loyality. The Breakdown of the Spanish American Empire, Cambridge (Mass.), London 1980, insbesondere das Kapitel „Ethnicity" S. 28-45; Lester D. Langley: The Americas in the Age of Revolution 1750-1850, New Haven, London 1996. 5 Magnus Mörner: Race Relations in Latin America, S. 199: „During the colonial period in Latin America the ethnic condition of the individual determined his legal status and social position within a hierarchical estate system of social stratification". 6 Vgl. z.B. Günter Kahle: Lateinamerika in der Politik der europäischen Mächte 1492-1810, Köln u.a., S. 49.

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Jahrhunderts (1596) überhaupt nicht zahlen. 7 Die Indianer unterstanden laut Gesetz ebensowenig der Inquisitionsjustiz, da sie im Glauben als zu wenig gefestigt angesehen wurden, um in diesem Bereich straffällig werden zu können. 8 Ein wesentliches Merkmal der gesetzlichen Ungleichbehandlung war vor allem in Hispanoamerika also auch das Schutzmotiv. Das heißt, der Indianer hatte zwar weniger Rechte, aber auch weniger Pflichten. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, daß es auf staatlicher Ebene in der Kolonialzeit nur Weiße waren, die über die Stellung der verschiedenen Rassen bestimmen konnten. Diese grundsätzliche Konstellation veränderte sich nun mit den Unabhängigkeitskämpfen. Im folgenden wird anhand von drei Einzelbeispielen skizziert, wie die Stellung von Indianern, Weißen und Schwarzen während der Kämpfe gegen die Kolonialmacht disponibel wurde und wer dabei jeweils über diese gesellschaftliche Stellung entschied. Es geht darum, die Motive der einzelnen Träger der Unabhängigkeitsbewegungen für neue Konzeptionen zu erhellen und die Entwicklung der Diskussionen und Konzeptionen bis zur Gründung der unabhängigen Staaten zu skizzieren und am Schluß miteinander zu vergleichen. In der Historiographie wurde ein solcher komparativer Ansatz, der Schwarze, Indianer und Weiße berücksichtigt, bisher vernachlässigt. Die Stellung des Schwarzen wird am Beispiel Großkolumbiens, die des Indianers am Beispiel Mexikos und die des Weißen am Beispiel Haitis gezeigt. Es handelt sich dabei um jene Unabhängigkeitsbewegungen, in denen soziale Konflikte mit rassischen eng verbunden waren. 9 Das heißt aber nicht, daß diese Beispiele Ausnahmen darstellen, sondern vielmehr, daß in diesen drei Regionen allgemeine Merkmale im Hinblick auf die Rassenpolitik der Unabhängigkeitsbewegung besonders deutlich hervortreten. Abschließend werden deshalb die Ergebnisse sowohl in den Gesamtzusammenhang des amerikanischen Kontinentes als auch in den der Emanzipation von Minderheiten im Revolutionszeitalter gestellt.

7

Hans Pohl: Die Wirtschaft Hispanoamerikas in der Kolonialzeit ( 1 5 0 0 - 1 8 0 0 ) , Stuttgart 1996, S. 34.

8

Richard Konetzke: Süd- und Mittelamerika I. Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt a.M. 1956, S. 282. Zum rechtlichen Status auch der verschiedenen Mischlingsgruppen vgl. Magnus Mörner: Race Mixture in the History o f Latin America, Boston 1967, S. 41-45. 5

Vgl. dazu Mörner: Race Relations in Latin America, S. 204, w o Mörner M e x i k o und Venezuela anfuhrt. Haiti dagegen blendet er im Hinblick auf die Rassenbeziehungen in Lateinamerika völlig aus. Vgl. auch ders.: Race Mixture, S. 80: „Hence, no events were explosive enough to release a large scale socioracial struggle".

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1. Die Stellung der Weißen im Unabhängigkeitskampf Haitis Vor Ausbruch der Französischen Revolution übertrafen die in der Kolonie Saint-Domingue lebenden rund 30.000 Weißen quantitativ die freie Mischlingsbevölkerung von ca. 27.000 nur geringfügig, während beiden Gruppen eine Sklavenbevölkerung von rund einer halben Million gegenüberstand. Die sich an der Spitze der sozialen Pyramide befindenden weißen Plantagenbesitzer sollten gemeinsam mit allen anderen Weißen in der durch die Französische Revolution ausgelösten Haitianischen Revolution erstmalig zum Adressaten von Regelungen werden, die für die Weißen als Rasse getroffen wurden. Im Verlauf der Haitianischen Revolution 10 stieg der ehemalige Sklave Toussaint Louverture zum Gouverneur der Kolonie auf. Formal stand er noch im Dienste Frankreichs, demonstrierte aber 1801 mit einem Verfassungsentwurf seinen Willen, Saint-Domingue nach eigenen Vorstellungen und weitgehend unabhängig von Frankreich zu regieren. Wenig überraschend ist Artikel 3 dieser Verfassung, in dem festgelegt wurde, daß die Sklaverei für immer abgeschafft wird und alle Einwohner Haitis frei sind. In Artikel 4 heißt es dann, jeder könne unabhängig von seiner Hautfarbe alle Ämter in der Kolonie bekleiden." Artikel 73 schließlich garantiert den während der Revolution geflohenen weißen Plantagenbesitzern darüber hinaus ihr Eigentum. 12 Wie erklärt es sich nun, daß Toussaint demnach nicht nur allen Hautfarben Saint-Domingues in seiner Verfassung die gleichen Rechte einräumte, sondern den weißen Grundeigentümern und ehemaligen Sklavenhaltern sogar weiterhin ihr Besitzrecht an den Plantagen zugestand? Toussaint war vor der Revolution als Sklave Aufseher eines Plantagenbezirks gewesen. Durch diese privilegierte Stellung, die ihn zum 10 Die neueste Darstellung der Revolution (erstmalig umfassend mit Blick auf die aufständischen Sklaven) gibt Carolyn E. Fick: The Making of Haiti. The Saint Domingue Revolution from Below, Rnoxville 1990. Einen Überblick der politischen Ereignisse bietet Thomas O. Ott: The Haitian Revolution 1789-1804, Knoxville 1973. Die einzige ausfuhrliche deutsche Darstellung ist immer noch diejenige von Erwin Rüsch: Die Revolution von Saint Domingue, Hamburg 1930, die ideologisch problematisch ist. Eine knappe Zusammenfassung in deutscher Sprache gibt Karin Schüller: Sklavenaufstand - Revolution - Unabhängigkeit: Haiti, der erste unabhängige Staat Lateinamerikas, in: Amerikaner wider Willen. Beiträge zur Sklaverei in Lateinamerika und ihren Folgen, hg. v. Rüdiger Zoller, Frankfurt a.M. 1994, S. 125-143. " Vgl. die Verfassung in: Thomas Madiou: Histoire d'Haiti, Bd. II: de 1799 á 1803, Port-auPrince 1989 (erstmalig erschienen 1847), S. 542. 12

Ebenda, S. 553-554. Luis Mariñas Otero (Hg.): Las constituciones de Haiti, Madrid 1968, S. 16, schreibt über diese Verfassung: „El primogénito de los textos constitucionales haitianos, no obstante que las convulsiones sociales de años anteriores habían alcanzado ya un carácter en extremo sangriento y se había sembrado el odio entre colonos y esclavos, es de una moderación sorprendente".

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Vermittler zwischen seinem Herrn und dessen Sklaven werden ließ, kannte und verstand er die Perspektive des gewinnorientierten Plantagenbesitzers ebenso wie die Situation der Sklaven. 13 Toussaints eigene Politik zielte auf eine rasche wirtschaftliche Erholung des Landes nach den verheerenden Kriegsfolgen, und aus diesem Grund wollte er nicht nur das Plantagensystem beibehalten, sondern auch die wirtschaftliche Erfahrung der ehemaligen Sklavenhalter nutzen. Diese Konzeption wurde jedoch nicht verwirklicht. Napoleon schickte - nicht zuletzt als Antwort auf diesen eigenmächtigen Verfassungsentwurf von 1801 eine Armee nach Saint-Domingue, die die Kolonie wieder vollständig unter die Botmäßigkeit Frankreichs zwingen und die Sklaverei wiedereinführen sollte. Zwar wurde Toussaint Louverture verhaftet und starb 1803 in einem französischen Gefängnis, doch die Franzosen erlitten eine Niederlage. Am 1. Januar 1804 konnte das unabhängige Haiti proklamiert werden. An die Spitze trat nun Jean-Jacques Dessalines, der als ehemaliger Feldsklave die unterste Schicht des kolonialen Haiti repräsentierte und den Weißen gegenüber eine völlig andere Politik verfolgte als Toussaint. Der Wiedereroberungsversuch Napoleons hatte gezeigt, daß Frankreich die neue Führungsrolle der Schwarzen und Mischlinge nicht akzeptierte. Dessalines organisierte wenige Monate nach der Unabhängigkeitserklärung ein Massaker an den noch in Haiti befindlichen Franzosen - eine Demonstration seiner Kompromißlosigkeit gegenüber den Weißen. Die erste Verfassung des unabhängigen Haiti von 1805 schränkte die Rechte von Weißen deutlich ein. Artikel 12 dieser Verfassung lautet „Kein Weißer, gleich welcher Nationalität, wird dieses Territorium als Herr oder Eigentümer betreten und wird in der Zukunft Eigentum in demselben erwerben können". 14 Diese Bestimmung lebte in modifizierter Form in allen haitianischen Verfassungen fort und wurde erst 1918, bezeichnenderweise zur Zeit der US-amerikanischen Ok-

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George F. Tyson (Hg.): Toussaint L'Ouverture, Englewood Cliffs 1973, S. 12-13. Thomas Madiou: Histoire d'Haïti, Bd. III: de 1803 à 1807, Port-au-Prince 1989 (erstmalig erschienen 1847), S. 546: „Aucun blanc, quelle que soit sa nation, ne mettra le pied sur ce territoire à titre de maitre ou de propriétaire, et ne pourra à l'avenir acquérir aucune propriété". Von dieser Bestimmung werden im folgenden Artikel 13 nur weiße Frauen, Polen und Deutsche ausgenommen, die von der Regierung naturalisiert worden waren. Vgl. dazu Karin Schüller, in: Die Haitianer deutscher Herkunft: Jahrbuch fur Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 28 (1991), S. 277-284, Tadeusz Lepkowski: La présence polonaise dans l'histoire d'Haïti et des Haïtiens, in: Estudios Latinoamericanos 11 (1988), S. 141-195, und Jan Pachonski/Reuel K. Wilson: Poland's Caribbean Tragedy. A Study of Polish Legions in the Haitian War of Independence 1802-1803, New York 1986. 14

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kupation Haitis, also mehr als ein Jahrhundert nach Erreichung der Unabhängigkeit, aufgehoben. 15 Im ersten Unabhängigkeitskampf Lateinamerikas befanden damit erstmalig Schwarze über die rechtliche und soziale Stellung der Weißen als Rasse. Nach der Konzeption Toussaints, die vor allem aus wirtschaftlichen Gründen eine völlige Gleichstellung der Weißen vorsah, setzte sich unter Dessalines in Haiti die Vorstellung durch, die gewonnene Führungsposition von Schwarzen und Mischlingen könne nur durch die Benachteiligung der Weißen aufrecht erhalten werden. 2. Die Stellung der Indianer im Unabhängigkeitskampf Mexikos Die besondere Stellung des Indianers ergab sich in Neuspanien wie auch in den anderen Teilen des hispanoamerikanischen Kolonialreiches aus zwei häufig kollidierenden Aspekten der Kolonialpolitik. Zum einen sollte die indianische Arbeitskraft im Interesse des Mutterlandes möglichst effektiv genutzt werden, auf der anderen Seite sollte der Indianer besonderen Schutz erhalten. Die rassische Zuordnung war also zur Einhaltung bestimmter Gesetze notwendig. So wurde etwa in den Kirchenbüchern genau die rassische Zugehörigkeit der Gemeindemitglieder bei Taufen, Heiraten und Sterbefällen registriert. Von den rund 6 Millionen Einwohnern, die Neuspanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte, waren etwa 40 bis 50% Indianer. 16 „Die Tributpflicht unterschied den Indianer eindeutig von der übrigen Bevölkerung". 17 Auch das Bodenrecht der indianischen Dorfgemeinden ist ein unterscheidendes Kriterium. Die Tatsache aber, daß die indianischen Ländereien seit dem 18. Jahrhundert zunehmend zugunsten des Großgrundbesitzes beschnitten wurden, lastete vor Ausbruch der Unabhängigkeitskämpfe auf der indianischen Bevölkerung. Der erste Protagonist der Unabhängigkeit, der sich auf unzufriedene Bevölkerungsteile der Indianer stützte, war der kreolische Priester Miguel Hidalgo y 15

David Nicholls: From Dessalines to Duvalier. Race, Colour and National Independance in Haiti, Cambridge u.a. 1979, S. 53 u. 147. 16 Moisej Samuilovic Al'perovich: Historia de la Independencia de México (1810-1824), México 1967, S. 61, gibt die von Humboldt übernommene Zahl von 2.400.000 an, während Brian Hamnett: Neu-Spanien/Mexiko 1760-1821, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. 2: Lateinamerika von 1760 bis 1900, hg. von Raymond Th. Buve und John R. Fisher, S. 147, die neuere Zahl 3.265.720 von Cook und Borah übernimmt. 17 Hamnett: Neu-Spanien, S. 147. Während Mestizen vom Tribut befreit waren, mußten ihn freie Schwarze und Mulatten zwar theoretisch bezahlen, aber ein sehr hoher Prozentsatz zahlte ihn de facto deshalb nicht, weil er in der Miliz diente und sich deshalb vom Tribut befreien lassen konnte.

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Costilla. Was Hidalgo 1808 in Neuspanien beobachtete, war die Vereitelung eines Planes, der von Teilen des ayuntamiento von Mexiko-Stadt getragen wurde. Es ging um das Problem der Repräsentation. Einige der Stadträte wollten gemeinsam mit dem Vizekönig eine Junta einberufen, in der Vertreter der Städte Neuspaniens zusammenkommen sollten, eine Körperschaft also nach dem Beispiel der spanischen Cortes. Doch diskutiert wurde sogar die darüber hinausgehende Einberufung eines Nationalkongresses mit der Begründung, daß das Mutterland seine Souveränität nicht mehr ausüben könne und dessen Rechte damit an die Bevölkerung der Kolonie fielen.18 Der Gedanke an Unabhängigkeit lag nun nahe und wurde auch ausgesprochen. Der gesamte Plan konnte jedoch von Vertretern der audiencia und des consulado, vor allem Spaniern, vereitelt und der Vizekönig abgesetzt werden. 19 Damit waren die Forderungen, die in Neuspanien im Zuge der Juntabildung von 1808 diskutiert und schließlich gewaltsam unterdrückt wurden, radikaler als irgendwo sonst in Hispanoamerika zum gleichen Zeitpunkt. Vor allem die gebildete, kreolische Schicht der Provinzen, die ihre Hoffnung auf den Gewinn politischen Einflusses mit Hilfe einer repräsentativen Körperschaft enttäuscht sah, 20 plante nun den bewaffneten Aufstand mit Hilfe der indianischen Massen. Zwar versuchten sowohl Hidalgo als auch seine Mitverschwörer gleichzeitig, die Provinzmilizen für ihre Absichten zu gewinnen, doch von diesen waren nur wenige geneigt, sich den Verschwörungen und schließlich dem Aufstand anzuschließen. 21 Den Indianern versprach Hidalgo die Abschaffung der Kopfsteuer. Der Aufstand begann am 16. September 1810. Am 5. Oktober reagierte der Vizekönig, indem er einen Erlaß des Mutterlandes proklamieren ließ, der bereits fünf Monate zuvor die Kopfsteuer der Indianer abgeschafft hatte und die Rückgabe von Ländereien an die indianischen Gemeinden vorsah. 22 Die Insurgentenführer proklamierten nun überall dort, wo sie die Lage beherrschten, die Aufhebung der Kopfsteuer, die Abschaffung der Sklaverei

18 Ernesto de la Torre Villar: La Constitución de Apatzingán y los creadores del estado mexicano, México 1964, Doc. 3, S. 120-129. " Al'perovich: Independencia, S. 102-105; John Lynch: The Spanish American Revolutions 1808-1826, London 1973, S. 304-306; Hamnett: Neu-Spanien, S. 174-177, wo die Ursprünge des Repräsentationsgedankens bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden. 20 Hamnett: Neu-Spanien, S. 177. 21 Lynch: Spanish American Revolutions, S. 307. 22 Moisej Samuilovic Al'perovich: Hidalgo und der Volksaufstand in Mexiko, in: Lateinamerika zwischen Emanzipation und Imperialismus, 1810-1960, hg. v. Walter Markov u. Manfred Kossok, Berlin 1961, S. 52-53 u. 58.

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und das Ende einer Klassifizierung der Mexikaner nach Rassenzugehörigkeit.23 Den Höhepunkt bildete Hidalgos Dekret vom 5. Dezember, in dem die Rückgabe der Ländereien der indianischen Gemeinden in Aussicht gestellt wurde.24 Die Umstände des beginnenden Kampfes führten also zu einem „aus taktischen Erwägungen und Zwängen eingeleiteten Kampf um die Indianer".25 Beide Seiten warben um die Unterstützung der Indianer, die einen zur Erreichung der Unabhängigkeit, die anderen zu ihrer Verhinderung. Doch als sich zeigte, daß das Insurgentenheer gut organisierten Miliztruppen unterlegen war und gleichzeitig deutlich wurde, daß die Indianer jener Provinzen nicht gewonnen werden konnten, in denen soziale Spannungen kaum ausgeprägt waren, begannen die Insurgenten, auch um die Unterstützung der Kreolen zu werben. Noch im selben Monat Dezember 1810, in dem er die Rückgabe der indianischen Ländereien gefordert hatte, versicherte Hidalgo den grundbesitzenden Kreolen in einem Aufruf, daß er ihr Eigentum sichern wolle und nur die Unabhängigkeit von Spanien anstrebe.26 „Hidalgo stellte also in einigen Fällen das sozialökonomische Programm in den Vordergrund, das die Bestrebungen der breiten Massen widerspiegelte, und in anderen Fällen überging er es mit Stillschweigen und beschränkte sich nur darauf, zum Sturz des Kolonialjoches und zur Herstellung der Unabhängigkeit aufzurufen". 27 Ob Hidalgo sozialreformerische Ziele aus ideellen Gründen verfolgte, ist bis heute umstritten, da unter seiner Führung keine Konzeption für das zu errichtende unabhängige Mexiko erarbeitet wurde.28 In dem Maße, in dem mit der Schlagkraft des schrumpfenden indianischen Heeres allein keine Erfolge mehr erzielt werden konnten, stellten die Insurgen23

Ebenda: S. 65-66. Bernd Schröter: Volksbewegung im Spannungsfeld von Kolonialfeudalismus und bürgerlicher Revolution. Studien zu Rolle und Formen der Volksbewegung in den lateinamerikanischen Unabhängigkeitsrevolutionen 1810-1826, unveröffentlichte Dissertation A, Leipzig 1984, S. 121. 25 Ebenda, S. 114. 26 Torre Villar: La Constitución, Doc. 10, S. 203-204: „si deseáis la quietud pública, la seguridad de vuestras personas, familias y haciendas, y la prosperidad de este reino: si apetecéis que estos movimientos no degeneren en una revolución que procuramos evitar todos los americanos, exponiéndonos en esta confusión a que venga un extranjero a dominamos: en fin, si queréis ser felices, desertaos de las tropas de los europeos y venid a uniros con nosotros".

24

27

Al'perovich: Hidalgo und der Volksaufstand, S. 69. Brian Hamnett: Roots of Insurgency. Mexican Regions, 1750-1824, Cambridge u.a. 1986, S. 17-18. Al'perovich: Hidalgo und der Volksaufstand, S. 69, vertritt folgende Auffassung: „Aber diese gewisse Inkonsequenz von Hidalgo hatte ihre Ursachen hauptsächlich in den objektiven Bedingungen und in der Verteilung der Klassenkräfte, jedoch nicht in seiner Sorge um die Interessen der besitzenden Klassen". 28

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tenführer jedoch Konzepte zugunsten der Indianer in den Hintergrund und betonten stattdessen den Schutz der Besitzenden und die Garantie des Eigentums. Die unter der Führung Morelos' entstandenen Konzeptionen spiegeln diesen Konflikt der Insurgentenflihrer zwischen Indianerpolitik einerseits und dem Werben um die Kreolen andererseits ebenfalls wider. Die Mitte 1811 in Zitácuaro von den Insurgenten gebildete Junta klammerte die sozialen Belange der Indianer vollständig aus, 29 d.h. die gemäßigten Insurgentenflihrer gewannen zunehmend an Einfluß. 1812 wurde in Cádiz die liberale Verfassung des Mutterlandes proklamiert, die im Hinblick auf die Indianer bereits liberale Vorgaben machte. Als die Insurgenten ein Jahr später in Neuspanien den Kongreß von Chilpancingo einberiefen, versuchte Morelos noch einmal in dem von ihm vorgetragenen Konzept für eine mexikanische Verfassung in wesentlichen Punkten über die Verfassung von Cádiz hinauszugehen: alle Mexikaner sollten gleichgestellt werden, einschließlich Indianer und Schwarze. Zwar wurde gleichzeitig die Sicherheit des Eigentums garantiert, aber auch die Notwendigkeit betont, die Löhne der Armen zu erhöhen und eine für alle Einwohner geltende progressive Steuer einzuführen. 30 Die 1814 dann schließlich zustande gekommene Verfassung von Apatzingán blieb hinter diesem Programm zurück und war ganz an jener von Cádiz orientiert, 31 die im selben Jahr durch den nach Spanien zurückgekehrten Ferdinand VII. außer Kraft gesetzt worden war. Mit der Verfassung von Apatzingán wollten die Insurgenten den Kreolen nun eine Alternative zu jener von Cádiz bieten, um sie doch noch für die Erlangung der Unabhängigkeit zu gewinnen. 32 Die überwiegende Mehrheit der Kreolen dachte jedoch zu keinem Zeitpunkt daran, die Aufstände von Hidalgo und Morelos zu unterstützen. 33 Erst als 1820 im Mutterland erneut die liberale Verfassung von Cádiz in Kraft gesetzt wurde, kam es zu einer von den Kreolen getragenen Unabhängigkeitsbewegung. In der 1821 unter diesen konservativen Vorzeichen dann tatsächlich erreichten Unabhängigkeit blieb von den Konzeptionen der Insurgenten im Hinblick auf die Indianer nur das Gleichheitsprinzip. Doch damit wurde der Indianer auch seines in der Kolonialzeit zumindest theoretisch vorhandenen

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Al'perovich: Independencia, S. 150 u. Schröter: Volksbewegung, S. 135. Torre Villar: La Constitución, Doc. 83, S. 375-376. 31 Al'perovich: Independencia, S. 184, u. Hamnett: Neu-Spanien, S. 188. Den Verfassungstext vgl. in Torre Villar: La Constitución, Doc. 86, S. 380-402. 32 Schröter: Volksbewegung, S. 147. 33 Günter Kahle: Militär und Staatsbildung in den Anfängen der Unabhängigkeit Mexikos, Köln, Wien 1969, S. 74. 30

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Schutzes beraubt. Seine tatsächliche soziale Stellung verbesserte sich im Mexiko des 19. Jahrhunderts nicht. Während des mexikanischen Unabhängigkeitskampfes wurden die Konzepte für die Stellung der indianischen Bevölkerung von Weißen entworfen, die die Indianer vor allem als kämpfende Soldaten zur Erreichung der Unabhängigkeit gewinnen wollten. Als sich dieses Vorgehen als zunehmend erfolglos erwies, warben dieselben Unabhängigkeitskämpfer stärker um die kreolische Bevölkerung und stellten aus diesem Grund sozialreformerische Belange zugunsten der Indianer mehr und mehr in den Hintergrund. Die mit der Unabhängigkeit erreichte formale Gleichheit brachte keinerlei Maßnahmen mit sich, die die tatsächliche soziale Stellung der Indianer verbessert hätten. Die, vor allem weiße, Oberschicht stellte sich mit Erfolg während des gesamten 19. Jahrhunderts sozialen Reformen entgegen, die die eigene privilegierte Stellung beschnitten hätten. 34 . Auch während der mexikanischen Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts versuchte sich die kreolische Oberschicht unzufriedener indianischer Bevölkerungsteile zu bedienen, um sie gegen den politischen Gegner einzusetzen. Doch die eigenen Interessen der Indianer ließen diese für die Weißen sehr schnell unberechenbar werden. Das heißt, man konnte unzufriedene Stämme nicht einfach benutzen, ohne damit unkontrollierbare Indianeraufstände auszulösen. 35 3. Die Stellung der Sklaven und pardos im Unabhängigkeitskampf Großkolumbiens Auf dem Territorium, das als Großkolumbien seine Unabhängigkeit erreichen sollte, lebten um 1800 rund 2 Millionen Menschen. 36 Davon waren über ein Viertel Weiße, ungefähr gleich viele Indianer und etwa 150.000 Negersklaven. Annähernd die Hälfte der Bevölkerung bestand aus den sogenannten pardos, von denen die meisten Mulatten oder sonstige Mischlinge mit afrikanischen Vorfahren waren. 37 In Venezuela lag die Zahl der pardos und Sklaven deutlich

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Die quantitative Bedeutung der sozialen Mobilität der mestizischen Bevölkerung, die seit den Unabhängigkeitskriegen vor allem über das Militär aufzusteigen vermochte, ist bis heute nicht geklärt: vgl. Mörner: Ethnicity, Social Mobility and Mestizaje, S. 312-313. 35 Vgl. dazu Kahle: Militär und Staatsbildung, S. 210-226, insbesondere S. 225-226. 36 Manuel Lucena Salmoral: Neu-Granada-Großkolumbien, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas Bd. 2, S. 211. 37 Ebenda, S. 217.

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über dem Durchschnitt der Gesamtregion, zwischen 40 und über 50% pardos und zwischen 8 und 15% Sklaven. 38 Von Anfang an war ein Element des Unabhängigkeitskampfes im nördlichen Südamerika das Werben von Royalisten und Patrioten um die Negersklaven als Soldaten. 39 Als 1812 die erste Republik von den Spaniern militärisch ernsthaft bedroht wurde und diese sowohl freie Schwarze als auch Sklaven gegen Caracas einsetzten, proklamierte Miranda im Mai 1812 die Aufstellung von Sklaven auf patriotischer Seite. Jeder Sklave, der zehn Jahre gegen die Spanier kämpfen würde, sollte frei sein. Da jedoch viele Patrioten selbst Sklavenhalter waren, wurde die Regelung in einem Dekret vom 19. Juni 1812 modifiziert, indem die Anzahl der einzusetzenden Sklaven auf 1.000 beschränkt wurde. Andererseits wurde ihre Kampfzeit bis zur Freiheit auf vier Jahre verkürzt. Das Dekret versprach den Besitzern Entschädigung. 40 Dem Aufruf folgten jedoch kaum Sklaven und Ende Juli 1812 kapitulierte Miranda. Eine zunehmende Anzahl rebellierender Sklaven stellte sich eher auf die Seite der Royalisten, z.B. in der Truppe der vorwiegend aus pardos bestehenden Ilaneros unter José Tomás Boves. 41 1813 verurteilte Bolívar in deutlichen Worten die Praxis der Royalisten, mit der Hilfe der dunkelhäutigen Bevölkerung Krieg gegen weiße Patrioten zu fuhren. 42 Doch die Niederschlagung der beiden ersten Republiken führte Bolívar nicht nur ins Exil, sondern ließ ihn auch im Hinblick auf den Einsatz von Sklaven umdenken, und er wandte sich, nachdem ihm auf Jamaica britische Hilfe versagt blieb, nach Haiti. 43 In einem der auf Jamaica, kurz vor seiner Reise nach Haiti, geschriebenen Briefe, findet sich denn auch zum ersten Mal eine abolitionistische Äußerung Bolivars: „Wir glauben, daß alle Söhne des spanischen Amerika, gleich welcher Farbe, gleich unter welchen Bedingungen sie leben, sich gegenseitig in brüderlicher Gewogenheit zugetan sind, die durch keinerlei Intrigen beeinträchtigt werden kann". 44 Die Hilfe des haitianischen Präsidenten 38

Vgl. die unterschiedlichen Zahlen ebenda u. Javier Lavina: ¿Revolución Francesa o miedo a la negritud? Venezuela, 1790-1800, in: Esclavitud y derechos humanos. La Lucha por la libertad del negro en el siglo XIX, hg. v. Francisco de Solano, Madrid 1990, S. 46. 39 Leslie B. Rout, Jr.: The African Experience in Spanish America. 1502 to the Present Day, Cambridge u.a. 1976, S. 165. 40 John V. Lombardi: The Decline and Abolition of Negro Slavery in Venezuela 1820-1854, Westport (Conn.) 1971, S. 37. 41 Ebenda, S. 39. 42 Rout: African Experience, S. 174. 43 Robin Blackbum: The Overthrow of Colonial Slavery 1776-1848, London-New York 1988, S. 345. 44 Brief an den Herausgeber der Gaceta Real de Jamaica, Kingston, September 1815, in: V. Lecuna (Hrsg.): Cartas del Libertador, Bd. 1 (1799-1817), Caracas 2 1964, S. 243: „Estamos

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Pétion war für Bolívar nur gegen das Versprechen zu bekommen, die Sklaverei abzuschaffen. Nachdem Bolívar aus dem haitianischen Exil zurückgekehrt war, richtete er am 2. Juni 1816 eine Proklamation an die Bewohner verschiedener Provinzen im Hinblick auf zu rekrutierende Sklaven. Bestimmend war, daß jeder männliche Sklave im Alter zwischen 14 und 60 Jahren, der die Freiheit wollte, sich diese durch den Kampf gegen die Spanier verdienen mußte.45 Es ging, so John Lombardi, weniger um die Einlösung des Versprechens an Pétion als um die schnelle Rekrutierung von Soldaten.46 Ein Argument Bolivars gegenüber den Kreolen für diese Politik war, daß zuviele Weiße sterben würden und zuviele Schwarze am Leben blieben, setze man die Sklaven nicht im Kampf ein.47 Auch der spanische General Morillo setzte von Beginn seines Feldzuges an ebenfalls Sklaven ein, die für ihren Kampf die Freiheit erhielten. Das Mutterland gestattete die Rekrutierung eines Sklavenbatallions, wobei jedoch nicht mehr als 6 bis 8% der Arbeitskräfte einer Plantage angeworben werden durften und die Besitzer entschädigt werden mußten. Die Proklamationen hatten nur wenig Erfolg. Aber genaue Zahlen über die Beteiligung der Schwarzen auf beiden Seiten in den Unabhängigkeitskriegen existieren nicht.48 Nachdem Bolívar durch die militärischen Gegebenheiten einmal in die Rolle des Abolitionisten geschlüpft war, gab er sie bis 1830 nicht mehr auf. Die Furcht des Kreolen richtete sich weniger gegen die prozentual doch eher geringe Sklavenbevölkerung als vielmehr gegen die Möglichkeit, daß der größte, annähernd 50% umfassende Bevölkerungsteil der pardos den weißen Kreolen ihre privilegierte Stellung streitig machen könnte. Bolivars Angst vor der Pardokratie, wie er sie nannte, ließ ihn gegen ungehorsame dunkelhäutige Offiziere seiner Armee wesentlich schärfer vorgehen als gegen Weiße, vor allem, wenn sie wie General Manuel Piar versuchten, ihre „dunkelhäutigen Kameraden gegen autorizados, pues, a creer que todos los hijos de la América española, de cualquier color o condición que sean, se profesan un afecto fraternal recíproco, que ninguna maquinación es capaz de alterar". 45 Herold A. Bierck: The Struggle for Abolition in Gran Colombia, in: The Hispanic American Historical Review (Im folgenden: HAHR) 33,3 (1953), S. 367. 46 Lombardi: Decline and Abolition, S. 41. 47 Bolívar an Santander, 20. April 1820, in: Cartas del Libertador, Bd. 2 (1818-1820), S. 309: „¿Qué medio más adecuado ni más legítimo para obtener la libertad que pelear por ella? ¿Será justo que mueran solamente los hombres libres por emancipar a los esclavos? ¿No será útil que estos adquieran sus derechos en el campo de batalla, y que se disminuya su peligroso número por un medio poderoso y legítimo?". Vgl. auch Lombardi, Decline and Abolition, S. 46, Rout: African Experience, S. 176, u. Bierck: Struggle for Abolition, S. 369. 48

Lombardi: Decline and Abolition, S. 45-46.

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die weißen Patrioten" zu mobilisieren. 49 Bolívar wollte den Unabhängigkeitskrieg tatsächlich so fuhren, daß möglichst Sklaven und vor allem pardos stärker dezimiert wurden als Weiße. Gleichzeitig aber setzte sich der Libertador seit 1816 konsequent für die Abschaffung der Sklaverei ein. Auf dem Kongreß von Angostura hielt er im Februar 1819 eine Rede, in der er die generelle Abschaffung forderte. 50 Doch die Interessen der sklavenhaltenden Kreolen standen einer solchen Maßnahme entgegen, und auf dem folgenden Kongreß von Cúcuta wurde 1821 ein Gesetz beschlossen, daß eine schrittweise Aufhebung der Sklaverei vorsah. Alle neugeborenen Kinder von Sklaven sollten von nun an frei sein, allerdings für den Besitzer der Mutter bis zum Alter von 18 Jahren arbeiten. Erwachsene Sklaven sollten durch Fonds, die aus besonderen Erbschaftssteuern finanziert wurden, von im ganzen Land eingesetzten speziellen Juntas freigekauft werden können." Doch diese Form der manumisión scheiterte vor allem an den regionalen Widerständen. 52 Bolívar versuchte dem durch verschiedene Dekrete und Maßnahmen entgegenzuwirken, 53 doch weitgehend ohne Erfolg. Als Großkolumbien 1830 in drei Staaten zerfiel, wurde die Regelung von 1821 im wesentlichen in Venezuela, Kolumbien und Ecuador beibehalten und nicht effektiver umgesetzt als vorher in Großkolumbien. Offiziell hieß es, die ehemaligen Sklaven müßten auf ein Leben in Freiheit erst vorbereitet werden, und deshalb verpflichte man sie, obwohl frei geboren, zur Arbeit. „In Wirklichkeit diente dies dazu, die Auswirkungen des Abolitionismus auf die Pflanzer zu verschieben und abzumildern". 54 In den drei Nachfolgestaaten Kolumbien, Venezuela und Ecuador wurde die Sklaverei erst Anfang der 1850er Jahre endgültig abgeschafft. Doch auch hier trifft Mörner den Kern, wenn er feststellt, daß die neu gewonnenen Rechte der Schwarzen nur dort zu tiefgreifenden Konflikten führen konnten, wo es eine tatsächliche politische Partizipation aller Bevölkerungsteile gab. „In Spanischamerika und Brasilien vereinigten sich die befreiten Mulatten und Schwar49

Mörner: Ethnicity, Social Mobility and Mestizaje, S. 312. Bolivar ließ 1817 Manuel Piar und 1828 José Prudencio Padilla hinrichten; beide waren Offiziere und Mulatten. 50 Bierck: Struggle for Abolition, S. 367-368. Blackbum: Overthrow of Colonial Slavery, S. 347. 51 Bierck: Struggle for Abolition, S. 371. 52 Ebenda, S. 373-377. 53 Ebenda, S. 379-383. 54 Magnus Mörner: African Slavery in Spanish and Portuguese America: Some Remarks on Historiography and the Present State of Research, in: Slavery in the Americas, hg. v. Wolfgang Binder, Würzburg 1993, S. 75: „In reality, it merely served to postpone and soften the impact of Abolition on planters".

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zen nur mit ungebildeten Massen, die niemals auch nur den geringsten Einfluß als Wähler auf die nationale, ja nicht einmal auf die lokale Politik ausgeübt hatten". 55 Während der Unabhängigkeitsbewegung in Großkolumbien wurden Konzeptionen zur Abschaffung der Sklaverei von den Kreolen deshalb entworfen, um einerseits mehr Soldaten rekrutieren zu können, diese andererseits von der royalistischen Seite fernzuhalten und nicht zuletzt um einer Dezimierung der weißen Bevölkerung entgegenzuwirken bzw. die Dezimierung der farbigen Bevölkerungsteile zu fördern. Die wirtschaftlichen Interessen der kreolischen Oligarchie verhinderten jedoch, daß mit der Erreichung der Unabhängigkeit die Sklaverei abgeschafft wurde, und auch einer Machtübernahme durch die Mehrheit der pardos wurde erfolgreich entgegengewirkt. 4. Vergleichbare Aspekte und deren Repräsentativität Vergleicht man die drei skizzierten Beispiele miteinander, so gelangt man zu folgenden Ergebnissen: Keine der Gruppen, die in den Unabhängigkeitskämpfen über die Stellung anderer Rassen befinden konnten, war ursprünglich auf die Notwendigkeit vorbereitet, entsprechende Konzepte zu entwickeln. Das Ziel der Kämpfe war hauptsächlich, die Herrschaft der europäischen Mutterländer zu brechen. In Mexiko und Großkolumbien sind die Parallelen besonders auffällig. In beiden Fällen wurden emanzipierende Konzepte für Indianer und Schwarze entwickelt, um Anreize zu schaffen, gegen die Royalisten zu kämpfen. Das Mutterland zeigte ein ähnliches Verhalten. Pläne aber, die dabei die Stellung der privilegierten Kreolen gefährdeten, ließen sich nicht durchsetzen. Hier ist auch der entscheidende Einfluß der zur Disposition stehenden Gruppen selbst auf die Konzeptionen zu sehen: je radikaler das Verhalten der Indianer in Mexiko, der pardos in Großkolumbien oder der Weißen in Saint-Domingue war, desto schärfer war die jeweilige Reaktion. In Haiti kehrten sich im Verlauf der Revolution zunächst die Machtverhältnisse zwischen den Rassen um. In dieser Hinsicht bildet die haitianische Unabhängigkeit eine Ausnahme. Doch nachdem dieser Prozeß der Umkehrung abgeschlossen war, ist das Verhalten der herrschenden Rasse mit dem in Mexiko und Großkolumbien durchaus zu vergleichen. Die zunächst konzipierte Gleichstellung von Weißen folgte wirtschaftlichen Erwägungen, die letztlich auf die Erreichung und Erhaltung einer Unabhängigkeit vom Mutterland zielten. Als 55 Ebenda: „In Spanish America and Brazil, the freed mulattoes and blacks in most cases just joined illiterate masses, who had never exerted even a minimal influence as voters in national and even local politics".

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sich dann jedoch die Weißen als Bedrohung für die neue privilegierte Klasse der Schwarzen und Mulatten erwiesen, wurden ihre Rechte drastisch beschnitten. Der in diesem Beitrag völlig ausgeklammerte ideelle Hintergrund der egalisierende Konzepte entwickelnden Unabhängigkeitskämpfer sei am Schluß kurz angesprochen. Es ist gewiß zutreffend, daß Toussaint Louverture, Hidalgo, Morelos und Bolivar, wenn auch in unterschiedlichem Maße, von der Aufklärung beeinflußt waren. Aber ihre Handlungen mußten sich letztlich nach wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten richten. 56 In allen drei angeführten Fällen stand neben dem Ziel der Unabhängigkeit vor allem ein Faktor bestimmend im Vordergrund, an dem sich die Unabhängigkeitskämpfer letztlich orientieren mußten: der Erhalt der Machtposition der herrschenden Rassen. Auffallend ist weiterhin, daß nur zwei der in Amerika vertretenen Rassen während der Unabhängigkeitsbewegung über eine oder beide der anderen entscheiden konnten, nämlich die Schwarzen und die Weißen. Zwar bildeten die haitianischen Schwarzen damals noch eine Ausnahme in ihrer staatlichen Führungsposition, aber bei der Emanzipationsbewegung des karibischen Raumes im 20. Jahrhundert kamen Schwarze auch in anderen Inselstaaten in die Position der Machthaber. 57 Von Indianern geführte Staaten dagegen konnten sich auf dem amerikanischen Kontinent zu keinem Zeitpunkt durchsetzen, weder im Norden noch im Süden. Das heißt, Indianer kamen nie in die Position, auf staatlicher Ebene über die Stellung anderer Rassen entscheiden zu können. Möglicherweise hat Günter Kahle bereits eine wesentliche Begründung dieses doch auffälligen Phänomens in einer Äußerung des US-amerikanischen Au56

Die Schwierigkeiten, ideelle von politischen und wirtschaftlichen Motiven säuberlich zu trennen, werden in einem Aufsatz zur Rolle Großbritanniens bei der Abschaffung des Sklavenhandels differenziert behandelt: Helmut Berding: Die Ächtung des Sklavenhandels auf dem Wiener Kongress 1814/15, in: Historische Zeitschrift 219 (1974), S. 265-289. England spielte auch fur die Abschaffung des Sklavenhandels durch die lateinamerikanischen Staaten eine wichtige Rolle. Sie wollten sich durch ein Entgegenkommen nicht nur Großbritanniens Hilfe während der Unabhängigkeitskämpfe sichern, sondern auch die diplomatische Anerkennung nach der Erreichung dieser Unabhängigkeit. Auch bei der Abschaffung des Sklavenhandels spielten in der Unabhängigkeit also ausgesprochen pragmatische Motive die Hauptrolle. Vgl. dazu James Ferguson King: The Latin-American Republics and the Suppression of the Slave Trade, in: HAHR 24,3 (1944), S. 387-411. 57

Zwar war es im 20. Jahrhundert zunehmend schwieriger, andere Rassen rechtlich zu diskriminieren, dennoch könnte beispielsweise der Konflikt zwischen Schwarzen und Indern im unabhängigen Trinidad durchaus als Vergleich herangezogen werden. Zu Trinidad vgl. Bridget Brereton: Race Relations in Colonial Trinidad 1870-1900, Cambridge u.a. 1979, u. Yogendra K. Malik: East Indians in Trinidad. A Study in Minority Politics, London u.a. 1971.

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Karin Schüller

ßenministers Clayton aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden. Dieser schrieb damals an einen nordamerikanischen Diplomaten in Mittelamerika, daß die USA indianische Souveränität weder zu diesem Zeitpunkt noch in Zukunft jemals anerkennen würden, eine Meinung, die „unausgesprochen - auch den Auffassungen aller lateinamerikanischen Regierungen entsprach und entspricht. Denn die Anerkennung jedweder indianischen Souveränität auf dem amerikanischen Kontinent muß notwendigerweise letztlich das Selbstverständnis, die Glaubwürdigkeit und damit auch die existentiellen Grundlagen der heute dort bestehenden Staaten gefährden". 58 Wenn in den drei behandelten Regionen also nur Schwarze und Weiße als Entscheidungsträger über andere Rassen begegnen, ist dies durchaus typisch und repräsentativ für ganz Amerika. Die erörterten Beispiele sind insgesamt, wie eingangs bereits angedeutet, keine Ausnahmeerscheinungen, sondern spiegeln in besonders markanter Weise eine durchaus allgemeine Tendenz in den amerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wider. Im La-Plata-Raum etwa wurde gegenüber den Sklaven eine ähnliche Politik verfolgt wie in Großkolumbien. Auch bei der Rekrutierung des Befreiungsheeres hier im Süden zeigen sich Parallelen: Annähernd die Hälfte der Armee San Martins bestand aus pardos und Schwarzen.59 Daß Perú sich als das stärkste Bollwerk der spanischen Herrschaft in Südamerika erwies, lag auch daran, daß die überwältigende Mehrheit der dortigen Bevölkerung aus Indianern und Mestizen bestand, deren Mobilisierung man fürchtete, denn hier war es im 18. Jahrhundert zu den bedeutendsten Indianeraufständen im spanischen Kolonialreich gekommen. „Obwohl die Kreolen unter den etwa 140.000 Weißen bei weitem dominierten, ließ die Furcht vor den Indianern und Mestizen sie zögern, die Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Nach dem großen Aufstand von 1780, der von Tupac Amarú angeführt worden war, hatte es dort weitere, stärker lokale Ausbrüche indianischer Revolten gegeben".60 Das heißt, in Perú wollten die Kreolen genau das vermeiden, womit die weiße Oberschicht Mexikos seit 1810 zu kämpfen hatte. Auch auf gesamtkontinentaler Ebene bietet sich ein Vergleich der Rassenpolitik an. Die Vereinigten Staaten, die bereits Jahrzehnte vor ihren südlichen 58

Günter Kahle: Die Republik Counani, in: Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, hg. v. Wilfried Feldenkirchen u.a., (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 120), Stuttgart 1995, S. 167. 59 Vg. dazu Blackburn: Overthrow of Colonial Slavery, S. 350-353. 60 Ebenda: S. 355. Vgl. dazu auch Maria L. Laviana Cuetos: Movimientos subversivos en la América Española durante el siglo XVIII. Clasificación general y bibliografía básica, in: Revista de Indias 46 (1986), S. 471-507.

Konzeptionen für die Stellung verschiedener Rassen

147

Nachbarn die Unabhängigkeit erkämpft hatten, standen während und nach dem Krieg ebenso wie diese vor dem Indianer-, vor allem aber vor dem Sklavenproblem. Beide Bevölkerungsgruppen kamen im Unabhängigkeitskrieg zum Einsatz. Wie in Südamerika kämpften Sklaven sowohl auf patriotischer als auch auf britischer Seite, da ihnen die Freiheit versprochen wurde. Wie in Südamerika wurde in den meisten Einzelstaaten der USA eine schrittweise Abschaffung der Sklaverei beschlossen. 61 Interessant wäre die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit die USA mit ihren Gesetzen zur langsamen, etappenweisen Aufhebung der Sklaverei für die unabhängigen Staaten Lateinamerikas wegweisend wurden. Eine an den Menschenrechten orientierte Politik gegenüber Indianern und Schwarzen erfolgte auch im unabhängigen Nordamerika nicht. Auch hier orientierten sich die Regierungen an politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Schließlich gilt es festzuhalten, daß die besondere Bedeutung politischer und wirtschaftlicher Aspekte (neben den ideellen, die ihre Wurzeln in der Aufklärung hatten) bei der Emanzipation von Minderheiten in der Revolutionszeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ein allgemeines Phänomen darstellt, das keineswegs auf den amerikanischen Kontinent beschränkt war. In der Französischen Revolution wurden neben der die Kolonien betreffenden Sklavenfrage auch das Judenproblem sowie die Gleichstellung anderer religiöser Minderheiten erörtert. Hinzu kam die etwa gleichzeitige und sich in der napoleonischen und nachnapoleonischen Zeit über einen großen Teil Europas ausbreitende Diskussion um die Bauernbefreiung. AH diese Emanzipationsversuche von Minderheiten könnten komparatistisch mit den Rassenfragen Lateinamerikas analysiert werden. Erste in der Forschung gemachte Ansätze deuten dabei auf ähnliche Triebkräfte hin, wie sie in den obigen Ausfuhrungen zur Rassenfrage in den Unabhängigkeitsbewegungen herausgearbeitet wurden. 62

61

Vgl. dazu J. Bolner, Sr.: Slavery in the United States Constitution: Slavery in the Americas, S. 225-240, und das Kapitel „Slavery and the American Revolution in Blackburn": Overthrow of Colonial Slavery, S. 111-130. 62 Sidney Mintz: Models of Emancipation during the Age of Revolution, in: Slavery and Abolition 17,2 (1996), S. 1-21. Der Autor vergleicht die europäische Bauernbefreiung und Judenemanzipation mit der Indianerfrage Hispanoamerikas. Zur Diskussion der Minderheitenprobleme in der Französischen Revolution vgl. z.B. Arnulf Moser: Gleichheitsgedanke und bürgerliche Emanzipation von Minderheiten in den Anfängen der Französischen Revolution (1787-1791), Göppingen 1973.

Die Reflexion interethnischer Beziehungen in Lateinamerika anhand von in Deutschland rezipierten Reiseberichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beispiele aus Brasilien, Mexiko und Venezuela Ulrike Schmieder

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wußten selbst gebildete Europäer wenig über das spanische und portugiesische Amerika. Das, was bekannt war, bezog sich im allgemeinen auf die Eroberungsgeschichte oder die europäischen Auseinandersetzungen in der Karibik. Kaum etwas wußte man von den inneren Verhältnissen der dortigen Kolonialgesellschaften. Was die verschiedenen Ethnien der iberischen Kolonien anbetraf, so hatte man vielleicht einen Begriff davon, daß in ihnen Kreolen, Indianer, Schwarze und Mischlinge lebten, wobei einige Stereotype über den jeweiligen Charakter der ethnischen Gruppe Faktenwissen ersetzten. Der „Rasse"-Begriff wurde in der wissenschaftlichen Literatur in bezug auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen neben „Volk", „Nation", „espèce" öfter verwendet, ihm lagen aber unterschiedlichste Definitionen zugrunde (nach Linné, Buffon, Kant, Blumenbach, Meiners, Carus). 1 Weniger gebildete Autoren verwandten den Rassebegriff unreflektiert, immer vom Phänotyp des Betreffenden ausgehend, niemand zweifelte aber daran, daß die unterschiedlichen äußerlichen Merkmale ethnischer Gruppen mit ebenso unterschiedlichen kollektiven intellektuellen und moralischen Fähigkeiten einhergingen. Dabei dominierten am Ende des 18. Jahrhunderts die vor allem von de Pauw geprägten besonders negativen Urteile über die Natur Amerikas, die schwachen, faulen, feigen, „weibischen" und zu höherer Kultur völlig unbefähigten Indianer und die Degeneration der Europäer unter dem Einfluß des amerikanischen Klimas, von dessen regionaler Verschiedenheit man sich keinen Begriff machte. 2 1 Werner Conze: „Rasse", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1984, S. 135-172. 2 Cornelius de Pauw: Recherches philosophiques sur les Américaines, ou mémoires interessantes, pour servir à l'histoire de l'espèce humain, Berlin 1768/69 (dt.: Philosophische Untersuchungen über die Amerikaner, oder wichtige Beyträge zur Geschichte des menschlichen Geschlechts, aus dem Franz., Berlin 1769). Siehe auch: Ulrike Schmieder: Die Transformation Lateinamerikas zur Zeit der bourbonischen Reformen, der Independencia und in der Periode der

150

Ulrike Schmieder

W i e sich die iberoamerikanischen Bevölkerungsgruppen in w e l c h e r R e g i o n quantitativ zueinander verhielten und w e l c h e Z u s a m m e n h ä n g e es z w i s c h e n ethnischer und sozialer Zugehörigkeit gab, wurde erst durch die Veröffentlichung der Ergebnisse der 1 7 9 9 - 1 8 0 4 durchgeführten Forschungsreise Alexander v o n Humboldts und durch weitere Veröffentlichungen v o n Reiseberichten nach der Ö f f n u n g Iberoamerikas durch den U m z u g des portugiesischen H o f e s nach R i o de Janeiro 1807 und während der Unabhängigkeitsrevolutionen Hispanoamerikas 1 8 1 0 - 1 8 2 6 allmählich bekannt. Der Wert v o n Reisebeschreibungen als Quelle für die Wirtschafts-, Sozialund Kulturgeschichte des Lateinamerika des 19. Jahrhunderts wird in jüngster Zeit durch die Forschung stärker betont. 3 D i e s e Quelle wurde s c h o n öfter für die politische Geschichte z . B . v o n Kahle, Kleinmann, Hohenstein, D o m n i c k , 4 die gender

history,

z.B. v o n Potthast, Arrom, Giacomini und Moreira Leite, 5 und

die Sklavereigeschichte - Freyre, Cardoso, Bremer, Karasch 6 -

herangezogen

Nachemanzipation, dargestellt zwischen 1760 und 1850 anhand der in Preußen, Sachsen und Thüringen erschienenen Zeitungen und Zeitschriften, Druck in Vorbereitung, Kapitel 3 und 4. 3 Walther L. Bemecker/Gertrud Rrömer (Hg.): Die Wiederentdeckung Lateinamerikas. Die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1997; Magnus Mömer: Europäische Reiseberichte als Quellen zur Geschichte Lateinamerikas von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis 1870, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hg. von Antoni Maczak und Hans-Jürgen Teuteberg, Wolfenbüttel 1982, S. 281-314 (Wolfenbütteler Forschungen, 21). Ich verstehe unter Reiseberichten alle Schriften, die Reisen, auch mit Reisen kombinierte längere Aufenthalte vor Ort wiedergeben, unabhängig davon, ob sie in Form eines Berichtes, von Tagebuchaufzeichnungen o.a. verfaßt sind. 4 Günter Kahle: Ein südamerikanischer Diktator, Dr. Francia von Paraguay, im Spiegel der europäischen Geschichtsschreibung, in: Günter Kahle: Iberoamerika. Ausgewählte Aufsätze, Köln, Wien 1987, S. 303-313; Hans-Otto Kleinmann: Die politische und soziale Verfassung des unabhängigen Mexiko im Bild und Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas (JbLa) 8 (1971), S. 221-249; Jutta Hohenstein: Politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in Mexiko im Spiegel deutschsprachiger Publikationen 1821-1861, in: JbLa 18 (1981), S. 187-247; Heinz Joachim Domnick: Der Krieg der Tripel-Allianz in der deutschen Historiographie und Publizistik, Zur Erforschung des historischen Lateinamerikabildes im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main u.a. 1990. 5

Silvia Arrom: The Women of Mexico City, 1790-1857, Stanford 1985; Bobette Gugliotta: Women of Mexico. The Consecrated and the Commoners, Encino 1989; Sonia Maria Giacomini: Mulher e escrava. Urna introdujo histórica ao estudo da mulher negra no Brasil, Petrópolis 1988; Miriam Moreira Leite: A Mulher no Rio de Janeiro, no século XIX, Um índice de referencias em livros de viajantes estrangeiros, Säo Paulo 1982; Barbara Potthast-Jutkeit: Paradies Mohammeds" oder "Land der Frauen"? Zur Rolle von Frau und Familie in Paraguay im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1994. 6

T . Bremer: Die Reise in die Abolition. Europäische Reisende nach Cuba und die Anti-

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Die Reflexion interethnischer Beziehungen in Lateinamerika o d e r für e i n e b e s t i m m t e R e g i o n -

Kellenbenz/Schneider,

Rescher,

M e n t z , P i n o / C a l z a d i l l a , Izard, P é r e z , A u g e l , Q u e i r ó s M a t t o s o 7 -

Schüller,

ausgewertet,

lateinamerikanische Historiker benutzen Reiseberichte sehr häufig. D e r Wert d i e s e r Q u e l l e e r g i b t s i c h unter a n d e r e m daraus, d a ß d i e R e i s e n d e n a l s A u ß e n s t e h e n d e über D i n g e b e r i c h t e t e n , d i e d i e E i n h e i m i s c h e n flir z u banal u n d s e l b s t v e r s t ä n d l i c h h i e l t e n , u m s i c h m i t i h n e n z u b e s c h ä f t i g e n . R e i s e n d e s t a n d e n Ins t i t u t i o n e n w i e S k l a v e r e i u n d peonaje

oft - nicht i m m e r - kritisch gegenüber,

da s i e k e i n e n G r u n d hatten, d i e s e a u s ö k o n o m i s c h e m E i g e n i n t e r e s s e z u verteid i g e n . D e r k r i t i s c h e B l i c k v o n a u ß e n z e i g t o f t g e s e l l s c h a f t l i c h e P r o b l e m e auf, d i e v o n d e n E i n h e i m i s c h e n in der A l l t a g s r o u t i n e n i c h t w a h r g e n o m m e n w e r d e n . Z u d e m enthielten Reiseberichte Informationen über entlegene Gebiete, die v o n staatlichen und kirchlichen Behörden k a u m dokumentiert wurden.

Selbstver-

s t ä n d l i c h ist e i n e g r ü n d l i c h e Q u e l l e n k r i t i k n o t w e n d i g , u m V e r z e r r u n g e n in der D a r s t e l l u n g d u r c h V o r u r t e i l e der R e i s e n d e n o d e r d u r c h k o m m e r z i e l l e Z w e c k e der P u b l i k a t i o n e n z u k o r r i g i e r e n . D i e n e u e W e r t s c h ä t z u n g der Q u e l l e R e i s e b e s c h r e i b u n g l e g t n a h e , s i e a u c h für d i e i n t e r e t h n i s c h e n B e z i e h u n g e n u n d d i e mestizaje,

e i n e s der z e n t r a l e n For-

schungsgebiete Richard Konetzkes,8 auszuwerten. D i e R e i s e n d e n teilten nicht Sklavereidebatte zwischen 1820 und 1845, in: Bernecker/Krömer: Wiederentdeckung, S. 309 ff. Reiseberichte wurden außerdem verwendet von: Gilberto Freyre: Casa Grande e Senzala, Rio de Janeiro 1933. Fernando H. Cardoso: Capitalismo e escravidào no Brasil meridional, Sào Paulo 1962. Mary C. Karasch: Slave Life in Rio de Janeiro 1808-1850, Princeton 1987. 7 Brigida M. Mentz de Boege: Das Mexicobild [!] der Deutschen im 19. Jahrhundert (18211861) im Spiegel der ersten populären Zeitschriften, Diss. München 1975; Dies.: México en el siglo XIX, visto por los alemanes, México 1982; Moema Parente Augel: Visitantes estrangeiros na Bahia oitocentista, Sào Paulo 1980; Hermann Kellenbenz/Jürgen Schneider: A imagem do Brasil na Alemanha do século XIX: Impressöes e estereotipos: Da Independencia ao firn da Monarquía, in: Estudios latinoamericanos 6 (1980), S. 71-101; Hubertus J. Rescher: Die deutschsprachige Literatur zu Brasilien. Widerspiegelung brasilianischer Sozial- und Wirtschaftsstrukturen von 1789-1850 in der deutschsprachigen Literatur desselben Zeitraums, Frankfurt/M. u.a. 1979; Karin Schüller: Die deutsche Rezeption haitianischer Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: ein Beitrag zum deutschen Bild vom Schwarzen, Köln, Weimar, Wien 1992 (Lateinamerikanische Forschungen, 20); Elias Pino Iturrieta/Calzadilla, P.E., La mirada del otro. Viajeros extranjeros en la Venezuela del siglo XIX, Caracas; Miguel Izard: La Venezuela del café vista por los viajeros del siglo XIX, Caracas 1969; Louis A. Pérez (Hg.): Slaves, Sugar & Colonial Society. Travel Accounts of Cuba, 1801-1899, Wilmington 1992; Katia M. de Queirós Mattoso: Bahia, Século XIX, urna provincia no impèrio, Bahia 1992. 8

Richard Konetzke: Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt/M. 1965 (Fischer-Weltgeschichte, Band 22, S. 59-108); ders.: El mestizaje y su importancia en el desarrollo de la población hispanoamericana durante la época colonial, in: Revista de Indias 7 (1946), S. 7-44 und 215-237; ders.: Los mestizos en la legis-

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Ulrike Schmieder

selten Beobachtungen über die Beziehungen der verschiedenen ethnischen Gruppen mit, sowohl was die Bedeutung von Ethnizität im politischen Machtgefuge der iberoamerikanischen Gesellschaften, hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse, des sozialen Status etc. anbetraf, als auch, daß sie über Ehen und Konkubinate zwischen den ethnischen Gruppen, den Status der Kinder aus solchen Beziehungen, die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Verbindungen usw. berichteten. Natürlich finden sich auch - sogar bei Humboldt 9 - diverse stereotypisierende Charakterisierungen der physischen und psychischen Eigenschaften der verschiedenen ethnischen Gruppen Iberoamerikas. Ich ziehe es übrigens vor, die Begriffe Ethnie und ethnische Gruppe statt Rasse zu verwenden, nicht nur, weil dem deutschen Begriff „Rasse" im Gegensatz zum englischen „race" ein unausrottbarer Beigeschmack der Rassetheorien des frühen 20. Jahrhunderts anhaftet, sondern auch, weil Ethnie eine biologische und sozial-kulturelle Zuordnung beinhaltet. Das von Konetzke biologistisch als „Rassenkreuzung" bezeichnete Phänomen interessiert mich hier unter der Fragestellung, welche Position die farbige Bevölkerung im System der Klassen- und Geschlechterbeziehungen iberoamerikanischer Gesellschaften einnahm. Im folgenden sollen die Aussagen von Reiseberichten zum Thema interethnische Beziehungen in Brasilien, Venezuela und Mexiko analysiert werden. Es wird die Darstellung der in die koloniale Gesellschaft zumindest partiell integrierten Bevölkerungsgruppen gewertet; die Beurteilung der Informationen der Reisenden über die noch weitgehend ihrer ursprünglichen Lebensweise verpflichteten indianischen Völker erfordert hochgradig spezialisierte ethnographische Kenntnisse, über die ich nicht verfuge. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Untersuchung der inhaltlichen Aussagen der genannten Quelle und ihrer Verwendbarkeit für die historische Forschung der Objektsphäre der iberoamerikanischen Gesellschaften sowie auf der Vermittlung von Informationen über den biographischen Hintergrund der

lación colonial, in: Revista de Estudios Políticos 112 (1960), S. 113-130; ders.: Sobre el problema racial en la América española, in: Revista de Estudios Políticos 114 (1960), S. 179-215. 9 Konetzke sah Äußerungen wie: „Der Mensch mit kupferfarbiger Haut zeigt eine geistige Starrheit, ein zähes Festhalten an den bei jedem Stamm wieder anders eingefärbten Sitten und Gebräuchen, das der ganzen Rasse recht eigentlich den Stempel aufdrückt" (bei Konetzke nach „Reise in die Äquinoctialgegenden", Stuttgart 1859/60, Band 4, S. 157, in: Alexander von Humboldt als Geschichtsschreiber Amerikas, ursprünglich in der Historischen Zeitschrift, 188, 1956), hier nach: Richard Konetzke: Lateinamerika: Entdeckung, Eroberung, Kolonisaton. Gesammelte Aufsätze, hg. von Günter Kahle und Horst Pietschmann, Köln 1983, S. 490.

Die Reflexion interethnischer Beziehungen in Lateinamerika

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Autoren10 und damit der Begleitumstände der Entstehung des Reiseberichts. Daraus geht auch hervor, daß kein Autor explizit mit dem Ziel antrat, die interethnischen Beziehungen der iberoamerikanischen Gesellschaften zu beschreiben: Informationen darüber werden am Rande der Schilderung von Reiseabläufen und persönlichen Erlebnissen, der politischen Lage, der wirtschaftlichen Verhältnisse oder naturkundlicher Forschungsergebnisse geliefert. Die Problematik der Begegnung des Reisenden mit den verschiedenen Ethnien Iberoamerikas kann nur hin und wieder berührt werden. Die Rezeptionsgeschichte der Werke kann hier nur am Rande behandelt werden, ich verweise dazu auch auf Untersuchungen zur Rezeption der Reisewerke einzelner Forscher wie Humboldt durch Beck, Kossok, Faak, Zeuske/Schröter, Pietschmann u.v.a.," oder Poeppig durch Schröter12 und auf Ludwigs und meine Arbeiten zur Lateinamerikarezeption in deutschen Regionen. 13

10

Die biographischen Angaben wurden entweder den Vorworten der Autoren oder Herausgeber oder den Reiseberichten selbst entnommen oder dem Deutschen Biographischen Archiv bzw. dem British Biographical Archive. Andere Quellen werden gesondert zitiert. " Hanno Beck (Hg.): Alexander von Humboldt. Studienausgabe, 7 Bände, Darmstadt 19891997. Alexander von Humboldt: Lateinamerika am Abend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und Urteilen, aus den Reisetagebüchern zusammengestellt und erläutert durch Margot Faak, mit einer einleitenden Studie von Manfred Kossok, Berlin 1982; Michael Zeuske/Bernd Schröter: Alexander von Humboldt und das neue Geschichtsbild von Lateinamerika, hg. von Michael Zeuske und Bernd Schröter, Leipzig 1992; Michael Zeuske: Humboldt y el problema de la transformación en Venezuela y Cuba (1760-1830). Ocho tesis y un apéndice teórico, in: Alberto Gil Novales (Hg.): Ciencia e independencia política, Madrid 1996, S. 83-129; ders.: Humboldts Bild von Kuba und der Karibik zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Lateinamerika-Studien 23 (München) 1987 (Referate des 8. Interdisziplinären Kolloquiums der Sektion Lateinamerika des Zentralinstituts (06), Kuba: Geschichte, Wirtschaft, Kultur, hg. von Titus Heydenreich), S. 139-152. 12

Bernd Schröter: Die wissenschaftliche Begegnung Sachsens mit Amerika, Terra incógnita oder terra ignorata, in: Michael Zeuske/Bernd Schröter/Jörg Ludwig: Sachsen und Amerika. Begegnungen in vier Jahrhunderten, Frankfurt/Main 1995 (Bibliotheca Iberoamericana, 52), S. 266. " Jörg Ludwig: Literatur über Lateinamerika in Deutschland 1760-1830, Das Beispiel Sachsen, in: Zeuske/Schröter/Ludwig: Sachsen, S. 80-118; Ulrike Schmieder: Iberoamerika in deutschen Zeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts: das Beispiel der "MINERVA": 1792-1857, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 5 (1994), S. 101-113; dies.: La presencia de América Latina a través de la prensa de las regiones alemanas durante los siglos XVIII y XIX, in: APUNTES, Revista universitaria para problemas de la cultura iberoamericana, Nueva serie, 4 (1993), S. 40-65; dies.: Las transformaciones en América Latina desde las reformas borbónicas hasta la Independencia y el período de la post-emancipación a través de periódicos y revistas seleccionadas de Prusia y Sajonia, in: X Congreso de la AHILA. La transformación hacia la sociedad moderna en América

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Ulrike Schmieder

Die Stoffülle macht eine Beschränkung auf einige Länder notwendig. Die Auswahl ermöglicht es, Berichte über Regionen mit ganz unterschiedlicher Zusammensetzung der Bevölkerung, vor allem was den Bevölkerungsanteil indianischer und schwarzafrikanischer Herkunft anbetrifft, die Auswirkung des spanischen und portugiesischen Erbes und der Existenz oder Nichtexistenz der Sklaverei zu vergleichen. Beginnen wir mit Brasilien. Die Sklaverei prägte die interethnischen Beziehungen im kolonialen Brasilien und im Kaiserreich. An der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie in Brasilien standen die Besitzer großer Ländereien und zahlreicher Sklaven, was sich durch die Unabhängigkeit überhaupt nicht änderte. Diese hielten sich immer für weiß, wenn man auch davon ausgehen kann, daß tatsächlich auch Indianer zu den Vorfahren aller langfristig ansässigen brasilianischen Familien gehörten (wobei indianische Vorfahren generell eher akzeptiert wurden als afrikanische). Ganz unten befanden sich, mit dem niedrigsten sozialen Status behaftet, ohne jede Macht über andere Menschen und ohne Verfügungsgewalt über ihre eigene Person, ökonomisch oft bis über ihre physische Leistungskraft ausgebeutet, die gerade aus Afrika importierten Sklaven, die meist auf Plantagen, z.T. auch in Bergwerken und Salzfleischfabriken tätig waren. Zwischen „Herrenhaus und Sklavenhütte", wie Freyre diese Zustände beschrieb, gab es viele Menschen, deren gesellschaftlicher Status nicht so eindeutig definiert werden konnte. Der Besitz von Sklaven führte dazu, daß auch relativ mittellose weiße und farbige Menschen nicht zu arbeiten brauchten und in einer Weise Macht über andere Menschen ausüben konnten, wie sie sonst in den Unterschichten nur als Macht des Mannes über Frau und Kinder vorkommt. Thomas Lindley, Autor von Narrative of a Voyage to Brasil, London 1805, deutsch Weimar 1806,14 war ein englischer Kaufmann, dessen Schiff auf Grund von Schäden und ungünstigen Windverhältnissen 1802 in Bahia und Porto Seguro ankern mußte. Wegen Anbahnung eines Schmuggelgeschäftes mit Brasilholz wurde er verhaftet, durfte sich dann aber frei in einer bestimmten Region Latina: causas y condiciones en la economía, la política y en las mentalidades, coord.: Michael Zeuske, colaboración: Horst Pietschmann/Hans-Joachim König, Köln/Leipzig 1996, S. 473-487. 14 Thomas Lindley: Narrative of a Voyage to Brasil, terminationg in the seizure of a British Vessel and the imprisonenment of the Author and the ships crew, by the Portuguese. With general Sketches oft the country, its natural productions, colonial inhabitants etc. And a discription of the City and Province of St. Salvador and Porto Seguro..., London 1805, deutsch: Thomas Lindley's Reise nach Brasilien und Aufenthalt daselbst in den Jahren 1802 und 1803. Auszugsweise aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von T.F. Ehrmann, Weimar 1806 (29. Band der Bibliothek der neuesten und wichtigsten Reisebeschreibungen ..., hrsg. von M. C. Sprengel, fortgesetzt von T.F. Ehrmann).

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bewegen und unternahm auch eine Reise ins Hinterland. Zum Verhältnis der verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen bemerkte er die aus seiner Sicht „mangelnde Subordination" in Brasilien, Aufwärterinnen zankten mit ihrem Herrn, „Mulatten und Neger" seien nicht besser, nur die indianischen Tagelöhner zeigten sich demütig. Auf der Straße fiel ihm auf, daß Stand und Reichtum einer Frau durch die Schwere und Länge der Goldketten dokumentiert wurde, mit denen sich auch farbige Frauen behängten. Unter den Soldaten, die er für „elend schmutzig, kränklich und faul" hielt und die schlecht ernährt wurden, gewahrte er Vertreter aller Hautfarben. Die Oberschicht grenzte sich vom Rest der Bevölkerung ab, indem sie nichts tat: die Männer ließen ihre Plantagen durch europäische Aufseher oder Mulatten betreiben und brachten den Tag damit herum, sich gegenseitig zu besuchen und Karten zu spielen. Ihre Frauen ließen sämtliche Hausarbeiten einschließlich Kochen und Nähen durch farbige Sklaven beiderlei Geschlechts erledigen. Männer und Frauen ließen sich einen Finger- oder Daumennagel extrem lang wachsen, um ihren Müßiggang zu dokumentieren. 15 Ein Reisender, der über Brasilien zum Ende der Kolonialzeit ein besonders informatives Werk hinterlassen hat, war der Engländer Henry Koster, dessen Travels in Brazil, London 1817, sogleich ins Deutsche übersetzt und auch über Zeitschriften verbreitet wurden. 16 Koster, der sich über mehrere Jahre in Brasilien aufgehalten hatte und in der Provinz Pemambuco selbst eine Zuckerrohrplantage betrieben hatte, war zu tiefergehenden Einsichten über das Funktionieren des brasilianischen Gesellschaft gekommen, ohne daß die Nähe zu dieser Gesellschaft seinen kritischen Blick auf die Sklaverei getrübt hätte. Daß Überarbeitung und unzureichende Ernährung der Sklaven die Verhältnisse auf vielen Plantagen im brasilianischen Nordosten prägte, 17 geht aus Kosters Werk deutlich vor, ebenso, daß barbarische Grausamkeiten zwar nicht die Regel waren, aber wie unter jedem Sklavereisystem vorkamen. 18 Am humansten waren nach Kosters Darstellung die Verhältnisse auf den Plantagen der Karmeliter- und Benediktinermönche, auf denen fast ausschließlich „Kreolen"15

Lindley: Reise, S. 30, 33, 41, 107/108, 155. Heinrich Koster: Reisen in Brasilien. Weimar 1817. Aus diesem Werk wurden z.B. in der bekannten Zeitschrift Minerva umfangreiche Auszüge nachgedruckt (Jena, Band 3 1817, S. 41 ff., 298ff., 501 ff., Band 4 1817, S. 140ff. und 231 ff.). " Koster: Reisen, S. 544/545 (Koster verweist darauf, daß europäische Sklavenhalter aus Profitgründen ihre Sklaven oft noch mehr als die brasilianischen); S. 599-601. 18 Ebenda, S. 596/599. 16

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(also bereits in Brasilien geborene) „Neger" einem relativ beschaulichen Arbeitsrhythmus unterworfen waren. Koster wußte zu berichten, daß das Zölibatsgelübde die Mönche nicht von sexuellen Beziehungen zu den schwarzen Frauen abhielt, wobei helle Kinder dann möglichst mit sehr dunklen Sklaven verheiratet wurden, damit nicht sehr hellhäutige Sklaven gegen ihren Status aufbegehrten. 19 Zur brasilianischen Sklaverei gehörten Manumissionen, z.B. aus christlichen Motiven beim Tode des Sklavenhalters, aber auch um sich alter und kranker Sklaven zu entledigen, und Freikäufe, durch die Sklaven selbst oder von Sklavenkindern, durch ihre (freien, oft weißen) Väter oder Taufpaten. 20 Koster gab auch mehrere Beispiele an, wie brennend sich selbst materiell gut gestellte Sklaven die Freiheit wünschen und schildert Versuche, der Sklaverei durch Flucht zu entkommen, 21 so daß kein Zweifel bestehen bleibt, daß für den unterdrückten Part die degradierendste Form interethnischer Herrschaftsbeziehungen, die Sklaverei (von Koster als „Beisammenleben des Hasses und der Zwietracht, des Mißtrauens und beständigen Argwohns" 22 geschildert), eine verabscheute Existenzform war. Aus Kosters Bericht geht auch hervor, daß die Verhältnisse in Brasilien nicht auf die einfache Formel weiß = Sklavenhalter, farbig oder schwarz = Sklave zu bringen waren, denn auch Mulatten und Kreolen-Neger besaßen Sklaven und die capitäes-do-mato (in der deutschen Ausgabe „Feldcapitäne"), die entlaufene Sklaven aufspürten, waren meistens Schwarze. Viele freie Schwarze und Farbige arbeiteten in den Städten als Handwerker. 23 Gelegentlich sorgte der soziale Aufstieg einzelner dafür, daß ihre Umgebung den Phänotyp einer Person geflissentlich übersah und ihr den Status „Weißer" zubilligte. So war ihm auf seine Frage, ob ein bestimmter capitäo-mor nicht Mulatte sei, geantwortet worden: „Er war einer, ist es aber nicht mehr!" und auf seine Bitte um Erklärung hatte man erwidert: „Senhor, kann ein Capitam-mor noch ein Mulatte seyn?" Auch unter den Geistlichen seien Mulatten anzutreffen. 24 Koster berichtet, daß adlige und reiche weiße Männer oft mit farbigen Frauen zusammenlebten, die für eine Heirat als zu dunkel empfunden wurden, trotzdem 19

Ebenda, S. 591-594. Ebenda, S. 567-571, 588/589, 591. 21 Ebenda, S. 594-595, 607. 22 Ebenda, S. 610. 23 Ebenda, S. 391, 549 (dort argumentiert Koster gegen das Vorurteil, Mulatten seien immer strengere Herren als Weiße), 557, 559. 24 Ebenda, S. 546/547. 20

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aber gesellschaftlich nicht etwa geächtet wurden. Verließe der Weiße seine Konkubine, würde sie von ihrer Umgebung wie eine Witwe behandelt werden, aber es käme auch vor, daß solche Verbindungen nach vielen Jahren und der Geburt mehrerer Kinder noch legitimiert würden. 25 Weiße von niedrigem Stand und europäische Abenteurer würden jedoch auch Mulattinnen und schwarze Frauen heiraten, vor allem, wenn diese eine ansehenswerte Mitgift mitbrächten. 26 Die Frauen der weißen Oberschicht jedoch wurden einer sehr starken Kontrolle unterworfen. Koster und andere Autoren 27 berichten, daß es zu ihrem Leben im goldenen Käfig gehörte, ihre Sklavinnen zu schikanieren, wobei Koster dieses Verhalten der weißen Damen mit ihrer Isolation und vollkommenen Unbildung erklärte. Die Macht der weißen Herrinnen über ihre Sklavinnen stand im Kontrast zu ihrer eigenen Unterwerfung unter den Vater und später den Ehemann. Rache für die sexuellen Beziehungen ihrer Männer mit Sklavinnen nahmen sie an letzteren. John Luccock hatte sich von 1808 bis 1818 in Brasilien aufgehalten, sein Bericht Notes ort Rio the Janeiro and the Southern Parts of Brazil; Taken during a Residence ofTen Years in that Country, from 1808 to 1818, London 1820, erschien bald darauf in Deutschland. 28 Das meiste, was Luccock mitzuteilen hatte, bezog sich auf Rio de Janeiro, dessen Bevölkerung von 60000 Menschen nach Luccock u.a. aus 1000 Personen des Hofes, 1000 Beamten, 1000 Personen, die ihre Einkünfte aus Landbesitz oder Schiffsanteilen bezögen, 700 Priestern, 500 Anwälten, 40 Groß- und 2000 Einzelhändlern, 4000 weiblichen Familienvorständen, 12000 Sklaven, 1000 freien Negern, j e 1000 Angehörigen der Linientruppen und Matrosen und 29000 Kindern bestand. 29 Irrtümlicherweise wurde Luccocks „females at the head of families" ins Deutsche mit „Hausfrauen" übersetzt, was die Notwendigkeit der Einsicht in das muttersprachliche Original bei der Auswertung von Reiseberichten bestätigt.

25

Ebenda, S. 551/552. Ebenda, S. 550. 27 Ebenda, S. 541/542; Maria Graham: Journal of a Voyage to Brazil and Residence There During Part of the Years 1821, 1822, 1823, London 1824, Nachdruck New York 1969, S. 107. 28 John Luccock: Notes on Rio the Janeiro and the Southern Parts of Brazil; Taken during a Residence o f T e n Years in that Country, from 1808 to 1818, London 1820, deutsch: Bemerkungen über Rio de Janeiro und Brasilien. Während eines zehnjährigen Aufenthaltes daselbst, vom Jahre 1808-1818, gesammelt, Weimar 1821, Band 28 der Neuen Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen zur Erweiterung der Erd- und Völkerkunde. 26

29

Luccock: Notes, S. 41.

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Die Sklavenschutzgesetze bewirkten laut Luccock nicht, was sie erreichen sollten, z.B. sei es sehr schwierig, daß Recht auf Herrenwechsel durchzusetzen, weil niemand den Sklaven kaufen wolle, um sich nicht in die Angelegenheiten seines Nachbarn einzumischen. 30 Aus der Provinz Rio Grande do Sul berichtete Luccock, daß die Sklaven hier etwas besser behandelt würden, als in der tropischen Gebieten, die meisten würden in einem Handwerk ausgebildet und von ihrem Herren dann vermietet. 31 Diese Aussagen befinden sich im Widerspruch zu der Einschätzung Cardosos zur Sklaverei in dieser Provinz (siehe Fußnote 6). Luccock berichtete ebenfalls, daß die Brasilianerinnen der Oberschicht sämtliche Arbeiten im Haushalt, einschließlich Kochen und Nähen, ihren Sklaven überließen, nur die Stickerei, Spitzenklöppeln, Blumenmachen und die Herstellung von Süßigkeiten würden sie selbst übernehmen, ihre Männer faulenzten und schlenderten den ganzen Tag herum. 32 Neuere Forschungen zeigen, daß das Bild der eingeschlossenen, untätigen brasilianischen Frau tatsächlich nur auf die weiße Oberschicht zutraf und daß es sich dabei um eine äußere Untätigkeit handelte, die religiöse, karitative und familienpolitische Aktivitäten nicht ausschloß. Farbige Frauen mußten außer Haus arbeiten, waren oft nicht verheiratet und hatten uneheliche Kinder - von Männern ihres sozialen Status oder Weißen, die sie nicht heiraten wollten, aber oft ihre Kinder unterstützten. 33 Die weiße Elite lebte - zumindest nach außen das katholische Bild von Familie und den Rollen der Geschlechter und faßte es auch in Gesetze, die für alle gelten sollten. Die farbigen Unterschichten konnten - und wollten vielleicht auch - diesem Modell nicht folgen, es sei denn eine farbige Familie bekräftigte ihren sozialen Aufstieg auch durch Kopie der herrschaftlichen Lebensstils. Die Sklaven stießen natürlich auf besonders große Schwierigkeiten, wenn sie eine Familie gründen wollten: Sie durften zwar heiraten, aber nur mit Zustimmung ihres Herrn, und ihre Kinder durften verkauft werden, wovon auch mehrere Reisende berichteten. Den meisten Reisenden scheint übrigens, da sie durch ihre sozialen Kontakte meist die weiße Herrschaft mit ihrer farbigen Dienerschaft vor Augen hatten, im 30

Luccock: Bemerkungen, S. 344. Ebenda, S. 313-314. 32 Ebenda, S. 177-184, 189. 33 Vgl. dazu: Elizabeth A. Kuznesof: Sexual Politics, Race and Bastard-Bearing in Nineteenthcentury Brazil, in: Journal of Family History 16/3, S. 241-260, Ramos, D., Single and Married Women in Vila Rica, Brazil, 1754-1838, in: ebenda, S. 261-282, Diaz, A.J., Occupational Class and Femal-heades Households in Santiago Maio do Iguape, Brazil, 1835, in: ebenda, S. 299-313. 31

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Gegensatz zu Luccock nicht aufgefallen zu sein, daß auch eine beträchtliche Zahl von Haushalten mit weißen alleinstehenden Frauen mit und ohne Kinder gab. Aus Mariana und Vila Rica in Minas Gerais berichtete Luccock auch vom Zusammentreffen der Weißen und Indianer, u.a. vom korrumpierenden Einfluß „geistiger Getränke" und des Bestrebens, an ihnen früher unbekannte Waren zu kommen, auf die Indianer, und darüber, daß sich die indianischen Stämme gegenseitig bekriegten und durch den Einsatz von Feuerwaffen fast ausrotteten. 34 Der Forschungsreisende Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied 35 verfaßte über seine auf Anregung Alexander von Humboldts unternomme Brasilienreise von 1815 bis 1817, die ihn durch das Landesinnere von Rio de Janeiro bis Salvador de Bahia führte, einen umfangreichen Bericht. 36 Sein Reisewerk ist u.a. durch die enthaltenen Abbildungen sogenannter „wilder" Indianer wie der Botokuden bekannt geworden. Wied war vermögend genug, sich seinen ethnographischen und naturkundlichen Forschungen und der Publikation ihrer Ergebnisse ohne Einschränkung durch berufliche oder kommerzielle Zwecke widmen zu können. Interessant ist seine Reisebeschreibung hinsichtlich der Informationen, die sie über die „Zivilisierung" der Indianer und das Verhältnis der Indianer zur übrigen brasilianischen Bevölkerung enthält. Bei der Auswertung seiner Aussagen sollte man sich aber immer vor Augen halten, daß aus seiner Sicht - wie aus der Sicht der allermeisten Reisenden des 19. Jahrhunderts - die Übernahme europäischer Sitten immer einen Fortschritt, die Beibehaltung oder Rückkehr zu indianischen Gebräuchen immer etwas zu Bedauerndes darstellten. Niemand kam auf die Idee, sich zu fragen, ob die Übernahme der europäische Lebensweise den Indianern irgendwelche Vorteile brachte und ob die neuen Gewohnheiten in ihrer geographischen Umgebung sinnvoll waren. Wied berichtete z.B., daß die bei Rio lebenden „Indier" (so sein traditioneller Sprachgebrauch) sich in die koloniale Wirtschaft eingegliedert hätten, die Männer arbeiteten im Dienst des Königs auf den Schiffen, die übrigen Angehörigen dieser Gruppen produzierten Tonwaren für den Markt. Überhaupt sprächen bei den an der Küste ansässigen indianischen Völkern nur noch die Alten ihre eigene Sprache, sonst setze sich das Portugiesisch immer mehr durch. Außerdem kann man Wieds Aussagen entnehmen, daß zuerst der Alkohol, dann die Spra34

Luccock: Notes, S., 512/513; Luccock: Bemerkungen, S. 224/225. Zu Wieds Biographie siehe: Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817 von Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied, bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Joost, Leipzig 1987. 36 Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied: Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817, Frankfurt/Main 1820.

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che und die Kleidung der Portugiesen übernommen wurde, während z.B. Hausrat und Wohnweise länger erhalten blieben. Die zivilisierten Indianer sahen auf die Tapuyas, die Wilden, mit Verachtung herab, was nicht ausschloß, daß einzelne, die Christen geworden waren und sich den europäischen Sitten angepaßt hatten, wieder in die Wälder und zu ihrer ursprünglichen Lebensweise zurückkehrten. Bei den Coroados und Coropös fiel ihm auf, daß die Frauen die europäische Kleidung eher übernahmen als ihre Männer.37 Bei Wieds Begegnungen mit den „Wilden", wie z.B. den Puris, stellte sich heraus, daß auch diese längst europäische Waren kannten, ihre Pfeile und Bögen tauschten sie bereitwillig gegen Messer, rote Wollmützen und Schnupftücher, Spiegel, Glasperlenketten und Rosenkränze ein, die sie freilich nicht für Gebete benötigten. Freyreiss in Wieds Reisegruppe kaufte den Puris einen Jungen ab, Wied schrieb dazu, dieser hätte mit gefühlloser Gleichgültigkeit auf seine Verschleppung aus seiner Heimat reagiert.38 Der Forschungsreisende als Sklavenhalter, der sich obendrein beschwert, sein Opfer hätte nicht genug Leid gezeigt, dies zeigt, daß Wied wie Freyreiss sich in der Begegnung mit einer anderen Kultur als Subjekte sahen, die anderen aber nur als Objekte. An anderer Stelle mußte Wied freilich zugeben, daß der Widerstand der Botokuden gegen die Portugiesen oder die Flucht der Camacans in die Wälder durch den Ausrottungskrieg gegen sie, zu dem auch die bewußte Verbreitung der Pocken im Indianergebiet gehörte, gerechtfertigt war. Zum Zeitpunkt von Wieds Reise kam es übrigens durchaus noch vor, daß bestehende Siedlungen und Straßenbauprojekte wegen des indianischen Widerstandes wieder aufgegeben werden mußte. 39 Wieds Bericht enthält auch Informationen von interethnischen Beziehungen, die nicht mit dem Verhältnis Weiße-Indianer zu tun haben. Wied berichtete z.B. von der Feindschaft aller Brasilianer unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit gegenüber den Engländern, die deutschen Reisenden mußten immer wieder beteuern, daß sie trotz ihres nordischen Aussehens keine Engländer waren.40 Er schilderte auch Beispiele des Widerstandes von schwarzen Sklaven, z.B. von einer Plantage bei Campos, wo Sklaven beim Tod des Pflanzers die Gelegenheit genutzt hatten, sich zusammen mit den Sklaven der Nachbarplantage der Herrschaft zu entledigen, sie brachten einen Geistlichen um, der die

37 38 39 40

Wied: Reise, Band Ebenda, Band 1, S. Ebenda, Band 1, S. Ebenda, Band 1, S.

1, S. 33, 35, 76, 78, 129-133. 133-144. 198-200, 237, Band 2, S. 115,215. 80, 81, Band 2, S. 257.

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Ordnung wiederherstellen sollte, leisteten einer Kompanie Soldaten erfolgreich Widerstand und lebten fortan von der Jagd.41 Die österreichischen Forschungsreisenden Johann Baptist von Spix (Zoologe) und Carl Friedrich Martius (Botaniker und Ethnograph), deren dreibändige Reise in Brasilien in den Jahren 1817-1820, 1823-1831 in München erschien, waren im Gefolge der österreichischen Erzherzogin Leopoldina, der Braut des Kronprinzen und späteren Kaisers von Brasilien, Pedro I., nach Brasilien gekommen. 42 Sie berichteten, daß durch die Einwanderung vieler Portugiesen und anderer Europäer seit der Ankunft des portugiesischen Hofes (1807) sich das Verhältnis von schwarzer/farbiger und weißer Bevölkerung zugunsten letzterer umgekehrt habe,43 Indianer seien in der Hauptstadt kaum zu anzutreffen. Es sei zu sehen, daß selbst die Angehörigen der höheren Schichten indianische und afrikanische Vorfahren haben, auch wenn sie in ihrem Taufbuch als Weiße ausgewiesen sei44

en. Spix und Martius, die ja zu Forschungszwecken nach Brasilien gekommen waren, vermittelten ihren Lesern auch sehr viele ethnographische Informationen über Indianer in ihrer ursprünglichen Lebensweise, die hier nicht behandelt werden können. Es sei nur angemerkt, daß die Forscher nicht zweifelten, einer „rohen", den Weißen unterlegenen Rasse gegenüberzustehen, obwohl sie selbst keine Indianersprache gut genug verstanden, um ein richtiges Gespräch zu fuhren. Ihnen fiel auf, daß Indianerinnen mit Schwarzen Beziehungen eingingen, aber nicht umgekehrt. Über das Verhältnis von Weißen und Indianern berichteten sie, daß die Coroados Angst davor hätten, zum Militär verschleppt zu werden und auch tatsächlich zu Heer und Marine gepreßt wurden, daß die Indianer gern Branntwein tränken, daß sie im Dienst für die Weißen ausdauernd die zugewiesene Arbeit verrichteten und daß die Stämme, die leicht unter der übrigen Bevölkerung angesiedelt wurden, besonders schnell ausstürben. Sie stellten einen indianischen „Principal" vor, der Krieg gegen seine Nachbarn führte, die er dann, wie auch Angehörige anderer Völker, an die Weißen verkaufte. 45

"'Ebenda, Band 1, S. 179/180. 42 Johann Baptist von Spix/Carl Friedrich Martius: Reise in Brasilien in den Jahren 18171820, 3 Bände, München 1823-1831. 43 1817 hatte Rio 110000 Einwohner, Spix/Martius: Reise, S. 97. 44 Ebenda, S. 638. 45 Ebenda, Band 1, S. 370, 378, Band 3, S. 1002, 1221/1222, 1208.

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Was das Verhältnis der weißen zur schwarzen Bevölkerung anbetrifft, so berichteten die beiden Forscher vom Sklavenmarkt in der Straße Vallongo in Rio de Janeiro, ihre Begutachtung durch die Käufer, den Preis und dergleichen Dinge mehr. Sie hinterließen auch Aufzeichnungen über die verschiedenen Krankheiten, unter denen die Sklaven litten, und den Banzo (eine psychosomatische Reaktion auf die Verschleppung aus ihrer Heimat), und die besondere Härte, die ein Verkauf in das Landesinnere für die Sklaven mit sich brachte, da die Sklaven dann hunderte Meilen zu Fuß marschieren mußten. Zur Zeit ihrer Brasilienaufenthaltes seien 50000 Sklaven jährlich eingeführt worden, was der portugiesischen Krone gewaltige Zolleinnahmen bescherte.46 Theodor von Leithold war ein preußischer Husarenoffizier, dessen Vermögen durch den Krieg von 1806 zerstört worden war, und der nicht von einem kleinen Wartegeld leben wollte. Er suchte sein Glück in Brasilien, wo sein Schwager, der ehemalige portugiesische Geschäftsträger in Berlin, lebte. Er wollte in der Nähe Rios eine Kaffeepflanzung anlegen, bekam aber nicht den erhofften Vorschuß vom in Brasilien residierenden König von Portugal, und kehrte daher enttäuscht zurück.47 In Meine Ausflucht nach Brasilien, Berlin 1820, gibt er seine Beobachtung wieder, daß fast nur Sklaven ausgingen, wer es sich leisten könne, reite, fahre aus oder lasse sich in der Sänfte tragen. Frauen ließen sich von möglichst vielen Sklaven begleiten, wenn sie das Haus verließen. Diesen Luxus leisteten sich übrigens auch die Freudenmädchen erster Klasse. Die „Waschweiber", Mulattinnen, die sich Sklavinnen hielten, verdienten viel Geld und behängten sich auffällig mit Schmuck. Im Gegensatz zu der prächtigen Kleidung, die alle trugen, die es sich leisten konnten, gingen die „niedrigen" Sklaven beinahe nackt, nur mit einem Stück Leinen bekleidet. Nach Leitholds Meinung wurden die Sklaven in Brasilien gut behandelt und mußten wenig arbeiten (dabei kannte er nur Rio), weil die Brasilianer aus den Erfahrungen von Palmares gelernt hatten. Dazu im Widerspruch steht, daß sein eigener Diener, wie sich herausstellte, ein entlaufener Sklave war und er selbst erlebte, wie Sklaven nachts angekettet wurden, um sie am Entlaufen zu hindern. Wieso hielt es die Obrigkeit für notwendig, die Köpfe entlaufener Sklaven, die von den Capitäes-do-mato eingefangen worden waren, auf Stangen auf den Hauptstraßen zur Schau zu stellen und wieso wurden nach Leitholds Bericht entlaufene Sklaven gefoltert, wenn es mit der Sklaverei gar nicht so schlimm war?48 46 47 48

Ebenda, Band 1, S. 118-121, Band 2, S. 668-670. Theodor von Leithold: Meine Ausflucht nach Brasilien, Berlin 1820. Leithold: Ausflucht, S. 55-96.

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Es zeigt sich hier, wie kritisch man Reiseberichte lesen muß: allgemein formulierte Urteile und Schilderungen konkreter Erlebnisse stehen oft im Widerspruch zueinander. Eine der wenigen Frauen, die Reisebeschreibungen über Lateinamerika in diesem Zeitraum hinterließen, war die Engländerin Maria Graham, die mit ihrem Mann, einem britischen Marineoffizier, nach Amerika kam, der auf See verstarb. Maria Graham hatte auf dem Höhepunkt der Independencia Kontakt zu den obersten gesellschaftlichen Schichten in Chile und Brasilien. Ihren 1824 erschienenen Berichten, die zwar nicht vollständig übersetzt, aber in deutschen Zeitschriften besprochen wurden,49 kam zugute, daß sie eine professionelle Schriftstellerin war. Maria Graham fand wenig, was die Sklaverei in Brasilien beschönigen konnte. Auf dem Sklavenmarkt in Recife seien die Sklaven unter den unhygienischsten Zuständen zusammengepfercht, in der Nähe ihrer Unterkunft in Recife sah sie in einem Depot unterernährte Sklavenkinder, ein zweijähriges Kind stand zum Verkauf. Sie beobachtete eine weiße Frau, die ihre Sklavin mißhandelte.50 In Itaparica (Bahia) besuchte sie die Sklavensiedlung eines Engenho (Zuckerplantage), stellte fest, daß die Sklaven familienweise in relativ sauberen und bequemen Hütten untergebracht waren, erlebte aber auch, daß eine kranke Sklavin freigelassen wurde, um sich ihrer zu entledigen. Sklaven ginge es um so besser, je weiter der Herr „in place and rank" von ihnen entfernt sei. In Rio bemerkte sie, daß ein großer Unterschied zwischen der Lage der gerade eingeführten Sklaven und denen bestehe, die für ihr guten Lohn in der Stadt arbeiteten.51 Maria Graham berichtete von den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Portugiesen und Brasilianern um die Trennung von Portugal. Hinsichtlich der Truppen, die in Pernambuco auf Seiten der Independencia kämpften fiel ihr auf, daß deren Hautfarbe „from the sallow European to the ebony African" reichte. Mulatten seien fleißig und brächten große Vermögen zusammen, mit denen sie die Unabhängigkeit unterstützten. Portugiesen europäischer Herkunft würden ihre Töchter lieber mit „the meanest clerk of European birth" verheiraten als mit dem reichsten und verdienstvollsten Brasilianer.52 49

Minerva 1825/1. Band, S. 269ff., Literarisches Conversationsblatt, 1824/1. Band, Nr. 101, Annalen der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 4. Band: 1. 4. -30.9. 1831, S. 42. 50 Maria Graham: Journal of a Voyage to Brazil and Residence There During Part of the Years 1821, 1822, 1823, London 1824, Nachdruck New York 1969, S. 105, 107. 51 Ebenda, S. 144/145, 170. 53 Ebenda, S. 117, 125, 126.

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Friederich von Weech, 53 der 1823 bis 1827 in Brasilien weilte, mit der Gründung einer Fazenda und einer Molkerei bei Rio scheiterte und dann aus gesundheitlichen Gründen nach Europa zurückkehrte, war ein gründlicher Beobachter, der sich besonders für die wirtschaftlichen Aspekte und die Perspektive Brasiliens als Auswandererland interessierte. Weech beschrieb das Verhalten weißer Sklavenhalterinnen aus der Oberschicht: Sie täten nichts, weil alle Arbeit von den Sklavinnen erledigt würde, sie schlügen ihre Sklavinnen aus Eifersucht oder weil der heimgebrachte Tagesverdienst nicht ausreichte. Das Haus verließen sie nur in Begleitung einer möglichst großen Gruppe von Sklavinnen, die nach der Hautfarbe, zugleich Rangordnung, hinter ihr hermarschierten. Weech berichtete, daß weiße Väter ihre Kinder von Sklavinnen innerhalb einer sechswöchigen Frist zu einem Festpreis freikaufen könnten. Manche schwarze Frauen lebten ausschließlich von der Gunst weißer Männer. Verheiratete Sklaven dürften nur zusammen verkauft werden, dieser Schutz gelte aber nicht für ihre Kinder. 54 Weech vermutete, daß unter den farbigen Kindern im Findelhaus Rios (Roda dos Expostos) manches aus der gesellschaftlich völlig geächteten Beziehung einer weißen Frau mit einem Schwarzen stammte, denn schwarze Frauen würden ihre Kinder lieben und leicht ernähren, sie daher nicht weggeben, 55 er berücksichtigte dabei aber nicht, daß Sklavenbesitzer sich der Kinder ihrer Sklavinnen oft durch Weggabe in diese Einrichtung entledigten. 56 Ein vernichtendes Urteil fällte Weech über den Umgang der Brasilianer mit den Indianern, die Botokuden hätten sie zu vernichten versucht, die zu missionierenden Covoatos und Coropos-Indianer würden als Sklaven mißbraucht und übervorteilt. 57 Die hier erfaßten Berichte enthalten Informationen über folgende Regionen: Rio de Janeiro und Umgebung, Säo Paulo und Minas Gerais, Bahia, Pernambuco und Rio Grande do Sul und erfassen damit einen Großteil Brasiliens, wenn natürlich auch immer eine Momentaufnahme vorliegt und nicht immer, wie im Falle Rios, die Entwicklung der Verhältnisse über lange Zeiträume verfolgt werden kann. Zu beachten ist, daß alle Autoren die Verhältnisse aus der 53 J. Friederich v. Weech: Reise über England und Portugal nach Brasilien und den Vereinigten Staaten des La-Plata-Stromes während den Jahren 1823 bis 1827, München 1831; auch Autor von: Brasiliens gegenwärtiger Zustand und Kolonial-System, Besonders in Bezug auf Landbau und Handel. Zunächst für Auswanderer", Hamburg 1825. 54 Weech: Reise, 2. Theil, S. 9-15, 81-94. 55 Ebenda, 1. Theil, S. 343. 56 Giacomini: Mulher, S. 56-58. 57 Weech: Reise, 2. Theil, S. 222-232.

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Perspektive der privilegierten Schichten betrachteten und daß weit mehr Männer als Frauen nach Brasilien reisten und darüber berichteten. Zusammengefaßt zeigt die Quelle Reisebericht dem zeitgenössischen wie dem heutigen Leser, daß ethnische und soziale Zugehörigkeit in der brasilianischen Gesellschaft nicht in jedem Fall zusammenfielen und von einer strikten Rassensegregation nicht die Rede sein konnte. Aber eine weiße Hautfarbe erleichterte den gesellschaftlichen Aufstieg und eine schwarze erschwerte ihn, zumal die Farbigen dazwischen versuchten, ihre Kinder mit Weißen zu verheiraten und die Familie graduell dem weißen Ideal näher zu bringen und vom Stigma „schwarz = Nachkomme von Sklaven und Heiden" zu entfernen. In der Tendenz wurde das Herrschaftsverhältnis Sklavenbesitzer-Sklave von Weißen und Farbigen über Schwarze und Farbige ausgeübt. Zu diesem Verhältnis gehörte die physische Gewalt des Sklavenbesitzers gegen seine Sklaven und verschiedene Formen des Sklavenwiderstandes. Motive für Manumissionen waren persönliche Beziehungen zu Sklaven, der katholische Glaube, aber auch die Kostenersparnis im Falle alter und kranker Sklaven. Da Sklavenbesitz breiten Schichten der brasilianischen Bevölkerung möglich war, stellten die Reichen ihren Reichtum zur Schau, indem sie sich in der Öffentlichkeit mit einem richtigen Gefolge von Sklaven zeigten. Bei Farbigen brachten indianische Vorfahren weniger Prestigeverlust als schwarze mit sich. Die zeitgenössischen Indianer aber hatten nur eine Chance, wenn sie caboclos,58 d.h. zivilisierte Indianer, wurden, zum Christentum übertraten, portugiesisch sprachen, und sich der brasilianischen Wirtschaft als Arbeitskräfte zur Verfugung stellten und schließlich mit dem Aufgehen ihres Volkes in der brasilianischen Nation einverstanden waren. Die Missionierungsversuche gegenüber den wilden Indianern (tapuyas, gentes, bugres), die sich ihrer traditionellen Lebensweise noch nicht entfremdet hatten, wurden von staatlicher und kirchlicher Seite nur sehr halbherzig durchgeführt: Den Versuchen derjenigen, die sich in den ehemals indianischen Gebieten ansiedeln wollten, die Indianer auszurotten, trat man von offizieller Seite nicht entgegen. Die Unabhängigkeitserklärung Pedros I. ließ zunächst den Widerspruch zwischen Portugiesen europäischer Herkunft, die in Bahia und Parä für den Verbleib im portugiesischen Königreich kämpften, und den Brasilianern hervortreten, der portugiesische Widerstand wurde aber bald unterdrückt. Ansonsten änderte sich durch die brasilianische Unabhängigkeit wenig an den interethnischen Beziehungen, Sklaverei und Sklavenhandel (der in den 30er und 40er 58

Heute wird der Begriff abwertend für farbige Kleinbauern verwendet.

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Jahren boomte und erst nach der Jahrhundertmitte beendet wurde), Vertreibung und Vernichtung indianischer Völker bestanden fort. Eher als politische Veränderungen wirkte sich der landwirtschaftliche Exportboom (der Kaffee überholte den Zucker), die Zunahme und Mobilität der freien schwarzen Bevölkerung und die europäische Einwanderung auf diese Beziehungen aus. Mehrere Reisende (Weech, Wied, Spix/Martius) berichteten ausfuhrlich über die deutschen Siedlungen in Brasilien, was ich angesichts der Fülle der Literatur über Deutsche in Brasilien hier nicht aufarbeite,59 obwohl natürlich auch hier ein interethnisches - nicht selten konfliktives - Zusammentreffen vorlag. Die mexikanische Gesellschaft der späten Kolonialzeit war vom Nebeneinander von Kreolen, Mestizen und Indianern geprägt, schwarze Sklaven und Farbige mit afrikanischem Einschlag spielten eine verhältnismäßig geringere Rolle und konzentrierten sich auf die Küstengebiete Mexikos. Zunächst befasse ich mich mit den Informationen in Humboldts Reisebericht. Humboldt beschrieb die interethnischen Beziehungen der mexikanischen Gesellschaft im Essai politique sur le Royaume de la Nouvelle Espagne, Paris 1811, ursprünglich Teil der Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801,1802,1803, et 1804, Paris 1808 ff., dort Band 25/26, die deutsch erstmalig 1809 bei Cotta erschien.60 In seinem Mexiko-Werk61 befaßte er sich mit den Spannungen, die sich aus der - in der Forschung umstrittenen, auch von Konetzke bezweifelten - Bevorteilung der in Europa geborenen Spanier gegenüber den Kreolen, den in Amerika gebo59

Siehe: M. Pinsdorf: Deutsch-Brasilianische Bibliographie in: Staden-Jahrbuch, Nr. 43/44 (1995/1996), S.149-161. Karl Heinrich Oberacker/Karl Ilg: Die Deutschen in Brasilien, in: Hartmut Fröschle (Hg.): Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, Tübingen/ Basel 1979, S. 169-301, besonders die Literaturliste S. 287 ff. 60 Das Humboldtsche Werk wurde auch über Zeitschriften verbreitet, z.B. Allgemeine Geographische Ephemeriden, Band 48 1815, S. 51, Rezension zu: Reisen in die Aequinoctialgegenden des neuen Continents 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 u.1804, verfaßt von A. v. Humboldt u. A. Bonplandt. 1. Theil, mit einem Kupfer, Stuttgardt u. Tübingen: J.G. Cottasche Buchhandlung. Zu Leben, Werk und Wirkungsgeschichte Alexander von Humboldts siehe z.B.: Charles Minguet: Alexandre de Humboldt, historien et géographe de l'Amérique espagnole 1799-1804, Paris 1969. Alexander von Humboldt und das neue Geschichtsbild von Lateinamerika, hg. von Michael Zeuske und Bernd Schröter, Leipzig 1992. Michael Zeuske: Del "buen gobierno" al "mejor gobierno"?: Alejandro de Humboldt y el problema de la transformación en América española, in: APUNTES, Revista universitaria para problemas de la historia y la cultura iberoamericana, Nueva serie, 1 (1993), S. 1-86, Hanno Beck: Alexander von Humboldt, 2 Bde., Wiesbaden 1959-1961. 61

Ich zitiere nach: Alexander von Humboldt: Mexico-Werk. Politische Ideen zu Mexico, mexikanische Landeskunde, hg. und kommentiert von Hanno Beck, Darmstadt 1991 (Studienausgabe Alexander von Humboldt, Band 4), S. 172-198, 200-231, 276-283.

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renen Weißen, durch die Kolonialmacht 62 ergaben. Humboldts Werk kann man entnehmen, daß sich die Kreolen benachteiligt fühlten, und damit ein Motiv für ihre Emanzipation erfassen. Humboldt gab Statistiken über die Anzahl der Europaspanier und Kreolen in den Kolonien und über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Mexiko-Stadts an, über das Vermögen der bedeutenden mexikanischen Familien und über das Einkommen der verschiedenen Kategorien des katholischen Klerus. Er schilderte auch die unterschiedlichen Konsumgewohnheiten zwischen der reichen (weißen) Oberschicht, die z.B. Wein trank, und der Bevölkerungsmehrheit, die sich mit Pulque begnügte. Dann befaßte er sich mit den farbigen Unterschichten Mexikos, wobei seiner Meinung nach die Vermischung von Weißen mit Schwarzen eine „tätigere und emsigere Rasse" hervorbringe als die Vermischung von Weißen und Indianern. Auch Humboldt wußte von einem Fall zu berichten, wo eine weiße Dame der Grausamkeit gegenüber ihren schwarzen Sklavinnen überfuhrt wurde. Meist wurde in Mexiko aber die in Brasilien den Sklaven zufallende Hausarbeit durch vom Lande zugewanderte indianische Dienstmädchen verrichtet, deren Lebensbedingungen freilich wenig besser gewesen dürften als die der Sklaven. Bei der Erläuterung der Bezeichnungen für die verschiedenen Unterkasten der farbigen Bevölkerung, die sich nach der Zusammensetzung ihres Blutes richteten, teilte Humboldt die Beobachtung mit, daß die durch die Vermischung mit Schwarzen entstandenen Kasten am wenigsten geachtet würden. Humboldt berichtete ebenfalls von dem Phänomen, daß sich sozial Aufgestiegene vor Gericht für weiß erklären lassen konnten. Bei der Beurteilung der Kultur der mexikanischen Indianer gibt Humboldt zu bedenken, daß die Wohlhabenden unter ihnen und die Priester ausgerottet wurden, so daß man von ihrem jetzigen Zustand nicht auf die Errungenschaften ihrer früheren Kultur schließen könne, wobei Humboldt vor allem die aztekische im Auge hatte. Die Folgen der spanischen Kolonialherrschaft für die Indianer verurteilte Humboldt scharf, durch die Tätigkeit der Intendanten seien aber einige Mißstände abgeschafft worden und den Indianern ginge es jetzt besser. Trotzdem lebten die meisten von ihnen bettelarm auf unfruchtbarem Land. Es gebe aber auch einige Fälle, in denen sich auch bei Indianern hinter äußerer Armut ein großer Reichtum verberge. Die Indianer seien von der Verkaufssteuer befreit, be62

In: Richard Konetzke: La condición legal de los criollos y las causas de la Independencia, in: Estudios americanos. Revista de Síntesis e Interpretación 2/5 (1950), S. 31-54, befaßte sich Konetzke mit diesem Thema und kam zu dem Schluß, daß keine „causalidad mécancia entre la condición legal de los criollos y la independencia" gebe.

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zahlten aber den Tribut und hohe Abgaben an die Kirche. Sie dürften noch immer keinen gültigen Vertrag abschließen, weil sie nicht als mündige Rechtspersonen gälten, was „unübersteigliche Scheidewand" zwischen sie und die übrigen Kasten setze. Humboldt gab eine Denkschrift des Bischofs von Michoacán wieder, die die soziale Ungleichheit schilderte: die Weißen machten 1/10 der Bevölkerung aus, besäßen aber alle Reichtümer des Landes, während die Indianer von ihrer Hände Arbeit leben müßte, woraus der Haß zwischen Indianern und Weißen entstehe. Die sogenannten Privilegien der Indianer dienten nach Meinung des Bischofs nicht zu ihrem Schutz, sondern zum Erhalt ihrer untergeordneten Position. Der Bischof kritisiert auch, daß die von den Negern abstammenden Kasten für ehrlos erklärt und dem Tribut unterworfen worden seien, obwohl sich ihre Kultur häufig gar nicht von der der Weißen unterscheide. Die alcaldes mayores und subdelegados mißbrauchten ihre Macht und den Repartimientohandel, um sich zu bereichem und ihre Schuldner (Indianer und castas) wie Leibeigene zu behandeln. Die Krone sollte nach Meinung des Bischofs den Tribut und die rechtlichen Diskriminierungen der Indianer aufheben, ihnen die Krondomänen und unbebautes Land privater Eigentümer zur Nutzung überlassen und den Beamten feste Besoldungen aussetzen, um die Probleme zu lösen. Harsch kritisierte Humboldt das Vorgehen der Missionare gegenüber „wilden" Indianern in den provincias internas, die trotz des Verbotes der Indianersklaverei wie Sklaven gehalten würden. Im folgenden war das Humboldtsche Werk mit seinen statistischen und sozialwissenschaftlichen Angaben der Bezugspunkt aller Reisenden, die ihre später erfolgten Beobachtungen oft mit seinen Informationen verglichen. Die interethnischen Beziehungen hätten sich durch die mexikanische Independencia eigentlich stark verändern müssen, wenn das, was in Dekreten, Verfassungen und dergleichen stand, umgesetzt worden wäre. Die in den Dekreten von Hidalgo, in der Verfassung von Apatzingán und im Plan von Iguala geforderte Abschaffung der Kasten, juristische Gleichstellung der Bürger und Vergabe aller staatlichen Stellen ohne Ansehen der Hautfarbe wurde 1821 Gesetz. Die Sklaverei wurde zwar erst 1829 endgültig abgeschafft, spielte aber kaum noch eine Rolle. Die Reiseberichte zeigen aber, daß sich die interethnischen Beziehungen nicht so dramatisch veränderten. William Bullock, der als Museumsbesitzer in London eine Ausstellung über Mexiko, u.a. mit einem Panorama der Hauptstadt und diversen Naturprodukten des Landes organisierte, Autor des Buches Six Months' Residence and Travels in Mexico; containing Remarks on the Present State of New Spain, its natural pro-

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ductions, state of society, Manufactures, Trade, Agriculture, and Antiquities &c. with Plates and Maps, London 1824, das ins Deutsche übersetzt 63 und auszugsweise im Literarischen Conversations-Blatt wiedergegeben wurde, 64 beschrieb die Funktion der Indianer aus der Umgebung von Ciudad de México als Lieferanten von Obst und Gemüse, Fisch und Geflügel sowie Woll- und Baumwollwaren für den Markt vom See Chalco. Außerdem berichtete er, daß die Spanier (womit er wohl alle Weißen meinte), „even of the better sort" ihre Frauen mit den schönen und herausgeputzten schwarzen Frauen und Mulatinnen betrügen würden. 65 Der englische Marineoffizier und Reiseschriftsteller George Francis Lyon, der 1826 auf Bitte der englischen Bergwerksgesellschaft Real del Monte nach Mexiko gereist war und vor allem die Minendistrikte von Mexiko beschrieb, berichtete in seinem 1828 in London erschienenen Reisebericht Journal of a Residence and Tour of the Republic of Mexico in the year 1826, der noch 1828 ins Deutsche übersetzt wurde 66 über die Spannungen zwischen den englischen Bergwerksbesitzern und Ingenieuren und der (indianisch-mestizischen) Bevölkerung von Zacatecas: die Engländer hielten die Einheimischen fur „lawless and unruly", die Einheimischen lehnten die Engländer ab, weil sie Häretiker und Juden seien. Außerdem berichtete Lyon, daß die Kreolen noch immer alle Indianer und letztendlich jeden, der nicht ihre Hautfarbe hatte, verachteten. Dabei ignorierten die Kreolen die von Lyon beschriebene wichtige Rolle der Indianer in der mexikanischen Wirtschaft, z.B. als Produzenten von landwirtschaftlichen Produkten wie Obst, Gemüse und Geflügel aber auch Kleidung und Tonwaren ftir die städtischen Märkte. Über die Rancheros oder Vaqueros, meist Mestizen, teilte er mit, daß sie mit sehr einfachen Lebensbedingungen zufrieden, tapfer und meist gut gelaunt, aber ohne jede Bildung und Interesse an Dingen jenseits ihres Berufes seien. Ein positives Urteil gab Lyon über die indianischen Arrieros, die Maultiertreiber, ab, die trotz der Wirren der letzten Jahre ehrliche und gefällige Leute geblieben seien. 67 Richard William Hardys, eines englischen Marineoffiziers, der im Auftrag einer Londoner Gesellschaft, die auf Perlen- und Korallenfischerei vor 63

William Bullock: Six Months' Residence and Travels in Mexico; containing Remarks on the Present State of New Spain, its natural productions, state of society, Manufactures, Trade, Agriculture, and Antiquities &c. with Plates and Maps", London 1824, deutsch: Sechs Monate in Mexiko oder Bemerkungen über den gegenwärtigen Zustand Neu-Spaniens von William Bullock, aus dem Englischen von Friedrich Schott, Dresden 1825. 64 65 66 67

Literarisches Conversationsblatt, 16.10.1824, 25.10., 4.11., 1.12., 8.12.1824. Bullock: Six Months', S. 139-141 und 188-197. George Francis Lyon: Reise durch Mexiko im Jahre 1826, Jena 1828. Lyon: Reise, Band 1, S. 266-268, Band 2, S. 231-238.

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Californien setzte, nach Nordwestmexiko reiste, Travels in the Interior of Mexico in Baja California and around the Sea of Cortes 1825, 1826, 1827, and 1828, London 1828,68 wurden in führenden deutschen geographisch-ethnologischen Zeitschriften besprochen.69 Hardy, der eine damals nicht nur aus deutscher Sicht noch recht unbekannte Region bereiste, die heute z.T. zu den USA gehört, lieferte Informationen über das Verhältnis der Mexikaner zu den „wilden" Indianerkulturen des mexikanischen Nordwestens, u.a. über den militärischen Ablauf des Krieges der Yaqui gegen die Mexikaner, der zustande kam, weil der unabhängige mexikanische Staat einerseits die Autonomie der Yaqui-Gemeinden und deren Eigentumsrechte nicht respektierte, andererseits Yaqui-Gruppen für die Auseinandersetzungen der lokalen Eliten bewaffnet worden waren. Nach Hardy behinderte der Yaqui-Krieg die Maislieferungen in Städte in Sonora, Chihuahua und Baja California und versetzte nach einem Sieg der Indianer die von ihm besuchte Villa del Fuerte, Hauptstadt der damals als Estado de Occidente vereinigten Staaten Sonora und Sinaloa, in Panik. Hardy berichtete über die Exekution aufständischer Yaqui und, daß die Pima-Indianer auf spanischer Seite gegen die Yaqui kämpften, d.h. die Kreolen Konflikte zwischen verschiedenen indianischen Ethnien für sich ausnutzen konnten. Hardy traf im Zusammenhang mit seinen geschäftlichen Absichten mit den Seri-Indianern auf der Insel Tiburon zusammen, wo sich Hardy auch als Arzt betätigte, aber nicht, wie erhofft, Gold oder Perlen fand. Von der Begegnung mit Indianern am Rio Colorado teilte er mit, daß diese aus Armut ihre Kinder oft den Weißen aus Sonora verkauften, und daß Indianer Angehörige feindlicher Stämme an die Weißen verkauften. 70 Hardy berichtete auch von der Angst eines Missionars, daß mit den Engländern der Protestantismus, von ihm auch .jüdisches Heidentum" genannt, importiert werden könnte. Die Missionsindianer in Mulege und Loreto dienten den Brüdern mit außerordentlicher Unterwürfigkeit, letztere hätten sich das indianische Land angeeignet und behandelten die ausgebeuteten Indianer mit großer Härte. Neuerdings seien noch einige Ländereien, auf denen die Indianer ihre Rinder hielten, zugunsten der weißen Einwohner von Guadalupe aufgeteilt worden. 68

Richard William Hardy: Travels in the Interior of Mexico in Baja California and around the Sea of Cortes 1825, 1826,1827, and 1828, London 1828. " N e u e allgemeine geographische und statistische Ephemeriden, Weimar, 30. Band 1830 S. 241, 8. Stück, Annalen der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 2. Band: 1.4.-30.9.1830, Berlin 1830, S. 760. 70 Hardy: Travels, 107,108, 184-199, 205, 247, 283-285, 370-371, 379, 390-398.

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Außerdem würden die Indianer gezwungen, kirchlich zu heiraten, die vom Pater verlangte Summe von 150 Dollar könnten sie natürlich nur in Form von Naturalien und Frondiensten abzahlen.71 Den Bewohnern Sonoras sagte Hardy nach, sie hätten nicht die sonst üblichen religiösen Vorurteile gegen protestantische Ausländer.72 Joseph Burkart, der sich als Bergbauingenieur u.a. im Dienste der englischem Tlalpujahua- und Bolanos-Kompagnie 1825-1834 in Mexiko aufgehalten hatte, schrieb in seiner Reisebeschreibung von 1836,73 daß trotz der gleichen bürgerliche Rechte aller in der Republik Mexiko das gesellschaftliche Ansehen mit der Helligkeit der Hautfarbe steige. „Den Müttern kann man daher [...] keine größere Freude machen, als wenn man die weisse Hautfarbe ihrer Kinder lobt, wäre die Mutter auch noch so gelb oder braun.74 Eduard Mühlenpfordt,75 der sich 1827 bis 1835 in Mexiko aufhielt und u.a. als Vorsteher des Bauwesens bei der Mexican Company und als Wegebau-Direktor in Oaxaca fungierte,76 informierte seine Leser detailliert über das politische System Mexikos, über die finanzielle Situation des neuen Staates, über Landwirtschaft, Handel und Gewerbe sowie das Bildungswesen u.v.a.m. So berichtete er, wie die Unabhängigkeit dazu geführt hatte, daß die spanischen Kaufleute durch Engländer, Franzosen, Deutsche und Nordamerikaner ersetzt wurden. Zur Lage der Indianer schätzte er ein, daß indianische Bauern arm seien, aber frei, ihr Zustand sei dem mancher Bauern im nördlichen Europa vorzuziehen, es gebe kein Fron und keine eigentliche Dienstbarkeit.77 Er bedauerte es jedoch, daß all die technischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten und die staatliche Ordnung, die die Indianer zur Zeit der Eroberung besessen hätten, durch die spanische Kolonialherrschaft und besonders die Vernichtung der Elite zerstört worden seien. Die Emanzipation nach der Unabhängigkeit sei nur dem Namen nach geschehen. Zur immer wieder kehrenden Behauptung, die Indianer seien träge und untätig, stellte Mühlenpfordt fest, daß sie doch „die wahre Arbeiterklasse" Mexikos in Land und Stadt seien. Einen Anreiz, mehr als zur Befriedigung ihrer sehr bescheidenen Bedürfhisse zu arbeiten, hätten sie in ihrer Lage " Ebenda, S. 270-273. Ebenda, S. 444. 73 Joseph Burkart: Aufenthalt und Reisen in Mexiko in den Jahren 1825-1834, 2 Bde., Stuttgart 1836. 74 Ebenda, S. 150/151. 75 Eduard Mühlenpfordt: Versuch einer getreuen Schilderung der Republik Mejico, besonders in Beziehung auf Geographie, Ethnographie und Statistik, 2 Bde., Hannover 1844. 76 Hohenstein: Verhältnisse, S. 200. 77 Ebenda, Band 1, S. 80.

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ohnehin nicht, wenn sie zu Geld kämen, wie z.B. bei der Cochenille-Zucht in Oaxaca, würden sie es vergraben, da sie nichts damit anzufangen wüßten, vermutlich hätten sie auch Angst, Begehrlichkeiten bei Behörden auszulösen. Es sei sehr schwierig, Indianer im Bergbau oder in der Landwirtschaft an neue Arbeitsgeräte zu gewöhnen. Mühlenpfordt erläuterte die Gründe, warum das mexikanische Gewerbe gegenüber den seit der Independencia in großen Mengen eingeführten europäischen Waren nicht konkurrenzfähig sei, u.a. machte er die mangelnde Schulbildung und damit die Notwendigkeit, Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, die Abneigung gegen anstrengende Arbeit im Sitzen, Arbeitskräftemangel und damit zu hohe Löhne für diese Lage verantwortlich, an kunsthandwerklichen Fähigkeiten mangelte es dagegen den Einheimischen nicht. Mühlenpfordt glaubte, daß die Übernahme des Christentums durch die Indianer, da durch Zwang und nicht durch Überzeugung erfolgt, nur oberflächlich gewesen sei, in den Heiligen lebten indianische Götter fort. Was interethnische Ehen anbetrifft, fiel ihm auf, daß indianische und mestizische Frauen von Kreolen und Altspaniern ihren Ehemännern gegenüber sehr unterwürfig auftraten, nicht mit ihnen zusammen aßen und nicht mit ihnen in Gesellschaft erschienen. Da aber in Ehen wohlhabender Indianer die Stellung der Frau ähnlich niedrig sei, wisse er nicht, ob diese Sitte eine altindianische oder spanische sei.78 Francés Erskine Calderón de la Barca, 79 die Frau des spanischen Botschafters in Mexiko, schottischer Herkunft und vor ihrer Ehe zeitweilig Lehrerin in Boston und in Staten Island, nach dem Tod ihres Mannes 1861 Lehrerin der spanischen Infanten Isabel und Alfonso, war die einzige Reisende, die einen Bericht über eine Mexiko-Reise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat. Ihr Life in Mexico during a Residence of two years, London 1843, wurde z.B. in der Allgemeinen Preußischen Zeitung besprochen. 80 78

Ebenda, S. 419, 435-437. Biographie: Howard T. Fisher/Marion Hall Fisher (Hg.): Life in Mexico. The letters of Fanny Calderón de la Barca, with new material from the author's private journals, New York 1966, S. XXI-XXIX. 80 Frances Calderón de la Barca: Life in Mexico during a Residence of two years, London 1843; Allgemeine Preußische Zeitung, 19.11.1845, S. 321, im Artikel „Die Republik Mexiko": „Von den zahlreichen Reisebeschreibungen aber, welche dies Land zu behandeln, das so reich an Gegensätzen im Volkscharakter und in den Sitten ist und deshalb für die Beschreibung ein so ergiebiges Thema abgiebt, verdient wohl am meisten „Madame Calderon's Leben in Mexiko" gelesen zu werden. Mit besonderer Anmuth und einem gewissen Humor schildert diese Dame, die Gattin des spanischen Gesandten, die Gesellschaft in Mexiko, das Leben in allen 79

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In ihrem Werk beschrieb sie z.B. das Leben in den Klöstern, Bildungseinrichtungen für Mädchen, das karitative Engagement von Kreolinnen für weibliche Strafgefangene und Waisenkinder,81 d.h. z.T. Dinge, für die sich männliche Reisende nicht interessierten bzw. zu denen sie auch keinen Zugang hatten, die aber für die Sozial- und Geschlechtergeschichte von großem Interesse sind. Calderón kontrastierte die ausgesprochen prächtige, an spanischen und französischen Vorbildern orientierte und mit Brillanten dekorierte Kleidung der reichen Mexikanerinnen mit der der armen Indianerinnen, die nicht mehr als ein „schlappriges" wollenes Kleidungsstück trugen, während selbst die Frauen der „shopkeeper class" in Ciudad de México noch einen ziemlichen Aufwand mit ihrer Kleidung trieben und ein sehr malerisches Bild unter ihren rebosos boten,82 Kleidung diente so als Statussymbol und äußeres Zeichen ethnischer und sozialer Zugehörigkeit. Calderón de la Barca meinte, daß sich seit Humboldts Reise und der Unabhängigkeit nichts an der Lage der Indianer geändert habe, sie seien so arm und unwissend wie zuvor und würden hart besteuert. Das Christentum der Indianer „seems to be formed on the ruins of their mythology", die Indianer legten großen Wert auf die äußeren Zeremonien der Kirche und gäben dafür sehr viel Geld aus.83 Die um die Hauptstadt herum lebenden Indianer hätten kaum etwas von ihrer ursprünglichen Lebensart bewahrt, im Gegensatz zu den Indianern, denen sie in Michoacan begegnete. Bei dieser Beobachtung Calderóns ist zu beachten, daß eine den Reisenden als ursprünglich, also präkolumbinisch erscheinende Lebensweise der Indianer auch weit jüngeren Datums sein konnte und daß generell 3¡Á Jahrhunderte Entwicklungsstillstand undenkbar sind.84 Allen Autoren, die nach der Independencia nach Mexiko reisen, ist gemeinsam, daß sie die Übernahme von Vorbildern des nördlichen und westlichen Europa in Mexiko als positiv bewerteten, von der Mode angefangen, das Festhalten an der Tradition dagegen als negativ. Deshalb kritisierten sie auch den starken Einfluß der katholischen Kirche auf die mexikanische Gesellschaft, der ihrer Meinung nach den Fortschritt verhinderte. Die interethnischen Beziehungen wurden Kreisen, im Palast und in der Hütte, in den Klöstern, Theatern und Spielhäusem, wie bei öffentlichen Festlichkeiten, und reiht an das lebensvolle Bild ihre freilich nur auf äußere Anschaung beruhenden Ansichten von der in dem üppigsten Farbenschmuck prangenden Natur." 81 Calderón: 1843, S. 88-89, 154-159, siehe auch Fisher: Letters, S. 519ff„ 532ff. 82 Calderón: 1843, S. 44. 83 Fisher: Letters , S. 578 und Calderón: 1843, S. 288-299. 84 Siehe dazu: Michiel Baud: Etnicidad como estrategia en América Latina y el Caribe, Quito 1996, S. 20-22: Beispiele fiir die Hobsbawmsche/Rangersche „invention of tradition" in Lateinamerika, zu historischen Veränderungen der comunidades indígenas, S. 27 ff., 63-65.

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von ihnen danach bewertet, wie es der kreolischen Elite gelänge, den Rest der Bevölkerung dazuzubringen, nach dem bürgerlichen Arbeitsethos zu arbeiten, technische Neuigkeiten anzunehmen und europäische Waren zu konsumieren. Schwierigkeiten hatten alle, die - von ihnen nicht so bezeichneten - vorkapitalistischen Verhaltensweisen der mexikanischen Bevölkerung zu akzeptieren: Die Tatsache, daß die Indianer nur soviel arbeiteten, wie zur Befriedigung ihrer sehr bescheidenen und zur Massenproduktion von Waren nicht gerade anregenden Bedürfhisse nötig war, nicht sparten und daß sie ihre Kinder angeblich nicht streng genug erzogen, der Fakt, daß viele Kreolen ihr Vermögen oft lieber fur Statussymbole und unproduktiven Landbesitz ausgaben, als in Bergbau, modernen Ackerbau und Gewerbe zu investieren, war den Reisenden ein Dorn im Auge. Die Independencia in Mexiko hatte zwar den militärischen und gesellschaftlichen Aufstieg einzelner farbiger Generäle bewirkt und formal die Diskriminierung von Indianern und Farbigen aufgehoben, die Reisenden waren sich jedoch darüber einig, daß sich am Verhältnis der kreolischen Elite zur indianischmestizischen Bevölkerungsmehrheit wenig geändert hatte. Letztere wurde nicht weniger ausgebeutet und nicht mehr an der politischen Willensbildung beteiligt als zuvor. Wenn sich durch die Unabhängigkeit an interethnischen Beziehungen etwas geändert hatte, dann daß die Rolle, die die Spanier im Handel und z.T. im Bergbau gespielt hatten, von anderen Europäern, vor allem Briten, aber auch Franzosen und Deutschen, übernommen wurde. Im folgenden standen - sowohl in religiösen Vorurteilen als auch in berechtigter Furcht vor der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einflußnahme ausländischer Mächte - begründete Feindseligkeit gegenüber diesen Ausländern und Übernahme europäischer Kultur in bezug auf Kleidung und Haushaltsführung, Wissenschaft, Kunst und Bildung nebeneinander. Über Venezuela gibt es weit weniger Reiseberichte als über Brasilien und Mexiko. In der Zeit zwischen Independencia und der Jahrhundertmitte hinterließen nur wenige Reisende einen Bericht, noch weniger behandelten das hier interessierende Thema, so daß ich mich auf die ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts konzentrieren muß. Leider fehlt auch eine Reisende. François Depons war als Agent der französischen Regierung in den Jahren 1801 bis 1804 in Caracas gewesen. In seinem Reisebericht (Paris 1806, deutsch 1807 erschienen85) zählt er die Verbote auf, von denen farbige Personen (=Leute 85

François Raymond Joseph Depons Voyage à la partie orientale de la Terre-ferme dans l'Amérique Méridionale, fait pendant les années 1801,1802,1803 et 1804: Contenant la déscription de la Capitanerie générale de Caracas, composée des Provinces de Venezuela, Maracaibo, Varinas,

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mit verschiedenen ethnischen Vorfahren, darunter Schwarzen) in dieser spanischen Kolonie betroffen waren: sie dürften kein öffentliches Amt bekleiden, nicht in den königlichen Truppen dienen, sich nicht von Indianern bedienen lassen, sie müßten eine Kopfsteuer zahlen, ihre Frauen dürften kein Gold, keine Seide und Perlen tragen (woran sie sich freilich nicht hielten) und sich keinen Teppich in die Kirche nachtragen lassen. Selbst eine königliche Order, die sie wegen ihrer Verdienste oder ihrer Reichtums in die Reihen der Weißen aufnähme, 86 besiege nicht immer die Vorurteile der Nachbarn. Die diskriminierenden Bestimmungen gegen die Pardos waren nach neueren Forschungen nichts, was die Krone ihrer Provinz aufzwang, sondern diese wurden von der kreolischen Oligarchie von Caracas, den sogenannten Mantuanos, gegen Reformmaßnahmen und Lockerungen am Ende des 18. Jahrhunderts energisch verteidigt, da die Mantuanos die Aufrechterhaltung ihrer exklusiven Rechte als eine Sache der Ehre und des Erhalts der hierarchischen sozialen Ordnung der venezolanischen Gesellschaft betrachteten. 87 Der Reichtum einer Familie wurde nach Depons nach der Zahl ihrer Haussklaven bemessen. Es gebe auch weiße Frauen ohne Mittel, die betteln oder sich prostituieren müßten. 88 Indianer zahlten den Tribut und seien von der Alcabala befreit. Die Gesetze, die die Indianer als Minderjährige behandelten, würden sie vor unvorteilhaften Landverträgen und Übervorteilung schützen. Die Inquisition sei für die Indianer nicht zuständig, bei Beichte, Buße, Verwandschaftsehen und Fastenzeiten gelten für die Indianer weniger strenge Regeln, was aber nichts nütze, da die Indianer sich nicht ernsthaft bekehren ließen. Depons konfrontierte seine Informationen über Gesetze nicht mit ihrer Umsetzung in der Praxis. Außerdem hielt Depons die la Guiane espagnole, Cumana, et la Marguerite..., Paris 1806; deutsch: Historisch-geographischstatistische Nachrichten von der Generalhauptmannschaft Caracas oder dem östlichen Theil der spanischen Landschafft Terra-Firma in Süd-Amerika. Gesammelt auf einer Reise und während eines Aufenthaltes in diesem Lande in den Jahren 1801-1804, Mit einer Einleitung herausgegeben von T.F. Ehrmann, Weimar 1807. Auch im: Magazin von merkwürdigen neuen Reisebeschreibungen, aus fremden Sprachen übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet, Berlin, 29. Band 1808. 86

Dabei handelte es sich um die sogenannte Real Cédula de Gracias al Sacar von 1795, nach der verdiente Pardos, sich gegen Bezahlung einer Gebühr den Status eines Weißen, der die Ehe mit Weißen und den Eintritt in staatliche und kirchliche Ämter ermöglichte, kaufen konnte. Damit ermöglichte die Krone eine kontrollierte soziale Mobilität und bot den Pardos einen Anreiz, den Aufstieg innerhalb der bestehenden Ordnung anzustreben, statt gegen sie zu opponieren. 87 La vivencia del honor en la provincia de Venezuela 1774-1809, Estudios de caso, hg. von Luis Felipe Pellicer, Caracas 1996. 88 Depons: Nachrichten, S. 85-88.

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Indianer der venezolanischen Küste für Menschenfresser, alle Indianer für Lügner und Feiglinge,89 so daß bei solchen Vorurteilen seine Äußerungen zu dieser ethnischen Gruppe wenig wertvoll sein dürften. Die Behandlung der Sklaven in Venezuela darstellend, behauptete Depons, daß sich ihre Herren um die Vermittlung des Katechismus mehr Sorgen machten als um die Ernährung, Kleidung oder gar medizinische Betreuung der Sklaven. Die spanische Sklavengesetzgebung erwähnt er, ohne sie mit der Praxis zu konfrontieren.90 Jean Josephe Dauxion-Lavaysse,91 der von 1791 bis 1807 als französischer Agent gegen die revolutionären Bewegungen auf den Antillen im Gefolge der Französischen Revolution tätig war, war ein strikter Gegner der Abschaffung der Sklaverei und der Verleihung von Bürgerrechten an Schwarze. Er plädierte aber für eine bessere Behandlung der Sklaven, um Abtreibungen und Selbstmord, die häufig vorkämen, zu beenden. Er berichtete von seinem Besuch in Venezuela 1807, wo er sich vor allem in Cumanä und Margarita, aber auch in Caracas aufgehalten hatte, daß EuropaSpanier den Kreolen bei der Besetzung von zivilen und militärischen Ämtern vorgezogen würden, Mestizen zwar im Prinzip auf staatliche Posten berufen werden könnten, was aber praktisch selten geschehe. Kreolinnen würde ihre alte Vorliebe für Ehen mit Spaniern jetzt aufgeben. In Cumanä liege der Handel in den Händen von Katalanen, Biscayern und Kanaren, die sich gegenseitig unterstützten. Zambos, Nachkommen von Indianern und Schwarzen, würden weniger geachtet als Familien weißer und indianischer Abstammung, in der Hauptstadt sei die Bezeichnung „zambo" ein Schimpfwort und meine Spitzbuben, aller Art. In „Nirgoa", wo Karl III. die Zambos per „Diplom" zu Weißen ernannt habe, hätten sie Munizipalstellen besetzt, worauf die Weißen die Region verlassen hätten.92 Der Wert von Humboldts Relation historique93 für die Untersuchung der Transformation der venezolanischen Gesellschaft, beim protonationalen Projekt 89

Ebenda, S. 121-128 und 91. Ebenda, S. 76-79. " Jean-Josephe Dauxion-Lavaysse: Voyage aux îles de Trinidad, de Tobago, de Marguerite, et dans diverses parties de Venezuela, dans l'Amérique Méridionale, Paris 1813, deutsch: Reise nach den Inseln Trinidad, Tabago und Margaretha, sowie in verschiedene Theile von Venezuela in Süd-America, dt. Von E.A.W. Zimmermann, Weimar 1816. 92 Dauxion: Reise, S. 72, 355-357, 384-385. 93 Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804 par Al. De Humboldt et A. Bonpland rédigé par Alexandre de Humboldt, Neudruck der 1814-1825 in Paris erschienenen vollständigen Originals, 90

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der Caraquener Oligarchie, ist bereits von Michael Zeuske herausgestellt worden. 94 Das Humboldtsche Reisewerk lieferte ebenfalls Informationen zu den interethnischen Beziehungen in Venezuela, die durch die gesellschaftlichen Transformationen verändert wurden. Humboldt berichtete aus Cumanä, Caracas und von ihrer Fahrt über den Orinoco, er und Bonpland hielten sich 16 Monate in Venezuela auf. 95 Er erhielt seine Informationen natürlich von Angehörigen der weißen Oberschicht, von Mitgliedern der wichtigsten Familien in Caracas z.B. der Tovar, von Funktionsträgern der Kolonialmacht und Missionaren, d.h. bei aller Bemühungen um Objektivität von Seiten des Wissenschaftlers mußte sein Bild vom Verhältnis der verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen durch die genannte Perspektive geprägt sein. Zur Zeit von Humboldts Venezuelaaufenthalt gab es noch Sklavenhandel und Sklaverei. Die Sklaverei in Venezuela konzentrierte sich, wie Humboldt ausführte, auf Caracas (2/3 der 60000 Sklaven in Venezuela), Maracaibo und Cumanä/ Nueva Barcelona, wo sich die Zentren des Kakaoanbaus befanden. Von den 900000 Einwohnern der Generalkapitanie Caracas waren nach Meinung Humboldts 1/9 Indianer, 1/15 der Bevölkerung seien schwarze Sklaven. In Cumanä erlebte Humboldt Sklavenauktionen, die er mit Pferdemärkten verglich, weil den Afrikanern z.B. gewaltsam der Mund geöffnet wurde, um ihre Zähne zu sehen. 96 Humboldt teilte seinen Lesern mit, was er über die Sklavenaufstände in Coro, Maracaibo und Carioca 1798 erfahren hatte. Er betonte, daß die milde spanische Gesetzgebung zur Sklaverei den Sklaven nichts nütze, selbst wenn sie an den Mißhandlungen ihrer Herren stürben, habe der Herr nicht mit Strafe zu rechnen, da bei Untersuchungen der Tod auf die schlechte Gesundheit des Sklaven, das Klima o.ä. geschoben werde. Andererseits gebe es viele freigelassene Schwarze, die sich freigekauft hätten und im Testament freigelassen worden wären. Die Reiseberichte über Venezuela zeigen bestimmte Ähnlichkeiten mit den brasilianischen Verhältnissen der interethnischen Beziehungen in den Regionen, die von der Plantagenwirtschaft auf Sklavereibasis geprägt waren, wobei die Rassendiskriminierung in Venezuela noch ausgeprägter war.

besorgt, eingeleitet und um ein Register vermehrt von Hanno Beck, Stuttgart 1970 S. 565578. 94 Michael Zeuske: Humboldt, in: Gil Novales: Ciencia. 95 Zeuske: Humboldt, in: Gil Novales: Ciencia, S. 95. 96 Humboldt: Voyage, Band 1, S. 323ff.

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Humboldt vermutete, daß von den 900000 Bewohnern Venezuelas etwa 200000 bis 210000 weiße Kreolen wären, deren Familien zum großen Teil andalusischer und kanarischer Herkunft seien, es gebe nur etwa 12-15000 EuropaSpanier. Die spanische Herrschaft habe sich auch lange auf einen bedeutenden Teil der Kreolen stützen können, weil diese die Befreiung der Sklaven und die Vorherrschaft der unteren Kaste befurchtet hätten, die antiklerikalen Maßnahmen oder den Verlust von Privilegien, wenn sie zur „aristocratie municipale" gehörten hatten. Als Beispiel fur die Berichte europäischer Freiwilliger in den Armeen Bolivars,97 die einen wesentlichen Beitrag zur Wende in der Meinung des liberal eingestellten Teils der europäischen Öffentlichkeit von der Begeisterung für die Emanzipation Hispanoamerikas hin zur Verachtung fur deren Führer und massiver Kritik an den Verhältnissen in den neuen Staaten leisteten,98 sei hier George Laval Chestertons A Narrative of Proceedings in Venezuela, in South America, in the years 1819 and 1820..." erwähnt, das in umfangreichen Auszügen in der „Minerva" abgedruckt wurde.100 In bezug auf unser Thema enthält Chestertons Bericht Informationen darüber, in welch blutiger Weise der Gegensatz zwischen Spaniern und Kreolen ausgetragen wurde, die von ihren Anfuhrern als eine total andersartige Ethnie konstruiert wurden, obwohl beide Gruppen tatsächlich miteinander versippt und verschwägert waren. Der Autor gibt an, daß ein wesentlicher Grund für seine Rückkehr nach England die bestialische Ermordung von spanischen Gefangenen durch patriotische Generäle gewesen sei,101 wobei sicher auch die schlechte materielle Lage, die Strapazen und tropischen Krankheiten und die Nichteinhaltung von Versprechen an die Freiwilligen Gründe für diesen Entschluß dargestellt haben dürften. Bei Chesterton wird auch deutlich, daß die heutige Begriffsverwendung für die ethnischen Gruppen damals noch nicht durchge97

Zu deren Rolle siehe z.B. Günter Kahle: Friedrich Rasch und Carl Sowersby. Zwei deutsche Legionäre im hispanoamerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in: JbLa 27 (1990), S. 199-226. 98 Siehe die Wirkung des Berichts des französischen Adjudanten Bolivars: H.L. v. DucoudrayHolstein: Histoire de Bolivar (continuée jusqu'à sa mort par A. Violet), 2 Bde., Paris 1831 (dt.: Bolivars Denkwürdigkeiten, hg. von seinem General-Adjudanten Ducoudray-Holstein, deutsch bearbeitet von C.N. Röding, Hamburg 1830). 99 George Laval Chestertons: A Narrative of Proceedings in Venezuela, in South America, in the years 1819 and 1820 with general observations on the country and people; the character of the Republican Government, and its leading members etc., also a description of the country of Caraccas, of the force of General Morillo, the state of the Royalists; and the spirit of the people under their proscription, London 1820. 100 Minerva, 1821/1, 117. Bd. S. lOOff., 21 Iff., 416ff. 101 Chesterton: Narrative, S. 66.

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hend üblich war, indem er z.B. von der Begegnung mit einem „coloured creóle" spricht. 102 In Angostura erlebte Chesterton, wie Indianer den Ort mit Cassava, Mais u.a. Lebensmitteln versorgten, wobei sie als Gegenleistung Rum erhielten, mit dem die Männer sich haltlos betranken.' 03 Auch bei Carl Richards, Briefe aus Columbien von einem hannoverischen Officier an seine Freunde, Leipzig 1822,104 wobei mit Kolumbien das aus Venezuela, Neu-Granada und Ekuador bestehende Großkolumbien gemeint war, wird deutlich, welche Probleme es beim Einsatz der europäischen Freiwilligen in den patriotischen Armeen gab. Richard, der unter Bolívar dienen wollte, aber nicht entsprechend seinem Rang und ohne Sold eingesetzt werden sollte, kehrte nach Europa zurück, ohne in Südamerika gekämpft zu haben. Weitere biographische Informationen sind Königs Ausgabe dieses Werkes zu entnehmen. Richard schildert, was auch andere erlebten: Die Armut in Venezuela war erschreckend, die Soldaten auf patriotischer Seite waren zerlumpt, manchmal fast nackt, Klima, Fieber und Insektenplage machten zu schaffen, Versprechungen hinsichtlich Beförderung, Sold und dergleichen wurden nicht eingehalten, die kreolischen Offiziere sahen in den Europäern vor allem Konkurrenten. Angesichts dieser Tatsachen sind Richards Urteile über die führenden Independentisten, z.B. Roscio, Soublette, Sucre, Paéz, Urdaneta ziemlich differenziert, wenn man von seinem Bolivar"verriß" einmal absieht. Hinsichtlich der interethnischen Beziehungen in Venezuela macht er folgende Aussagen: - die Indianer am Orinoco, denen er bei seiner Bootsfahrt nach Angostura begegnet, dienen den Weißen als Bootsleute, Träger, ortskundige Führer und dergleichen; - er beschrieb die Lebensweise der Lianeros und ihre Bedeutung für die Independencia unter Paéz; - die Spanier ermordeten die gesamte Bevölkerung, wenn sie eine patriotische Ortschaft eroberten, die Patrioten ließen die Kreolen leben, töteten aber jeden europäischen Spanier; - die Patrioten seien z.T. gezwungen, die Rekruten aus der Bevölkerung zu fesseln und zu bewachen, um Desertion zu verhindern; 102

Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 115-116. 104 Carl Richard: Briefe aus Columbien von einem hannoverischen Officier an seine Freunde, Leipzig 1822, hg. von Hans-Joachim König, Frankfurt/Main 1992. 103

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- im Gegensatz zu den „vornehmen Bürgern" seien die „Bewohner des platten Landes" gastfreundlich zu Fremden; - man ließe die freigelassenen Sklaven, die sich zur Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg gemeldet hatten, buchstäblich verhungern, während die kreolischen Offiziere über ausreichend Mittel verfugten. 105 Schon das entsprechende Dekret Bolivars 106 zeigt deutlich, daß die Patrioten die Sklaverei aus rein pragmatischen, nicht humanitären Gründen oder aus Überzeugung vom Unrecht dieser Institution, für diejenigen aufhoben, die sich der Independencia anschlössen, aber Richards Beobachtung zeigt, wie wenig wert das Leben eines ehemaligen Sklaven tatsächlich war. Übrigens wurde die Sklaverei in Venezuela nach den „libertad de vientre"-Gesetzen 1821 und 1830 endgültig erst 1854 abgeschafft. Einen Mosaikstein zur Rolle der Frauen in der Independencia lieferte Richard mit seiner Beobachtung, daß die Frauen des Landes königlich gesinnt seien und deshalb von Bolívar ins Landesinnere nach Angostura verbracht wurden, ihm hätten sie gesagt, sie hielten die Patrioten für „Räuber, Mörder und Diebe, die größtentheils aus dem niedrigsten Stande sich durch Intriguen in die Höhe geschwungen" hätten. 107 Die moderne Forschung zeigt allerdings, daß sich Frauen auf beiden Seiten des Bürgerkriegs engagierten. 108 Die Beispiele der Berichte Chestertons und Richards zeigen, wenn man sich auch der Befangenheit der Autoren in mehrerer Hinsicht bewußt sein muß, daß zwischen der Selbstdarstellung der Patrioten in Dekreten und in der Presse und der Realität ein gewaltiges Loch klaffte. Wie man aus den genannten Beispielen ersehen kann, enthalten viele Reiseberichte diverse Informationen über ökonomische, soziale und familiäre interethnische Beziehungen in iberoamerikanischen Regionen. Natürlich müssen diese immer mit den Aussagen anderer Quellen verglichen werden. Interessant sind vor allem jene Aspekte, die die Diskrepanz zwischen gesetzlichen Regelungen und der Realität verdeutlichen. So informieren uns mehrere Autoren, daß die Diskriminierung freier Farbiger keineswegs mit ihrer juristischen Gleichstellung vor dem Gesetz aufhörte und zeigen damit, daß die Unabhängigkeit keinen so tiefen 105

Richard: Briefe, S. 23, 31-32, 34-35, 37, 41, 43,46-47, 79, 83, 86, 93, 94, 97, 114. Deutsche Übersetzung des Sklavenbefreiungsdekretes vom 2.6.1816 in: Simón Bolívar. Reden und Schriften zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von Hans-Joachim König, Oberhausen 1985, S. 41. 107 Ebenda, S. 114. 108 Evelyn M. Cherpak: Women and independence of Gran Colombia, 1780-1830, Chapel Hill 1973. 106

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Einschnitt in das Verhältnis von sozialen und ethnischen Gruppen darstellte, wie man aus den Dekreten der neuen Staatsmacht ablesen könnte. Insgesamt liefern die Quellen mehr Informationen über die Negersklaverei als über die Abhängigkeitsverhältnisse der indianischen Bevölkerung auf dem Lande, mehr Berichte über die Zustände in der Stadt als auf dem Dorf, mehr Schilderungen des Lebens der Oberschichten als der übrigen Bevölkerung, was natürlich mit den Aufenthaltsorten der Reisenden und ihren persönlichen Begegnungen zu tun hat. Ob die Autoren Indianer oder Afrikaner für kulturell höherstehend betrachten, ist unterschiedlich, deutlich wird aber, daß ihnen Indianer als noch fremder und schwerer zu begreifen erschienen. Was die Rezeption der Reisebeschreibungen anbetrifft, so kann man feststellen, daß die Unabhängigkeit Lateinamerikas offenbar breites Interesse an Informationen über den Kontinent im weitesten Sinne, über das Informationsbedürfnis der Auswanderungswilligen und am Handel mit Lateinamerika Beteiligten hinaus, geweckt hatte. Deutsche Autoren hatten wohl keine Schwierigkeiten, einen Verleger für ihren Reisebericht zu finden, fremdsprachige Werke wurden häufig und kurzfristig ins Deutsche übersetzt, Zeitungen und Zeitschriften publizierten Besprechungen und Auszüge aus den Reisewerken. Das Bild, das man sich von den iberoamerikanischen Verhältnissen machte, wurde stark von Reiseberichten englischer und französischer Provenienz geprägt. Der interessierte Leser kann durch die Reiseberichte bis heute viel über die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Lateinamerika, aber eben auch über die beschriebenen interethnischen Verhältnisse in Erfahrung bringen. Allerdings blieb es seiner kritischen Intelligenz überlassen, die häufig mitgeteilten Stereotypen über ethnische Gruppen, die ebenso von patriarchalem Wohlwollen wie von rassistischer Überheblichkeit geprägt sein konnten, und tatsächliche Erlebnisberichte auseinanderzuhalten. Die Untersuchung von Stereotypen wie „Freie Schwarze sind in der Regel faul, bösartig und liederlich" oder der brasilianische Indianer sei phlegmatisch, teilnahmslos, unfähig zu Dankbarkeit und allen edlen Regungen 109 wäre ein eigenes Forschungsthema, das vor allem Erkenntnisse über die Autodefinition der reisenden Europäer in Abgrenzung von Eigenschaften, die anderen Völkern zugeschrieben würden, liefern würde.

109 Alexander Caldcleugh: Reisen in Süd-Amerika, während der Jahre 1819, 1820, 1821, enthaltend die Schilderung des gegenwärtigen Zustandes von Brasilien, Buenos Ayres und Chile, in: Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen, 41. Band 1826, S. 69. Spix/Martius: Reise, Band 1, S. 376/377.

Ausländische Kaufleute im Mexiko des 19. Jahrhunderts: Konflikt und Kooperation Walther L. Bernecker

In der historischen Forschung ist schon wiederholt die Frage nach der Funktion ausländischer Händler im Entwicklungsprozeß lateinamerikanischer Staaten in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit des Kontinents gestellt worden. Für den mexikanischen Fall wurde dabei die große Bedeutung ausländischer Händler im außenwirtschaftlichen Bereich hervorgehoben: Sie versorgten das Land mit Waren aller Art und die Regierung mit Kriegsmaterial, sie sprachen bei der Festlegung und Veränderung von Zolltarifen mit, auf sie rekurrierten die Regierungen zur Finanzierung ihrer Bedürfnisse, sie exportierten den größten Teil des gemünzten Silbers, sie pachteten Münzanstalten und das Tabakmonopol, sie provozierten Kanonenboot-Zwischenfalle und militärische Interventionen, sie waren die entscheidenden „Agenten" bei der allmählichen Integration Mexikos in das Weltwirtschaftssystem. Das Verhältnis dieser Händler zu Mexiko sowie ihr Verhältnis untereinander läßt sich mit dem Begriffspaar „Konflikt" und „Kooperation" fassen. Betrachtet man den steilen Anstieg des europäisch-mexikanischen Handels in den 1820er Jahren, so scheint sich die Richtigkeit all jener Interpretationen zu bestätigen, die in dependenzorientierter Sichtweise die Überschwemmung der lateinamerikanischen Märkte durch billige, industriell hergestellte Konsumgüter aus den Nordatlantikstaaten hervorheben, das politische und wirtschaftliche Ausgeliefertsein der neuen Staaten an die überseeischen Handelspartner betonen und die strukturell-abhängige Integration der ehemaligen spanischen Kolonien in den rasch expandierenden Weltmarkt als ein Ergebnis des „Freihandelsimperialismus" deuten. Allerdings ist der Handelsaufschwung jener Frühphase der mexikanischen Unabhängigkeit nur die Vorderseite der Medaille; die Rückseite verweist - neben den Chancen - vor allem auf die Risiken des Geschäfts, auf die institutionellen und personellen, strukturellen und konjunkturellen Zwänge und Nötigungen, auf die zahlreichen Konflikte und Probleme, die zumeist bald auf das euphorische Hochgefühl der ersten Stunde folgten, mitunter aber auch von Anfang an das Unternehmen überschatteten. Ein systematisches Studium der diplomatischen und konsularischen Korrespondenz europäischer Vertreter im Mexiko des 19. Jahrhunderts läßt die Handelsgeschäfte keineswegs

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Walther L. Bernecker

in rosigem Licht erscheinen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die Handelsberichte enthalten nahezu ausschließlich Hinweise auf Hindernisse und Probleme, Verluste und Konkursmeldungen. Wollte man der Selbstdarstellung der ausländischen Händler uneingeschränkten Glauben schenken, dann ließe sich die Geschichte der europäischen Handlungsunternehmen in Mexiko nur als ein (zumeist aussichtsloser) Kampf ums Überleben gegen natürliche, wirtschaftliche und politische Schwierigkeiten darstellen. Die Schwierigkeiten und Hindernisse, die jeglichen Handel mit Mexiko zu einem mehr oder minder großen Risiko werden ließen, waren vielfältiger Art. Zu ihnen zählen nicht nur die Aufnahmefähigkeit des mexikanischen Marktes und die Zolltarifprobleme; von großer Bedeutung war darüber hinaus das Problem der Darlehen beziehungsweise Zwangsanleihen. Konflikt I: Darlehen und Zwangsanleihen Nahezu alle großen Handelshäuser betätigten sich von Anfang an als merchant bankers; in Ermangelung eines funktionierenden Bank- und eines dem Handelskapital zugänglichen Kreditsystems übernahmen sie die Funktionen von Banken und Kreditanstalten. Die einfachste Form finanzieller Transaktionen zwischen Handelshäusern und Staat war die Darlehensgewährung an die Regierung. Wegen der ständigen Finanzknappheit der mexikanischen Administration machten die ausländischen Händler weidlich von einer Modalität der Importzollzahlungen Gebrauch, die im wesentlichen darin bestand, der Regierung auf ihren Antrag hin einen gewissen Geldbetrag vorzustrecken, für den sie Zollgutscheine {bonos) erhielten; mit diesen Gutscheinen konnten dann die nächstfälligen Importzölle bezahlt werden. Diese Methode barg eine Chance und zugleich ein Risiko in sich: Um die Ausländer zur Abnahme möglichst vieler Gutscheine zu motivieren, vergab die mexikanische Regierung diese mit zum Teil erheblichen Nachlässen; Rabatte von 20, 30, ja 50 Prozent waren keine Ausnahme. Der gesetzlich festgelegte Zolltarif konnte auf diese Weise erheblich unterschritten werden. Während des Krieges mit den USA etwa war es, wegen der extremen Geldnot der Regierung, problemlos möglich, „Zollwechsel mit 70 und 60 Prozent, oft vielleicht noch wohlfeiler zu kaufen", wodurch für die Importeure ein Gewinn von 100 Prozent und mehr resultierte." Die Rabatte wurden zumeist streng geheimgehalten, da weder die Regierungen noch die Händler ein Interes-

1 So der preußische Generalkonsul Ferdinand von Seiffart an MdaA[Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten], México 26.2.1847: ZSAM [Zentrales Staatsarchiv Merseburg, heute: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin] 2.4.1.II 5226, Bl. 339-342.

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se an deren Publikwerdung hatten. Erfolg oder Niedergang eines Handelshauses konnte von der Geschicklichkeit seiner Direktoren abhängen, mit (lokalen, regionalen und nationalen) Regierungen zu verhandeln und Vorteile zu erringen. Diese extralegalen, gleichwohl weitverbreiteten Praktiken erklären zum Teil das Fehlen zuverlässiger Handelsstatistiken Mexikos für den größten Teil des 19. Jahrhunderts. 2 Das Risiko derartiger Prozeduren lag darin, daß der ausländische Händler nie die Sicherheit hatte, daß seine Gutscheine später als Zahlungsmittel auch angenommen oder zu Bargeld eingelöst wurden. Vorsicht war vor allem dann geboten, wenn allzu attraktive Angebote auf eine verzweifelte Finanzsituation der Regierung hinwiesen; warnend schrieb der preußische Konsul Friedrich von Gerolt 1832: „Der neue Finanz Minister negoziirt unterdessen fortwährend Anleihen bey den Kaufleuten auf die bereits verfallenen und noch zu verfallenden Eingangs Rechte zu so enormen Praemien (bis 60 %), daß man mißtrauisch darüber ist, daß die Regierung ihre auf diese Weise eingegangenen Verbindlichkeiten erfüllen werde, nämlich ob die gegebenen Anweisungen auf die Zölle wirklich als volle Zahlung später angenommen werden." 3 Immer wieder griffen die Regierungen auf die Handelshäuser als Kreditinstitute zurück. Viele Berichte lassen deutlich werden, daß diese Geschäfte für die Händler die besten Profite abwarfen. Selbst der entschiedenste Gegner von (freiwilligen bzw. erzwungenen) Darlehensgewährungen an die Regierung, der französische Gesandte M. Baron de Deffaudis, gestand ein, daß die Regierung die Anleihen zu äußerst belastenden Bedingungen aufnahm und ausländische Händler sich wegen der enormen Verdienstmöglichkeiten immer wieder auf derartige Spekulationen mit den Machthabern einließen. Alle übrigen ausländischen Diplomaten stimmten mit diesem Urteil überein. 4 Die Klagen und pau-

2

Vgl. etwa den Bericht Nr. 7 des britischen Konsuls in Tepic an FO [Foreign Office] vom 20.3.1857: PRO [Public Record Office] FO 204/134. 3 Gerolt an MdaA, México 24.9.1832: ZSAM 2.4.1.II 5217, Bl. 108-117. 4 Deffaudis an MAEP [Ministère des Affaires Etrangères Paris] (Molé), México 27.5.1837: AMAEP [Archives du Ministère des Affaires Etrangères Paris] CP [Correspondance Politique] Mexique vol. 11, Bl. 137-141. Vgl. auch die preußische Stellungnahme: „Überdies ziehen die Capitalisten und Kaufleute auch den größten Vortheil aus den Verlegenheiten der Regierung welche auf die zu zahlenden Zölle antizipirt und ihre Anweisungen oder Ordres, die an Küsten ganz oder theilweise als Zahlung für Eingangsrechte angenommen werden, mit großem Diskonto erkaufen muß um sich baares Geld zu verschaffen." Das Fazit aus dieser Praxis war eindeutig: „Auf Kosten der Staatseinkünfte werden die lukrativsten Geschäfte gemacht." Die Interessen des Preußischen Handels und der Industrie in Mexico betreffend mit Rücksicht auf die Stellung des Königlichen Consulats daselbst. Berlin 12.11.1836: ZSAM

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senlosen Beschwerden der Händler beziehen sich immer nur auf den sichtbaren Teil ihrer Geschäfte; die informellen Abmachungen mit der Regierung werden zumeist nur dann erwähnt, wenn sie zu Ungunsten der Händler ausgingen und Anlaß zu einer diplomatisch unterstützten Reklamation wurden. Neben die freiwilligen Darlehen trat eine Einrichtung des Finanzministeriums, die jahrzehntelang als Methode der Geldeintreibung des mexikanischen Staates bestehen blieb: die Zwangsanleihen. Brauchte der nahezu stets bankrotte Staat eilig Mittel, die anders nicht zu beschaffen waren, so erhob er eine Zwangsanleihe, deren Gesamtbetrag auf die Einzelstaaten aufgeteilt wurde; diese wiederum belasteten die Bevölkerung ihres Gebietes nach einem Schlüssel, dessen Grundlage eine Schätzung des Vermögens oder des Umsatzes des Zahlungspflichtigen darstellte. Neben einigen Unternehmern und hacendados waren es vor allem die Händler, die einen Großteil dieser Anleihen aufbringen mußten. Das spezifische Problem der Ausländer lag darin, daß sie sich aufgrund ihrer Verträge mit Mexiko von derartigen Sonderauflagen befreit hielten, während die mexikanische Seite die entgegengesetzte Meinung vertrat.5 In der Praxis fanden Ausländer und mexikanische Behörden nahezu immer einen für beide Seiten akzeptablen Modus vivendi.6 Es fällt allerdings schwer, aus dem vorliegenden Quellenmaterial eine genaue Gewinn- oder Verlustrechnung aufzustellen, da die konsularischen Berichte zum Zeitpunkt der Zwangsanleihen den jeweiligen Fall zwar breit schildern, dessen finanzielle Endregelung sich aber über Jahre hinziehen konnte und in den Depeschen zumeist keinen Niederschlag mehr gefunden hat. Vieles deutet jedoch daraufhin, daß trotz ständiger Klagen der Händler die Zwangsanleihen kein allzu großes Verlustgeschäft darstellten; schnell hatten es die lokalen Händler gelernt, mit der jeweils

2.4.1.II 5219, Bl. 530-553. Ähnlich Ashburnham an Palmerston, México 4.4.1838: PRO FO 50/113. 5 Explizit wurde die mexikanische Auffassung etwa in den „Instruktionen" formuliert, die Lucas Alamán erhielt, als er Mitte der 1830er Jahre vorübergehend als mexikanischer Gesandter nach Paris geschickt wurde. Es hieß dort: „Que se fije de una manera clara, terminante y que no dé lugar a interpretación alguna que los ciudadanos de los dos paises contratantes están sujetos a pagar todas las cargas, impuestos, contribuciones y préstamos que paguen los naturales del uno o del otro respectivamente, aun cuando sean exjidos con el objeto de sostener una guerra sea esterior o interior." Instruktionen vom 21.9.1834: A S R E M [Archivo de la Secretaria de Relaciones Exteriores México] 7-15-54. Vgl. die mexikanische Position auch in: Documentos relativos a las conferencias en Jalapa (1838). 6

Pakenham an Aberdeen, México 26.8.1829: PRO FO 50/73, Bl. 69-71 und FO 50/55, B l . 49-52.

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ortsansässigen „Regierung" in den Hafenstädten Arrangements zu treffen, die sich nicht unbedingt zu ihren Ungunsten auswirkten. Auch die ausländischen Geschäftsträger kamen in ihren Depeschen zu keineswegs negativen Schlußfolgerungen, was die Zwangsanleihen betrifft. Mitte der dreißiger Jahre wies der britische Gesandte Pakenham in einem langen Bericht nach London darauf hin, daß die englischen Händler zwar die vielen Revolten im Lande als eine Quelle von Einschränkungen und Verlusten bezeichneten, dabei jedoch unerwähnt ließen, daß sie zugleich eine weidlich genutzte Gelegenheit seien, fette - keineswegs immer mit den Prinzipien eines ehrbaren Kaufmanns übereinstimmende - Konjunkturgewinne zu machen. 7 Die bisher skizzierten Praktiken der freiwilligen Darlehen und Zwangsanleihen legen einige Schlußfolgerungen nahe: Das auffälligste Phänomen ist die politikabhängige Form der Kapitalakkumulation vieler mexikanischen und ausländischen Händler. Zur Vermehrung ihres Vermögens rekurrierten sie primär auf politische Quellen, nicht auf Einkünfte, die durch echtes Wirtschaftswachstum generiert wurden. Je instabiler wiederum die politische Situation war, desto kräftiger sprudelten diese Quellen. Der parallel zur öffentlichen Armut zunehmende private Reichtum einiger weniger ist somit kein Widerspruch, sondern stellte die komplementäre Kehrseite derselben Medaille dar. Der Staat aber wurde immer mehr in den circulus vitiosus der Schulden verstrickt. Je häufiger die Regierungen sich ablösten, je schneller das Pronunciamiento-KarusseW sich drehte, desto kürzerfristig waren die Anleihen, desto wucherischer die Bedingungen. Des weiteren ist auf den Zusammenhang zwischen Außenhandel und Anleihepraxis zu verweisen. In den 1830er Jahren griff immer mehr ein „Wirtschaftsnationalismus" um sich, dessen sichtbarste Form zahlreiche Außenhandelsrestriktionen - bis hin zu Einfuhrverboten - waren. Da der Außenhandelsrückgang aber zu einem Sinken der regulären Zolleinnahmen führte, hatte diese Politik zugleich eine zunehmende Abhängigkeit des Staates von den Darlehen der inländischen „Kapitalisten" zur Folge, deren ständiger Druck zur Intensivierung der hochprotektionistischen Zollpolitik somit weniger den Schutz der entstehenden „Nationalindustrie" zum Ziel hatte, vielmehr eine vollständige Abhängigkeit des Staates von ihren Darlehen intendierte. Da aber auch ausländische „Kapitalisten" an diesen Darlehensgeschäften partizipierten, mußte ein Mittel gefunden werden, deren Gewinnspanne in Grenzen zu halten. Es paßt in das

7

Pakenham an Palmerston, Mexico 23.11.1834: PRO FO 50/86, Bl. 84-92.

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Bild des obwaltenden „Wirtschaftsnationalismus", daß die Beiträge zu Zwangsanleihen für Ausländer daher zumeist unverhältnismäßig hoch angesetzt wurden; sie konnten von den diplomatischen Vertretern in den meisten Fällen zwar reduziert werden, ihre Höhe läßt aber den mexikanischen Wunsch erkennen, über das Mittel außerordentlicher Staatseinnahmen einen Teil dieser ausländischen Gewinne abzuschöpfen, bevor sie endgültig ins Ausland transferiert wurden. Die Struktur des Staates im Mexiko der „Anarchieperiode" brachte schnell einen Händlertyp hervor, der extrem „politisiert" war. Die Wirtschaft blieb wie in der Kolonialära, wenn auch in einem anderen Sinne - politikabhängig. Der Staat wurde als Bereicherungsinstrument und Beute betrachtet - eine Attitüde, die nicht nur unter Händlern und Industriellen, sondern nicht weniger unter den mexikanischen Politikern selbst anzutreffen war und zur Erklärung beiträgt, wieso in Mexiko der Staatswerdungs- und der „nation-building"-Prozeß nicht parallel, sondern phasenverschoben verliefen. Konflikt II: Der Kampf um den Markt Der Kampf um den mexikanischen Absatzmarkt erlebte die ausländischen Händler keineswegs als mehr oder minder homogene, ähnliche (oder gar gleiche) Interessen der mexikanischen Seite gegenüber vertretende Gruppe; in den Vordergrund der Betrachtung treten nunmehr die konkurrenzbedingten Unterschiede. Die Trennungslinien zwischen den Handelsrivalen verliefen weit eher entlang europäischer Nationalitätszugehörigkeit als zwischen Mexikanern einerseits und Ausländern andererseits. Unter der Perspektive der kommerziellökonomischen Rivalität verliert die in der Historiographie zumeist hervorgehobene „kontinentale" Trennungslinie an Bedeutung; statt dessen treten die Differenzen zwischen den europäischen Staaten deutlicher hervor. Hauptsächliches Unterscheidungskriterium ist der nationale Bezugsrahmen, da der Handelsexpansionismus im wesentlichen nationalkompetitiv war; die einzelnen Länder konkurrierten untereinander im Sinne „nationaler" Wirtschaftsinteressen und im Hinblick auf die nationale Sicherung möglichst exklusiver Einflußsphären. Wenn auch die Handelsrivalität ihren Niederschlag primär entlang nationaler Trennungslinien gefunden hat, so wird andererseits doch klar, daß die Fronten häufig auch quer durch die Nationalitäten liefen: Englische Händler konkurrierten untereinander, hanseatische rivalisierten mit preußischen, europäische mit nordamerikanischen, ausländische mit mexikanischen; nicht einmal in ihrer Gegnerschaft gegen die Zollbestimmungen waren sie sich einig; vielmehr versuchten alle Gruppen, gerade über die Beeinflussung der Tarifgestaltung nicht

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etwa die Zollbestimmungen allgemein nach unten zu revidieren, sondern durch Reduktion der Gebührenhöhe für bestimmte Artikel einseitige Vorteile für sich zum Nachteil ihrer Konkurrenten zu erzielen. 8 Ein klares Symptom für die Verschärfung der Konkurrenzsituation zwischen den ausländischen Händlern war der Grad an Hilfsbereitschaft, den die jeweiligen Konsulate Angehörigen der konkurrierenden Nation gegenüber an den Tag legten. In den ersten Jahren, als die konsularischen Vertretungen noch dünn gesät waren, war es durchaus üblich gewesen, daß Ausländer jeglicher Nationalität im Bedarfsfall sich unter den Schutz des am Ort residierenden Konsuls begaben - zumeist des britischen. Als jedoch die Handelskonkurrenz in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre deutlich zunahm, setzten sich die diplomatischkonsularischen Vertreter immer häufiger nur noch für die Angehörigen ihres eigenen Landes ein. Zum damaligen Zeitpunkt hatten die Nordamerikaner bereits gewisse Marktanteile in Mexiko erobert, was auf britischer Seite zu sofort einsetzenden Rückeroberungsversuchen führte. Die üblichste Methode bestand darin, daß sich die ausländischen Handelsagenten in Mexiko Muster des Konkurrenzprodukts besorgten und (entweder über die entsprechenden Ministerien oder direkt) an die Industriellen ihrer Länder sandten. Diese versuchten dann, das bessere Produkt zu imitieren und billiger auf den Markt zu bringen. Diese (vom Standpunkt des „ehrbaren Kaufmanns" keineswegs immer faire) Methode, eine genaue und vor allem kontinuierliche Beobachtung des Marktes, ständige Verbilligung der Textilien in der Produktion (durch Herstellung von Mischstoffen) und Ausnützung aller sich bietenden Tarifvorteile ermöglichten es den flexiblen Briten, zumindest auf dem Gebiet der Baumwollstoffe, jahrzehntelang dominierend zu bleiben. Hinsichtlich anderer Produkte mußten sie jedoch sehr bald zugunsten ihrer späteren Hauptkonkurrenten, der Franzosen und Deutschen, zurückstecken. Deren Vordringen auf den mexikanischen Markt ist seit Mitte der 1820er Jahre quellenmäßig deutlich greifbar. Obwohl die einzelnen Nationalitäten von Anfang an eine Art „Arbeitsteilung" praktizierten und den jeweiligen Schwerpunkt ihrer Importe auf verschiedene Produkte legten, stellten ihre Haupteinfuhrgüter nie konkurrenzfreie Alternativen dar. Im Gegenteil: Gerade ihre unterschiedlichen „Stärken" führten dazu, daß sie die Ge-

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Vgl. etwa John Hall an Andrew King, Veracruz 2.1.1823: PRO FO 50/2 vgl. auch Green V. Hartley an Canning, México 20.8.1823: ebda. und: Smith Wilcocks an J. Quincy Adams, Mexico 22.2.1823: N A W [National Archives Washington] RG 59 CD Mexico, Roll 1.

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schmacksrichtungen und Kleidungsgewohnheiten ihrer potentiellen Käufer zu ihren Gunsten zu beeinflussen versuchten. Am deutlichsten (wenn auch keineswegs ausschließlich) greifbar ist dieser Kampf um Marktanteile in der Konkurrenz zwischen Baumwolle und Leinen. Diese Konkurrenz bestand seit Öffnung der mexikanischen Häfen für den internationalen Verkehr. Im November 1823 bereits berichtete die „Allgemeine Preußische Staats-Zeitung", daß Clarines („Kammertuch") und Floretes („grobes Leinen aus dem Scheide-Departement") ebenso wie Coties („Zwillich, Drillich") von „Baummwollen-Mulls und Mueselins fast gänzlich verdrängt" worden waren; Creguelas („Osnabrücker Linnen") wurden außerdem „in großen Partieen" aus England und den Vereinigten Staaten nach Mexiko eingeführt, so daß auch der Absatz dieser Leinengattung stagnierte. „Bielefelder und Warendorfer Leinen" kamen zu teuer, „Drell und Damast" wurden in größeren Mengen aus Frankreich eingeführt. 9 Um den Markt zu erobern, hatten die Franzosen keine Bedenken, große Exportmengen nach Mexiko zu senden und sie dann zu Dumpingpreisen zu verschleudern. Durch diese Methode gerieten die Seifenfabriken des Großherzogtums Berg, die mit den französischen durchaus konkurrieren konnten, ins Hintertreffen. Auch mit feineren Eisen- und Stahlwaren überschwemmten Franzosen und Engländer den mexikanischen Markt, so daß die Bergischen und niederrheinischen deutschen Fabriken „weder mit der Französischen Wohlfeilheit noch mit der Englischen Politur und Vollendung des Fabrikats Schritt halten" konnten.10 Die ersten deutschen Berichte über die Konkurrenzsituation in Mexiko lesen sich genauso wie die französischen: Dieselben Befürchtungen wurden ausgesprochen, dieselben Argumente verwendet. Auch deutsche Berichterstatter hielten es für entscheidend, daß der mexikanische Geschmack sich nicht erst an die Produkte der Konkurrenten gewöhnte, da er später nicht wieder auf deutsche Erzeugnisse umgelenkt werden könnte." Immer wieder betonte etwa der preußische Vertreter die Bedeutung des richtigen Zeitpunkts, die genaue Kenntnis sowohl des mexikanischen Marktes als auch der Konkurrenzprodukte aus England und Frankreich. Deutsche Strümpfe

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Allgemeine Preußische Staats-Zeitung (Beilage) vom 11.11.1823, S. 1281. Koppe an Vincke, México 30.6.1831: Z S A M 2.4.1.II 5215, Bl. 395-402. " V g l . etwa C. C. Becher: Vortrag in der Direktorial Raths-Versammlung der RheinischWestindischen Kompagnie, gehalten zu Elberfeld am 17. September 1831. Elberfeld 1831, S. 7 und Koppe an MdaA, México 24.6.1830: Z S A M 2.4.1.II 5214, Bl. 186. 10

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hatten 1830 gegenüber britischen Marktanteile verloren, dafür hatten englische feine Stahlwaren im Vergleich zu den vordringenden französischen an Bedeutung eingebüßt; gegen letztere wiederum konnte die „Bergische Stahl-Manufaktur" durchaus konkurrieren. Es ist auffallend, wie aggressiv die Berichte des preußischen Generalkonsuls Carl Wilhelm Koppe sich vor allem gegen die französischen Exporte richteten; Vergleiche zwischen deutschen und französischen Produkten sind in seinen Depeschen weit häufiger anzutreffen als zwischen deutschen und englischen. Die stärkere Ausrichtung auf den französischen Konkurrenten ging offensichtlich darauf zurück, daß beide Staaten sich politisch und wirtschaftlich in einer vergleichbaren Situation befanden: Politisch hatten sie noch keinen förmlichen Vertrag mit Mexiko abgeschlossen, wirtschaftlich-industriell konnten sie sich mit England nicht auf eine Stufe stellen. Großbritannien war zu diesem Zeitpunkt den übrigen nordatlantischen Staaten so weit voraus - außerdem hatte es Mexiko diplomatisch anerkannt und einen Handelsvertrag erhalten, die „etwas anglomane Disposition einiger Mitglieder der hiesigen [Bustamante/Alamän-] Regierung" kam englischen Wirtschaftsinteressen weiter entgegen - , daß Koppe in damals richtiger Einschätzung preußischer Möglichkeiten seine Energien auf die Bekämpfung des französischen Wirtschaftsrivalen verwandte. 12 Außerdem konnten die deutschen Leinenexporte im Vergleich zu den französischen beachtliche Erfolge aufweisen; die deutsche Dominanz auf dem Leinensektor resultierte auch daraus, daß die französische Leinenindustrie - im Gegensatz zur französischen Wollindustrie - unter Napoleon sehr in Mitleidenschaft gezogen worden war und sich von den Rückschlägen der Revolutionszeit nicht erholen konnte. Neben die bisher diskutierten Formen der Handelskonkurrenz trat schon früh eine weitere Variante, der die Händler besondere Bedeutung beimaßen: der Versuch, die mexikanischen Zolltarife zugunsten der aus ihren jeweiligen Ländern importierten Hauptartikel zu verändern. Briten, Franzosen und Deutsche klagten übereinstimmend über zolltarifliche Benachteiligung ihrer Einfuhrprodukte und versuchten mit allen Mitteln, Änderungen zu erreichen. 13 Schon früh versuchte Mexiko, seine Handwerker und die in den 1830er Jahren einsetzende Baumwollindustrie vor der ausländischen Konkurrenz zu schüt-

12

Koppe an MdaA, México 25.7.1830: ebda., Bl. 259-273. Zur preußisch-französischen Konkurrenz aus französischer Sicht vgl. das Gutachten des französischen Kabinetts, Paris 1828: A M A E P CP Méxique vol. 3, Bl. 213-215. 13 Vgl. etwa Extrakt aus Koppes Amtsbericht, México 28.8.1831: Z S A M 2.4.1.II 5215, Bl. 440-451.

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zen; hohe Zölle auf, schließlich Einfuhrverbote für einfache Baumwollprodukte waren das hierzu angewandte Mittel, das einen Dauerkonflikt mit den Briten hervorrief. 14 Obwohl diese sich durch die mexikanischen Tarife stets benachteiligt fühlten, bewahrte sie diese ihre Selbsteinschätzung nicht davor, von den anderen Nationen als Drahtzieher hinter den tarifpolitischen Entscheidungen Mexikos betrachtet zu werden. Als der rheinländische Unternehmer Josua Hasenclever etwa 1828 die „übertrieben hohen Zollsätze" auf (deutsche) Eisenund Stahlwaren beklagte, vermutete er, England habe seinen Einfluß „bei Entwerfung des Tarifs geltend gemacht", was erneut beweise, „daß sie hier, wieder wie überall, ihre Interessen zum Nachtheil anderer Völker wahrgenommen hat". 15 Der harte Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Nationalitäten um Marktanteile und Tarifbevorzugungen führte zu ständigen „Positionsverschiebungen" hinsichtlich des Warenumsatzes, des Schiffahrtsaufkommens, der Import-Export-Werte, der Anzahl von Handelshäusern etc. Mitte der 1830er Jahre war Großbritannien nach wie vor der Hauptlieferant europäischer Manufakturwaren, insbesondere Textilien. Allerdings war bereits eine zwar noch nicht drastische, gleichwohl deutlich feststellbare Verschiebung (genauer: Erweiterung) in den Warengattungen von Baumwolle zu Leinen erfolgt. Damit drangen die Briten in die Domäne ein, die traditionellerweise deutschen, vor allem schlesischen Fabrikaten vorbehalten gewesen war. 1830 noch stellten sich die Absatzaussichten für deutsche Textilien aus Liegnitz, Lennep, Aachen, Eupen, Düren, aus Hirschberg, Löwenberg, Greiffenberg, Lauban, Freiburg und anderen Orten glänzend dar; 16 allerdings vermerkten zur gleichen Zeit preußische Händler besorgt, daß der Verbrauch schlesischer Leinen „durch verschiedene

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Ein Beispiel: Als 1839 im Kongreß ein Gesetzesantrag eingebracht wurde, alle Arten von Baumwollstoffen (also nicht nur die bereits verbotenen) vom Import auszuschließen, sah Pakenham darin nicht primär eine Maßnahme zun Schutz der mexikanischen Industrie, vielmehr einen „act of positive hostility to British trade", hinter dem vor allem eine Gruppe von Franzosen (!) stand, die sich auf industrielle Spekulationen in Mexiko - einige als Partner von Lucas Alamán - eingelassen hatten und jetzt ihren gesamten Einfluß „zum Schaden Englands" einsetzten. Die Tatsache, daß mehrere Franzosen in Mexiko Baumwollwaren-Industrielle waren, sollte diese noch öfters mit den britischen Exportinteressen in Konflikt bringen. Pakenham an Palmerston, México 11.5.1839: PRO FO 50/125, Bl. 142. 15 [Josua Hasenclever:] Einige Bemerkungen über Eisen und Stahl Waaren in Beziehung auf Mexico, Remscheid 25.9.1829: ZSAM 2.4.1.II 5213, Bl. 424. 16 Koppe an MdaA, México 25.7.1830: ZSAM 2.4.1.II 5214, Bl. 259-266.

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Stoffe brittischer Erzeugung sehr beeinträchtigt" wurde. 17 Insgesamt jedoch hatte der deutsche Mexikohandel in den vorhergehenden 15 Jahren einen gewaltigen Aufschwung erlebt und gegenüber den Briten deutliche Positionsgewinne verbuchen können. Stolz konnte 1836 Außenminister Ancillon in einem Immediatbericht König Friedrich Wilhelm III. mitteilen: 18 „Während der preußische Handelstand zu einem Viertheil bei dem gesammten Handel Mexico's mit dem Auslande betheiligt ist, ist Deutschland und zwar Schlesien, Sachsen, Baiern, Westphalen, die Rheinprovinz und in der letzten Zeit auch Berlin nach Maaßgabe des Absatzes ihrer Producte in die Gold- und Silberproduction Mexico's mit einem Drittheil beteiligt; selbst eine Vergrößerung des allesfälligen Verkehrs, der an sich schon höchst bedeutend ist, da der englische Handel bisher allein eine gleiche Ausdehnung erreicht hat, während der Handel Frankreichs nur mit dem Nordamerikas zusammen genommen ihm etwa gleichkommt, läßt sich nach den bisherigen Erfahrungen in demselben Maaße erwarten, als der innere Reichthum des Landes und damit der Verbrauch fremder Waaren sich in Mexico mehr und mehr entwickelt." Wahrscheinlich sind diese Angaben, denen zufolge Großbritannien und Deutschland je ein Drittel sowie Frankreich und die USA zusammengenommen das restliche Drittel der mexikanischen Importe lieferten, übertrieben. Anderen, insgesamt wohl zutreffenderen Quellen zufolge kamen 1835 immer noch 48 % aller Importe aus Großbritannien, je 17,3 % aus Frankreich und den USA und nur 7,1 % aus Deutschland. 19 Andererseits lassen jedoch die verstreut vorhandenen Angaben zum deutschen (oder auf deutschen Schiffen erfolgten) Handel mit Mexiko fiir die erste Hälfte der 1830er Jahre in der Tat einen Warenumfang erkennen, dessen Wert in absoluten Zahlen den direkten Warenexpeditionen aus Großbritannien nicht nachstand. Verläßlich und aussagekräftig ist das zur Ver-

17 Antrag preußischer Händler an MdaA, México 24.11.1830: Z S A M 2.4.1.II 5215, Bl. 145f. und 151-155. " Ancillon an König Friedrich Wilhelm III., Berlin 11.12.1836: Z S A M 2.4.1.II 652, Bl. 99103. Ancillon stützte sich auf das (auf Gerolt zurückgehende) Memorandum: „Die Interessen des Preußischen Handels und der Industrie in Mexico betreffend mit Rücksicht auf die Stellung des Königlichen Consulats daselbst", Berlin 12.11.1836: Z S A M 2.4.1.II 5219, Bl. 530553.

" Josefina Zoraida Vázquez: „Los primeros tropiezos": Historia general de México. Obra preparada por el Centro de Estudios Históricos, Bd. 3, México 1981, S. 50.

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fugung stehende Zahlenmaterial allerdings nur sehr bedingt, da einerseits der indirekte Handel (auf Schiffen unter anderer Flagge oder über die USA), andererseits der Schmuggel zur Vorsicht bei der Interpretation von Statistiken zwingen. Die auffallendste Erscheinung in den beiden Jahrzehnten vor dem mexikanisch-nordamerikanischen Krieg war die anhaltende Rivalität zwischen England und Deutschland; dabei wurde sehr schnell deutlich, daß es nicht mehr nur um einen Kampf zwischen Baumwolle und Leinen, sondern immer mehr zwischen deutschem und britischem (irischem) Leinen ging. Anfang der 1830er Jahre hatten die Mexikaner bereits, von Koppe noch weitgehend unbemerkt, eine Geschmacks-Neuorientierung vollzogen. Schon bald mußte er feststellen, daß die Westfälischen (feineren) Leinwandsorten vom Markt verdrängt waren und der mexikanische Kunde sich den britischen Konkurrenzprodukten zugewandt hatte, „welche, obwohl mit einiger Baumwolle gemischt, und als den ächten Bleichtüchern an Dauerbarkeit nachstehend, durch eine vortreffliche Apretur und äußeren Glanz sich dem Auge empfehlen, worauf von hiesigen Käufern mehr gesehen wird, als man selbst ihren eigenen wahren Interessen angemessen glauben sollte".20 Die Konkurrenz vor allem zwischen britischen und deutschen (Leinwand-)Produkten hatte damals bereits den Charakter eines Verdrängungswettbewerbs mit allen damit zusammenhängenden Erscheinungen wie Dumpingpreisen, unfairen Geschäftsmethoden, spekulativer Kreditgewährung etc. angenommen. Der Rückgang der deutschen Leinen war unverkennbar; seit Beginn der 1840er Jahre häuften sich in den Depeschen die Hinweise auf die „Dekadenz" und den „prekären Zustand" der deutschen Leinenprodukte und deren „Ueberflügelung durch irländische Fabrikate"; und 1844 dramatisierte ein Handelsbericht aus Tampico, daß es „leider mit der früheren Haupt Branche der deutschen Importation hierher, nämlich mit Leinen, ganz vorbey ist durch die überwiegende Concurrenz der Irrländer und Schotten." 21 Für den enormen

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Koppe an Freiherrn v. Vincke (Oberpräsident von Westphalen), México 30.6.1831: ZSAM 2.4.1.II 5215, Bl. 395-402. 21 Lüpking an Senator Lappenberg, Tampico 10.1.1844: CBHH (Commerzbibliothek Hamburg), Consulats-Berichte 1844; vgl. auch Lutz Graf Schwerin von Krosigk: Alles auf Wagnis. Der Kaufmann gestern, heute und morgen. Tübingen 1963, S. 88 und die plakative Äußerung des britischen Konsuls in Tampico Anfang 1837 (!): „The German commerce has suffered a decline amounting almost to annihilation." Crawford an O'Gorman, Tampico 5.1.1837: PRO FO 50/110, Bl. 138f.

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Rückgang der deutschen Leinen auf dem mexikanischen Markt lassen sich im wesentlichen vier Gründe ausfindig machen: 22 An erster Stelle ist der Siegeszug der Baumwolle zu nennen, der es gelang, in frühere Leinendomänen einzubrechen und beachtliche Marktanteile zu okkupieren. Während im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nahezu ausschließlich Leinenprodukte nach Amerika exportiert wurden, betrug kurz vor der Jahrhundertmitte die europäische Baumwollausfuhr über 100 Millionen Taler, Leinenstoffe waren auf wenig mehr als ein Viertel dieses Betrages gesunken. An zweiter Stelle ist die englische Konkurrenz in Leinenartikeln selbst zu nennen. Daß die britischen Leinenprodukte derart massiv an Terrain gegenüber den deutschen gewinnen konnten, begründete der preußische Vertreter Friedrich von Gerolt im wesentlichen mit zwei Faktoren: „Außer den großen Vortheilen, welche die Irländer durch ihre Maschinenfabrikation und ihre HandelsTechnick und Politick in diesem Artikel über uns gewonnen haben, ist es auch notorisch, daß sie mit dem Flachs und Hanf viele wohlfeilere Surrogate verspinnen, die sie in großen Massen aus Indien beziehen." Gerolts früher Hinweis auf die Konkurrenzvorteile durch Maschinenfabrikation und Surrogate erwies sich als richtig. Die Gleichmäßigkeit des Maschinengewebes siegte schließlich über „Solidität und Dauerhaftigkeit" der Handarbeit. An dritter Stelle ist ein Bündel von Qualitäts-, Mode- und Organisationsfaktoren zu nennen, die nicht so sehr auf Konkurrenzverhältnisse in Übersee als vielmehr auf Produktionsbedingungen in Deutschland verweisen. Hinsichtlich der Qualität schlesischer Produkte hatten hanseatische Großhändler in Mexiko schon früh Kritik anzumelden: Bestellungen wurden schlecht ausgeführt, auf dem europäischen Kontinent nicht absetzbare Ware wurde nach Übersee gesandt, mangelnde Gewissenhaftigkeit in der Produktionsphase wiederholte sich bei der Distribution in Mexiko, so daß Warensendungen oft nicht abgenommen wurden oder lange Zeit unverkäuflich blieben und schließlich verschleudert werden mußten. Das „Vertrauen in die Redlichkeit und Zuverlässigkeit des deutschen Leinenhändlers", so der preußische Generalkonsul Ferdinand von Seiffart, wurde und blieb durch derartige Praktiken erschüttert.

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Die folgenden Ausfuhrungen stützen sich auf zahlreiche konsularische und diplomatische Quellen. Die wichtigsten sind: Gerolt an MdaA, México 25.12.1842, 23.2.1843: ZSAM 2.4.1.II 5224, Bl. 33-36, 60-72; Memorandum Seiffarts, Berlin 14.6.1845; Memorandum Seiffarts, Aachen 8.9.1845: Z S A M 2.4.1.II 5225, Bl. 258-283, 327-360; Seiffart: Allgemeine Darstellung der deutsch-mexikanischen Handels-Verhältnisse, México 20.5.1846: Z S A M 2.4.1.II 522b, Bl. 135-182; Seiffart an MdaA, México 76.2.1846: ebda., Bl. 53-63.

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Zur mangelhaften Qualität kam ein Geschmacks- oder Modeproblem, das auf falsche Vorstellungen deutscher Industrieller vom mexikanischen Markt zurückzufuhren war. Oft gaben sie Modestoffe erst dann nach Mexiko in Konsignation, wenn sie „seit Jahr und Tag in Deutschland auf den Messen herumgewandert" waren, während Briten und Franzosen die neuesten europäischen Modetrends präsentierten. Alle Berichte lassen erkennen, daß die kreolische Mittelund Oberschicht in ihrer Europhilie auf die modische Imitation ihrer geschätzten Vorbilder in Paris und London hinorientiert war, während deutsche Produzenten sich nicht vom „Herkömmlichen" lösten, sich in ihrer „Schwerfälligkeit" dem „wechselnden Geschmack" nicht schnell genug anpaßten und allzulange dem Vorurteil anhingen, es handle sich in Mexiko um einen Markt für Erzeugnisse zweiter Wahl. 23 An vierter Stelle schließlich ist ein Aspekt zu erwähnen, der sowohl Grund als auch Folge des Leinenrückgangs war: Gemeint ist die Diversifizierung der deutschen Importhäuser, und zwar sowohl in Hinblick auf das Warenangebot als auch auf die national-regionale Herkunft der von ihnen vermittelten Waren. Der kontinuierliche Rückgang des deutschen Hauptexportartikels Leinen bedeutete nämlich keineswegs eine Reduktion des deutschen Gesamthandels oder gar der deutschen Repräsentanz in Mexiko. Im Gegenteil: Handelsumfang und Handelshäuser nahmen in den 1840er Jahren deutlich zu. Die Zollvereinsstaaten exportierten immer noch mehr nach Mexiko als in die USA; das Land der Azteken blieb „als Absatz-Ort für die Produkte deutscher Manufaktur und Industrie von einer Wichtigkeit wie wenig andere Länder". 24 Eine immer größere Bedeutung erhielten Eisen- und Stahlwaren aus dem Bergischen, Spielwaren aus dem süddeutschen Raum; auch Seideartikel aus Elberfeld, Krefeld und Viersen erfreuten sich eines lebhaften Absatzes, ebenso gemischte Stoffe. Ein Teil des Geldes, mit dem Engels später Marx subventionierte, wurde in Mexiko verdient: „Einen ebenfalls sehr bedeutenden Absatz sowohl in Mexiko als an der Westküste, in Chile und Peru finden die Fabrikate eines der ältesten Häuser in Barmen, der Gebr. Engels, in baumwollenen Spitzen, Borten, Webkanten". 25 Die Handelsberichte weisen immer wieder darauf hin, daß der deutsche Export nach Mexiko wegen seiner Vielseitigkeit zunahm. Parallel zu dieser Diversifizierung der deutschen Warengattungen gelang es den hanseatischen Handelshäusern, „auch einen großen Theil des Englischen

23 24 25

Schneider an MdaA, Mexico 29.10.1844: ZSAM 2.4.1 .II 5225, Bl. 141-144. Memorandum Seiffarts, Berlin 14.6.1845: ZSAM 2.4.1.II 5225, Bl. 258-283. Memorandum Seiffarts, Aachen 8.9.1845: ebda., Bl. 329-360.

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und sogar des Französischen Handels an sich" zu ziehen. 26 Die deutschen Händler beschränkten sich somit nicht darauf, deutsche Erzeugnisse zu vertreiben; sie verkauften vielmehr englisches ebenso wie deutsches Leinen, britische Kurzwaren, französische Seidenwaren und Weine, sächsische und schweizerische Baumwollstoffe und vieles andere mehr. Das „gut assortierte" almacén des deutschen Importhändlers bot viele europäische Importartikel an, so daß der (mexikanische oder ausländische) Detaillist, der tendero oder cajonero, sich in der Regel nur bei einem Großhändler (almacenista) Kredit beschaffen mußte. Eine Momentaufnahme der europäisch-mexikanischen Handelsbeziehungen gegen Ende der 1840er Jahre läßt deutlich werden, daß nach wie vor von einer Dominanz englischer Waren gesprochen werden muß. Die auffälligste Verschiebung im Bereich der Warengattungen betrifft Leinen; bei diesem Produkt hatten die Briten in der Zwischenzeit ihre deutschen Konkurrenten deutlich überflügelt. Der deutsche Export nach Mexiko hatte zwar in der ersten Jahrhundertmitte weiter zugenommen; das frühere Ausfuhrmonopolprodukt Leinen spielte für die Deutschen auch eine nach wie vor wichtige Rolle, mußte quantitativ aber hinter den englischen Exporten zurückstehen. Die französischen Direktausfuhren hatten dafür deutlich nachgelassen, während spanische Produkte allmählich wieder auf den Markt drängten. - Die Dominanz der Briten bezog sich allerdings nur auf Quantität und Wert ihrer Waren, nicht auf deren Vermarktung durch Importeure. Auf diesem Gebiet hatten deutsche Handelshäuser eine stets größere Bedeutung erlangt, die in der zweiten Jahrhunderthälfte weiter zunehmen sollte. Auch einige spanisch(-mexikanische) Handelsfirmen spielten eine quantitativ zwar nur geringe, vom Umsatz der einzelnen Häuser her aber große Rolle. Im Vergleich zur Phase bis 1835 fällt für die Jahre bis 1846/48 eine deutliche Fluktuation in der Bedeutungsskala der einzelnen ausländischen Mächte für den Mexikohandel auf. Kooperation I: Neffensyndrom und nationale Solidaritäten Die Ausführungen über den Konkurrenzkampf sowie über Chancen und Risiken im Mexikogeschäft haben erkennen lassen, in welcher Form unternehmerischer Erfolg von wirtschaftlichen und politischen Variablen abhängig war. Neben diesen Faktoren spielten für Erfolg oder Versagen bei Handelsunternehmungen auch die Organisation und Operationsweise der Handelshäuser eine nicht unbeträchtliche Rolle.

26

Gerolt an MdaA, México 29.5.1844: ZSAM 2.4.1.II 5225, Bl. 1-7.

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Schon wenige Jahre nach Erringung der Unabhängigkeit befanden sich die großen Import-Export-Häuser mit Sitz in México und Filialen oder Agenturen in Veracruz, Tampico sowie anderen Hafenstädten entweder ausschließlich in ausländischen Händen oder waren ausländisch-mexikanische Partnerschaftsunternehmen. Diese Handelshäuser waren sowohl für europäische Fabrikanten als auch für in Mexiko operierende Bergbau- und Landwirtschaftsunternehmen von entscheidender Bedeutung, da sie die Zugänge zum Weltmarkt ermöglichten. Selbständige Handelshäuser konnten Einzel- oder Partnerschaftsunternehmen sein; letztere dominierten die Import-Export-Organisation. Unternehmen mit einem einzigen Eigentümer ermöglichten diesem zwar flexibleres Vorgehen, verfugten aber zumeist über eine nur beschränkte Kapitaldecke. Auch ihre Organisation blieb stets bescheiden; die meisten von ihnen hatten keine Zweigniederlassungen, während diese bei Partnerschaftsunternehmen weit häufiger anzutreffen waren. Unternehmen mit zwei oder mehr Partnern wiesen demgegenüber mehrere Vorteile auf: Ihr Arbeitskapital nahm zu, sie verfügten über bessere und weiter ausgedehnte Kontakte, sie konnten durch Assoziierung mit Einheimischen Vorteile erringen, sie boten schließlich Freunden oder Verwandten die Chance zum Eintritt in das Geschäft. Vor allem letzterer Aspekt erwies sich für die Kontinuität der ausländischen Handelshäuser als äußerst bedeutsam. David A. Brading hat für die spätere Kolonialzeit am Beispiel der spanischen Handelshäuser das „Neffensyndrom" beschrieben, demzufolge ein aus Spanien nachgereister Neffe oder Cousin in das Familienunternehmen aufgenommen wurde und später nicht selten die Führung übernahm, indem er seinen neugewonnenen Status durch Heirat der Witwe oder Tochter seines Gönners konsolidierte.27 Auch in der republikanischen Ära bestand der übliche Ablösungsmechanismus darin, daß die Überseekaufleute nach einigen Jahren - manchmal allerdings auch erst nach Jahrzehnten - in ihr Heimatland zurückkehrten, dort ein Stammhaus aufzogen und die Leitung der Überseefirma einem jüngeren Teilhaber, oft einem nahen Verwandten, übertrugen, der selbst wiederum nach einiger Zeit zurückkehrte und die Leitung entweder dem inzwischen herangewachsenen Sohn des Seniors oder einem anderen Teilhaber übertrug. Der Übergang des Ruperti-Unternehmens („Green, Hartley & Ruperti") an William de Drusina etwa erfolgte bereits in den 1820er Jahren auf diese Weise. Das „Neffensyndrom" galt nicht nur die meiste Zeit des 19. Jahrhunderts; es ist auch bei allen Nationalitäten anzutreffen.

27

David Brading: Miners and Merchants in Bourbon Mexico 1763-1810, Cambridge 1971.

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Die Kontinuität ausländischer Firmen ist im wesentlichen auf den Ablösemechanismus im Leitungspersonal zurückzufuhren. Ausländische Handelshäuser stellten als „Commis", also im Kontorfach (Kontorangestellter, Kassierer, Buchhalter, Bürochef), oder als Warenfachmann (Ladenangestellter, Lagerist, Reisender, Verkäufer) mit Vorliebe Landsleute ein. Dies gilt auch für Einzelhandelsgeschäfte oder industrielle Unternehmungen von Ausländern. Den Steuerbescheiden von Veracruz (für 1854) und von México (für 1858) kann einerseits entnommen werden, daß Ausländer mit Vorliebe Ausländer beschäftigten, andererseits, daß ausländische Angestellte besser entlohnt wurden als ihre mexikanischen Kollegen. Die meisten Angestellten erhielten zu ihrem Grundlohn einen gesondert ausgewiesenen Verpflegungszuschlag; viele wohnten bei ihrem Arbeitgeber, einige bezogen allerdings auch eine selbständige Wohnung. Die (stets männlichen) Angestellten dürften alle unverheiratet gewesen sein. 28 Die nationale „Solidarität" der Firmen äußerte sich nicht nur in der Anstellung von Landsleuten, sie umfaßte vielmehr die gesamte Geschäftsstruktur. Die Franzosen etwa verfugten über einen nahezu „geschlossenen" Geschäftskreislauf: von französischen Produzenten über französische Exporteure in Frankreich und französische Importeure in Mexiko bis hin zum französischen Zwischenund Einzelhändler tief im Landesinneren. Bei den übrigen Nationalitäten läßt sich zwar, da vor allem das entscheidende Glied der Detaillisten fehlte, keine so lückenlose Kette feststellen; in der Regel erfolgte aber, wo immer möglich, auch bei Deutschen, Briten und Spaniern die wirtschaftliche Zusammenarbeit entlang nationaler Organisationslinien. Als 1837 zum Beispiel ein preußischer Kaufmann in México starb, hatte der Berliner Geschäftsträger keinerlei Komplikationen mit mexikanischen Behörden, da ausnahmslos alle Gläubiger des Verstorbenen Deutsche waren. 29 Zum einen dürfte der Vertrauensvorschuß unter Landsleuten größer gewesen sein, so daß bei finanziellen Bedürfnissen immer wieder auf Angehörige der eigenen Nationalität rekurriert wurde, zum anderen stellen derartige Geschäftspraktiken eine Art bewußter Segregation der Ausländer von der mexikanischen Gesellschaft dar, wie sie immer wieder an-

28

Vgl. Archivo General de la Nación México (AGNM), Hacienda Publica, Sección „Depto. de Rentas y Contaduría General", Serie „Tesorerías y Contadurías", Tema „Contribuciones directas", Años 1847-1854; Exp. Sueldos y salarios de Veracruz 1854. Caja 1358, Exp. Sueldos y salarios 1858 México D. F. 29 Gerolt an MdaA, México 28.11.1837: ZSAM 2.4.1 .II 5220, Bl. 229-236. Beispiele für Kreditaufnahmen von Ausländern bei Landsleuten sind vielfach in den Notariatsakten enthalten. Vgl. ANM (Archivo de Notarías México): Notar Ramón de la Cueva, Jg. 1836, Bl. 159f.;Jg. 1837, Bl. 48f.

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zutreffen ist. Sowohl die Unterlagen des mexikanischen Notariatsarchivs, in dem alle geschäftlichen Transaktionen registriert wurden, als auch die diplomatisch-konsularische Korrespondenz lassen deutlich werden, daß Ausländer vor allem mit Ausländern der eigenen Nationalität geschäftlich verkehrten. Kooperation II: Verwandtschaftsbeziehungen und regionale Netzwerke Die bisher skizzierten Beispiele unternehmerischer Partnerschaften bedürfen zweier wichtiger Ergänzungen: zum einen die Partnerschaften zwischen Ausländern und Mexikanern, zum anderen die Funktion von Eheschließungen zwischen Ausländern und Mexikanerinnen. Beide Arten von „Assoziierungen" waren eng aufeinander bezogen. Der empirische Quellenbefund läßt deutlich werden, daß familiäre und fiktive Verwandtschaftsbeziehungen (Ehen, Patenschaften, compadrazgos) für den sozialen Status und den wirtschaftlichen Erfolg ausländischer Händler in der mexikanischen Gesellschaft von größter Bedeutung waren. Alteingesessene Kreolenfamilien sahen es nicht ungern, wenn ihre Töchter strebsame Ausländer ehelichten. 30 Die Heiratspraxis der Kolonialzeit stellte das vielfach nachgeahmte Beispiel dar: Die spanischen Händler hatten zumeist in wohlhabende kreolische Familien eingeheiratet. Die verwandtschaftliche Bindung an einen Ausländer war auch für geschäftstreibende Mexikaner von wirtschaftlichem Interesse, konnten die überseeischen Kontakte doch vielfältig und gewinnbringend genutzt werden. Zumeist verfugte der Ausländer auch über liquides Kapital, das in Verbindung mit dem Landbesitz der kreolischen Familie und deren geschäftlichen Beziehungen die Voraussetzung für eine Ausweitung und Diversifizierung der Tätigkeiten war. Familiäre und wirtschaftliche Beziehungen unternehmungsfreudiger Ausländer reichten bis in höchste militärische und politische Zirkel.31 Allmählich gründeten die großen Handelshäuser (Milmo, Hernández etc.) Banken (oder zumindest bankähnliche Institute). Als Kreditgeber {prestamistas) konnten sie ihre Vermögen vergrößern, ihre Handelsgeschäfte erweitern, z.T. die Produktion lokaler Hersteller (etwa Baumwollanbauer) kontrollieren und

30

1857 schrieb Marvin Wheat über mexikanische Frauen in Mazatlan: „They seem to be more plausible and kinder to strangers than the gentlemen usually are; and this may be accounted for, from the fact that many have married foreigners, who are found to be more attentive to their wants, and better providers than the Mexican gentlemen themselves." Marvin Wheat: Travels on the Western Slope of the Mexican Cordillera, San Francisco 1857, S. 76. 31 Mark Wasserman: Capitalists, Caciques, and Revolution. The Native Elite and Foreign Enterprise in Chihuahua, Mexico, 1854-1911, Chapel Hill 1984, S. 44; vgl. auch S. 59ff.

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mit der Zeit selbst Ländereien erwerben, z.T. über Hypotheken, die sie als Sicherheit für gewährte Darlehen erhielten. Im Falle Monterreys können die ausländischen Kapitalien spätestens in den Jahrzehnten des Porfiriats als „mexikanisiert" gelten.32 Erfolgte eine der wirtschaftlichen Allianzen in Zusammenhang mit einer Eheschließung, so bestand deren wichtigste Funktion in der Konsolidierung und Konzentrierung von Vermögen. Durch Einheirat von Ausländern in die führenden kreolischen Familien entstanden enge familiär-wirtschaftliche Bande, die an einzelnen Orten zur Herausbildung einer lokalen Bourgeoisie führten, z. B. des grupo Monterrey, in dem Einwanderer und Kreolen eine gemeinsame wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite bildeten.33 Stuart F. Voss hat in seinen Studien über den Nordwesten Mexikos (Sonora, Sinaloa) die entscheidende Bedeutung der Heiratsstrategien zum Erwerb von Reichtum und Einfluß herausgestrichen. Zwar geht er nicht von einem methodisch ausformulierten „Verflechtungsmodell" als analytischem Instrumentarium zur Erforschung der regionalen Eliten aus; von den verschiedenen Gattungen persönlicher Beziehungen als potentiellen Trägern von Interaktion spielt aber „Verwandtschaft" als Grundlage eines Netzwerkes sozialer Transaktionen in seinen Studien eine entscheidende Rolle.34 Die erste Generation spanischer Einwanderer in den letzten Dekaden der Kolonialzeit gründete durch exogame Eheschließungen den „Grundstock" des Familienimperiums; durch eine „gentile" Heiratspolitik setzte die zweite Generation den Ausbau des durch Familien* und Verschwägerungsbande zusammengehaltenen Unternehmens und die Konsolidierung ihrer gesellschaftlichen Position als „Notabein" fort. In der Übergangsphase zur politischen Unabhängigkeit spielte die peninsulare Komponente bei der Herausbildung wirtschaftlich mächtiger und sozial einflußreicher Familien eine nach wie vor große Rolle, während die zahlreichen ausländischen Händler, die sich bereits in den 1820er Jahren in Guaymas und

32

Vgl. Mario Cerutti: Burguesía y Capitalismo en Monterrey (1850-1910), Monterrey 1983, passim, bes. S. 30. 33 Domenico E. Sindico: Inmigración europea y desarrollo industrial. El caso de Monterrey, México, in: Capitales, enpresarios y obreros europeos en América Latina. Actas del Sexto Congreso de AHILA, 2 Bde., Stockholm 1983, Bd. 2, S. 442. 34 Zu folgendem Stuart F. Voss: On the Periphery of Nineteenth-Century Mexico. Sonora and Sinaloa 1810-1877, Tucson 1982; vgl. auch Diana Balmori u.a.: Notable Family Networks in Latin America, Chicago 1984, S. 79-128. Zum „Verflechtungsmodell" als sozialwissenschaftlichem Konzept, insbes. zum Nutzen der Verflechtungsanalyse für die Historie vgl. Wolfgang Reinhard: Freunde und Kreaturen, München 1979, bes. S. 32-41.

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Mazatlán niederließen, vorerst nur selten Eingang in die bestehenden Familienunternehmen fanden; neben anderen Gründen spielten dabei auch die Sicherheitsüberlegungen der Ausländer eine Rolle, die sich den andauernden Kämpfen mit den Yaqui- und Mayo-Indianern sowie den anhaltenden soziopolitischen Unruhen dadurch zu entziehen trachteten, daß sie sich lediglich an oder bei der Küste niederließen, was sowohl ihren Handelsinteressen entsprach, als auch eine günstigere Möglichkeit zur raschen Abreise bot.35 Andererseits nahmen bald nach der Unabhängigkeit die etablierten Familien Kontakte zu den zumeist wohlhabenden ausländischen Großhändlern an der Küste auf und arbeiteten mit ihnen vor allem auf finanziellem Sektor zusammen. Diese „Kreditallianzen" erwiesen sich für Einheimische wie Ausländer als äußerst profitabel: Erstere brachten ihre politischen Beziehungen, ihre Kontrolle der lokalen und regionalen Machtapparate sowie ihre Kenntnisse der informellen Verhaltens- und Investitionsregeln ein, letztere stellten ihr Handelskapital, ihr finanzielles know how und ihre internationalen Beziehungen zur Verfügung. 36 Es war die zweite Generation der einheimischen Notabeinfamilien, die räumliche Flexibilität bewies und im einzigen Hafen von Sonora, Guaymas, nicht nur geschäftliche, sondern auch familiäre Beziehungen mit den ausländischen Händlern aufnahm: Die Kinder der „Dynastie"-Gründer Maytorena, Iberri, Aguilar, Astiazarán, Montijo oder Bustamante verbanden sich mit den Robinson, Spence, Alzua, Espriu, Camou und anderen und bildeten Familienunternehmen, die weniger nach Kriterien von „Klasse" oder Nationalität als vielmehr von lokal-regionalen Wirtschaftsinteressen entstanden. Exogame Heiratsallianzen waren ein bevorzugtes Mittel zur Konsolidierung und Expansion einmal erreichter Positionen. Ausländer wurden auf diese Weise in die Notabelnfamilien integriert. War es fiir die Neuankömmlinge aus der Alten Welt vor allem der primo, der ihnen die Möglichkeit fiir wirtschaftlichen Erfolg eröffnete, so war es für den zweiten Schritt der Integrierung in das politisch-wirtschaftliche Beziehungsgeflecht der cuñado, der die strategisch entscheidende Rolle spielte.37 Gelang es einer Familie, entscheidende Posten in strategisch wichtigen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Militär) zu besetzen und sich eine umfangreiche Klientel zu schaffen, so konnten diese Beziehungen auch zur Bekämpfung von Rivalen eingesetzt werden.

35

Deutlich werden derartige Überlegungen etwa bei John Russell Bartlett: Personal Narrative of Explorations and Incidents in Texas..., Chicago 1965 (Reprint der Ausgabe von 1854). 36 Balmori u. a.: Notable Family Networks, S. 96f. 37 Ebda., S. 101 f.

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Heiratsallianzen zwischen Ausländern und Mexikanerinnen eröffneten in der extrem politisierten und von persönlichen Beziehungen abhängigen Wirtschaft Mexikos verschiedene Möglichkeiten, Ansprüche durchzusetzen. Während der ausländische Teil des Partnerschaftsunternehmens sich an seine Gesandtschaft wenden konnte, die konsularischen und diplomatischen Kanäle nutzte, Druck auf die Regierung ausüben ließ etc., brachte der mexikanische Teil andere Mechanismen ins Spiel: Die wichtigste und zugleich allgemeinste Methode bestand im Aufbau eines informellen Beziehungsgeflechtes, in der Schaffung von Abhängigkeiten und Klientelverhältnissen, in der Nutzung familiärer und verwandtschaftlicher Bande. Ein Beispiel kann das Funktionieren des Klientelismus erläutern: Um eine Position im Staatsapparat zu erhalten, die finanzielle Verantwortung mit sich brachte, bedurfte ein Interessent eines Bürgen (fiador). Mexikanische Unternehmer bürgten für zahlreiche Beamte, die in den verschiedensten Positionen saßen - vom Zollvorsteher einer bedeutenden Hafenstadt bis zum Steuereintreiber einer kleinen Ortschaft. Diese Art politischer Kontakte erhielten sich über viele Jahre - unabhängig von den zahlreichen Regierungswechseln - und tragen mehr zur Erklärung von Erfolg oder Versagen eines Händlers oder Unternehmers bei als die genaue Analyse eines Zolltarifs oder eines modifizierten Steuererlasses. 38 Die Nachzugs-, Rekrutierungs- und gesellschaftlichen Interaktionsmechanismen (Verwandtschaft, Patronage) lassen deutlich werden, daß sowohl die personale Organisation europäischer Handelshäuser als auch insbesondere ihre „Operation" (im Sinne erfolgreicher Führung unter den spezifischen Verhältnissen mexikanischer Politik) in hohem Maße von einem teils formalisierten, teils informellen Geflecht persönlicher Beziehungen abhingen. Es kann hier nicht darum gehen, das Verflechtungsmodell als sozialwissenschaftliches Konzept auf die Untersuchung der Operationsweise europäischer Handelshäuser anzuwenden; 39 dazu bedürfte es einer gesonderten Studie auf breiterer Quellengrundlage. Es soll lediglich hervorgehoben werden, daß die der Interaktion von europäischen Händlern zugrundeliegende soziale Verflechtung eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis der erfolgreichen Operationsweise dieser Handelsunternehmen darstellt. Dabei spielen alle Beziehungstypen, die in Zusammenhang mit spezifischen Gruppenbildungen als bedeutsam herausgestellt wor-

38

David Wayne Walker: Kinship, Business, and Politics: The Martinez del Rio Family in Mexico, 1824-1864, Chicago 1981, S. 308f. 39 Hierzu sowie zu den im folgenden verwendeten Begriffen Reinhard: Freunde und Kreaturen, bes. S. 32-41.

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den sind - „Verwandtschaft", „Landsmannschaft", „Freundschaft", „Patronage" auch im mexikanischen Fall eine wichtige Rolle: „Verwandtschaft" sowohl als zugeschriebene wie als künstlich hergestellte, erworbene Beziehung (Verschwägerung, rituelle Verwandtschaft durch Patenschaften, compadrazgo) war der zweifellos wichtigste Beziehungstyp, der einerseits einen Eintritt in die Organisation der Handelshäuser ermöglichte, andererseits deren Operation erleichterte. „Landsmannschaft" spielte als Beziehungstyp in einem engeren und einem weiteren Sinne eine Rolle: Im weiteren Sinne soll darunter die Zugehörigkeit zu derselben Nationalität („Landsleute") verstanden werden; die enge, mitunter von anderen sogar segregierte Interaktion der Angehörigen derselben Nationalität läßt sich vielfach nachweisen. Im engeren Sinne der Herkunft aus derselben Landschaft bietet der mexikanische Fall mit den Barcelonnettes ein hervorragendes Beispiel,40 wie eine Art von „Organisationspatriotismus" ein Beziehungsgeflecht zu konstruieren imstande war, das letztlich den Erwerb eines Quasi-Monopols im Textilhandel des Porfiriats ermöglichte. „Freundschaft" als Kategorie ist in den präsentierten Fällen schwer zu erfassen, da einerseits die Quellen diese Art der instrumentalen Beziehung (und auf diese kommt es hier besonders an, nicht so sehr auf die emotionalen Aspekte) schlecht dokumentieren, andererseits darunter zu fassende Beispiele auch in die Kategorie „Landsmannschaft-Nationalität" aufgenommen werden können, da die „Freundschafts"-Beweise zumeist entlang den Nationalitätenlinien erfolgten. „Patronage" schließlich, das heißt die Schutzgewährung eines „Patrons" seinem „Klienten" gegenüber, läßt sich sowohl innerhalb der „Ausländerkolonien" (vor allem als „dynamische" Komponente, in der Aufeinanderfolge nachrückender Generationen) als auch zwischen einzelnen Mitgliedern dieser „Kolonien" und ökonomisch-politisch einflußreichen Mexikanern feststellen. Im Übergang von der „liberalen" Ära der 1850er Jahre zum Porfiriat erfolgten nicht nur (teilweise mit Hilfe des Verflechtungsansatzes zu erklärende) nationale Positionsverschiebungen in der Bedeutungsskala, die einzelne Nationalitäten im mexikanischen Außenhandel einnahmen; das gesamte Verkaufssystem unterlag einer grundsätzlichen Änderung. Die bisher skizzierte Struktur ausländischer, vor allem deutscher und britischer Handelshäuser beruhte im wesentlichen auf dem System der almacenes, die als Umschlagplätze großer „assortierter Warensendungen" fungierten. Im Zuge des Ablösemechanismus

40

Vgl. Emile Chabrand: De Barcelonnette au Mexique, París 1892. Vgl. auch Jean Meyer: Los franceses en México durante el siglo XIX: Relaciones. El Colegio de Michoacán, México 1980,1, 2, S. 5-54.

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zogen sich die ersten „Handelspioniere" 41 mit ihren Gewinnen nach Europa zurück, übertrugen die Leitung der mexikanischen Firma einem jüngeren Kompagnon und etablierten sich selbst in Hafenstädten ihres Herkunftlandes. In den überseeischen Häusern sicherten ihnen ein bestimmter Anteil am Kapital und Gewinn der Firma ein wichtiges Mitentscheidungsrecht. An ihrem neuen Wohnsitz betrieben sie „kommissionsweisen Einkauf' von Waren für ihre transatlantischen Associés. In Deutschland war Hamburg, in England Manchester der Hauptsammei- und -umschlagplatz. Diese Agenten an den europäischen Exportplätzen spielten eine ausschlaggebende Rolle, da durch ihre Hände sämtliche Aufträge gingen; fur binnenländische Industrielle (etwa die Unternehmer in Sachsen, Brandenburg, Schlesien) waren sie ebenso Mittelspersonen wie für die Importeure in Mexiko. Eine Änderung dieses Systems erfolgte erst in den 1870er Jahren, als die Franzosen die Importgeschäfte im Textilbereich zu monopolisieren begannen und die Deutschen erfolgreich aus dieser Branche verdrängten. (Die Briten spielten schon seit längerem als Importeure keine Rolle mehr.) Zum einen führten Teilungen und Spaltungen deutscher Importhäuser zu deren Schwächung, zum anderen begannen die unter der generischen Bezeichnung Barcelonnettes bekanntgewordenen Franzosen, auf eigene Rechnung zu importieren, damit den Kommissionshandel beiseite und das almacén-System in die Defensive zu drängen. Umsatzrückgänge in Mexiko bewirkten aber, daß die in deutschen Hafenstädten etablierten Seniorpartner, die „Überseer", ihre kaufmännische Tätigkeit als Kommissionäre allmählich aufgaben. Der direkte Kontakt zwischen den französischen (kleineren) Engros- und Detailhändlern mit dem Fabrikanten in Frankreich und den Konsumenten in Mexiko erwies sich als überlegen und führte in einem Prozeß von ungefähr 20 Jahren, dessen Akzelerationsphase in die Jahre nach 1870 fiel, zur Preisgabe des almacén-Systems und zur Durchsetzung der spezialisierten Ladengeschäfte. Die meisten deutschen almacenes de ropa - in dieser Importbranche hatten die Deutschen nahezu ein Monopol ausgeübt - mußten schließen; 1880 konstatierte ein hanseatischer Kaufmann: „Die Eliteschwadronen unter Hamburger Kommando sind von den Franzosen geschlagen worden." 42 Der Übergang vom Warenlager zum of-

41

Die folgende Zusammenfassung des Funktionsmechanismus des (primär deutschen) Mexikohandels erfolgt nach Herrn. Jeth: Mexico. Die Einfuhr von Textilwaaren: Export 15, 1889, S. 218f.; 16, 1889, S. 233-235; 17, 1889, S. 248f. 42 Zit. nach Wilhelm Pferdekamp: Auf Humboldts Spuren. Deutsche im jungen Mexiko, München 1958, S. 66.

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fenen Ladengeschäft markiert nicht nur das Ende der deutschen Vorherrschaft im Textilimportgeschäft, sondern zugleich einer historischen Handelsepoche des über almacenes vermittelten Kommissionshandels.

Unternehmerisches Innovationsverhalten. Netzwerk und Organisationsform eines zentralmexikanischen Handelshauses zwischen regionalen und atlantischen Märkten Reinhard Liehr1

Sozialwissenschaftler und Historiker verstehen unter Netzwerk die sozialen Beziehungen zwischen Einzelpersonen im Gefuge von Gruppen oder Organisationen. Netzwerke wurden historisch bisher vor allem bei Familien oder Gruppen von Eliten untersucht. Dabei ließen sich die Träger eines Netzwerks vor allem aufgrund von vier Kriterien bestimmen. Diese waren: 1. Verwandtschaft (insbesondere im Rahmen der vorindustriellen dreigenerationellen Großfamilie, bestehend aus den Eltern, den Kindern und den Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits, einschließlich der Geschwister der Eltern mit deren Ehegatten und Kindern); 2. Landsmannschaftliche Herkunft (aus demselben Land, derselben Region oder sogar aus demselben Ort); 3. Freundschaft (in der mediterranen Tradition aufgrund gegenseitiger Nützlichkeit); 4. Patronage (im Rahmen der Patron-Klient-Beziehung, auch im eigenen Unternehmen oder der eigenen Organisation). 2 Unternehmenshistoriker haben häufig die Bedeutung von sozialen Netzwerken für Unternehmen, insbesondere für Familienunternehmen, hervorgehoben. Danach war in vorindustriellen und Entwicklungs-Gesellschaften mit noch schwachen Institutionen vor allem das Familienunternehmen mit seinem verwandtschaftlichen Netzwerk und seiner spezifischen Ethik in der Lage, das Vertrauen und die Effizienz zu schaffen, um die Transaktionskosten innerhalb 1

Die folgenden Ausfuhrungen beruhen auf Studien, die mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vor allem in einem Familienarchiv durchgeführt wurden. Den Zugang zu diesem Archiv, dem Archivo de Emilio Maurer Sucesores, Atlixco, Puebla (AEMS) verdanke ich Don Pablo und Doña Lisette Maurer sowie Guadalupe Pérez Rivero Maurer und nicht zuletzt der Vermittlung meines Freundes Mariano Torres. 2 Wolfgang Reinhard: Freunde und Kreaturen. Verflechtung als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979, S. 35-41; femer Thomas Schweizer: Muster sozialer Ordnung. Netzwerkanalyse als Fundament der Sozialethnologie, Berlin 1996, passim; Larissa Adler Lomnitz/Marisol Pérez-Lizaur: A Mexican Elite Family, Stanford, Calif. 1989, S. 231-239; Diana Balmori et al.: Notable Family Networks in Latin America, Chicago, III. 1984, S. 1-12.

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und außerhalb des Unternehmens zu reduzieren. Sie wiesen darauf hin, daß das Familienunternehmen in vorindustriellen oder industrialisierenden Gesellschaften in verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft, etwa im Handel und bei Banken, aber auch in Industriebetrieben, äußerst erfolgreich war.3 Unternehmenshistoriker haben ebenfalls hervorgehoben, daß jedes Unternehmen, auch ein Handelsunternehmen, stets ein soziales und merkantiles Netzwerk als Voraussetzung der eigenen Existenz und seiner erfolgreichen Tätigkeit benötigt: Das galt täglich für den Einkauf und Verkauf, aber auch, obwohl weniger häufig, um das nötige qualifizierte Personal zu akquirieren, um Kredite zu erlangen und um die angemessene Technologie zu erwerben und einzusetzen.4 Femhandel setzte dazu, wie verschiedene Historiker beschrieben haben, stets die persönliche Anwesenheit des Kaufmanns an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit voraus, was durch ein funktionierendes merkantiles Netzwerk organisiert wurde. Die persönliche Anwesenheit innerhalb des Netzwerks konnte dabei verschiedene Formen annehmen, je nach Intensität des Handelsverkehrs, jedoch unter dem beständigen Druck, die Transaktionskosten zu reduzieren: 1. Der Kaufmann selbst oder häufiger ein Angestellter seines Vertrauens begleiteten die Waren, um in risikoreichen Peripherien neue Märkte zu erschließen und dabei die Kosten zu begrenzen. 2. Waren die Märkte bereits erschlossen, konnte der Kaufmann die Waren auf eingespielten Wegen an einen Kommissionär seines Netzwerks senden, der sie für ihn unter Abzug einer Kommission und der Unkosten verkaufte. 3. Bei intensiverem Handel konnte er die Waren, um die steigenden Kommissionskosten zu sparen, an einen Angestellten eines eigenen Tochterunternehmens schicken.5 Mehrere Unternehmenshistoriker haben auf das Konzept der Reduktion der Transaktionskosten, d.h. vor allem der Organisations- und Vertragskosten, hingewiesen. Dieses Konzept gilt als ein roter Faden für das Verständnis der Existenz und der Veränderung von Unternehmen, sowohl moderner als auch histo3

Mir:: Will ins: Defining a Firm: History and Theory, in: Peter Hertner und Geoffrey Jones (Hg.): Multinationals: Theory and History, Aldershot 1986, S. 81-84; Akira Suehiro: Family Business Reassessed: Corporate Structure and Late-Starting Industrialization in Thailand, in: The Developing Economies 31/4 (1993), S. 378-387. 4 Etwa Gillian Cookson: Family Firms and Business Networks: Textile Engineering in Yorkshire, 1780-1830, in: Business History 39/1 (1997), S. 1-2. 5 Vgl Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2: Der Handel. München 1986, S. 41-145 und 156-158.

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rischer. Die Reduktion der Transaktionskosten veränderte die Organisationsform der Unternehmen und wiederum deren Expansion und umgekehrt. 6 Aus diesem Grund soll in diesem Artikel die Frage beantwortet werden, in welcher Organisationsform und aus welchem Grund die Unternehmensgruppe von Andrés Torres expandierte. Das Familienunternehmen von Andrés Torres (1807-1877) war überwiegend ein Textilhandelsunternehmen eines katholischen Kreolen und Mexikaners, das sowohl im Fern-, als auch im Kleinhandel noch ohne differenzierte Arbeitsteilung tätig war. Torres stammte aus einer umfangreichen Familie, er selbst blieb unverheiratet. Vom Kontor seines Handelsunternehmens organisierte und kontrollierte er wie von einer modernen Holding-Gesellschaft aus eine Reihe von Tochterunternehmen und eigenständigen Geschäftsbereichen in anderen Wirtschaftssektoren, die insgesamt vor allem den mexikanischen Binnenmarkt belieferten. Die Unternehmensgruppe von Torres hatte ihre Zentralverwaltung in Puebla, um diese zentralmexikanische Stadt, das umliegende Hochtal, angrenzende Regionen und seit dem Ende der 1840iger Jahre auch den nationalen Markt zu bedienen, der sich allmählich entwickelte. Torres übernahm die Geschäftsführung des familieneigenen Textilhandelsunternehmens 1829, nach der Unabhängigkeit des Landes und während der Aktionen zur Vertreibung der Spanier. Zu diesem Zeitpunkt war Mexiko Objekt einer massiven merkantilen Reconquista durch eingewanderte westeuropäische Kaufleute, die Schritt für Schritt die Geschäftsfelder und Märkte der ausgewiesenen Spanier übernahmen. 7 Angesichts dieser merkantilen Reconquista der Westeuropäer untersucht der vorliegende Artikel das innovatorische Verhalten des Kreolen Torres als Kaufmann und Unternehmer zwischen Assimilation und eigener Entwicklung. Dabei begrenzt er sich auf die Unternehmensgruppe von Torres und analysiert sie unter dem Aspekt der Expansion ihres merkantilen Netzwerks und der Veränderungen in der Organisationsform. 8 6 Wilkins: Defining a Firm, S. 80, und Oliver E. Williamson: Transaction Cost Economics and Organization Theory, in: N. Smelser und Richard Swedberg (Hg.), The Handbook of Economic Sociology, Princeton, N. J. 1994, S. 77-107. 7 Walther L. Bernecker: Die Handelskonquistadoren: Europäische Interessen und mexikanischer Staat im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988, S. 23, 755-756 und 764. 8 Über Torres habe ich bisher zwei Artikel publiziert: Andrés Torres, comerciante y empresario de Puebla entre mercado interno mexicano y la economía atlántica, 1830-1877, in: IberoAmerikanisches Archiv 22/1-2 (1996), S. 103-128 (erneut abgedruckt in: Anuario 96. Estudios Sociales, 1996, S. 157-186) sowie Comportamiento innovador: redes mercantiles y organización empresarial de un comerciante del centro de México entre mercados regionales y

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I. Aufbau des Familienunternehmens und Expansion des merkantilen Netzwerks Andrés Torres führte das merkantile Netzwerk fort, das seine beiden aus Spanien eingewanderten Schwäger (Pedro Azcárraga und Juan Francisco Matienzo) aufgebaut hatten (vgl. die genealogischen Übersichten in den Anhängen 1 u. 2). Dabei konnte der erste von ihnen, Don Pedro, an das Netzwerk seines ebenfalls aus Spanien eingewanderten älteren Bruders Joaquín anknüpfen, der ihn für einige Jahre als Gesellschafter in eine gemeinsame merkantile Personengesellschaft (compañía) in Puebla aufgenommen hatte. Don Pedro hatte bald darauf sein eigenes Handelsunternehmen in der Calle de los Mercaderes (heute 2 Norte 1-200), nur einen Häuserblock vom zentralen Platz entfernt, errichtet. Als er 1822 plötzlich verstarb, hinterließ er seinem noch nicht geborenen Sohn Pedro ein Erbe von etwa 16000-17000 Pesos.9 Es ist zu vermuten, daß Andrés Torres in einigen Lehrjahren das Handelsgeschäft bei Don Pedro, seinem ersten Schwager, erlernte. Nach dessen Tod führte aber 1824-1829 Juan Francisco Matienzo, der später die Witwe Don Pedros heiratete, das kleine Familienunternehmen als Geschäftsführer fort. Wahrscheinlich hatte die Witwe Don Pedros als Verwalterin des Erbes für ihren Sohn10 eine Personengesellschaft mit Juan Francisco Matienzo gegründet. Dieser war jedoch als Geschäftsführer nicht sehr erfolgreich, da er sich in erster Linie auf seine Aufgabe als Familienvater und Landwirt konzentrierte. Deshalb konnte ihn der junge, energische Andrés Torres 1830, vermutlich schon 1829, als erster Kaufmann und Geschäftsführer und wahrscheinlich auch als Mitgesellschafter des merkantilen Familienunternehmens in der Calle de la Carnicería 7 (heute 2 Oriente 1) verdrängen, ebenfalls nur einen Häuserblock vom zentralen Platz entfernt." Torres war wie seine beiden spanischen Schwäger vor ihm in erster Linie Textilkaufmann. Er importierte luxuriöse Tuche und Wäsche, die er an die Angehörigen der Poblaner Führungs- und Mittelschichten verkaufte, ferner Baumwolle aus den mexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Yucatán an der Golfküste und aus den US-

atlánticos, 1807-1877, in: América Latina en la Historia Económica. Boletín de Fuentes, 7 (1997). 9 Testament von Pedro Azcárraga, Puebla, 19.4.1822, Archivo General de Notarías de Puebla (AGNP), notaría 5, Ignacio Reyes Mendizábal y Pliego, ohne Blattzahlung. 10 Testament von Juan Francisco Matienzo, Puebla, 19.8.1871, AGNP, notaría 1, Angel Genaro Figueroa, fols. 726v.-728r. 11 Padrón del cuartel I o menor del 3 o mayor, Puebla, 14.7.1830, Archivo del Ayuntamiento de Puebla (AAP), Expedientes sobre Padrones de Estadística, 1830, vol. 140, exp. 1447, fol. 48r.-48v.

Unternehmerisches Innovationsverhalten

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amerikanischen Südstaaten zur Versorgung in der Textilindustrie der Stadt und des Hochtals. Er exportierte einfache Baumwolltuche (mantas) und andere schlichte Textilien aus der Stadt und dem Hochtal in benachbarte Regionen sowie in die Bergwerkszonen des Zentrums und des Nordens von Mexiko. Das Textilhandelsunternehmen hatte sich unter Torres allmählich in eine Unternehmensgruppe verwandelt, die vor allem zwei moderne Baumwollspinnereien und -Webereien umfaßte. Sein Neffe und Haupterbe Juan Domingo Matienzo y Torres, der seit 1851 im Unternehmen gelernt und gearbeitet hatte, führte es als Geschäftsführer von 1877 bis zu seinem Tode 1895 weiter. 12 Die Unternehmerfamilie Matienzo, die bis heute in Puebla existiert, setzte die Produktion in den Textilfabriken wenigstens zwei weitere Generationen bis etwa zur Weltwirtschaftskrise 1929/30 fort. 13 Das Netzwerk des familiären Textilhandels- und Textilproduktionsunternehmens Azcárraga-Matienzo-Torres umfaßte den Geschäftsführer der Unternehmensgruppe, der zugleich das Oberhaupt der Familie war; ferner die spanischen und kreolisch-mexikanischen Mitglieder der umfangreichen dreigenerationellen Großfamilie sowie weitere entfernte Verwandte. Zur Großfamilie von Torres gehörten auch die Mitglieder der Familien seiner Eltern und seiner Großeltern, die Familien seiner zweimal verheirateten Schwester samt deren Kindern und deren Familien. In wichtigen Fällen vertraute Torres Inkassoaufträge gegenüber säumigen Kunden Mitgliedern seiner Großfamilie an. Hier muß hervorgehoben werden, daß die Großfamilie durch Patenschaften {compadrazgos) ergänzt wurde. Das merkantile Netzwerk umfasste ferner die Angestellten des Unternehmens: Die Bediensteten, die an seiner Seite in der Zentralverwaltung arbeiteten und die Geschäftsführer der Tochterunternehmen. Seit 1851 unterstützte ihn in der Zentralverwaltung Juan Domingo Matienzo y Torres, sein Neffe und Haupterbe, der bei ihm das Handelsgeschäft gelernt hatte, um Schritt für Schritt immer weitere Geschäftsbereiche und ab 1877 die Gesamtleitung der Firmengruppe zu übernehmen. Wichtige Mitglieder des merkantilen Netzes des Unternehmens waren die Kommissionäre, unter ihnen allen voran die Verwandten und persönlichen Freunde; sie alle stammten in der Regel aus der eigenen ethnischen, d.h. der kreolisch-mexikanischen Gruppe. Unter der Geschäftsführung des Spaniers Pedro Azcárraga gehörten dem Netz verschie-

12

Diario de las operaciones de la Testamentaría de Juan Matienzo, 1.11.1895, Archivo privado Familia Matienzo, Puebla. 13 Archivo privado Familia Matienzo, Puebla, Inventario.

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dene Spanier und unter der des Spaniers Juan Francisco Matienzo und des Mexikaners Andrés Torres zahlreiche Einwanderer aus Westeuropa an. Es muß hervorgehoben werden, daß Juan Francisco Matienzo, sein spanischer Schwager und Vorgänger in der Geschäftsführung des Familienunternehmens, nach der Unabhängigkeit und nach der Spaniervertreibung nicht mehr die direkten Handelsbeziehungen zu Kommissionären an den bedeutenden atlantischen Handelsplätzen wie Havanna (Pedro de Bustamante) und Cádiz (Puente, Hermano y Cía.) aufrechterhalten konnte, die Don Pedro Azcárraga aufgebaut hatte.14 Als Spanier war Juan Francisco jedoch sehr rasch in der Lage, neue Kommissionsbeziehungen zu den aus Westeuropa eingewanderten Kaufleuten zu beginnen, vor allem in Xalapa mit Veracruz, dem Haupthafen (Robert Heaven y Cía., neben einem mexikanischen Haus) sowie in der Hauptstadt Mexiko, dem wichtigsten Distributionszentrum des Landes. Ebenso wie Don Pedro führte Juan Francisco die Industrie- und Agrarprodukte der Stadt und des Hochtals von Puebla über die Grenzen der Region aus, vor allem Weizenmehl und einfache Baumwolltuche (mantas). Ähnlich wie Don Pedro vermarktete er als Kommissionär importierte Tuche und Wäsche aus Westeuropa von hoher Qualität sowie luxuriöse Kurzwaren, um sie an die Mittel- und Führungsschichten der Stadt, des Hochtals und der angrenzenden Regionen zu verkaufen. Im Auftrag von Robert Heaven y Cía. aus Xalapa diente Juan Francisco als deren Kommissionär und Poblaner Verbindungsmann bei den von ihnen organisierten Transporten zwischen dem Haupthafen Veracruz und Mexiko-Stadt, einschließlich der zahlreichen Transporte für die Londoner Bergbaugesellschaft Mexican Mining Company Ltd. Seine Aufgabe war es dabei, die Transportkosten an die Maultiertreiber und die Steuern an die Beamten des Binnenzolls (alcabala) zu bezahlen. 15 Torres hing ebenso wie Juan Francisco Matienzo sehr stark von den Importund Exporthäusern in Mexiko-Stadt ab, die in der Regel zusätzlich in Veracruz eine Tochterfirma unterhielten (vgl. Tabellen 1 u. 2). Nach der Vertreibung der Spanier befanden sich die Importhäuser in erdrückendem Maße in der Hand und im Eigentum von Neueinwanderern vor allem aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Von den importierten Textilien, die Torres im Mai 1836 und von Mai bis Dezember 1837 bei Importhäusern in Mexiko-Stadt kaufte,

14

Archivo de Emilio Maurer Sucesores, Atlixco (AEMS), Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1820-1829, Korrespondenz zwischen Azcárraga-Matienzo-Torres und Puente, Hermano y Cía., 1822-1826. 15 AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpetas 1820-1829 y 1820's.

Unternehmerisches Innovationsverhalten

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stammten 73,9% beziehungsweise 58,5% von aus Westeuropa eingewanderten Kaufleuten. Der Rest kam von kreolisch-mexikanischen Importeuren, wie Antonio Nieto, obwohl er von letzterem Textilien für die größten Einzelsummen kaufte. Unter den aufgeführten eingewanderten Kaufleuten tauchten viele bekannte Namen der Handelsgeschichte des unabhängigen Mexiko auf. Dank seines gestiegenen Eigenkapitals arbeitete Torres nicht mehr als abhängiger Kommissionär, der für die großen Importhäuser verkaufte. Er konnte die ausländischen Textilien vielmehr wegen des starken Wettbewerbs unter den Importeuren auf eigene Rechnung, d.h. mit größerem Risiko, aber auch mit größeren Gewinnchancen, einkaufen, um sie in der Stadt und im Hochtal von Puebla zu veräußern. Dabei wurden seinem Unternehmen Zahlungsfristen von zumeist vier Monaten gewährt. Torres mußte die Handelsbeziehungen zu den eingewanderten Importeuren unterhalten, weil er deren überragende Effizienz nicht ignorieren durfte, wenn er auch zu ihnen keine persönlichen Freundschaften unterhielt. Bei diesen Beziehungen spielte auch eine Rolle, daß Torres weder Englisch, Französisch noch Deutsch schreiben oder sprechen konnte. Zur selben Zeit verband Torres eine persönliche Freundschaft und strategische Geschäftsbeziehung zu dem Makler José Antonio Suärez, einen der beiden Eigentümer des Maklerhauses Suärez Hermanos, das 1836-37 seine Einkäufe von Importtextilien in Mexiko-Stadt vermittelt hatte (Tab. 1 u. 2). In der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit wurden Makler in der Regel von den städtischen Magistraten und seit dem Handelsgesetzbuch von 1854 vom Wirtschaftsförderungsministerium ernannt.16 Deshalb waren sie fast ausnahmslos Kreolen und später Mexikaner. Das erwähnte Maklerhaus Suärez Hermanos arbeitete für Torres nicht nur als Makler. Torres unterhielt bei José Antonio, einem der beiden Brüder Suärez, ein unverzinsliches Geschäftskonto, das dazu diente, seine Rechnungen und Zahlungsverpflichtungen in Mexiko-Stadt bezahlen zu lassen. Er füllte dieses Konto durch Inlandswechsel (libranzas) auf. Seine Käufe in Mexiko-Stadt bezahlte er, indem er libranzas zu Lasten seines Kontos bei José Antonio ausstellte oder ihn anwies, Bargeld an seine Gläubiger auszuzahlen. In ähnlicher Weise erwarb Don José Antonio für ihn bei niedrigen Kursen Regierungsobligationen (vales) der Zentralregierung. Das Geschäftskonto von Torres bei diesem Maklerhaus funktionierte wie das bei einer natio-

16 Inés Herrera und Armando Alvarado: Comercio y Estado en el México colonial e independiente, in: Armando Alvarado et al.: La participación del Estado en la vida económica y social mexicana, 1767-1910, México 1983, S. 182-183.

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nalen Handelsbank.17 Da Makler äußerst wichtige Informanten waren, unterhielt Torres auch in späteren Jahrzehnten freundschaftliche und strategische Beziehungen zu einem anderen Makler in Mexiko-Stadt und zu zwei weiteren in Puebla. Alle genannten Makler waren Mexikaner und Landsleute von ihm. Andrés Torres war nicht nur Textilkaufmann, sondern auch - wegen der Enge des regionalen Marktes - Kaufmann und Unternehmer in anderen Wirtschaftssektoren. Er kaufte und verkaufte, wie seine zwei Schwäger vor ihm, wenn auch selbst mit mehr Effizienz und in größerem Umfang als sie, die wichtigsten Agrarprodukte des Hochtals: Weizen, den er auf eigene Rechnung in den Mühlen der Stadt zu Weizenmehl vermählen ließ, um dieses vor allem in die benachbarten Bundesstaaten zu verkaufen; Mais, den er in großen Mengen im magistratseigenen Maismarkt veräußern ließ; Schweine, die er an andere Großgrundbesitzer zur Fettmast verkaufte, bis sie danach in den Schweinemetzgereien und Seifensiedereien (tocinerías) von Puebla zu Seife und Fleisch verarbeitet wurden und schließlich Talg für die Herstellung von Kerzen, die in den Haushalten und Kirchen der Stadt und des Hochtals vor der Einführung der Gasbeleuchtung und des elektrischen Lichts ihren Markt hatten. Weizen und Mais kaufte er in der Regel zu niedrigen Preisen mehrere Monate vor der Ernte, um mit diesen Kaufkrediten den Hacendados Bargeld vorzuschießen, damit sie die Ernte bezahlen konnten.' 8 Um seine Maisverkäufe abzusichern, bemühte er sich als guter Kaufmann und Stratege darum, öffentliche Ämter im Magistrat der Stadt (ayuntamiento) zu erlangen: In den 1830er Jahren wurde er mehrfach zum Ratsherrn gewählt. 1838 wurde er als Ratsherr auch mit der Aufgabe der Kontrolle des städtischen Maismarkts und Maisspeichers (alhóndiga) beauftragt. 19 Der Verwalter des Maismarkts, der in der Stadtverwaltung sein Untergebener war, erhielt von ihm, obwohl er auf der Gehaltsliste des Magistrats stand, eine zusätzliche Vergütung dafür, daß er seine privaten Maisverkäufe organisierte.20 Die politischen Freunde von Torres im Magistrat erleichterten es ihm, in den 1840er und 1850er Jah-

17

AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1837-1839, Korrespondenz zwischen José Antonio Suárez und Andrés Torres, 1837-1838. 18 AEMS, Exp. Matienzo, Leyes y Libretas de Cuentas 1839-1883 (cajón blanco), Diarios von Andrés Torres, 16.5.-4.9.1838 und 12.3.-27.6.1839. 19 Francisco Javier Cervantes Bello: De la impiedad y la usura. Los capitales eclesiásticos y el crédito en Puebla (1825-1863), Tesis de doctorado, 2 Bde., México: El Colegio de México, Centro de Estudios Históricos, 1993, S. 645. 20 AEMS, Exp. Matienzo, Leyes y Libretas de Cuentas 1839-1883 (cajón blanco), Diario von Andrés Torres, 16.5.-4.9.1838, Ausgaben vom 26.5.1838.

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ren mit einem Partner eine Personengesellschaft (compañía) zu gründen und zu unterhalten, die auf einem eigenen Stierkampfplatz im Auftrag des Ayuntamiento die Stierkämpfe in der Stadt organisierte.21 Dank seiner persönlichen und politischen Beziehungen war Torres in der Lage, Häuser zur Untervermietung aus dem Eigentum von Klöstern und Indianergemeinden zu pachten. Nach den Desamortisationsgesetzen der Liberalen ab 1856 konnte er diese in einem zweiten Schritt zu niedrigen Preisen erwerben, um sie später in einem dritten Schritt preiswert zu entschulden. Die niedrigen Preise der betroffenen Immobilien entstanden dadurch, daß sowohl beim Kauf als auch bei der Ablösung der Hypothekenschulden im Wert reduzierte Schuldverschreibungen der Zentralregierung (vales) verwendet werden durften. 22 Eine persönliche Freundschaft verband Torres mit der vermögenden Poblaner Unternehmerfamilie Furlong, die 1829-1830 und 1834 den Gouverneur des Bundesstaats stellte.23 Nach dem Wandel des Textilhandelshauses zu einer Unternehmensgruppe bemühte sich auch Juan Domingo Matienzo als Nachfolger und Haupterbe von Torres in gleicher Weise um politische Absicherung: 1872 erreichte er es, zum Ratsherrn des Ayuntamiento von Puebla gewählt zu werden.24 Der Kauf einer Zuckerrohr-Plantage mit Zuckerfabrik im Süden des Bundesstaats (San Francisco Ixcateopan im Gerichtsbezirk Acatlán), die von einem Verwalter geleitet wurde, stellte sich als wenig gewinnbringend heraus. Denn Zahlungen an konservative Militärs in den Bürgerkriegen der 1840er und 1850er Jahre und hohe Investitionen in die technische Infrastruktur schmälerten den Ertrag. Nach dem Tode von Torres (1877) verkaufte sein Nachfolger und Haupterbe die Plantage mit Gewinn, nachdem ein langer Kanal mit Gefälle und

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Compañía-Vertrag zur Errichtung eines Stierkampfplatzes zwischen Andrés Torres und José Francisco Azcárate, Puebla, 1.12.1840, AGNP, not. 1, José Mariano Torres, vol. 1840, fols. 497r.-498v. 22 Proyecto de partición de bienes de la testamentaría de Andrés Torres, Puebla, 2.1.1878, AGNP, notaría 9, Angel Genaro Figueroa, núm. 15-1, fols. lv.-2r. Ebenfalls Cervantes Bello: De la impiedad, passim, und Jan Bazant: Los bienes de la Iglesia en México (1856-1875). Aspectos económicos y sociales de la Revolución liberal, 2. verbesserte und ergänzte Aufl., México 1977, S. 326. 23 General Patricio Furlong (1829-1830) und General Cosme Furlong (1834), vgl. Enrique Cordero y Torres: Historia de la Galería Pictórica de Gobernantes del Estado de Puebla, Puebla: Centro de Estudios Históricos de Puebla. 24 AEMS, Exp. Matienzo 1872-1879 (cajón blanco), carpeta febrero y marzo de 1872.

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ein Wasserrad für die Zuckerfabrik fertiggestellt worden waren, wobei das Wasserrad aus Großbritannien importiert werden mußte.25 Die Exportmöglichkeiten der landwirtschaftlichen Großbetriebe und die demographische Entwicklung der Stadt und des Hochtals von Puebla befanden sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Beginn des Porfiriats (1876) in einer fast 200 Jahre währenden Stagnation.26 Darüber hinaus wurden die benachbarten Handelsplätze, die Hauptstadt Mexiko und der Haupthafen Veracruz mit Xalapa, zwischen denen Puebla lag, von den Import- und Exporthäusern westeuropäischer Einwanderer und ihrer merkantilen Netzwerke beherrscht. In dieser eingegrenzten Lage konzentrierte sich Torres, mehr als seine Vorgänger in der Geschäftsführung des Familienunternehmens, auf die Versorgung der Poblaner Textilindustrie mit Rohstoffen und auf die Vermarktung der gefertigten Produkte. Als Kaufmann war er auch Verleger und organisierte einen Verlag, in dessen Rahmen er Spinnerinnen mit Baumwolle27 und Weber, die eigene Handwebstühle besaßen, mit Garn versorgte,28 um danach die Produkte, zumeist einfache Baumwolltuche (mantas) und andere grobe Textilien, zu vermarkten. Baumwolle kaufte er vor allem von Importeuren aus Veracruz. Die bereits entsamte Baumwolle stammte zumeist aus dem Golfküstensaum der Bundesstaaten Veracruz und Yucatán und nur in Ausnahmen aus den US-amerikanischen Südstaaten. Die Unternehmensgruppe war gezwungen, die Baumwolle durch die Vermittlung von Importeuren zu beziehen, da weder Torres noch sein Haupterbe und Neffe Juan Domingo Matienzo des Englischen kundig waren. Es wäre mit Sicherheit kostspieliger gewesen, einen englischsprachigen Angestellten nur für die Baumwollkäufe aus den USA zu beschäftigen. Dadurch hätte er die preiswerten, sprachkundigen und professionell operierenden eingewanderten Importeure nicht unterbieten können. 1848 erwarb Torres zur Hälfte die Fabrik Amatlán, eine moderne Baumwollspinnerei, von der er erst wenige Jahre vor seinem Tod auch die andere Hälfte als Eigentümer übernehmen

25

Proyecto de partición de bienes de la testamentaría de Andrés Torres, Puebla, 2.1.1878, AGNP, notaría 9, Angel Genaro Figueroa, núm. 15-1, fol. 2r. 26 Guy P. Thomson: Puebla de los Angeles. Industry and Society in a Mexican City, 17001850. Boulder, Colo. 1989, S. 60. 27 AEMS, Exp. Matienzo, Leyes y Libretas de Cuentas 1839-1883 (cajón blanco), Cañoneras en el año de 1851. 28 AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1848-1849, 1849. Tejedores, núm. 2.

Unternehmerisches Innovationsverhalten

217

konnte.29 Er erwarb ebenfalls die ehemalige Papierfabrik La Beneficencia, die er zu einer modernen Baumwollfabrik mit Spinnerei und Weberei umbauen ließ.30 Parallel zu diesen zwei modernen Fabriken ließ er mantas in traditionellen Manufakturen mit Handwebstühlen herstellen, entweder in fremden Unternehmen im Lohnverfahren {maquila) oder in eigenen Tochterfirmen. Traditionelle Manufakturen, die Torres als Tochterfirmen betrieb, waren zum Beispiel El Obrador de Capuchinas,31 El Obrador de Belén und El Obrador de Locos.32 II. Veränderungen in der Organisationsform des Unternehmens Die Zentralverwaltung der Unternehmensgruppe von Torres, die im Erdgeschoß seines Wohnhauses in den Räumen hinter seinem Ladengeschäft lag, nur einen Häuserblock vom zentralen Platz der Stadt entfernt, funktionierte mit seinen Bediensteten ähnlich wie eine moderne Holding-Gesellschaft, wie bereits erwähnt. Im Ladengeschäft, verbunden mit der dahinter gelegenen Zentralverwaltung, betrieb er Einzel- und Fernhandel. Zu diesem Zweck war er jedoch gezwungen, zeitweilig zusätzliche, möglichst nahe gelegene Gebäude als Speicher zu mieten. Nach dem Erwerb der großen Baumwollfabriken Amatlán und La Beneficencia dienten deren Gebäude auch als Speicher. Von der Zentralverwaltung und dem dazugehörigen Laden aus organisierte er auch den Verlag, durch den er die abhängigen Spinnerinnen und Weber dirigierte und versorgte. Durch die Zentralverwaltung kontrollierte er ferner die Tochterunternehmen und die eigenständigen Geschäftsbereiche, die von angestellten Geschäftsführern geleitet wurden. 1864 wurde z.B. die Baumwollspinnerei Amatlán von dem französischen Techniker Amédée Goujou als Geschäftsführer und die Baumwollfabrik La Beneficencia von Pascual Vicenz als Geschäftsführer geleitet, wobei dem letzteren zwei englische Techniker zur Seite standen. Die städtischen Immobilien, vor allem die Mietshäuser, die Torres zum Teil erst gepachtet und später als Eigentum erworben hatte, bildeten einen eigenständigen Geschäftsbereich, der zwar von einem Geschäftsführer geleitet wurde, direkt von der Zentralverwaltung abhing, aber nie formal die Organsationsstufe eines Tochterunternehmens erreichte. Alle Geschäftsführer schickten der Zentralver29

AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1848-1849, Cuentas de los costos de Amatlán, 1848-1849. AGNP, notaría 9, Angel Genaro Figueroa, núm. 15-1, Proyecto de partición de bienes de la testamentaría de Andrés Torres, Puebla, 2.1.1878, fol. 2r. 30

AEMS, Exp. Matienzo 1863-1865 (cajón blanco), carpeta 4 o Trimestre de 1864. AEMS, Exp. Matienzo, Leyes y Libretas de Cuentas 1839-1883 (cajón blanco), Diario de Andrés Torres, 19.12.1851-9.6.1854, passim. 32 AEMS, Exp. Matienzo 1860-1862 (cajón blanco), carpeta Documentos mercantiles. 31

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waltung, an deren Spitze Torres stand, monatliche oder - wie bei den beiden großen Fabriken - wöchentliche Berichte über ihre Geschäftsführung. Torres übte nicht nur auf die eigenen Tochterunternehmen und abhängigen Geschäftsbereiche Einfluß aus, sondern auch auf andere insbesondere kleine, von ihm abhängige, aber formal selbständige Fabriken und Manufakturen Pueblas, auf die er bestimmte Arbeitsschritte im Lohnverfahren auslagerte: 1864 ließ er z.B. einfache Baumwolltuche (mantas) von Isaac Allison nachbessern, ließ mantas nicht nur in der kleinen Fabrik Benitez Hermanos, sondern auch bei Francisco Luis Trelles, Marrön Hermanos und Juan C. y Romero stärken und einige sogar bei J. M. Contreras bedrucken; alle aufgeführten kleinen, von ihm abhängigen Betriebe lagen innerhalb der Stadt Puebla.33 Die Gliederung der Unternehmensgruppe in Zentralverwaltung mit Torres an der Spitze einerseits und andererseits in Tochterunternehmen und eigenständige Geschäftsbereiche, die von ihm kontrolliert wurden, waren eine wichtige Innovation, um die Produktions- und Transaktionskosten zu senken. Dazu hatte Torres überaus kostenbewußt die Hälfte der Baumwollspinnerei Amatlän erst zu einem Zeitpunkt erworben, als sie bereits voll funktionsfähig war und produzierte,34 und ähnlich auch die bereits bestehenden Gebäude der Fabrik La Beneficencia, die er von den in Konkurs geratenen Voreigentümern einer Papierfabrik gleichen Namens übernahm.35 Als vorsichtig kalkulierender Kaufmann bemühte sich Torres darum, möglichst bereits funktionierende Fabriken oder wenigstens bereits vorhandene Gebäude zu erwerben, um die Risiken und Kosten so weit wie möglich zu reduzieren. III. Westeuropäische Einwanderer im Netzwerk der Unternehmensgruppe Bei der Analyse des merkantilen Netzwerks, die auf den erhaltenen Korrespondenzserien beruht, läßt sich für die 1820er, 1830er und für den Beginn der 1840er Jahre beobachten, daß das Unternehmen in seiner ersten Phase als Handelshaus auch dauerhafte Beziehungen zu deutsch- und englischstämmigen Kommissionären unterhielt. Bis 1860 hieß der Kommissionär von Torres in Veracruz Guillermo Fitsmaurice, der in diesem Jahr durch das Import- und Exporthaus Garcia de la Lama Hermanos ersetzt wurde.36 In den späten 1860er und den 1870er Jahren, d.h. nach der französischen Intervention, verschwanden 33

AEMS, Exp. Matienzo 1863-1865 (cajón blanco), carpeta Documentos mercantiles 1864. Vgl. die Quellenhinweise in Anm. 29. 35 Vgl. die Quellenhinweise in Anm. 30 und Hugo Leicht: Las calles de Puebla. Estudio histórico. Puebla 3 1980, S. 192. 36 AEMS, Exp. Matienzo 1860-1862 (cajón blanco), carpeta Enero de 1860.

34

Unternehmerisches Innovationsverhalten

219

im merkantilen Netzwerk von Torres die englischen und deutschen Namen, während diejenigen einiger aus Frankreich eingewanderter Kaufleute auftauchten. 1872 unterhielt Torres - neben anderen Häusern - regelmäßige Korrespondenzbeziehungen zu J. B. Ebrard y Cía., ferner zu V. Gassier & Reynaud und zu Gauffred y Oliviers in Mexiko-Stadt.37 In der Stadt und dem Hochtal von Puebla, waren dagegen seine Korrespondenten mit sehr seltenen Ausnahmen durchweg Mexikaner. Westeuropäische Immigranten tauchten im merkantilen Netzwerk der Unternehmensgruppe vor allem als englische und französische Techniker auf: der Franzose Amédée Goujou arbeitete als Geschäftsführer und Techniker der modernen Baumwollspinnerei Amatlán, ähnlich wie die Engländer José (John) Johnson und José (John) Hargreaves als Techniker in der Spinnerei und Weberei La Beneficencia. 38 Kurze Zeit arbeitete ein Mitglied der Familie und des Poblaner Importhauses Maillefert als Verwalter auf der Zuckerrohr-Plantage San Francisco Ixcateopan.39 Die aus Westeuropa eingewanderten Techniker sprachen und schrieben Spanisch, wenn auch fehlerhaft, noch viel besser die eingewanderten Kommissionäre und Kaufleute, die zur Perfektion ihrer spanischsprachigen Korrespondenz im Kontor mexikanische Angestellte zu beschäftigen pflegten. Von außerordentlicher Bedeutung für die Expansion des merkantilen Netzwerks der Firmengruppe waren die Hochzeiten in der Großfamilie. Diesen widmete Don Andrés als Familienoberhaupt seine besondere Aufmerksamkeit. Denn Heiraten sollten so weit wie möglich strategische Erweiterungen der Unternehmensgruppe sein. José Uria, Ehemann einer Nichte von Torres (vgl. Anhänge 1 u. 2), stand als Geschäftsführer einer Personengesellschaft in Acatlán im Süden des Bundesstaats vor, an der Torres als Partner beteiligt war, um den braunen Rohrzucker {panela) seiner Zuckerrohr-Plantage und Zuckerfabrik San Francisco Ixcateopan zu verkaufen. Eduardo Velasco, Ehemann einer weiteren Nichte von Torres, stammte aus einem anderen Familienclan, der ebenfalls in der Poblaner Textilindustrie tätig war. Juan Domingo Matienzo y Torres, sein Haupterbe und Nachfolger, hatte sich mit Inocencia López verheiratet, der Tochter eines Poblaner Kaufmanns und Erbin verschiedener Haciendas im Hochtal sowie der Weizenmühle El Carmen am Rande der Stadt.

37

AEMS, Exp. Matienzo 1872-1879 (cajón blanco), carpeta Enero de 1872. AEMS, Exp. Matienzo 1863-1865 (cajón blanco), carpeta Documentos mercantiles 1864. 39 AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1854-1859, Cuentas y listas de rayas de la hacienda y trapiche de Ixcateopan, 1857. 38

220

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IV. Ergebnis Zusammenfassend kann hervorgehoben werden, daß die Abhängigkeit des Handelshauses und der späteren Unternehmensgruppe von Torres von den atlantischen Märkten verhältnismäßig gering war, denn sie konzentrierte sich vor allem auf die Vermarktung der eigenen Textilprodukte in den protektionistisch abgeschirmten nationalen Märkten. Die Protektion der Poblaner Textilindustrie war nicht nur die Folge hoher Schutzzölle, die von der Lobby der Textilindustriellen der Stadt verteidigt wurden, sondern auch der hohen Transportkosten vor dem Bau der ersten großen Eisenbahnlinien des Landes. Die Abhängigkeit der Unternehmensgruppe von Torres von den atlantischen Märkten lag vor allem in der Versorgung der Textilfabriken mit Baumwolle, die nicht nur aus den Bundesstaaten Veracruz und Yucatán an der Golfküste, sondern in Ausnahmen auch aus dem Süden der USA kam. Um preiswerte Baumwolle einkaufen zu können, beobachtete Torres ständig die Baumwollpreise an den Handelsplätzen Veracruz, New Orleans, New York und Liverpool in den Handelsjournalen und vor allem in den Korrespondenzen seiner Kommissionäre im Haupthafen Veracruz. Hohe Baumwollpreise beeinträchtigten die Liquidität und bedrohten sogar die Existenz der Unternehmensgruppe, vor allem während des US-amerikanischen Bürgerkrieges und der dadurch ermöglichten französischen Intervention in Mexiko. In der Epoche der merkantilen Reconquista durch westeuropäische Handelshäuser, die den Aufbau des Nationalstaates erschwerte und verzögerte, bestand das Innovationsverhalten von Torres vor allem in der Expansion des merkantilen Netzwerks seines Unternehmens und darüber hinaus in der arbeitsteiligen Organisation in Zentralverwaltung oder Holding-Gesellschaft einerseits und abhängige Tochterunternehmen und Geschäftsbereiche andererseits. Beide Strategien verfolgten den Zweck, die Transaktions- und Produktionskosten soweit wie möglich zu reduzieren. Die Notwendigkeit der Kostensenkung bestimmte permanent ebenfalls die Grenzen der technischen Modernisierung der beiden modernen Baumwollfabriken und auch der Zuckerrohr-Plantage und Zuckerfabrik der Unternehmensgruppe. Die andere Form von Innovation, die Entwicklung völlig neuer Produkte, um neue Märkte zu erobern,40 war wegen der hohen Kosten in der Regel keine Option für die Unternehmensgruppe von 40

Werner Rammert: Innovation im Netz. Neue Zeiten für technische Innovationen: global verteilt und heterogen vernetzt, in: Soziale Welt 48/4 (1997), S. 402.

Unternehmerisches Innovationsverhalten

221

Torres. Er bemühte sich jedoch, neue Produktionstechniken, die kostengünstig waren, wie das Bedrucken von Baumwolltuchen, in seine Firmengruppe einzubeziehen.

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Tab. 1 : Tuch- und Wäschekäufe von Andrés Torres bei Importhäusern in Mexiko-Stadt 1836 Tag u. Monat 10.5. 10.5. 11.5. 17.5. 17.5. 18.5. 18.5. 18.5. 19.5. 20.5. 20.5. 21.5. 26.5. 26.5. 26.5. 28.5. 10.-28.5. 1836

Importeure

Herkunft

Juan Labat Faerber, Sillem y Cia. Ebert y Schneider Faerber, Sillem y Cia. Clement y Soudanas Carlos Tayleur y Cia. Antonio Nieto Campbell, Ryan y Cia. L. Cecillon y Bernede Parvopassu y Cia. Barre y Moser Adone Hermano Guillermo de Drusina y G.J. Martinez Marvret y Wölflin Burgos y d e m e n t e Manning y Marshall

M D D D F E M E F ?

F F E D F E

Käufe insgesamt Käufe bei nicht-mex. Importeuren Käufe bei mexikanischen Importeuren

Makler -

SH -

SH SH SH -

SH -

SH SH -

SH

Pesos (Anteil Kupfergeld) 1,289 (-) 689 (1/3) 372 (1/3) 557 (1/3) 18(-) 2,022 (-) 2,400 (1/3) 2,157 (-) 573 (1/3) 435 (1/3) 608 (1/3) ?(1/2) 1,158 (1/3) 52 (-) 376 (-) 1,445 (1/4)

Frist in Mon. -

4 4 4 -

4 3 -

3 4 4 -

4 -

4

14,121 (100.0%) 10,432 (73.9%) 3,689 (26.1%)

Nota: D - Deutsche(r); E - Engländer; F - Franzose(n); M - Mexikaner; ? - unbekannte Herkunft; SH - Suárez Hermanos. Das Datum ist das des Kaufvertrages. Alle Beträge sind auf volle Pesos gerundet. Quellen: AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1836 y carpeta 1837-1839; Walther L. Bernecker: Die Handelskonquistadoren: Europäische Interessen und mexikanischer Staat im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988, Anhang.

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Unternehmerisches Innovationsverhalten

Tab. 2: Tuch- und Wäschekäufe von Andrés Torres bei Importhäusern in Mexiko-Stadt 1837 Tag Importeure Herkunft Makler Pesos (Anteil Frist u. Monat in Mon. Kupfergeld) 18.5. Fornachon y Cía. SH 214 (-) F 19.5. Mavret y Wölflin D SH 1,597 (-) 20.5. L. Cecillon y Bernède F 509 (-) 4 SH 22.5. Byrns, Hooton y Cía. E SH 1,219 (-) 23.5. G. Drusina y Cía. D SH 1,469 (-) 23.5. M. Calmont, Geaves E SH 1,585 (-) y Cía. 23.5. Vertiz y Cía. M SH 705 (-) 23.5. Antonio Nieto M SH 1,606 (-) 23.5. Parlier y Le Blond F SH 768 (-) 22.9. Penny y Cía. 882 (-) E SH Dickson, Gordon y Cía. E 714 (-) 22.9. SH ? 3-4 A. Buisson 3.11. 636 (-) 27.11. M. Calmont, Geaves E SH 5,578 (-) 6 y Cía. 27.11. Dickson, Gordon y Cía. E SH 180 (-) ? 27.11. Stanley Black SH 368 (-) Faerber, Sillem y Cía. D 732 (-) 4 28.11. SH 1.12. Moser y Cía. D SH 360 (-) 4.12. 11,314 (-) Antonio Nieto M SH 3-5 4.12. Antonio Nieto M SH 436 (-) 3-5 4.12. 142 (-) Antonio Vertiz M SH 6.12. 4 P. Veillet Dufresne F 2,725 (-) 9.12. L. Cecillon y Bernède F 4 SG 1,133 (-) ?. 12. M 475 (-) Santos Crespo 18.5.18.12. 1837

Käufe insgesamt Käufe bei nicht-mexikanischen Importeuren Käufe bei mexikanischen Importeuren

35,347(100.0%) 20,669(58.5%) 14,678 (41.5%)

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Reinhard Liehr

Nota: D - Deutsche(r); E - Engländer; F - Franzose(n); M - Mexikaner; ? - unbekannte Herkunft; SG - Seguy; SH - Suárez Hermanos. Das Datum ist das des Kaufvertrages. Alle Beträge sind auf volle Pesos gerundet. Quellen: AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1837-1839; Walther L. Bernecker: Die Handelskonquistadoren: Europäische Interessen und mexikanischer Staat im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988, Anhang.

Anhang 1 : Genealogie Torres-Azcárraga Manuel Torres = (1) Ana Joaquina Munive (2) = Dámaso Hierro Lombera Joaquín Fernando Santos Azcárraga Azcárraga = María *Esp.a Fernández i i i Andrés Antonia Mariana Torres 1807-77 *Cholula +Puebla unverh.

— i

1821

Manuela Ma. Josefa 1 = Pedro Azcárraga = Luis *Esp.a +1822 Hierro Puebla Pedro Azcárraga y Torres

Quellen: Testamente von Andrés Torres, Puebla, 02.01.1877, AGNP, notaría 9, Angel Genaro Figueroa, S. 4-6; Testament von Pedro Azcárraga, Puebla, 19.04.1822, AGNP, notaría 5, Ignacio Reyes Mendizaval y Pliego, ohne Blattzáhlung; Padrón del cuartel I o menor del 3 o mayor, Puebla, 14 de julio de 1830, AAP, Expedientes sobre Padrones de Estadística 1830, vol. 140, exp. 1447, fol. 48r.-48v.; Recibo de derechos pagados por Dámaso Hierro Lombera por su Hacienda San José Zacatepec (Huexotzingo), Puebla, 03.09 1834, AEMS, Exp. Matienzo 1806-1859 (cajón blanco), carpeta 1830-1835.

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Unternehmerisches Innovationsverhalten

Anhang 2: Genealogie Torres-Matienzo Juan Domingo Matienzo = Andrea Gil 1826 María Josefa Torres 2 = Juan Francisco Matienzo *1800, Esp.a +1871, Puebla Ma. del Carmen

Juan Elena Mariana Domingo +1883 Matienzo *Puebla = Inocencia +1895 López Puebla

Ana = José Una

Ma. Concepción = Agustín Nágera

Ma. Josefa = Eduardo Velasco

Quellen: Testament von Juan Francisco Matienzo, Puebla, 19.08.1871, AGNP, notaría 1, Angel Genaro Figueroa, fols. 726v.-728r.; Padrón del cuartel I o menor del 3 o mayor, Puebla, 14 de julio de 1830, AAP, Expedientes sobre Padrones de Estadística 1830, vol. 140, exp. 1447, fol. 48r.-48v.; Archivo privado Familia Matienzo, Diario de las operaciones de la Testamentaría de Juan Matienzo, 01.11.1895.

Ethnische Gewalt auf Kuba zwischen Kolonie und Unabhängigkeit Michael

Zeuske

Die wichtigsten Erklärungsmodelle für die ethnischen Beziehungen auf Kuba sind der allgemeinere „Integrationsansatz" (graduelle, segregierte Integration) 1 bzw. das eher politikgeschichtliche Modell der „Rassen- und Klassenallianzen" unter dem Fahnenwort der cubanidad,2 auf Basis sozialhistorisch-quantifizierbarer „Strukturen der Gleichheit und Ungleichheit" 3 und dem dekonstruktivistischen Ansatz vom „Schweigen der Libertadores"4 über Rassenprobleme. Diesen Modellen, die sich mehr oder weniger deutlich auf den Integrationsansatz zurückführen lassen, hat Aline Helg unter dem bezeichnenden Titel Our Rightful Share ein „Rassismus-Modell" entgegengesetzt. Verhüllt oder brutal offen habe Rassismus seitens der „Weißen" gegenüber den Schwarzen und Farbigen die kubanische Geschichte geprägt, bis heute verdeckt durch einen wohlkonstruierten „myth of racial equality". 5 Sklaverei bedeutete per se strukturelle Gewalt. Diese strukturelle Gewalt umkettete sozusagen hegelianisch Beherrschte wie Beherrscher. Andererseits war die Masse der Sklaven gegenüber freien Lohnarbeitern in der Subsistenz nicht in solch hohem Maße ökonomischer Gewalt ausgesetzt. Sie mußten also, profan gesagt, nicht selbst für ihr tägliches Überleben sorgen, was wiederum neben der sowieso vorhandenen hohen Effektivität der Sklaverei in den modernsten Be-

1

Marianne Masferrer/Carmelo Mesa-Lago: The Gradual Integration of the Black in Cuba: under the Colony, the Republic, and the Revolution, in: Slavery and Race Relations in Latin America, ed. with an Introd. by Richard Brent Toplin, Westport/Conn., London 1974, S. 348384. 2 Rebecca J. Scott: The Lower Class of Whites and the 'Negro Element1: Race, Social Identity, and Politics in Central Cuba, 1899-1909, in: Consuelo Naranjo/Miguel A. Puig-Samper/Luis Miguel Garcia Mora (Hg.): La Nación Soflada: Cuba, Puerto Rico y Filipinas ante el 98, Aranjuez (Madrid) 1996, S. 179-192, 179. 3 Alejandro de la Fuente: Race and Inequality in Cuba, 1899-1981, in: Journal of Contempory History 30(1995), S. 131-168. 4 Siehe: Ada Ferrer: The Silence of Patriots: Racial Discourse and Cuban Nationalism, 18681898 (unpubliziert, mit freundlicher Genehmigung der Autorin). 5 Aline Helg: Our Rightful Share: the Afro-Cuban struggle for equality 1886-1912, Chapel Hill 1995, S.6f., 16, passim.

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reichen der Zuckerproduktion ein starkes Pro-Sklaverei-Argument war und von der sog. revisionistischen Historiographie auch aufgegriffen worden ist. Es war schon Humboldt, der auf die in den Strukturen der Sklavereigesellschaften angelegten Gewaltpotenzen verwiesen hat; auch die Verbindungslinien zur Gesetzgebung hat der preußische Adlige aufgezeigt. Entgegen den liberalen Illusionen von Humboldt aber hat die Sklaverei auf Kuba in dem entscheidenden halben Jahrhundert zwischen 1789 und 1845 keine Regelung durch den Gesetzgeber (Krone) erfahren. In den Strukturen der Sklaverei finden sich auch die Grundlagen für sexuelle Gewalt zwischen den Geschlechtern, vor allem zwischen versklavten Frauen und Besitzern sowie Personal der Zuckerplantagen. Um nicht nur „Opfer" zu konstruieren: Selbstverständlich haben versklavte Frauen diese Konstellationen zu nutzen gewußt, um die eigene Position und die ihrer Kinder zu verbessern; selbstverständlich gab es Beziehungen echter Liebe und selbstverständlich waren nicht alle Angehörigen des weisungsberechtigten Personals von Plantagen Weiße, sondern oft waren schwarze contramayorales verhaßter als der „liberale" Besitzer. Diese Formen struktureller Gewalt und ihre Weiterungen in den Bereich der Geschlechterbeziehungen wollen wir hier nicht analysieren, sondern auf Basis der oben genannten Modelle fragen, wie sie die beiden großen, offenen und traumatischen Ausbrüche ethnischer Gewalt in der politischen Geschichte der Antilleninsel erklären (Verschwörung La Escalera, 1843/44 und den sogenannten „Rassenkrieg" von 1912). Der Rassenkrieg von 1912 ist ja das eigentliche finale historische Argument von Aline Helg, während die Argumente der Integrationisten eher auf die Arbeiten von Jorge Ibarra6 und Luis Pérez Jr.7 zurückgehen. Deren Meinung nach hätten sich in den Unabhängigkeitskriegen schwarz-weiße Allianzen als Basis der „Kubanität" (cubanidad) herausgebildet, die wiederum die Grundlagen für die tiefgehende Gleichheitsmentalität der Kubaner geschaffen hätten. Pérez ist darüber hinaus der Meinung, daß sich der Aufstand 1912 in Oriente aus ökonomischen und strukturellen Gründen erklären lasse, nämlich vor allem durch die Verdrängung freier, meist farbiger Bauern vom Land. Der Protest dagegen sei mit dem Bemühen der Führung der 1908 gegründeten Farbigen-Partei (Partido Independiente de Color, PIC) zusammengefallen, die Afrokubaner gegen das Verbot ihrer Partei zu mobilisieren. 6 7

Jorge Ibarra: Ideologia mambisa, La Habana 1967. Louis A. Pérez Jr.: Cuba: Between Reform and Revolution, New York 1988.

Ethnische Gewalt auf Kuba

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Wir können das Problem ethnischer Gewalt in den Unabhängigkeitskriegen nicht vertiefen, aber hier hat die Interpretationshoheit des integrationistischen Ansatzes dazu geführt, daß die durchaus vorhandenen ethnischen Konflikte (unterschiedliche Behandlung von Kriegsgefangenen, Einsatz von Schwarzen als Sturmtruppen bzw. in den Eskorten u.a.; Offiziersernennungen nach „Rassenquorum", automatische Vergabe von Offiziersrängen für Weiße mit Universitätsabschluß, etc.) wenig oder nicht untersucht worden ist.8 Was erlaubt es uns, von „ethnischer" statt von „rassistischer" Gewalt zu sprechen? Das Hauptargument für die Sklaverei bis zu ihrem Ende im iberischen Bereich war das der „christlichen Zivilisation", also ein kulturelles, kein rassistisches im modernen Sinne.9 Der Begriff raza in der spanischen Sprache bezeichnete vor seiner Korrumpierung durch den französischen Begriff race auch eine gemeinsame Abstammung aus einer Ethnie oder aus einem Kulturkreis. Die Schwarzen auf Kuba organisierten sich entsprechend den Traditionen der iberischen politischen Kultur in cabildos de nación, die Richard Konetzke als „völkische Ratsversammlungen" definiert hat. Die afrikanischen „Nationen" (Lucumi, Congo, Mandinga, Carabalí, Arará usw.) waren aber keine Nationen im europäischen Sinne des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern bestanden in einer bewußten Zuordnung der versklavten (oder freien) Schwarzen zu einem imaginierten afrikanischen Abstammungsverband, im Innersten zusammengehalten vor allem durch Sprache und religiöse Kulte. Die kubanischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts vor José Martí, allen voran José Antonio Saco, konstruierten eine moderne kubanische „Nation" der weißen Kreolen - die Schwarzen der Insel, die raza negra, gehörten für sie nicht dazu: „Die kubanische Nationalität [...], ist die, die durch die weiße Rasse gebildet wird [und] die [...] um die 400000 Individuen ausmacht." 10 Wir können das Thema hier nicht vertiefen, aber es nimmt nicht Wunder, daß 1898, als die Souveränität über Kuba im Vertrag von Paris von Spanien an die USA überging, (wahrscheinlich) Schwarze den Antrag stellen konnten, alle „Afrikaner" - de facto als ein „anderes Volk" konsularisch zu vertreten." „[...] moreno Hermenegildo Alvear, natural de Afri-

8

Mit Ausnahme der Arbeiten von Ada Ferrer, z.B. ihre Dissertation: To Make a Free Nation: Race and the Struggle for Cuban Independence, 1868-1898, Ph.D., University of Michigan, 1995. 9 Naranjo Orovio: passim. 10 José Antonio Saco: Replica de Don José Antonio Saco á los Anexionistas que han impugnado sus Ideas sobre la Incorporación de Cuba en los Estados Unidos, Madrid 1850, S. 54f. " Archivo Nacional de Cuba, La Habana (ANC), Secretaría de Estado y Gobernación (SEG), leg. 2, n 303: Expediente relativo á la communicación del Sr. Gbdor. Civil de Sta. Clara

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ca, vecino de esta Capital y Presidente interino de la Sociedad del Antiguo Cabildo de la Nación Africana Arará Dajomé", antwortete auf dieses Ansinnen, daß sich die von ihm vertretenen „negros de nación" als „Kubaner" fühlten.12 La Escalera 1843/44 Die erste klar erkennbare ethnische Konfrontation, die sogenannte „Verschwörung von Aponte" (1812), können wir hier nur erwähnen. Sie ist vor allem deshalb wichtig geworden, weil es sich um eine deutliche schwarz-weiße Konfrontation gehandelt hat: freie Schwarze mit Verbindungen zu Plantagensklaven auf der einen Seite; weiße Besitzer und Kolonialmacht auf der anderen. Allerdings wird die Komplexität und Kompliziertheit dieses an und für sich recht klaren Falles darin deutlich, daß José Antonio Aponte, Führer eines Lucumi-Cabildos und Inspirator der Verschwörung, von farbigen Offizieren der Kolonialmilizen verraten wurde. Die schwarzen Verschwörer ließen sich vom Modell der Revolution auf Saint-Domingue/Haiti inspirieren. Das hat insofern für alle nachfolgenden ethnischen Konflikte Bedeutung erlangt, als anhand des Verweises auf den „negro Aponte" die Furchtikone „Haiti" als Hauptbestandteil kubanischer Geschichtserinnerung konstruiert werden konnte. Noch heute dient das Sprichwort „más malo que Aponte" zur Kennzeichnung schlimmster Bedrohungen. Bei den Vorgängen, die unter dem Sammelnamen La Escalera in die Geschichte eingegangen sind, handelte es sich um ethnische Gewalt seitens der obersten Kolonialverwaltung. 1844 wurden 4039 Verdächtige durch die Kolonialtruppen und ihre Helfer verhaftet, davon der größte Teil freie Farbige, nämlich 972 Schwarze, 2166 freie Mulatten, 74 Weiße und 827 ohne Kastenzuordnung. Etwa 300 Personen wurden während der Prozeßvorbereitung an den berüchtigten Leitern zu Tode geprügelt. 78 Personen verurteilte die koloniale Macht nach Prozessen zum Tode: 39 Sklaven, darunter eine Frau, 38 freie Farbige und einen Weißen; für 228 schlössen sich auf zehn Jahre die Festungstore von Melilla oder Fernando Po [presidio). Verbannt wurden vor allem freie Farbige (433), kein Sklave und ein Weißer; 1230 wurden freigesprochen. Insgeacompañando un escrito del Sr. Claudio Zuaintlz [sie], pretendiendo empadronar á los Africanos como Cónsul de aquel territorio, folio (f), 2r/v. Der Brief trägt oben links einen blauen Stempel, oval, mit „estrella solitaria" im Zentrum und (oben) dem Schriftzug (röm. Majuskeln) „Colonia Africana de la Isla de Cuba". Ebenda, SEG, leg. 2, n 320: Expediente relativo al escrito de Sr. William George Emanuel solicitando autorización para empadronar á los africanos residentes en esta Isla. 12 Siehe ebenda, SEG, leg. 2, exp. 324, sowie ebenda, leg. 2, exp. 397.

Ethnische Gewalt auf Kuba

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samt hatte man 3076 Personen den Prozeß gemacht.13 In den Jahren nach 1844 hatte Kuba die höchste Selbstmordrate unter Farbigen. Eine Erklärung für diesen Akt staatlicher Gewalt besteht darin, daß es als Folge des Sklavereiliberalismus und des kaum gezügelten Sklavenschmuggels in die Zuckeraufschwungsregion von Matanzas, wo 1843 die Verschwörung entdeckt worden war, zu einer chaotischen Selbstorganisation gekommen sei, derer man nur noch mit einem Gewaltrundumschlag Herr bleiben zu können glaubte. Nicht nur die Krone hatte die Kontrolle über die Besitzer schon 1790 verloren, die Kreolen lehnten diese Gesetzgebung als Eingriff in den Rechtsraum der Plantagen ab. In der Synergie zwischen amorphen, vielfältigen Verschwörungsnetzen der in der Zuckerboom-Region zusammengedrängten Sklaven und der Furchtverstärkung wegen britischer oder haitianischer Einflüsse glaubten dann auch die Hacendados, die Sicherheit in den Zuckerzonen nicht mehr gewährleisten zu können.14 An dieser Stelle setzte der Generalkapitän O'Donnell mit seinen unbeschränkten Vollmachten (facultades omnímodas) an. Es wurde eine gezielte ethnische Verfolgungs- und Terrorwelle zur Zerstörung der Verschwörungsnetze ausgelöst, vor allem aber sollten die Verbindungslinien, die zwischen den freien Farbigen und den Sklaven der Plantagen entstanden waren oder vermutet wurden, zerschlagen werden. Diese Welle ethnischer Gewalt ist unter dem Sinnbild der Leiter, an die die Verdächtigen gebunden wurden, ehe man Geständnisse aus ihnen herausprügelte, in die kubanische Geschichte eingegangen. Leopoldo O'Donnell, der spanische Generalkapitän, bewies den Kreolen damit die Notwendigkeit einer starken Zentralmacht, die die Institution Sklaverei zu schützen vermochte. Der Welt und Großbritannien bewies der Gewaltschlag, daß Spanien noch „Herr im Hause" Kuba war. Das flotte Wort O'Donnells, Kuba sei „mit einer Fiedel und einem Hahn" zu regieren, ist erst nach der Gewalttat entstanden. Der Terror traf in Verteidigung der Farblinien vor allem den zwischen Ende des 18. Jahrhunderts und 1840 entstandenen sozialen Sektor des schwarzen und mulattischen Klein- und Mittelbürgertums von Havanna, Matanzas und Santa Clara.15 13 Vidal Morales y Morales: Iniciadores y primeros mártires de la revolución cubana, 3 Bde., La Habana 1931,1, S. 335. Ob diese Zahlen genau stimmen, wie Paquette es diskutiert, sei in diesem kurzen Artikel dahingestellt. 14 Gwendolyn Midlo Hall: Social Control in Slave Plantation Societies. A Comparison of St. Domingue and Cuba, Baton Rouge, London 1996, S. 106-109. 15 Robert L. Paquette: Sugar Is Made With Blood. The Conspiracy of La Escalera and the Conflict between Empires over Slavery in Cuba, Middletown/Conn. 1988.

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Die Hauptstrafen (Tod und Verbannung) wurden nach „Farbe" vergeben. Hier fand das sich danach auf Kuba durchsetzende Konzept der raza negra als Kennzeichnung aller Träger „afrikanischen Blutes", egal ob es sich um afrikanische oder kreolische Schwarze oder kubanische Farbige handelte, seine schreckliche erste Materialisierung. Soweit würde ja der Rassismus-Ansatz noch alles erklären: Rassismus von Staat und kreolischen Besitzern, die, trotz vielfältiger Konflikte untereinander, gegen freie Afrokubaner, Sklaven und deren weiße Freunde gemeinsam Front machten, wenn es sein mußte auch mit spektakulärer ethnischer Gewalt. Die summarische Konstruktion raza de color bzw. raza negra zur Kennzeichnung des farbigen Teils der Bevölkerung als einer der weißen Gesellschaft feindlichen Gruppe hat sich zur Kennzeichnung der ethnischen Grundbestandteile der kubanischen Bevölkerung seit dieser Zeit durchgesetzt; sie gilt cum grano salis noch heute und ist auch von Afrokubanern zur Eigenbezeichnung verwandt worden und wird noch verwandt. Paquette hat in seiner minutiösen Untersuchung aber auch Elemente des Allianzansatzes bei der Erklärung von 1843/44 eingeführt. Gegen die Vermutung, die Verschwörung sei regelrecht konstruiert worden, um einen Vorwand zu haben, verweist er darauf, daß es wirklich mehrere Verschwörungen gegeben hat, die vor dem Hintergrund einer durchaus revolutionären Situation im Hinterland von Matanzas ihre Konflikte untereinander, vor allem die zwischen Weißen, Mulatten und Schwarzen, nicht hätten ausräumen können. 16 Paquette spricht also von einer Allianz, die an ihren eigenen internen „Farb"-Konflikten scheiterte, an Problemen also, wie sie aus der Geschichte der kubanischen Unabhängigkeitskriege und den Schwierigkeiten der weißen Separatisten mit dem Abolitionismus und dem Verhältnis zu den Afrokubanern, gut bekannt sind17 Die guerra de razas von 1912 Bei der Erklärung von 1912 und der dort zu Tage tretenden atavistischen ethnischen Gewalt bietet sich der Rassismus-Ansatz eigentlich an. Aber, und hier hat Helg eben zu stark mit ihrem Modell und zu wenig historisch gearbeitet, bei genaueren Archivstudien zeigt sich, das es sich auch bei diesen Vorgängen im Ansatz um einen Allianzversuch nach dem Muster provinzieller Klientel-Kaziken-Beziehungen gehandelt hat.

16 17

Ebenda, S. 4-17, 240ff. Vgl. die Arbeiten von Ferrer.

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Wahrscheinlich haben wir in den Ereignissen von 1912 einen Weg der Mobilisierung von Afrokubanern zur Erzwingung stärkerer Partizipation vor uns. Die Konzentration auf die spektakulären Ereignisse verdeckt aber, daß es andere Wege der Mobilisierung gab, die auch nach 1912 funktionierten. José Miguel Gómez, General des Unabhängigkeitskrieges 1895-1898 in der kubanischen Zentralprovinz Las Villas und militärisches Ziehkind von Máximo Gómez war noch während der ersten Okkupation durch die USA (1898-1902) wichtigster Kazike der Liberalen in der frühen Republik geworden. Er war mit Hilfe „schwarz-weißer" Allianzen klientelistischer Natur zwischen 1904 und 1908 an die Spitze der nationalen Machtpyramide gelangt (Präsident 19091913). Aline Helg selbst vermutet in ihrem Buch eine Absprache, die ja nur nach dem Vorbild der erfolgreichen Allianzen in Las Villas funktionieren konnte. Diesem Allianzversuch aber war im nationalem Rahmen kein Erfolg beschert, wie noch sechs, sieben Jahre zuvor, als die Provinz Las Villas die Basis der Allianzen war. Wir wissen noch nicht genau warum. Wir können vermuten, daß die Konflikte innerhalb der liberalen Koalition (José Miguel Gómez gegen Alberto Zayas, d.h., miguelistas versus zayistas), dazu führten, daß der Armeechef, José de Jesús Monteagudo, den Regierungstruppen freie Hand zum ethnischen Massaker gab. Auch Konflikte zwischen den provinziellen und nationalen Machtgruppen und zwischen kubanischen Gruppen von Akteuren und der Schutzmacht USA können eine Rolle gespielt haben. Von Kubanern ist mehrfach die Vermutung persönlicher Abgrenzungsmotive im Falle Chucho Monteagudos geäußert worden, was auch nicht ganz sicher ist, aber mit dem Rassenansatz (Verteidigung der ,,Farb"-Schranke) erklärbar wäre. Fest steht nur, daß es im Vorfeld des Massakers eine Art Absprache zwischen José Miguel Gómez und dem späteren Führer des Aufstandes in Oriente, Pedro Ivonet, gegeben hat. Sie ist auch schriftlich festgehalten worden: „Es hat sich in dieser Provinz eine große Partei von Negern und Mulatten gebildet, die farbige Unabhängige [der PIC - M.Z.] genannt werden, sie ernannten mich zum Präsidenten; ich habe akzeptiert und ich will Ihnen sagen, daß in dieser Partei ihre Wiederwahl [zum Präsidenten - M.Z.] begründet ist, diese [Partei] ist aus Konservativen und Liberalen zusammengesetzt und wird ein Kontingent von 7 oder 8 Tausend Männern von Rio Jobabo bis Baracoa sein, soweit die Provinz Oriente ist, ich glaube, Sie wissen von all dem und alle die, die Sie vom Gegenteil von dem, was ich sage, überzeugen wollen, wollen Sie täuschen. Denn die Mehrheit dieser Neger und Mulatten sind [sie] mit Ihnen und wenn Sie sich davon überzeugen wollen, machen Sie einen kleinen Besuch im Oriente und Sie werden den

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E m p f a n g sehen, den Ihnen alle m a c h e n wir wissen, daß S i e der General G ó m e z sind, der den B o n i a t o mit uns g e g e s s e n hat und Sie m ü s s e n die M a m b i s e s v o n Oriente nicht furchten, diese sind der Gefahrte des Präsidenten der Republik v o n Kuba [,..]'" 8 Eine handschriftliche N o t i z v o n José Miguel G ó m e z a m Ende dieses Briefes besagt, daß der Präsident zu d i e s e m Zeitpunkt n o c h bereit war, auf die Vorschläge v o n Ivonet einzugehen. 1 9 Besonders der s c h ö n e kubanische Satz: „General G ó m e z , der den B o n i a t o mit uns g e g e s s e n hat [...]", beschreibt eindeutig einen solchen Allianzansatz, der allerdings schon durch die Erinnerung an die Kameraderie des vierzehn Jahre zurückliegenden K r i e g e s verklärt ist. Alexandra B r o n f m a n w e i s t in e i n e m Artikel über die Ereignisse v o n 1912 in C i e n f u e g o s darauf hin, daß die Aufständischen „Es lebe die Wiederwahl" geschrien hätten. 2 0 Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, daß die Allianzen z w i s c h e n Schwarzen und Weißen, auch z w i s c h e n Liberalen und G e s e l l s c h a f t e n v o n Schwarzen, noch i m g l e i c h e n Jahr 1912 n a c h z u w e i s e n sind. 21 D i e M a s s e der Schwarzen hat 18 Die Vermutung, daß es ein solches „agreement" zwischen den Führern der PIC, vor allem Pedro Ivonet, und José Miguel Gómez' gab, um die Wiederwahl des letzteren bewerkstelligen zu können, findet sich bei Helg: Rightful Share, S. 202, Noten 41 und 43). Der Text in Originalorthographie lautet: „Se á [sie] formado en esta provincia un gran partido de Negros, y Mulatos, titulado Independientes de Color, Me nombraron Presidente; yo asepté [sie], y quiero decirle que con este partido estriba su relección [sie], este está compuesto de Conservadores, y liberales, y será un contingente de 7 ú 8 mil hombres del Rio Jobabo á Baracoa lo que hace la Provincia de Santiago, Ud. creo que tiene conocimiento de esto, y todo lo quieran decirle por contrario á lo que yo le diga lo quieren engañar. Pues la mayoría de esos negros y mulatos están con Ud, y si Ud quiere desengañarse gire una visitica por Oriente y verá el recibimiento que le van a hacer todos savemos que Ud., es él [sie] General Gómez, qué comió el boniato con nosotros, y Ud, no tiene que temer á los mambises orientales esos son el compañero del Presidente de la República de Cuba. Más bien líbrese de aquellos que dicen que los quieren en La Habana, yo tengo pruebas inequívocas de que han pretendido hacerle una traición en la Capital. Lo que le digo á Ud, es que trate de alagar [sie, debe decir halagar] á esos negros, porque todos están con Ud. [...]" 19

Brief von Pedro Ivonet an José Miguel Gómez aus Santiago de Cuba, 2. Februar 1910, in: Archivo del Museo de la Ciudad (La Habana), legajo 68, expediente 39, núm. doc. 397,001. 20 Alexandra Bronfman: Clientelism and Chaos in Cienfuegos, 1912 (in Vorbereitung, zitiert mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin). 21 Siehe meinen Aufsatz: Die diskrete Macht der Sklaven. Zur politischen Partizipation von Afrokubanem während des kubanischen Unabhängigkeitskrieges und der ersten Jahre der Republik (1895-1908) - eine regionale Perpektive, im Themenheft von Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, hg. von Michael Zeuske 1 (1997), S. 20-72.

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möglicherweise den Aufstand von 1912 mit Abstand zur Kenntnis genommen oder die eigene Beteiligung aus Scham über den Abfall vom martianischen nationalen Konsensus später in Schweigen gehüllt. Eine Analyse der Identität von Esteban Montejo, wie sie im Cimarrón deutlich wird, zeigt, daß Montejo fast immer über „die Kubaner" - im spanischen Original benutzt er oft sogar einen pejorativen Diminutiv (los cubanitos, los coronelitos cubanos) - als über die Anderen spricht. Er selbst bezeichnet sich und seine Gruppe ethnisch als „die Neger" oder verwendet die imaginierten Nationsbezeichnungen „lucumiés" oder „congos". Nur an wenigen Stellen seiner Erzählung sieht sich Montejo auch als „Kubaner", vor allem in dem Kapitel über den Krieg von 1895, als er die Schlacht von Maltiempo beschreibt. Ansonsten spricht er höchsten von den „Befreiern" (los libertadores). Wichtiger ist, daß neuerdings am Beispiel des Zeitraums (1870-1920), in dem die kubanische Gesellschaft drei dramatische Grundprozesse durchmachte (Abolition der Sklaverei 1886, Modernisierung der Zuckergroßproduktion ca. 1870-1920 und „Konstruktion" eines unabhängigen Staatswesens durch Unabhängigkeitskrieg 1895-1898, imperialistischer Eingriff der USA 1898-1902 und Frühzeit der „abhängigen" Republik 1902-1917), sich einerseits der moderne positivistische Begriff der „Rasse" durchsetzte. Rebecca Scott hat zuletzt für diesen Zeitraum den wechselnden „Sinn" des modernen Konstrukts „Rasse" gezeigt. 22 Andererseits hat die (weiße) zeitgenössische Presse die Aufständischen in Oriente auch weiterhin ethnisch-kulturell definiert und diffamiert, vor allem durch bildliche Darstellungen und durch den Verweis auf barbarische religiöse Praktiken (ñáñiguismo). Nur zehn Jahre nach der Abolition der Sklaverei kam es im Unabhängigkeitskrieg 1895-1898 zu einer beispiellosen Mobilisierung von Afrokubanern für nationale Ziele, ideologisch gefördert durch das martianische Programm der Rassengleichheit („con todos y para el bien de todos"), auf Basis einer zunehmend multiethnischen Zuckerarbeiterschaft. Vor allem im kubanischen Befreiungsheer (Ejército Libertador Cubano; E.L.C.) bildeten sich militärische Allianzen; schwarze und mulattische Offiziere kommandierten weiße Soldaten und umgekehrt. Als der Krieg zu Ende war, die Amerikaner das Land besetzt hatten und im Zuge einer paktierten Transition den konservativsten Elementen des Separatismus zur Macht verhalfen (Präsident: Tomás Estrada Palma), behielten die neuen Eliten zwar die martianische Rhetorik bei, behandelten aber die Gleichheitsverheißungen dilatorisch und vergaßen sie ganz. 22

Rebecca J. Scott: Raza, clase y acción colectiva, passim.

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Im Kampf um die Präsidentschaft zwischen weißen, eher zivil ausgerichteten Kreisen um Estrada Palma und der liberalen Offiziersgruppe um José Miguel Gómez nutzte letztere populistisch die Enttäuschung der schwarzen Veteranen im Wahlkampf bzw. als dieser manipuliert wurde, im bewaffneten Aufstand (guerrita de agosto, 1906). Als José Miguel Gómez schließlich die Präsidentschaft erlangt hatte, zeigte sich, daß auch die Liberalen nicht bereit waren, den Schwarzen die von diesen geforderte Partizipation zu gewähren. 1908 gründete sich der Partido Independiente de Color mit dem Ziel, die afrokubanische Bevölkerung autonom zu mobilisieren. 1910 brachte Martín Morúa Delgado, ein mulattischer Politiker aus der Klientel von José Miguel Gómez und zu dieser Zeit Senatspräsident, ein Amendment zur kubanischen Verfassung durch, daß die Bildung von Parteien auf „Rassenbasis" verbot. Da 1912 neue Wahlen anstanden und José Miguel Gómez die Wiederwahl anstrebte, gab es zunächst die oben genannten Absprachen zwischen Gómez und der Führung des PIC. Aber die Allianz kam über diesen Ansatz nicht hinaus. Das Tragische an der Konfrontation von 1912 bestand darin, daß sich auf beiden Seiten Mitglieder der 1895-1898 gebildeten Allianzen befanden. Nur 14 Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg und seinen Gleichheitsillusionen rutschte ein politischer Konflikt in rassistische Schlächterei und ethnische Gewalt ab. 23 Während im Unabhängigkeitskrieg massenhaft Beispiele für ein wahrhaft brüderliches Verhältnis der Rassen in der separatistischen Bewegung gab, wurde das alte Konstrukt der raza negra zur positiven Chiffre der Selbstidentifikation der PIC-Führung und zugleich zur negativen Chiffre der Repression: in den Bergen von Oriente wurden „Schwarze" wahllos umgebracht; unter anderem auch einige haitianische Bürger, die auf Kuba arbeiteten. Welche Erklärungen gibt es für die abrupte Änderung des Sinns von „Rasse" in einer historisch so kurzen Zeit? Die integrationistische Historiographie hat dafür vor allem den Rassismus der nordamerikanischen Interventen und ihren Einfluß auf die weißen kubanischen Eliten während der beiden Okkupationen Kubas 1898-1902 und 1906-1909 in Anschlag gebracht. Die Afrokubaner seien unter den Vorwänden der „Respektabilität", der Hautfarbe, der Bildung und der „barbarischen" Kultur aus dem öffentlichen Dienst und aus dem neugebildeten Heer und Polizei verdrängt bzw. gar nicht erst aufgenommen worden. Pérez Jr. hat deshalb die Guardia Rural (Landpolizei) und der neue Ejército Permanente im Gegensatz zum E.L.C, „koloniale Armeen" genannt.

23

Ebenda.

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Die revisionistische Historiographie, zuletzt vor allem Aline Helg, hat die Ideologie des kubanische Nationalismus hinterfragt und ist zu dem Schluß gekommen, daß der Antirassismus eines Marti und eines Maceo im Grunde zur Verdeckung wirklicher Rassenprobleme durch einen Mythos der Rassengleichheit geführt habe. Der plakative Antirassismus habe verdeckt, daß die meisten weißen Separatisten tiefen Haß und Furcht vor der afrokubanischen Gleichheit hegten. Ada Ferrer hat mit anderer Zielrichtung als Helg in ihrem Ansatz der „Rassen-Blindheit" und des „Schweigens der Befreier" darauf verwiesen, daß es afrokubanische Insurgenten gegeben habe, die noch während des Krieges eine Gleichheitsvision gegenseitiger Rechte und Pflichten formuliert hätten, die weit über das martianische Projekt hinausgegangen sei. Diese Vision sei nach der Machtübernahme durch weiße Separatisten nicht mit in das nationale Projekt der Nachkriegszeit aufgenommen worden, nach den Enttäuschungen der frühen Republik aber von den Führern des PIC eingefordert worden. In der „abhängigen Republik von 1902" griff der Rassismus wieder breiten Raum, verbunden mit Auseinandersetzungen um das Erbe des Unabhängigkeitskrieges und neuen Interpretationen des Patriotismus, des Konstrukts Rasse sowie der Stellung der einzelnen ethnischen Bestandteile innerhalb des Kubanertums. Der Patriotismus der neuen Eliten nach 1902 „vergaß" progressiv die alten Gleichheitsideale; nur wenigen Schwarzen gelang als „Partizipationsikonen" der Aufstieg in die politischen Eliten, die begannen, den Martianismus als ideologisches System auszubauen, mit dem sie das ganze Erbe des Unabhängigkeitskampfes beanspruchten.

Das Bild „des Indianers" und das ethnische Dilemma des Nationalismus in Guatemala, 1920-1930 Volker Wünderich

Guatemala zählt zu den Ländern Lateinamerikas, in denen der Zusammenprall zwischen dem liberalen Nationalstaats- und Fortschrittsmodell und der indianischen Bevölkerung nach der Unabhängigkeit besonders traumatisch verlaufen ist. Bekanntermaßen erreichte der creolische Rassismus in der liberalen Epoche nach 1871 einen prominenten Höhepunkt, als die soziale und administrative Markierung der ethnischen Grenzen vom liberalen Entwicklungsprogramm besonders legitimiert wurde. 1 Die indianischen Bevölkerungsgruppen waren seitdem „in ein politisch-soziales Umfeld eingebunden, das ihnen in höchstem Maße feindlich gesonnen war." 2 Auch im Laufe des 20. Jahrhunderts entschärfte sich die Situation der Rassendiskriminierung und sozialen Konfrontation entlang ethnischer Grenzen nicht. Noch Anfang der achtziger Jahre, als die indianischen Dörfer Opfer eines militärischen Genozids zu werden drohten, wurde vielmehr ein neuer, grausamer Höhepunkt erreicht.3 Mit dem Friedensprozeß seit 1990 trat jedoch ein überraschender Umschwung ein. Heute ist nicht nur der Bürgerkrieg beendet. Zum ersten Mal sind grundlegende indianische Rechte vom Staat anerkannt, ja Guatemala gilt im Moment als ein Laboratorium für die Gestaltung einer multiethnischen Nation. 4 In diesem Beitrag soll es um den creolischen Nationalismus in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gehen. Im Jahre 1920, als der Diktator Estrada Ca' Eine neue Interpretation dieses Vorgangs, der die vorher fließende Grenze zwischen Indígenas und Ladinos neu markierte und befestigte, versucht Carol A. Smith in ihrem Aufsatz: Origins of the National Question in Guatemala: A Hypothesis, in: Dies. (Hg.): Guatemalan Indians and the State: 1540 to 1988, Austin 1992, S. 72-95. 2 Julio Pinto Soria: Nationbildung und ethnischer Konflikt in Guatemala (1840-1944), in: Michael Riekenberg (Hg.): Politik und Geschichte in Argentinien und Guatemala (19./20. Jahrhundert), Frankfurt/Main 1994, S. 237. 3 Vgl. dazu Robert M.Carmack (Hg.): The Harvest of Violence. The Maya Indians and the Guatemalan Crisis, Norman 1988. 4 Zur Vorgeschichte s. Arturo Arias: Changing Indian Identity: Guatemala's Violent Transition to Modernity, in: Smith: Guatemalan Indians and the State: 1540-1988, Austin 1992, S. 230257; zur heutigen Debatte s. Santiago Bastos/Manuela Camus: Quebrando el Silencio. Organizaciones del pueblo maya y sus demandas, Guatemala '1996; dies.: Abriendo Caminos. Las organizaciones mayas desde el Nobel hasta el acuerdo de derechos indígenas, Guatemala 1995. Vgl. a. Raimund Allebrand (Hg.): Indianischer Aufbruch in Guatemala, Bad Honnef 1997.

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brera gestürzt wurde, hatte die sogenannte „Indianerfrage" natürlich schon eine Vorgeschichte, und die Einsicht war nicht neu, daß sie das zentrale Problem der Nation werdung sei. Sie war bereits in der Zeit der Liberalen Reform nach 1871 ausfuhrlich diskutiert worden. Damals wurde die Indianität als das negative Erbe der Kolonialzeit definiert und der analphabetische, traditionsverhaftete „Indianer" als das barbarische, tierähnliche Wesen beschrieben, das dem nationalen Fortschritt im Wege stehe. Die Existenz einer indianischen Bevölkerung mit besonderer Kultur innerhalb der nationalen Grenzen wurde als skandalöser Anachronismus empfunden. 5 Eine neuere Arbeit sieht hierin sogar einen zentralen Grund dafür, daß der Kampf um die Einigung Zentralamerikas und der Traum vom „großen Vaterland" den Liberalen in Guatemala so überlebenswichtig schien: Sie meinten, das Problem der indianischen Mehrheit nur lösen zu können, indem sie die mestizische Bevölkerung der anderen Länder des Isthmus in ein neues Nationalprojekt miteinbezogen. 6 Der radikale Flügel des Liberalismus richtete jedoch gleichzeitig das Ziel auf, „den Indianer" durch Schulbildung zu zivilisieren und zu einem aufgeklärten Staatsbürger zu erziehen. Dieses Ideal bekannte sich zwar zu emanzipatorischen Zielen, bedeutete in Wirklichkeit jedoch ein Ladinisierungskonzept, das die Indianer durch Erziehung hispanisieren und ihre Kultur damit verschwinden lassen wollte. Diese Idee wurde immer wieder aufgegriffen, so z.B. auf dem zentralamerikanischen Kongreß für Pädagogik 1893, wo intensiv Vorschläge erörtert wurden, den Unterricht mit dem Verbot der indianischen Sprachen und der indianischen Tracht in der Schule zu verbinden. 7 Doch wohl nirgends scheiterte dieser Plan deutlicher als in Guatemala. Tatsächlich ließ das liberale Regime das Ladinisierungskonzept der radikalen Reformer bald fallen; statt dessen setzte sich die Idee durch, daß der Indianer nicht durch Erziehung, sondern durch Arbeitszwang zu „zivilisieren" sei. Das Regime hatte weder die Kraft noch das ernsthafte Interesse, die Volksbildung in Guatemala durchzusetzen, schon gar nicht unter der indianischen Landbe-

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Bereits vor der klassischen Formulierung dieser Positionen durch Antonio Batres Jáuregui (Los Indios. Su Historia y su Civilización, Guatemala 1894) gab es eine breite Debatte in Presse und Öffentlichkeit; vgl. Pinto Soria: Nationbildung und ethnischer Konflikt, S. 229-32, und Edgar Barillas: El 'Problema del Indio' en la época liberal en Centro América. El caso de Guatemala, in: Folklore Americano (México) 46 (1988), S. 73-98. 6 Steven Paul Palmer: A Liberal Discipline: Inventing Nations in Guatemala and Costa Rica, 1870-1900, Ph.D. Thesis, Columbia University, New York 1990, S. 14 und 141-56. 7 Pinto Soria: Nationbildung und ethnischer Konflikt, S. 236.

Das Bild „des Indianers"

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völkerung. Der Hintergrund dafür war das Arbeitssystem der Kaffee-Exportwirtschaft in Guatemala. Es führte nicht zur Zerstörung der Dorfgemeinschaften aus der Kolonialzeit, sondern nutzte vielmehr das Nebeneinander von großer Plantage und indianischem Dorf, wo die saisonalen Arbeitskräfte für den größten Teil des Jahres ihre Subsistenzgrundlage behielten. Dieses ökonomische Interesse fiel mit der sozialen und kulturellen Widerständigkeit der indianischen Dorfgemeinschaften zusammen, so daß der konzentrische Angriff auf die institutionellen Träger der Tradition ausblieb. 8 In den Nachbarländern Nicaragua, Honduras und El Salvador machte die kulturelle Mestizisierung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. solche Fortschritte, daß die Existenz der verbleibenden ethnischen Gruppen im nationalen Selbstverständnis bald erfolgreich geleugnet werden konnte. 9 Währenddessen verallgemeinerte und verfestigte sich die ethnische Spaltung der Gesellschaft in Guatemala zusehends. Die Aufteilung der Gesellschaft in einen „ladinischen" und einen „indianischen" Teil reflektierte in erster Linie einen Ausschlußmechanismus, der „die Indianität" als untaugliche und zurückgebliebene Kultur stigmatisierte. Obwohl die indianische Bevölkerung in sich heterogen und hauptsächlich lokal identifiziert war, förderte die Konfrontationslogik auch ihre defensive Abgrenzung von den Ladinos, ja bereitete allmählich den Boden für die spätere Entstehung eines ethnischen Bewußtseins. Dieses Phänomen spiegelte sich auch in der nationalen Statistik. In den Jahren von 1865 bis 1921 verdoppelte sich die guatemaltekische Bevölkerung, aber das Verhältnis von Indianern zu Ladinos blieb ziemlich genau in der Größenordnung von zwei Dritteln zu einem Drittel. Der Zensus von 1921 wies immer noch 64,8% der Bevölkerung als Indianer und 35,2% als Ladinos aus. Von einem gesamtgesellschaftlichen Ladinisierungsprozeß konnte also keine Rede sein. Im übrigen ist davon auszugehen, daß der indianische Anteil in Wirklichkeit noch höher lag, da die Klassifikation als Indianer auf der Selbsteinschätzung der Befragten beruhte. 10

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Zur Arbeitsverfassung s. Ciro F. Cardoso/Héctor Pérez Brignoli: Centroamérica y la Economia Occidental, San José 1977; Julio C. Cambranes: Coffee and Peasants. The Origins of the Modem Plantation Economy in Guatemala, 1853-1897, Stockholm 1985; David McCreery: Rural Guatemala 1760-1940, Stanford 1994. 9 Vgl. dazu z.B. Jeffrey L. Gould; 'Vana Ilusión!' The Highland Indians and the Myth of Nicaragua Mestiza, 1880-1925, in: Hispanic American Historical Review 73 (1993), S. 393-429. 10 República de Guatemala: Censo de la Población de la República, levantado el 28 de agosto de 1921, Parte I, Guatemala 1924, S. 40, 139-44; vgl. a. Stefan Karlen: „Paz, Progreso, Justicia y Honradez". Das Ubico-Regime in Guatemala 1931-1944, Stuttgart 1991, S. 285f.

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Alle Äußerungen zum Indianerproblem in den zwanziger Jahre standen darum unter der Spannung, daß das liberale Erziehungs- und Reformversprechen offensichtlich gescheitert war und daß daraus ein akutes nationales Identitäts- und Entwicklungsproblem resultierte. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wuchs gleichzeitig der Druck von außen, Staat und Wirtschaft zu modernisieren. Einerseits konsolidierte sich mit der Gründung des Völkerbundes das internationale System auf der Grundlage souveräner Nationalstaaten, andererseits erreichte die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Mittelamerikas von den USA eine neue, bedrohliche Qualität." Der konkurrierende Einfluß Deutschlands war während des Ersten Weltkrieges dagegen ganz zurückgetreten. Nach dem Sturz der Diktatur ging die sogenannte „Generation von 1920" daran, die zivile Erneuerung und die innere Konsolidierung der guatemaltekischen Nation zu diskutieren. Dabei war die Frage nicht zu umgehen, wie die Indianer in die Nation einbezogen werden könnten. Die rein „creolische" (=weiße) Definition der Nation und die Ablehnung jeglicher Vermischungsperspektive mußten wenigstens zeitweise unter Druck geraten. In Absetzung von Interpretationen, die eine ungebrochene Kontinuität des „rassischen Denkens" seit Batres Jäuregui unterstreichen,12 soll hier den leiseren Tönen und Widersprüchen dieser Debatte nachgespürt werden. Obwohl sich der Nationalismus nicht aus der systematischen Negation alles Autochthonen zu lösen vermochte, wurden zumindest die Widersprüche eines europäisch konzipierten Homogenitätskonzeptes an vielen Stellen manifest. Der Verlauf und die negativen Ergebnisse der Debatte sind als deutlicher Kontrast zur Entwicklung im nachrevolutionären Mexiko zu begreifen, wo sich in diesen Jahren das mestizische Selbstverständnis der Nation festigte und die Grundlagen für den späteren Durchbruch des Indigenismus zur staatlichen Politik gelegt wurden. *

Beginnen wir mit dem Bild „des Indianers", wie es weiterhin den herrschenden Diskurs in der politischen Öffentlichkeit bestimmte. Als Beispiel sei aus einem Artikel der Zeitschrift La Vida aus dem Jahre 1922 zitiert:

1 ' Aus der langen zeitgenössischen Debatte über die Notwendigkeit, auf die imperialistische Bedrohung zu antworten, s. z.B.: Miguel Angel Asturias: El imperialismo económico de los Estados Unidos y nosotros, in: Repertorio Americano XVIII, No.7 (16.2.1929), S.107. 12 Martha Elena Casáus: El Pensamiento Racial y la Nación Civilizada en Batres Jáuregui y su Influencia en las Ciencias Sociales en Guatemala, Ponencia presentada en el Tercer Congreso Centroamericano de Historia, San José de Costa Rica, 15-18 de julio, 1996.

Das Bild „des Indianers"

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„Die Indios sind wie Kinder, die man an der Hand nehmen [...] muß; wobei sie oft selbst aus Unwissenheit befürchten, daß man ihnen schaden will, wenn man ihnen sagt, daß sie zur Schule gehen und daß sie arbeiten sollen, um ihr Los zu verbessern. Im Moment ist [...] der größte Teil der Maisernte in unserer Gegend fast verdorben; man hat versucht Abhilfe zu schaffen [...] und den Indígenas Ländereien unten an der Küste für eine zweite Aussaat zur Verfügung zu stellen; [...] aber unglücklicherweise weigert sich der Indio wegen seiner sorglosen und beschränkten Art, auf den Böden der heißen Region zu arbeiten [...]. Wir meinen, daß die Behörden darum die Rolle der Eltern übernehmen müssen, die ihre Kinder zum arbeiten zwingen, sonst geschieht es uns ganz recht, wenn wir jedes Jahr Knappheit und Hunger erleben müssen [...]. Im übrigen erscheint es uns notwendig, daß die Behörden den freien Verkauf alkoholischer Getränke außerhalb fester Ortschaften unterbinden [...]; damit brutalisiert man den unglückseligen Arbeiter; außerdem schädigt man unsere Landwirtschaft durch die großen Besäufnisse, die nicht nur einen, sondern viele Tage andauern und bei denen sich der verblödete Indio ruiniert [,..]"13 Die Elemente, aus denen hier das Bild des Indianers konstruiert wird, sind bekannt: Die Metapher des ignoranten, sinnlosen Traditionen verhafteten Naturkinds, seine Arbeitsscheu und seine Trunksucht, wobei in paternalistischer Manier die Anwendung staatlichen Zwangs legitimiert wird. War die Kindermetapher schon Teil der kolonialen Ideologie, so hatte sich seit der Einführung der Kaffeewirtschaft der Diskurs immer mehr auf die Absicherung der produktiven Arbeit auf dem Lande konzentriert. Auch in den zwanziger Jahren war das „Indianerproblem" über weite Strecken identisch mit dem „Arbeitsproblem".' 4 Der enge Bezug zwischen der sozialen Lage der Indianer und dem Alkoholismus war ein Standardthema mit langer Vorgeschichte. 15 Da die rituelle Bedeutung des Alkohols bei den indianischen Festen bekannt war, verband sich die 13

LA VIDA. Revista de Variedades, Quetzaltenango, vol. 1, No. 5, agosto de 1922, S. 14. Zu den Debatten über die Arbeitsverfassung in den 20er Jahren s. jetzt David McCreery: Wage Labor, Free Labor and Vagrancy Laws: The Transition to Capitalism in Guatemala, 19201945, in: William Roseberry/L.Gudmundson/M.Samper Kutschbach: Coffee, Society and Power in Latin America, Baltimore 1995, S. 206-31, und Peter Fleer: Arbeitsmarkt und Herrschaftsapparat in Guatemala 1920-1940, Frankfurt/M. 1997. 15 Dazu jetzt Virginia Garrard-Bumett: Alcohol and Indigenismo in Guatemala 1890-1930, Paper fur den Tercer Congreso Centroamericano de Historia, San José, Costa Rica, Juli 1996; s. a. Barillas: El 'Problema del Indio', S. 96f. 14

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Polemik gegen die Trunksucht häufig mit negativen Projektionen von Gewalt, Verbrechen und unbeherrschten Leidenschaften. Doch über diesen rassistischen Abgrenzungsmechanismus hinaus wurde dem Alkohol eine besondere historische Rolle bei der Degeneration der einstmals stolzen Rasse der Indianer zugesprochen. In diesem Sinne baute Batres Jáuregui den Alkohol in sein Geschichtsbild der Kolonialzeit ein.16 In den zwanziger Jahren wurde diese Vorstellung fortgeführt. In der Dissertation des jungen Miguel Angel Asturias (1923) war z.B. zu lesen: „Der Alkoholismus ist der Faktor, der am meisten dazu beigetragen hat, dem Indígena das Zeichen der Degeneration aufzudrücken. Es ist bekannt, in welchem Ausmaß der Aguardiente in den Dorfgemeinschaften konsumiert wird, wobei Armut und Mutlosigkeit ertränkt werden, um einer rauschhaften Fröhlichkeit Platz zu machen, die heftig über die letzten Trümmer des Indianerlebens hinwegfegt."17 Die genannte Dissertation von Asturias ist eine der wenigen Arbeiten aus den zwanziger Jahren, die sich dem Thema der Indianer ausführlicher zuwandte. Asturias hatte als junger Aktivist am Sturz der Diktatur von Estrada Cabrera teilgenommen und reiste 1921 zu einem internationalen Studentenkongreß in Mexiko. Bei dieser Gelegenheit ermunterte ihn José Vasconcelos persönlich, eine größere Arbeit über das Leben der Indianer in seinem Land zu verfassen.18 Er schrieb diese soziologische Arbeit dann in erster Linie als eine Reflexion der Erfahrungen seiner Jugend, also ohne wissenschaftliches Instrumentarium. Sie wurde von der Universidad Nacional für sein juristisches Promotionsverfahren im Jahre 1923 aber nicht nur angenommen, sondern sogar prämiert und veröffentlicht. Tatsächlich reproduzierte Asturias in dieser Arbeit nicht nur das biologische Kontrastdenken des liberalen Positivismus, sondern spitzte es mit neuen Argumenten aus der Völkerpsychologie noch geradezu unerträglich zu: Der zeitgenössische „Indio" wird darin durchgängig als feige, degeneriert, willenlos und vertiert beschrieben. Es ist nicht erstaunlich, daß die Wiederauffmdung und erneute Publikation der Arbeit in Paris 1971 große Betroffenheit unter den Bewunderern des großen Dichters auslöste. Es fehlt nicht an Bewertungen, die dem jungen Asturias mit guten Gründen extremen „Rassendeterminismus" vorwerfen.19 16

Batres Jáuregui: Los indios, su historia y su civilización, S. 176f. Miguel Angel Asturias: El problema social del indio, (Guatemala 1923), neu hg. von Claude Couffon, Paris 1971, S. 85. 18 Claude Couffon: Einleitung zu Asturias, El problema social del indio, S. 10. 19 Karlen: Das Ubico-Regime in Guatemala, S. 291. 17

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Eine genaue Lektüre des Textes offenbart jedoch auch neue Elemente, die in eine andere Richtung weisen. So schrieb Asturias im folgenden Absatz über die Rolle des Staates und das Alkoholmonopol: „Viel könnte man über die Tatsache sagen, daß der Staat in Guatemala von den Steuereinkünften lebt, die seine Bewohner mit ihrer Gesundheit bezahlen. Ein Staat, dessen Organisation auf dem Fundament der Unmoral ruht, stellt sich selbst außerhalb des Rechts und der Zivilisation, ja er begeht das schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit."20 Es erweist sich, daß manche Textpassagen in hohem Maße ambivalent sind, denn sie möchten gleichzeitig ein Plädoyer für die zivile Erneuerung und ein Ausdruck der Sozialkritik sein. Ihr Zweck ist nicht allein die Reproduktion des abgrenzenden Vorurteils, sondern sie gehen zur Aufdeckung der Ursachen für die elende Lage des Indianers und zur politischen Anklage gegen den oligarchischen Staat über. Über die Sozialkritik hinaus klingt bei Asturias auch die Perspektive einer kulturellen Mestizisierung und eine Relativierung des integrationistischen Zieles an. Er möchte die Nationalität auf die Entwicklung neuer, übergreifender Hoffnungen und Identifikationen gründen, d.h. er faßt eine Konvergenz des kulturellen Wandels ins Auge: „Es mag stimmen, daß die [gemeinsame] Sprache, die Tradition, die Abstammung, die Gebräuche und die politische Einheit wesentliche Faktoren sind, die zur Konstituierung der Nationalität beitragen; nach m.E. ist aber die Gemeinsamkeit von Zielen und Hoffnungen wichtiger; sie muß uns bei dem Streben nach der Bildung eines Nationalbewußtseins in Guatemala leiten."21 Hier ist schon eine Dynamisierung des nationalen Selbstverständnisses angedeutet, wenn auch noch in ganz allgemeiner Form. Trotz seines krassen Rassismus gehört dieser Text daher in die Reihe der frühen Manifestationen des Indigenismus.

20

Asturias: El problema social del indio, S. 85; diese Argumentation baute er weiter aus in einem Artikel für die Zeitung El Imparcial 1926, abgedruckt in ebenda, S. 119-125; der „Alkohol" wurde in den zwanziger Jahren zu einem häufig behandelten Thema der sozialkritischen Diskussion, vgl. z.B. J. Fernando Juárez Muñoz: Nuestros Problemas. Apuntes del Ambiente, Guatemala 1926, capítulo „El problema del Alcohol", S. 137-140. 21 Asturias: El problema social del indio, S. 36.

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Auch anderen Autoren dieser Richtung, wie z.B. dem Mexikaner Manuel Gamio, ist eine deutliche Abwertung der indianischen Kultur nachzuweisen.22 Dennoch lagen Welten zwischen der Debatte in Guatemala und Mexiko: Während die guatemaltekischen Autoren die Aufhebung der ethnischen Heterogenität für unwahrscheinlich oder ganz unmöglich hielten, sahen die Mexikaner die Indianer als „noch-nicht-Staatsbürger" an und entwickelten den Indigenismus bereits zu einem „sozialen Aktionsprogramm".23 Die literarische Rekonstruktion der indianischen Tradition wurde für Asturias bald darauf das zentrale Anliegen seines künstlerisches Lebens. Jedoch erst in den folgenden Jahren, die er ab 1924 nicht mehr in Guatemala, sondern in Paris verbrachte, fand Asturias zu seinem Stil als indigenistischer Dichter.24 Bei der Neudefinition und der Ausgestaltung des Nationalbewußtseins mußte die Frage nach der Vergangenheit naturgemäß eine große Rolle spielen. Bis in die zwanziger Jahre gab es wohl einige berühmte Geschichtsschreiber wie Lorenzo Montüfar u.a., aber keine akademische Institution, die die professionelle Aufarbeitung der Vergangenheit betreiben konnte. Deswegen wurde 1923 mit staatlicher Unterstützung die Sociedad de Geografia e Historia gegründet (später umbenannt in „Akademie" für Geographie und Geschichte). Sie setzte sich zum Ziel, zur besseren Kenntnis der Geschichte und zur Erneuerung der Geschichtsschreibung beizutragen, und pflegte dabei ein unpolitisches, pädagogischmoralisierendes Selbstverständnis ihrer Arbeit.25 Die Arbeit der Gesellschaft blieb ganz im Rahmen eines europäisch konzipierten Nationalismus. Die spanische Eroberung wurde als heldenhaftes, fortschrittliches Ereignis, ja als „Erleuchtung Amerikas" gefeiert, und ein großer Teil der Aktivitäten drehte sich um die Aufwertung der Kolonialepoche als notwendiger und weiterführender Entwicklungsetappe im Ablauf der nationalen Geschichte. Der Historiker José Antonio Villacorta verfaßte mehrere Lehrbücher in diesem Sinne, die in den Schulen und Universitäten viele Jahrzehnte im Gebrauch blieben.26

22

David A. Brading: Manuel Gamio y el indigenismo oficial en México, in: Revista Mexicana de Sociología 51 (1989), S. 267-284. 23 Vgl. Günther Maihold: Kontinuität und Wandel des indigenistischen Denkens in Mexiko, in: Ibero-Amerikanisches Archiv, N.F. 12 (1986), S. 49-71. 24 Günter W. Lorenz (Hg.): Miguel Angel Asturias, Neuwied und Berlin 1968, Vorrede S. 34 und passim. 25 Gustavo Palma Murga: Die 'Gesellschaft für Geographie und Geschichte' in Guatemala (1923-1954), in: Riekenberg: Politik und Geschichte in Argentinien und Guatemala, S. 209-218. 26 Palma Murga: 'Gesellschaft für Geographie und Geschichte', S. 214ff.

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Gerade in Guatemala war die Kolonialzeit in besonderer Weise ein Symbol vergangener Größe. Damals war Guatemala-Stadt in jeder Hinsicht die unbestrittene Hauptstadt Zentralamerikas, während die Unabhängigkeit einen empfindlichen Bedeutungsverlust mit sich brachte und eine lange Reihe verlustreicher und letztlich erfolgloser Kriege mit den Nachbarländern einleitete. Es ist darum nicht erstaunlich, daß sich ein großer Teil der nostalgischen Beschwörung der Vergangenheit auf die Ruinen der alten Hauptstadt Antigua (verlassen nach dem Erdbeben von 1773) richtete. In einer Regierungsbroschüre zur Vorstellung des Landes aus dem Jahre 1923 heißt es dazu z.B.: „Ein Bruder von Alvarado gründete 1527 die erste spanische Siedlung am Abhang des Vulkans Agua. 1541 wurde die Stadt zerstört und in das angrenzende Tal verlegt. Sie wuchs schnell und wurde schließlich die drittgrößte Stadt in der Neuen Welt, nur übertroffen von Mexiko und Lima. New York war damals ein Dorf, und Chicago existierte noch gar nicht." 27 In dieser Zeit erlebte auch die poetische Verklärung der spanischen Wurzeln inmitten der tropischen Natur eine große Blüte. In der Zeitschrift ARIEL schrieb Enrique Gömez Carrillo unter dem Titel „Unvergeßliches Guatemala": „Ah, die unvergleichliche Schönheit, die fast unwahrscheinliche Schönheit von Santiago de los Caballeros! Es ist der Garten des Kontinents, wie Rüben Dario gesagt hat. Es ist ein Garten des Traums, [...] der in immerwährendem Frühling lebt." 28 Dennoch konnte die Maya-Zivilisation bei der Neubestimmung des Nationalismus nicht ausgeklammert werden, und ihr Einbau in das vaterländische Geschichtsbild wurde trotz aller Vorbehalte unausweichlich. Ungefähr nach der Linie, die Batres Jäuregui 1894 vorgezeichnet hatte, wurde somit eine „prähispanische" Epoche der guatemaltekischen Geschichte konstruiert, häufig explizit als Parallele zum Vorbild der europäische Antike, und als klassische Hochkultur positiv bewertet. Konsens blieb freilich die „Degeneration" und die „Sterilität" der Indianer in der Kolonial- und Nationalgesellschaft. Der offensichtliche Widerspruch zur Heroisierung der Conquista wurde mit verschiedenen Kunstgriffen abgemildert: Einige Autoren bemühten sich um eine transatlantische Legitimierung der Maya-Kultur als angeblicher Teil des versunkenen Atlantis. Andere verwiesen darauf, daß die Maya-Kultur schon vor dem Eintreffen der Spanier in voller Auflösung begriffen gewesen war, der Verfall 27 28

Guatemala. Descripción General, Guatemala 1923, S. 41. Revista Ariel l,No. 13(15.9.1925), S. 290.

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also aus internen Ursachen zu erklären sei.29 Es finden sich auch romantisierende Erwähnungen des „Königreiches Quiche" und seines Widerstandes gegen die Spanier; diese Hinweise gehen bekanntermaßen auf die spanischen Eroberungsberichte selbst zurück. Die Anerkennung des legendären Prinzen „Tecün Umän" als Nationalhelden setzte sich jedoch erst viel später, im Rahmen des Indigenismus der 50er Jahre, durch.30 Die Verknüpfung der wenig geliebten Maya-Kultur mit der Definition der guatemaltekischen Nation geschah, abgesehen von der Folklore, ohne Bezug auf die lebendige Kultur der indianischen Bevölkerung. Hier machte sich vielmehr der äußere Einfluß der Archäologie und Altamerikanistik bemerkbar. Die Professionalisierung und Institutionalisierung der Maya-Forschung erlebte gerade während des Ersten Weltkrieges und der zwanziger Jahre einen spektakulären Aufschwung. In den USA wurde sie vor allem durch die Carnegie-Stiftung mit großen Mitteln ausgestattet, und bekannte Gründerfiguren wie Sylvanus G. Morley, William E. Gates, Frans Blom und andere unternahmen in diesen Jahren die systematische Erkundung der antiken Stätten und große Ausgrabungsprojekte in Mexiko und Guatemala.31 Diese Aktivitäten standen wiederum in engem Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Einfluß der USA, denn die Forscher erhielten sowohl infrastrukturelle Hilfe als auch Geldmittel von den großen Bananenkonzernen und Finanzgruppen, die in Zentralamerika tätig waren.32 Der enorme Einfluß, den die europäische und nordamerikanische Begeisterung für die alten Kulturen auf die Nationalprojekte der kleinen Länder Zentralamerikas ausübte, darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Dazu lassen sich einige Details anführen. So wurde 1922 der Nordamerikaner William E. Gates, ein höchst umstrittener Pionier der Maya-Forschung, zum Generaldirektor für Archäologie und Direktor des Nationalmuseums von Guatemala ernannt.33 Dabei sind auch materielle Interessen mitzubedenken, denn die Ausgrabungen stellten regional bedeutsame Wirtschaftsfaktoren dar, und zwischen einzelnen Forschern wurde heftig um die Erteilung von Konzessionen konkurriert.

29

Palma Murga: 'Gesellschaft für Geographie und Geschichte', S. 214. Vgl. Ricardo Castañeda Paganini: Tecúm Umán. Héroe Nacional de Guatemala, Guatemala 1956; Gabriel Angel Castañeda: Monumento a Tecún Umán, Guatemala 1965. 31 Robert L. Brunhouse: Pursuit of the Ancient Maya. Some Archeologists of Yesterday, Albuquerque 1975; ders.: Sylvanus G. Morley and the World of the Ancient Mayas, Norman 1971. 32 Vgl. z.B. die Hilfe, die Morley von der United Fruit und ihrer Niederlassung in Guatemala erhielt: Brunhouse: Sylvanus G.Morley, S. 52,155 u. 274. 33 Brunhouse: Pursuit of the Ancient Maya, S. 138ff. 30

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Die Sociedad de Geografia e Historia hatte die Pflege der nationalen Denkmäler zu ihrem Ziel erklärt, und nun fielen immer mehr berühmte Maya-Stätten unter diese Kategorie. Interessanterweise wurde bereits bei der Gründung der Gesellschaft 1923 die große Bedeutung der Nationaldenkmäler für den Tourismus unterstrichen. 34 Der Einfluß des prestigereichen Bildes von der Maya-Kultur läßt sich mit dem Beispiel des Nachbarlandes Honduras unterstreichen. In einer neuen Untersuchung stellt der Historiker Dario Euraque fest, daß sich das Selbstbild der hondurenischen Nation in den dreißiger Jahren „mayanisierte". Das ist um so bemerkenswerter, als die indianischen Traditionen der Bevölkerung von Honduras ganz überwiegend anderen Kulturen zuzurechnen sind. Selbst die berühmten Ruinen von Copän befinden sich sowohl geographisch als auch ethnisch gesehen in einer ausgesprochen peripheren Lage des Landes. 35 Doch kehren wir zur Situation in Guatemala zurück. Es war schon die Rede davon, daß sich jede Spielart des Ladinisierungskonzeptes auf das Erziehungswesen konzentrieren mußte und daß die hohen Erwartungen gerade auf diesem Gebiet gescheitert waren. Anfang der zwanziger Jahre befand sich das Schulwesen in einem erbärmlichen Zustand. Das herausragende Strukturproblem war der Mangel an Grundschullehrern und ihre fehlende Ausbildung. Nach offiziellen Angaben waren nur 445 Lehrer im ganzen Land tätig, die das einzige Lehrerseminar (Escuela Normal) besucht hatten. Sie wurden unterstützt von 2652 Hilfslehrern ohne jede Ausbildung und ohne bezahlte Stelle.36 In der Aufbruchstimmung nach 1920 gab es viele Stimmen, die auf diese Probleme hinwiesen. Auf dem Pädagogischen Kongreß von 1923 wurde u.a. gefordert, das staatsbürgerliche Niveau der Schüler zu heben; ein spezielles Seminar für die gezielte Ausbildung von Hilfslehrern (preceptores) für die Grundschulen auf dem Land zu schaffen; eine Pädagogische Hochschule (Escuela Normal Superior) zu gründen, um die Lehrerseminare mit qualifizierten Ausbildern zu versehen etc.etc. Doch fast nichts wurde davon verwirklicht, obwohl die Kaffeekonjunktur bis zum Einbruch 1929 einigen Spielraum flir die Staatsfinanzen eröffnete. 1927 war die Zahl der ausgebildeten Grundschullehrer auf 728 angestiegen,

34

Palma Murga: 'Gesellschaft flir Geographie und Geschichte', S. 212. Dario Euraque: Arqueólogos, Imperialismo y la Mayanización de Honduras: 1890-1940, Ponencia ante el Cuarto Congreso Centroamericano de Historia, Managua/Nicaragua, 14-17 Juli 1998. 36 Carlos González Orellana: Historia de la Educación en Guatemala, 4a. edición, Guatemala 1987, S. 340; vgl. a. Karlen: Das Ubico-Regime in Guatemala, S. 31 lff. 35

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ansonsten war alles beim alten geblieben. 37 Gerade auf dem Gebiet der Grundschulerziehung ist der große Unterschied zu Mexiko hervorzuheben, wo sich in den zwanziger Jahren eine breite Mobilisierung und Institutionalisierung auf dem Land vollzog. 38 In Guatemala erreichte eine Gruppe von studentischen Aktivisten 1922 die Gründung einer „Volksuniversität" {Universidad Popular), die bis zur Schließung durch den Diktator Ubico 1932 existierte. Sie hatte sich die Alphabetisierung und die Formation einer „nationalen Seele" zum Programm gemacht, konnte aber nur eine begrenzte Wirksamkeit in der Hauptstadt entfalten. 39 Die Unzufriedenheit der Lehrerschaft war weit verbreitet, aber völlig folgenlos. Eine Gruppe am Lehrerseminar veröffentlichte 1926 ein Manifest der Normalistas, das in feierlichen Worten davon sprach, daß die Escuela Normal dazu aufgerufen sei, „alle sozialen Probleme des Vaterlandes" zu lösen. „Wenn die Lehrerschaft vom Staat als der höchste aller Berufe anerkannt wird und wenn das Saatbeet, das Escuela Normal heißt, an die erste Stelle, noch vor den übrigen Zentren der Kultur, gerückt wird, erst dann werden wir WIRKLICHE LEHRER haben und als Konsequenz ein WIRKLICHES VATERLAND." 40 Die meisten Vertreter der sogenannten „Generation von 1920" sammelten sich 1926 im Partido Progresista und unterstützten die Präsidentschaftskandidatur von Jorge Ubico, dem späteren Diktator. Ubico galt zu diesem Zeitpunkt als unbestechlicher und effizienter Administrator. Aber er machte, nicht ohne chauvinistische Untertöne, aus seiner gründlichen Ablehnung Mexikos keinen Hehl. Damit war für alle deutlich, daß er die Politik von Calles ablehnte - und damit den ökonomischen Nationalismus, die „soziale Agitation" und die Erziehungsreform. 4 ' Einer der aktiven Pädagogen zu dieser Zeit war Juan José Arévalo, der später (1945) zum Staatspräsident gewählt wurde. Auch er unterstützte 1926 Ubico und den „Progressismus". Doch ein Besuch in Mexiko und seine Begeisterung für die Politik von Calles brachte ihn auf die Suche nach dem, was er schon damals den

37

González Orelllana: Historia de la Educación en Guatemala, S. 339-347. Vgl. dazu jetzt Marianne Braig: Frauen als Vermittlerinnen zwischen der Nation und der 'Welt der Dörfer' - Lehrerinnen im postrevolutionären Mexiko, in: Hispanorama 81 (1998), S. 12-27. 3 ' Espamindonas Quintana: La Generación de 1920, Guatemala 1971, S. 601f. 40 Juan José Arévalo: La Inquietud Normalista. Estampas de Adolescencia y Juventud, 19211927, San Salvador 1970, S. 135f. 41 Arévalo: La Inquietud Normalista, S. 262. 38

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„Lateinamerikanischen Sozialismus" nannte. In dem Artikel La nación mejicana y los problemas de educación lobte er die systematische Einbeziehung der mexikanischen Indianer in die Lehrerausbildung und ihre Berufstätigkeit in den Heimatdörfern. Damit formulierte er von der reformpädagogischen Seite her ein zentrales Ziel des Indigenismus, die Induktion von Kulturwandel durch Erziehung. 1927 gewann Arévalo eines von zwei Regierungsstipendien zum Universitätsstudium im Ausland. Er ging damit nach Argentinien, und der genannte Artikel erschien bereits in Buenos Aires. 1931 kehrte er noch einmal nach Guatemala zurück, um an der inzwischen gegründeten Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften der Universidad Nacional zu lehren. Doch als die Regierung Ubico eingriff und die Fakultät wieder schloß, ging er zurück nach Buenos Aires, wo er in freiwilligem Exil bis zu seiner Rückkehr 1945 lebte. 42 Zu den politischen Veränderungen in den zwanziger Jahren gehörte auch das Auftauchen des Kommunismus. Die 1923 gegründete Partei war klein, stellte aber im Gegensatz zu den caudillistischen Wahlvereinen ein neues Element der politischen Kultur dar. Ihr Eintreten für die soziale Revolution, den AntiImperialismus und die nationale Befreiung schuf ein relevantes Potential für die Weiterentwicklung des Nationalismus. Obwohl die Partei hauptsächlich in der Gewerkschaftsbewegung aktiv war, ergaben sich in der Zeit vor der radikalen Linkswendung 1929/30 einige Querverbindungen zu den radikalen Studenten und nationalistischen Aktivitäten des Anti-Imperialismus in Zentralamerika. 43 Ein Blick auf ihre Äußerungen zur Indianerfrage zeigt jedoch, daß die Arbeiterführer nicht über den Rand ihres städtisch-ladinischen Milieus hinausblickten. Auf der lateinamerikanischen Konferenz der Kommunistischen Parteien in Buenos Aires (1929), die immerhin die Indianerfrage ausfuhrlich behandelte und das Prinzip der Selbstbestimmung für die indianischen Völker bejahte, tat sich der guatemaltekische Delegierte Villagrán durch völliges Unverständnis hervor. Er stellte fest, daß die Indianer in seinem Land 75% der Gesamtbevölkerung ausmachten, daß sie ihre „primitive Lebensart", ihre Sprache und ihre Gebräuche

42

Juan José Arévalo: La nación mejicana y los problemas de la educación, in: Escritos Pedagógicos y Filosóficos, Guatemala 1945, S. 47-57; González Orellana: Historia de la Educación en Guatemala, S. 347 u. 357. 43 Arturo Taracena Arrióla: El primer Partido Comunista de Guatemala (1922-1932). Diez años de una historia nacional olvidada, in: Araucaria de Chile 27 (1984), S. 71-91; vgl. a. Antonio Obando Sánchez: Memorias. La historia del movimiento obrero en Guatemala en este siglo, Guatemala 1978.

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beibehalten hätten, daß sie ein soziales Potential für die Klerikalen darstellten und daß die Partei unter ihnen nicht Fuß fassen könne. 44 Die Dynamik der Weltwirtschaftskrise brachte dann die Kommunisten erstmals mit den Landarbeitern in Fühlung. Doch bevor sich das politisch auswirken konnte, machte die Repression des Ubico-Regimes mit dem kleinen Kern der Organisation kurzen Prozeß. 45 Am Ende des hier behandelten Jahrzehnts verrannte sich die Diskussion in Guatemala immer wieder in die gleichen Aporien. Die allgemeine Perspektivlosigkeit spiegelte sich deutlich in dem Buch El libro del ciudadano von Horacio Espinosa Altamirano, das 1930 veröffentlicht wurde und der „zentralamerikanischen Jugend" gewidmet war 4 6 Espinosa war von der Richtung des sogenannten Civismo beeinflußt, der die Ideale des Modernismus mit der staatsbürgerlichen Aufklärung der Massen verbinden und die oligarchische Stagnation der Gesellschaft aufbrechen wollte. Durch die Studentenbewegung und die Opposition gegen den nordamerikanischen Imperialismus erfuhr diese Richtung in den zwanziger Jahren eine starke Politisierung; wichtige Vertreter des Civismo in Zentralamerika - wie Alberto Masferrer in El Salvador, Froylän Turcios in Honduras und Joaquin Garcia Monge in Costa Rica - schlössen sich darum zeitweilig der APRA an. In den anderen Ländern Zentralamerikas, die in diesen Jahren ihr mestizisches Selbstbild festigten, bildete der Civismo eine Art reformistischen Grundkonsens unter den wenigen Intellektuellen, auch wenn von einer Umsetzung in die Praxis nicht die Rede sein konnte. In Guatemala stieß er aber auf das Problem des ethnischen Widerspruchs. Espinosa hielt in seinem Buch den Erneuerungsanspruch von 1920 aufrecht, und in seinem Appell zur nationalen Entwicklungsanstrengung war er mit anderen Zentralamerikanern seiner Zeit ganz einig: „In der Lage, in der wir uns jetzt befinden: desorganisiert, analphabetisch, gebeugt vom Pessimismus, sind wir eine leichte Beute, ja sind wir der Absorption [d.h. durch Eroberer aus dem Norden] geradezu ausgesetzt." 47 Nüchtern ist auch die Feststellung, daß die so notwendige Erziehungsreform bisher kläglich gescheitert sei. Die allgemeine Ratlosigkeit sei nur durch eine vorwärtsdrängende, 44

Primera Conferencia Comunista Latinoamericana. El Movimiento Revolucionario Latinoamericano, La Correspondencia Sudamericana, Sonderheft, Buenos Aires 1929, S. 308f. 45 Karlen: Das Ubico-Regime in Guatemala, S. 361-7. 46 Horacio Espinosa Altamirano: El Libro del Ciudadano. Doctrinas Jurídicas Contemporáneas, Guatemala 1930. 47 Espinosa: El Libro del ciudadano, S. 9-28, hier: S. 11 ; Erklärung in der Klammer hingefugt.

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Orientierung schaffende Soziologie zu erreichen. Die soziologischen Kenntnisse über die einheimische Bevölkerung seien aber kaum über erste Anfänge hinaus gediehen. Bei der Herleitung der Krise aus dem „rassischen" Erbe brach jedoch die typisch guatemaltekische Perspektivlosigkeit hervor: Der „kühne und abenteuernde Spanier" sei auf die tropischen Indios getroffen, die immer ein „apathisches Leben" (indolencia) geführt hätten; das fatale Resultat sei die landestypische Kombination von Faulheit, Traurigkeit und Arroganz, verschärft durch den verhängnisvollen Einfluß des tropischen Klimas. Durch die Kolonisation „entstand ein außerordentliches ethnisches Ungleichgewicht; einer Minderheit weißer Rasse stand eine überwältigende Mehrheit autochthoner Rassen gegenüber, und dazwischen entstand ein neues Produkt, die Hispanoamerikaner, die aus dem gewaltsamen Zusammenprall der Weißen und Indianer hervorgingen und darum von einem entsprechenden psychologischen Ungleichgewicht gekennzeichnet waren." 48 Das Erstaunliche an diesem Buch ist nicht die Ausgrenzung des indianischen Elements, das als solches gar nicht ernstgenommen wird. Es ist die massive Ablehnung der Mestizisierungsperspektive. 49 Unter diesen Voraussetzungen führte sich das Bekenntnis zu einem sozialen Wandel durch staatsbürgerliche Erziehung selbst ad absurdum. Trotz der allgemein geäußerten Hoffnung auf die „Hispanoamerikanische Rasse" blieb Espinosa damit in den Grenzen eines europäisch definierten Nationalismus. Folgerichtig stellte er darum auch nicht Mexiko, sondern das von der europäischen Einwanderung dominierte Uruguay als leuchtendes Beispiel der nationalen Erneuerung heraus. 50 Schließlich entstand 1931 nicht nur eine neue Militärdiktatur unter General Ubico, der die meisten Diskussionen durch Repression und Zensur beendete. Mit den sozialen Folgen der Wirtschaftskrise wuchs auch die alte Furcht vor indianischen Aufständen wieder. Erste Zeichen der Unruhe 1930 und 1931 wurden mit militärischer Härte unterdrückt. Das Beispiel des Nachbarlandes El Salvador, wo 1932 ein kommunistischer Aufstandsplan eine indianisch geprägte Bauernrebellion auslöste, schien die Befürchtungen dramatisch zu bestätigen. Hier liegen die Anfänge jener unseligen Verknüpfung von Antikommunismus und Furcht vor indianischen Rebellionen, die die staatliche Politik in Guatemala bis in die jüngste Zeit so gewalttätig gemacht hat.

48 49 50

Ebenda, S. 9 und 26. S. dazu Casáus: El Pensamiento Racial, S. 13-6. Espinosa: El Libro del ciudadano, S. 15-8.

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Doch während der Diktator Hernández Martínez in El Salvador eine Welle der Gewalt gegen die letzten Indianer seines Landes auslöste und somit das ethnische Problem mit dem Schwert „löste", hütete sich Ubico, das gleiche in Guatemala zu tun. Er trug nach Kräften zur Aufrechterhaltung der ethnischen Teilung Guatemalas bei. Er schloß die Lehrerseminare in Cobán, Jalapa und San Marcos und ließ die letzten Reste des Grundschulwesens auf dem Lande verkümmern.51 Unter seiner Regierung wurde die Selbstverwaltung der indianischen Dörfer eingeschränkt und von Staats wegen ladinische Intendentes eingesetzt. Andererseits legte Ubico viel Wert auf Gesten des Wohlwollens gegenüber den indianischen Dorfgemeinschaften. „Er erkannte in den ruralen Massen als erster einen politischen Machtfaktor und bemühte sich, die Indios systematisch zur Stärkung seiner Position heranzuziehen." Ubico pflegte also mit einem gewissen Erfolg gerade bei ihnen das Bild des paternalistischen Beschützers. Obwohl von „indianischer Unterstützung" für ihn generell nicht die Rede sein konnte, zeigten sich einzelne Dörfer und Gruppen durchaus empfanglich für eine Politik der symbolischen Gesten. Es entwickelte sich sogar eine servile Form des Indigenismus, die die Aufrechterhaltung des ethnischen Unterschieds legitimierte.52 *

Der Sturz Ubicos 1944 leitete die Reformperiode unter Arévalo und Arbenz ein und brachte eine deutliche Wende auf dem Gebiet der ethnischen Beziehungen. Nun kam eine neue Generation von Reformern aus der städtischen Mittelklasse an die Regierung. Die Debatte der ethnischen Frage knüpfte an die zwanziger Jahre wieder an, gewann jedoch durch ihren Praxisbezug und die veränderte politische Situation ganz neue Aspekte. Unter dem Motto „Abschaffung des Feudalismus" unternahm die Regierung von Arévalo nun ernsthafte Anstrengungen, die Erziehungsinstitutionen auf das Land auszudehnen und auch die indianische Bevölkerung an die nationale Politik heranzuführen. Von symbolischer Bedeutung waren z.B. die „mobilen Kulturmissionen" {misiones ambulantes de cultura), die die Ideen der Revolution und die Nationalkultur in die Dörfer tragen sollten.53 Das negative Kontrastdenken über „den Indianer", das im Grunde auf der Unkenntnis der indianischen Realität beruhte, mußte sich endlich als dysfunktional erweisen. Darum wurde im September 1945 ein „Indigenistisches Institut" 51

González Orellana: Historia de la Educación en Guatemala, S. 359f.; vgl. a. Karlen: Das Ubico-Regime in Guatemala, S. 311-9. 52 Ebenda, S. 285-297, hier: 288 und 291. 53 Jim Handy: The Coporate Community, Campesino Organizations, and Agrarian Reform: 1950-1954, in: Smith: Guatemalan Indians and the State, S. 163-168.

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(Instituto Indigenista Nacional) gegründet, zu dessen Direktor der in den USA ausgebildete Sozialanthropologe Antonio Goubaud Carrera berufen wurde. Aus seiner Eröffnungsrede ging hervor, daß sich der Indigenismus jetzt mit den Argumenten des Kulturrelativismus wappnete und den Anspruch auf Mitgestaltung der Sozialpolitik erhob. Der politische Einfluß des Instituts blieb gering, aber es war das erste Zentrum des Landes, das die wissenschaftliche Erforschung der indianischen Kultur in seriöser Weise in Angriff nahm. 54 Es mag den Anschein haben, als sei Guatemala nun doch noch auf „mexikanische Verhältnisse" und damit auf eine Akkulturation im Zeichen der Mestizisierung eingeschwenkt. Der Vorbildcharakter Mexikos für die Reformer von 1945 war deutlich, aber die soziale Realität in Guatemala war eine andere. Die Folgen der jahrzehntelangen Ethnisierung sozialer Konflikte waren keineswegs leicht und schnell zu überwinden. In einer neueren Studie hat Richard Adams herausgearbeitet, daß dieses Konfliktpotential bereits in massiver Weise die Übergangszeit zur Reformperiode überschattete. Nach dem Rücktritt Ubicos blieb sein Statthalter General Ponce Vaides noch drei Monate an der Regierung. Als General Ponce aus machttaktischen und demagogischen Gründen die Verteilung von Land versprach, führte diese Ankündigung zu einer spontanen Mobilisierung von indianischen Gruppen. Es kam zu Landbesetzungen und lokalen Rebellionen in der Provinz, in der Folge auch zu gewalttätigen Konfrontationen und sogar zu Massakern. Die Nachrichten davon lösten in der städtischen Oppositionsbewegung große Angst davor aus, daß die indianische Bevölkerung als Potential reaktionärer Politik eingesetzt werden könnte. 55 Die Folgen für die kommenden Jahre waren durchaus widersprüchlich. Die indianische Frage war damit gleich am Anfang der Reformperiode ins politische Bewußtsein gedrungen. Die Form, in der sie diskutiert wurde, war aber auch belastet von der Verstärkung des gegenseitigen Mißtrauens, der Angst der Ladinos vor indianischen Aufständen und all den stereotypen Wahrnehmungsformen, die damit einhergingen. Das ethnische Dilemma des creolischen Nationalismus bestand weiter. Es belastete auch die soziale Reform, die dann unter Präsident Arbenz in so eindrucksvoller Weise in Angriff genommen wurde.

54

Antonio Goubaud Carrera: Indigenismo en Guatemala, Prólogo por David Vela, Guatemala 1964. 55 Richard N. Adams: Ethnic Images and Strategies in 1944, in: Smith: Guatemalan Indians and the State, S. 141-162.