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German Pages [344] Year 2013
LATEINAMERIKANISCHE FORSCHUNGEN Beihefte zum Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas
Herausgegeben von
Thomas Duve, Silke Hensel, Ulrich Mücke, Renate Pieper, Barbara Potthast Begründet von
Richard Konetzke (†) und Hermann Kellenbenz (†) Fortgeführt von
Günter Kahle (†), Hans-Joachim König, Horst Pietschmann, Hans Pohl, Peer Schmidt (†)
Band 42
Die Hauptstadt Lateinamerikas Eine Geschichte der Lateinamerikaner im Paris der Dritten Republik (1870–1940)
von
Jens Streckert
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung sowie der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Looking through Eiffel Tower to the Trocadero and Colonial Section, Exposition 1900, Paris, France. © by Underwood & Underwood (Library of Congress, Prints and Photographs Division, Washington D.C. 20540, USA: LC-USZ62-120011)
© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-21049-6
Inhalt Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen ..................................................................7 Abkürzungs- und Sigelverzeichnis...................................................................................8 Vorwort................................................................................................................................9 Einleitung...........................................................................................................................13 1. Paris in Lateinamerika. Lateinamerika in Paris ..................................................13 2. Forschungsstand .....................................................................................................18 3. Fragestellung............................................................................................................22 4. Quellen .....................................................................................................................27 5. Aufbau der Arbeit...................................................................................................28 I. Statistik ...........................................................................................................................30 Vorbemerkung: Das statistische Material ...............................................................30 1. Anzahl.......................................................................................................................34 2. Nationale Zusammensetzung ...............................................................................50 3. Alter und Geschlecht .............................................................................................56 4. Sozialstruktur...........................................................................................................64 5. Wohngegenden in Paris .........................................................................................68 6. Zwischenergebnis ...................................................................................................75 II. Personen.......................................................................................................................79 1. Intellektuelle.............................................................................................................79 1.1. Schriftsteller und Diplomaten.......................................................................79 1.2. Journalisten ......................................................................................................98 1.3. Übersetzer, Korrektoren, Lexikografen ....................................................108 1.4. Künstler ..........................................................................................................113 1.5. Studenten........................................................................................................122 2. Oberschicht............................................................................................................127 2.1. Die kreolische Elite und das Vergnügen von Paris.................................127 2.2. Ein eigenes Geschäftsleben auf der Rive Droite.....................................139 2.3. Die Oligarchen der Champs-Élysées.........................................................143 2.4. Die lateinamerikanischen Tycoons von Paris im Urteil der Zeitgenossen .................................................................................................149 3. Politische Aktivisten.............................................................................................158 3.1. Die lateinamerikanische Opposition in Paris ...........................................158
3.2. Letzte Zuflucht Paris: Staatsoberhäupter im Exil................................... 165 3.3. Die Stadt als Bühne politischer Auseinandersetzungen ........................ 173 4. Zwischenergebnis................................................................................................. 178 Exkurs: Kontakte zwischen Lateinamerikanern und Franzosen in Paris, 18701940.................................................................................................................................. 182 1. Der „Rastaquouère“ ............................................................................................ 182 2. Die platonischen Liebhaber Frankreichs ......................................................... 189 3. Offizielle Kontaktforen in Paris: GUGEF (1908), CFA (1909) und PAL (1925) ................................................................................................................ 192 III. Aktivitäten................................................................................................................ 200 1. Vereine................................................................................................................... 200 1.1. Politische Vereinigungen ............................................................................ 200 1.2. Kulturelle Vereinigungen............................................................................ 219 1.3. Wirtschaftliche Vereinigungen................................................................... 227 2. Feste ....................................................................................................................... 232 2.1. Gedenkfeiern ................................................................................................ 232 2.2. Einweihungsfeiern ....................................................................................... 241 2.3. Nationalfeiertage .......................................................................................... 253 3. Zeitungen .............................................................................................................. 260 3.1. Lateinamerikanische Importzeitungen in Paris vor 1870...................... 260 3.2. Die lateinamerikanische Zeitungslandschaft im Paris der Dritten Republik ........................................................................................................ 261 4. Zwischenergebnis................................................................................................. 298 Schlussbetrachtung: Die Newtonscheibe .................................................................. 302 Quellen- und Literaturverzeichnis .............................................................................. 309 1. Quellen................................................................................................................... 309 1.1. Unveröffentlichte Quellen.......................................................................... 309 1.2. Veröffentlichte Quellen .............................................................................. 311 2. Literatur ................................................................................................................. 324
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Tabellen 1. Nationale Zusammensetzung der lateinamerikanischen Gemeinde im Departement Seine, 1920-1937...........................................................................55 2. Altersstruktur der Lateinamerikaner in Paris, 1901 und 1911.............................61 3. Anzahl der Lateinamerikaner in Paris nach Arrondissements, 1891, 1901, 1926..........................................................................................................69
Abbildungen 1. Anzahl der Lateinamerikaner in Paris, 1870-1914.................................................40 2. Anzahl der Lateinamerikaner im Departement Seine, 1918-1940......................50 3. Geschlechterverteilung der Lateinamerikaner im Departement Seine, 1926-1937 .....................................................................................................................60 4. Verteilung der lateinamerikanischen Gemeinde im Pariser Stadtgebiet, 1891, 1901, 1926..........................................................................................................78 5. Fenster der heiligen Rosa von Lima in der Kirche Saint-Honoré d’Eylau (Ausschnitt), Paris, XVI. Arr. .................................................................................154
Abkürzungs- und Sigelverzeichnis
Arr. ANF AP APPP BNF s. d. s. ed. s. l. s. n. s. p. s. t. v. T.
Arrondissement Archives Nationales de France, Paris Archives de Paris, Paris Archives de la Préfecture de Police de Paris, Paris Bibliothèque Nationale de France, Paris (Site François Mitterand) sine dato (ohne Erscheinungsjahr) sine editore (ohne Verlag) sine loco (ohne Erscheinungsort) sine numero (ohne Nummer) sine pagina (ohne Seite) sine titulo (ohne Titel) vom Tausend
Vorwort
Die vorliegende Studie wurde im April 2011 vom Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung habe ich sie geringfügig überarbeitet. Dass der Leser meine Arbeit als fertiges Buch in Händen hält, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit gegenüber all denjenigen, die mich während der Promotionsphase unterstützt haben. Hier ist an erster Stelle Prof. Dr. Ulrich Mücke (Hamburg) zu nennen, der die Untersuchung als Doktorvater betreute. Ihm verdanke ich über die Jahre eine Fülle von Anregungen, Ratschlägen und viele Stunden wertvoller Diskussionen, die letztlich mehr als nur den Fortgang einer Forschungsarbeit beeinflussten. Vermutlich hätte ich bei einem anderen akademischen Lehrer nicht die Gelegenheit gehabt, lateinamerikanische Geschichte in einer der schönsten Metropolen Europas zu erforschen und auch mein persönlicher Lebensweg wäre kaum von Göttingen über Hamburg nach Paris verlaufen. Weitere wichtige Aufschlüsse zum Potenzial der zumindest aus deutscher Sicht ungewöhnlichen Verbindung von Lateinamerika und Frankreich erhielt ich von Prof. Dr. Matthias Middell (Leipzig) und Prof. Dr. Angelika Schaser (Hamburg). In finanzieller Hinsicht gilt mein Dank zunächst der Gerda Henkel Stiftung (Düsseldorf), von der ich ein Promotionsstipendium bekam. Ferner unterstützte sie meine Forschungsaufenthalte in Paris durch großzügige Auslandszulagen und übernahm den größten Teil der Druckkosten dieser Publikation. Weitere Mittel hierzu steuerte die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung (Hamburg) bei. Eine Förderung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius (Hamburg) ermöglichte mir schließlich die Teilnahme an der Sommerakademie „History Takes Place – Urban Change in Europe“ im Jahr 2010 in Paris. Hier hatte ich zwei Wochen lang Gelegenheit, meine Forschungsergebnisse in einem internationalen Kreis von Doktoranden und Nachwuchswissenschaftlern zu diskutieren und meiner Arbeit ein noch umfassenderes Bild der Pariser Stadtgeschichte zugrunde zu legen. Abschließend war das Herausgebergremium des Jahrbuchs für Geschichte Lateinamerikas so freundlich, die Studie als eines ihrer Beihefte in die traditionsreiche Reihe der „Lateinamerikanischen Forschungen“ aufzunehmen. Allen genannten Personen und Einrichtungen gilt mein herzlicher Dank für die entgegengebrachte Unterstützung, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre. Es versteht sich von selbst, dass die Verantwortung für alle in der Arbeit verbleibenden Fehler und Irrtümer allein bei mir liegt. Paris, im August 2012
Jens Streckert
Contrabando Os alfandegueiros de Santos Examinaram minhas malas Minhas roupas Mas se esqueceram de ver Que eu trazia no coração Uma saudade feliz De Paris
Oswald de Andrade: Pau Brasil. Cancioneiro de Oswald de Andrade. Paris: Sans Pareil, 1925.
Einleitung
1. Paris in Lateinamerika. Lateinamerika in Paris Im Dezember 1936 traf mit Marcel Peyrouton (1887-1983) der letzte Botschafter der Dritten französischen Republik in Buenos Aires ein.1 Nach mehreren Jahren als Generalresident der nordafrikanischen Protektorate Tunesien und Marokko war der Diplomat bei seiner Ankunft in Argentinien umso erstaunter, gerade am Río de la Plata – fernab des französischen Kolonialreichs – überall Spuren seiner Heimatstadt Paris vorzufinden:2 Buenos-Aires, sous la poussée de l’évolution, prend figure de ville américaine, et cependant, l’âme en est latine, noblement, plus encore: française et même parisienne. Peu de capitales au monde donnent au Français cette impression si émouvante en voyage de se retrouver chez soi, malgré les kilomètres, par milliers accumulés. Nul dépaysement pour nous à Buenos-Aires. La culture y est, y était jusqu’à ce jour, française uniquement. L’élite séjournait en France la moitié de l’année, tout imprégnée de nos idées, de notre sensibilité. Ses membres, souvent élevés dans des collèges en France, ou dans des écoles dirigées sur place par des maîtres français, parlaient notre langue avec une pureté, une propriété de termes qu’il serait souhaitable d’entendre chez tous nos compatriotes. […] Les classes libérales, moins voyageuses […], se formaient aux disciplines françaises, connaissent nos auteurs. Nos classiques, les encyclopédistes, étaient leurs maîtres. Il m’est arrivé de rencontrer des escribanos, notaires de canton, qui me montraient avec orgueil et une sorte de reconnaissance, les œuvres de Voltaire, de Montesquieu, de Rousseau. […] La révolution française leur était maternelle.
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Vgl. „Dans les ambassades“, in: Le Figaro, Paris, Nr. 350, 15. Dezember 1936, S. 2. Im Folgenden werden, soweit möglich, bei der Ersterwähnung einer Person deren Lebensdaten genannt. Fehlende oder widersprüchliche biografische Informationen sind mit Fragezeichen kenntlich gemacht. Sofern nicht anders angegeben, stammen sämtliche Angaben aus HERRERO MEDIAVILLA, Victor (Hg.): Indice Biográfico de España, Portugal e Iberoamérica. Indice Biográfio de Espanha, Portugal e Ibero-America. Spanish, Portuguese and Latin-American Biographical Index. Spanischer, Portugiesischer und Iberoamerikanischer Biographischer Index. 10 Bde. 4., kum. u. erw. Aufl., München: Saur, 2007 oder PREVOST, Michel, Roman d’AMAT, Jules BALTEAU, Marius BARROUX und Roger LIMOUZIN-LAMOTHE (Hgg.): Dictionnaire de biographie française. 20 Bde. Paris: Letouzey et Ané, 1933ff. PEYROUTON, Marcel: Du service public à la prison commune: Souvenirs. Tunis – Rabat – Buenos Aires – Vichy – Alger – Fresnes. Paris: Plon, 1950, S. 59f. Der Titel der Autobiografie rührt von der Tatsache, dass Peyrouton 1940/41 den Kabinetten Laval und Darlan als Innenminister angehörte und daraufhin 1943 als Kollaborateur verurteilt wurde. Während einer fünfjährigen Haftstrafe verfasste er seine Erinnerungen.
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Einleitung
Diese Allgegenwart französischer und insbesondere Pariser Vorbilder wird auch aus den Erinnerungen und Reiseberichten vieler anderer Europäer aus dem Lateinamerika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts deutlich. Aus der Feder des britischen Botschafters Horace Rumbold (1829-1913) stammen beispielsweise Beschreibungen von Santiago de Chile, wo der Brite während der 1870er Jahre „longues rues tranquilles, composées de maisons particulières, la plupart construites sur le modèle du petit hôtel parisien”3 durchquerte und dabei „équipages qui figureraient avec avantage au Bois de Boulogne (les modèles de l’élégance chilienne étant tous français)“4 beobachtete. Lateinamerikareisende wie der französische Gelehrte Henry Coppin5 und der deutsche Journalist Hugo Zöller (1852-1933) bestätigten Ende des 19. Jahrhunderts diese Eindrücke nicht allein für Argentinien und Chile, sondern machten ähnliche Erfahrungen in Uruguay, Paraguay, Peru, Ecuador, Kolumbien und Brasilien, wo sie allerorts eine Adaption französischen Lebensstils durch die kreolischen Eliten feststellten. Beide registrierten den massenhaften Import von in Paris gedruckten Büchern und Zeitungen, von Wein, Parfum und weiteren französischen Luxusartikeln sowie eine Übernahme von Pariser Kleidung, Sitten und Salonleben durch die lokalen Oberschichten. Imitationen des Pariser Vorbilds waren dabei bis in die Architektur und Stadtplanung lateinamerikanischer Metropolen unübersehbar.6 So beschrieb Zöller die Kathedrale von Buenos Aires als Kopie der Pariser Madeleine und Coppin den chilenischen Nationalkongress als getreues Abbild des Palais Bourbon. Ferner fühlten sich beide durch Straßenzüge in Montevideo und Lima an Rue de Rivoli und Champs-Élysées erinnert. Hier flanierten reiche Kreolinnen in eleganten Pariser Toiletten und städtische Honoratioren unternahmen ihre Spazierfahrten in den gleichen Kutschen wie die mon-
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RUMBOLD, Horace: Le Chili: Rapport sur le progrès et la condition générale de la République. Paris: Typographie Lahure, 1877, S. 45. Ebd. Über Coppin ist lediglich bekannt, dass er Mitglied der Pariser Société de Géographie war und während der 1880er Jahre Südamerika bereiste. Vgl. KIRCHHEIMER, Jean-Georges: Voyageurs francophones en Amérique hispanique au cours du XIXe siècle: répertoire bio-bibliographique. Paris: Bibliothèque Nationale, 1987. Zugl. Diss., Univ. Paris X – Nanterre, 1984, S. 54. Die Spuren von Paris im Stadtbild lateinamerikanischer Metropolen sind bis heute sichtbar. Zu Rio de Janeiro vgl. NEEDELL, Jeffrey D.: „Rio de Janeiro at the Turn of the Century: Modernization and the Parisian Ideal“, in: Journal of Interamerican Studies and World Affairs 25 (1983), S. 83-103; NEEDELL, Jeffrey D.: A Tropical Belle Epoque: Elite Culture and Society in Turn-of-the-century Rio de Janeiro. Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1987 (Cambridge Latin American Studies; 62), S. 28-51; zu Buenos Aires vgl. SCOBIE, James R.: Buenos Aires: Plaza to Suburb, 1870-1910. New York, NY: Oxford University Press, 1974, S. 34-41; zu Santiago de Chile vgl. VICUÑA URRUTIA, Manuel: El París americano: la oligarquía chilena como actor urbano en el siglo XIX. Santiago de Chile: Universidad Finis Terrae, 1996, S. 105120.
1. Paris in Lateinamerika. Lateinamerika in Paris
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däne Gesellschaft von Paris. Vergleichbare Beobachtungen notierten Coppin und Zöller in allen besuchten Ländern.7 Eine ähnlich große Frankophilie begegnete auch Baron Albert François d’Anthouard (1861-1944), dem französischen Botschafter in Rio de Janeiro. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs erklärte er Frankreich daher zum natürlichen Land aller brasilianischen Träume:8 Le Brésilien éprouve pour la culture française un attrait puissant qu’aucun autre n’égale; il suit avec la plus vive sympathie notre mouvement intellectuel, lit et connaît tous nos auteurs; il est également sensible à notre production artistique. Enfin la France est le pays vers lequel vont tous ses rêves, le pays du bien-être et du plaisir, de l’élégance et du luxe, des idées nouvelles, des grandes découvertes, des savants, des artistes, des philosophes.
Wenngleich die angeführten Beispiele allesamt der Zeit nach 1870 entstammen, war die große Begeisterung der lateinamerikanischen Eliten für Frankreich nicht erst ein Produkt der Dritten Republik. Die Ursprünge der geschilderten Faszination reichen vielmehr in das Zeitalter von Aufklärung und Französischer Revolution zurück und manifestierten sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts, als Frankreich während der Unabhängigkeitsrevolutionen Lateinamerikas und dem anschließenden Prozess der Staatenbildung zum unumstrittenen politischen und kulturellen Vorbild des gesamten Kontinents emporstieg. Grund dieser Entwicklung war die Ähnlichkeit der Ausgangslagen in Frankreich und auf der Iberischen Halbinsel Ende des 18. Jahrhunderts. Beiderseits der Pyrenäen hatten bis dahin Könige in absoluten katholischen Monarchien geherrscht. Nach der Unabhängigkeit von Spanien und Portugal stellten sich daher in Lateinamerika vergleichbare Fragen wie im revolutionären Frankreich wenige Jahrzehnte zuvor: Wie sollte ein künftiger Staat ohne König und ohne die Vorrechte von Adel und Kirche organisiert sein? Wie war der neue Souverän – die Nation – zu beschreiben und wie konnte er seinen Willen artikulieren?9 7
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Vgl. ZÖLLER, Hugo: Pampas und Anden: Sitten- u. Kulturschilderungen aus dem spanischsprechenden Südamerika mit besonderer Berücksichtigung des Deutschtums. Berlin u.a.: Spemann, 1884, S. 3134, 125-134, 207, 306; COPPIN, Henry: Quatre républiques de l’Amérique du sud. Paris: Dentu, 1890, S. 66f., 87, 122f., 297-304. ANTHOUARD, Albert François Ildefonso d’: Le progrès brésilien: la participation de la France. Étude sociale, économique et financière. Paris: Plon, 1911, S. 375. Zu den Auswirkungen der Französischen Revolution in Spanien, Neuspanien, Portugal und Brasilien vgl. GUERRA, François-Xavier: „Introduction“, in: La Révolution française, la Péninsule Ibérique et l’Amérique latine. Paris: Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine, 1989 (Collection des publications de la BDIC/Colección Encuentros), S. 15-17; BURNS, Edward Bradford: „Introducción“, in: MANIQUIS, Robert M., Oscar R. MARTÍ und Joseph PÉREZ (Hgg.): La Revolución Francesa y el mundo ibérico. Madrid: Turner Publicaciones, 1989 (Colección Encuentros: Serie Textos), S. 11-17; BONILLA, Heráclio: „O Impacto da Revolução Francesa nos Movimentos de Independência da América Latina“, in: COGGIOLA, Osvaldo (Hg.): A Revolução Francesa e seu impacto na América Latina. São Paulo: Nova Stella, 1990, S. 151-157; MÜCKE, Ulrich: „Die politische Kultur Lateinamerikas im 19. Jahrhundert“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59:12 (2008), S. 687-691; MÜCKE, Ulrich:
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Einleitung
Dabei versteht es sich von selbst, dass die Französische Revolution aufgrund ihrer Gewaltexzesse genau wie in Europa auch in Lateinamerika nicht nur Befürworter fand. Insbesondere die Übertragung der revolutionären Gewalt auf den kolonialen Kontext Haitis, wo soziale, politische und wirtschaftliche Strukturen unter Eliminierung alles Europäischen zerschlagen worden waren, lehnten die Träger der Unabhängigkeitsbewegungen in anderen lateinamerikanischen Staaten entschieden ab. Gerade weil sich auch einzelne Sklaven- und Arbeiteraufstände in Venezuela, Neugranada und Brasilien auf das Vorbild Haitis beriefen, galt das Beispiel der ersten unabhängigen Republik von Schwarzen und Mulatten im Jahr 1804 den kreolischen Eliten Süd- und Mittelamerikas als Alptraum einer Revolution. Für sie beschränkte sich der Unabhängigkeitskampf Lateinamerikas auf eine Auseinandersetzung zwischen Lateinamerikanern und Europäern und diente nicht der Austragung von Konflikten in den kolonialen Gesellschaften Lateinamerikas. Soziale Komponenten wie in Frankreich und auch Haiti blieben ihrem revolutionären Kampf daher weitgehend fremd.10 Aufgrund der Unvergleichbarkeit der Situation Lateinamerikas mit den Revolutionen in England oder den USA besaß jedoch kein zweites Land ein ähnliches Identifikationspotenzial für den Kontinent wie Frankreich. So musste im Falle der Vereinigten Staaten kein auf König und Kirche beruhendes Gesellschaftssystem ersetzt werden; in England wurden Monarchie und Staatskirche nie beseitigt. Das einzige Beispiel für die Transformation eines katholischen Ancien Régime fanden die jungen Republiken Lateinamerikas in Frankreich. Ihre starke Orientierung an diesem Land entsprach ferner dem Bedürfnis nach einer intellektuellen Emanzipation von Spanien und Portugal.11 Wenngleich das Bemühen um eine Abgrenzung von den ehemaligen Kolonialmächten in der Folgezeit als Suche nach einer eigenen nationalen oder amerikanischen Kultur erlebt wurde, war es immer auch ein Versuch, sich vor allem französische Modelle anzueignen.12
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Gegen Aufklärung und Revolution: Die Entstehung konservativen Denkens in der iberischen Welt (1770-1840). Köln u.a.: Böhlau, 2008 (Lateinamerikanische Forschungen; 34), S. 134-153. Zur Rezeption der Haitianischen Revolution in Lateinamerika vgl. KÖNIG, Hans-Joachim: „Acerca del impacto ambivalente de la revolución haitiana sobre las revoluciones de America Latina“, in: HOFFMANN, Leon-François, Frauke GEWECKE und Ulrich FLEISCHMANN (Hgg.): Haïti 1804: Lumières et ténèbres. Impact et résonances d’une révolution. Madrid: Iberoamericana, 2008 (Bibliotheca Ibero-Americana; 121), S. 113-123. Am Beispiel der Literatur schildert dies RIVAS, Pierre: „Fonction de Paris dans l’émergence des littératures latino-américaines“, in: MAURICE, Jacques (Hg.): París y el mundo ibérico e iberoamericano: actas del XXVIIIo congreso de la Sociedad de Hispanistas Franceses (S.H.F.) (París, 21, 22 y 23 de marzo de 1997). Paris: Univ. Paris X – Nanterre, 1998, S. 331-335. Vgl. GUERRA, François-Xavier: „La lumière et ses reflets: Paris et la politique latino-américaine“, in: KASPI, André und Antoine MARÈS (Hgg.): Le Paris des étrangers: depuis un siècle. Paris: Impr. Nationale, 1989, S. 171-181; LEMPÉRIÈRE, Annick: „Mexico ‚fin de siècle’ et le modèle français“, in: LEMPÉRIÈRE, Annick, Georges LOMNÉ, Frédéric MARTINEZ und Denis ROLLAND (Hgg.): L’Amérique latine et les modèles européens. Paris: L’Harmattan, 1998 (Collection Recherches et documents – Amériques latines), S. 369-389; ANDRIES, Lise und Laura SUÁREZ DE LA TORRE (Hgg.): Impressions du Mexique et de France: imprimés et transferts culturels au
1. Paris in Lateinamerika. Lateinamerika in Paris
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Im Laufe dieses Prozesses begnügten sich insbesondere lateinamerikanische Intellektuelle bald nicht mehr mit dem Import französischer Druckerzeugnisse, sondern brachen persönlich zu den Quellen der bewunderten Kultur auf. Nachdem bereits der lateinamerikanische Unabhängigkeitskämpfer und Nationalheld Simón Bolívar (1783-1830) seiner Bildung durch zwei Parisaufenhalte das Gütesiegel französischer Herkunft verliehen hatte, wurde Paris im 19. Jahrhundert zum klassischen Ziel lateinamerikanischer Bildungsreisender, das unzählige Schriftsteller, Künstler und Politiker anzog. Für künftige lateinamerikanische Führungseliten wurde die Parisreise geradezu obligatorisch.13 Weiterentwicklungen der Verkehrs- und Kommunikationstechnik Mitte des 19. Jahrhunderts erleichterten schließlich den Zustrom von Lateinamerikanern in die französische Hauptstadt. Vor allem die planmäßige Nutzung der Dampfschifffahrt seit den 1860er Jahren sowie die Verlegung des ersten Transatlantikkabels 1874 ließen die Distanz zwischen Europa und Amerika schwinden und machten Paris für eine immer größere Zahl von Lateinamerikanern erreichbar. Mit den klassischen Bildungsreisenden kamen nun auch die reichen Familien Lateinamerikas nach Paris und ließen sich dort für die Dauer von Monaten, Jahren oder gar Jahrzehnten nieder. Hierzu zählten vermutlich abertausende von lateinamerikanischen Superreichen, darunter Viehzüchter aus Argentinien, Zuckerbarone aus Kuba, Silberminenbesitzer aus Mexiko oder Guano-Händler aus Peru, die in ihrer Heimat exorbitante Vermögen angehäuft hatten und unter Mitnahme des gesamten Haushaltspersonals eine Hälfte des Jahres in Havanna oder Lima verbrachten, die andere Hälfte in Paris.14 Neben der Intelligentsia und den Angehörigen der Oberschicht lässt sich außerdem eine nicht unerhebliche Zahl von politischen Aktivisten aus Lateinamerika in der französischen Hauptstadt nachweisen. Diese wählten Paris entweder als Exilort oder ließen sich hier freiwillig in der Hoffnung nieder, von Paris aus größeren Einfluss auf die Entwicklung in ihren Heimatländern nehmen zu können. Da der kulturelle und politische Austausch der lateinamerikanischen Staaten untereinander im 19. Jahrhundert noch keine kontinentale Ebene besaß, kam den Aufenthalten von Lateinamerikanern in der französischen Hauptstadt letztlich eine besondere Bedeutung zu: Ein großer Teil der interlateinamerikanischen Kommunikation über Kunst und Literatur verlief noch bis in die Zeit zwischen
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XIXe siècle. Édition bilingue français-espagnol. Paris: Maison des Sciences de l’Homme, 2009 (Horizons américains). Vgl. QUENTIN-MAUROY, Dominique: „Les jeunes Argentins et le voyage rituel en Europe au milieu du XIXe siècle“, in: PAILLER, Claire (Hg.): Les Amériques et l’Europe: voyages, émigration, exil. Actes de la 3ème semaine latino-américaine, Université de Toulouse-le Mirail, 12-15 mars 1984. Toulouse: Université de Toulouse-Le Mirail, 1985 (Travaux de l’Université de Toulouse-le Mirail: Série B; 8), S. 67-81; NELLE, Florian: Atlantische Passagen. Paris am Schnittpunkt lateinamerikanischer Lebensläufe zwischen Unabhängigkeit und Kubanischer Revolution. Berlin: Tranvía, 1994 (Tranvía Sur; 1), S. 32-53. MOLLOY, Sylvia: La diffusion de la littérature hispano-américaine en France au XXe siècle. Paris: PUF, 1972, S. 20; NELLE: Atlantische Passagen, S. 220.
Einleitung
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den Weltkriegen durch Paris.15 Der Mikrokosmos von hier lebenden Schriftstellern, Künstlern, Oligarchen, Geschäftsleuten und politischen Aktivisten aus Süd- und Mittelamerika machte die Stadt während des gesamten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Ort lateinamerikanischer Kultur und Politik.16
2. Forschungsstand Vor dem Hintergrund dieser herausragenden Bedeutung von Paris für Lateinamerika erstaunt es nicht wenig, dass die starke lateinamerikanische Präsenz in der Ciudad Luz bislang von der historischen Forschung kaum berücksichtigt wurde. So existiert im Gegensatz zu anderen Ausländergruppen bislang weder von französischer noch von lateinamerikanischer Seite eine auf Quellenarbeit gestützte Geschichte der Lateinamerikaner in Paris.17 Beiderseits des Atlantiks 15
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PILLEMENT, Georges: „El París que Asturias ha visto y vivido“, in: SEGALA, Amos (Hg.): Miguel Angel Asturias: Paris, 1924-1933. Periodismo y creación literaria. Madrid: CSIC, 1988 (Colección Archivos; 1), S. 743-747. Etwa zeitgleich existierten auch lateinamerikanische Gemeinden in London und den USA, allerdings wurde Paris aufgrund von Sprache, Kultur und Religion bevorzugt. Zu London vgl. BERRUEZO LEÓN, María Teresa: La lucha de Hispanoamérica por su independencia en Inglaterra: 1800-1830. Madrid: Ed. de Cultura Hispánica, 1989; DECHO, Pam und Claire DIAMOND: Latin Americans in London: A Select List of Prominent Latin Americans in London, c. 18001996. London: Inst. of Latin American Studies, Univ. of London, 1998; ORTUÑO MARTÍNEZ, Manuel: „Hispanoamericanos en Londres a comienzos del siglo XIX“, in: Espacio, tiempo y forma. Serie V, H.ª contemporánea 12 (1999), S. 45-72. Zu den USA vgl. RAAT, William Dirk: Los Revoltosos: Mexico’s Rebels in the United States, 1903-1923. College Station, TX: Texas A&M University Press, 1981; LÁZARO, Felipe: Poetas cubanos en Nueva York. Madrid: Editorial Betania, 1988; RONNING, C. Neale: José Martí and the Émigré Colony in Key West: Leadership and State Formation. New York, NY: Praeger, 1990; LERNER, Victoria: „Dos generaciones de viajeros mexicanos del siglo XIX frente a los Estados Unidos“, in: Relaciones. Estudios de historia y sociedad 14:55 (1993), S. 41-72. Zur Geschichte europäischer Ausländergemeinden im Paris des 19. und 20. Jahrhunderts liegen zahlreiche Studien vor, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können. Zu den Italienern vgl. BLANC-CHALÉARD, Marie-Claude: Les Italiens dans l’est parisien: une histoire d’intégration (1880-1960). Rome: École Française de Rome, 2000 (Collection de l’École Française de Rome; 264); MILZA, Pierre: „L’émigration italienne à Paris jusqu’en 1945“, in: KASPI, André und Antoine MARÈS (Hgg.): Le Paris des étrangers: depuis un siècle. Paris: Impr. Nationale, 1989, S. 55-71; zu den Spaniern vgl. MARTÍNEZ LÓPEZ, Fernando (Hg.): París, ciudad de acogida: el exilio español durante los siglos XIX y XX. Madrid: Marcial Pons, 2010; AYMES, Jean-René: Españoles en París en la época romántica: 1808-1848. Madrid: Alianza, 2008; zu den Portugiesen vgl. PELLERIN, Agnès: Les Portugais à Paris: au fil des siècles & des arrondissements. Paris: Chandeigne, 2009; zu den Engländern vgl. LERIBAULT, Christophe: Les Anglais à Paris au 19e siècle. Paris: Éditions des Musées de la Ville de Paris, 1994; LAPIE, PierreOlivier: Les Anglais à Paris: de la Renaissance à l’Entente cordiale. Paris: Fayard, 1976; zu den Deutschen vgl. KÖNIG, Mareike: „Brüche als gestaltendes Element: Die Deutschen in Pa-
2. Forschungsstand
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hat eine überwiegend nationalstaatliche Orientierung der Geschichtswissenschaft eine eingehende Beschäftigung mit dem skizzierten Phänomen bislang verhindert. Zwar liegen zumindest für die größeren lateinamerikanischen Staaten Untersuchungen vor, die deren Beziehungen zu Frankreich darstellen und dabei zwangsläufig den Zustrom ihrer Landsleute in die französische Hauptstadt thematisieren, dass jedoch eine eigenständige Geschichte von Lateinamerikanern in Paris existiert, machen diese Studien nicht deutlich.18
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ris im 19. Jahrhundert“, in: KÖNIG, Mareike (Hg.): Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris: Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2003 (Pariser historische Studien; 66), S. 9-26; zu den Russen vgl. MONTCLOS, Brigitte de: Les Russes à Paris au XIXe siècle, 1814-1896 (à l’occasion de l’exposition „Les Russes à Paris au XIXe siècle, 1814-1896“, Musée Carnavalet, 2 avril 1996-30 juin 1996). Paris: Paris-Musées, 1996; MENEGALDO, Hélène: Les Russes à Paris, 1919-1939. Paris: Ed. Autrement, 1998 (Collection Monde/Français d’ailleurs, peuple d’ici, H.S.; 110) und zu den Osteuropäern vgl. PONTY, Janine: „‚Visite’ du Paris des Polonais“, in: KASPI, André und Antoine MARÈS (Hgg.): Le Paris des étrangers: depuis un siècle. Paris: Impr. Nationale, 1989, S. 45-54; PONTY, Janine: Polonais méconnus: histoire des travailleurs immigrés en France dans l’entre-deux-guerres. Paris: Université de Paris I, Panthéon-Sorbonne, 1988 (Publications de la Sorbonne: Série internationale; 34); MARÉS, Antoine: „Tchèques et Slovakes à Paris: d’une résistance à l’autre“, in: KASPI, André und Antoine MARÈS (Hgg.): Le Paris des étrangers: depuis un siècle. Paris: Impr. Nationale, 1989, S. 73-89; SPIRIDON, Monica: „Paris, ‚Terre d’asile’: exile, nostalgia and recollection“, in: Neohelicon 31 (2004), S. 61-68. Nationalgeschichtliche Untersuchungen existieren für Argentinien: MAUGEY, Axel: Les élites argentines et la France. Paris: L’Harmattan, 1998; PELOSI, Hebe Carmen: Argentinos en Francia – Franceses en Argentina. Una biografía colectiva. Buenos Aires: Ciudad Argentina, 1999; Brasilien: MARTINIÈRE, Guy: Aspects de la coopération franco-brésilienne. Transplantation culturelle et stratégie de la modernité. Paris: Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, 1982; CARELLI, Mario: Cultures croisées. Histoire des échanges culturels entre la France et le Brésil, de la découverte aux temps modernes. Paris: Editions Nathan, 1993; BARMAN, Roderick J.: „Brazilians in France, 1822-1872: Doubly Outsiders“, in: FEY, Ingrid E. und Karen RACINE (Hgg.): Strange Pilgrimages: Exile, Travel, and National Identity in Latin America, 1800-1990’s. Wilmington, DE: Scholarly Resources, 2000 (Jaguar Books on Latin America; 22), S. 23-39; Chile: BLANCPAIN, Jean-Pierre: Le Chili et la France. Paris: L’Harmattan, 1999; GONZÁLEZ ERRÁZURIZ, Francisco Javier: Aquellos años franceses 1870-1900: Chile en la huella de París. Santiago de Chile: Taurus, 2003 (Historia); Peru: TAUZIN CASTELLANOS, Isabelle: „Los románticos peruanos y París“, in: MAURICE, Jacques (Hg.): París y el mundo ibérico e iberoamericano: actas del XXVIIIo congreso de la Sociedad de Hispanistas Franceses (S.H.F.) (París, 21, 22 y 23 de marzo de 1997). Paris: Univ. Paris X – Nanterre, 1998, S. 231-242; Ecuador: CARRERA ANDRADE, Jorge: „Les relations culturelles franco-équatoriennes“, in: Cahiers des Amériques latines: Série Arts et littératures 2 (1969), S. 114-130; SINARDET, Emmanuelle-Rébecca: „El mito de París y la oligarquía cacaotera en el Ecuador (1895-1925)“, in: MAURICE, Jacques (Hg.): París y el mundo ibérico e iberoamericano: actas del XXVIIIo congreso de la Sociedad de Hispanistas Franceses (S.H.F.) (París, 21, 22 y 23 de marzo de 1997). Paris: Univ. Paris X – Nanterre, 1998, S. 189-196; Mexiko: TEIXIDOR, Felipe: Viajeros mexicanos (siglos XIX y XX). México, D.F.: Ediciones Letras de México, 1982 (Colección „Sepan cuantos“; 350) und Kuba: ESTRADE, Paul: La colonia cubana de París, 1895-1898: el combate patriótico de Betances y la solidaridad de los revolucionarios franceses. La Habana: Ed. de Ciencias Sociales, 1984.
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Einleitung
Die einzige Arbeit, die diese Tatsache aufgreift und den nationalen Fokus zugunsten einer gesamtlateinamerikanischen Perspektive erweitert, stützt sich hingegen auf das Material aus Botschaftsarchiven in Lateinamerika und legt den Schwerpunkt auf die offiziellen Auftritte der lateinamerikanischen Staaten auf der Pariser Weltausstellung von 1889.19 Eine Sozialgeschichte der Lateinamerikaner in Paris wird dabei nicht sichtbar. Weiterhin erscheint die dort geäußerte Annahme einer homogenen lateinamerikanischen Kolonie, die in Paris gezielt um europäische Einwanderung und Investitionen geworben habe, nicht sehr überzeugend. Allein der Kolonie-Begriff impliziert eine Geschlossenheit der ankommenden Lateinamerikaner, für die es wenig Anhaltspunkte gibt. Vielmehr ist von einer sozial und ethnisch höchst heterogenen Gruppe auszugehen, die aufgrund eines ganzen Bündels verschiedener Interessen den Weg in die französische Hauptstadt gefunden hatte.20 Die wenigen anderen Arbeiten, die ebenfalls den nationalen Rahmen überschreiten, sind dagegen oft nur auf einen Ausschnitt der lateinamerikanischen Präsenz in Paris konzentriert. So werden beispielsweise nur die Aufenthalte von speziellen Gruppen, wie lateinamerikanischen Frauen,21 Schriftstellern22 oder Studenten23 thematisiert. Bei Studien dieser Art ist jedoch auf den sehr begrenzten 19
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FEY, Ingrid E.: First Tango in Paris: Latin Americans in Turn-of-the-century France, 1880 to 1920. Los Angeles, CA: University of California Press, 1996. Zugl. Diss., University of California, Los Angeles, 1996. Wie problematisch der Kolonie-Begriff ist, zeigt am Beispiel anderer Ausländergruppen in Paris auch FAURE, Alain: „Comment devenait-on Parisien? La question de l’intégration dans le Paris de la fin du XIXe siècle“, in: ROBERT, Jean-Louis und Danielle TARTAKOWSKY (Hgg.): Paris le peuple: XVIIIe-XXe siècle. Paris: Publ. de la Sorbonne, 1999 (Série histoire de la France aux XIXe-XXe siècles; 51), S. 37-57. FEY, Ingrid E.: „Frou-frous or Feminists? Turn-of-the-century Paris and the Latin American Woman“, in: FEY, Ingrid E. und Karen RACINE (Hgg.): Strange Pilgrimages: Exile, Travel, and National Identity in Latin America, 1800-1990’s. Wilmington, DE: Scholarly Resources, 2000 (Jaguar Books on Latin America; 22), S. 81-94; PALMA, Milagros (Hg.): Écritures de femmes d’Amérique latine en France (du XIXe siècle à nos jours). Escrituras de mujeres de América latina en Francia (del siglo XIX hasta nuestros días). Paris: Indigo, 2007. MOLLOY: La diffusion; SÉRIS, Christiane: „Microcosmes dans la capitale ou l’histoire de la colonie intellectuelle hispano-américaine à Paris entre 1890 et 1914“, in: KASPI, André und Antoine MARÈS (Hgg.): Le Paris des étrangers: depuis un siècle. Paris: Impr. Nationale, 1989, S. 299-312; PERA, Cristóbal: Modernistas en París: el mito de París en la prosa modernista hispanoamericana. Bern u.a.: Lang, 1997 (Perspectivas hispánicas; 8); PALMA, Milagros (Hg.): Le Paris latino-américain. Anthologie des écrivains latinoaméricains à Paris, XX-XXIe siècle. El París lationamericano. Antología de escritores latinoamericanos en París, siglos XX-XXI. Édition bilingue. Paris: Indigo, 2006; VILLEGAS, Jean-Claude: Paris: capitale littéraire de l’Amérique latine. Dijon: Ed. Universitaires de Dijon, 2007. TARACENA ARRIOLA, Arturo: „Latin Americans in Paris in the 1920s: The Anti-Imperialist Struggle of the General Association of Latin American Students, 1925-1933“, in: FEY, Ingrid E. und Karen RACINE (Hgg.): Strange Pilgrimages: Exile, Travel, and National Identity in Latin America, 1800-1990’s. Wilmington, DE: Scholarly Resources, 2000 (Jaguar Books on Latin America; 22), S. 131-146.
2. Forschungsstand
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Umfang hinzuweisen. Es handelt sich zumeist um Aufsätze, während größere Untersuchungen oft auf das 20. Jahrhundert beschränkt bleiben oder rein literaturgeschichtlichen Fragestellungen nachgehen.24 Somit ergibt auch eine Aneinanderreihung aller vorhandenen Einzeluntersuchungen nur ein äußerst unklares Bild der Aufenthalte von Lateinamerikanern in Paris. Schon bei Fragen nach der Größe der lateinamerikanischen Community finden sich nur vage und zum Teil erheblich differierende Schätzungen. Die Spannbreite reicht hier von der vorsichtigen Vermutung einiger 100 Familien bis zur Annahme von 30.000 Lateinamerikanern im Paris der Zwischenkriegszeit, die die Stadt zur „capitale flottante de l’Amérique du Sud“25 gemacht hätten. Daneben existieren anekdotische Angaben, wonach die chilenische Oberschicht in Paris den Sturz von Diktator Balmaceda 1891 nicht feiern konnte, da in der ganzen Stadt kein ausreichend großer Festsaal für die gesamte chilenische Gemeinde zu finden gewesen sei.26 Insgesamt basiert jedoch keiner dieser Schätzwerte auf einer statistischen Grundlage. Über die Personenstärke, die soziale, nationale, alters- oder geschlechtsspezifische Zusammensetzung der lateinamerikanischen Community und ihre mögliche Lokalisierung im Pariser Stadtgebiet gibt es bislang keine verlässlichen Auskünfte, auch die Aufenthaltsdauer oder die Aktivitäten ihrer Mitglieder sind nur in Einzelfällen bekannt.27 Dementsprechend fehlt auch jede Vorstellung von einer Veränderung der genannten Parameter über die Jahrzehnte. Zusammenfassend ist also unklar, wie sich die überragende Bedeutung von Paris für Lateinamerika in der Stadt selbst artikulierte.
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Literarische Transfers erforschen u.a. BERG, Walter Bruno und Lisa BLOCK DE BEHAR (Hgg.): France – Amérique latine: croisements de lettres et de voies. Colloque international à l’Université de Fribourg (Allemagne), 27 et 28 mai 2004. Paris: L’Harmattan, 2007 (Espaces littéraires); FAURIE, Marie-Josèphe: Le modernisme hispano-américain et ses sources françaises. Paris: Centre de Recherches de l’Institut d’Etudes Hispaniques, 1966 (Thèses, mémoires et travaux; 6). WALEFFE, Maurice de: „L’Amérique latine aux Champs-Elysées“, in: Mundo Latino 1 (1938), s. p. Vgl. COLLIER, Simon und William F. SATER: A History of Chile, 1808-1994. Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1996, S. 173. Ähnlich unklare und zum Teil widersprüchliche Angaben finden sich bei PATOUT, Paulette: Alfonso Reyes et la France. Paris: Klincksieck, 1978 (Témoins de l’Espagne et de l’Amérique latine; 8), S. 250; NELLE: Atlantische Passagen, S. 296. Auch FEY: First Tango beantwortet Fragen nach der Größenordnung nicht. PATOUT, Paulette: „La cultura latinoamericana en París entre 1910 y 1936“, in: SEGALA, Amos (Hg.): Miguel Angel Asturias: Paris, 1924-1933. Periodismo y creación literaria. Madrid: CSIC, 1988 (Colección Archivos; 1), S. 748-787 listet im Anhang zwar Aktivitäten auf, analysiert diese jedoch nicht.
Einleitung
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3. Fragestellung Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine empirische Erforschung der oben skizzierten Aufenthalte von Lateinamerikanern im Paris der Dritten Republik. Das Erkenntnisinteresse liegt dabei insbesondere auf der Frage, ob im Gegensatz zur bisher rein nationalstaatlichen Betrachtung dieses Phänomens hier nicht vielmehr der Fall einer transnationalen Gemeinschaft vorliegt. Denn vieles deutet darauf hin, am Beispiel der lateinamerikanischen Gemeinde in Paris die Herausbildung von dauerhaften und intensiven Beziehungen einer bestimmten Gruppe von Menschen über nationale Grenzen hinweg aufzeigen zu können. Es wird also zu fragen sein, ob die Lateinamerikaner in Paris als Angehörige einer beispielsweise chilenischen, brasilianischen oder kolumbianischen Nation lebten, dabei womöglich indigene Elemente der eigenen Kultur betonten, oder sich stattdessen in allgemeinerer Form zu einer transnationalen lateinamerikanischen Gemeinschaft rechneten. Hier ist auch eine mögliche Kontextabhängigkeit nationaler Stilisierungen in Betracht zu ziehen, derzufolge sich ein und dieselbe Person situativ als Lateinamerikaner oder als Angehöriger einer konkreten lateinamerikanischen Nation präsentierte. Als dritte Alternative ist schließlich eine Selbstdarstellung nach europäischen Vorbildern denkbar, die jegliche Hinweise auf die eigene Herkunft unkenntlich machte und die Lateinamerikaner in Paris, je nach Grad ihrer Assimilation, als Spanier oder sogar Franzosen erscheinen ließ. Die Aktualität eines solchen Vorhabens verdeutlicht ein Blick auf die jüngste Debatte um eine transnationale Geschichtsschreibung, deren Ruf aufgrund des bisherigen Mangels an empirischen Arbeiten teilweise zu Recht, teilweise künstlich verschlechtert wurde.28 Die vorliegende Erforschung der Aufenthalte von Lateinamerikanern in Paris veranschaulicht demgegenüber an einem konkreten
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Vgl. RÖDDER, Andreas: „Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne“, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 657-688 und WEHLER, Hans-Ulrich: „Transnationale Geschichte – der neue Königsweg historischer Forschung?“, in: BUDDE, Gunilla-Friederike, Sebastian CONRAD und Oliver JANZ (Hgg.): Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien. Jürgen Kocka zum 65. Geburtstag. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 161-174. Auf das bislang zu wenig ausgeschöpfte Potenzial der transnationalen Geschichte verweisen außerdem MIDDELL, Matthias: Transnationale Geschichte als transnationales Projekt? Zur Einführung in die Diskussion. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2005-01-001, Stand: 20.08.2008; NÜTZENADEL, Alexander: Globalisierung und transnationale Geschichte. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2005-02-004, Stand: 20.08.2008; LUETHI, Barbara: Transnationale Migration – Eine vielversprechende Perspektive? URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2005-04-003, Stand: 20.08. 2008; MANN, Michael: „Globalization, Macro-Regions and Nation-States“, in: BUDDE, Gunilla-Friederike, Sebastian CONRAD und Oliver JANZ (Hgg.): Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien. Jürgen Kocka zum 65. Geburtstag. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 21-31.
3. Fragestellung
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historischen Beispiel, wie transnationale Verflechtungen und eine transnationale Gemeinschaft aussehen konnten.29 Wenn die untersuchten Akteure dabei unter dem Oberbegriff „Lateinamerikaner“ subsumiert werden, rekurriert dies freilich auf eine sehr kleine Gemeinsamkeit der betreffenden Personen. Die Lebenswege eines beispielsweise mexikanischen Malers, eines politischen Flüchtlings aus Venezuela und eines reichen Plantagenbesitzers aus Brasilien wiesen vermutlich nur wenige Berührungspunkte auf. In Paris erscheint jedoch eine isolierte Betrachtung des Lebens von Mexikanern, Venezolanern und Brasilianern nicht sinnvoll, da bereits die wenigen vorhandenen Untersuchungen zu einzelnen Nationen Ähnlichkeiten untereinander aufweisen. Es spricht also vieles dafür, dass die Lateinamerikaner in Paris eine gemeinsame soziale Realität bildeten, die sowohl von ihnen selbst als auch von französischer Seite so wahrgenommen wurde.30 Diese Einschätzung legt auch eine Reflexion des französischen Publizisten Jean de la Nible aus dem Jahr 1922 nahe, der die Angemessenheit des Terminus’ „Lateinamerika“ als Oberbegriff für 20 verschiedene Staaten in folgender Weise thematisierte:31 Est-il plus juste de parler d’une Amérique latine? Il est impossible de désigner autrement l’ensemble des contrées du Nouveau-Monde où l’on parle une langue romane, le portugais et le français aussi bien que l’espagnol. Mais ce mot, n’est-il qu’un vocable commode qui ne répond à aucune autre réalité? L’histoire d’hier et d’aujourd’hui nous démontre le contraire et détermine notre attitude. A l’origine de toutes les Républiques détachées de l’Espagne et du Portugal on trouve des mouvements ou des idées qui viennent de la Révolution française. Elles ont fait entrer dans leur constitution des éléments empruntés à la grande démocratie de l’Amérique du nord, et la lutte des intérêts matériels s’y est livrée parfois avec des procédés et des méthodes qui ne s’expriment bien qu’en anglais.
Vor dem Hintergrund dieser sprachlichen und historischen Gemeinsamkeiten aller lateinamerikanischen Republiken sowie ihrer Verfasstheit auf Grundlage des politischen Denkens westlicher Demokratien erschien dem französischen Autor die Rede von einem einheitlichen Lateinamerika nicht weniger begründet als die von einem einheitlichen Europa.32 29
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Eine Untersuchung gerade solcher Phänomene fordert PATEL, Kiran Klaus: Transnationale Geschichte – Ein neues Paradigma? URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/ 2005-02-001, Stand: 20.08.2008. Diese Vermutung äußern auch GONZÁLEZ ERRÁZURIZ: Aquellos años franceses, S. 273 und ROLLAND, Denis: La crise du modèle français: Marianne et l’Amérique latine. Culture, politique et identité. Rennes: Presses universitaires de Rennes, 2000, S. 15. LA NIBLE, Jean de: „La vie en Amérique latine: la vie politique“, in: Revue de l’Amérique Latine, Paris, Nr. 2, 1. Februar 1922, S. 157. Vgl. ebd., S. 158. Der Begriff bleibt indes bis heute problematisch, da er aus amerikanischer Perspektive das europäische gegenüber dem autochtonen Erbe des Kontinents überbetont, aus spanischer Perspektive hingegen das spezifisch Spanische oder Iberische zugunsten eines allgemeinen Latinitätsbegriffs verwischt. Entwickelt wurde der Terminus „Lateinamerika“ zur Rechtfertigung des französischen Expansionismus während der Mexikointervention Napoleons III. in den 1860er Jahren. Vgl. PHELAN, John L.: „Panlati-
24
Einleitung
Entscheidend für die Legitimation des transnationalen Ansatzes der vorliegenden Arbeit ist schließlich die Frage, ob er tatsächlich zur veränderten Wahrnehmung eines Sachverhaltes beitragen kann oder lediglich sprachlich eine Neuartigkeit impliziert, die auch im Rahmen der klassischen Nationalgeschichtsschreibung darstellbar wäre.33 Im Falle der bereits bekannten Parisaufenthalte der lateinamerikanischen Eliten zeigt sich hier ein besonderes Potenzial transnationaler Geschichtsschreibung. Denn ob die zu untersuchenden Personen zusammen eine neue soziale Realität bildeten, ist nur im Rahmen einer nationenübergreifenden Analyse zu ermitteln. Mehrere tausend Menschen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert über Jahre hinweg zwischen Paris und Lateinamerika lebten, jedoch keine Franzosen waren und möglicherweise auch nicht als Vertreter ihrer Heimatländer in der Stadt auftraten, können nur in Form einer transnationalen Geschichte dargestellt werden. Ihre Lebenswege entziehen sich der Erfassung und Beschreibung mit Mitteln der traditionellen Nationalgeschichte. Von Interesse wird ferner sein, ob die räumliche Mobilität und der Austausch der Akteure zur Verfestigung bestehender nationaler, politischer und sozialer Strukturen führte oder ob es zur Einrichtung neuer Ordnungsmuster kam. Einrichtung soll hier als Schaffung oder Bewahrung von Handlungsspielräumen in fluiden, ungeregelten Situationen verstanden werden.34 Da sich derartige Einrichtungsprozesse typischerweise in Grenzräumen oder Metropolen vollziehen, bietet Paris als „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“35 einen vielversprechenden Untersuchungsort. Die Bedeutung von global cities für die Emanzipation von bestehenden Fixierungen und ihre Würdigung als transnationale Räume und Arenen von Globalisierung hat in der jüngeren sozialwissenschaftlichen Forschung zu Globalisierung und Migration bereits starke Beachtung gefunden.36 Ihre Übertragung auf historische Zusammenhänge steht jedoch erst am Anfang.37
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nismo, la intervención francesa en México y el origen de la idea de Latinoamérica“, in: Latinoamérica 2 (1969), S. 119-141; JURT, Joseph: „Entstehung und Entwicklung der LATEINamerika-Idee“, in: Lendemains 27 (1982), S. 17-26. Vgl. WERNER, Michael und Bénédicte ZIMMERMANN: „Vergleich, Transfer, Verflechtung: Der Ansatz der ‚Histoire croisée’ und die Herausforderung des Transnationalen“, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2004), S. 607-636. Diese Definition folgt FREITAG, Ulrike: Translokalität als ein Zugang zur Geschichte globaler Verflechtungen. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2005-06-001, Stand: 10.12.2009. Vgl. BENJAMIN, Walter: „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, in: TIEDEMANN, Rolf (Hg.): Walter Benjamin. Das Passagen-Werk. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983 (Walter Benjamin: Gesammelte Schriften; 5,1), S. 45-59. Vgl. FREITAG: Translokalität; SMITH, Michael Peter und John EADE: „Transnational Ties: Cities, Migrations, and Identities“, in: SMITH, Michael Peter und John EADE (Hgg.): Transnational Ties: Cities, Migrations, and Identities. New Brunswick, London: Transaction Publishers, 2008, S. 3-13 (Comparative Urban and Community Research; 9); BRENNER, Neil und Roger KEIL (Hgg.): The global cities reader. London: Routledge, 2006; SENNETT, Richard: „Cosmopolitanism and the Social Experience of Cities”, in: VERTOVEC, Steven und Robert COHEN (Hgg.): Conceiving Cosmopolitanism. Theory, Context and Practice. Oxford: Oxford Uni-
3. Fragestellung
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Um das Projekt in einem praktikablen Rahmen zu halten, der sowohl für Lateinamerika als auch für Frankreich einen sinnvollen Untersuchungszeitraum bildet, beschränkt sich die Arbeit auf die Phase der Dritten französischen Republik (1870-1940). Hieraus ergibt sich ein für Frankreich geschlossener Zeitrahmen, der auch für Lateinamerika Relevanz besitzt. Denn erst mit dem Wechsel des politischen Systems in Frankreich 1870 konnten die lateinamerikanischen Republiken zu „Schwestern“ der bewunderten französischen Republik werden. Zusammen mit den oben genannten verkehrs- und kommunikationstechnischen Neuerungen erhöhte vermutlich auch dieser Faktor die Attraktivität eines Aufenthalts in Paris. Ferner ist durch die Konsolidierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Lateinamerika ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit einer größeren Zahl von Lateinamerikanern zu rechnen, die sich einen Aufenthalt in Paris leisten konnten.38 Die starke Bindung des lateinamerikanischen Subkontinents an Europa im Allgemeinen und an Frankreich im Besonderen wurde zudem erst nach dem Zweiten Weltkrieg zugunsten einer Orientierung an den USA aufgegeben. Damit umfasst der zeitliche Untersuchungsrahmen eine Epoche, in der die Führungseliten Lateinamerikas so eindeutig französisch geprägt waren wie niemals zuvor oder danach.39
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versity Press, 2002, S. 42-47; SMITH, Michael Peter: Transnational Urbanism. Locating Globalization. Malden, MA: Blackwell Publishers, 2001; FAIST, Thomas: The Volume and Dynamics of International Migration and Transnational Social Spaces. Oxford: Oxford University Press, 2000; SASSEN, Saskia: „The Global City: The De-Nationalizing of Time and Space“, in: Thesis 46 (2000), S. 27-31. ENGEL, Ulf und Matthias MIDDELL: „Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregimes – Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung“, in: Comparativ 15:5/6 (2005), S. 5-38; IGGERS, Georg G.: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 136-144; CONRAD, Sebastian und Andreas ECKERT: „Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt“, in: CONRAD, Sebastian, Andreas ECKERT und Ulrike FREITAG (Hgg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt u.a.: Campus, 2007 (Globalgeschichte; 1), S. 7-49; HOPKINS, Anthony G.: „Globalization – An Agenda for Historians“, in: HOPKINS, Anthony G. (Hg.): Globalization in World History. London: Pimlico, 2002, S. 1-10. Zur Phase der ökonomisch-politischen Konsolidierung ab 1870 vgl. KÖNIG, Hans-Joachim: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Stuttgart: Reclam, 2006, S. 488-537. Auch MARTINIÈRE: Aspects de la coopération, S. 31-34 kommt zu dem Schluss, dass die Frankophilie der lateinamerikanischen Eliten nie größer war als zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts. Den Rückgang des französischen Einflusses in Lateinamerika nach 1945 beschreibt ROLLAND, Denis: „‚L’Amérique a cessé de regarder vers l’Europe’? La France, un modèle qui s’efface en Amérique latine“, in: LEMPÉRIÈRE, Annick, Georges LOMNÉ, Frédéric MARTINEZ und Denis ROLLAND (Hgg.): L’Amérique latine et les modèles européens (Collection Recherches et documents - Amériques latines). Paris: L’Harmattan, 1998, S. 393-433.
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Einleitung
Darüber hinaus markiert die Dritte Republik die Phase des intensivsten Bevölkerungswachstums in der Geschichte von Paris.40 Da die Stadt zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit durch Migrantenströme aus dem In- und Ausland förmlich explodierte und sich zu einer globalen Metropole entwickelte, erscheint der Untersuchungszeitraum auch mit Blick auf die Transformation urbaner Strukturen besonders interessant. Vor dem Hintergrund, dass gerade der wichtige lateinamerikanische Anteil an dieser Internationalität bislang kaum gewürdigt worden ist, kann eine Untersuchung des lateinamerikanischen Paris die Geschichte der Stadt während der Dritten Republik um ein außereuropäisches Moment erweitern. Wahrscheinlich ist an einem konkreten Beispiel darstellbar, dass die außereuropäische Welt bereits im 19. Jahrhundert eben nicht außerhalb blieb, sondern tief in europäische Gesellschaften hineinreichen konnte. Im vorliegenden Fall zeichnen sich dabei drei Ebenen von Transnationalität ab. Erstens waren die in Paris lebenden Lateinamerikaner Bestandteil der Stadt und wirkten als solcher vermutlich in irgendeiner Form auf deren Entwicklung ein. Da ihre Gemeinde zweitens aus wichtigen Persönlichkeiten des politischen, intellektuellen und gesellschaftlichen Lebens bestand, die auch in Paris eine Verbindung zu ihren Heimatländern aufrechterhielten oder sogar gezielt Einfluss auf dortige Entwicklungen nahmen, liegt es nahe, dass ihre Parisaufenthalte auch für die Geschichte von beispielsweise Argentinien, Bolivien oder Kuba relevant waren. In den beiden ersten Punkten wird also zu zeigen sein, wie die lateinamerikanische Präsenz Paris beeinflusste und inwiefern lateinamerikanische Geschichte in Paris stattfand. Neben dieser transnationalen Perspektive auf die Geschichte von Paris und von Lateinamerika erlaubt das vorliegende Beispiel schließlich drittens, die Formierung einer Migrationsgemeinschaft aus Angehörigen verschiedener Staaten an einem bestimmten Ort nachzuvollziehen. Wenngleich unklar ist, nach welchem Muster sich diese Gemeinschaft konstituierte, unterscheiden sie zwei Besonderheiten von anderen Migrationsphänomenen. So war es einerseits Kennzeichen der hier beschriebenen Migrantengruppe, dass sie mehrheitlich aus Angehörigen der Elite bestand. Andererseits wollte die überwiegende Zahl der Akteure nur für eine begrenzte Zeit in Paris leben und kehrte danach tatsächlich in ihre Heimatländer zurück. Zusammenfassend erstreckt sich das Phänomen Transnationalität in der vorliegenden Arbeit damit auf den Einfluss der untersuchten Personen auf Paris, die Rückwirkungen ihrer Parisaufenthalte auf Lateinamerika und schließlich die konkrete Form ihres Zusammenlebens vor Ort.
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Vgl. CASSELLE, Pierre: Nouvelle histoire de Paris: Paris républicain, 1871-1914. Paris: Association pour la publication d’une histoire de Paris, 2003 (Nouvelle histoire de Paris), S. 127132; MARCHAND, Bernard: Paris, histoire d’une ville, XIXe-XXe siècles. Paris: Éd. du Seuil, 1993 (Collection Points: Série Histoire; 176), S. 69-245.
4. Quellen
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4. Quellen Zur Einlösung des transnationalen Anspruchs wird die vorliegende Arbeit sowohl auf lateinamerikanische als auch französische Quellen zurückgreifen. Von lateinamerikanischer Seite handelt es sich dabei um Selbstzeugnisse der in Paris lebenden Personen in Form von Autobiografien, Tagebüchern, Briefen, Reiseberichten und vor Ort herausgegebenen Zeitungen. Aufgrund der großen Fülle der publizierten Selbstzeugnisse steht hier ein reichhaltiger Fundus zur Verfügung. Das französische Quellenmaterial besteht dagegen aus unpublizierten Pariser Archivbeständen, die auf eine Erfassung der lateinamerikanischen Bewohner durch Verwaltungs- und Polizeibehörden der französischen Hauptstadt zurückgehen. Eine statistische Analyse der lateinamerikanischen Gemeinde der Jahre 1870 bis 1940 ist dabei insbesondere aufgrund der Bestände der Archives de Paris (AP) möglich, die umfangreiche serielle Daten über die Einbürgerungen und Wohnsitzanmeldungen von Ausländern in der Stadt enthalten.41 Informationen aus offiziellen Einwohnerstatistiken,42 die seit 1881 in alle fünf Jahre stattfindenden Volkszählungen43 ermittelt wurden, erlauben ferner eine Rekonstruktion der Größenordnung der lateinamerikanischen Gemeinde und ihre Lokalisierung im Pariser Stadtgebiet. Belege für die Bedeutung und Verankerung der Lateinamerikaner in Paris verspricht außerdem die im Stadtarchiv aufbewahrte Dokumentation der Feste von Ausländern in der Metropole an der Seine.44 In den Archives de la Préfecture de Police de Paris (APPP) lagern dagegen Einzeldossiers zu Individuen und Gruppen. Sie stammen entweder aus der gezielten polizeilichen Überwachung45 von beispielsweise politischen Aktivisten, reichen Oligarchen und einflussreichen Militärs oder wurden aus Presseausschnitten46 über prominente lateinamerikanische Politiker und Intellektuelle in Paris zusammengestellt. Die Bandbreite des Materials reicht dabei von unbekannten Kleinkriminellen bis zu berühmten Persönlichkeiten wie exilierten Staatsmännern oder späteren Literaturnobelpreisträgern. Insgesamt sind die Dossiers von sehr unterschiedlichem Umfang, decken jedoch die gesamte Phase der Dritten Republik ab. 41 42 43 44 45
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Vgl. AP, Paris: Série VD. Naturalisations, Admissions à domicile. Vgl. Annuaire statistique de la Ville de Paris. 46 Bde. Paris: Impr. Nationale/F. Deshayes/Masson, 1880-1940. Vgl. AP, Paris: Série D1M8. Recensements de la population. Vgl. AP, Paris: Série VK3. Fêtes, cérémonies commémoratives 1810-1943. Vgl. APPP, Paris: Série BA. Rapports de recherches et de renseignements émanant de la Police de Sûreté et de la Police de Renseignement dans un premier temps, de la Direction des Renseignements Généraux pour la section contemporaine (1869-1970); APPP, Paris: Série GA. Rapports des Renseignements généraux sur personnalités diverses, groupements, associations (1930-1995). Vgl. APPP, Paris: Série EA. Dossiers de personnalités principalement composés de coupures de presse (1800-1995).
Einleitung
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Das relevante Material der Archives Nationales de France (ANF) besteht ebenfalls im Wesentlichen aus Polizeiakten, die die Überwachung von politischen Aktivisten aus Lateinamerika in Paris dokumentieren.47 Hierunter fallen insbesondere Studenten, dazu einzelne Sozialisten und Anarchisten aus verschiedenen Staaten Süd- und Mittelamerikas. Der Schwerpunkt der Dokumentation liegt auf der Zeit nach 1918 und deckt unter anderem das Wirken von Studentenvereinigungen, Zusammenschlüssen von Emigranten sowie die konspirativen Aktionen von klandestinen Zellen lateinamerikanischer Oppositioneller in Paris ab. Die Bibliothèque Nationale de France (BNF) besitzt schließlich einen umfangreichen Bestand an Zeitungen, die während der Dritten Republik von Lateinamerikanern in der französischen Hauptstadt herausgegeben wurden.48 Die große Menge dieser sowohl französisch- als auch spanischsprachigen Publikationen enthält Hinweise auf kulturelle, soziale und politische Veranstaltungen von Lateinamerikanern in Paris. Aufgrund der immensen Materialfülle können in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht alle Zeitungen berücksichtigt werden, sodass sich die Untersuchung auf insgesamt 17 Zeitungen beschränkt. Um ein repräsentatives Bild der umfangreichen lateinamerikanischen Zeitungslandschaft in Paris liefern zu können, liegt der Schwerpunkt des gewählten Korpus’ auf zweiwöchentlich und monatlich publizierten Zeitungen, hinzu kommen kurzlebige Projekte, von denen nur wenige Ausgaben erschienen sind. Neben Zeitungen, hinter denen berühmte Schriftstellerpersönlichkeiten standen, werden auch kleinere Zeitungsprojekte von vergleichsweise unbekannten Personen berücksichtigt. Insgesamt handelt es sich bei der getroffenen Auswahl sowohl um politische als auch um künstlerische und wissenschaftliche Formate, die aus verschiedenen Perspektiven über alle Belange des lateinamerikanischen Lebens in Paris Auskunft geben.
5. Aufbau der Arbeit Zur Beantwortung der Kernfrage der vorliegenden Arbeit soll die lateinamerikanische Präsenz in Paris unter den Gesichtspunkten „Statistik“, „Personen“ und „Aktivitäten“ untersucht werden. Nach einem einführenden statistischen Kapitel, das Größe und Bedeutung der lateinamerikanischen Gemeinde in Paris auf der Grundlage serieller Daten vorstellt, wird sich der Personenblock auf Intellektuelle (Schriftsteller, Künstler, Diplomaten), Angehörige der Oberschicht 47 48
Vgl. ANF, Paris: Sous-Série F/7. Police générale (1789-1978). Eine kurze Einführung in das Thema liefert CHEYMOL, Marc: „Les revues latinoaméricaines à Paris (1900-1940)“, in: La Revue des Revues 5 (1988), S. 16-28. Hier werden jedoch nur wenige Zeitungen genannt. Unvollständig ist auch die Auflistung bei COLLARD, Claude (Hg.): Des sources pour l’histoire de l’immigration de 1830 à nos jours: guide. Paris: Bibliothèque Nationale de France, 2006, S. 247-253.
5. Aufbau der Arbeit
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(Superreiche, Geschäftsleute) und politische Aktivisten (freiwillig Anwesende oder Exilanten) konzentrieren. Dieser Ansatz trägt der Tatsache Rechnung, dass die zu untersuchenden Akteure entweder der intellektuellen, der sozialen oder der politischen Elite ihrer Heimatländer angehörten. Um den Zugang zum geschilderten Phänomen jedoch nicht allein auf Personenbeschreibungen von Lateinamerikanern in Paris einzuengen, finden in einem dritten Kapitel auch ihre Aktivitäten in der Stadt Berücksichtigung. Neben Vereinen und Festen sind dabei insbesondere die von Lateinamerikanern vor Ort herausgegebenen Zeitungen von Interesse.
I. Statistik
Vorbemerkung: Das statistische Material Wie jede andere statistische Analyse unterliegt auch die quantitative Darstellung der lateinamerikanischen Gemeinde in Paris Ungenauigkeiten. So existieren für den Zeitraum der Dritten Republik keine Zahlen, die in durchgängiger und einheitlicher Form über die Größenordnung dieser Gruppe im Pariser Stadtgebiet informieren. Die Schwächen der vorhandenen Dokumentation lassen sich auf insgesamt drei Probleme eingrenzen: Wer wurde erfasst? Wo wurde er erfasst? Wie wurde er bezeichnet? Die erste Frage berührt den transitorischen Charakter des Untersuchungsgegenstandes. Dass diese Problematik bereits den Zeitgenossen bewusst war, zeigen die Überlegungen von Benjamín Vicuña Subercaseaux (1876-1911), der 1903 aus Chile nach Paris reiste und von dort über ein Jahr lang Artikel an die in Santiago erscheinende Tageszeitung El Mercurio sandte. Mit der Parisreise folgte er dem Beispiel seines berühmten Vaters Benjamín Vicuña Mackenna (18311884) und vielen weiteren Angehörigen der chilenischen Oberschicht, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu längeren Aufenthalten in die französische Hauptstadt aufgebrochen waren.49 Nach seiner Rückkehr wurden Vicuña Subercaseaux’ Berichte in gesammelter Form publiziert. Zu den in Paris lebenden Ausländern enthalten sie folgende Bemerkung:50 Las colonias estranjeras en París son pequeñas sociedades inestables, son oleajes pasajeros de humanidad. Se están renovando constantemente. Cuando unos se van otros se llegan. De modo que se hace mui difícil el análisis de estos grupos fujitivos y cambiantes.
Bezüglich der Anzahl seiner in Paris lebenden Landsleute äußerte sich Vicuña Subercaseaux daher nur vorsichtig. Die vermeintlich geringe Größe ihrer Gruppe führte er dabei auf die günstigen politischen und sozialen Umstände in Chile sowie das vorteilhafte Klima seines Heimatlandes zurück. Die Summe dieser Fakto49
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BLANCPAIN: Le Chili, S. 115 schätzt, dass allein die Familien Undurraga, Subercaseaux, Bunster und Aldunate von 1890 bis 1910 zwischen 100.000 und 1.000.000 Livres pro Jahr in Europa ausgaben. Ihre kostspieligen Reisen fanden nicht selten in Begleitung von Erzieherinnen, Dienern, Köchen und Ammen statt und hatten als Hauptziel Paris. MAUGEY: Les élites argentines, S. 7-38 beschreibt ein ähnliches Reiseverhalten für die argentinische Oberschicht. VICUÑA SUBERCASEAUX, Benjamín: La ciudad de las ciudades (correspondencias de París). Santiago de Chile: Universo, 1905, S. 505.
Vorbemerkung: Das statistische Material
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ren liefere der chilenischen Bevölkerung kaum Anlass zur Auswanderung. Mit Zahlenmaterial konnte der Autor seine Einschätzungen hingegen nicht belegen, da „la constante renovación“51 der in der Stadt lebenden Familien jede exakte Erfassung unmöglich mache. Hinter diesem Verweis auf die permanente Erneuerung des Untersuchungsgegenstandes durch Abreisende und Neuankömmlinge verbirgt sich ein generelles Problem der statistischen Erfassung von Ausländern in Paris: Die offiziellen französischen Zählungen enthalten keine Auskunft über die Aufenthaltsdauer der Erfassten, ermöglichen also keine Unterscheidung von dauerhaft in der Stadt lebenden Personen und Reisenden. Wer überhaupt Aufnahme in die Statistik fand und wie lange er sich in Paris aufhielt, ist aus dem vorhandenen Datenmaterial somit nicht ersichtlich. Dementsprechend beruhen auch alle in der vorliegenden Arbeit getroffenen Aussagen zur Aufenthaltsdauer der Akteure auf deren eigenen Aussagen in Tagebüchern oder Reiseberichten, nicht auf amtlichen Feststellungen. Da weiterhin davon auszugehen ist, dass nicht alle Ankommenden die vorgeschriebene kostenpflichtige Registrierung durchführen ließen, und die Besucherlisten der Hotels nur unvollständig erhalten sind, muss mit Abweichungen zwischen der Zahl der erfassten und der Zahl der tatsächlich in Paris anwesenden Lateinamerikaner gerechnet werden. Ein zweites Problem der Dokumentation besteht in der unterschiedlichen Reichweite der Datenerhebung. So bildet das zur Verfügung stehende Material vor 1914 lediglich die Stadt Paris ab, nach dem Ersten Weltkrieg hingegen das gesamte ehemalige Departement Seine.52 Da die Pariser Vororte jedoch zu keinem Zeitpunkt einen nennenswerten Anteil von Lateinamerikanern beherbergten, hat dieser Umstand nur geringen Einfluss auf das Gesamtergebnis. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel von Neuilly-sur-Seine nachweisen. Während in diesem eleganten und bei Ausländern sehr beliebten Pariser Vorort Anfang des 20. Jahrhunderts nur einige Dutzend Lateinamerikaner lebten, sind für den gleichen Zeitraum annähernd 6.000 Lateinamerikaner in der Kernstadt Paris nachweisbar.53 Weil ferner davon auszugehen ist, dass auch die wenigen im Pariser 51 52
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Ebd., S. 506. Das Departement Seine umfasste bis zu seiner Auflösung 1968 die Stadt Paris und 80 selbständige Gemeinden der Umgebung. Es war in die drei Arrondissements Paris, Sceaux und Saint-Denis aufgeteilt. Im Zuge einer Verwaltungsreform erfolgte die Neugliederung der Région Parisienne in die Departements Paris (75), Seine-et-Marne (77), Yvelines (78), Essonne (91), Hauts-de-Seine (92), Seine-Saint-Denis (93), Val-de-Marne (94) und Val-d’Oise (95). Seit 1976 trägt die Région Parisienne den historischen Namen Île-de-France. Vgl. CARMONA, Michel: Le Grand Paris: l’évolution de l’ideé d’aménagement de la Région Parisienne. T. 1. Bagneux: Impr. Girotypo, 1979, S. 103-109. Vgl. Neuilly-sur-Seine. Notice historique et renseignements administratifs. Montévrain: Imprimerie typographique de l’École d’Alembert, 1904 (Etat des communes à la fin du XIXe siècle), S. 4: 77 Lateinamerikaner. Resultats statistiques du recensement général de la population effectué le 24 mars 1901. T. 1: Population légale ou de résidence habituelle pour la France entière, population présente: régions de Paris, du nord et de l’est. Paris: Imp. Nationale, 1904, S. 311: 5.899 Lateinamerikaner.
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I. Statistik
Umland wohnhaften Lateinamerikaner Verbindungen zum Leben ihrer Landsleute in der Hauptstadt unterhielten, erscheint die zu erwartende Abweichung noch unbedeutender. Die dritte Schwierigkeit des statistischen Materials liegt schließlich in den unpräzisen und unterschiedlich gebrauchten Bezeichnungen für die erfassten Ausländer. Diese Tatsache beeinträchtigt insbesondere eine Analyse der amerikanischen Nationen, da die Pariser Behörden nicht vor Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Nord- und Lateinamerikanern differenzierten.54 So begegnet noch in den ersten Erhebungen der Dritten Republik nur die allgemeine Kategorie „Américains du Nord et du Sud“ (1872-1886),55 wobei jedoch unklar bleibt, wie die Staaten Mittelamerikas behandelt wurden.56 Im Zensus des Jahres 1891 tauchte erstmals eine Unterscheidung von „Américains du Nord“, „Américains du Sud“ und „Mexicains“ auf,57 die allerdings bis zum Ersten Weltkrieg der un54
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Da die Verzeichnisse von Ausländern seit dem Ancien Régime Kategorien aufweisen, die den zeitgenössischen politischen Wirklichkeiten entsprachen, sind insbesondere die Außereuropäer mit aus heutiger Sicht unscharfen ethnografischen Bezeichnungen belegt. Vgl. dazu DUBOST, Jean-François: „Les étrangers à Paris au siècle des Lumières“, in: ROCHE, Daniel (Hg.): La ville promise: mobilité et accueil à Paris (fin XVIIe – début XIXe siècle). Paris: Fayard, 2000, S. 221-288; MATHOREZ, Jules: Les étrangers en France sous l’Ancien Régime. T. 1: Les orientaux et les extra-européens. Paris: Champion, 1919, S. 366-370. Für den Zeitraum 1872-1886 vgl. Statistique de France. Résultats généraux du dénombrement de 1872. Nancy: Imp. Administrative de Berger-Levrault et Cie, 1874; Statistique de France. Résultats généraux du dénombrement de 1876. Paris: Imp. Nationale, 1878; Résultats statistiques du dénombrement de 1881 pour la Ville de Paris et le Département de la Seine et renseignements relatifs aux dénombrements antérieurs. Paris: Imp. Municipale, 1884 und Résultats statistiques du dénombrement de 1886 pour la Ville de Paris et le Département de la Seine et renseignements relatifs aux dénombrements antérieurs. Paris: Masson, 1887. Eine Unterteilung des amerikanischen Kontinents kann nach verschiedenen Kriterien erfolgen und führt dementsprechend zu unterschiedlichen, sich zum Teil überschneidenden Großregionen. So wird zwar gemeinhin der Río San Juan zwischen Nicaragua und Costa Rica als Grenze zwischen Nord- und Südamerika angenommen, unter geografischen Gesichtspunkten hingegen die Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika als eigenständige Landmasse Zentralamerika bezeichnet. Sie beginnt im Norden beim Isthmus von Tehuantepec (Mexiko) und erstreckt sich im Süden bis zur Landenge von Darién (Panama) oder dem Río Atrato (Kolumbien). Zusammen mit den Westindischen Inseln bildet diese Festlandbrücke die Region Mittelamerika. Nach Ende der spanischen Kolonialherrschaft bezeichneten sich jedoch allein Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua und Costa Rica als Zentralamerikanische Konföderation, um sich von Mexiko und Südamerika zu unterscheiden. Mexiko ist wiederum geologisch Teil Nordamerikas, kann kultur- und sprachgeschichtlich jedoch zu Mittelamerika gezählt werden. Darüber hinaus definiert die Altamerikanistik aufgrund von archäologischen Befunden den einheitlichen Kulturraum Mesoamerika. Vgl. FOSTER, Lynn V.: A Brief History of Central America. New York, NY: Facts on File, 2. Aufl., 2007, S. 1-23, 134-151. Für den Zeitraum 1891-1896 vgl. Résultats statistiques du dénombrement de 1891 pour la Ville de Paris et le Département de la Seine et renseignements relatifs aux dénombrements antérieurs. Paris: Masson, 1894 und Résultats statistiques du dénombrement de 1896 pour la Ville de Paris et le Département de la Seine et renseignements relatifs aux dénombrements antérieurs. Paris: Masson, 1899.
Vorbemerkung: Das statistische Material
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scharfen Trennung von „Américains des États-Unis“ und „Autres Américains“ (1901-1911) wich.58 Ob die Gruppe jener anderen Amerikaner auch in Paris lebende Kanadier umfasste, wird aus dem Material wiederum nicht deutlich.59 Letztlich vollzogen erst die Erhebungen der Zwischenkriegszeit (1920-1937)60 eine genaue Unterscheidung aller amerikanischen Nationen. Somit lassen sich für die vorhergehende Phase Ungenauigkeiten hinsichtlich der Zahl der Lateinamerikaner nicht ausschließen, da diese aus den begrifflich nicht klar abgegrenzten Gruppen der Süd-, Nord- und anderen Amerikaner erschlossen werden muss. Die Unklarheit der Erfassungskriterien und das Fehlen nationaler Unterscheidungen wird auch von den wenigen vorhandenen Arbeiten über Lateinamerikaner in Paris beklagt, die bislang das Material der Volkszählungen berücksichtigten.61 Das Ausbleiben einer umfassenden statistischen Analyse ist damit jedoch nur zum Teil erklärt. Es beruht vielmehr auf dem Umstand, dass sich bisherige Dokumentationsversuche lediglich auf Momentaufnahmen zu einem bestimmten Datum beschränkten oder nicht über einzelne lateinamerikanische Nationen hinausgingen. Eine dynamische Entwicklung der gesamten lateinamerikanischen Gemeinde in Paris über einen längeren Zeitraum war auf dieser Grundlage nicht erkennbar. Ferner wurden die genannten Unzulänglichkeiten des statistischen Materials nicht durch die Hinzuziehung von Sekundärquellen kompensiert. Hierzu greift die vorliegende Darstellung auf ergänzende Informationen aus zeitgenössischen Zeitungsberichten, Selbstzeugnissen der Akteure und verschiedenen Pariser Archivbeständen zurück, die über lateinamerikanische Bewohner der Stadt Auskunft geben. Durch diese Synthese sollen im Folgenden die Größenordnung der lateinamerikanischen Gemeinde, ihre nationale Zusammensetzung, das Alters- und Geschlechterverhältnis sowie die bevorzugten Wohngegenden ihrer Mitglieder im Pariser Stadtgebiet rekonstruiert werden. Die Berücksichtigung der gesamten Dritten Republik erlaubt schließlich auch die Dar-
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Für den Zeitraum 1901-1911 vgl. Resultats statistiques 1901; Resultats statistiques du recensement général de la population effectué le 4 mars 1906. T. 2: Population présente – Régions du nord, de l’est et du sud-est. Paris: Imp. Nationale, 1909 und Resultats statistiques du recensement général de la population effectué le 5 mars 1911. T. 2: Résultats par département. Paris: Imp. Nationale, 1915. Die Unabhängigkeit Kanadas 1931 spiegelt sich in der Statistik nicht wider. Für den Zeitraum 1920-1937 vgl. Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 38: 1920. Paris: Masson, 1924; Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 39: 1921-22. Paris: Société anonyme de publications périodiques. Imprimerie E. Desfossés, 1925; Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 40: 1923-24. Paris: Société anonyme de publications périodiques. Imprimerie E. Desfossés, 1927; Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 41: 1925-26. Paris: Société anonyme de publications périodiques. Imprimerie E. Desfossés, 1930; Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 42: 1927-28. Paris: F. Deshayes, 1932; Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 43: 1929-30-31. Paris: F. Deshayes, 1933; Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 44: 1932-33-34. Paris: F. Deshayes, 1937; Annuaire statistique de la Ville de Paris. T. 45: 1935-3637. Paris: F. Deshayes, 1942. Diese Schwierigkeiten beklagen ESTRADE: La colonia cubana, S. 12; FEY: First Tango, S. 7578; GONZÁLEZ ERRÁZURIZ: Aquellos años franceses, S. 302-305 und ROLLAND: La crise, S. 89.
I. Statistik
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stellung von Verschiebungen der genannten Werte im Laufe von sieben Jahrzehnten.
1. Anzahl Reisen aus Lateinamerika nach Paris fanden bereits im 18. Jahrhundert statt. Nach den Unabhängigkeitsrevolutionen in Spanischamerika und Brasiliens friedlichem Übergang in die Souveränität ist jedoch eine Intensivierung dieses Reiseverkehrs zu beobachten. So erreichten im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen aus den neu entstandenen Staaten südlich des Río Grande die europäischen Metropolen Paris und London, wo Familien der kreolischen Oberschicht ihre Kinder zu Ausbildungszwecken unterbrachten. Paris wurde dabei aufgrund von Sprache, Kultur und Religion bevorzugt.62 Einen ersten Niederschlag in den französischen Volkszählungen fand dieses Verhalten 1833, als die Zahl der in Paris lebenden Südamerikaner von den Behörden mit 500 Personen angegeben wurde. Bei diesem Wert handelte es sich allerdings um eine Schätzung. Da die genannte Summe auf der Addition der Einzelwerte für „Amérique méridionale: 400“,63 „Brésil: 50“64 und „Pérou: 50“65 beruht, ist davon auszugehen, dass keine Mexikaner hinzugerechnet wurden. Ob diese allerdings im Wert für Nordamerikaner („Amérique septentrionale: 750“66) enthalten sind oder überhaupt keine Berücksichtigung fanden, bleibt unklar. Indizien für eine steigende Zahl lateinamerikanischer Parisreisender in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liefern ferner die Lebensbilder vieler Zeitgenossen. Doch wenngleich deren Biografien eine Fülle von Hinweisen auf Parisbesuche enthalten, lassen die meist knappen Informationen über die Aktivitäten der Akteure vor Ort noch nicht auf ein lateinamerikanisches Leben in der Stadt schließen. Da es sich bei den Reisenden in erster Linie um Politiker und Intellektuelle handelte, spricht vieles für eine Bildungsintention dieser frühen Aufenthalte. Nach dem Vorbild berühmter Unabhängigkeitshelden wie Simón Bolívar und Francisco de Miranda (1750-1816), deren Biografien ebenfalls Parisreisen aufwiesen, sollten auch künftige lateinamerikanische Führungseliten in der
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VEIGA, Raúl: „Hispano-americanos en Francia: La Restauración y América independiente. ¿Realismo o dogmatismo?“, in: VEIGA, Raúl, Jean-René AYMES, Jean-Louis GUEREÑA und María Francisca MOURIER-MARTÍNEZ (Hgg.): Voyages et séjours d’Espagnols et d’Hispano-Américains en France. Tours: Publications de l’Université de Tours, 1982 (Série Études hispaniques; 4), S. 1-22. Résultats statistiques 1891, S. LXXIII. Ebd. Ebd. Ebd.
1. Anzahl
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französischen Hauptstadt Erfahrungen und Kenntnisse für die Organisation ihrer jungen Republiken sammeln.67 In den Jahrzehnten nach 1825 brachen daher zahlreiche prominente Intellektuelle wie die argentinischen Schriftsteller Esteban Echeverría (1805-1851) und Juan Bautista Alberdi (1810-1884) nach Paris auf. Mit ihrem Landsmann Faustino Domingo Sarmiento (1811-1888) folgte ein weiterer frankophiler Vertreter der argentinischen Generación del 37 und späterer Staatspräsident seines Landes.68 Ähnliche Reisen sind seit frühester Jugend auch für die Schriftsteller Alberto Blest Gana (1830-1920)69 aus Chile und Juan Montalvo (1832-1889)70 aus Ecuador nachweisbar, die sich mehrfach in Paris niederließen und schließlich beide dort verstarben. Bemerkenswert an diesen frühen Parisreisen erscheint insbesondere, dass die Selbstzeugnisse der Akteure französische Geschichte aus der Sicht von Lateinamerikanern erzählen. So berichtete der mexikanische Diplomat Fernando Mangino (?-1873), der sich von 1848-1851 in Paris aufhielt, in seinen Briefen jener Jahre vom Sturz des Bürgerkönigs Louis Philippe (1773-1850), den Kämpfen der 67
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Vgl. LEENHARDT, Jacques: Les Amériques latines en France. Paris: Gallimard, 1992 (Découvertes Gallimard hors série), S. 7-11. Da Miranda auch in Europa auf Seiten der französischen Revolutionstruppen kämpfte, ist sein Name auf der nördlichen Säule des Pariser Triumphbogens verewigt (4. Spalte, 5. Zeile). Zu den Reisen von Echeverría, Alberdi und Sarmiento vgl. NELLE: Atlantische Passagen, S. 114-166; NELLE, Florian: Sarmientos „Reisen“: Vision eines neuen Amerika. Saarbrücken u.a.: Breitenbach, 1992 (Spektrum; 34), S. 103-112; CANÉ, Miguel: Prosa ligera. Buenos Aires: Administración General, 1919, S. 177-205; PAGNI, Andrea: Post-koloniale Reisen: Reiseberichte zwischen Frankreich und Argentinien im 19. Jahrhundert. Tübingen: Stauffenburg-Verlag, 1999 (Stauffenburg discussion; 11), S. 56-67, 93-118; QUENTIN-MAUROY: „Les jeunes Argentins“, S. 67-81; WEISS, Jason: The Lights of Home: A Century of Latin American Writers in Paris. New York, NY u.a.: Routledge, 2003, S. 3, 15-40. Vgl. ARAYA, Guillermo: „Alberto Blest Gana y su obra“, in: ARAYA, Guillermo (Hg.): Martín Rivas (novela de costumbres político-sociales). Madrid: Ed. Cátedra, 1981 (Letras hispánicas; 148), S. 13-22; DÍAZ ARRIETA, Hernán: „Prólogo“, in: DÍAZ ARRIETA, Hernán (Hg.): Obras selectas de Alberto Blest Gana. Buenos Aires: Libreria „El Ateneo“ Editorial, 1970 (Clásicos inolvidables), S. VII-XVI; ROJAS, Manuel: Blest Gana: Sus mejores páginas. Biografía, estudio y selección. Santiago de Chile: Ercilla, 1960, S. 9-11. Vgl. ABELLÁN, José Luis: „En torno a la figura, la obra y la significación intelectual de Juan Montalvo“, in: Cuadernos Hispanoamericanos 107 (1977), S. 249-277; LARA, Darío: „Juan Montalvo en París“, in: Juan Montalvo en Francia: actas del coloquio de Besançon. Facultad de Letras y Ciencias Humanas, Departamento de Estudios Hispánicos e Hispanoamericanos, 15-17 de marzo de 1975. Paris: Les Belles-Lettres, 1976 (Annales littéraires de l’Université de Besançon; 190), S. 190206; DÍAZ-ROZZOTTO, Jaime: „Tras la huella de Montalvo“, in: Juan Montalvo en Francia: actas del coloquio de Besançon. Facultad de Letras y Ciencias Humanas, Departamento de Estudios Hispánicos e Hispanoamericanos, 15-17 de marzo de 1975. Paris: Les Belles-Lettres, 1976 (Annales littéraires de l’Université de Besançon; 190), S. 55-74; GARAVITO, Julián: „Juan Montalvo: una visión panoramica“, in: Juan Montalvo en Francia: actas del coloquio de Besançon. Facultad de Letras y Ciencias Humanas, Departamento de Estudios Hispánicos e Hispanoamericanos, 15-17 de marzo de 1975. Paris: Les Belles-Lettres, 1976 (Annales littéraires de l’Université de Besançon; 190), S. 2330.
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I. Statistik
1848er Revolution und der Ausrufung der Zweiten Republik. Nach seiner ebenso kurzen wie bewegten Dienstzeit in Paris kehrte Mangino über eine weitere diplomatische Station in New York 1860 nach Mexiko-Stadt zurück, wo er zum zweiten Mal als Augenzeuge den Sturz einer Monarchie miterleben sollte.71 Von ähnlichem dokumentarischen Wert für die Geschichte von Paris sind die Reiseerinnerungen des bereits einführend erwähnten chilenischen Politikers und Schriftstellers Vicuña Mackenna. Bei seinen insgesamt vier Parisaufenthalten zwischen 1853 und 1871 registrierte er die jeweiligen baulichen Veränderungen im Erscheinungsbild der Stadt und stellte daraufhin Vergleiche zwischen dem Paris vor und nach den Haussmannschen Reformen an.72 Zusammenfassend können für die gesamte Zeit des Zweiten Kaiserreichs fortwährende Reisen der lateinamerikanischen Eliten in die französische Hauptstadt nachgewiesen werden. Um nur die bekanntesten Beispiele anzuführen, sei auf die Aufenthalte der Argentinier Hilario Ascasubi (1807-1875) und Lucio V. Mansilla (1831-1913) sowie den kubanischen Schriftsteller José María de Heredia (1842-1905) verwiesen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ausländern gelang diesen drei Intellektuellen der Aufstieg bis in höchste Kreise der französischen Gesellschaft.73 So verkehrte Mansilla in den berühmtesten Salons der Hauptstadt und hielt das Paris jener Jahre literarisch fest,74 während Ascasubi aufgrund seines schriftstellerischen Ruhms sogar mehrfach am Hofe Napoleons III. (18081873) empfangen wurde.75 Der bereits 17-jährig zu Studienzwecken in Paris angekommene und nie nach Kuba zurückgekehrte Heredia wurde sowohl Mitglied der Académie française als auch Direktor der Bibliothèque de l’Arsenal. Nach seiner Einbürgerung 1893 galt er gar als wichtigster französischer Schriftsteller am Schnittpunkt von Parnassiens und Symbolisten. Seine Briefe der Jahre 1870/71 besitzen als Zeugnisse der Belagerung von Paris schließlich ebenfalls dokumentarischen Wert für die Geschichte der Stadt.76
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VALLE, Rafael Heliodoro (Hg.): Un diplomático mexicano en París: Don Fernando Mangino, 18481851. México, D.F.: Secretaría de Relaciones Exteriores, 1948 (Archivo Histórico Diplomático Mexicano, segunda serie; 6), S. 9-18. Vgl. DONOSO, Ricardo: Don Benjamín Vicuña Mackenna: su vida, sus escritos y su tiempo (18311886). Santiago de Chile: Impr. Univ., 1925, S. 266-269. Vgl. GERBOD, Paul: „Des étrangers à Paris au XIXe siècle“, in: Ethnologie française 25 (1995), S. 569-579. Vgl. VINACUA, Rodolfo: „Lucio V. Mansilla“, in: ZANETTI, Susana (Hg.): Historia de la literatura argentina. T. 2: Del romaticismo al naturalismo. Buenos Aires: Centro Editor de América Latina, 1980, S. 73-96; JITRIK, Noé: Los viajeros. Buenos Aires: Editorial Jorge Álvarez, 1969 (Los argentinos; 10), S. 55-62; PAGNI: Post-koloniale Reisen, S. 124-129. Vgl. DAIREAUX, Max: „Hilario Ascasubi: un poète ‚gauchesque’ d’Argentine aux Tuileries“, in: France-Amérique. Revue mensuelle du Comité France-Amérique 43 (1953), S. 402-405. Vgl. DESPRATS, Charles: Charles-Marie Leconte de Lisle: lettres à José-Maria de Heredia. Paris: Champion, 2004 (Bibliothèque des correspondances, mémoires et journaux; 12); FLEURY, Robert: „José Maria de Heredia, un autre regard“, in: Bulletin du bibliophile 2000/2 (2000), S. 379389; MUZERELLE, Danièle: „José-Maria de Heredia à l’Arsenal“, in: Bulletin d’information de
1. Anzahl
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Die Reihe der Parisaufenthalte lateinamerikanischer Schriftsteller und Politiker vor 1870 ließe sich über die biografischen Reminiszenzen verschiedener peruanischer Romantiker77 und die in Paris verlegten Reiseerinnerungen kolumbianischer Diplomaten und Dichter78 fortsetzen, allerdings belegt bereits die Aufzählung der genannten Beispiele die Existenz eines beachtlichen Reiseverkehrs von Lateinamerika nach Paris vor 1870. Quantifizierbar ist diese Bewegung jedoch nicht, da die fehlende Verzeichnung von Nationalitäten in den Volkszählungen des Kaiserreichs keine Rückschlüsse auf den Umfang des skizzierten Reiseverhaltens zulässt.79 Eine Vorstellung von der Größenordnung der lateinamerikanischen Gemeinde in der Stadt vermitteln erst die statistischen Erhebungen der Dritten Republik. Zwar differenzierten auch die Zählungen der 1870er und 1880er Jahre lediglich zwischen Nord- und Südamerikanern, jedoch lassen sich aus diesen Angaben Schätzwerte für die Zahl der Lateinamerikaner ermitteln, wenn man das Verhältnis der verschiedenen Gruppen von Amerikanern in der Schätzung des Jahres 1833 und der ersten getrennten Zählung von 1891 als Richtwert hinzuzieht. Denn in beiden Fällen entsprachen die Anteile von Latein- und US-Amerikanern an der Gesamtzahl aller in Paris lebenden Amerikaner etwa einem Verhältnis von 2:3. So standen 1833 einer Anzahl von 500 Lateinamerikanern 750 US-Bürger gegenüber, was 40 % und 60 % von der Summe aller 1.250 Amerikaner ausmachte. 1891 waren zwar beide Werte beträchtlich gestiegen, ihr Verhältnis jedoch nahezu unverändert geblieben. Während die Summe aus Südamerikanern und Mexikanern nun 3.369 Lateinamerikaner ergab, wurde die Anzahl der USAmerikaner gar mit 4.237 Personen angegeben. Von der Gesamtzahl aller 7.606 in Paris lebenden Amerikaner stammten somit nahezu unveränderte 44 % aus Lateinamerika und 56 % aus den Vereinigten Staaten.80 Aufgrund dieser über einen Zeitraum von beinahe 60 Jahren kaum veränderten Anteile von Latein- und US-Amerikanern erscheint es legitim, ihrer Gesamtzahl auch für die Anfangsjahre der Dritten Republik ein Verhältnis von 2:3 zugrunde zu legen, um beide Großgruppen zu unterscheiden. Wenngleich im Laufe der Jahrzehnte freilich Abweichungen von diesem Wert möglich sind, liegen keine Indizien vor, die eine Annahme von erheblichen Ausschlägen im Reiseverhalten zwischen den verschiedenen Teilen Amerikas und Paris begründen
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l’Association des Bibliothécaires Français 173 (1996), S. 48; MARTINO, Pierre: Parnasse et symbolisme. 2. Aufl., Paris: Armand Colin, 1970, S. 72-74. TAUZIN CASTELLANOS: Los románticos peruanos, S. 231-242. TANCO ARMERO, Nicolás: Viaje de Nueva Granada a China y de China a Francia. Paris: Simon Raçon, 1861; SAMPER AGUDELO, José María: Viajes de un colombiano en Europa. Paris: Thunot, 1862. AP, Paris: D1M1. Dénombrements 1861-72. Auf die Schwierigkeiten verweist auch BARMAN: Brazilians in France, S. 24, der die Zahl der brasilianischen Parisreisenden zwischen 18221872 nur ungefähr auf einige hundert Familien eingrenzt. Zu den Gesamtzahlen der Jahre 1833 und 1891 vgl. die Tabelle in Résultats statistiques 1896, S. XXXV.
I. Statistik
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würden. Für die folgenden Berechnungen zur Frühphase der Dritten Republik wird daher der Anteil von Lateinamerikanern an allen in Paris lebenden Amerikanern ebenfalls auf 40 % taxiert. Wahrscheinlichere Angaben über die Größenordnung der lateinamerikanischen Gemeinde lassen sich für die 1870er und 1880er Jahre nicht gewinnen. Legt man den Werten der Nord- und Südamerikaner aus den Zählungen der Jahre 1872-1886 das oben beschriebene Übergewicht von 3:2 für US-Amerikaner zugrunde, so ergeben sich für diesen Zeitraum folgende Werte hinsichtlich der Zahl der Lateinamerikaner:81 1872: 4.120 „Américains du Nord et du Sud“ (Ville de Paris) davon 40 % = 1.648 Lateinamerikaner 1876: 5.777 „Américains du Nord et du Sud“ (Ville de Paris) davon 40 % = ~ 2.311 Lateinamerikaner 1881: 5.927 „Américains du Nord et du Sud“ (Ville de Paris) davon 40 % = ~ 2.371 Lateinamerikaner 1886: 6.414 „Américains du Nord et du Sud“ (Ville de Paris) davon 40 % = ~ 2.566 Lateinamerikaner
Der hieraus resultierende Eindruck einer stetig wachsenden lateinamerikanischen Gemeinde wird durch die ab 1891 getrennt vorliegenden Zahlen bestätigt:82 1891: 3.085 „Américains du Sud“ + 284 „Mexicains“ (Ville de Paris) = 3.369 Lateinamerikaner 1896: 3.595 „Autres Américains“ (Ville de Paris) = 3.595 Lateinamerikaner 1901: 5.899 „Autres Américains“ (Ville de Paris) = 5.899 Lateinamerikaner
Ein Vergleich mit der Zahl der US-Amerikaner zeigt ferner, dass deren Anzahl 1901 (2.628) erstmals von den Lateinamerikanern übertroffen wurde. Das Verhältnis von ehemals 40 % Lateinamerikanern zu 60 % US-Bürgern hatte sich damit in Anteile von ungefähr 70 % zu 30 % umgekehrt, war jedoch bereits 1911 wieder nahezu ausgeglichen.83 Diese Schwankungen im Verhältnis der Lateinund US-Amerikaner Anfang des 20. Jahrhunderts erschweren die Angabe der Zahl der Lateinamerikaner für das Jahr 1906, da die Zählung zu diesem Jahr nur die Information „Américains: 8.520“84 verzeichnete. Somit kann die Zahl der Lateinamerikaner in Paris 1906 zwar mit Vorsicht auf etwa 4.500 Personen ge81 82
83 84
1872: Statistique de France 1872, S. 122f.; 1876: Statistique de France 1876, S. 256; 1881: Résultats statistiques 1881, S. 10-15; 1886: Résultats statistiques 1886, S. 65. 1891: Résultats statistiques 1891, S. 123; 1896: Résultats statistiques 1896, S. 141f.; 1901: Resultats statistiques 1901, S. 311. Ob 1896 und 1901 auch Kanadier mitgerechnet wurden, ist unklar. Resultats statistiques 1911, S. 2 zeigt nur noch eine Differenz von wenigen Dutzend Personen zwischen der Zahl der Latein- und US-Amerikaner. Resultats statistiques 1906, S. 17.
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schätzt werden, allerdings ist dieser Wert im Rahmen der Dokumentation von 1870-1940 mit der größten Unsicherheit behaftet. Die Zählung des Jahres 1911, gleichzeitig letzter Zensus vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, lieferte schließlich wieder eine differenzierte Erfassung der unterschiedlichen Gruppen von Amerikanern. Da jedoch wiederum unklar bleibt, ob die Mexikaner als Nord- oder Südamerikaner behandelt wurden, wird an dieser Stelle lediglich der Wert für Südamerikaner als Größenordnung der lateinamerikanischen Gemeinde übernommen. Die vergleichsweise große Zahlenstärke der hier zum einzigen Mal auftauchenden Kategorie „Autres Américains du Nord“85 deutet jedoch darauf hin, dass unter diesem Begriff nicht nur Kanadier zusammengefasst wurden. Der allein aus der Zahl der Südamerikaner übernommene Wert für Lateinamerikaner ist also möglicherweise zu niedrig, da er vermutlich keine Mexikaner enthält:86 1911: 4.219 „Américains du Sud“ (Ville de Paris) 4.140 „Américians des États-Unis“ (Ville de Paris) 2.165 „Autres Américains du Nord“ (Ville de Paris) = 4.219 Lateinamerikaner
Während für die vier Jahrzehnte nach 1833 also nur eine langsame Vergrößerung der lateinamerikanischen Gemeinde in Paris nachgewiesen werden konnte, zeichnet sich für die Frühzeit der Dritten Republik bis zum Ersten Weltkrieg eine Phase intensiven Wachstums ab. Zwischen den 1870er und 1890er Jahren verdoppelte sich die Zahl der vor Ort lebenden Lateinamerikaner, um sich bis 1914 schließlich bei einer Größenordnung von über 4.000 Personen einzupendeln (Abb. 1). Die Gründe dieser verstärkten Reisetätigkeit sind in den Weiterentwicklungen der Verkehrs- und Nachrichtentechnik während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu suchen. Eine besondere Relevanz ist hier für die planmäßige Nutzung der Dampfschifffahrt seit den 1860er Jahren sowie die Verlegung des ersten Transatlantikkabels Anfang der 1870er Jahre anzunehmen.87 Ferner sorgte die Übernahme der Regierungsgewalt durch ein sich konsolidierendes Handels- und Bildungsbürgertum in fast allen Staaten Lateinamerikas seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für eine administrative und wirtschaftliche Modernisierung. Die auf diese Weise um 1870 erreichte Stabilisierung der politischen und ökonomischen Verhältnisse macht die Annahme einer gestiegenen Zahl von Vermögenden und damit potenziellen Reisenden wahrscheinlich.88 85 86 87
88
Resultats statistiques 1911, S. 2. Vgl. ebd. Die Reisedauer der windabhängigen Segelschiffe konnte selbst von brasilianischen Atlantikhäfen aus bis zu zehn Wochen betragen. Vgl. BARMAN: „Brazilians in France“, S. 26; NELLE: Atlantische Passagen, S. 220. Vgl. KÖNIG: Kleine Geschichte Lateinamerikas, S. 488-537.
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Abbildung 1: Anzahl der Lateinamerikaner in Paris, 1870-1914.
Einen sprunghaften Anstieg in der Entwicklung der lateinamerikanischen Gemeinde bis zum Ersten Weltkrieg weisen lediglich die Zählungen der Jahre 1891 und 1901 auf, die vermutlich auf die vorangegangenen Pariser Weltausstellungen von 1889 und 1900 zurückzuführen sind. So verzeichnete die Stadt zu allen Weltausstellungen eine starke Zunahme ihrer Ausländerzahl. Hatte bereits Napoleon III. die Ausstellungen zur Demonstration französischer Größe genutzt, ging es der Dritten Republik um deren Wiederherstellung. Dementsprechend lockte die Weltausstellung des Jahres 1900 mit ihrer prachtvollen Inszenierung von Paris als Hauptstadt der Technik, des Fortschritts und „vitrine économique“89 der Moderne nicht weniger als 50 Millionen Besucher aus aller Welt an, womit die damalige Einwohnerzahl Frankreichs deutlich übertroffen wurde.90 Unter den internationalen Gästen erreichten auch viele Lateinamerikaner die Stadt und ließen sich hier für mehrere Jahre nieder. So war die Weltausstellung des Jahres 1900 Anlass und Beginn der Parisaufenthalte zahlreicher lateinamerikanischer Intellektueller, wie beispielsweise der Schriftsteller Rubén Darío (1867-1916) aus Nicaragua, Amado Nervo (1870-1919) aus Mexiko und Horacio Quiroga (1878-1937) aus Uruguay.91 89 90
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GARDEN, Maurice: „Paris“, in: PINOL, Jean-Luc (Hg.): Atlas historique des villes de France. Paris: Hachette, 1996, S. 60. Paris war Ort der Weltausstellungen von 1855, 1867, 1878, 1889, 1900 und 1937. Zu ihrem Einfluss auf die Ausländerzahlen der Stadt vgl. GERBOD: „Des étrangers à Paris“, S. 573; BEUTLER, Christian: Weltausstellungen im 19. Jahrhundert. München: Städtisches Museum für Angewandte Kunst, 1973, S. XXVIII-XXXI; GAILLARD, Marc: Paris: les expositions universelles de 1855 à 1937. Paris: Presses Franciliennes, 2003. Vgl. TORRES, Edelberto: La dramática vida de Rubén Darío. Managua: Ed. Nueva Nicaragua, 1982, S. 243; DURÁN, Manuel: Genio y figura de Amado Nervo. Buenos Aires: Ed. Universi-
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Dass die starke Verdichtung der lateinamerikanischen Präsenz in Paris vor dem Ersten Weltkrieg bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde, ist auf das explosive Wachstum der Stadt im gleichen Zeitraum zurückzuführen. Nachdem die Einwohnerzahl von Paris bereits Anfang der 1840er Jahre die Millionengrenze überschritten hatte, verdoppelte sich die Bevölkerung zwischen 1860 und 1914 von 1,6 Millionen auf nahezu 3 Millionen Einwohner und markiert damit die Phase des stärksten Wachstums in der Geschichte von Paris.92 Die enormen Zuwachsraten jener Jahre kamen insbesondere durch eine starke Binnenmigration aus der französischen Provinz zustande und sind nur zum Teil dem Zustrom von Ausländern zuzuschreiben.93 Hierher rührt auch das Bonmot, dem zufolge im 19. Jahrhundert andere Europäer in die Welt auswanderten, Franzosen hingegen nach Paris.94 Beinahe die Hälfte der innerfranzösischen Migration erfolgte dabei aus den Regionen nördlich der Loire, während die Hauptstadt auf den Süden des Landes eine geringere Anziehungskraft ausübte. Insgesamt führte der starke Zustrom von Migranten aus dem In- und Ausland bereits 1891 zu der außergewöhnlichen Situation, dass nur noch ein Drittel der Pariser Bevölkerung in der Stadt selbst geboren worden war. Mit einem Anteil von 75 Ausländern pro 1.000 Einwohner war Paris zudem die Stadt mit dem höchsten Ausländeranteil in ganz Europa,95 was bei nicht wenigen französischen Beobachtern Überfremdungsängste weckte und Forderungen nach schärferen Zuwanderungs-
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93
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taria, 1968, S. 71; LOPETEGUI, Guillermo: „París en Horacio Quiroga: el acierto de un viaje equivocado“, in: Cahiers d’études romanes 13 (1988), S. 55-71. Vgl. GARDEN: „Paris“, S. 48. Die Marke von 3 Millionen Einwohnern wurde nie erreicht. Seit ihrem Höchststand von 2.906.472 Bewohnern im Jahr 1921 ist die Einwohnerzahl von Paris rückläufig und beträgt Anfang des 21. Jahrhunderts rund 2,2 Millionen. Vgl. Populations légales des arrondissements municipaux en vigueur au 1er janvier 2010: 75 – Paris. URL: http:// www.insee.fr/fr/ppp/bases-de-donnees/recensement/populations-legales/pages2009/pdf /dep75.pdf, Stand: 02.12.2010. Im Großraum Paris leben dagegen mehr als 11,5 Millionen Menschen. Vgl. Populations légales 2007 des régions de France métropolitaine. URL: http://www. insee.fr/fr/ppp/bases-de-donnees/recensement/populations-legales/france-regions.asp?a nnee=2007#regions, Stand: 02.12.2010. Zur französischen Binnenmigration vgl. FARCY, Jean-Claude und Alain FAURE: La mobilité d’une génération de Français. Recherche sur les migrations et les déménagements vers et dans Paris à la fin du XIXe siècle. Paris: Institut National d’Études Démographiques, 2003 (Les cahiers de l’INED; 151), S. 1-13, 55-99 und Abb. 2, S. 24; CHEVALIER, Louis: La formation de la population parisienne au XIXe siècle. Paris: PUF, 1950 (Travaux et documents/Institut National d’Etudes Démographiques; 10); GAILLARD, Jeanne: „Les migrants à Paris au XIXe siècle. Insertion et marginalité“, in: Ethnologie française 10 (1980), S. 129-136; FAURE: „Comment devenait-on Parisien?“, S. 37-57. Vgl. MARCHAND: Paris, S. 122. Zum Vergleich: Sankt Petersburg: 24 v.T., London: 22 v.T., Wien: 22 v.T., Berlin: 11 v.T. Vgl. BERTILLON, Jacques: „Sur l’origine ethnique des habitants de Paris“, in: Bulletins de la Société d’Anthropologie de Paris, IVe Série, 7 (1896), S. 20-30; CASSELLE: Nouvelle histoire, S. 127132.
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I. Statistik
beschränkungen auf den Plan rief.96 Faktisch hatte sich durch die konstant starke Binnenmigration der Anteil der Ausländer in Paris jedoch seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum verändert. Ein leicht gestiegener Ausländeranteil lässt sich allenfalls beim Blick auf das gesamte Land feststellen, da die französische Bevölkerung im Gegensatz zu der aller anderen europäischen Staaten zwischen 1851 und 1940 bei knapp unter 40 Millionen Menschen stagnierte.97 Wie klein der Anteil der rund 4.000 Lateinamerikaner in Paris am Vorabend des Ersten Weltkriegs war, verdeutlicht neben der Entwicklung der Gesamteinwohnerzahl auch ein Blick auf andere Ausländergemeinden der Stadt. So stellten Belgier, Italiener, Deutsche, Schweizer und Spanier Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die traditionell stärksten Einwanderernationen in Paris. Ihre Gruppen erreichten bereits während der 1890er Jahre Größenordnungen von teilweise mehr als 30.000 Landsleuten. Die Zahl der Lateinamerikaner entsprach zur gleichen Zeit in etwa der Zahl der in Paris lebenden Niederländer.98 Im Vergleich zu anderen außereuropäischen Gemeinden waren die Süd- und Mittelamerikaner allerdings verhältnismäßig stark vertreten, da noch um 1900 weniger als 200 Asiaten und Afrikaner in der Stadt registriert waren. Aufgrund der ebenfalls enormen Reisedistanzen sollten eher letztere den Vergleichsmaßstab für die Größe der lateinamerikanischen Gemeinde bilden, nicht Belgier, Italiener oder Deutsche.99 Im Ausbruch des Ersten Weltkriegs sieht die bisherige Forschung schließlich eine schwere Erschütterung, wenn nicht ein jähes Ende der lateinamerikanischen Gemeinde in Paris. Das Jahr 1914 wird dabei gemeinhin als „une véritable débâcle dans la colonie sud-américaine de Paris“100 und das lateinamerikanische
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Ein Beispiel für diese Problematik ist die Schrift von DALLIER, Georges: La police des étrangers à Paris et dans le département de la Seine. Paris: Rousseau, 1914. Zugleich Diss., Univ. Paris, 1914. Für den Ausländeranteil von Paris vgl. GERBOD: „Des étrangers à Paris“, S. 272; LEQUIN, Yves: „L’invasion pacifique“, in: LEQUIN, Yves (Hg.): Histoire des étrangers et de l’immigration en France. Paris: Larousse, 2006, S. 292-299; NOIRIEL, Gérard: Le creuset français. Histoire de l’immigration XIXe-XXe siècle. Paris: Éd. du Seuil, 1988 (Collection „L’Univers historique“; 55), S. 407-409. Für Frankreich gesamt vgl. BARJOT, Dominique: Histoire économique de la France au XIXe siècle. Paris: Nathan, 1995, S. 41-64; ENGELS, Jens Ivo: Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870-1940). Köln u.a.: Böhlau, 2007, S. 92-96, 162f. Die Zahl der Niederländer in Paris bewegte sich während der 1890er Jahre um 4.000 Personen, lag also etwas über der Zahl der Lateinamerikaner. Vgl. Résultats statistiques 1891, S. 123; Résultats statistiques 1896, S. 141. Vgl. Résultats statistiques 1896, S. XXXV. Dass in Paris traditionell Ausländer aus den Nachbarländern Frankreichs dominierten, zeigen auch DUBOST: „Les étrangers“, S. 238-240 und GRANDJOC, Jacques: „Eléments statistiques pour une étude de l’immigration étrangère en France de 1830 à 1851“, in: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), S. 211-300. AUBRUN, Charles Vincent: „Les lettres hispano-américains au Mercure de France entre 1897 et 1915“, in: Cahiers des Amériques latines: Série Arts et Littératures 1 (1967), S. 11.
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Kulturleben der Stadt gar als „la mayor víctima de la Primera Guerra Mundial“101 bezeichnet. Statistisch belegbar sind diese Thesen allerdings nicht, da während der Kriegsjahre 1914-18 keine Erhebungen zur Zahl der in Paris lebenden Ausländer durchgeführt wurden. Allerdings enthalten die Selbstzeugnisse mehrerer lateinamerikanischer Zeitgenossen Aussagen, die auf ein überstürztes Verlassen der Stadt hinweisen. Eine besonders eindringliche Schilderung des plötzlich über die Akteure hereinbrechenden Unglücks liefert das Tagebuch des Venezolaners Rufino Blanco Fombona (1874-1944), der am 31. Juli 1914 beim Anblick von in der Hauptstadt zusammengezogenen französischen Infanterieregimentern notierte: „Los soldaditos continuaron marchando y cantando. ¡Nunca he visto un canto ni un espectáculo más triste!”102 In der ersten Augustwoche dokumentieren seine Aufzeichnungen die allgegenwärtige Angst vor einer erneuten Belagerung von Paris und den nicht versiegenden Strom von Menschen zu den Bahnhöfen: Alle Welt reise ab, doch niemand wisse, wohin. Die chaotische Flucht vieler Ausländer und Franzosen sowie das weitgehende Erliegen des öffentlichen Lebens im sonst so lebendigen Paris werden aus Blanco Fombonas Notizen zum 10. August 1914 deutlich: „¡Qué desorden en este país de orden! ¡Qué tristeza en este país de alegría!“103 Zwei Wochen später setzte sich der venezolanische Schriftsteller schließlich selbst über San Sebastián nach Madrid ab. In nicht weniger bedrückender Form ist die scharenweise Abreise von Ausländern aus Paris nach der Mobilmachung vom 1. August durch den mexikanischen Schriftsteller-Diplomaten Alfonso Reyes (1889-1959) festgehalten worden. Seine Erinnerungen schildern den Exodus der Ausländer infolge einer grassierenden Furcht vor den Bombardements deutscher Zeppeline und enden mit der Flucht der mexikanischen Legation in das sichere Bordeaux. Angesichts des Zusammenbruchs aller Ordnungen seines bisherigen Lebens im Verlauf von nur wenigen Tagen schloss Reyes niedergeschlagen: „Tout s’écroulait autour de moi comme un château de cartes.“104 Gestützt werden beide Augenzeugenberichte durch einen Artikel der New York Times vom 16. August 1914, der die Evakuierung von 1.000 Lateinamerikanern aus dem bedrohten Paris nach Spanien vermeldete. Organisatoren dieser gemeinschaftlichen Aktion waren die Botschafter Argentiniens, Brasiliens, Chiles und Mexikos in Frankreich, die einen Verbleib der Evakuierten jenseits der Pyrenäen bis Kriegsende vorsahen und sogar Garantien für noch bestehende Zah101
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CARRERA ANDRADE, Jorge: „Libros hispanoamericanos editados en París antes de la Primera Guerra Mundial“, in: Revista interamericana de bibliografía 23 (1973), S. 449. Auch die jüngere Forschung folgt diesen Thesen. Vgl. PATOUT: La cultura latinoamericana, S. 752; CHEYMOL: „Les revues“, S. 22; FEY: First Tango, S. 285-537; COLLARD: Des sources, S. 247. BLANCO FOMBONA, Rufino: Camino de imperfección. Diario de mi vida 1906-1914. Madrid: Editorial-América, s.d. [1933], S. 358. Ebd., S. 359. Zum Kriegsbeginn vgl. insgesamt S. 350-365. PATOUT: Alfonso Reyes, S. 106. Vgl. insgesamt S. 104-107.
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lungspflichten ihrer Landsleute in Paris übernahmen.105 Das weitere Schicksal dieser Evakuierten ist nicht dokumentiert. Da sich die Kriegsparteien nach der Schlacht an der Marne im September 1914 jedoch zunehmend im Stellungskrieg paralysierten und alle Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende erloschen, ist ab spätestens 1915 mit einer allmählichen Rückreise der Lateinamerikaner aus dem spanischen Exil in ihre Heimatländer oder sogar nach Paris zu rechnen. Denn dass selbst während der Kriegsjahre Lateinamerikaner in der Stadt blieben oder schon nach kurzer Zeit hierher zurückkehrten, wird aus mehreren biografischen Zeugnissen deutlich. So ist zuerst auf den Verbleib bedeutender lateinamerikanischer Intellektueller während der gesamten Kriegszeit hinzuweisen, die aufgrund ihrer großen Frankophilie nicht an ein Verlassen von Paris in der Notlage dachten. Zu dieser Gruppe zählten der bereits erwähnte chilenische Schriftsteller Blest Gana106 sowie Ventura García Calderón (1886-1959) aus Peru, von dem noch 1930 gesagt wurde: „A Ventura García Calderón no lo arrancan de París ni con diez tirones. Está cimentado como la torre Eiffel.“107 García Calderóns jüngerer Bruder José (1888-1915) kehrte ebenfalls nicht in die Heimat zurück, sondern fiel genau wie der kolumbianische Schriftsteller Hernando de Bengoechea (1889-1915) als Kriegsfreiwilliger der französischen Armee in Verdun.108 Ebenfalls die gesamte Kriegsdauer in Paris verbrachte der seinerzeit enorm erfolgreiche guatemaltekische Schriftsteller Enrique Gómez Carrillo (18731927), der sich während jener Jahre jedoch lediglich durch eine nie vollends aufgeklärte Affäre mit der deutschen Spionin Mata Hari (1876-1917) in Lebensgefahr brachte.109 105 106 107
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Vgl. „Latin Americans in France Aided“, in: The New York Times, New York, 16. August 1914, S. 4. Vgl. ARAYA: „Alberto Blest Gana“, S. 14. MARIBONA, Armando: El arte y el amor en Montparnasse. Documental novelado. París, 1923-1930 (impropio para menores). México, D.F.: Ediciones Botas, 1950, S. 325. Die Frankophilie des Peruaners dokumentiert die Publikation GARCÍA CALDERÓN, Ventura: Cette France que nous aimons. Genève: A l’enseigne du cheval ailé, 1945 (Le Livre Vert; 5), insbesondere S. 183202. Beide sind auf den Gedenktafeln „Écrivains morts au champ d’honneur“ im Panthéon in Paris verewigt. Auch der Band von DAIREAUX, Max: Panorama de la littérature hispano-américaine. Paris: Ed. Kra, 1930 (Les documentaires/Panoramas des litteratures contemporaines) trägt die Widmung „À la Mémoire des écrivains sud-américains Hernan de Bengoechea et José García Calderón, morts pour la France“. Insgesamt dienten während des Ersten Weltkriegs mehrere hundert lateinamerikanische Freiwillige in der französischen Armee und Fremdenlegion. Brasilianer und Mexikaner richteten 1914 sogar eigene Büros zur Anwerbung und Einschreibung von Rekruten in Paris ein. Die Zahl der gefallenen Lateinamerikaner liegt bei vermutlich 100 Personen, von denen die große Mehrheit als Studenten in Paris immatrikuliert war. Vgl. BOURLET, Michaël: „Les volontaires latino-américains dans l’armée française pendant la Première Guerre mondiale“, in: Revue historique des armées 255 (2009), S. 68-78. Den Verbleib von Ventura García Calderón in Paris würdigt der Band LEFEBVRE, Henri (Hg.): Hommage à Ventura Garcia Calderon. Paris: Lefebvre, 1947. Ob Gómez Carrillo die Beziehung sogar im Auftrag des französischen Geheimdienstes einging, konnte nie geklärt werden. Vgl. TORRES, Edelberto: Enrique Gómez Carrillo: el cro-
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Der Vorwurf des Spionageverdachts traf auch die berühmten Brasilianer Olavo Bilac (1865-1918) und Joaquim Campos Medeiros e Albuquerque (18671934)110 sowie ihren weitaus weniger bekannteren Landsmann Oscar Carvalho de Azevedo (1873-?). Erstere betrieben in Paris noch bis 1916 eine Agence américaine als Börsenrat für Kaffeehändler, bevor sie das Geschäft wegen angeblicher Deutschenfreundlichkeit aufgeben mussten. In dem zu Unrecht als „Agence boche“111 diffamierten Büro arbeitete auch der erst 1916 aus Rio de Janeiro eingetroffene Carvalho, aufgrund seiner Tätigkeit als Telegrafist geriet er ebenfalls schuldlos unter Spionageverdacht. Dass selbst inmitten des Krieges keine einseitige Bewegung von Paris zurück nach Lateinamerika existierte, dokumentiert weiterhin das Beispiel von Luiz Ullman (1894-?), der 1915 als Einkaufsagent der brasilianischen Exportfirma Bickart aus Bahia nach Paris reiste und noch im selben Jahr ebenfalls auf Seiten Frankreichs Kriegsfreiwilliger wurde.112 Auf prominenterer Ebene sei hier noch auf die Rückkehr des mexikanischen Malers Diego Rivera (1886-1957) und des bolivianischen Zinnmoguls Simón I. Patiño (1862-1947) verwiesen. Nachdem beide 1914 Paris verlassen hatten, kehrte Rivera bereits 1915 aus Madrid zurück, während Patiño und seine Familie nach zweijährigem Londoner Exil 1916 wieder eines ihrer Pariser Stadtpalais bezogen.113 Wenngleich also eine starke Abwanderung von Ausländern aus Paris infolge des Ersten Weltkriegs zu konstatieren ist, kann aufgrund der angeführten Beispiele die Vorstellung eines vollständigen Verschwindens der lateinamerikanischen Gemeinde während der Kriegsjahre nicht aufrecht erhalten werden. Richtiger erscheint die Annahme, dass von der Abreisewelle vor allem Diplomaten und temporär in Paris lebende Personen erfasst wurden, während permanent
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nista errante. Guatemala, C.A.: Libr. Escolar, 1956, S. 289-355; BARRIENTOS, Alfonso Enrique: Enrique Gómez Carrillo. 2. Aufl., Guatemala, C.A.: Ed. „José de Pineda Ibarra“, 1973 (Colección Centenario; 1), S. 110-121; MENDOZA, Juan Manuel: Enrique Gómez Carrillo. Estudio crítico-biográfico: su vida, su obra y su época. T. 2. Guatemala, C.A.: Unión Typografica, 1940, S. 274-288. Bilac war überzeugter Republikaner und lebte als Korrespondent der Zeitung Cidade de Rio (Rio de Janeiro) seit 1890 in Paris. Er gilt als einer der bedeutendsten brasilianischen Schriftsteller und kämpfte genau wie Medeiros e Albuquerque für die Abschaffung der Sklaverei in Brasilien. Beide waren Gründungsmitglieder der Academia Brasileira de Letras. Vgl. BILAC, Olavo: Obra reunida. Rio de Janeiro: Ed. Nova Aguilar, 1997 (Biblioteca lusobrasileira: Série brasileira), S. 70-72; CARELLI: Cultures croisées, S. 153-156; PONTES, Eloy: A vida exuberante de Olavo Bilac. Rio de Janeiro: Olimpio, 1944 (Coleção Documentos brasileiros; 38), S. 182-187, 592-594. Vgl. AP, Paris: BA 1982. Carvalho de Azevedo, Oscar. Vgl. AP, Paris: GA U2. Ullman, Luiz. 1971 wurde Ullman für seinen Einsatz mit dem Offizierskreuz des „Ordre national du mérite“ der Republik Frankreich ausgezeichnet. Vgl. RIVERA, Diego: My Art, My Life: An Autobiography. New York, NY: Dover Publ., 1991, S. 62-65; LOAYZA PORTOCARRERO, José Antonio: Simón, el magnate del estaño. Cochabamba: Gráfica J.V., 2006, S. 300f.; GEDDES, Charles F.: Patiño: The Tin King. London: R. Hale, 1972, S. 148f.
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niedergelassene und stark französisierte Lateinamerikaner die Stadt nicht oder nur für kurze Zeit verließen. Entscheidend für den Eindruck des so häufig behaupteten Einbruchs war vermutlich vielmehr der Wegfall der lateinamerikanischen Reisenden. Dass allein deren Ausbleiben bereits als Verschwinden der kompletten Gemeinde wahrgenommen wurde, verdeutlicht schließlich den großen Anteil der nur übergangsweise in Paris befindlichen Personen an der gesamten lateinamerikanischen Gemeinde. Letztlich deutet auch die fast vollständige Auflösung der lateinamerikanischen Zeitungslandschaft im Paris der Kriegsjahre auf eine merklich geschrumpfte Anzahl von Lateinamerikanern in der Stadt hin.114 Die Größenordnung ihrer Gruppe muss aufgrund des Fehlens jeglicher statistischer Angaben für die Zeit von 1914-1918 jedoch offen bleiben. Für die anschließende Zwischenkriegszeit ist die Quellenlage ungleich günstiger. So dokumentieren die statistischen Jahrbücher der Stadt Paris ausführlich die Entwicklung der Ausländerzahlen im Zeitraum von 1920-1937. Aus der Datenserie lassen sich folgende Zahlen für Lateinamerikaner gewinnen:115 1920: 7.925 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1921: 10.397 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1922: 11.539 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1923: 13.534 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1924: 15.376 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1925: --1926: 8.271 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1927: 10.015 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1928: 12.236 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1929: 13.967 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1930: 14.383 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1931: 9.939 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1932: 9.239 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1933: 7.033 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1934: 6.282 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1935: 5.413 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1936: 4.040 Lateinamerikaner (Departement Seine) 1937: 3.134 Lateinamerikaner (Departement Seine)
Damit weist die Datenreihe drei Besonderheiten auf. Bemerkenswert erscheint zuerst die bereits enorm große Anzahl von Lateinamerikanern in Paris bei Wiederaufnahme der Erhebungen im Jahr 1920. Der hier abgebildete Ausgangswert von nahezu 8.000 Personen stellt beinahe eine Verdopplung der letzten vor dem Krieg ermittelten Anzahl dar und spricht damit ebenfalls gegen ein komplettes 114 115
Zum Verschwinden der Zeitungslandschaft vgl. S. 300f. dieser Arbeit. 1920: Annuaire statistique 1920, S. 176; 1921-1922: Annuaire statistique 1921-22, S. 298f.; 1923-1924: Annuaire statistique 1923-24, S. 300f.; 1926: Annuaire statistique 1925-26, S. 459; 1927-1928: Annuaire statistique 1927-28, S. 157; 1929-1931: Annuaire statistique 1929-30-31, S. 266f.; 1932-1934: Annuaire statistique 1932-33-34, S. 444f.; 1935-1937: Annuaire statistique 1935-36-37, S. 502f.
1. Anzahl
47
Verschwinden der Lateinamerikaner zwischen 1914 und 1918. Als Grund für den ungleich größeren Umfang ihrer Gemeinde Anfang der 1920er Jahre sind die schweren Folgelasten des Ersten Weltkriegs für die französische Wirtschaft zu nennen. Diese führten zu mehrfachen Abwertungen des Franc, wodurch sich für Ausländer vorteilhafte Wechselkurse und die Möglichkeit zu günstigen Aufenthalten in Paris ergaben. Insbesondere Lateinamerikaner profitierten von diesem Umstand. Aufgrund der verhältnismäßig geringen Kosten konnten sich nun auch jene Menschen eine Parisreise leisten, für die ein kostspieliger Aufenthalt in der Stadt noch zu Beginn des Jahrhunderts weniger einfach zu realisieren gewesen wäre. Dieser Faktor begünstigte nicht zuletzt die große künstlerische und kulturelle Dynamik der beginnenden Années folles.116 Vor diesem Hintergrund erscheint der Knick in der Statistik Mitte der 1920er Jahre erstaunlich. Allerdings trügt hier der Eindruck eines Bruchs, da die vermeintliche Abnahme der lateinamerikanischen Bevölkerung von Paris nicht etwa im Untersuchungsgegenstand selbst begründet liegt, sondern lediglich in einer Änderung der Zählweise. So wurden zum Einen 1925 die Ausweiskarten in Frankreich ausgetauscht, wodurch eine Differenz zwischen der Zahl der registrierten und tatsächlich anwesenden Personen offenbar wurde. Hatten die Pariser statistischen Jahrbücher bislang alle im Laufe eines Jahres bei der Polizeipräfektur gemeldeten Ausländer erfasst, wurde von nun an ein Abgleich mit Fortzügen ins Ausland und in die französische Provinz durchgeführt. Aufgrund dieser Umstellung wurden für das Jahr 1925 keine Zahlen ermittelt und die folgenden Erhebungen setzten auf einem niedrigeren Niveau wieder ein.117 Zum Anderen wurde speziell für Lateinamerika das Spektrum der erfassten Nationen reduziert. Verzeichnete die Statistik von 1920-1924 noch die Angehörigen von 20 lateinamerikanischen Nationen, so schieden ab 1926 Bolivianer, Costaricaner, Dominikaner, Ecuadorianer, Guatemalteken, Honduraner, Nicaraguaner, Paraguayer und Salvadorianer aus den Erhebungen aus. Über die Gründe der künftigen Nichtbeachtung dieser Staaten schwiegen die Statistiker. Für kleinere Staaten könnte die ohnehin sehr geringe Anzahl ihrer in Paris lebenden Landsleute von Ausschlag gewesen sein. Folgt man dieser Logik, erscheint allerdings die fortwährende Verzeichnung von Panamaern erstaunlich, während weitaus stärker vertretene Nationen wie Ecuador, Bolivien und Guatemala nicht mehr registriert wurden. Da die Summe der 1924 letztmals erfassten Staaten 1.349 Personen betrug, erklärt deren Ausscheiden aus der Statistik einen weiteren Teil des scheinbaren Bruchs Mitte der 1920er Jahre.118 116
117 118
Vgl. CHEYMOL, Marc: Miguel Angel Asturias dans le Paris des „années folles“. Grenoble: Presses Univ. de Grenoble, 1987, S. 32f.; CHEYMOL: „Les revues“, S. 16; PATOUT, Paulette: „Teresa de la Parra, París y Las Memorias de Mamá Blanca“, in: BOSCH, Velia (Hg.): Teresa de la Parra: Las memorias de Mamá Blanca. Madrid: CSIC, 1988 (Colección Archivos; 9), S. 161; PATOUT: „La cultura latinoamericana“, S. 754. Vgl. Annuaire statistique 1925-26, S. 459. Vgl. Tab. 1, S. 55 und Abb. 2, S. 50 dieser Arbeit.
48
I. Statistik
Die seit 1930 stetig sinkende Zahl spiegelt hingegen die tatsächliche Rückkehr der meisten Lateinamerikaner in ihre Heimatländer infolge des New Yorker Börsenkrachs von 1929 wider.119 Im Zuge der immer stärkeren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise stoppten zu Beginn der 1930er Jahre viele lateinamerikanische Staaten den Abfluss von privaten Kapitalvermögen ins Ausland, um zusätzliche Steuerausfälle zu vermeiden.120 Diese Maßnahmen trafen insbesondere superreiche lateinamerikanische Rentiers in Paris, die hier jahrelang von in ihren Heimatländern erwirtschafteten Vermögen gelebt hatten. Da der französische Fiskus deren Einkommen ebenfalls aufgrund der Krise mit einer hohen Zusatzsteuer belegte, gaben in der Folgezeit immer mehr Lateinamerikaner ihre Existenz in Paris auf: „Ce fut la fuite. Tous déguerpirent!“121 Hinzu kam ein verstärktes Misstrauen gegenüber Fremden in Frankreich während der Spätphase der Dritten Republik. Immer häufiger sahen sich Ausländer in der Rolle von Sündenböcken, die angeblich die Schuld an Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot trugen und die französische Identität bedrohten. So ist ab dem Beginn der 1930er Jahre das Bewusstsein einer tiefen Krise in der französischen Gesellschaft nachweisbar, die mit dem Sturz Daladiers 1934 und einem Erstarken des Rechtsextremismus schließlich vom wirtschaftlichen auch auf den politischen Bereich übergriff. Die in weiten Teilen Europas bereits offenkundige Abschottung nach Außen infolge der Krise hatte auch Frankreich erreicht.122 Wie schwer den seit Jahren vor Ort lebenden Lateinamerikanern der Abschied von der Lichterstadt fiel, belegt die Berichterstattung der lateinamerikanischen Zeitungspresse von Paris, die durch den Verlust ihrer Leserschaft ebenfalls binnen weniger Jahre aus der Stadt verschwinden sollte.123 Hier äußerte sich ein einhelliges Bedauern über „les circonstances économiques qui ont contraint presque tous nos amis à rentrer“124 und forderte bei allem Verständnis für die von Regierungsseite getroffenen Maßnahmen eine Berücksichtigung von 119
120
121
122
123 124
Vgl. PATOUT: „La cultura latinoamericana“, S. 757; NAVARRETE, William: Cuba: la musique en exil. Paris: L’Harmattan, 2003 (Recherches Amériques latines), S. 100. Dass andere Ausländer in gleicher Weise betroffen waren, zeigt CRESPELLE, Jean-Paul: La vie quotidienne à Montparnasse à la grande époque (1905-1930). Paris: Hachette, 1976, S. 159-181. Vgl. die Ankündigung der kolumbianischen Regierung „Colombia Plans Tax on Rich Expatriates“, in: The New York Times, New York, 16. November 1930, S. 5: „A drastic tax measure aimed directly at expatriates is being considered by the Republic of Colombia. If it is adopted the nation will be able to collect tens of thousands of dollars annually from citizens living abroad whose incomes are from Colombia.” WALEFFE: „L’Amérique latine“, s. p. Die Zusatzsteuer betrug das siebenfache der Wohnungsmiete einer Person. Zu den Maßnahmen der lateinamerikanischen Regierungen vgl. auch CHEYMOL: „Les revues“, S. 16. Vgl. ENGELS: Kleine Geschichte, S. 193-199; RÉMOND, René: Frankreich im 20. Jahrhundert. Erster Teil: 1918-1958. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1994 (Geschichte Frankreichs; 6,1), S. 172-197. Vgl. S. 300f. dieser Arbeit. MAGELLAN: „L’exode des Argentins“, in: Revue de l’Amérique Latine, Paris, Nr. 123, JuliSeptember 1932, S. XX.
1. Anzahl
49
Einzelschicksalen. Da viele junge Lateinamerikaner eigens zu Studien- und Ausbildungszwecken nach Paris gekommen seien und ihre vor Ort lebenden Eltern noch Mietzahlungen, Kredite und vertragliche Verpflichtungen verschiedener Art zu erfüllen hätten, sei eine plötzliche Abreise in vielen Fällen nicht möglich. In die gleiche Richtung zielte der verbitterte Leserbrief des Argentiniers Luis P. Caña, der wenigstens auf einem würdigen Abschied von der jahrelangen Wahlheimat bestand:125 Après avoir profité pendant des années de la généreuse hospitalité française, nous ne voulons pas partir en laissant des dettes d’impôts et de loyer. S’il faut rentrer, nous rentrerons, mais nous ne laisseront pas de dettes ici, tant pour notre honneur personnel que pour le crédit moral de notre pays.
Zusammenfassend ergibt das statistische Material zur Entwicklung der lateinamerikanischen Gemeinde in der Spätphase der Dritten Republik also das Bild zweier sehr verschiedener Jahrzehnte (Abb. 2). Während die Anzahl der in Paris lebenden Lateinamerikaner in den 1920er Jahren immense Zuwachsraten und ein Allzeithoch von über 15.000 Personen verzeichnete, brach sie infolge der Weltwirtschaftskrise dramatisch ein und fiel allmählich auf das Niveau der 1890er Jahre zurück. Dass selbst die Spitzenwerte der Années folles in Paris praktisch unbemerkt blieben, liegt an ihrem Zusammenfallen mit dem historischen Höchststand der Pariser Bevölkerungszahl im gleichen Zeitraum. So erreichte der Anteil der Lateinamerikaner an den fast drei Millionen Bewohnern der Stadt 1924 lediglich einen Wert von 0,5 %. Auch in absoluten Zahlen übertraf selbst dieser Höchststand damit kaum die Zahl der vor Ort lebenden Luxemburger.126 Eine weitere Erklärung für das Wachstum der lateinamerikanischen Gemeinde bis 1930 liefert schließlich ein Blick auf die andere Seite des Atlantiks: Die Bevölkerung Lateinamerikas stieg zwischen 1850 und 1900 von 30 auf 60 Millionen und verdoppelte sich bis 1940 nochmals auf 124 Millionen Einwohner.127 Eine kontinuierliche Zunahme der Europareisenden erscheint vor diesem Hintergrund nur zu plausibel.
125 126 127
Ebd., S. XXI. 1924 lebten etwa 14.000 Luxemburger in der Stadt. Vgl. Annuaire statistique 1923-24, S. 301. Vgl. BREA, Jorge A.: „Population Dynamics in Latin America“, in: Population Bulletin 58:1 (2003), S. 6f.
I. Statistik
50
16000 14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000 0 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937
Abbildung 2: Anzahl der Lateinamerikaner im Departement Seine, 1918-1940.
2. Nationale Zusammensetzung Über die Anteile einzelner Nationen an der lateinamerikanischen Gemeinde in Paris vor dem Ersten Weltkrieg existieren keine statistischen Angaben. Allerdings lassen verschiedene indirekte Aussagen zu diesem Thema für weite Teile des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine maßgeblich von Brasilianern dominierte lateinamerikanische Präsenz in der Stadt schließen. Als Grundlagen dieser Annahme sind zuerst zwei frühe Abhandlungen über Ausländer in Paris zu nennen, die aus der Zeit der Julimonarchie und des Zweiten Kaiserreichs stammen. So widmete die 1846 erschienene Sammlung Les étrangers à Paris einzig den in der Stadt lebenden Brasilianern ein eigenes Kapitel, während die Anwesenheit von Angehörigen anderer lateinamerikanischer Staaten unerwähnt blieb. Die Beschreibung der brasilianischen Bevölkerung von Paris erfolgte dabei mit großem Wohlwollen und legte Wert auf die Tatsache, dass es sich bei den weitgereisten Gästen um eine elitäre Gruppe von Pflanzern und Kaufleuten handelte: „Tout Brésilien qui n’est pas planteur de sucre est actionnaire d’une compagnie pour l’exploitation des mines.“128 Da das Vermögen der Brasilianer auf Sklavenarbeit beruhe, seien sie die respektvolle Untergebenheit niedriger sozialer Schichten gewohnt und in Paris häufig ob des Verhaltens von 128
MERRUAU, Paul: „Le Brésilien“, in: DESNOYERS, Louis (Hg.): Les étrangers à Paris. Paris: Charles Warée, 1846, S. 362.
2. Nationale Zusammensetzung
51
„nos classes inférieures“129 irritiert. Insbesondere das Benehmen von Pariser Kutschern oder Restaurantkellnern erschüttere die Disziplinvorstellungen der brasilianischen Gäste, die nach Auskunft des Verfassers auch in Frankreich nicht auf die Begleitung ihrer Sklaven verzichteten. Seine frühe Schilderung von Brasilianern in Paris schloss mit einem Lob auf deren Fleiß und Unternehmergeist, der auch den Treffpunkt brasilianischer Ingenieure, Geschäftsleute und Handlungsreisender in Paris auszeichne. So könne in der Passage Dauphine unweit des Pont Neuf beim Duft von frischem Tabak und Kaffee ein lebhaftes Geschäftstreiben in portugiesischer Sprache verfolgt werden.130 Auf ein Übergewicht des brasilianischen Anteils an der lateinamerikanischen Gemeinde von Paris deutet auch ein zwanzig Jahre später erschienenes Reisehandbuch für die französische Hauptstadt hin, wenngleich die Brasilianer hier fälschlicherweise zur stärksten Fraktion der Hispanoamerikaner erklärt wurden.131 Eine eigene Behandlung von Nationen aus dem spanischsprechenden Teil Amerikas sucht man allerdings auch in dieser Sammlung der verschiedenen Pariser Ausländergruppen vergeblich. Aufgrund der großen Anzahl von vor Ort leenden Brasilianern sei der Pariser Öffentlichkeit sogar unbekannt, dass es neben diesen noch andere lateinamerikanische Länder gebe und auch Menschen aus Valparaiso, Lima oder Havanna in ihrer Mitte lebten. Der um Aufklärungsarbeit bemühte Verfasser teilte die lateinamerikanische Gemeinde schließlich in Superreiche, Politiker und Schriftsteller und erklärte den Reichtum zum Hauptmerkmal ihrer Gruppe: „Presque tous les Américains d’ici ont la fortune, ou tout au moins l’aisance.“132 So besäßen die Beschriebenen neben wunderschönen Frauen auch Plantagen und „estancias“133 mit abertausenden von Sklaven, Pferden und Rindern; noch im Vorjahr sei eine brasilianische Familie mit 18 schwarzen Sklaven und 22 Überseekoffern in Paris eingetroffen. Die Bewunderung des Verfassers kulminierte schließlich in dem Bekenntnis: „On admire parfois la grâce parfaite avec laquelle les Américains jettent l’argent par les fenêtres.”134 Trotz der wiederholten Sympathiebekundungen gegenüber der skizzierten Bevölkerungsgruppe verlor die nur das Exotische würdigende Beschreibung nie den Unterton der Überlegenheit des Europäers gegenüber „ces fleurs des tropiques transplantées, aux formes bizarres et aux couleurs éclatantes“,135 denen Frankreich aufgrund seiner zivilisatorischen Mission gar als natürliche „mère adoptive“136 angeboten 129 130 131
132 133 134 135 136
Ebd. Vgl. ebd., S. 361-372. Vgl. HEREDIA, Severino: „Les Hispano-Américains“, in: Paris Guide. Par les principaux écrivains et artistes de la France. T. 2: La vie. Paris: Librairie internationale, 1867, S. 1080-1086. Möglicherweise war der erst kurz zuvor eingeführte Terminus „Lateinamerika“ dem Autor noch nicht geläufig. Vgl. Anm. 32. Ebd., S. 1085. Ebd., S. 1083. Ebd. Ebd., S. 1081. Ebd., S. 1086.
52
I. Statistik
wurde. Letztlich verrät allein die Fokussierung auf Brasilianer als vermeintlich typische Vertreter des spanischsprechenden Amerikas eine undifferenzierte Wahrnehmung ihrer Präsenz in Paris, die von späteren lateinamerikanischen Reisenden noch fortwährend beklagt werden sollte. Erste zahlenmäßige Indizien für eine brasilianische Mehrheit unter den vor Ort lebenden Lateinamerikanern lieferte endlich ein Verzeichnis der in der Stadt erhältlichen ausländischen Zeitungen aus dem Jahr 1868. So stammten von insgesamt 23 durch das französische Innenministerium genehmigten Importzeitungen aus Süd- und Mittelamerika nicht weniger als elf aus Brasilien. Allein die per Postschiff aus Rio de Janeiro eingeführte Tageszeitung Jornal do Comercio erreichte Paris regelmäßig in einer Auflage von mehr als 1.100 Exemplaren.137 Wenngleich Informationen aus dem größten Staat Lateinamerikas vermutlich auch einen französischen Interessentenkreis fanden, spricht der Import eines lusophonen Nachrichtenblattes in diesem Umfang für die Existenz eines beachtlichen brasilianischen Lesepublikums. Darauf deutet auch die im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Nationen frühe Herausgabe einer eigenen brasilianischen Zeitung in Paris ab 1881 hin.138 Etwa zur gleichen Zeit gaben die Klatschspalten der Hauptstadtpresse Auskunft über neu in Paris eintreffende Persönlichkeiten aus aller Welt. Zwar machten die Lateinamerikaner nur eine kleine Minderheit aller hier genannten Gäste aus, doch weisen auch diese Meldungen auf eine brasilianische Mehrheit unter den ankommenden Lateinamerikanern hin. Die wenigen überlieferten Exemplare des Journal des Étrangers belegen zudem den bereits aus vorhergehenden Beschreibungen zu folgernden exklusiven Status der brasilianischen Reisenden, die sich ausnahmslos in den vornehmen Hotels der Rive Droite zwischen Rue de Rivoli (I./IV. Arr.) und Boulevard Haussmann (VIII./IX. Arr.) niederließen.139 Während allein für Paris keine offiziellen Statistiken zur Bestätigung dieser Eindrücke vorliegen, kann für ganz Frankreich erstmals 1892 eine Mehrzahl von Brasilianern belegt werden. So bezifferte die Zeitung América en París die Zahl der in Frankreich lebenden Lateinamerikaner in jenem Jahr auf 2.230 Personen. Dass dieser Wert unter der 1891 allein für Paris ermittelten Anzahl liegt, ist auf eine ausschließliche Berücksichtigung der mit dauerhaftem Wohnsitz angemeldeten Lateinamerikaner zurückzuführen und verdeutlicht damit erneut den transi-
137 138 139
Vgl. ANF, Paris: F/18/550. Presse étrangère. 1823-1886. Dossiers des journaux introduits en France: classement alphabétique des pays. Brésil, Colombie, Haïti, 1850-1886. Vgl. die Beschreibung der Zeitung Le Brésil auf S. 267-270 dieser Arbeit. Vgl. Journal des étrangers de Paris. Contenant la liste des étrangers, les échos du monde élégant de Paris et de l’étranger, des villes d’eaux, bains de mer et stations thermales, Paris, s. n., 15. Feb. 1879, S. 1-2 und Nr. 1 (N.S.), 30. Okt. 1879, S. 1. Zur Lokalisierung der Hotels vgl. BAEDEKER, Karl: Paris und Umgebungen: Handbuch für Reisende mit 13 Karten und 26 Plänen und Grundrissen. 13. Aufl., Leipzig: Baedeker, 1891 (Baedeker’s Reisehandbücher), S. 5-10, wo die von Brasilianern bevorzugten Hotels Dominici, Grande Bretagne und Palais Royal unter den Gasthöfen ersten und zweiten Ranges geführt wurden.
2. Nationale Zusammensetzung
53
torischen Charakter ihrer Aufenthalte.140 Für die einzelnen Nationalitäten innerhalb der lateinamerikanischen Gemeinde sah die Zeitung schließlich folgende Größenverteilung vor:141 Brésiliens: Argentins: Mexicains: Chiliens: Colombiens: Péruviens: Vénézuéliens: Haïtiens: Uruguayens: Boliviens: Équatoriens: Salvadoriens: Paraguayens: Dominicains: Costaricains: Guatémaltèques:
729 395 226 175 154 154 129 98 75 36 34 9 7 6 5 3
[32,7%] [17,7%] [10,1%] [7,8%] [6,9%] [6,9%] [5,8%] [4,4%] [3,4%] [1,6%] [1,5%] [0,4%] [0,3%] [0,3%] [0,2%] [0,1%]
Somit bildet die Auflistung der einzelnen lateinamerikanischen Nationen in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts ein Verhältnis ab, dass im Wesentlichen dem ihrer Bevölkerungsgrößen zu jener Zeit entsprach.142 Das Ergebnis belegt ferner eine vergleichbar große Frankophilie in allen lateinamerikanischen Staaten, weist es doch keine überproportional hohen oder niedrigen Reisequoten in Bezug zur Bevölkerungsstärke eines Landes auf. Da ein Parisbesuch die Hauptmotivation von Frankreichreisen war, ist die Annahme einer ähnlichen nationalen Verteilung für die Hauptstadt wahrscheinlich. Dass auch die dortige Gemeinde überwiegend aus Angehörigen des größten lateinamerikanischen Staates bestand, versinnbildlicht schließlich ein Ausspruch des chilenischen Literaten Joaquín Edwards Bello (1887-1968), der noch Anfang des 20. Jahrhunderts konstatierte: „En general a todos los americanos del Sur nos llaman en París des brésiliens.“143 Aufgrund aller angeführten Indizien erscheint somit ausgeschlossen, dass vor 1914 eine andere lateinamerikanische Nation ähnlich stark in der französischen Hauptstadt vertreten war wie die brasilianische. Zur Erklärung dieses deutlichen brasilianischen Übergewichts ist neben dem Bevölkerungsreichtum des Landes vor allem die relative Stabilität seiner politi140 141 142
143
Vgl. GONZÁLEZ ERRÁZURIZ: Aquellos años franceses, S. 305. „Los extranjeros en Francia“, in: América en París, Paris, Nr. 27, 15. Februar 1892, S. 34. Nach Brasilien (17,3 Mio. Einwohner) waren im Jahr 1900 Mexiko (13,6 Mio.), Argentinien (4,7 Mio.), Peru und Kolumbien (je 3,8 Mio.) die bevölkerungsreichsten Staaten Lateinamerikas. Südlich der USA lebten damals insgesamt 61 Mio. Menschen. Vgl. SÁNCHEZALBORNOZ, Nicolás: The Population of Latin America: A History. Berkeley, CA u.a.: University of California Press, 1974, S. 169. Vgl. GONZÁLEZ ERRÁZURIZ: Aquellos años franceses, S. 306.
54
I. Statistik
schen Verhältnisse nach den niedergeschlagenen Revolten der 1840er Jahre zu nennen. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten waren die Güter und Vermögen der brasilianischen Oberschicht aus Grundbesitzern, Pflanzern und Kaufleuten nicht durch einen Unabhängigkeitskrieg vernichtet worden. Daneben müssen die äußerst lukrativen Exportgeschäfte mit Zucker, Kaffee und Kautschuk als begünstigende Faktoren für die große Zahl von brasilianischen Parisreisenden in Betracht gezogen werden.144 Ferner waren alle Großstädte des Landes Atlantikhäfen von zum Teil erheblicher Relevanz für den Fernverkehr, wodurch sich für Reiseverbindungen nach Europa ein geografischer Vorteil gegenüber Binnenländern wie Paraguay und Bolivien oder an der Pazifikküste gelegenen Staaten ergab. Eine präzise Erfassung der einzelnen lateinamerikanischen Nationalitäten in Paris erfolgte schließlich erst in den Volkszählungen der Zwischenkriegszeit (Tab. 1).145 Die erstmals getrennte Verzeichnung der verschiedenen Staatsangehörigkeiten bestätigt dabei die für das 19. Jahrhundert angenommene Dominanz von Brasilianern noch bis zum Beginn der 1920er Jahre. Ihre Anzahl wurde erst 1923 dauerhaft von Argentiniern übertroffen. Letztere machten bis zum Ende der Dritten Republik die mit Abstand größte Gruppe der Lateinamerikaner in Paris aus. Während sich das Anwachsen der Gesamtgemeinde bis 1930 in den absoluten Zahlen aller Nationen widerspiegelt, nahm die Anzahl der Brasilianer nur noch in so geringem Maße zu, dass ihr relativer Anteil schon vor dem New Yorker Börsencrash sank. Die Anteile von anderen südamerikanischen Ländern wie Kolumbien, Chile und Peru nahmen dagegen während der 1920er Jahre kontinuierlich zu. Diese Tendenz kehrte sich schließlich erst durch die Weltwirtschaftskrise um. Wie Tabelle 1 veranschaulicht, traf die krisenbedingte Abreisewelle vor allem Angehörige der großen Staaten, sodass sich unter den in Paris verbliebenen Lateinamerikanern die Anteile kleinerer Nationen nahezu verdoppelten. Für die Angehörigen der zentralamerikanischen und karibischen Staaten ist diese Entwicklung darauf zurückzuführen, dass die Zahl ihrer in Paris lebenden Landsleute traditionell zu großen Teilen aus Studenten bestand, deren Aufenthalte durch staatliche Stipendien gefördert wurden. Aufgrund mangelnder persönlicher Vermögenswerte fehlte dieser Gruppe vermutlich schlichtweg das Geld zur Rückreise beziehungsweise war ihre einzige Einnahmequelle an den Parisaufenthalt gekoppelt. Über eine solche staatliche Förderung waren auch die später sehr prominenten Intellektuellen Darío und Gómez Carrillo erstmals nach Paris gelangt.146 144 145 146
Vgl. KÖNIG: Kleine Geschichte Lateinamerikas, S. 429-436, 482f. Die Berechnung der Prozentsätze basiert auf den Daten des Annuaire statistique de la Ville de Paris jener Jahre. Vgl. GONZÁLEZ ERRÁZURIZ: Aquellos años franceses, S. 379f.; BARRIENTOS: Enrique Gómez Carrillo, S. 42; WEBSTER, Paul: Consuelo de Saint-Exupéry: la rose du Petit Prince. Paris: Editions du Félin, 2000, S. 30.
2. Nationale Zusammensetzung
1920
ARG
BOL
BRA
CHI
COL
CR
CUB
DR
ECU
GUA
HAI
HON
MEX
NIC
PAN
PAR
PER
SAL
URU
VEN
1921
1922
1923
55
1924
-
-
1.613
2.196
2.535
2.969
3.315
20,4%
21,1%
22,0%
22,0%
21,6%
94
138
157
189
214
1,2%
1,3%
1,4%
1,4%
1,4%
1.948
2.465
2.607
2.927
3.214
24,6%
23,7%
22,6%
21,6%
20,9%
534
690
762
906
1.009
6,7%
6,6%
6,6%
6,7%
6,6%
465
581
665
895
1.116
5,9%
5,6%
5,8%
6,6%
7,3%
48
58
61
72
83
0,6%
0,6%
0,5%
0,5%
0,5%
481
629
686
759
848
6,1%
6,0%
5,9%
5,6%
5,5%
78
104
114
142
159
1,0%
1,0%
1,0%
1,0%
1,0%
288
345
358
394
441
3,6%
3,3%
3,1%
2,9%
2,9%
94
117
151
188
206
1,2%
1,1%
1,3%
1,4%
1,3%
202
333
381
484
569
2,5%
3,2%
3,3%
3,6%
3,7%
17
11
15
32
52
0,2%
0,1%
0,1%
0,2%
0,3%
531
667
769
921
1.097
6,7%
6,4%
6,7%
6,8%
7,1%
26
34
35
47
56
0,3%
0,3%
0,3%
0,3%
0,4%
29
35
35
41
50
0,4%
0,3%
0,3%
0,3%
0,3%
36
40
43
43
46
0,5%
0,4%
0,4%
0,3%
0,3%
420
580
681
797
951
5,3%
5,6%
5,9%
5,9%
6,2%
53
68
75
79
92
0,7%
0,7%
0,6%
0,6%
0,6%
518
683
739
826
898
6,5%
6,6%
6,4%
6,1%
5,9%
450
623
670
823
915
5,7%
6,0%
5,8%
6,1%
6,0%
-
-
-
-
-
1926
1927
1928
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
1937
2.368
2.855
3.450
4.042
4.212
2.817
2.686
2.107
1.782
1.396
925
695
28,6%
28,8%
28,2%
28,9%
29,3%
28,3%
29,1%
30,0%
28,4%
25,8%
22,9%
22,2%
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
1.546
1.817
2.056
2.271
2.380
1.691
1.558
1.154
1.033
954
689
516
18,7%
18,1%
16,8%
16,3%
16,5%
17,0%
16,9%
16,4%
16,4%
17,6%
17,1%
16,5%
674
731
1.090
1.259
1.271
1.090
1.013
787
716
572
348
180
8,1%
7,3%
8,9%
9,0%
8,8%
11,0%
11,0%
11,2%
11,4%
10,6%
8,6%
5,7%
856
1.058
1.415
1.781
1.820
1.005
930
642
604
472
293
294
10,3%
10,6%
11,6%
12,8%
12,7%
10,1%
10,1%
9,1%
9,6%
8,7%
7,3%
9,4%
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
361
446
566
660
646
507
448
360
341
325
308
328
4,4%
4,5%
4,6%
4,7%
4,5%
5,1%
4,8%
5,1%
5,4%
6,0%
7,6%
8,1%
-
-
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304
358
424
483
480
310
292
248
208
190
171
140
3,7%
3,6%
3,5%
3,5%
3,3%
3,1%
3,2%
3,5%
3,3%
3,5%
4,2%
4,5%
-
-
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-
-
-
-
583
706
876
977
1.024
637
588
454
466
412
296
194
7,0%
7,0%
7,2%
7,0%
7,1%
6,4%
6,4%
6,5%
7,4%
7,6%
7,3%
6,2%
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-
-
-
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43
57
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37
33
35
38
35
0,5%
0,6%
0,5%
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0,4%
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0,6%
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1,1%
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659
807
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1.000
1.044
744
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7,5%
7,7%
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7,6%
7,9%
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426
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585
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310
211
5,2%
5,9%
5,3%
5,0%
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5,8%
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7,7%
6,7%
451
585
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312
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5,0%
5,1%
4,7%
4,6%
5,0%
6,4%
8,8%
9,4%
Tabelle 1: Nationale Zusammensetzung der lateinamerikanischen Gemeinde im Departement Seine, 1920-1937.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der nationalen Zusammensetzung der lateinamerikanischen Gemeinde im Paris der Zwischenkriegszeit nicht als typisch für den gesamten Untersuchungszeitraum zu bewerten ist. Die Verdopplung beziehungsweise Halbierung einzelner nationaler Anteile
I. Statistik
56
innerhalb von nur wenigen Jahren sollte im außergewöhnlichen Kontext der Années folles gelesen und nicht auf den gesamten Untersuchungszeitraum übertragen werden. Für die frühe Republik bis zum Ersten Weltkrieg scheint die Annahme einer gleichmäßig verlaufenden Entwicklung plausibler als die enormen Ausschläge während der krisengeschüttelten letzten Jahre der Dritten Republik. Hierfür spricht auch die bereits nachgewiesene Homogenität der quantitativen Entwicklung bis 1914.
3. Alter und Geschlecht Vor 1870 gestaltete sich die lateinamerikanische Gemeinde in Paris mit Blick auf Alter und Geschlecht ihrer Angehörigen als sehr homogene Gruppe: Bei den in der Stadt lebenden Lateinamerikanern handelte es sich überwiegend um unverheiratete junge Männer. Diese einseitige Zusammensetzung konnte Roderick Barman anhand der Schiffspassagierlisten für Reisende aus Brasilien nachweisen, die im Laufe der fünf Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit einen Frauenanteil von lediglich 10 % auf den Transatlantikverbindungen nach Le Havre, Brest, Nantes, Bordeaux und Marseille ergaben.147 Ein ähnliches Ungleichgewicht in der Geschlechterverteilung ist auch für das Reiseverhalten aus anderen lateinamerikanischen Staaten anzunehmen, war „le voyage initiatique en Europe et principalement en France“148 doch klassischerweise jungen Männern vorbehalten. Diese Tatsache rührt aus der Bildungsintention jener frühen Parisreisen. Da Frankreich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein sehr systematisches und modernes Bildungswesen in den Bereichen Medizin und Technik besaß, war seine Hauptstadt, ohnehin seit dem Mittelalter europäisches Bildungszentrum ersten Ranges und Sitz aller wichtigen französischen Wissenschaftseinrichtungen, auch für künftige lateinamerikanische Führungseliten ein attraktiver Studienort. Bedenkt man weiterhin, dass Frauen zu jener Zeit kaum Zugang zu höherer Bildung besaßen, so tauchten sie im Umfeld der frühen lateinamerikanischen Bildungsreisen zwangsläufig seltener auf. Erwähnt wurden sie allenfalls als begleitende Mütter, noch seltener als Ehefrauen oder Töchter. Diese stark männerlastige Geschlechterverteilung der in Paris lebenden Lateinamerikaner änderte sich jedoch seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Ab diesem Zeitpunkt ist die Anwesenheit vieler lateinamerikanischer Frauen in der französischen Hauptstadt nachweisbar, wodurch das Bild einer durch männliche Bildungsreisende dominierten Gemeinde an Gültigkeit verliert.149 Wenngleich diese Veränderung erst an der Wende zum 20. Jahrhundert mit Zahlen 147 148 149
Vgl. BARMAN: „Brazilians in France“, S. 27. QUENTIN-MAUROY: „Les jeunes Argentins“, S. 73. Erst die jüngere Forschung hat die Bedeutung weiblicher Parisreisender aus Lateinamerika ab etwa 1870 gewürdigt. Vgl. die grundlegende Studie von FEY: „Frou-Frous“, S. 81-94.
3. Alter und Geschlecht
57
belegt werden kann, künden sowohl Selbstzeugnisse als auch biografische Beschreibungen von einer erheblich gestiegenen Zahl weiblicher Reisender seit den 1870er Jahren. Aus den Aufenthalten lateinamerikanischer Frauen wird dabei eine Attraktion der Stadt deutlich, die in der Perspektive männlicher Reisender nicht thematisiert wurde: Das im Vergleich mit zeitgenössischen lateinamerikanischen Metropolen ungleich liberalere Klima des republikanischen Paris. Hier ist vor allem der Faktor Entfernung zu bedenken, der lateinamerikanischen Frauen eine relative Freiheit von patriarchalischer Kontrolle und sozialer Beobachtung gewährte und somit ein höheres Maß an Selbstbestimmung ermöglichte als das stärker überwachte Umfeld ihrer Heimatstädte. Darüber hinaus besaß Paris eine größere Zahl von für Frauen legitimen Aufenthaltsorten, Vergnügungen und Möglichkeiten zu intellektueller Betätigung, die dementsprechend von mehreren Lateinamerikanerinnen zu literarischen Veröffentlichungen genutzt wurden.150 Das umfangreichste Œuvre aus dem Kreis dieser frühen Publizistinnen hinterließ die Kolumbianerin Soledad Acosta de Samper (1833-1913), deren historiografische und literarische Studien sowohl in Bogotá als auch in Paris verlegt wurden. Nach dem Tod ihres Gatten ließ sie sich 1888 allein in Paris nieder und folgte damit dem Beispiel der chilenischen Diplomatenwitwe Maipina de la Barra (1834-?), die bereits Anfang der 1870er Jahre ebenfalls allein eine Wohnung am westlichen Ende der Champs-Élysées bezogen hatte.151 Ähnliche Parisaufenthalte lassen sich für die Schriftstellerinnen Lindaura Anzoátegui de Campero (18461898) aus Bolivien, María Cruz (1876-1915) aus Guatemala und die Argentinierin Eduarda Mansilla de García (1835-1892) nachweisen.152 Letzterer diente die Stadt auch als Rückzugsort von einer offensichtlich zerrütteten Ehe. Wie ihre Briefe belegen, ließ sich Doña Eduarda absichtlich mit ihrer Tochter in Paris nieder, während ihr Mann als Diplomat in London und Wien lebte. So konnte der Schein einer intakten Ehe gegenüber dem verwandtschaftlichen Umfeld leichter gewahrt werden, als dies bei einer Rückkehr nach Argentinien möglich gewesen wäre.153 Insgesamt spricht aus allen genannten Beispielen ein für Frauen vorteilhaftes gesellschaftliches Klima der französischen Hauptstadt, die ihren lateinamerikanischen Besucherinnen größere Möglichkeiten zur Selbstentfaltung bot als das stärker reglementierte Leben in ihren Heimatländern. Literarische Verarbeitung erfuhr diese Tatsache bereits durch García Márquez, dessen Romanheldin sich
150 151
152 153
Vgl. ebd., S. 86f. Vgl. DOUGNAC RODRÍGUEZ, Antonio: „Impresiones y vicisitudes de una viajera chilena del siglo XIX: Maipina de la Barra“, in: Revista chilena de historia y geografía 161 (1994/95), S. 117146. Vgl. PALMA: Écritures de femmes, S. 23-27, 51-59, 140-144, 252-255. Vgl. FEY: „Frou-Frous“, S. 86.
58
I. Statistik
noch Jahrzehnte nach ihrem Parisaufenthalt folgendermaßen an die Stadt erinnerte:154 Nadie fue distinto de como ella quiso que fuera, tal como le ocurría con las ciudades, que no le parecían mejores ni peores, sino como ella las hizo en su corazón. A París, a pesar de su lluvia perpetua, de sus tenderos sórdidos y la grosería homérica de sus cocheros, había de recordarla siempre como la ciudad más hermosa del mundo, no porque en realidad lo fuera o no lo fuera, sino porque se quedó vinculada a la nostalgia de sus años más felices.
Auch die Brasilianerin Veridiana da Silva Prado (1825-1910) war 1897 bei ihrer Abreise aus Paris „bathed in tears.“155 Unterstrichen wird diese Bedeutung von Paris für lateinamerikanische Frauen nicht zuletzt durch die Diskussionen um Frauenbildung und Frauenrechte in den lateinamerikanischen Zeitungen der Hauptstadtpresse, die teilweise sogar durch Leserbriefe von Frauen vorangetrieben wurden.156 Eine erste lateinamerikanische Frauenzeitschrift erschien in Paris in Form des Modemagazins Elegancias am Vorabend des Ersten Weltkriegs.157 Während Frauen also vor 1870 kaum als Akteurinnen des lateinamerikanischen Lebens in Paris in Erscheinung traten, ist ihr wichtiger Anteil an der Gemeinde ab Ende des 19. Jahrhunderts bereits unbestreitbar. So datiert das erste ausführliche Reisetagebuch aus der Feder einer lateinamerikanischen Frau158 ebenso in die Anfangsjahre der Dritten Republik wie der Paris-Führer einer namentlich unbekannten Argentinierin, deren Ratschläge sich dezidiert an ein weibliches Publikum richteten.159 Der signifikante Anstieg des weiblichen Teils der lateinamerikanischen Gemeinde von Paris lässt sich erstmals 1896 statistisch beziffern. Der Zensus jenes Jahres verzeichnete unter den 3.595 in Paris lebenden Lateinamerikanern 1.887 Männer (52,5 %) und nicht weniger als 1.708 Frauen (47,5 %).160 Dass sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gleichgewicht in der Geschlechterverteilung hergestellt hatte, belegen auch die Erhebungen der Jahre 1901 und 1911, die Frauenanteile von 52,0 % beziehungsweise 50,7 % ermittelten. Für die frühe Dritte Repu154 155 156
157 158
159 160
GARCÍA MÁRQUEZ, Gabriel: El amor en los tiempos del cólera. Barcelona: Bruguera, 1985 (Narradores de hoy; 100), S. 310. LEVI, Darrell E.: The Prados of São Paulo, Brazil: An Elite Family and Social Change, 1840-1930. Athens, GA u.a.: University of Georgia Press, 1987, S. 64. OLÓZAGA, Remigia: „Los derechos de la mujer“, in: El Americano, Paris, Nr. 8, 12. Mai 1872, S. 143; REDUL, Abel: „La instrucción de la mujer“, in: Europa y América, Paris, Nr. 3, 15. Dezember 1880, S. 1f. Vgl. S. 285-287 dieser Arbeit. MIER, Isabel Pesado, duchesse de: Apuntes de viaje de México á Europa en los años de 1870-1871 y 1872. Paris: Garnier, 1910. Die Mexikanerin hielt sich von Oktober 1871 bis Juni 1872 in Paris auf. UNA ARGENTINA: La vida de París. Buenos Aires: F. Lajouane, 1889. Die errechneten Anteile stammen aus den Gesamtzahlen der Erhebungen von 1896, 1901 und 1911.
3. Alter und Geschlecht
59
blik bis zum Ersten Weltkrieg ist somit von einer grundlegend anderen lateinamerikanischen Präsenz in Paris auszugehen als vor 1870. Wurde das lateinamerikanische Leben der Stadt noch unter der Herrschaft Napoleons III. maßgeblich durch unverheiratete junge Männer geprägt, so ist ab den 1870er Jahren von einer aus Paaren und Familien bestehenden Gemeinde auszugehen. Für diese Annahme spricht neben der ausgeglichenen Geschlechterverteilung vor allem die Vielzahl von Werbeanzeigen für Familienreisen in der lateinamerikanischen Zeitungspresse von Paris. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tauchten hier verstärkt Angebote auf, die speziell auf Familien zugeschnitten waren. Als exemplarisch können dabei Annoncen der folgenden Form gelten:161 (1) Casa de familias. Nueva y elegantemente amueblada. Mesa redonda. 19, Boulevard Haussmann. Cerca de la Nueva Opera, y de los Banqueros Americanos. (2) Pension de famille de premier ordre. 3, rue de Lapérouse, Paris. M. et Mme Charles Ryder, qui ont habité le Brésil près de vingt ans, viennent d’ouvrir une Pension de Famille, montée de la manière la plus confortable. Ils ont des références des premières familles de Rio-de-Janeiro. Les prix sont très raisonnables. On parle portugais, français et anglais. (3) Grande Hotel do Brasil e Portugal. 30, rue Montholon, Paris. Caza de Familia. (4) Gran Hotel Central. Roger y Cia, 56, rue Lafayette, Paris. Unico Hotel español y americano en Paris. Sala de Baños é Hidroterapia. Coches de lujo. Reunión de familias distinguidas de España, Cuba, Filipinas, Puerto Rico, Portugal. – De la América Central; CostaRica, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Salvador. América del Norte; Méjico. – América del Sur; Argentina, Bolivia, Brasil, Chile, Colombia, Dominicana, Ecuador, Haiti, Paraguay, Perú, Uruguay, Venezuela. (5) L’Etranger qui vient visiter l’Europe, doit descendre „Hôtel du Brésil“. 23, rue Bergère, Paris. Près des grands boulevards, au centre de la ville. Installation moderne – Restaurant – Pension de famille – Interprète.
Während des Sommers warben die gleichen Zeitungen „especialmente para esas familias que pertenezcan a la colonia sur-americana y que residen en París“162 gar mit Reisen zu französischen Stränden, wo sie den lateinamerikanischen Gästen eine Abkühlung vom „calor insoportable de París“163 versprachen. Für die bis zum Ersten Weltkrieg zahlenstärkste Gruppe der Brasilianer existierte dabei ein besonders umfangreiches Reiseangebot:164
161
162 163 164
(1): Correo Hispano-Americano, Paris, Nr. 1, 23. Februar 1870, S. 2; (2): Le Brésil, Paris, Nr. 18, 20. Mai 1882, S. 7; (3): Le Brésil, Paris, Nr. 70, 20. Juli 1884, S. 7; (4): Europa y América, Paris, Nr. 173, 1. März 1888, S. 7; (5) Le Brésil, Paris, Nr. 1481, 1. Juni 1913, S. 3. „¿Conocéis el Havre?“, in: El Americano, Paris, Nr. 17, 14. Juli 1873, S. 270. Ebd. S. t., in: Le Brésil, Paris, Nr. 1481, 1. Juni 1913, S. 4.
I. Statistik
60
Service spécial des voyages: Le Journal „Le Brésil“ met à la disposition des familles brésiliennes venant à Paris un service spécial de voyages fournissant les meilleurs hôtels, les meilleurs automobiles, les billets les plus avantageux, guides, interprètes. Pour Paris, toutes les villes d’eaux françaises, l’Algérie et la Tunisie. Conditions exceptionnelles pour séjours dans les premiers hôtels de chaque catégorie.
Die Annahme einer insbesondere von Familien geprägten lateinamerikanischen Gemeinde stützt sich zudem auf die Einführung einer eigenen Kinderseite in der Zeitung Europa y América, die ab 1881 ihre jüngsten Leser mit illustrierten Tiergeschichten unterhielt oder spielerisch Anleitungen zum Händewaschen und richtigen Benehmen bei Tisch lieferte.165 Insgesamt weisen die Zeitungsinhalte also an vielen Stellen auf die Existenz einer an den Bedürfnissen lateinamerikanischer Familien orientierten Infrastruktur in Paris hin. Einen zahlenmäßigen Beleg für den Familiencharakter der lateinamerikanischen Gemeinde bis zum Ersten Weltkrieg liefert schließlich ein Blick auf die Altersstruktur ihrer Angehörigen in den Jahren 1901 und 1911 (Tab. 2):166 Zu beiden Zeitpunkten war die Hälfte der in Paris lebenden Lateinamerikaner jünger als 30 Jahre. 100% 80% 60%
Kinder Frauen
40%
Männer 20% 0% 1926
1928
1930
1932
1934
1936
Abbildung 3: Geschlechterverteilung der Lateinamerikaner im Departement Seine, 1926-1937.
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm erst die Volkszählung des Jahres 1926 wieder eine getrennte Verzeichnung von Männern und Frauen vor. Diese belegt zwar ein fortwährendes Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern, weist jedoch ebenso auf einen starken Rückgang des Kinderanteils gegenüber der Vorkriegszeit hin (Abb. 3). Wenngleich die Kategorie „Enfants“ keine Altersangabe ent165 166
„A los niños“, in: Europa y América, Paris, Nr. 21, 1. November 1881, S. 4-6. Die Berechnung der Anteile folgt den Daten aus Resultats statistiques 1901, S. 313 und Resultats statistiques 1911, S. 4f.
3. Alter und Geschlecht
61
hielt, lag sie mit einer Größenordnung von nur 1-3 % deutlich unter den Werten der Jahre 1901 und 1911, als allein der Anteil der unter 16-Jährigen etwa 20 % betrug. Dieses Ergebnis lässt an einer Fortsetzung der Familienaufenthalte nach 1918 zweifeln. 1901 Alter in Jahren
♂
♀
1911
Summe
Anteil
Anteil
♂
♀
Summe
Alter in Jahren 0-5
0-5
145 112
257
4.4 %
4.7 %
101
98
199
6-10
195 186
381
6.5 %
6.8 %
139 149
288
6-10
11-15
222 230
452
7.7 %
9.2 %
192 195
387
11-15
16-20
217 288
505
8.6 %
12.2 %
231 283
514
16-20
21-25
300 377
677
11.5 %
11.4 %
235 248
483
21-25
26-30
307 336
643
10.9 %
10.8 %
252 204
456
26-30
31-35
276 293
569
9.7 %
9.6 %
196 210
406
31-35
36-40
257 270
527
8.9 %
9.0 %
190 189
379
36-40
41-45
249 222
471
8.0 %
7.1 %
157 143
300
41-45
46-50
180 206
386
6.5 %
5.9 %
137 110
247
46-50
51-55
164 160
324
5.5 %
4.5 %
93
97
190
51-55
56-60
89
107
196
3.3 %
2.8 %
60
60
120
56-60
61-65
90
103
193
3.3 %
2.3 %
37
59
96
61-65
66-70
48
68
116
2.0 %
1.1 %
21
27
48
66-70
71-75
24
29
53
0.9 %
0.9 %
13
25
38
71-75
76-80
13
13
26
0.4 %
0.3 %
3
9
12
76-80
81-85
2
10
12
0.2 %
0.2 %
5
4
9
81-85
86-90
2
4
6
0.1 %