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German Pages 482 [484] Year 2009
Frank Pitzer Interessen im Wettbewerb
VSWG
–––––––––––––––––––– Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Beihefte . Nr. 195 Herausgegeben von Günther Schulz, Gerhard Fouquet, Rainer Gömmel, Karl Heinrich Kaufhold, Hans Pohl
Frank Pitzer
Interessen im Wettbewerb Grundlagen und frühe Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik 1955–1966
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN: 978-3-515-09120-6 Zugl. Diss. an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2007 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
VORWORT Die europäische Wettbewerbspolitik hat entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Europäischen Integration, verstanden als sowohl soziologisch-gesellschaftlicher Prozess aktiver und selbstständiger Anpassung von Individuen und Gesellschaften an allgemein verbindliche Werte- und Handlungsmuster als auch als wirtschaftlicher Prozess der Verschmelzung wirtschaftlicher Einheiten zu größeren Einheiten bis hin zum wirtschaftlichen Zusammenschluss von Wirtschaftsräumen. Auch wenn die Wettbewerbspolitik häufig im Schatten der europäischen Handels-, Agrar- sowie Kohle- und Stahlpolitik stand, konnte die wirtschaftliche Integration Realität werden, weil die Staaten desintegrierende Maßnahmen der Unternehmen durch die gemeinsame Wettbewerbspolitik verhinderten. Gleichzeitig kann die europäische Wettbewerbspolitik als exemplarisch für die soziologisch-gesellschaftliche Integration Europas angesehen werden. Den unterschiedlichen nationalen Zielsetzungen, rechtlichen Ausprägungen und historischen Wurzeln zum Trotz trug der mehrjährige Verhandlungsprozess mit seinen intensiven Regierungskonsultationen, der institutionalisierte Austausch nationaler Fachleute und Regierungsbeamter im Rahmen der EWG sowie die Initiierung der Zusammenarbeit von nationalen Wettbewerbsbehörden und supranationaler Kommission langfristig zur Konvergenz nationaler Auffassungen von Wettbewerbspolitik bei. Am Anfang dieser Integration stand die Einigung der Staaten auf einheitliche Normen der europäischen Wettbewerbspolitik, deren ersten grundlegenden Anwendungen durch die Kommission sowie die gerichtliche Bestätigung durch den EuGH. Diese Frühphase der europäischen Wettbewerbspolitik im Dreieck von Ökonomie, Politik und Geschichte, verstanden als ein Startpunkt der Frieden und Wohlstand schaffenden europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Zum richtigen Zeitpunkt stellte mir Prof. Carl-Christian von Weizsäcker fast beiläufig die entscheidende Frage, die mich auf die Fährte brachte, an deren Ziel die vorliegende Studie steht. Als Dissertation wurde sie im Wintersemester 2006/07 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn angenommen. Durch kontinuierliche Betreuung und grundsätzliches Vertrauen in den Abschluss dieser Untersuchung erhielt ich fundamentale und wichtige Unterstützung von meinem Doktorvater Prof. Günther Schulz, dem ich dafür ganz herzlich danke. Mein Dank gilt auch Prof. Joachim Scholtyseck für die unverzügliche Übernahme des Zweitgutachtens. Prof. Karl Heinrich Kaufhold unterstütze die Aufnahme in die Reihe der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftgeschichte. Der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V., namentlich Herrn Dr. Babier, gebührt an dieser Stelle Danksagung für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung.
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Vorwort
Wertvolle Unterstützung erhielt ich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs, des Historischen Archivs der Europäischen Kommission Brüssel, des Zentralarchiv des Generalsekretariats des Rates der Europäischen Union und des Parlamentsarchivs des Deutschen Bundestages. Stellvertretend seien Frau Martina Werth-Mühl, Frau Joceline Collonval und Herr Fernando Sanchez genannt. Für in jeder Hinsicht kritische Lektüre einzelner Passagen des Manuskripts in unterschiedlichen Stadien und inhaltlich konstruktiv anregenden Austausch sei an dieser Stelle Barbara Meierarend, Silke Tautorat, Walter Pitzer, Stefanie Pohle M.A., Dr. Boris Gehlen, Myriam Nauerz M.A. und Dipl.Vw. Anke Wolf ein großer Dank ausgesprochen. Für Kritik, Anregung und Durchsicht an vielen unzählbaren Stellen dieser Studie und für noch viel mehr unbeschreibliche Unterstützung bedanke ich mich herzlich bei Daniela Wiechern M.A., der dieses Buch gewidmet ist.
INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungsverzeichnis .........................................................................................12
A. EINLEITUNG ................................................................................................13 1. Die Relevanz des europäischen Politikfeldes Kartellund Wettbewerbspolitik ..............................................................................13 2. Zeitliche, thematische und methodische Eingrenzung ...............................19 a. Zwischen Messina und Straßburg – zeitliche Eingrenzung ...................19 b. Thematische Eingrenzung ......................................................................20 c. Theoriegeleitete Analyse – methodische Eingrenzung...........................22 3. Forschungstand und Quellenlage ...............................................................25 a. Forschungsstand .....................................................................................25 b. Quellenlage und Vorgehensweise ...........................................................31 B. THEORETISCHER TEIL ................................................................................34 1. Methodik und wissenschaftstheoretischer Ansatz ......................................34 a. Theorie als Mittel – wissenschaftstheoretische Verortung .....................34 b. Die verhaltenstheoretischen Grundannahmen der Ökonomik – der ‚homo oeconomicus‘ als Idealtyp ....................................................36 2. Theorien Europäischer Integration – interessengelenkte Zusammenarbeit von Nationalstaaten ........................................................44 3. Der Liberale Intergouvernementalimus als Erklärungsansatz interessengeleiteter Kooperation von Staaten ............................................49 a. Das Grundmodell von Moravcsik ..........................................................49 b. Die Nachfrageseite – die nationale Präferenzenformulierung ...............52 c. Die Angebotsseite – die internationalen Verhandlungen........................55 d. Die Institutionenwahl – die Sicherung der Einigung .............................59 e. Der Liberale Intergouvernementalismus – ein tragfähiges Erklärungsmodell ...................................................................................62 f. Zusammenfassung und kritische Aneignung..........................................69 4. Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik .............................................75 a. Definition und Funktionen von Wettbewerb ..........................................75 b. Wirtschaftspolitik zur Sicherung des Wettbewerbs – Leitbilder und Ziele ................................................................................78 c. Konzepte und Instrumente der Wettbewerbspolitik ...............................87 5. Zusammenfassung ......................................................................................93
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C. DIE NATIONALE UND INTERNATIONALE WETTBEWERBSUND KARTELLPOLITIK – TRADITIONEN UND ENTWICKLUNGEN BIS MITTE DER 1950ER JAHRE ............................97 1. Die nationale Wettbewerbs- und Kartellpolitik der sechs Vertragsstaaten als Basis nationaler Präferenzen.....................................................97 a. Bundesrepublik Deutschland................................................................100 b. Frankreich.............................................................................................118 c. Niederlande ..........................................................................................130 d. Italien....................................................................................................141 e. Belgien .................................................................................................148 f. Luxemburg ...........................................................................................153 2. Der sektorbeschränkte Ansatz einer Kartellpolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ..............................154 3. Schlussfolgerungen für eine gemeinsame, europäische Wettbewerbsund Kartellpolitik .....................................................................................162 D. DIE VERTIEFUNG DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION – DAS PROBLEM DER UNGLEICHEN PRÄFERENZEN FÜR EINE WETTBEWERBSPOLITIK (1955–1957) ................................168 1. Politische und wirtschaftliche Präferenzen zur Ausdehnung der Zusammenarbeit .................................................................................168 a. Die nationalen Präferenzen für den Ausbau der Kooperation in Westeuropa .......................................................................................168 b. Westdeutsche Position zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen ..............................................................................................173 c. Die schwachen wirtschaftspolitischen Präferenzen Italiens und die Zurückhaltung Frankreichs......................................................180 d. Die Relance Européenne am Südzipfel Europas ..................................182 2. „Normale Wettbewerbsbedingungen“ für den Gemeinsamen Markt – die Basis des Spaak-Berichts....................................................................185 a. Sondierung der Kooperationsmöglichkeiten auf fachlichtheoretischer Ebene ..............................................................................185 b. Prüfungen des Kooperationswillens auf politischer Ebene ..................191 c. Ergebnis durch größere Unabhängigkeit der Beratungen von nationalen Präferenzen ..................................................................194 d. Reaktionen auf den Spaak-Bericht als Grundlage von Verhandlungen ...............................................................................201 3. Die Einigung auf Grundsätze einer europäischen Wettbewerbsordnung im EWG-Vertrag ......................................................................................208 a. Positionierungen vor Verhandlungsbeginn...........................................208 b. Die erste Lesung der Wettbewerbsartikel – grundsätzliche Einigung .......................................................................215
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c. Die wettbewerbspolitischen Verhandlungspositionen – Uneinigkeiten im Detail .......................................................................223 d. Der Diskriminierungsgrundsatz und die Behandlung von Kartellen und Monopolen..............................................................229 e. Die Veränderung des Kooperationswerts angesichts weltpolitischer Unsicherheit .................................................................235 f. Festschreibung der Grundsätze im Vertrag ..........................................244 g. Die Ratifizierung der Verträge – Verhandlungsergebnisse und nationale Präferenzen ....................................................................250 4. Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner? .................................259 a. Übereinstimmung auf der konstitutionellen Ebene ..............................259 b. Präferenzen, Verhandlungsmacht und Handlungsautonomie der Regierungen ...................................................................................261 c. Die Einigung auf wettbewerbspolitische Grundsätze ..........................270 E. DAS „VORBEREITUNGSSTADIUM“ – DIE ANSTRENGUNGEN DER GENERALDIREKTION IV FÜR DIE ANWENDUNG DER GRUNDSÄTZE (1958–1960) .................276 1. Die Generaldirektion IV als Teil der Kommission ...................................276 a. Die Europäische Kommission – Kollegialorgan und Verwaltungsapparat .......................................................................276 b. Die erste Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ......................................................................280 c. Die Generaldirektion IV: Wettbewerbspolitik zwischen Aufbau und Aufbruch ........................................................................................287 2. Beginn der Arbeit der GDIV – die nationalen Voraussetzungen für die Umsetzung von Artikel 88 und 89 ................................................290 a. Die Ausgangslage für eine gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik...............................................................................290 b. Die Ausübung der Vertragskontrollfunktion durch die Kommission....................................................................................293 3. Die Kartellsachverständigenkonferenzen – Institutionalisierung der Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten ..........................................298 4. Die gemeinsame Auslegung der Wettbewerbsartikel mit den Sachverständigen der Regierungen .............................................302 a. Die Rechtsnatur der Artikel 85 und 86 – Programm oder gültiges Recht? .............................................................................302 b. Festlegung einer gemeinsamen Rechtsauffassung ...............................305 c. Auslegung des Artikels 89 – Versuch der Kompetenzausdehnung durch Vertragsauslegung ......................................................................313 5. Erste Ansätze gemeinschaftlicher Wettbewerbspolitik ............................316 a. Die Arbeitsmethode und das Arbeitsprogramm ...................................316
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b. Informationsbeschaffung der Kommission durch eine Kartelldokumentation ...................................................................318 c. Dokumentation über marktbeherrschende Unternehmen – der Gleichbehandlungsgrundsatz .........................................................325 d. Die Arbeitsmethode der gegenseitigen Konsultation in der Praxis ......329 6. Das Ende des „Vorbereitungsstadiums“? – die fünf Grundsätze der Europäischen Wettbewerbspolitik ......................................................330 a. Erfolge und Schwierigkeiten von zwei Jahren Vorbereitungsarbeit ..............................................................................330 b. Fünf Grundsätze als Basis zukünftiger Wettbewerbspolitik ................336
F. DIE FORTSETZUNG DER PRÄFERENZANNÄHERUNG MIT ANDEREN MITTELN – EUROPÄISCHE WETTBEWERBSPOLITIK DURCH DELEGATION? (1960–1962)..................................................................................................341 1. Die Anwendung von Artikel 87 – die Kommissionsinitiative für eine Verordnung ..................................................................................341 a. Die neue Richtung der Generaldirektion IV – Umsetzung von Artikel 87 .......................................................................................341 b. Erarbeitung eines Kommissionsentwurfs – Rücksichtnahme auf nationale Präferenzen .....................................................................347 2. Die Mitgliedstaaten im institutionalisierten Rechtsetzungsprozess .........358 a. Der nichtabstimmungsfähige Kommissionsvorschlag .........................358 b. Auf drei Wegen zu einer Einigung .......................................................367 3. Ergänzung, Veränderung und Bestätigung – Einflüsse auf den Kommissionsentwurf.........................................................................374 a. Die gespaltene Meinung des Wirtschafts- und Sozialausschuss ..........374 b. Die Annäherung der Sachverständigen – Ausweg aus der Sackgasse .......................................................................................379 c. Unterstützung und Ergänzung des Kommissionsvorschlags durch nationale Abgeordnete................................................................388 4. Entscheidung im Rat? – Lösung des Knotens durch Themenverknüpfung ................................................................................393 a. Die Verknüpfung von Wettbewerbs- und Agrarmarktordnung durch die deutsche Regierung ..............................................................393 b. Kompromissangebote der italienischen Regierung isolieren die Franzosen........................................................................................398 c. Die Einigung auf einen Kompromiss – die Verordnung Nr. 17 ...........405 5. Das Ergebnis – Delegation der europäischen Wettbewerbspolitik an die Kommission ...................................................................................408
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G. DIE SCHAFFUNG DER GEMEINSAMEN KARTELLUND WETTBEWERBSPOLITIK – UMSETZUNG BESCHLOSSENEN RECHTS DURCH GEMEINSCHAFTSINSTITUTIONEN (1962–1966) .................................412 1. VO Nr.17 im Einsatz – Praxistest einer intergouvernementalen Übereinkunft.............................................................................................412 a. Die neuen wettbewerbspolitischen Kompetenzen der Kommission ...................................................................................412 b. Vergrößerung der Direktion A ‚Kartelle und Monopole‘ .....................414 c. Die Bekanntmachung – eine Lösung für das sich abzeichnende Massenproblem ....................................................................................415 d. Das unerwartete Ausmaß der Absprachen im Gemeinsamen Markt .......................................................................416 2. Die Lösung des ‚Massenproblems‘ – drei Wege ......................................418 a. Personalaufstockung als eine erste Möglichkeit ..................................418 b. Ein Europäisches Kartellamt als organisatorische Lösung?.................420 c. ‚Befreiung‘ durch Gruppenfreistellung ................................................423 3. Entscheidungen der Kommission als Signal funktionierender Kartellaufsicht ..........................................................................................428 4. Die Bestätigung der europäischen Wettbewerbsordnung – die Urteile des EuGH von 1966 ...............................................................433 5. Der ‚take-off‘ der europäischen Wettbewerbspolitik ...............................438 H. FAZIT.............................................................................................................440 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ..............................................454
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AfS AStV BA BDA BDI CDU CNPF CSU DIHT EAG EG EGKS EP EPG EU EuGH EURATOM EVG EWG EWGV EZU FDP GATT GB/BHE GD GDIV GuG GWB HAEKB JCMS JEH JEPP NKKS OEEC PADB PVS RdI SPD UNICE VfZ VO VSWG WSA WuW ZAR ZdH ZdK
Archiv für Sozialgeschichte Ausschuss der Ständigen Vertreter Bundesarchiv Koblenz Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie Christlich Demokratische Union Conseil National du Patronat Français Christlich-Soziale Union Deutscher Industrie- und Handelstag Europäische Atomgemeinschaft Europäische Gemeinschaften Europäische Kommission für Kohle und Stahl Europäisches Parlament Europäische Politische Gemeinschaft Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Atomgemeinschaft Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG-Vertrag Europäische Zahlungsunion Freie Demokratische Partei General Agreement on Tariffs and Trade Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten Generaldirektion Generaldirektion IV für den Wettbewerb Geschichte und Gesellschaft Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Historisches Archiv der Europäischen Kommission Brüssel Journal of Common Market Studies Journal of European Economic History Journal of European Public Policy Niederschrift über die Konferenz der Kartellsachverständigen der Regierungen der Mitgliedstaaten der EWG Organization for European Economic Cooperation Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages Politische Vierteljahresschrift Reichsverband der Deutschen Industrie Sozialdemokratische Partei Deutschlands Union des industries de la Communauté européenne Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Verordnung Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Wirtschafts- und Sozialausschuss Wirtschaft und Wettbewerb Zentralarchiv des Generalsekretariats des Rates der Europäischen Union Zentralverband des Deutschen Handwerks Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften
A EINLEITUNG A.1 DIE RELEVANZ DES EUROPÄISCHEN POLITIKFELDS KARTELL- UND WETTBEWERBSPOLITIK Seit einem knappen halben Jahrhundert ist die europäische Kartell- und Wettbewerbspolitik nicht nur Bestandteil, sondern ebenso Förderer eines Integrationsprozesses europäischer Staaten, dessen Frieden und Wohlstand fördernde Wirkung heute unbestritten ist. Zugleich kennzeichnet dessen bis heute offenes Ende den besonderen und aufgrund nicht immer homogener Interessen schwierigen Charakter der Kooperation souveräner Staaten Europas. Die europäische Kartell- und Wettbewerbspolitik auf Basis des Vertrags über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde zum Vorbild für viele europäische Staaten und initiierte in den vergangenen 40 Jahren die Einführung zahlreicher Wettbewerbsregime.1 Vergleicht man die nationalen Kartell- und Wettbewerbsgesetze europäischer Staaten in den 1950er Jahren mit denen heutiger Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU)2, so zeigt sich, dass es im Laufe der Jahre teilweise zu direkter Übernahme der wettbewerbspolitischen Ideen und Ansätze von der europäischen auf die nationale Ebene kam.3 Leitbildfunktion hatte diese Wettbewerbsordnung nach dem Zusammenbruch des sowjetrussischen Imperiums zu Beginn der 1990er Jahre auch für die Staaten Mittel- und Osteuropas bei der Transformation ihrer Wirtschaftssysteme. Die Etablierung des Wettbewerbsprinzips als Marktprinzip und damit die langsame Verdrängung von Staatsinterventionen im Wirtschaftsgeschehen, auch vor 1989 in Westeuropa, gilt als wesentliche Folgeerscheinung und Wirkung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).4 Die Konvergenz des Wettbewerbsrechts, aber auch der Einstellung gegenüber dem Prinzip Wettbewerb innerhalb der europäischen Staaten, ist 1
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Der Vertrag von Amsterdam (Unterzeichnung 1997 und in Kraft getreten 1999) stellt eine wesentliche Überarbeitung des bisherigen Vertragswerks dar und verändert die Numerierung des Vertrages. Die an die Unternehmen gerichteten, in dieser Studie relevanten Artikel zur Wettbewerbspolitik Nr. 85 bis Nr. 90 tragen seitdem die Nr. 81 bis Nr. 86. Aufgrund des Untersuchungszeitraums wurde im Folgenden die Numerierung „ante-Amsterdam“ gewählt. Im Folgenden wird das für den jeweiligen Zeitraum angemessene Akronym gewählt. Vgl. Lane, Robert: EC Competition Law. Essex 2000. S. IX; Martin, Stephen: Introduction. In: Martin (Hrsg.): Competition Policies in Europe. S. 5–13. S. 6f.; Dumez, Hervé; Jeunemaître, Alain: The Convergence of Competition Policies in Europe: Internal Dynamics and External Imposition. In: Berger; Dore (Hrsg.): National Diversity and Global Capitalism. S. 216–238. S. 228–235. Vgl. Laudati, Laraine L.: Impact of Community Competition Law on Member State Competition Law. In: Martin (Hrsg.): Competition Policies in Europe. S. 381–410. S. 381.
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heute hoch. Versteht man Wettbewerbspolitik als Ausdruck einer besonderen Ideologie, die Aussagekraft für die gesamtgesellschaftliche Einstellung gegenüber dem freien marktwirtschaftlichen System hat,5 so ist sie ein Teil derjenigen Entwicklung geworden, die Hartmut Kaelble als mögliche Basis einer europäischen Identität identifiziert hat: „die langsame Abschwächung innereuropäischer Unterschiede und die wachsenden Verflechtungen zwischen den europäischen Gesellschaften im Verlauf des 20. Jahrhunderts“.6 Es ist das Ziel dieser Arbeit, die Ursprünge und ersten Entwicklungsschritte dieser Kartell- und Wettbewerbspolitik als Teil der europäischen wirtschaftlichen Integration europäischer Volkswirtschaften zu analysieren. Wettbewerb, als grundlegendes Prinzip von Marktwirtschaft, war und wird nicht immer selbstverständlich akzeptiert. Bis heute ist Wettbewerb als Maxime wirtschaftlichen Handelns umstritten. Wettbewerb entscheiden zu lassen und gemeinsam die positiven Effekte des Wettbewerbs für die Gesellschaft zu nutzen – was ex-post Umverteilungen der Erträge durch politische Entscheidung nicht ausschließt7 – fand von jeher wenige Anhänger. Da Wettbewerb Gewinner und Verlierer hat, menschliches Handeln hingegen mehrheitlich nach Sicherheit in der Zukunft strebt und risikoavers ist, werden häufig die für alle weniger ertragreichen, aber vorhersehbaren Verhältnisse ohne Konkurrenz den durch Wettbewerb geprägten Konstellationen vorgezogen. Das Interesse am und die Notwendigkeit von Wettbewerb in einer Marktwirtschaft kann mit drei ethischen Eckpfeilern rechtfertigt werden.8 Die Ethik des Wirtschaftlichen, durch die Neoklassiker begründet, bejaht Wettbewerb „als Mittel zur Erleichterung des Rechnens mit Knappheiten und Kosten und Preisen“. Wettbewerb als gesellschaftlich notwendige „Voraussetzung der Zulässigkeit des Hantierens mit wirtschaftlicher Macht in Unternehmen und Verbänden“ ist Inhalt der Ethik des Politischen, die ihre Wurzeln in der Freiburger Schule des Ordoliberalismus hat. Die ethische Rechtfertigung von Wettbewerb für die wirtschaftliche 5 6
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Vgl. Bork, Robert H.: The Antitrust Paradox. A Policy at war with itself. New York 1978. S. 425. Kaelble, Hartmut: Europabewußtsein, Gesellschaft und Geschichte. Forschungsstand und Forschungschance. In: Hudemann; Kaelble; Schwabe (Hrsg.): Europa im Blick der Historiker. S. 1–29. S. 14. Kaelble verweist darüber hinaus auf die Relevanz der Konvergenz sämtlicher, über Wirtschaft und Politik hinausgehender Lebensbereiche in Europa, um damit neue Aspekte und Ansätze sozial- und kulturgeschichtlicher Forschung in den Fokus der Europaforschung zu stellen. Dies ex-post Umverteilung war Kernbestand der Wirtschaftsordnung, die von ordoliberalen Theoretikern vertreten und Grundlage für Ludwig Erhards und Alfred Müller-Armacks Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wurde. Vgl. Blum, Reinhard: Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik zwischen Neoliberalismus und Odoliberalismus. (Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung 18) Tübingen 1969. S. 66; Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Hrsg. von Edith Eucken und K. Paul Hensel. 6., durchgesehene Aufl. mit einem Vorwort zur Neuausgabe 1990 von Ernst-Joachim Mestmäcker. Tübingen 1990. S. 300f. Vgl. Barbier, Hans D.: Vorwort. Zu: Böge, Ulf: Bekommt das Wettbewerbsprinzip Konkurrenz? Vortrag des Präsidenten des Bundeskartellamtes am 12. September 2002 in Bonn (Ludwig- Erhard- Stiftung, Standpunkte). Bonn 2002. S. 5.
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Entwicklung von Gesellschaften geht auf Friedrich August von Hayek zurück, der die Bedeutung des Wettbewerbs „als Entdeckungsverfahren in einem evolutionären Prozess“ hervorhob. Der Präsident des Bundeskartellamts Ulf Böge fasste die wesentlichen Funktionen von Wettbewerb 2002 folgendermaßen zusammen: „Das Wettbewerbsprinzip führt zur kosteneffizientesten und ressourcenschonendsten Wertschöpfung. Seine Durchsetzung bildet die Basis unserer Wirtschaftsordnung und trägt so maßgeblich zur Realisierung der sozialen Komponente bei.“9 Diese Wertschätzung des Prinzips Wettbewerb ist heute nicht nur Element von Sonntagsreden, sondern grundlegender Bestandteil der Wirtschaftsordnungen Europas. Die Anerkennung dieses Prinzips machte Wettbewerbspolitik, verstanden als staatliche Maßnahmen zum Erhalt des Wettbewerbs, notwendig. Die Frage nach dem richtigen Ausmaß des Wettbewerbs und damit des Wettbewerbsschutzes war und ist hingegen seit jeher Anlass für unterschiedliche Positionen. Der Klassiker der Nationalökonomie, Adam Smith, erkannte die Gefahren von Absprachen zur Ausschaltung des Wettbewerbs schon 1776, als er schrieb: „Kaufleute sind immer daran interessiert, den Markt zu erweitern und den Wettbewerb einzuschränken. Eine Erweiterung des Marktes mag häufig genug auch im öffentlichen Interesse liegen, doch muß eine Beschränkung der Konkurrenz ihm stets schaden, da diese lediglich dazu dienen kann, dass die Geschäftsleute ihren Gewinn über die natürliche Spanne hinaus erhöhen und gleichsam den Mitbürgern eine absurde Steuer zum eigenen Vorteil auferlegen.“10
Die Kernprobleme von Wettbewerbspolitik erfasste Smith bereits, indem er die sich teilweise ergänzenden und teilweise konfligierenden Interessen einander gegenüberstellte: die privaten, unternehmerischen Interessen nach Marktausdehnung, das allgemeine öffentliche Interesse nach Wohlstand und das Interesse der Allgemeinheit, zu verhindern, dass sich eine Minderheit von Unternehmern überdurchschnittlich am Wohlstandswachstum bedient. Auch heute, 115 Jahre nach dem Sherman-Act11 in den Vereinigten Staaten und knapp 50 Jahre nach dem EWG-Vertrag, gilt noch die Ansicht, dass „the enforcement of antitrust laws is one of the more important weapons wielded by government in its effort to harmo-
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Böge, Ulf: Bekommt das Wettbewerbsprinzip Konkurrenz? Vortrag des Präsidenten des Bundeskartellamtes am 12. September 2002 in Bonn (Ludwig- Erhard- Stiftung, Standpunkte). Bonn 2002. S. 24. 10 Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. As dem englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes herausgegeben von Horst Claus Recktenwald. 10 Aufl., München 2003. S. 213. 11 Der Sherman-Act der Vereinigten Staaten von 1890 gilt als „Startschuß“ einer hoheitlichen Politik in der Moderne, die sich für die Durchsetzung von Wettbewerb als Prinzip einsetzt und damit Wettbewerbspolitik als Bestandteil der allgemeinen Wirtschaftspolitik etabliert. Zur Verbreitung der Wettbewerbspolitik im 20. Jahrhundert, speziell nach 1945 in Europa, siehe: Schröter, Harm G.: Cartelization and Decartelization in Europe, 1870–1995. Rise and Decline of an Economic Institution. In: JEH 25 (1996), S. 129–153; Freyer, Tony: Regulating Big Business. Antitrust in Great Britian and America 1880–1990. Cambridge, New York, Port Chester u.a. 1992; Gerber, David J.: Law and Competition in twentieth century Europe. Protecting Prometheus. Oxford 1998.
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nize the profit-seeking behaviour of private enterprises with the public interest“, wie es Frederic Scherer 1980 ausdrückte.12 Seit der Durchsetzung der Gewerbefreiheit in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert standen sich mit dem Wettbewerbsprinzip und der Gewerbefreiheit, zu der auch Vertragsfreiheit für die Gewerbetreibenden zur Ausschaltung des Wettbewerbs zählte, zwei Zielsetzungen staatlicher Wirtschaftspolitik nahezu unvereinbar gegenüber. Die Staaten Europas setzten infolge verschiedener ökonomischer Kulturen lange Zeit unterschiedliche Prioritäten auf der Skala zwischen Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit. Daraus ergaben sich auch differierende Konzepte von Wettbewerbspolitik, die sich sowohl auf die Unternehmen als auch auf den Aufbau staatlicher Kontrollinstanzen unterschiedlich auswirkten. Die sechs Gründungsstaaten der EWG setzten sich 1957 die „schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik“ zum Ziel, um „eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern.“13 Ein Ziel, dass aus der Perspektive der 1950er Jahre heute als erreicht gelten kann. Ein entscheidender Bestandteil dieser Erfolgsgeschichte war die Etablierung der gemeinsamen Wettbewerbspolitik. Die Einigung der sechs Mitgliedstaaten auf die Gründung einer Wirtschaftsgemeinschaft, deren Kern ein Gemeinsamer Markt werden sollte, beinhaltete die „Errichtung eines Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt.“14 Zur Umsetzung dieses Ziels gestanden sie der Europäischen Kommission von vornherein bei der Kartell- und Wettbewerbspolitik eine beachtenswerte Stellung im Institutionengefüge der Organe der EWG zu, die mit der Zeit sogar ausgebaut wurde. Nach fast 50 Jahren Wettbewerbspolitik der EU hat die Kommission heute unbestritten eine außergewöhnlich starke Position. Sie erfüllt im Bereich der Kartellaufsicht, der Kontrolle von marktbeherrschenden Stellungen und der Fusionskontrolle die Funktionen einer europäischen Kartellbehörde. Sie kann unabhängig von Europäischem Parlament, Ministerrat und nationalen Regierungen und Parlamenten Handlungen nationaler Wirtschaftseinheiten, deren Absprachen und Zusammenschlüsse sowie staatliche Regelungen, die sich negativ auf den Wettbewerb auswirken, in Frage stellen. Bei der Subventions- und Beihilfenkontrolle, die in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von tagespolitischen Diskussionen war, ist sie auf europäischer Ebene die zuständige Genehmigungsbehörde. Erst in den vergangenen Jahren nutzte die Kommission ihre inzwischen erheblichen Kompetenzen, um den Wandel von wichtigen, ehemals öffentlich geprägten Wirtschaftssektoren wie Eisenbahn, Post, Telekommunikation und Energie in Wettbewerbsmärkte zu unterstützen und zu beschleunigen. Immer wieder sorgte sie dafür, dass nationale Sonderregelungen 12 Scherer, Frederic M.: Industrial market structure and economic performance. 2. Aufl., Boston 1980. S. 491. 13 Art. 2. EWG- Vertrag. 14 Art. 3, Buchstabe f) EWG-Vertrag.
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mit wettbewerbsverzerrenden Wirkungen in ihrer Existenz in Frage gestellt, wettbewerbskonform umgestaltet oder völlig abgeschafft wurden. All dies wurde auch durch die wettbewerbspolitischen Grundsatzentscheidungen und die umfassenden Kompetenzzuweisungen der Mitgliedstaaten an die Kommission möglich, wofür die Basis in den ersten Jahren der EWG gelegt wurde. Unabhängig von dieser Einordnung aus heutiger Sicht wurde dem Prinzip Wettbewerb bereits im EWG-Vertrag eine wichtige Rolle zugedacht. Die Bildung eines Gemeinsamen Marktes und damit die Ausdehnung der nationalen Märkte war das wirtschaftliche Hauptziel des Vertrags. Die durch den Gemeinsamen Markt erhofften gesamtwirtschaftlichen Vorteile sollten jedoch nicht durch private oder staatliche Wettbewerbsbeschränkungen oder -verfälschungen nachträglich zunichte gemacht werden. Der potentiell stärkere Konkurrenzdruck für die Unternehmen im größeren Markt sollte erhalten bleiben. Gebannt werden sollten Möglichkeiten der Unternehmer, sich diesem durch unlautere Praktiken, zum Beispiel Kartellabsprachen, zu entziehen. Der EWG-Vertrag umfasste infolgedessen, neben dem grundsätzlichen Verbot jeglicher „Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ in Artikel 7, ein eigenes Kapitel mit Wettbewerbsregeln für Unternehmen (Art. 85–90). Dieses enthielt das Verbot jeglicher wettbewerbsbehindernder Absprachen oder Beschlüsse, die den Handel zwischen den Mitgliedländern durch Kartellvereinbarungen oder -praktiken (Art. 85) oder durch mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch Unternehmen (Art. 86) beeinträchtigten. Verfälschungen des Wettbewerbs durch öffentliche und monopolartige Unternehmen sollten eingeschränkt und nicht ausgebaut werden (Art. 90). Wettbewerbsbeschränkungen, die sich ausschließlich im Gebiet eines Mitgliedstaates auswirkten, wurden jedoch nicht erfasst und waren weiterhin nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu beurteilen. Zum Aufbau eines Wettbewerbssystems innerhalb des Gemeinsamen Marktes sah der Vertrag Regeln gegen Dumpingpraktiken (Art. 91) und staatliche Beihilfen (Art. 92–94) vor. Weitere Regelungen über die Angleichung steuerlicher Vorschriften zwischen den Mitgliedländern (Art. 95–99) und über die Angleichung von Rechtsvorschriften (Art. 100–102) sollten langfristig dazu beitragen, die unterschiedlichen Wettbewerbsvoraussetzungen für die Unternehmen in dem zu schaffenden Binnenmarkt aufgrund von staatlichen Regelungen abzubauen. Aus der Menge der gesamten Maßnahmen zur Gewährung des „redlichen Wettbewerbs“15 im Gemeinsamen Markt stehen die Wettbewerbsregeln für private Unternehmen (Art. 85–89) im Mittelpunkt dieser Studie. Hier stießen unterschiedliche Traditionen und Vorstellungen von Wettbewerbspolitik der Länder bei den Vertragsverhandlungen aufeinander. Hier konnten sich die Staaten in Artikel 85 und Artikel 86 des Vertrages zwar auf Grundzüge einigen, verschoben jedoch die konkrete Umsetzung mit Artikel 87 in die Zukunft. Gleichzeitig bestand auf diesem Gebiet angesichts der raschen Liberalisierung durch den Abbau tarifärer Handelshemmnisse in den ersten Jahren der Gemeinschaft primärer Handlungsbedarf. Man nahm sich des Ziels des Vertrages an, dass die 15 Präambel EWG-Vertrag.
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aufgehobenen staatlichen Schranken nicht durch private Beschränkungen des freien Handels ersetzt würden. Da die Vorschriften über öffentliche und staatlich gewährte Monopolunternehmen, das Dumpingverbot und die Regelungen über die mit dem Gemeinsamen Markt vereinbaren und nicht vereinbaren staatlichen Beihilfen in den ersten Jahren der EWG geringere Relevanz hatten, sind sie nicht Thema dieser Studie. Ebenso werden die wettbewerbspolitisch relevanten und seit den 1980er Jahren tagesaktuell gewordenen Themen wie Fusionskontrolle, Deregulierung und Privatisierung nicht behandelt. Diese waren in den 1950er Jahren in keinem der sechs beteiligten Länder von Bedeutung für die Kartell- oder Wettbewerbspolitik und schlugen sich nicht in gesetzlichen Regelungen nieder. Sie wurden auch nicht Gegenstand des wettbewerbspolitisch relevanten Teils des EWG-Vertrags. Von Anbeginn der EWG war bei der Wettbewerbspolitik durch die frühe und bereits im Vertrag vergleichsweise konkrete Zuständigkeitszuweisung an die Kommission der höchste Grad der Vergemeinschaftung eines Politikfeldes angestrebt worden. Auch wenn die Europäische Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten noch nach 1958 genaue Maßnahmen der Kartell- und Wettbewerbsordnung durch Richtlinien oder Verordnungen klären musste – bis dahin lag die Zuständigkeit für die Durchsetzung der Wettbewerbsrechte dezentral bei den Staaten –, erlangte die Kommission auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik schnell umfangreiche Eigenkompetenz.16 Spätestens nach dem Erlaß der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages“ durch den Rat gemäß Artikel 87 am 6. Februar 1962 – später nur noch als VO Nr. 17/62 bezeichnet – war die Wettbewerbspolitik, abgesehen von der Vergemeinschaftung der Montanindustrie im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), das erste Politikfeld, auf dem die Europäische Kommission als überstaatliche Organisation ausschließliche exekutive Kompetenzen von Nationalstaaten übertragen bekommen hatte. Da deren Ausübung bis heute direkte Wirkung auf die Wirtschaftssubjekte in den Mitgliedstaaten hat, erreichte die europäische Kartell- und Wettbewerbspolitik ihre herausragende integrierende Bedeutung und blieb bis in die Gegenwart ein zentrales europäisches Politikfeld.
16 Hinsichtlich der Kommissionsbefugnisse und des Zeitpunkts der Vergemeinschaftung ist die Wettbewerbspolitik nur mit der Agrarpolitik (Aufbau der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ab 1962) zu vergleichen. Letztere gewann jedoch größere Publizität, da mit der Etablierung zahlreicher Agrarmarktordnungen Direktzahlungen an Wirtschaftssubjekte der Mitgliedstaaten verbunden waren, was zur Folge hatte, dass Marktordnungsänderungen die relativ homogene Gruppe der Landwirte mobilisierte und infolgedessen von nationalen Politikern hart und öffentlichkeitswirksam umkämpft wurde. Vgl. Thiemeyer, Guido: Vom ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Europäische Integration, Kalter Krieg und die Anfänge der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik 1950–1957. München 1999. (Studien zur internationalen Geschichte 6); Hendriks, Gisela: The Creation of the Common Agricultural Policy. In: Deighton; Milward (Hrsg.): Widening, Deepening and Acceleration. S. 139–150.
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A.2 ZEITLICHE, THEMATISCHE UND METHODISCHE EINGRENZUNG A.2.a Zwischen Messina und Straßburg – zeitliche Eingrenzung Die Aufgaben der EWG, als Wirtschaftsgemeinschaft in Zeiten des Kalten Kriegs „Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen“, den „sozialen Fortschritt“ zu sichern, die „stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“ anzustreben, eine „beständige Wirtschaftsausweitung, einen ausgewogenen Handelsverkehr und einen redlichen Wettbewerb zu gewährleisten“ und hierzu die „Volkswirtschaften zu einigen“17, stehen allgemein außer Frage. Im Speziellen war die Einigung der sechs Staaten Westeuropas auf gemeinsame Regeln und Maßnahmen, um den „redlichen Wettbewerb zu gewährleisten“, jedoch angesichts teilweise sehr unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Traditionen eine Teilaufgabe, die eine genauere Analyse erfordert. Da die nationalen Wettbewerbsordnungen der sechs Vertragsstaaten und deren Entwicklungen bis Mitte der 1950er Jahre unterschiedlich waren, ist davon auszugehen, dass die Regierungen bei den Verhandlungen jede rechtliche Veränderung gegenüber nationalen Regelungen vermeiden wollten, um den nationalen Wirtschaftssubjekten möglichst geringe Anpassungsleistungen abzuverlangen. Die erste Einigung der sechs Staaten auf eine sektorspezifische Kartellordnung im Rahmen der EGKS ist zwar als erster Konvergenzschritt wettbewerbspolitischer Vorstellungen zu werten, jedoch war deren Bilanz Mitte der 1950er Jahre umstritten. Eine gemeinsame Wettbewerbspolitik für alle Sektoren der unterschiedlich strukturierten und zunächst noch wenig integrierten Volkswirtschaften zu finden, war ein Vorhaben, das nicht in einem einzigen Schritt gelingen konnte. Von der Einigung auf erste Erörterungen möglicher weiterer Integrationsschritte bei der Konferenz von Messina im Juni 1955 bis zur Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 1957 wurde mit der Verständigung auf Wettbewerbsgrundsätze und deren Festschreibung im EWG-Vertrag ein erster Teil der Wegstrecke zurückgelegt. Damit war jedoch noch keine Verständigung auf eine einheitliche Wettbewerbspolitik verbunden. Die Umsetzung der Grundsätze in konkrete Politik hatten die Staaten im Wesentlichen den Organen der neuen Gemeinschaft übertragen. Zwischen 1958 und 1966 mussten die Mitgliedstaaten untereinander im Rat und mit der Kommission, auf deren Vorschlag sie Richtlinien oder Verordnungen erlassen konnten, zahlreiche Einzelfragen einer gemeinsamen Kartell- und Wettbewerbspolitik erörtern. Die Angleichung wettbewerbspolitischer Grundlinien war bei der Einigung auf die erste Durchführungsverordnung zwischen 1960 und 1962 nötig, aber häufig schwierig. Wegweisende Kompromisse zwischen den Staaten
17 Vgl. Präambel EWG-Vertrag.
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kamen auch unter Beteiligung der Kommission und anderer Organe zustande; in Einzelfällen wurden Mitgliedstaaten in den Folgejahren auch überstimmt. Neben den ersten Entscheidungen der Kommission in ihrer Rolle als Kartellbehörde war die juristische Bestätigung von Beschlüssen des Rates und der Kommission durch erste Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zum Wettbewerbsrecht im Juli 1966 ein entscheidender Schritt zur Konvergenz der wettbewerbspolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten. Sowohl gegen Unternehmen als auch gegen einen Mitgliedstaat bestätigte der EuGH mit drei Urteilen von der Kommission und vom Rat getroffene Entscheidungen und klärte damit auch wesentliche Auslegungsfragen des EWG-Vertrages, bei denen sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen Rat und Kommission keine Einigkeit hatte erzielt werden können. Nach Auffassung des EuGH hatten die Staaten mit dem EWG-Vertrag einen Kontrakt geschlossen, „der nach seiner Präambel und seinem Inhalt darauf gerichtet ist, die Schranken zwischen den Staaten zu beseitigen, und der Wiedererrichtung dieser Schranken mit einer Reihe strenger Bestimmungen entgegen“ zu treten. Dass „Unternehmen neue Hindernisse dieser Art schaffen“, sei nicht mit dem Vertrag und damit nicht mit der geschaffenen „Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft“ vereinbar, stellten die Richter des EuGH abschließend fest.18 Auf Basis nationaler Wettbewerbstraditionen hatten die sechs Mitgliedstaaten zwischen 1955 und 1966 die Zielsetzungen einer gemeinsamen Wettbewerbsordnung und -politik festgelegt. In diesen Jahren hatten die Staaten die Möglichkeit, nationale wettbewerbspolitische Präferenzen durchzusetzen. Die Anwendung der vertraglich eingerichteten Institution, die gleichmäßige Anwendung der gemeinsamen Regeln auf dem juristischen Weg durch den Gerichtshof zu sichern, bildete den ersten Meilenstein der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik. Die EuGH-Entscheidungen des Jahres 1966 bewiesen, dass das von den Mitgliedstaaten mit dem EWG-Vertrag etablierte System zur Sicherung des „unverfälschten Wettbewerbs“ funktionierte. A.2.b Thematische Eingrenzung Im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Untersuchungen – und somit im weitesten Sinne auch von wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen – haben nach Karl R. Popper Probleme zu stehen, die sich aus der Spannung von
18 Vgl. Verbundene Rechtssache 56 und 58/64. Consten GmbH und Grundig Verkaufs GmbH vs. Kommission der EWG. Urteil vom 13. Juli 1966. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes. Band XII. Luxemburg 1966. S. 321–456. S. 388, S. 394. Ebenso in: Rechtssache 32/65. Regierung der italienischen Republik vs. Kommission der EWG. Urteil vom 13. Juli 1966. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung. Band XII. S. 457–508. S. 486.
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Wissen und Nichtwissen ergeben.19 Auf dem bis hierhin skizzierten Feld der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik entsteht diese Spannung einerseits durch das Wissen über unterschiedliche nationale Wettbewerbstraditionen in den Staaten Westeuropas Mitte der 50er Jahre und die Existenz einer gemeinschaftlichen Wettbewerbsordnung auf europäischer Ebene einige Jahre später, andererseits aus dem Unwissen darüber, wie sich dieser scheinbare Widerspruch auflöste. Ein zweites Spannungsfeld entsteht aus dem Wissen um die hohe wettbewerbstheoretische Ähnlichkeit des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und den Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrags20 sowie zahlreichen thesenartig wiederholten Verweisen auf einen angeblich überdurchschnittlich hohen deutschen Einfluss bei der Ausgestaltung der europäischen Kartellund Wettbewerbspolitik21 auf der einen und dem Unwissen, ob diese vornehmlich nicht auf der Basis der quellengestützten Methode der Geschichtswissenschaft aufgestellten Hypothesen haltbar sind, auf der anderen Seite. Daraus ergeben sich zwei zentrale Probleme im Popper`schen Sinne, die aus der „Entdeckung eines anscheinenden Widerspruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den vermeintlichen Tatsachen“22 entstanden sind. Einmal ist dies die Frage nach der Entstehungsgeschichte einer gemeinsamen europäischen Wettbewerbsordnung und der Einigung auf gemeinsame Wettbewerbsprinzipien. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Durchsetzung nationaler Wettbewerbsvorstellungen im Prozess genau dieser Einigung. Welches waren die Ursprünge der Wettbewerbsordnung der EWG und durch welche Entwicklungen und Einwirkungen wurde ihre Grundausrichtung geprägt? Der Fokus der Untersuchung liegt auf dem deutschen Einfluss. Die von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard 1957 im Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebrachte Erwartung, dass der „Geist einer freiheitlichen Wettbewerbsordnung [...] allmählich über Deutschland hinausgreifend die Grundlage einer Wettbewerbspolitik auf breiter internationaler Ebene abgeben wird“, hat sich heute zwar erfüllt, jedoch ist ungeklärt, welchen Anteil deutsche Politik bzw. Politiker zwischen 1955 und 1966 daran wirklich hatten. Stimmt es, wie Erhard 19 Vgl. Popper, Karl R.: Die Logik der Sozialwissenschaften. Referat bei der Tübinger Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Oktober 1961. In: Adorno; Dahrendorf; Pilot u.a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit. S. 103–123. S. 103f. 20 Dumez; Jeunemaître: Convergence of Competition Policies S. 216–238. 21 Basedow wies darauf hin, dass im Gegensatz zur Fachliteratur anderer europäischer Staaten vor allem die deutsche Forschung den angeblich ordoliberalen Ursprung der europäischen Wirtschaftsverfassung hervorhebt. Vgl. Basedow, Jürgen: Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (Vorträge und Aufsätze, Walter Eucken Institut 137). Tübingen 1992. S. 9f. Vgl. auch Breker, Olaf: Ordoliberalismus – Soziale Marktwirtschaft – Europäische Integration. Entwicklungslinien einer problematischen Beziehung. In: Sandkühler (Hrsg.): Europäische Integration. S. 99–126. S. 123 und S. 125; Götz, Hans Herbert: Wettbewerb und Integrationspolitik. In: Schröder; Müller-Armack; Homann u.a. (Hrsg.): Ludwig Erhard. S. 284–291. S. 286f.; Krüger, Reinald: Multilaterale Regeln für den internationalen Wettbewerb? Korreferat zu Wolfgang Fikentscher. In: Kantzenbach; Mayer (Hrsg.): Von der internationalen Handels- zur Wettbewerbsordnung. S. 219–227. S. 221f. 22 Popper: Logik der Sozialwissenschaften. S. 104.
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bei der Abschlußdebatte über das GWB nach mehrjähriger innenpolitischer Auseinandersetzung am 4. Juli 1957 im Deutschen Bundestag verkündete, dass das „Kartellgesetz und der Geist, der aus ihm spricht, [...] – und das ist wieder das deutsche Verdienst – in den Wettbewerbsregeln des Gemeinsamen Marktes seinen Niederschlag gefunden“ hatte?23 Zwar liegt der Fokus dieser Studie auf der Durchsetzung nationaler Interessen und damit auf der Untersuchung intergouvernementaler Entscheidungsprozesse, doch sie zeichnet am Beispiel der Kartellpolitik auch den Policy-Prozeß der im Aufbau befindlichen EWG nach. Kompetenzüberschneidungen oder Kooperationen von Kommission und Hoher Behörde der EGKS werden in diesem Zusammenhang ebenso wenig thematisiert wie langfristige Harmonisierungen nationaler Wettbewerbsordnungen durch binnenstaatliche Gesetzgebung. Letzere waren ein langer Prozess, der erst mit spezifischen Wettbewerbsgesetzen in Italien und Belgien Anfang der 1990er Jahre zu einem vorläufigen Abschluss kam. Der Policy-Prozess wird jedoch nicht unter dem Aspekt von ‚Regieren in der EU‘ und auch nicht unter der Berücksichtigung der Forschungsansätze eines Mehrebenensystems analysiert, sondern ist nur Teil der Gesamtanalyse zur Errichtung der Europäischen Wettbewerbsordnung, die selbst wiederum als Element des Gesamtprozesses ‚Europäische Integration‘ untersucht wird.24 A.2.c Theoriegeleitete Analyse – methodische Eingrenzung Forschungen und Darstellungen können zu jeder Zeit nur retrospektive Konstruktionen auf Basis von Materialien und Informationen sein, die zum Zeitpunkt der Enstehung zugänglich waren. In diesem Zusammenhang ist zu klären, inwieweit das bisher als das historisch Faktische Dargestellte über die Gründung der EWG und speziell über die Kartell- und Wettbewerbspolitik auch auf Basis neuer Materialien, neuer Betrachtungsweisen und anderer theoretischer Zugriffe Gültigkeit behält. Genetisch-individualisierende Betrachtungsweisen, die gerade bei Untersuchungen des Phänomens Europäische Integration häufig angewendet wurden, sollen dabei zurücktreten. Ebenso werden deterministische Erklärungen auf Grund der Überzeugungskraft eines wirtschaftswissenschaftlichen Modells abgelehnt.25 Am kleinen Baustein ‚Europäische Kartellpolitik‘ des Gesamtprozesses ‚Europäische Integration‘ soll deutlich gemacht werden, dass dieser Prozess zu keinem Zeitpunkt ein Ergebnis von Zufällen war. Entgegengewirkt werden soll 23 Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 223. Sitzung. S. 13242–13252. S. 13247 (A). 24 Vgl. Wallace, William: Introduction. The dynamics of European Integration. In: Wallace (Hrsg.): The dynamics of European Integration. S. 1–24. 25 Der ehemalige Kartellreferatsleiter im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) und erste Präsident des Kartellamts Günther argumentierte, dass die Gestaltung des GWB so über Zweifel erhaben ist, dass „es nicht überraschend (sei), dass die Wettbewerbsverfassung des EWG mit der deutschen Wettbewerbsverfassung übereinstimmt.“ Vgl. Günther, Eberhard: Wege zur europäischen Wettbewerbsordnung (Schriftenreihe zum Handbuch für Europäische Wirtschaft 11). Baden-Baden 1968. S. 106f.
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dem häufig anzutreffenden Trugschluss, dass es sich bei der ‚Europäischen Integration‘ um eine Entwicklung handelte, die von vornherein determiniert war und der eine schicksalhafte Zwangsläufigkeit innewohnte. Auch wenn die durch historische Analyse erkennbaren Ergebnisse menschlicher Gestaltung nicht immer das erklärte Ziel des Verhaltens widerspiegeln, wird davon ausgegangen, dass das Handeln der Individuen grundsätzlich absichtsvoll ist. Die Entstehung von Institutionen und Organisationen im Rahmen der Europäischen Integration wird als Folge bewußter Handlungen verstanden. In Abgrenzung zu instiutionengeleiteten, strukturalistischen Ansätzen soll der selbstbestimmte, handelnde Akteur im Fokus der Untersuchung stehen. Das Kernziel der vorliegenden Untersuchung ist es somit nicht, nur Strukturen zu erkennen und zu beschreiben, vielmehr sollen Erkenntnisse über Intentionen und Ergebnisse menschlicher Handlungen erlangt werden. Damit folgt sie einem dezidiert sozialwissenschaftlichen Ansatz in der Tradition Max Webers. Für Weber war die Aufgabe von Sozialwissenschaft vor allem die Trennung von Wesentlichem und Unwesentlichem, die Hervorhebung von Gesetzmäßigkeiten. Bei diesem Prozeß ist „das Vorhandensein klarer Begriffe und die Kenntnis jener (hypothetischen) ‚Gesetze‘ offenbar als Erkenntnismittel – aber auch nur als solches – von großem Wert“.26 Kenntnisse über Gesetzmäßigkeiten der Verursachung menschlicher Reaktionen in bestimmten Situationen sind demnach nicht Zweck der Untersuchung, sondern Mittel. Um Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen, ist die Untersuchung thematisch eingeschränkt und theoriegeleitet. Im Sinne Poppers, der hier in der Tradition Webers steht, wird nicht der Anspruch verfolgt, die historische Wirklichkeit in allen Einzelheiten und Details zu reproduzieren, sondern durch den Gebrauch von Kategorien und Hypothesen soll versucht werden, der Wirklichkeit möglichst gut habhaft zu werden.27 Karl Homan und Andreas Suchanek führen drei Schritte wissenschaftlichen Vorgehens an. Am Beginn steht die „Reduktion von Problemen auf theoretische bzw. modelltheoretische Problemstrukturen.“ Sodann muss das Problem mit Hilfe und unter Anwendung dieser Modelle und Theorien bearbeitet werden. Im letzten Schritt sollten die Ergebnisse mit „jener Komplexität angereichert werden“, die im Zuge der Komplexitätsreduktion bewußt außer Acht gelassen wurde.28 Dabei ist es weder das Ziel, eine Theorie zu testen und für wahr oder falsch zu erklären, noch sollen theoretische Ansätze miteinander verglichen werden. Ziel ist jedoch, verschiedene Faktoren zu prüfen und die relative Erklärungskraft dieser Faktoren zu testen. Im Weber´schen Sinne des theoriegeleiteten historischen Forschungsansatzes sollen theoretische Deutungselemente in die Erläuterung des historischen Prozesses eingeflochten werden, so dass am Ende des Forschungsprozesses 26 Weber, Max: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Winckelmann (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre von Max Weber. S. 146–214. S. 175. (Herv. i. O.). 27 Vgl. Dahrendorf, Ralf: Anmerkungen zur Diskussion der Referate von Karl R. Popper und Theodor W. Adorno. In: Adorno; Dahrendorf; Pilot u.a.(Hrsg.): Der Positivismusstreit. S. 145–153. S. 147. 28 Homann, Karl; Suchanek, Andreas: Ökonomik. Eine Einführung. Tübingen 2000. S. 392f.
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sowohl das untersuchte historische Phänomen theoriegesättigt erklärt als auch eine Palette von Aussagen zum theoretischen Ansatz gemacht werden kann.29 Da das Erklärungsziel sich auf das Handeln der Menschen in ihren jeweiligen Situationen bezieht, muss der gewählte Theorieansatz primär menschliches Verhalten zum Gegenstand haben. Diese Bedingung erfüllt das der Ökonomie entnommene Modell des methodologischen Individualismus. Mit Hilfe dieses Idealtyps menschlichen Handelns als Methode zur Komplexitätsreduktion werden Präferenzen und Zielvorstellungen der Akteure in der jeweiligen Situation wertneutral erkennbar und Handlungen der Akteure erklärbar. Psychologisierende Erklärungsmethoden werden dementsprechend wegen der Unvereinbarkeit mit dem Modell rationalen Handelns ausgeschlossen. Aus gleichem Grund werden solche Theorien zur Erklärung der Europäischen Integration als nicht erklärungskräftig abgelehnt, die mit Automatismen argumentieren, wie dies beispielsweise der klassische Funktionalismus mit dem Erklärungsansatz des ‚spill-over‘ machte. Die Zusammenarbeit der europäischen Staaten bei der Kartell- und Wettbewerbspolitik muss im größeren Rahmen ‚Europäische Integration‘ gesehen werden. Politikwissenschaftliche Theorien zur Erklärung einer solch dauerhaften und stabilen Kooperation und Zusammenarbeit von Staaten und Theorien internationaler Beziehungen dienen als Erklärungsmuster, um Charakter und Eigenarten der Zusammenarbeit auf diesem Feld europäischer Gemeinschaftspolitik zu analysieren.30 Als Ergebnis der Auseinandersetzung mit diesen Theorien und angesichts des Ziels der vorliegenden Studie, Institutionen als Folge bewußter menschlicher Handlungen im Gesamtkontext Europäische Integration zu analysieren, wird auf den von Andrew Moravcsik in den 1990er Jahren entwickelten Theorieansatz des Liberalen Intergouvernementalismus als Erklärungshilfe zurückgegriffen. Moravcsik vertritt die These, dass „European integration can best be explained as a series of rational choices made by national leaders.“ 31 Auch wenn die klassischen Fragen der Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaft nicht Gegenstand der Untersuchung sind, ist ohne Begriffe aus diesen Wissenschaften nicht auszukommen. Daher werden wirtschaftswissenschaftliche Grundbegriffe aus dem Bereich der Wettbewerbstheorie und -politik erläutert. Wettbewerbsfunktionen in Marktwirtschaften und Konzepte von Wettbewerbspolitik dienen als Idealtypen im Weber´schen Sinne dazu, die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und den Präferenzen der Staaten bei der Gestaltung 29 Vgl. Weber: ‚Objektivität‘. S. 203f. und S. 206ff. 30 Vgl. Bieling, Hans-Jürgen; Lerch, Marika (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration. Wiesbaden 2005; Loth, Wilfried; Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Theorien europäischer Integration (Grundlagen für Europa 7). Opladen 2001; List, Martin: Baustelle Europa. Einführung in die Analyse europäischer Kooperation und Integration (Grundwissen Politik 24). Opladen 1999; Merkel, Wolfgang: Die Europäische Integration und das Elend der Theorie. In: GuG 25 (1999). S. 302–338; Giering, Claus: Europa zwischen Zweckverband und Superstaat. Die Entwicklung der politikwissenschaftlichen Integrationstheorie im Prozeß der europäischen Einigung (Münchner Beiträge zur Europäischen Einigung 1). Bonn 1997. 31 Moravcsik, Andrew: The Choice for Europe. Social purpose and state power from Messina to Maastricht. New York 1998. S. 18.
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einer gemeinsamen Kartell- und Wettbewerbspolitik deutlich werden zu lassen.32 Theorieelemente der Wirtschaftswissenschaft, speziell der Politischen Ökonomie, der Neuen Institutionenökonomie und des Public Choice werden herangezogen, um durch Selektion und Isolation begriffliche Schärfe zu verbessern. Mit deren Hilfe sollen vom theoretischen Fundament aus die empirischen Informationen analysiert werden, um Ursprünge und Entwicklungen der europäischen Kartellund Wettbewerbspolitik aus der Situation der beteiligten Akteure zu erklären. A.3 FORSCHUNGSTAND UND QUELLENLAGE A.3.a Forschungsstand Europäische Wettbewerbspolitik, Gegenstand von Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften, wird zunehmend kontrovers diskutiert.33 Es handelt sich inzwischen um ein höchst politisiertes Politikfeld, auf dem sich neben den nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission auch immer stärker die von Entscheidungen betroffenen Unternehmen zu Wort melden. Die Ursache dafür ist einmal die Tatsache, dass Wettbewerbspolitik mit der Vollendung des Binnenmarktes 1992 zum Herzstück der Binnenmarktpolitik wurde bzw. durch das hohe Engagement der Kommission dazu gemacht wurde. Hinzu kommt, dass 1992 zusätzlich zu den vorhandenen Konfliktlinien der Wettbewerbspolitik mit dem Prinzip der Gewerbefreiheit und mit der Europäischen Handelspolitik bei voranschreitender Globalisierung ein weiteres Konfliktfeld in der Auseinandersetzung über die richtige Wirtschaftspolitik eröffnet wurde. Das Ziel einer Europäischen Industriepolitik wurde in Artikel 130 in den EU-Vertrag aufgenommen und steht seitdem konträr zu den Zielen der bisherigen Wettbewerbspolitik.34 Unabhängig von diesen Entwicklungen wird man bei genauerer Betrachtung der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik schnell des langjährigen Kontrasts zwischen Ignoranz der allgemeinen und historischen Wahrnehmung bei gleichzeitig hoher Relevanz des Themas Wettbewerb für Praktiker und Fachpresse gewahr. Auf der einen Seite wurde europäische Wettbewerbspolitik – verglichen mit anderen Politikfeldern – kaum untersucht und in der Politikwissenschaft selten gelehrt. Meist wird sie als höchst spezialisiertes Feld dargestellt und infolgedessen beim Studium der EU nur am Rande behandelt. Auf der anderen Seite gilt die europäische Wettbewerbspolitik unter Spezialisten als höchst 32 Vgl. Weber: ‚Objektivität‘. S. 190–205. 33 Der Forschungsstand berücksichtigt verfügbare Arbeiten zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser als Dissertation im Winter 2006/2007 eingereichten Studie. 34 Vgl. Hellmann, Rainer: Europäische Industriepolitik. Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus. Baden-Baden 1994. S. 62ff.; Eeckhoff, Johann: Die ordnungspolitische Problematik der Industriepolitik. In: Oberender (Hrsg.): Industriepolitik im Widerstreit. S. 69–77; Schmidt, André: Ordnungspolitische Perspektiven der europäischen Integration im Spannungsfeld von Wettbewerbs- und Industriepolitik (Hohenheimer volkswirtschaftliche Schriften 28). Frankfurt am Main 1998.
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faszinierend. Die Menge an spezifischen Publikationen und Fachzeitschriften der Rechtswissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft sowie aus Wirtschaft und nationaler und europäischer Verwaltung ist in den letzten Jahrzehnten nahezu unüberschaubar geworden. Das Gewicht wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Wettbewerbsrecht und -politik liegt primär auf nationalen und vergleichenden Studien. Die auf nationale Gesetze und Politik begrenzten Forschungen sind ausgereifter und weiter vorangeschritten. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um den Dreh- und Angelpunkt früher und zahlreicher Untersuchungen, das ‚Antitrust-Law‘ der Vereinigten Staaten mit dem ‚Sherman-Act‘ von 1890, handelt oder um die deutsche Wettbewerbspolitik, die aufgrund des Wandels Deutschlands vom „Land der Kartelle“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Verfechter aktiver Wettbewerbspolitik nach 1945 starke Beachtung fand.35 Unabhängig davon, ob es um nationale oder internationale Thematisierung von Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsrecht ging, immer standen auch Vergleiche zwischen aktuellen und historischen Wettbewerbssystemen im Zentrum neuer Untersuchungen und Vorschläge von Verwaltung, Politik und Wissenschaft.36 Die Aufmerksamkeit für die europäische Wettbewerbspolitik war bei Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen seit 1958 hoch und führte bald dazu, dass sie sich intensiv mit der europäischen Kartell- und Wettbewerbsordnung auseinandersetzten. Der juristische Schwerpunkt lag und liegt auf Verträgen, Verordnungen, Richtlinien, ihrer ordnungsgemäßen Umsetzung und ihrer Tragweite für Wirtschaft und Wirtschaftssubjekte. In der Praxis war es von jeher Ziel von Verwaltung, Juristen, Richtern und Unternehmern, die Ursprünge von Rechtsprechung und Politik auf dem Gebiet des Wettbewerbs zu ergründen, die Intentionen des Gesetzgebers herauszufinden und daraus entweder Erkenntnisse für potentielle Anpassungen der Wettbewerbspolitik an neue wirtschaftliche Gegebenheiten zu gewinnen, Recht im Sinne der Legislative zu sprechen, dieses weiter zu entwickeln oder das eigene wirtschaftliche Verhalten an die gesetzlichen Regeln
35 Vgl. May, James: Historical Analysis in Antitrust law. In: New York Law School Law Review 35 (1990). S. 857–877. S. 864ff.; Asbeek Brusse, Wendy; Griffiths, Richard T.: The Management of Markets. Business, Governments and Cartels in Post-War Europe. In: Olsson (Hrsg.): Business and European Integration since 1800. S. 162–188; Freyer: Regulating Big Business. S. 269–323; Mueller, Dennis C.: Competition and Competition Policy in the Untited States and Europe. In: Kruse; Stockmann; Vollmer (Hrsg.): Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld. S. 51–66; einige Aufsätze in Kronstein, Heinrich: Recht und wirtschaftliche Macht. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Kurt Hans Biedenkopf. Karlsruhe 1962. Für ein grundsätzlich andere Sichtweise, nach der Regierungen gar nicht im öffentlichen Interesse Wettbewerbspolitik betreiben sondern hierbei seit jeher nur Partikularinteressen befriedigen, vgl. McChesney, Fred S.; Shughart William F. (Hrsg.): The causes and consequences of antitrust. The public-choice perspective. Chicago 1995. 36 Vgl. Doern, G. Bruce: The Internationalization of Competition Policy. In: Doern; Wilks (Hrsg.): Comparative Competition Policy. S. 302–326. S. 314. Für einen Kurzüberblick über die Entwicklungsgeschichte der Kartellgesetzgebung beginnend in der Antike vgl. Isay, Rudolf: Die Geschichte der Kartellgesetzgebung. Berlin 1955 S. 78–90.
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anzupassen.37 Gerichte und Behörden griffen und greifen bei anstehenden Urteilen und Bestimmungen immer wieder auf historische Fälle zurück. Im Hinblick auf das Europäische Wettbewersbrecht beschrieb Robert Lane die Entwicklung des Feldes so, dass die Antwort „EU-Wettbewerbsrecht“ auf die Frage an einen Juristen hinsichtlich seines Arbeitsgebietes schon lange keine Nachfrage im Sinne „und was sonst noch“ nach sich ziehe, sondern die Nachfrage nach dem Teilaspekt des Wettbewerbsrechts provoziere.38 In der Bundesrepublik war die Sensibilität für die Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik von Anbeginn besonders hoch. Der erwähnte Systemwechsel der Wettbewerbspolitik in Deutschland war in den 1950er Jahren ein langwieriger und innenpolitisch breit diskutierter Prozess, der der internationalen Auseinandersetzung voraus ging. Dessen vorläufiger Abschluss, die Verabschiedung des GWB, fand 1957 statt. Es trat am 27. Juli 1957 nur ein knappes halbes Jahr vor dem EWG-Vertrag in Kraft. Die Fachzeitschrift ‚Wirtschaft und Wettbewerb‘ veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zu den Regelungen des EWG-Vertrags. Zudem erschien darin fortlaufend ein Kommentar zum EWG-Wettbewerbsrecht, Diskussionen zur Direktgültigkeit und anderen Fragen der Folgejahre wurden dokmentiert und über die Arbeit der Kommission und des Rates wurde kontinuierlich berichtet. Bei juristischen Kommentaren zum EWG-Vertrag stand und steht die juristische (Er-)Klärung des Kartell- und Wettbewerbsrechts im Vordergrund. Zahlreiche Diskussionen der Zeit sind durch Zugriff auf diese juristischen Arbeiten als Quellen verständlich. Die Basis dieser Studien war der Gesetzestext, ihr Ziel immer die Gesetzesinterpretation.39 Untersuchungen zur Entwicklung der Vertragsgestaltung, der Vertragsumsetzung, die teilweise durch dieselben Personen geschah, und zu den dahinter liegenden Motiven liegen für den Zeitraum dieser Studie nicht vor. Aussagen über Gründe und Motive in juristischen Kommentaren sind, wenn überhaupt vorhanden, marginal und gehen auf die direkte Beteiligung oder die phasenweise Mitwirkung der Autoren von Amts wegen an diesen Prozessen zurück.40 Manche verharren auch bei wenig befriedigenden Erklärungen, wie zum Beispiel der fehlenden gemeinsamen Tradition als
37 Beispielsweise befinden sich bis heute Akten des BMWi's, die in den 1950er Jahren während des langen Gesetzgebungsprozesses des GWB entstanden, in Kopie im Bundeskartellamt. 38 Vgl. Lane: EC Competition Law. S. IX. 39 Wesentliche juristische, auch zeitgenössische, Standardwerke vgl. Groeben, Hans von der; Boeckh, Hans von (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. In zwei Bänden. Band 1. Artikel 1–136. Baden-Baden, Bonn, Frankfurt am Main 1958; Wohlfahrt, Ernst; Everling, Ulrich; Glaesner, Joachim u.a. (Hrsg.): Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Kommentar zum Vertrag. Berlin, Frankfurt a. M. 1960; Bellamy, Christopher; Child, Graham (Hrsg.): Common Market Law of Competition. 4. Aufl. London 1993; Mestmäcker, Ernst-Joachim; Schweitzer, Heike: Europäisches Wettbewerbsrecht. 2., völlig erneuerte Auflage des von Hans-Joachim Mestmäcker begründeten Werkes. München 2004. 40 Vgl. Schröter, Helmuth; Jakob, Thinam; Mederer, Wolfgang (Hrsg.): Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht. Baden-Baden 2003; Bechthold, Rainer; Brinker, Ingo; Bosch, Wolfgang u.a. (Hrsg.): EG-Kartellrecht. Kommentar. München 2005. S. 1; Mestmäcker, Ernst-Joachim: Europäisches Wettbewerbsrecht. München 1974. S. 2–9.
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Ursache für ein gemeinsames Kartellrecht, oder schweigen sich als juristische Werke völlig zur historischen Rechtsentwicklung aus.41 Die methodischen und theoretischen Diskussionen über Wettbewerbstheorie in den Wirtschaftswissenschaften waren stets durch historische Rückblicke beeinflußt.42 Langfristige Wirkungen verschiedener Konzepte von Wettbewerbspolitik auf das wirtschaftliche, politische und intellektuelle Leben einer Gesellschaft standen hier im Mittelpunkt. Das Forschungsinteresse galt Störungen der freien Marktpreisentwicklung, der Entwicklung von Marktmacht von Unternehmen im größeren Markt oder der Rolle des Wettbewerbs als ‚Innovationspeitsche‘, um nur einige Fragestellungen zu nennen. Die beständige Ausdehnung der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, auch verursacht durch die ständigen Veränderungen des Analysegegenstandes, kann hier nur angedeutet werden. An der Schnittstelle der verschiedenen Wissenschaften sind bisher einige Werke im englischsprachigen Raum erschienen, die die Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik thematisierten.43 Ursprünge und Genese der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik unter dem Aspekt der Aggregation unterschiedlicher Interessen der beteiligten Staaten oder der Analyse der Entscheidungsfindung sowohl zwischen den Staaten auf oberer Ebene als auch auf administrativer Ebene, sind eine Forschungslücke der Fachwissenschaften. Sowohl in der politikwissenschaftlichen als auch der zeithistorischen Forschung ist der Europäischen Integration und dem EWG-Vertrag als Keimzelle der heutigen EU viel Aufmerksamkeit zu Teil geworden. Der Beginn der Europäischen Integration in den frühen 1950er Jahren und die Entwicklung von der Relance Européenne bis hin zu den Römischen Verträgen zwischen 1955 und 1958 sind intensiv untersucht worden.44 Der Fokus lag hier vor allem auf politischen Ursachen, ökonomischen Begleitumständen, Möglichkeiten des Scheiterns und verschiedenen Varianten der Zusammenarbeit sowie auf Gründen für den 41 Vgl. Hucke, Anja: Erforderlichkeit einer Harmonisierung des Wettbewerbsrechts in Europa. (Schriftenreihe Europäisches Recht, Politik und Wirtschaft 243) Baden-Baden 2001. S. 38; Frenz, Walter: Handbuch Europarecht. Band 2. Europäisches Kartellrecht. Berlin, Heidelberg, New York 2006. 42 Vgl. May: Historical Analysis in Antitrust law. S. 860f. 43 Vgl. Goyder, D. G.: EC Competition law. 2nd Ed. Oxford 1993; Gerber, David J.: Law and Competition in twentieth century Europe. Protecting Prometheus. Oxford 1998; McLachlan, D. L.; Swann, Dennis: Competition Policy in the European Community. The Rules in Theory and Practice. London, New York, Toronto 1967. 44 Vgl. Küsters, Hanns Jürgen: Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Baden-Baden 1982; Weilemann, Peter: Die Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. Zur Gründungsgeschichte von EURATOM 1955–1957. Baden-Baden 1983; Serra, Enrico (Hrsg.): Il rilancio dell‘ Europa e i trattati di Rome. Actes du colloque de Rome, 25– 28 mars 1987 (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaft 3). Bruxelles, Baden-Baden u.a. 1989; Trausch, Gilbert (Hrsg.): Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den Verträgen von Rom: Pläne und Initiativen, Enttäuschungen und Mißerfolge. Beiträge des Kolloquiums in Luxemburg, 17.–19. Mai 1989 (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaft Band 4). Baden-Baden 1993.
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Erfolg der Vertragsverhandlungen zur Gründung der EWG. Die Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten wurde häufig unter den weltpolitischen Aspekten der 1950er Jahre untersucht, ökonomische Aspekte rückten erst in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld.45 Über die ersten Jahre der EWG und die Arbeit ihrer Organe nach 1958 gilt das 1982 erschienene Werk „Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaft – Das Ringen um den Gemeinsamen Markt und die Politische Union 1958–1966“ immer noch als Standardwerk.46 Der Autor Hans von der Groeben, selbst als Kommissar an den Ereignissen beteiligt, verfasste dieses auf Grundlage seines Privatarchivs, von Zeitzeugengesprächen und eigenen Erinnerungen. Es behandelt das Thema Wettbewerbspolitik nur punktuell und nennt hinsichtlich der unterschiedlichen Präferenzen der Staaten ‚Roß und Reiter‘ nur selten. Einige Studien neueren Datums haben vorwiegend Struktur und Funktionsfähigkeit des politischen Systems EWG zum Gegenstand, häufig mit dem Fokus auf der Arbeit der Kommission. Politik und Politikgestaltungsprozesse waren klassischerweise Thema der Politikwissenschaft.47 Die Historische Forschung nähert sich erst allmählich den einzelnen Politikfeldern der europäischen Politik.48 War Wettbewerbspolitik Gegenstand von Untersuchungen, so waren meist zeitgeschichtliche, jüngere Entscheidungen und Verfahren der letzten 25 Jahre das Thema.49 Der zunehmenden Wahrnehmung europäischer Wettbewerbspolitik in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart steht ein Desiderat an historischer und quellenbasierter Forschung über die Wurzeln und 45 Vgl. Gillingham, John: European Integration 1950–2003. Superstate or New Market Economy? Cambridge 2003; Gillingham, John: Coal, steel, and the rebirth of Europe. 1945–1955. The Germans and French from Ruhr conflict to economic community. Cambrige 1991; Milward, Alan S.: The Reconstruction of Western Europe 1945–51. Berkeley, Los Angeles 1984; Milward, Alan S.: The European Rescue of the Nation-State. London 1992. Kipping, Matthias: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. Der Schuman-Plan und die Ursprünge der europäischen Einigung (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 46). Berlin 1996; Rhenisch, Thomas: Europäische Integration und industrielles Interesse. Die deutsche Industrie und die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (VSWG Beihefte 152). Stuttgart 1999. 46 Vgl. Groeben, Hans von der: Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaft. Das Ringen um den Gemeinsamen Markt und die Politische Union 1958–1966. Baden-Baden 1982. 47 Mit dem Fokus auf diese Aspekte entstand 1972 eine niederländische Dissertation am Beispiel der Verordnung Nr. 17/62, einer zentralen Verordnung der europäischen Wettbewerbspolitik. Die Daten- und Informationsbasis dieser Arbeit ist mit Ausnahme eines Interviews jedoch nicht nachvollziehbar. Vgl. Dierickx, Ludo: Het europese Besluitvormingsproces en het europese Integratieproces. De totstandkoming van Verordening nr 17. Bruxelles 1972. 48 Vgl. Deighton, Anne; Milward, Alan S. (Hrsg.): Widening, Deepening and Acceleration. The European Economic Community 1957–1963 (Veröffentlichung der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften 7). Baden-Baden 1999; Asbeek Brusse, Wendy: Tariffs, trade and European integration 1947–1957. From Study Group to Common Market. Basingstoke u.a. 1997; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 49 Zum Beispiel: Schmidt, Susanne K.: Die wettbewerbsrechtliche Handlungsfähigkeit der Europäischen Kommission in staatsnahen Sektoren. Hamburg 1997.
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Grundlagen dieser Politik gegenüber. Ausnahme ist der Aufsatz „Gedanken zur Entstehungsgeschichte des Art. 85 EGV“ von Thomas Hoeren.50 Zur Entwicklung der Verordnung Nr. 17/62 als dem Grundstein der Wettbewerbspolitik ist ein Aufsatz von Sybille Hambloch zu nennen.51 Doch es fehlen Untersuchungen unter dem Gesichtspunkt, inwiefern die realisierte Politik den Interessen der verschiedenen Mitgliedstaaten entsprach. Ansätze hierzu bieten ein Aufsatz und Vortrag von Laurent Warlouzet aus dem Jahr 2005.52 Andrew Moravcsik thematisierte in seiner wegweisenden Studie zur Europäischen Integration „The Choice for Europe“ die Industrie- und Außenzölle, die Agrarpolitik, die britische Mitgliedschaft, die Verkehrspolitik, Ansätze zu gemeinsamer Außenpolitik und die Entwicklung der Institutionen als wesentliche Politikfelder der Konsolidierungsphase des Gemeinsamen Marktes zwischen 1958 und 1969. Die knappe Behandlung der Wettbewerbspolitik auf einer Seite basiert auf Informationen aus dem bereits erwähnten Werk von der Groebens, auf das Moravcsik immer wieder zurückgreift.53 Noch 2002 bedauerte der aus jahrelanger intensiver Mitgestaltung und späterer kontinuierlicher Beobachtung beste Kenner der Materie Hans von der Groben in einem Interview, dass die Wettbewerbspolitik als zentrales Politikfeld der Gemeinschaft hinter der Agrarpolitik zurücksteht und von der „Geschichtsschreibung nicht erwähnt wird.“54 Eine Studie, die ausgehend von der Relance Européenne 1955 die intergouvernementalen Verhandlungen sowohl vor als auch nach der EWG-Gründung und über die Verabschiedung der Verordnung 17/62 hinaus bis zu den ersten Aktivitäten der Kommission und den Entscheidungen des EuGH 1966 nachzeichnet, die Interessen der Staaten auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik offenlegt und vor diesem Hintergrund die Verhandlungen in den verschiedenen intergouvernementalen Gremien untersucht, existiert bis heute nicht. 50 Vgl. Hoeren, Thomas: Europäisches Kartellrecht zwischen Verbots- und Mißbrauchsaufsicht. Überlegungen zur Entstehungsgeschichte des Art. 85 EGV. In: Hübner; Ebke (Hrsg.): Festschrift für Bernhard Großfeld. S. 405–421. Dieser Aufsatz, ergänzt um „Gedanken“ zur Entstehungsgeschichte des Art. 86 EGV, erschien 2000 auch als Einleitung zum Dokumentenband. Vgl. Hoeren, Thomas: Einführung. In: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Dokumente zum Europäischen Recht. Band 3. S. XVII–XXXV. 51 Vgl. Hambloch, Sibylle: Die Entstehung der Verordnung 17 von 1962 im Rahmen der EWGWettbewerbspolitik. In: Europarecht 37 (2002). S. 877–897. 52 Vgl. Warlouzet, Laurent: La france et la mise en place de la politique de la concurrence communitaire (1957–1964). In: Bussière; Dumoulin; Schirmann (Hrsg.): Europe organisée, Europe du libre échange? S. 175–201; Warlouzet, Laurent: At the core of European Power. The Origins of Competition Policy. In: „The making and unmaking of European Union: Fifty-five year of crabwalk?“ Second HEIRS Conference, Porthmouth, 4–5 November 2005. Papers. S. 65–72. „www.cjcr.cam.ac.uk/heirs/HEIRS2006-conferencepapers.pdf.“ Aufgerufen und gespeichert am 9. Oktober 2006. 53 Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. Dies gilt sowohl für die nationalen Präferenzen unter der Einschränkung auf Frankreich, die Bundesrepublik und Großbritannien (S. 161–204) als auch für die Untersuchung der zwischenstaatlichen Verhandlungen (S. 205–230). Hinsichtlich der Wettbewerbspolitik vgl. S. 218f. 54 Vgl. Groeben, Hans von der: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. Ein Zeitzeugengespräch mit Michael Gehler (ZEI Discussion Paper C 108). Bonn 2002. S. 53.
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A.3.b Quellenlage und Vorgehensweise Diese Studie nimmt aus Gründen des methodischen Vorgehens, der inhaltlichen Zielsetzung und der Quellenlage Einschränkungen vor. Sie konzentriert sich auf die Interessen der deutschen Regierung und deren potentielle Beeinflussung durch innenpolitische Ereignisse und Interessengruppen, inklusive potentieller Zielkonflikte innerhalb der deutschen Regierung. Daher werden nicht alle an den Ereignissen beteiligten Akteure gleichermaßen Berücksichtigung finden. Infolge der Quellenbasis thematisiert sie zudem die Einflussnahme anderer Mitgliedsländer weder in gleichem Umfang noch auf vergleichbarer Grundlage. Neben der skizzierten Forschung zum Thema Europäisches Kartell- und Wettbewerbsrecht, Europäische Integration und EWG/EG/EU als politisches System basiert die Studie auf gedruckten und ungedruckten Quellen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um die Bestände des Rates der Europäischen Union, CM2 1958 bis CM2 1965, sowie CM3 NEGO und zahlreiche Bestände des Archivs der Europäischen Kommission in Brüssel CEAB und BAC.55 Grundlegend für die Erfassung der Position der Bundesregierung sind die Bestände B102 des Bundeswirtschaftsministeriums im Bundesarchiv Koblenz. Ergänzend wird die Gesetzesdokumentation II 474 des Archivs des Deutschen Bundestages herangezogen. Einschlägige Vertrags- und Gesetzestexte sowie Quellen sind Editionen entnommen.56 Speziell zum Thema Kartellrecht liegt die umfangreiche Quellenedition von Reiner Schulze und Thomas Hoeren vor. Sie stellt eine wertvolle Grundlage für die Verhandlungen zum EWG-Vertrag dar.57 Ergänzend werden
55 In beiden Archivbeständen sind vorläufige Protokolle der Sitzungen der zentralen Gremien unter dem Titel „Entwurf des Protokolls...“ vorhanden. Diese wurden in der nächsten Sitzung oder nach Klärung von Änderungswünschen der Mitgliedstaaten in einer der folgenden Sitzungen bestätigt. Änderungswünsche und Diskussionen hierüber befinden sich in den jeweiligen Sitzungsprotokollen, die erneut als vorläufige Protokolle („Entwurf“) geführt wurden. In dieser Studie wurden diese Dokumente („Entwurf des Protokolls...“) nach Prüfung der Protokolle der nachfolgenden Sitzungen herangezogen. Einzelfälle, in denen Änderungswünsche angenommen wurden, werden extra ausgewiesen. 56 Vgl. Schulze, Reiner; Hoeren, Thomas (Hrsg.): Dokumente zum Europäischen Recht. Band 1. Gründungsverträge. Berlin, Heidelberg, New York u.a. 1999; Möller, Horst; Hildebrand, Klaus (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949–1963. Band 1. Außenpolitik und Diplomatie. Berarb. von Ulrich Lappenküper. Band 2. Wirtschaft. Bearbeitet von Andreas Wilkens. München 1997; Schwarz, Jürgen (Hrsg.): Der Aufbau Europas. Pläne und Dokumente 1945–1980. Bonn 1980; Krämer, Hans-R. (Hrsg.): Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Texte zu ihrer Entstehung und Tätigkeit (Dokumente. Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches Recht der Universität Hamburg. Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel. Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen. Band 38). Frankfurt a. M., Berlin 1965. 57 Vgl. Schulze, Reiner; Hoeren, Thomas (Hrsg.): Dokumente zum Europäischen Recht. Band 3. Kartellrecht (bis 1957). Berlin, Heidelberg, New York u.a. 2000. Da im Einzelfall im direkten Vergleich mit Band 1 bei identischen Quellen Textunstimmigkeiten und unterschiedliche Kurzzusammenfassungen festgestellt wurden und in der Edition vereinzelt Autoren und/oder
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autobiographische Äußerungen von beteiligten Akteuren und deren Mitarbeitern sowie von anderen Zeitgenossen berücksichtigt und durch veröffentlichte Interviews, Reden oder gedruckte Dokumente aus dem Umfeld der Bundesregierung, der Europäischen Kommission und der Hohen Behörde der EGKS ergänzt. Die hier nur skizzierte theoretische Basis wird am Anfang der Studie dargelegt und erläutert. Neben der Methodik des historisch-sozialwissenschaftlichen Vorgehens, der Erläuterung der Relevanz von Wettbewerb für die Marktwirtschaft und unterschiedlichen Konzepten von Wettbewerbspolitik steht die Herleitung der theoretischen Determinanten zur Analyse des historischen Prozesses. Der methodologische Individualismus, darauf basierende Grundannahmen menschlichen Handelns und daraus entstehende Grundprobleme von Kooperation werden erörtert. Integrationstheorien und die Theorie internationaler Beziehungen als Basis der Theorie über interessengeleitete Kooperation von Staaten führen zur Darstellung des Liberalen Intergouvernementalismus als wesentlichem, der Arbeit als Blaupause zugrunde liegendem Theorieansatz. Im empirisch-historischen Teil wird mit der Darstellung der nationalen Wettbewerbssysteme in den sechs späteren Mitgliedstaaten einleitend die Präferenzen- und Interessenlage der Staaten bei Beginn der Verhandlungen approximativ festgehalten. Auf Basis dieser Präferenzen werden die Verhandlungen über den EWG-Vertrag analysiert und Aspekte der späteren Zusammenarbeit der Staaten im Rahmen der EWG und im Rahmen der allmählichen Angleichung der Wettbewerbspolitischen Vorstellungen untersucht. Diese Entwicklung soll mit Hilfe historischer, theoriegeleiteter Forschung nachgezeichnet werden, um am Schluss die Relevanz deutscher Wettbewerbsvorstellungen für die Gestaltung der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik in den elf Jahren zwischen 1955 und 1966 zu bewerten. Der Blick auf die internationale Zusammenarbeit westeuropäischer Staaten bei der Kartell- und Wettbewerbspolitik zwischen 1955 und 1966 soll dazu beitragen, sowohl ursprüngliche Intentionen in der Wettbewerbspolitik heraus zuarbeiten als auch Strukturen und Situationen zu ergründen, unter denen die unterschiedlichen Wettbewerbsvorstellungen zu gemeinsamer Politik geformt werden konnten. Wie kam es dazu, dass in den Anfangsjahren die Kartell- und Wettbewerbspolitik neben der Agrarpolitik zu dem vergemeinschafteten Politikfeld wurde? Untersucht wird, welche nationalen Interessen sich durchsetzten und wie es zum Ausgleich zwischen den nationalen Interessen der Staaten gerade auf diesem Politikfeld kam, auf dem alle Mitgliedstaaten unterschiedliche nationale Wettbewerbsansätze verfolgten, so dass die Wettbewerbspolitik zur Integration und Entwicklung einer europäischen Wirtschaftspolitik entscheidend beitrug. Auf die Frage, warum die Staaten Entscheidungsmacht zusammenfassten, an die Kommission delegierten und diese mit Kompetenzen ausgestatteten, sodass sie eine Art ‚Wächterfunktion‘ bei der Kartell- und Wettbewerbspolitik erhielt, wird ebenfalls eine Antwort gegeben.
Adressaten von Dokumenten nicht eindeutig nachvollziehbar und erkennbar sind, wurde diese Edition bei allen Vorzügen kritisch herangezogen.
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„Ob sie damals so handelten, um sich später selbst zu disziplinieren,“58 hatte Bundeskartellamtspräsident Ulf Böge 2002 unbeantwortet in den Raum gestellt. Mit Hilfe des theoretischen Erklärungsansatzes des Liberalen Intergouvernementalismus werden diese Fragen beantwortet und zugleich ein theoretischer Beitrag geschaffen, um „die Maschen des Netzes immer enger zu machen.“59 Die Feststellung Harm Schröters „why, in the cooperative inspired European atmosphere of the 1950s the anti-cartel paragraphs 85 and 86 were included, has not been dealt with“ 60 hat am Ende dieser Studie keine Gültigkeit mehr.
58 Böge: Bekommt das Wettbewerbsprinzip Konkurrenz? S. 21. 59 Popper, Karl R.: Logik der Forschung. 4., verbesserte Aufl. Tübingen 1969. S. 31. 60 Schröter: Cartelization and Decartelization in Europe. S. 150, FN 64.
B THEORETISCHER TEIL B.1 METHODIK UND WISSENSCHAFTSTHEORETISCHER ANSATZ B.1.a Theorie als Mittel – wissenschaftstheoretische Verortung Im folgenden ersten Kapitel wird in Anlehnung an Max Webers und Karl Poppers Auffassung von sozialwissenschaftlicher und historischer Forschung implizit deduktives Vorgehen explizit gemacht, indem die theoretischen Grundlagen und Weltbilder, auf denen die weitere Untersuchung basiert, dargelegt werden.1 Mit diesem Vorgehen wird Objektivität und Wertfreiheit im Popper’schen Sinne angestrebt, nicht zuletzt da abschließendes Wissen auch am Schluss dieser Studie nicht vorliegen wird und entstehende Kenntnisse nur vorläufigen Charakter haben werden. Durch die Darlegung der methodischen Grundannahmen soll jene wissenschaftliche Objektivität ermöglicht werden, die „einzig und allein in der Kritik fundiert“ ist und durch Wettbewerb von Forschung und durch die sozialen Institutionen der Wissenschaft in der offenen Gesellschaft möglich ist.2 Für Weber folgte die Selektion bestimmter Methoden und Theorien den Wertüberzeugungen des auswählenden Wissenschaftlers, so dass sich die persönliche Weltanschauung des Wissenschaftlers im Gang der Forschung und im Urteil widerspiegelt.3 Die Trennung von Wissenschaft und Wertvorstellungen ist demnach nicht möglich.4 Popper löste das Paradoxon der Forderung nach Wertfreiheit an den einzelne Wissenschaftler indem er diese durch die Forderung ersetzte, „dass es eine der Aufgaben der wissenschaftlichen Kritik sein muss, Wertvermischung bloßzulegen und die rein wissenschaftlichen Wertfragen nach Wahrheit, Relevanz, Einfachheit und so weiter von außerwissenschaftlichen Fragen zu trennen.“5 Deshalb muss die auf Wissenschaftlichkeit bedachte Forschung bewusst 1 2
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Vgl. Popper, Karl R.: Das Elend des Historizismus. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 3). Sechste, durchgesehene Auflage. Tübingen 1987. S. 113ff.; Weber: ‚Objektivität‘. S. 149f. Zu Poppers Auffassung von Objektivität der Sozialwissenschaften, die er in der als Positivismusstreit bekannt gewordenen Auseinandersetzung mit Theodor Adorno 1961 umriss, vgl. Popper: Logik der Sozialwissenschaften. 112f. Aber auch Popper: Elend des Historizismus. S. 121f. Vgl. Weber: ‚Objektivität‘. S. 151ff. Popper spitze dies folgendermaßen zu: „Wir können dem Wissenschaftler nicht seine Parteilichkeit rauben, ohne ihn auch seiner Menschlichkeit zu berauben.“ Vgl. Popper: Logik der Sozialwissenschaft. S. 114. Ebd.: S. 115. Das Paradoxon der Forderung nach Wertfreiheit besteht darin, dass ein vermeintliches Befolgen des Ziels der Wertfreiheit diese selbst zum Wert erhebt und damit den Anspruch der Wertfreiheit in Frage stellt. Popper wies deshalb die Forderung nach Wertfreiheit allein aus logischen Gründen zurück. Vgl. ebd.: S. 114f.
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machen und nach außen dokumentieren, „welches die Maßstäbe sind, an denen Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird.“6 Damit öffnet sich die Untersuchung der rationalen Kritik und ermöglicht wissenschaftliche Objektivität im skizzierten Popper´schen Sinne. Neben der Offenlegung der Weltanschauungen und Wertmaßstäbe, von denen der Untersuchungsgegenstand aus betrachtet wird, sprechen auch andere Gründe für ein explizit deduktives Vorgehen. Popper plädierte aus pragmatischen wie aus erkenntnistheoretischen Überlegungen ausdrücklich für deduktives Vorgehen in der historischen Wissenschaft. Begründete selektive Auswahl sei notwendig, wolle die Geschichtsforschung „nicht unter einem Wust von wertlosem und unzusammenhängendem Material ersticken.“7 Die reine Sammlung und Beobachtung von Befunden und Daten kann nicht zur systematischen Erfassung beitragen. Das „Interesse an Daten einer bestimmten Art (muss) geweckt sein: das Problem kommt stets zuerst,“ so Popper.8 Er forderte, mit Hilfe von selektiven Standpunkten, verstanden als prüfbare Hypothese, „die Geschichte, die uns interessiert,“ zu schreiben.9 Ähnlich begründete Hayeks die Anwendung von Gesetzmäßigkeiten und Theorien in der Wissenschaft. Das die Wissenschaft antreibende, notwendige Staunen implizierte für ihn bereits eine gedankliche Frage.10 Diese kann nur dann entstehen, wenn bereits Hypothesen über bestimmte Muster vorhanden sind. Da Menschen zahlreiche Muster der Natur aber erst dann entdecken können, nachdem sie diese „gedanklich konstruiert haben“11, nachdem der Verstand wiederholte Ereignisse zu einem Muster sortiert hat, kommt es erst infolgedessen zum fragenden ‚Warum?‘ von Kräften und Ursachen der Regelmäßigkeiten. Mit Hilfe theoretischer Konstrukte lassen sich Kausalbeziehungen herstellen, lassen sich Auskünfte über abhängige und unabhängige Variablen finden und lässt sich Wesentliches von Unwesentlichem trennen. Die Erklärung von Ereignissen und Veränderungen in der Gesellschaft, „die kausale Zurechnung der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen“ war bereits für Weber der essentielle Sinn der Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten. Nur wenn diese eine Zurechnung leisten würden, sei das Wissen von ihnen „für die Erkenntnis individueller Zusammenhänge wertvoll.“12 Die jeweilige Zurechung wird mit der bewussten Auswahl von Gesetzmäßigkeiten als Mittel umso sicherer, je umfassender die Theorieerkenntnis ist. Dennoch sei „die Aufstellung solcher Regelmäßigkeiten nicht Ziel, sondern Mittel der Erkenntnis“, betonte Weber.13 Für ihn stellte sich auch bei der Untersuchung sinnvoller menschlicher Handlungen die Frage nach ‚Ziel‘ und ‚Mittel‘. Die Aufdek6 7 8 9 10
Weber: ‚Objektivität‘. S. 156. Popper: Elend des Historizismus. S. 117. Ebd.: S. 95f. (Herv. i. O.). Ebd.: S. 118f. Vgl. Hayek, Friedrich August von: Die Theorie der komplexen Phänomene. In: Kerber (Hrsg.): Die Anmaßung von Wissen. S. 281–396. S. 281f. 11 Ebd.: S. 283. 12 Weber: ‚Objektivität‘. S. 178. 13 Ebd.: S. 179.
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kung von jenen Ziel-Mittel-Funktionen, die den Entscheidungen der Menschen zu Grunde liegen, war für ihn der Sinn von Wissenschaft.14 Da sowohl die Offenlegung des Handelns historischer Akteure als auch die offene und gezielte Methodenwahl zur Legitimation von Wissenschaft beitragen, werden die Prämissen des methodologischen Individualismus, der als Basismodell menschlichen Handelns angewendet werden soll, im Folgenden dargelegt. Die Grundannahme von rational, eigeninteressiert handelnden Akteuren dient als Maßstab zur Auswahl eines adäquaten Erklärungsmusters aus den zahlreichen Theorieangeboten zur Europäischen Integration. Die Annahmen und Thesen des danach ausgewählten Theorieansatzes des Liberalen Intergouvernementalismus werden kritisch darlegt, um abschließend zum Urteil zu kommen, ob die Strukturierung der vorhandenen Informationen über die Ursprünge und frühen Entwicklungen der europäischen Wettbewerbspolitik durch die Analysestruktur des Liberalen Intergouvernementalismus ein zweckmäßiges „Netz [ist], das wir auswerfen, um ‚die Welt‘ einzufangen, sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen.“15 B.1.b Die verhaltenstheoretischen Grundannahmen der Ökonomik – der ‚homo oeconomicus‘ als Idealtyp Die Absicht menschliches Verhalten zu erklären steht nach Weber vor dem Problem der hohen Komplexität menschlicher Entscheidungsstrukturen. Dabei ist die „unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ‚in‘ und ‚außer‘“ den Menschen das entscheidende Hindernis, um zu klaren und eindeutigen Ergebnissen zu kommen.16 Hayek vertrat die These, dass menschliches Handeln und damit verbundene konkrete Umstände so zahlreich und von individuellen Ereignissen geprägt sind, dass Theorien keine Möglichkeiten der Überprüfung im Sinne von „Voraussage und Kontrolle“ bieten können. Jedoch mag die Anwendung von „Techniken“ hilfreich sein, um wertvolle Kenntnisse über vergangene Handlungen und damit Muster zukünftiger und noch nicht untersuchter Vorgänge zu erhalten – auch wenn damit die Erkenntnis über neu geschaffenes Unwissen verbunden ist. Voraussetzung ist, dass diese „Techniken“ lediglich begrenzte Ziele verfolgen und nicht Einzelereignisse erklären wollen, sondern darauf abzielen, bestimmte Handlungsmuster oder Ordnungen erkennbar werden zu lassen.17 Eine Methode zur Erklärung menschlichen Verhaltens muss demnach nicht die Anforderung einer Formel erfüllen und nicht „Voraussage“ oder „Kontrolle“ menschlichen Verhaltens möglich machen, sondern durch theoretische Muster dazu beitragen Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen und Handlungsmuster offen zu legen.18 14 15 16 17 18
Vgl. ebd.: S. 149f. Popper: Logik der Forschung. S. 31. Weber: ‚Objektivität‘. S. 171. Vgl. Hayek: Theorie der komplexen Phänomene. S. 295f. und S. 302f. Bei der Wahl geeigneter Modellen zur Komplexitätsreduktion menschlichen Handelns und dahinter liegender Beweggründe ist zu berücksichtigen, dass nicht die Realität sondern die
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Bei der Analyse der Handlungen einzelner Individuen soll immer die Frage nach den Bestimmungsfaktoren der Entscheidungen im Mittelpunkt stehen. Handlungen als reine Reaktion auf Reize zu verstehen – ein Verständnis, das dem strengen Behaviorismus zugrunde liegt – wird hier abgelehnt.19 Das Verhalten der Individuen wird prinzipiell als zielgerichtet und rational angenommen. Rational wird ein Verhalten dann definiert, wenn es konsistent zur Präferenzordnung des Individuums ist20 und im Ergebnis den individuellen Nutzen optimiert. Auch wenn Akteure grundsätzlich eigeninteressiert handeln und keinen „altruistischen Idealen“21 folgen, ist die Einbeziehung des Nutzens anderer im Rahmen des Modells möglich. Verhalten ist dann rational und strategisch, wenn Akteure sowohl Verhalten und potentielle Reaktionen der anderen Akteure auf eigenes Handeln – bzw. Erwartungen darüber – bei der Entscheidung über eigenes Verhalten berücksichtigen und mögliche Nachteile in der nahen Zukunft zugunsten von langfristig zu erwartenden Vorteilen in Kauf nehmen.22 Der methodologische Individualismus als Theorie menschlicher Handlungen steht damit im Einklang und soll für diese Studie zur Musterbildung und damit zur Komplexitätsreduktion dienen. Auch wenn diese Methode stark vereinfacht und simplifiziert, wird mit diesem Zugriff „die Situation des handelnden Menschen hinreichend analysiert, um die Handlung aus der Situation heraus ohne weitere psychologische Hilfe zu erklären.“23 Mit Hilfe des Menschenbildes der Ökonomie als Idealtypus im Weber’schen Sinne sollen Ziele und Wünsche der Individuen in bestimmten Situationen objektiv greifbar und das Handeln der Individuen erklärbar werden. Die Wurzel des methodologischen Individualismus ist die Feststellung, dass nur Individuen handeln können, nicht jedoch Institutionen, Organisationen oder Kollektive. Kollektive Aktivitäten sind durch die individuellen Präferenzen der Kollektivmitglieder und die Entscheidungsfindungsprozesse der jeweiligen Kollektive beeinflusst und sind allein Ergebnis der aggregierten Einzelentscheidungen. Scheinbare Handlungen von Kollektiven sind immer nur Handlungen von Individuen, die das Kollektiv repräsentieren. Davon abweichend sind die beiden Ausprägungen zu berücksichtigen, dass kollektive Akteure als Teams, sprich als „Gruppe von Individuen mit identischen Präferenzen bezüglich eines Problems“,
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Fragestellung die Komplexitätsreduktion bestimmen muss. Vgl. Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 392. Zur Ablehnung des naturalistisch geprägten Weltbildes in der Sozialwissenschaft und speziell zur Erklärung von handlungsleitenden Normen und Strukturen in der internationalen Politik vgl. Zürn, Michael: Interessen und Institutionen in der internationalen Politik. Grundlegung und Anwendung des situationsstrukturellen Ansatzes. Opladen 1992. S. 64–68. Zum Thema Präferenzordnung und Kritik an diesem Modell vgl. Kirchgässner, Gebhard: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 2., erg. und erw. Aufl. Tübingen 2000. S. 39–46. Religiöse oder metaphysische gesellschaftliche Ziele sind insoweit akzeptiert, als sie aus dem Ziel der individuellen Nutzenmaximierung folgen können, bzw. als sie im Ergebnis individuellen Nutzen erbringen. Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 52. Popper: Logik der Sozialwissenschaften. S. 120.
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oder als korporative Akteure, sprich als „Funktionsträger, (die) handeln als ob die Organisation handelt“,24 in der Realität auftreten. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu der Grundannahme, dass soziale Phänomene prinzipiell nur durch die Analyse des Verhaltens der Individuen erklärbar sind. Ausgehend von der mikroökonomischen Basishypothese wird jegliches Verhalten als das Ergebnis individuellen Nutzenoptimierungskalküls unter Nebenbedingungen verstanden. Demnach sind Akteure eigennutzorientierte Individuen, die gemäß ihrer individuellen Präferenzen rational handeln, auch wenn ihr Handeln durch äußere Restriktionen eingeschränkt wird, wie zum Beispiel durch gesetzlich oder sozial festgelegte Knappheiten. Auch wenn die Umwelt der Individuen allgemein durch Knappheit gekennzeichnet ist und sie somit annahmegemäß nicht alle Bedürfnisse bis zur Sättigung stillen können, verfolgen sie bei den daraus hervorgehenden Zielkonflikten ihre individuelle Gesamtnutzenmaximierung. Dabei streben sie nach der größtmöglichen Realisierung ihrer Präferenzen. Diese, individuell nicht erfass- und somit auch nicht messbar, werden im neoklassischen Modell ceteris paribus über die Zeit stabil gesetzt, da anderenfalls der empirische Nachweis der Wirkungen von Veränderungen der äußeren Restriktionen auf Handlungen nicht möglich wäre. Jede Verhaltensänderungen wären immer durch Präferenzänderungen erklärbar. Annahmegemäß sollen Handlungsänderungen nur auf Veränderungen der äußeren Restriktionen zurückgeführt werden. Grundsätzlich wirken jedoch Präferenzen und Restriktionen getrennt auf das Handeln der Akteure. Das Nutzenmaximierungsprinzip des ‚homo oeconomicus‘ basiert auf dem mikroökonomischen Modell der vollständigen Konkurrenz, das zur Komplexitätsreduktion zahlreiche Prämissen aufstellt.25 Von ihnen sind die vollständiger Markttransparenz, häufig auch als vollständige Information bezeichnet, und die unendliche Reaktionsgeschwindigkeit der Marktteilnehmer für die Analyse menschlichen Handelns zentral. Für den Preis sehr großer Realitätsferne wird mit ihnen die stärkste Komplexitätsreduktion erreicht. Um zwischen komplexer Realität und dem irrealen, aber einfach und sauber ableitbaren Modell mit hoher Erklärungseffizienz einen Idealtyp zu finden, ohne dabei den Rahmen des methodologischen Individualismus zu verlassen, wird die daran anknüpfende Kritik und Erweiterung der Modells kurz nachvollzogen.26 Kritisiert wurde, dass der ‚homo oeconomicus‘ in der Realität nicht nur unter Nebenbedingungen handelt, wie Budget und Zeit, sondern dass die realen Akteure auch unter individuellen Restriktionen der physischen und psychischen Natur und äußeren Restriktionen, wie gesellschaftliche Rollen, Regeln und Gesetze, handeln. Um eine bessere Annäherung an diese Realität zu erhalten und individuelle Restriktionen, einschließlich intellektueller und kognitiver Fähigkeiten der Infor24 Zürn: Interessen und Institutionen. S. 37. 25 Vgl. Fritsch, Michael; Wein, Thomas; Ewers, Hans-Jürgen: Marktversagen und Wirtschaftspolitik. Mikroökonomische Grundlagen staatlichen Handelns. München 1996. S. 17ff. 26 Siehe hierzu und zur methodologischen Diskussion der Methode abnehmender Abstraktion: Lindenberg, Siegwart: Die Methode der abnehmenden Abstraktion. Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt. In: Esser; Troitzsch (Hrsg.): Modellierung sozialer Prozesse. S. 29–78. S. 39ff. Vgl. auch Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 414f.
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mationsbeschaffung und -auswertung, zu berücksichtigen, wurden die Annahmen ‚vollständige Information‘ und ‚unendliche Reaktionsgeschwindigkeit‘ relativiert.27 Der Begriff ‚bounded rationality‘ wurde zum Synonym dafür, dass reale Individuen nicht ‚superrational‘ im Sinne der engen mikroökonomischen Modellannahmen agieren. Sie sind nicht in der Lage, bei der Kosten-Nutzen-Abwägung von (Tausch-)Handlungen alle Handlungsoptionen und Folgen sowie daraus entstehende gegenwärtige und zukünftige Kosten oder Nutzen zu erkennen und daraufhin eine optimale Entscheidung zu treffen.28 Die zum Ausgleich des Informationsmangels vorgenommene Informationsbeschaffung ist nicht kostenlos. Seit den Forschungsergebnissen von Ronald Coase sind neben diesen Informationskosten weitere Kostenarten bekannt und gemeinsam mit dem Konzept der ‚bounded rationality‘ zum wesentlichen Bestandteil der ‚Neuen Institutionenökonomie‘ geworden.29 Coase legte die Existenz von Tausch- oder auch Transaktionskosten bei Markttransaktionen offen.30 Neben den Kosten der Informations27 Diese Prämissen wurden in der Wirtschaftswissenschaft selbst kritisiert. Namentlich Hayek wies darauf hin, dass Wissen in der Realität subjektiv, unvollständig und verstreut ist. Kein Mensch und keine Organisation wären in der Lage, ausreichendes Wissen zu sammeln, um der Modellannahme „vollständige Information“ nahe zu kommen. Dies führte ihn zur Überzeugung, dass der Markt der denkbar beste Mechanismus zur Lösung des Knappheitsproblems und des damit verbundenen Problems der Nutzung verstreuten Wissens sei. Vgl. Hayek, Friedrich August von: Die Anmaßung von Wissen. In: Kerber (Hrsg.): Die Anmaßung von Wissen. S. 3–15. S. 7. Basierend auf Untersuchungen zum Schumpeter´schen Pionierunternehmer wurde deutlich, dass das Modell der vollständigen Konkurrenz – speziell die erwähnten Annahmen – nicht kongruent mit der Tatsache wirtschaftlichen Fortschritts ist. Bei vollständiger Information über die Handlungen der Konkurrenz und unendlicher Anpassungsgeschwindigkeit, bestände keine Aussicht auf Pioniergewinne aus temporären Monopolen neuer Produkte und somit keine Anreize für Inventionen und Innovationen. Erst die unvollständige Information und die Reaktions- und Anpassungszeit lassen Anreize zu Forschung und Entwicklung entstehen. Erst die real beschränkte Rationalität der Individuen macht Fortschritt möglich. Wettbewerb als Entdeckungsverfahren wäre unter den Prämissen der vollständigen Konkurrenz „völlig uninteressant und nutzlos.“ Hayek, Friedrich August von: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (Kieler Vorträge 56). Kiel 1968. S. 3. Hinsichtlich der Prämisse unendlicher Anpassungsgeschwindigkeit und der Wirkung von staatlichem Patentschutz auf die Innovationsleistung einer Volkswirtschaft vgl. Weizsäcker, Carl Christian von: Was leistet die Property Rights Theorie für aktuelle wirtschaftspolitische Fragen? In: Neumann (Hrsg.): Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte. S. 123–152. 28 Vgl. Kirchgässner: Homo oeconomicus. S. 30ff. 29 Die Erkenntnisse und Anwendungen der Neuen Institutionenökonomie (NIÖ) in den verschiedenen Wissenschaften können und sollen hier nicht nachgezeichnet werden. Zur Anwendung in der Wirtschaftsgeschichte vgl: Butschek, Felix: Die verhaltenstheoretischen Grundlagen der Nationalökonomie und ihre Bedeutung für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung. VSWG 87 (2000). S. 322–335. S. 331–335, Butschek, Felix: Wirtschaftsgeschichte und Neue Institutionenökonomie. In: Schremmer (Hrsg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. S. 89–100. S. 96ff; Wischermann, Clemens: Vom Gedächtnis und den Institutionen. Ein Plädoyer für die Einheit von Kultur und Wirtschaft. In: Schremmer (Hrsg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. S. 21–33. S. 28–31. 30 Coase ging in seinem wegweisenden Aufsatz „The Nature of the Firm“ 1937 der Frage nach, wieso Unternehmen mit ihrer komplexen Struktur als Institutionen existieren und Tauschvorgänge innerhalb dieser Unternehmen nicht via Markt, der effiziente Lösungen bereitstellt,
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gewinnung, -überprüfung, -verarbeitung, -koordination ist der Markttausch als Folge unvollständiger Informationen mit Verhandlungs-, Durchsetzungs- und Kontrollkosten verbunden.31 Die Aufhebung der Prämisse ‚vollständige Markttransparenz‘ bedeutet somit, dass der Tauschvorgang von Gütern und Dienstleistungen nicht mehr kostenneutral ist. Das eingeschränkt rational handelnde Individuum bezieht jedoch diese Kosten, ergänzt um eine Risikoprämie in Abhängigkeit von der Unvollständigkeit der Informationen, modellkonform in die KostenNutzenrechung einer Tauschhandlung mit ein. Neben individuellen Restriktionen und daraus resultierenden Kosten der Markttransaktion ‚materialisiert‘ der strategisch rationale Akteur auch gesellschaftliche Restriktionen aufgrund von Reaktionen der gesellschaftlichen Umwelt auf das jeweilige Handeln und aufgrund von Institutionen. Da das Verhalten Anderer als Reaktion auf eigenes Handlungen in der Zukunft aufgrund der ‚bounded rationality‘ nicht zweifelsfrei vorauszusehen ist, relativiert das Individuum möglichen Nutzen und mögliche Kosten mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens und berücksichtigt sie dann bei seiner Handlungsentscheidung. Eindeutiger sind die Handlungsrestriktionen durch allgemeine Institutionen einzuschätzen. Institutionen werden hier im North´schen Sinne sowohl als informelle Institutionen wie Tabus, Moralvorstellungen, Traditionen und andere Verhaltenscodizies, die durch gesellschaftlichen Konsens bzw. Ächtung geprägt wurden, als auch als formelle Institutionen wie Gesetze und Gebote, die durch das Gewaltmonopol einer öffentlichen Autorität durchgesetzt wurden, verstanden.32 Zur Abgrenzung von Institutionen und Organisationen werden im Folgenden Institutionen als „Spielregeln ohne Spieler, Ordnungssysteme ohne Benutzer“ und Organisationen als „Institutionen mitsamt ihren Benutzern“ verstanden.33 Hayek wies darauf hin, umgesetzt würden. Die Existenz von Marktnutzungskosten war der Kern seiner Antwort. Unternehmer vermeiden diese durch Auf- und Ausbau der Unternehmen solange, wie die Tauschkosten einer bestimmten Güter- oder Dienstleistungstransaktion zwischen einzelnen Unternehmensteilen geringer sind als die Tauschkosten der gleichen Transaktion mit Marktteilnehmern. Vgl. Coase, Ronald Harry: The Nature of the Firm. Zuerst ersch. in: Economia 4/1937. Wiederabdruck in: Coase: The firm, the market, and the law. S. 33–55. S. 37f. 31 Vgl. Fritsch; Wein; Ewers: Marktversagen und Wirtschaftspolitik. S. 6ff. Aufbauend auf diese Überlegungen kam Douglass C. North zu der Ansicht, dass sehr hohe Transaktionskosten komplexere Tauschvorgänge verhindern und wirtschaftliche Entwicklung von Gesellschaften stark negativ beeinflussen. Die allgemeine Reduktion von Transaktionskosten in einer Gesellschaft trage somit wesentlich zum Anstieg des wirtschaftlichen Wohlstandes bei. Vgl. North, Douglass C.: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaft 76). Tübingen 1992. 32 Vgl. North, Douglass C.: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte (Einheit der Gesellschaftswissenschaften 56). Tübingen 1988. S. 207– 211. Rudolf Richter definiert Institution als „ein auf ein bestimmtes Zielbündel abgestelltes System von Normen einschließlich deren Garantieinstrumente, mit dem Zweck, das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung zu steuern.“ Richter, Rudolf: Institutionen ökonomisch analysiert. Zur jüngeren Entwicklung auf einem Gebiet der Wirtschaftstheorie. Tübingen 1994. S. 2. 33 Richter, Rudolf; Bindseil, Ulrich: Neue Institutionenökonomik. In: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 24 (1995). S. 132–140. S. 133. Auch wenn der Begriff „Organisation“
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dass Institutionen nicht nur negative Handlungsrestriktion für Individuen darstellen, sondern auch positive Wirkungen bei der Ziel-Mittel-Wahl der rationalen Akteure haben.34 Als Folge von effektiven Institutionen stehen bestimmte Handlungsoptionen nicht mehr zu Wahl, da sie mit prohibitiv hohen Kosten, wie soziale Ächtung oder staatliche Strafe, belegt sind. Bei bestimmten wiederkehrenden Handlungsentscheidungen ergibt sich ein kostensparender „Automatismus“ durch Institutionen.35 Gesellschaftliche Institutionen tragen somit zur Reduktion der Handlungsoptionen von Individuen bei, „strukturieren unser tägliches Leben und verringern auf diese Weise dessen Unsicherheiten.“36 Dies gilt sowohl für die Handlungsentscheidung des Individuums als auch für die Einschätzung möglicher Reaktionen seiner Umwelt. Indem Institutionen Anreize für das Handeln der Individuen bieten, gestalten sie das Verhalten der Individuen effizienter.37 Das den Grundannahmen des methodologischen Individualismus folgende Modell des in jeder Situation ökonomisch zweckrational und strategisch handelnden Menschen ermöglicht trotz der Einführung von ‚bounded rationality‘ und externen gesellschaftlichen Restriktionen, die vom jeweiligen historischen und kulturellen Umfeld abhängig sind, die Erklärung eines wesentlichen Handlungsstranges von Akteuren, deren Handlungen weiterhin das Streben nach Nutzenmaximierung zugrunde liegt.38 Bei aller Kritik am Modell des ‚homo oeconomicus‘
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dem allg. Sprachgebrauch in Einzelfällen entgegensteht, soll diese Unterscheidung zwischen Institution und Organisation zur begrifflichen Klarheit im Folgenden verwendet werden. Nach Hayek sind Institutionen im historischen Verlauf durch den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren ständigem Wandel unterworfen. Sie können zielgerichtet durch Handlungen von Individuen oder auch spontan durch den Ausleseprozess verändert, abgeschafft oder durch andere ersetzt werden, wenn sie sich als unbrauchbar oder in ihrer Wirkung negativ herausstellen. Dies hat sowohl für die „taxis“ als auch für den „kosmos“ Relevanz. Gerade der Gegensatz zwischen der gewachsenen, spontanen Ordnung (kosmos) und der geschaffenen, organisierten Ordnung (taxis) macht jedoch deutlich, dass gesellschaftliches Leben sowohl durch spontane Regeln (Moral, Sitte), verfeinerte Regeln dieser Art und teilweise als Ergebnis von darauf basierenden Entwürfen organisiert ist. Jedoch sind es die allgemeinen Regeln, die die Individuen einer Gesellschaft zu Verhaltensweisen führen, die gesellschaftliches Leben überhaupt erst ermöglichen. Vgl. Hayek, Friedrich August von: Die Sprachverwirrung im politischen Denken. Mit einigen Hilfen zur Abhilfe. In: Ders.: Freiburger Studien. S. 206–231. S. 207–210; Hayek, Friedrich August von: Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Bd. I. Regeln und Ordnung. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie. München 1980. S. 59, S. 69f. und S. 74f. Vgl. Butschek: Die verhaltenstheoretischen Grundlagen der Nationalökonomie. S. 325. Richter: Institutionen ökonomisch analysiert. S. 2. North wies daraufhin, dass Institutionen eine zentrale Rolle spielen bei der Bestimmung von profitablen Stärken und Kenntnissen und deren Aneignung. Demnach richten sich Menschen in der Institutionenordnung am besten ein, in der die höchsten Erträge entstehen. Vgl. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. S. 92ff.; North, Douglass C.: Five Propositions about Institutional Change. In: Knight; Sened (Hrsg.): Explaining Social Institutions. S. 15–26. S. 17. Zur Einschränkung der engen Rationalitätsannahme der Neoklassik führen Victor Nee und David Strang den Begriff „context-bound rationaltity“ ein, mit dem ein „breiterer“ Blick auf die Rationalität möglich ist und der für die Institutionenanalyse Relevanz hat. Vgl. Nee,
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wird weiterhin unterstellt, dass Individuen zur Verfolgung ihrer Ziele rational handeln, denn „eingeschränkt rationales ist eben auch rationales und nicht irrationales Verhalten.“39 Trotz mancher Kritik an der grundsätzlichen Rationalitätsauffassung bleibt festzuhalten, dass zur Analyse menschlichen Verhaltens bisher kein treffenderes Modell als das der rationalen Nutzenmaximierung existiert. Das von Rationalität und Nutzenmaximierung geprägte Modell ist als normative Basis grundsätzlich dienlich, wenn es richtigerweise nicht als Prognoseinstrument zur Vorhersage menschlichen Verhaltens verstanden und gebraucht wird, sondern als Modell dient, um rationales individuelles Verhalten unabhängig von den jeweiligen Individuen ex post zu beschreiben. Es ist dienlich, um Motivationen von im Kern nutzenorientierten, rationalen Entscheidungen offen zu legen. Auch wenn die Vorstellung einer ausschließlich mit selbstinteressierten, sozialen Akteuren bevölkerten Welt nur modellhaft bleiben kann, so bietet sie als Idealtypus höhere Konsistenz als andere Modelltypen.40 Situationen, in denen angestrebte Handlungsziele nicht erreicht wurden, sind kein Nachweis dafür, dass die ursprünglichen Handlungen irrational waren oder dass sie das Ergebnis unbeabsichtigten Handelns sind.41 In entsprechenden Fällen wäre zur Erklärung der Diskrepanz zwischen Handlungsziel und -ergebnis und damit zur Erklärung eines historischen Phänomens in einem zweiten Schritt die Analyse des institutionellen Umfelds nötig, denn statistisch wahrscheinlicher als irrationales Verhalten ist, dass Restriktionen im Umfeld des Akteurs bei der Ziel-Mittel-Wahl falsch eingeschätzt oder nicht wahrgenommen wurden, so dass die Handlungen nicht zum erwünschten Ziel führen konnten. Unbestritten bleibt, dass bestimmtes Verhalten auch von unklaren, nachträglich unabhängig vom Individuum nicht zu erfassenden, intrinsischen Motiven wie kulturellen Prägungen oder psychologischen Täuschungen beeinflusst gewesen sein kann. Irrationales Verhalten findet in der Realität statt und kann mit Hilfe dieses Modells nicht erklärt werden. Für den Erklärungswert bei historischen Analysen, die potentiell auch Ereignisse zum Gegenstand haben, die Folge nicht intendierten oder irrationalen Verhaltens waren, ergibt sich jedoch aus der Komplexitätsreduktion des Modells kein Problem. Es ist im Gegenteil die Stärke dieses Modells rationaler Handlungen, irrationales Handeln zu erkennen und als solches zu identifizieren.42 Im
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Victor; Strang, David: The Emergence and Diffusion of Institutional Forms. In: Journal of Institutional and Theoretical Economics 154 (1998). S. 706–715. S. 707f. Kirchgässner: Homo oeconomicus. S. 33. Zur umfangreichen Kritik am Modell der „homo oeconomicus“ vgl. ebd.: S. 27–38. Das entgegengesetzte Modell der Welt voller Altruisten ist logisch inkonsistent, da altruistisches Handeln nur möglich ist, wenn die selbstlosen Taten der Altruisten angenommen würden, was wiederum Selbstinteresse Einzelner voraussetzt, die dann nicht altruistisch handelten. Vgl. Elster, Jon: Nuts and bolts of the social sciences. Cambridge, New York, Melbourne 1989. S. 53f. Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 40. Vgl. beispielhaft die Analyse Barbara Tuchmanns, die irrationales Handeln von historischen Herrschern unter Nebenbedingungen analysierte. Als irrational identifizierte sie nur jene Handlungen, deren Ergebnisse bereits von Zeitgenossen und nicht erst in historischer Be-
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Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Studie ist zudem die Wahrscheinlichkeit irrationalen oder ziellosen Handelns gering einzuschätzen. Die Anwendung des beschriebenen Idealtyps menschlichen Handelns verspricht auf dem Gebiet internationaler Politik große Realitätsnähe. Gerade auf diesem sozialen Handlungsfeld ist höchste Selbstreflexion der Akteure zu erwarten. Zahlreiche Individuen sind hier ausdrücklich damit beschäftigt, mögliche Wirkungen des sowohl individuellen als auch korporativen Handelns auf andere Akteure und deren mögliche Handlungsoptionen zu analysieren. Individuelle Akteure bei internationalen Verhandlungen sind zumeist sehr gut ausgebildet und ebenso vorbereitet. Sie dürften sich wie nur wenige andere Akteure der Interdependenz des Handelns und der vorhandenen Einschränkungen bewusst sein, so dass die Wahrscheinlichkeit von widerspruchsvollem oder unüberlegtem Handeln als vernachlässigbar gering angenommen werden kann. Klar bleibt, dass mit der Wahl des methodologischen Individualismus als Idealtyp keine Aussage über ‚die Menschen‘, die unerfassbar vielschichtig sind, verbunden ist, sondern dass der ‚homo oeconomicus‘ ein theoretisches Hilfsmittel zur Analyse menschlichen Handelns in bestimmten Situationen bleibt. Zusammenhänge zwischen Bedingungen und Folgen von Handlungen können hiermit systematisch analysiert werden. Homann und Suchanek haben von dieser Basis ausgehend die grundsätzliche Thematik der Wirtschaftswissenschaft dahingehend umdefiniert, dass nicht die Überwindung individueller Knappheiten, sondern allgemein die „Möglichkeiten und Probleme der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ ins Zentrum wirtschaftswissenschaftlicher und damit sozialwissenschaftlicher Analyse rücken sollten.43 Die Bedingungen des Güter- und Dienstleistungsaustausches, dessen Notwendigkeit aus dem menschlichen Streben nach Verbesserung der persönlichen Situation und der Begrenztheit der Ressourcen folgt, sollten analysiert werden. Die bei diesen Interaktionen von Akteuren entstehenden Konflikte zwischen gemeinsamen und konfligierenden Interessen stehen auch im Zentrum dieser Studie. Die Zusammenarbeit von Staaten als Akteure zur Bildung einer Wirtschaftsgemeinschaft wird vor diesem Hintergrund als „gesellschaftliche[..] Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ verstanden. Sie ist gekennzeichnet sowohl von gemeinsamen Zielen als auch von unterschiedlichen, widerstrebenden nationalen Interessen. Daher findet die verhaltenstheoretischen Grundannahmen der Ökonomik, zusammengefasst als „Vorteilsstreben der Akteure“ durch „individuelle Vorteils-/Nachteils-Kalkulation“ der Akteure, bei der Analyse der Kooperation der sechs westeuropäischen Staaten zur Herstellung eines Gemeinsamen Marktes mit einer Wettbewerbsordnung Anwendung. Die Wahl dieses Verhaltensmodells lässt hohe Erklärungskraft vermuten, obwohl – beziehungstrachtung als kontraproduktiv erkannt wurden, jene, zu denen es in der Zeit bekannte Handlungsalternativen gab, und jene hinter denen eine Gruppe oder eine Reihe von Herrschern stand und die somit nicht das Ergebnis von Tyrannen oder Diktatoren waren. Tuchmann, Barbara: Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam. Frankfurt a. M. 1984. 43 Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 5.
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weise weil – damit eine hohe Abstraktion von der Wirklichkeit vorgenommen wird. Ein erster Schritt der „Reduktion von Problemen auf theoretische bzw. modelltheoretische Problemstrukturen“ ist damit gemacht.44 Ein weiterer Schritt betrifft die Einordnung der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik in den Rahmen der Europäischen Integration. Mit Hilfe politikwissenschaftliche Theorien der Europäischen Integration und der Internationalen Beziehungen soll ein selektiver Standpunkt eingenommen werden. Mögliche Erklärungsmuster sollen mit den dargelegten verhaltenstheoretischen Grundannahmen der ökonomischen Sozialwissenschaft vereinbar sein und zur Erklärung der Kooperation interessengeleiteter Staaten dienen. B.2 THEORIEN EUROPÄISCHER INTEGRATION – INTERESSENGELENKTE ZUSAMMENARBEIT VON NATIONALSTAATEN. Das Phänomen ‚Europäische Integration‘ ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und war immer wieder Anlass für Erklärungskonzepte und Theorien von Integration. Der Begriff ‚Integration‘ ist alt und vielschichtig, wurde in den 1930er und 1940er Jahren langsam zu einem prägenden Begriff, zunächst in der Wirtschafts- und später in der Politikwissenschaft, da die negativen Folgen der wirtschaftlichen und politischen Separation der Staaten in den 1920er und 1930er Jahren Ideen gefördert hatten, die politischen und wirtschaftlichen Probleme der Staaten durch Zusammenarbeit zu lösen. In diesem Zusammenhang fand ‚Integration‘ bald nach 1945 Eingang in Konzepte zur politischen Gestaltung der internationalen Staaten- und Wirtschaftsordnung. In Westeuropa bewirkte spätestens seit den 1950er Jahren das Bewusstsein, sich zwischen den beiden Konfliktparteien des Kalten Krieges zu befinden, das Interesse an der Stärkung der eigenen Position durch Kooperation.45 Theorien wirtschaftlicher Integration zielten überwiegend auf mögliche ökonomische Effekte in den beteiligten Regionen durch verstärkte private und staatliche Kooperation beim Handel mit Gütern und Dienstleistungen. Im Mittelpunkt steht bis heute die Analyse wirtschaftlicher Kennziffern, die sich mit der Ausdehnung der Märkte, nicht zuletzt der Märkte für staatliche Leistungen und öffentliche Güter, und dem Arrangement der Marktbedingungen verändern. Die ökonomische Theorie der Integration entwickelte dabei verschiedene Stufen der Integration von Volkswirtschaften: von der Handelspräferenz- und Freihandelszone über die Zollunion und den Gemeinsamen Markt bis hin zur vollständigen wirtschaftlichen Integration. Für jede Stufe wurden positive wie negative wirtschaftliche Effekte analysiert, um optimale Konditionen für die Integration 44 Vgl. Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 392f. 45 Vgl. Machlup, Fritz: A History of Thought on Economic Integration. London, Basingstoke 1977. S. 3–12; Herbst, Ludolf: Die zeitgenössische Integrationstheorie und die Anfänge der europäischen Einigung 1947–1950. In: VfZ 34 (1986). S. 161–205. S. 163–171.
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von Wirtschaftsräumen oder Teilen von Volkswirtschaften zu erhalten.46 Sie mündeten in Empfehlungen an politisch Handelnde. Weder die Wettbewerbspolitik noch eine Wettbewerbsordnung hatte im Rahmen der ökonomischen Integrationstheorien eine hohe Relevanz, obwohl der Abbau von zwischenstaatlichen Handelsschranken und die Angleichung nationaler Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen bei allen Konzepten eine mehr oder minder wichtige Rolle bei der kooperativen Annäherung von Wirtschaftssystemen spielte. Die Analyse wirtschaftlicher Kooperation von Staaten zur Wohlstandsmehrung durch Freihandel wurde durch die Politikwissenschaft um weitere Faktoren erweitert. Die Entwicklungen der internationalen Beziehungen der Staaten nach 1945 und die verschiedenen Formen wirtschaftlicher aber auch politischer Zusammenarbeit in Westeuropa haben über die Jahre zu drei Forschungsrichtungen geführt: eine zur historischen Entwicklung der europäischen Integration, eine zweite zur Erklärung des Gesamtphänomens der europäischen Kooperation und eine dritte über die Funktionsweisen der Integration.47 Jedoch sind diese drei eng miteinander verknüpft, so dass es heute zahlreiche, zum Teil miteinander verschränkte Theorien und Erklärungsansätze für die europäische Integration gibt. Die europäische Integration selbst war geprägt durch die Leitbildfunktion verschiedener Theorien, allen voran von den beiden politikwissenschaftlichen Konzepten des Föderalismus und des Funktionalismus, die sich als Grundkonzepte gegenüberstanden und zur produktiven und dialektischen Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚Integration‘ beitrugen.48 Der Föderalismus prägte als Leitbild die Vor- und Frühgeschichte der europäischen Kooperation.49 Er diente im Laufe der Jahre als „Utopie und Gestaltungsprinzip“.50 Die bis heute unbeantwortete Frage der Finalität des Prozesses wurde mit Hilfe des föderalen Staatsordnungskonzepts immer wieder thematisiert. Auch der Funktionalismus war zu Beginn der europäischen Integration sowohl wegweisende Ansicht als auch politische Methode zur Umsetzung von Integrationsschritten. Die Wissenschaft und auch politisch Handelnde waren von diesem Konzept beeinflusst, bot es doch die scheinbare Option über die bis dahin bekannte, rein intergouvernementale Zusammenarbeit hinauszukommen. Auch europäische Föderalisten wie Jean Monnet vertraten dieses Konzept, verdeckte es doch die Umsetzungsprobleme des föderalistischen 46 Vgl. Scitovsky, Tibor: Economies of Scale, Competition, and European Intregration. In: The American Economic Review 46 (1956). S. 71–91. In Abgrenzung zu Scitovsky vgl: Schneider, Hans K.: Gemeinsamer Markt und Wettbewerb. In: Wirtschaftspolitische Chronik 7 (1959) H. 1. S. 19–37; Hofmann, Werner: Europa-Markt und Wettbewerb (Volkswirtschaftliche Schriften 45). Berlin 195; Clapham, Ronald: Über einige Probleme beim Nachweis von Integrationseffekten. In: Wirtschaftspolitische Chronik 13 (1964), H. 2. S. 49–64. 47 Vgl. List: Baustelle Europa. S. 65. 48 Vgl. Schneider, Heinrich: Europäische Integration: Die Leitbilder und die Politik. In: Kreile (Hrsg.): Die Integration Europas. S. 3–35. S. 3f. und S. 8f. 49 Für die Verwendung der Begriffe „Föderation“ oder „Föderierung“ durch die frühen Verfechter der europäischen Zusammenarbeit im Gegensatz zur Verwendung des Begriffs „Integration“ vgl. Herbst: Zeitgenössische Integrationstheorie. S. 171f.; Giering: Zweckverband und Superstaat. S. 34–38. 50 Giering: Zweckverband und Superstaat. S. 193.
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Konzepts, das in Ermangelung eines europäischen Staatsvolkes – oder wenigstens einer europäischen Zivilgesellschaft – seiner Umsetzung bis heute harrt.51 Wolfgang Merkels Charakterisierung des funktionalistischen Ansatzes als ‚bottom-upAnsatz‘ in Abgrenzung zum angeblichen ‚top-down-Ansatz‘ des konstitutionellen, föderalistischen Konzepts hatte vor allem die Dimension der Entwicklung von Integration zum Gegenstand. Stehen hingegen die Handlungsmotive der bedeutenden, die Kooperation herbeiführenden Akteure im Mittelpunkt, sind Föderalismus und Funktionalismus in ihren Grundstrukturen als ‚bottom-down-Ansätze‘ zu charakterisieren, bei denen Eliten entweder Legitimationsprobleme oder Sachprobleme durch ein politisches Konzept umzusetzen versuchen.52 Gegen die Eignung der beiden Grundkonzepte als Deutungsmuster für intendiertes Handeln von Akteuren bei der europäischen Integration spricht, dass beide Grundtheorien einen teleologischen Kern haben. Sie waren zwar wissenschaftliche Konzepte, dienten gleichzeitig aber immer auch als Handlungsanweisung und Handlungslegitimation für die Akteure der 1950er Jahre, um den Integrationsprozess in Westeuropa auch gegen Widerstände voranzubringen. Motive rationaler Akteure für spezifische institutionelle Ausgestaltungen der Integration, wie die Bildung der Wettbewerbsregeln, können damit kaum analysiert werden.53 Auch die Weiterentwicklung des Funktionalismus zum Neofunktionalismus als Folge der Falsifizierung durch realpolitische Entwicklungen, der stärker den Prozesscharakter und die Rolle supranationaler Organisationen betonte, blieb nicht frei von Kritik.54 Der Neofunktionalismus und seine Weiterentwicklungen waren dann 51 Die Konstituierung eines nicht-nationalen föderalen Staates wirft bis heute die Frage nach der demokratischen Legitimation der Verfassung und des politischen Systems auf. Das Staatssystem Föderalismus, ein Staat aus mehreren Teilstaaten, baut auf dem Prinzip doppelter Repräsentation auf, indem sowohl die Gliedstaaten als auch das Volk repräsentiert werden. Das Problem der Stimmgewichtung der Gliedstaaten außen vor lassend, bleibt im europäischen Kontext die Frage nach dem europäischen Volk. Kennzeichen eines Staatsvolkes sind nach Kielmannsegg die parallele Existenz von Kommunikations-, Erinnerungs- und kollektiver Erfahrungsgemeinschaft. Diese drei konstitutiven Elemente eines europäischen Volkes oder die Existenz einer europäischen Zivilgemeinschaft sind bis heute nicht zu identifizieren; geschweige denn, dass diese konstitutiven Elemente in der Frühphase der Europäischen Integration vorhanden gewesen wären. Demokratische Legitimität kann bis heute somit nur über die politischen Systeme der Nationalstaaten entstehen. Vgl. Kielmansegg, Peter Graf: Integration und Demokratie. In: Jachtenfuchs; Kohler-Koch (Hrsg.): Europäische Integration. S. 47–71 und S. 55ff.; Giering: Zweckverband und Superstaat. S. 44–48, S. 50; List: Baustelle Europa. S. 74 und S. 85f. 52 Vgl. Merkel: Die Europäische Integration. S. 306. 53 Vgl. Giering: Zweckverband und Superstaat. S. 126f. Zur weiteren Kritik vgl. Große Hüttemann, Martin; Fischer, Thomas: Föderalismus. In: Bieling; Lerch (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration. S. 41–63. S. 54ff. 54 Der Neofunktionalismus entwickelte sich wesentlich auf Basis von: Haas, Ernst B.: The Uniting of Europe. Political, social, and economic Forces 1950–1957. Stanford 1958. Zur theoretischen Weiterentwicklung durch Philippe Schmitter und zur Kritik daran vgl. Busch, Klaus: Spill-over-Dynamik und Spill-back-potential in der europäischen Währungsintegration. Ein Beitrag zur Währungsintegration. In: Jachtenfuchs; Kohler-Koch (Hrsg.): Europäische Integration. S. 281–311. S. 282–292.
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dienliche Erklärungsansätze, wenn Integrationsschritte erfolgreich waren. Stagnation und Stillstand der Integration waren hingegen Anlass, die funktionalistischen Modelle, die die dahinter stehenden Handlungsmotive kaum erklären konnten, zu hinterfragen.55 Gegen den Gebrauch (neo-)funktionalistischer Theorieansätze steht zudem dessen Basisvorstellung eines funktionalistischen Verlaufs von Geschichte, der nicht vereinbar ist mit dem Konzept rational handelnder Akteure, die Vor- und Nachteile, kurz-, mittel- und langfristige Ergebnisse ihres Verhaltens gegeneinander abwägen. Argumente technischer, funktionalistischer Sachlogik sind nicht kompatibel mit dem Konzept des methodologischen Individualismus.56 Auf funktionalistischen Vorstellungen basierende Integrationstheorien werden deshalb in dieser Studie für die Erklärung von Integrationsprozessen, verstanden als Handlungsergebnisse rationaler Akteure, als unzureichend abgelehnt. Neben Föderalismus und (Neo-)Funktionalismus als Grundlagen von Integrationstheorien trug die klassische Theorie internationaler Beziehungen, der Realismus, als ursprünglich integrationsneutraler Ansatz Bedeutendes zur Theoriedebatte bei. Die aus Kontroversen zwischen Neofunktionalismus und Realismus hervorgegangenen Erklärungsansätze des Neorealismus, des Intergouverne55 Vertreter der neofunktionalen Theorie hatten bei ihren Analysen erfolglose Politikfelder wie Atomenergie oder Verkehr zunehmend außen vor gelassen und sich auf die positiven Ergebnisse von Marktliberalisierung und Organisationsbildung im Rahmen der EWG konzentriert, die ihre Theorie zu stützen schien. Vgl. List: Baustelle Europa. S. 74; Giering: Zweckverband und Superstaat. S. 58f. Die realpolitischen Entwicklungen der frühen 1960er Jahre wie die Verfolgung nationaler Interessen, die Fouchet-Pläne de Gaulles, seine Position gegenüber dem ersten Aufnahmeantrag Großbritanniens und die französische „Politik des leeren Stuhls“ mit dem Ergebnis „Luxemburger Kompromiss“, der die Position der Kommission und des Europäischen Parlamentes nachhaltig schwächte, konnten jedoch mit der funktionalistischen Theorie nicht erklärt werden. Alternative Erklärungsmuster für die Entwicklungen in den frühen 1960er Jahren erkannten den Widerstand der Nationalstaaten gegen die starke funktionale Ausdehnung des Aufgabenbereiches der Kommission unter deren ersten Präsidenten Walter Hallstein als ursächlich. Vgl. Gillingham: European Integration 1950–2003. S. 57, S. 69ff. und S. 495; Moravcsik: Choice for Europe. S. 230ff. Für weitere Kritik am Neofunktionalismus vgl. Wolf, Dieter: Neo-Funktionalismus. In: Bieling; Lerch (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration. S.65–90. S. 75–80; Merkel: Die Europäische Integration. S. 308; Giering: Zweckverband und Superstaat. S. 47; Rosamond, Ben: New theories of European integration. In: Cini (Hrsg.): European Union Politics. S. 109–127. S. 111ff. Zur Erklärung der spill-backs und des stop-and-go des Integrationsprozesses vgl. List: Baustelle Europa. S. 96–99; Wolf: Neo-Funktionalismus. S. 82. Als Reaktion auf Kritik und reale Entwicklung wurde der Funktionalismus in den 1980er Jahren weiterentwickelt. Der „spill-over“ als Selbstverstärkungseffekt des Integrationsprozesses wurde als nicht mehr erklärungskräftig betrachtet. Die These vom rein aus innenpolitischer „Notlage“ initiierten Integrationsschritt (domestic-policy-Ansatz) wurde als nicht erklärungskräftig verworfen. Zunehmend wurden supranationalen Akteuren und Organisationen, wie Kommission, europäische Interessenverbände oder internationale Unternehmen, Bedeutung für neue Integrationsschritte von der Theorie des supranationalen Institutionalismus zugeschrieben. Demnach gehen von diesen Impulse und eine gewisse Wegbereitung für weitere Integrationsschritte aus. Vgl. Nölke, Andreas: Supranationalismus. In: Bieling; Lerch (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration. S.145–168; List: Baustelle Europa. S. 88ff; Rosamond: New theories. S. 113–117. 56 Vgl. Wolf: Neo-Funktionalismus. S. 76. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 47–54.
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mentalismus und der Regimetheorie enthalten zahlreiche Ansätze, um die Grundlinien der Europäischen Integration zu erklären. Kritik an ihnen zielte aber darauf ab, dass sie nicht über den Kern des Realismus hinausgingen. Nationale Interessen blieben bestimmt von Macht und Gegenmacht der Staaten sowie politischen und wirtschaftlichen Konflikten, die die internationalen Beziehungen bestimmten.57 Die Kerne der drei Integrationstheorien Föderalismus, (Neo-)Funktionalismus und (Neo-)Realismus, veränderten sich über die Jahre, wurden häufig durch reale Entwicklungen falsifiziert und infolgedessen modifiziert. Die kritischen Auseinandersetzungen unter den verschiedenen Forschungsrichtungen regten immer wieder neue Erklärungsansätze an. Zur Entwicklung von Erklärungsmustern trug auch die Kontroverse bei, ob „the European Rescue of the Nation-State“58 das Ziel europäischer Zusammenarbeit war oder die Überwindung der Nationalstaaten zur Friedenssicherung durch supranationale Integration.59 Insgesamt gab es in den vergangenen 50 Jahren immer wieder Phasen starker Prägung der realen Entwicklung durch theoretische Konzepte und auch Phasen, in denen politische Ereignisse Einfluss auf die Theorieentwicklung hatten.60 Da inzwischen die Entwicklung der Integrationsforschung selbst Gegenstand eigener Beiträge ist, wird an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen.61 Gleichwohl legten die Diskurse über die politikwissenschaftlichen Integrationstheorien eine Reihe erklärungsnotwendiger und erklärungskräftiger Determinanten offen, die die verschiedenen theoretischen Konzepte zur Untersuchung von Intentionen und Realisierungsmotiven für die Schaffung der europäischen Kartellund Wettbewerbspolitik enthalten. Das Erklärungsziel einer für diese Studie ausgewählten Theorie soll vor diesem Hintergrund auf den historischen Ablauf der Integration als Form der Kooperation souveräner Staaten zielen und nicht die Funktionsweise des Politikgestaltungsprozesses zum Gegenstand haben. Weder 57 Vgl. Cini, Michelle: Intergovernmentalism. In: Cini (Hrsg.): European Union Politics. S. 93– 108. S. 94–99; Bieling, Hans-Jürgen: Intergouvernementalismus. In: Bieling, Lerch (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration. S. 91–116. S. 108ff.; Merkel: Die Europäische Integration. S. 309f. 58 So der Titel des wegweisenden Werkes von Milward, Alan S.: The European Rescue of the Nation-State. London 1992. 59 Zur Grundsatzdebatte in dieser Frage zwischen Alan Milward und Walter Lipgens vgl. Loth, Wilfried: Beiträge der Geschichtswissenschaft zur Deutung der Europäischen Integration. In: Loth; Wessels (Hrsg.): Theorien europäischer Integration. S. 87–106. S. 91–96; Wurm, Clemens: Early European Integration as a Research Field. Perspectives, Debates, Problems. In: Wurm (Hrsg.): Western Europe and Germany. S. 9–26. S. 14–20. 60 Vgl. Giering: Zweckverband und Superstaat. S. 193–224. 61 Hier sei verwiesen auf: Bieling, Hans-Jürgen; Lerch, Marika: Theorien der europäischen Integration. Ein Systematisierungsversuch. In: Bieling; Lerch (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration. S. 9–37. S. 25–30; Rosamond: New theories. S. 109–127; Wessels, Wolfgang: Politikwissenschaftliche Beiträge zur Integrationswissenschaft. Vielfalt und Vielklang. In: Loth; Wessels (Hrsg.): Theorien europäischer Integration. S. 19–34. S. 19–22; Merkel: Die Europäische Integration. S. 304–310; List: Baustelle Europa; Giering: Zweckverband und Superstaat; Wurm: Early European Integration. S. 10ff. Vgl. auch weitere Beiträge in Bieling; Lerch (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration; Loth; Wessels (Hrsg.): Theorien europäischer Integration.
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die Frage nach der optimalen Verfasstheit des politischen Systems für das reibungslose Funktionieren des ‚Regierens im Mehrebenensystem‘ noch die Frage nach der Legitimität des Handelns nationaler und supranationaler Akteure auf europäischer Ebene stehen im Fokus dieser Studie. Ein mögliches Konzept soll zudem Erklärungsmuster für mehrere Einzelschritte der Integration bieten. Des Weiteren sollen ausgehend vom methodologischen Individualismus Interessen und Präferenzen der am Prozess beteiligten Akteure abgebildet und gewichtet miteinbezogen werden können. Beziehungsgeflechte und Interdependenzen der Akteure und deren Handlungen sollen im historischen Wandel berücksichtigt werden. Die Aggregation gleicher und ähnlicher Präferenzen verschiedener Akteure widerspricht diesem Anspruch nicht. Auf Basis der dem Realismus entlehnten Sicht von internationaler Gemeinschaft soll berücksichtigt werden, dass Regierungen auf die Wahrung der Handlungsautomatie nach außen (gegenüber anderen Staaten) wie nach innen (gegenüber gesellschaftlichen Gruppierungen) bedacht sind. Unter diesen Bedingungen und in Anlehnung an Poppers Methode der „Situationslogik“, die die größtmögliche Annäherung an diejenige Wahrheit anstrebt, die bei gegebenen Mitteln erreichbar ist, wird im Folgenden mit dem liberal-intergouvernementalistischen Ansatz Andrew Moravsciks die Verhandlungen zwischen den sechs EGKS-Staaten über die Kartell- und Wettbewerbspolitik im Rahmen der EWG-Gründung und in den Anfangsjahren der Wirtschaftsgemeinschaft analysiert. Mit der Darlegung dieses Erklärungsmusters der europäischen Integration werden weitere Grundprämissen der Studien offen gelegt. B.3 DER LIBERALE INTERGOUVERNEMENTALISMUS ALS ERKLÄRUNGSANSATZ INTERESSENGELEITETER KOOPERATION VON STAATEN B.3.a Das Grundmodell von Moravcsik Andrew Moravcsik knüpfte Anfang der 1990er Jahre an die theoretischen Überlegungen seines akademischen Lehrers Stanley Hoffmann zur Europäischen Integration an. In Auseinandersetzung mit dem Neofunktionalismus, dem liberalen Institutionalismus und der Frage nach dem Einfluss supranationaler Organisationen auf den Integrationsprozess kam er zu dem Schluss, dass „although the EC is a unique institution, it does not require a sui generis theory.“62 Moravcsik vertrat die Meinung, dass allein die Kombination bekannter Handlungs- und Ver62 Moravcsik: Preferences and Power. S. 474. Hierbei stellt sich Moravcsik ganz bewusst gegen Tendenzen in der Politikwissenschaft der 1990er Jahre, eine umfassende Theorie zu entwickeln. Mit seinem Erklärungsansatz der Integration wendet er sich nicht zuletzt gegen demokratietheoretische und staatstheoretische Grundüberlegungen zum politischen System EU und gegen Theorieansätze eigenen Zuschnitts „jenseits des ‚sui generis‘“, wie sie von Heidrun Abromeit skizzenhaft dargelegt wurden. Vgl. Abromeit, Heidrun: Jenseits des ‚sui generis‘. Kommentar zu Markus Jachtenfuchs‘ Beitrag. In: Landfried (Hrsg.): Politik in einer entgrenzten Welt. S. 91–96.
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handlungstheorien mit Theorien der internationalen Beziehungen ausreichend sei, um die zentralen Entwicklungsschritte der Europäischen Integration zu analysieren und zu erklären und entwickelte darauf aufbauend einen eigenen Erklärungsansatz.63 Er nahm in seine Theorie des Liberalen Intergouvernementalismus liberale und realistische Theorieelemente und Grundannahmen auf. Die Frage nach dem Warum? stand im Mittelpunkt seiner Theorie und nicht das Wie?, das für Regime- oder Governanceansätze bis heute kennzeichnend ist. Im Gegensatz zu den Erklärungsmustern des Föderalismus und des Funktionalismus wendet sich Moravcsik vom ‚bottom-down-Ansatz‘ ab und erklärt Integration als Ergebnis von Präferenzen für staatliche Zusammenarbeit, als Ergebnis nationaler Nachfrage nach internationaler Kooperation. Die wesentlichen Akteure der Ausgestaltung internationaler Kooperationen sind in seinem Modell die Staaten. Diese treten hierbei nach außen als geschlossene einheitliche Akteure auf, vertreten ihre Interessen und handeln rational. Im Unterschied zum Realismus sind diese Interessen jedoch nicht das Ergebnis der (geopolitischen) Position des Staates in den internationalen Beziehungen, sondern des innergesellschaftlichen, liberal-pluralistischen Prozesses der Interessenformulierung. Moravcsik übernahm hier die Kernannahme liberaler Ansätze internationaler Beziehungen, die das Handeln der Staaten als Ergebnis binnenstaatlicher politischer Prozesse interpretieren. Moravcsiks Erklärungsansatz hat zahlreiche Schnittmengen mit dem sozialwissenschaftlichen Gedankengebäude der Ökonomik und baut auf einem liberalen Modell internationaler Beziehungen auf. Gemäß dem rationalistischen Rückgrat des liberalen Intergouvernementalismus bilden Individuen und ihre Handlungen den Kern sozialer Institutionen. Diese selbst sind Ergebnis rationalen Handelns als Folge unterschiedlicher Interessen.64 Akteure handeln strategisch rational und nutzenmaximierend, mit eingeschränkter Rationalität und unter Restriktionen. Präferenzen und Anreize sind primär ursächlich für das Handeln der Akteure, und nicht soziale Normen, Ideologien oder Ideen.65 Konform mit den Annahmen des methodologischen Individualismus vertreten Regierungen als korporative Akteure 63 Ohne Zweifel kann man von „seiner Theorie“ sprechen, da es bis dato keinerlei Modifikationen oder Weiterentwicklungen gibt. Steinhilber spricht sogar im Rahmen der integrationstheoretischen Debatte von einer „one-man-show“. Vgl. Steinhilber, Jochen: Liberaler Intergouvernementalismus. In: Bieling; Lerch (Hrsg.): Theorien der europäischen Integration. S. 169–196. S. 192. Zu den wesentlichen Beiträgen und Ergebnissen dieses Theoriegebäudes vgl. Moravcsik, Andrew: Negotiating the Single European Act. National interests and conventional statecraft in the European Community. In: International Organisation 45 (1991), S. 19–56; ders.: Liberalism and International Relations Theory (The Center for International Affairs. Working Paper Series 92/6). Cambridge, Mass. 1992; ders.: Preferences and Power in the European Community. A Liberal Intergovernmentalist Approach. In: JCMS 31 (1993), S. 473–524; ders.: Why the European Community strenghtens the State. Domestic Politics and International Cooperation (Center for European Studies. Working Paper Series 52). Cambridge, Mass. 1994; ders.: Choice for Europe. Social purpose and state power from Messina to Maastricht. New York 1998. 64 Vgl. Moravcsik: Liberalism and International Relations. S. 6–16. 65 Vgl. Steinhilber: Liberaler Intergouvernementalismus. S. 172ff.
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der internationalen Staatenwelt nur aggregierte Präferenzen binnenstaatlicher Akteure als nationales Interesse nach außen. Nationale Präferenzen formieren sich durch den binnenstaatlichen Präferenzbildungsprozess in Abhängigkeit vom politischen System und ohne Einflussmöglichkeiten von Außen. Unter diesen Prämissen ist staatliches Handeln rational und Regierungen als rational handelnde Akteure agieren wohlüberlegt und strategisch im Hinblick auf die Durchsetzung einer hierarchisch geordneten nationalen Präferenzordnung.66 Moravcsik identifizierte auf Basis dieser Annahmen drei Ebenen der Analyse: „national preference formation, interstate bargaining, and institutional choice.“67 Auf jeder Ebene entsteht ein Teilprozess des Gesamtprozesses Integration. Moravcsiks Erklärungen dieser Teilprozesse basieren für den Binnenstaat auf dem liberal-pluralistischen Staatsmodell, für die Erklärung der internationalen Verhandlungen auf einer einfachen Bargaining-Theorie und für die Frage der institutionellen Ausgestaltung auf der Public-Choice-Theorie. Auf der Ebene nationaler Präferenzformulierung stellt sich die Frage nach den internen Entscheidungsstrukturen. Welche Interessen setzen sich durch und wodurch werden bedeutende Interessen zu nationalen Präferenzen, die die jeweilige Regierung durchzusetzen versucht? Liegen nationale Präferenzen offen, rücken internationale Verhandlungen der Staaten in das Zentrum der Analyse. Neben den Grundannahmen liberaler bzw. pluralistischer nationaler Präferenzenformierung und rationalem Handeln der Staaten ist das zwischenstaatliche Verhandlungsergebnis europäischer Kooperation nur auf Basis der Analyse zwischenstaatlicher Verhandlungen interpretierbar. Hierzu werden intergouvernementale Erklärungsansätze herangezogen.68 Verhandlungsergebnisse stellen das Angebot internationaler Kooperation dar. Unter welchen Umständen kommt es zur Einigung über Kooperation und Zusammenarbeit zwischen Staaten? Was ist ursächlich für Kooperation und was bestimmt die Interessendurchsetzung einzelner Staaten bei Verhandlungen? Kooperation, die auf Basis freiwilliger Verhandlungen zustande kommt, ist für Moravcsik kein Null-Summen-Spiel, sondern hat positive Effekte und ist paretoeffizient.69 Nach der Einigung auf Kooperation stellt sich die Frage nach den zentralen Triebkräften, die die Auswahl bestimmter institutioneller Arrangements und Organisationen, verbunden mit der Übertragung von Souveränitätsrechten, bestimmen. Die Wahl der institutionellen Ausgestaltung der Kooperation ist Gegenstand der dritten Stufe der Analyse.70
66 Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 481. Fritz W. Scharpf lobte in seiner Kritik von “The Choice for Europe” explizit die Klarstellung des Liberalen Intergouvernementalismus, hierarchisch geordnete und gewichtete Präferenzordnungen bei der Untersuchung von Handlungen sozialer Akteure anzunehmen, als dessen wesentliche Errungenschaft. Vgl. Scharpf, Fritz W.: Selecting cases and testing hypothesis. In: JEPP 6 (1999). S. 164–168. S. 167. 67 Moravcsik: Choice for Europe. S. 20. 68 Vgl. ders.: Preferences and Power. S. 480ff. 69 Vgl. ders.: Choice for Europe. S. 7. 70 Vgl. ders: Preferences and Power. S. 480ff.
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B.3.b Die Nachfrageseite – die nationale Präferenzenformulierung Bestehende ökonomische Interdependenzen der Staaten sind sowohl Beschränkungen als auch Chancen wirtschaftlicher Entwicklung von Gesellschaften, die durch internationale Kooperationen von Staaten ausgebaut beziehungsweise gemindert werden können. Nationale gesellschaftliche Gruppen erkennen dies und artikulieren deshalb ihren Bedarf und nehmen in demokratisch pluralistischen Staaten Einfluss auf die jeweilige Regierung.71 Im Rückgriff auf Robert Putnams 1988 publizierten Ansatz werden nationale Regierungen als zwei Ebenen-Spieler modelliert. Auf nationaler Ebene haben sie bei Verhandlungen mit gesellschaftlichen Gruppen eine Interessenaggregationsfunktion und auf internationaler Ebene müssen diese Interessen im Rahmen von Verhandlungen mit anderen Staaten durchgesetzt werden. Im Unterschied zu Putnam vereinfachte Moravcsik aber das Modell. Der Prozess der Präferenzenbildung ist vor dem Aushandlungsprozess der Staaten abgeschlossen. Nationale Präferenzen können während internationaler Verhandlungen weder durch innerstaatliche Akteure verändert werden noch noch kann Einfluss auf die Präferenzbildung anderer Staaten genommen werden. Präferenzen sind somit kurzfristig starr. Staaten als geschlossene Einheiten angenommen und die Präferenzendefinition findet nur auf nationaler Ebene ohne ausländische Einwirkung statt.72 Der Herausbildungsprozess einer nationalen Präferenz, die die Regierung später außenpolitisch vertritt, ist ein nationaler Interessenwettbewerb zwischen gesellschaftlichen Gruppen.73 Dieser findet annahmegemäß zur Vereinfachung des Theoriegebäudes unabhängig von Interessenartikulationen in anderen Staaten statt. Das Ergebnis ist abhängig von der Einflussmacht gesellschaftlicher Gruppen, der Rezeption bestimmter Interessen durch die Regierung und damit vom nationalen politischen System. In Übereinstimmung mit der Grundannahme des ‚Domestic-Politics-Ansatzes‘, der ebenfalls die Interdependenz zwischen Innen- und Außenpolitik in demokratischen Staaten unterstellt, ist somit „an understanding of domestic politics […] a precondition for, not a supplement to, the analysis of the stratetic interaction among states.“74 Deshalb ist zu klären, welche Gruppen sich im nationalen Interessenwettbewerb von liberal-pluralistisch geprägten Staaten tendenziell eher durchsetzen und erreichen, dass ihre Interessen zu nationalen, von der Regierung verfolgten und international vertreten Präferenzen werden. Welche wesentlichen sozialen Gruppen haben den größten relativen Einfluss auf die Präferenzenformulierung und was sind deren Beweggründe? Im Einklang 71 Vgl. ebd.: S. 485. 72 Vgl. ebd.: S. 515; Putnam, Robert D.: Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of TwoLevel Games. In: International Organization 42 (1988). S. 427–460. S. 434; Moravcsik: Choice for Europe. S. 22. 73 Zur liberalen Theorie der nationalen Interessenformulierung vgl. Moravcsik: Liberalism and International Relations. S7ff. 74 Ders.: Preferences and Power. S. 481.
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mit Mancur Olsons Theorie der Interessengruppen ist sowohl die Mobilisierung als auch die Durchsetzungskraft von kleinen Gruppen größer als von großen Gruppen.75 Große und damit tendenziell heterogene Gruppen haben komparative Nachteile gegenüber kleinen homogenen Gruppen, um gemeinsame Interessen zu organisieren und nach außen zu vertreten. Homogenität der Interessen und die Interdependenz der Handlungen der Gruppenmitglieder wirken sich in kleinen Gruppen positiv auf Transaktions- und Organisationskosten der Interessenvertretung aus. Der materielle Einsatz einer Interessengruppe für Lobbyarbeit hängt von diesen Kosten und der Aussicht auf mögliche Gewinne bzw. Vermeidung möglicher Kosten ab. Kleine, homogene Interessengruppen mit Aussicht auf hohe Erträge aus internationaler Kooperation der Staaten werden somit massiven Einfluss auf nationale Regierungen ausüben und mehr Mittel mobilisieren (können), als dies große, unorganisierte Gruppen können. Unabhängig von der Mobilisierbarkeit sind dadurch kleine und finanzstarke Gruppen im Vorteil, wenn es darum geht, ihren Interessen in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen und sie als nationale Präferenzen durchzusetzen.76 Neben der Durchsetzungskraft gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen ist die Wahrnehmung und Berücksichtigung von Partikularinteressen durch die Regierung, deren Legitmationsbasis und damit Machtbasis demokratische Wahlen sind, bedeutend. Gemäß liberaler Auffassung wird „the relationship between society and government [...] assumed to be one of principal-agent.“77 Rational handelnde, von Wiederwahl abhängige Regierungspolitiker werden jene Interessen nationaler Interessengruppen stärker berücksichtigen, von denen sie sich
75 Zur Durchsetzungskraft von Interessengruppen und Bereitstellung der optimalen Menge eines Kollektivgutes durch Interessengruppen vgl. immer noch grundlegend Olson, Mancur: Die Logik kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppe (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 10). Tübingen 1968. S. 32ff. Zu Olsons Thesen über Gruppengröße vgl. Hardin, Russel: Collective Action. Baltimore 1982. S. 38–49. Für eine Anwendung des Modells bei der Frage des Einflusses von Interessengruppen auf Veränderungen in der Sozialpolitik vgl. Liefmann-Keil, Elisabeth: Zur Aktivität der Interessenverbände. In: Pommerehne; Frey (Hrsg.): Ökonomische Theorie der Politik. S. 320–346. 76 David Hume stellte bereits für das Problem sozialer Kooperation fest, dass es einen Unterschied macht, ob sich zwei oder viele Individuen über die Erstellung eines kollektiven Gutes – als solches kann Interessenvertretung aufgefasst werden – einigen müssen. „Two neighbours may agree to drain a meadow, which they possess in common; because ´tis easy for them to know each othes mind; and each must perceive, that the immediate consequence of his failing in his part, is the abandoning the whole project. But ´tis very difficult, and indeed impossible, that a thousand persons shou’d agree in any such action.“ Hume, David: A Treatise of Human Nature. Reprinted from the Original Edition in three Volumes edited, with an analytical index, by L. A. Selby-Bigge. Oxford 1965. S. 538. Olson folgte dieser Ansicht und stellte die Relevanz von Gruppengröße für das Zustandekommen von kollektivem Handeln in den Vordergrund. Vgl. Olson: Logik kollektiven Handelns. S. 42–51. Zur Vertiefung des Kooperationsproblems großer Gruppen vgl. auch: Raub, Werner: Problematic Social Situations and the ‚Large-Number Dilemma‘. A Game-Theoretical Analysis. In: Esser; Troitzsch (Hrsg.): Modellierung sozialer Prozesse. S. 285–246. 77 Moravcsik: Preferences and Power. S. 483.
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stärkeren positiven Einfluss bei Wahlen erhoffen.78 Sie werden versuchen, Kosten für die sie unterstützenden Gruppen zu minimieren und Nutzen für diese Gruppen zu maximieren. Maßnahmen mit klar zurechenbarem Nutzen für kleine Gruppen, denen diffuse Kosten für eine große Gruppe gegenüberstehen, werden demnach eher berücksichtigt als umgekehrt. Gesellschaftliche Gruppen, die über die Option der Interessenartikulation (voice-option) hinaus auch die glaubhafte Option zur Abwanderung (exit-option) haben, verfügen über zusätzliche Einflussmacht auf die Regierung.79 Welche gesellschaftliche Gruppe setzt sich nun angesichts dieser Analyse im nationalen Interessenwettbewerb durch? Die Mehrzahl der Kriterien für Gruppen mit hoher Durchsetzungskraft treffen auf die wirtschaftliche Gruppe der Produzenten zu. Spitzenorganisationen der Industrie, des Handels und der Agrarwirtschaft können somit als am einflussreichsten angesehen werden. Sie werden mehr Relevanz und Gewicht bei der nationalen Interessenformulierung haben als andere gesellschaftliche Gruppen.80 Damit tendiert der nationale Präferenzformulierungsprozess dazu, von wirtschaftlichen Fragen dominiert zu sein. Mögliche geopolitische Interessen fallen dahinter zurück.81 Wesentlicher Unterschied zum neorealistischen Ansatz des Intergouvernementalismus ist demzufolge die Hypothese, dass wirtschaftliche Interessen und nicht geo- oder machtpolitische Interessen einzelner Gesellschaftsgruppen prägend für die nationalen Präferenzen von Staaten sind, die durch die Regierung außenpolitisch vertreten werden.82 Diese gehen nach Abschluss des nationalen Präferenzbildunsgprozesses als bewusste, rationale Entscheidung auf Regierungen anderer Staaten zu, um Möglichkeiten internationaler Kooperation bei einzelnen Politikfeldern zu eruieren. Demnach sind internationale Verhandlungen nicht das Ergebnis von Zufall, ‚spill-over‘ oder von Initiativen supranationaler Akteure. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu ernsten Verhandlungen der Staaten kommt, ist hoch, wenn Konvergenz bei den 78 Zum Modell des Politikers als Stimmenmaximierer vgl. Downs, Anthony: Ökonomische Theorie der Demokratie. Tübingen 1968. S. 11–14, 27–30 und S. 50; Blankart, Charles B.: Öffentliche Finanzen in der Demokratie. Eine Einführung in die Finanzwissenschaft. 6., völlig überarb. Aufl. München 2006. S. 33f.; Fritsch; Wein; Ewers: Marktversagen und Wirtschaftspolitik. S. 298ff. 79 Grundlegend hierzu vgl. Hirschman, Albert O.: Exit, Voice and Loyality. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge, Mass. 1970. Diese Optionen sind Voraussetzung für den Wettbewerb von politischen und wirtschaftlichen Systemen. Vgl. Streit, Manfred E.: Systemwettbewerb und Harmonisierung im europäischen Integrationsprozess. (Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, Jena. Diskussionsbeitrag 09/05). Jena 1995. S. 4ff. Hierzu vgl. auch Schmidt: Ordnungspolitische Perspektiven der europäischen Integration. S. 72. 80 Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. S. 36f. 81 Diese Analyse schließt die Verknüpfung von wirtschaftlichen mit geopolitischen Interessen nicht aus bzw. steht nicht im Widerspruch zur real vorkommenden Verdeckung ökonomischer Interessen mit der Begründung staatlichen Handelns aufgrund angeblicher geopolitischer Interessen. 82 Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. S. 24ff. Zum Neorealistischen Ansatz vgl. Cini: Intergovernmentalism. S. 94ff.
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nationalen Präferenzen besteht, so dass es für mehr als eine Regierung rational ist, sich für die innenpolitisch geforderte internationale Kooperation einzusetzen. B.3.c Die Angebotsseite – die internationalen Verhandlungen In der Tradition des Intergouvernementalismus betont der Liberale Intergouvernementalismus sowohl die Interessen als auch die jeweilige Machtposition der Staaten im internationalen System bezüglich der Frage, was das Verhandlungsergebnis bestimmt und wodurch welche Staaten ihre Interessen durchsetzen können. Maßgebliche Restriktion für Staaten ist deren wirtschaftliche und politische Macht, die meist mit der Größe des Staates korreliert, sowie die Macht anderer Staaten. Verhandlungsergebnisse von Staaten sind demnach einerseits bedingt durch die Verhandlungsmacht der beteiligten Nationen, andererseits Ausdruck der durch die Vertreter der Staaten zum Ausdruck gebrachten Interessen. Nach Moravcsik basieren alle wesentlichen Integrationsschritte in Europa seit 1955 auf den drei Faktoren „patterns of commercial advantage, the relative bargaining power of important governments, and the incentives to enhance the cedibility of inter-state commitment.“83 Wodurch werden die Verhandlungen beeinflusst? Die englische Sprache unterscheidet bei diesem Prozess zwischen „negotiating“ (verhandeln, aushandeln) und „bargaining“ (hartnäckig handeln, feilschen), welches von „bargain“ (Geschäft, Gelegenheitskauf) stammt. Dies macht deutlich, dass es eine Frage von Durchsetzungskraft ist, ob es für die jeweilige Verhandlungsseite ein erfolgreiches Geschäft wird. Für den Ausgang von internationalen Verhandlungen ist die relative Verhandlungsmacht der Staaten entscheidend.84 Diese wiederum ist abhängig von „the nature and intensity of state preferences.“85 Die Präferenzenintensität ist abhängig vom Politikfeld, von der Höhe möglicher Kooperationsgewinne für die Wähler der jeweiligen Regierung und den Kosten autonomer Realisierung vergleichbarer Politik. Je stärker Regierungen auf Kooperation angewiesen sind, sei es, weil eine nationale Lösung nicht möglich oder zu teuer ist oder weil eine relevante innenpolitische Gruppe hohen potentiellen Nutzen aus zwischenstaatlicher Kooperation erwartet, desto höher ist die Präferenzenintensität und desto geringer ist die Verhandlungsmacht. Sie ist folglich vom innenpolitischen Druck auf die Regierung abhängig. Innenpolitisch starkes Interesse an Kooperation kann die Verhandlungsposition einer Regierung durch die Einengung auf ein eng gestecktes Ziel ebenso schwächen wie anstehende nationale Wahlen, 83 Moravcsik: Choice for Europe. S. 3. 84 Dies gilt unter den Annahmen, dass erstens die risikoaversen Staaten freiwillig an Verhandlungen teilnehmen und somit Recht und Möglichkeit zum Ausstieg aus den Verhandlungen und zur Nichtteilnahme am Verhandlungsergebnis haben, dass zweitens die Informationsund Transaktionskosten der Verhandlung im Verhältnis zum möglichen Nutzen aus Kooperation relativ gering sind und dass drittens die asymmetrische Verteilung des Nutzens aus Kooperation die Macht der Staaten beeinflusst. Vgl. ebd.: S. 60ff. Moravcsik betrachtete aber hier nur die „wesentlichen“ Staaten Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik. 85 Ebd.: S. 60.
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die die Wählermacht erhöhen. So sind Regierungen nach Wahlen auf der internationalen Bühne verhandlungsstärker als vor Wahlen. Jene Regierungen mit dem geringsten Interesse an spezifischer Kooperation, die ohne innenpolitischen Schaden Kompromisszugeständnisse machen könnten oder glaubhaft mit Veto drohen könnten, haben die größte Verhandlungsmacht. Verhandlungen neigen demnach zunächst dazu, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus zu laufen, was unter bestimmten Umständen jedoch nicht das Verhandlungsergebnis sein muss.86 Die Chance alternativer, exklusiver Kooperationskoalitionen unter Staaten mit hoher Präferenzenkonvergenz erhöht ebenso die Verhandlungsmacht koalitionsfähiger Staaten wie die glaubhafte Vetodrohung oder die Option unilateraler Politikgestaltung, eine Lösung, die möglichen Nutzen aus Kooperation für die anderen Staaten verringern würden. Die Drohung koalitionsfähiger und -williger Staaten, einzelne Staaten durch exklusive Zusammenarbeit vom Kooperationsgewinn auszuschließen, kann dazu führen, dass diese von Extremverhandlungspositionen abrücken und zu Kompromissen bereit sind, um nicht von der Kooperation insgesamt und damit von möglichem damit verbundenem und innenpolitisch erwünschtem Nutzen ausgeschlossen werden.87 Einigungen auf dem niedrigsten Kooperationsniveau können in diesen Fällen verhindert werden.88 Der entscheidende Grund Verhandlungen über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauszuführen und zum Abschluss zu bringen, besteht in der Möglichkeit, unterschiedliche Verhandlungsgegenstände mit jeweils unterschiedlicher Präferenzenintensität zu verknüpfen. Tendenziell schlägt ein starker Staat oder eine Koalition von Staaten zur Durchsetzung eigener Ziele ‚log-rolling‘ oder die Bildung von ‚linkages‘ und ‚package-deals‘ vor, die Nutzen und Kosten für alle Staaten enthalten. Nach Moravcsik spiegeln die Inhalte solcher Paketlösungen die relativen Machtpositionen der Staaten wider.89 Solche Lösungen sind nur möglich, wenn Staaten auf mehreren Politikfeldern gleichzeitig Verhandlungen führen. Sie werden umso wahrscheinlicher, je asymmetrischer die Präferenzenintensität der Staaten auf unterschiedlichen Politikfeldern ist.90 Eine Sonderform des ‚package-deals‘ stellt der finanzielle Ausgleich von möglichen Nutzenungleichgewichten zwischen Staaten dar. Diese Option stellt wohlhabende Staaten 86 Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 500f. 87 Moravcsik weist darauf hin, dass abhängig vom Politikfeld auch positive Externalitäten für Nichtmitglieder einer Kooperation denkbar sind. Als Beispiel nennt er Wettbewerbsvorteile der Wirtschaft aufgrund von niedrigeren nationaler Sozialstandards. In diesem Fall hätten Staaten Anreiz, sich nicht an der Kooperation zu beteiligen und die „free-rider-position“ einzunehmen. Das Drohpotential exklusiver Kooperation ist somit vom Politikfeld abhängig ist. Vgl. ebd.: S. 503f.; Moravcsik: Choice for Europe. S. 64f. 88 Das Kooperationsniveau kann aber nur soweit angehoben werden, bis der Nutzenverlust durch Kompromisse die möglichen Kosten des Vetos oder der Exit-option des Staates mit der niedrigsten Kooperationspräferenz übersteigt. Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 501. 89 Vgl. Moravcsik: Negotiating the Single European Act. S. 25. 90 Kommt es zum direkten Ausgleich besonders intensiver Interessen zweier Staaten, spricht man auch vom „log-rolling“.
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bei Verhandlungen tendenziell besser. Einseitige Zugeständnisse bei der Ausgestaltung von Institutionen und bei der Vergabe von Posten in gemeinsamen Organisationen können weitere Bestandteile von ‚package-deals‘ sein. Die Bereitschaft zu ‚package-deals‘ hängt jedoch auch eng mit dem autonomen Handlungsspielraum der Regierungen zusammen. Dieser ist davon abhängig, wie genau in einem Politikfeld potentielle ‚Gewinner‘ und ‚Verlierer‘ von kooperativer Problemlösung zu identifizieren sind. Je genauer eine Zuordnung von Kosten und Nutzen möglich ist, desto geringer ist der freie Entscheidungsspielraum, da die Mobilisierung nationaler Interessengruppen dann zu erwarten ist.91 Die Bereitschaft zu ‚package-deals‘ steigt, wenn Kosten und Nutzen des Ausgleichs auf die gleiche soziale Gruppe entfallen oder der Nutzen einer kleinen Gruppe zufällt, während sich die Kosten auf „relatively diffuse, unorganized, or unrepresented groups, such as taxpayers, consumers, and third country suppliers“ verteilen.92 Ebenfalls hohen autonomen Spielraum haben die Regierungen, wenn die exakte Umsetzung der Politik in die Zukunft verschoben werden kann und somit anfallende Kosten und Nutzen noch nicht eindeutig zurechenbar sind.93 Moravcsik identifizierte für Europa drei Politikbereiche mit überdurchschnittlicher Handlungsautonomie für Regierungen: die Liberalisierung des Handels und der Faktormärkte, die (De-)Regulierungen öffentlicher sozioökonomischer Güter und die institutionelle Ausgestaltung und Reform der Gemeinschaft.94 In allen drei Bereichen ist die Höhe des erwarteten potentiellen Nutzens oder der Kosten durch internationale Kooperation von nationalen sozialen Gruppen ausschlaggebend für Aktionen der Regierungen und gleichzeitig invers relevant für die Handlungsautonomie der Regierungen. Die Verknüpfungschancen können durch geringe innenpolitische Präferenzen für das entsprechende Thema, durch die Koppelung benachbarter Felder, so dass Kosten und Nutzen möglichst in ähnlichen Branchen zum Ausgleich kommen und sich deshalb weniger oppositioneller Widerstand organisiert, und zuletzt durch nationale Ausgleichszahlungen an innenpolitisch negativ von den Auswirkungen der Verknüpfung betroffene Gruppen steigen.95 Auch der Zeitpunkt eines Kompromissvorschlags kann ausschlaggebend sein. Themenverknüpfungen gelingen 91 Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 484f. 92 Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. S. 65. 93 Lindberg weist darauf hin, dass Regierungen zusätzliche Handlungsautonomie gewinnen können, wenn sie die Zeitpräferenzrate berücksichtigen. Werte, die in der Zukunft liegen, werden zwar in Kosten-Nutzen-Kalkulationen von Individuen und damit auch von nationalen Interessengruppen berücksichtigt, könnten aber im Prinzip zu einem späteren Zeitpunkt auch wieder durch einen neuen Regierungsbeschluss revidiert werden. Vgl. Lindberg, Leon N.: Comment on Moravcsik. In: Bulmer; Scott (Hrsg.): Economic and Political Integration in Europe. S. 81–85. S. 83. 94 Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 488–496; Merkel: Die Europäische Integration. S. 312.f. In seiner Analyse der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) vertrat Moravcsik die These, dass die Autonomie der Regierungen explizit bei den Regierungschefs lag und gegenüber nationaler Bürokratie, Parteien und Interessengruppen beträchtlich war. Vgl. Moravcsik: Negotiating the Single European Act. S. 50f. 95 Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 505f.
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zum späteren Verhandlungszeitpunkt besser, da dann der Anreiz zum Abschluss der Gesamtverhandlungen hoch ist und die Aussicht auf positive Effekte durch Kooperation bereits deutlich und greifbar ist. Negative Effekte des ‚packagedeals‘ treten dann in den Hintergrund und können bei innenpolitischer Vermittlung des Gesamtverhandlungsergebnisses leichter kurzfristig überdeckt werden. Beschränkung erfährt die Strategie der Themenverknüpfung demnach vor allem durch mögliche innenpolitische Opposition; gerade auch, wenn man die Stabilität solcher Verknüpfungen im Zeitablauf berücksichtigt. Die nachvertragliche Stabilität von ‚package-deals‘ ist nämlich tendenziell nicht hoch, insbesondere wenn einflussreichen sozialen Gruppen hohe Kosten aufgebürdet wurden. Mechanismen der Einbindung oder der Verschleierung von Kosten greifen dann langfristig nicht. Bei möglichen Nachverhandlungen oder bei der Umsetzung der Politik werden die nationalen, negativ betroffenen Gruppen stark opponieren.96 Resümierend ist die Strategie der Themenkoppelung und des Junktims „a politically costly, second-best strategy for integration.“97 Das Verhandlungsergebnis wird abschließend von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Im Wesentlichen ist es von der relativen Verhandlungsmacht der wichtigsten Regierungen abhängig. Dabei sind die Präferenzen für Kooperation in den Staaten aufgrund ökonomischer Interdependenzen der Staaten für den Ausgang der Verhandlungen wichtiger als supranationale, ideologische Integrationsbemühungen oder -angebote supranationaler Akteure. Über die verschiedenen Faktoren der Kompromissbildung zwischen Staaten hinaus vertritt Moravcsik die These, dass in allen Fällen in denen die Handlungsautonomie von Regierungen hoch ist, der Einfluss von ökonomischen, aber auch geopolitischen Ideen und Konzepten aus der Wissenschaft auf das Regierungshandeln steigt. Infolgedessen würde der Einfluss theoretischer Entwürfe auf das Regierungshandeln stetig anwachsen, beispielsweise von der Agrar- und Zollpolitik über die allgemeine Regulierungspolitik bis hin zur Geldpolitik, wenn „fundamental uncertainty about the consequences of policy is greater and costs or benefits more diffusely distributed.“98 Letztlich bestimmen jedoch rationale Entscheidungen der Regierungen das Verhandlungsergebnis auf Basis der relativen Verhandlungsmacht. Letztere ist invers von der Präferenzenintensität der Staaten abhängig und von durch die Existenz von Politikalternativen, exklusiven Koalitionsmöglichkeiten sowie der Fähigkeit zu Zugeständnissen und zu ‚package-deals‘ bestimmt.99 Unter der 96 Dann muss von einer neuen nationalen Präferenzenformulierung ausgegangen werden, bei der die kleinen und durchsetzungsstarken Gruppen erneut starken Einfluss auf die Regierungen ausüben. 97 Moravcsik: Preferences and Power. S. 506. 98 Moravcsik, Andrew: The Choice for Europe. Current Commentary and future research. A response to James Caporaso, Fritz Scharpf, and Helen Wallace. In: JEPP 6 (1999). S. 168– 179. S. 171. Lindberg hebt Moravcsiks Analyse der Bedingungen von „packages deals“ anerkennend hervor. Gleichwohl stellt er in Frage, ob Regierungen ihre Präferenzen ausreichend kennen. Er vertritt die These, dass Regierungen nicht wissen, wie sie ein rationales Verhandlungspaket zusammenstellen. Vgl. Lindberg: Comment on Moravcsik. S. 83f. 99 Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. S. 62.
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impliziten Annahme, dass Verhandlungen dazu tendieren pareto-effizient zu sein, stiften Verhandlungsergebnisse allen zustimmenden Regierungen Nutzen. Nur nationale Regierungen – nicht jedoch supranationale Akteure – sind in der Lage diese Verhandlungsergebnisse durch Nutzen-Ausgleich mit Hilfe von Themenverknüpfungen oder durch finanzielle Ausgleiche zwischen den Staaten zu beschießen und damit über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauszukommen. B.3.d Die Institutionenwahl – die Sicherung der Einigung Die dritte Analyseebene betrifft die Wahl der institutionellen Ausgestaltung der Verhandlungsergebnisse. Warum verbleiben die Staaten nicht bei der Methode zwischenstaatlicher Verhandlungen und gründen stattdessen Organisationen? Welche Triebkräfte veranlassen die Staaten dazu, Entscheidungsmacht zusammenzuführen oder Teilsouveränitäten an eine internationale Organisation zu delegieren? Die allgemeine Unvollständigkeit von Vereinbarungen identifiziert Moravcsik als die eigentliche Ursache hierfür; und zwar unabhängig davon, ob zur Erreichung eines gemeinsamen übergeordneten Ziels Meinungsverschiedenheiten und Unklarheiten en Detail bewusst in Kauf genommen werden oder ob zukünftige Probleme nicht vollständig vorauszusehen und zu regeln sind. Durch diese Lücken in den Vereinbarungen ist es rational, entweder Regeln für gemeinsame Entscheidungsfindung und Problemlösung in der Zukunft festzulegen oder „to empower neutral agents to propose, mediate, implement, interpret and enforce agreements.“100 Er vertritt die These, dass weder föderalistische Gestaltungskonzepte noch Effizienzüberlegungen zentralisierter und funktionaler Informationsbeschaffung und Problemlösung ausreichend sind, um langfristige Delegation oder Zusammenführung von nationaler Entscheidungsmacht zu erklären.101 Die Triebfeder sowohl für Delegation als auch für Zusammenführung ist die Errichtung eines möglichst hohen Anreizes für amtierende und für zukünftige Regierungen, gemachte Vereinbarungen einzuhalten. Um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und die Bereitschaft zur Kooperation zu dokumentieren, werden Teile von Souveränität zusammengelegt und an eine internationale Organisation delegiert. Opportunistisches Verhalten oder ‚Trittbrett-fahren‘ von Staaten soll für die Zukunft unterbunden bzw. durch Institutionen unattraktiv gemacht werden.102 Institutionen werden demnach mit dem Ziel geschaffen, zwischenstaatliche 100 Moravcsik: Preferences and Power. S. 509. 101 Delegation definiert Moravcsik als die Übertragung von autonomem Entscheidungsrecht bei einem klar umrissenen Politikfeld an einen supranationalen Akteur, ohne dass die beteiligten Staaten gemeinsam intervenieren können oder ein Staat ein Veto einlegen kann. Zusammenführung von Entscheidungsmacht und Souveränitätsrechten ist hingegen definiert als die Einigung der Staaten, bestimmte Fragen nur gemeinsam zu entscheiden, sei es durch Mehrheitsentscheidung oder durch Einstimmigkeit. Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. S. 67; ders.: Preferences and Power. S. 509. 102 Für Moravcsik stellt Kooperation zwischen Staaten eine kooperative Spielsituation dar, die durch meist asymmetrische Interessen ein Nash-Gleichgewicht hat. Vgl. Ders.: Choice for Europe. S. 51.
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Kooperation zu sichern, effizienter zu gestalten und Transaktionskosten zukünftiger Verhandlungen zu senken.103 Organisationen wird hierzu die Aufgabe der Vertragsüberwachung und -kontrolle übertragen. ‚Second-order-Probleme‘ wie Sanktionierung, Beaufsichtigung und potentielle Mittelvergabe sollen möglichst effizient durch eine gemeinsame Organisation zentral geregelt werden, sind jedoch minder relevant.104 In Kenntnis der unterschiedlichen nationalen Präferenzen können die durch Entscheidung der Staaten einmal geschaffenen Organisationen später wie ein Staat mit sehr geringer Präferenzenintensität dazu beitragen, bei erneuten Verhandlungen Verknüpfungsmöglichkeiten offen zu legen und das angesprochene Aushandeln von ‚package-deals‘ zu erleichtern.105 Auch wenn die internationalen Organisationen den Bargainingprozess erleichtern können, bleiben sie im Argumentationsmodell Moravcsiks ohne Einfluss auf die Angebotsseite, da sie keinen Einfluss auf die nationale Präferenzenbildung haben. Supranationale Akteure können allenfalls nationale Nachfrage aufspüren und Präferenzenkonvergenzen offen legen. Sie haben jedoch nach Moravcsik nur dann die Möglichkeit, Einfluss auf Auf- und Ausbau der Kooperation zu nehmen, wenn die Staaten durch hohe ex-ante Transaktionskosten vor Verhandlungen zurückschrecken und beträchtliche Informationsasymmetrien der Staaten den supranationalen Akteur begünstigen. Somit lassen sich allenfalls aus der Kenntnis nationaler Interessen bestimmte Situationen analysieren, in denen supranationale Akteure zu politischen Unternehmern werden könnten.106 Aber auch dann bleibt das Koordinationsproblem nationaler Interessen bestehen. Supranationale Akteure, die selbst nur das Ergebnis rationaler Entscheidungen nationaler Regierungen sind, können nichts veranlassen, was nicht im Interesse mindestens einiger Staaten steht. Kooperation der Staaten kann nicht gegen den Willen der Nationalstaaten durch die Kommission, im Fall der Europäischen Integration, stattfinden. Moravcsik vertritt die Position, dass „the entrepreneurship of supranational officials [...] tends to be futile and redundant, even sometimes counterproductive.“107 103 Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 514. Mögliche Transaktionskosten können Maßstab für die Beantwortung der Frage nach Delegation oder Zusammenlegung von Entscheidungsmacht sein. Vgl. ebd.: S. 509. Artikel 235 des EWG-Vertrags (Erlass von Vorschriften für unvorhergesehene Fälle) ist ein klassisches Beispiel für das vorvertragliche Bewußtsein der Vertragsparteien, angesichts der Unvollständigkeit des Vertrages eine Regel für die Zukunft schaffen zu müssen. 104 Vgl. Steinhilber: Liberaler Intergouvernementalismus. S. 183. 105 Vgl. Moravcsik, Andrew: Liberal Intergovernmentalism and Integration. A Rejoinder. In: JCMS 33 (1995). S. 611–628. S. 618; Cini: Intergovernmentalism. S. 104. 106 Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. S. 483ff. 107 Ebd.: S. 8. Anhand einiger Fälle, wie die Verknüpfung von Agrarpreisen und Entscheidungsmacht in den 1960er Jahren, die in die Krise des leeren Stuhls mündete, die erfolglosen Pläne einer Währungsgemeinschaft in den 1970er Jahren oder die Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht, zeigt Moravcsik das Scheitern der Kommission, eigene Vorstellungen durchzubringen und eine wesentliche Rolle bei Verhandlungen zu erlangen. Er vertritt die These, dass supranationales „politisches Unternehmertum“ keine notwendige Bedingung für Integration darstellt. Vgl. Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 619f. Diese
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In Abhängigkeit von der Interessenintensität sind drei Determinanten relevant für die Wahl der Regierungen, zukünftige Entscheidungen zu verbinden oder zu delegieren. Neben dem dargestellten potentiellen Nutzen aus verbesserter Kooperation mit Hilfe von Organisationen wird diese Entscheidung vom Risiko unerwünschter Detailentscheidungen bei einmal delegierten oder zusammengeführten Entscheidungsfeldern, so wie auch vom Kalkül bestimmt, keine Entscheidungsmacht über potentiell innenpolitisch gewünschte Kooperation aus der Hand zu geben.108 Für Regierungen ist auch die Tatsache nicht unerheblich, dass die Existenz supranationaler Organisationen die innenpolitische Stellung stärken kann. Nationale Regierungen könnten über die internationale Organisation ein Thema forcieren oder bei innenpolitischen Debatten das internationale Interesse an der Umsetzung in den Vordergrund und die eigenen Interessen in den Hintergrund stellen. Sie haben dann potentiell die Option, die innenpolitische Opposition mit einer international ausgehandelten Vereinbarung zu ‚überrumpeln‘. In diesem Zusammenhang tragen internationale Organisationen dazu bei, die Handlungsautonomie nationaler Regierungen auf innenpolitischer Ebene zu erweitern.109 Für Moravcsik steht jedoch fest, dass der Wunsch nach Stabilität der getroffenen Einigung die wichtigste Ursache und eine stabilere Grundlage für Delegation und Zusammenführung von Souveränitätsrechten und die Gründung von Organisationen ist, als es ideologische oder technokratische Forderungen oder Begründungen sein könnten. Die bedeutenden Integrationsschritte spiegeln die nationalen Präferenzen für internationale Kooperation wider und sind nicht das Ergebnis supranationaler Integrationsbemühungen.110 Die nationalen Interessen sind Ausdruck binnenstaatlicher ökonomischer Interessen und nicht das Ergebnis (geo-) strategischer Machtüberlegungen von nationalen oder supranationalen Politikern oder Bürokraten. Das Ergebnis der Verhandlungen ist Ausdruck der relativen Verhandlungsmacht, die auf der Unterschiedlichkeit der nationalen Präferenzen und der Interdependenz der Staaten beruht, nicht das Ergebnis der Aktivitäten supranationaler politischer Unternehmer. Die Übertragung von EntscheidungsAnsicht teilt Gillingham, der den verschiedenen technokratischen Ansätzen im Laufe der Integration, um einen bürokratischen Nukleus „Europa“ zu erschaffen, ein negatives Testat ausstellt. Diese Versuche scheiterten alle und haben seiner Meinung nach sowohl Gegenkräfte mobilisiert als auch die wirtschaftliche Kraft der Länder Europas durch die damit verbundene Erweiterung des Eurokorporatismus nachhaltig geschwächt. Vgl. Gillingham: European Integration 1950–2003. S. 493ff. 108 Vgl. Moravcsik: Preferences and Power. S. 510f. 109 Vgl. ebd.: S. 515. 110 Moravcsik argumentiert unter anderem damit, dass in der Vergangenheit nur wesentliche und einstimmige Entscheidungen der Staaten messbare Reaktionen nationaler Akteure, wie z.B. grenzüberschreitenden Investitionen von Unternehmen, verursacht haben. Die Entscheidungen und Pläne, die beispielsweise in den 1970er Jahren auf supranationaler Ebene ohne das positive Votum aller Regierungen zu Stande kamen, riefen kein vergleichbares Verhalten hervor. Er kommt zum Schluß, dass nicht supranationales Angebot bestimmter Politik sondern zwischenstaatlich offen gelegte nationale Nachfrage die Integration befördert. Vgl. Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 618.
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macht auf supranationale Organisationen ist somit Ausdruck des Willens der beteiligten Staaten getroffene Vereinbarungen ernst zu nehmen und als rationaler Mechanismus zur Minimierung potentieller Kosten der Vertragserfüllung zu bewerten.111 Für Moravcsik gilt, dass „European integration can best be explained as a series of rational choices made by national leaders.“112 B.3.e Der Liberale Intergouvernementalismus – ein tragfähiges Erklärungsmodell Andrew Moravcsiks Anspruch, eine einfache, schlanke Theorie zu entwerfen, die besser und deutlicher ist als andere, und sein 1998 erschienenes Werk „The Choice for Europe. Social purpose and state power from Messina to Maastricht.“, eine Gesamtdarstellung der europäischen Integration an Hand von fünf wesentlicher Entwicklungsschritte, forderte die wissenschaftliche Diskussion heraus. Die grundsätzliche Kritik, dass es sich insgesamt nicht um eine Theorie im strengen Sinne, sondern lediglich um einen Erklärungsansatz handele, wurde von Moravcsik zwar bestritten, aber nicht völlig in Abrede gestellt.113 Sie kann im Hinblick auf die Anwendung des Erklärungsansatzes für diese Studie aber vernachlässigt werden. Beachtenswerte andere und im Folgenden zu diskutierende Kritik kam von Verfechtern anderer Theorieansätze. Sie richtete sich im Einzelnen gegen die Fixierung auf Regierungen als Hauptakteure und kreidete die daraus folgende mangelhafte Berücksichtigung anderer bedeutender Akteure an. Ebenso richtete sich Kritik gegen die Vernachlässigung von Rückwirkungen einmal bestehender Institutionen und Organisationen auf weitere Integrationsschritte im Bargainingprozess. Weitere Beanstandungen betrafen die liberal-pluralistische Theorie nationaler Präferenzformulierung und das Staatsverständnis, das der Formulierung nationaler Präferenzen zu Grunde liegt. Entscheidende Kritik bezog sich jedoch weniger auf das Theoriegerüst des liberalen Intergouvernementalismus als auf die Auswahl der Fälle, mit denen Moravcsiks seine Theorie belegte. Diese sei so einseitig, dass die Bestätigung der Theorie nicht überrasche. Die ausschließliche Anwendung der Theorie auf Verhandlungen, die primär wirtschaftliche Integrationsschritte zum Gegenstand hatten, führe zu tautologischen Ergebnissen, denn es läge auf der Hand, dass gerade bei Fällen wirtschaftspolitischer Kooperation ökonomische Interessen ausschlaggebend sein. Denn „why shouldn´t economic concerns have shaped the negotiating positions of government“, wenn es um Fragen wirtschaftlicher Kooperation ging, fragte Fritz-Willy Scharpf.114 Die Fokussierung auf bestimmte große Integrationsschritte und die Vernachlässigung der ‚day-by-day-Politik‘ könne kaum als allgemeine Theorie der Integration dienen. Moravcsik böte nur Erklärungen für Verhandlungen mit konstitutioneller Relevanz an. Scharpf ging mit 111 Vgl. Moravcsik: Choice for Europe. S. 24, Abb. 1.1; Cini: Intergovernmentalism. S. 105. 112 Moravcsik: Choice for Europe. S. 18. 113 Vgl. Wincott, Daniel: Institutional Interaction and European Integration. Towards an Everyday Critique of Liberal Intergovernmentalism. In: JCMS 33 (1995). S. 597–609. S. 599f.; Moravcsik: Choice for Europe. Current Commentary. S. 174. 114 Scharpf: Selecting cases. S. 165.
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seiner Kritik soweit, Moravcsik vorzuwerfen, dass dieser sein übergeordnetes Ziel eine besonders klare und eindeutige Theorie zu entwickeln, nur um den Preis der Nichtberücksichtigung von Sonderfällen und abweichenden Handlungen erreicht habe.115 Verschiedentlich wurde kritisiert, dass das analytische Handwerkszeug auf die ‚kleinen‘ und ‚täglichen‘ Integrationsschritte, durch die Kommission oder den Europäischen Gerichtshof aktiviert, nicht anwendbar wäre und diese infolgedessen, mit dem theoretischen Netz des Liberalen Intergouvernementalismus nicht erfasst werden könnten. Gerade die Besprechungen und Vorverhandlungen unterhalb der politischen Entscheidungsebene und der Einfluss des Agenda-settings würde nicht ausreichend betrachtet, da Moravcsik nicht die längeren Integrationsprozesse berücksichtigte.116 Ein Teil der Kritiker kam zu dem Schluss, dass der Liberale Intergouvernementalismus zudem dann nicht zu klaren Ergebnissen käme, wenn intergouvernementale Verhandlungen nicht die primäre Art der Entscheidungsfindung wäre und Mehrheitsabstimmungen möglich seien. Er böte zwar für die Mehrheit der großen, historischen Entwicklungsschritte der Integration ein geeignetes Analyseinstrument, sei aber wenig hilfreich „to explain the way in which the EU works in matters of day-to-day politics“.117 Diesem Urteil folgend, würde der Liberale Intergouvernementalismus nur für einen Teil dessen, was unter ‚Europäische Integration‘ verstanden wird, ein Analysemodell bieten. Für die Untersuchung der Anfänge der europäischen Kartellpolitik würde dies bedeuten, dass das Instrumentarium des Liberalen Intergouvernementalismus für die Phase der Vertragsverhandlungen 1955–1957 hohe Erklärungskraft hat und hohe Annäherung an die Wirklichkeit erwartet werden darf. Hinsichtlich der ersten Arbeitsjahre der EWG bleibt nach dieser Kritik die Frage nach der Dienlichkeit des Analyseschemas offen und ist im Rahmen dieser Studie zu klären. Das Gros der Kritik bezüglich der Vernachlässigung der kleinen Integrationsschritte griff jedoch auf hohe empirische Relevanz dieser Veränderungen in den 1980er und 1990er Jahren zurück; ein Zeitraum, in dem die institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft nicht mit der der Anfangsjahre verglichen werden kann. Zusätzlich zum Vorwurf der tautologischen Anwendung des Modells durch Moravcsik wurde die Engstirnigkeit des Modells kritisiert. Das pluralistische Modell zur Formulierung nationaler Präferenzen würde zu kurz greifen, denn Regierungen würden neben ökonomischen Interessen zahlreiche andere Interessen berücksichtigen. Moravcsiks Ansatz wurde als zu einfach und die Komplexität verschiedener, interdependenter Politikbereiche – oftmals historisch bedingt –
115 Vgl. ebd.: S. 166f. Moravcsik wies diese Kritik jedoch zurück und stellte in seiner Antwort klar, dass „it is simply not my intention to offer a comprehensive theory of European integration.“ Moravcsik: Choice for Europe. Current Commentary. S. 174. 116 Vgl. Scharpf: Selecting cases. S. 167; Caporaso, James A.: Towards normal science of regional integration. In: JEPP 6 (1999). S. 160–164. S. 162; Wallace, Helen: Piecing the integration jigsaw together. In: JEPP 6 (1999). S. 155–159. S. 157. 117 Cini: Intergovernmentalism. S. 106. Vgl. auch Steinhilber: Liberaler Intergouvernementalismus. S. 189f.
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nicht ausreichend erfassend verworfen.118 James A. Caporaso stellte in Frage, ob das von Moravcsik favorisierte Modell der liberalen Präferenzenformulierung – „a universal Olsonian pluralism (economic interests plus a logic of collective action)“119 – für alle Länder gleichförmig zutreffe. Er trat für eine stärkere auch institutionelle Berücksichtigung der innenpolitischen Strukturen der beteiligten Staaten ein.120 Der Ausgangspunkt der Zwei-Ebenen Entscheidung für Regierungen wurde als nicht mehr zeitgemäßes und zu enges Modell für Regierungshandeln beurteilt; Kritik die Moravcsik mit dem Argument methodisch notwendiger Komplexitätsreduktion zurückwies.121 Im Hinblick auf die Tragfähigkeit des Theorieansatzes für diese Studie ist hervorzuheben, dass Wettbewerbspolitik ein ökonomischer Gegenstand ist und somit die Kritik der Nicht-Berücksichtigung anderer Politikfelder vernachlässigt werden kann. Im Gegenteil, Moravcsiks Ansatz ist von Scharpf gerade zur Untersuchung von Schritten der ‚negativen Integration‘ als besonderes wertvoll hervorgehoben worden.122 Auf die Frage, ob das Zwei-Ebenen-Modell zur Analyse heutigen Regierungshandelns oder jenes der 1950er Jahre dienlich ist, sei hier nicht näher eingegangen. Die potentiell geringere Annäherung an die Wirklichkeit sei im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit der Komplexitätsreduktion des Modells akzeptiert. Zudem kann hinsichtlich der Trennung in unabhängige Ebenen nationaler Politikformulierung und internationaler Politikverhandlung für die späten 1950er und frühen 1960er Jahre mit größerer Realitätsnähe gerechnet werden, als dies für jüngere Entwicklungen der europäischen Integration der Fall ist, bei denen sowohl eine ausgebildete und institutionell verankerte Komitologie123 als auch Kommunikationswege zwischen nationalen und internationaler Ebene124 und eine zunehmende europäische Öffentlichkeit vorhanden sind. Für Moravcsik ist der Ansicht, dass sich erst seit 1966 nach dem Luxemburger Kompromiss ein Stil der institutionalisierten, intergouvernementalen Zusammenarbeit im Rat herausgebildet habe, die inhaltlich stark von nationalen Bürokraten und ständigen Delegationen bei speziellen Themenfeldern geprägt wurde.125 118 Vgl. Wallace: Piecing the integration jigsaw together. S. 156f. 119 Caporaso: Towards normal science. S. 162. 120 Wenn diese keine Relevanz hätten, wäre die Berechtigung der Vergleichenden Politikwissenschaft in Frage zu stellen, so Caporaso. Vgl. Caporaso: Towards normal science. S. 162. 121 Vgl. Cini: Intergovernmentalism. S. 106; Steinhilber: Liberaler Intergouvernementalismus. S. 190; Moravcsik: Choice for Europe. Current Commentary. S. 171f. 122 Vgl. Scharpf: Selecting cases. S. 165. 123 Komitologie bezeichnet das System von Ausschüssen nationaler Experten, mit denen der Rat das Exekutivhandeln der Kommission überwacht. Dabei geben nationale Experten Empfehlungen (Beratender Ausschuss), verweisen Durchführungsakte der Kommission mit aufschiebender Wirkung an den Rat (Verwaltungsausschuss) oder heben Maßnahmen der Kommission auf und verweisen sie an den Rat (Regelungsausschuss). Vgl. Weidenfeld, Werner; Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Europa von A-Z. Taschenbuch der europäischen Integration. 6. Aufl. Bonn 1997. S. 388. 124 Deren Nichtberücksichtigung kreidet z.B. auch Scharpf an. Vgl. Scharpf: Selecting cases. S. 166. 125 Vgl. Moravcsik: Negotiating the Single European Act. S. 51.
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Weitere Kritiker warfen Moravcsik Ignoranz gegenüber dem Einfluss vorhandener Institutionen, möglicher Pfadabhängigkeiten oder der Tatsache vor, dass „membership matters“. Sie betonten, dass das Institutionengefüge Einfuss auf die strategischen Handlungen der Akteure habe und somit nicht unbeachtet bleiben könne.126 Diese Kritik der Institutionalisten geht jedoch überwiegend in Leere, da Moravcsik den Einfluss von vergangenen Entscheidungen und daraus entstandenen Institutionen auf aktuelle Verhandlungen nicht bestreitet. Jedoch gesteht er diesen Faktoren aufgrund seiner völlig anderen methodischen Basis keine entscheidende Bedeutung zu.127 Es wurde ferner beanstandet, dass Moravcsik seine Analyse – auch zum Beleg seiner Thesen – nur auf Regierungen und Staaten fokussiere und dabei einzelne politische Akteure sowohl beim Prozess nationaler Präferenzenformulierung als auch beim internationalen Bargainingprozess zu wenig berücksichtige. Helen Wallace wies berechtigterweise darauf hin, dass durch die Einschränkung auf die großen Staaten Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland die kleinen Staaten mit ihrem überdurchschnittlichen Potential zur Koalitionsbildung von Moravcsik unbeachtet blieben.128 Als Ergebnis dieser Kritik sollen hier die Interessen aller beteiligten Staaten berücksichtigt werden, wenngleich aufgrund des Erkenntnisinteresses der Schwerpunkt auf der deutschen Position verbleibt. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass der Liberale Intergouvernementalismus nur die korporativen Akteure und deren jeweilige Handlungsrestriktionen im Blick habe und individuelle, supranationale Akteure vernachlässige. In der Tat ist die These Moravcsiks, dass supranationale korporative und individuelle Akteure der europäischen Organisationen auf der Angebotsseite internationaler Kooperation kein Gewicht haben, zu hinterfragen. Im Rahmen seines Erklärungsansatzes haben weder die Kommission noch der EuGH eigene strategische Interessen und werden infolgedessen von Moravcsik als Akteure im vorvertraglichen, intergouvernementalen Prozess nicht berücksichtigt. Sie sind in seinen Augen nur Teil des Verhandlungsergebnisses. Sollte die Theorie der Bürokratie129 Relevanz haben, was heute nicht mehr bezweifelt wird, hat Moravcsiks Theorieansatz hier eine offene Flanke. Neuere Untersuchungen, die den supranationalen Charakter der Integrationserfolge herausstreichen, betrachten die europäischen Organisationen als eigenständige Akteure, die eigene, nicht unbedingt national geprägte Interessen verfolgen. Die 126 Vgl. Steinhilber: Liberaler Intergouvernementalismus. S. 189ff.; Wallace: Piecing the integration jigsaw together. S. 159. 127 Vgl. Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 612f. 128 Vgl. Wallace: Piecing the integration jigsaw together. S. 156. 129 Die ökonomische Theorie der Bürokratie basiert auf der These, dass der Nutzen von Organisationsmitgliedern in Bürokratien, denen nutzenmaximierendes Verhalten unterstellt wird, positiv mit dem Budgetvolumen des Zuständigkeitsbereichs korreliert. Informationsasymmetrien zwischen Politik und Verwaltung fördern die daraus entstehende Tendenz zur Budgetmaximierung und auch die Ineffizienzen von Bürokratien. Vgl. Niskanen, William A.: Ein ökonomisches Modell der Bürokratie. In: Pommerehne; Frey (Hrsg.): Ökonomische Theorie der Politik. S. 349–368; Roppel, Ulrich: Ökonomische Theorie der Bürokratie. Beiträge zu einer Theorie des Angebotsverhaltens staatlicher Bürokratien in Demokratie. Freiburg 1979; Blankart: Öffentliche Finanzen in der Demokratie. S. 531–539.
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Organisationen sind dabei nicht mehr abhängige Variablen der Entscheidungen der Nationalstaaten, die ihnen Aufgaben delegiert haben, sondern Konstanten des bestehenden politischen Systems, in dessen Rahmen Politik gestaltet wird.130 Die Abkehr von der Auffassung der EU-Organisationen als abhängige Variabel mag für die EU und die Untersuchung von Integrationsschritten jüngeren Datums diskussionswürdig sein. Damit geht aber auch der Wandel der Theoriedebatte über die Europäische Integration einher hin zu Fragen der Legitimität des Gesamtsystems EU und zu demokratietheoretischen Erwägungen.131 Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Liberalen Intergouvernementalismus für diese Studie ist jedoch festzuhalten, dass im Untersuchungszeitraum europäische Organisationen mit Akteursqualität noch nicht vorhanden waren132, beziehungsweise sich noch im Aufbau befanden, und erst mit der Zeit ihre Rolle im sich entwickelnden politischen System einnahmen.133 Allein die Kommission, der Moravcsik nur die Rolle des Agenten im Rahmen eines principal-agent-Verhältnisses zugesteht,134 soll für den Zeitraum nach 1958 ergänzend und genauer betrachtet werden, ob hier bestimmte Kooperationsschritte dort unbestritten angedacht und von supranationalen Akteuren vorbereitet. Moravcsik vertritt im Gegensatz zum supranationalen Institutionalismus die These, dass supranationale Organisationen oder supranationale Politiker nur eine Nebenrolle spielen. Er gesteht ihnen jedoch zu, bestimmte Entwicklungen lange vor der Einigung der Staaten auf der Agenda gehabt zu haben. Dies in Abrede zu stellen, würde von Unkenntnis des EWG-Vertrags zeugen, der der Kommission in vielen Fällen, so auch auf dem Gebiet des Wettbewerbs, die Initiativrolle für die
130 Vgl. Cini: Intergovernmentalism. S. 106. Vgl. hierzu auch Becker-Döring, Claudia: Die Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1952–1960: Die Anfänge einer europäischen Außenpolitik? Die Beziehungen der Hohen Behörde zu Drittstaaten unter besonderer Berücksichtigung Großbritanniens (Studien zur modernen Geschichte 57). Stuttgart 2003. Becker-Döring kommt zwar zum Ergebnis, dass es mit Frankreich ein Staat war, der die Inanspruchnahme des aktiven Legationsrechts durch die Hohe Behörde als Charakteristikum von Akteursqualität auf internationaler Ebene verhinderte, jedoch führte dieses Ergebnis nicht dazu, ihren supranationalen Erklärungsansatz in Frage zu stellen. S. 192–204. 131 Vgl. Jachtenfuchs, Markus: Verfassung, Parlamentarismus, Deliberation. Legitimation und politischer Konflikt in der Europäischen Union. In: Landfried (Hrsg.): Politik in einer entgrenzten Welt. S. 71–89. S. 87ff.; Kielmansegg: Integration und Demokratie. S. 47–71; Merkel: Die Europäische Integration. S. 315–335. 132 Nur die Organe der EGKS waren vorhanden, die aber sowohl im Rahmen der Regierungsverhandlungen zu den Römischen Verträgen als auch in den ersten Jahren der EWG nicht die Rolle eines aktiven Akteurs bei Integrationsschritten übernahmen. 133 Die Abneigung der Staaten gegen die starke Position der Hohen Behörde in der EGKS Mitte der 1950er Jahre, die sich im Widerstand gegen eine zweite Präsidentschaft Monnets und in der schwächeren Rolle der Europäischen Kommission im EWG-Institutionengefüge im Gegensatz zu der der Hohen Behörde in der EGKS widerspiegelte, sind Ausdruck des Willens der Staaten, sich nicht das Heft der Entscheidungen aus der Hand nehmen zu lassen. 134 Vgl. Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 621f.
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Weiterentwicklung einzelner Politikfelder explizit auftrug.135 Jedoch weist Moravcsik darauf hin, dass die Kommission den Zeitpunkt für die Verabschiedung von Vorschlägen im Rat weder voraussagen noch bestimmen kann. Dies war immer von der Interessenkongruenz und dem Einigungswillen der Staaten abhängig.136 Ebenso mangele es den bürokratietheoretisch basierten Erklärungsmustern an Deutungskraft für das ‚stop-and-go‘ der europäischen Integration, weshalb sie mit dem Grundtenor, dass Regierungsentscheidungen das Ergebnis nationaler Präferenzen sind, nicht vereinbar seien.137 Der These, dass nationale Regierungen ihre Souveränität vor weiterer Demontage mit Hilfe der europäischen Integration schützen wollen, steht die Überbewertung des Einflusses supranationaler Akteure entgegen.138 Gleichwohl soll diese Kritik am liberalen Intergouvernementalismus hier berücksichtigt und die Frage analysiert werden, ob bei der europäischen Wettbewerbspolitik Entscheidungen auf supranationaler Ebene entwickelt wurden und dort der wesentliche Motor der Integrationsentwicklung war. Aktivitäten der Kommission sollen daraufhin betrachtet werden, ob Anstöße zur Vertiefung der Zusammenarbeit auf die Kommission zurückgehen oder ob die Kommission vorhandene Positionen einzelner Staaten aufgriff.139 Zudem ist zu hinterfragen, wie ausgeprägt das Verständnis supranationaler Interessenwahrnehmung in den ersten Jahren unter den Kommissaren und Generaldirektoren der Kommission war.140 Festgehalten werden soll bereits hier, dass die Kommission später auch im entwickelten System der EG die Belange von Interessengruppen auf die Agenda nehmen konnte oder auf einer breiten, monopolartigen Informationsbasis im eigenen Interesse Themenverknüpfungen herstellen konnte, jedoch verblieb auch dann noch die Entscheidungsbefugnis zur Zusammenkunft des Rates und der Kooperation der Staaten bei den nationalen Regierungen. Diese haben bis heute 135 In vielen Fällen kann der Rat nur auf Vorschlag der Kommission Richtlinien und Verordnungen erlassen. Vgl. für die Wettbewerbspolitik: Art. 87 und Art. 94 des EWG-Vertrags. 136 Vgl. Moravcsik: Negotiating the Single European Act. S. 46. 137 Ebd.: S. 51f. 138 Moravcsiks These zielt auf die Herstellung bzw. Sicherung souveränen Handelns der Regierungen auf dem innenpolitischen Feld. vgl. Moravcsik: Why the European Community strenghtens the State. S. 57ff.; ders.: Negotiating the Single European Act. S. 26f. Für die These, dass die in den 1950er Jahren gegründeten europäischen Organisationen Ausdruck einer formalisierten, dauerhaften Kooperationsstrategie der westeuropäischen Staaten waren, um im bipolaren Konflikt des kalten Krieges das nationale Überleben zu sichern, sprich dass „The European Rescue of the Nation-State“ das Ziel europäischer Zusammenarbeit war und nicht die Überwindung der Nationalstaaten durch supranationale Integration, vgl. gleichnamiges 1992 erschienenes Werk von Alan S. Milward. Zur Debatte über diese Frage zwischen Alan Milward und Walter Lipgens vgl. Loth: Beiträge der Geschichtswissenschaft. S. 91–96; Wurm: Early European Integration. S. 14–20. 139 Zur Kritik vgl. Cini: Intergovernmentalism. S. 107. 140 Der erste für den Wettbewerb zuständige Kommissar von der Groeben sah beispielsweise seine Aufgabe als deutscher Kommissar auch darin, für die Berücksichtigung deutscher Interessen zu sorgen. Vgl. Groeben: Europäische Integration. S. 39ff.; Nass, Klaus Otto: Eine Europa-Politik mit langem Atem. Zum 75. Geburtstag von Hans von der Groeben. EGMagazin 5/1982. S. 10f. S. 10. Vgl. auch Donat, Marcel von: Brüsseler Machenschaften. Dem Euro-Clan auf der Spur. Baden-Baden 1975. S. 127f.
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bei konstitutionellen Veränderungen der Integration sowohl das Entscheidungsals auch das Vetorecht.141 Die daraus folgende partielle Bedeutungslosigkeit dieser Kritik für die Anwendung des Ansatzes des liberalen Intergouvernementalismus zur Analyse der Anfänge der Wettbewerbspolitik gilt mit Einschränkungen auch hinsichtlich der Vernachlässigung nichtstaatlicher supra- oder auch transnationaler Akteure wie Unternehmen und Interessenverbände. Die Präsenz transnationaler Unternehmen auf der internationalen Bühne ist für den Untersuchungszeitraum gering, so dass deren Rolle oder direkte Einflussnahme hier ignoriert werden kann. Sich zu diesem Zeitpunkt im Aufbau befindliche transnationale Interessenverbände sind daraufhin zu berücksichtigen, inwieweit sie Interessen bei der Wettbewerbspolitik aktiv artikuliert und vertreten haben. In dieser Studie soll nur peripher analysiert werden, ob Akteure von Informationen internationaler Lobbygruppen beeinflusst wurden. Ob die zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen lancierten Informationen bei nationalen Regierungen oder bei der im Aufbau befindlichen und damit informationsarmen Brüsseler Bürokratie Akzeptanz fanden, wird schwer zu bewerten sein. Auch wenn absolut und quantitativ der Versuch von Einflussnahme feststellbar ist, soll bereits an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass relativer und qualitativer Einfluss dieser Informationen bei den Verhandlungen der Staaten empirisch kaum zu erfassen ist und somit nachrangig Berücksichtigung finden wird. In diesem Kontext bleibt auch zu fragen, welche Macht internationale, im Aufbau befindliche Verbände im Vergleich zu nationalen Verbänden in den späten 1950er Jahren hatten. Vertraten transnationale Verbände bereits die Aggregation verschiedener nationaler Interessen oder neutralisierten sich die unterschiedlichen nationalen Interessen aufgrund starker Präferenzunterschiede? Kam es in diesen Fällen dazu, dass nationale Verbände doch den ihnen bekannten Kanal der Einflussnahme auf die nationale Regierung wählten? In Moravcsiks Analysemodell findet zwecks Komplexitätsreduktion die Artikulation und Formierung von Interessen nur auf nationaler Ebene statt. Es gibt keine Einflussmöglichkeiten über die Grenzen. Daniel Wincott kritisierte diese scharfe Zweiteilung zwischen der nationalen Ebene, auf der Regierungen abhängig sind, und der internationalen Ebene, auf sie versuchen, Autonomie zu gewinnen.142 Die Öffnung der Einflusskanäle von supranationalen Akteuren zu nationalen Regierungen bzw. von nationalen Interessenverbänden zu internationalen Organisationen brächte Moravcsiks Ansatz zwar der Realität näher, nähme ihm jedoch seine Einfachheit. Giering wies darauf hin, dass bei Verhandlungen der 141 Vgl. Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 616, ders.: Negotiating the Single European Act. S. 51. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Jürgen Elvert für die ersten Jahre der EWG-Kommission: Elvert, Jürgen: Hans von der Groeben. Anmerkungen zur Karriere eines deutschen Europäers der ‚ersten Stunde‘. In: König; Schulz (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Einigung 1949–2000. S. 85–104. S. 101. Der „Beobachter“ der Brüsseler Szene von Donat stellte dies auch für die 1970er Jahre fest. Vgl. Donat: Brüsseler Machenschaften. S. 125f. 142 Vgl. Wincott: Institutional Interaction and European Integration. S. 601f.
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Staaten „früher nur die Kommission einbezogen“ wurde, während inzwischen auch andere Organisationen, Interessenverbände und Wissenschaftler Einfluss genommen hätten, so dass heute – wobei er sich auf die Aushandlung der Revision des Vertrags von Maastricht in den 1990er Jahren bezog – „eine Beschränkung der Analyse auf die nationalstaatlichen Regierungen auf intergouvernementaler Ebene nicht ausreicht.“143 Dieses Ergebnis beinhaltet im Umkehrsschluss die Aussage, dass in früheren Stadien der europäischen Integration die Analyse der Regierungsverhandlungen unter Berücksichtigung der Kommission – die bei Moravcsik eine explizite Rolle in der nachvertraglichen Phase erhält – auf intergouvernementaler Ebene ausreicht. Dieser Ansicht folgend soll Moravcsiks vereinfachende Annahme der Ebenentrennung – auch unter heuristischen Aspekten – beibehalten werden, transnationale und supranationale Akteure werden nur punktuell berücksichtigt. B.3.f Zusammenfassung und kritische Aneignung Der Liberale Intergouvernementalismus bietet ein wertvolles Erklärungsmodell für die Entstehung von Institutionen im Rahmen der europäischen Integration auf Basis rationaler Entscheidungen von Akteuren. Regelungen und Institutionen im North’schen Verständnis sind bei Moravcsik rationales Handlungsergebnis zur Ertragssicherung internationaler Kooperation von Staaten, die als Folge ökonomischer Interdependenzen zur Fortentwicklung nationalen Wohlstandes angestrebt wurde. Um Ursachen und Wurzeln einzelner Institutionen zu ergründen, geht die Analyse im Einklang mit dem methodologischen Individualismus vom Individuum zur Institution und untersucht schrittweise die Handlungen der beteiligten Akteure. In drei Stufen werden zunächst nationale Präferenzenformulierungen nach Kooperation ermittelt, sodann die Regierungsverhandlungen über mögliche Kooperationen untersucht und zuletzt die Wahl möglicher institutioneller Ausgestaltungen zur Sicherung von Kooperationsinhalten entschlüsselt. Anders ausgedrückt wird sowohl die Nachfrageseite als auch die Angebotsseite internationaler Kooperation analysiert, um im letzten Schritt Antwort auf die Frage nach stabilen Strukturen für den dauerhaften Ausgleich von Angebot und Nachfrage zu erhalten.144 Neben der methodisch nützlichen Trennung in unterschiedliche Analysestufen weist der Ansatz sowohl auf den Wert der Innenpolitik als auch auf die Relevanz zwischenstaatlicher Verhandlungen für das Entstehen europäischer Institutionen hin. Bei aller Kritik liegt die Leistung Moravcsiks eindeutig darin, die Untersuchung der Europäischen Integration auf logisch nachvollziehbare Ursache-Wirkungsketten aufgebaut zu haben. Der Theorieansatz greift auf ein eindeutig rationales Konzept zurück und erklärt Institutionen internationaler Kooperation auf Basis zweckrationalen Handelns von Akteuren. Im Einklang mit dem rational individualistischen Weltbild geht er vom Individuum und dessen Wünschen und Bedürfnissen aus, um gesellschaftliche Institutionen zu erklären. 143 Giering: Europa zwischen Zweckverband und Superstaat. S. 248. 144 Moravcsik: Preferences and Power. S. 481f.
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Es steht außer Frage, dass die maßgeblichen, ihre Interessen verfolgende Akteure die Regierungen der Staaten und ihre Vertreter sind. Auf der ersten Analyseebene ist allenfalls hinsichtlich der Relevanz der Innenpolitik die binnenstaatliche annahmegemäß sehr enge principal-agent-Beziehung zwischen Wähler und Regierung zu hinterfragen. Moravcsiks Modell setzt sowohl bei der nationalen Präferenzenformulierung als auch bei den Verhandlungen die völlige Kontrolle der Regierungen durch den Wähler voraus. Diese realitätsferne Grundannahme, die Moravcsik durch Berücksichtigung der die Handlungsautonomie der Regierungen bei Verhandlungen beeinflussende Determinanten abmildert, soll im Interesse der Komplexitätsreduktion akzeptiert werden. Die Relevanz der Innenpolitik bleibt bestehen und die Untersuchungsstruktur der ersten Stufe der Analyse soll demnach in der präsentierten Form für diese Untersuchung beibehalten werden. Eine Schwäche zeigt das Modell, insofern als Moravcsik zwar den Autonomiebereich korporativer Akteure bei den Verhandlungen untersucht, Staaten und Regierungen jedoch bei den Verhandlungen geschlossene Systeme bleiben. Individuelle Akteure spielen bei ihm keine Rolle, haben keinen diskretionären Handlungsspielraum. Der ‚key-policy-maker‘, der die Rolle eines ‚political entrepreneurs‘ hat, bleibt außer Acht. Dies ist zwar dem Ziel geschuldet, einen klaren Erklärungsansatz zu entwickeln, muss jedoch angesichts des von individuellen Interessen der handelnden Akteure als Kern der Gesellschaft geprägten Weltbildes erwähnt und im Zweifel bei der Analyse berücksichtigt werden. Aus einem anderen Strang der Kritik ergäben sich Möglichkeiten zur Verfeinerung des Modells Moravcsiks. Hier kann nur darauf hingewiesen werden, dass Handlungen der Regierungen unter der Bedingung der Interdependenz mit der Option zu strategischem Handeln aufgrund der Anwendung des Zwei-Ebenen-Modells nicht abgebildet und offen gelegt werden können. Handlungsrestriktionen der internationalen Ebene und deren potentiellen Veränderung bleiben vernachlässigt. Zwar haben Regierungen im liberalen Intergouvernementalismus als rationale Akteure klar hierarchisch geordnete Präferenzen, sie können jedoch nur eindimensional geordnet und dargestellt werden. Bewusste Selektion zwischen Handlungsoptionen durch die Akteure mit der Option zu strategischem Verhalten findet in Moravcsiks Erklärungsansatz geringe Berücksichtigung. Ob die Verhandlungsergebnisse rationaler Akteure mit Berücksichtigung von Interdependenzen des Handelns und von Restriktionen im Rahmen einer expliziten Bargainingtheorie genauer behandelt werden könnten, bleibt an dieser Stelle offen. Die Beschränkung der Analyse des Bargainings auf Dilemma-Spiele weist jedoch den Weg zu anderen Theorien internationaler Zusammenarbeit, die auf eine explizite Theorie zur Analyse interdependenter Entscheidungssituationen zurückgreifen. Mit Hilfe der Spieltheorie liesen sich Handlungskonstellationen mit konfligierenden und gemeinsamen Interessen von Akteuren analysieren.145 145 Zum Thema strategische Interdependenz vgl. auch Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 91. Das Problem sozialer Kooperation und die Erforschung der Handlungsmöglichkeiten rationaler Egoisten mit gemeinsamem Ziel ist sowohl verbunden mit der Theorie kollektiven Handelns von Mancur Olson als auch mit dem Namen Robert Axelrod. Dessen Studie „The
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Mit dem Ziel eine Theorie internationaler Beziehungen, die auch nicht-intendierte Folgen absichtsvoller menschlicher Handlungen rationaler Akteure unter Berücksichtigung der restriktiven Umgebung erklären kann, entwickelte Michael Zürn Anfang der 1990er Jahre den situationsstrukturellen Ansatz. Er zeigte Wege und Möglichkeiten auf, internationale Konflikte mit Hilfe spieltheoretischer Modelle und ihrer Diktion zu analysieren.146 Ebenso wie der Liberale Intergouvernementalismus auf dem rationalistisch-individualistischen Weltbild des methodologischen Individualismus basiert gehen die Spieltheorie und ihre Verwendungsmöglichkeiten klar und eindeutig vom Individuum und seinen Präferenzen und Restriktionen aus. Mit Hilfe spieltheoretischer Kenntnisse über Kooperation kann zielgerichtetes Akteursverhalten als Folge von Präferenzen bei vorhandenen Institutionen und Strukturen, die als restriktive Umwelt Einfluss auf die Handlungsentscheidungen haben, so dargestellt werden, dass hypothetische Aussagen über das potentielle Verhalten der Akteure (Verhalten innerhalb der Verhandlungen) als auch über das potentielle Resultat der Interaktion (Ergebnis der Verhandlungen) getroffen werden können.147 Diese Möglichkeiten auf der Bargaining-Ebene nutzend, könnte auf der zweiten Analyseebene vermieden werden, dass trotz der Fundierung der Untersuchung auf den Akteursdispositionen das von Interdependenz gekennzeichnete Handlungsumfeld der Regierungen aus dem Blick gerät. Jedoch wies bereits Zürn darauf hin, dass es nur wenige Beispiele konsequent historisch-modellierender Anwendung des spieltheoretischen Instrumentariums gibt.148 Auch wenn sich vereinzelt gezeigt hat, dass durch die Modellierung von Auszahlungsmatrizen, innerhalb derer Kooperationsmöglichkeiten erfasst werden Evolution of Cooperation“ aus dem Jahr 1984 und ebenso das Werk von Michael Taylor „Anarchy and Cooperation“ aus dem Jahr 1976 (1987 in überarbeiteter Fassung als „The Possibility of Cooperation“ erschienen) sind hierzu neben dem Werk von Russel Hardin „Collective Action“ wegweisend. Ihre Ergebnisse trugen sowohl dazu bei, weitere Ursachen für das Ende endloser Strategieüberlegungen zu bestimmen als auch, Aussagen über die Umstände rationaler Handlungen strategischer Akteure in bestimmten Situationen zu treffen, die gekennzeichnet sind durch die „absence of government“(Taylor: Anarchy and Cooperation. S. v). Vgl. Olson, Mancur: Die Logik kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppe (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 10). Tübingen 1968; Axelrod, Robert: The Evolution of Cooperation. New York 1987. (dt. Fassung: Die Evolution der Kooperation. München 1987); Taylor, Michael: Anarchy and Cooperation. London, New York, Sydney u.a. 1976; ders.: The Possibility of Cooperation. Cambridge 1987; Hardin, Russel: Collective Action. Baltimore 1982. 146 Mit dem Ziel, eine Theorie internationaler Beziehungen zu entwickeln, die auch nicht-intendierte Folgen absichtsvoller menschlicher Handlungen rationaler Akteure unter Berücksichtigung der restriktiven Umgebung erklären kann, entwickelte Michael Zürn den situationsstrukturellen Ansatz. Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. 147 Vgl. Holler, Manfred J.; Illing, Gerhard: Einführung in die Spieltheorie. Berlin 2003. S. 1; Zürn: Interessen und Institutionen. S. 122; Ryll, Andreas: Die Spieltheorie als Instrument der Gesellschaftsforschung (MPIfG Discussion Paper 89/10). Köln 1989. S. 7–12. 148 Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 119. Zu nennen wäre hier die Untersuchung Axelrods von spontaner Kooperation feindlicher Soldaten im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges. Vgl. Axelrod: Evolution der Kooperation. S. 67–79.
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konnten, die Frage von Kooperation oder Nicht-Kooperation erklärbar wurde, bereitet die historisch-modellierende Anwendung der Spieltheorie einige Probleme.149 Der Mangel der bisherigen historisch-modellierenden Anwendungen ist, dass die Präferenz(ordnung) der Akteure nicht offen gelegt wurde oder deren Festlegung nicht unabhängig vom zu erklärenden Verhalten erfolgte. Das Wissen über historisches Verhalten der Akteure mag dazu verleiten, die interpretative Festlegung der Präferenzordnungen der Akteure nicht unbefangen vorzunehmen. Es besteht das Risiko, dass dieses Wissen „bereits in die Modellierung der als Erklärung herangezogenen Situationsstruktur einfließen mag.“ 150 Um der Gefahr tautologischer Analysen zu entgehen, forderte Zürn, die Präferenzordnungen der beteiligten Akteure unabhängig vom späteren Konfliktverhalten und dem Ergebnis der Interaktion zu analysieren und darzulegen.151 Voraussetzung hierfür wäre die scharfe Separation der Auffassungen aller Akteure von ihren späteren Handlungen als Größen sozialwissenschaftlicher Analyse. Um dies zu erreichen schlug Zürn mit der Methode der Interessenindikatoren152, der Methode Expertenbefragung153 und der Methode des kritischen Quellenstudiums ergänzt um Axelrods Methode des ‚cognitive mapping‘154 drei Methoden vor. Trotzdem wird im Rahmen dieser Studie angesichts der zahlreichen Akteure und Einzelfragen bei den Vertragsverhandlungen und bei der Umsetzung der europäischen Wettbewerbspolitik von einer Erweiterung des Analysemodells durch spieltheoretische Elemente auf die skizzierte Art und Weise Abstand genommen. Trotz gewisser Schwächen des Modells von Moravcsik und den hier knapp angeschnittenen Optionen, die die Spieltheorie und der situationsstrukturelle Ansatz von Zürn bieten, wird zusammenfassend nicht der Aufforderung Moravcsiks gefolgt, seinen Ansatz zu variieren.155 Der Liberale Intergouvernementalis149 Vgl. auch Ryll: Spieltheorie als Instrument. S. 47–53. Eine theoretische Gesamtdarstellung mit einigen kleinen historischen Anwendungen bietet: Snyder, Glenn H.; Diesing, Paul: Conflict among Nations. Bargaining, Decision Making and System Structure in International Crises. Princeton 1977. 150 Zürn: Interessen und Institutionen. S. 239. (Herv. i. O.). 151 Zürn nennt dies den „springende(n) Punkt bei jeglichem Versuch [...], die Spieltheorie zur Erklärung konkreter historischer Situationen zu verwenden: die Interessen der Akteure (Präferenzordnungen) müssen unabhängig vom Verhalten der Akteure in der Krise (Strategie bzw. Wahl einer Verhaltensoption) und unabhängig vom Ergebnis der Interaktion bestimmt werden.“ Zürn: Interessen und Institutionen. S. 120. 152 Damit ist die Herausarbeitung von bestimmten Kosten-Nutzen-Strukturen gemeint, die unabhängig von den Akteuren vorhanden sind. Zürn gibt jedoch zu bedenken, dass diese Methode nur da fruchtet, wo es allgemein anerkannte Theorien und von allen Akteuren geteilte Kosten-Nutzen-Ergebnisse gibt. Sobald Wertkonflikte vorhanden sind, bietet sich diese Methode nicht mehr an. Somit ist sie für die hier angestrebte Untersuchung der Wettbewerbspolitik nicht anwendbar. Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 243ff. 153 Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 246f. 154 Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 240ff. Zur Analysemethode des „cognitive mapping“ vgl. Axelrod, Robert: The Analysis of cognitive maps. In: Axelrod (Hrsg.): Structure of Decision. S. 55–73. 155 Einzige Maßgabe Moravcsiks war, dass Modifikationen mit den Basisannahmen im Einklang blieben und die Beziehungen der Stufen zueinander eindeutig bleiben müssten und in ihrer
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mus wird in seiner Grundform als Erklärungsmodell angewendet. Determinanten sozialer Kooperation strategisch rationaler Akteure werden in Einzelfällen auf Basis der Interaktionstheorie der Ökonomik von Homan und Suchanek156 hinzugezogen. Eine Ergänzung des Liberalen Intergouvernementalismus auf der zweiten Analyseebene durch komplexere Bargainingmodelle internationaler Politik unter Zuhilfenahme spieltheoretischer Konzepte geschieht hingegen in dieser Studie nicht. Dagegen spricht neben den skizzierten Schwierigkeiten vor allem, dass es zur annäherungsweisen Darstellung historischer Situationsstrukturen in spieltheoretischen Modellen umfangreicher Informationen bedürfte. Neben den zentralen Akteuren müssten deren Handlungsoptionen und spezifischen Interessenprofile erarbeitet werden. Die Analyse und Festlegung der Präferenzordnungen der beteiligten Akteure müsste für die verschiedenen Gegenstände der mehrdimensionalen Verhandlungen geschehen und im Zeitablauf bei neuen Verhandlungsgegenständen erneut erfolgen. Erst die Zusammenfügung dieser Komponenten würde die Analyse des Handelns der Akteure auf Basis der Präferenzen für bestimmte Interaktionsergebnisse mit Hilfe des spieltheoretischen Instrumentariums und des situationsstrukturellen Ansatzes ermöglichen.157 Neben der empirischen Dimension käme auf empirisch-analytischer Ebene das Problem hinzu, dass Präferenzen und Handlungsanreize der Akteure nicht aus sich heraus durch das rationalistisch-individualistische Weltbild erklärt werden können. Die Verwendung der Spieltheorie ist durch die Nichtbeantwortung der Frage nach dem Wieso? von Interessen für Kritik anfällig.158 Zürn schlägt vor, „Anleihen bei dem naturalistischen sozialwissenschaftlichen Weltbild“159 zu nehmen und zieht sich auf Positionen der Neoinstitutionalisten zurück, wenn er davon spricht, dass „Interessen und Kapazitäten der anderen Interaktionsteilnehmer sowie [...] der normative Kontext, in dessen Rahmen das Handeln stattfindet, die Akteursdispositionen bereits zu einem erheblichen Ausmaß“ bestimmen.160 Zürn verweist auf die innerstaatlichen Interessenkonstellationen und auf die normativen Forderungen aus Gesellschaft und Staatengemeinschaft, die den Rahmen für Motivationen und Ziele der Akteure bilden könnten, um die Frage nach der Herkunft bestimmter Ziele und Überzeugungen der Akteure angemessen zu beantworten, ohne diesen Gedanken weiter zu verfolgen.161 Auch wenn er das Problem nicht befriedigend löst, so deutet er dennoch eine potentielle Lösung an,
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160 161
Konsistenz nicht verändert werden dürften; was bei der Anwendung spieltheoretischer Konzepte erfüllt wäre. Vgl. Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 613. Vgl. Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 32–38 und S. 90–95. Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S.151. Vgl. ebd.: S. 132. Ebd.: S. 136. Siehe zu Varianten der Präferenzbildung und -änderung wie selbstgesteuerter Präferenzwandel (Odysseus und die Sirenen), adaptive Präferenzbildung (Der Fuchs und die sauren Trauben), rationalisierende Präferenzbildung (Bindung an ein Regime zur Konfliktlösung ohne Überzeugung, die aber durch Handlungen innerhalb dieses Regimes üblich ist, internalisiert wird) oder Präferenzbildung durch Lernen (Hamburg ist doch schöner als die Heimat München). Vgl. ebd.: S. 132–135. Ebd.: S. 132. Vgl. ebd.: S. 132, 135 und 145f.
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um der Herkunft von Zielen und Überzeugungen der Akteure auf den Grund zu gehen, die hohe Affinität zu Moravcsiks erster Analyseebene der Formulierung nationaler Interessen hätte. Zürn zeigt verschiedene Möglichkeiten mittlerer Komplexitätsreduktion auf, um der Kritik an modellierten Spielsituationen von zu hoher Komplexitätsreduktion oder der Nichtoperationalisierbarkeit durch überbordende Komplexität zu entgehen.162 Keiner dieser Wege wird in dieser Studie weiterverfolgt. Renate Mayntz und Fritz-Willi Scharpf vertraten zum Abschluss der Darlegung des von ihnen vertretenen akteurszentrierten Institutionalismus die Auffassung, dass die Kenntnis der vollen „Komplexität eines zugleich institutionalistischen und akteurbezogenen Forschungsansatzes“ zur Analyse des zu erforschenden Gegenstandes von Nutzen für die empirische Untersuchung ist.163 Gleichwohl wiesen sie darauf hin, dass „ein Forschungsdesign, in dem mehrschichtiger institutioneller Kontext, individuelle, wie korporative Akteure, ihre jeweiligen Handlungsorientierungen, Wahrnehmungen und interaktiven Beziehungen gleichermaßen systematisch einbezogen werden, [...] sich in einer empirischen Untersuchung kaum anwenden“ lässt, so dass sie dafür plädierten nur bestimmte Ausschnitte des von ihnen vertretenen Analyserasters anzuwenden.164 In diesem Sinne soll auch der Modellansatz des Liberalen Intergouvernementalismus von Andrew Moravcsik in seiner nicht alles umfassenden Form im weiteren Verlauf zur Analyse dienen. Die drei Analyseebenen des Liberalen Intergouvernementalismus sind ein hinreichend komplexes Schema, dass im Einklang mit den Anforderungen an eine vollständige wissenschaftliche Erklärung von sozialen Interaktionen steht. Demnach soll in drei Schritten erklärt werden, warum Akteure bestimmte Ziele und Überzeugungen haben, welche Handlungen sich aus diesen Zielen und Überzeugungen ergeben und schlussendlich die Kausalerklärung für Phänomene liefern, die Ergebnis dieser Handlungen sind.165 Der Liberale Intergouvernementalismus bietet Erklärungsmuster für diese drei Punkte: erstens für die Frage nach der Entstehung nationaler Präferenzen, die die Regierungen verfolgen, zweitens für die Frage nach den Handlungen der Regierungen auf internationaler Ebene und drittens für die Frage nach den Triebkräften der Auswahl bestimmter Institutionen als Folge von Kooperationsvereinbarungen.
162 Vgl. ebd.: S. 221–237. 163 Mayntz, Renate; Scharpf, Fritz: Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus. In: Mayntz; Scharpf (Hrsg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung. S. 39– 72. S. 67. 164 Ebd.:S. 66. 165 Vgl. Elster, Jon: Making Sense of Marx. Cambridge, London, New York u.a. 1985. S. 4.
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B.4 WETTBEWERBSTHEORIE UND WETTBEWERBSPOLITIK B.4.a Definition und Funktionen von Wettbewerb „Wettbewerb ist ein Instrument zur Wahrung und Verteidigung der Freiheit“, so die These des Präsidenten des Bundeskartellamtes Ulf Böge.166 Als Methode hat Wettbewerb auch eine gesamtgesellschaftliche ethische Begründung, da die Akteure durch die Konkurrenz zu Gestaltungswillen und Disziplin angehalten werden und ihren „Tatwillen in den Dienst der Allgemeinheit“ stellen, die dadurch die relativ besten Problemlösungen erhält.167 Wettbewerb dient aber auch als Maßstab zur Einordnung einer Volkswirtschaft auf der Skala zwischen Staatswirtschaft und Marktwirtschaft. Bei Beeinflussung aller Handlungsmotivationen, jeglicher Informationsgenerierung, -verbreitung, -auswertung und -verwendung in einer Marktwirtschaft durch Wettbewerb spricht man deshalb auch von Wettbewerbswirtschaft. Basis dieser Auffassungen von Wettbewerb ist die Definition von wirtschaftlichem Wettbewerb als antagonistische Stellung von mindestens zwei Anbietern bzw. Nachfragern auf einem Markt im Bezug auf ihre Handlungen; wobei alle menschlichen Tauschhandlungen als Angebot bzw. Nachfrage auf einem bestimmten Markt verstanden werden sollen. Wettbewerb „bedeutet, dass sich Personen etwas streitig machen“ und ist damit Konkurrenz, aber nicht automatisch Konflikt und Kampf.168 Das Verhältnis zueinander ist davon gekennzeichnet, dass zwei oder mehr Personen „das Gleiche anstreben, aber gerade deshalb in Gegnerschaft zueinander stehen“, da durch die relative Knappheit der Zielobjekte das Ziel nur von einem erreicht werden kann, was Gewinner und zugleich Verlierer zur Folge hat.169 Franz Böhm charakterisierte den wirtschaftlichen Wettbewerb als „Parallelkampf“ um knappe Ressourcen. Es ist „nicht ein Kampf Mann gegen Mann, sondern ein Wettlauf, d.h. die Leistungskraft der Beteiligten wird nicht, wie etwa beim Duell, Ring- oder Boxkampf oder beim Krieg in aufeinanderprallender, sondern in paralleler Richtung eingesetzt; der Sieg darf nicht durch Überwältigen, sondern durch Überflügeln des Gegners erfochten werden.“170 Ressourcenknapp166 Böge: Bekommt das Wettbewerbsprinzip Konkurrenz? S. 23. 167 Wiese, Leopold von: Wettbewerb (I). Soziologische Einordnung. In: Beckerath; Bente; Brinkmann u.a. (Hrsg.): Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW). Bd. 12. S. 29– 36. S. 27. 168 Seitel, Hans Peter: Wettbewerb. In: Hasse; Schneider; Weigelt (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft. S. 485–488. S. 485. 169 Wiese: Wettbewerb (I). S. 26. 170 Böhm, Franz: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtschöpferische Leistung. Stuttgart, Berlin 1937. S. 124. (Herv. i. O.). Wiese deutete in ähnliche Richtung, wenn er darauf hinweist, dass sich erst im Kampf die nebeneinander laufenden, gleichgerichteten Interessen von Konkurrenten gegeneinander wenden. Er betont das daraus entstehende besondere Verhältnis, das Konkurrenten, nicht Gegner, zueinander haben. Vgl. Wiese: Wettbewerb (I). S. 26f.
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heit ist ausdrücklich nicht Ergebnis, sondern Voraussetzung für den Wettbewerb. Dieser wird von jeher in der Nationalökonomie gerade als der anonyme Steuerungs- und Kontrollmechanismus angesehen, der die „beste Ausnutzung aller volkswirtschaftlichen Kräfte, die beste Verteilung von Kapital und Arbeit auf die den natürlichen Verhältnissen des Landes angemessensten Erwerbszweige und damit zugleich die relativ beste und billigste Versorgung der ganzen Bevölkerung mit den Mitteln zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse“ garantiert.171 Hinter dieser Charakterisierung stehen auf Basis der wirtschaftwissenschaftlichen Modellannahmen Funktionszuweisungen an den Wettbewerb, die durch die institutionelle Ausgestaltung von Wirtschaftsordnungen unterschiedlich stark wirken. Dies ist abhängig von den ordnungspolitischen Zielen eines Wirtschaftssystems und seiner Gestaltung durch die jeweilige Wirtschaftspolitik. Unabhängig von wirtschaftspolitischen Zielen werden dem Wettbewerb in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung übereinstimmend verschiedene, systematisierte Funktionen zugewiesen.172 Zunächst sind ökonomische Funktionen von nicht-ökonomischen Funktionen zu differenzieren. Einige ökonomische Funktionen entfalten definitionsgemäß ihre Wirkung im statischen Markt, so dass sie als statische Wettbewerbsfunktionen bezeichnet werden. Produktwettbewerb zwischen Anbietern von Gütern und Dienstleistungen führt zur Erstellung und Verteilung des Angebotes entsprechend den Präferenzen der Konsumenten und maximiert damit die individuelle Bedürfnisbefriedigung unter Restriktionen wie Faktor- und Budgetausstattung. Preiswettbewerb lenkt die Produktionsfaktoren in die jeweils produktivste Verwendungsmöglichkeit. Ceteris paribus werden diejenigen am besten entlohnt, die die beste Leistung bei kostengünstigster Verwendung der knappen Produktionsfaktoren erbringen und damit optimal zur Überwindung der Güterknappheit beitragen. Dieses Phänomen bezeichnet man als die Lenkungsfunktion des Wettbewerbs. Sie entfaltet ihre beste Wirkung in Wirtschaftssystemen mit freien Marktpreisen, die als Knappheitsindikatoren positiv auf Allokations-, Selektions- und Verteilungsprozesse wirken können.173 In der dynamischen Realität wandeln sich Präferenzen der Nachfrager ebenso wie Produktionsmöglichkeiten der Anbieter infolge der Veränderung und Vermehrung von technisch-organisatorischem Wissen. Die dynamische Wettbewerbstheorie in der Tradition Schumpeters und Hayeks erkannte im Wettbewerb das produktive Prinzip von Wirtschaftordnungen, um auf diese Veränderungen angemessen zu reagieren und gleichzeitig zur Diffusion von Wissen beizutragen. 171 Lexis, Wilhelm: Wettbewerb. In: Conrad; Elster; Lexis u.a. (Hrsg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Bd. 6. S. 700–704. S. 701. 172 Wettbewerbsfunktionen werden unterschiedlich gruppiert, umfassen jedoch unabhängig von der methodischen Grundposition überwiegend die im Folgenden dargestellten Funktionen. Vgl. hierzu auch Schmidt, Ingo: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. Eine interdisziplinäre Einführung. 8., neu bearb. Auflage. Stuttgart 2005. S. 28–32; Seitel: Wettbewerb. S. 485ff. 173 Zu Preisfunktionen in der Marktwirtschaft vgl. Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 262–271; Siebert, Horst: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. 13. Aufl. Stuttgart 2000. S. 107–137; Stobbe, Alfred: Mikroökonomik. Zweite, revidierte Auflage. Berlin, Heidelberg, New York u.a. 1991.S. 346f.
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Wettbewerb erfüllt dabei die dynamische Funktion, die Anpassungsflexibilität der Anbieter hinsichtlich der Produkte, Produktionsverfahren und Produktionskapazitäten zu erhöhen und die statischen Wettbewerbsfunktionen im Zeitablauf zu verstärken. Wettbewerb spornt Anbieter von Gütern und Dienstleistungen an, neue Produkte und/oder neue Produktionsverfahren zu entwickeln und einzusetzen. Der Pionier-Unternehmer Schumpeter’scher Prägung, der eine Invention marktfähig macht, kann durch seine Innovation bei ansonsten offenen Märkten einen zeitlich beschränkten Wettbewerbsvorsprung erlangen, der einem Monopolisten gleichkommt. Die damit verbundenen Monopolgewinne fordern in einer Wettbewerbswirtschaft andere Marktteilnehmer heraus, durch Imitation oder eigene Innovation an den möglichen Gewinnen auf dem neuen Markt zu partizipieren. Diesem dynamischen wettbewerblichen Marktprozess ist der Anreiz zur Kostensenkung, Verfahrensinnovation und Produktinnovation immanent. Er bedingt den ‚Prozess der schöpferischen Zerstörung‘: Wettbewerb trägt somit zum Strukturwandel bei.174 Da Wettbewerb somit als Fortschritts- und Wachstumsmotor für Gesellschaften wirken kann, spricht man auch von den dynamischen Anreizfunktionen des Wettbewerbs. Wettbewerb ist zudem als Entdeckungsverfahren, aber auch als Verteilungsverfahren von Wissen und „Tatsachen […], die ohne sein Bestehen entweder unerkannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden“ ein Element von Marktwirtschaften, wodurch diese für Hayek allen anderen Wirtschaftssystemen, insbesondere jenen kollektivistischer Prägung, überlegen sind.175 Sein essentieller Vorteil ist, dass Wettbewerbsergebnisse nicht voraussehbar und demnach auch nicht voraussagbar sind. Auch wenn damit zweifelsfrei verbunden ist, dass manche Absichten sich nicht verwirklichen lassen und Erwartungen enttäuscht werden, ist diese Unkenntnis über die Ergebnisse zwingende Voraussetzung für Wettbewerb. Sein Wert als Entdeckungsverfahren liegt darin, dass er „die Chancen für unbekannte Personen vergrößern wird, aber nicht irgendwelche bestimmte Ergebnisse für bestimmte Personen“ festlegbar sind.176 Bewusste ex-ante Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Marktteilnehmer wird ausgeschlossen. Gesellschaften, in denen Individuen die Freiheit zur unternehmerischen Initiative haben, können von den positiven Wirkungen des ‚Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren‘ profitieren. Neben den ökonomischen und gesellschaftlichen Zielen, die mit Wettbewerb verfolgt werden, wird die politische Entscheidung für die Wettbewerbswirtschaft 174 Durch Wettbewerb kommt es zur Entstehung von Produktmarktphasen. Der Wettbewerb sorgt dafür, dass die anfänglich notwendige Monopolsituation des Innovators durch nachfolgende Imitatoren erschüttert wird. Der Innovator hat eine Zeitlang einen Monopolvorteil, der jedoch im Wettbewerb „abgeschmolzen“ wird. Vgl. zum Gesamtthema „Marktphasen und Verhalten der Unternehmen“: Kaufer, Erich: Industrieökonomik. Eine Einführung in die Wettbewerbstheorie. München 1980. S. 145–284 und zur Frage von Innovation und Marktstruktur ebd. S. 311–344; Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 63; Stobbe: Mikroökonomik. S. 390ff. 175 Hayek: Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. S. 3. 176 Ebd.: S. 9.
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auch mit der Kontrolle wirtschaftlicher Macht gerechtfertigt. Wettbewerb wird damit zu einem Ziel an sich. Die Gewährleistung von Handlungs- und Entschließungsfreiheit sowie individueller Selbstbestimmung über Konsum und Produktion und damit auch über den Einsatz von Gütern, Produkten und Arbeitskräften gilt als Grundvoraussetzung freiheitlicher Gesellschaftsordnungen. Die Begrenzung staatlicher Macht gegenüber den Individuen durch Wettbewerb ist der entscheidende Unterschied zwischen Marktwirtschaften und Plan- oder Staatswirtschaften. Wettbewerb sichert individuelle Freiheit, streut und begrenzt damit gleichzeitig ökonomische Macht und ist mit den Worten des Ordoliberalen Böhm „das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte.“177 Alle Wettbewerbsfunktionen fasste die Deregulierungskommission zusammen, als sie proklamierte, „ein funktionierender Wettbewerb verbürgt zugleich Freiheit und Effizienz.“178 B.4.b Wirtschaftspolitik zur Sicherung des Wettbewerbs – Leitbilder und Ziele Die Ungewissheit über den Ausgang von Wettbewerb, die Gefahr zu den Verlierern zu gehören und der daraus resultierende Konkurrenzdruck haben von jeher zu Absprachen zwischen potentiellen Konkurrenten geführt.179 Diese Tendenz verstärkt sich jedoch im Zeitablauf und führt zur Kartellisierung und Monopolisierung von Volkswirtschaften. Wettbewerb tritt dann immer mehr in den Hintergrund, erhält und verteidigt sich nicht selbst und kann seine wohlstandsförderlichen Funktionen nicht mehr erfüllen. Wirtschaftssysteme, in denen Wirtschaftssubjekte frei sind, den Wettbewerb einzuschränken, tendieren somit zur Selbstzerstörung. Unter der Annahme, dass die freie Wettbewerbswirtschaft den volkswirtschaftlich größten Nutzen und die beste Wohlfahrt für Gesellschaften bringt, stellt sich die Aufgabe, das Wettbewerbsprinzips durch staatliche Wirtschaftspolitik zu verteidigen.180 177 Böhm, Franz: Demokratie und ökonomische Macht. In: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.): Kartelle und Monopole im modernen Recht. Bd. 1. Karlsruhe 1961. S. 1–24. S. 22. 178 Vgl. Deregulierungskommission: Marktöffnung und Wettbewerb. Stuttgart 1991. S. 3. 179 Adam Smith stellte dies schon fest, als er schrieb: „Kaufleute sind immer daran interessiert, den Markt zu erweitern und den Wettbewerb einzuschränken.“ und: „Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten, selbst zu Festen und zur Zerstreuung, zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann.“ Smith: Wohlstand der Nationen. S. 213 und S. 112. Auch Walter Eucken weist auf diese Gefahr hin, wenn er schreibt, „ein tiefer Trieb zur Beseitigung von Konkurrenz und zur Erwerbung von Monopolstellungen ist überall und zu allen Zeiten lebendig.“ Vgl. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 31. 180 Die Frage der prinzipiellen Notwendigkeit und Dienlichkeit von Wettbewerbspolitik soll nicht erörtert werden. Vgl. zu diesem Thema aus der Perspektive der Pubilc-Choice Analyse: McChesney, Fred S.; Shughart William F. (Hrsg.): The causes and consequences of antitrust. The public-choice perspective. Chicago 1995. Bei der dort untersuchten Frage nach Legitimität von Wettbewerbspolitik steht die Frage nach Einfluß, Macht und Durchsetzung von Politik im Zentrum.
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Wettbewerbspolitik, ordnungspolitischer Bestandteil von Wirtschaftspolitik, soll allgemein als Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen verstanden werden, die den Wettbewerb beeinflussen. Ziel ist es, die Freiheit der Wirtschaftssubjekte soweit einzuschränken, dass sie „unabhängig ihre Entscheidungen treffen und durchführen (können) und dabei notwendigerweise miteinander rivalisieren, ohne darin durch Beschränkungen, die mehr die Form dieser Rivalität betreffen, behindert zu sein.“182 Wettbewerbsbeschränkende Handlungen der Wirtschaftssubjekte sollen verhindert werden und Wettbewerb in dem Sinne frei sein, „dass er vor den Beschränkungen bewahrt werden soll, die im Extremfall den Tatbestand des Monopols erfüllen.“183 Zu wenig Wettbewerb muss durch staatliche Regelungen und Aktivitäten in Richtung auf mehr Wettbewerb, bessere Marktöffnung und Machtbeschränkung verändert werden. Die Ambivalenz zwischen der modellhaften vollständigen Konkurrenz, bei der die statischen Wettbewerbsfunktionen bestens erfüllt werden, jedoch kaum Spielraum für die dynamischen Wettbewerbsfunktionen vorhanden ist, und der Monopolisierungstendenz mit ihren negativen Folgen macht Entscheidungen über den ‚richtigen‘ Wettbewerb und über die Ausgestaltung und Zielfestlegung ‚zweckmäßiger‘ Wettbewerbspolitik notwendig. Hierbei kommt es zum Zielkonflikt zwischen Individualschutz und Institutionsschutz. Die historisch relevante Abwägungsfrage zwischen Gewerbe- und Vertragsfreiheit, begriffen als Schutz der Handlungs- und Entschließungsfreiheit der Individuen, und Wettbewerbsfreiheit, verstanden als Schutz des Prinzips Wettbewerb zur Realisierung angestrebter ökonomischer Ziele, muss durch politisch-normative Entscheidungen beantwortet werden.184 Hierbei bedürfen politische Entscheidungsträger eines Bezugssystems, eines Leitbildes oder einer theoretischen Konzeption, die Bindeglied zwischen wirtschaftswissenschaftlicher Analyse und politischer Gestaltung ist.185 „Wettbewerbspolitische Konzeption“ soll Willeke folgend als „System wettbewerbspolitischer Ziele und (als) eine – mögliche Zusammenhänge zwischen Marktstrukturen, Marktver181
181 Wirtschaftspolitik wird allgemein in Ordnungs- und Prozess- und Strukturpolitik unterteilt. Vgl. Woll, Artur: Wirtschaftspolitik. 2., überarb. und erg. Aufl. München 1982. S. 14ff. 182 Röpke, Wilhelm: Wettbewerb (II). Ideengeschichte und ordnungspolitische Stellung. In: Beckerath; Bente; Brinkmann u.a. (Hrsg.): Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW). Bd. 12. S. 29–36. S. 31. Vgl. auch Herdzina, Klaus: Wettbewerbspolitik. 5., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart 1999. S. 7f. 183 Röpke: Wettbewerb (II). S. 34. 184 Vgl. Herdzina: Wettbewerbspolitik. S. 11–31; Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 83f. und S. 85–117. Zur Zweckmäßigkeit von Wirtschaftspolitik und Wettbewerbspolitik im Speziellen vgl. Giersch, Herbert: Allgemeine Wirtschaftspolitik. Grundlagen. Wiesbaden 1961. S. 277f. Zum Verhältnis von normativer und positiver Wirtschaftspolitik vgl. Cox, Helmut; Hübener, Harald: Wettbewerb: Eine Einführung in die Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik. In: Cox; Jens; Markert (Hrsg.): Handbuch des Wettbewerbs. S. 1–48. S. 21ff. 185 Vgl. zu unterschiedlichen Ansprüchen an eine Konzeption: Willeke, Franz-Ulrich: Wettbewerbspolitik. Tübingen 1980. S. 1; Brendel, Herwig: Wettbewerbspolitische Konzeptionen. Positive Theorie in normativer Einbindung. In: Delhaes; Fehl (Hrsg.): Dimensionen des Wettbewerbs. S. 79–101 S. 80f; Giersch: Allgemeine Wirtschaftspolitik. S. 44f. und S. 135ff.
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halten und Marktergebnissen beschreibende – Referenzsituation“ verstanden werden.186 Wettbewerbspolitik ist dann geprägt vom ausgewählten, theoretischen Leitbild, von der politischen und wirtschaftlichen Realität und ihrer möglichen Abweichung vom Leitbild so wie von existierenden wettbewerbspolitischen Alternativen außerhalb der jeweiligen Leitbilder. Die Konzeptionen, die wissenschaftstheoretischem Wandel unterliegen, haben maßgeblichen Einfluss auf die institutionelle Gestaltung von Wettbewerbspolitik.187 Röpke konstatierte 1965, dass die Ideengeschichte des Wettbewerbs von der Klassik bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts keine übermäßige Tiefe gewonnen habe.188 Die Grundidee der nicht zentralgelenkten Wirtschaft, die sich durch das selbstgelenkte Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage und durch freie Preise entwickelt, habe sich in diesem Zeitraum kaum verändert. Von der „nicht wegzudenkenden Rolle des Wettbewerbs als der Achse des ‚Konkurrenzsystems‘“189 ausgehend, entwickelten sich zwei Richtungen der Wettbewerbspolitik: erstens die Lobpreisung des Wettbewerbs, die im Laissez-faire-System endete und zweitens die Formulierung von Ausnahmen, Einschränkungen und Voraussetzungen, mit denen das Konkurrenzsystem stumpf gemacht werden sollte. Klassiker, wie Adam Smith, waren keine Vertreter des Laissez-faire-Standpunktes. Sie hatten erkannt, dass sich Wettbewerb in einem von staatlichen Eingriffen freien Markt nicht selbst verwirklichen würde. Sie wandten sich zwar entschieden gegen die staatlichen Fesseln des Merkantilismus und gegen andere staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen. Gleichwohl erkannten sie frühzeitig die Probleme des freien Wettbewerbs und die Notwendigkeit der Begrenzung des freien Wettbewerbs als „Reiz- und Regulierungsmittel.“190 186 Willeke: Wettbewerbspolitik. S. 1; vgl auch: Bartling, Hartwig: Leitbilder der Wettbewerbspolitik. München 1980. S. 59. Die Begriffe Leitbild, Konzept und Konzeption sollen hier und im Folgenden synonym gebraucht werden. 187 Unterschiede zwischen Leitbildern und realisierter Wettbewerbspolitik kommen durch Abweichungen als Folge politischer und wirtschaftlicher Realität zustande, die wiederum abhängig sind von den wettbewerbspolitischen Alternativen außerhalb der jeweiligen Leitbilder. Vgl. Jens, Uwe: Möglichkeiten und Grenzen rationaler Wettbewerbspolitik in Demokratien. In: Cox; Jens; Markert (Hrsg.): Handbuch des Wettbewerbs. S. 167–192. S. 174–184. 188 Über die letzten rund 300 Jahre entwickelten sich zahlreiche Konzeptionen, die je nach politischen und wirtschaftlichen Interessen weiterentwickelt wurden. Grundsätzliche Konzeptionsdiskussionen werden heute primär in den USA und in Deutschland geführt. Zu den historischen Entwicklungen vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 2–23; Brendel: Wettbewerbspolitische Konzeptionen. S. 84–87 und S. 85ff.; Cox; Hübener: Wettbewerb. S. 9–20; Günther, Eberhard: Wettbewerbspolitik in der freien Gesellschaft. In: WuW 14 (1964). S. 111–120. S. 111ff.; Röpke: Wettbewerb (II). S. 29–36. Für die wettbewerbstheoretische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg vgl: Heuß, Ernst: Wettbewerb. In: Alters; Born; Dürr u.a. (Hrsg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften (HdWW). Bd. 8. S. 679–698. S. 689f. 189 Röpke: Wettbewerb (II). S. 30. 190 Ebd.: S. 30f. Adam Smith erkannte zwar, dass „je freier und umfassender Wettbewerb ist, umso mehr Vorteil hat die Öffentlichkeit von jedem Gewerbe oder von jeder Arbeitsteilung.“ Gleichzeitig war ihm auch bewusst, dass „eine Erweiterung des Marktes [...] häufig genug auch im öffentlichen Interesse liegen (mag), doch muß eine Beschränkung der Konkurrenz
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Der lange Zeit idealisierte Endpunkt von Wettbewerbspolitik war das neoklassische Leitbild des vollkommenen Wettbewerbs. Dieser ist durch einige Annahmen und Merkmale gekennzeichnet. Konsumenten sind frei, zwischen Gütern und Dienstleistungen zu wählen und Anbieter von Waren und Dienstleistungen sind ebenso frei im Angebot. Da es ausreichend Anbieter und Nachfrager gibt, kann kein einzelner Produzent oder Konsument den Marktpreis bestimmen. Notwendige Informationen über Qualität, Preis und Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen sind frei und vollständig zugänglich. Die damit verbundenen Annahmen der vollkommenen Markttransparenz, der Homogenität der Güter, der vollkommenen Mobilität und unendlichen Teilbarkeit von Produktionsfaktoren waren jedoch Modellannahmen, die den fehlenden Realitätsbezug deutlich werden ließen.191 Auf Basis des Modells des vollkommenen Wettbewerbs wurden realitätsnähere Konzeptionen erarbeitet. Die Markt- und Preistheorie analysierte primär oligopolistische und monopolistische Markt- und Unternehmensstrukturen, um Ausmaß und Einschränkung des Wettbewerbs in bestimmten Marktssituationen zu ermitteln. Aus Marktstrukturanalyse und Preistheorie aufbauend entstand das wesentlich von Erhard Kantzenbach geprägte Konzept des ‚funktionsfähigen Wettbewerbs‘ als realitätsnäheren Referenzmaßstab für Wettbewerb.192 Dabei handelt es sich nicht um ein geschlossenes Modell, sondern um einen Katalog von Merkmalen, die erfüllt sein müssen, damit Wettbewerb als funktionsfähig eingestuft werden kann. Diese sind mit den fünf erläuterten ökonomischen Wettbewerbsfunktionen quasi identisch. Außerökonomische Wettbewerbsfunktionen erkannte Kantzenbach zunächst nicht an. Wettbewerb war für ihn jedoch nicht Ziel zum Selbstzweck, sondern ausschließlich Mittel zur Erreichung übergeordneter wirtschaftlicher Ziele. Wettbewerb wird danach beurteilt, wie gut die ökonomischen Funktionen erfüllt werden und ist als Instrument infolgedessen bei besserer Zielerreichung durch andere Mittel ersetzbar. Im Gegensatz zum statischen Konzept des vollkommenen Wettbewerbs versuchte das Konzept des ihm stets schaden, da diese lediglich dazu dienen kann, dass die Geschäftsleute ihren Gewinn über die natürliche Spanne hinaus erhöhen und gleichsam den Mitbürgern eine absurde Steuer zum eigenen Vorteil auferlegen.“ Smith: Wohlstand der Nationen. S. 272 und S. 213. 191 Neben Realitätsferne sprechen weitere Kritikpunkte, wie Verlust von Großbetriebsvorteilen, mangelhafte Anreizwirkung, da Preiswettbewerb und Produktwettbewerb per Annahme ausgeschlossen sind sowie eine ungenügende Berücksichtigung der Dynamik von wirtschaftlichen Prozessen gegen das Modell der vollkommenen Konkurrenz. Darauf wies Sraffa bereits 1926 hin. Vgl. Sraffa, Piero: Die Ertragsgesetze unter Wettbewerbsbedingungen. Wiederabdruck in: Barnikel (Hrsg.): Wettbewerb und Monopol. S. 14–34; Bartling: Leitbilder der Wettbewerbspolitik. S. 14–19; Scherer: Industrial market structure. S. 21–24; Kantzenbach, Erhard; Kallfass, Hermann H.: Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs. workable competition. In: Cox; Jens; Markert (Hrsg.): Handbuch des Wettbewerbs. S. 104–127. S. 106ff.; Knieps, Günter: Wettbewerbsökonomie. Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik. Berlin, Heidelberg, New York u.a. 2001. S. 7–13 und 67f. 192 Vgl. Kantzenbach, Erhard: Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs (Wirtschaftspolitische Studien aus dem Institut für Europäische Wirtschaftspolitik 1). Göttingen 1966. Einen guten Überblick bietet: Kantzenbach; Kallfass: Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs. S. 104–127.
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‚funktionsfähigen Wettbewerbs‘ auch den dynamischen Funktionen von Wettbewerb und damit den Erfordernissen wachsender Volkswirtschaften Rechnung zu tragen. Seit den 1960er und 1970er Jahren verdrängte das Leitbild der ‚workable competition‘ als second-best-Lösung das des vollkommenen Wettbewerbs zunehmend, welches noch in den 1950er Jahren bei der Kodifizierung des westdeutschen Wettbewerbsrechts Pate gestanden hatte.193 Für den Untersuchungszeitraum relevante Entwicklungen in der Wettbewerbsforschung gab es jedoch auch schon vor dem ‚workable-competitionKonzept‘. In den 1930er und 1940er Jahren bildete sich in Auseinandersetzung mit dem Problem der Kartellisierung und Vermachtung von Märkten und als Folge aktiver Gestaltung von Wirtschaftsordnungen eine neue Sicht auf Wettbewerb heraus. Dieser wurde im Kontrast zu kollektivistisch-staatswirtschaftlichen Systemen und zu Systemen monopolistischer, „entarteter“ Marktwirtschaften als Kernelement freier, am Marktprinzip orientierter Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung neu bewertet. Neben einer starken Strömung aus dem angelsächsischen Raum gegen kollektivistisch-planwirtschaftliche Systeme entwickelte sich in Deutschland um Hans von Großmann-Doerth, Franz Böhm, Leonhard Miksch und Walter Eucken eine Gruppe von Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern, die schon seit den 1930er Jahren, angetrieben von der kritischen Betrachtung von Marktmacht und Wirtschaftsordnung, die Rückbesinnung auf die ordnende Funktion von Wettbewerb in einer Marktwirtschaft forderten.194 In Abgrenzung zu 193 Zur Entwicklung verschiedener wettbewerbspolitischer Leitbilder bis Ende der 1970er Jahre vgl: Bartling: Leitbilder der Wettbewerbspolitik. S. 20–57; Cox; Hübener: Wettbewerb: Eine Einführung. S. 14–20; Brendel: Wettbewerbspolitische Konzeptionen. S. 84–87; Knieps: Wettbewerbsökonomie. S. 67–74. 194 Quasi als Manifest der späteren Ordoliberalen können die Vorbemerkungen zum ersten Band der Reihe Ordnung der Wirtschaft der Herausgeber gelten: Böhm, Franz; Eucken, Walter, Großmann-Doerth, Hans: Unsere Aufgabe. In: Böhm: Ordnung der Wirtschaft. S. VII–XXI. Vgl. auch die frühen Schriften der Ordoliberalen zum Thema Wettbewerb: Böhm Franz: Wettbewerb und Monopolkampf. Berlin 1933; Miksch, Leonhard: Wettbewerb als Aufgabe. Grundsätze der Wettbewerbsordnung. Stuttgart 1937; Eucken, Walter: Die Grundlagen der Nationalökonomie. Jena 1940; ders.: Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung. In: Schmölders (Hrsg.): Der Wettbewerb als Mittel. S. 29–49; ders.: Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung. In: ORDO 2 (1949). S. 1–99. Vgl. die frühe grundlegende Gesamtdarstellung des Ordoliberalismus: Dürr, Ernst-Wolfram: Wesen und Ziele des Ordoliberalismus. Winterthur 1954. Für eine Kurzdarstellung der theoretischen und politischen Hauptvertreter des Ordoliberalismus vgl. Grossekettler, Heinz: Die Wirtschaftsordnung als Gestaltungsaufgabe. Entstehungsgeschichte und Entwicklungsperspektiven des Ordoliberalismus nach 50 Jahren Sozialer Marktwirtschaft (Ökonomische Theorie der Institutionen 1). Münster, Hamburg 1997. S. 21–38. Die Verbindungen einzelner Mitglieder der Freiburger Schule, namentlich Walter Euckens und Franz Böhms, als Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath, in die „Freiburger Kreise“ und damit in die Nähe zum Widerstand werden unterschiedlich dargestellt. Mit dem Schwerpunkt auf der Rolle Adolf Lampes siehe: Schulz, Wilfried: Adolf Lampe und seine Bedeutung für die „Freiburger Kreise“ im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Schneider; Harbrecht (Hrsg.): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. S. 219–250. S. 238–246. Kritischer hinsichtlich eines möglichen Widerstandsgeistes der Vertreter der Freiburger Schule siehe: Ptak, Ralf: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland.
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altliberalen dem Laissez-faire zuneigenden Tendenzen195 forderten die Vertreter der Freiburger Schule des Ordoliberalismus um Böhm und Eucken einen starken Staat, der Freiheit und Wettbewerb durch Setzung eines rechtlichen Ordnungsrahmens aktiv sichert.196 Sie vertraten mit der Wettbewerbsordnung, die zwischen der Zentralverwaltungswirtschaft, in der sowohl Wirtschaftsordnung als auch Wirtschaftsprozess durch den Staat unmittelbar bestimmt werden, und der freien Wirtschaft, in der der Staat weder Ordnung noch Prozess bestimmt, die Idee eines dritten Weges. In dieser Wettbewerbsordnung sollten staatliche Regelungen vorhanden sein, innerhalb derer der Markt frei funktionieren kann.197 Bereits 1937 postulierte Böhm, dass „die möglichst vollständige Ausmerzung aller ordnungslosen Märkte“198 das letzte Ziel von Ordnungspolitik sein müsse. Dazu zählte die Festlegung und Sicherung wettbewerblicher Spielregeln und die Funktionalisierung des Wettbewerbs durch die Einführung der vollständigen Konkurrenz in der Wettbewerbsordnung als Entmachtungsinstrument.199 Die ordoliberale Schule propagierte das Modell der vollständigen Konkurrenz als Referenzmodell für die Wettbewerbspolitik.200 Staatliche Lenkung und Beeinflussung des Marktprozesses wurde nicht nur akzeptiert, sondern in engen Grenzen sogar befürwortet.201 Im Gegensatz zu den Altliberalen, deren Gesetzgebungsideal das unpersönliche, allgemein formulierte, per-se verbietende Gesetz ohne Ermessensspielraum war, sollten Gesetze im ordoliberalen Verständnis immer am Maßstab der Konformität mit dem Gesamtwirtschaftssystem gemessen werden. Dieser Anspruch diente quasi als Kontrollpunkt, damit sich Wirtschaftspolitik nicht hin zum Interventionismus und nicht zur „Wirtschaftspolitik der
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Opladen 2004. S. 63–71 und S. 139ff. Auf Basis der veröffentlichten Schriften von Böhm und Eucken zwischen 1933 und 1947 kam Haselbach zu einem verfeinerten Bild. Vgl. Haselbach, Dieter: Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus. Baden-Baden 1991. S. 84–111. Aktuellen und differenzierten Überblick bieten die Aufsätze in Goldschmidt, Nils (Hrsg.): Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wissenschaftler und der Widerstand (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 48). Tübingen 2005. Zur Abgrenzung von Altliberalen, Ordoliberalen und Sozialliberalen vgl. Grossekettler: Wirtschaftsordnung als Gestaltungsaufgabe. S. 6–17. Zur Binnendifferenzierung der Ordoliberalen in die Freiburger Schule und die Kölner Schule vgl. ebd.: S. 25; Starbatty, Joachim: Alfred Müller-Armacks Beitrag zur Theorie und Politik der Sozialen Marktwirtschaft. In: Watrin (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft im vierten Jahrzehnt ihrer Bewährung. S. 7–26. S. 10f. und S. 15ff. Vgl. Böhm: Ordnung der Wirtschaft. S. 120–128. Zu wettbewerbspolitischen Empfehlungen vgl. ebd. S. 148ff.; Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 241–253. Vgl. Meyer, Fritz W.; Lenel, Hans Otto: Vorwort. Die Aufgabe des Jahrbuchs. In: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. 1 (1948). S. VII–XI. S. X. Böhm: Ordnung der Wirtschaft. S. 150. (Herv. i. O.). „In der vollständigen Konkurrenz ist der einzelne f as t entmachtet, nicht vö llig entmachtet.“ Eucken: Grundlagen der Nationalökonomie. S. 230 (Herv. i. Orig.). Allg. zum Thema wirtschaftliche Macht vgl. ebd.: S. 223–233. Vgl. Eucken: Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung. S. 22–27. Vgl. Blum: Soziale Marktwirtschaft. S. 65f.
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Experimente“ entwickeln könne.202 Außerdem sollten wirtschaftliche Planungen der Individuen gegenüber staatlicher oder wirtschaftlicher Willkür Dritter geschützt werden. Eucken formulierte für eine Wirtschaftsverfassung konstituierende und regulierende Prinzipien. Erstere umfassten neben dem Grundprinzip der Wettbewerbsfreiheit und der Marktform der vollständigen Konkurrenz das staatliche Primat der Währungspolitik, die Garantie offener Märkte, die Grundsätze von Privateigentum, Vertragsfreiheit und Haftung sowie die Forderung nach Konstanz der Wirtschaftspolitik und der grundsätzlichen Einheit all dieser Prinzipien.203 Diesen Prinzipien, die durch einen starken Staat einzuführen und zu sichern seien, ordnete Eucken regulierende Prinzipien bei. Sie umfassten die Forderung nach der Aufsicht über Monopole, einer ex-post Umverteilungspolitik und Konjunkturpolitik durch Finanzpolitik sowie einer Sozialpolitik, die externe Effekte durch Veränderung der Wirtschaftsrechnung internalisiert und anormale Angebotsreaktionen – speziell auf dem Arbeitsmarkt – auffangen sollte.204 Die ordoliberale Konzeption der Marktwirtschaft wies dem Staat die Aufgabe zu, „nach der Einrichtung einer Marktwirtschaft die laufende Entwicklung bewusst daraufhin zu überwachen, ob sich Koordinationsmängel zeigen, und dieses ggf. durch Justierung des ordnungspolitischen Rahmens zu beseitigen.“205 Die Rolle des Staates war die des Regelsetzers und -überwachers, jedoch explizit nicht die des Mitspielers. Als Ergebnisbewerter wurde ihm die Option zugestanden, zu heftige Ungleichgewichte ex-post auszutarieren.206 Diese Vorstellungen und Konzeptionen des Ordoliberalismus hatten Einfluss auf die Gestaltung der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik, namentlich auf das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft.207 202 Vgl. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 55ff.; ders.: Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung. S. 7ff. 203 Vgl. ders.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 254–291; ders.: Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung. S. 32–64. 204 Vgl. ders.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 291–304; ders.: Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung. S. 64–76. Gerade die in den regulierenden Prinzipien Euckens enthalten Elemente des Ordoliberalismus führten zur Formulierung der „Sozialen Marktwirtschaft“. 205 Grossekettler, Heinz: Kritik der Sozialen Marktwirtschaft aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik. In: Nörr; Starbatty (Hrsg.): Soll und Haben. S. 53–78. S. 62. 206 Zur Verfasstheit staatlicher Strukturen – oder auch anderer staatsähnlicher Institutionen – gemäß ordoliberaler Theorie, die die Aufgaben der Regelsetzung und -überwachung erfüllt, Wettbewerbsfreiheit, freien Zutritt zu Märkten, Privateigentum und Vertragsfreiheit garantiert und zugleich Monopole beaufsichtigt, vgl. ebd: S. 63. 207 Vgl. Tuchtfeldt, Egon: Grundsätze der Wirtschaftspolitik der Sozialen Marktwirtschaft. In: Hasse; Quaas (Hrsg.): Wirtschaftsordnung und Gesellschaftskonzept. S. 27–45. S. 29f.; Starbatty, Joachim: Soziale Marktwirtschaft als Forschungsgegenstand. Ein Literaturbericht. In: Ludwig-Erhard-Stiftung e.V. (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft als historische Weichenstellung. S. 63–98. S. 67. Für die Ansicht, dass der Einfluss Erhards und Müller-Armacks primär prägend war, vgl. Wünsche, Horst Friedrich: Erhards Soziale Marktwirtschaft: von Eucken programmiert, von Müller-Armack inspiriert? In: Soziale Marktwirtschaft als historische Weichenstellung. S. 131–169. S. 148–155. Hinsichtlich des Scheiterns bzw. der Verwässerung des Konzepts der „Sozialen Marktwirtschaft“ in der historischen Entwicklung der Bundesrepublik vgl: Tuchtfeldt, Egon: Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches
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Mit allen wettbewerbspolitischen Leitbildern sind Empfehlungen für die Wettbewerbspolitik verbunden. Als Ordnungspolitik, deren Inhalt die Festlegung von Prinzipien, Spielregeln und Zuständigkeiten für ökonomisches Handeln und staatliche Eingriffe in Wirtschaftsprozesse ist, umfasst Wettbewerbspolitik die „Gesamtheit der Handlungen und Maßnahmen […], die darauf abzielen, den Wettbewerb in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu erhalten oder/und zu fördern.“208 Dies beinhaltet aktive und defensive Wettbewerbsgestaltung, wie die Beseitigung von Marktschranken und die Öffnung von Märkten oder die Reglementierung wettbewerbsbeschränkender Strategien der Unternehmen. Je nach der angewandten Unternehmensstrategie werden unterschiedliche Instrumente defensiver Wettbewerbspolitik eingesetzt. Namentlich gleiche Instrumente können bei der wettbewerbspolitischen Implementation je nach Anwendung gegen Wettbewerbsbehinderungen unterschiedliche gesetzliche Spielräume haben.209 Zur angemessenen Ziel-Mittel-Auswahl bedarf es sowohl der Kenntnis der negativen als auch der positiven Wirkungen einzelner unternehmerischer Strategien, die in drei Gruppen unterschieden werden: Verhandlungsstrategie, Behinderungsstrategie und Konzentrationsstrategie. Die Verhandlungsstrategie,210 auch Absprachenstrategie, hat horizontale Abkommen und aufeinander abgestimmtes Verhalten und vertikale Absprachen über Preisbindung, Preisempfehlung und vertikale Lizenzverträge zum Gegenstand. Diese Strategien werden von rechtlich eigenständig bleibenden Unternehmen verfolgt, die damit die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit von Konkurrenten einschränken und das Marktergebnisse direkt oder indirekt beeinflussen. Der Monopolisierungsgrad eines Marktes nimmt daraufhin zu, die Lenkungsfunktionen des Wettbewerbs werden behindert bzw. ausgeschaltet und Einkommensverteilung und Faktorallokation funktionieren suboptimal. Kosten- und Preissteigerungen sind die Folge. Die Verhandlungsstrategie kann aber auch neutralisierende und sogar positive Wirkung auf den Wettbewerb entfalten, wenn sie in asymmetrischen Märkten, auf denen wenige große Unternehmen auf der einen Marktseite vielen kleinen und mittleren Unternehmen auf der anderen Marktseite gegenüberstehen, von Letzteren angewendet wird. Diese können Wettbewerbsnachteile gegenüber großen, marktmächtigen Unternehmen durch Absprachen ausgleichen, so dass sie Entscheidungsfreiheit hinzu gewinnen. Im Einzelfall bedarf es der Abwägung, ob Wettbewerbsbeschränkungen dadurch im Gesamtmarkt nicht zunehmen. Eine Sonderform der Verhandlungsstrategien ist die ‚strategische Allianz‘ von Unternehmen zur Sicherung der Wettbewerbsposition auf dem internationalen Markt, die auch in Form von multinationalen Gemeinschaftsunternehmen vorkommen kann. Staatliche, am Weltmarkt orienKonzept. In: Quaas; Straubhaar (Hrsg.): Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. S. 29–46. S. 42ff; Grossekettler: Kritik der Sozialen Marktwirtschaft. S. 76f. 208 Cox; Hübener: Wettbewerb. S. 21. 209 Vgl. Doern, G. Bruce: Comparative Competition Policy: Boundaries and Levels of Political Analysis. In: Doern; Wilks (Hrsg.): Comparative Competition Policy. S. 7–39. S. 23–30. 210 Zu Verhandlungsstrategien vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 122–129.
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tierte Industriepolitik fördert häufig die Bildung solcher Allianzen, steht damit aber im Widerspruch zu rationaler Wettbewerbspolitik.211 Rechtliche oder faktische Beschränkungen der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit von möglichen oder tatsächlichen Konkurrenten auf horizontaler Ebene oder von Lieferanten oder Abnehmern auf vertikaler Ebene werden als Behinderungsstrategien zusammengefasst: Preisdifferenzierung und -diskriminierung, abhängig vom Handelspartner, bei ansonsten gleichen Geschäften, Ausschließlichkeits- und Kopplungsbindung bei Verträgen sowie Boykott und Lieferungsverweigerung gegenüber anderen Marktteilnehmern sind die häufigsten Formen von Behinderungsstrategien. Diese fordern zusätzlich wettbewerbspolitischen Handlungsbedarf des Staates, da sie meist von einzelnen großen Unternehmen oder gemeinsam handelnde Unternehmensgruppen mit dominierender Marktstellung genutzt werden, um auf Kosten der Freiheit von Konkurrenten und Marktteilnehmern von vor- oder nachgelagerten Märkten den eigenen Wettbewerbsdruck zu mindern. Wettbewerbspolitik muss jedoch in diesen Fällen sorgfältig abwägen, ob es sich um erwünschtes Marktverhalten im Rahmen der dynamischen Marktentwicklung oder um klar diskriminierende Behinderungsstrategien gegenüber Dritten handelt. Staatliche Missbrauchsaufsicht von marktbeherrschenden Unternehmen bewegt sich hierbei häufig eng an der Grenze von zuviel Markteingriff.212 211 Vgl. Oberender, Peter; Ruckdäschel, Stephan; Rudolf, Thomas: Industriepolitik. In: Hasse; Schneider; Weigelt (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft. S. 260–262. Jens Evers definiert in seiner Analyse der EGKS-Industriepolitik „Industriepolitik“ wie folgt: „Industriepolitik bezeichnet jegliches staatliches Handeln, das durch bewusste und gezielte, zeitlich begrenzte Eingriffe in den freien Wettbewerb auf die Verhaltensweisen und Entscheidungen in Industrieunternehmen einwirkt.“ Evers, Jens: Der EGKS-Vertrag und die europäische Industriepolitik. Versuch einer Außenwirkungsanalyse auf die deutsche Stahlindustrie. Berlin 2001 S. 5. Zum Spannungsverhältnis von Wettbewerbs- und Industriepolitik vgl. Beiträge in Oberender, Peter (Hrsg.): Industriepolitik im Widerstreit mit der Wettbewerbspolitik (Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF 231). Berlin 1994. Mit dem Schwerpunkt Wettbewerbspolitik und Industriepolitik im Rahmen der europäischen Integration vgl. Schmidt, André: Ordnungspolitische Perspektiven der europäischen Integration im Spannungsfeld von Wettbewerbs- und Industriepolitik (Hohenheimer volkswirtschaftliche Schriften 28). Frankfurt am Main 1998. Zur Industriepolitik der EU vgl. Hellmann, Rainer: Europäische Industriepolitik. Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus. Baden-Baden 1994; Holzem, Reiner: Industriepolitik und Wirtschaftsordnung. Ordnungstheoretische Bewertung von Schwerpunkten der europäischen Industriepolitik und der deutschen Forschungs- und Technologiepolitik (Europäische Hochschulschriften, Volks- und Betriebswirtschaft 1795). Frankfurt a. M., Berlin, Bern u.a. 1995. 212 Grundsätzlich muss Wettbewerbspolitik bei der Behinderungsstrategie unterscheiden, ob aus den Handlungen der behindernden Unternehmen formale oder materielle Freiheitseinschränkungen der anderen Marktteilnehmer folgen. Formale Handlungsfreiheit wird durch den rechtsstaatlichen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz und dem Schutz vor staatlicher Willkür gesichert. Materielle Entscheidungsfreiheit definiert sich über die Möglichkeit, inhaltlich frei und unabhängig zu entscheiden. Die Unterscheidung formaler und materieller Freiheit ist notwendig, um Tatbestände des Behinderungswettbewerbs rechts- und wettbewerbspolitisch korrekt zu erfassen und diesen angemessen von staatlicher Seite aus zu
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Die Konzentrationsstrategie hat Markterweiterung, Marktverkettung und Marktdiversifikation zum Ziel und ist gekennzeichnet durch die Verbindung von rechtlich und wirtschaftlich eigenständigen Wirtschaftssubjekten zu einem Unternehmen.213 Ob es hierbei zur einvernehmlichen Fusion oder feindlichen Übernahme kommt, ist hinsichtlich der Wirkungen auf den Wettbewerb nachrangig. Zur Markterweiterung werden horizontale Zusammenschlüsse von Unternehmen angestrebt, die auf dem gleichen räumlichen und sachlichen Markt aktiv waren. Vertikale Zusammenschlüsse werden realisiert, um zur Marktverkettung Bezugsund Absatzwege zu sichern oder um andere nicht integrierte Konkurrenten von diesen auszuschließen oder potentielle Konkurrenten von vornherein vom Marktzutritt abzuhalten. Dabei schließen sich Unternehmen zusammen, die auf unterschiedlichen Wirtschaftsstufen und in direkten Marktbeziehungen zueinander stehen. Die damit verbundene und für den Wettbewerb negative Markterstarrung ist umso stärker, je größer die Marktanteile der jeweiligen ehemals selbständigen Unternehmen sind. Zusammenschlüsse von Unternehmen, die weder auf dem gleichen Markt aktiv sind noch in einer Käufer-Verkäufer-Beziehung stehen, so genannte diagonale oder konglomerate Zusammenschlüsse, bezwecken Marktdiversifikation von Unternehmen. Aktive Wettbewerbspolitik muss externe Konzentrationsstrategien aufmerksam beobachten, da größer werdende Marktanteile einzelner Unternehmen ceteris paribus den Wettbewerbsdruck aller Marktteilnehmer auf den jeweiligen Märkten verändern, auf denen die ehemals eigenständigen Unternehmen aktiv sind. Stark intern wachsende Unternehmen und damit verbundene Veränderungen von Marktanteilen und Marktmacht sind für die Wettbewerbspolitik nachrangig, da dem überproportionalen, rein internen Wachstum eines einzelnen Unternehmens gegenüber anderen Marktteilnehmern der gleichen Marktseite Grenzen gesetzt sind. Wettbewerbspolitik konzentriert sich in diesen Fällen auf Aufsicht und Kontrolle möglicher Anwendungen anderer Strategien durch ein solches Unternehmen.214 B.4.c Konzepte und Instrumente der Wettbewerbspolitik Diese wettbewerbsbeschränkenden Strategien und Maßnahmen können durch aktive Wettbewerbspolitik auf verschiedene Art und Weise kontrolliert und im Interesse eines funktionierenden Wettbewerbsmarktes verhindert werden. Die Analyse von Methoden zur Reglementierung wettbewerbsbehindernder Strategien, deren kurz-, mittel- und langfristige ökonomische Wirkungen und das Verhältnis zwischen Wettbewerbszielen und Instrumenten der Wettbewerbspolitik
begegnen. Zu einzelnen Behinderungsstrategien vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 130–137. 213 Hinsichtlich der Unternehmenskonzentration und Monopolbildung aufgrund von Größenvorteilen vgl. Kaufer: Industrieökonomik. S. 58–84; Herdzina: Wettbewerbspolitik. S. 40ff.; Knieps: Wettbewerbsökonomie. S. 24–28. 214 Vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 141–154.
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ist Gegenstand der Forschung zur Wettbewerbspolitik, bei der vier Ansätze unterschieden werden.215 Der erste Ansatz, der Laissez-faire-Ansatz, lässt den Wirtschaftssubjekten die Freiheit, einschränkende Wettbewerbspraktiken anzuwenden, und setzt auf das Wohlverhalten der Marktteilnehmer und mögliche Konkurrenzwirkungen durch Außenhandel.216 Die historische Erfahrung, dass der sich selbst überlassene Wettbewerb wenigstens kurz- bis mittelfristig zur Vermachtung von Märkten und damit zur Selbstzerstörung des Wettbewerbsprozesses führt und die daraus folgende Erkenntnis, dass der Wettbewerb keine Selbsterhaltungskräfte hat, mündete in der Ablehnung dieses Ansatzes und in der Befürwortung der aktiven Wettbewerbspolitik, die die positiven Wettbewerbsfunktionen unterstützt. Daran anknüpfend setze der zweite Ansatz, der Marktstrukturansatz, auf den Erhalt und die Wiederherstellung wettbewerblicher Marktstrukturen durch Kontrolle und weitgehendes Verbot von Konzentrationsstrategien, bis hin zur aktiven Entflechtung von Konzernen. Bestimmte Behinderungs- und Verhandlungsstrategien werden verboten, um wettbewerbliche Marktsstrukturen unabhängig von einer expost Kontrolle von Marktverhalten und Marktergebnis aufrecht zu erhalten. Beim Regulierungsansatz werden hingegen vorgegebener Wettbewerbsziele durch staatliche Missbrauchskontrolle kontrolliert. Die Bildung von Marktmacht wird unabhängig von der Strategie nicht verhindert, sondern Wettbewerbsintensität und Missbrauch privater Marktmacht werden vom Staat nach einem ‚als-ob-Maßstab‘ bewertet und korrigiert. Zentraler Nachteil dieser korrektiven Missbrauchsaufsicht ist die mangelhafte Operationalisierbarkeit des Maßstabes und die Gefahr der Verdrängung des anonymen Steuerungs- und Kontrollprozesses des Wettbewerbs durch dirigistische, staatliche Eingriffe in den Markt.217 Die letzte Schwäche kennzeichnet auch den vierten Ansatz zur Verhinderung wettbewerbsbeeinträchtigender Strategien. Beim (Gemein-)Eigentumsansatz werden marktmächtige Unternehmen nicht kontrolliert, sondern verstaatlicht. Dieser Ansatz wird häufig nicht zur Wettbewerbspolitik gezählt und begründet stattdessen wettbewerbliche Ausnahmebereiche.218 Der damit einhergehende Wegfall von Kontrolle durch
215 Vgl. Bartling, Hartwig: Von der Wettbewerbstheorie zur Theorie der Wettbewerbspolitik. In: Kruse; Stockmann; Vollmer (Hrsg.): Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld. S. 17–33. 216 Als Beispiel für den Laissez-faire-Ansatz gilt die Behandlung von Kartellen im Kaiserreich. Vgl. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 27ff.; Böhm, Franz: Das Reichsgericht und die Kartelle. Eine wirtschaftsverfassungsrechtliche Kritik an dem Urteil des RG. vom 4. Febr. 1897, RGZ. 38/155. In: ORDO 1 (1948). S. 197–213; Isay: Geschichte der Kartellgesetzgebung. S. 78–90. Maschke, Erich: Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914 (Vortragsreihe der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e.V. 10). Dortmund 1964; Blaich, Fritz: Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 50). Düsseldorf 1973. 217 Vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 160f.; Herdzina: Wettbewerbspolitik. S. 115–119. 218 Verstaatlichungen bzw. Besitz von monopolistischen Unternehmen in Staatshand wird häufig mit dem Argument der „natürlichen Monopole“ begründet. Vgl. zum Thema Marktversagen
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Marktmechanismen und die Gefahr der Interessenidentität von staatlichen Managern, Parteien und anderen gesellschaftlichen Gruppen, die Einfluss auf die Besetzung der Unternehmensführung ausüben, und der staatlichen Unternehmensaufsicht führt jedoch tendenziell nicht zur Verbesserung der Position der Verbraucher. Zudem steht dieser Ansatz konträr zum wirtschaftspolitischen Ziel der Machtkontrolle durch das anonyme Lenkungs- und Kontrollsystem des Wettbewerbs, so dass staatlich enge Kontrolle von privaten Unternehmen der Überführung ins Gemeingut vorzuziehen ist.219 Rationale Wettbewerbspolitik freiheitlicher Gesellschaften greift demnach auf die Struktur- und Regulierungsansätze bzw. eine Mischform aus beiden Ansätzen zurück. Konsequente Politik zur Aufrechterhaltung kompetitiver Marktstrukturen, die durch Kontroll- und Aufsichtsmaßnahmen des Marktverhaltens und Marktergebnisses unterstützt wird, wird hierbei befürwortet. Welcher der Ansätze die konkrete Wettbewerbspolitik dominiert, ist abhängig von der gesetzlichen Festschreibung der Instrumente zur Bekämpfung wettbewerbsbehindernder Strategien und der Kombination verschiedener Institutionen. Grundsätzlich wird zwischen der ‚per-se-rule‘ und der ‚rule-of-reason‘, auch als Generalverbot versus Einzelfallverbot charakterisiert, unterschieden. Die Entscheidung, welche Regel auf welche unternehmerische Strategie angewendet wird, hängt vom Verhältnis der wettbewerbsschädigenden zu den wettbewerbsförderenden Wirkungen der jeweiligen Strategie ab. Ist Wettbewerbsinkonfomität eindeutig und unbestritten, so kommt meist die Per-se-Regel zum Einsatz. Bei überwiegender Wettbewerbskonformität oder unklarem Ergebnis wird tendenziell eher die ‚rule-of-reason‘ herangezogen, da sie im Einzelfall die Abwägung von Vor- und Nachteilen zulässt. Vorteile des Verbotsprinzips sind erstens die Eindeutigkeit und die damit verbundene Rechtssicherheit für Unternehmen, zweitens die gute, justitiable Operationalität und drittens die Abwesenheit unscharfer Entscheidungsmöglichkeiten von Behörden oder politischen Entscheidungsträgern, die dem Einfluss von Interessengruppen ausgesetzt sind. Der Nachteil einer starren und im Einzelfall unflexiblen Per-se-Regel offenbart den Vorteil der ‚rule-of-reason‘. Jedoch kann Erstere durch Ausnahmen für bestimmte unternehmerische Verhaltensweisen, von denen eine grundsätzlich positive Wirkung erwartet wird, ergänzt werden. Durch die Ausgestaltung mit einer ex-ante oder ex-post Kontrolle kann sie variiert und gemäß erwarteter Wettbewerbsschädigungen auf einzelne Behinderungsstrategien zugeschnitten werden. Ein Per-se-Verbot mit Ausnahme und ex-ante Kontrolle bedingt die konstitutive behördliche Genehmigung einer wettbewerbsbeschränkenden Strategie und wird meist als Verbotsprinzip mit Genehmigungssystem bezeichnet. Hiervon ist das Verbotsprinzip mit Legalausnahme zu unterscheiden, bei dem die Entscheidung der Behörde auf Basis von ex-post Kontrolle nur deklaratorischen Charakter hat. Jedoch können im Genehmigungssystem Unternehmen nach einer Ausnahmegenehmigung ebenfalls der ex-post Aufsicht unterstellt werbei Unteilbarkeiten und daraus resultierendes staatliches Handeln: Fritsch; Wein; Ewers (Hrsg.): Marktversagen und Wirtschaftspolitik. S. 143–184. 219 Zum Eigentumsansatz vgl: Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 161f.
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den. Allgemein ist die ‚rule-of-reason‘ meist mit der ex-post Kontrolle verbunden, aber auch eine ex-ante Kontrolle ist möglich und wird beispielsweise bei Fusionsverfahren praktiziert. Ein weiterer damit verbundener wesentlicher Faktor zur Ausgestaltung wettbewerbspolitischer Instrumente ist die Verteilung der Beweislast auf die Unternehmen oder auf die kontrollierende Behörde.220 Aktiver Wettbewerbspolitik steht somit ein ganzes Bündel von Ansätzen und damit verbundenen Instrumenten zur Verfügung. Zur Umsetzung bedarf es der Kenntnisse über die Wirkung möglicher Instrumente und entwickelter Maßstäbe, anhand deren Wettbewerb bzw. die angestrebten Ziele, die mit dem Prinzip Wettbewerb verfolgt werden, gemessen werden könnten. Verschiedene, in der Wirtschaftstheorie umstrittene Maßstäbe zur Bewertung des Wettbewerbs, wie die Marktstruktur, das Marktverhalten und das Marktergebnis, fungieren miteinander kombiniert als Wettbewerbstests von unterschiedlicher Güte.221 Beispielsweise ist der Mangel klarer Operationalisierbarkeit des zu definierenden ‚als-ob-Maßstabes‘ des Regulierungsansatzes Folge der Uneinigkeit in der Wirtschaftswissenschaft über Wettbewerbs- und Effizienzeffekte bestimmter Marktstrukturen. Ermessens- und Bewertungsspielraum gibt es auch hinsichtlich der Bewertung von Marktmacht, die aufgrund der Einschränkungen der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit anderer Marktteilnehmer durch potentiell wettbewerbsbehindernde Strategien näherungsweise messbar wird.222 Grundsätzlich ist jedoch bei jeder Anwendung von wettbewerbspolitischen Instrumenten mit ‚trade-offs‘ im Hinblick auf das Ziel Wohlstandsvermehrung zu rechnen.223 Spannungen zwischen wettbewerbspolitischer Dienlichkeit und den Anforderungen an Justitiabilität, Umsetzbarkeit und Effizienz in der Realität kommen hinzu. Wernhard Möschel sprach in diesem Zusammenhang sogar von „rudimentären Kenntnissen, welche die Wettbewerbstheorie bis heute zu vermitteln vermag,“ so dass juristische Entscheidungen sich „häufig nur auf Annäherungsurteile und Wahrscheinlichkeiten stützen.“224 Nur in wenigen Fällen ist es möglich klare und eindeutige Urteile über die Wirkung unternehmerischer Strategien auf den Wettbewerb zu fällen. Direkte Folgen eines Markteingriffs bei Konsum und Investitionen fallen 220 Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten des Eingriffs vgl: Knieps: Wettbewerbsökonomie. S. 75ff.; Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 163–166. Cox und Hübener unterscheiden die Instrumente in Anlehnung an das GWB in Verbotsmaßnahmen, Missbrauchsgesetzgebung und Marktstrukturpolitik. In Anlehnung an Tuchtfeld legen sie eine weitere Unterscheidung anhand der Möglichkeiten wettbewerbsbeschränkender „Kooperation“ dar. Differenziert wird dabei nach Antikartellpolitik und Antimonopol- bzw. Antikonzentrationspolitik. Vgl. Cox; Hübener: Wettbewerb. S. 35f. 221 Vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 77ff. Aus industrieökonomischer Sicht vgl. Knieps: Wettbewerbsökonomie. S. 45–63. 222 Vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 79ff.; Herdzina: Wettbewerbspolitik. S. 82–95. 223 Vgl. Hay, Donald: The Assessment: Competition Policy. In: Oxford Review of Economic Policy 9/2, (1993). S. 1–26. S. 6–12. 224 Möschel, Wernhard: Der Schutz des Wettbewerbs. Das neue System der Legalausnahme ist dem bisher üblichen Anmeldeverfahren deutlich unterlegen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. November 2003, S. 13.
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in ihrer Intensität womöglich anders als erwartet aus. Das eindeutig richtige Maß der Regulierung des Wettbewerbs ist unbekannt. Wie bei jeder Wirtschaftspolitik bestehen auch hier Probleme wie Staatsversagen oder die time-lag Problematik.225 Die Distanz zwischen Wettbewerbspolitik und ihren Ergebnissen charakterisiert Dorn „more akin to the Olympic policy marathon than the 100-metre policy implementation dash.“226 Insgesamt existiert eine große Bandbreite wirtschaftswissenschaftlicher Forschungen und Erkenntnisse über Wettbewerb, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, die hier nur angedeutet werden kann. Grundsätzlich herrscht breite Übereinstimmung über Vor- und Nachteile von Kartellen, Absprachen und Monopolen. Die Relevanz von Wettbewerb für das effiziente Funktionieren einer Marktwirtschaft ist jedoch bei allen Differenzen im Detail unbestritten. Unabhängig von den möglichen thematisierten Zielvorstellungen der Wettbewerbspolitik kann, Donald Hay folgend, Effizienzförderung im weiten Sinne als die zentrale Absicht von Wettbewerbspolitik gelten.227 Auch wenn aus anderen Wissenschaften weitere Funktionsanforderungen an die Wettbewerbswirtschaft, wie Machtund Gegenmachtbildung, soziale Verantwortlichkeit und Entwicklung von kollektiven Normen und Institutionen durch den Wettbewerbsprozess gestellt werden, dürfte Hays pointierte Aussage, dass „a precondition for a sucessfull market economy is the existence of an effective competition policy,“ keinen Widerspruch hervorrufen.228 Wie Wettbewerbspolitik nicht nur effektiv, sondern gesamtwirtschaftlich effizient für eine Volkswirtschaft wird, darüber gibt es unterschiedliche Ansätze und Ansichten. Die ökonomische Wirkungsanalyse bekannter Institutionen zeigt, dass aufgrund unterschiedlicher Reaktionen der einzelnen Wirtschaftssubjekte auf gesetzliche Regelungen, diese im Einzelfall unterschiedliche Wirkungen entfalten können, so dass absolute Aussagen über die Wirkung einzelner Instrumente nicht möglich sind. Aus gleichem Grund können unterschiedliche Regeln vergleichbare Ergebnisse haben. Insgesamt zeichnet sich aber ab, dass wenigstens Annäherungen an einzelne Ziele mit bestimmten Mitteln besser und mit anderen Mitteln schlechter erreicht werden können, so dass die politische Auswahl bestimmter Regelungen zugleich auch Entscheidungen über die Ziele der Wettbewerbspolitik impliziert. Neben der grundsätzlichen Frage der adäquaten Erfassung von 225 Reaktionen der Wirtschaftssubjekte auf staatliches Handeln finden zu einem Zeitpunkt in einer Umwelt statt, die jener Umwelt, die Anlass für staatliches Handeln war, nicht mehr entspricht. Zwischen dem ursprünglichen, ein Problem auslösenden Handeln und der Verhaltensänderung aufgrund von geänderten staatlichen Regeln liegen die Wahrnehmung des Problems durch staatliche Akteure, die Durchsetzung der angemessenen staatlichen Reaktionen im politischen Prozess und die Implementierung neuer Regeln. Vgl. auch Fritsch; Wein; Ewers (Hrsg.): Marktversagen und Wirtschaftspolitik. S. 293f. und S. 296–305; Homann; Suchanek: Ökonomik. S. 216ff. 226 Doern: Comparative Competition Policy. S. 14. 227 Hay definierte Effizienz in diesem Zusammenhang wie folgt: Effizienz „is the maximization of the sum of the discounted present value of consumer and producer surpluses.“ Hay: The Assessment: Competition Policy. S. 2. 228 Ebd.: S. 1.
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Wettbewerb in einem Markt, der Zieladäquanz der Instrumente, sind auch Zielkonflikte innerhalb der Wettbewerbspolitik und zwischen Wettbewerbspolitik und anderen wirtschaftspolitischen Zielen zu berücksichtigen und zu lösen. Es ist nicht Aufgabe positiver Ökonomik, zu entscheiden, ob der Gewährung optimaler Betriebs- und Unternehmensgrößen zur Ausnutzung von ‚economies of scale‘ und ‚economies of scope‘, von Größen- und Verbundvorteilen in Unternehmen, der Förderung des technischen Fortschritts und damit des Wachstums, der internationalen Wettbewerbsfähigkeit oder anderen politischen Zielen der Arbeitsmarktoder Sozialpolitik der Vorrang gegeben werden soll.229 Die Festlegung der Wettbewerbsnormen und die Umsetzung einer wettbewerbspolitischen Konzeption ist Aufgabe politischer Entscheidungsträger im Rahmen des politischen Systems.230 Herwig Brendel differenzierte drei Gestaltungsebenen, auf denen in politischen Systemen über ein Regelsystem zur Erfassung von Wettbewerbsprozessen entschieden wird. Neben der Ebene der Handlungseinheiten, primär wahrgenommen durch die Wirtschaftssubjekte, differenzierte er im Prozess der Rechtsetzung zwischen der konstitutionellen und der legislativen Ebene. Auf konstitutioneller Ebene werden langfristig geltende Grundsatzentscheidungen im Range von Verfassungsprinzipien getroffen. Hier werden die Rahmenbedingungen für ‚Spielregeln‘ festgelegt und der Verfassungsgeber bindet den Staat an hier getroffene Grundsatzentscheidungen. Auf legislativer Ebene kommt es zur Wahl der konkreten ‚Spielregeln‘, der Wettbewerbsgesetze, durch die Legislative. Mittelfristige Anpassungen der Gesetze an die Reaktionen der Wirtschaftssubjekte werden auf dieser Ebene entschieden. Die Grundlagen für konkrete Wettbewerbspolitik werden hier durch die Festlegung von Verfahren zur Umsetzung und Kontrolle dieser Gesetze gelegt. Hierzu zählt auch die Entscheidung über die Zuständigkeiten für die Anwendung und Durchsetzung der Gesetze. Für die Funktionsfähigkeit von Wettbewerbskonzeptionen und damit von konkreter Wettbewerbspolitik bestimmter Ausprägung sind die Regelsetzungen auf der legislativen Ebene unerlässlich.231 Das Paradoxon erfolgreicher Wettbewerbspolitik, dass bei den skizzierten Entscheidungen auf konstitutioneller und legislativer Ebene beachtet werden muss, liegt darin, dass zum Erhalt und zur Stärkung des Wettbewerbs das Handeln der Wirtschaftssubjekte beaufsichtigt und sie in Ausübung ihrer wirtschaftlichen Macht kontrolliert und eingeschränkt werden müssen. Andererseits trägt gerade diese eingreifende Wettbewerbspolitik erheblich mit zur wirtschaftlichen Gesundheit und Stärke dieser Wirtschaftssubjekte bei.
229 Für die einzelnen Bereiche der Zielabwägung vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 85–116. Als Beispiel für das „öffentliche Interesse“ als Ziel der Wettbewerbspolitik gilt der britische Fair Trading Act. Vgl. Hay: The Assessment: Competition Policy. S. 3f. 230 Vgl. zur Frage normativer oder positiver Wissenschaftsposition bei der Wettbewerbspolitik vgl. Cox; Hübener: Wettbewerb. S. 21–26. Allgemein zum Verhältnis positiver und normativer Wirtschaftspolitik vgl. Giersch: Allgemeine Wirtschaftpolitik. S. 27–30 und S. 42–46. 231 Vgl. Brendel: Wettbewerbspolitsche Konzeptionen. S. 90–94.
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B.5 ZUSAMMENFASSUNG Auf der einen Theorieseite dieser Studie steht die positive Sozialwissenschaft, die explizit Hypothesen verwendet, um menschliches Verhalten zu erklären. Auf der anderen Seite steht die Geschichtswissenschaft, mit der das ‚Verstehen‘ des Handelns der Akteure zum Ziel der Arbeit wird. Mit der Zusammenfügung beider Ansätze sollen Aussagen über das Handeln der gestaltenden Akteure bei den grundlegenden Entwicklungen der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik möglich werden und die Spannung zwischen Wissen und Unwissen gelöst werden. Die methodische und theoretische Basis wurde dargelegt, um im historischen Teil empirisches Material am Maßstab der durch die Theorie ausgewählten Determinanten zu bewerten und zu erklärenden Aussagen über den historischen Prozess zu gelangen.232 Theorien, Generalisierungen und Begriffe dienen als selektives Muster, um Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Der dabei offen und bewusst eingenommene selektive Standpunkt, der zur Erklärung von Ereignissen und Regelmäßigkeiten beitragen soll, wurde offen gelegt. Klar ist, dass das Ziel dieses Vorgehens ex-post Erklärungen sind und dass der Nutzen sowohl hier dargelegter wie auch anderer sozialwissenschaftlicher Theorien für Vorhersagen grundsätzlich bezweifelt werden muss und prinzipiell gering ist.233 Die Herausarbeitung von Irregularitäten oder Modifikationsnotwendigkeiten des theoretischen Rahmens zur Erklärung des historischen Phänomens und verwandter Phänomene in Vergangenheit und Zukunft kann erst am Ende stehen. Der methodologische Individualismus dient dazu, als Grundannahme menschlichen Handelns die Handlungen der Akteure nach bestimmtem Muster zu strukturieren und auf diesem Wege die Komplexität menschlichen Daseins zu reduzieren. Die Prämissen und Bestimmungsfaktoren, unter denen der eigennutzorientierte Akteur modelliert wird, sind offen gelegt worden. Der eingeschränkt rational handelnde Mensch auf Basis des methodologischen Individualismus ist Grundlage der Wirtschaftswissenschaften, der Wettbewerbstheorie und auch der politikwissenschaftlichen Theorie des Liberalen Intergouvernementalismus. Somit entspricht dieses Muster nicht nur den beiden Kategorien der ‚Logik der Sozialwissenschaften‘, „Annäherung an die Wahrheit“ und „Erklärungskraft oder Erklärungsgehalt“234, sondern ist konsistent, dem Untersuchungsgegenstand gegenüber
232 Thomas Welskopp sah in der Tradition Max Webers stehend den Wert dieses Vorgehens darin, dass „‚Instrumenteller Theoriegebrauch‘ als Verpflichtung zur quellennahen Plausibilitätssicherung und zur Kategorienmodifikation als Gegengift zur hermeneutischen Begriffsdrechselei“ nützlich sei. Vgl. Welskopp, Thomas: Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft. In: GuG 24 (1998). S. 173–198. S. 187. Zum Gebrauch von Theorie in der Geschichtswissenschaft allgemein vgl. ders.: Stolpersteine auf dem Königsweg. In: AfS 35 (1995). S. 339–367. S. 364f. 233 Vgl. Hayek: Theorie der komplexen Phänomene. S. 303ff. 234 Vgl. Popper: Logik der Sozialwissenschaften. S. 118f.
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angemessen und fügt sich in die bekannten Erklärungsansätze zur kooperativen Interaktion von Staaten ein. Der Liberale Intergouvernementalismus Moravcsiks bietet zur Analyse der Entstehung und Ausgestaltung gesellschaftlicher Institutionen bei interessengeleiteter Kooperation von Staaten im Rahmen der europäischen Integration ein Erklärungsmuster. Regeln und Institutionen sind im Modell das Ergebnis der Handlungen rationaler Akteure zur Ertragssicherung von Kooperation. Diese wird aufgrund ökonomischer Interdependenzen von Staaten und Volkswirtschaften nachgefragt und zur Entwicklung des nationalen Wohlstands von rationalen Regierungen demokratisch-pluralistischer Staaten angestrebt. Die Analyse geht im Einklang mit dem methodologischen Individualismus vom Individuum zur Institution und untersucht schrittweise die Handlungen der beteiligten Akteure, um Ursachen und Wurzeln einzelner Institutionen zu ergründen. Im klaren dreistufigen Vorgehen wird zunächst die nationalen Präferenzen nach Kooperation ermittelt, sodann die Regierungsverhandlungen über potentielle Zusammenarbeit untersucht und zuletzt die Wahl möglicher institutioneller Ausgestaltungen zur Sicherung von Kooperationsinhalten entschlüsselt. Dabei werden zunächst die Nachfrageseite und die Angebotsseite internationaler Kooperation untersucht und im letzten Schritt analysiert, welche Strukturen zum gegebenen Zeitpunkt zum dauerhaften Ausgleich von Angebot und Nachfrage führen. Die Kritik, dass bei der Anwendung rationalistisch-theoretischer Ansätze allgemein das Verhalten und Handeln von interdependenten Akteuren in bestimmten Situationen zunächst als gegeben angenommen und deren Ziele nicht einer kritisch normativen Prüfung unterworfen würden, ist gegenstandslos. Explizites Ziel der Verwendung von Modellen ist es, Erklärungen für Handlungen zu bieten, und nicht, diese Handlungen zu bewerten. Normative Analysen und Diskurse können und sollen weitestgehend getrennt bleiben vom empirisch-analytischen Erklärungsanspruch. Wenngleich in der Realität anzutreffendes irrationales Handeln mit diesem Analysemuster nicht erklärbar wird, so bietet das auf dem methodologischen Individualismus basierende Modell doch eine Blaupause rationalen Handelns, um irrationales Handeln zu identifizieren. Auch bei eingeschränkter Rationalität der Akteure wird eine Welt vollständiger Ungewissheit „in which the future consequences of actions are unknown and governments are incapable of conducting consistent, rational policies“235 als wirklichkeitsfremd abgelehnt werden müssen. Gerade im sozialen Umfeld der internationalen Politik, das sich durch Wertschätzung für strategisches Handeln auszeichnet, ist davon auszugehen, dass der Großteil abhängiger Variablen mit dem rationalistischen sozialwissenschaftlichen Erklärungsmodus zu analysieren ist.236 Mit Moravcsik und Zürn wird Geschichte als das Ergebnis intentionaler menschlicher Handlungen verstanden, die prinzipiell durch die Kombination qualitativer Forschungsmethoden mit einem formali235 Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 626. 236 Handlungssituationen, die keine oder genau zwei oder mehrere rationale Lösungen haben, bedürfen im Einzelfall der Erklärung mit anderen, verwandten Erklärungsansätzen. Vgl. Zürn: Interessen und Institutionen. S. 129f.
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sierten Methodenarsenal offen gelegt werden können. Damit wird nicht bestritten, dass Geschichte nicht auch durch unbeabsichtigte Folgen zweckgerichteten Handelns beeinflusst ist. Aber „the EC is no accident“, sondern als Struktur und Institution das Ergebnis vorsätzlicher Anstrengungen von rationalen Akteuren, so dass die Untersuchung der Ziele und Präferenzen dieser Akteure am Anfang stehen muss.237 Aus der Gesamtmenge der durch die europäische wirtschaftliche und infolgedessen auch politische Integration entstandenen Institutionen, ist europäische Wettbewerbspolitik im Rahmen der Gründung eines gemeinsamen Marktes Gegenstand dieser Studie. Wettbewerb selbst, als Entdeckungsverfahren verstanden, fördert Wohlstand und verhindert die Verfestigung von Machtstrukturen. Ein freier, nicht durch private Strategien behinderter Wettbewerb trägt dazu bei, dass die Verteilung der Markteinkommen unabhängig von politischer und wirtschaftlicher Macht nicht nach politisch normativ festgelegten Kriterien geschieht. Hierzu bedarf es der bewussten gesellschaftlichen Entscheidung, dem Wettbewerb als Prinzip ökonomischer Austauschprozesse Raum zu geben und ihn in seiner Existenz zu schützen, da Wettbewerb von jeher im Zeitablauf kurz- und mittelfristig seine Funktionen nicht erfüllen kann, wenn er den prinzipiell risikoaversen Akteuren überlassen bleibt. Da Wettbewerb, verstanden als Konkurrenz- und Parallelkampf, somit nur unter bestimmten, durch die Gesellschaft gesetzten und staatliche kontrollierten Rahmenbedingungen als Prinzip der Wirtschaftsordnung dazu beitragen kann, dass durch die effiziente Resourcenallokation die Knappheit von Gütern und Dienstleistungen geringer wird und größtmögliche Diffusion von Wissen zum Wohlstand der Gemeinschaft entsteht, wurden hier einleitend Theorien, Leitbilder und Begriffe der Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik erläutert, die Entscheidungsgrundlage für eine solche Entscheidung sein kann. Sowohl die Entscheidung für Wettbewerb als Prinzip der Wirtschaftsordnung als auch die Entscheidung für bestimmte Ansätze, um wettbewerbsbehinderende Strategien von Unternehmen durch den Staat zu verhindern, können in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften nur über den politischen Entscheidungsweg getroffen werden. Bei prinzipieller Übereinstimmung in den Wirtschaftswissenschaften über die Auswirkungen wettbewerbsbehindernder Unternehmensstrategien für den Wettbewerb, besteht im Detail weder Einigkeit über die Auswirkungen einzelner wettbewerbsbeeinträchtigender Strategien auf den Wettbewerb noch über die Wirkungen von Instrumenten zur Erfassung und Verhinderung von privaten und staatlichen Wettbewerbsbehinderungen. Hohe Übereinstimmung, wenn auch keine völlige Einigkeit, besteht bei der Beurteilung horizontaler Verhandlungsstrategien, den Kartellen. Stärker differenziert wird bereits bei den Behinderunsgstrategien. Aufgrund der Relevanz von ‚economies of scale‘ und ‚economies of scope‘ bei Forschung und Entwicklung werden die Auswirkungen der Konzentrationsstrategien bis heute intensiv diskutiert. Kooperationen großer Konzerne und Fusionen werden unter diesen Aspekten in der Wirtschaftswissen237 Moravcsik: Liberal Intergovernmentalism and Integration. S. 626. Vgl. auch Zürn: Interessen und Institutionen. S. 125f.; Welskopp: Sozialgeschichte der Väter. S. 179.
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schaft wettbewerbspolitisch unterschiedlich bewertet. Allgemein gültige und eindeutig anerkannte Ursache-Wirkungs-Ketten sind für alle unternehmerischen Wettbewerbsstrategien nicht vorhanden, so dass die rationale, politische Entscheidung gegen den Laissez-faire-Ansatz und gegen den Verstaatlichungsansatz und für den Struktur- und/oder Regulierungsansatz zahlreiche weitere wettbewerbspolitische Entscheidungsnotwendigkeiten verursacht. Einzelinstrumente, ihre möglichen Kombinationen und die punktuelle Verwendung bei verschiedenen Formen wettbewerbsbehindernder Unternehmensstrategien müssen im Rechtsstaat gesetzlich festgelegt werden, wobei auch die Nichtkodifizierung als wettbewerbspolitische Entscheidung zu werten ist. Vor dem Hintergrund dieses begrifflichen und theoretischen Überblicks sollen Diskussionen und Beschlüsse der Entscheidungsträger der sechs westeuropäischen Staaten über die Festlegung von Wettbewerbsnormen und die Einigung auf die Wettbewerbspolitik der sechs westeuropäischen Staaten im Rahmen der Verhandlungen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft untersucht werden. Bevor Einigungen auf europäischer Ebene nachgezeichnet werden, sollen zunächst Entwicklungen, Ziele und Ausprägungen nationaler Wettbewerbspolitik durch Regeln, Methoden, Institutionen und nationale wettbewerbspolitische Traditionen bis Mitte der 1950er Jahre analysiert werden.
C DIE NATIONALE UND INTERNATIONALE WETTBEWERBSUND KARTELLPOLITIK – TRADITIONEN UND ENTWICKLUNGEN BIS MITTE DER 1950ER JAHRE C.1 DIE NATIONALE WETTBEWERBS- UND KARTELLPOLITIK DER SECHS VERTRAGSSTAATEN ALS BASIS NATIONALER PRÄFERENZEN Der Zeitraum zwischen der Weltwirtschaftskrise 1929 und den späten 1980er Jahren ist hinsichtlich nationaler Wirtschaftsordnungen und der darin zugestandenen Stellung des Wettbewerbs als Leitlinie von Wirtschaftspolitik als gesamteuropäische Übergangsphase zu betrachten. In diesem Zeitraum wandelte sich die Einstellung gegenüber Kartellen von allgemeiner Akzeptanz hin zu kritischer Beobachtung, Ablehnung und ‚Bekämpfung‘ durch aktive Wettbewerbspolitik. Die Weltwirtschaftskrise hatte mit dazu beigetragen, dass liberale Ideen zunehmend diskreditiert waren. Nicht nur in Deutschland und nicht erst während des Zweiten Weltkriegs schlug das Pendel zwischen freier Wettbewerbswirtschaft und Staatswirtschaft vielerorts zunächst in Richtung staatlicher Planung und Lenkung der Wirtschaft. Folge waren häufig nicht nur Verstaatlichungen und Eingriffe in Rohstoffbeschaffung und Absatz privater Unternehmen, sondern ebenso die Förderung, wenn nicht gar die staatliche Initiierung und Stützung von Kartellen. Nicht nur in Deutschland entstanden so mächtige Kartelle, sondern auch in Frankreich, Italien, Belgien und den Niederlanden sowie in Großbritannien. Alle Staaten, die Jahre später die EWG gründen sollten, führten die Möglichkeit zur Zwangskartellierung von Branchen per Gesetz ein, machten davon allerdings unterschiedlich Gebrauch. Die in den 1920er Jahre ohnehin vorhandene Tendenz zur Kartellisierung und Vermachtung von Märkten wurde nun allerorts nicht nur geduldet, sondern durch Rechtsetzung in staatlich legitimierte Bahnen gelenkt und zum Teil sogar staatlich gefördert. Nach 1945 wurden jedoch unterschiedliche nationale Wege eingeschlagen, die entweder radikale Brüche oder die Fortsetzung traditioneller Wege mit jahrelangen, langsamen Transformationen der Wirtschaftspolitik hin zur Orientierung am Prinzip des freien Wettbewerbs bedeuteten. Gleichzeitig entwickelten sich die Gesellschaften Westeuropas nach 1945 unabhängig von ihrer Geschichte und Tradition mit unterschiedlichen nationalen Ausprägungen in Richtung ökonomisch interdependenter Marktwirtschaften und politisch pluralistischer Demokratien. Zudem war der Wiederaufbau eines funktionierenden Weltwirtschaftssystems schon bald wesentliches Ziel nationaler und internationaler Politik gewesen, wie der Aufbau der Institutionen von Bretton Woods 1944, der Organization for European Economic Cooperation (OEEC) 1948, der Europäischen Zahlungsunion (EZU) 1950 und der EGKS 1952 zeigte.
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Auch wenn bei diesen Organisationsgründungen sicherheitspolitische Aspekte sowohl aus den Erfahrungen des vergangenen Weltkriegs als auch hinsichtlich des aufkommenden Kalten Kriegs nicht übersehen werden dürfen, waren für deren Gelingen, aber auch ihr partielles Scheitern, vor allem nationale ökonomische Präferenzen relevant. In diesem Rahmen wurde nach 1945 auch die Wettbewerbspolitik immer mehr von einem nationalen zu einem internationalen Politikgestaltungsfeld. Erste Ansätze einer internationalen Wettbewerbsordnung finden sich in der Havanna-Charta von 1944, dem ersten, fehlgeschlagenen Ansatz einer Welthandelsordnung. Sowohl bei den Verhandlungsrunden zum General Agreement on Trade and Tariffs (GATT), dem einzigen Überbleibsel der Havanna-Charta, als auch im Rahmen der OEEC, die Anfang der 1960er Jahre das ‚Commitee on Competition Law and Policy‘ schuf, blieben Wettbewerb und Wettbewerbsverzerrungen ein Thema. Im Zentrum stand aber vor allem der Abbau zwischenstaatlicher Handelsdiskriminierungen. Private Wettbewerbsbehinderungen fanden nur geringe Aufmerksamkeit. Der Ausbau des Welthandels und die wachsenden ökonomischen Interdependenzen wurden in der Wirtschaft und in den Regierungen zunehmend als Chance wirtschaftlicher Entwicklung gesehen, so dass die nationale Nachfrage nach internationaler Kooperation wuchs. Mit dem forcierten Abbau tarifärer und nichttarifärer Handelsschranken wuchs der internationale Konkurrenzdruck auf die Unternehmen und damit das Bestreben, wettbewerbsbeeinträchtigende Strategien anzuwenden. Länderübergreifendes Wettbewerbsrecht und internationale Wettbewerbspolitik gewannen Bedeutung, um private Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern. Handelspolitik, als Politik staatlicher Förderung des nationalen privaten Handels, und Wettbewerbspolitik, als Politik staatlicher Einschränkung jeglicher freier privater Handels- und Wirtschaftsaktivitäten, gerieten so in Konflikt zueinander. Unterschiedliche wirtschaftspolitische Präferenzen der Staaten bewirkten langfristig eine zunehmende Politisierung der nationalen Handelspolitik zwischen den Staaten. Im Analysemodell des Liberalen Intergouvernementalismus ist auf der ersten Untersuchungsebene die Entstehung nationaler Präferenzen für Kooperation zu prüfen. Die vielschichtigen Prozesse nationaler Interessenformulierung in den verschiedenen politischen Systemen der sechs Staaten sollen hier nicht en Detail nachvollzogen werden. Dies gilt für die Artikulation der Nachfrage nach stärker geordneter und gleichzeitig offenerer Weltwirtschaft, nach mehr internationaler Kooperation in Westeuropa, zum Beispiel durch die Gründung eines gemeinsamen Marktes, und nach einer bestimmten Wettbewerbsordnung in einem solchen Markt. Stattdessen wird den Thesen und Ergebnissen Moravcsiks bei der Frage der Interessendurchsetzung einzelner sozialer Gruppen als nationale Interessen gefolgt. Demnach haben wirtschaftliche Produzentengruppen in liberal-pluralistischen demokratischen Staaten die größten Chancen ihre Interessen an internationaler Kooperation als nationale Präferenzen durchzusetzen. Dies gilt jedoch auch für deren Interessendurchsetzung bei der nationalen Politikgestaltung. Auf dieser Basis sollen die nationalen Kartell- und Wettbewerbsgesetzgebungen und -politi-
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ken der sechs westeuropäischen Staaten Mitte der 1950er Jahre als Ergebnis abgeschlossener nationaler Ideen- und Interessenwettbewerbe und damit als Ausdruck nationaler Präferenz gewertet werden. Die jeweilige Ausgestaltung nationaler Wettbewerbspolitik wird in Anlehnung an Moravcsik als Indiz für die Durchsetzungsstärke nationaler Produzentengruppen im nationalen Politikformulierungsprozess und damit auch als Anhaltspunkt für die Durchsetzungsmöglichkeiten dieser Präferenzen beim Aufbau einer internationalen Wettbewerbsordnung herangezogen.1 Übertragen auf die nationalen Präferenzen für eine internationale Kartell- und Wettbewerbspolitik wird davon ausgegangen, dass die nationalen Wirtschaftssubjekte eine umso höhere Präferenz für eine spezifische Wettbewerbsordnung haben, je geringer die Abweichungen von der jeweiligen nationalen Wettbewerbsordnung sind. Abweichungen nach unten, im Sinne von weniger in die wirtschaftlichen Freiheiten einschneidenden Wettbewerbsregeln, werden sich hingegen kaum negativ auf die Zustimmung zu einer möglichen internationalen Wettbewerbspolitik auswirken. Nationale Regierungen, die an ihrer Wiederwahl interessiert sind, werden sich bei den Verhandlungen über eine internationale Wettbewerbsordnung an diesen nationalen Präferenzen orientieren. Unter diesen Annahmen werden nationale Traditionen und Entwicklungen der Wettbewerbs- und Kartellpolitik, bestehende Rechtsordnungen und Entwicklungen der Rechtsnormen sowie in geringem Umfang deren Anwendung und die Rechtsprechung als Ausdruck nationaler Präferenzen für eine gemeinschaftliche Wettbewerbs- und Kartellpolitik gewertet. Diese Determinanten werden für die Bundesrepublik Deutschland, für Frankreich, die Niederlande, für Italien, Belgien und Luxemburg analysiert. Nicht nur die Wettbewerbspolitik eines Stichtages oder Jahres kann Grundlage für diese Einordnung sein, sondern auch lange Traditionslinien vor 1955, dem Jahr des Beginns der Gespräche über eine Wirtschaftsgemeinschaft. Nationale Entwicklungen der folgenden Jahre werden angeschnitten, um eine abgerundete Annäherung an nationale Präferenzen für Wettbewerbspolitik zu erreichen. Dabei werden die vorhandenen wettbewerbspolitischen Normen bzw. Leitbilder, die wettbewerbspolitischen Ansätze und Instrumente zur Erfassung und Verhinderung wettbewerbsbeeinträchtigender Strategien, die damit verbundenen Entscheidungsmaßstäbe zum Eingriff, die Verantwortlichkeiten bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts und die Stellung der in diesem Prozess entscheidenden Institutionen im nationalen Institutionengefüge sowie der Entscheidungsprozess selbst und die rechtliche Grundlage von Entscheidungen als Unterscheidungsmerkmale dienen.
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In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass ineffektive Wettbewerbspolitik aufgrund der Verfolgung von Wettbewerbszielen mit unpassenden Instrumenten weniger auf die Unfähigkeit und Unkenntnis der Instrumente zurückzuführen ist, sondern eher auf starke Durchsetzungskraft von Interessengruppen beim Politikgestaltungsprozess. Vgl. Schmidt: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. S. 166.
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C.1.a Bundesrepublik Deutschland Kartell- und Wettbewerbspolitik hat in Deutschland eine lange Geschichte mit unterschiedlichen Ausprägungen. Obwohl diese lange Zeit von der Abstinenz staatlicher Verteidigung des Wettbewerbs geprägt war, die Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert hinein den Ruf als ‚Land der Kartelle‘ eintrug, hat die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema bei Praktikern und Wissenschaftlern der Ökonomie und der Rechtswissenschaft eine lange Tradition.2 Wenn der Präsident des Bundeskartellamtes Ulf Böge im September 2002 fragte, ob „Deutschland wieder ein Lande der Kartelle“ wäre, zeigt dies die historische Sensibilität bei der Behandlung von Kartellen, Syndikaten und anderen den Wettbewerb beschränkenden Aktivitäten bis auf den heutigen Tag.3 Nach dem Aufschwung der deutschen Wirtschaft ab den 1860er Jahren nahm spätestens in den 1870er Jahren die Neigung der Unternehmer zu wettbewerbsmildernden und -beschränkenden Strategien zu. 1897 bestätigte der Reichsgerichtshof im Fall des Sächsischen Holzstoffkartells grundsätzlich die Rechtmäßigkeit von Kartellen und stellte fest, dass sie nicht im Widerspruch zur Gewerbefreiheit standen.4 Damit räumte er der Vertragsfreiheit grundsätzlich Vorrang vor 2
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Zu Kartellen und Kartellpolitik in Deutschland bis 1945 vgl. Lehnich, Oswald: Die Wettbewerbsbeschränkung. Eine Grundlegung. Köln, Berlin 1956; Metzner, Max: Die Kartellpolitik in Deutschland. In: Jahn; Junckerstorff (Hrsg.): Internationales Handbuch der Kartellpolitik. S. 89–155. S. 92–115; Holzschuher, Veit: Soziale und ökonomische Hintergründe der Kartellbewegung. Erlangen 1962. S. 139–188; Maschke, Erich: Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914 (Vortragsreihe der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e.V. 10). Dortmund 1964; Möschel, Wernhard: 70 Jahre deutsche Kartellpolitik. Von RGZ 138, 155 ‚Sächsisches Holzstoffkartell‘ zu BGHZ 55, 104 ‚Teerfarben‘ (Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze 37). Tübingen 1972. Als knappe Darstellung, die Bezüge zu den Denkweisen der jeweiligen Zeit darstellt, vgl. Isay, Rudolf: Die Geschichte der Kartellgesetzgebung. Berlin 1955; Voigt, Fritz: German Experience with Cartels and their control during per-war and post-war periods. In: Miller (Hrsg.): Competition, Cartels and their Regulation. S. 169–213. S. 169–187; Wengenroth, Ulrich: Die Entwicklung der Kartellbewegung bis 1914. In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 15–27. Herrmann, Klaus: Die Haltung der Nationalökonomie zu den Kartellen bis 1914. In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 42–50.Pohl, Hans: Die Konzentration in der deutschen Wirtschaft vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1945. In: Pohl; Treue (Hrsg.): Die Konzentration in der deutschen Wirtschaft. S. 4–44. Böge: Bekommt das Wettbewerbsprinzip Konkurrenz? S. 12. Vgl. Möschel: 70 Jahre deutsche Kartellpolitik. S. 5–22. Die Zulässigkeit fand später nur ihre Schranken im bürgerlichen Recht (vor allem § 826) und im Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, später Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). Hierzu vgl. Reimer, Dietrich: Deutschland. (Das Recht des unlauteren Wettbewerbs in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Gutachten erstattet im Auftrag der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Markenrecht der Universität München, Bd. III. Hrgs. von Eugen Ulmer). München 1968. Für die Frühgeschichte und historische Grundlagen der Entscheidung des Reichsgerichtshofes vgl. auch Evers, Marc: Die institutionelle Ausgestaltung von Wirtschaftsordnungen. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung im Lichte des Ordoli-
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der Wettbewerbsfreiheit als Element der Gewerbefreiheit ein. Der Reichsgerichtshof habe damit der Aushöhlung der gerade erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts deutschlandweit durchgesetzten Errungenschaft ‚Gewerbefreiheit‘ durch Kartelle den Weg geebnet, urteilte Franz Böhm 1948. Er beanstandete, dass diese wegweisende Entscheidung des Reichsgerichts in Überschreitung seiner gerichtlichen Befugnisse nicht auf die Auslegung geltenden Rechts gestützt war, sondern auf „wirtschaftliche oder wirtschaftspolitische Überlegungen.“5 Obwohl diese Entscheidung später oft kritisiert wurde, entsprach sie der damals vorherrschenden ökonomischen, juristischen und politischen Meinung über die Rolle und Funktion von Kartellen in der Wirtschaft.6 Konsequenz dieser Entscheidung war die massive Zunahme von Kartellen in der Schwerindustrie sowie in der Chemie- und Steine- und Erdenbranche bis in die 1920er Jahre hinein und eine Prägung der deutschen Wirtschaftsordnung und ihrer Akteure über rund ein Vierteljahrhundert.7 Intensive Auseinandersetzungen über die negativen Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen auf dem Markt führten ab 1907 und dann verstärkt ab 1920 zu Forderungen nach einer Beschränkung von Kartell- und Monopolmacht.8 Die preistreibende Wirkung von wettbewerbsbeschränkenden Praktiken wurde zunehmend erkannt und mündete in Forderungen nach gesetzlichen Regelungen, deren erstes, aus heutiger Sicht dürftiges, Ergebnis
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beralismus und der Neuen Institutionenökonomik (Schriften zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts 47). Berlin 2003. S. 98–101. Vgl. Böhm: Das Reichsgericht und die Kartelle. S. 206f. Vgl. Möschel: 70 Jahre deutsche Kartellpolitik. S. 5–22. Barnickel vertritt die Position, dass die Reichsgerichtshofentscheidung im Licht damaliger auch wirtschaftswissenschaftlicher Diskussionen über Kartelle ihre Berechtigung hat. Vgl. Barnickel, Hans-Heinrich: Kartelle in Deutschland. Entwicklung, theoretische Ansätze und rechtliche Regelungen. In: Barnikel (Hrsg.): Theorie und Praxis der Kartelle. S. 1–64 S. 40. Röper kommt bei der Analyse des behaupteten Sachverhaltes „ruinöse Konkurrenz“ zu einem vorsichtigeren Urteil und zeigt zeitgenössische wirtschaftspolitische Handlungsoptionen auf: Vgl. Röper, Burkhardt: Der wirtschaftliche Hintergrund der Kartell-Legalisierung durch das Reichsgericht 1897. In: ORDO 3 (1950). S. 239–250. Vgl. auch Nörr, Knut Wolfgang: Die Leiden des Privatrechts. Kartelle in Deutschland von der Holzstoffkartellentscheidung zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 11). Tübingen 1994. S. 8ff und S. 15. Allgemein zur Kartellgeschichte und -politik in Deutschland bis 1914 sei verwiesen auf einige Beiträge in Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. Grundlegend noch heute zur Entwicklung im Kaiserreich vgl. Blaich: Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Barnickel wendete ein, dass neben der Kartell- auch die Konzentrationsentwicklung in Deutschland als Form der Wettbewerbsbeschränkung auftrat, die aber auch positive Effekte im Rahmen des wirtschaftlichen Aufschwungs um die Jahrhundertwende hatte. Vgl. auch: Barnikel, Hans-Heinrich: Die Konzentrationspolitik nach 1945. In: Pohl; Treue (Hrsg.): Die Konzentration in der deutschen Wirtschaft. S. 54–73. S. 56. Zur quantitativen Entwicklung vgl. Barnikel: Kartelle in Deutschland. S. 13; Fischer, Wolfram: Bergbau, Industrie und Handwerk 1914–1970. In: Aubin; Zorn (Hrsg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 2. S. 796–843. S. 811. Vgl. Blaich: Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. S. 126-152; Ders.: Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945 (Wissenschaftliche Paperbacks Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 14). Wiesbaden 1979. S. 45ff. und 69f.
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die Kartellverordnung, die „Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen“ vom 2. November 1923, war. Sie beinhaltete weder ein Kartellverbot noch sah sie staatliche Handhabungen zur Auflösung von Kartellen vor. Lediglich der Missbrauch von Kartellmacht im Hinblick auf Preisfestsetzung und die Vereinbarung von Strafen innerhalb von Kartellen wurden verboten. Beide Ziele wurden aber nur unvollkommen erreicht, nicht zuletzt weil entsprechend der angeführten Reichsgerichtsentscheidung der Vorrang von privatrechtlichen Verträgen gegenüber Wettbewerbsbeschränkungen unangetastet blieb.9 Mit der rechtlichen Regelung von Kartellvereinbarungen und vor allem der Erleichterung fristloser Kündigungen von Kartellverträgen war man neue Wege gegangen und hoffte, Kartelle von innen heraus zu destabilisieren. Ein neu gegründetes Kartellgericht entschied über Streitfälle in erster und letzter Instanz.10 Die dem Missbrauchsprinzip folgende gesetzliche Kartellaufsicht scheiterte in der Umsetzung daran, dass die Kartellbehörde in Verdachtsfällen beweispflichtig war und die Gefährdung des „Gemeinwohls“ oder der „Gesamtwirtschaft“ durch das Handeln eines oder mehrerer Unternehmen nachweisen musste, was einem „Kampf gegen Windmühlenflügel“ gleichkam.11 Einen Systemwechsel bedeutete die Kartellverordnung von 1923 daher nicht. Sie konnte die Kartellierung der deutschen Wirtschaft in den 1920er Jahren nicht verhindern. Die Notwendigkeit zur Reform der Kartellverordnung wurde zwar zunehmend erkannt, jedoch verhinderten die Weltwirtschaftskrise und die Machtübernahme der Nationalsozialisten zu Beginn der 1930er Jahre den Abschluss des bereits begonnenen Reformprojekts.12 Mit der dirigistischen Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten wurden Kartelle und Syndikate bald Instrumente gelenkter Wirtschaftspolitik. Bereits am 15. Juli 1933 wurde mit dem ‚Gesetz über Errichtung von Zwangskartellen‘ die Möglichkeit geschaffen, Branchen zwangsweise zu Kartellen zusammenzuschließen oder Außenseiter in Kartelle zu zwingen. Durch das ‚Gesetz über Änderung der Kartellverordnung‘ vom gleichen Tag erhielt der Wirtschaftsminister das Recht, Kartelle und deren Beschlüsse für nichtig zu erklären und auch bestimmte Handlungen zu untersagen. Mit der zunehmenden Bewirtschaftung der Produktion und des Handels wurden einige Jahre später Kartelle, Syndikate und Verbände
9 Vgl. Barnickel: Kartelle in Deutschland. 41ff. 10 Vgl. Metzner: Kartellpolitik in Deutschland. S. 100. 11 Bethusy-Huc, Viola Gräfin von: Demokratie und Interessenpolitik. Wiesbaden 1962. S. 38. Böhm weist darauf hin, dass auch hier das Urteil des Reichsgerichts von 1897 nachwirkte, welches von Verteidigern des Kartells gegen den beklagten Außenseiter keinerlei Nachweis über die wirtschaftliche Notwendigkeit zur Beschränkung des Wettbewerbs forderte. Vgl. Böhm: Reichsgericht und Kartelle. S. 208f. 12 Vgl. Bremer, Klaus J.: Die Kartellverordnung von 1923. Entstehung, Inhalt und praktische Anwendung. In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 111–126. S. 125f. Zur breiten Beschäftigung der zeitgenössischen Forschung der Weimarer Republik und der quantitativen Entwicklung der Kartelle seit 1865 vgl. Wagenführ, Horst: Kartelle in Deutschland. Nürnberg 1931. S. IXf. und S. XIIIf.
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immer mehr zu Trägern öffentlicher Aufgaben und zu Agenturen der staatlichen Planwirtschaft.13 Die nach 1945 einsetzenden Arbeiten an einem Gesetz zur Sicherung des Wettbewerbs waren von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Der Wille der Alliierten, die die Strukturen der deutschen Wirtschaft und der kartellierten Großindustrie als mitverantwortlich für Krieg und Nationalsozialismus ansahen, zu Dekartellierung und Entflechtung drückte sich schon im Mai 1945 in der JCS-Direktive 1067 aus. Diese Zielsetzung wurde im August 1945 im Potsdamer Abkommen in den wirtschaftlichen Grundsätzen erneut festgehalten.14 Mit der ‚destruktiven‘ Sicherheitspolitik der Zerschlagung der deutschen Industriestrukturen sollte erreicht werden, dass Deutschland nie wieder als Friedensstörer in Europa in Erscheinung treten könne. Dieses Bestreben wurde auch im Abkommen von Yalta im Februar 1945 festgelegt und prägte die gemeinsame alliierte Politik der ersten Nachkriegsjahre.15 Die rechtliche Basis für die Entflechtungs- und Dekartellierungsmaßnahmen wurde in den westlichen Besatzungszonen am 28. Januar 1947 für die amerikanische und die britische Zone mit dem Gesetz Nr. 56 der amerikanischen und der gleichlautenden Verordnung Nr. 78 der britischen Militärregierung gelegt.16 Für die französische Zone galt ab dem 9. Juni 1947 die Verordnung Nr. 96 des Militärbefehlshabers der französischen Besatzungszone.17 Alle drei Verordnungen erklärten Kartelle für illegal und verboten außerordentliche Konzentration.18 Jedoch wurden sie weniger für Kartelle, auf die Unternehmer in der Phase wirtschaftlichen Aufbaus und Aufschwungs kaum als Strategien zurückgriffen, als für die Entflechtung der Konzerne relevant. 19
13 Vgl. Metzner, Max: Die deutsche Kartellpolitik von 1933–1945. In: WuW 4 (1954). S. 227– 232; ders.: Kartellpolitik in Deutschland. S. 112–115; Pöting, Annette: Die Kartellgesetzgebung als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung im Zeitalter des Nationalsozialismus (Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftsgeschichte 13). Köln 2006. S. 50–74 und 161f. 14 Vgl. Rowedder, Heinz: Kartellrecht. Texte der jetzt in der Bundesrepublik und in West-Berlin geltenden Bestimmungen einschließlich der Texte zum Kartellrecht der Montanunion. Heidelberg 1954. S. 61; Murach-Brand, Lisa: Antitrust auf deutsch. Der Einfluß der amerikanischen Alliierten auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) nach 1945 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 43). Tübingen 2004. S. 34–41. 15 Vgl. Bock, Heinrich Karl; Korsch, Hans: Germany I. Decatelization and Deconcentration in the West German Economy since 1945. In: Friedmann (Hrsg.): Anti-Trust Laws. S. 138–175. S. 141f. 16 Die nahezu gleichen Texte vgl. Rowedder: Kartellrecht. S. 5–9. Vgl. auch Schulz, Günther: Die Entflechtungsmaßnahmen und ihre wirtschaftliche Bedeutung. In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 210–222. S. 210ff.; Wank, Rolf: Die Alliierten Entflechtungsmaßnamen. Politische und juristische Aspekte. In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 202–208. S. 203. 17 Text vgl. Rowedder: Kartellrecht. S. 31–33. 18 Vgl. Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. S. 71–78. 19 Zu Dekonzentration und Entflechtung vgl. Bock; Korsch: Germany I. Decatelization and Deconcentration. S.149–173; Lehnich: Wettbewerbsbeschränkung. S. 465–472; Rasch, Harold: Wettbewerbsbeschränkungen, Kartell- und Monopolrecht. Kommentar zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. 2. neubearb. Aufl. Herne, Berlin 1958. S. 5f.; Schulz:
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Neben den alliierten Maßnahmen der Entflechtung und Dekartellierung der deutschen Wirtschaft und der amerikanischen Politik, dem Anti-Trust-Ansatz der US-amerikanischen Wettbewerbspolitik weltweit Geltung zu verschaffen, gab es in Deutschland starke Strömungen, die sich für eine aktive Wettbewerbspolitik und damit gegen Kartellierung und Marktbeeinflussung durch Großindustrie und Monopole einsetzten.20 Die Wettbewerbspolitik nach 1945 begann praktisch bei Null, denn sie war eine bewusste Abkehr von der bisherigen Wettbewerbspolitik in Deutschland. Aus unterschiedlichen Gründen wollte man nicht an Gesetze der vornationalsozialistischen Zeit anschließen, wie dies in vielen anderen Bereichen geschah.21 Unabhängig vom Einfluss der Anti-Trust Ansätze der Amerikaner hatte sich die Bewertung von Kartellen und Wirtschaftskonzentration gewandelt. Aus der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, besonders aus der ordoliberalen Freiburger Schule, kamen beachtenswerte wettbewerbstheoretische und ordnungspolitische konzeptionelle Impulse für einen Neuanfang.22 Auch wenn Ordoliberale und Alliierte ähnliche Instrumente der Wettbewerbspolitik bevorzugten, nämlich Kartellverbot und Zerschlagung bzw. Verhinderung wirtschaftlicher Machtstellung, standen sich die damit verfolgten Zielsetzungen zumindest in den ersten Nachkriegsjahren antagonistisch gegenüber. Während die Alliierten Deutschland als Wirtschaftsmacht beschränken wollten, war eine freie und vor allem auch prosperierende Volkswirtschaft für die ordoliberalen Theoretiker Ziel und Ergebnis von Ordnungs- und Wettbewerbspolitik. Aber erst nach mehr als einer Dekade, die von teils heftigen Auseinandersetzungen in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft geprägt war, trat in Westdeutschland mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen 1958 ein deutsches Wettbewerbsrecht als dritte Säule der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik in Kraft. Mit diesem manifestierte sich der Systemwechsel hin zu aktiver Wettbewerbspolitik.23
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Entflechtungsmaßnahmen und ihre wirtschaftliche Bedeutung. S. 210–222; Wank: Alliierten Entflechtungsmaßnamen. S. 202–208. Vgl. Hüttenberg, Peter: Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik in der Kartellgesetzgebung der Bundesrepublik 1949–1957. In: VfZ 24 (1976). S. 287–307. S. 287–290. Satzky, Horst: Grundsätze, Entstehung und Novellierungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 229–240. S. 229. Bereits seit den 1930er Jahren wurden von den Vertretern des Ordoliberalismus wegweisende Schriften zu Fragen des Wettbewerbs veröffentlicht. Vgl. Kapitel „B.4.b Wirtschaftspolitik zur Sicherung des Wettbewerbs – Leitbilder und Ziele“ dieser Studie. Zu diesem langen Gesetzgebungsprozess gibt es einige Untersuchungen und Darstellungen: Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 36–81; Robert, Rüdiger: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. Das Beispiel der Entstehung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung (Volkswirtschaftliche Schriften 250). Berlin 1976; Hüttenberg: Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik; Satzky: Grundsätze, Entstehung und Novellierungen. S. 232ff.; Landmesser, Hans-Joachim: Der Einfluss der Nationalökonomie auf die Gestaltung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB). In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 244–254; Günther, Eberhard: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung. Entstehung und Auswirkungen. In: Schröder; Müller-Armack; Homann u.a. (Hrsg.): Ludwig Erhard. S. 111–120; Kartte, Wolfgang; Holtschneider, Rainer: Konzeptionelle Ansätze und Anwendungsprinzipien im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Zur
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Wenn man nach dem Anstoß zur gesetzlichen Neuregelung und völligen Neuausrichtung der Wettbewerbspolitik in Westdeutschland fragt, sind sicher alliierte Ziele und Forderungen – speziell von amerikanischer Seite – nicht zu übersehen. Rüdiger Robert vertrat 1976 die These, dass die ursprüngliche Initiative für das deutsche Wettbewerbsrecht von den Alliierten ausgegangen war. Ebenso vertritt Lisa Murach-Brand in ihrer rechtshistorischen Untersuchung von 2004 die Position, dass vor allem der US-amerikanische Einfluss für das spätere deutsche Wettbewerbsgesetz verantwortlich war, auch wenn es ein originär deutsches Gesetz wurde.24 Die formale Aufforderung der drei Westalliierten an die westdeutsche Wirtschaftsverwaltung, ein Gesetz auszuarbeiten, das die alliierten Direktiven ersetzen sollte, erging im März 1949. Die Direktiven der Besatzungsmächte aus dem Jahr 1947 blieben allerdings auch nach dem ‚Vertrag zur Regelung der aus Krieg und Besatzung entstandenen Fragen‘ (Überleitungsgesetz zum Bonner Vertrag vom 26.5.1952) in Kraft und galten bis zum Inkrafttreten eines deutschen Gesetzes. Durchführung und Durchsetzung der Direktiven lagen in der Hand der Alliierten.25 Der indirekte Druck auf die westdeutsche Regierung und die alliierte Aufsicht und Kontrolle der westdeutschen Wirtschaftspolitik äußerte sich auch in der Entscheidung Nr. 10 der Alliierten Hohen Behörde vom 6. März 1951. Dort hieß es, dass beim Kartellrecht „Rechtsvorschriften, welche die Besatzungsbehörden befriedigen“, gefunden werden müssten.26 Der deutsche Gesetzgeber war somit bis zur Auflösung dieser Regelung mit dem Pariser Protokoll am 23.10. 1954 inhaltlich bei den Entscheidungen über das Wettbewerbsrecht nicht frei gewesen.27 Das Urteil von Viola von Bethusy-Huc, dass 1952 „fast ausschließlich“ politische Gründe die Regierung dazu „zwangen“, einen Gesetzentwurf einzubringen und dass mit dem Pariser Protokoll 1954 ein Anlass für die schnelle Verabschiedung des Kartellgesetzes wegfiel, ist angesichts des starken ordoliberalen Einflusses auf die westdeutsche Wirtschaftspolitik dieser Jahre in Frage zu stellen.28 Werner Benisch hingegen erwartete 1954 nach Aufhebung der Bindung des deutschen Gesetzgebers an alliierte Vorgaben durch das Pariser Protokoll andere Konsequenzen, da die Aufhebung des Besatzungsstatus nicht die Aufhebung alliierten Rechts zur Folge hatte. Da nun deutsche Verwaltungsbefugnisse fehlten, um die von den Dekartellierungsbestimmungen verbotenen Betätigungen abzubauen oder für Unternehmen Befreiungen von den Dekartellierungsbestimmungen
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Geschichte des GWB. In: Cox; Jens; Markert (Hrsg.): Handbuch des Wettbewerbs. S. 193– 224; Nörr: Leiden des Privatrechts. S. 159–221; Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 85; Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. S. 225ff. Die Umsetzung der alliierten Gesetze wurde zunehmend in die Hände deutscher Gerichte gelegt. Vgl. Rowedder: Kartellrecht. S. 30 und 38. Entscheidung Nr. 10 der Hohen Behörde vom 6. März 1951 (Abl. AHK 1951 S. 794). Zitiert nach: Rowedder: Kartellrecht. S. 23. Vgl. zur Auflösung des Besatzungsstatus auch: MurachBrand: Antitrust auf deutsch. S. 169ff. Vgl. Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. S. 209–212. Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 61.
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zu erklären, war rechnete er mit der Beschleunigung deutscher Kartellgesetzbemühungen, um Rechtsunsicherheit durch Zuständigkeitsunklarheit zu vermeiden.29 Auch wenn nun die Zuständigkeit für ein neues Wettbewerbsrecht uneingeschränkt in deutscher Hand lag und Einfluss von alliierter Seite weggefallen war, hatte dies 1954 keinen direkten Einfluss mehr auf die inhaltliche Ausgestaltung des Wettbewerbsrechts. Adenauer hatte in einem Brief an die Hohen Kommissare als Anlage zum Pariser Protokoll dargelegt, dass die Bundesregierung gewillt war, „an der bisher von ihr verfolgten Kartellpolitik festzuhalten und dahin zu wirken, dass die Freiheit des Wettbewerbs durch ein deutsches Gesetz umfassend und wirksam geschützt ist.“30 Damit hatte er sich allenfalls politisch verpflichtet und ein entsprechender Gesetzesentwurf hatte bereits dem Ersten Deutschen Bundestag vorgelegen und sollte erneut in den Zweiten Bundestag eingebracht werden. Es ist fraglich, ob die alliierten Kartellverordnungen von 1947 „Orientierungsfunkion“31 für die Gestaltung des deutschen Kartellrechts hatten. Die direkte Übernahme alliierter Vorgaben war für die auf Unabhängigkeit und Eigenständigkeit pochende neue Bundesregierung wenig akzeptabel, da dies zu sehr nach Akzeptanz eines Oktroy ausgesehen hätte. Den Anschein des Aufgezwungenen versuchte man zu vermeiden. Gegen die Funktion der Orientierung bei der Gesetzformulierung sprechen die ideengeschichtlichen Wurzeln des späteren Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung. Unter Umständen ist in Anlehnung an Brendels Differenzierung der Regelungsebenen32 zwischen einer Orientierungsfunktion für die politisch-taktisch Handelnden auf der konstitutionellen Ebene, allen voran Bundeskanzler Adenauer, und einer politischen Unterstützungsfunktion für die ordoliberalen Wirtschaftstheoretiker und Politiker um Wirtschaftsminister Ludwig Erhard auf der legislativen Ebene zu differenzieren. Für die Funktion der Unterstützung der wettbewerbspolitischen Ideen der Ordoliberalen im westdeutschen politischen Interessenwettbewerb bis 1954 spricht die Zunahme innerdeutscher Kritik am Kartellrechtsentwurf bei nachlassender Abhängigkeit und Einflussnahme durch die Alliierten in den 1950er Jahren.33 29 Vgl. Benisch, Werner: Die kartellrechtliche Lage nach dem Pariser Protokoll. In: WuW 4 (1954). S. 786–790. S. 788. Die Alliierten hatten zwischen 1952 und 1953 ihr wettbewerbspolitisches Engagement massiv reduziert. Auch im BMWi machte man sich Sorgen um die angemessene Durchführung der gültigen alliierten Direktiven, für die man nun zuständig war. Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 114. 30 Schreiben des Bundeskanzlers an die Hochkommissare vom 23.10. 1954 betr. Kartellpolitik. Zitiert nach: Benisch: Die kartellrechtliche Lage. S. 789f. 31 Vgl. Satzky: Grundsätze, Entstehung und Novellierungen. S. 230. 32 Brendel differenzierte mit der konstitutionellen und der legislativen Ebene zwei gesetzgebende, politische Gestaltungsebenen, auf denen über ein Regelsystem zur Erfassung von Wettbewerbsprozessen entschieden wird. Vgl. Brendel: Wettbewerbspolitische Konzeptionen. S. 88ff. 33 Robert spricht in diesem Zusammenhang vom Ende der „Stillhaltepolitik“ der Industrieverbände bis zur „Ratifizierung des Generalvertrages“ Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 229ff. Zu den Aktivitäten des BDI in diesem Zusammenhang vgl. auch Hüttenberger: Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik. S. 296f.; Berghahn, Volker: Westdeutsche Unternehmer, Weltmarkt und Wirtschaftsordnung. Zur Bedeutung des Kartellgeset-
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Die kritische Auseinandersetzung mit Kartellen und dem oligopolistischen Kampf auf einigen Märkten in den späten 1920er Jahren hatte in den 1930er Jahren zur Entwicklung der ordoliberalen Wirtschaftstheorie mit seinem wettbewerbstheoretisches Leitbild beigetragen.34 Die Rückbesinnung auf die Ansicht liberaler Klassiker, dass unbegrenzte zivilrechtliche Vertragsfreiheit zu immer mehr wettbewerbsbeschränkenden Verträgen führe und Vertragsfreiheit über kurz oder lang nur noch für einige Wenige gelten würde, wurde Ausgangspunkt der Überlegungen. Wirtschaftliche Machtkonzentration durch Kartelle und Monopole wurde als Beschränkung individueller Freiheit gewertet, deren Schutz nicht durch punktuelle Wirtschaftspolitik zu gewährleisten sei. Daraus entstand die Forderung nach einer Wirtschaftsordnung, die durch gesetzliche Rahmenordnung den Wettbewerb sicherstellen und damit die Freiheit der Mehrheit der Marktteilnehmer garantieren würde.35 Im Rahmen der Gesamtordnung wären Kartelle und Monopole zu verbieten und aufzulösen. Falls deren Auflösung nicht geschehen könne oder wegen übergeordneter staatlicher Interessen nicht zweckmäßig erscheine, müssten diese allerdings der strengen Missbrauchsaufsicht eines unabhängigen Monopolamts unterliegen.36 Dieses ordoliberale Leitbild fand sich bei der Gestaltung der westdeutschen Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik nur im sogenannten Josten-Entwurf wieder. Er war seit 1946 auf Initiative des Länderrates der amerikanischen Besatzungszone von einer Gruppe von Experten unter der Leitung des ehemaligen Leiters des Kartellreferats im Reichswirtschaftsministerium, Paul Josten, erarbeitet worden und sah ein Gesetz zur Sicherung des Leistungswettbewerbs und ein Gesetz über das Monopolamt vor.37 Neben diesem wissenschaftlichen Beitrag der Josten-
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zes. In: Albertin; Link (Hrsg.): Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie. S. 301–324. S. 317; Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. S. 203ff. Vgl. Nörr: Leiden des Privatrechts. S. 101–124 und S. 139–146. Vgl: Eucken: Grundlagen der Nationalökonomie. S. 223–233; ders.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 245–250; Miksch: Wettbewerb als Aufgabe. S. 209ff. Als knapper Überblick zu den wettbewerbstheoretischen Implikationen vgl. Barnickel: Kartelle in Deutschland. S. 44–52. Ansonsten vgl. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 264–270 und 291–299; ders.: Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung. S. 29–49; Böhm, Franz: Die Aufgaben der freien Marktwirtschaft. Ungelöste Fragen, insbesondere das Monopolproblem (Schriftenreihe der Hochschule für Politische Wissenschaften München 14). München 1951. S. 37ff.; ders.: Die Ordnung der Wirtschaft. S. 148ff.; Dürr: Wesen und Ziele des Ordoliberalismus. S. 98–103. Mit Franz Böhm, der sein Buch „Wettbewerb und Monopolkampf“ 1933 Paul Josten „in Dankbarkeit und Verehrung zugeeignet“ hatte, war unter den Mitgliedern der Expertengruppe ein Mitbegründer der Freiburger Schule. Weitere Mitglieder: Paul Josten, Walter Bauer, Curt Fischer, Wilhelm Köppel, Wilhelm Kromphardt, Bernhard Pfister. Vgl. Rotthege, Georg: Die Beurteilung von Kartellen und Genossenschaften durch die Rechtswissenschaft. Eine rechtshistorische Analyse von Hypothesen über Kooperationswirkungen und deren Bewertung (Schriften zur Kooperationsforschung, C 16). Tübingen 1982. S. 221ff.; Günther: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung. S. 113; Günther, Eberhard: Entwurf eines deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. In: WuW 1 (1951). S. 17–40. S. 23. Für eine Analyse des Josten-Entwurfs vgl. Günther, Eberhard. Die geistige Grundlage des sogenannten Josten-Entwurfs. In: Sauermann; Mestmäcker (Hrsg.): Wirtschaftsordnung und Staats-
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Gruppe und den Entwürfen des wissenschaftlichen Beirats des Verwaltungsrates – zwischen beiden Gruppen gab es personeller Überschneidungen – von 1948 hatten die Alliierten die Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes im März 1949 aufgefordert, einen Gesetzesentwurf zu erarbeiten. Er wurde aber angesichts der abzusehenden staatsrechtlichen Veränderungen in diesem institutionellen Rahmen nicht mehr abgeschlossen.38 Der „juristisch hervorragend konstruierte[n]“ JostenEntwurf überwand den Entwurfsstatus nie, da er in verschiedener Hinsicht sowohl den Alliierten als auch der Bi-Zonen-Wirtschaftsverwaltung und nicht zuletzt der sich langsam wieder zu Wort meldenden Industrie zu weit ging.39 Der Vorsitzende des Ausschusses für Wettbewerbordnung im Bundesverband der deutschen Industrie, Guido Ziersch, rühmte daher Jahre später die Arbeit eben dieses Ausschusses, weil er „den Josten-Entwurf, der gerade als katastrophal zu bezeichnen war [...] erfolgreich in die Aktenschränke der Ministerien zurückschleusen“ konnte.40 Dennoch wurde dieser Entwurf Grundlage und Bezugspunkt für zahlreiche folgende Konzepte im Bundeswirtschaftsministerium und prägte schließlich den ersten Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom Mai 1951.41 Dieser wurde im Winter 1951/52 Gegenstand schwieriger Verhandlungen mit den Alliierten.42 Das Ergebnis wurde im Frühjahr 1952 in Form eines überarbeiteten Gesetzesentwurfs mit Begründung der Bundesregierung veröffentlicht, an den Bundesrat geleitet und lag mit dessen Änderungswünschen am 26. Juni 1952 dem Ersten Deutschen Bundestag zur Beratung in der 220. Sitzung als Bundestagsdrucksache Nr. 3462 ‚Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung‘ vor.43 Der Regierungsentwurf, der im
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verfassung. S. 183–204. S. 187; Nörr: Leiden des Privatrechts. S. 163–180. Vgl. auch Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 103ff. Zu den Entwürfen von der Verwaltung für Wirtschaft, der Dekartellierungsabteilung des Biparie Control Office (Bico) und der Josten-Gruppe vgl. Berghahn: Westdeutsche Unternehmer, Weltmarkt und Wirtschaftsordnung. S. 310ff. Günther: Entwurf eines deutschen Gesetzes. S. 23f. Zu den Ablehnungsgründen und diversen Ansätzen dieser Zeit vgl. Günther: Die geistige Grundlage des sogenannten Josten-Entwurfs. S. 197–200; Hüttenberg: Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik. S. 291f.; Günther: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung. S. 111–120. S. 113f.; Satzky: Grundsätze, Entstehung und Novellierungen. S. 231f.; Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 106; Nörr: Leiden des Privatrechts. S. 180–184; Berghahn: Westdeutsche Unternehmer, Weltmarkt und Wirtschaftsordnug. S. 34ff. Zur Beachtung des Josten-Entwurfs durch Industrielle vgl. Berghahn, Volker: Zur Amerikanisierung der westdeutschen Wirtschaft. In: Herbst; Bührer; Sowade (Hrsg.): Vom Marshallplan zur EWG. S. 227–253. S. 238–243. Ziersch, Guido: Referat vor dem Ausschuss für Wettbewerbsordnung am 15. 11. 1957. In: Bundesverband der Deutschen Industrie (Hrsg.): 10 Jahre Kartellgesetz 1958–1968. S. 444– 450. S. 446. Zu den deutsch-alliierten Auseinandersetzungen um einen Wettbewerbsgesetzentwurf Vgl. Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. S. 140–164. Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 150–165; Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. S. 175–180. Ausführlich zu diesem Entwurf vgl. Rasch, Harold: Der gegenwärtige Stand der Arbeiten am deutschen Kartellgesetz. In: ORDO 5 (1953). S. 361–371. Zur ersten Lesung vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 1. Wahlperiode 1949. Stenographische Berichte 12. 220. Sitzung am 26. Juni 1952. S. 9749(A)–9763(B).
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Wirtschaftspolitischen Ausschuss des Bundestages diskutiert wurde, basierte auf dem Verbotsprinzip und kannte nur Ausnahmen für Markenartikel, bei Lizenzschutzrechten und im Seetransport.44 Inzwischen waren rund sechs Jahre mit zahlreichen Entwürfen, Vorschlägen, Gegenentwürfen, wissenschaftlichen Gutachten unterschiedlicher Auftraggeber und einer Studienreise in die USA unter der Leitung von Franz Böhm, der inzwischen für die CDU Mitglied des Bundestages war, vergangen.45 Die Diskussionen und Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf das Grundprinzip des möglichen Wettbewerbsgesetzes: Verbotsprinzip oder Missbrauchsprinzip.46 Widerstand formierte sich gegen das Verbotsprinzip seit Bekanntwerden des Josten-Entwurfs, in dem es am klarsten enthalten war, vor allem von Seiten der Industrie und ihrem 1949 gegründeten Interessenverband Bundesverband der deutschen Industrie (BDI).47 Er setzte sich nachdrücklich für das mißbrauchsprinzip ein und hatte bereits im November 1950 auf den europäischen Kontext hingewiesen. In einer Entschließung kritisierte er, dass Deutschland mit einer Verbots-Gesetzgebung „eine Außenseiterstellung in Europa einnehmen (würde), die mit den Integrationsbestrebungen im europäischen Wirtschaftsraum nicht vereinbar“48 wäre und „im Zuge der Bestrebungen zur Integration der europäischen Industrien [...] ein schweres Hemmnis bedeuten“49 würde, da die deutsche Wirtschaft im internationalen Vergleich durch ein schärferes Wettbewerbsrecht benachteiligt würde. Die Kritik am und die Mobilmachung gegen den Gesetzesentwurf rief aber auch sowohl in der ersten als auch in der zweiten Legislaturperiode zahlreiche kleine Verbände auf den Plan, die alle Kanäle der Einflussnahme ins Bundeswirtschaftsministerium, in die Bundestagsausschüsse und die Ausschüsse des Bundesrates nutzten, um ihre den Entwurf überwiegend
44 Zu diesem Entwurf vgl. Nörr: Leiden des Privatrechts. S. 184–198. 45 Vgl. Wagner, Klaus: Die Diskussion über ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Westdeutschland (Schriften des schweizerischen Wirtschaftsarchivs 10). Zürich 1956. S. 23– 26. 46 Zu den Standpunkten der politischen und wissenschaftlichen Diskussion zur Frage von Verbots- oder Missbrauchsprinzip vgl. Wagner: Diskussion über ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. S. 18–21; Hüttenberg: Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik. S. 301; Barnikel: Konzentrationspolitik nach 1945. S. 62f.; Rotthege: Beurteilung von Kartellen und Genossenschaften. S. 236–253. 47 Der BDI schuf bald nach seiner Gründung ein Kartellreferat und bezog in der Kartellfrage früh gegen das Verbotsprinzip Stellung. Vgl. Herrmann, Walter: Der organisatorische Aufbau und die Zielsetzungen des BDI. In: Bundesverband der Deutschen Industrie (Hrsg.): Fünf Jahre BDI. S. 37–148. S. 68–72. Zur Gründung des BDI-Ausschusses für Wettbewerbsordnung im Juli 1949 vgl. Ziersch: Referat vor dem Ausschuss für Wettbewerbsordnung. S. 445f. 48 Entschließung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zum Entwurf eines „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ vom 9. November 1950. Abgedr. in: Bundesverband der Deutschen Industrie (Hrsg.): 10 Jahre Kartellgesetz. S. 438–433. S. 438. 49 Ebd.: S. 441. Ähnlich auch Punkt 7 des Fazits der vom BDI am 2. Juli 1951 veranstalteten Diskussionsveranstaltung in Unkel/Rhein. Abgedr. ebd.: S. 454–456. S. 455.
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ablehnenden Standpunkte darzulegen und Änderungswünsche einzubringen.50 „Kein Gesetz der Bundesrepublik, ja kaum ein deutsches Gesetz überhaupt ist länger und heftiger umkämpft gewesen als das ‚Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen‘“, schrieb Harold Rasch nach dessen Verabschiedung.51 Den „Höhepunkt der Auseinandersetzung“52 stellte 1952 der Briefwechsel zwischen Erhard und Fritz Berg, Präsident des BDI, dar. Erhard hatte sich im Juli 1952 mit 10 Thesen an Berg gewendet, darin das Verbotsprinzip verteidigt und für dessen Umsetzung geworben.53 Im Antwortbrief legte Berg seinen ablehnenden Standpunkt dar und sprach sich im Hinblick auf die europäische Wirtschaftskooperation für internationale Kartelle „als ‚Stoßdämpfer‘ und Ausgleichsinstrument“ aus. Die zu erwartenden „wirtschaftlichen Schocks“ in einigen Wirtschaftszweigen, verursacht durch die „abrupte Niederreißung der staatlichen Außenhandelsschranken“, seien dadurch abzumildern. Er warnte vor der „Zurückhaltung oder gar Abkapselung“ anderer Länder gegenüber der Bundesrepublik, wenn diese „als ‚Vorkämpfer‘ für einen freien Wettbewerb im europäischen Raum auftreten“ sollte.54 Auch die im Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) zusammengeschlossenen Industrie- und Handelskammern forderten bereits seit dem Frühjahr 1950, eine mögliche Monopolgesetzgebung mit den „westeuropäischen Partnerländern“ abzustimmen.55 Kern der Auseinandersetzung war letztlich die Frage, ob Kartelle und andere wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen prinzipiell negativ eingestuft und für illegal erklärt werden sollten oder ob ein Verbot nur in 50 Insgesamt gab es in der Ersten und Zweiten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages 261 Eingaben, Denkschriften, Gutachten, Empfehlungen und Ähnliches, die im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Kartellgesetzes standen. Hierzu und aufgeschlüsselt nach Herkunft und Adressaten vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 166–174. Speziell zu den Stellungnahmen der kleinen Verbände vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 47f. und S. 65–68, sowie S. 70–76. 51 Rasch: Wettbewerbsbeschränkungen, Kartell- und Monopolrecht. S. VII. 52 Ebd.: S. 8. 53 Vgl. Ludwig Erhard an Fritz Berg am 10. Juli 1952. Als „Professor Erhard zur Kartellfrage. Zehn Thesen zur Verteidigung der Verbotsgesetzgebung“ abgedruckt in: WuW 2 (1952). S. 733–736. S. 735. Erhard wies hier auch auf die Dimension der europäischen Wirtschaftsintegration hin und stellt klar, dass Kartelle hiermit ebensowenig in Einklang zu bringen sind wie „die wirtschaftliche Einheit Europas [...] als Koordinatensystem internationaler Kartellabsprachen“ zu denken sei. Ebd.: S. 736. 54 Fritz Berg an Ludwig Erhard am 6. Oktober 1952. Abgedr. als „Präsident Berg antwortet Prof. Erhard“ in: WuW 2 (1952). S. 857–869. S. 866f. Diesen Standpunkt hatte der BDI dem Bundeswirtschaftsminister bereits im Frühjahr 1950 mitgeteilt. Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 177. Berg unterstrich an gleicher Steller, dass die Orientierung am international akzeptierten und in der Havanna-Charta von 1944 und im Kartellrechtsentwurf des Europarates verankerten Missbrauchsprinzip auch deshalb nötig wäre, um die guten Wirtschaftskontakte mit dem Ausland zu erhalten. Vgl.: Fritz Berg an Ludwig Erhard am 6. Oktober 1952. Abgedr. als „Präsident Berg antwortet Prof. Erhard“ in: WuW 2 (1952). S. 857–869.S. 867. Ähnlich äußerte sich Berg auch nach der Wahl zum 2. Deutschen Bundestag bei der Jahresversammlung der Feinmechanischen und Optischen Industrie am 2. Oktober 1953. Berg, Fritz: Präsident Berg zur Wiederaufnahme der Kartell-Gesetz-Beratungen. Auszüge abgedruckt in: WuW 3 (1953). S. 708–710. S. 710. 55 Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 177.
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bestimmten, vorher definierten Fällen gültig wäre. Hinter dieser Kontroverse stand auch die Frage der Beweispflicht: Sollten staatliche Behörden die negative Wirkung eines Kartells oder den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nachweisen müssen, wie dies schon mit wenig Erfolg in der Kartellverordnung von 1923 der Fall gewesen war, oder sollte es Pflicht der Unternehmen sein, die Unbedenklichkeit des Handelns mit einem möglichen Genehmigungsantrag nachzuweisen? Im Verlauf der vorparlamentarischen Auseinandersetzung legte der BDI im Frühjahr 1953 einen eigenen Entwurf vor, der auf dem Missbrauchsprinzip basierte und von einer grundlegend positiven Haltung gegenüber Kartellen geprägt war.56 Aufgrund zahlreicher Änderungsanträge im Wirtschaftspolitischen Ausschuss des Bundestags kam es im Ersten Deutschen Bundestag nicht mehr zur Verabschiedung des Gesetzes.57 Jedoch beharrte die Regierung, namentlich Bundeswirtschaftsminister Erhard, weiterhin auf dem Verbotsprinzip und brachte in der zweiten Legislaturperiode den Gesetzesentwurf erneut unverändert ein. Inzwischen hatte sich der Widerstand auf die Präsentation möglichst vieler Änderungswünsche konzentriert, um das weiterhin von den ordo- und neoliberalen Vertretern propagierte Per-se-Verbot zu durchlöchern. Im Winter 1952/53 hatte Erhard im Hinblick auf die anstehende Bundestagswahl bereits einige Zugeständnisse an die Industrie gemacht. Diese Situation nutzend hatte der BDI zahlreiche Gutachten in Auftrag gegeben, so auch an den Wirtschaftsrechtsprofessor Rudolf Isay.58. Dieser hatte bereits in der großen Kartellenquete zwischen 1926 und 1929 als Sachverständiger die industriellen Interessen des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RdI) vertreten und damit die Kartellpolitik in Deutschland beeinflußt. Bereits 1952 hatte er den Kartellgesetzentwurf der Bundesregierung kritisiert und dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz bezweifelt.59 In der Diskussion um das verfassungsrechtliche Rangverhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Wettbewerbsfreiheit fand das allgemeine Kartellverbot, und damit der Vorrang der Wettbewerbsfreiheit, mit Franz Böhm einen überzeugenden Verfechter der 56 Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 44. 57 Vgl. hierzu Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S.186–237. 58 Vgl. Gutachten vom 11. Dezember 1953 von Rudolf Isay, am 9. Januar 1954 durch den BDI veröffentlicht. Vgl. Isay, Rudolf: Gegenvorschlag zum Regierungsentwurf eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung. In: WuW 4 (1954). S. 100–117. Ein Kurzübersicht der diversen Gutachten im Auftrag des BDI vgl. Kramny, Lioba: Das Wirken des BDI in der Wettbewerbspolitik. In: Bundesverband der Deutschen Industrie (Hrsg.): 10 Jahre Kartellgesetz. S. 58–78. S. 62f.; Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 41ff. 59 Vgl. Isay, Rudolf: Der deutsche Kartellgesetzentwurf. Eine kritische Stellungnahme. In: WuW 2 (1952). S. 321–327; ders.: Die verfehlte Konzeption des deutschen Kartellgesetzentwurfs. In: WuW 2 (1952). S. 694–697; ders.: Soziale Marktwirtschaft und Kartellgesetzgebung. In: WuW 4 (1954). S. 557–580. Rudolf Isay setzte sich in Letzterem mit Aufsätzen in WuW 4 (1954) von Franz Böhm: Kartelle und Krisen. Beginn einer Auseinandersetzung mit dem Isay-Gutachten, (S. 367–387) und von Hans Carl Nipperdey: Die soziale Marktwirtschaft in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, (S. 211–226) sowie mit einer Denkschrift von Ludwig Erhard vom 9. Juli 1954 auseinander, deren Inhalt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 24. Juli 1954 unter "Kartellgesetz ein Dogma" erschienen war.
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Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, der verfassungsrechtliche und ordnungspolitische Argumente in ordoliberaler Tradition miteinander verwob.60 Mitte der 1950er Jahre, als die im Rahmen der EGKS kooperierenden westeuropäischen Staaten Gespräche über eine Ausdehnung und Vertiefung der Zusammenarbeit begannen, gab es in der Bundesrepublik Deutschland, abgesehen von alliierten Verordnungen, kein Kartellrecht. Politik, gesellschaftliche Gruppen und Wissenschaft waren jedoch tief in kartellrechtliche Diskussionen und Auseinandersetzungen verstrickt. Die „Kartellschlacht“61 war zu diesem Zeitpunkt bereits in fortgeschrittenem Stadium. Der Regierungsentwurf für ein deutsches Kartellgesetz befand sich in der zweiten parlamentarischen Runde, wenn auch unter veränderten außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen. Zwischen Frühjahr 1953 und Herbst 1954 hatte sich die Situation durch den geringer gewordenen Einfluss der Westalliierten verändert. Die Industrie trat nun offener mit ihren Forderungen auf und nahm keine Rücksicht mehr auf mögliche außenpolitische Konsequenzen.62 Im Sommer 1954 kam es bei gemeinsamen Sitzungen von Verbandsvertretern und Ministerialbeamten zum Versuch, die Standpunkte einander anzunähern, wobei es BDI und DIHT in diesem außerparlamentarischen Vorfeld gelang, einige ihrer Interessen durchsetzten.63 Erhard hielt jedoch an der Einführung des Verbotsprinzips fest, während jene vom BDI 1954 und 1955 in Auftrag gegebenen Gutachten das Verbotsprinzip ablehnten.64 Neben dem Druck aus der Industrie und starken Differenzen über den Entwurf innerhalb der Regierungsfraktionen waren im Frühjahr 1954 auch im Bundesrat zahlreiche Änderungsanträge gestellt worden, die das Verbotsprinzip zwar nicht prinzipiell in Frage stellten, es aber faktisch nicht mehr zur Geltung kommen ließen.65 Besonders Nordrhein-Westfalen betrieb im Bundesrat Opposition gegen den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf.66 Dessen Gegner stellten ihn angesichts 60 Vgl. Böhm, Franz: Verstößt ein gesetzliches Kartellverbot gegen das Grundgesetz? In: WuW 6 (1956). S. 173–187. Böhm legte dar, weshalb ein Kartellverbot weder gegen die Koalitionsfreiheit (Art. 9, GG) noch gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2, GG) verstoße. Vgl. auch Müller, Helmut: Kartellverbot und Grundgesetz. In: WuW 3 (1953). S. 734–744; Wagner: Diskussion über ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. S. 22; Willemsen, Heinz-Josef: Der Einfluss der Rechtswissenschaft auf die Gestaltung des GWB. In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 257–261. S. 257f. 61 Barnikel: Konzentrationspolitik nach 1945. S. 63. 62 Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 58. Vgl. auch Kartte; Holtschneider: Konzeptionelle Ansätze und Anwendungsprinzipien. S. 208. 63 Vgl. Herrmann: Der organisatorische Aufbau. S. 68–72 und S. 138ff; Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 255–266. Vgl. auch: Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. S. 204–208; Nörr: Leiden des Privatrechts. S. 198ff. 64 Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 41ff. 65 Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 58ff., S. 63f. und Übersicht 6; Beitrag des Berichterstatters des Wirtschaftspolitischen Ausschuss des Bundesrates bayrischen Wirtschafts- und Verkehrsministers Seidel (CSU). In: Verhandlungen des Bundesrates 1954. Stenographische Berichte. 123. Sitzung am 21. Mai 1954. S. 137–140. 66 Vgl. Hüttenberg: Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik. S. 287–290. S. 296–304. HansJoachim Landmesser urteilte, dass erst das Fehlen eines klaren wirtschaftstheoretischen Kon-
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der Ausdehnung der europäischen Zusammenarbeit von der Montanindustrie auf die Gesamtwirtschaft auch hier als Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft dar.67 Bei der ersten Lesung des Regierungsentwurfs in der 76. Sitzung des Zweiten Bundestags im März 1955 wurden neben dem inzwischen ‚verwässerten‘ Regierungsentwurf noch zwei weitere Entwürfe von Mitgliedern der Regierungsfraktionen eingebracht. Es wurde deutlich, dass der Streit über Verbots- oder Missbrauchsprinzip die Regierungsfraktionen spaltete.68 Der eine Entwurf, getragen von Abgeordneten der CSU-Landesgruppe und als Höcherl-Entwurf bezeichnet, folgte dem Missbrauchsprinzip und wollte Kartelle mit Ausnahme der Marktaufteilung grundsätzlich legitimieren. Er ging auf den vom BDI in Auftrag gegeben Gesetzentwurf von Isay aus dem Jahre 1954 zurück, entsprach Wünschen und Interessen der Großindustrie und versuchte den Regierungsentwurf zu blockieren.69 Der andere, von den drei CDU-Abgeordneten Franz Böhm, August Dresbach und Thomas Ruf, Letztere Vertreter des Mittelstandes, eingebrachte und von 18 CDU und zwei FDP-Abgeordneten unterstützte sogenannte Böhm-Entwurf kehrte zu den ordoliberalen Ursprüngen des Regierungsentwurfes zurück.70 Dieser sehr ambitionierte Entwurf machte die Spaltung der Regierungsfraktion mehr als deutlich. Böhms Ziel war es, die wettbewerbspolitische Zielsetzung der Ordoliberalen zum Ausdruck zu bringen und damit auf die Verwässerung und den Kompromisscharakter des vorliegenden Regierungsentwurfes hinzuweisen. Er war gleichzeitig auch Protest gegen die massive Beeinflussung der Gesetzgebung durch den BDI, die jedoch in den folgenden Beratungen der Bundestagsausschüsse noch intensiviert wurde.71 Die gegensätzlichen Standpunkte wurden bei
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zepts die starke Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern des Verbots- und des Missbrauchsprinzips ermöglicht hatte. Vgl. Landmesser: Einfluss der Nationalökonomie. S. 246. Vgl. Barnikel: Konzentrationspolitik nach 1945. S. 62. So auch bei der Debatte im Bundesrat im Mai 1954. Vgl. Beitrag des Berichterstatters des Wirtschaftspolitischen Ausschuss des Bundesrates des bayrischen Wirtschafts- und Verkehrsministers Seidel (CSU). In: Verhandlungen des Bundesrates 1954. Stenographische Berichte. 123. Sitzung am 21. Mai 1954. S. 137–140. S. 138(A). Auch im Hinblick auf die Behandlung der landwirtschaftlichen Genossenschaften wies der nordrhein-westfälische Minister für Landwirtschaft und Forsten Peters (CDU) in der gleichen Sitzung auf mögliche Benachteiligungen bei der Europäischen Integration in. Ebd. S. 140–142. S. 142(C). Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 50ff. Zur der Behandlung von Kartellen im Josten-Entwurf, im Regierungsentwurf, im Böhm- und im Höcherl-Entwurf sowie im GWB vgl. Rotthege: Beurteilung von Kartellen und Genossenschaften. S. 271. Darlegung des Gesetzesentwurfes Bundestagsdrucksache Nr. 1253 durch Hermann Höcherl vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 24. 76. Sitzung am 24. März 1955. S. 4211–4213. Vgl. auch Wagner: Diskussion über ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. S. 64ff.; Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 288f. Bundestagsdrucksache Nr. 1269. Vgl. auch die Kommentierung: Mestmäcker, Ernst-Joachim: Der Böhm-Entwurf eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. In: WuW 5 (1955). S. 285–295, speziell auch S. 294f. Vgl. die Darlegung Franz Böhms in der Debatte: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 24. 76. Sitzung am 24. März 1955. S. 4213–
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der ersten Lesung „in der letzten Phase dieses langwierigen und langjährigen und unheiligen Kartellkriegs“ schnell klar.72 Von Seiten der SPD äußerte man sich positiv zum Regierungsentwurf und dem darin niedergelegten Prinzip. Kritisch wurde von der SPD und auch aus den Reihen von GB/BHE jedoch auch darauf hingewiesen, dass ein derartiges Recht keinerlei Entsprechung in Europa habe.73 Es folgten intensive Verhandlungen in „mehr als 80 Sitzungen“ des Wirtschaftsausschusses des Bundestages, wo man sich bald auf den Regierungsentwurf als Verhandlungsgrundlage einigte, diesen jedoch im Laufe der Beratungen an vielen Stellen abänderte. 74 Das am 4. Juli 1957 vom Deutschen Bundestag beschlossene und am 27. Juli 1957 in Kraft getretene ‚Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen‘ (GWB) war das Ergebnis politischer Kompromisse. Trotz des ursprünglich starken Einflusses der Ordoliberalen hatte das GWB „mit ordoliberalen Positionen nicht mehr viel gemeinsam.“75 Erhard stellte offen klar, dass sich seine „Konzeption von dem Kartellgesetz [...] ganz bestimmt nicht völlig mit der jetzt erarbeiteten Lösung“ deckte.76 Ziel des GWB war es, den freien Wettbewerb als Institution der Marktwirtschaft zu gewährleisten und gleichzeitig den Einzelnen gegen Schädigung durch Wettbewerbsbeschränkungen von Dritten zu schützen. Dieser doppelte Schutzzweck sollte erreicht werden, indem alle wettbewerbsbeschränkenden Verträge und Beschlüsse von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Gesetz grundsätzlich für unwirksam erklärt wurden. Ausnahmen hiervon waren nur durch Genehmigungen des neu gegründeten und unabhängigen Bundeskartellamtes möglich. Das Bundeskartellamt war dazu ermächtigt worden, wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen und Vereinbarungen, die im Widerspruch zum GWB standen, für unwirksam zu erklären. Zur Durchsetzung des Verbotes hatte es Sanktionsbefugnisse erhalten und konnte zudem Bußgelder
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4219. S. 4213(D)f. Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 289ff.; Wagner: Diskussion über ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. S. 66f. und 70f.; Braunthal, Gerhard: The Federation of German Industry in Politics. Ithaca 1965. S. 242ff. Hermann Höcherl bei der Lesung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 24. 76. Sitzung am 24. März 1955. S. 4211–4213. S. 4211(B). Vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 53f.; Debattenbeitrag des GB/BHEAbgeordneten Bender bei der 3. Lesung des Gesetzes. Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 24. 77. Sitzung am 30. März 1955. S. 4261(A). Nörr: Leiden des Privatrechts. S. 201. Zum Vergleich beider Entwürfe und dem Regierungsentwurf und zur Haltung der im Bundestag vertreten Parteien vgl. Bethusy-Huc: Demokratie und Interessenpolitik. S. 50–57 und Übersicht 4; Rasch: Wettbewerbsbeschränkungen, Kartell- und Monopolrecht. S. 10ff. Zu den Standpunkten und den Veränderungen der Ausnahmetatbestände vgl. Landmesser: Einfluss der Nationalökonomie. S. 249–252. Zu den Ausschussaktivitäten im Zweiten Deutschen Bundestag vgl. Lehnich, Oswald: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz). Ergänzungsband zu ‚Die Wettbewerbsbeschränkung. Eine Grundlegung‘. Köln, Berlin 1958. S. 3–77. Satzky: Grundsätze, Entstehung und Novellierungen. S. 233. Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 223. Sitzung am 30. März 1957. S. 13242–13252. S. 13246 (D).
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gegen unrechtmäßige Vereinbarungen und Maßnahmen verhängen. Im Hinblick auf den Schutz des Einzelnen stand der Weg des Zivilprozesses offen. Unwirksamkeitserklärungen der Kartellbehörde konnten hier für Schadensersatz oder Unterlassungsklagen herangezogen werden. Das GWB hatte mit dem generellen Kartellverbot und der Aufsicht über marktbeherrschende Unternehmen zwei Grundzüge.77 Das allgemeine horizontale Kartellverbot (§1) wurde um das Verbot vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen (§15) ergänzt. Auch wenn das horizontale Kartellverbot von zahlreichen Ausnahmen „durchhöcherlt“ war, wie es der Abgeordnete Illerhaus (SPD) im Bundestag bei der dritten Lesung des GWB in Anspielung auf den Einfluss des Bundestagsabgeordneten Höcherl eingeworfen hatte,78 wurde die prinzipielle Unzulässigkeit von Kartellen festgelegt. Mit Bereichsausnahmen für Post und Telekommunikation, Verkehr, Banken und Versicherungen sowie für landwirtschaftliche Genossenschaften, öffentliche Versorgungsunternehmen und Zusammenschlüsse zur Patentverwertung fielen rund 20 Prozent der Bruttowertschöpfung der Unternehmen nicht unter das GWB.79 Kartelle, die eine Ausnahme für sich geltend machen wollten, mussten für die Genehmigung einen Antrag beim Bundeskartellamt stellen.80 Dieser wurde veröffentlicht, um potentiell betroffenen Personen und Wirtschaftskreisen die Möglichkeit zur Stellungnahme zu bieten. Ebenso wurden Genehmigungen oder Ablehnungen von Anträgen durch das Bundeskartellamt veröffentlicht. Für Konditionenkartelle und Rabattkartelle galt ein vereinfachtes Anmeldeverfahren. Sie galten als genehmigt, wenn das Bundeskartellamt der Anmeldung nicht innerhalb von drei Wochen widersprach. Das zweite Instrument des GWB war die Kontrolle des Marktverhaltens marktbeherrschender Unternehmen(§ 22). Diese unterstanden ebenso wie genehmigte Kartelle dem Diskriminierungs- und Behinderungsverbot, das vom Kartellamt überwacht wurde. Das Kartellamt hatte hingegen keine Handhabe gegen Unternehmenszusammenschlüsse und konnte nur einschreiten, wenn Unternehmen ihre marktbeherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzten.81 Bestimmte gesetzlich festgelegte Fusionen waren bei der Aufsichtsbehörde zwar melde-, aber nicht genehmigungspflichtig. Die Konzern- oder Monopolbildung war durch das 77 Folgende Darstellung bezieht sich, so nicht anderes vermerkt, auf den Gesetzestext. Vgl. Bundesgesetzblatt I, Nr. 41, S. 1981–1103. 78 Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 223. Sitzung am 30. März 1957. S. 13242–13252. S. 13244 (A). Vgl. Robert: Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. S. 301–309; Nörr: Leiden des Privatrechts S. 201. 79 Vgl. Neumann, Manfred: The Evolution of Cartel Policy in Germany. In: Martin (Hrsg.): Competition Policies in Europe. S. 41–53. S. 46. 80 Antragsberechtigt waren Strukturkrisenkartelle mit dem Ziel Produktionskapazitäten zu vermindern, Rationalisierungskartelle, Spezialisierungskartelle, höherstufige Rationalisierungskartelle (Syndikate), Exportkartelle mit Innenwirkung, Importkartelle, Notstandskartelle und wettbewerbsbeschränkende Lizenzabkommen und Schiedsverträge bei Exportkartellvereinbarungen. Vgl. GWB §§ 4–8, 20 und 21. 81 Zur Anwendung in den folgenden Jahren vgl. OECD: Marktmacht und Recht. Ein Bericht des Expertenausschusses der OECD für wettbewerbsbeschränkende Praktiken (FIW Dokumentation 2). Köln, Berlin, Bonn u.a. 1970. S. 93–97.
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GWB nicht per se verboten.82 Die Kontrolle des Marktverhaltens marktdominierender Unternehmen oder Monopole erfolgte nur durch Einzelfallfeststellungen des Kartellamtes, das dabei gegen alle Formen von Wettbewerbsbeschränkungen vorging. Hierbei war das Kartellamt auf Hinweise der Wirtschaft, Beschwerden Geschädigter und auf Presse, Verbandsmitteilungen und Ähnliches angewiesen. Insgesamt kannte das GWB drei Verfahrensarten. Neben dem Verwaltungsverfahren zur Erlaubnis einer Absprache und zur Untersuchung von missbräuchlichem Verhalten von Marktteilnehmern gab es das Bußgeldverfahren und das Zivilprozessverfahren. Die Entscheidungen des Kartellamtes im Verwaltungsverfahren konnten bei Einspruch durch einen Verfahrensbeteiligten im Einspruchsverfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht geprüft werden. 83 Das Bußgeldverfahren84 diente zur Durchsetzung des Verbotsprinzips und ähnelte dem Strafprozess. Das Bundeskartellamt hatte hierzu eine der Staatsanwaltschaft ähnliche Rolle erhalten und konnte bei hinreichendem Verdacht beim zuständigen Oberlandesgericht Antrag auf Bußgeld für das beschuldigte Unternehmen stellen. In den meisten Fällen kam es in den ersten Jahren aber nicht so weit, da das beanstandete Verhalten meist nach der Aufforderung des Kartellamts an die Unternehmen zur Stellungnahme abgestellt wurde.85 Dem zweiten Zweck des GWB, dem Schutz des Einzelnen gegen Schädigung durch Wettbewerbsbeschränkungen anderer, wurde dadurch zum Durchbruch verholfen, dass das GWB nicht nur vom Kartellamt als Verwaltungsbehörde, sondern auch von der Zivilgerichtsbarkeit bei
82 Dieser Sachverhalt stellte sich später in der Anwendung des Gesetzes als offene Flanke heraus. Die Zusammenschlusskontrolle war im Regierungsentwurf ursprünglich vorgesehen gewesen, wurden jedoch in den zähen Verhandlungen im wirtschaftspolitischen Ausschuss des Bundestages 1957 fallen gelassen. Die vorgesehene Erlaubnispflicht wurde mit der Begründung gestrichen, dass diese „die vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus begrüßenswerte Tendenz zur optimalen Betriebsgröße an ihrer vollen Entfaltung hindern könne.“ Zitiert nach: Willeke, Franz-Ulrich: Grundsätze wettbewerbspolitischer Konzeptionen (Wirtschaft und Gesellschaft 8). Tübingen 1973. S. 7. Konsequenz war zwar der Rückgang von Kartellen in den Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes, jedoch konnte das GWB Wettbewerbsbeschränkungen durch zunehmende Konzentration nicht verhindern. Günther: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung. S. 111–120. S. 116ff. Die Zunahme von Konzentration in der deutschen Wirtschaft im Zeitraum 1954–1960 wurde im Konzentrationsbericht von 1964 bestätigt. Vgl. Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft in Frankfurt am Main (Hrsg.): Bericht über das Ergebnis einer Untersuchung der Konzentration in der Wirtschaft vom 29. Februar 1964. Frankfurt am Main 1964. Auch Fritz Knauss, der die Konzentrationsentwicklung nach 1960 für einige wichtige Industriebereiche untersucht hatte, kam abschließend zu dem Ergebnis, dass „die im Konzentrationsbericht aufgezeigten Tendenzen inzwischen verstärkt in Erscheinung treten.“ Knauss, Fritz: Konzentrationsbewegung in der Bundesrepublik. In: Knauss; Vogel; Hermanns (Hrsg.): Unternehmenskonzentration in der westlichen Welt. S. 9–36. S. 35. 83 Vgl. GWB §§ 59–61. 84 Vgl. GWB §§ 81–86. 85 Vgl. Kartellamtspräsident Günther an Generaldirektor VerLoren van Themaat zur Information über das Verfahren zur Durchsetzung des GWB, Berlin, 5. Mai 1960. HAEKB BAC71 1988/198. Blatt 0316–0325. Blatt 320.
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Schadensersatz- oder Unterlassungsklagen angewendet werden konnte.86 Zielsetzung und Verfahren des deutschen Wettbewerbsrechts waren ab 1958 mit dem GWB und der Gründung des Bundeskartellamtes institutionalisiert.87 Es bestand kein Abwägungsspielraum zwischen Wettbewerbsökonomie und möglichen sozial- und/oder wirtschaftspolitisch erwünschten Resultaten. Allein Paragraph 8 GWB enthielt mit der sogenannten Ministererlaubnis eine Generalklausel für politische Sondergenehmigungen für ansonsten verbotene Kartelle. Der Bundeswirtschaftsminister konnte demnach aus „überwiegenden Gründen der Gesamtwirtschaft und des Gemeinwohls“ Kartelle genehmigen.88 Eine politische Beurteilung wettbewerbsbeschränkender Strategien und entsprechender wirtschaftspolitischer Reaktionen wurde durch das GWB dem tagespolitischen Bereich fast völlig entzogen. Das GWB hatte in der hier dargestellten Fassung bis zur ersten Novelle 1965 Gültigkeit.89 Jedoch erst die zweite Novelle 1973 manifestierte die Abkehr vom Leitbild des Ordoliberalismus, die sich seit Mitte der 1960er Jahre entwickelt hatte, und orientierte sich am Leitbild der optimalen Wettbewerbsintensität.90 1957 schrieb das GWB den Wandel in der deutschen Wettbewerbspolitik vom Missbrauchsprinzip zum Verbotsprinzip fest. Das ordoliberale Ziel, die Wettbewerbspolitik der Prozesspolitik zu entziehen, war um den Preis zahlreicher Ausnahmetatbestände erreicht worden. Maßstäbe für Ausnahmen und der Entscheidungsprozess darüber waren rechtlich festgelegt und dem politischen Entscheidungsraum weitgehend entzogen worden. Die Verantwortlichkeit für die Durchsetzung einer aktiven Kartell- und Wettbewerbspolitik war in die Hände der unabhängigen Kartellbehörde gelegt worden. Für Wirtschaftsminister Erhard war die Realisierung eines Kartellrechts von Anfang an eng mit seinem Konzept marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik verknüpft. Das Wettbewerbsrecht sollte „die Krönung einer marktwirtschaftlichen
86 Vgl. GWB §§ 87–90. Fritz Rittner sah hierin einen zentralen Grund für den Erfolg des GWB. Vgl. Rittner, Fritz: Konvergenz oder Divergenz der europäischen Wettbewerbsrechte? In: Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb (FIW) e.V. (Hrsg.): Integration oder Desintegration der europäischen Wettbewerbsordnungen? S. 31–84. S. 33. 87 Auf die Besetzung des Präsidentenposten dieser dem Wirtschaftsministerium nachgeordneten Behörde durch Bundeswirtschaftsminister Erhard versuchte der BDI Einfluss zu nehmen, um den Leiter des Kartellreferats im Wirtschaftsministerium Eberhard Günther zu verhindern; wenn auch erfolglos. Vgl. Braunthal: Federation of German Industry. S. 246f. 88 Die Ministererlaubnis ging auf einen Vorschlag des Bundesrates zurück und war unter Einflussnahme der Industrie vom Wirtschaftspolitischen Ausschuss des Bundestages übernommen worden. Die damit verbundene Einschränkung der Generalklausel des Kartellverbots war als Ausgleich für die Streichung des Konjunkturkrisenkartells eingeführt worden und war nur für ausgesprochene Krisensituationen gedacht. Vgl. Langen, Eugen: Kommentar zum Kartellgesetz. Neuwied 1958. S. 92 und S. 116f. 89 Vgl. Satzky: Grundsätze, Entstehung und Novellierungen. S. 234–237. 90 Vgl. Kartte; Holtschneider: Konzeptionelle Ansätze und Anwendungsprinzipien. S. 210ff.
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Ordnung“ werden.91 Für ihn war das Kartellgesetz „ein Kernstück der Sozialen Marktwirtschaft“, ein „Markstein in der Geschichte des deutschen Wiederaufbaues“, mit dem staatlicher Dirigismus überwunden und ein unerlässlicher Beitrag zur Demokratie geleistet werden sollte.92 Aufgrund dieser Überzeugung war mit hoher Präferenz für eine aktive Wettbewerbspolitik auch auf europäischer Ebene zu rechnen. Angesichts der intensiven Auseinandersetzungen zwischen Erhard und der deutschen Wirtschaft in dieser Frage war zu erwarten, dass diese Positionen auch unabhängig von den Interessen der Wirtschaft in dieser Frage, die bei den Auseinandersetzungen um das GWB deutlich zu Tage getreten waren, vertreten würde. C.1.b Frankreich Wettbewerbspolitik hatte in Frankreich keine Tradition. Sie war kein eigenständiges Element der französischen Wirtschaftspolitik. Wettbewerbsfreiheit war in Frankreich während der französischen Revolution im Rahmen der Befreiung von allen ständisch-monarchischen Berufsorganisationen 1791 eingeführt worden.93 ‚Laissez-faire‘ kennzeichnete die wirtschaftspolitische Einstellung im 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Einstellung gegenüber Absprachen und Kartellen war neutral bis positiv. Extreme Ausnutzungen der Wirtschaftsfreiheit wurden durch Rechtsprechung zum unlauteren Wettbewerb in die Schranken gewiesen. Mit Ausnahme von Absprachen zur Beeinflussung von Preisen, welche 1810 durch den Artikel 419 des Code Pénal verboten worden waren, bestanden keine rechtlichen Regelungen zu Kartellabsprachen.94 Neben der Notwendigkeit, Gesetze den wirtschaftlichen Veränderungen anzupassen, stand immer die Kontrolle von Preisen im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik, auch bei der Neufassung des Artikel 419 des Code Pénal im Jahr 1926. Auch wenn Kartellabsprachen weiterhin nicht verboten wurden, unterschied man nun zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Kartellen, ohne sie gesetzlich zu definieren und duldete sie, sofern 91 Beitrag von Ludwig Erhard bei der ersten Lesung des GWB im Ersten Deutschen Bundestag. Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 1. Wahlperiode 1949. Stenographische Berichte 12. 220. Sitzung am 26. Juni 1952. S. 9749(A)–9750(D). S. 9750(D). 92 Erhard, Ludwig: Rede auf dem CDU-Bundesparteitag am 22. Oktober 1950. In: Erhard: Deutsche Wirtschaftspolitik. S. 138–152. S. 151f. Vgl. Erhards Begründung des Verbotsprinzips am 24. 3. 1955 im Bundestag. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 24. 76. Sitzung am 24. März 1955. S. 4207–4211. 93 Ständische Zünfte sollten aufgelöst, gleichzeitig Absprachen von Bürgern ein und desselben Berufszweiges verboten werden. Vgl. Catrice, Roger L.: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. In: WuW 8 (1958). S. 285–295. S. 285; ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 15f. 94 Art. 419 Code Pénal von 1810. Vgl. Freitag, Gudrun: Konzentrationspolitik in Frankreich (Schriften zur Konzentrationsforschung 5). Tübingen 1972. S. 17–25; Lob, Harald: Die Entwicklung der französischen Wettbewerbspolitik bis zur Verordnung Nr. 86-1243 vom 01. Dezember 1986. Eine exemplarische Untersuchung der Erfassung der Behinderungsstrategie auf der Grundlage des Konzepts eines wirksamen Wettbewerbs (Hohenheimer Volkswirtschaftliche Schriften 7). Frankfurt am Main, Bern, New York u.a. 1988. S. 159.
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sie ihre wirtschaftliche Macht nicht missbrauchten. Absprachen, die durch bewusste Marktbeeinflussung über das Normale hinausgehende Gewinne erzielten, wurden nun unzulässig und hart bestraft.95 Jedoch war der für eine Verurteilung notwendige Nachweis anormaler Gewinne, tatsächlicher Marktbeeinflussung und bewusster Gesetzesübertretung kaum möglich, so dass zahlreiche Wettbewerbsbeschränkungen nicht erfasst werden konnten.96 Parallel zur Wirtschaftspolitik der Preiskontrolle stand die Industriepolitik, verstanden als staatliche Unterstützung großer nationaler Betriebe und interventionistisches Regierungshandeln, im Vordergrund französischer Wirtschaftspolitik. Mehrheitsfähig waren Maßnahmen der Regierung zum Ausbau französischer Macht, wie jene, die französische Unternehmen zu Kartellen formten, um auf dem Weltmarkt eine führende Position einzunehmen. So entstanden in den 1920er Jahren zahlreiche nationale Kartelle mit Unterstützung der staatlichen Bürokratie.97 Die positiven Wirkungen von Kartellen im Blick schuf man zwischen den Weltkriegen die Möglichkeit, auf Betreiben der Wirtschaft Zwangskartelle zu bilden, um negative Konsequenzen der schlechten wirtschaftlichen Lage zu überwinden. Auch wenn es in keinem Fall zur Zwangskartellierung kam, wird diese Möglichkeit das Handeln der Unternehmer sanktioniert haben.98 Spätestens nach der Weltwirtschaftskrise 1929 wandelte sich die französische Wirtschaftspolitik zum Dirigismus und während des zweiten Weltkriegs wurden die staatlichen Marktinterventionen ausgebaut.99 Zum Zweck des Wiederaufbaus und der Modernisierung der französischen Wirtschaft befreite der Staat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges seine Wirtschaft zwar von einem Teil der Restriktionen. Gleichzeitig griff er aber durch Planung für wichtige Wirtschaftszweige (‚planification‘) und Verstaatlichung wesentlicher Industriezweige bzw. durch den Ausbau von staatlichem Eigentum an großen Unternehmen (‚Nationalisierung‘) massiv in den Markt ein. Die Verstaatlichungen unter de Gaulle 1944 und 1945 wurden ergänzt durch die Bildung des Generalkommissariats für Planung. Preiskontrollen wurden ebenso beibehalten wie aktive Industriepolitik durch Subventionen.100 Das System der 95 Vgl. Sennewald, Helmut: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen in Frankreich (Beiträge zum europäischen Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht 3). Karlsruhe 1964. S. 18ff.; Freitag: Konzentrationspolitik in Frankreich. S. 25–28. 96 Vgl. Catrice: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. S. 287. 97 Vgl. Schröter: Cartelization and Decartelization in Europe. S. 135. 98 Die Voraussetzung für Zwangskartellierung war ein Antrag von mehr als 66% der Unternehmen, die ebenfalls mindestens 75% der Produktion aufbringen mussten. Vgl: Schröter, Harm G.: Kartellierung und Dekartellierung 1890–1990. In: VSWG 81 (1994). S. 457–493. S. 472f. 99 Vgl. Souam, Saïd: French Competition Policy. In: Martin (Hrsg.): Competition Policies in Europe. S. 205–227. S. 205f; Sennewald: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. S. 34. 100 Vgl. Souam: French Competition Policy. S. 206; Dumez; Jeunemaître: Convergence of Competition Policies in Europe. S. 217; Ebenroth, Carsten Thomas; Strittmatter, Marc: Französisches Wettbewerbs- und Kartellrecht im Markt der Europäischen Union (Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht, Beihefte 1). Heidelberg 1995. S. 20f.; Freitag: Konzentrationspolitik in Frankreich. S. 6–16. Umstritten ist, inwieweit durch die Planification Wettbewerbs-
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‚planification‘ bestimmte die Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Die Industriepläne der Regierungen sahen sowohl staatliche Planung als auch Eingriffe in das Marktgeschehen durch Preiskontrollen vor. Schwarzmarkt und Inflation in den Jahren nach dem Krieg führten allerdings dazu, dass Kartelle als Verursacher von Güterknappheit und Teuerung ins Visier der Politik gerieten. Infolgedessen wurde die Sorge um den Preisniveauanstieg zu einem der Auslöser für erste wettbewerbspolitische Schritte. Man gelangte zu der Überzeugung, dass antiwettbewerbliches Verhalten der Wirtschaft allgemein höhere Preise verursachte und somit die Ziele der Preiskontrollpolitik konterkarierte.101 Die unkritisch positive Einstellung gegenüber Kartellen schwand, und es stieg die Bereitschaft, neben der Preiskontrollpolitik auch das Kartellrecht und damit die Mängel der Artikel 419ff des Code Penal von 1926 zu reformieren.102 Zu einer solchen Reform existierten unterschiedliche Entwürfe, die nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die Havanna Charta, den amerikanischen Druck und die nationalen wirtschaftlichen Probleme waren.103 Da die Verantwortlichkeifreiheit erstickt wurde. Die Vermutung, dass effektive Wettbewerbspolitik verhindert wurde beziehungsweise dass die schwachen Ansätze französischer Wettbewerbspolitik in Wahrheit zur Unterstützung der Planification dienten, wurde von Harald Lob zurückgewiesen. Lob: Entwicklung der französischen Wettbewerbspolitik. S. 18–27. 101 Vgl. Jenny, Frédéric: French Competition Policy in Perspective. In: Comanor; George; Jacquemin u.a. (Hrsg.): Competition Policy in Europe and North America. S. 146–188. S. 148f.; Wegerhoff, Klaus: Die Wettbewerbsstruktur der französischen Wirtschaft. Köln 1961. S. 254. 102 Vgl. Sennewald: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. S. 43–58. 103 Wettbewerbstheoretische Ansätze einer Ordnungspolitik, wie sie als Reaktion auf Kartellierung und Machtmissbrauch in Deutschland in den 1940er Jahren entstanden waren, gab es in Frankreich nicht. Wettbewerb war nur im Rahmen der Bewältigung von Wirtschaftskrisen und der Preiskontrollpolitik betrachtet und diskutiert worden. Die Mehrheit in Politik und Wirtschaft sah Ende der 1940er Jahre nicht die Chance der Verbesserung der wirtschaftlichen Entwicklung und Effizienz durch aktive Wettbewerbspolitik, sondern bevorzugte Industriepolitik. Das Bewusstsein, dass Wettbewerb durch bessere Allokation von Ressourcen zur wirtschaftlichen Effizienz beitrage, fand nur langsam in den folgenden Jahren unter Wirtschaftspolitikern in Frankreich Verbreitung. Nur die Diskussion über die internationale Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie führte vereinzelt zur Ansicht, dass Frankreich im Interesse seiner Wettbewerbsfähigkeit seine Unternehmen dem Wettbewerb mehr aussetzen müsse. Jean Monnet, der Begründer des „french plan“, der „planification“, verfocht diesen Gedanken. Er war bei der Verwirklichung des Schuman-Plans gewillt gewesen, die französische Montanindustrie den gleichen Wettbewerbsbedingungen auszusetzen, wie die deutsche Kohlenindustrie. Die französischen Stahlproduzenten waren ihm als Chef der französischen Planungskommission durch ihre Kartellbildung ein Hindernis beim Wiederaufbau gewesen. Die Forschung darüber, wieso es nicht zu einer französischen Wettbewerbspolitik nach 1945 kam ist vielschichtig. Saïd Souam vertrat die Meinung, dass der Druck der ökonomischen Entwicklung und der wirtschaftspolitischen Zielsetzung anfänglich klein, jedoch der Druck der Vereinigten Staaten zunächst groß war. Hervé Dumez und Alain Jeunemaître vertraten hingegen die Ansicht, dass die Amerikaner ihren direkt nach dem Krieg aufgebauten Druck auf Frankreich, als sie eine klare Antikartell- und Entflechtungspolitik betrieben, in dem Moment zurücknahmen, in dem sie erkannten, dass die französische Wirtschaft zu schwach war und mit schweren außenwirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte. Strenge Wettbewerbspolitik und Freihandel hätten in den ersten Nachkriegsjahren die Wettbewerbs-
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ten für die Wirtschaftspolitik in der französischen Regierung diffus waren und ein enger Zusammenhang zur Preispolitik bestand, kamen erste Ansätze zur Wettbewerbs- und Kartellpolitik aus den Planungs- und Preiskontrollabteilungen der Regierungsverwaltung.104 Der im Februar 1947 begonnene Konsultations- und Gesetzgebungsprozess fand aber aufgrund zahlreicher divergierender Ansichten im Parlament und dem Widerstand aus der Industrie keinen Abschluss in einem umfassenden Wettbewerbsgesetz. Ein Entwurf wurde zwar von der Nationalversammlung im Juli 1952 angenommen, aber vom Conseil de la République nicht gebilligt.105 Erst über den Weg der parlamentarischen Regierungsermächtigung konnten mit dem Dekret 53-704 vom 9. August 1953 erste Regelungen gegen wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen erlassen werden.106 Der bisherigen Rechtsprechung zu Kartellabsprachen gemäß den Artikeln 419ff. des Code Pénal und dem Verständnis entsprechend, dass Absprachen Preisprobleme nach sich ziehen, war es konsequent, dass 1953 und 1954 die ersten Antitrust-Statuten als Zusatzartikel zum Preiskontrollgesetz von 1945 verabschiedet wurden.107 Die
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fähigkeit der Volkswirtschaft überfordert. Trotz der Einsicht einiger Verantwortlicher in die Wirkung des Wettbewerbs und des äußeren Drucks aus den USA waren es wohl die angespannte wirtschaftliche Situation, der komplexe politische Gesetzgebungsprozess und die Konflikte zwischen Parteien, Regierung und Industrie, die verhinderten, dass der Wettbewerbsgedanke in Frankreich mehr Relevanz erhielt. Vgl. Souam: French Competition Policy. S. 206f.; Dumez; Jeunemaître: Convergence of Competition Policies in Europe. S. 217ff.; Asbeek Brusse; Griffiths: The Management of Markets. S. 171. Vgl. Freitag: Konzentrationspolitik in Frankreich. S.28–31; Lob: Entwicklung der französischen Wettbewerbspolitik. S. 34ff. Vgl. Sennewald: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. S. 43–51; Freitag: Konzentrationspolitik in Frankreich. S. 31–35; Vgl. Berghahn, Volker R.: Montanunion und Wettbewerb. In: Berding (Hrsg.): Wirtschaftliche und politische Integration in Europa. S. 246–270. S. 260; Catrice: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. S. 288. Die Wettbewerbsregeln wurden 1953 in einem Paket Nr. 53-704 mit anderen Gesetzen und Verordnungen am 9. August 1953 als Artikel 59bis und 59ter als Ergänzungen der Preisverordnung von 1945 (Verordnung Nr. 45-1483 vom 30. Juni 1945) erlassen. Diese Paketmethode wurde auch gewählt, damit einer der Koalitionspartner den Wettbewerbsregelungen im Rahmen des Gesamtpakets zustimmen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Vgl. Lob: Entwicklung der französischen Wettbewerbspolitik. S. 5f und 311f.; Dumez; Jeunemaître: Convergence of Competition Policies in Europe. S. 221. Das Dekret Nr. 53-704 wurde zwar am 18. Juni 1958 durch Urteil des Staatsrates in Teilen für nicht verfassungsgemäß und damit für nichtig erklärt. Jedoch erließ die Regierung de Gaulle am 24. Juni 1958 mit dem Dekret Nr. 58-545 im Wesentlichen erneut gleiches Recht. Vgl. Plaisant, Robert; Lassier, Jaques: Die neue kartellrechtliche Entwicklung in Frankreich. In: WuW 10 (1960). S. 427–435. S. 428 und für die Änderungen vgl. S. 428–432; Freitag: Konzentrationspolitik in Frankreich. S. 36. Die Genehmigungspflicht jeglicher Preisabsprachen oder –bindungen und damit eine Kontrolle von Wettbewerbsbeschränkungen durch Preisbindungen war bereits mit dem Gesetz Nr. 52/835 vom 18. Juli 1952 zur Ergänzung von Artikel 37 der Preisverordnung Nr. 45-1483 vom 30. Juni 1945 eingeführt worden. Vgl. Französisches Übergangsgesetz betr. Preisbindungen. In: WuW 1/2 1951/52. S. 810. Frankreich gehörte damit formal zu den ersten Ländern in Europa, die nach 1945 gesetzliche Regelungen für Wettbewerbsbeschränkungen erlassen hatten.
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Bestimmungen wurden in der Preiskontrollabteilung im Wirtschafts- und Finanzministerium entworfen, die auch für die Umsetzung verantwortlich blieb. Eine neue Kontrollbehörde wurde nicht eingerichtet. Abgesehen von der Errichtung einer kleinen beratenden Kartellkommission durch Dekret Nr. 54-97 vom 27. Januar 1954 über die Zusammensetzung und Arbeitsweise der ‚Commission technique des Ententes‘, blieb die „powerful old-guard Ministery of Economy and Finance Bureaucracy“ zuständig.108 Ihr Hauptziel war und blieb es, unerwünschte Preisbeeinflussungen zu verhindern und die Preise niedrig zu halten. Eine Reihe von wettbewerbsbehindernden Unternehmensstrategien, wie Verkaufs- und Lieferboykotte, diskriminierende Preisaufschläge und -behandlungen sowie verbundene Verkäufe und Mindestpreise, wurden verboten und konnten strafrechtlich geahndet werden, unabhängig ob sie von einem oder mehreren Unternehmen ausgeführt wurden.109 Die Aufsicht über diese Wettbewerbsbehinderungen wurde in erster Linie nach wirtschaftlichen Ermessensmaßstäben von einer Verwaltungsstelle durchgeführt. Dieses ‚Amt für die Untersuchung von Wirtschaftsvergehen‘ versuchte die „Vermeidung von Prozessverfahren zu erreichen, indem es anstelle der Strafverfolgung erzieherisch und ausgleichend wirkt(e).“110 Weitere Bestimmungen verboten sowohl Kartelle bzw. Kartellorganisationen als auch die Ausnutzung einer monopolitischen Stellung weiterhin nicht grundsätzlich, sondern erklärten nur jene vertraglichen, ausdrücklichen oder stillschweigenden, Kartelle für ungesetzlich, die ungünstigen Einfluss auf den Preis hatten, indem sie den Rückgang von Produktionskosten oder von Verbraucherpreisen verhinderten oder künstliche Preiserhöhungen begünstigten. Gegenstand und Inhalt der Absprachen waren unerheblich, entscheidendes Kriterium war deren Wirkung. Diese Regelung wurde jedoch zusätzlich von zwei erheblichen Ausnahmen eingeschränkt. Ausgenommen vom Verbot waren alle Aktionen, Abkommen oder Absprachen, die aufgrund von Gesetzen oder Verordnungen erfolgten. Staatlich verursachte Wettbewerbsbeschränkungen fielen also nicht unter die neuen Wettbewerbsregeln. Ebenso konnten Ausnahmegenehmigungen erteilt werden, wenn die Kartellmitglieder nachweisen konnten, dass durch die eigentlich illegalen Absprachen die Produktion verbessert oder ausgedehnt, oder die wirtschaftliche Entwicklung durch Rationalisierung oder Spezialisierung vorangetrieben würde und die positiven Ergebnisse nicht nur den Kartellmitgliedern, sondern ebenso Konsumenten und der Gesamtwirtschaft zu Gute kämen.111 108 Dumez; Jeunemaître: Convergence of Competition Policies in Europe. S. 221. Eine Kartellkommission sollte bereits mit dem gescheiterten Kartellgesetzentwurf von 1952 eingerichtet werden. Vgl. Catrice: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. S. 288. 109 Bei Mindestpreisen gab es die Möglichkeit ministerieller Sondergenehmigungen. Vgl. Wegerhoff: Wettbewerbsstruktur der französischen Wirtschaft. S. 256–275; Catrice: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. S. 289f. 110 So die Darstellung des französischen Regierungsvertreters 1958. Vgl. ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 17. 111 Vgl. Catrice: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. S. 289; Jenny, Frédéric; Weber, Andre Paul: French Antitrust Legislation. An Exercise in Futility? In: The Antitrust Bulletin 20 (1975). S. 597–639. S. 616.
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Auf Basis dieser Regelungen ging man in den folgenden Jahren vor allem gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch Verkaufskontingente, durch Marktaufteilungen oder Preistabellen, die Charakter der Festlegung von Fix- und Mindestpreisen hatten, vor.112 Die Missbrauchsaufsicht über Kartelle und in eingeschränktem Rahmen über marktbeherrschende Unternehmen wurde in einem mehrstufigen Verfahren durchgeführt. Sie lag zunächst bei den Preisabteilungen des Finanz- und Wirtschaftsministeriums und der Departements, die die Preisentwicklung beobachteten und auf mögliche Absprachen achteten.113 Bei Verdachtsmomenten oder auf Anweisung des Wirtschaftsministers wurden Vor- und Hauptuntersuchungen durchgeführt, die nach positivem Ergebnis nur nach alleiniger Entscheidung des Wirtschaftsministers in ein Kartellverfahren münden konnten.114 Kam es dazu, wurde der Fall der ‚Commission Technique des Ententes‘ zur Untersuchung und Stellungnahme übergeben. Diese 12-köpfige Kommission, die sich aus vier ehrenamtlichen Arbeitgeber- und zwei Arbeitnehmervertretern sowie sechs hohen Justiz- und Verwaltungsbeamten des Staatsrats, Kassationshofs, Rechnungshofs oder anderer ordentlicher Gerichte zusammensetzte115, musste nach eingehender Untersuchung in einem Gutachten darlegen, ob gegen Wettbewerbsregeln verstoßen wurde und die aufgedeckten Praktiken damit illegal waren.116 Die nicht öffentlichen Gutachten konnten Vorschläge für Auflagen und Beschränkungen für die jeweiligen Kartelle enthalten und waren Entscheidungshilfen für den Minister.117 Ihm allein oblag die Entscheidung, ob das Verfahren niedergeschlagen wurde, weil keine illegalen Praktiken festgestellt wurden, oder es an die Staatsanwaltschaft übergeben wurde. Zudem konnte er Firmen oder Organisationen, die von der Kommission eines Vergehens für schuldig befunden worden waren, schriftlich dazu auffordern, die unzulässigen Handlungen zu beenden bzw. abzuändern. Bis 1977 orientierte sich der Minister bei dieser Entscheidung, mit
112 Vgl. Catrice: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. S.292; Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 602–612. 113 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 148. Vgl. Schröter: Kartellierung und Dekartellierung 1890–1990. S. 489. 114 Vgl. Sennewald: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. S.164ff. 115 Mit dem Erlaß Nr. 59-1004 vom 17. August 1959 wurde die Kartellkommission um zwei Mitglieder aus Sozialverbänden auf 14 Mitglieder verstärkt. Vgl. o. Verf.: Änderungen im Verfahren und der Zusammensetzung der Kartellkommission. In: WuW 9 (1959), S. 897. 116 Die Kommission konnte auch von Amts wegen eine Sache an sich ziehen oder durch Anrufung von anderen Ministerien oder Justizbehörden tätig werden. Vgl. Catrice: Augenblicklicher Stand der französischen Kartellgesetzgebung. S. 290f.; ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 19. Die Sitzungen und Entscheidungen der Kommission waren geheim. Der jährlich dem Minister vorgelegte Tätigkeitsbericht der Kommission wurde erst auf mehrfache Anregung der Kommission hin ab 1959 (Verordnung Nr. 59-1004) veröffentlichungspflichtig. Vgl. Tirpitz: Jahresberichte der französischen Kartellbehörde. S. 861. 117 Sie enthielten eine juristische und eine ökonomische Bewertung des Falls. Vgl. Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 598f.
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Ausnahme eines Falles, an den Vorschlägen der Kommission.118 Bis November 1958 wählte der Minister immer den Weg der Aufforderung zur Herstellung des freien Wettbewerbs, was durch die Drohung mit strafrechtlichen Maßnahmen „die gütliche Beilegung von rund zwanzig solcher Fälle“ zur Folge hatte.119 Die Justiz konnte somit in der französischen Wettbewerbspolitik der 1950er Jahre keine Bedeutung bekommen, da die strafrechtlichen Grundlagen des Code Pénal kaum Anwendung fanden und Zivilklagen die Ausnahme blieben.120 Hinsichtlich der Umsetzung bestehender Gesetze und ihrer Wirkung wird man zu dem Urteil kommen, dass die Wettbewerbsregeln nicht konsequent durchgesetzt wurden. Herr des Geschehens war der Wirtschaftsminister, der über die Einleitung des Kartellverfahrens und die Prüfung durch die Kommission oder die Kontaktaufnahme mit den Unternehmen im Rahmen der Vor- und Hauptuntersuchungen entschied. Die ‚Commission Technique des Ententes‘ wurde in den ersten Jahren durch die Entscheidungen des Ministers nur mit wenigen Fällen betraut.121 Da potentiell wettbewerbsfeindlich agierende Firmen durch Vor- und Hauptuntersuchungen der Preisabteilungen und durch die spätere Untersuchung der Wettbewerbskommission gewarnt waren und Praktiken und Absprachen schon im Vorfeld ändern oder versuchen konnten, sie zu vertuschen, kamen Frédéric Jenny und Karl Walz übereinstimmend zum Ergebnis, dass das 1953 eingeführte Kontrollsystem ineffektiv war.122 Die Zuständigkeit der regionalen und zentralen Preisabteilungen und der Ministerialbürokratie in Paris macht deutlich, dass diese Regelungen kaum als erster Schritt zu einer aktiven Wettbewerbspolitik gewertet werden können. Die Verknüpfung von Wettbewerbskontrolle und Preiskontrolle durch die regionalen Preisabteilungen ist im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Entscheidungen durch die Verwaltung, aufgrund der engen Verknüpfung regionaler Wirtschaftspolitik mit den Interessen lokaler Unternehmer, kritisch zu beurteilen. Die Abneigung öffentlicher Autoritäten gegenüber der Förderung von freien Marktkräften und deren positiven Wirkungen durch Unterstützung des 118 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 149; Sennewald: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. S.166ff; Lob: Entwicklung der französischen Wettbewerbspolitik. S.104f. Zur Arbeit der Kommission vgl. Wegerhoff: Wettbewerbsstruktur der französischen Wirtschaft. S. 285–291. 119 Aussage des französischen Regierungsvertreters 1958. Vgl. ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 19. 120 Vgl. Rittner: Konvergenz oder Divergenz. S. 35. 121 Bis 1957 hatte die Kommission in zehn Fällen Gutachten erstellt, die ihr vom Minister zur Beurteilung zugeleitet worden waren. Von 1957 bis 1959 wurde in ebenfalls zehn Fällen eine Entscheidung durch die Kommission getroffen. Vgl. o. A.: Die Tätigkeit der Kartellkommission in Frankreich. Antwort des Staatssekretärs im französischen Wirtschaftsministerium auf eine schriftliche Anfrage eines Abgeordneten zur Tätigkeit der Commission Technique des Ententes. In: WuW 9 (1969). S. 441–444. S. 442; Tirpitz, Egbert von: Die Jahresberichte der französischen Kartellbehörde (1954–1959). In: WuW 11 (1961), S. 861–866. S. 864f. 122 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 150; Walz, Karl: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. Zur Behandlung der vertikalen und individuellen Verträge im Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Abhandlungen zum Arbeits- und Wirtschaftsrecht 23). Heidelberg 1972. S. 131, 148.
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Wettbewerbs war offenkundig, urteilte Jenny.123 Die Ministerialbürokratie hatte beträchtliche Möglichkeiten im Rahmen der Preis- und Wettbewerbskontrollen andere wirtschaftspolitische Ziele als die Förderung des Wettbewerbs zu verfolgen.124 Stets wurden Einigungen auf dem Kompromissweg gesucht und auch bei nachgewiesenen Rechtsverstößen räumte der Minister den Firmen lange Fristen ein, um ihr Verhalten zu ändern, bevor weitere Prüfungen anstanden.125 Erst spät drohte das Strafverfahren, das sich aber als letzte Konsequenz langfristig nicht als ernste Sanktionsgefahr herausstellte, da auch die Gerichte Kartellfälle nicht schnell und effektiv bearbeiteten.126 Die lange Verfahrendauer, die das Gesetz zuließ, von Anfangsverdacht und Voruntersuchung bis hin zur Billigung des Verhaltens unter Auflagen oder Einleitung eines Strafverfahrens, beeinflusste die Wettbewerbskontrolle stark. Verwaltungsentscheidungen mit Ermessensspielraum, nicht durch die an Gesetzen orientierten Justizbeschlüsse prägten die Verfahren.127 Nach Ansicht von Jenny und Andre Weber wurde eine effektive Wettbewerbspolitik primär durch die Inkonsistenz von Gesetzgebung und der verfolgten Wirtschaftspolitik verhindert. Diese Einschätzung belegt die Unentschiedenheit zwischen systematischer Förderung von Fusionen einerseits und dem gleichzeitigem Wunsch nach der Verhinderung sozialer Kosten andererseits, die durch Konzentration von Marktmacht entstand.128 Allein die 1953 eingeführten Ausnahmetatbestände legten offen, dass die wirtschaftspolitische Präferenz nicht die Steigerung wirtschaftlicher Entwicklung durch Wettbewerb war. Es wurde im Gegenteil festgeschrieben, dass interventionistische Industrie- und Preispolitik durch aktive Wettbewerbspolitik nicht behindert werden sollte.129 Vor allem kritisierten Jenny und Weber jedoch Konstruktion, Zusammensetzung und institutionelle Stellung der Wettbewerbskommission. Hier bestand ein starkes Missverhältnis zwischen dem Umfang und der Breite der an die Kommission übertragenen Aufgaben und ihrer personellen Ausstattung. Im Rahmen des Untersuchungsverfahrens musste die Kommission allgemeine Maßstäbe für illegales Verhalten erarbeiten und gleichzeitig jeden Fall vom ökonomischen Standpunkt einzeln untersuchen und bewerten.130 Diese Aufgaben mussten von den 12, ab 1959 14, 123 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 150. 124 Vgl. Souam: French Competition Policy. S. 207; Lob: Entwicklung der französischen Wettbewerbspolitik. S.251f. 125 Vgl. ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 16. 126 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 150; Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 131 und S. 148. 127 Die Wettbewerbskommission schlug 1966 zum ersten Mal dem Minister direkt die strafrechtliche Verfolgung eines Falles nach Art. 59ter vor. Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 131. 128 Vgl. Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 634f. 129 Vgl. Wegerhoff: Wettbewerbsstruktur der französischen Wirtschaft. S. 275–285. 130 Zu den Maßstäben vgl. Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 626ff. Jedoch wurden Grundsätze der Wettbewerbspolitik erst ab 1959 nach der Veröffentlichungspflicht der Jahresberichte durch Veröffentlichung der Entscheidungspraxis offen gelegt werden. Dadurch entstand mehr Rechtssicherheit für die Unternehmen, da den Wirtschaftssubjekten angezeigt
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ehrenamtlichen Kommissionsmitgliedern nebenberuflich geleistet werden. Sie konnten zwar auf die Voruntersuchungsunterlagen der Ministerialbürokratie zurückgreifen und waren mit weitreichenden Prüfungsbefugnissen ausgestattet, wurden jedoch nur ungenügend von eigenen Untersuchungsbeamten in ihrer Arbeit unterstützt.131 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Kommission bis 1973 nie mehr als neun Untersuchungen pro Jahr durchführte. Diese limitierte Untersuchungskapazität der Wettbewerbskommission war langfristig der eigentliche ‚Flaschenhals‘ der Wettbewerbspolitik. Ohne dass die Kommission Untersuchungen abschloss, eine Entscheidung traf und an den Minister weiterleitete, bestand keine Möglichkeit, einen Fall vor Gericht zu bringen.132 Somit trugen sowohl die Konstruktion des Verfahrens als auch die Konstruktion der Wettbewerbskommission und ihre Ressourcenausstattung mit dazu bei, dass die Wahrscheinlichkeit für Kartelle groß war, über Jahre hinweg relativ ungestört zu bleiben und ihre wettbewerbsbehindernden Praktiken ausüben zu können. Ehemalige Kartellmitglieder, die bereit zur Anzeige waren, oder private Kläger wendeten sich nicht mit Beschwerden an den Wirtschaftsminister oder die Justiz, da die „schleppende Arbeitsweise des Wirtschaftsministerium(s)“ einen zu langen Zeitraum für potentielle Repressionen seitens der Beschuldigten vor Abschluss des Verfahrens zuließ.133 Stellung und Unterstützung der ehrenamtlich ausgeübten Wettbewerbspolitik in der kleinen ‚Commission Technique des Ententes‘ im Gegensatz zur hauptamtlich umgesetzten Industriepolitik in der Regierungadministration sind ebenfalls Ausdruck geringer Präferenz für aktive Wettbewerbspolitik in Frankreich. Hervé Dumez und Alain Jeunemaître machten die Verbindung von alter Bürokratie und Großindustrie in Frankreich dafür verantwortlich, dass sich aktive Wettbewerbspolitik nicht durchsetzte.134 Die Regierungen hatten meist eine prinzipiell positive Haltung gegenüber den Forderungen aus der Wirtschaft. Wenn der Staatssekretär des französischen Wirtschaftsministeriums auf eine schriftliche Anfrage eines Abgeordneten aus dem Januar 1957 zur Tätigkeit der ‚Commission Technique des Ententes‘ antwortete, dass „eine Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen [...] ohne dass es notwendig gewesen wäre, auf eine streitige Verhandlung in der Sache zurückzugreifen“135 erreicht wurde, dann zeigt dies, dass die Politik eher von wohlmeinender Kooperation als von eingreifendem Ordnungsverständ-
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wurde, welche Praktiken ermöglicht und welche explizit abgelehnt würden. Vgl. Tirpitz: Jahresberichte der französischen Kartellbehörde. S. 861.; o. A.: Änderungen im Verfahren und der Zusammensetzung der Kartellkommission. In: WuW 9 (1959), S. 897. Zur Diskussion über die Veröffentlichung der Berichte und zur Arbeit der Kommission vgl: Wegerhoff: Wettbewerbsstruktur der französischen Wirtschaft S. 291ff. und S. 294–309. Vgl. ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 18f; Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 637. Zu dieser Einschätzung kamen Jenny und Weber nach der Untersuchung von Kommissionsberichten zwischen 1945 und 1973. Vgl. Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 639. Wegerhoff: Wettbewerbsstruktur der französischen Wirtschaft. S. 311. Dumez; Jeunemaître: Convergence of Competition Policies in Europe. S. 222. Vgl. o. A.: Die Tätigkeit der Kartellkommission in Frankreich. S. 442.
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nis geprägt war. Neben der schwachen Stellung der Wettbewerbskommission im Institutionengefüge waren die Entscheidungen der Wettbewerbskommission selbst an der Schwächung der Wettbewerbspolitik beteiligt. Auch von ihr ging die Tendenz aus, lieber zu Verhandeln als zu Handeln. Nach rund 58 untersuchten Fällen im Zeitraum 1954 bis 1966 empfahl sie dem Minister im Jahr 1966 zum ersten Mal die Übersendung eines Falles an die Staatsanwaltschaft.136 Die öffentliche Charakterisierung der Kommission durch den Staatssekretär im Wirtschaftsministerium als eine, die „sich bemüht, nicht einer systematischen Unterdrückung aller wettbewerbsbeschränkenden Praktiken zu folgen“ und „daher Absprachen, die der industriellen Konzentration und der Spezialisierung dienen, weitgehend begünstigend gegenüber“ stand, enthüllte Charakter und Stellung der Wettbewerbspolitik in der französischen Wirtschaftspolitik der 1950er Jahre.137 Wenn der Staatssekretär öffentlich die Unternehmer beruhigt, dass „im Rahmen der Spezialisierungsabkommen [...] die Industriellen jedoch keine feindlich gesinnte Haltung der Commission Technique des Ententes zu befürchten“ 138 hätten, so macht dies die mangelnde Unabhängigkeit der Kommission deutlich. „Ziel der Gesetzgebung sei [...] die Akklimatisierung der Wirtschaft an das Konzept des Wettbewerbs, ein Konzept, das noch in weiten Kreisen Frankreichs auf Ablehnung stoße,“ fasste von Tirpitz die eindeutige Meinung der ‚Commission Technique des Ententes‘ über das Kartellgesetz aus den Jahresberichten der Kommission von 1954–1959 zusammen.139 Eine Grenzziehung zwischen Erlaubtem und Verbotenem ist aufgrund der bis Ende der 1960er Jahre erstellten Gutachten der Kommission nicht möglich. Im Vordergrund schien immer „die Förderung des Allgemeininteresses“ zu stehen.140 Maßstab war die Preisbeeinflussung, was eine Beurteilung der Einzelfälle am Maßstab der wirklichen Beeinträchtigung erforderte. Wettbewerb als eigener Maßstab kam nicht zur Geltung. ‚Fall zu FallEntscheidungen‘, „eine Abwägung aller Plus- und Minusfaktoren“ stellte die Regel der Kartell- und Missbrauchskontrolle dar.141 Die Kartellkommission bewertete die gesetzlichen Regelungen so, „dass der freie Wettbewerb zwar die kartellrechtliche Norm, nicht aber die einzig mögliche Lösung darstellt(e). Dem Gesetz widerspricht es nicht, wenn ein Kartell oder eine ordnende Beschränkung des Wettbewerbs in bestimmten Fällen dem völlig freien Wettbewerb vorgezogen wird, wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere in Bezug auf die Preise, günstiger sind,“ urteilte die Kommission.142 Nach Auffassung von Jenny und Weber war für diese Interpretation, die die Wettbewerbspolitik prägte, auch
136 Vgl. Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 625. 137 Vgl. o. A.: Die Tätigkeit der Kartellkommission in Frankreich. S. 444. Zur Wirtschaftspolitik im Frankreich der 1950er und frühen 1960er Jahre vgl. Zijlstra, Jelle: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik in der EWG und ihren Mitgliedstaaten. Brüssel 1966. S. 13–17. 138 Vgl. o. A.: Die Tätigkeit der Kartellkommission in Frankreich. S. 444. 139 Tirpitz: Jahresberichte der französischen Kartellbehörde. S. 862. 140 Vgl. Plaisant; Lassier: Die neue kartellrechtliche Entwicklung. S. 434. 141 Vgl. Tirpitz: Jahresberichte der französischen Kartellbehörde. S. 862f. 142 Zitiert nach: ebd. S. 866.
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der hohe Anteil von Wirtschaftsvertretern in der Wettbewerbskommission verantwortlich.143 Mitte der 1950er Jahre gab es in Frankreich zwar eine Wirtschaftspolitik, die wettbewerbsbehindernde Strategien von Unternehmen bekämpfte. Die dahinter stehende Motivation basierte allerdings weder auf amerikanischen Anti-TrustVorstellungen noch auf den mit der deutschen ordoliberalen Theorie vergleichbaren Konzepten. Der Aufbauwille der Regierenden nach 1945 und die Existenz starker Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften hatten zu enger Kooperation von Bürokratie und Wirtschaftsführern mit dem Ergebnis staatlicher Eingriffe durch Planung geführt. Das Ziel Inflationsbekämpfung wurde mit dem Instrument Preiskontrollpolitik verfolgt, die dargelegten wettbewerbsrelevanten Regelungen waren eine Folge dieser Zielsetzung. Das eingeführte Verfahren zur Missbrauchskontrolle legte sowohl die Nähe von Regierung und Wirtschaft als auch den Unwillen offen, eine scharfe Waffe gegen wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen einzuführen. Die wettbewerbsrelevanten Vorschriften wurden nur im Rahmen der Preiskontrollpolitik angewendet. Das Augenmerk der Behörden richtete sich primär auf vertikale Wettbewerbsbeschränkungen des Handels, die als Verursacher von Preisauftrieb gesehen wurden. Das Ziel der technologischen Weiterentwicklung der französischen Industrie als nationale Aufgabe und die Überzeugung, dass der Handel nur minder zum Wohl der Gesellschaft beitrage, förderten das Wohlwollen gegenüber Absprachen von großen Firmen. Kartelle der Industrie wurden auch deshalb kaum kritisch untersucht, weil man davon ausging, dass ihre Absicht technischer Fortschritt oder Produktionssteigerung zu war. Aktive Industriepolitik hatte solange Vorrang vor aktiver Wettbewerbspolitik wie nationale Wettbewerbsvorteile erhalten blieben.144 Auch noch nach Gründung der EWG 1958 wurde betriebliche und technische Zusammenarbeit von Unternehmen zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit gefördert. Der Aufbau nationaler ‚global player‘ wurde Ziel französischer Wirtschaftspolitik, setzte sich endgültig in den 1960er Jahren durch und mündete in zahlreichen staatlich geförderten Fusionen zwischen 1965 und 1975.145 Bereits Anfang der 1950er Jahre war ein Verbotsgesetz, eine ex-anteKontrolle von Kartellen oder ein Kartellregister mit den nationalen Präferenzen nicht vereinbar gewesen. Hierdurch und durch die institutionelle Ausgestaltung der Missbrauchskontrolle, die aktive Wettbewerbspolitik kaum zuließ, entstand für Kartelle der größtmögliche Schutz, da Verbote oder Nichtigkeitserklärungen nur erteilt werden konnten, wenn sie aufgedeckt oder von Dritten angezeigt 143 Vgl. Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 636. 144 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 185; zur Konzentrationsentwicklung in Frankreich der 60er Jahre vgl. Vogel, Otto: Konzentrationsbewegungen im Ausland. In: Knauss; Vogel; Hermanns (Hrsg.): Unternehmenskonzentration in der westlichen Welt. S. 37–65. S. 58–51. 145 Vgl. Sennewald: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. S. 182f.; Jenny: French Competition Policy. S. 147; Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 14; Berg, Hartmut; Schmidt, Frank: Industriepolitik in Deutschland und Frankreich. Ziele – Konzepte – Erfahrungen. In: Behrends (Hrsg.): Ordnungskonforme Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft. S. 397–424. S. 399–402.
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wurden.146 In diesen Fällen lag die Beweispflicht bei der institutionell schwachen und personell dünn besetzten Wettbewerbskommission. Nur bei den Anträgen auf Freistellung waren die Antragsteller für den Nachweis der Nichtschädlichkeit ihrer Kartellabsprache zuständig.147 Systematisch resultierte daraus eine ex-post Kartellaufsicht nach dem Missbrauchsprinzip mit Legalausnahmen. Diese Form der Wettbewerbspolitik – kein Per-se-Verbot von Kartellen, sondern Verbot missbräuchlicher Ausnutzung von Marktmacht verbunden mit staatlicher Preiskontrolle – wurde beispielhaft für andere europäische Länder. In Frankreich waren in den 1950er Jahren weder Fusionskontrolle noch Monopolmissbrauchskontrolle eingeführt worden. Monopolkontrolle wurde in einigen Fällen durch das Diskriminierungsverbot erreicht. Fusionskontrolle blieb bis Ende der 1970er Jahre kein Thema der französischen Wettbewerbspolitik. Das Dekret von 1953 wurde über die Jahre einige Male überarbeitet und ergänzt, ohne dabei jedoch grundlegende systematische Änderungen vorzunehmen.148 Die lange Tradition von Marktinterventionen der französischen Regierungen mit Preiskontrollen, Subventionierungen von Schlüsselindustrien und zentral gelenkten Wiederaufbauprogrammen für Unternehmen und der offensichtlich fehlende Wettbewerbsgeist französischer Firmen im internationalen Geschäft führte zu der Ansicht, dass der Kartellerlass von 1953 immer nur als Aushängeschild, als Feigenblatt französischer Politik galt.149 Die punktuellen und geringen Änderungen ließen aber erkennen, dass langsam den Marktmechanismen mehr Raum gegeben wurde. 1977 kam es unter Premierminister und Wirtschafts- und Finanzminister Raymond Barre150, Ökonom und Vizepräsident der EWGKommission von 1967–1973, zu einer sichtbaren Kehrtwende in der französischen Kartellpolitik.151 Der Systemwechsel vom Kartellrecht, dem Störungen der freien Preise und der Preisfunktionen als Maßstab für illegales Handeln zu Grunde lagen, hin zum Kartellrecht, bei dem Zügelung, Behinderung und Störung des freien Marktgeschehens Maßstab waren, wurde erst durch das Gesetz von 1986 vollzogen, das zugleich das Preiskontrollsystem abschaffte.152 Bis mindestens Mitte der 1960er Jahre orientierte sich die französische Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik an den Präferenzen für ein niedriges Preis146 Vgl. Sennewald: Kartelle und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. S. 57. 147 Vgl. Tirpitz: Jahresberichte der französischen Kartellbehörde. S. 862. 148 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 149. So wurden wettbewerbsbeschränkende Strategien von Firmen mit dominanter Marktposition erst 1963 als Ergänzung zur Verordnung von 1945 (Gesetz Nr. 63-628 vom 2. Juli 1963) als Tatbestand eingeführt und erst 1986 durch Gesetzesergänzung ausgebaut und verfeinert. Vgl. Souam: French Competition Policy. S. 207, S. 213. Zur Umsetzung der Ergänzung von 1963 vgl. Jenny; Weber: French Antitrust Legislation. S. 612–615. 149 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 146. 150 Raymond Barre war französischer Ministerpräsident von 1976 bis 1981 und von 1976 bis 1978 auch Minister für Wirtschaft und Finanzen. 151 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 150–153; Souam: French Competition Policy. S. 207f. 152 Vgl. Jenny: French Competition Policy. S. 177; Schröter: Kartellierung und Dekartellierung. S. 489.
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niveau. Dabei wurde primär darauf geachtet, dass Preise nicht durch Absprachen ungerechtfertigt stiegen und der französischen Industriepolitik nicht zuwiderlaufen würden. Im Hinblick auf die Vertretung nationaler Präferenzen bei internationalen Verhandlungen muss festgehalten werden, dass eine Mehrheit in Wirtschaft, Administration und Regierung für eine am Missbrauchsprinzip orientierte Wettbewerbspolitik mit schwachen Institutionen und der Möglichkeit der politischen Einflussnahme eintrat. Nationale Industriepolitik durch staatliche Unterstützung der Industrie und geringe Preise durch Preiskontrolle hatten Vorrang vor der Förderung einer freien Wettbewerbswirtschaft durch aktive Wettbewerbspolitik. C.1.c Niederlande In den Niederlanden war Kartellbildung lange Zeit kaum ein Thema der Wirtschaftspolitik. Die spezifische Wirtschaftsstruktur, die bis in die 1920er Jahre geprägt war durch Landwirtschaft und starke Abhängigkeit vom Außenhandel, gepaart mit individualistischem Unternehmergeist, ließ kaum Kartelle entstehen. Zivilrechtliche Regelungen des ‚Burgerlijk Wetboek‘ verboten allein bestimmte Verträge, die gegen die guten Sitten oder gegen die öffentliche Ordnung verstießen und unterbanden wettbewerbsbeschränkende Praktiken des unlauteren Wettbewerbs.153 Erst mit zunehmender Industrialisierung und der Weltwirtschaftskrise gewann die Institution Kartell in den Niederlanden an Bedeutung, aber bis 1929 „bestand zu einer Anti-Kartell- oder Antitrustgesetzgebung nach amerikanischem oder deutschem Muster kaum Veranlassung.“154 Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den dreißiger Jahren wandelte sich allerdings die niederländische Wirtschaftspolitik und wurde interventionistisch. Kartelle und andere private Marktbeschränkungen wurden nun als positive Möglichkeit gesehen, um negative Folgen der Depression aufzufangen. Zur Eindämmung der Auslandskonkurrenz wurden in den frühen 1930er Jahren Einfuhrzölle angehoben, Einfuhrkontingente festgelegt und einzelne Branchen direkt staatlich unterstützt. Der heimische Markt sollte durch Quoten und Zölle geschützt, die Zahlungsbilanz stabilisiert und die Arbeitslosigkeit gedrückt werden. Nachdem durch teilweise Ausschaltung ausländischer Konkurrenz externer Wettbewerb quasi nicht mehr vorhanden war, wurden künstliche Knappheiten durch interne Quoten auf dem niederländischen Markt geschaffen.155 In dieser 153 Art. 1371, 1373 und 1401 Burgelijk Wetboek. Vgl. Gamm, Otto-Friedrich von: Das Kartellrecht im EWG-Bereich (Kartellrundschau, Schriftenreihe für Kartell- und Konzernrecht des In- und Auslandes 3). Köln, Berlin, München u.a. 1961. S. 86. 154 Stuart, G. M. Verrijn: Die Industriepolitik der niederländischen Regierung (Kieler Vorträge 43). Jena 1936. S. 19. Vgl. auch VerLoren van Themaat, Pieter: Die Kartellpolitik der Niederlande. In: Jahn; Junckerstorff (Hrsg.): Internationales Handbuch der Kartellpolitik. S. 351– 369. S. 352; Kwast, J. H. D. van der: Die niederländische Kartellpolitik. In: WuW 1/2 (1952), S. 516–525. S. 516f. 155 Vgl. Stuart: Industriepolitik der niederländischen Regierung. S. 16–19; Asbeek Brusse, Wendy; Griffiths Richard: Paradise Lost or Paradise Regained? Cartel Policy and Cartel Legislation in the Netherlands. In: Martin (Hrsg.): Competition Policies in Europe. S. 15–39.
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Phase niederländischer Wirtschaftspolitik kam es zu enger und durch den Ökonomischen Rat institutionell verankerter Zusammenarbeit von Regierung und Unternehmern, die die niederländische Wirtschaftspolitik über Jahre prägen sollte.156 Die vermeintlich positiven Seiten von Kartellen in der Krise nutzen wollend, verabschiedete das Parlament auf Initiative der Regierung 1935 das ‚Gesetz über die allgemeine Verbindlichkeits- und Unverbindlichkeitserklärung von Unternehmervereinbarungen‘. Ziel des Gesetzes war es, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ruinöse Konkurrenz zu verhindern, Rationalisierung zu fördern und gleichzeitig einen gesetzlichen Rahmen für Kartelle zu schaffen. Kartellpolitik wurde Bestandteil eingreifender Wirtschaftspolitik und den wirtschaftlichen Notwendigkeiten angepasst.157 Das Gesetz sollte sowohl zu großen Freiraum für private Wettbewerbsbeschränkungen einschränken als auch Möglichkeiten bieten, um Konkurrenzsituationen zu entschärfen. Wettbewerbsfreiheit bzw. -beschränkungen waren kein spezifisches Thema des Gesetzes.158 Auf Antrag eines oder mehrerer Unternehmer, die an einer Absprache oder Abmachung beteiligt waren, konnte nun der Wirtschaftsminister diese für allgemein verbindlich erklären; auch gegen den ausdrücklichen Willen von ‚Kartell-Außenseitern‘. Da man aber auch um potentiell negative Wirkungen von Kartellen wusste, wurde er gleichzeitig ermächtigt, Vereinbarungen für nichtig zu erklären. Maßstab war in beiden Fällen das Interesse der Allgemeinheit.159 An der ministeriellen Entscheidung über Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit war der ‚Ökonomische Rat‘, dessen Entscheidungskommission um Mitglieder des Gewerberates, des Mittelstandsrates und zentraler Arbeitnehmerorganisationen erweitert wurde, durch eine obligatorische Stellungnahme beteiligt.160 Nur wenige Allgemeinverbindlichkeitserklärungen wurden erteilt, von der Unverbindlichkeitserklärung wurde bis 1939 kein Ge-
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S. 16f; VerLoren van Themaat, Pieter: Netherlands. In: Friedmann (Hrsg.): Anti-Trust Laws. S. 258–280. S. 258. 1932 wurden der „Ökonomische Rat“ und ein Jahr später Wirtschaftsräte der Branchen gebildet. Ersterer war ein Sachverständigenrat, dessen 15 Mitglieder aufgrund ihrer Sachkenntnisse für vier Jahre vom Monarchen ernannt wurden und als Gutachterkollegium arbeiteten. Die Wirtschaftsräte, zusammengesetzt aus Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber und einem Vertreter der Exekutive, waren vor allem auf dem sozialpolitischen Gebiet als Gutachter tätig und waren hierbei auf ihre Branche beschränkt. Vgl. Estor, Marita: Der Sozial-ökonomische Rat der niederländischen Wirtschaft. Institution und Funktion eines zentralen und repräsentativen Wirtschaftsrates als Problem der Organisation der Wirtschaftspolitik (Volkswirtschaftliche Schriften 93). Berlin 1965. S. 28ff. Die Räte gingen 1959 im gegründeten Sozial-ökonomischen Rat (SER) auf. Vgl. VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 353f. Vgl. ders.: Netherlands. S. 259; Boserup, William; Schlichtkrull, Uffe: Alternative Approaches to the Control of Competition. An Outline of European Cartel Legislation and its Administration. In: Miller (Hrsg.): Competition, Cartels and their Regulation. S. 59–113. S. 71. Vgl. VerLoren van Themaat: Netherlands. S. 258f. Vgl. Stuart: Industriepolitik der niederländischen Regierung. S. 20f.
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brauch gemacht.161 Gleichwohl dürfte die Existenz des Gesetzes Einfluss auf das Handeln der Unternehmer, seien es Kartellmitglieder oder Außenseiter, gehabt haben. Wettbewerb konnte durch staatliches Handeln eingeschränkt werden und Kartellbildung war als prinzipiell zulässige Unternehmensstrategie anerkannt. Weitere Einschränkungen der freien Wettbewerbswirtschaft folgten 1937 und 1941. Zunächst wurde der Plan des Wirtschaftsministers Henri Caspar Joseph Hubert Gelissen umgesetzt und ein Konzessionssystem für Firmengründungen eingeführt. Mit dem Ziel, bestehende Firmen zu schützen, wurde die Gewerbefreiheit stark eingeschränkt und eine staatliche Marktzugangsbeschränkung etabliert.162 Das nationalsozialistische Besatzungsregiment erließ im November 1941 eine Kartellverordnung, die den Prinzipien korporatistisch-faschistischer Ideologie folgte. Sie ersetzte das Kartellgesetz von 1935, blieb bis in die 1950er Jahre gültiges Recht und wurde Grundlage späterer niederländischer Kartellpolitik.163 Nichtigkeits- und Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Kartellen blieben aber als Instrumente erhalten. Letztere wurde um das Initiativrecht der Regierung ergänzt und damit als Instrument staatlicher Zwangskartellierung ausgebaut. Eine unabhängige Wettbewerbskommission (Commissie Economische Medinging, CEM) zur Entscheidungsberatung sowie ein obligatorisches, nicht öffentliches Kartellregister mit Pflichtanmeldung wurden eingerichtet.164 Während des Kriegs und in der Zeit danach wurde die Autorisierung zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von der Regierung nicht genutzt.165 Die Zahl der Kartelle nahm ohnedies zu, da die erzwungene Zusammenarbeit der Unternehmer in den durch das Besatzungsregime gebildeten Gremien und Organen der sechs wirtschaftlichen Hauptgruppen Industrie, Handel, Handwerk, Transport-, Bankund Versicherungswesen guten Nährboden für neue und Fortsetzung alter Absprachen und Vereinbarungen bot. Diese Konstellation blieb auch unter den wirtschaftlich schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit zunächst erhalten.166 Registrierte Kartelle nahmen in der Nachkriegszeit weiter zu. 1949 waren es noch 349 registrierte Kartelle, 1950 bereits rund 450 nationale gemeldete Kartelle und 1956 schon knapp 850. Hinzu kamen noch gut 1000 Kartelle (1956) auf regionaler oder lokaler Ebene.167 Berücksichtigt man die positive Haltung der 161 Vgl. Schröter: Cartelization and Decartelization in Europe S. 136; Stuart: Industriepolitik der niederländischen Regierung. S. 22; Kwast: Niederländische Kartellpolitik. S. 517; VerLoren van Themaat: Netherlands. S. 259. 162 Vgl. Schröter: Cartelization and Decartelization. S.140. 163 Vgl. VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 354 und 366; Kwast: Niederländische Kartellpolitik. S. 518. 164 Vgl. Kwast: Niederländische Kartellpolitik. S. 518. 165 Nur in der Krisenzeit davor war die Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit dem Ziel ruinösen Wettbewerb zu verhindern vereinzelt angewendet worden. Vgl. VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 361; Mok, M. Rob: Die heutige rechtliche Lage der Kartelle in den Niederlanden. In: WuW 9 (1959), S. 725–730. S. 728; Kwast: Niederländische Kartellpolitik. S. 517. 166 Vgl. VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 356. 167 Zu den Zahlen vgl. Schröter: Kartellierung und Dekartellierung. S. 488; VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 356.
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niederländischen Regierung nach 1945 gegenüber Kartellen, erstaunt dies nicht. Der zu organisierende Wiederaufbau, weltweite Güterknappheit und geringer internationaler Handel schienen stärkere Wirtschaftslenkung der inländischen Industrie durch Quoten und Grenzkontrollen, die Unterstützung nationaler Handelsorganisationen zur Förderung inländischer Produktion und eine allgemein laxere Wettbewerbspolitik zu rechtfertigen. Zwar trat die sektorale Bevorzugung der 1930er Jahre in den Hintergrund, aber die tendenziell einfachere Kooperation der Exekutive beim Wiederaufbau des Landes mit Kartellen und organisierter Industrie im Gegensatz zur Zusammenarbeit mit vielen kleinen konkurrierenden Firmen führte zu einer wenig restriktiven Haltung der niederländischen Regierung gegenüber Kartellen und Absprachen.168 Zur positiven Grundstimmung gegenüber Kartellen trug auch die offene Haltung der Koalitionsregierungen gegenüber korporatistischen Institutionen und die starke Präferenz für koordinierte Preis- und Lohnpolitik bis weit in die 1950er Jahre hinein bei. Die Ziele Lohnbegrenzung für Arbeitnehmer, Höchstpreise und Preiskontrolle waren nur bei allgemeiner Akzeptanz und enger Kooperationsbereitschaft der Unternehmer mit der Regierung möglich. Der 1950 durch das Wirtschaftsorganisationsgesetz gegründete Sozial-Ökonomische Rat (SocialEconomische Raad, SER) bildete den institutionalisierten Rahmen, in dem sich 45 Vertreter von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierungen regelmäßig trafen, um Aspekte der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu diskutieren und die Regierung zu beraten.169 Der SER verfasste im Auftrag der Regierung zahlreiche Gutachten, auch zu Fragen des Wettbewerbs und der europäischen Integration.170 Das Wirtschaftsministerium stand darüber hinaus in ständigem Kontakt mit sektorspezifischen Wirtschaftsorganisationen, um Industriepolitik, Importbeschränkungspolitik und Regionalentwicklungspläne abzustimmen und zu implementieren. Die Vermutung liegt nah, dass die Regierung unter diesen korporatistischen Umständen wenig Veranlassung sah, gegen unangemeldete Kartellabsprachen vorzugehen und möglicherweise das kooperative Klima zu destabilisieren. Die weiterhin bestehende Möglichkeit zur Unverbindlichkeitserklärung trug mit dazu bei, dass
168 Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 17. 169 Vgl. Estor: Der Sozial-ökonomische Rat. S. 58–72. 170 Im Zeitraum von 1950 bis 1955 (1962) wurden von 63 (201) Gutachten 12 (20) auf dem Gebiet „Wettbewerb und Zulassung“ verfasst, wobei nur ein einziges Wettbewerbsfragen zum Gegenstand hatte („Über den Vorentwurf des Gesetzes Wirtschaftlicher Wettbewerb“, beschlossen am 29.6. 1951, zur Veröffentlichung freigegeben 1953). Auf dem Gebiet der „wirtschaftlichen Integration“ wurden vor allem ab 1956 insgesamt 35 Gutachten verfasst, von denen sich drei mit Fragen von Konkurrenz und Wettbewerb im engeren Sinne beschäftigten („Über die Regelung der Konkurrenz im Gemeinsamen Markt“ (1956), „Über die in der Freihandelszone zu treffenden Wettbewerbsregelungen“ (1958) und „Über den 1. Verordnungsentwurf der Anwendung von Art 85 und 86 des Vertrags von Rom“ (1961)). Zuvor gab es nur ein einziges Gutachten (1953), das die Integration der Benelux-Staaten zum Gegenstand hatte. Vgl. Estor: Der Sozial-ökonomische Rat. S. 103ff., S. 195f.
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man sich in Zweifelfällen eher im Vorfeld gütlich einigte, als nachträglich über die Rechtmäßigkeit von Kartelle zu streiten.171 Erst als die Probleme der Knappheit und des Wiederaufbaus der ersten Nachkriegsjahre an Relevanz verloren, die erste Konsolidierung des wirtschaftlichen Aufschwungs Unternehmen stärker in Konkurrenz treten ließ und die staatliche Preisregulierung abgebaut wurde, widersprach die Zunahme von Kartellen, speziell von Preiskartellen, dem Ziel der niederländischen Wirtschaftspolitik, die Lebenshaltungskosten möglichst niedrig zu halten. Nun übernahmen oder ersetzten private Kartelle immer häufiger die ehemals staatlich gesetzten Höchstpreise durch vereinbarte Mindestpreise.172 Auf die ständige Zunahme der beim Kartellregister gemeldeten Kartelle seit Beginn der 1950er Jahre173 reagierte die Wirtschaftspolitik mit zunehmend aktiver Kartellpolitik.174 Die Regierung wurde zunächst bei Preisabsprachen und Exklusivverträgen aktiv mit dem Ergebnis von Preissenkungen in einzelnen Branchen um 10 bis 20 Prozent. Meist wurde die aktive Kartellpolitik in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und in den dafür gebildeten Gremien und Organisationen umgesetzt.175 Bereits die Kartellverordnung von 1941 hatte den Minister dazu ermächtigt, Pauschalentscheidungen zu treffen, so dass einzelne veröffentlichte Entscheidungen des Ministers über bestimmte Praktiken auch Signalwirkung für andere Abkommen hatten und damit Tendenzen der Kartellpolitik erkennbar wurden. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen wurden nicht mehr erteilt und die veränderte Anwendung bestehender Kartellgesetze mit häufigeren Unverbindlichkeitserklärungen hatte zudem Wirkung über die konkreten Fälle hinaus.176 Veränderungen der Gesetze waren notwendig, da das bisherige Verfahren zu langwierig war, um schnell auf die im Zweifel schwerwiegende, negative Beeinflussung des Marktes und des Allgemeininteresses reagieren zu können. 1951 kam es zunächst nur zur Ergänzung bestehender Gesetze, bevor 1958 ein neues Kartellgesetz in Kraft trat. Um schneller agieren zu können, wurde im April 1951 171 Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 18; Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 25. 172 Vgl. Kwast: Niederländische Kartellpolitik. S.522f; VerLoren van Themaat: Netherlands. S. 279. 173 Waren 1951 und 1952 100 Vereinbarungen gemeldet worden, so waren es alleine 1953 140 und für das Jahr 1954 erwartete der niederländische Wirtschaftsminister Zijlstra rund 250 Vereinbarungen. Insgesamt schätzte Zijlstar die Anzahl der Kartelle mit nationaler Relevanz auf etwa 800 und jene mit regionaler Bedeutung auf 950. Vgl. o. A.: Niederlande. Beratung des Kartellgesetzes. In: WuW 5 (1955) S. 117; für genaue quantitative Angaben mit Stichtag 1.1. 1955 differenziert nach Sektoren vgl. VerLoren van Themaat: Netherlands. S. 260f. 174 Vgl. Linnssen, G.J.: Maßnahmen gegen Kartelle in den Niederlanden. In: WuW 9 (1959), S. 428–438. S. 432–438; Czapski, Georg: Aktive Kartellpolitik in den Niederlanden. Die jüngsten Maßnahmen des Wirtschaftsministeriums in Bezug auf Preisbildung und Kartellvereinbarungen. In: WuW (5) 1955. S. 371–375. 175 Vgl. VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 361–365; ders.: Netherlands. S. 279f. 176 Vgl. ders.: Netherlands. S. 260; Linnssen: Maßnahmen gegen Kartelle. S. 428f.; Kwast: Niederländische Kartellpolitik. S. 520f.
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mit dem ‚Gesetz über vorläufige Maßnahmen auf dem Kartellgebiet‘ eine Regelung verabschiedet, die es dem Wirtschaftsminister erlaubte, Absprachen vorläufig für unverbindlich zu erklären. Innerhalb von drei Monaten musste jedoch eine endgültige Entscheidung herbeigeführt werden.177 Insgesamt wurden auf Basis der Kartellverordnung von 1941 nach Kriegsende bis 1956 36 abgeschlossene Kartellverfahren von der Regierung angestrengt, wovon drei Untersuchungen zeigten, dass kein Eingriff notwendig war. In 14 Fälle hingegen wurde das Abkommen oder Teile davon als nicht vollstreckbar bzw. nicht einklagbar erklärt. In 19 weiteren Fällen wurde durch das Ministerium bekannt gegeben, dass die Vereinbarung zufriedenstellend abgeändert wurde.178 Jedoch standen diesen Fällen rund 200 weitere Kartellvereinbarungen gegenüber, die beim Wirtschaftsministerium registriert waren, denen aber nicht widersprochen wurde.179 Stärkere Kontrolle und Aufsicht von restriktiven Wettbewerbsstrategien der Unternehmen seit den frühen 1950er Jahren werden auch auf Basis anderer Zahlen deutlich. So standen nach Linssen neun Verfahren im Zeitraum Januar 1946 bis April 1951, die nicht durch Verhandlungen und gütliche Abkommen zum Abschluss kamen, 27 Verfahren zwischen Mai 1951 und Ende 1956 gegenüber.180 Der Wandel und auch Erfolg der Kartellpolitik zeigten sich daran, dass 1956 zum ersten Mal die Gesamtzahl der aufgehobenen Kartelle die Zahl der neu angemeldeten überstieg; und dies obwohl angesichts des neuen, in Aussicht stehenden Kartellgesetzes weniger Verfahren nach altem Recht angestoßen worden waren.181 Sofern man nicht davon ausgeht, dass Kartellabsprachen als Reaktion auf strengere Kartellpolitik zunehmend geheim und unangemeldet beschlossen wurden, war der Rückgang der Kartelle ein Indiz für die veränderte Einstellung der Wirtschaftssubjekte gegenüber Kartellen als Strategien unternehmerischen Handelns. Wendy AsbeekBrusse und Richard Griffiths hingegen gaben zu bedenken, dass die genannten Zahlen nicht das volle Ausmaß angewandter Kartellpraktiken in der niederländischen Wirtschaft wiedergäben. Sie waren der Meinung, dass die niederländische Wirtschaft viel stärker durch antiwettbewerbliche Praktiken beeinflusst war.182 Die Verabschiedung des bereits 1953 ins Parlament eingebrachten Wet Economische Mededinging (‚Gesetz über den wirtschaftlichen Wettbewerb‘) am 28. Juni 1956 durch das Parlament kann als Ausdruck einer veränderten niederländischen Kartell- und Wettbewerbspolitik gewertet werden, auch wenn es kein
177 Vgl. Niederländisches Gesetz über vorläufige Maßnahmen auf dem Kartellgebiet vom 11. April 1951. Abgedr. in: WuW 1/2 (1952), S. 543–544; Kwast: Niederländische Kartellpolitik. S. 518f. 178 Vgl. Wijsen, J. F. H.: Cartel Legislation in the Netherlands. In: Cartel 6 (1956). S. 110–115. S. 111f. 179 Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 18. 180 Insgesamt wurden von Januar 1946 bis Juni 1958 von der Regierung 45 formelle Kartellverfahren angestrengt. Acht Verfahren waren 1959 noch offen. Vgl. Linnssen: Maßnahmen gegen Kartelle. Anhang: S. 432–438. 181 Vgl. ebd. S. 432; VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 361. 182 Vgl. Asbeek Brusse Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 18.
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radikaler Bruch mit bisherigen Gesetzen war.183 Der Einfluss der Wirtschaft auf die Ausgestaltung des Gesetzesentwurfs durch den SER war erheblich, so dass der ins Parlament eingebrachte Regierungsentwurf von 1953 „wohl die mildesten Kartellbestimmungen, die in der letzten Zeit von einer ausländischen Regierung ausgearbeitet worden sind,“ enthielt, wie 1954 in einer Notiz in ‚Wirtschaft und Wettbewerb‘ geurteilt wurde.184 Generell blieben Kartelle legitim und lediglich bei bestimmten Fällen des Missbrauchs einer sich entwickelnden Marktbeherrschung sollte der Staat eingreifen. Der Kartellbegriff war sehr weit definiert worden, um alle Wettbewerbsabsprachen mit einzubeziehen, und zwar unabhängig davon, ob damit Marktrestriktionen verbunden waren. „Marktbeherrschung“ wurde definiert als „tatsächliches Verhältnis oder Rechtsverhältnis in der gewerblichen Wirtschaft, das einen überwiegenden Einfluss eines oder mehrerer Eigentümer von Unternehmen auf einen Markt für Güter oder Dienstleistungen in den Niederlanden herbeiführt.“185 Das neue Gesetz folgte dem Missbrauchsprinzip.186 Im Zentrum der Verantwortlichkeit für die Anwendung des Wettbewerbsrechts und der Kartellaufsicht stand weiterhin der Wirtschaftsminister. Zentrales Instrument hierbei wurde das 1941 eingeführte Kartellregister. Die Rolle der ebenfalls seit 1941 bestehenden Wettbewerbskommission wurde im Entscheidungsverfahren über die Zulässigkeit von Kartellen mit dem neuen Recht gestärkt.187 Die Anmeldepflicht für Wettbewerbsabsprachen beim Kartellregister wurde von Unternehmen des Handels und der Industrie auf Unternehmen aller Branchen ausgedehnt. Ihr war nun innerhalb eines Monats nachzukommen. Das Register blieb nicht öffentlich, jedoch konnten Informationen unter bestimmten
183 Es trat erst am 14. November 1958 in Kraft, da zuvor eine Berufungsinstanz für die Ministerentscheidungen gebildet werden musste. Vgl. VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 365f.; Wijsen: Cartel Legislation. S. 113. Vgl. auch: Niederländisches Gesetz über vorläufige Maßnahmen auf dem Kartellgebiet. S. 543f. 184 o.A.: Niederländischer Gesetzentwurf über die Regelungen des Wettbewerbs. In: WuW 4 (1954). S. 43–44. S. 44. Der erste Gesetzesentwurf der Regierung war im Februar 1951 veröffentlicht und dem SER zugeleitet worden. Vgl. Niederländischer Gesetzentwurf über den wirtschaftlichen Wettbewerb vom Februar 1951. Abgedr. in: WuW 1/2 (1951/52), S. 544– 548. Der SER gab ein halbes Jahr später jedoch ein Gutachten mit zahlreichen Änderungsvorschlägen ab. Die Regierung berücksichtigte zahlreiche dieser Einwände im neuen Regierungsentwurf; nicht zuletzt aufgrund des einstimmigen Beschlusses des SER. Erst hiernach wurde das Gutachten im Herbst 1953 von der Regierung zur Veröffentlichung freigegeben. Vgl. Estor: Der Sozial-ökonomische Rat. S. 144–148. 185 §1 des Gesetzes über den wirtschaftlichen Wettbewerb. Zitiert nach: Text des Niederländischen Gesetzes zur Regelung des wirtschaftlichen Wettbewerbs (Gesetz über den wirtschaftlichen Wettbewerb vom 28. Juni 1956). Abgedr. in: WuW 11 (1961). S. 30–38. S. 30. 186 Estor: Der Sozial-ökonomische Rat. S. 144f; Mok: Die heutige rechtliche Lage der Kartelle. S. 726. 187 Es handelte sich um einen unabhängigen Sachverständigenausschuss, dessen Mitglieder nicht Mitglied der Legislative oder Exekutive sein durften und für sechs Jahre ernannt wurden. Der Minister erhielt im Ausschuss auf Wunsch beratende Stimme. Vgl. Text des Niederländischen Gesetzes zur Regelung des wirtschaftlichen Wettbewerbs (Gesetz über den wirtschaftlichen Wettbewerb vom 28. Juni 1956). Abgedr. in: WuW 11 (1961). S. 30–38. S. 35.
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Umständen öffentlich gemacht werden.188 Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Industriezweige blieb in der Tradition der Gesetzgebung von 1935 und 1941 bestehen, wurde jedoch verändert. Die Bedingungen für Antrag und Genehmigung wurden verschärft, das 1941 eingeführte Initiativrecht der Regierung und damit das Instrument zur staatlich Zwangskartellisierung wurde abgeschafft.189 Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, die ab 1958 nach herrschender Meinung im Widerspruch zu den Regelungen des EWG-Vertrags standen, kamen jedoch praktisch nicht mehr vor. 190 Im Gegensatz zum bisherigen Recht waren mit dem neuen Recht die Befugnisse des Wirtschaftsministers ausgedehnt worden. Umfangreiche Entscheidungsbefugnisse bei Widerspruch gegen Wettbewerb behindernde Kartelle, Absprachen und den Missbrauch marktbeherrschender Stellung wurden ihm zugebilligt. Absprachen, die dem öffentlichen Interesse widersprachen, unlautere Geschäftsmethoden und Handlungen aus einer marktbeherrschenden Stellung heraus konnten nun ganz oder teilweise als ungesetzlich und nicht bindend erklärt werden. Schon zu Beginn eines Verfahrens war es bei schwerwiegenden Gründen nun möglich, Kartellvereinbarungen für vorläufig unwirksam zu erklären.191 Der Wirtschaftsminister konnte auf dem Gebiet der marktbeherrschenden Stellung Belieferungsverpflichtungen aussprechen und Preise und Konditionen vorschreiben. Er musste vor abschließenden Entscheidungen die Stellungnahme vom ‚Ausschuss für wirtschaftlichen Wettbewerb‘ einholen, war aber nicht an dessen Berichte und Empfehlungen, die nicht veröffentlicht wurden, gebunden. Die letzte Entscheidung, ob bestimmte Verhaltensweisen dem „Allgemeininteresse“ widersprachen, lag bei ihm. Zudem konnte er nun Absprachen und Aktivitäten von rechtsverletztenden Firmen veröffentlichen und damit dem öffentlichen Druck aussetzen. Neu war, dass die Regierung ermächtigt wurde, aktiv gegen Missbrauch von Wirtschaftsmacht mit beherrschendem Einfluss auf dem niederländischen Markt vorzugehen.192 Mit dem Gesetz wurde auch das Recht erweitert, nicht nur durch Einzelfallentscheidungen Richtlinien der Entscheidungspraxis darzulegen, sondern bestimmte wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen pauschal als nicht einklagbar und unverbindlich einzustufen und somit auch für die Zukunft zu untersagen. Aufgrund dieses Elements kam Walz 1972 zu dem Urteil, dass es sich bei dem niederländischen Wettbewerbsrecht um „ein Missbrauchsgesetz mit 188 Vgl. Boserup; Schlichtkrull: Alternative Approaches to the Control of Competition. S. 72. 189 Die beantragenden Mitglieder eines (angemeldeten und dadurch legitimen) Kartells mussten die Ausdehnung auf die ganze Industrie beantragen, die wesentliche Mehrheit des jeweiligen Industriezweiges ausmachen und es musste sowohl öffentliches als auch branchenspezifisches Interesse an der Einbeziehung von Außenseitern bestehen, um eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu rechtfertigten. Vgl. Mok: Die heutige rechtliche Lage der Kartelle. S. 728. 190 Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S.171, FN 507. 191 Vgl. VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 366f. 192 Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 19f. In zwei Fällen von Missbrauch marktbeherrschender Stellung bewertete die Regierung Geschäfts- und Handelspraktiken als Verstoß gegen das öffentliche Interesse. Vgl. OECD: Marktmacht und Recht. S. 110, S. 145.
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einer Ermächtigung zu einem partiellen und zeitlich begrenzten Übergang zum Verbotsprinzip“ handelte.193 Das Gesetz wurde deshalb auch als Erlaubnisgesetz mit Verbotsvorbehalt charakterisiert, das der Regierung weitreichende Eingriffsmöglichkeiten in Verträge und wirtschaftliche Machtstellungen zugestand. Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die Kartell- und Wettbewerbspolitik der Niederlande in den 1950er Jahren dem Ansatz der ex-post Missbrauchsaufsicht folgte. Kartelle und Absprachen waren nicht grundsätzlich verboten, jedoch beim Wirtschaftsminister anmeldepflichtig und unterlagen somit der Kontrolle durch die Administration des Wirtschaftsministers, ergänzt um den von der Wirtschaft mitbesetzten Wettbewerbsausschuss. Fragt man nach Wirkung und Relevanz dieses veränderten niederländischen Wettbewerbsrechts, soll an hier neben dem Wortlaut des Gesetzes auch dessen Anwendung(-smöglichkeiten) und die reale Kartellsituation berücksichtigt werden.194 Auch wenn das Kartellregister eine effektive, von Anzeigen benachteiligter Marktteilnehmer unabhängige Missbrauchskontrolle ermöglichen sollte, sind Zweifel daran angebracht, ob alle Vereinbarungen registriert und erfasst waren. Asbeek-Brusse und Griffiths kamen zum Urteil, dass zwischen der Zahl gemeldeter Kartelle und Absprachen und der Zahl aller existierenden Wettbewerbsabsprachen eine große Diskrepanz bestand. 1958 wurden zwar 198 Absprachen in das Register aufgenommen. Die Beeinflussung des Wettbewerbs durch diese Kartelle und durch nicht gemeldete Absprachen wird laut Asbeek-Brusse und Griffith jedoch unterschätzt.195 Der Eintrag in das Register war zwar laut Gesetz obligatorisch, aber das Gesetz kannte keine Strafen für aufgedeckte, unregistrierte Kartelle, außer der möglichen Nichtigkeit der Absprache.196 Es stellte somit kein adäquates Mittel zur Erfassung von wettbewerbsbehindernden Absprachen dar.197 Insgesamt ist eine hohe Dunkelziffer anzunehmen, da die Gefahr bestand, dass beim Wirtschaftsminister angemeldete Kartelle für ungültig erklärt wurden. Systematische Aufdeckung nicht angemeldeter Absprachen wurde in den Niederlanden nicht durchgeführt.198 Ein weiterer Mangel des Gesetzes war, dass die Beweislast bei der Regierung lag. Dies hätte eigentlich die Prüfung eines jeden angemeldeten und angezeigten Kartells erforderlich gemacht, lag aber im 193 Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 172ff., speziell die Anmerkungen auf S. 173. Zu ähnlichem Urteil vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 25. Auch wenn Elemente des Verbotsprinzips vorhanden waren, ist Walz´ Urteil der Anwendungspraxis des „Wet economische mededinging“ in den 1960er Jahren geschuldet. 194 Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 34. 195 Vgl. ebd.: S. 20. 196 Art. 2 und Art. 5, Gesetz über den wirtschaftlichen Wettbewerb vom 28. Juni 1956. Vgl. Text des Niederländischen Gesetzes zur Regelung des wirtschaftlichen Wettbewerbs. S. 30f. 197 Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 22. Quantitativ kamen die meisten Registrierungen aus der Bauindustrie und dem kaum wettbewerblich organisierten Transportsektor. Internationale Kartelle wurden gar nicht erst erfasst. Vgl. ebd.: S. 35. 198 Vgl. ebd.: S. 34. In einer von der EWG in Auftrag gegebenen Studie hieß es noch Anfang der 1960er Jahre, dass „wohl kaum noch ein Erzeugnis, das nicht unter irgendeine Kartellvereinbarung fällt“ in der niederländischen Wirtschaft existierte. Vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 25.
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Entscheidungsspielraum der Regierung. Einzelfallprüfungen zogen dadurch hohen Aufwand nach sich.199 Zudem war der Begriff „Allgemeininteresse“ bzw. „öffentliches Interesse“ als Richtschnur für regulierendes Eingreifen der Regierung im Gesetz nicht definiert worden, so dass von dieser Seite großer diskretionärer Ermessensspielraum vorhanden war.200 Auch die Verantwortlichkeit der Strafgerichtsbarkeit bei Kartellfragen behinderte eine effektive Kartellpolitik. Verurteilungen waren in diesem System schwieriger und vor allem langwieriger als zum Beispiel in der Bundesrepublik, wo ab 1958 das Bundeskartellamt im Rahmen des Verwaltungsrechts gegen Verstöße gegen das GWB vorgehen und dadurch relativ zeitnah auf wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen reagieren konnte.201 Asbeek-Brusse und Griffiths machten weniger die rechtlichen Bedingungen als die Anwendungspraxis verantwortlich für das Scheitern der Kartellpolitik. Der zurückhaltende Gebrauch des Kartellrechtes durch die Verwaltung und eine vor allem reaktive Politik, die erst auf Beschwerden Dritter aktiv wurde, hatte ihre Ursachen in der traditionell positiven Grundhaltung gegenüber Kartellen.202 Das erste Verbot einer wettbewerbsbeschränkenden Handlung wurde 1959 ausgesprochen, das zweite erst 1989. Verantwortlich für diese verschwindend geringe Zahl von Verboten war nach Raymond Gradus die institutionelle Zuständigkeit des Wirtschaftsministers.203 Hinzu kam die spezifische korporatistische Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat in den Niederlanden. Die engen Verflechtungen zwischen Regierung und Wirtschaft bei Subventionsgewährungen, makropolitischen Zielen im Rahmen der staatlichen Preis- und Lohnpolitik oder der Regionalpolitik ließen völlig unabhängiges Vorgehen bei der Kartellpolitik von Regierungsseite nicht erwarten.204 Der große Ermessensspielraum, die geringe Möglichkeit zu zeitnaher Reaktion und die wenig konsequente Umsetzung des Kartellrechts von 1956 sowie die laxe Haltung von Politik und Administration gegenüber wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen führten zu zahlreichen negativen Urteilen über die niederländische Kartellpolitik der 1950er und 1960er Jahre. Sie reichten bis zur Stigmatisierung der Niederlande als „Kartellparadies“.205 Das Gesetz von 1956 199 Bei der Diskussion im Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des EWG-Vertrags im November/Dezember 1961 erwähnt der niederländische Staatssekretär Gijsels, dass rund 50 Beamte damit beschäftigt wären 1.500 registrierte Kartelle zu überwachen. Vgl. ZAR CM2 1961/71. Protokoll über die Sitzung im engeren Rahmen anläßlich der 57. Tagung des Rates. Dok.: R/563/61 (MC/PV/R 13) rev.; 6. Dezember 1961; Vertraulich. S. 21. 200 Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 19f; Mok: Die heutige rechtliche Lage der Kartelle. S. 726. 201 Vgl. Gradus, Raymond: Comparing Dutch and German Competition Policies. In: Delsen; de Jong (Hrsg.): The German and Dutch Economies. S. 146–155. S. 149. 202 Zu Anwendung und Umsetzung des Kartellrechts vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S.177f. 203 Vgl. Gradus: Comparing Dutch and German Competition Policies. S. 147. 204 Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 23. 205 In Folge des schlechten Ansehens der niederländischen Kartellpolitik auf europäischer Ebene standen niederländische Kartelle in späteren Jahren unter besonderer Beobachtung der Euro-
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war intellektuell befriedigend, konnte aber nicht als effektiv bezeichnet werden, urteilte der damalige Wirtschaftsminister Jelle Zijlstra206 1992 in seinen Memoiren.207 Die ehemalige Staatssekretärin im niederländischen Wirtschaftsministerium Yvonne van Rooij bestätigte die Einschätzung der stark an der rule-of-reason orientierten Wettbewerbspolitik, als sie feststellte, dass es sich bei der Kartellpolitik in den Niederlanden um eine „von Fall-zu-Fall-Politik“ handelte.208 Hier zeichnete sich auch das niederländische Verständnis von Kartellpolitik als Bestandteil einer wirtschaftlichen Zielen untergeordneten Wirtschaftspolitik und weniger als Ordnungspolitik ab.209 Die grundsätzliche Einstellung gegenüber Wettbewerb als Prinzip der Wirtschaftsverfassung wandelte sich in den späten 1970er Jahren langsam. Aber erst Ende der 1980er Jahre kam es zur „bridging the gap between Bruessels and The Hague on matters of cartel-policy.“210 Bis in die 1990er Jahre gab es kein ausdrückliches gesetzliches Kartellverbot in den Niederlanden und erst das Gesetz von 1997, das am 1. Januar 1998 in Kraft trat, vollzog den Systemwechsel zum Verbotsprinzip.211 Als Insider der niederländischen Wettbewerbspolitik der 1950er Jahre urteilte VerLoren van Themaat212 1958, dass die niederländische Wettbewerbspolitik „nicht ein Versuch war, den freien Wettbewerb wiederherzustellen. Im Gegenteil, auf vielerlei Weise wurde Zusammenarbeit in der Industrie gefördert und der Wettbewerb geregelt.“ Das Ziel der Wettbewerbspolitik wurde definiert „als die Förderung eines gesunden Wettbewerbs, welcher einer wirtschaftlichen Expan-
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päischen Kommission. Dies trug mit dazu bei, dass im Zeitraum 1970 bis 1989 bei 21 von 55 erfassten und untersuchten Verstößen gegen Artikel 85,1 EWG-Vertrag niederländische Unternehmen involviert waren. Ebenso stellten niederländische Einzelfälle in den registrierten Fällen von horizontalen Preis- und Reduzierungsabkommen, Marktaufteilungsabkommen, Kollektivverkaufsverträgen oder kollektiver Preisbindungen der zweiten Hand die größte Anzahl. Vgl. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 32f.; Ottervanger, Tom R.; Steenbergen, Jaques; van der Voorde, Sander J.: Competition law of the European Community, the Netherlands and Belgium. London, Boston 1998. S. 97. Jelle Zijlstra war niederländischer Wirtschaftsminister von September 1952 bis Juli 1963 und in den Jahren 1966/1967 niederländischer Ministerpräsident. Zit. nach.: Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 21f. Zit. nach ebd.: S. 22. Vgl. VerLoren van Themaat: Netherlands. S. 277. Zur allgemeinen niederländischen Wirtschaftspolitik und der Stellung der Wettbewerbspolitik vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 23–27. Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 28 und S. 21ff. 1964 waren noch einige Maßnahmen (Verbot der kollektiven Preisbindung der zweiten Hand) getroffen worden, teilweise im Gleichklang mit anderen europäischen Staaten, die aber in der Praxis durch eine Reihe von Ausnahmeregelungen wieder konterkariert wurden. Vgl. Ottervanger; Steenbergen; van der Voorde: Competition law. S. 97–119, Asbeek Brusse; Griffiths: Paradise Lost or Paradise Regained? S. 32f.; Gradus: Comparing Dutch and German Competition Policies. S. 147. Pieter VerLoren van Themaat war in den 50er Jahren im niederländischen Wirtschaftsministerium beschäftigt und am Entwurf und der Umsetzung der beiden Wettbewerbsgesetzen der 1950er Jahre beteiligt gewesen. Vgl. Kapteyn, P.J.G.: Pieter VerLoren van Themaat. Herdenking. In: Koninklijke Nederlandes Akademie van Wetenschappen (Hrsg.): Levensberichten en herdenkingen 2006. Amsterdam 2006. S. 98–105. S. 99f.
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sion förderlich ist oder Stockungen in der Wirtschaft verhindert und in der Weise zu akzeptierbaren Kosten- und Preisverhältnissen führen wird.“213 Damit verbunden war die grundsätzliche Ansicht, „dass Kartelle nützlich sein können und dass Kartellbildung unter Umständen sogar unterstützt werden soll.“214 Das 1956 verabschiedete neue Kartellgesetz war Ausdruck der Ansicht, dass Wettbewerbspolitik ein „rational and essential part of the general economic policy“ sein müsse und vernünftiger und solider Wettbewerb notwendig sei „to raise the prosperity of the national economy“, schrieb im gleichen Jahr Wijsen, ebenfalls Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums. Gleichwohl sollten Schutz des Wettbewerbs und potentielle Hilfe für Unternehmen „in case competition become disastrous“ seiner Meinung nach gleichgewichtige Ziele sein.215 Im Hinblick auf die nationalen Präferenzen bei den Verhandlungen über eine Wettbewerbsordnung für einen Gemeinsamen Markt vertrat VerLoren van Themaat die Auffassung, dass einerseits „beim Aufbau eines neuen Europa [...] Kartelle eine wichtige Aufgabe erfüllen“, andererseits „Kartelle den wirtschaftlichen Fortschritt gefährden und die Bestrebungen des Europäischen Gemeinsamen Marktes frustrieren“ könnten. Vor dem Hintergrund dieses nationalen Verständnisses von Wettbewerbspolitik zielten die niederländischen Präferenzen einerseits darauf, „die Starrheit einer zu weit gehenden Kartellierung zu vermeiden“, andererseits „für gemeinnützige Zusammenarbeit, die einen fairen und Fortschritt stimulierenden Wettbewerb möglich lässt, Raum zu lassen.“216 C.1.d Italien Bis in die 1950er Jahre fand in Italien keine beachtliche Auseinandersetzung mit dem Thema Wettbewerb und Kartelle statt. 1952 schrieb Francesco Vito, dass das „Monopol-Problem [...] sich in Italien als solches niemals in Form einer grundlegend wichtigen Frage der Wirtschaftspolitik überhaupt gestellt“217 hatte. Die altliberale Auffassung von Wirtschaftspolitik und die späte Entwicklung von Verbänden, Syndikaten und Kartellen hatten zu einer unkritischen Haltung gegenüber Kartellen geführt. Im Handelsgesetzbuch von 1882 hatte man noch keine Notwendigkeit gesehen, das Zusammenspiel und die Stellung von Unternehmervereinbarungen wie Konsortien, Kartellen und Verbänden explizit gesetzlich zu ordnen. Die erste gesetzliche Regelung dieser Dinge stammt in Italien aus dem
213 VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 361. Vgl. auch die Einschätzung von VerLoren van Theemat im Hinblick auf die Gestaltung des niederländischen Wettbewerbsrechts in ders.: Netherlands. S. 264 und 268. 214 VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 368. 215 Wijsen: Cartel Legislation. S. 115. 216 VerLoren van Themaat: Kartellpolitik der Niederlande. S. 368. 217 Vgl. Vito, Francesco: Wettbewerb, Monopole und ihre Regulierung. Unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsstruktur Italiens. In: WuW 1/2 (1951/52), S. 307–320. S. 317.
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ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.218 Bis dahin konnte gegen Kartelle und sonstige Wirtschaftszusammenschlüsse nur auf der zivilrechtlichen Grundlage von Artikel 1119 Code Civil vorgegangen werden. Vereinbarungen, die gegen die öffentliche Ordnung oder gegen die guten Sitten verstießen, waren strafbar, wurden jedoch nur verfolgt, wenn die freie Konsumentenwahl eingeschränkt oder lebensnotwendige Waren- und Gütermärkte monopolisiert wurden.219 Seit den 1920 Jahren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wandelte sich die Wirtschaftsstruktur Italiens jedoch von einer wettbewerblich geprägten Wirtschaft mit zahlreichen mittleren Betrieben hin zu einer oligopolistischen Wirtschaftsstruktur, zumindest im Hinblick auf die bedeutenden und die Wirtschaft prägenden Branchen. Eine Ursache dieser Entwicklung war unter anderem die Veränderung der Wirtschaftsordnung auf Basis der faschistischen Ideologie in den 1930er Jahren. Aber schon Ende der 20er Jahre waren Kartellierungen und Konzentration durch Wirtschaftspolitik und Gesetzgebung aktiv gefördert worden. Sowohl Unternehmer als auch Regierungen hofften mit Fusionen und anderen Formen enger Zusammenarbeit von Unternehmen den wirtschaftlichen Krisen der Zeit zu entkommen. Die Regierung gewährte für bestimmte Fusionen Steuerprivilegien und förderte somit indirekt die Konzentration der Wirtschaft und veranlasste durch Veränderung des Ordnungsrahmens Verhaltensänderungen der Wirtschaftsakteure. Konsequenz war eine Fusionswelle und die Zunahme von Kartellen in den wichtigen Industriebranchen.220 Die Ansicht, dass Wettbewerbsabsprachen durch staatliche Regelungen in geordneten Bahnen ablaufen sollen, gewann Überhand. Kartelle wurden für die italienische Wirtschaftspolitik Instrumente der Steuerung der Wirtschaft. Mit Gesetz Nr. 834 vom 16. Juni 1932 wurden zum ersten Mal Rechts- und Organisationsfragen von Verbänden, Kartellen und Konsortien gesetzlich kodifiziert. Private wettbewerbseinschränkende Absprachen zum Erhalt von Industriesparten wurden im Rahmen des italienischen Zivilgesetzes legitimiert, Themen wie rechtmäßige Inhalte und Laufdauer von Kartellverträgen geregelt. Ziel war es, durch Kartelle und Lizenzsysteme überschüssige Kapazitäten zu steuern und abzubauen und mit diesen Maßnahmen den Zusammenbruch einzelner Märkte zu verhindern.221 Kartelle wurden grundsätzlich anerkannt. Die Regierung erhielt die Möglichkeit, Zwangskartelle einzurichten und freiwillige Kartelle mit mehr als 70% der Unternehmer einer Branche, die zusammen mehr als 85% der Produktion vertraten, auf deren Antrag hin zu Branchenzwangskartellen umzuwandeln.222 Der Entscheidungsmaßstab für die Regierung war möglicher Nutzen für die Gesamtwirtschaft durch rationellere oder wirtschaftlichere Produktion als Folge des 218 Vgl. Tonni, Lucinao; Ferrara, Francesco: Die Konsortien im italienischen Recht. In: Jahn; Junckerstorff (Hrsg.): Internationales Handbuch der Kartellpolitik. S. 285–305. S. 285. 219 Vgl. Knebel, Johann-Heinrich: Europäische Wettbewerbsregeln für Unternehmen nach dem Montan-Vertrag und dem Wirtschaftsgemeinschafts-Vertrag. Köln 1959. S. 26. 220 Lag die Zahl der Fusionen zwischen 1883 bis 1927 bei 219, so wurden allein in 1942 452 Fusionen gezählt. Vgl. Vito: Wettbewerb, Monopole und ihre Regulierung. S. 307f. 221 Vgl. ebd.: S. 310–314. 222 Vgl. ebd.: S. 308f.
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Zusammenschlusses. Die staatliche erlassene Allgemeinverbindlichkeit hatte maximal fünf Jahre Gültigkeit und sowohl gesetzliche Auflagen als auch staatliche Aufsicht zur Folge.223 Gleichzeitig wurde die Meldepflicht für freiwillige Kartelle eingeführt und die Regierung erhielt unter der Voraussetzung, dass mehr als 75% der Produktion von einem gemeldeten Kartell betroffen waren, die Möglichkeit, die Vorschriften über die staatliche Aufsicht von Zwangskartellen durch den zuständigen Minister auch auf freiwillige Konsortien anzuwenden. Diese umfassten eine Informationspflicht über die Aktivitäten des Kartells an den Minister, das Recht des Ministers, Änderungen der Tätigkeiten zu verlangen, das Entsendungsrecht von Beamten in Sitzungen des Konsortiums und das staatliche Auflösungsrecht, wenn gegen allgemeines Interesse verstoßen würde. 1936 bzw. 1937 wurde mit weiteren Gesetzen die Melde- und Informationspflicht auch auf freiwillige Konsortien ausgedehnt. Sie mussten Anweisungen entgegennehmen und konnten, sollten sie diesen nicht nachkommen, gemäß den Vorschriften des Gesetzes von 1932 aufgelöst werden.224 Diese gesetzlichen Regelungen fanden jedoch wegen formaler Unzulänglichkeiten und dem Wandel der politischen Umstände keine Anwendung. Die gesetzlichen Regelungen, die seit den 1930er Jahren für Verbände und Zusammenschlüsse getroffen worden waren, hatten nie das Ziel gehabt, Wettbewerb zu fördern oder als Prinzip der Wirtschaftsordnung zu verankern. Die bis 1990 geltenden Bestimmungen des Code Civil in der Fassung von 1942 legten Bedingungen bzw. Grenzen für Wettbewerbsabsprachen fest (§ 2596 C.C.), klärten den Kontrahierungszwang für Monopole225 (§ 2597 C.C.) und trafen Vorkehrungen zum Schutz lauteren Wettbewerbs (§§ 2598 – 2601 C.C.).226 Anstatt Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern, bot das Zivilrecht damit institutionelle und staatlich geschützte Rahmenbedingungen zur Einschränkung des Wettbewerbs.227 Die damit verbundenen Einschränkungen der Vertragsfreiheit von Kartellen dienten dazu, die Wirkung staatlicher Wirtschaftspolitik zur Stärkung der italienischen Industrie nicht durch private Kartelle vermindern zu lassen, stellte aber keine Kartell- oder Wettbewerbspolitik dar.228 Zum Schwinden des Wettbewerbsgedankens in der italienischen Wirtschaft und zur Bildung zahlreicher Kartelle trug auch das 1933 eingeführte und 1937 verschärfte Konzessionssystem für den Bau neuer und Ausbau bestehender Produktionsanlagen bei. In 223 Vgl. Tonni; Ferrara: Konsortien im italienischen Recht. S. 299f. 224 Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 150ff. 225 Gamm weist darauf hin, dass an dieser Stelle nur rechtliche Monopole gemeint sind. Tatsächliche Monopole, die nicht auf besonderer Rechtslage fußten, seien im Geschäftsgebaren grundsätzlich frei gewesen. Vgl. Gamm: Kartellrecht im EWG-Bereich. S. 85. 226 Beck, Bernhard: Das italienische Kartellgesetz – Überblick und erste Erfahrungen. In: WuW 41 (1991), S. 707–714. S. 708. Die §§ 2602 bis 2620 enthielten detaillierte gesetzliche Regelungen für Konsortien. Vgl. Gamm: Kartellrecht im EWG-Bereich. S. 84f. Zur Rolle der Konsortien in der italienischen Wirtschaftspolitik vgl. Tonni; Ferrara: Konsortien im italienischen Recht. S. 286f. 227 Vgl. Tonni; Ferrara: Konsortien im italienischen Recht. S. 289ff. 228 Vgl. Vito: Wettbewerb, Monopole und ihre Regulierung. S. 314f.
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vielen Bereichen der Wirtschaft wurde die Entwicklung zu stärkerer staatlicher Regulierung, teilweise durch direkte Subventionen, befürwortet.229 Oligopolitstische und monopolitische Tendenzen verstärkten sich. Spätestens mit der Bildung von Staatsmonopolen und der Bewirtschaftung im Rahmen der Kriegswirtschaft hatte das Prinzip Wettbewerb als Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung keine Relevanz mehr.230 Wettbewerbsbeschränkungen oder die Problematik der Bildung wirtschaftlicher Macht wurden nicht kritisch hinterfragt. Ansätze zur einer Anti-Trust- oder Anti-Monopolgesetzgebung waren nicht vorhanden. Auch wenn man nach 1945 nicht an die protektionistische Außenhandelspolitik und die auf Autarkie zielende Wirtschaftspolitik anknüpfen wollte, blieben vorhandene Gesetze in Kraft und ihre wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen erhalten. Aktive staatliche Kontrolle privater Kartelle gab es weiterhin nicht.231 Die gesetzlichen Regelungen für ‚consorzi volontari‘, freiwillige Kartelle, sahen diese zwar vor, jedoch konnten und wurden sie wegen mangelnder Ausführungsbestimmungen über die Aufsicht von ‚consorzi obbligatori‘ aus dem Jahr 1932, die gleichzeitig auch für freiwillige Kartelle gelten sollten, nie angewendet.232 Zwar war mit einigen Bestimmungen des bürgerlichen Rechts und ergänzender Dekrete der Jahre 1932 bis 1937 die Basis für neue, die veränderte Staatsphilosophie widerspiegelnde Wettbewerbsgesetzgebung vorhanden und es standen sogar verschiedene Instrumente zur Verfügung, um Marktabsprachen zu überwachen und zu kontrollieren, jedoch waren jegliche Ansätze aktiver Wettbewerbs- und Kartellpolitik bis Ende der 1980er Jahre nicht erfolgreich. Vorhandene Instrumente wurden kaum genutzt, da sie vielfach der italienischen Industriepolitik widersprachen. Zur Verabschiedung neuer wettbewerbspolitischer Gesetze kam es in der dem Wettbewerb ablehnend gegenüberstehenden Atmosphäre Italiens nicht.233 So prägte die oligopolistische Marktstruktur der richtungweisenden Wirtschaftszweige auch nach 1945 die italienische Wirtschaft. Das Wirtschaftssystem war weiterhin durch umfangreiche Staatsinterventionen bis in die Produktion hinein gekennzeichnet. Hohe staatliche Regulierungsdichte in Wirtschaftsbereichen, die in anderen Ländern dem Marktsystem überlassen worden waren, Verstaatlichungen, staatliche Monopolbildungen und Preiskontrollen waren an der 229 Vgl. ebd.: S. 309f. 230 Zur starken Konzentration und Durchsetzung der italienischen Wirtschaft mit Konzernen und der Rolle von Kartellen vgl. ebd.: S. 310–313 und S. 313f. Zu den Zielen der 1933 gegründeten „Instituto per la Ricostruzione Industriale (IRI)“, die auch nach 1945 weiter bestand vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 19. 231 Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 153f.; 158. 232 Vgl. ebd.: S. 152ff. Das 1932 erlassene Recht wurde bis 1958 nicht angewendet. Vgl. ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 25f. 233 Vgl. Franceschelli, Remo: Stand und Zukunftsaussichten der italienischen Gesetzgebung zum Schutz des freien Wettbewerbs. In: WuW 19 (1969), S. 82–91. S. 87f.; Gobbo, Fabio; Ferrero, Massimo: The Interaction between Community and National Competition Policy: The Italian Case. In: Martin (Hrsg.): Competition Policies in Europe. S. 251–272. S. 253; Stangl, Christian: Das neue italienische Kartellgesetz aus dem Jahre 1990. Eine rechtsvergleichende Studie (Rechtswissenschaftliche Forschung und Entwicklung 535). München 1996. S. 55.
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Tagesordnung.234 Ein Verständnis vom Staat als aktiver Marktpartner, das sich in den 1930er und 1940er Jahren entwickelt hatte, blieb gerade angesichts des starken Engagements für den Ausgleich des hohen Wohlstandsgefälles zwischen Nord- und Süditalien über Jahre hinweg erhalten.235 Die italienische Wettbewerbspolitik war nur ein Teil der Wirtschaftspolitik und musste sich der Gestaltung der Wirtschaft durch die italienische ‚Programmierung‘ unterordnen.236 Gesamtwirtschaftlich negative Auswirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen versuchte man lange durch Verhandlungen mit Kartellen einzuschränken.237 Die Einsicht, dass nicht Unternehmer vor Konkurrenz zu schützen seien, sondern dass wirtschaftliche Macht und daraus resultierende ‚Ausbeutung‘ von Konsumenten durch Monopolisten verhindert werden müsse, fand in Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit nach 1945 in Italien nur sehr langsam Anhänger.238 Auch wenn aktive Wettbewerbs- und Kartellpolitik erst in den 1990er Jahren mehrheitsfähig wurde, sind erste Ansätze hierzu schon in den frühen 1950er Jahren festzustellen. Den Anstoß für diese Bemühungen sah 1969 Remo Franceschelli in der Verfassung von 1947. Diese habe in den Artikeln 3, 41 und 43 Grundlagen für die Annahme geschaffen, dass „Wettbewerb [...] Grundlage der Wirtschaftsordnung des Staates und Ziel der politisch-gesetzgeberischen Tätigkeit“ sei.239 Die Diskussion dieser Grundsatzfrage war Ende der 1960er noch nicht beendet, aber die Gesetzesentwürfe der 1950er und 1960er Jahre waren bereits von diesem Verständnis ausgegangen. Der erste Entwurf für ein Kartellgesetz war 1950 vom Industrieminister Togni ins Parlament eingebracht worden.240 Er sah im Wesentlichen die Anmeldepflicht für Kartelle vor, verbunden mit staatlicher Aufsicht. Der Entwurf bezog sich aber nur auf Absprachen im Handel und sah Sanktionen nur gegen Kartelle und Kooperationen vor, die durch Preisabsprachen negative Auswirkungen für Konsumenten haben konnten. Kartelle sollten im Prinzip unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen weiterhin legitim bleiben. Nur die Missbrauchsaufsicht über umfangreiche wirtschaftliche Macht aufgrund von Vereinbarungen mit wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen sollte eingeführt werden. Dem Wirtschaftsminister und einer Kommission aus Beamten, Unternehmer-, Arbeitnehmer- und Verbrauchervertretern sollte es zukommen, Untersuchungen anzustoßen. Die Entscheidung über mögliche Auflösungen von Kartellabsprachen sollte bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit und nicht bei der 234 Vgl. Duchini, Franca: Kartell- und Wettbewerbsrecht in Italien (1953/54). In: WuW 5 (1955). S. 556–565. S. 556–563. Zur Haltung der neuen italienischen Regierung im Februar 1954 zu Fragen der Wirtschaftspolitik und der staatlich gewährten Monopole vgl. Scott-Deiters, Werner: Staatswirtschaft und private Monopole in Italien. Eine Rede des Senators Luigi Sturzo vor dem italienischen Senat. In: WuW 4 (1954). S. 532–535. S. 534f. 235 Vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 22f. 236 Seit 1955 versuchte die Regierung mit Plan- und Programmzielen wirtschaftspolitische Absichten zu erreichen. Vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S.21ff. 237 Vgl. ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. Dok.: 2074/58-D. S. 26. 238 Vgl. Tonni; Ferrara: Konsortien im italienischen Recht. S. 288. 239 Vgl. Franceschelli: Stand und Zukunftsaussichten. S. 82f. 240 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Text des italienischen Gesetzentwurfes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. In: WuW 1/2 (1951/52), S. 361–363.
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Regierung liegen.241 Missbrauchskontrolle marktbeherrschender Stellung durch einzelne Unternehmen oder eine Zusammenschlusskontrolle waren nicht Gegenstand des Entwurfs.242 Kritik- und Diskussionspunkte in den parlamentarischen Auseinandersetzungen um diesen Gesetzesentwurf waren die Einschränkung der Verfahrenseinleitung auf den Wirtschaftsminister und der umfangreiche Ermessensspielraum bei der Feststellung der Wettbewerbsbeschränkung. Vielfach wurde die Meinung vertreten, dass angesichts der mentalen Einstellung gegenüber Wettbewerbsbeschränkungen keine der Handelsaktivitäten als ‚übermäßige‘ Beschränkung und Belastung von Verbrauchern empfunden worden wären und ein Wettbewerbsschutz nicht zu Stande gekommen wäre. Noch bevor man sich darüber im Industrieausschuss des Parlaments einig werden konnte, wurde es 1953 aufgelöst, so dass dieser erste Entwurf eines italienischen Kartellgesetzes nicht verabschiedet wurde.243 Auch weitere in den Folgejahren in das Parlament eingebrachte Entwürfe hatten die Aufsicht wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen zum Gegenstand, auch wenn sie graduell unterschiedliche Instrumente vorsahen. Sie alle fanden aber keine ausreichende Zustimmung im Parlament. Auch zahlreiche Anfang der 1960er Jahre eingebrachte Entwürfe, die dann dem Verbotsprinzip folgten, erhielten keine Mehrheit.244 Der hohe Anteil staatlicher und öffentlicher Unternehmen an der italienischen Wirtschaft und die Frage der Einbeziehung dieser Unternehmen in das Wettbewerbsrecht war immer wieder zentraler Diskussionsgegenstand und schließlich auch Hinderungsgrund bei den Verhandlungen der Gesetzesvorschläge gewesen. Die zu dieser Zeit vertretene Meinung, dass insbesondere die Existenz staatlicher großer Unternehmen die Monopolisierungstendenz der Wirtschaft verhindere und Monopol- und Konzentrationsaufsicht somit nicht notwendig sei, zeigt, dass in Italien die Politik des ownership-approaches als Politik gegenüber wettbewerbsbeeinträchtigenden Strategien akzeptiert und verfolgt wurde.245 Die damit verbundenen Probleme waren schon 1952 deutlich, als Vito die Regierung als den größten Hinderungsgrund für wirksame Maßnahmen zur Begrenzung von Monopolmacht ausmachte.246 Zwischen Marktordnungs- und Wettbewerbsschutz auf der einen und Verbraucherschutz und Industriepolitik auf der anderen Seite bestand kein Konsens über Ziele der Wettbewerbspolitik. Hinzu kam, dass die jeweiligen Seiten auch 241 Darin wurde das Instrument der Zwangskartelle nicht mehr erwähnt. Vgl. Vito: Wettbewerb, Monopole und ihre Regulierung. S. 316. 242 Vgl. Stangl: Das neue italienische Kartellgesetz. S. 52. 243 Vgl. Kaufmann, Thomas: Das italienische Kartellgesetz von 1990 und sein Verhältnis zum europäischen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen (Europäische Hochschulschriften, Reihe III Rechtswissenschaften, 1422). Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a. 1993. S. 14ff. 244 Vgl. Scott-Deiters, Werner: Ein neuer Antimonopolgesetz-Entwurf in Italien. In: WuW 10 (1960). S. 112–114; Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 160–164; Stangl: Das neue italienische Kartellgesetz. S. 52f.; Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 19ff.; Franceschelli: Stand und Zukunftsaussichten. S. 82–91; Kaufmann: Das italienische Kartellgesetz von 1990. S. 16–23. 245 Vgl. Kaufmann: Das italienische Kartellgesetz von 1990. S. 27f. 246 Vito: Wettbewerb, Monopole und ihre Regulierung. S. 320.
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kein konsistentes, wettbewerbspolitisches Konzept vertraten, sondern mögliche Wettbewerbsgesetze mit Partikularinteressen verbanden. Die Forderungen, Zusammenschlüsse und Konzentration zu verhindern, wurden mit dem industriepolitischen Argument geringer internationaler Wettbewerbsfähigkeit der italienischen, vor allem der klein- und mittelständisch geprägten, Wirtschaft zurückgewiesen.247 Die mehrheitsfähige Wirtschaftspolitik der 1960er Jahre zielte genau in die entgegengesetzte Richtung und förderte und unterstützte, nicht zuletzt mit Hilfe von umfangreichem Staatsbesitz, die Konzentration in der Wirtschaft.248 Im nationalen Interessenwettbewerb blieb diejenige Fraktion, die sich gegen aktive nationale Wettbewerbspolitik stellte, über Jahre hinweg führend. Wirtschaftspolitik blieb geprägt von der Selbstverständlichkeit staatlichen Markteingriffes. Wettbewerbliches Denken konnte in einer Gesellschaft, in der Preiskontrollen, staatliche Monopole und Exklusivrechte für Staatsunternehmen die Regel waren, nicht gedeihen. Die Diskussionen über aktive Wettbewerbspolitik der frühen 1960er Jahre ebbten bis Ende der 1970er Jahre ab. Erst 1990 wurde ein italienisches Kartellgesetz verabschiedet.249 Italien hatte Mitte der 1950er Jahre weder ein einheitliches Wettbewerbsrecht, noch eine systematische Wettbewerbspolitik. Gesetze der 1930er Jahre, Regelungen des Code Civil und deren Anwendung sowie die Gesetzesentwürfe der 1950er Jahre zeigen, dass eine Missbrauchskontrolle von Marktmacht aufgrund von Absprachen wiederholt angestrebt wurde, aber nicht mehrheitsfähig war. Hinsichtlich möglicher Entscheidungsprozesse und Durchsetzungsinstrumente von aktiver Wettbewerbspolitik ist von hoher Präferenz für Entscheidungen durch Politiker im Gegensatz zu juristischen Entscheidungsverfahren auszugehen. Allenfalls eine an wirtschaftlichen Maßstäben orientierte ex-post Kontrolle mit dem Maßstab ‚Allgemeininteresse‘ wäre denkbar gewesen, stand aber in scharfer Konkurrenz zu anderen nationalen wirtschaftspolitischen Zielen. Wettbewerbsund Kartellpolitik blieb somit nur ein unbedeutender Teil der von Prozesspolitik geprägten Wirtschaftspolitik. Die vorhandene Rechtslage, die Diskussionen über Etablierung einer aktiven Wettbewerbspolitik, die verschiedenen Gesetzesentwürfe und die Berücksichtigung der realisierten Wirtschaftspolitik in Italien der 1950er Jahre sprechen für eine relativ geringe nationale Präferenz für aktive europäische Wettbewerbspolitik.
247 Vgl. Kaufmann: Das italienische Kartellgesetz von 1990. S. 28f. 248 Vgl: Vogel: Konzentrationsbewegungen im Ausland. S. 37–65. S. 61ff. Zur Wirtschaftspolitik der frühen 1960er Jahre bis zur Verabschiedung eines Gesetzes im November 1964, das zu Umwandlungen von Gesellschaften, Fusionen und Konzentration ermutigen sollte vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 21f. 249 Zur Entwicklung der italienischen Wettbewerbspolitik vgl. Melodia, José d’Amely: Überlegungen zu einem italienischen Wettbewerbsgesetz. In: WuW 31 (1981), S. 410–413; Turin, Aldo Frignani: Neue Entwicklungen im italienischen Wettbewerbsrecht. In: WuW 29 (1979), S. 166–172, S. 166–170; Stangl: Das neue italienische Kartellgesetz. S. 56; Gobbo; Ferrero: Interaction between Community and National Competition Policy. S. 251 und S. 253. Vgl. auch.: Kaufmann: Das italienische Kartellgesetz von 1990. S. 42.
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C.1.d Belgien Die belgische Volkswirtschaft war und ist ein klassisches Beispiel für eine kleine und offene Volkswirtschaft. Die Fokussierung auf den Auslandsmarkt war seit jeher stark, der Exportanteil der belgischen Produktion hoch.250 Große Teile der belgischen Wirtschaft waren durch ausländische Unternehmen geprägt und es bestand hohe Korrelation zwischen Kartellen und Konzentration sowie der Beteiligung ausländischer an belgischen Unternehmen. Die Beteiligung belgischer Firmen an internationalen Kartellen war traditionell überdurchschnittlich. Bis zum ersten ‚Gesetz zur Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen durch private Wirtschaftsakteure‘ im Jahre 1960 gab es in Belgien aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur kein Wettbewerbsrecht.251 Ähnlich wie in Frankreich war in Folge der französischen Revolution die Handels- und Gewerbefreiheit eingeführt worden. Seitdem waren Zusammenschlüsse illegal, die gegen Gesetze verstießen, die die öffentliche Ordnung oder die Handelsfreiheit störten. Gerichte gingen jedoch kaum dagegen vor.252 Einzelnen Wettbewerbsbeschränkungen wurde im Laufe der Jahre durch Regelungen des Zivilrechts oder über den unlauteren Wettbewerb und mir Vorschriften über Preise begegnet.253 Die Haltung gegenüber Kartellen hingegen war historisch geprägt positiv. Sie wurden vielfach als „Notwendigkeit“ für die Wirtschaft betrachtet.254 Wie auch in anderen europäischen Staaten waren die späten 1920er und die 1930er Jahre in Belgien einer Phase zahlreicher Kartellbildungen und auch der belgische Gesetzgeber schuf im Januar 1935 die Möglichkeit zu Zwangskartellierungen; eine gesetzliche Regelung, die auch über 1945 hinaus Gültigkeit behielt.255 Das vorrangige Ziel war auch in Belgien die Förderung der Zusammen250 Vgl. Benz, Adolf: Die staatliche Kartellpolitik in Belgien. Bern 1953. S. 17f; Günther, Eberhard: Zwangskartellierung und Mißbrauchsgesetzgebung. Belgische Kartellpolitik. In: WuW (5) 1955. S. 242–249. S. 243. 251 Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 65f.; Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 7f. 252 Vgl. Benz: Staatliche Kartellpolitik. S. 26–30; ders.: Kartellentwicklung und Kartellpolitik. In: Jahn; Junckerstorff (Hrsg.): Internationales Handbuch der Kartellpolitik. S. 29–59. S. 38– 41. 253 Vgl. Gamm: Kartellrecht im EWG-Bereich. S. 63; Schricker, Gerhard: Belgien. (Das Recht des unlauteren Wettbewerbs in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Gutachten erstattet im Auftrag der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Markenrecht der Universität München, Band II,1. Belgien, Luxemburg, Hrgs. von Eugen Ulmer). Köln 1967. S. 9–629. 254 Sermon, L., Kartellsachverständiger der Internationalen Handelskammer, zit. nach: Günther: Zwangskartellierung. S. 243. 255 Vgl. Benz: Staatliche Kartellpolitik. S. 18ff.; Königliche Verordnung Nr. 62 über Zulässigkeit der Errichtung von Zwangskartellen auf dem Gebiete der Produktion und des Handels vom 13. Januar 1935. Vgl. Text des belgischen Gesetzes über die Errichtung von Zwangskartellen vom 13. Januar 1935. Abgedr. in: WuW 10 (1960). S. 775–777. Diese Regelung wurde auch durch Art. 8 des 1960 erlassenen Gesetzes nicht aufgehoben. Vgl. Text des belgischen
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arbeit von Unternehmen, um vermeintlich positive Wirkungen zu erzielen und in den wirtschaftlich schlechten Zeiten ruinöse Konkurrenz zu vermeiden. Unter festgelegten Bedingungen konnten Unternehmen einer Branche oder Mitglieder bestehender Kartelle die Kartellierung der gesamten Branche beantragen, wenn auch nur auf einen Zeitraum von drei Jahren begrenzt.256 Folge war in diesen Fällen die Abschottung von Märkten durch Erschwerung des Marktzutritts, da mögliche neue Produzenten auf dem kartellierten Markt die Bedingungen des Kartells akzeptieren mussten. Diesem starken staatlich gewährten Wettbewerbsvorteil für Kartellmitglieder standen strenge staatliche Kontrollen der Zwangskartelle gegenüber.257 Der Großteil der gestellten Anträge auf Kartellierung wurde jedoch nach der Prüfung durch den neu eingerichteten ‚Rat für wirtschaftliche Angelegenheiten‘ negativ beschieden.258 Bei der Prüfung der Anträge berücksichtigte der Rat das wirtschaftliche Machtgleichgewicht. Er folgte dem Marktstrukturansatz und untersagte Anträge, wenn dadurch viele kleine Unternehmen in ihrer Entscheidungsfreiheit durch einige Große eingeschränkt werden konnten.259 Unabhängig davon, dass die Regelung vorsichtig und nicht häufig zum Einsatz kam,260 ist aber davon auszugehen, dass allein die Existenz dieses Sanktionsmittels dazu beitrug, Außenseiter in bestehende Kartelle zu bringen, diese zu stabilisieren und die Einstellung gegenüber Kartellen zu beeinflussen.261 Die Geschichte des Aufbaus der belgischen Wettbewerbspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg ist zugleich die Geschichte des Abbaus des generellen Preiskontrollsystems, das Kartelle und Absprachen indirekt förderte und noch bis in die 1980 Jahre existierte.262 Unternehmen mussten in diesem System geplante Preiserhöhungen beim Wirtschaftsminister anmelden und genehmigen lassen. Nominalpreiskontrollen und damit verbundene Beschränkungen der Käufermacht waren massive staatliche Eingriffe in den Markt. Das dahinter stehende wirtschaftspolitische Ziel war die Beherrschung großer Preisschwankungen aufgrund von weltwirtschaftlicher Abhängigkeit durch einseitiges Exportangebot, Bekämpfung der Inflation und die Herstellung ‚fairer‘ Preise. Konsequenz war aber die Produktion ähnlicher Produkte, was ähnliche Kostenstrukturen der Produzenten zur Folge hatte. Absprachen zwischen Unternehmen einfacher und sicherer, da plötzliches Ausbrechen aus Preisabsprachen mit der Erzielung von Extragewinnen durch
256 257 258 259 260 261 262
Kartellgesetzes vom 27. Mai 1960. Gesetz zum Schutz gegen den Mißbrauch von wirtschaftlicher Machtstellung. Abgedr. in: WuW 10 (1960). S. 704–714. S. 707. Vgl. Benz: Kartellentwicklung und Kartellpolitik. S. 43; ders.: Staatliche Kartellpolitik. S. 30–35. Vgl. Gamm: Kartellrecht im EWG-Bereich. S. 64. Benz spricht von „fünf Sechstel“. Vgl. Benz: Kartellentwicklung und Kartellpolitik. S. 44. Vgl. ebd.: S. 40; zu diversen Einzelverfahren siehe S. 35–41. Zwischen 1935 und 1958 wurden rund 100 zeitweise Branchenreglementierungen festgelegt. 1951 waren die Branchen „Kohlensäure, gezogene und gedrehte Stähle, Kautschuk, Gasuhren, Fensterglas und Glasrohre“ zwangskartelliert; 1958 nur noch letztere. Vgl. ebd.: S. 44. Vgl. Schröter: Kartellierung und Dekartellierung. S. 472f. Zum Preiskontrollsystem nach 1945 vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 8; Sleuwaegen, Leo; Cayseele, Patrick van: Competition Policy in Belgium. In: Martin (Hrsg.): Competition Policies in Europe. S. 185–204. S. 190ff.
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höhere Preise nicht möglich war. Kartelle erhielten im Ergebnis höhere Stabilität und wurden durch die staatliche Preisregulierung begünstigt.263 Negative Auswirkungen wurden nur vereinzelt erkannt, jedoch wurde nie aktiv dagegen gesteuert, was zum Teil der Ablehnung staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen geschuldet war.264 Der Gedanke, eine aktive Antikartell- und Wettbewerbspolitik aufzubauen, fiel nach 1945 in Belgien nicht auf fruchtbaren Boden. Ein erster Entwurf für ein ‚Gesetz zur Bekämpfung wirtschaftlicher Machtmißbräuche‘ aus dem Jahr 1947 wies bereits im Titel die Zielrichtung einer möglichen neuen Wirtschaftspolitik. Die Ordnung von Kartellen durch gesetzliche Regelung und die Kontrolle von Machtmissbrauch standen im Vordergrund; ein Per-se-Verbot von Kartellen stand nie zur Diskussion.265 Der Entwurf sah ex-post Kontrollen und staatliche Eingriffe bei Machtmissbrauch durch freiwillige Zusammenschlüsse und ein ex-ante Untersuchungsrecht vor, auch ohne, dass eklatanter Missbrauch vorlag. Die damit verbundenen, sehr weitreichenden, geplanten staatlichen Eingriffe und Sanktionen waren Anlass für intensive Diskussionen in Wirtschaft und Gesellschaft. Damit wurde der Maßstab deutlich, der für staatliches Eingreifen in die wirtschaftliche Freiheit der Unternehmen akzeptiert wurde. Die Kritik führte dazu, dass die Regierung 1952 einen überarbeiteten Entwurf vorlegte.266 Auch dieser wurde 1953 im Parlament abgelehnt, da er vorsah, ordentliche Gerichte über Machtmissbrauch entscheiden zu lassen. Dieses Entscheidungsverfahren, das „die legitime Zuständigkeit der Exekutive übergreife“ und „Interpretation und Wahrung des öffentlichen Interesses der Rechtsprechung anvertraute“, ließ den Entwurf scheitern.267 Mitte der 1950er Jahre war noch ein weiterer Regierungsentwurf erarbeitet worden. Dieser dokumentierte besonders gut „die belgische Auffassung vom zweckmäßigsten Schutz vor Missbrauch wirtschaftlicher Macht“ in den 1940er und 1950er Jahren, betonte Hans Norbert Götz.268 Grundlage des Entwurfs wurde das Missbrauchsprinzip, dessen Anwendung mit der besonderen wirtschaftlichen Lage Belgiens begründet wurde. Das Verbotsprinzip hätte zu viele Ausnahmen haben müssen, um der belgischen Wirtschaft gerecht zu werden. Der Missbrauchstatbestand selbst wurde sehr weit gefasst. Die Definitionen von wirtschaftlicher Macht und von den Formen der Machtausübung blieben unscharf. Materiellrechtlich wurde wenig festgelegt, so dass man gegen alle Arten der
263 Vgl. Sleuwaegen; Cayseele: Competition Policy in Belgium. S. 191f. 264 Vgl. Günther: Zwangskartellierung. S. 244f. 265 Vgl. Benz: Kartellentwicklung und Kartellpolitik. S. 51–54; ders.: Staatliche Kartellpolitik. S. 45–57. 266 Vgl. Günther: Zwangskartellierung. S. 247f. 267 Götz, Hans Norbert: Der belgische Kartellgesetzentwurf. In: WuW 9 (1959), S. 191–194. S. 191; Vgl. auch Benz: Kartellentwicklung und Kartellpolitik. S. 55. 268 Götz: Der belgische Kartellgesetzentwurf. S. 191.
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Marktmacht hätte vorgehen können.269 Das Ermittlungs- und Verwaltungsverfahren sah zahlreiche Beteiligte und Stufen vor, wobei die zentrale Instanz der Minister werden sollte. Insgesamt erschien der Entwurf jedoch schwerfällig, verschachtelt und für die Reaktion auf dynamische Marktentwicklungen nicht ausreichend agil und flexibel zu sein.270 Zum Praxistest kam es nicht, da der Entwurf bis zu den Parlamentswahlen im Juni 1958 nicht vom Senat verabschiedet wurde.271 Erst im Sommer 1960 nahmen beide Kammern des belgischen Parlaments das ‚Gesetz gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellung‘ an.272 Es war ein klassisches Missbrauchsgesetz und kannte nur einen materiellen Tatbestand: den des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung. Es definierte neben wirtschaftlicher Macht und deren Missbrauch die zuständigen Behörden und deren Eingreifen, die sich dabei an Beeinträchtigungen des Allgemeininteresses orientierten. Das Gesetz stand Wettbewerbsbeschränkungen jeglicher Art neutral gegenüber, verbot weder Kartellvereinbarungen, die Monopolen quasi gleichgestellt wurden, noch definierte es bestimmte Missbrauchstatbestände. Die Kontrolle des Missbrauchs war das Ziel des Gesetzes, unabhängig davon, ob dieser auf Absprachenoder Konzentrationsstrategien zurückging. Es fügte sich damit in die bisherige belgische Wirtschaftspolitik ein.273 Das festgelegte Verfahren zur Feststellung des Missbrauchs und seiner Kontrolle war wie im Entwurf der späten 1950er Jahre langwierig und kompliziert.274 Die letzte Entscheidung lag beim Wirtschaftsminister. Das Gesetz verhinderte jedoch nicht die intensive vertikale Kartellbildung in Belgien zu Beginn der 1960er Jahre. Viele Fälle von Machtmissbrauch wurden ohne förmliches Verfahren beigelegt, was für starke Zusammenarbeit von Wirtschaft und Ministerialbürokratie bei der Anwendung der Verfahrensregeln und für eine intensive Nutzung des diskretionären Entscheidungsspielraums spricht.275
269 Der Entwurf sah auch vor, juristische Personen des öffentlichen Rechts dem neuen Gesetz zu unterstellen. Jedoch sollte es keine Anwendung auf diejenigen finden, die der Entscheidungsgewalt oder der Aufsicht eines Ministers unterstanden. Vgl. ebd.: S. 191–194. 270 Vgl. ebd.: S. 192f. und S. 194. 271 Vgl. ebd.: S. 191; Benz: Kartellentwicklung und Kartellpolitik. S. 55. 272 Es wurde am 27. Mai 1960 im Parlament angenommen und trat am 1. Juli 1960 in Kraft. Vgl. Schröter: Kartellierung und Dekartellierung. S. 490. Gesetzestext in deutscher Übersetzung in WuW (10) 1960. S. 704–714. 273 Vgl. Marmol, Charley del: Das belgische Gesetz gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht. In: WuW (10) 1960. S. 628–633. S. 629; Vgl. Schricker: Belgien. S. 104f.; Sleuwaegen; Cayseele: Competition Policy in Belgium. S. 193. Mit der grundsätzlich neutralen Haltung gegenüber Kartellen und Absprachen stand das belgische nationale Wettbewerbsrecht in Dissonanz zu den Wettbewerbsregeln der zu diesem Zeitpunkt bereits existenten Europäischen Wettbewerbsordnung. Vgl. Marmol: Das belgische Gesetz. S. 632f. 274 Vgl. Marmol: Das belgische Gesetz. S. 631f; Rittner: Konvergenz oder Divergenz. S. 43. 275 Zur weiteren, meist negativen Beurteilung dieses Gesetzes und seiner Umsetzung vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 8; Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 70; Rittner: Konvergenz oder Divergenz. S. 43.
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Zu Beginn der Gespräche der sechs westeuropäischen Staaten über den weiteren Ausbau der Wirtschaftskooperation existierte in Belgien kein Wettbewerbsrecht, das den Missbrauch marktbeherrschender Stellung oder Kartellvereinbarungen verbot. Allein die Verordnung 62 von 1935, mit der Kartellabsprachen staatlichen ‚Segen‘ erhalten konnten, enthielt gesetzliche Regelungen, die über grundsätzliche Fragen der Vertrags- und Koalitionsfreiheit hinausgingen. Sie dienten jedoch eher dazu, Rechtssicherheit bei der Anwendung der verschiedenen Verhandlungs- und Absprachenstrategien herzustellen, als Basis für Wettbewerbspolitik zu sein. Ansonsten orientierte sich die belgische Wirtschaftspolitik weniger am Bild der freien Wettbewerbspolitik als am Leitbild einer durch Preise geregelten Wirtschaft, die auch noch in den 1960er Jahren durch Programmierung und Planung geprägt war.276 Die gescheiterten Gesetzesinitiativen und die Entwicklung der 1960er Jahre deuten allenfalls auf eine Präferenz für die Aufsicht von marktbeherrschenden Unternehmen und die Anwendung des Missbrauchsprinzips hin. Erst Ende der 1980er Jahre wendete sich die belgische Wirtschaftspolitik im Zusammenhang mit dem Abbau des Preiskontrollsystems langsam von ihm ab.277 Das 1991 verabschiedete und 1993 in Kraft getretene ‚Belgische Gesetz betreffend den Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs‘ ersetzte das bisherige Preisregulierungssystem und das Wettbewerbsrecht von 1960. Es enthielt nahezu ohne Einschränkungen das klare Kartellverbot und brachte so den Systemwechsel vom Missbrauchsprinzip zum Verbotsprinzip.278 Insgesamt ist damit im Hinblick auf die internationalen Verhandlungen über eine gemeinsame Wettbewerbsordnung von geringen belgischen Präferenzen für eine aktive Wettbewerbspolitik auszugehen. Hierfür sprechen die Struktur und die Stellung der belgischen Wirtschaft im internationalen Markt und die allgemeine Bevorzugung einer Wirtschaftspolitik, die der nationalen wirtschaftlichen Entwicklung oberste Priorität einräumte und diese mit Instrumenten der Preiskontrolle, Sektorpolitik und Programmierung in einzelnen Sektoren verfolgte. Die in Belgien verbreitete Ansicht, dass „Wettbewerb ohne die Möglichkeit einer Einschränkung seitens der Wirtschaft nicht die beste Lösung“ sei279, manifestierte sich im nicht vorhandenen Kartell- und Wettbewerbsrecht und ist eindeutiger Hinweis für die Ablehnung einer aktiven Wettbewerbspolitik. Regierungsent276 Vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 9f. 277 In der kleinen, offenen Volkswirtschaft Belgiens waren die Preise immer stark von externer Nachfrage, Wechselkursen und Weltmarktpreisen abhängig. Da die Preisregulierungspolitik mit der zunehmenden Marktöffnung und Verflechtung der europäischen Marktwirtschaften im Rahmen der Europäischen Integration immer ineffektiver wurde, nahm die belgische Wirtschaftspolitik in den 1980er Jahren von der Preiskontrollpolitik Abstand. Man erkannte, dass Preisregulierung die effektive Güterallokation verhinderte, zumal auch das Ziel Inflationseindämmung durch Preisregulierung nicht erreicht worden war, und baute mit Ausnahme der Sektoren Pharmazie, Energie und Öffentliche Angelegenheiten die Preiskontrollen ab. Vgl. Sleuwaegen; Cayseele: Competition Policy in Belgium. S. 190 und S. 193. 278 Vgl. Sleuwaegen; Cayseele: Competition Policy in Belgium. S. 193; Schröter: Kartellierung und Dekartellierung. S. 490; Schröter: Cartelization and Decartelization in Europe. S. 146f.; Ottervanger; Steenbergen; van der Voorde: Competition law. S. 121–140. 279 Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 8.
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würfe für ein Wettbewerbsrecht mit Per-se-Verboten, über deren Anwendung auf juristischem Wege entschieden werden sollte, hatten im Belgien der 1950er Jahre keine nationale Mehrheit. Lange Zeit wurde das freie Vertragsrecht über den Wettbewerbsschutz gestellt, was die nationale Präferenz für das Missbrauchsprinzip unterstützte. C.1.f Luxemburg Im Großherzogtum Luxemburg gab es bis 1965 kein spezifisches Kartell- oder Wettbewerbsrecht.280 Die Wirtschaftsstruktur der sehr kleinen Volkswirtschaft Luxemburgs mit wenigen großen eisenerzeugenden und -verarbeitenden Unternehmen, die überwiegend für den ausländischen Markt produzierten, erforderte kaum Gesetze gegen die Konzentration wirtschaftlicher Macht oder Wettbewerbsdiskriminierung. Grundsätzlich waren wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen durch Konzentration oder Kartellverträge legal. Nur wenn sie Auswirkungen auf die Preise hatten und in Konflikt mit der staatlichen Preispolitik gerieten, konnten sie überprüft werden.281 Für diese Fälle gab es Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb und Preisbeeinflussung. Diese enthielten strafrechtliche Bestimmungen, die auch im Sinne aktiver Wettbewerbspolitik mit Einschränkung in einigen Fällen gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Macht oder gegen Kartelle hätten angewendet werden können, was jedoch kaum geschah.282 Als mit dem ‚Règlement grand-ducal‘ vom 9. Dezember 1965 die ersten gesetzlichen Regelungen gegen wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen getroffen wurden, zielten diese in erster Linie auf preisbeeinflussende vertikale Vereinbarungen. Erst 1970 erließ man mit dem ‚Loi du 17 juin 1970 concernant les pratiques commerciales restrictives‘ ein Kartellrecht, das allgemein dem Missbrauchsprinzip folgte und sich an dem zu dieser Zeit geltenden französischen Recht orientierte.283 Voraussetzung für das Einschreiten des Wirtschaftsministers, der von einer Kommission für Wettbewerbsbeschränkung unterstützt wurde, war ein vermuteter Verstoß gegen das öffentliche Interesse.284 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die luxemburgische Regierung keine hohe Präferenz für eine gemeinsame europäische Kartell- und Wettbewerbsordnung hatte, die über die ex-post Kontrolle von Wettbewerbsbe280 Vgl. ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 195. Dok.: 2074/58-D. S. 26. 281 Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 165f. 282 Vgl. Wunderlich, Detlef: Luxemburg (Das Recht des unlauteren Wettbewerbs in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Gutachten erstattet im Auftrag der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Markenrecht der Universität München, Band II,1. Belgien, Luxemburg, Hrgs. von Eugen Ulmer). Köln 1967. S. 657–791. S. 687ff. 283 Vgl. Walz: Systemfragen im europäischen Kartellrecht. S. 166ff; Wortlaut des Gesetzes in dt. Übersetzung in: WuW 21 (1971). S. 56–60. 284 Vgl. Markert, Kurt: Das neue luxemburgische Kartellrecht. In: Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters mit Recht der Europäischen Gemeinschaft 16 (1970). S. 370; Rittner: Konvergenz oder Divergenz. S. 44.
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schränkungen hinausgehen würde. Die Orientierung an der französischen Wirtschaftspolitik, die die Preiskontrolle im Fokus hatte, lässt für die Verhandlungen über eine europäische Wettbewerbspolitik eine Verhandlungsposition vermuten, die sich an die Französische anlehnte. C.2 DER SEKTORBESCHRÄNKTE ANSATZ EINER KARTELLPOLITIK IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT FÜR KOHLE UND STAHL Neben den nationalen Kartell- und Wettbewerbsordnungen gab es seit 1952 ein Kartell- und Konzentrationsrecht im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), das nur für die Unternehmen des Montansektors galt. Das Ziel, das die sechs westeuropäischen Staaten285 in dem am 27. Juli 1952 in Kraft getretenen Gründungsvertrag festgelegt hatten, war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes für Kohle, Stahl und weitere für die Stahlherstellung benötigte Rohstoffe. Um durch „die Ausweitung ihrer Gesamtproduktion zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschritt der Werke des Friedens beizutragen“286, sollte für diese Branche ein einheitlicher Wirtschaftsraum ohne Grenzen wirtschaftlicher oder politischer Art entstehen. Eine gemeinsame supranationale Behörde sollte die Kohle- und Stahlproduktion in den sechs Ländern kontrollieren, die Versorgung mit Rohstoffen ordnen und sicherstellen, einen gemeinsamen Markt mit gleichen Zugangsmöglichkeiten schaffen, die Preisgestaltung beaufsichtigen, zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und zur Freizügigkeit der Beschäftigen dieses Wirtschaftszweiges beitragen und den Handel durch Abbau von diskriminierenden und wettbewerbsverzerrenden staatlichen und privaten Schranken ausbauen. Dazu sollten Zölle, Abgaben, mengenmäßige Beschränkungen im Warenverkehr sowie die direkte Diskriminierung von Produzenten, Konsumenten und Beschäftigten untersagt werden. Weitere gemeinsame Institutionen und Organisationen stützten die Tätigkeit der Hohen Behörde. Die Kohle- und Stahlindustrie hatte zu Beginn der 1950er Jahre hohe Bedeutung für die Gesamtwirtschaft und für den Wiederaufbau Europas. Im Hinblick auf seinen Beitrag zur kriegswirtschaftlichen Güterproduktion hatte dieser Sektor in den Nachkriegsjahren auch politisch hohe Relevanz. Die wirtschaftlichen Probleme der französischen und deutschen Stahlindustrie Ende der 1940er Jahre und die Kohleknappheit mussten mit politischer Unterstützung gelöst werden. Frankreich hatte ein vitales Interesse daran, die deutsche Schwerindustrie zu kontrollieren und wirtschaftlich eine Krise der Stahlindustrie durch Sicherung der Kohlelieferungen aus dem Ruhrbergbau zu vermeiden.287 Die als diskriminierend 285 Bundesrepublik Deutschland, Republik Frankreich, Republik Italien, Königreich Niederlande, Königreich Belgien und Großherzogtum Luxemburg. 286 Präambel des Vertrags zit. nach: Sahm, Ulrich (Hrsg.): Der Schuman-Plan. Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Frankfurt a. M. 1951. S. 21. 287 Vgl. Trausch, Gilbert: Der Schuman-Plan zwischen Mythos und Realität. Der Stellenwert des Schuman-Planes. In: Hudemann; Kaelble; Schwabe (Hrsg.): Europa im Blick der Historiker.
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empfundene Ruhrkontrolle abzuschütteln und außenpolitische Anerkennung zu erhalten, lag im westdeutschen Interesse.288 Jedoch war es nicht einfach, aus den Ideen Jean Monnets, die hinter dem am 9. Mai 1950 vom französischen Außenminister Robert Schuman verkündeten Plan standen, ein tragfähiges Konzept zu gestalten. Die Benelux-Länder und Italien zeigten bald Interesse an dem zunächst auf Westdeutschland und Frankreich zugeschnittenen Projekt. Jedoch erschwerten die zahlreichen konfligierenden Interessen der beteiligten Regierungen, der traditionell kartellfreudigen Montanindustrie und der US-amerikanischen Regierung als Besatzungsmacht in Westdeutschland eine schnelle Einigung.289 Erschwerend kam hinzu, dass die Kohle- und Stahlindustrie nach dem Krieg in vielen Ländern unter staatlicher Aufsicht stand, Kohlegruben verstaatlicht worden waren und staatliche Import- Verkaufssyndikate den Markt beeinflussten, so dass Interessenkonflikte bei der Umsetzung von wirtschaftspolitischen Zielen auch innerhalb von Regierungen bestanden. Die anfänglich angedachte Zusammenlegung der Produktion der Montanbranche, um strukturelle Produktions- und Absatzprobleme zu überwinden, ließ man zugunsten der Verschmelzung von nationalen Teilmärkten fallen. Die hohe politische und volkswirtschaftliche Bedeutung machte ein solches Vorgehen wünschenswert. Die spezifische Struktur des Montansektors in Europa, der traditionell von privatwirtschaftlichen Verschmelzungen, Absprachen
S. 105–128. S. 109–116; Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945 (Schriftenreihe 460). Bonn 2005. S. 234–237; Ambrosius, Gerold: Wirtschaftsraum Europa. Vom Ende der Nationalökonomien. Frankfurt a. M. 1996. S. 75ff.; Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957 (Kleine VandenhoeckReihe 1551). Göttingen 1991. S. 81f. 288 Vgl. Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 86–91 und S. 108–118; Schinzinger, Francesca: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Schuman-Planes. In: Schwabe (Hrsg.): Die Anfänge des Schuman-Plans. S. 143–159. S. 143–147; Nausch, Eckart F.: Die Entwicklung der deutschen und französischen Stahlindustrie nach dem zweiten Weltkrieg und ihr Einfluß auf die Verankerung eines grundsätzlichen Subventionsverbotes für Stahl im Montan-Vertrag von 1952 (Wirtschafts- und Rechtsgeschichte 11). Köln 1988. S. 41–68 und S. 78–113; Milward: Reconstruction of Western Europe. S. 362–380. 289 Ursprünge für und Einflüsse auf die Vertragsverhandlungen und die Verwirklichung des Schuman-Plans in Form der EGKS sind an anderer Stelle ausführlich behandelt worden. An dieser Stelle wird auf die einschlägigen Werke verwiesen: Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz.; Gillingham, John: Coal, steel, and the rebirth of Europe. 1945–1955. The Germans and French from Ruhr conflict to economic community. Cambrige 1991; Schwabe, Klaus (Hrsg.): Die Anfänge des Schuman-Plans. Beiträge des Kolloquiums in Aachen, 28.– 30. Mai 1986 (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaft 2). Baden-Baden 1988; Bührer, Werner: Ruhrstahl und Europa. Die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie und die Anfänge der europäischen Integration. 1945–1952. München 1986; Milward: Reconstruction of Western Europe; Berghahn: Montanunion und Wettbewerb. S. 246–270; Diebold, William: The Schuman-Plan. A Study in Economic Cooperation 1950–1959. New York 1959. Haas, Ernst B.: The Uniting of Europe. Political, social, and economic Forces 1950–1957. Stanford 1958.
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und nationalen und internationalen Kartellen gekennzeichnet war, machte es möglich.290 Die Regierungsvertreter wurden sich bald einig, dass mit dem Ziel der angestrebten Gemeinschaft die Zurückdrängung missbräuchlicher Absprachen der Privatwirtschaft verbunden sein müsste. Eine Verständigung über die dazu nötigen wirtschaftspolitischen Instrumente im Detail wurde jedoch so schnell nicht erreicht.291 Es bestand keine Einigkeit darüber, ob ‚Wettbewerb‘ oder ‚organisierte Wirtschaft‘ geeigneter sei, um die grundsätzlichen Ziele der Kooperation zu erreichen. Die traditionellen Einstellungen gegenüber Kartellen, Monopolen und der Rolle des Prinzips Wettbewerb waren 1950 sehr unterschiedlich. Bei den Verhandlungen zum EGKS-Vertrag zeigte sich sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der deutschen Industrie Widerstand gegen den geplanten Gemeinsamen Kohle- und Stahlmarkt, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven.292 In den Vereinigten Staaten befürchteten Kritiker die Gründung eines staatlich legitimierten Kartells in Europa. Schuman am 9. Mai 1950 hatte wohlweislich die traditionell kartellierten Strukturen der Montanindustrie mit keinem Wort erwähnt. Er stellte in seiner Erklärung hingegen von Anfang an klar, dass „im Gegensatz zu einem internationalen Kartell, das nach einer Aufteilung und Ausbeutung der nationalen Märkte durch einschränkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoher Profite strebe, [...] die geplante Organisation die Verschmelzung der Märkte und die Ausdehnung der Produktion gewährleisten“ werde.293 Die amerikanischen Bedenkenträger sahen trotz dieser Einlassung Schumans die amerikanische Anti-Trust Politik in Europa auf einem wichtigen Teilmarkt in Gefahr. Monnet selbst, der nicht nur die Marktmacht der deutschen Montanindustrie zu begrenzen hoffte, sorgte sich vor und während der Verhandlungen darum, dass Kartelle wieder wirtschaftliche Macht gewinnen könnten. Sein Modernisierungsprogramm für die französische Industrie basierte auf der Einsicht, dass die französische Wirtschaft in ihrer aktuellen Verfassung internationalem Wettbewerb nicht standhalten würde. Schärfere Konkurrenz war für ihn ein Mittel, um die „französischen Unternehmer wettbewerbswilliger und -fähiger
290 Die Montanindustrie war traditionell durch zahlreiche privatwirtschaftliche Verschmelzungen, Absprachen und Kartelle gekennzeichnet. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg hatte es in der Branche einige internationale Kartelle, bis hin zu der 1933 gebildeten Internationalen Rohstahlexportgemeinschaft (IREG) gegeben, die später rund 90% der Weltausfuhr von Rohstahl kontrollierte Vgl. Nausch: Entwicklung der deutschen und französischen Stahlindustrie. S. 17–26; Berghahn: Montanunion und Wettbewerb. S. 251f.; Hoeren: Europäisches Kartellrecht. S. 408f.; Hexner, Erwin: The international Steel Cartel. Chapel Hill 1946. 291 Vgl. Hoeren: Europäisches Kartellrecht. S. 409f. 292 Vgl. Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 220ff. 293 Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 8ff. S. 9.
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zu machen.“294 Es setzte sich deshalb bei den Schuman-Plan-Verhandlungen stark für ein Kartellverbot ein.295 Trotzdem blieben Zweifel bestehen, inwieweit ein gemeinsamer Markt mit festgelegten Preisen nicht doch einem internationalen Kartell nah käme. Auch wenn dies nicht das Ziel der Kooperation war, wurde eine ähnliche Wirkung für die Handlungs- und Verfügungsfreiheit der Eigentümer von Produktionsmitteln und für die Ordnung der Wirtschaft nicht ausgeschlossen. Auch die französische Industrie war anfänglich skeptisch. Die deutsche und teilweise auch die BeneluxRegierungen äußerten Bedenken gegenüber Elementen dirigistischen Eingriffs auf dem Kohle- und Stahlmarkt.296 Monnet schaffte es, zumindest die Bedenken in der Administration der USA schnell zu zerstreuen und die amerikanische Außenpolitik für das Projekt Montangemeinschaft zu gewinnen.297 Diese Tatsache war in den folgenden Monaten bei den Verhandlungen über das Kartell- und Monopolverbot nicht unerheblich, da von Seiten der belgischen, luxemburgischen und der deutschen Industrie der Widerstand gegen ein striktes Kartellverbot zunahm. Die Wirtschaft drängte vor allem darauf, dass die Staaten sich mit jeglichen Reglementierungen und Eingriffen, wozu nach ihrem Verständnis auch Kartellverbot oder Konzentrationskontrolle zählten, im Markt zurückhielten und die geplante zentrale Exekutivbehörde mit möglichst wenig Befugnissen ausstatteten.298 Während der Vertragsverhandlungen entwickelte sich die Rolle der USA von der einer Beobachterin hin zu einer aktiven Hintergrundakteurin, die als Besatzungsmacht in Deutschland Einfluss auf die Verhandlungsposition der Bundesrepublik nahm. Das französische Interesse an der Antikartellaufsicht des heimischen aber vor allem auch des deutschen Kohle- und Stahlmarktes, allen voran von Monnet propagiert, deckte sich mit dem amerikanischen Interesse an der Durchsetzung des Anti-Kartellgedankens in Europa. Das massive Eingreifen und der außerordentliche Druck auf die Bundesregierung bei den Fragen der Dekartellierung der Stahlindustrie und der Entflechtung des zentralen Deutschen Kohleverkaufs (DKV) ermöglichten den Abschluss des EGKS-Vertrags gegen die Interessen der deutschen Schwerindustrie.299 Auch wenn 1952 ein Beteiligter der Ver294 Berghahn: Montanunion und Wettbewerb. S. 266. Vgl. auch Trausch: Schuman-Plan zwischen Mythos und Realität. S. 115. 295 Vgl. Bührer: Ruhrstahl und Europa. S. 197; Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 156–164, S. 174–178 und S. 207ff. 296 Hinsichtlich der deutschen Position vgl. Nausch.: Entwicklung der deutschen und französischen Stahlindustrie. S. 149ff. Zu den Bedenken der französischen Industrie vgl.: Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 178–182. 297 Vgl. Neuss, Beate: Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozeß 1945–1958. Baden-Baden 2000. S. 63f.; Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 175f. und S. 251f. 298 Vgl. Bührer: Ruhrstahl und Europa S. 197f. 299 Vgl. Neuss: Geburtshelfer Europas? S. 73–83. Ähnlich hierzu vgl. Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 250–255; Griffiths, Richard T.: The Schuman-Plan Negotiations. The Economic Clauses. In: Schwabe (Hrsg.): Die Anfänge des Schuman-Plans. S. 35–71. S. 61– 65. Zu den Verhandlungen der Wettbewerbsartikel vgl. auch Hoeren: Europäisches Kartellrecht. S. 410–413; Neebe, Reinhard: Weichenstellung für die Globalisierung. Deutsche
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handlungen nach außen verkündete, dass es falsch wäre, aufgrund der Tatsache, dass die Bestimmungen durch die nordamerikanische Gesetzgebung beeinflusst seien „anzunehmen, dass [...] ein Diktat fremder Macht vorläge“300, war es schon bald kein Geheimnis mehr, dass „die Verträge [...] in enger Mitarbeit amerikanischer Antitrust-Rechtsanwälte ausgearbeitet“ worden waren.301 Der am 18. April 1951 unterzeichnete Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl enthielt für den Kohle- und Stahlmarkt strenge Wettbewerbsregeln. Die ursprünglichen Bedenken gegenüber einer Kooperation mit starken dirigistischen Elementen und staatlich legitimierten kartellartigen Märkten hatten sich nicht zuletzt durch die Einflussnahme der Amerikaner als gegenstandslos herausgestellt. Mit dem EGKS-Vertrag wurde stattdessen ein strenges Wettbewerbs- und Kartellrecht geschaffen, das dem Verbotsprinzip folgte und in den Mitgliedstaaten ohne Beispiel war. Das Kartellverbot mit Erlaubnisvorbehalt, die Fusionskontrolle mit Monopolverbot und die Missbrauchsaufsicht durch eine unabhängige Behörde gingen über bestehendes Recht der Staaten hinaus. Die Wettbewerbsvorschriften des EGKS-Vertrags galten unmittelbar für private und öffentliche Produzenten der Montanindustrie und für Vertriebsunternehmen, die mindestens in einem der Mitgliedstaaten aktiv waren.302 Sie waren detailliert und schränkten die Vertragsfreiheit der Unternehmen der Kohle- und Stahlindustrie stark ein.303 Eine gemeinschaftliche staatliche
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Weltmarktpolitik, Europa und Amerika in der Ära Ludwig Erhard. Köln, Weimar, Wien 2004. S. 259ff. Krawielicki, Robert: Das Monopolverbot im Schumanplan. Tübingen 1952. S. 6. Knebel: Europäische Wettbewerbsregeln. S. 30. Es gab zahlreiche zeitgenössische Hinweise auf den amerikanischen Einfluss auf die Ausgestaltung des EGKS-Vertrags und auf die darin festgelegten Wettbewerbsregeln. Rathje verwies 1954 auf die Begründung für einen Entwurf des GWB, in der die deutsche Regierung darauf hinwies, dass man „hinsichtlich der Eisenund Kohleindustrie in der Formulierung des Art. 66 des Schuman-Planes einer Aufforderung der Alliierten Hohen Kommission nachgekommen sei.“ Rathje, W.: Der ‚Wettbewerb‘ auf dem Kohlemarkt nach den Bestimmungen des Schuman-Planes. In: WuW 4 (1954). S. 26–42. S. 40, FN 30. Adolf Benz schrieb 1958: „An der Ausarbeitung der Artikel 65 und 66 der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) haben amerikanische Sachverständige maßgeblich mitgearbeitet.“ Benz: Kartellentwicklung und Kartellpolitik. S. 54. Neben der erwähnten Studie von Beate Neuss vgl. auch Hoeren: Europäisches Kartellrecht. S. 412f.; Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 249–252; Baums, Theodor: Das Kartellverbot in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und seine Anwendung. In: Pohl (Hrsg.): Kartelle und Kartellgesetzgebung. S. 303–317. S. 310f.; Berghahn: Montanunion und Wettbewerb. S. 246–270. S. 267f; Dichgans, Hans: Montanunion. Menschen und Institutionen. Düsseldorf, Wien 1980. S. 72. Ausgenommen waren Unternehmen, deren Vertriebstätigkeit sich an Haushalte und Kleingewerbetreibende richtete. Vgl. Art. 80, EGKS-Vertrag. Zu den kartell- und monopolrechtlichen Vertragsbestimmungen vgl. allgemein Krawielicki: Monopolverbot im Schumanplan; Sahm (Hrsg.): Der Schuman-Plan. Weitere Bestimmungen des EGKS-Vertrags, die Fragen der Wettbewerbsgleichheit und des Gemeinsamen Marktes zum Gegenstand haben (z.B.: Beihilfen, Subventionen, tarifäre und nicht-tarifäre Handelshindernisse. Vgl. Art. 4 EGKS-V) werden hier nicht behandelt, da Adressat dieser Normen die Mitgliedstaaten waren. Zum Thema Subventionsverbot in den Vertragsverhandlungen vgl. Nausch: Entwicklung der deutschen und französischen Stahlindustrie. S. 154–165.
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Hohe Behörde wurde mit der Entscheidung über Ausnahmegenehmigungen und mit der Kartell- und Monopolaufsicht beauftragt. Sie wurde von den vertragsschließenden Staaten mit umfangreichem Aufsichts- und Interventionsrecht ausgestattet. Weitere supranationale Institutionen zur Kontrolle, wie die Parlamentarische Versammlung und der Europäische Gerichtshof, wurden gegründet. Die Mitgliedstaaten schufen damit erstmals gemeinschaftlich getragene Organisationen, deren institutionelle Struktur Basis, Antrieb und zugleich auch Blaupause für weitere Integrationsschritte in den 1950er Jahren in Westeuropa wurde.304 Das Wettbewerbsrecht des EGKS-Vertrags schrieb im einzelnen in Artikel 65 ein unmittelbares und grundsätzliches Kartellverbot mit Erlaubnisvorbehalt fest, das nicht nur formale Kartellabsprachen, sondern auch abgestimmtes Verhalten verbot. In Ausnahmefällen konnte es durch Genehmigung der Hohen Behörde unter bestimmten, klar abgegrenzten Bedingungen aufgehoben werden.305 Genehmigte Kartellabsprachen unterlagen der Aufsicht der Hohen Behörde, die hierzu ein umfassendes Informationsrecht besaß. Nicht genehmigte Vereinbarungen waren nichtig. Zusammenschlüsse von Unternehmen unterlagen grundsätzlich nach Artikel 66 EGKS-Vertrag der Genehmigung durch die Hohe Behörde. Hierbei war es unerheblich, ob der Zusammenschluss durch „Fusion, einem Erwerb von Aktien oder Vermögenswerten, einer Darlehensverpflichtung, einem Vertrag oder einer anderen Art der Kontrolle“ entstand.306 Die Hohe Behörde konnte Genehmigungen nur erteilen, wenn der Zusammenschluss nicht dazu geeignet war, den Marktpreis zu bestimmen, die Produktion oder Verteilung zu beherrschen oder zu beschränken oder den Wettbewerb zu verhindern; also wenn der Zusammenschluss für das neue Unternehmen keine marktbeherrschende Stellung schuf.307 Eine Genehmigung hatte Missbrauchsaufsicht durch die Hohe Behörde zur Folge. Diese galt ohnehin für alle Unternehmen mit beherrschender Stellung auf dem Markt und sollte dazu beitragen, diejenigen Marktpraktiken zu verhindern, die im Widerspruch zu Zielen des Vertrags standen. Die Hohe Behörde konnte nach Artikel 66 § 7 EGKS-Vertrag Empfehlungen an Unternehmen aussprechen, unerlaubtes Verhalten zu ändern. Befolgten die Unternehmen die Empfehlungen nicht, konnte sie diese nach Rücksprache mit den beteiligten Regierungen mit
304 Vgl. hierzu kritisch Trausch: Schumann-Plan zwischen Mythos und Realität. S. 126ff. 305 Genehmigungen konnten nur für Spezialisierungsabsprachen und für gemeinsame Ein- oder Verkaufskartelle sowie für Absprachen, die „ihrer Natur und ihren Auswirkungen“ diesen „streng analog“ waren, erteilt werden (Art. 65 §2; EGKS-Vertrag). Weitere Genehmigungsvoraussetzung war, dass durch die Absprache, und nur durch diese, Produktion oder Verteilung der Produkte merklich verbessert würden. Zum Erlaubnisvorbehalt des Art. 65 § 2 vgl. auch Knebel: Europäische Wettbewerbsregeln. S. 59–62. 306 Vgl. Artikel 66, § 1 des EGKS-Vertrags. 307 Die Anwendungspraxis der Hohen Behörde auf dem ohnehin oligopolistischen Kohle- und Stahlmarkt war oftmals Gegenstand von Prüfungen durch den Europäischen Gerichtshof. Häufig bestätigte er deren Entscheidungen, Zusammenschlüsse auch dann zu erlauben, wenn damit große Marktanteile entstanden. Vgl. OECD: Marktmacht und Recht. S. 76–81.
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Sanktionen belegen.308 Der Vertrag verbot darüber hinaus jede diskriminierende Methode des unlauteren Wettbewerbs, wie unterschiedliche Behandlung von Erzeugern, Abnehmern oder Verbrauchern bei vergleichbaren Geschäften zur Behinderung oder Einschränkung des Wettbewerbs, die Auswirkungen auf den Preis haben konnten.309 Auch wenn sämtliche wettbewerbsbeeinträchtigende Strategien pauschal verboten wurden, die gegen die in Artikel 2 und 3 niedergelegten Aufgaben und Ziele der Gemeinschaft und der Organe sowie gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Artikel 4 verstießen, lag das Hauptaugenmerk der Wettbewerbsaufsicht auf der Beeinflussung und Gestaltung von Preisen und Lieferbedingungen bei sonst gleichen Geschäften. Zur Umsetzung dieser Ziele hatte die Hohe Behörde die Möglichkeit, mit Hilfe des Verwaltungsrechts Sanktionen und Bußgelder zu verhängen, strafrechtliche Sanktionen waren hingegen nicht vorgesehen. Gegen die Verwaltungsakte der Hohen Behörde konnten die Unternehmen vor dem Europäischen Gerichtshof Einspruch einlegen. Der EGKS-Vertrag enthielt jedoch keine geschlossene und eindeutige wettbewerbspolitische Konzeption, da die Hohe Behörde neben der Kartell- und Missbrauchsaufsicht ebenso zu Markteingriffen befugt war. Artikel 3c EGKSVertrag verpflichtete sie, für niedrigste Preise zu sorgen. Hierzu wurden ihr zahlreiche dirigistische Instrumente zur Marktregulierung an die Hand gegeben.310 So konnte sie in Krisenfällen unmittelbar auf die Markt- und Preisentwicklung Einfluss nehmen, wobei ungehinderter Wettbewerb und freie Marktpreise dann zweitrangig geworden wären.311 Zusätzlich war die Hohe Behörde in Krisenfällen dazu ermächtigt, die Wettbewerbsstruktur des Marktes durch Quoten, Umlagen oder Verteilung von Produkten und Erzeugnissen zu beeinflussen.312 Das Spannungsfeld zwischen freiem Wettbewerb und staatlicher Einflussnahme auf dem Kohleund Stahlmarkt, welches sich bereits bei den Vertragsverhandlungen angekündigt hatte, blieb bestehen. Rathje beurteilte 1954 das Kartell- und Monopolverbot der Artikel 65 und 66 als Maßnahme zum Schutz der regulierenden Marktpolitik der
308 Die Möglichkeit Sanktionsmaßnahmen ohne Unterstützung der jeweiligen nationalen Regierungen durchzusetzen war jedoch gering In diesem Rahmen kam es erst 1963 zu einem ersten Fall, als ein deutsches Kohleunternehmen durch Geschäftsbedingungen bestimmte Marktteilnehmer so stark bevorzugte, dass die Hohe Behörde von illegaler Marktaufteilung ausging. Vgl. OECD: Marktmacht und Recht. S. 115. 309 Vgl. Art. 60 und 63 des EGKS-Vertrags. 310 Zur Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes bzw. zur Offenlegung möglicher Diskriminierungen sahen die Art. 60 bis Art. 64 umfangreiche Einsicht- und Kontrollmaßnahmen sowie die Einführung von Preistafeln und die Festlegung von Höchst- und Mindestpreisen auf dem Gemeinsamen Markt und für die Ausfuhr vor. Vgl. Kapitel V „Preise“, Art. 60–64 des EGKS-Vertrags. 311 Auch wenn Preisregulierung nicht das Ziel des EGKS-Vertrags war, versuchte die Hohe Behörde zunächst auf dem Kohlemarkt das Ziel der Preisstabilität durch mehrfachen Eingriff zu erreichen. Vgl. Rathje : ‚Wettbewerb‘ auf dem Kohlemarkt. S. 35f., hier auch FN 19. 312 Vgl. Art. 58 und 59 des EGKS-Vertrags. Mit diesen Maßnahmen versuchte die Hohe Behörde zu Beginn der 80er Jahre die Krisen auf dem Stahlmarkt zu dämpfen. Vgl. Baums: Das Kartellverbot in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. S. 306.
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Hohen Behörde vor Handlungen der Unternehmen.313 Er sah in den Regelungen des Vertrags für die Hohe Behörde „eine ganze Reihe von Möglichkeiten [...] den Wettbewerb auf dem gemeinsamen Markt einzuschränken.“314 Trotzdem ging er davon aus, dass bei üblicher Marktlage die Durchsetzung des Wettbewerbs Vorrang vor dirigistischen Eingriffen durch die Hohe Behörde haben würde. Ende der 1950er Jahre urteilte Johann-Heinrich Knebel, erstens dass die Hohe Behörde nicht die wettbewerbspolitische Schärfe an den Tag legte, die ihr durch den Vertrag an die Hand gegeben worden war und zweitens, dass sie auch nicht die scharfe Antitrust-Idee der USA übernommen hatte. Bei Genehmigungen betrieb die Hohe Behörde „eine nicht zu engherzige Politik“ und stellte „Gründe der wirtschaftlichen Vernunft über ein starres Dogma.“315 Insgesamt waren Umsetzung und Wirkung der wettbewerbspolitischen Regelungen in den ersten Jahren ambivalent. Bis April 1958 verhinderte die Hohe Behörde keinen Zusammenschluss. Es kam im Gegenteil sowohl in der deutschen als auch in der französischen Montanindustrie zu Rekonzentrationsbewegungen.316 Obwohl die Hohe Behörde sehr vorsichtig gegen Kartelle vorging, blieb die Stimmung gegenüber der EGKS und gegenüber dem mit ihr verbundenen Kartellrecht in der deutschen und französischen Schwerindustrie ablehnend.317 Mit dem Kartell- und Monopolverbot im EGKS-Vertrag hatten die beteiligten Regierungen weder eine wettbewerbspolitische Grundsatzentscheidung für eine aktive Wettbewerbspolitik noch für bestimmte Instrumente der Wettbewerbspolitik getroffen, die auf andere Bereiche internationaler Kooperation übertragbar gewesen wäre. Zunächst gaben die besonderen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Umstände Westeuropas zwischen dem Entwurf des Plans 1949/50 und seiner Aushandlung 1950/1951 sowie die Beschränkung auf den Kohle- und Stahlmarkt dieser Zusammenarbeit der Staaten einen besonderen Charakter. Die Kooperation der sechs Staaten war langfristig tragfähig, weil sie Lösungen für konkrete Probleme bot, einen allgemeinen Interessenausgleich zwischen spezifischen nationalen Interessen schuf und gleichzeitig der Wirtschaft Rahmenbedingungen für eine gesicherte Produktionsausdehnung bereitstellte. Die Durchsetzung des Kartell- und Monopolrechts, nach Kipping für die französische Seite zentraler Baustein des EGKS-Vertrags, war vor der besonderen wirtschaftlichen Stellung der Montanindustrie in Frankreich, deren wirtschaftlicher Verflechtung mit den Ressourcen des Ruhrgebietes und der Frage alliierter Ruhrkontrolle zu verstehen.318 Berücksichtigt man Macht und Einfluss der für den Wiederaufbau wichtigen Montanindustrie auf der einen Seite und die Forderungen der USA nach aktiver Anti-Trust-Politik, verbunden mit dem direkten Eingriff in die Vertragsverhandlungen, auf der anderen Seite, spricht einiges dafür, dass ohne den ameri313 314 315 316 317
Vgl. Rathje: ‚Wettbewerb‘ auf dem Kohlemarkt. S. 39f. Ebd.: S. 42. Knebel: Europäische Wettbewerbsregeln. S. 63ff. Vgl. Diebold: The Schuman-Plan. S. 356–361 und S. 378ff. Vgl. Rhenisch: Europäische Integration und industrielles Interesse. S. 75f.; Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. S. 245ff. 318 Vgl. Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 222f.
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kanischen Einfluss eine schwächere Wettbewerbskonzeption für den Kohle- und Stahlmarkt im Vertrag verankert worden wäre. Hierfür sprechen auch die nationalen Wettbewerbsgesetze und die Auseinandersetzungen über deren Ausgestaltung zu Beginn der 1950er Jahre. Auch Volker Berghahn urteilte, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten sich gerade „nicht auf den Mechanismus des Wettbewerbs verlassen“ wollten und die Industrie nur geringe Möglichkeiten zur Kartellierung bei den Verhandlungen hatte durchsetzen können.319 Hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung der EGKS und der Übertragung von Hoheitsrechten an die Hohe Behörde muss berücksichtigt werden, dass die Präferenzen der Franzosen für das Gesamtprojekt EGKS und für die Aufsicht über den deutschen Kohle- und Stahlmarkt 1950 sehr hoch waren. Französische Abneigungen gegenüber supranationalen Organisationen und einer strengen Kartellaufsicht standen dahinter zurück, zumal es sich nur um einen Teil der Wirtschaft handelte. Nach der Realisierung dieses Projekts, der Veränderung der gesamtpolitischen Lage und den ersten negativen Erfahrungen mit den Kartell- und Monopolartikeln und der Hohen Behörde hatten sich die Präferenzen bei der Wirtschaft und den Regierungen, speziell der Französischen geändert. Die schlichte Ausdehnung der institutionellen oder auch der wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen der Montanunion auf die Gesamtwirtschaft stand somit nicht zur Diskussion. C.3 SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR EINE GEMEINSAME, EUROPÄISCHE WETTBEWERBS- UND KARTELLPOLITIK Das Kartellrecht der späteren EWG-Mitgliedstaaten war Mitte der 1950 Jahre vor allem durch eine Tatsache gekennzeichnet: Uneinheitlichkeit. Soweit Gesetze existierten, die Kartelle oder wettbewerbsbeeinträchtigende Strategien zum Gegenstand hatten, waren sie aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlicher Zielsetzung in Kraft getreten. Die Vielfalt reichte von alliiertem Dekonzentrationsrecht, über nicht rechtskräftige oder nicht angewendete faschistische Gesetze zur Regelung der Kriegswirtschaft, Gesetze zur staatlichen Marktbeeinflussung bis hin zu gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Allgemeinheit vor privaten Wettbewerbsbeeinflussungen. Gemeinsam war den meisten Ländern, dass die Regierungen zu Beginn der 1950er Jahre mit unterschiedlichem Erfolg versucht hatten, ein eigenes Kartellgesetz durchzusetzen oder bestehende Gesetze an die veränderten wirtschaftlichen Umstände anzupassen und anwendbar zu machen. In der Bundesrepublik gab es zu diesem Zeitpunkt intensive Diskussionen und Auseinandersetzungen in Politik und Wirtschaft um die Verabschiedung eines Wettbewerbsrechts. Nach den Vorstellungen der Regierung sollte mit einem Kartellverbot mit Ausnahmebereichen, der Aufsicht über Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung und einer unabhängigen Kartellbehörde als Kontroll- und Entscheidungsinstitution ein Umbruch in der Tradition der deutschen 319 Berghahn: Montanunion und Wettbewerb. S. 246–270. S. 268.
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Wettbewerbspolitik herbeigeführt werden. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollte neben dem ‚Leitsätzegesetz‘ und der Währungsreform im Juni 1948 die dritte Säule der westdeutschen freiheitlichen Wirtschaftsverfassung werden. Angestoßen durch die amerikanische Anti-Trust-Politik und rechts- und wirtschaftstheoretische Konzepte der deutschen Ordoliberalen Schule waren seit Ende der 1940er Jahre System-, Verfahrens- und Rechtsfragen verschiedener Konzepte und Gesetzesentwürfe intensiv diskutiert worden. Der grundsätzliche Systemwechsel hin zum Kartellverbot schien angesichts der Machtverhältnisse im Parlament und der Entschlossenheit, mit der Bundeswirtschaftsminister Erhard seinen Gesetzesentwurf verteidigte, wahrscheinlich, jedoch war der nationale Interessenwettbewerb Mitte der 1950er Jahre noch nicht abgeschlossen. Noch war nicht abzusehen, wie stark das Verbotsprinzip durch Ausnahmebereiche und Sondergenehmigungen in Richtung Missbrauchsprinzip verwässert würde und wie Erhard sich gegen die industriellen Interessen würde durchsetzen können, die grundsätzlich das Missbrauchsprinzip befürworteten. Gegen das Verbotsprinzip, das zu diesem Zeitpunkt in keinem der anderen fünf späteren EWG-Staaten umgesetzt wurde, wurde in der Debatte auch die mögliche Benachteiligung der deutschen Wirtschaft im europäischen Wettbewerb durch eine zu strenges nationales Wettbewerbsrechts vorgebracht. Die Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache waren unterschiedlich. Für die Einen war es ein weiterer Grund für die Ablehnung des Regierungsvorhabens, für die Anderen war es Anlass, die Bundesregierung dazu aufzufordern, diesen potentiellen Wettbewerbsnachteil aufgrund unterschiedlicher Rechtsvorschriften im Rahmen der Verhandlungen über die Fortsetzung der wirtschaftlichen Integration abzubauen. Wie dargestellt gab es zu dieser Zeit weder in Luxemburg noch in Italien oder Belgien ein Wettbewerbs- oder Kartellrecht. In Italien und Belgien war Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre die Einführung eines Wettbewerbsrechts gescheitert. Dabei war in Rom und Brüssel nicht einmal ein allgemeines Kartellverbot oder eine Monopolaufsicht angestrebt worden. Auch die gesetzliche Regelung von Kartellen und Maßnahmen zur Kontrolle von Missbrauch wirtschaftlicher Macht mit negativen Auswirkungen für die Allgemeinheit scheiterte in beiden Ländern. Wie sich einige Jahre nach der EWG-Gründung zeigen sollte, war man in diesen Ländern – den jeweiligen Traditionen und Rechtslagen entsprechend – weit davon entfernt, Kartelle als grundsätzlich negativ für die wirtschaftliche Entwicklung anzusehen und den freien, ungehinderten Wettbewerb durch aktive Wettbewerbspolitik fördern zu wollen. Ähnlich wie in Italien und Belgien war in Frankreich die allgemeine Wirtschaftspolitik von staatlicher Einflussnahme auf die wirtschaftlichen Aktivitäten der freien Unternehmen geprägt. In diesen Ländern wurde mit unterschiedlicher Intensität auf Elemente von Planung und Programmierung bis hin zur quantitativen Festlegung von zu erreichenden Zielen zurückgegriffen, um politische Zielvorgaben zu verwirklichen. In Frankreich waren seit 1953 Gesetze gegen Absprachen und Kartelle in Kraft, die in ihrem Grundsatz dem Verbotsprinzip nicht fern waren, jedoch nur einen Unterfall der Preisgesetze darstellten. Selbst
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diese Regelungen konnten aber durch Ausnahmetatbestände, institutionelle Schwächen und laxe Umsetzung durch Politik und Bürokratie ihre Wirkung für die Etablierung von freiem Wettbewerb kaum entfalten. Wegen des Zusammenhangs mit dem politischen Ziel der staatlichen Preiskontrolle konnten wettbewerbsrelevante Entscheidungen nicht durchgesetzt werden, da sie zu häufig den kurzfristigen politischen Abwägungen untergeordnet wurden. Der freie Wettbewerb war kein eigenständiges Ziel französischer Wirtschaftspolitik, die für den politische Einflüsse anfällige ex-post Kontrolle wesentliches Instrument der Preisund Wettbewerbspolitik. Ein Interesse an durchsetzungskräftiger Wettbewerbspolitik bestand in Frankreich wie in Italien kaum, da die Wirtschaft entlang staatlicher Pläne und Zielvorgaben koordiniert und dem Wettbewerb als Lenkungsinstrument der freien Marktwirtschaft nicht vertraut wurde. Hinzu kamen in beiden Ländern Interessenidentität von Politik, Bürokratie und Wirtschaft bei der gemeinsamen Umsetzung der politischen Programm- und Planziele. Der hohe Anteil staatlicher Monopole und Unternehmen verschärfte dieses Problem zusätzlich, speziell in Italien. In den Niederlanden hingegen wurde zu Beginn der 1950er Jahre über ein eigenständiges Kartellrecht diskutiert. Jedoch setzte sich auch hier das Verbotsprinzip als Kennzeichen einer prinzipiell ablehnenden Haltung gegenüber Kartellen nicht durch. Während man 1952 zunächst die Kartellaufsichtsgesetze verschärfte und die Regierung an einem eigene Wettbewerbsrecht arbeitete, war in Belgien der Entwurf der Regierung, der den Missbrauch von Marktmacht unter Kontrolle stellen sollte, vom Parlament als zu streng verworfen worden. In beiden Ländern waren Gesetze vorgesehen, nach denen dem Wirtschaftsminister Aufsichtspflicht und Kontrollrecht über den Missbrauch von Marktmacht zukommen sollte. In Belgien war der ursprüngliche Entwurf an dem Plan gescheitert, die Entscheidung über Machtmissbrauch an Gerichte abzugeben. Der Wandel in der Beurteilung von Kartellen manifestierte sich in den Niederlanden erst in dem 1956 verabschiedeten Kartellgesetz, das als Erlaubnisrecht mit Verbotsvorbehalt charakterisiert wurde und der Regierung umfangreiche Befugnisse übertrug, bestimmte wettbewerbsbehindernde Strategien allgemein zu untersagen. Insgesamt hatten drei der sechs Gründerstaaten der EWG kein Wettbewerbsgesetz. Allein die Bundesrepublik räumte dem Prinzip Wettbewerb als Koordinationsmechanismus der Wirtschaft besonderen Stellenwert in ihrer Wirtschaftsordnung ein. In den anderen Ländern diente Wettbewerbspolitik häufig zur Unterstützung anderer nationaler wirtschaftspolitischer Ziele, insbesondere zur Unterstützung der Preiskontrollpolitik. Zur Erfassung und Verhinderung wettbewerbsbeeinträchtigender Praktiken folgten die Wettbewerbspolitiken de facto überwiegend dem Missbrauchsprinzip mit Einzelfallentscheidungen. Das allgemeine Verbotsprinzip, von einer politisch unabhängigen Kartellbehörde überwacht, wurde nur in der Bundesrepublik angestrebt, harrte aber während der Verhandlungen über die EWG noch der rechtlichen Festlegung im parlamentarischen Entscheidungsprozess. Wenn man auch nicht realisierte Gesetzesvorhaben berücksichtigt, lag die Verantwortlichkeit für die Anwendung des Wettbewerbs-
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rechts in den anderen Ländern bei politischen Entscheidungsträgern, meist dem Wirtschaftsminister. Die vorangehenden Untersuchungsverfahren und Entscheidungsvorbereitungen geschahen in den jeweiligen, von politischen Vorgaben abhängigen Regierungsverwaltungen. Nicht zuletzt dadurch erlangte das Wettbewerbsprinzip der aktivierenden Politik meist keine eigenständige Stellung gegenüber der dirigistischen Industriepolitik. Erschwerend kam hinzu, dass die Wettbewerbsregeln in den meisten Ländern häufig mit dem Strafrecht verknüpft waren. In Frankreich, wo Gesetzesvollzug durch die Strafgerichtsbarkeit eigentlich von der Administration eingeleitet und vorbereitet werden sollte, kam es aufgrund der institutionellen Ausgestaltung und des politischen Einflusses in letzter Konsequenz kaum zu Strafverfahren. Nur in der Bundesrepublik sollten in Zukunft rechtsverbindliche Entscheidungen vom eigens einzurichtenden, unabhängigen Kartellamt getroffen und das Wettbewerbsrecht auch mit Hilfe von Strafverfahren durchgesetzt werden. Gemeinsamkeit zwischen den Staaten bestanden allein in den Positionen gegenüber der Konzentrationsstrategie. In keinem Land wurden Fusionen oder sich entwickelnde Konzentrationen untersagt, geschweige denn Monopole aufgelöst. Mit unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Instrumenten beschränkte man sich darauf, Missbräuche zu kontrollieren und zu verhindern. Einzelne Staaten, allen voran Frankreich und Italien, förderten sogar Fusionen und Konzentration im Rahmen ihrer Industriepolitik. Die verschiedenen Kartellpolitiken der europäischen Länder unterschieden sich in erste Linie durch die grundsätzliche Einstellung gegenüber wettbewerbsbeschränkenden Praktiken durch Absprachen. Hier schien sich eine Trennlinie zwischen der Bundesrepublik und den anderen fünf Staaten abzuzeichnen. Zwar hatte das Verbotsprinzip in Westdeutschland noch nicht Gesetzeskraft, doch schien die Durchsetzung dieses Regierungsziels möglich und wurde massiv verfolgt. Die Regierungen der anderen Länder konnten sich hingegen innenpolitisch teilweise noch nicht einmal mit Kartellgesetzgebungen durchsetzen, die auf dem Missbrauchsprinzip basieren sollten. Auch wenn es für den Kohle- und Stahlmarkt der sechs Staaten seit 1952 ein Wettbewerbsgesetz gab, das auf dem Verbotsprinzip basierte, handelte es sich dabei nicht um eine wettbewerbspolitische Grundsatzentscheidung, die bei neuen Kooperationen einfach übernommen werden konnte, nicht zuletzt da sich die wirtschaftliche und politische Situation seitdem verändert hatte. Mitte der 1950er Jahre waren die wirtschaftlich schwierigen Aufbauzeiten vorbei, in denen die Montanindustrie eine zentrale Rolle gespielt hatte und zahlreiche Regierungen Westeuropas vermehrt zu dirigistischen und planerischen Maßnahmen in der Wirtschaftspolitik gegriffen hatten. Da auch die Einflussmöglichkeiten von USamerikanischer Seite auf zukünftige Verhandlungen stark zurückgegangen waren, fanden die Verhandlungen jetzt souveräner Staaten über den Gemeinsamen Markt unter veränderten Rahmenbedingungen statt. Dazu zählte auch die zunehmende Präsenz von Interessenverbänden auf nationaler Ebene, die ihre Interessen bei der Wettbewerbspolitik dargelegt hatten.
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Ob die Diskussion über die Kartellartikel im EGKS-Vertrag und damit über den ökonomischen Nutzen und Schaden von Kartellen und den Nutzen von Wettbewerb in einer Marktwirtschaft Anfang der 1950er Jahre entscheidenden Einfluss auf nationale Auseinandersetzungen um Wettbewerbspolitik hatte, kann hier nicht abschließend beantwortet werden.320 Angesichts der eingeschränkten Gültigkeit und der besonderen Umstände, unter denen gerade die Kartell- und Monopolartikel des EGKS-Vertrags zustande gekommen waren, darf dies aber bezweifelt werden. Die nationalen Wettbewerbstraditionen und auch die späteren langjährigen Auseinandersetzungen um eine gemeinsame Wettbewerbspolitik im Rahmen der EWG sprechen nicht dafür. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es in Europa keine gemeinsame europäische Kartellrechtstradition gab. Belgien, Italien und Luxemburg hatten kein spezielles oder rechtskräftiges Kartell- und Wettbewerbsgesetz. In Frankreich existierte ein Verbotsgesetz mit umfangreichen Legalausnahmen, das wegen seiner Struktur und Anwendung in der Wirkung eher den Charakter des Missbrauchsprinzips hatte. Bei der missbräuchlichen Ausnutzung wirtschaftlicher Machtpositionen folgten die Niederlande ebenfalls dem Missbrauchsprinzip, hatten es aber um von der Regierung festlegbare Verbotstatbestände ergänzt. Als Ergebnis der ersten Analyseebene im Untersuchungsschema Moravcsiks ist damit von hoher nationaler Präferenz der Staaten für eine Wettbewerbspolitik auszugehen, die im Prinzip gegenüber Kartellen wohlwollend eingestellt war. Die Mehrheit der Staaten tendierte dazu, die Handlungsfreiheit der Unternehmen auf Basis des Missbrauchsprinzips einzuschränken und sich bei der politisch beeinflussbaren Entscheidung stark von wirtschaftlichen Erwägungen und übergeordneten wirtschaftspolitischen Zielen leiten zu lassen. Das reine Verbotsprinzip als Basis staatlichen Handelns gegen wettbewerbsbeschränkende private Maßnahmen sollte mit Ausnahme der Bundesrepublik in keinem der beteiligten Länder die Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre prägen. Nur in der Bundesrepublik verteidigte Wirtschaftsminister Erhard das Per-se-Verbot seit einigen Jahren gegen innenpolitische Kräfte. Der Entwurf zum GWB beruhte auf dem Verbotsprinzip für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und dem Missbrauchsprinzip für den Missbrauch von Marktmacht. Das GWB, mit einem in seiner Wirkung durch zahlreiche Ausnahmetatbestände abgeschwächten Kartellverbot, trat jedoch erst nach der Unterzeichnung des EWG-Vertrags in Kraft. Auch wenn zu Beginn der 1960er Jahre trotz der unterschiedlichen nationalen Behandlungen wettbewerbsbehindernder Strategien im Ergebnis nur geringe Unterschiede festzustellen waren321, orientierten sich die nationalen Wirtschaftspolitiken im Allgemeinen und die Wettbewerbspolitiken im Speziellen sehr stark an den jeweils historisch bedingten Wirtschaftsordnungen. Die vertragsschließen320 Vgl. Schröter: Kartellierung und Dekartellierung. S. 498; Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. S. 348. 321 Vgl. Zijlstra: Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsproblematik. S. 39; Steindorff, Ernst: Die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts in der EWG. Wirksamkeit und Rechtsstaatlichkeit. In: Europaunion (Hrsg.): Aufgaben der Wettbewerbspolitik im Gemeinsamen Markt. S. 47–60. S. 59.
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den Staaten sollten den Bedarf nach Annäherung ihrer nationalen Wirtschaftspolitiken als Ziel der Kooperation im Vertrag festschreiben. Die Einigung auf eine Wettbewerbspolitik im EWG-Vertrag war demzufolge gerade kein Übereinkommen von „Ländern einer freien Marktwirtschaft, die schon die Notwendigkeit einer Regelung der Wettbewerbsbestimmungen als notwendig erkannt“ hatten, wie Thompson schrieb.322 Eine gemeinsame Tradition, auf die sich die Verhandlungspartner hätten stützen können, gab es weder in der Wirtschaftspolitik und auch nicht in der Kartell- und Wettbewerbspolitik. Sie musste erst geschaffen werden.
322 Thompson, Dennis: Die Wettbewerbspolitik in der Europäischen Gemeinschaft. Eine Übersicht über die Arbeit in der Kommission in den Jahren 1973–1976 (Vorträge und Aufsätze, Walter Eucken Institut 64). Tübingen 1978. S. 6.
D DIE VERTIEFUNG DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION – DAS PROBLEM UNGLEICHER PRÄFERENZEN FÜR EINE WETTBEWERBSPOLITIK (1955–1957) D.1 POLITISCHE UND WIRTSCHAFTLICHE PRÄFERENZEN ZUR AUSDEHNUNG DER ZUSAMMENARBEIT D.1.a Die nationalen Präferenzen für den Ausbau der Kooperation in Westeuropa Als am 25. März 1957 im Konservatorenpalast in Rom der EWG-Vertrag von Außenministern und Regierungschefs des Herzogtums Luxemburg, des Königreiches Belgien, des Königreiches Niederlande, der Republik Frankreich und der Republik Italien sowie der Bundesrepublik Deutschland unterschrieben wurde, bildete dies den Schlusspunkt knapp zweijähriger, nicht immer unproblematischer Verhandlungen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM). Mit Inkrafttreten dieser parallel entstandenen Verträge am 1. Januar 1958 betraten die sechs westeuropäischen Staaten nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1951 eine zweite neue Stufe der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. In den frühen 1950er Jahren hatte es bereits einige Ansätze zum Ausbau der Teilintegration gegeben, jedoch ohne der EGKS vergleichbare Ergebnisse.1 Planungen zur Fortsetzung der Kooperation im sicherheitspolitischen und militärischen Bereich schienen zunächst vielversprechend, scheiterten aber am 30. August 1954 an der Weigerung der französischen Nationalversammlung, den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu ratifizieren.2 Damit war der mit der EVG verbundene Plan zur Gründung der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) ebenfalls ad acta gelegt worden. Der hierzu vorlegte Entwurf eines Kooperationsvertrages vom 10. März 1953, erarbeitet von einer Ad-hoc-Versammlung der Parlamentarischen Versammlung der EGKS unter Präsidentschaft von Paul-Henri Spaak, hatte das Ziel der gesamtwirtschaftlichen Integration durch Bildung eines Gemeinsamen Marktes zum Inhalt gehabt. Neben dem allgemeinen Bekenntnis zum freien ungehemmten Personen-, Kapital- und 1
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Vgl. Beyen-Plan einer Zollunion vom 18. Februar 1953. Vgl. Woyke, Wichard: Erfolg durch Integration. Die Europapolitik der Benelux-Staaten von 1947 bis 1969 (Politikwissenschaftliche Paperbacks 8). Bochum 1985. S. 198f. Pfimlin-Plan und Mansholt-Plan für den Agrarsektor. Vgl. Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 37–47. Zu Plänen auf dem Verkehrsektor: Vgl. Brabers, Jan: The Failure of European transport Integration (1945–1955). In: Trausch (Hrsg.): Die Europäische Integration. S. 57–73. Vgl. Loth: Der Weg nach Europa. S. 105–110; Guillen, Pierre: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. Vom Scheitern der EVG zur Ratifizierung der Verträge von Rom. In: VfZ 28 (1980) S. 1–19. S. 3.
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Güterverkehr und dem Ziel, Währungs-, Kredit- und Finanzpolitik einander anzunähern, enthielt der Entwurf keine Aussagen zu gemeinschaftlicher Politik; auch nicht zu einer gemeinsamer Wettbewerbs- oder Kartellpolitik. Zur Umsetzung des Gemeinsamen Marktes berief man sich in Artikel 82 des Entwurfes ganz allgemein auf die in Artikel 2 und 3 des EGKS-Vertrags festgehaltenen Grundsätze und Aufgaben der Montanunion und ihrer Organe und auf das sehr weit gefasste Diskriminierungsverbot des Artikels 4 des EGKS-Vertrags.3 Das Scheitern der EVG und mit ihr der EPG kam für aufmerksame Zeitgenossen nicht überraschend. Es wurde aber für zahlreiche, an der Entwicklung der europäischen Integration interessierte Politiker zum Stein des Anstoßes für zukünftige Überlegungen über die weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wirtschaftliche Probleme und Unzufriedenheit in den Hauptstädten mit der Arbeit der Hohen Behörde waren weitere Anlässe, um über die weitere Kooperation der Staaten nachzudenken.4 Es bestand Nachfrage nach internationaler Kooperation in den Agrarexportländern Frankreich und Niederlande in Richtung auf einen gemeinsamen Agrarmarkt, ein Interesse der französischen Modernisierungsplaner an Kooperation bei der Kernenergie und ein niederländisches und verstärkt belgisches und westdeutsches Interesse an Maßnahmen der Handelsliberalisierung zwischen den Staaten der Montanunion.5 Niederländer und Deutsche waren schon bei den Montanunionsverhandlungen skeptisch gegenüber der Idee der Teilintegration gewesen. In der Zwischenzeit waren weitere Gründe hinzugekommen, die Anlass für die Erstellung von Skizzen und Konzeptionen über mögliche Kooperationen innerhalb der Regierungen boten. Einer der Gründe war die von den Wirtschaftsadministrationen der Bundesrepublik und der Benelux-Länder wahrgenommene und in den Ministerien geteilte Unzufriedenheit der Wirtschaft mit dem stark dirigistischen, durch Monnet vom Verständnis des Primats der Politik gegenüber der Wirtschaft geprägten Handelns der Hohen Behörde. Hinzu kamen wirtschaftliche Probleme bei der sektorbeschränkten Kooperation, die sich an allen Schnittstellen der Montanindustrie mit der restlichen Wirtschaft zeigten. Speziell in der Bundesrepublik und in den Niederlanden strebte man das Ziel gesamtwirtschaftlicher Integration auf stärker marktwirtschaftlicher Basis an, um den Handel mit den Nachbarstaaten auszudehnen.6 Die Brücke zu einem alle Sektoren umfassenden Gemeinsamen Markt war mit den Erörterungen über die EPG bereits geschlagen worden.7
3 4 5 6
Vgl. Artikel 82, Entwurf eines Vertrags über die Europäische Gemeinschaft von der Ad-hocVersammlung in Straßburg am 10.3. 1953. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 609–628. S. 628. Zur Position Frankreichs vgl. Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 13f. Vgl. Loth, Wilfried: Die Europäische Gemeinschaft. In: Jakobeit; Yenal (Hrsg.): Gesamteuropa. S. 18–33. S. 23. Vgl. Küsters, Hanns Jürgen: Zollunion oder Freihandelszone. Zur Kontroverse über die Handelspolitik Westeuropas in den fünfziger Jahren. In: Berding (Hrsg.): Wirtschaftliche und politische Integration in Europa. S. 294–308. S. 297f.; Bührer, Werner: Die Montanunion – ein
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In Frankreich schienen die Verfechter weiterer Teilintegrationen nach dem Scheitern der EVP in Isolation geraten zu sein. Dies stellte sich bald als Fehleinschätzung heraus. Jedoch traten die Integrationsbefürworter nun als entschiedene Gegner weiterer supranationaler Kooperationsformen auf.8 Jene Stimmen hatten an Einfluss gewonnen, die sich gegen die horizontale Integration der Wirtschaft mit Ausdehnung supranationaler Kompetenzen und Institutionen wendeten. Besonders in der Industrie schaute man 1955 mit Sorge auf jegliche Pläne, die die französische Wirtschaft der westeuropäischen, speziell der westdeutschen Konkurrenz ausgesetzt hätten.9 Die volkswirtschaftlichen Umstände gaben auch allen Anlaß dazu. Vergleicht man Kosten und Preise und die Zahlungsbilanzsituation Frankreichs mit denen der anderen Länder, so bestand eine strukturell schlechtere Konkurrenzsituation und damit eine ungünstigere Ausgangssituation für einen gemeinsamen Markt für die französische Wirtschaft.10 Jean Monnets Einfluss auf die französische Europapolitik war gering geworden. Um die Integration voran zu bringen, setzte er sich zunächst als Präsident der Hohen Behörde der EGKS für die Ausdehnung der Zusammenarbeit nach dem funktionalistischen Leitbild der sektoralen Teilintegrationen durch die Eingliederung der Atomenergie in die Zuständigkeit der Hohen Behörde ein. Dieses Anliegen fand in französischen Regierungskreisen nicht zuletzt wegen der sich daraus ergebenden Unabhängigkeit von den USA bei der Atomforschung Befürworter.11 Die Ausdehnung supranationaler Befugnisse der Hohen Behörde stieß aber auf Skepsis und Ablehnung.12 Die entscheidende Initiative zur Fortsetzung der europäischen Zusammenarbeit ging im Frühjahr 1955 von Belgien aus, namentlich vom belgischen Außen-
Fehlschlag? Deutsche Lehren aus der EGKS und die Gründung der EWG. In: Trausch (Hrsg.): Die Europäische Integration. S. 75–90. 7 Vgl. Krüger, Peter: Eine Union kalkulierter Interessen. Nationalstaat und europäische Interessen. In: Wirtschaft und Wissenschaft 2 (1994). S. 23–34. S. 33. 8 Vgl. ebd. Zur Ablehnung von Supranationalität vgl. Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 4ff. 9 Vgl. Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 10,S. 16; Loth: Europäische Gemeinschaft. S. 23f. 10 Vgl. Meyer, Willi: Wettbewerbsverzerrungen im internationalen Handel (Beiträge zur Wirtschaftspolitik 6). Freiburg 1967. S. 69ff. 11 Vgl. Loth: Weg nach Europa. S. 114. Vgl. Weilemann: Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. S. 39ff.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 72– 75. 12 Monnet gab im November 1954 infolge des ins Stocken geratenen Integrationsprozesses bekannt, dass er nach der zweijährigen Amtszeit für die weitere Präsidentschaft nicht zur Verfügung stände, um sich außerhalb der Behörde stärker für die Integration einsetzen zu können Diese Entscheidung machte er im Frühjahr 1955 rückgängig. Die französische Regierung unterstützte jedoch seine erneute Kandidatur nicht. Vgl. Loth: Weg nach Europa. S. 115ff.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 68f., S. 109f.; Diebold: The Schuman-Plan. S. 643; Gillingham: Coal, steel, and the rebirth of Europe. S. 360f.
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minister Paul-Henri Spaak.13 Das Interesse an der Ausdehnung der Märkte durch die europäische Integration war in dem relativ kleinen Land Belgien seit Beginn der 1950er Jahre groß.14 Der hohe Anteil der Montanindustrie an der belgischen Volkswirtschaft ließ sowohl den Nutzen als auch die Probleme der Teilintegration deutlich werden. Verluste von Kolonialgebieten und die geographische Lage zwischen den Industriezentren der Bundesrepublik und Frankreichs machten jegliche Art von wirtschaftlicher Kooperation mit den Nachbarstaaten attraktiv. Das Ziel, den Aufgabenbereich der EGKS um Energie, speziell auch Atomenergie15, sowie Verkehr und Transport auszudehnen, nahmen Niederländer und Luxemburger im April 1955 mit Interesse auf. Spaak und der niederländischen Außenminister Willem Beyen arbeiteten daraufhin ein vom luxemburgischen Premier- und Außenminister Joseph Bech mitgetragenes Memorandum aus, mit sich die Regierungen der Benelux-Staaten im Vorfeld der EGKS-Außenministerkonferenz am 20. Mai 1955 an die anderen Staaten wendeten.16 Hauptthema dieser Außenministerkonferenz am 1./2. Juni 1955 in Messina sollte nach dem Rücktritt Monnets eigentlich die Wahl des neuen Präsidenten der Hohen Behörde sein.17 Schließlich lagen jedoch drei Regierungsdenkschriften bei der Konferenz vor, die die Weiterentwicklung der europäischen Integration thematisierten.18 Die Benelux-Staaten hielten „den Augenblick für gekommen, eine neue Etappe auf dem Weg der europäischen Integration zurückzulegen“, die im Kern „zunächst auf dem wirtschaftlichen Gebiet“ zurückgelegt werden sollte. Als Grundlage gemeinsamer wirtschaftlicher Entwicklung sollte die sektorale Integration des Verkehrs, der Energie und der Atomenergie vorangetrieben werden. 13 Monnet stand in engem Kontakt mit Spaak. Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 106; Leonhardt, Holm A.: Europa konstitutionell. Politische Machtkämpfe in der EG 1950–1983. Hannover 1983. S. 136. 14 Vgl. Helmreich, Jonathan E.: Belgium und Europe. A Study in Small Power Diplomacy. Mouton, Den Haag, Paris 1976. S. 389f. 15 Belgien hatte in der internationalen Atomwirtschaft eine herausragende Rolle, da große Teile des bekannten Uranvorkommens in der belgischen Kolonie Kongo lagerten. Vgl. Weilemann: Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. S. 22; Neuss: Geburtshelfer Europas? S. 291f. 16 Vgl. Woyke: Erfolg durch Integration. S. 93f. Das niederländische Ziel Handelsliberalisierung war bereits im Beyen-Memorandum des niederl. Außenministers am 4. April 1955 deutlich geworden. Vgl. Rhenisch: Europäische Integration und industrielles Interesse. S. 18. 17 Bezüglich des Rücktritts und der schwierigen Nachfolgekonsultationen bis zur Entscheidung in Messina vgl. umfassend: Hollmann, Michael: Die Nachfolge Monnets. Die Bundesregierung und die Frage der Präsidentschaft der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. In: Wilkens (Hrsg.): Interessen verbinden. S. 187–203. Ergänzend vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 109ff. 18 Noch am 14. Mai 1956 hatte die Gemeinsame Versammlung der EGKS sich fast einstimmig an die Außenminister gewandt und die Einberufung einer Regierungskonferenz mit dem Ziel vorgeschlagen, einen Vertragsentwurf für die nächste Integrationsstufe mit Hilfe bestehender Institutionen der Gemeinschaft zu erarbeiten. Vgl. Willis, F. Roy: France, Germany, and the New Europe 1945–1963. Stanford, London 1965. S. 242; Mayne, Richard: Die Einheit Europas. EWG. Euratom. Montanunion. München 1963. S. 93. Einen ähnlichen Vorschlag richtete Jean Monnet am 2. April 1955 an Adenauer und den italienischen und französischen Außenminister Gaetano Martino und Antoine Pinay. Vgl. Loth: Weg nach Europa. S. 115.
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Die Liberalisierung des Außenhandels wollten die Benelux-Staaten mit der schrittweisen „Schaffung eines umfassenden Gemeinsamen Marktes“ ergänzen. Ein nicht näher definiertes „Organ“ sollte die Sektorintegration bei Verkehr und Energie vorantreiben. Ideen Monnets aufgreifend sollte die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atomenergie durch eine dafür zu gründende „gemeinsame Behörde“ verwirklicht werden, die „sowohl die Zuständigkeit wie die Durchführungsmittel erhält.“ Auch zur Umsetzung der Wirtschaftsgemeinschaft war nach Ansicht der drei Benelux-Staaten die Gründung einer Organisation notwendig, die mit „erforderlichen eigenen Befugnisse(n)“ ausgestattet werden sollte. Die Realisierung des Gemeinsamen Marktes strebten sie durch den Abbau von Handelshindernissen, die Harmonisierung der allgemeinen Finanz-, Wirtschaftsund Sozialpolitik, die Festlegung eines „System(s) von Schutzklauseln“ und die Gründung eines Anpassungsfonds an.19 Wie sich später zeigte, war die Interessenkongruenz der drei Benelux-Staaten hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Integration hoch, wobei die marktwirtschaftliche Ausrichtung der europäischen Kooperation vor allem bei den Niederländern Priorität hatte.20 Als vergleichsweise kleine Volkswirtschaft mit relativ hohem Anteil des Außenhandels am Bruttosozialprodukt lagen die Präferenzen besonderes auf der Realisierung der Zollunion. Dieses Konzept hatte der damalige niederländische Außenminister Beyen bereits 1952 innerhalb der Regierung vertreten und 1953 an die Öffentlichkeit gebrach.21 Das niederländische Transportgewerbe mit seinen auch für das Ruhrgebiet wichtigen Nordseehäfen und die Landwirtschaft setzten auf Expansion innerhalb einer mittelfristig von Binnenzöllen befreiten Zollunion. Die „Hindernisse im Wirtschaftsverkehr zwischen den Teilnehmerländern“, die abgebaut werden sollten, erläuterte das Benelux-Memorandum nicht genauer. Abstimmung, Annäherung oder Angleichung staatlicher Wettbewerbspolitik als Maßnahme zum Abbau oder zur Verhinderung privater Handels- und Wettbewerbshemmnisse wurden weder bei den allgemeinen noch bei den speziellen Absichten erwähnt. Zur Vorbereitung möglicher Verträge, die gemeinsame Ziele, mögliche Programme und notwendige Institutionen enthalten sollten, schlugen die Benelux-Regierungen eine Konferenz vor.22 Die Reaktionen aus Italien und der Bundesrepublik auf das BeneluxMemorandum waren positiv. Aus Bonn verlautete am 27. Mai 1955 Zustimmung 19 Memorandum der Beneluxstaaten an die sechs Länder der Montangemeinschaft, überreicht am 20. Mai 1955. Präambel. Abgedr. in: Krämer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. S. 93f. 20 Vgl. Woyke: Erfolg durch Integration. S. 198ff. Dennoch wollten alle drei Länder das BENELUX-Agrarsystem mit Mindestpreisen berücksichtigt wissen. Vgl. hierzu ebd.: S. 99; S. 261f. und S. 323ff.; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 167f. 21 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 57f. 22 An der Konferenz sollten neben die EGKS-Staaten, die EGKS und die Staaten, die ein Assoziationsabkommen mit der EGKS hatten, namentlich Großbritannien, teilnehmen. Ob weitere Staaten der OEEC und die OEEC als Beobachter oder Teilnehmer eingeladen werden sollte, blieb offen. Vgl. Memorandum der Benelux-Staaten. Abschnitt B. Abgedr. in: Krämer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. S. 94.
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zum Gemeinsamen Markt mit liberalisiertem Handels- und Kapitalverkehr, der Freizügigkeit der Personen zwischen den Staaten und der Etablierung von Wettbewerbsregeln.23 In Frankreich waren die Reaktionen hingegen gespalten. Offen gegenüber sektoraler Kooperation bei Atomenergie und klassischer Energie, blieb man in Paris verhalten gegenüber weiterer Zusammenarbeit beim Verkehr und lehnte den Kern des Benelux-Vorschlags ab, die Ausdehnung wirtschaftspolitischer Kooperation auf die Gesamtwirtschaft.24 D.1.b Westdeutsche Position zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen Während man in die Verhandlungen über den Schuman-Plan ohne konkrete Vorstellungen gegangen war, entwickelte sich in den folgenden Jahren eine Kontroverse innerhalb der deutschen Regierung zwischen den Verfechtern der funktionalen und der konstitutionellen Integration.25 Die konstitutionelle Lösung mit supranationalen Organen, die mit Entscheidungsmacht ausgestattet werden sollten, vertraten Staatssekretär Walter Hallstein und Unterabteilungsleiter Carl Friedrich Ophüls im Auswärtigen Amt sowie der deutsche Vizepräsident der Hohen Behörde, Franz Etzel.26 Sie beabsichtigten, ein europäisches Gesetzgebungsorgan und ein föderales europäisches Staatsgebilde zu schaffen. Hallstein, der bereits erfolgreich die westdeutsche Delegation bei den Schuman-Plan-Verhandlungen geführt hatte, war und blieb Vertrauensmann Adenauers und Europafachmann im Auswärtigen Amt. Er sollte die späteren Verhandlungen von deutscher Seite aus intensiver prägen als Außenminister Heinrich von Brentano. Mit seiner dem Bundeskanzler ähnlichen Haltung des Primats der Politik vor der Wirtschaft geriet er aber ebenso immer wieder in Konflikt mit Bundeswirtschaftsminister Erhard wie Etzel.27 23 Vgl. Loth: Weg nach Europa. S. 118. 24 Vgl. Lappenküper, Ulrich: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. Von der ‚Erbfeindschaft‘ zur ‚Entente élémentaire‘. Bd. I 1949–1958 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 49). München 2001. S. 981. 25 Die Positionen, Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der westdeutschen Regierung sind in einigen Studien vom ausgewiesenen Kenner der Binnendiskussionen der westdeutschen Regierung in den 50er Jahren dargelegt worden. Vgl. Küsters, Hanns Jürgen: Adenauers Europapolitik in der Gründungsphase der europäischen Gemeinschaft. In: VfZ 31 (1983). S. 646–673. S. 648–653; ders.: Zollunion oder Freihandelszone. S. 296–300; ders.: Der Streit um Kompetenzen und Konzeptionen deutscher Europapolitik. 1949–1958. In: Herbst; Bührer; Sowade (Hrsg.): Vom Marshallplan zur EWG. S. 335–370. S. 350–361. 26 Zu den europapolitischen Positionen Hallsteins und Etzels vgl. Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Walter Hallstein. „Erwiderung auf die Gedanken des Herrn Bundeswirtschaftsministers zu den Problemen der Kooperation oder der Integration.“ 30. März 1955. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 1. S. 582–586; Stellungnahme Etzels zu Erhards „Gedanken zu dem Problem der Kooperation und Integration“ vom 22. April 1955. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 731–738. S. 733. 27 Für einen biographischen Kurzüberblick und Hallsteins europapolitisches Wirken bis 1958 vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 232–242. Vgl. auch Küsters, Hanns Jürgen: Walter Hallstein und die Verhandlungen über die Römischen Verträge 1955–1957. In: Loth;
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Im Bundeswirtschaftsministerium verfolgte vor allem Ludwig Erhard die Idee der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Ziel weiterer wirtschaftlicher Verflechtung der Volkswirtschaften durch Handel und Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Bei aller Akzeptanz des Politik-Primats warnte er davor, wirtschaftliche Realisierungsmöglichkeiten dabei nicht zu vergessen.28 Pläne weiterer sektoraler Zusammenarbeit schienen daher ebenso ungeeignet wie die Etablierung supranationaler, womöglich dirigistischer Institutionen. Als Befürworter des liberalisierten, freien Welthandels befürchtete Erhard, dass ein gemeinsamer Markt die Ausgrenzung von Nicht-Mitgliedstaaten bewirken könnte, was wiederum negative Folgen für die westdeutsche Volkswirtschaft zur Folge gehabt hätte. Erhard bevorzugte intergouvernementale und funktionale Vereinbarungen über Zollreduktion und den Abbau von Handelsschranken, um das internationale Handelsvolumen auszudehnen. Erhards Position deckte sich mit den Interessen der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft, die immer wieder vor den Gefahren für die freie Marktentfaltung warnte, die von der Hohen Behörde der EGKS aufgrund ihrer umfangreichen Befugnisse ausging, in den Markt eingreifen zu können.29 Die Interessen der die westdeutsche Wirtschaftsstruktur und auch die verbandspolitische Einflussnahme prägenden Schwerindustrie bei der europäischen Kooperation waren anlässlich der Verhandlungen zur EGKS deutlich geworden.30 Liberalisierung und Ausdehnung des Handels blieben seitdem das vorherrschende Anliegen der deutschen Wirtschaft, besonders der Investitionsgüterindustrie und der chemischen Industrie. Um diese Interessen im europäischen Rahmen durchzusetzen, wurden ‚private‘ proeuropäische Interessengruppen wie die ‚Europa-Union‘ und die eher akademischen Vereine ‚European League for Economic Co-operation‘ und Wallace; Wessels (Hrsg.): Walter Hallstein. S. 81–105. S. 84–88. Zur Kontroverse zwischen Erhard und Etzel vgl. auch Enders, Ulrich: Integration oder Kooperation? Ludwig Erhard und Franz Etzel im Streit über die Politik der europäischen Zusammenarbeit 1954–1956. In: VfZ 45 (1997). S. 143–171. S. 151–157. 28 Vgl. Private Studie Erhards zum Problem der Kooperation und Integration an Adenauer im März 1955. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 721–728. S. 726f. 29 Vgl. Braunthal: The Federation of German Industry. S. 320; Almond, Gabriel A.: The Politics of German Business. In: Speier; Davison, (Hrsg.): West German leadership and foreign policy. S. 195–241. S. 234f.; Bührer, Werner: Dirigismus und Europäische Integration. Jean Monnet aus der Sicht der Deutschen Industrie. Wilkens (Hrsg.): Interessen verbinden. S. 205– 224. S. 219f. 30 Almond identifizierte drei Motivströmungen: die Idee eines mythischen Europa, die Hoffnung eines Auswegs aus der (moralischen) Isolation Westdeutschland durch Hinwendung nach Europa und eine „crypto-nationalistische“ Europahaltung, die von der (Wirtschafts-) Machtstellung Deutschlands überzeugt war. Vgl. Almond: Politics of German Business. S. 232–235. Grundlegend zur europapolitischen Haltung der Industrie in der ersten Hälfte der 1950er Jahre vgl. Rhenisch: Europäische Integration und industrielles Interesse. S. 72ff.; Bührer, Werner: German Industry and European Integration in the 1950s. In: Wurm (Hrsg.): Western Europe and Germany. S. 87–114. S. 92–95; Jeutter, Peter: EWG – Kein Weg nach Europa. Die Haltung der Freien Demokratischen Partei zu den Römischen Verträgen 1957 (Europäische Studien des Instituts für Europäische Geschichte 14). Bonn 1985. S. 244ff.
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‚Comité Européen pour Progrès Économique et Social‘ finanziell unterstützt und durch aktive Mitarbeit in den bestehenden Organisationen gefördert.31 Auch wenn die Außenhandelsverflechtungen sowohl mit den Nicht-OEEC-Staaten als auch mit den anderen OEEC-Staaten insgesamt sehr viel stärker waren als mit den sechs EGKS-Staaten und man in der Blockbildung einiger Staaten Europas keine Vorteile sah, stand die deutsche Industrie weiteren Kooperationen grundsätzlich positiv gegenüber. Man erkannte im Handel mit den EGKS-Staaten hohe Wachstumspotentiale und ging davon aus, dass eher Gewinne als Verluste das Ergebnis sein würden.32 Doch bewirkten negative Erfahrungen mit dem Dirigismus der Hohen Behörde und nicht zuletzt mit den Wettbewerbsbestimmungen der EGKS, dass die Industrie und an ihrer verbandspolitischen Spitze der BDI, jegliche Ausdehnung der EGKS auf andere Sektoren und auch das grundsätzliche Konzept der supranationalen Teilintegrationen bereits seit 1953 und auch im Frühjahr 1955 noch entschieden ablehnte. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine supranationale Organisation fand keine Zustimmung. Nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge tat die deutsche Wirtschaft klar ihre Präferenz für die Ausdehnung der Handelsliberalisierung im Rahmen der OEEC kund. Bereits 1952 hatte die Industrie gefordert, dass zukünftige Kooperationen durch allgemeine Vereinbarungen über die Angleichung der Wirtschaftspolitik zwischen den Staaten geschehen sollten, ohne Details zu regeln. Staatliche Harmonisierungen sollten nach dem Willen der Industrie nur auf den Gebieten stattfinden, auf denen die deutsche Industrie Wettbewerbsvorteile hatte, und tendenziell den westdeutschen Gepflogenheiten angepasst werden.33 Da das westdeutsche Wirtschaftswachstum wesentlich von der Exportindustrie getragen wurde, war man im Bundeswirtschaftsministerium bereit, die Außenwirtschaftspolitik an diesen Interessen auszurichten. Es lag im Interesse der Bundesregierung, Wachstumspotentiale durch allgemeine Marktausdehnung und den Abbau von Handelsschranken zu fördern.34 Bei der Ablehnung dirigistischer Modelle, Interventionen des Staates und einer supranational gestalteten Wirtschaftskooperation waren sich Wirtschaftsführer, die Leitung des Bundeswirtschaftsministeriums und ordoliberale Wirtschaftswissenschaftler einig; eine Einigkeit, die zeitgleich in den Debatten über das deutsche Kartell- und Wettbewerbsgesetz nicht vorhanden war. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft hatte die Pläne zur Ausdehnung der partiellen Sektorintegration bereits 1953 in zwei Gutachten kritisch bewertet. Dessen Mitglieder waren zu 31 Vgl. Bührer: German Industry and European Integration. S. 98f.; Wahrhaftig, Samuel L.: The Development of German Foreign Policy. In: Speier; Davison (Hrsg.): West German leadership and foreign policy. S. 7–56. S. 45. 32 Vgl. Rhenisch: Europäische Integration und industrielles Interesse. S. 67ff. 33 Vgl. ebd.: S. 77f. und S. 83f.; Bührer: Die Montanunion – ein Fehlschlag? S. 81 und S. 86ff.; ders.: German Industry and European Integration. S. 102ff. 34 Vgl. Rhenisch: Europäische Integration und industrielles Interesse. S. 69; Ambrosius, Gerold: Europäische Integration und wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren. In: Berding (Hrsg.): Wirtschaftliche und politische Integration in Europa: S. 271–294. S. 293f.; Neebe: Weichenstellung für die Globalisierung. S. 229ff.
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dem Ergebnis gekommen, dass eine Teilintegration theoretisch kaum akzeptabel war und praktisch zahlreiche Schwierigkeiten verursachen müsse.35 Adenauers Haltung gegenüber der Wirtschaftsintegration war pragmatisch und von allgemeinen außenpolitischen Interessen geprägt. Er tendierte zur Verflechtung der deutschen mit der französischen Wirtschaft auf Basis einer Zollunion.36 Eine Per-se-Exklusion einzelner Staaten, speziell Großbritanniens, war für ihn jedoch von jeher undenkbar und die akademische Auseinandersetzung über die richtige Art und Weise der Integration kein Thema.37 Später äußerte er allenfalls Abneigung gegenüber der bürokratischen, supranationalen Form der 35 Als Ziele weiterer Wirtschaftsintegration nannte der Wissenschaftlichen Beirats die Hebung des Lebensstandards und die Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung mit dem Ziel, im größeren Wirtschaftsraum die Risiken für Unternehmer zu senken und ihnen die „Produktion in größeren Serien mit allen Vorteilen, die sich für die Rationalisierung in Produktion und Handeln ergeben,“ zu ermöglichen (S. 42) Dafür sei ein europäischer Binnenmarkt gleich dem nationalen Binnenmarkt zu schaffen. Voraussetzungen sei die „Konvertibilität und gemeinsame Steuerung der Geld- und Konjunkturpolitik durch ein gemeinsames Gremium oder eine gemeinsame Regierung, die einem europäischen Parlament verantwortlich ist. Schritte auf dem Weg zum Gemeinsamen Markt seien die Grobeinstellung der Währungsrelationen, der systematische Zollabbau, die Konvertibilität der Währungen, der Zollabbau bis hin zu einer Freihandelszone und zuletzt die Realisierung einer Zollunion.(S. 52f.) Weiterer Schritte zum europäischen Binnenmarkt seien die Freizügigkeit der Menschen und die freie Wahlmöglichkeit des Arbeitsplatzes. Dafür müssten die wesentlichen Sozialbestimmungen, Verkehrstarife und Rechtsnormen angeglichen werden. All dies hätte die Beseitigung von Grenzen zum Ziel. Jedoch warnten die Wissenschaftler auch: „Alle Bemühungen um die Integration Europas können zunichte gemacht werden, wenn an Stelle niedergelegter nationaler Grenzen kartellmäßige oder monopolistische Gebietsaufteilungen entstehen.“ (S. 56) In Übereinstimmung mit der sozialen Marktwirtschaft wird zur Verteilung des Sozialprodukts Investitionslenkung und Sozialpolitik vorgeschlagen. Vgl. „Frage der wirtschaftlichen Integration.“ Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium vom 1. Mai 1953. In: Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium: 3. Band. Gutachten vom Dezember 1952 bis November 1954. Hrsg. v. Bundesministerium für Wirtschaft. Göttingen 1955. S. 41–57. Ebenso wies der Wissenschaftliche Beirat in seinem Gutachten „Fragen des gemeinamen Marktes“ vom 11. Oktober 1953 auf das zu lösende Problem der Konvertibilität und der Wechselkurse hin, wenn der Montanmarkt zu einem Integrationsfaktor für einen europäischen Binnenmarkt werden sollte. Vgl. „Fragen des gemeinsamen Marktes.“ Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium vom 11. Oktober 1953. In: Ebd.: S. 63–76. S. 65ff. Vgl. auch Groeben, Hans von der: Deutschland und Europa in einem unruhigen Jahrhundert. Erlebnisse und Betrachtungen von Hans von der Groeben. BadenBaden 1995. S. 258f. Zur Stellung des Wissenschaftlichen Beirates im politischen System der Bundesrepublik vgl. Löffler, Bernhard: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard (VSWG Beihefte 162). Stuttgart 2002. S. 74. 36 Zur europapolitischen Haltung Adenauers vgl. Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 649. 37 Vgl. Küsters, Hanns Jürgen: Konrad Adenauer und die Idee einer wirtschaftlichen Verflechtung mit Frankreich. In: Wilkens (Hrsg.): Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen 1945–1960. S. 63–84. S. 73ff.; ders.: West Germany´s Foreign Policy in Western Europe 1949–1958. The Art of the Possible. In: Wurm (Hrsg.): Western Europe and Germany. S. 55– 85. S 63f.; Schwarz, Hans-Peter: Adenauer und Europa. In: VfZ 27 (1979). S. 470–523. S. 481 und S. 520f.
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Integration wie sie bei der EGKS praktiziert wurde.38 In diesem Punkt trafen sich die Vorstellungen Erhards und Adenauers, jedoch aufgrund unterschiedlicher Absichten. Adenauers Äußerungen waren durch das Anliegen motiviert, die Briten nicht von vorneherein durch Unterstützung supranationaler Gedankenspiele von der potentiellen Teilnahme abzuschrecken, denn deren Beteiligung an einer supranationalen Kooperationslösung mit einer wie auch immer gearteten Behörde an der Spitze war undenkbar.39 Im Bundeswirtschaftsministerium waren infolge der kritischen Auseinandersetzung mit der EGKS seit Mitte 1953 in der Unterabteilung Montanunion unter der Leitung von Hans von der Groeben verschiedene Stellungnahmen zu den Aktivitäten der Hohen Behörde entstanden, die sich nachhaltig ablehnend zu deren bürokratischen und dirigistischen Arbeitsmethoden äußerten.40 Neben „privaten Gedanken“ Erhards waren im April und Mai 1955 in der gleichen Abteilung zwei Memoranden zur Frage der weiteren wirtschaftlichen Integration erarbeitet worden.41 Auf Basis der Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates hatte man ein Konzept für die vollständige wirtschaftliche Integration entwickelt und versucht, die bei der EGKS erkannten Fehlentwicklungen zu vermeiden. Die für einen Gemeinsamen Markt notwendigen Institutionen sollten demnach mit den vorhandenen der Montanunion verknüpft werden. Dieser Vorschlag zur weiteren gesamtwirtschaftlichen Integration blieb in der deutschen Regierung umstritten.42 Die Kontroverse kam aber – nicht zuletzt befördert durch das Benelux-Memorandum und den Willen Adenauers, den Integrationsprozess voran zu bringen – im Mai 1955 zu ihrem vorläufigen Abschluss. In informeller Runde einigten sich die Verfechter der verschiedenen Konzepte aus dem Bundeswirtschaftsministerium und aus dem Außenministerium am 22. Mai 1955 im Landhaus des Leiters der Grundsatzabteilung im Bundeswirtschaftsministerium, Alfred Müller-Armack, auf eine gemeinsame Linie, die die Fortsetzung der europäischen Integration durch Schaffung eines Gemeinsamen Marktes mit dem Kern einer Zollunion vorsah. Sie vereinbarten, die Teilintegrationen als Ergänzung der EGKS abzulehnen und die 38 Vgl. Küsters: Adenauer und die Idee einer wirtschaftlichen Verflechtung. S. 76. 39 Ders.: West Germany´s Foreign Policy. S 68f. Dies zeigte sich auch während der EWG-Vertragsverhandlungen, als Adenauer den Präsidenten der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“ von der Groeben nach dem Durchbruch bei den schwierigen Konflikten mit Frankreich Anfang November 1956 darauf hinwies, dass „bei der Verwirklichung der europäischen Wirtschaftsorganisation [...] besonderer Wert auf eine Mitwirkung Englands zu legen“ sei. Vgl. Bundesminister der Justiz, Referat IV, 4. Vermerk. Betr.: Konferenz über den Gemeinsamen Markt vom 5.–7. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 203. 40 Vgl. Gillingham: Coal, steel, and the rebirth of Europe. S. 356f. 41 Vgl. Private Studie Erhards zum Problem der Kooperation und Integration an Adenauer im März 1955. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 721–728; Abteilungsleiter III Rust an Erhard am 18. April 1955 und Unterabteilungsleiter III D von der Groeben an Abteilungsleiter III Rust am 14. Mai 1955. Abgedr. in: Groeben: Europäische Integration aus historischer Perspektive. Dokumentarischer Anhang. S. 66–78; ders.: Deutschland und Europa. S. 272f. 42 Zu den Kontroversen zwischen Auswärtigem Amt und Bundeswirtschaftsministerium vgl. Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 653f.
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Konvertibilität der Währungen als wirtschaftliche Voraussetzung zu fordern; eine Notwendigkeit, die der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium schon häufig angemahnt hatte.43 Diese ‚Eicherscheider Einigung‘ wurde Grundlage des ‚Memorandums der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Fortführung der Integration‘, das der deutsche Delegationsleiter Staatssekretär Hallstein zu Beginn der Außenministerkonferenz den anderen Delegationen übergab.44 Darin unterstützte die Bundesrepublik die Initiative der Benelux-Länder zu weiterer Integration „auf dem Wege zur Errichtung eines politischen und wirtschaftlich geeinten Europa.“ Im Gegensatz zum Beneluxmemorandum betonte die deutsche Regierung die Ausrichtung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf „die Errichtung eines freien gemeinsamen Marktes.“45 Sie erkannte und betonte mögliche Kooperationsgewinne in den Bereichen Verkehr und Energie, nicht ohne auf die bestehenden supranationalen und intergouvernementalen Institutionen zu verweisen und gleichzeitig neue Institutionen abzulehnen.46 Dem Vorschlag einer gemeinschaftlichen Behörde für Atomenergie schloss sich die Bundesregierung trotz der Meinungsverschiedenheiten über Art und Weise der Integration und der Vorbehalte gegenüber der reinen Sektorintegration an.47 Für die Bundesrepublik, die besatzungsrechtlich noch Nuklearforschungsbeschränkungen unterlag und keinerlei Verhandlungsbasis hatte, waren hier umfangreiche Kooperationsgewinne möglich.48 Forderungen nach sozialpolitischer Zusammenarbeit bzw. Harmonisie43 Anwesend waren: Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, Abteilungsleiter Alfred MüllerArmack, Staatssekretär Ludger Westrick, Abteilungsleiter Josef Rust, Unterabteilungsleiter Hans von der Groeben, der designierte Außenminister Heinrich von Brentano und der Unterabteilungsleiter Carl Friedrich Ophüls sowie der Vizepräsident der Hohen Behörde der EGKS Franz Etzel, Herr Rust, Vertrauensmann Adenauers, und Rudolf Regul, Direktor der Hohen Behörde. Vgl. zu diesem Treffen: Müller-Armack, Alfred: Auf dem Weg nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke. Tübingen, Stuttgart 1971. S. 99; Groeben: Europäische Integration aus historischer Perspektive. S. 11f.; ders.: Deutschland und Europa. S. 273f.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 116ff. 44 Zu von Staatssekretär Hallstein vorgetragenen Ergänzungen zum Memorandum der Bundesregierung bei der Konferenz von Messina vgl. Tagung der Außenminister der Mitgliedstaaten der EGKS im Messina am 1./2.6. 1955, Entwurf des Protokolls, MAE 11 d/55der/ac. Auszugsweise abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 752–757. S. 754f. 45 Memorandum der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Fortführung der Integration, überreicht am 1. Juni 1955. Präambel. In: Bulletin des Presse- und Informationsdienstes der Bundesregierung. Nr. 106. 11. Juni 1955. S. 880. 46 Hallstein verwies explizit auf die Hohe Behörde (EGKS) und die Europäische Konferenz der Verkehrsminister. Vgl. Tagung der Außenminister der Mitgliedstaaten der EGKS in Messina am 1./2. 6. 1955, Entwurf des Protokolls, MAE 11 d/55der/ac. Teilw. abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 752–757. S. 754. 47 Zu den möglichen Kooperationsgewinnen und der deutschen Position zur Kooperation auf dem Gebiet der Atomwirtschaft vgl. Weilemann: Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. S. 22–28; Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 658f. 48 Zu den deutschen Interessen bei der Atomkooperation vgl. Weilemann, Peter R.: Die deutsche Haltung während der EURATOM-Verhandlungen. In: Serra, Enrico (Hrsg.): Il rilancio dell‘ Europa. S. 531–545. S. 531ff.; Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 658f.
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rungen in der Sozialpolitik enthielt das deutsche Memorandum nicht. Die Angleichung „starker und sozial gefährlicher Kontraste in den Lebensbedingungen“ sollte hingegen mit Hilfe eines Kapitalfonds erreicht werden, mit dem produktive Investitionen gefördert werden sollten.49 Das Hauptziel der Bundesregierung war die gesamtwirtschaftliche Integration durch Schaffung eines Gemeinsamen Marktes der EGKS-Staaten, wodurch jedoch keine exklusive Gemeinschaft gegründet werden sollte. Der Ausbau des Handels durch Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs sowie durch Zollabbau sollte in Übereinstimmung mit den Zielen und Regeln von GATT und OEEC geschehen. Innerhalb des gemeinsamen Marktes sollte die Freizügigkeit von Menschen schrittweise hergestellt werden. Abschließend nannte das deutsche Memorandum als Mittel zur Schaffung des freien Marktes zwischen den Staaten die „Ausarbeitung von Regeln für einen nicht verfälschten Wettbewerb innerhalb der Gemeinschaft, der insbesondere nationale Diskriminierung ausschließt.“50 Neben den Liberalisierungsmaßnahmen für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen waren diese Regeln die Bedingung der deutschen Regierung für die Realisierung eines gemeinsamen Marktes.51 Zur Umsetzung dieser Vorstellungen forderte Delegationsleiter Hallstein auf Basis der ‚Eicherscheider Beschlüsse‘ ausdrücklich, keine neuen Institutionen zu schaffen, sondern nach Möglichkeit vorhandene Organisationen mit neuen Aufgaben zu beauftragen. Die darin zum Ausdruck kommende Abneigung gegenüber neuen supranationalen, den Regierungen enthobenen Behörden war ein Anliegen, das bei den Franzosen Beifall fand und nach Meinung Loths bei den weiteren Verhandlungen über die EWG in eine „unheilige[..] Allianz“ zu Lasten von Kommission und Parlament gegenüber dem Rat mündete.52 Im Kern bestand diese Allianz jedoch primär aus der Führung des Bundeswirtschaftsministeriums und den Franzosen. Von Seiten des Auswärtigen Amtes, namentlich von Hallstein, wurden in den späteren Verhandlungen stärkere Institutionen befürwortet.53 Im Juni 1955 schlug die Bundesregierung jedoch nur vor, ein „unter der Verantwor49 Memorandum der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. In: Bulletin des Presse- und Informationsdienstes der Bundesregierung. Nr. 106. 11. Juni 1955. 1955. S. 880. 50 Ebd. 51 Erhard hatte im Dezember 1957 in Paris öffentlich „geordnete Währung“, „freier Wettbewerb“ und „ausgeglichener Haushalt“ als Grundlagen „für ein geordnetes ökonomisches Leben“ genannt. Dieses war für ihn Voraussetzung für eine „freiheitliche wirtschaftliche Verbindung“ zwischen Frankreich und der Bundesrepublik, deren Ziel für ihn „die Eröffnung des freien Leistungswettbewerbs“ war. Vgl. Erhard, Ludwig: Rede vor dem Club „Les Echos“ am 7. Dezember 1954 in Paris. In: des.: Deutsche Wirtschaftspolitik. S. 253–259. S. 254. Diese Punkte hatte Erhard am gleichen Tag auch als Aufgaben der französische Wirtschaft bei bilateralen Gesprächen mit dem französischen Ministerpräsidenten Mendès-France genannt. Vgl. Protokoll der Besprechung zwischen Präsident des Ministerrates Mendés France und Bundesminister für Wirtschaft Erhard am 7.12.1954. Anlage zu: Botschaftsrat von Walter an Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt von Maltzan, 9.12. 1954. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 401–404. S. 402. 52 Vgl. Loth: Weg nach Europa. S. 130. 53 Vgl. Müller-Armack: Weg nach Europa. S. 117.
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tung des Ministerrates der Montangemeinschaft“ stehendes ständiges Konsultativorgan einzurichten. Dieses sollte zunächst „Regeln für die Verwirklichung“ der „engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit“ ausarbeiten und die Staaten bei der Umsetzung koordinieren und beraten.54 Je nach den Erfordernissen der Integration war die deutsche Regierung bereit, auch institutionelle Vorkehrungen ausarbeiten zu lassen.55 D.1.c Die schwachen wirtschaftspolitischen Präferenzen Italiens und die Zurückhaltung Frankreichs Auch die italienische Regierung nahm in Form eines bei der Konferenz von Messina vorgelegten Memorandums Stellung zum europäischen Integrationsprozess.56 Sie begrüßte die Überlegungen der Benelux-Länder und der Bundesrepublik zu weiteren Integrationsschritten. Zugleich betonte sie die hohe Relevanz der wirtschaftlichen Integration für die politische Integration. Grundsätzlich hatte die italienische Regierung überdurchschnittlich großes Interesse an der Ausdehnung der europäischen Zusammenarbeit.57 Politische und vor allem sicherheitspolitische Aspekte standen im Vordergrund. Besonders nach dem Scheitern der EVG beurteilte sie jede weitere Zusammenarbeit der Staaten Westeuropas als Gewinn. Das Ziel ‚Politische Gemeinschaft‘ sollte ihrer Ansicht nach jedoch nicht an wirtschaftlichen Fragen scheitern, bei denen die Italiener sich vielfach an den niederländischen Vorstellungen orientierten.58 Interesse an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bestand auch deshalb, weil man glaubte die strukturellen Probleme der italienischen Volkswirtschaft wie die hohe Arbeitslosigkeit und den starken Entwicklungsbedarf im Süden des Landes durch wirtschaftliche Expansion auf einem erweiterten Markt in den Griff zu bekommen. Grundsätzlich betonte die italienische Regierung ihre Unterstützung der EGKS und forderte die Hohe Behörde auf, „ihre Arbeit auf allen Gebieten fortzusetzen, die ihr zugewiesen sind, namentlich auch auf sozialem Gebiet,“ nicht ohne die anderen Staaten wiederum zur Unterstützung der Hohen Behörde aufzufordern.59 Die italienische Regierung sprach sich besonders für die horizontale wirtschaftliche Integration aus und stimmte dem „Gedanken einer stufenweisen Verwirklichung [...] ohne Vorbehalt zu.“ Sie bestand darauf, dass „der gemein54 Diese Vorstellungen entbehrten äußerlich nicht der Nähe zu den Ende April 1955 lancierten und als Pinay-Plan bekannt gewordenen Vorstellungen der französischen Regierung über die weitere Integrationspolitik, mit der jedoch inhaltlich andere Ziele verfolgt worden waren. Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 104f. 55 Vgl. Memorandum der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. In: Bulletin des Presseund Informationsdienstes der Bundesregierung. Nr. 106. 11. Juni 1955. 1955. S. 880. 56 Vgl. Memorandum der italienischen Regierung über die Fortführung der Integration. Messina 1. Juni 1955. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 695–698. 57 Vgl. Willis, F. Roy: Italy chooses Europe. New York 1971. S. 53f. 58 Vgl. Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 170f. 59 Memorandum der italienischen Regierung. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 695–698. S. 695.
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same Markt [...] nicht auf einzelne Sektoren der Wirtschaft beschränkt bleiben“ dürfe, sondern dass die Integration sich auf „das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben [...] erstrecken“ solle.60 Ebenso war der italienischen Regierung die Öffnung der potentiellen Kooperationsverhandlungen und damit auch des Gemeinsamen Marktes für andere europäische Länder wichtig. Sie befand sich damit im Einklang mit den deutschen, speziell den im Bundeswirtschaftsministerium vertretenen Ansichten. Die Notwendigkeit der Koordinierung der Währungspolitik für die wirtschaftliche Integration wurde von italienischer Seite hervorgehoben, die Idee des Ausgleichsfonds für schlecht entwickelte Regionen begrüßt und um die Idee gemeinsamer Expansions- und Investitionspolitik ergänzt. Jedoch nannte die italienische Regierung keine Einzelaspekte der Harmonisierung oder Abstimmung von Wirtschafts- und Handelspolitik für die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes. Sie machte auch keine Aussagen zu koordinierter oder gemeinschaftlicher Wettbewerbspolitik als notwendige Folge von Handelsliberalisierungen. Bei aller Ablehnung der Sektorintegration äußerte die italienische Regierung vorsichtig ihre Bereitschaft, „die Modalitäten einer regeren Zusammenarbeit auf den Sektoren Transport und der Energieträger zu prüfen“, wenngleich sie auf diesem Gebiet keine Kooperationsnotwendigkeit sah. Hingegen sahen die Italiener auf dem Gebiet der Atomenergie potentielle Vorteile, so dass sie die Vorschläge der Benelux-Länder hierzu in ihrem Memorandum als „besonders wichtig“ bezeichneten und ihre Bereitschaft zu weiterführenden Gesprächen unterstrichen.61 Abschließend kam von italienischer Seite der Vorschlag, die in den anderen beiden Memoranden vorgeschlagene Konferenz über weitere Integrationsschritte durch eine Sachverständigengruppe vorbereiten zu lassen.62 Der französische Außenminister Antoine Pinay äußerte in Messina seine allgemeine Zustimmung zur Fortsetzung der Kooperation der sechs Staaten, was Anlass zu freudiger Überraschung bei den Außenministern Spaak und Beyen war.63 Im Kern gab Pinay allerdings nur die Zustimmung zu einer Expertenkonferenz, die allein die Möglichkeiten weiterer Kooperation ausloten sollte und nicht dazu befugt sein sollte, die Regierungen bindende Beschlüsse zu fassen. Pinay äußerte uneingeschränkte Zustimmung zur Sektorintegration bei Verkehr, Energie und Atomenergie. Mit der Bevorzugung der von ihm als Erfolg versprechend und aussichtsreich bewerteten Sektorintegration, verwies er gleichzeitig auf die zahlreichen potentiellen Probleme der französischen Wirtschaft beim Projekt Wirtschaftsintegration. Für die französische Regierung waren zentrale Fragen dabei völlig offen. Mit den Außenzollsätzen einer möglichen Zollunion gegenüber dritten Ländern, der Abstimmung von Sozialgesetzgebung und Soziallasten zwischen den Ländern und der Regelung des Regionalausgleichs und der Währungspolitik warfen die Franzosen so viele Fragen auf, dass im Juni 1955 von 60 Ebd. S. 696. 61 Ebd. S. 697. Vgl. auch Willis: Italy chooses Europe. S. 57f. 62 Vgl. Memorandum der italienischen Regierung. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 695–698. S. 698. 63 Vgl. Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 165.
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einer Zustimmung der französischen Regierung nicht die Rede sein konnte.64 Die französische Delegation machte während der Konferenz deutlich, dass sie eine horizontale Integration der Volkswirtschaften in Form eines gemeinsamen Marktes mit einer supranationalen der Hohen Behörde der EGKS vergleichbaren Institution ablehnte. Sie erteilte auch Kompetenzausdehnungen der Hohen Behörde eine Absage. Da die Abgabe von Hoheitsrechten für die französische Seite nur begrenzt vorstellbar war, sollten supranationale Institutionen einer Sektorintegration möglichst geringe Befugnisse erhalten.65 Anders sahen die französischen Kooperationsinteressen auf dem Feld der Kernenergie aus, das ein Projekt höchster Präferenz war. Durch gemeinsame Kernforschung sollte nicht zuletzt die französische Leistungsfähigkeit auf diesem Gebiet verbessert werden; am besten durch die Zusammenlegung finanzieller Mittel.66 D. 1.d Die Relance Européenne am Südzipfel Europas Das greifbare und von den Zeitgenossen primär wahrgenommene Ergebnis der Konferenz von Messina war die Wahl des ehemaligen französischen Premierministers René Mayer zum Präsidenten der Hohen Behörde als Monnet-Nachfolger.67 Vor der Konferenz war nur das Beneluxmemorandum bekannt gewesen und die anstehende Neubesetzung ließ nicht vermuten, dass am Ende die Einsetzung eines Ausschusses von Regierungsvertretern unter Leitung „einer politischen Persönlichkeit“ stehen würde. Dieser Ausschuss bekam den Auftrag, mit Unterstützung von Sachverständigen, „eine oder mehrere Konferenzen“ der Regierungen zur weiteren europäischen Integration vorzubereiten und Möglichkeiten der weiteren Zusammenarbeit auszuloten. 68 Die Außenminister beauftragten weder die Hohe Behörde noch den Ministerrat der EGKS, sondern wählten die Form der intergouvernementalen, zunächst unverbindlichen Zusammenarbeit und behielten das Heft der Entscheidungen in den eigenen Händen. Der eingesetzte Ausschuss sollte Zwischenberichte und bis spätestens 1. Oktober 1955 einen Abschlussbericht vorlegen.69 Für die Leitung des Regierungsausschusses konnten die Außenminister 64 Vgl. Redebeitrag von Pinay. Tagung der Außenminister der Mitgliedstaaten der EGKS im Messina am 1./2.6. 1955. Entwurf des Protokolls. Auszugsweise abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 752–757. S. 755f. 65 Vgl. Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 4ff. 66 Weilemann: Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. S. 42; Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 6f. 67 Unter Vorsitz des luxemburgischen Premier- und Außenministers Joseph Bech hatten PaulHenri Spaak (Belgien), Antoine Pinay (Frankreich), Gaetano Martino (Italien), Johan Willem Beyen (Niederlande) und Walter Hallstein für die Bundesrepublik Deutschland getagt. Vgl. Mayne: Einheit Europas. S. 94; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 119f.; Hollmann: Nachfolge Monnets. S. 200. 68 Entschließung der Außenminister in Messina am 1. und 2. Juni 1955. Abschnitt I.A.3. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 698–701. S. 701. 69 Großbritannien wurde wegen seiner Mitgliedschaft in der WEU und der Assoziierung mit der EGKS „eingeladen [...], sich an den Arbeiten zu beteiligen.“ Über spätere Einladungen weiterer Staaten zur Mitarbeit würden die Außenminister entscheiden. Vgl. Entschließung der
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mit Paul-Henri Spaak nach diplomatischen Absprachen zwischen den Regierungen in den Tagen nach der Konferenz einen der ihren gewinnen.70 Dennoch wurde das Abschlusskommuniqué des Außenministertreffens in Messina nicht als der Meilenstein der europäischen Integration erkannt, als der es sich später herausstellen sollte. Der Ausschuss erhielt keine eindeutigen Vorgaben und es war auch keine verbindliche Entscheidung über die Frage getroffen worden, ob und in welche Richtung die Integration sich weiter entwickeln sollte.71 Der Kompromisscharakter war nicht zu übersehen, enthielt das Abschlusskommuniqué doch fast alle Vorstellungen der fünf Regierungen, die sich vor oder während der Konferenz für die Fortsetzung der Integration ausgesprochen hatten. Insgesamt wurde aber das grundsätzliche Bekenntnis zur Fortsetzung der Integration festgehalten. Die sechs Staaten äußerten Entschlossenheit zur weiteren Zusammenarbeit bei Verkehr und Energie, jedoch ohne dies zwingend mit der Bildung neuer Behörden oder eines neuen Vertragswerks zu verbinden. Zur friedlichen Nutzung und Weiterentwicklung der Atomenergie waren die Vorstellungen der Benelux-Staaten fast vollständig ins Abschlusskommuniqué übernommen worden. Man strebte die „Errichtung einer gemeinsamen Organisation“ an, „die sowohl die Zuständigkeit, als auch die Durchführungsmittel erhält.“72 Zur Wirtschaftsintegration und zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes hatten sich die Konferenzteilnehmer hingegen nicht auf ein mögliches institutionelles Gefüge geeinigt. Mit der Kompromissformel, dass die Frage der „Ausgestaltung der Institutionen, die der Errichtung und Durchführung des Gemeinsamen Marktes gemäß sind“, noch zu erarbeiten wäre, wurden unterschiedliche Präferenzen überdeckt und Entscheidungen in die Zukunft verlegt. Alle inhaltlichen Zielvorstellungen und Forderungen der Staaten in Bezug auf den gemeinsamen Markt waren im Kommuniqué enthalten und mussten durch den Regierungsausschuss geklärt werden. Auch die von deutscher Seite präferierten „Regeln zur Sicherung des freien Wettbewerbs“ wurden in den Katalog der vom Ausschuss zu klärenden Fragen aufgenommen.73
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Außenminister in Messina am 1. und 2. Juni 1955. Abschnitt I.A.3. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 698–701. S. 701 Zu den verschiedenen Kandidaten und den Gründen für die Wahl Spaaks vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 124f. Vgl. Entschließung der Außenminister der Mitgliedstaaten der Montanunion anlässlich ihrer Tagung in Messina am 1. und 2. Juni 1955. Abschnitt I.A.3. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 698–701. Ebd.: S. 699. Zur internationalen Zusammenarbeit und Planungen engerer Kooperationen bei der Kernenergie, die dann in der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) mündeten, vgl. immer noch zentral Weilemann: Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. Der von allen angeregte europäische Investitionsfonds wurde berücksichtigt und es wurde festgehalten, die Sozialpolitik der beteiligten Staaten, speziell die Arbeits- und Entlohnungssysteme, schrittweise untereinander abzustimmen. Die Formulierungen zielten auf intergouvernementale Zusammenarbeit ab. Vgl. Entschließung der Außenminister in Messina am 1. und 2. Juni 1955. Abschnitt I.A.3. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 699ff.
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Die von den Niederlanden und Belgien angestoßene und von der Bundesrepublik mitgetragene ‚Relance Européesnne‘ mündete somit zunächst in Sachverständigengespräche über Kooperationsmöglichkeiten. Die Bundesregierung war mit dem klaren Bekenntnis zu Kooperation auf dem gesamtwirtschaftlichen Feld und zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes mit starken Wettbewerbsregeln aufgetreten. Bis zu konkreten Regierungsverhandlungen zwischen den Staaten der Montanunion über die Ausdehnung der bisherigen Integration auf alle Sektoren der Wirtschaft, die Atomenergie und die Bildung eines Gemeinsamen Marktes mussten jedoch noch zahlreiche Positionen einander angenähert werden. Abgesehen von den Befürwortern der Integration aus primär politischen Gründen, spalteten sich die grundsätzlichen Verfechter der wirtschaftlichen Integration in drei Lager. Das Spektrum reichte von Vertretern eines liberalen Freihandelskonzepts, das den Abbau des Protektionismus zum Kern hatte, bis hin zu Repräsentanten eines gemeinsamen Marktes mit stark planerischen und industriepolitischen Elementen. Das Freihandelskonzept war ohne weiteres im intergouvernementalen Rahmen der OEEC zu verwirklichen, zumal der Nutzen einer solchen Kooperation mit der Zahl der beteiligten Länder steigen würde. Das dirigistische Konzept setzte ebenfalls auf intergouvernementale Verhandlungen zur Einigung auf gemeinsame Ziele, ging aber davon aus, dass umfangreiche nationale Eingriffe in den Wirtschaftsablauf weiter möglich wären. Sowohl die Vertreter des Freihandelskonzepts im Bonner Bundeswirtschaftsministerium um Minister Erhard als auch die Vertreter der um staatliche Planung ergänzten Marktwirtschaft in den Wirtschaftsabteilungen des französischen Außenministeriums, des Quai d’Orsay um Minister Pinay, lehnten weitere Kooperation mit starken, womöglich supranationalen Institutionen ab. Darin einig, verfolgten sie aber auch die Absicht, die jeweils andere Konzeption des Gemeinsamen Marktes zu verhindern.74 Dabei waren die Franzosen doppelt isoliert. Sie verwahrten sich nicht nur gegen das Freihandelskonzept zur Realisierung der Kooperation, sondern lehnten auch das marktwirtschaftliche Konzept westdeutscher oder niederländischer Prägung ab, da sie in beiden Fällen verheerende Wirkungen für die wenig wettbewerbsfähige französische Wirtschaft befürchteten. Das von ihnen bevorzugte Konzept der gelenkten Wirtschaft wurde von den Vertretern des Gemeinsamen Marktes nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen abgelehnt. Dieser sollte ähnlich nationalen Binnenmärkten gestaltet und durch unverfälschten Wettbewerb gelenkt werden. Zu dieser Gruppe zwischen den beiden Extremlagern gehörten MüllerArmack und auch die Administration des niederländischen Wirtschaftsministeriums unter Jelle Zijlestra. Müller-Armack stellte die Frage der Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung später so dar, dass „Europa [...] ebensowenig einem Laissez-faire-Wettbewerb überantwortet werden (konnte) wie einer sozialen Planifikation.“ Um die aus diesem Gegensatz entstehenden Widersprüche auszu-
74 Vgl. zur französischen Position: Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen. S. 978 und S. 992ff.; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 174ff.
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gleichen und „die konfliktreiche Situation [...] zu überwinden“, wies er in ordoliberaler Tradition auf den konstruktiven dritten Weg hin.75 Die Verknüpfung des Gemeinsamen Marktes mit der Atomgemeinschaft zeichnete sich bei der Konferenz von Messina erstmals ab. Die hohe Präferenz Frankreichs für die Atomgemeinschaft bei gleichzeitiger Missbilligung des Gemeinsamen Marktes konnte mit der hohen Präferenz der anderen fünf Staaten für die Wirtschaftsgemeinschaft nur durch dieses Junktim zwischen den beiden Kooperationen in Einklang gebracht werden. Es sorgte im Laufe der Verhandlungen dafür, dass die Franzosen schließlich beim Gemeinsamen Markt Zugeständnisse machten.76 Alle Außenminister hatten dem Auftrag an den Regierungsausschuss zugestimmt, „Regeln zur Sicherung des freien Wettbewerbs innerhalb des gemeinsamen Marktes, insbesondere zur Ausschaltung jeder Art nationaler Diskriminierung“ auszuarbeiten, da sie diese als bedeutend für das Projekt des gemeinsamen Marktes anerkannten.77 Bundeswirtschaftsminister Erhard hatte im Mai 1954 im deutschen Bundesrat bei der Debatte über das GWB betont, dass der freie Leistungswettbewerb ein verpflichtender Grundsatz „auf dem gemeinsamen Markt“ sein müsse. Damals war es noch um die EGKS, die Pläne zur EVG und EPG und die Zusammenarbeit in der Europäischen Zahlungsunion (EZU) gegangen. Ein gutes Jahr später war offen, ob die europäischen Kooperationspartner seine Meinung teilen würden, dass nur eine scharfe, auf dem Verbotsprinzip basierende Wettbewerbspolitik dazu beitragen könnte, die Leistungskraft der Wirtschaft zu steigern, wie er es für die deutsche Wirtschaft erwartete.78 Wie die Ergebnisse der Gespräche für eine gesamtwirtschaftliche Integration ausgehen würden, deren unverbindlicher Charakter Vorraussetzung für die Zustimmung der französischen Regierung gewesen war, war im Juni 1955 ungewiss. D.2 „NORMALE WETTBEWERBSBEDINGUNGEN“ FÜR DEN GEMEINSAMEN MARKT – DIE BASIS DES SPAAK-BERICHTS D. 2.a Sondierung der Kooperationsmöglichkeiten auf fachlich-theoretischer Ebene Das Abschlusskommuniqué der Konferenz von Messina war durch seinen starken Kompromisscharakter vage und wurde auch von informierten Zeitgenossen in seiner Tragweite nicht erkannt. Doch es stellte zusammen mit dem Beschluss zur 75 Müller-Armack, Alfred: Das gesellschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. In: Müller-Armack (Hrsg.): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. S. 293–315. S. 314f. 76 Vgl. Küsters: Zollunion oder Freihandelszone. S. 300f. Zur Bedeutung des Junktims für die Zustimmung der Franzosen zu Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt bei der Konferenz von Venedig vgl. Loth: Weg nach Europa. S. 121f. 77 Entschließung der Außenminister in Messina am 1. und 2. Juni 1955. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 698–701. S. 700. 78 Vgl. Verhandlungen des Bundesrates 1954. Stenographische Berichte. 123. Sitzung am 21. Mai 1954. S. 144–147. S. 145(D).
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Einsetzung eines Ausschusses von Sachverständigen der sechs Regierungen zur Fortsetzung des Dialogs über Chancen und Optionen weiterer Integrationsschritte einen Meilenstein der europäischen interessengelenkten Kooperation dar. Wie Staatssekretär Hallstein Ende November 1955 bei einem Interview im Südwestfunk betonte, hatten die Sachverständigen nicht politisch über Sinn oder Unsinn der Fortsetzung der Integration zu entscheiden. Sie bekamen nur den Auftrag, „die fachlichen Probleme“ anzugehen und die „verschiedenen Lösungsmöglichkeiten dafür [...] auf Grund ihres Fachwissens“ zu erarbeiten.79 Zur konstituierenden Sitzung lud Außenminister Spaak am 9. Juli 1955 ins Schloss Val Duchesses vor den Toren Brüssels. Zunächst beschloss man, vier Fachausschüsse zu den Themenbereichen „Gemeinsamer Markt, Investitionen und Sozialfragen – mit dem Unterausschuss für Investitionen“, „herkömmliche Energie“, „Atomenergie“ und „Verkehr und Verkehrswege – mit dem Unterausschuss für Luftverkehr“ und den Lenkungsauschuss der Delegationsleiter zu gründen. In diesem sollten Aufgaben und Themen für die Fachausschüsse angestoßen und mögliche Ergebnisse diskutiert werden.80 Ihm gehörte für die Bundesrepublik der neue Botschafter in Brüssel und ehemalige Abteilungsleiter im Außenministerium Ophüls an. Die belgische Delegation leitete Baron Jean-Charles Snoy et d’Oppuers, Generalsekretär im Wirtschaftsministerium. Frankreichs Delegationsleiter war der Parlamentsabgeordnete, ehemalige Mitarbeiter Monnets und spätere Premierminister Félix Gaillard. An der Spitze der italienischen Delegation stand der ehemalige Staatssekretär im Außenhandels- und Außenministerium, der Abgeordnete Ludovico Benvenuti. Der Botschafter in Belgien, Lambert Schaus, war Leiter der luxemburgischen Delegation und die niederländische Delegation wurde von dem 62-jährgen Ökonomieprofessor Gerard Marius Verrijn Stuart geführt. Letzterer übernahm den Vorsitz im ‚Ausschuss für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen‘ (Ausschuss für den Gemeinsamen Markt), an den der Lenkungsausschuss das Thema „Sicherungsregeln für den Wettbewerb und gegen Diskriminierung im gemeinsamen Markt“ übertrug. In diesem Zusammenhang sollten „Vorschriften [...], die einen loyalen Wettbewerb auf dem gemeinsamen Markt gewährleisten, insbesondere durch die Kontrolle von Praktiken wie Dumping und Kartellen“, erarbeitet werden.81
79 Walter Hallstein am 28. November 1955 im Südwestfunk. In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Nr. 228. 6. Dezember 1955. S. 1933–1934. S. 1934. Zu Umständen und Verhandlungen des Ausschusses vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 145–205. 80 Im Lenkungsausschuss saß bis November 1955 auch ein Vertreter Großbritanniens, jedoch mehr als Beobachter denn als Beteiligter. Vgl. Spaak, Paul-Henri: Memoiren eines Europäers. Hamburg 1969.S. 308ff. Zur britischen Beteiligung an den Gesprächen vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 135–141. 81 Punkt b) Ziffer 10 der Direktive Nr. 1 des Lenkungsausschusses. Abgedr. in: Ausschuss für den Gemeinsamen Markt. Arbeitsunterlagen über die Faktoren, die geeignet sind, den Wettbewerb zu beeinflussen. Brüssel, 2. August 1955. MAE/CIG. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 129–136. S. 129.
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Die Fachausschüsse mit jeweils einem Sprecher für jede Delegation, von Sachverständigen begleitet, begannen ihre Arbeit am 20. Juli 1955. Die Bundesrepublik war im Ausschuss für den Gemeinsamen Markt durch den Leiter der Unterabteilung Montanunion im Bundeswirtschaftsministerium von der Groeben und teilweise von Müller-Armack vertreten.82 Von der Groeben teilte nicht uneingeschränkt die Linie Erhards. Er war vom hohen Wert einer auf Dauer angelegten Kooperation der Nationalstaaten überzeugt, neigte in der Auseinandersetzung zwischen Funktionalisten und Institutionalisten um den richtigen Weg der Integration aber eher Letzteren zu und lag damit mehr auf der europapolitischen Linie des Auswärtigen Amtes und des Bundeskanzlers, von wo er später Rückendeckung erhalten sollte.83 Im Ausschuss für den Gemeinsamen Markt stand am 2. und 3. August 1955 noch kurz vor der Sommerpause84 zum ersten Mal das Thema Wettbewerbsregeln auf der Tagesordnung. Der Fachausschuss konnte dabei nicht auf Gemeinsamkeiten der sechs nationalen Wettbewerbsordnungen zurückgreifen, um zunächst möglichst weitestgehenden Konsens herzustellen, bevor man sich mit möglichen Problembereichen auseinandersetze, wie es Ende September bei der Agrarpolitik geschehen sollte.85 Dennoch konnte man an erste Ansätze internationaler wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit nach 1945 und vertraglich festgehaltene Vorschriften zu staatlichen und privaten Wettbewerbsbeschränkungen anknüpfen. Zudem gab es bereits Erfahrungen bei deren Umsetzung in Zusammenarbeit und im Konflikt mit nationalen Parteien und Interessengruppen. So begannen die Gespräche über die Ausrichtung der Wettbewerbsregeln für den Gemeinsamen Markt vor dem Hintergrund der EPG-Planungen im Februar 1954, der Wettbewerbsregeln der EGKS und erster Ergebnisse ihrer Anwendung.86 Beschlüsse im Rahmen der OEEC über Exportbeihilfen im Januar 1955 und Bestimmungen über Subventionen und Exportbeihilfen der 1948 beschlossenen, aber nicht in Kraft getretenen Havanna-Charta lagen ebenso vor wie die im GATT festgeschriebenen Antidumpingregeln und Vereinbarungen über die den Handel beschränkenden Praktiken privater oder öffentlicher Art. Auch der Entwurf des Europarates zur 82 Zur Zusammensetzung der Delegationen vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 150–155. 83 Vgl. Vorlage von Unterabteilungsleiter III D von der Groeben an Abteilungsleiter III Rust am 14. Mai 1955. Abgedr. in: von der Groeben: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. S. 72–78. S. 76f.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 153f. und S. 225; Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen. S. 974. Für einen biographischen Überblick und der Position von der Groebens zwischen den widerstreitenden Meinungen in der deutschen Regierung vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 259–265. 84 Der Ausschuss legte vom 6. bis 20. 8. 1955 eine Sommerpause ein. Vgl. Schulze, Thomas; Hoeren, Reiner. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Gründungsverträge. S. XXII–XLVI. S. XLIII. 85 Zu den Verhandlungen über den Agrarmarkt vgl. Thiemeyer: "Pool Vert" zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 162ff. 86 Als Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen wurden im Papier zu den Erfahrungen mit den EGKS-Regeln auch die Verzerrungen durch den Wechselkurs betont. Vgl. Ausschuss für den Gemeinsamen Markt. Die Regelungen des Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl. Brüssel 29. Juli 1955. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 109.
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Kontrolle internationaler Kartelle war bekannt. Den Arbeitsunterlagen für den ersten Meinungsaustausch lag auch die Resolution des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen vom Mai 1955 über die Behandlung von einschränkenden Wirtschaftspraktiken und ein Exposé über das geplante Wettbewerbsgesetz in den Niederlanden bei.87 Schon bald einigte man sich auf eine erste gemeinsame Arbeitsgrundlage, da sich bei den ersten Erörterungen zur Sicherstellung des „normalen Wettbewerbs“ auf dem gemeinsamen Markt grundlegende Übereinstimmungen zwischen den Delegationen abzeichneten. Ganz allgemein sollten Strategien und Maßnahmen, die den Wettbewerb verfälschten, und Praktiken unlauteren Wettbewerbs verhindert werden, um das wirksame Funktionieren des Marktes zu sichern. Gegenüber dem unlauteren Wettbewerb sollten die nationalen Rechtsvorschriften „in dem Maße harmonisiert werden“ wie es für den gemeinsamen Markt erforderlich sein würde. Insgesamt sollte der Wettbewerb „loyal“ gestaltet werden. Wettbewerbsbeschränkungen wurden zunächst zwischen behördlich und privat verursacht differenziert. Beim ersten Meinungsaustausch war man übereingekommen, staatliche Maßnahmen wie „Subventionen, Beihilfen, Sonderlasten und Ausgleichseinrichtungen“ bei der Erzeugung und zusätzlich die Vergütung von Soziallasten beim Warenaustausch zwischen den Ländern zu verbieten, wenn dadurch der Wettbewerb verfälscht oder der Warenaustausch zwischen den Staaten „ernstlich beeinträchtigt“ würde. Handlungen und Strategien bei privaten Handelsbeziehungen, die durch den Missbrauch von Monopolstellungen oder durch Kartelle zur Verfälschung des Wettbewerbs führen und den Handel zwischen den Staaten beeinträchtigen könnten, sollten als mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar untersagt werden. Darin bestand grundlegende Einigkeit. Das anvisierte Verbot der Diskriminierungen von Lieferanten und Verbrauchern sollte gelten, wenn daraus „ernstlich(e)“ Beeinträchtigungen des „Handel(s) in den Teilnehmerstaaten“ folgen könnten.88 Diskriminierungen von Lieferanten oder Verbrauchern aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit sollten per se verboten werden. Grundvoraussetzung für alle Verbote sollte sein, dass die Maßnahmen diskriminierend oder wettbewerbsverzerrend in der Wirkung wären. Die ersten Formulierungen blieben allgemein und die anvisierten Verbote behördlicher, wettbewerbsverzerrender Maßnahmen mit der Einschränkung verbunden, dass zu späterem Zeitpunkt Ausnahmen vom Verbot und Verfahren zur Überprüfung der Verbote gefunden werden müssten. Offenkundig war auch, daß, sobald Sonderbestimmungen formuliert würden, Verbote abgeändert und angepasst werden müssten. Insgesamt stellten sie den ersten vagen Versuch dar, sich den äußersten Rahmenbedingungen für gemeinsame Wettbewerbsregelungen zu nähern. 87 Vgl. Ausschuss für den Gemeinsamen Markt. Arbeitsunterlagen über die Faktoren, die geeignet sind, den Wettbewerb zu beeinflussen. Brüssel, 2. August 1955. MAE/CIG. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 129–136. Siehe ebenfalls die dazugehörigen Anlagen I bis VII. Abgedr. ebd.: S. 107–128. 88 Vgl. Arbeitsunterlage über das Problem des Wettbewerbs (vorgelegt vom Sekretariat), 5. August 1955. MAE 182 d/55 arz/mw. Dokument 137. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 136–138. S. 137.
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Während anfangs auf Delegationsleiterebene positive Überraschung über die offene französische Verhandlungsführung überwog, wurde nach der Sommerpause immer deutlicher, dass Frankreich nur geringes Interesse am Gemeinsamen Markt hatte. Beteiligten sich die französischen Vertreter in den anderen Fachausschüssen aktiv, stockten die Verhandlungen im Fachausschuss ‚Gemeinsamer Markt‘. Dies wundert angesichts der Weisungen an die französische Delegation vom Juli 1955 nicht. Detaillierte konstruktive Direktiven für die Bereiche Atomwirtschaft und Verkehr standen allgemeinen Hinweisen für eine nicht destruktive Verhandlungshaltung bei den Gesprächen über den gemeinsamen Markt gegenüber, dessen zahlreiche Problembereiche aus französischer Sicht genau aufgelistet waren. Von der Groeben berichtete später, dass der französische Vertreter, in einem persönlichen Gespräch auf seine passive Haltung angesprochen, die entsprechende Weisung „zuzuhören“ offen legte.89 Auf der Konferenz der Außenminister am 6. September 1955 in Nordwijk konnte Spaak nur über den Gang der Gespräche auf allen Gebieten berichten, ohne jedoch Substantielles vorzustellen. Die Außenminister nutzten die Gelegenheit, um noch einmal den allgemeinen Willen zur Fortsetzung der Kooperation zu betonen und legten den 30. Oktober des gleichen Jahres als Endpunkt der Ausschussarbeiten fest, in deren Folge ihnen ein abschließender Bericht vorgelegt werden sollte.90 Der französische Außenminister Pinay hatte die Vorbehalte seiner Regierung gegenüber dem Gemeinsamen Markt vorgebracht, ohne sich dem Gesamtprojekt jedoch völlig zu verwehren.91 Die Gespräche in den Fachausschüssen, die sich in Detailfragen vertieften, kamen auch in den folgenden Wochen kaum zu Ergebnissen, so dass Spaak Anfang Oktober entschied, auf Basis von Themenskizzen der Fachausschüsse nur noch im Lenkungsausschuss weiter zu verhandeln, um die Terminvorgabe 30. Oktober einhalten zu können. Der Ausschuss für den Gemeinsamen Markt legte daraufhin am 7. Oktober 1955 sein Exposé über die institutionelle Ausgestaltung zur Sicherung der Kooperation und Schaffung eines Gemeinsamen Marktes vor.92 Unterschieden wurde darin zwischen Schiedsgerichtsbarkeit, intergouvernementalem Vorgehen der Regierungen, einem mit Befugnissen ausgestatteten Organ, in dem die Regierungen vertreten sind, und einem Organ mit eigenen Befugnissen, das ergänzend tätig sein würde. Besonders umfangreich und detailliert wurden die Maßnahmen 89 Vgl. Instructions pour la Délégation, juillet 1955. Confidentiel. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 703–707; Groeben: Deutschland und Europa. S. 275. Zur französischen Haltung vgl. auch Marjolin, Robert: Meine Leidenschaft Europa. Vorw. von Raymond Barre. Übers. von Johann Karl Teubner und Rudolf J. Teubner. Unter Mitarbeit von Philippe Bauchard. Baden-Baden 1988. S. 333. 90 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Nr. 170. 10. September 1955. S. 1423. 91 Zu Pinays Erklärung vgl. Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen. S. 996f. 92 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Ausschuss für den Gemeinsamen Markt für Investitionen und Sozialfragen. Arbeitsunterlage über die institutionellen Aspekte. Brüssel, 7. Oktober 1955. MAE/CIG, Dokument Nr. 313. MAE 430 d/5 mp. Abgedr. in: Schulze, Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 727–735.
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und Notwendigkeiten zur Handelsliberalisierung diskutiert, differenziert und den verschiedenen Institutionen überantwortet. Alles zielte auf die schrittweise Errichtung einer Zollunion. Hinsichtlich des „loyalen“ Wettbewerbs sollte ein möglicher Kooperationsvertrag Grundsätze enthalten und auch das Verfahren zur Umsetzung der Grundsätze regeln. Für den lauteren Wettbewerb, sprich den Wettbewerb zwischen den Unternehmen im engeren Sinne, sah der Bericht für Klagen und Urteile eine Schiedsgerichtsbarkeit oder ein Gericht vor. Vorherige Genehmigungen von Wettbewerbsbeschränkungen und mögliche Klagen gegenüber Staaten und Urteilen der Gerichte sollten in die Zuständigkeiten des Organs mit eigenen Befugnissen fallen. Die Übertragung der Zuständigkeit auf dieses Organ wurde aber von der einstimmigen Billigung durch die Vertragspartner und der genauen Festlegung der Befugnisse im Vertrag abhängig gemacht. Gerade im Hinblick auf die Kompetenzen des mit eigenen Befugnissen ausgestatteten Organs betonten die Sachverständigen, dass in den meisten Fällen intergouvernementales Vorgehen ausreiche. Allein „die Anwendung der Schutzklauseln und derjenigen Vorschriften [...], die das normale Spiel des Wettbewerbs auf dem gemeinsamen Markt gewährleisten“ sei durch ein solches Organ zu überwachen.93 Probleme, verursacht durch Kartelle, Absprachen oder durch andere Verzerrungen und Einschränkungen des Wettbewerbs, sollten im Gegensatz zu allgemein auftretenden Abstimmungsschwierigkeiten der Wirtschaftspolitik zwischen den Staaten „einem Organ mit gerichtsähnlichem Charakter vorgelegt werden,“ dem auch Sachverständige angehören sollten.94 Rein rechtliche Anliegen hingegen sollten durch einen Gerichtshof entschieden werden. Diese Fragen der institutionellen Ausgestaltung von Wettbewerbspolitik wurden überwiegend an den Lenkungsausschuss weitergegeben, da auf Fachebene keine Einigung erzielt wurde und eine politische Entscheidung notwendig war. Mögliche Verfahren zur Umsetzung einer aktiven europäischen Wettbewerbspolitik, hier in Einzelheiten bereits angedacht, wurden endgültig erst Jahre später entschieden. Im Herbst 1955 war mit der Frage der institutionellen Ausgestaltung zugleich die höchst politische Frage der Einrichtung supranationaler Organe angesprochen, die die französische und die deutsche Seite ablehnten. Zu diesem Thema ergriff der Vertreter der Hohen Behörde im Lenkungsausschuss, Dirk Spierenburg, Anfang November das Wort und unterstützte die Überwindung rein intergouvernementaler Zusammenarbeit. Allein aus den dabei auftretenden Problemen ergäbe sich die Notwendigkeit, die Einstimmigkeit zu überwinden. Ausdrücklich betonte er die „Einhaltung der Wettbewerbsvorschriften“ als „wesentliche und unauswechselbare Aufgabe“ eines mit eigener Machtvollkommenheit ausgestatteten supranationalen Organs.95 93 Ebd.: S. 733. 94 Ebd.: S. 733f. 95 Anschließend nannte er auch die Anwendung der Schutzklauseln sowie Beurteilung der Notwendigkeit von Anpassungsmaßnahmen und von Investitionsmitteln. Vgl. Erklärung des Vertreters der Hohen Behörde im Lenkungsausschuss des Brüsseler Regierungsausschusses, 7. November 1955. Anlage zu Dokument Nr. 360. Abgedr. in: Schulze, Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 745–752. S. 751f.
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D. 2.b Prüfungen des Kooperationswillens auf politischer Ebene Die fünf kooperationsfreundlichen Staaten drängten die französische Regierung zunehmend dazu, sich konkret zum Projekt des Gemeinsamen Marktes zu äußern. Mit einem Memorandum im Oktober lichtete die französische Regierung etwas den Nebel ihrer bisherigen Stellungnahmen zum Gemeinsamen Markt und konkretisierte erstmals einzelne Punkte.96 Darin bekannte sie sich eindeutig zur Kooperation bei der Atomenergie und zum Ausbau der Teilintegration beim Verkehrs- und Energiesektor. Die Idee des Gemeinsamen Marktes beurteilte sie hingegen reserviert. Vor der Errichtung einer Zollunion und eines Gemeinsamen Marktes sollten Schutzklauseln, Ausgleichsmöglichkeiten und die Harmonisierung der Sozialleistungen vereinbart werden, um für gleiche Wettebewerbsbedingungen zwischen den Unternehmen zu sorgen, forderte die französische Regierung. Infolge ihrer zahlreichen nationalen sozialpolitischen Eingriffe waren der Lohnindex und das Preisniveau in Frankreich im internationalen Vergleich hoch, was eine schlechte Exportsituation zur Folge hatte.97 Zudem fürchtete die französische Wirtschaft hinter den traditionell hohen Handelsschutzzäunen aus Zöllen und Exportsubventionen den freien Wettbewerb des Weltmarktes. Sie forderte, ihre eigene schlechte internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Anhebung der Soziallasten für Unternehmen in den anderen Ländern zu entschärfen. In der französischen Regierung wurden somit Wettbewerbsregeln nur als eine von vielen notwendigen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Zollabbau gesehen. Grundsätzlich konnte man sich in Paris vorstellen, Dumping- und Doppelpreise, Missbrauch von Kartellen und Monopolen und Diskriminierungen aufgrund von Nationalität einer Kontrolle zu unterwerfen, die der Nationalen ähnlich war.98 Im Laufe des Novembers und Dezembers zeichneten sich nach dem französischen Memorandum bei allen Gesprächen im Lenkungsausschuss zwar kleine Ergebnisse ab, aber zentrale Meinungsverschiedenheiten blieben bestehen. Der Termin für den Abschlussbericht war ohnehin verstrichen. Auf Wunsch der französischen Delegation wurden die Gespräche in Brüssel nach dem Sturz der französischen Regierung und angesichts der Parlamentsneuwahlen am 2. Januar 1956 in Frankreich von Mitte Dezember bis zum 15. Januar 1956 unterbrochen.
96 Vgl. Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. S. 998. 97 Vgl. Latte, Gabriele: Die französische Europapolitik im Spiegel der Parlamentsdebatten (1950–1965) (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 36). Berlin 1979. S. 91. 98 Memorandum vom 14. Oktober 1955. Anlage zu: Unterabteilung für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Aufzeichnungen vom 13. Oktober 1956. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 765–770. S. 678; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 177.
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Nach der Verhandlungspause nahm eine neue und europafreundliche französische Regierung am Verhandlungstisch in Brüssel Platz.99 Auch in Bonn war der Jahreswechsel zur Positionierung genutzt worden. Die ‚Eicherscheider Beschlüsse‘ lagen schon wieder einige Monate zurück und das französische Memorandum vom Oktober war dazu angetan, im Bonner Wirtschaftsministerium einmal mehr die Zweifel am Projekt der gesamtwirtschaftlichen Zusammenarbeit zu nähren. Adenauer blieb ebenso wie die Führung des Auswärtigen Amtes nicht überzeugt von der technischen Zusammenfügung von Teilmärkten. Zur Einigung Europas tendierten die Überlegungen eher zu intergouvernementaler Kooperation.100 Der Richtungsstreit zwischen Auswärtigem Amt und Wirtschaftsministerium um die richtige Form der europäischen Zusammenarbeit schwelte untergründig weiter und konnte jederzeit wieder ausbrechen. Die positive Grundstimmung in der Wirtschaft drohte zu kippen. Missmutige Stimmen aus der Wirtschaft über deren angeblich mangelhafte Beteiligung an den Verhandlungen durch das Auswärtige Amt nahmen zu.101 Dieses nach außen dringende Meinungsbild, ergänzt um Adenauers außenpolitische Aktivitäten im September 1955 in Moskau und auf anderen nicht minder wichtigen außenpolitischen Feldern, führte dazu, dass bei den potentiellen Partnern Zweifel am deutschen Kooperationswillen aufkamen. Sowohl diese Zweifel als auch ganz neue Positionen aus dem Landwirtschaftsministerium und vom neuen Bundesminister für Atomfragen, Franz Josef Strauß, veranlassten Adenauer schließlich dazu, von seiner Richtlinienkompetenz im Kabinett Gebrauch zu machen.102 Um die außenpolitische Linie gegenüber den potentiellen Kooperationspartnern klarzustellen, forderte der Bundeskanzler die Minister in einem später von Erhard als „Integrationsbefehl“ titulierten Schreiben auf, sich entschlossen hinter die Beschlüsse von Messina zu stellen und zu einer klaren und positiven deutschen Haltung gegenüber der europäischen Zusammenarbeit beizutragen. Er vergaß dabei nicht den Hinweis auf seine im Grundgesetz verankerte Richtlinienkompetenz im letzten Satz.103 Den sich daran anschließenden Briefwechsel zwischen Adenauer und Erhard im April 1956 bezeichnete Neebe als „den Beginn des offenen Krieges“ zwischen den beiden über die Euro-
99 Zum französischen Regierungswechsel vgl. Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. S. 887ff.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 218–222; Latte: Die französische Europapolitik. S. 78ff. 100 Vgl. Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 658. 101 Vgl. Jeutter: EWG – Kein Weg nach Europa. S. 247; Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 672. 102 Vgl. Neebe: Weichenstellung für die Globalisierung. S. 290–295; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 193–196; Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 659f. 103 Bundeskanzler Adenauer an die Bundesminister, 19. Januar 1956. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 1. S. 596–598. Vgl. auch Küster: Der Streit um Kompetenzen und Konzeptionen deutscher Europapolitik. S. 358f.
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papolitik, der bei den folgenden Verhandlungen zu einer mitunter nicht eindeutigen Verhandlungsposition der deutschen Regierung beitragen sollte.104 Spaak versuchte in Brüssel trotz zahlreicher unterschiedlicher Vorstellungen der sechs Regierungen im Detail, seinen Außenministerkollegen auch bei den möglichen Wettbewerbsregeln ein irgendwie zusammenhängendes Gesamtkonzept vorzustellen, das die Basis für verbindliche Verhandlungen sein konnte. Bei der Außenministerkonferenz am 11. und 12. Februar 1956 in Brüssel wurde deutlich, dass mit dem Regierungswechsel in Paris zu Beginn des Jahres mit dem neuen europafreundlichen Premierminister Guy Mollet andere französische Präferenzen in den Vordergrund traten.105 Eine prinzipielle Einigung schien auch bei strittigen Fragen möglich. Mollet hatte bei seiner Antrittsrede am 30. Januar 1956 vor der Nationalversammlung klar zum Ausdruck gebracht, dass er die notwendige Modernisierung der französischen Industrie auch durch schärfere Konkurrenz in der Wirtschaft herbeiführen wollte.106 An der sehr viel größeren Präferenz für die Atomkooperation gegenüber dem Gemeinsamen Markt hatte sich allerdings nichts geändert.107 Der neue französische Außenminister Christian Pineau stimmte bei der Außenministerkonferenz jedoch auch deshalb der Fortsetzung der Kooperationsgespräche über den Gemeinsamen Markt zu, weil der deutsche Außenminister sich der Auflösung des Junktims von Atomgemeinschaft und Gemeinsamem Markt im Vorfeld der Konferenz vehement widersetzt hatte. Das doppelte Junktim ‚keine Atomgemeinschaft ohne Gemeinsamen Markt‘ und ‚kein Gemeinsamer Markt ohne Atomgemeinschaft‘ wurde immer relevanter.108 Spaak konnte seinen Kollegen Anfang Februar zwar nur die Grundlagen eines möglichen Abschlußberichts vorlegen, sie begrüßten aber ausdrücklich, dass die vorliegenden Ergebnisse über den Auftrag von Messina hinausgingen und Detailfragen thematisierten. Die Außenminister beschlossen, nach der Entgegennahme des Abschlußberichts, der für den 15. März terminiert wurde, erneut zusammenzukommen.109 Aber auch dieses Datum konnte nicht eingehalten werden.
104 Neebe: Weichenstellung für die Globalisierung. S. 299. Zu den tiefgreifenden, auch innenpolitisch relevanten wirtschaftspolitischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Adenauer und Erhard vgl. Rhenisch: Europäische Integration. S. 132–138. 105 Vgl. Guillen, Pierre: Europe as a Cure of French Impotence? The Guy Mollet Government and the Negotions of the Treaties of Rome. In: Di Nolfo (Hrsg.): Power in Europe? S. 505– 516. S. 506f. 106 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 221f. 107 Vgl. Latte: Die französische Europapolitik. S. 80–88. 108 Vgl. Loth: Weg nach Europa. S. 122f. 109 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Nr. 31. 15. Februar 1956. S. 262.
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D.2.c Ergebnis durch größere Unabhängigkeit der Beratungen von nationalen Präferenzen Nach der grundsätzlichen Zustimmung der Regierung Mollet war der Weg für die Erarbeitung des Abschlussberichts frei. Dazu stellte sich Spaak ein kleines Team von Sachverständigen zusammen, das diesen fern aller politischen Verpflichtungen ausarbeiten sollte. Er versuchte, den Effekt des Regierungsausschusses dadurch zu verstärken, dass politisch ungebundene Sachverständige problemorientierte Vorschläge entwickeln sollten. Im Regierungsausschuss war dieser Effekt angesichts der Weisungen aus Paris und Bonn bald wirkungslos geworden. Spaak schickte nun den Franzosen Pierre Uri, einen der Autoren des SchumanPlans und inzwischen Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung der EGKS, sowie den Deutschen von der Groeben Anfang März nach Südfrankreich. Sie wurden von Gitauilio Guazzugli-Marini für das Sekretariat des Regierungsausschusses und Albert Huepperts, ein enger Mitarbeiter Spaaks, begleitet.110 Uri als Vertreter der EGKS und von der Groeben als Mitglied der deutschen Delegation hatten die bisherigen Diskussionen zwischen den Regierungsvertretern verfolgt, so dass ihnen, neben den vorliegenden Vorberichten der Fachausschüsse, die Präferenzen der beteiligten Staaten bekannt gewesen sein dürften und sie die Grenzen dessen überblicken konnten, was die sechs Regierungen mittragen würden. Uri, enger und langjähriger Mitarbeiter Monnets, hatte sich bereits bei den Verhandlungen zum EGKS-Vertrag als Verfechter des Kartell- und Monopolverbots hervorgetan.111 Von der Groeben, der hinsichtlich des politischen Gesamtkonzepts der europäischen Zusammenarbeit eher auf der Linie des Bonner Außenministeriums lag, trat ansonsten für das Erhard’sche Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ein. „Seine hervorragenden Qualitäten wurden durch seinen Glauben an die Wichtigkeit der zu leistenden Arbeit unterstützt“, urteilte Spaak später über von der Groebens Einstellung zu dem Projekt.112 Bei seinen Bemühungen arbeitete das kleine Team stets in enger Abstimmung mit Spaak, der wiederum in Kontakt mit dem Lenkungsausschuss stand. Einzelfragen gingen auch an die Außenminister. Der Themenkomplex Wettbewerbsregeln war im Kern Anfang April fertiggestellt.113
110 Zu den Umständen und dem Gang der Arbeiten vgl. Groeben: Deutschland und Europa. S. 277; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 236ff; Spaak: Memoiren. S. 318; Mayne: Einheit Europas. S. 94. 111 Zur Person Uris und seiner Beteiligung am Schuman-Plan und der europäischen Integration vgl. Seidel, Katja: Gestalten statt Verwalten. Der Beitrag von Europabeamten zur europäischen Integration. In: Historische Mitteilungen 18 (2005) S. 136–149. S. 137f., S. 140f. und S. 144ff.; Kipping: Kartelle und Konkurrenz. S. 285f. 112 Spaak: Memoiren. S. 306. 113 Vgl. Projet de rapport aux Ministres des affaires etrangères. Tome I, Titre II, Chapitre 1 les règles de concurrence. Bruxelles, le 8 avril 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 144–146.
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Der Lenkungsausschuss beriet vom 18. bis 20. April 1956 abschließend über den Gesamtbericht, nahm „einige wenige Änderungen“ vor und stimmte dessen Übersendung an die Außenminister zu.114 In den folgenden Tagen erhielten die Regierungen der sechs EGKS-Staaten den unter dem Kürzel ‚Spaak-Bericht‘ in die Geschichte eingegangenen ‚Bericht der Delegationsleiter des Regierungsausschusses an die Außenminister‘.115 Er umfasste mit seinen zwei Kapiteln „Der Gemeinsame Markt“ und „Euratom“ nur noch zwei der ursprünglich anvisierten vier Projekte. Teilintegrationen des Verkehrssektors und der herkömmlichen Energie waren in das Projekt des Gemeinsamen Marktes integriert worden oder hatten sich als nicht tragbar für kooperative Zusammenarbeit herausgestellt. Nach dem primär handelspolitischen Kapitel „Zusammenschluss der Märkte“ folgten das wirtschaftspolitische Kapitel über die gemeinsame „Politik des Gemeinsamen Marktes“ und ein Kapitel über Ziele und Maßnahmen zur „Entwicklung und vollen Nutzung der europäischen Produktivkräfte“, das stark von den Interessen der italienischen Delegation geprägt war.116 Ziel des Gemeinsamen Marktes sollte die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes sein, in dem die Voraussetzungen gemeinsamer Wirtschaftspolitik mit den Zielen „fortlaufende wirtschaftliche Ausweitung, [...] Sicherheit gegen Rückschläge, [...] beschleunigte Hebung des Lebensstandards und [...] Entwicklung harmonischer Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten“117 gegeben wären. Die engen nationalen Marktgrenzen sollten als Hindernisse positiver wirtschaftlicher Entwicklung durch die Bildung eines gemeinsamen, großen Marktes aufgehoben werden. Unternehmen sollten die Chance erhalten, die mit der Massenproduktion für einen größeren Markt verbundenen Größenvorteile auszunutzen, ohne hierbei eine monopolistische Marktposition einnehmen zu müssen. Im größeren Markt würden bei stärkerem Konkurrenzdruck „veraltete Betriebsmethoden, die hohe Preise und niedrige Löhne bedingen, nicht aufrechterhalten werden (können), da ein gesunder Wettbewerb die Betriebe ständig zu Rationalisierung(s)- und Modernisierungsinvestitionen zwingen“118 würde. Wettbewerb wurde befürwortend als ‚Innovations-Peitsche‘ und Förderer des Wirtschaftswandels im positiven Hayek’schen Sinne hervorgehoben. Neben der Förderung grenzüberschreitender Konkurrenz durch den Abbau von Zollschranken wurde als Ziel des Gemeinsamen Marktes festgehalten, dass „Praktiken ein Ende gesetzt werden (müsste), die den Wettbewerb zwischen den Erzeugern verfälschen.“ Der Begriff „Verfälschung“ ließ zahlreiche Interpretationen und Spielräume zukünftiger Verhandlungen über die Wettbewerbspolitik offen, so dass diese Formulierung von allen Regierungen akzeptiert werden konnte. Gleichzeitig wies der Spaak-Bericht daraufhin, dass unterschiedliche Behandlungen von Sektoren und Unternehmen durch die nationale Wirtschaftspolitik nach der 114 Vgl. Groeben: Deutschland und Europa. S. 278. 115 Vgl. wie auch für folgende Zitate: Spaak-Bericht. Abgedr. in: Schwarz (Hrsg.): Der Aufbau Europas. S. 277–334. 116 Vgl. Willis: Italy chooses Europe. S. 57. 117 Spaak-Bericht. Abgedr. in: Schwarz (Hrsg.): Der Aufbau Europas. S. 277–334. S. 280. 118 Auch die folgenden Zitate dieses Absatzes: Ebd.: S. 281.
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Senkung von Zöllen größeres Gewicht bekämen. Aufgrund dieser Tatsache war „ein gemeinsamer Markt nicht vorstellbar [...] ohne gemeinsame Regeln und Maßnahmen und ohne ein System von Institutionen, die die Einhaltung dieser Regeln und Verfahren sicherstellen.“ Der Abbau von Protektionismus war die erste von drei im Spaak-Bericht aufgezeigten Handlungsrichtungen zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes. Liberalisierung des Handels durch Abbau von Zollhindernissen sollte das primäre Instrument zur Bildung des Gemeinsamen Marktes werden. Der vollständige Abbau der Zölle blieb zwar zunächst undenkbar, jedoch sollten national unterschiedliche Behandlungen einzelner Sektoren der Wirtschaft und einzelner Güterund Dienstleistungsgruppen durch Zölle, Subventionen und andere, nicht-monetäre Handelsschranken schrittweise eingeschränkt werden. Inhalt der zweiten Handlungsrichtung war es, durch Wettbewerbsregeln den „Auswirkungen von Staatseingriffen und Monopolstellungen“ entgegenzutreten, um „normale Wettbewerbsbedingungen“119 zu schaffen. Die dritte Handlungsrichtung sollte über die „Vereinigung der vorhandenen Produktionskräfte“ hinaus unterentwickelte Gebiete fördern und später durch die grundsätzliche Freizügigkeit der Produktionsfaktoren in den sechs Ländern neue Möglichkeiten des wirtschaftlichen Wachstums durch Nutzung aller vorhandenen Produktivkräfte erschließen. Der Abschlussbericht des Regierungsausschusses entwarf neben allgemeinen Zielen und der möglichen institutionellen Ausgestaltung des gemeinsamen Marktes in den Bereichen Zölle, Kontingente, Dienstleistungen und Landwirtschaft auch erste Vorschläge für Politikfelder, die auf gemeinschaftlicher Ebene geregelt werden sollten. Dabei stand die Wettbewerbspolitik vor Fragen der Rechtsangleichung, der Transporttarif- und Verkehrspolitik, der Zahlungsbilanzausgleichspolitik und gemeinsamer Handelspolitik an erster Stelle.120 Im Rahmen des zweiten Handlungsziels für den Gemeinsamen Markt sollten Unternehmen und Staaten in ihren wettbewerbsverfälschenden Strategien und Markteingriffen eingeschränkt werden, um die „rationellste Arbeitsteilung und das günstigste Expansionstempo zu gewährleisten.“121 Unternehmen sollte die Möglichkeit genommen werden, aufgrund von Größe oder von Absprachen zu diskriminieren, die Märkte aufzuteilen oder sonstige wettbewerbsfeindliche Praktiken anzuwenden. Der Spaak-Bericht schlug vor, „für die Unternehmen verbindliche Wettbewerbsregeln“ zur Verhinderung erstens von Doppelpreisen mit der Wirkung von 119 Bestandteil dessen war 1956 auch die Beseitigung von Zahlungsbilanzschwierigkeiten. Vgl. auch für folgendes Zitat ebd.: S. 281f. 120 Vgl. ebd.: S. 278 und S. 282. Die ebenfalls in Messina zur Prüfung für weitere Integrationsschritte beschlossenen Politikbereiche „Energie“ und „Verkehr“ spielten im Spaak-Bericht keine bzw. nur noch eine untergeordnete Rolle. Energie, Verkehrsmittel und speziell Luftverkehr und Luftfahrtindustrie erforderten zwar sofortige Maßnahmen, jedoch sollten diese nicht im Rahmen weiterer Sektorintegration, sondern als Politikfelder im Gesamtsystem durchgeführt werden. Inhaltlich hatte man sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner verständigen können, was der Abschlussbericht gut verklausulierte. Vgl. Dritter Teil des Spaak-Bericht: „Sachgebiete die vordringlich behandelt werden müssen“. 121 Auch folgendes Zitat dieses Absatzes: Ebd.: S. 282.
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Zöllen, zweitens von Dumpingpreisen mit der Wirkung von Subventionen und drittens von Marktaufteilungen festzuschreiben. Die bisherige Abgrenzung der Märkte durch staatliche Handelsbarrieren sollte nicht von privatwirtschaftlichen Aufteilungen fortgesetzt werden. Die allgemeinen Grundsätze der Normen für Unternehmen wurden in Regeln für private Handelsdiskriminierungen und für Monopole differenziert.122 Der Spaak-Bericht ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Gemeinsame Markt starke Mängel aufweisen würde, wenn die Verbraucher aufgrund unterschiedlicher Nationalität zu unterschiedlichen Bedingungen beliefert würden. Es war unstrittig, dass jegliche Diskriminierung, sei es Qualitäts-, Liefer- oder Preisdiskriminierung, wirtschaftlich positive Ergebnisse der Handelsliberalisierung behindern und sich negativ auf die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes auswirken würde. Grundsätzlich äußerten sich die Berichterstatter optimistisch über die Entfaltung der positiven Wirkungen des Gemeinsamen Marktes auch für den Wettbewerb. Zuversichtlich erwarteten sie, dass „in der Schlussperiode der Übergangszeit [...] durch die Beseitigung der Handelshemmnisse die Möglichkeiten einer Diskriminierung zwischen Unternehmen, die miteinander im Wettbewerb stehen, fortgefallen sein“123 werden. Diskriminierende private Wettbewerbsbehinderungen würden innerhalb des gemeinsamen Marktes mit der Zeit irrelevant werden, wenn allgemeine Handelshemmnisse „gleichzeitig und wechselseitig abgebaut“ würden und Unternehmen diese Diskriminierungen nach der Angleichung der Marktpreise aufgrund des Wettbewerbs nicht mehr würden durchsetzen können. Für die Übergangszeit sollten die Staaten deshalb auf die GATT-Antidumpingregeln zurückgreifen oder vergleichbare Regeln erlassen, deren Dienlichkeit durch ein supranationales Organ, die Kommission, überprüft werden sollte. Änderungsaufforderungen sollten im Zweifel vor einem Gericht, gedacht war an den bestehenden Gerichtshof der EGKS, überprüft werden können. Als bessere Lösung wurde jedoch vorgeschlagen, dass „in den Ländern einheitliche Gesetze erlassen würden.“ Sollten sich die Staaten auf diese Idealvorstellung der Rechtsharmonisierung einigen können, sollte die Kommission dazu Vorschläge unterbreiten. Folgte man gegenüber privaten Handelsdiskriminierungen der Ansicht der Berichterstatter und setzte auf Zeit und die Kräfte des Wettbewerbs in einem größeren Markt, so ging noch immer von solchen Unternehmen Gefahr für den Wettbewerb aus, die aufgrund von Größe oder durch Spezialisierung oder durch Absprachen mit anderen Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung hatten und diese missbräuchlich ausnutzen konnten. Die Schlussfolgerungen hinsichtlich möglicher Wettbewerbsregeln für den Gemeinsamen Markt waren selten so eindeutig wie an dieser Stelle. „Der Vertrag muss hierfür grundsätzliche Regeln enthalten“, hieß es im Abschlußbericht.124 Die Frage des ‚ob‘ war damit eindeutig beantwortet. Jedoch schränkte der Bericht verhalten ein, dass es ausreichen 122 Vgl. ebd.: S. 300f. 123 Auch folgende Zitate dieses Absatzes: Ebd.: S. 300. 124 Ebd. (Hervorhebung d. Verf.).
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könnte, gemeinsame Regeln und Verfahren nur gegen Strategien zu entwerfen, die den zwischenstaatlichen Handel beschränkten. Auch könnte es Angelegenheit der Staaten bleiben, Diskriminierungen und Kartelle mit beschränkt regionaler Wirkung zu verhindern. Der Spaak-Bericht unterschied bei den Regeln gegen wettbewerbsbehindernde Strategien durch Unternehmen mit monopolartiger Stellung zwischen horizontalen Handelsdiskriminierungen und anderen missbräuchlichen Praktiken, die die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes verhindern würden. Auch vertikale Diskriminierungen durch Verkäufer, die ihre monopolistische, marktbeherrschende Stellung ausnutzten, sollten nicht akzeptiert werden. Dies galt für die Aufnötigung von Preis- oder Verkaufsbedingungen mit Wettbewerbsnachteilen für den Käufer bei vergleichbaren Geschäften und für Lieferverweigerungen. Gleiches sollte für Käufer-Verkäufer-Beziehungen gelten. In diesen Fällen war der Spaak-Bericht ebenfalls eindeutig. Ein möglicher Kooperationsvertrag der Staaten musste Vorschriften enthalten, die missbräuchliche und wettbewerbsbeschränkende Absprachen und Praktiken marktbeherrschender Unternehmen mit vertikaler Wirkung unterbinden würden. Ebenfalls waren Marktaufteilungen durch Absprachen, Abkommen zur Produktionsbeschränkung oder zur Einschränkung technischer Weiterentwicklungen und eine „völlige oder teilweise“ Monopolstellung einzelner Unternehmen zu verhindern, da diese den Zielen ‚Öffnung der Märkte‘, ‚Steigerung der Produktion‘ und ‚Aufrechterhaltung des Wettbewerbs im gemeinsamen Markt‘ zuwiderlaufen würden. Für mögliche Vertragsverhandlungen wurde im Spaak-Bericht gefordert, dass die „in den Vertrag aufzunehmenden Grundsätze“125 von den Staaten so genau formuliert sein müssten, dass die Kommission auf dieser Basis in die Lage versetzt würde, nach Zustimmung der parlamentarischen Versammlung allgemeine Durchführungsverordnungen zu erlassen. Damit sollte die Kommission „die Konkretisierung der Regeln über Diskriminierung, die Errichtung einer Kontrolle der Zusammenschlüsse, die Verwirklichung eines Verbotes der Absprachen, die eine Aufteilung oder Ausbeutung der Märkte, eine Einschränkung der Produktion oder des technischen Fortschritts zur Folge haben“, umsetzten können. Diese Verordnungen sollten vor dem Gerichtshof anfechtbar sein. Das im Vertrag zu regelnde Wettbewerbskontrollverfahren sollte die Häufungen von Prozessen beim Gerichtshof vermeiden. Die Kommission sollte die Verantwortlichkeit für Schlichtungen bei festegestellten Verstößen gegen die Wettbewerbsbestimmungen erhalten, wozu ihr unterstützend ein ‚Beratender Ausschuss für Absprachen und Diskriminierungen‘ an die Seite gestellt werden sollte. Nach erfolgloser Schlichtung sollten die Kommission und die Staaten das Recht haben, den Gerichtshof anzurufen, der hierfür um eine gemischte Kammer für Sonderfragen erweitert werden sollte, die mit Juristen und auch mit „Sachverständige(n) für wirtschaftliche und technische Fragen“ besetzt würde. Unter den Sachverständigen der Länder hatte offenbar hohe Übereinstimmung hinsichtlich solcher unternehmerischen wettbewerbsbeeinträchtigenden Strategien 125 Auch folgende Zitate dieses Absatzes: Ebd.: S. 301.
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bestanden, die mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sein sollten. Hingegen fehlten konkrete Vorschläge für wettbewerbspolitische Instrumente, um diese zu verhindern oder zu bekämpfen. Die Verfasser des Spaak-Berichts schlugen den Staaten jedoch vor, durch genaue Vertragsformulierungen die Ziele und die grundlegenden Verfahrensschritte der gemeinsamen Wettbewerbspolitik gegen private Wettbewerbsbeschränkungen so genau festzulegen, dass bereits mit Vertragsabschluss die volle Entscheidungsbefugnisse an die Kommission und die Parlamentarische Versammlung abgegeben würde. Ob ein solches Vorgehen möglich war, musste sich bei den Vertragsverhandlungen erst noch zeigen. Ausreichende Homogenität über die wettbewerbspolitischen Ziele war allerdings unter den Staaten auch Jahre später noch nicht gegeben. Die Verfasser des SpaakBerichts tendierten 1956 mit ihren Verfahrensvorschlägen vorsichtig zu Verwaltungsentscheidungen, die von nationaler, politischer Einflussnahme frei sein sollten. Der Spaak-Bericht betonte jedoch, dass im Vorfeld des Gemeinsamen Marktes nicht alles fixiert werden könnte, da eine Vorhersage, wie sich die Mentalitäten der wirtschaftlichen Akteure nach der Einrichtung des gemeinsamen Marktes ändern würden, nicht möglich war. Direkte und kleinteilige staatliche Eingriffe in die Ausgestaltung privater Vertrags- und Handelsbeziehungen und deren Veränderung wurden abgelehnt. Nur staatliche Unternehmen und Verwaltungen sollten dazu angehalten werden, ihre vielfach durch staatliche Bestimmungen verursachten Diskriminierungen zu beenden.126 Ob diese Auffassung bei Vertragsverhandlungen angesichts des hohen Anteils von Staatsmonopolen an der Gesamtwirtschaft in einigen Ländern, allen voran Italien, übernommen würde, war abzuwarten. Unmissverständlich wurde im Spaak-Bericht darauf hingewiesen, dass „die augenfälligsten Diskriminierungen seitens der Verkäufer auf Veranlassung oder mit Unterstützung der Staaten vorgenommen“127 wurden. Die skizzierten Wettbewerbsregeln für Unternehmen mussten deshalb ergänzt werden durch Wettbewerbsregeln für die Staaten. Der Spaak-Bericht benannte die staatlich verursachten Wettbewerbsverzerrungen klar als potentielles Hindernis für die Realisierung des gemeinsamen Marktes. Differenziert wurde zwischen Beihilfen mit allgemein erwünschten und die Produktion ausdehnenden Wirkungen und staatlichen Unterstützungen, die Verfälschungen des Wettbewerbs „zum Ziel oder zur Wirkung“ hätten.128 Wenn Unternehmen das Recht genommen würde, den Wettbewerb zu beschränken, dann sollten sie aber auch die Garantie erhalten, dass der Wettbewerb nicht durch staatliche Bevorzugung von Konkurrenten verfälscht würde.129 Staatliche Beihilfen waren daraufhin zu prüfen und unabhängig von der äußeren Form waren jene nicht mit den Zielen des Gemeinsamen Marktes vereinbar, die den Wettbewerb verfälschten oder die Arbeitsteilung und damit die Steigerung des Wohlstands im 126 127 128 129
Vgl. ebd. Ebd. Ebd.: S. 282. Vgl. ebd.: S. 302.
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Gemeinsamen Markt beeinträchtigten.130 Darüber hinaus schlug der SpaakBericht eine Übergangsperiode vor, in der Beihilfen und Unterstützungsmaßnahmen für diejenigen Unternehmen und Branchen, die durch die Marktöffnung in Schwierigkeiten gerieten, zugelassen werden sollten, um allgemeine Verzerrungen auszugleichen. Beim Thema der staatlichen Subventionen blieben große Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten zu überbrücken, da Subventionsabbau erheblich in die nationale Wirtschaftspolitik eingriff. Der SpaakBericht blieb deshalb hier, abgesehen von den Ausnahmen und Übergangsregelungen, recht allgemein. Darüber hinaus wurde in Hinblick auf potentielle Vertragsverhandlungen empfohlen, den Einfluss unterschiedlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Staaten auf die Marktverhältnisse eines Gemeinsamen Marktes zu prüfen, da sie Produktionskosten und damit auch die Wettbewerbsverhältnisse von Unternehmen beeinflussten. Jedoch plädierten die Verfasser des Berichts nicht dafür, alle Rechtsvorschriften anzugleichen. Sie gingen davon aus, dass diese Unterschiede mit der Zeit „aus der Entwicklung des Marktes selbst, dem Zusammenspiel der Wirtschaftskräfte und den Beziehungen zwischen den Beteiligten“ eingeebnet würden.131 Die Harmonisierung von Belastungen aufgrund unterschiedlicher nationaler Steuer- und Sozialsysteme lehnten sie ab, „da derartige Unterschiede in der Regel durch die allgemeinen Außenhandelsbedingungen, insbesondere den Wechselkurs, ausgeglichen“ würden. Den Bedarf an Regelungen „von oben“ auf diesem Feld stuften sie als gering ein. Allein Verzerrungen durch Rechtsvorschriften entweder innerhalb von Branchen im Staatenvergleich oder einzelner Sektoren im Vergleich zum Durchschnitt der Gesamtwirtschaft des jeweiligen Landes sollten untersucht und im Zweifel unterbunden werden. Weitere potentielle Verfälschungen der Wettbewerbsbedingungen aufgrund von staatlichen Regelungen sollten zunächst dem Marktprozess überlassen bleiben. Speziell hinsichtlich der Arbeits- und Sozialvorschriften betonten die Sachverständigen die Kraft der Marktmechanismen, nicht ohne sich gleichzeitig für eine schrittweise Harmonisierung auszusprechen, wenn sie langfristig bestehen bleiben sollten. Allgemein sahen sie in der Angleichung von Rechtsvorschriften jedoch keine „unbedingte Voraussetzung für die Verwirklichung“132 des Gemeinsamen Marktes. 130 Einige Ausnahmen, die nicht im Widerspruch zu den Zielen des Vertrags oder im Interesse der Allgemeinheit ständen, waren im Spaak-Bericht aufgelistet. Allgemein zählten nach Auffassung der Regierungsvertreter direkte Zahlungen an einzelne Verbraucher im Rahmen der Sozial- und Umverteilungspolitik dazu, da hier weder der Produktionskreislauf beeinträchtigt würde noch die Empfänger im wirtschaftlichen Wettbewerb miteinander ständen. Dieses Argument galt „auch für Beihilfen an gemeinnützige Einrichtungen, wie Schulen, Krankenhäuser, Forschungsinstitute und Wohltätigkeitseinrichtungen.“ Auch Infrastruktursubventionen zur Erschließung einzelner Regionen, zur „Förderung einer Dezentralisierung der Industrie“ oder Subventionen im Rahmen des Strukturwandels von der Agrarwirtschaft und -gesellschaft zur Industriegesellschaft sollten allgemein gebilligt werden. Vgl. ebd.: S. 302. 131 Auch folgendes Zitat: Ebd.: S. 303. 132 Ebd.: S. 305.
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Der Spaak-Bericht hatte die zentralen Elemente einer Wettbewerbspolitik zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes aufgezeigt. Auf Grund des Fachwissens waren erste Lösungsmöglichkeiten erarbeitet worden. Angesichts der unterschiedlichen Vorstellungen in den sechs Staaten über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft und den Erfahrungen bei der Einführung nationalen Wettbewerbsrechts blieb abzuwarten, wie der Spaak-Bericht allgemein und die Vorschläge zur Wettbewerbspolitik im Speziellen aufgenommen würden und für welche wettbewerbspolitischen Instrumente sich die Staaten entscheiden würden. D.2.d Reaktionen auf den Spaak-Bericht als Grundlage von Verhandlungen Der Spaak-Bericht stieß in den Benelux-Staaten und in Italien auf allgemeine Zustimmung. Speziell in den Niederlanden war man über die liberale Grundhaltung erfreut, besonders wegen des Gegengewichts zu der französischen Bevorzugung dirigistischer Wirtschaftspolitik.133 Auch die italienischen Interessen an einem alle Sektoren, auch die Agrarwirtschaft, umfassenden Gemeinsamen Markt mit gradualem Abbau aller Zollschranken, an „free competition unhampered by state intervention or by monopolistic control by individual companies“134 und am Ziel der lediglich von einigen Schutzklauseln begleiteten Freizügigkeit von Menschen und Kapital, waren im Spaak-Bericht enthalten. Bei der Angleichung der Wettbewerbsverhältnisse durch eine liberale gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik erhielt die italienische Regierung Unterstützung der Wirtschaft.135 In Paris sah sich die im Prinzip kooperationsfreundliche ‚Regierungstroika‘ von Regierungschef Mollet, Außenminister Pineau und dessen Staatssekretär Maurice Faure dem Widerstand der eigenen Administration und dem des Wirtschafts- und Finanzministeriums gegenüber. Die Zustimmung zum EURATOM-Projekt war gepaart mit vehementer Ablehnung des Gemeinsamen Marktes, die in die Forderung mündete, zunächst nur die erste Etappe des Gemeinsamen Marktes zu vereinbaren und weitere Schritte neu zu verhandeln. Die Sorgen um die Wettbewerbsfähigkeit des schwachen und angeschlagenen Wirtschafts- und Finanzsystems und die Furcht, dass vom gemeinsamen Markt vor allem die deutsche Wirtschaft profitieren würde, waren die Ursachen der einen Argumentationslinie. Der französische Finanz- und Wirtschaftsminister Paul Ramadier sah die liberale Ausrichtung des Spaak-Reports, der geprägt war vom Bekenntnis zu freiem Wettbewerb, autonomem Unternehmertum und Marktwirtschaftlichen Prinzipien, mit Unbehagen. Er fürchtete, dass die Akzeptanz der wirtschaftspolitischen Inhalte des Spaak-Berichts eine neuerliche Diskussion über die französische Wirtschaftspolitik mit den Schwerpunkten auf staatlichen Eingriffe und Bevorzugung des öffentlichen Sektors auslösen würde. Nicht zuletzt die undeutliche Abgrenzung zwischen ‚concurrence loyal‘ und ‚libre concurrence‘ und die mögliche Beeinflussung der französischen Politik durch eine gemein133 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 253f. 134 Willis: Italy chooses Europe. S. 57. 135 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 366.
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schaftliche Wirtschaftspolitik für den Gemeinsamen Markt ließen Ramadier am Projekt ‚Gemeinsamer Markt‘ zweifeln.136 Die pointierte Einschätzung des späteren Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Rolf Lahr im Mai 1953, in Frankreich sei „der freie Wettbewerb, Erhards Zauberformel, [...] unbeliebt, weil anstrengend“, schien zu diesem Zeitpunkt noch immer gültig zu sein.137 Die andere Reihe der Ablehnung bildete die Bürokratie. Die „feindselige Einstellung gegen die Supranationalität“ war nämlich nicht nur im Parlament vorhanden, sondern auch die Mehrheit der „Feudalherren der Verwaltung“ lehnte es entschieden ab, Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse abzutreten.138 Das wachsende französische Handelsdefizit hatte immer schwerwiegendere Folgen für das Preisniveau, mit verstärkt negativen Folgen für den Export und das wachsende Staatsdefizit.139 Das Interesse der französischen Wirtschaft, neue Absatzmärkte zu erschließen, wurde immer mehr auch zum Interesse der Staatsführung. Mollet setzte auf industrielle und landwirtschaftliche Expansion in benachbarte europäische Märkte, um binnenwirtschaftliche Probleme in den Griff zu bekommen.140 So konnte Pineau zwar Ende Mai 1956 mit einer grundsätzlichen Zustimmung zum Gemeinsamen Markt zur Außenministerkonferenz nach Venedig fahren, war aber von seinen Kabinettskollegen mit einigen Bedingungen schwer beladen worden. Seinem französischen Kollegen ähnliche Bedenken bewegten den Wirtschaftsminister in Bonn, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Erhards Ministerium hatte zuletzt weniger Einfluss auf den Bericht nehmen können, als ihm lieb gewesen war. Das vorliegende Konzept drohte nach seiner Auffassung von offeneren Weltwirtschaftsbeziehungen eher weg- und zu kleinteiliger Kooperation hinzuführen.141 Hingegen wurde der Inhalt des Spaak-Berichts in seinem Ministerium zunehmend positiv aufgenommen. Speziell die Zustimmung der beiden Leiter der Unterabteilungen für Grundsatzfragen und für die Montanunion Hans von Boeckh und Hans von der Groeben konnte einen Stimmungswechsel herbeiführen.142 Bundeskanzler Adenauer hatte sich noch im März im Bundestag zur Ausdehnung des gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl „auf alle Wirtschaftsgüter“
136 Vgl. Minister für Finanzen und wirtschaftliche Angelegenheiten Ramadier. Aufzeichnung vom 2. Mai 1956. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 2. S. 785–787. S. 785; Guillen: Europe as a Cure. S. 511f.; Lappenküper: Die Deutsch-französische Beziehungen. S. 1012–1015. 137 Lahr, Rolf: Zeuge von Fall und Aufstieg. Private Briefe 1934–1974. Vorwort Marion Gräfin Dönhoff. Hamburg 1981. S. 197. 138 Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 5f. Vgl. auch Marjolin: Meine Leidenschaft Europa. S. 320f. 139 Das Außenhandelsdefizit stieg im Jahr 1956 auf 4255 Mio. DM, nachdem es im Jahr zuvor einen geringen Überschuss von 736 Mio. DM gegeben hatte. Aber auch in den folgenden Jahren blieb es beim Außenhandelsdefizit: 1957: Defizit von 4140 Mio. DM; 1958: Defizit von 2044 Mio. DM. Quelle: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland. 1957ff. 140 Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 13f. 141 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 257. 142 Vgl. Löffler: Soziale Marktwirtschaft. S. 557f.
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bekannt.143 Im Auswärtigen Amt wurde der Bericht ebenfalls einhellig begrüßt und in der Kabinettssitzung am 9. Mai nutzte Adenauer den offiziellen Charakter des Spaak-Berichts als Sammlung von Vorschlägen, um jede inhaltliche Detailkritik zurückzuweisen, namentlich jene aus dem Landwirtschaftsministerium.144 Die Bundesregierung beschloss, sich bei der anstehenden Außenministerkonferenz in Venedig für Vertragsverhandlungen auf Basis des Spaak-Berichts einzusetzen.145 Erhard war es gegen Adenauer und das Auswärtige Amt nicht gelungen, konkrete Konditionen für die Aufnahme von Vertragsverhandlungen im Kabinett durchzusetzen. Er traute der wirtschaftlichen Kompetenz im Auswärtigen Amt nicht, so dass er noch kurz vor der Außenministerkonferenz an von Brentano sowie in Durchschrift an den nach Venedig reisenden Staatssekretär Hallstein schrieb und auf die wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten eines Gemeinsamen Marktes hinwies. Sollten „Zuständigkeiten und Verantwortu(n)gen bei den Regierungen der Mitgliedstaaten“ verbleiben, dann sei nur „eine gesunde, freiheitliche wirtschaftspolitische Konzeption“ als Basis der dabei erforderlichen Abstimmungen der Wirtschaftspolitiken, und damit auch der Wettbewerbspolitiken, denkbar. Unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg des Projektes war für Erhard, dass sich dabei „eine möglichst freiheitliche Konzeption durchsetzt(e).“146 Die Stellungnahme der deutschen Wirtschaft zum Spaak-Bericht war verhalten bis positiv. Rhenisch betont, dass im Frühjahr 1956 von Seiten des BDI trotz schwerer Verstimmungen zwischen Industrie und Regierung aufgrund der Konjunktur- und Kartellpolitik Erhards keine „Querschüsse“ gegen die Europapolitik Adenauers zu erwarten waren.147 Küsters weist auf die Zusicherung des BDI-Präsidenten Berg gegenüber Adenauer hin, „dass der BDI dem Integrationskurs der Bundesregierung voll zustimme.“148 Im Prinzip bestanden gute Kontakte zwischen der Regierung und den Industriellen, die im Nachhinein nach außen nicht unerwähnt ließen, dass sie „in dankenswerter Weise fortlaufend sehr sorgfältig unterrichtet worden“ waren.149 Intern jedoch war Berg im Januar 1956 unzufrieden mit der Beteiligung der Wirtschaft an den Gesprächen in Brüssel und der Einflussnahme des BDI auf die Verhandlungen. Er protestierte persönlich bei Adenauer und wies darauf hin, dass die Verbände in anderen Ländern besser 143 Erklärung der Bundesregierung in der Europadebatte vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 28. 137. Sitzung am 22. März 1956. S. 7071(B)–7072(B). S. 7072(A). 144 Vgl. Groeben: Deutschland und Europa. S. 278f.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 257f. 145 Bundeskabinett am 9. Mai 1956: Vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Hrsg. für das Bundesarchiv von Friedrich P. Kahlenberg. Bd. 9. Berab. von Ursula Hüllbusch. München 1998. S. 341–350. S. 349f. 146 Erhard an von Brentano, 26. Mai 1956. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 1. S. 598–601. S. 598f. 147 Vgl. Rhenisch: Europäische Integration. S. 138. Ähnlich bei Bührer: German Industry and European Integration. S. 105. 148 Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 660. 149 Jahresbericht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. 1. Mai 1955–30. April 1956, vorgelegt der 7. ordentlichen Mitgliederversammlung in Köln am 24. Mai 1956. S. 25.
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informiert wären.150 Inhaltlich war man hingegen von Seiten des BDI mit dem Spaak-Bericht zufrieden. Ausnahmen bildeten der potentielle Verlust der deutschen Agrarimporte als Verhandlungsmasse bei internationalen Handelsverträgen, die als ungenügend bewerteten Harmonisierungsbestrebungen beim Steuersystem und den Arbeitsbedingungen und die vorgeschlagenen Wettbewerbsregeln.151 Auch wenn der BDI im Gegensatz zu Adenauer „von jeher die Auffassung“ vertrat, dass die wirtschaftliche der politischen Integration vorausgehen müsste, entsprach die verstärkte europäische Zusammenarbeit allgemein einem der „stärksten Anliegen“ der Industrie.152 Die Auflösung des Junktims zwischen einer Organisation für die Atomenergie und dem Gemeinsamen Markt barg nach Ansicht des BDI die Gefahr des „Rückfall(es) in die Politik der Teilunionen“.153 Die damit verbundenen Wirtschaftsprobleme waren eine der Ursachen der starken Präferenzen für die europäische Gesamtintegration der Wirtschaft in Westdeutschland gewesen, so dass der BDI hier der Regierung den Rücken stärkte und sich vehement gegen Teilintegrationskonzepte aussprach. In Frankreich befürchteten kleine Unternehmer, Handwerk und Handel, dass Rationalisierung, Spezialisierung und Modernisierung, angestoßen durch den Gemeinsamen Markt, vor allem zu ihren Lasten gehen würden und lehnten ihn infolgedessen ab. Die zunächst ablehnende Haltung bei den französischen Industriellen im Juli 1956, organisiert im ‚Conseil National du Patronat Français‘ (CNPF), begründet Guillen vor allem strategisch. Gemeinsam mit der Opposition zum Kooperationsprojekt wollten sie durchsetzen, dass notwendige Modernisierungsmaßnahmen in der Wirtschaft durch staatliche Schutzklauseln abgefedert würden. Der CNPF verfolgte die Strategie, mit hohen Forderungen auf die staatlich verursachte, geringe Wettbewerbsfähigkeit hinzuweisen. Speziell die hohen Sozialstandards, von der Regierung Mollet in Frankreich gerade erst durchgesetzt, sollten auch für andere Unternehmen im Gemeinsamen Markt gelten.154 Auch wenn bei deutschen und französischen Industriellen das gemeinsame Ziel überwog, den verhältnismäßig regen Handel der späten 1920er Jahre wieder herzustellen, richteten sich die Bestrebungen von französischer Seite als Folge der seitdem veränderten Wettbewerbsverhältnisse auf die stärkere Angleichung der Soziallasten für die Unternehmer. Die damit verbundene Forderung nach Harmonisierung wesentlicher arbeitsrechtlicher Rahmenbedingungen auf dem hohen französischen Niveau war allerdings für die deutschen Unternehmer unannehm-
150 Vgl. Braunthal: Federation of German Industry. S. 321f. 151 Vgl. Bührer, Werner; Schröder, Hans-Jürgen: Germany's Economic Revival in the 1950s. The Foreign Policy Perspective. In: Di Nolfo (Hrsg.): Power in Europe? S. 174–196. S. 193f. 152 Jahresbericht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. 1956. S. 25. Dies bestätigt die Analyse Wahrhaftigs, wonach Adenauer zwar das Vertrauen der Wirtschaft genoss, aber recht immun gegen Forderungen der Industrieverbände war. Vgl. Wahrhaftig: Development of German Foreign Policy. S. 45. 153 Jahresbericht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. 1956. S. 25. 154 Vgl. Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 15ff.
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bar.155 Dementsprechend wichen Einschätzung und Wahrnehmung der geplanten Wirtschaftsintegration durch den BDI und den CNPF, die seit den frühen 1950er Jahren auch aufgrund des persönlichen Verhältnisses der beiden Präsidenten Fritz Berg und Georges Villiers gute Kontakte unterhielten, stark voneinander ab.156 Die einen befürchteten negative Folgen ihrer geringen Wettbewerbsfähigkeit und forderten Protektionismus, die anderen verbanden mit dem Gemeinsamen Markt die Hoffnung auf eine größere Freihandelszone.157 Die Außenminister der sechs EGKS-Staaten mussten bei ihrer Konferenz in Venedig am 29. und 30. Mai 1956 angesichts des vorliegenden Spaak-Berichts über das weitere Vorgehen entscheiden.158 Rein theoretisch hätte der SpaakBericht ohne Konsequenzen in der Schublade verschwinden können, wenn sich nicht starke Präferenzen für die Marktausdehnung in Westdeutschland, den Niederlanden, Italien und zunehmend auch in Frankreich hätten durchsetzen können.159 Obwohl der französische Außenminister Pineau Vorbehalte deutlich machte, kam es für einige Beteiligte überraschend schnell zu der Einigung, den Spaak-Bericht zur Grundlage weiterer Verhandlungen zu machen.160 Dies bedeutete nicht die uneingeschränkte inhaltliche Zustimmung aller Regierungen zum Spaak-Bericht. Pineau machte deutlich, dass die Einbeziehung überseeischer Gebiete in den Gemeinsamen Markt, die Angleichung der Sozialstandards und die Modalitäten des Übergangs von der ersten zur zweiten Stufe der Integration der Märkte für seine Regierung noch nicht zufriedenstellend geregelt waren und die französische Regierung hier weitere Interessen hatte, die vor einer Zustimmung zu einem Vertrag berücksichtigt werden mussten.161 Daraufhin nannten auch die anderen Regierungen Vorbehalte, deren wichtigster die gemeinsame Betonung des Junktims zwischen dem Gemeinsamen Markt und der Atomgemeinschaft gegenüber der französischen Regierung war. Während Bech und Beyen institutionelle Vorbedingungen anmerkten, die die Stellung der kleinen Länder sichern sollte, und Gaetano Martino die Relevanz des Entwicklungsfonds, der Freizügigkeit der Arbeitskräfte und Fortführung der Liberalisierungsverhandlungen mit dritten Staaten für Italien hervorhob, betonte Hallstein die deutsche Abneigung
155 Zu den gemeinsamen und konfligierenden Interessen der französischen und der deutschen Industrie seit Ende der 1940er Jahre vgl. Bührer, Werner: Wirtschaftliche Akteure und die deutsch-französische Zusammenarbeit. Formen, Ziele, Einfluss. In: Defrance; Pfeil (Hrsg.): Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen. S. 183–195. S. 190ff. 156 Vgl. Bührer: Wirtschaftliche Akteure. S. 186ff. 157 Vgl. Bührer; Schröder: Germany's Economic Revival in the 1950s. S. 194. 158 Unter Vorsitz des französischen Außenministers Christian Pineau trafen sich: Paul-Henri Spaak (BL), Walter Hallstein (BRD), Maurice Faure (F), Gaetano Martino (I), Joseph Bech (LUX) und Johan Willem Beyen (NL). 159 Guillen: Europe as a Cure. S. 510. 160 Vgl. Groeben: Deutschland und Europa. S. 279; Spaak: Memoiren. S. 319; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 188. 161 Zu den Hintergründen dieser Vorbehalte der ansonsten kooperationsfreundlichen MolletRegierung vgl. Guillen: Europe as a Cure. S. 508f.
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gegen interventionistische Maßnahmen und forderte eine Wettbewerbsordnung für den Gemeinsamen Markt.162 Diese einschränkenden Stellungnahmen der Regierungen wurden als zu diskutierende Punkte aufgenommen und an die Regierungskonferenz verwiesen. Aufgrund der nationalen Interessen Frankreichs in Afrika und Übersee machte die französische Regierung in Venedig „die Einbeziehung der überseeischen Territorien in den Gemeinsamen Markt zu einer conditio sine qua non.“163 Um Frankreich keinen Vorwand zu geben, den Integrationsprozess zu unterbrechen, stimmten die anderen Regierungen dem weiteren Austausch über dieses Thema im Kreis der Außenminister zu und kamen überein, diesbezügliche Beschlüsse auf politischer Ebene zu treffen.164 Jedoch sah niemand die Notwendigkeit, zu diesem Zeitpunkt Detailfragen zu diskutieren. Wie schon bei den vorangegangenen Treffen betonten die Außenminister auch bei diesem, dass die angestrebten Projekte nicht exklusiv sein sollten, sondern beauftragten die Konferenz, in den Vertrag Bestimmungen aufzunehmen, die spätere Beitritte oder Assoziierungen zulassen würden.165 Zur Erklärung des Erfolgs des ‚Spaak-Ausschusses‘, einen von allen Regierungen als Verhandlungsgrundlage akzeptierten Bericht erstellt zu haben, wurde die Unabhängigkeit seiner Mitglieder hervorgehoben.166 Jedoch muss dem mindestens für die französische Delegation widersprochen werden. Hier hatte es detaillierte Anweisungen für den Atomenergie- und den Verkehrsausschuss gegeben und erst nach dem Regierungswechsel und der politischen Entscheidung, sich konstruktiv an den Gesprächen über die Wirtschaftsintegration zu beteiligen, war Bewegung in die Gespräche gekommen. Andere Delegationen, allen voran die italienische, waren von vornherein freier gewesen und ohne inhaltliche Vorgaben nach Brüssel gesendet worden.167 Sie waren nicht an Weisungen ihrer Regierungen gebunden gewesen und hatten somit sachbezogen diskutiert. Auch wenn teilweise enge Abstimmungen zwischen den Delegationsleitern und den nationalen Regierungen stattfanden, enthielt der Bericht – nicht zuletzt durch die Verstärkung der Unabhängigkeit der Verfasser des Abschlussberichts Uri und von der Groeben durch Spaak –auch die ein oder andere Formulierung, die von einigen Regierungen eigentlich nicht getragen wurde. Die politische Kraft, die der Spaak162 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 262; Willis: Italy chooses Europe. S. 58. 163 Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 8. 164 Ebenso wurde deutlich, dass die politisch brisante Frage der potentiellen Nutzung der Atomenergie zu militärischen Zwecken bei den Verhandlungen zu klären wäre. Zur dieser und anderen Fragen bei den Vertragsverhandlungen vgl. die grundlegenden Werke: Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 294–321 und S. 335–411; Weilemann: Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. S. 99ff. und S. 103–132; Loth: Weg nach Europa. S. 118–131. 165 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Nr. 99. 2. Juni 1956. S. 961. 166 Vgl. Groeben: Deutschland und Europa. S. 276. 167 Vgl. Willis: Italy chooses Europe. S. 56; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 154f.
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Bericht entwickelte, lag aber auch darin, dass alle Regierungen ihm zustimmen konnten, ohne juristische Verbindlichkeiten einzugehen. Wie bereits beim Abschlusskommuniqué von Messina gab keine Regierung mit der Zustimmung zum Spaak-Bericht als Grundlage weiterer Verhandlungen ihr Vetorecht über weitere Schritte aus der Hand. Der Spaak-Bericht konnte als nicht mehr als eine Empfehlung von Sachverständigen gesehen werden, die in Kenntnis der nationalen Präferenzen Optionen einer möglichen Kooperation aufgezeigt hatten.168 Neben den wichtigen äußeren politischen Ereignissen, wie dem Regierungswechsel in Frankreich und dem von fünf Staaten vehement verfochtenen Junktim zwischen der Atomgemeinschaft und dem Gemeinsamen Markt, lag der Erfolg des Ausschusses auch in der eigenmächtigen Kompetenzüberschreitung Spaaks. In Messina hatten alle Außenminister deshalb dem Projekt zustimmen können, weil die Expertenkonferenz den Auftrag bekam, unverbindliche Untersuchungen über die Möglichkeiten zur Fortsetzung der Kooperation anzustellen und eine potentielle Regierungskonferenz vorzubereiten. Spaaks Versuch, einen möglichst konsistenten und greifbaren Vorschlag zu erarbeiten, der als Grundlage konkreter Vertragsverhandlungen dienen konnte, ging über diesen Auftrag hinaus.169 Sein Vorgehen, dem Lenkungsausschuss einen Bericht vorzulegen, der durch ein kleines und nur von ihm beauftragtes Team erarbeitet worden war, hatte zahlreiche Meinungsverschiedenheiten der Staaten im Detail überdeckt. Im Ergebnis war Spaak dafür verantwortlich, dass alle Staaten ihre Anliegen vertreten sahen und daher über das ein oder andere Problem erst einmal hinwegsahen. Die Tatsache, dass Spaak mit Uri und von der Groeben zwei Personen zusammenspannte, die einerseits vom Projekt politisch überzeugt waren und andererseits Vertreter der beiden größten Nationen waren, auf deren Ausgleich es ankam, war ein weiterer wichtiger Faktor. Die beiden jeweils gemäßigten Verfechter des deutschen liberalen Ansatzes und des französischen Planifications-Ansatzes ebneten den Weg zu Kompromissen, die durch das Verständnis dieser beiden Personen für die jeweiligen Extrempräferenzen in ihren Heimatländern ermöglicht wurden.170 Der Spaak-Bericht enthielt grundlegende Vorschläge für einen marktwirtschaftlich ausgerichteten Gemeinsamen Markt, mit dessen Billigung sich die Regierungen prinzipiell zu den marktwirtschaftlichen Funktionen des Wettbewerbs bekannten. Die damit ebenfalls akzeptierten Vorschläge zur Sicherung des Wettbewerbs waren vereinzelt klar und präzise, verdeckten aber über weite Strecken auch Meinungsunterschiede über gemeinsame Wettbewerbsregeln. Insgesamt hatten die Empfehlungen zu den Wettbewerbsregeln eine stark liberale Prägung, zeigten aber häufig nur Lösungsmöglichkeiten. Hier waren politische Entscheidungen gefordert, bei denen mögliche gemeinsame und konfligierende Interessen in Übereinstimmung gebracht werden mussten. Grundsätzlich sollte ein 168 Dieser Standpunkt verhinderte, dass der Gesamtverhandlungsprozess wegen Kritik im Detail zu früh ins Stocken geriet. Vgl. beispielhaft: Groeben: Deutschland und Europa. S 279. 169 Vgl. Spaak: Memoiren. S. 318. 170 Von der Groeben hatte Uri 1953 noch als „economic doctrionaire“ und als das schlimmste, was der administrativen Abteilung der EGKS geschehen konnte bezeichnet. Vgl. Gillingham: Coal, steel, and the rebirth of Europe. S. 356f.
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möglicher Vertrag Sorge dafür tragen, dass die staatlich gesetzten Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen im Gemeinsamen Markt gleich bis ähnlich sein würden. Parallel zum Abbau der staatlichen tarifären und nicht-tarifären Handelsbarrieren sollte zunächst der Aufbau privater Handelshemmnisse verhindert werden. Wettbewerbsregeln für Unternehmen wurden ausdrücklich gefordert und Diskriminierungen aufgrund von Staatsangehörigkeit sollten grundsätzlich verboten werden. Zur Monopolverhinderung schlug der Spaak-Bericht eine Fusionskontrolle vor, wie sie der EGKS-Vertrag kannte. Möglichkeiten für gemeinsame Regeln und Verfahren wurden aufgezeigt, sollten jedoch keine Voraussetzung für die Einigung auf gemeinsame Wettbewerbsgrundsätze werden. Der Bericht hatte offen gelassen, ob nur den zwischenstaatlichen Handel behindernde Diskriminierungen oder auch andere wettbewerbsbeeinträchtigende Maßnahmen durch eine gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik geregelt werden sollten. Ein eindeutiges wettbewerbspolitisches Konzept enthielt der Spaak-Bericht nicht. Wettbewerbsbeschränkende Strategien wurden vor allem von ihrer Wirkung her bewertet, nicht von der Erscheinungsform der Verursacher. Die getrennte Behandlung von Wettbewerbsbehinderungen von einem oder mehreren Unternehmen aufgrund von marktbeherrschender Stellung oder aufgrund von Absprachen war nicht vorgesehen. Die Regierungssachverständigen hatten sich zudem gegen die staatliche Bevorzugung einzelner Branchen oder Unternehmen ausgesprochen. Deshalb sollten nach Umsetzung der Handelsliberalisierungen in einem zweiten Schritt protektionistische, staatliche Maßnahmen für einzelne Unternehmen oder Branchen abgebaut werden. Grundsätzlich plädierte der Spaak-Bericht dafür, bei möglichen Harmonisierungen der Rechtssysteme der Staaten, die freien Markträfte nicht außer Kraft zu setzen und wies darauf hin, dass unterschiedliche Produktionskosten der unterschiedlichen Produktivität der jeweiligen Industrien und Regionen entsprachen. „Die Grundlagen einer Wirtschaft [...] von oben herab zu ändern“ wurde mit dem Argument abgelehnt, dass es Aufgabe des unverfälschten Wettbewerbs sei, diese Unterschiede durch optimale Allokation der Produktionsfaktoren zu mäßigen.171 Angesichts der französischen Vorbehalte blieb abzuwarten, ob dieser liberale Geist des Spaak-Berichts auch in einen verbindlichen internationalen Vertrag Eingang finden würde.
171 Nach dem Bericht setzte sich die Basis der Wirtschaft „aus ihren natürlichen Hilfsquellen, dem Grad ihrer Produktivität und dem Umfang der öffentlichen Lasten“ zusammen. Vgl. Spaak-Bericht. Abgedr. in: Schwarz (Hrsg.): Aufbau Europas. S. 303.
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D.3 DIE EINIGUNG AUF GRUNDSÄTZE EINER EUROPÄISCHEN WETTBEWERBSORDNUNG IM EWG-VERTRAG D.3.a Positionierungen vor Verhandlungsbeginn In Venedig hatte sich erneut gezeigt, dass die sechs Staaten ein gemeinsames Interesse an der Ausdehnung der begonnenen Kooperation, aber auch eine Reihe konfligierender Interessen hatten, die vor der Unterzeichnung von Verträgen zum Ausgleich gebracht werden mussten. Dieser Tatsache waren sich die Außenminister bewusst, so dass sie sich einigten, nur die Richtung des Integrationsprozesses festzuhalten und nicht dessen Entwicklung durch Diskussionen über Detailfragen aufzuhalten. Diese delegierten sie an die Regierungskonferenz.172 Die im Spaak-Bericht dargelegte Ausrichtung von gemeinsamen Wettbewerbsregeln für den Gemeinsamen Markt war in Venedig von keiner der Delegationen in Frage gestellt worden.173 Hallstein hatte deren Relevanz für die Bundesregierung betont. Die französische Regierung hatte sich auch für gleiche Wettbewerbsgrundlagen vor Vertragsabschluss ausgesprochen, worunter sie allerdings in erster Linie die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen durch Übertragung der hohen gesetzlichen Sozialstandards verstand. Diese beiden Anliegen deuteten unterschiedliche wirtschaftspolitische Zielssetzungen an, so dass bei den Vertragsverhandlungen mit Kontoversen über die Konzeption der Wettbewerbspolitik zu rechnen war. Der Spaak-Bericht enthielt über weite Strecken nur Empfehlungen, über die nun von den Staaten einstimmig entschieden werden musste. Geltungsbereich und Durchführungsverantwortlichkeit mussten ebenso festgelegt werden wie Einigung über die grundsätzliche Frage herzustellen war, ob die im Spaak-Bericht vorgesehene Wettbewerbspolitik dem Verbots- oder dem Missbrauchsprinzip folgen sollte. Am 26. Juni 1956 kam die Regierungskonferenz in Brüssel zum ersten Mal zusammen. Der belgische Außenminister Spaak war auf Vorschlag des französischen Außenministers Pineau erneut von seinen Kollegen dafür gewonnen worden, die Konferenz zu leiten und damit seine im Regierungsausschuss begonnene Arbeit fortzusetzen. Die Arbeiten an einem Vertrag sollten in je einem Ausschuss für die Atomgemeinschaft und einem für den Gemeinsamen Markt stattfinden und jeweils durch einen Vertreter derjenigen Nation geleitet werden, die das höchste Interesse an der Kooperation auf dem Gebiet hatte. Dadurch hoffte Spaak, bewusste Verzögerungen durch die Verhandlungsführung zu verhindern. Als Vorsitzenden des Ausschusses für den Gemeinsamen Markt gewann Spaak von der Groeben.174 Zusätzlich wurde eine Redaktionsgruppe eingerichtet, 172 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 262, speziell FN 353. 173 Vgl. ebd. S. 364. 174 Als feststand, dass Spaak den Vorsitz des Atomausschusses mit dem Franzosen (Piere Guillaumat) und den des Ausschusses Gemeinsamer Markt mit einem Deutschen besetzten
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die ausschließlich mit Juristen besetzt war und primär die Aufgabe hatte, die inhaltlichen Ergebnisse der beiden anderen Arbeitsgruppen in vertragsfertigen Text umzusetzen. Wie schon bei den Verhandlungen des Regierungsausschusses fungierte auch bei der Regierungskonferenz der Delegationsleiterausschuss, dem Spaak vorsaß, als Lenkungsausschuss, um abschließende politische Beschlüsse zu treffen oder in Zweifelsfällen Entscheidungsvorlagen an die Außenminister vorzubereiten. Veränderungen im Leitungsausschuss gab es gegenüber dem Regierungsausschuss nur bei der französischen und der niederländischen Delegation. Staatssekretär Faure wurde Leiter der französischen Delegation. Sein Stellvertreter Robert Marjolin, erster Generalsekretär der OEEC, hatte die Aufgabe, engen Kontakt zu den gesellschaftlichen Gruppen in Frankreich zu halten.175 Johannes Linthorst Homan, Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium der Niederlande, wurde neuer Kopf der niederländischen Delegation im Lenkungsausschuss. Die inhaltlichen Arbeitsgruppen setzten sich aus jeweils nationalen Verhandlungsführern und Sachverständigen zusammen. In dem für die Wettbewerbsfragen zuständigen Ausschuss für den Gemeinsamen Markt handelte es sich um leitende Beamte, die zu einem großen Teil seit dem Schuman-Plan mit europäischen Verhandlungen vertraut waren. Die italienische Delegation bestand überwiegend aus dem Team, das im Regierungsausschuss die italienischen Interessen vertreten hatte. Sie war auch in die Regierungskonferenz ohne formalen Auftrag geschickt worden.176 In Rom vertraute man auf die junge Gruppe, von der einige durch den ‚Europäer‘ Alicede De Gasperi geprägt worden waren, andere durch ihre Mitarbeit bei der OEEC handelsliberale Einstellungen vertraten.177 Mit Franco Bobba, ehemaliger Assistent De Gasperis, war auch ein Beteiligter der EGKSVerhandlungen Mitglied der italienischen Delegation.178 Dies galt ebenso für den französischen Sprecher Olivier Wormser.179 Theodor Hijzen ergriff für die Niederländer das Wort, der Belgier van Tichelen für seine Regierung und Albert Duhr für die Luxemburger Delegation. Das Bonner Wirtschaftsministerium, das nach internen Kompetenzstreitigkeiten mit dem Außenministerium um die Verhandlungsführung den Sprecher im Ausschuss Gemeinsamer Markt stellte,
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wollte, sprach Erhard sich für Müller-Armack aus, da von der Groeben ihm „zu integrationsfreundlich war“, so von der Groeben 2002. Spaak und Adenauer bevorzugten jedoch den weniger wirtschaftsdogmatischen von der Groeben, zumal Müller-Armacks Position zum Gesamtprojekt unklar war. Vgl. Groeben: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. S. 14; ders.: Deutschland und Europa. S. 279f.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 273f. Vgl. Marjolin: Meine Leidenschaft Europa. S. 330f. Vgl. Willis: Italy chooses Europe. S. 59. Angesichts von sechs Regierungen in der zweiten Legislaturperiode (1953–1958) darf auch unter principal-agent-theoretischem Gesichtspunkt von hoher Unabhängigkeit der italienischen Regierungsvertreter von nationalen Präferenzen ausgegangen werden. Vgl. Willis: Italy chooses Europe.S. 56. Wormser hatte im Sommer 1955 aus der Außenhandelsabteilung des Quai d’Orsay vermutlich scharf gegen eine Teilnahme Frankreichs am Gemeinsamen Markt Stellung bezogen. Vgl. Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 172.
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entsandte Müller-Armack, sein Stellvertreter wurde von Boeckh.180 Dieser, ein in Freiburg promovierter Jurist, war Leiter der Unterabteilung für Grundsatzfragen im Bonner Wirtschaftsministerium, dessen europakritische Mitarbeiter auf Erhards Linie lagen und als „ministeriumsinterne Kontrahenten“ der europafreundlichen Montanunionsunterabteilung unter der Leitung von der Groebens gegenüberstanden.181 Von Boeckh selbst hingegen, aber auch Müller-Armack, setzte sich zunehmend von den Weisungen Erhards ab und tendierte zur Errichtung von supranationalen Organisationen mit Entscheidungsmacht.182 Zwischen der Konferenz von Venedig und dem Beginn der Regierungsverhandlungen wurden in den Hauptstädten und in Brüssel auf Basis des SpaakBerichts intensiv Standpunkte und Verhandlungsunterlagen erarbeitet. Im Sekretariat der Regierungskonferenz in Brüssel wurden die Inhalte redaktionell in die Form eines Vertragsentwurfs gebracht und strukturiert.183 Der Absatz über Wettbewerbsregeln für Unternehmen wurde gespalten. Die Artikel 22 und 23 enthielten das Thema Diskriminierungen und in Artikel 24 wurden unter dem Titel „Monopole“ Kartelle und marktbeherrschende Stellungen behandelt.184 Auch von der Groeben bereitete sich Anfang Juli 1956 nach seiner Berufung zum Vorsitzenden der Gruppe Gemeinsamer Markt in Brüssel auf die Verhandlungen vor, bearbeitete die Vorschläge zu den Wettbewerbsartikeln und machte erste Vorschläge zu deren Konkretisierung.185 Den Artikel 22 und das darin niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot aufgrund von Staatsangehörigkeit wollte er aus den Wettbewerbsregeln für Unternehmen streichen. Die Teile der Wettbewerbsbestimmungen, die Dumping-Praktiken und andere rein handelsbeschränkende Maßnahmen wollte er aus dem Kapitel Gemeinsame Wettbewerbspolitik nehmen und systematisch korrekt zum Kapitel Handelspolitik stellen. Ebenso wich seine Systematisierung der verschiedenen privaten mit dem Gemeinsamen
180 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 273ff. 181 Vgl. Löffler: Soziale Marktwirtschaft. S. 108, S. 546. Zu den verschiedenen europapolitischen Richtungen im Bundeswirtschaftsministerium vgl. ebd.: S. 546–553. 182 Vgl. ebd.: S. 551f. 183 Vgl. Arbeitsunterlage. Entwurf einer Abfassung von Artikeln entsprechend dem Text des Berichts. Brüssel, 20. Juni 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 823–850. Der Spaak-Bericht war im Sekretariat des Regierungsausschusses in Artikel umformuliert worden und diente so für die weiteren Verhandlungen als nützliche und diskutierbare Grundlage. Nach von der Groeben und Schulze und Hoeren ist nicht mehr nachzuvollziehen, wer hierfür im Sekretariat verantwortlich war. Vgl. Groeben: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. S. 18; Groeben: Deutschland und Europa. S. 280; Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 823. 184 Das Thema staatliche Beihilfen wurde unter Artikel 25 zusammengefasst. Vgl. Arbeitsunterlage. Entwurf einer Abfassung von Artikeln entsprechend dem Text des Berichts. Brüssel, 20. Juni 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 823-850. S. 836f. 185 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Vorschläge von Herrn von der Groeben zum Entwurf für die Abfassung von Artikeln betreffend den Gemeinsamen Markt, 4. Juli 1956. MAE 144 d/56 hn. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 148f.
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Markt unvereinbaren Wettbewerbsbeschränkungen in Artikel 24 stark von den ersten Texten des Sekretariats ab, die auf dem Spaak-Bericht basierten.186 Von der Groeben konnte sich mit seinen Empfehlungen in Brüssel bei der Formulierung der ersten Arbeitsgrundlage durch das Sekretariat Mitte Juli jedoch nicht durchsetzen, da die mit den Vorschlägen verbundenen inhaltlichen Änderungen das mögliche Ergebnis von Verhandlungen vorweg genommen hätten.187 Zudem entsprachen die unter dem Titel ‚Vorschläge von Herrn von der Groeben‘ in Brüssel im kleinen Kreis verbreitete Überarbeitung der Artikel fast vollständig einem im Juni 1956 im Bonner Wirtschaftsministerium erarbeiteten und interministeriell abgestimmten ersten Entwurf für die deutsche Verhandlungsposition.188 Im Gegensatz zum Spaak-Bericht sah dieser Textentwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium Ausnahmen von der Fusionskontrolle vor, zum Beispiel für Landwirtschaft und Energie- und Wasserwirtschaft, und war systematisch logisch um eine Missbrauchsaufsicht dieser Sektoren ergänzt worden. Aus dem Bundeswirtschaftsministerium kam bereits im Sommer 1956 der Vorschlag, dass die im Spaak-Bericht erwähnten Durchführungsverordnungen „bis zum Ablauf der ersten Etappe der Übergangszeit“ durch die Kommission erlassen werden sollten. Jedoch sollte nach Bonner Vorstellungen nicht nur die Parlamentarische Versammlung, sondern auch der Rat als Gremium der Regierungen in der ersten Etappe mit Einstimmigkeit und später mit qualifizierter Mehrheit den Verordnungen zustimmen müssen.189 Hier kam erstmals die später im Vertrag festgelegte Vorgehensweise zur Sprache. In diesem frühen Stadium näherte man sich in Bonn den Bestimmungen des Spaak-Berichts zunächst verhalten. Dieser war nicht von der Idee des starken Staates geprägt, der Wettbewerb durch die Setzung einer Wettbewerbsordnung sichert, sondern tendierte mehr zum Modell des moderierenden Staates, der Regeln für das Miteinander aufstellt, diese im Dialog durchzusetzen versucht und die Möglichkeit zur Klage vor Gericht bietet. Der Spaak-Bericht wurde im Juli 186 Vgl. Arbeitsunterlage. Entwurf einer Abfassung von Artikeln entsprechend dem Text des Berichts. Brüssel, 20. Juni 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 823-850. S. 834f. 187 Vgl. ebd.: S. 147f.; Entwurf von Artikel für die Ausarbeitung eines Vertrags über die Gründung eines Gemeinsamen Europäischen Marktes. Brüssel, 17. Juli 1956. Mar. Com. 17. MAE 175 d/56 hn. Auszüge abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 892–905. S. 903f. 188 Von der Groebens Vorschlag vom 4. Juli ist bis auf die Nennung von Preiskartellen textidentisch mit dem deutschen Entwurf. Er hatte allein Preiskartelle als mit den Zielen des Vertrags unvereinbare Wettbewerbsbehinderung gestrichen. Vgl. Vorschläge von Herrn von der Groeben zum Entwurf für die Abfassung von Artikeln betreffend den Gemeinsamen Markt, 4. Juli 1956. MAE 144 d/56 hn. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 148f.; Bundesminister für Wirtschaft. Bonn, 28. Juni 1956. III D 4–71 276/56XI. Anhang. Formeln für die Gestaltung eines Vertragstextes über die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 851–891. S. 863f. 189 Vgl. Bundesminister für Wirtschaft. Bonn, 28. Juni 1956. III D 4–71 276/56XI. Anhang. Formeln für die Gestaltung eines Vertragstextes über die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 851–891. S. 864.
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1956 gleichwohl als Grundlage der Verhandlungen angenommen. Nur die Einrichtung eines die Kommission beratenden Ausschusses wurde abgelehnt, da man die indirekte Offenlegung von unternehmensinternen Vorgängen und Geschäftsgeheimnissen durch dessen Beteiligung an Schlichtungsverfahren als problematisch ansah. Der Entwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium vom Juli 1956 sah lediglich einen von der Kommission zu bildenden Ausschuss vor, an den Beschwerden wegen Verstößen gegen die Wettbewerbsgrundsätze gerichtet werden konnten. Aufgabe der Kommission sollte es dann sein, Streitfälle zu schlichten. Kommission, Mitgliedstaaten und betroffene Unternehmen sollten nach misslungenem Einigungsversuch durch die Kommission Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof haben, wenn sie eine Verletzung der Grundsätze als gegeben ansahen.190 An eine verwaltungsgerichtliche Instanz, wie ein Kartelloder Monopolaufsichtsamt im ordoliberalen Sinn, wurde nicht gedacht. Nicht nur die schwache Stellung eines wie auch immer gestalten Exekutivorgans war für die Vertreter einer klaren ordnenden Wettbewerbspolitik im Bonner Wirtschaftsministerium nicht ausreichend. Ihnen schienen bereits grundlegende Elemente des Entwurfs ungenügend. Kartellreferatsleiter Günther strich in einer internen Stellungnahme zur Vorbereitung der Verhandlungen im Juli 1956 besonders negativ das fehlende Verbot von solchen Kartellen heraus, die Preisabsprachen beträfen. Nach seiner Auffassung war es unzureichend, dass die Wettbewerbsregeln nach einer Übergangszeit von 10 bis 15 Jahren nur für Gebietsabsprachen, Produktionsbeschränkungen und Handelsdiskriminierungen gelten sollten, um die Ziele des Gemeinsamen Marktes zu erreichen. Es war nicht zu akzeptieren, dass zum Beispiel Preisabsprachen erlaubt sein sollten und damit gerade der Preiswettbewerb im gemeinsamen Markt unterbunden werden könnte. Im Zuge der Liberalisierung des Handels sei es nicht ausreichend, nur staatliche Handelsschranken in Form von Zöllen und Kontingenten zu beseitigen, ebenso müssten private Beschränkungen des Handels verhindert bzw. einer Kontrolle unterworfen werden. Das von der Wirtschaft geäußerte Argument gegen internationale Kartellkontrolle, dass der Beschränkung und Kontrolle privater Handelsbeschränkungen der völlige Abbau staatlicher Maßnahmen vorausgehen müsse, wies Günther mit der Begründung zurück, dass es keinerlei Unterschied mache, ob Handelsbeschränkungen auf private oder staatliche Maßnahmen zurück zu führen seien. Beide seien im Interesse des freien internationalen Güteraustausches abzubauen. Ebenso lehnte Günther das Argument ab, dass die internationalen Verflechtungen der meisten Kartelle eine allein europäische Regelung unmöglich machten. Im Gegenteil würde gerade die Bedeutung europäischer Unternehmen in internationalen Kartellen dafür sorgen, dass durch die Verhinderung der Beteiligung dieser Untenehmen an internationalen Absprachen eine zusätzliche positive
190 Ebd. S. 863f.
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Wirkung zu erzielen sei. Zahlreiche internationale Kartelle kämen dann nicht mehr zu Stande, nicht zuletzt wegen der europäischen Kartellrechtsordnung.191 Mit Blick auf die Verhandlungen wies Günther auf den Wandel der französischen Präferenzen seit den Gesprächen über die EPG hin. Er erwartete nicht mehr allein die früheren Forderungen nach Kontrolle und Verhinderung privater und staatlicher Handelsbarrieren und die Behandlung von staatlichen Wettbewerbsverfälschungen aufgrund staatlicher Subventionen und Beihilfen. Darüber hinaus warnte er vor weitergehenden französischen Forderungen nach Beseitigung der Verzerrungen des Wettbewerbs durch unterschiedliche Arbeitsbedingungen, Löhne, soziale Lasten und unterschiedliche Steuer-, Rechts- und Verwaltungssysteme. Den dahinter stehenden Harmonisierungsbestrebungen aus Paris sollte die deutsche Seite entgegen treten. Forderungen nach Angleichung staatlicher und halbstaatlich gesetzter Bedingungen des Wirtschaftslebens gingen weit über die deutschen Vorstellungen von einer gemeinsamen Wettbewerbsordnung hinaus. Gerade die Vorteile aus dem Wettbewerb der Unternehmen um die günstigsten Produktionskosten durch Qualitäts- und Preiswettbewerb müssten den Verbrauchern zugute kommen. Die Produktionskosten staatlicherseits teilweise oder völlig anzugleichen, widersprach hingegen dem Ziel deutscher Wirtschaftspolitik, einen gemeinsamen Markt zu schaffen, der auf dem Prinzip Wettbewerb basierte. Da Absprachen oder marktbeherrschende Stellungen von Unternehmen im gemeinsamen Markt äquivalent zum nationalen Markt behandelt werden mussten, waren auch für den gemeinsamen Markt die wirtschaftspolitisch grundlegenden Entscheidungen notwendig, ob man die damit verbundenen Probleme durch „Erlaubnis derartiger Absprachen mit Verbotsvorbehalt oder durch Verbot mit Erlaubnismöglichkeit“ lösen würde. „Der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung entspricht die 2. Alternative“, betonte Günther.192 In Brüssel kam es derweil in den ersten Monaten noch nicht zu Verhandlungen. Mit einer ersten Lesung des Vertragsentwurfs des Sekretariats auf Basis des Spaak-Berichts sollten zunächst lediglich die nationalen Interessen bei den zahlreichen zu verhandelnden Themen abgetastet werden. Diese erste Lesung dauerte bis in den Oktober und offenbarte vor allem die konfligierenden Interessen. Mögliche Zugeständnisse stellten die Franzosen immer wieder unter den Vorbehalt, dass ihre grundsätzlichen Forderungen, die bei der Konferenz von Venedig zur Sprache gekommen waren, berücksichtigt würden.193 Wirtschaftsminister Ramadier, unterstützt von weiteren Gegnern einer supranationalen Wirtschaftsgemeinschaft, verfolgte weiterhin die Strategie, bei der Atomgemeinschaft auf schnellen Abschluss zu drängen und gleichzeitig beim Gemeinsamen Markt die Verhandlungen möglichst unauffällig zu verzögern. Beim Thema Zollunion versuchte er beispielsweise, die Option zu einseitigen nationalen Schutzmaßnahmen 191 Vgl. Das Kartellproblem in internationaler Beleuchtung, 19. Juli 1956, Vermerk Günther an Erhard (I B 5–2385/56). Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 150–156. S. 155f. 192 Ebd.: S. 156. 193 Zur französischen Verhandlungsposition und deren Entwicklung in den ersten Monaten vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 294–305.
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in Krisensituationen durchzusetzen, was dem Gesamtkonzept einer Zollunion von Grund auf zuwiderlief.194 In Bonn gewann gleichzeitig das Primat des Politischen, von Adenauer vertreten, immer mehr an Gewicht. Ferner bereitete Müller-Armack die Ausrichtung der Verhandlungsposition im wirtschaftsliberalen Geiste vor.195 Wesentliches Prinzip des gemeinsamen Marktes mit dem Kern einer Zollunion sollte die freie Marktwirtschaft werden, die durch Freizügigkeit von Produktionsfaktoren, Gütern und Dienstleistungen geprägt und vom Wettbewerb organisiert wurde. Bei den Verhandlungen wollte Müller-Armack sich auf Grundsätze einer an diesem Prinzip ausgerichteten Wirtschaftspolitik einigen, ohne jedoch die Autonomie nationaler Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Disposition zu stellen. Die Bildung von entscheidungskräftigen Organisationen auf europäischer Ebene war für ihn unumgänglich. Gemeinsame Harmonisierungen von oben wollte er allenfalls als notwendiges Übel zulassen. Jedoch zeigte sich Müller-Armack kompromissbereit bis ambivalent in Bezug auf die Fortschritte in Richtung des Gemeinsamen Marktes. Einerseits sollte er möglichst schnell verwirklicht werden, andererseits sollte kein Land dabei schneller als ihm wirtschaftlich gut täte voranschreiten müssen. Sein Bonner Dienstherr freundete sich mit diesen in den Zielsetzungen klaren, von der Umsetzung nebulösen Vorstellungen an, vertrat hingegen nach außen lautstark seine wirtschaftsdogmatische Position, die kaum Kompromissbereitschaft zeigte. Unter diesen Voraussetzungen in Paris und Bonn war in Brüssel keine schnelle Einigung zu erwarten. Am 24. Juli 1956 beschloss man, die Beratungen in den Herbst zu vertagen.196 D.3.b Die erste Lesung der Wettbewerbsartikel – Grundsätzliche Einigung Parallel zu den beginnenden Vertragsverhandlungen waren im Sekretariat der Regierungskonferenz weitere Vertragsentwürfe entwickelt worden. Der zweite Entwurf vom 17. Juli 1956, der Grundlage für die erste Lesung wurde, berücksichtigte erste Verhandlungsergebnisse und war differenzierter, so dass die Wettbewerbsbestimmungen für Unternehmen in den Artikeln 40 bis 43 zu finden waren.197 Er orientierte sich stark am Spaak-Bericht, wenngleich erste Veränderungen vorgenommen worden waren. Die Fusionskontrolle war nicht mehr explizites Ziel von Durchführungsverordnungen, sondern nur noch die Anwendung des Grundsatzes, dass „völlige oder teilweise Beherrschung des Marktes eines Produktes durch ein einziges Unternehmen“ nicht mit dem Markt vereinbar 194 Vgl. Guillen: Europe as a Cure. S. 511f.; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 207f. 195 Hierzu vgl. Hentschel, Volker: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben. München, Landsberg am Lech 1996. S. 279f. 196 Vgl. Guillen: Europe as a Cure. S. 512. 197 Für die folgenden Ausführungen vgl. Entwurf von Artikel für die Ausarbeitung eines Vertrags über die Gründung eines Gemeinsamen Europäischen Marktes. Brüssel, 17. Juli 1956. Mar. Com. 17. MAE 175 d/56 hn. Auszüge abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 892–905. S. 903f.
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sei.198 Ob die Zustimmung der Versammlung für den Erlass von Durchführungsverordnungen ausreichen würde oder ob auch die des Rates nötig wäre, war eine ebenso offene Frage wie die, ob von den grundsätzlichen Ge- und Verboten Ausnahmen festgeschrieben werden sollten.199 Nach der Sommerpause traf sich die Arbeitsgruppe ‚Gemeinsamer Markt‘ in der ersten Sitzungswoche zur ersten Lesung der Wettbewerbsartikel vom 3. bis 5. September 1956 in Brüssel. Müller-Armack legte die im Sommer formulierte deutsche Verhandlungsposition ausführlich dar. Danach sollte Wettbewerb als Ordnungsprinzip des Gemeinsamen Marktes im Vertrag festgeschrieben werden.200 Zudem wollte man die bisherige Form der vom Sekretariat vorgeschlagenen Artikel geändert und auf wenige Grundsätze beschränkt wissen. Müller-Armack beharrte auf der Forderung nach dem grundsätzlichen Verbot von Kartellen, plädierte aber ansonsten für die Festschreibung allgemeiner Grundsätze. Er vertrat die Position, dass „ein Zuviel an solchen Regeln ein Zuwenig an Wettbewerb schaffe“.201 Die negativen Erfahrungen mit den Bestimmungen des EGKS-Vertrags über Diskriminierungen und Preisauszeichnungen waren Anlass für diesen Standpunkt im Bundeswirtschaftsministerium.202 Eine mit nationalen Bestimmungen vergleichbares Kartellgesetz verlangte direkt anwendbares supranationales Recht und die detaillierte Beschreibungen von Einzelfällen und Ausnahmen. Beides lehnte Müller-Armack ab und plädierte stattdessen für „einige präzise Leitsätze“, die jedoch „kein unmittelbar anwendbares Recht“ werden sollten.203 Harmonisierungen sollten einerseits durch Angleichung der nationalen 198 Vgl. Entwurf von Artikel für die Ausarbeitung eines Vertrags über die Gründung eines Gemeinsamen Europäischen Marktes. Brüssel, 17. Juli 1956. Mar. Com. 17. MAE 175 d/56 hn. Auszüge abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 892–905. S. 904. 199 Ebd.: FN 10. 200 Hierzu sollten nach internen Thesen zu den Brüsseler Verhandlungen, erstellt vom EuckenSchüler Rolf Gocht, neben der Beseitigung aller Ein- und Ausfuhr hemmenden Lasten mit zollgleicher Wirkung, wie Umsatzsteuerausgleich und -rückvergütung, auch die interventionistischen Subventionssysteme abgebaut werden. Bei Letzterem empfahl Gocht in den Verhandlungen nicht auf den vollständigen Abbau zu drängen. Andernfalls seien auch in der Bundesrepublik Subventionen, wie die Bergmannsprämien abzubauen, was innenpolitisch Kosten verursachen würde. Vgl. Arbeitsunterlage für den Entwurf von Thesen zu den Brüsseler Integrationsverhandlungen. Erstellt von MinRat Gocht im Referat I A 1 des Bundeswirtschaftsministeriums. Bonn, 13. August 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 915–919. S. 917. Zu Gocht, seiner der Linie Erhards folgenden Position im Bundeswirtschaftsministerium und den Kontakten zum ordoliberal geprägten Wissenschaftlichen Beirat vgl: Löffler: Soziale Marktwirtschaft. S. 73, S. 83, S. 549f. 201 Vermerk über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“ in Brüssel vom 3.9.–5.9. 1956. Ref. 401 am 7.9. 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 162–164. S. 162. (Herv. im Org.). 202 Vgl. Arbeitsunterlage für den Entwurf von Thesen zu den Brüsseler Integrationsverhandlungen. Erstellt von MinRat Gocht im Referat I A 1 des Bundeswirtschaftsministeriums. Bonn, 13. August 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 915–919. S. 917. 203 Vgl. Darlegung des Sprechers der deutschen Delegation zu den Entwürfen der Artikel 40 bis 43 im Ausschuss Gemeinsamer Markt. (Sitzungsperiode vom 3.–5. September). Bonn,
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Gesetze und durch supranationale Rechtsprechung geschehen und andererseits, insbesondere auf dem Gebiet der Arbeitsmarktbedingungen, durch die Kräfte des Marktes. „A-priori-Harmonisierung“ lehnte man eindeutig ab.204 Ins Bonner Außenministerium wurde übermittelt, dass die anderen Delegationen auf diese deutsche Position bei der ersten Lesung vorsichtig verhalten bis ablehnend regiert hätten. Nachdem die Passagen über die Wettbewerbsregeln im Spaak-Bericht wesentlich von der deutschen Delegation mit der Begründung „‚die unzureichende Regelung im Montanvertrag sei zu schwach und müsse hier ergänzt werden‘“ beeinflusst worden waren, sei diese Reaktion nicht verwunderlich, beurteilte man die Lage im Auswärtigen Amt.205 Jedoch war diese Veränderung der deutschen Position weniger verwunderlich, vergleicht man sowohl jene Akteure, die als deutsche Vertreter im SpaakAusschuss und in den Fachgesprächen auftraten mit jenen, die die Bundesrepublik bei den beginnenden Vertragsverhandlungen im Regierungsausschuss vertraten, als auch deren jeweilige Unabhängigkeit von der sich Wahlen stellenden Regierung. Im Gegensatz zu von der Groeben besaß Müller-Armack 1956 sehr viel geringere politische Unabhängigkeit. Zudem war er zutiefst liberal geprägt und hatte bereits einige Jahre zuvor seine Überzeugung kundgetan, dass es unmöglich sei, „sich wirtschaftspolitisch für eine Lösung zu entscheiden, die den zentralen geistigen Werten, für die man sich einsetzt, widerspricht.“206 MüllerArmack, seit 1950 Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaft und Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik der Universität zu Köln, war vom Wert der freien Marktwirtschaft und dem damit verbundenen Wettbewerbsprinzip für Freiheit und Wohlstand überzeugt. Jede Art der Lenkungswirtschaft lehnte er entschieden ab.207 Bereits Mitte der 1940er Jahre zählte er zu den „noch gar nicht begriffenen wirtschaftspolitischen Aufgaben [...] die Gestaltung des Wettbewerbs“ und war überzeugt, dass die „Organisierung des Wettbewerbs als eine bewusste Aufgabe öffentlicher Wirtschaftspolitik“ aufzufassen sei.208 Im Hinblick auf internationale Kooperationen war er jedoch auch zu der Auffassung gelangt, „dass – je mehr die unterschiedlichen Interessen der Länder einem komplizierten Dirigismus ausgesetzt werden, je mehr man Schutzklauseln und Sonderregeln schafft, je mehr die Staaten im Interesse der Partner gezwungen werden, Dinge zu tun, die sie selbst nicht tun möchten – ein gemeinsamer Markt recht antagonistisch wirken“ würde.
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8. September 1956. I A 1. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 167–168. S. 167. Vgl. Arbeitsunterlage für den Entwurf von Thesen zu den Brüsseler Integrationsverhandlungen. Erstellt von MinRat Gocht im Referat I A 1 des Bundeswirtschaftsministeriums. Bonn, 13. August 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 915–919. S. 917. So der Berichterstatter des Auswärtigen Amtes in seinem Vermerk. Vgl. Vermerk über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“ in Brüssel vom 3.9.–5.9. 1956. Ref. 401. 7. September 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 162–164. S. 162. Müller-Armack, Alfred: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. Hamburg 1947. S. 69. Vgl. ebd.: S. 69–79. Wobei er auf den ordoliberalen Theoretiker Leonhard Miksch verwies. Ebd.: S. 94ff.
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Seiner liberalen Grundüberzeugung folgend vertrat er die Position, dass man die Entscheidung dem Markt überlassen sollte, wenn keine Einigung zwischen „dirigistischen und liberalen Ländern“ herzustellen sei. Würde es nicht gelingen, den gemeinsamen Markt als Kern der europäischen Konzeption „von vornherein liberal“ im klassischen Sinne zu organisieren, seien alle Hoffnungen illusorisch, „dass von ihm wenigstens in Zukunft eine Tendenz zur politischen Einheit ausgeht.“209 Die liberale Auffassung Müller-Armacks stellte somit eine Mittlerposition zwischen der wirtschaftsliberalen Dogmatik Erhards und der ‚Europabegeisterung‘ von der Groebens und Hallsteins dar, die auch später noch auf die Einigung Europas durch Rechtssetzung vertrauten.210 Der neue französische Verhandlungsführer im Ausschuss Gemeinsamer Markt, Jacques Donnedieu de Vabres, der nach dem Sommer die Position Wormsers übernahm und in der Erinnerung Marjolins „viel zum Erfolg des Unternehmens“ beitragen sollte, legte die französische Position in Form eines schriftlichen Vorschlags für den Artikel 42 „Monopole“ vor.211 In Einklang mit der französischen Wettbewerbspolitik enthielt der Vorschlag sowohl Regelungen gegen Preisdiskriminierung, die stark an die französischen Bestimmungen angelehnt waren, als auch gegen andere „einschränkende Praktiken im Wettbewerb“.212 Grundsätzlich sollten Preissenkungen oder Preiserhöhungen sowie Änderungen der Geschäftsbedingungen bei vergleichbaren Geschäften gegenüber Käufern oder Verkäufern, die in Wettbewerb standen, als unrechtmäßige Diskriminierung verboten werden. Die deutsche Regierung bevorzugte ein grundsätzliches Diskriminierungsverbot aufgrund der Nationalität und im Einklang mit dem angestrebten nationalen Recht eine allgemeine Missbrauchsaufsicht für Oligopole und Monopole, um den Preiswettbewerb zu sichern.213 Da die Nationalität allein keinen Einfluss auf andere wirtschaftliche Parameter hatte, sollten jede Wettbewerbsverzerrungen 209 Ders.: Fragen der europäischen Integration. In: Beckerath; Meyer; Müller-Armack (Hrsg.): Wirtschaftsfragen der freien Welt. S. 531–540. S. 534. 210 Zur (europapolitischen) Position Müller-Armacks innerhalb des Bundeswirtschaftsministerium vgl. Löffler: Soziale Marktwirtschaft. S. 552. 211 Unterstützend fügte die französische Delegation ihre nationalen seit 1953 geltenden Gesetze zur Ergänzung der Preisverordnung vom 30. Juni 1945 bei. Vgl. Vermerk über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“ in Brüssel vom 3.9.–5.9. 1956. Ref. 401. 7. September 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 162–164. S. 162. Ebenso: ZAR CM3-NEGO 236. „Extrait du process-verbal des réunions des 3–5 septembre 1956 du Groupe du marché communi de la conférence intergouvernementale pour le marché commun et l’euratom. MAE 252 f/56 mv. S. 2ff.; Marjolin: Meine Leidenschaft Europa. S. 335. 212 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Bestimmungen, die den Artikel 42 des Dokuments Mar. Com. 17 ersetzen, Vorschlag der französischen Delegation. Brüssel, 4. September 1956, Mar. Com. 37. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 157–159. 213 Vgl. ZAR CM3-NEGO 236: „Extrait du process-verbal des réunions des 3–5 septembre 1956 du Groupe du marché communi de la conférence intergouvernementale pour le marché commun et l’euratom. MAE 252 f/56 mv. S. 2. Ebenso: Vermerk über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“ in Brüssel vom 3.9.–5.9. 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 162–164. S. 163.
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aufgrund dessen pauschal verboten werden. Anders als das Verbot der Preisdiskriminierung sollte dieses Verbot nicht auf Behinderungen des zwischenstaatlichen Handels beschränkt werden. Müller-Armack sträubte sich bei dieser ersten Lesung der Wettbewerbsartikel gegen das umfassende Verbot unterschiedlicher Preise, das „einer staatlichen Aufforderung zur Kartellbildung sehr nahe“ gekommen wäre.214 Seiner Überzeugung nach mussten Preisdiskriminierungen, die nicht auf marktbeherrschende Stellung oder auf Absprachen zurückzuführen waren, im funktionierenden Wettbewerbsmarkt vom Staat nicht verhindert werden, da sie Bestandteil des normalen Wettbewerbs waren. Müller-Armack befürchtete andernfalls die staatliche Ausschaltung des marktwirtschaftlich wichtigen Preiswettbewerbs. Bei „Einschränkenden Praktiken im Wettbewerb“ schlugen die Franzosen vor, solche Kartelle, Monopole und missbräuchliche Praktiken zu verbieten, die darauf zielten, den Wettbewerb zu behindern oder dies zur Folge haben könnten. Die sich an dieses grundsätzliche Verbot anschließende Auflistung von Fällen, in denen das Verbot insbesondere gelten sollte, war detaillierter und umfangreicher als im Sekretariatsentwurf und umfasste neben Produktions- und Investitionskartellen, Gebietskartellen und Monopolisierungen einzelner Märkte auch Preiskartelle. Verbotene Wettbewerbsstörungen sollten unter der Voraussetzung, dass die Verbesserung von Produktion oder Absatz oder die Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts von den Verursachern nachgewiesen werden könnten, unter eine Ausnahmeregelung fallen. Zusätzlich wäre aber auch der Nachweis der Verursacher nötig, dass Gewinne aus diesen Kooperationen den Verbrauchern „in gebührendem Maße zugute“ kämen.215 Nur die belgische Delegation hatte angeregt, ob es bei der Behandlung der Kartelle aus psychologischen Gründen nicht opportun sei, „de substituer [...] le principe du contrôle des abus à celui de l’interdiction absolue des ententes.“216 Da sich aber insgesamt Übereinstimmungen zwischen den französischen und den deutschen Vorstellungen hinsichtlich des Verbots von Kartellen abzeichneten, blieb dieser Einwand ergebnislos und eine schnelle Einigung schien möglich. Die zusätzliche Erwähnung von Preiskartellen entsprach deutschen Vorstellungen ebenso wie die grundsätzliche Ergänzung des Verbotsprinzips mit einer Ausnahmereglung. Allein die deutsche Seite sprach sich für die getrennte Behandlung von Kartellen und marktbeherrschenden Unternehmen aus. Man bevorzugte eine dem GWB ähnliche Regelung mit Verbotsprinzip für Kartelle und Missbrauchs-
214 Vgl. Darlegung des Sprechers der deutschen Delegation zu den Entwürfen der Artikel 40 bis 43 im Ausschuss Gemeinsamer Markt. (Sitzungsperiode vom 3.–5. September). Bonn, 8. September 1956. I A 1. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 167–168. S. 167. 215 Vgl. Bestimmungen, die den Artikel 42 des Dokuments Mar. Com. 17 ersetzen, Vorschlag der französischen Delegation. Brüssel, 4. September 1956, Mar. Com. 37. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 157–159. S. 158. 216 ZAR CM3-NEGO 236. Extrait du process-verbal des réunions des 3–5 septembre 1956 du Groupe du marché commun de la conférence intergouvernementale pour le marché commun et l’euratom. MAE 252 f/56 mv. S. 3.
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prinzip für Monopole und Oligopole.217 Müller-Armack plädierte zudem unter dem Aspekt der späteren Umsetzung des Wettbewerbsrechts für das Verbotsprinzip, da es mit einer kleineren Entscheidungsinstanz auskäme als das Missbrauchsprinzip.218 Der französische Vorschlag entfernte sich in dem Punkt des Verfahrens und dem der Umsetzung der Wettbewerbsgrundsätze sehr weit vom Spaak-Bericht. Mit diesem französischen Vorschlag und den auf dem Spaak-Bericht basierenden Vorschlägen lagen bei inhaltlich hoher Äquivalenz im Hinblick auf die abstrakten Regeln zum Schutz des Wettbewerbs zwei unterschiedliche Konzepte für deren Umsetzung durch konkrete Regeln vor. Der Spaak-Bericht sah vor, mit dem Vertrag unmittelbares Wettbewerbsrecht für den Gemeinsamen Markt in Form von Grundsätzen zu schaffen. Die Franzosen zielten hingegen auf die Aufstellung allgemeiner Grundsätze als Richtschnur für die Harmonisierung nationaler Gesetze innerhalb einer Anfangsphase von zwei Jahren nach Vertragsabschluss. Die Kommission sollte bei der Harmonisierung informieren, koordinieren und Streitfälle zwischen den Staaten schlichten. Sollte die Schlichtung erfolglos sein und die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Abhilfe nicht befolgt werden, sollte sie die Fälle vor den Ministerrat bringen können. Die Mitgliedstaaten sollten eine Klagemöglichkeit wegen Nichterfüllung des Vertrags erhalten, um Vertragspartner zu ausreichender Umsetzung der Grundsätze des Vertrags verpflichten zu können.219 Der Spaak-Bericht hingegen sah vor, dass die Europäische Kommission mit der Konkretisierung der Grundsätze betraut werden und die Rechtsprechung durch den Gerichtshof weiterentwickelt werden sollte. Es war offensichtlich geworden, dass die Franzosen nicht beabsichtigten, die Kommission als supranationale, unabhängige Wettbewerbsbehörde zu etablieren oder mit dem Vertrag direkt gültiges Recht in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Dies deckte sich mit der deutschen Zielsetzung. Müller-Armack hatte nicht nur einleitend festgehalten, dass die deutsche Seite unmittelbar anwendbares Wettbewerbsrecht durch den Vertrag ablehnte. Er plädierte auch dafür, dass die „Gesetzgebung über Kartelle und den Wettbewerb [...] in der Zuständigkeit der Staaten verbleiben“ sollte, was ihrer Annäherung anhand der Grundsätze des Vertrags nicht widersprach.220 Zustimmung zur deutschen Position signalisierte 217 Vgl. ebd. und: Vermerk über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“ in Brüssel vom 3.9.–5.9. 1956. Ref. 401 am 7.9.1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 162–164. S. 163. 218 Vgl. Darlegung des Sprechers der deutschen Delegation zu den Entwürfen der Artikel 40 bis 43 im Ausschuss Gemeinsamer Markt. (Sitzungsperiode vom 3.–5. September). Bonn, 8. September 1956. I A 1. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 167–168. S. 168. 219 Vgl. Bestimmungen, die den Artikel 42 des Dokuments Mar. Com. 17 ersetzen, Vorschlag der französischen Delegation. Brüssel, 4. September 1956, Mar. Com. 37. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 157–159. 220 Darlegung des Sprechers der deutschen Delegation zu den Artikeln 40 bis 43 im Ausschuss Gemeinsamer Markt. (Sitzungsperiode vom 3.–5. September). Bonn, 8. September 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 167–168. S. 168. Das Protokoll der Sitzung gibt Müller-Armack mit der Aussage wieder, „qu’il serait opportun de laisser aux Etats membres la responsanilité da la mise en œuvre des principes fixés dans le Traité.“ was eine weni-
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van Tichelen für die belgische Regierung, jedoch unter dem Vorbehalt, dass die gemeinschaftlichen Organe verpflichtet würden, Durchführungsverordnungen zu erlassen, wenn einzelne Staaten nach Ablauf einer Frist ihren Vertragsverpflichtungen nicht nachkämen. Die Italiener sprachen sich eindeutig für eine rein supranationale Zuständigkeit aus, wenn nach Ablauf einer Frist keine positiven Ergebnisse erzielt würden. Die supranationale Zuständigkeit sollte um das Klagerecht vor dem Gerichtshof ergänzt werden. Auch auf niederländischer Seite waren Präferenzen für gemeinsame Normen und eine supranationale Gerichtsbarkeit zur Kontrolle der Vertragserfüllung vorhanden.221 Es zeigte sich, dass sowohl Frankreich als auch die Bundesrepublik Interesse daran hatten, das Konzept ihrer nationalen Kartell- und Wettbewerbspolitik auf die europäische Ebene zu übertragen. Die europäischen Wettbewerbsregeln sollten größtmögliche Übereinstimmung mit dem jeweiligen national vorhandenen beziehungsweise anvisierten Recht haben und mögliche Angleichungen sollten durch nationale Gesetzgeber umgesetzt werden. Für diese Position war nicht nur die Überzeugung von der eigenen Politik ausschlaggebend, sondern auch das Ziel, die Anpassungsnotwendigkeiten sowohl für den eigenen Gesetzgeber als auch für die eigene Wirtschaft möglichst gering zu halten. Dieses Ziel würde jedoch nur eine der beiden Regierungen auf Kosten der anderen durchsetzen können. In einer regierungsinternen Erörterung der deutschen Position wies Müller-Armack aber bereits auf die größte Hürde dieser von Deutschland anvisierten Lösung hin. Die Koordinierung der „Gesetzgebung von einander unabhängiger Parlamente“ war „ein weitgehend offenes Problem“, für das es bis dahin keine Lösung gab.222 Die Standpunkte der Delegationen zu den Wettbewerbsregeln für den Gemeinsamen Markt waren in dieser ersten Sitzung zu den Wettbewerbsregeln deutlich geworden. Mit dem Spaak-Bericht, dem französischen Vorschlag und den von deutscher Seite vorgetragenen Vorstellungen lagen drei unterschiedliche Positionen vor.223 Nachdem in der ersten Septemberwoche 1956 von Montag bis Mittwoch in den Fachausschüssen verhandelt worden war, tagte am Ende der Woche wie üblich der Ausschuss der Delegationsleiter. Um die Verhandlungen zu beschleunigen, forderte Spaak bei dieser ersten Sitzung nach der Sommerpause alle Delegationen auf, bis zum 20. September ihre wesentlichen Einwände gegen den SpaakBericht und die darauf beruhenden Vertragsentwürfe bekannt zu geben. Die Konsequenz davon war die beschleunigte Wahrnehmung von Differenzen, vor allem zwischen Frankreich und den anderen fünf Staaten. ger scharfe Aussage war. ZAR CM3-NEGO 236: „Extrait du process-verbaldes réunions des 3–5 septembre 1956 du Groupe du marché communi de la conférence intergouvernementale pour le marché commun et l’euratom. MAE 252 f/56 mv. S. 4. 221 Vgl. ebd.: S. 4f. 222 Vgl. Darlegung des Sprechers der deutschen Delegation zu den Entwürfen der Artikel 40 bis 43 im Ausschuss Gemeinsamer Markt. (Sitzungsperiode vom 3.–5. September). Bonn, 8. September 1956. I A 1. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 167–168. S. 168. 223 Vgl. Vermerk über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“ in Brüssel vom 3.-5.9. 1956. Ref. 401 am 7.9.1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 162–164. S. 163.
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In Frankreich hatte sich im Sommer 1956 die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert. Zum steigenden Außenhandelsdefizit waren als Belastungen der Devisenreserven und des Staatshaushaltes die aufkommende Suez-Krise und die Verschärfung der Algerienkrise hinzugekommen. Zusätzliche Truppen mussten entsandt und finanziert werden. In dieser Situation schien der von den anderen Ländern unterstützte Zollabbau ohne Abfederung der sozialpolitischen Belastungen für Frankreich untragbar. Der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe der Kooperation sollte nach Vorstellungen der französischen Regierung nur nach einstimmigem Beschluss erfolgen. Zudem forderte sie, dass die Sozialbestimmungen harmonisiert und Kompensations- und Ausgleichsmaßnahmen eingeführt würden.224 Ende September war klar, dass einzelne Forderungen so weit reichend waren, dass im Herbst mit erheblichen Verhandlungsschwierigkeiten zu rechnen war.225 Man beschloss, sie auf höchster politischer Ebene bei einer Außenministerkonferenz zu erörtern.226 Die hierzu angesetzte Außenministerkonferenz in Paris am 21. Oktober 1956 schien zunächst ein Erfolg zu werden. Nach anfänglicher Hoffnung, die wesentlichen Probleme aus dem Weg räumen zu können, entzündete sich jedoch ein Konflikt an der Frage der Angleichung der Arbeitszeiten und damit am Gesamtkomplex der französischen Forderung nach Harmonisierung der Sozialbestimmungen.227 Die Regierung Mollet hatte gerade erst aus innenpolitischen Gründen zur Erhöhung der Sozialleistungen beigetragen, indem sie die dritte Urlaubswoche und die 40-Stunden Woche gesetzlich festgeschrieben und einen Ruhestandsfond eingerichtet hatte. Nun mussten diese Sozialleistungen einerseits finanziert wer224 Vgl. Guillen: Europe as a Cure. S. 513; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 216f. 225 Einwände beim Thema Wettbewerb erhoben die Niederländer. Grundsätzlich forderten sie eine stärkere und autonomere Stellung der Kommission in einigen Bereichen, so auch in der Wettbewerbspolitik. Die Kommission sollte demnach bei marktbeherrschenden Stellungen von sich aus und ohne Beteiligung des Gerichtshofes aktiv werden können und ermächtigt werden „im Falle einer ernsten Mangellage oder einer offensichtlichen Krise“ mit konkreten Maßnahmen in die Marktordnung eingreifen zu können, letzteres ähnlich den Befugnissen der Hohen Behörde der EGKS. Vgl. Ausschuss der Delegationsleiter, Aufzeichnung der niederländischen Delegation über die wesentlichen Einwendungen bezüglich des Wortlauts des Berichts der Delegationsleiter an die Außenminister, Brüssel, 19. September 1956.Ch. Del. 31, MAE 294 d/56 ann/hn. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 1010–1012. S. 1012. Von letzterer Forderung nahm die niederländische Delegation wieder Abstand, erstere versuchte sie im Ausschuss Gemeinsamer Markt durchzusetzen. 226 Namentlich waren es die umfangreichen agrar- und sozialpolitischen Forderungen Frankreichs und die deutschen Vorbehalte bei der Atomgemeinschaft. Die wesentlichen Verhandlungsinteressen der anderen vier Staaten betrafen die Stimmgewichtung, den Außenzoll und die Gestaltung des Anpassungsfonds (NL), die Agrarmarktordnung (BL und L), die Funktionen des Anpassungsfonds und Freizügigkeit der Arbeitskräfte (IT). Hier trafen gering konfligierende Interessen aufeinander. Vgl. Spaak: Memoiren. S. 323f.; Groeben: Deutschland und Europa. S. 281f.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 307ff. 227 Vgl. Telegramm am 22. Oktober 1956 von Ministerialdirigent Carstens an den Staatssekretär Hallstein über den Verlauf der Konferenz. Abgedr. in: Möller; Hildebrand (Hrsg.): Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Bd. 1. S. 612–613.
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den und andererseits sollten diese Ergebnisse der Regierung Mollet nicht durch wirtschaftliche Kooperation in Europa innenpolitisch wieder zur Disposition stehen. Die französischen und deutschen Interessengegensätze waren bei diesem Punkt so unüberwindlich, dass die Konferenz am zweiten Tag scheiterte. Bei der Senkung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden konnte die deutsche Seite keine Kompromisse machen, da die staatliche Festlegung von Arbeitszeit nicht mit der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik vereinbar war.228 Die Meinungsverschiedenheiten waren bei der Außenministerkonferenz so eindeutig zu Tage getreten, dass auch die Bundesregierung in der kurzen amtlichen Pressenachricht am 23. Oktober keinen Hehl daraus machte, dass vor weiteren Verhandlungen erst noch einmal Konsultationen der Regierungen notwendig wären.229 Dies war auch die vom Auswärtigen Amt vertretene Linie, während Erhard diese Verhandlungskrise gerne zum Einstieg in konkrete Verhandlungen über eine Zollunion im Rahmen der OEEC genutzt hätte.230 Aber die „Integrationisten in der deutschen Regierung“ konnten sich durchsetzen.231 Adenauer, der in der Kabinettsitzung am 24. Oktober darauf drängte, „schnellstens eine Außenministerkonferenz, die erfolgreich endet,“ herbeizuführen, stimmte bilateralen Gesprächen über die Verhandlungsprobleme auf der Ebene der Regierungschefs zu.232 Anders war das Problem offensichtlich nicht zu lösen. Die Ergebnisse dieser Gespräche sollten dann jedoch ab November dem Verhandlungsdurchbruch den Weg ebnen. D.3.c. Die wettbewerbspolitischen Verhandlungspositionen – Uneinigkeiten im Detail Zunächst gingen im September und Oktober aber die inhaltlichen Detailverhandlungen in den Brüsseler Arbeitsgruppen weiter. Das rasche Voranschreiten der Verhandlungen im Ausschuss für die Atomgemeinschaft einerseits und die noch 228 Die Benelux-Länder und Italien standen bei diesen Grundsatzfragen der Wirtschaftsordnung hinter der Position der Bundesrepublik. Vgl.: Carstens, Karl: Das Eingreifen Adenauers in die Europa-Verhandlungen im November 1956. In: Blumenwitz; Gotto; Maier u.a. (Hrsg.): Konrad Adenauer und seine Zeit. S. 591–602. S. 594. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 316–319. 229 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Nr. 200. 23. Oktober 1956. S. 1902. 230 Erhard hatte bereits am 5. Oktober 1956 in einer Kabinettsitzung erfolglos den Vorstoß gemacht, die Brüsseler Verhandlungen angesichts des Freihandelszonenvorschlags aus London zu unterbrechen. Adenauer und Hallstein waren aber nicht darauf eingegangen und hatten stattdessen deutlich ihre Präferenz für das „Sechser-Projekt“ auch gegenüber den Partnern zum Ausdruck gebracht. Vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 9. S. 618– 631. S. 620. Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 664f.; Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 240. 231 Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 320; Vgl.: Carstens: Das Eingreifen Adenauers. S. 594f. 232 158. Kabinettssitzung am 24. Oktober 1956. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 9. S. 655–661. S. 657f.
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andauernde erste Lesung der Artikel im Ausschuss Gemeinsamer Markt andererseits bargen die Gefahr, das Junktim zwischen Atomgemeinschaft und Wirtschaftsgemeinschaft zu bedrohen, woran nur die französische Seite Interesse hatte. Deshalb drängte Spaak von der Groeben Ende September zu zügigerer Verhandlungsführung und schlug ihm sogar ein von nationalen Interessen losgelöstes Experten-Verfahren wie beim Spaak-Bericht vor. Von der Groeben hielt aber an seiner Arbeitsweise fest.233 Nach der ersten Lesung der Wettbewerbsartikel hatten auch die deutsche und die niederländische Regierung, die in Einzelbereichen von der belgischen Regierung unterstützt wurde, ihre Vorstellungen schriftlich vorgelegt. Zur Vorbereitung der zweiten Lesung, die für die erste Novemberwoche geplant war, ließ von der Groeben Anfang Oktober 1956 eine synoptische Gegenüberstellung der drei Entwürfe erstellen.234 Die Differenzen bei der „Behandlung von Diskriminierungen“ hatten sich schon Anfang September abgezeichnet. Der deutsche Vorschlag zielte auf das prinzipielle Diskriminierungsverbot im zwischenstaatlichen Handel aufgrund von Nationalität. Der französische Vorschlag sah hingegen ein allgemeines Verbot jeglicher diskriminierender Praktiken im Wirtschaftsverkehr vor, das national wie international gültig sein sollte. Die Niederländer wollten jene Diskriminierungspraktiken verboten wissen, die Folge staatlicher Verordnungen waren, zur Erlangung einer marktbeherrschenden Stellung führten oder wenn aus anderen als kommerziellen Beweggründen angewendet wurden.235 Die zu Tage getretenen Abweichungen waren vor allem systematischer Natur: Sollten mit dem Diskriminierungsverbot unternehmerische Behinderungsstrategin bekämpft werden oder sollte ein grenzübergreifendes Gleichstellungsgebot für alle Staatsangehörigen geschaffen werden? Zum Thema Absprachen waren die Vorschläge einander teilweise textlich sehr ähnlich, wenngleich sich unterschiedliche Zielsetzungen dahinter verbargen.236 Der belgisch-niederländische Entwurf sah wie der französische die Gleichbehandlung von Kartellen und Monopolen vor. Jedoch wollten die Franzosen beide verbieten, während Belgier/Niederländer dem Missbrauchsprinzip folgten. Der deutsche Vorschlag hingegen behandelte Kartelle und Monopole getrennt und unterschiedlich. Kartelle sollten prinzipiell unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt und verboten sein, wenn Sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigten. Als Ergänzung des Verbotsprinzips sahen der französische und der deutsche Vorschlag konsequenterweise Ausnahmegenehmigungen vor, die sich sprachlich entsprachen. Die Beweispflicht sollte bei den „Antragstellern“ bzw. den „Urhebern“ liegen. Ausnahmen sollten gemacht werden, wenn die „Verbesserung der Produktion oder des Absatzes“ oder die 233 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 309f.; Groeben: Deutschland und Europa. S. 283; ders.: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. S. 26f. 234 Vgl. Synoptische Darstellung der Artikelentwürfe über die Wettbewerbsregeln für Unternehmen, Brüssel, 9. Oktober 1956. MAE 377 d/56. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 175–184. 235 Vgl. ebd.: S. 176. 236 Zu den folgenden Ausführungen vgl. ebd.: S. 177ff.
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„Förderung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts“ nachgewiesen werden konnte und der sich ergebende Gewinn in „angemessenem Umfang“ bzw. in „gebührendem Maße“ den Verbrauchern zugute käme.237 Ausdrücklich genehmigte Absprachen sollten nach deutscher Vorstellung der Missbrauchsaufsicht unterliegen, wie man sie auch für Monopole vorschlug. Hingegen enthielt der französische Entwurf keine Regelungen für zugelassene Kartelle. Die Behandlung privater Monopole war unumstritten. Alle Delegationen hatten im September das Missbrauchsprinzip, ergänzt um einen Katalog expliziter Missbrauchstatbestände, befürwortet. Nur die Frage war offen geblieben, ob staatliche Monopole nach denselben Regeln behandelt werden sollten. Die französische und die belgische Delegation hatten sich für eine Sonderregelung für Staatsmonopole ausgesprochen, während die niederländische und italienische Seite die eingehende Untersuchung einer Gleichbehandlung forderte. Allein die deutsche Seite hatte deutlich die Gleichbehandlung privater und staatlicher Monopole gefordert.238 Mit Ausnahme der Franzosen waren sich die Delegationen einig, dass Kartelle und Monopole nur dann unter die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln fallen sollten, wenn sie den Handel zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten beeinträchtigen würden. Diese unterschiedlichen Standpunkte resultierten aus der grundsätzlich anderen Zielsetzung der Franzosen, die sich auch bei der Frage zeigen sollte, wie die Grundsätze angewendet würden und welche Institutionen für die Umsetzung verantwortlich sein sollten. Die drei Anfang Oktober vorliegenden Entwürfe schlugen für die Gestaltung der Anwendungsregeln je systematisch unterschiedliche Konzepte vor. Es musste ein Weg gefunden werden zwischen dem Konzept nationaler Umsetzung gemeinsamer Grundsätze, dem intergouvernementaler Ausarbeitung eines Zusatzabkommens und dem der direkten Übertragung der supranationalen Verantwortung an die Kommission. Die Franzosen forderten die Harmonisierung der nationalen Gesetzgebung unter Anleitung der Kommission. Die deutsche Regierung hatte den belgischen Vorbehalt aufgegriffen und sich zu Eigen gemacht. Innerhalb von zwei Jahren sollten demnach die Staaten ein Zusatzabkommen abschließen, das Vorschriften zur Durchführung der Grundsätze und die Verfahrensvorschriften regeln sollte. Gemäß dem Grundsatz subsidiärer supranationaler Gesetzgebungskompetenz sollte die Kommission nach ergebnislosem Ablauf einer Frist von drei Jahren das Recht erhalten, eine Durchführungsverordnung mit Zustimmung der qualifizierten Mehrheit des Ministerrates, des Organs der Mitgliedstaaten, zu erlassen.239 Mit diesem Vorschlag rückte die deutsche Delegation von ihrer Anfang September präferierten Linie ab, die Verantwortung für die Durchführung der Grundsätze 237 Ebd. 238 Vgl. ZAR CM3-NEGO 236: Extrait du process-verbal des réunions des 3–5 septembre 1956 du Groupe du marché commun de la conférence intergouvernementale pour le marché commun et l’euratom. MAE 252 f/56 mv. S. 3f. 239 Vgl. Synoptische Darstellung der Artikelentwürfe über die Wettbewerbsregeln für Unternehmen, Brüssel, 9. Oktober 1956. MAE 377 d/56. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 175–184. 180f.
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den Mitgliedstaaten zu überlassen, und orientierte sich wieder mehr am SpaakBericht, wenngleich das intergouvernementale Element stark blieb.240 Die Niederländer traten für den Vorschlag des Spaak-Berichts ein und waren bereit, die Verantwortung für die Durchführungsregeln von Anfang an der Kommission zu übergeben, die mit Zustimmung der parlamentarischen Versammlung Verordnungen erlassen sollte. Die ausschließliche Beauftragung der Organe der Gemeinschaft mit der Verwirklichung der Grundsätze favorisierten auch die Italiener.241 Angesichts der in Italien innenpolitisch nicht durchsetzbaren nationalen Kartellund Wettbewerbsregeln schien ihnen eine supranationale Regelung, an der eine jeweilige italienische Regierung nicht aktiv beteiligt wäre, am attraktivsten. Eine solche Lösung begrüßte auch die italienische Wirtschaft.242 Die niederländische Delegation signalisierte jedoch ihre Kompromissbereitschaft. Unter der Voraussetzung, dass im deutschen Vorschlag neben dem intergouvernementalen Organ ‚Rat‘ auch dem supranationalen Organ ‚Parlamentarische Versammlung‘ Entscheidungsmacht zugestanden würde, war sie bereit, den deutschen Vorschlag mitzutragen.243 Aus Sicht eines kleinen Landes war es vom strategischen Standpunkt aus sinnvoll und nachvollziehbar, supranationale Organe der zukünftigen Gemeinschaft gegenüber den einzelnen Regierungen zu stärken. Die Anlage des französischen Vorschlags zielte einerseits auf die Harmonisierung der nationalen Gesetze – am besten auf Grundlage des französischen Wettbewerbsrechts – und andererseits auf möglichst geringe Kompetenzübertragung an supranationale Organisationen; eine Linie, die unter anderen Vorzeichen im Bundeswirtschaftsministerium ursprünglich auch verfolgt worden war. Jedoch wurde diese Linie aufgrund fehlender Lösungsansätze für das Problem der Rechtsharmonisierung durch unabhängige nationale Gesetzgeber nicht mehr rigide verfolgt. Die Durchsetzungskraft der Befürworter stärkerer supranationaler Organisationen im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt hatte auch dazu beigetragen, dass sich in dieser Frage inzwischen zunehmend ein Interessengegensatz zwischen den Franzosen und den anderen fünf Staaten aufbaute, bei die kleinen Beneluxstaaten und Italien an vorderster Stelle standen. Diese Differenzen zeigten sich auch bei der Verantwortlichkeit für Wettbewerbsverfahren und Beschwerden. Nach den Plänen des Spaak-Berichts sollte durch den Vertrag gültiges Kartell- und Wettbewerbsrecht gesetzt werden. Daraus erwuchs die Notwendigkeit, Instanzen zur Durchsetzung des Rechts und Konsequenzen bei Rechtsbruch festzulegen. Nach französischen Vorstellungen blieben 240 Vgl. Bundesminister für Wirtschaft. Bonn, 28. Juni 1956. III D 4-71 276/56XI. Anhang. Formeln für die Gestaltung eines Vertragstextes über die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 851–891. S. 864. 241 Vgl. Arbeitsgruppe für den Gemeinsamen Markt. Entwurf eines Protokolls über die Sitzungen der Arbeitsgruppe am 3., 4. und 5. September 1956. Brüssel, 10. September 1956, Mar. Com. 32. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 171–174. S. 173. 242 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 366. 243 Vgl. Synoptische Darstellung der Artikelentwürfe über die Wettbewerbsregeln für Unternehmen, Brüssel, 9. Oktober 1956. MAE 377 d/56. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 175–184. 180f.
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die Mitgliedstaaten verantwortlich, so dass aus systematischen Gründen das Beschwerde- und Initiativrecht zur Einleitung von Kontrollen oder Maßnahmen bei Schädigung von Staatsangehörigen durch wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen nur bei den Mitgliedstaaten liegen konnte. Diese sollten bei erfolglosen Vermittlungsversuchen der Kommission in letzter Konsequenz gegeneinander Rechtsansprüche vor dem Gerichtshof geltend machen können. Damit wären fehlende oder unzureichende nationale Gesetze Gegenstand von Verfahren geworden, nicht jedoch das Handeln von Unternehmen.244 Trotz des gemeinsamen Ziels, das rechtsstaatliche Verhältnis zwischen Staaten und Staatsangehörigen zu gestalten, unterschieden sich der deutsche und der niederländische Entwurf hinsichtlich der Einbindung der Organe und deren Stellung im Wettbewerbsverfahren. Während die deutsche Regierung über den Spaak-Bericht hinaus ging und für eine durch die Kommission zu schaffende eigene „Beschwerdestelle“ im Sinne einer eigenen Organisation – ähnlich dem deutschen Kartellamt – plädierte, die „von Amts wegen oder auf Antrag eines Mitgliedstaates oder eines Unternehmens“ Fälle von Verstößen untersuchen sollte, wollten die Niederländer diese Aufgabe der Kommission übertragen.245 Ansonsten folgte man hinsichtlich der Verfahrensabfolge dem Spaak-Bericht. Kontrolle und Durchführung gemeinsamer Wettbewerbsregeln sollten bei der supranationalen Kommission liegen, die in eigener Regie Kontrollfunktionen ausüben sollte, ohne dass ein Staat dies verhindern könnte. Neben der selbständigen Befassung der Kommission mit Wettbewerbskontrollverfahren sollten auch betroffene Unternehmen und Mitgliedstaaten dieses in Gang setzen können. Nur die Präferenzen für abschließende Sanktionsmaßnahmen der Institution waren unterschiedlich, wenngleich die Entscheidung auf supranationaler Ebene getroffen werden sollte. Der deutsche Entwurf sah die Anrufung des Gerichtshofs durch Kommission oder Mitgliedstaaten vor, der über noch zu definierende Sanktionen entscheiden sollte. Die Niederländer präferierten hingegen, der Kommission bei fortgesetzten Verletzungen der Wettbewerbsregeln direktes Sanktionsrecht einzuräumen.246 Der Rat als intergouvernementales Gremium und mögliches Korrektiv supranationaler Entscheidungen spielte in beiden Entwürfen keine Rolle. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten keinen Einfluss auf Kontrollverfahren oder Vorschläge und Empfehlungen zur Abänderung beanstandeter Verhaltensweisen haben. 247 Als Diskussionsgrundlage der zweiten Lesung der Wettbewerbsartikel vom 5. bis 7. November 1956 im Ausschuss Gemeinsamer Markt hatte von der Groeben auch eine umfangreiche Analyse mit Kompromissvorschlägen von den Bonner Ministerialbeamten seiner Unterabteilung, Hubert Ehring und Jochen Thiesing, 244 Vgl. ebd.: S. 182f. 245 Vgl. ebd. 246 Als mögliche Sanktionen schlugen sie die Nichtigkeitserklärung für Kartelle oder die Festsetzung von Preisen, Verkaufsbedingungen oder Fabrikations- oder Lieferprogrammen für Monopole vor. Vgl. ebd.: S. 184. 247 Vgl. ebd.: S. 182ff.
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erstellen lassen.248 Die darin enthaltenen Kompromissvorschläge orientierten sich an der ehemaligen Verhandlungslinie des Bundeswirtschaftsministeriums, die von der Groeben in den Jahren zuvor noch mitgeprägt hatte und die durch seine Mitarbeit in den Spaak-Bericht mit eingeflossen war. Zur Überbrückung der systematischen Unstimmigkeiten beim Diskriminierungsverbot wurde in diesem Papier „im Interesse der Klarheit und Rechtssicherheit“ für ein einfaches Diskriminierungsverbot geworben, das Diskriminierungen nur aufgrund von Nationalität verbieten würde. Zur Errichtung des Gemeinsamen Marktes waren demnach weiche und umfassende Diskriminierungsregeln nicht notwendig, die ein Vorgehen gegen allgemeine und nicht kommerziell motivierte Diskriminierung ermöglicht hätten.249 Auch der Vorschlag zur Behandlung von Kartellen und Monopolen orientierte sich an deutschen Vorstellungen.250 Die Frage der Durchführung der Grundsätze und des Erlasses zusätzlicher Rechtsvorschriften sollte durch einen leicht modifizierten deutschen Vorschlag gelöst werden, der als Mittler der beiden anderen Richtungen im Ausschuss Gemeinsamer Markt vorgestellt werden sollte.251 Neu war der Hinweis, dass der Vertrag bei der von Spaak-Bericht, Niederländern und Deutschen präferierten Lösung Bestimmungen für die Anwendung des Rechts in der Übergangszeit bis zum Inkraftreten supranationaler Durchführungsbestimmungen enthalten müsse. Diese sollten nach Vorstellung der Autoren des Papiers auch Sanktionen enthalten.252 Sie wiesen auch auf das Dilemma zwischen der französischen Ablehnung supranationaler Institutionen und den Präferenzen der Italiener und der Niederländer für starke supranationale 248 Vgl. Aufzeichnung über die Wettbewerbsregeln im Vertrag über den gemeinsamen europäischen Markt. Brüssel, 20. Oktober 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 185–192; Vermerk von Meyer-Cording, Referatsleiter III, 5 im Bundeswirtschaftsministerium. Betr.: Vorschriften des in Brüssel verhandelten Vertragsentwurfs für einen Gemeinsamen Markt über Wettbewerbsregeln. Bonn, 5. Nov. 1956. Abgedr. ebd.: S. 194–196. S. 194. 249 Eine derartige Regelung hätte später den Vorwand bieten können „abgeschlossene Geschäfte mit unterschiedlichsten Begründungen in Frage zu stellen,“ eine Entwicklung, die nicht zur Rechtssicherheit beitragen getragen hätte. Fälle von unterschiedlichen Preisen oder Geschäftsbedingungen, sollten im Zusammenhang mit Fragen des unlauteren Wettbewerbs geklärt werden. Den Vorschlag der Niederländer, Handlungen zu verbieten, die Folge staatlicher Verordnungen wären, sei wenig praktikabel im Gemeinsamen Markt, da Unternehmen nicht genötigt werden dürften, entweder nationale Verordnungen oder das europäische Diskriminierungsverbot zu missachten. Das Ziel, nationale Verordnungen zu verhindern, die wettbewerbsfeindliche Praktiken zur Folge hätten, müsste an anderer Stelle des Vertrags durch für die Mitgliedstaaten bindende Vorschriften geregelt werden. Ebenso wären Handlungen, die auf die Erlangung marktbeherrschender Stellung zielten, unabhängig davon, ob sie diskriminierende Wirkung zwischen Wettbewerbern hätten oder nicht, im Rahmen der Regeln gegen wettbewerbsbeschränkende Handlungen zu verbieten. Vgl. Aufzeichnung über die Wettbewerbsregeln im Vertrag über den gemeinsamen europäischen Markt. Brüssel, 20. Oktober 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 185–192. S. 185ff. 250 Für die folgenden Ausführungen vgl. Aufzeichnung über die Wettbewerbsregeln im Vertrag über den gemeinsamen europäischen Markt. Brüssel, 20. Oktober 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 185–192. S. 187ff. 251 Vgl. ebd.: S. 189ff. 252 Vgl. ebd.: S. 191.
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Institutionen hin. Ihr Lösungsvorschlag sah engere Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten vor Entscheidungen gegenüber wettbewerbsbehinderndem Verhalten und gleichzeitig weitgehende Unabhängigkeit der Kommission bei dieser Entscheidung vor.253 Diese umfangreiche Analyse mit nützlichen Kompromissvorschlägen wurde allerdings in Bonn nach einer interministeriellen Besprechung über das weitere Vorgehen bei den Vertragverhandlungen ‚kassiert‘.254 Auch wenn die ausgearbeiteten Kompromissvorschläge, die sich stark an deutschen Positionen im Spaak-Ausschuss orientierten, zwar manche Chance auf Erfolg hatten, lagen die darin vertretenen Positionen nicht mehr im Interesse der deutschen Delegation, die in den Regierungsverhandlungen auch durch Müller-Armack eine andere Ausrichtung erhalten hatte. Dabei war er durch den habilitierten Wirtschaftsjuristen Ulrich Meyer-Cording, Ministerialdirigent im Bundesministerium für Kernenergie und Wasserwirtschaft und Verhandlungsführer bei den parallelen EURATOMVerhandlungen, unterstützt worden. Die Konsequenz einer gemeinsamen Besprechung mit von der Groeben und Etzel war, dass von der Groeben den anderen Delegationen diese Kompromissvorschläge nicht offiziell vorlegte. Dennoch wird von der Groeben den Inhalt der Analyse bei seiner Verhandlungsführung im Ausschuss und in den Expertenrunden eingebracht haben, wie sich beispielsweise bei der späteren systematischen Trennung von Monopolen und Kartellen zeigte.255 D.3.d Der Diskriminierungsgrundsatz und die Behandlung von Kartellen und Monopolen Bei der zweiten Lesung der Wettbewerbsartikel im Ausschuss Gemeinsamer Markt in der ersten Novemberwoche zeichnete sich ab, dass allein die Anwendung des Missbrauchsprinzips auf marktbeherrschende Unternehmen zwischen den Staaten konsensfähig war. Bei den anderen Themen kamen sich die Regierungsvertreter angesichts teilweise erheblicher Differenzen nicht näher. Sie
253 Ebd.: S. 192. 254 Vermerk von Meyer-Cording, Referatsleiter III, 5 im Bundeswirtschaftsministerium. Betr.: Vorschriften des in Brüssel verhandelten Vertragsentwurfs für einen Gemeinsamen Markt über Wettbewerbsregeln. Bonn, 5. Nov. 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 194–196. S. 195. 255 Das Urteil Hoerens, dass von der Groeben habe sich nicht an diese Abmachung gehalten, scheinbar auf Basis der Übereinstimmungen des späteren Kompromissentwurfs der Expertenrunde mit einem Entwurf von der Groebens, erscheint zu scharf. Es findet sich kein Hinweis, dass von der Groeben das Ehring/Thiesing-Papier im Ausschuss Gemeinsamer Markt als offizielle, vom Präsidenten vorgelegte, Diskussionsgrundlage einbrachte, worauf sich die Absprache bezog. Als Vorsitzender jener Expertenrunde, die von den Regierungsvertretern beauftragt worden war, einen Kompromiss zu entwerfen ist davon auszugehen, dass von der Groeben in Erfüllung dieses Auftrages Inhalte des Ehring/Thiesing-Papiers in die Expertenrunde, die Anfang November tagte, einbrachte; dabei jedoch die Absprache formal einhielt. Vgl. Hoeren: Europäisches Kartellrecht zwischen Verbots- und Mißbrauchsaufsicht. S. 418ff.
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beauftragten schließlich eine engere, weniger politische Expertengruppe damit, neue Entwürfe mit möglichst wenigen Alternativfassungen zu erstellen.256 Diese Expertengruppe kürzte am folgenden Tag, dem 7. November 1956, den Diskriminierungsartikel aus verhandlungstaktischen Gründen auf den prägnanten Satz zusammen: „Innerhalb des Gemeinsamen Marktes sind diskriminierende Praktiken auf Grund der Staatsangehörigkeit gegenüber Handelspartnern verboten.“257 Der deutschen Delegation ging dieser Vorschlag zu weit. Sie erreichte beim erneuten Zusammenkommen der Experten am 12. November, dass man auf das deutsche Anliegen einging, allein die italienische Regierung forderte weiterhin die Streichung des gesamten Artikels. Jedoch fand auch ihr Kompromissangebot keine Befürworter, im Fall festgestellter Diskriminierungen den Rat dazu ermächtigen, mit Einstimmigkeit Maßnahmen zu erlassen.258 Ein Vorschlag von der Groebens, der den Wunsch nach Klarstellung darüber aufgriff, dass regional übliche Geschäftspraktiken keine Diskriminierung darstellten, wurde ebenso wenig von den Regierungsvertretern akzeptiert wie ein Kompromissangebot an die Italiener, das auf die nachvertragliche Einigung durch eine vom Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission zu erlassende Durchführungsverordnung hinausgelaufen wäre.259
256 Vgl. Protokollentwurf über die Sitzung der Arbeitsgruppe vom 05.–07. 11. 1956, Brüssel, 9. November 1956, Mar. Com. 110. MAE 525 d/56 arz/mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 205–206. S. 206; Vermerk: Betr.: Konferenz über den Gemeinsamen Markt vom 5. bis 7. Nov. 1956. Bundesministerium der Justiz, Referat IV 4. Bonn, 8. November 1856. Abgedr. ebd.: S. 203–205. S. 204f. 257 Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 8. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S.197–202. S. 197. 258 Demnach sollte bei festgestellter Diskriminierung der Rat auf Vorschlag der Kommission Vorschriften zur Untersagung dieser Diskriminierung erlassen können. Hierdurch wäre die Bekämpfung von Diskriminierungen in Einzelfällen nur durch Einigung im Rat möglich geworden. Die Bewertung von Diskriminierungspraktiken wäre damit in den nachvertraglichen, politischen Raum geschoben worden. Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 12. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 208–215. S. 208f., FN 3. 259 Den Kompromissvorschlag der Italiener aufgreifend, hatte die Expertengruppe den am 7. November formulierten und inhaltlich nicht veränderten Grundsatz ergänzt. Dem Rat sollte übertragen werden, nach Vertragsabschluss auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit Vorschriften zu erlassen, um den Grundsatz des Diskriminierungsverbotes umzusetzen. Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe unter Berücksichtigung des Meinungsaustausches innerhalb der engeren Gruppe , Brüssel, 20. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 223–227. S. 224. Auch wenn so dem italienischen Wunsch nach erneuter Diskussion nach Vertragsabschluß Rechnung getragen worden wäre, sollten vom Rat keine Einzelfälle entschieden werden, wie die Italiener dies gerne gehabt hätten. Daher forderten die Italiener bei der zweiten Lesung der Wettbewerbsregeln weiterhin die Streichung des Artikels und auch der Leiter der deutschen Delegation Müller-Armack sprach sich explizit gegen das Diskriminierungsverbot in der vorliegenden Fassung aus. Vgl. ZAR CM3 NEGO 236: Secrétariat, Mémento interne. Groupe du Marché Commun, 13, 14 et 15 novembre 1956, Fascicule 10. Examen en seconde lecture des règles de concurrence. Bruxelles, 20 novembre 1956. MA/Sec. 70 mp. S. 1f.
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Während sich die Experten bei den anderen Themen auf die Grundzüge einigen konnten, kam es beim Diskriminierungsartikel erst bei der abschließenden Lesung im Ausschuss Gemeinsamer Markt am 28. November 1956 dazu. Das Diskriminierungsverbot wegen Nationalität wurde aus dem Kapitel ‚Wettbewerbsregeln‘ herausgenommen und zu den Grundsätzen des Vertrags gestellt.260 Schließlich billigte der Ausschuss der Delegationsleiter am 6. Dezember den endgültigen Vorschlag, dass jegliche Diskriminierungen verboten sein sollten, die „auf Grund der Staatsangehörigkeit“ geschähen; unabhängig, ob durch Staaten, Unternehmen oder Privatpersonen verursacht.261 Das Diskriminierungsverbot fand als Artikel 7 Niederschlag im EWG-Vertrag.262 Ursprünglich zum Schutz des Wettbewerbs gedacht, wurde aus dem Diskriminierungsverbot ein Grundsatz der Gleichbehandlung aller Staatsangehörigen im Wirtschaftsverkehr. Komplizierter blieben die Verhandlungen über Kartelle und Monopole, da hier zwar Übereinstimmung bei der Bewertung von Kartellen und Monopolen bestand, aber die französischen Präferenzen bei der grundsätzlichen Ausrichtung von denen der meisten Delegationen abwichen. Die Experten folgten dem deutschen Wunsch, dem von der Groeben Nachdruck verliehen hatte, aus systematischen Gründen Monopole und Kartelle, im Gegensatz zum Vorschlag der Franzosen, Niederländer und Belgier, getrennt zu behandeln. Damit wurde es möglich, ergebnisoffen darüber zu diskutieren, ob Kartelle nach anderen wettbewerbspolitischen Prinzipien zu erfassen seien als Monopole. Die Experten berieten am 7. und 12. November 1956 verschiedene Einigungsmöglichkeiten.263 Dem Grundsatz des Kartellverbots mit Ausnahmetatbeständen stimmten alle zu. Allein die Franzosen beharrten aus den bekannten Gründen auf ihrem Standpunkt, dass das Verbot nicht nur auf den Handel
260 Vgl. Ausschuss der Delegationsleiter, Aufzeichnung des Vorsitzenden des Ausschusses Gemeinsamer Markt, Stand der Arbeiten in der Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt am 24.11. 1956. Brüssel, 24. November 1956. Ch. Del. 67. MAE 627 d/56mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 989–994. S. 991; ZAR CM3-NEGO 217. Aktenvermerk über die Genese des Artikel 7 EWG-Vertrag. 261 Vgl. Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 241–245. S. 245. 262 Das Diskriminierungsverbot wurde noch ergänzt um die Ermächtigung des Rates, auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit Regelungen für das Verbot zu treffen. Vgl. Art. 7, Abs. 2, EWG-Vertrag. Aus dem Wunsch der Italiener, dass der politisch geprägte Rat über Einzelfälle entscheiden sollte, war die Einbindung des Rates bei weiteren durch die Kommission zu erlassenden Vorschriften zur Konkretisierung des Diskriminierungsverbots aufgrund von Nationalität geworden. 263 Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 8. November 1956. MAE 518 d/56 ann/msr; 518 d/56 ann/hn 518 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S.197–202. S. 197ff. und Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 12. November 1956. MAE 527 d/56 ann/hn; 527 d/56 ann/eg. Abgedr. ebd.: S. 208–215. S. 209ff.
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zwischen den Staaten eingeschränkt werden sollte.264 Die französischen Wünsche stießen auch im Expertenkreis auf massiven Widerstand. Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von zwei oder drei Jahren in den Staaten nationale Wettbewerbsgesetze zu verabschieden beziehungsweise bestehende zu harmonisieren, erschien ihnen sehr gering. Angesichts der nicht realisierten nationalen Gesetze in Italien und Belgien, des gerade in Kraft getretenen Gesetzes in den Niederlanden und dem noch andauernden ‚Kartellkampf‘ in der Bundesrepublik lag dieses Urteil auf der Hand. Die Expertengespräche drehten sich im Kern um die Frage, wie das Kartellverbot gestaltet werden sollte. Wurden Kartelle als per se negativ und schädlich bewertet, sollten sie bis zur ausdrücklichen Genehmigung nichtig sein. Überwog hingegen die positive Beurteilung von Kartellen, sprach nichts dagegen, dass sie zunächst gültig sein sollten. Nicht zugelassen und nichtig wären einzelne Absprachen dann erst nach einem expliziten Verbot. In dieser Frage hatte von der Groeben keine wegweisenden Kompromissvorschläge, um die Gegensätze zwischen Franzosen und Deutschen zu überbrücken.265 Die Franzosen hielten am einfachen Registrierungsverfahren und damit an der Gültigkeit der Kartelle bis zum Widerspruch fest. Die wettbewerbspolitische Wirkung dieses Systems war für die deutschen Experten näher am Missbrauchs- denn am Verbotsprinzip und deshalb inakzeptabel. Zudem blieben Kriterien für die Ausnahmegenehmigungen und die Frage der Beweislast vorerst offen. Erst in der zweiten Expertenrunde am 12. November 1956 kam es zur Einigung auf zwei Systeme für die Erlaubnis von Kartellen.266 Das eine sah die Gültigkeit aller angemeldeten Kartelle vor, die mit dem Vertrag vereinbar waren. Das Kriterium dafür sollte „die Verbesserung der Produktion oder der Verteilung der Erzeugnisse oder die Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ sein.267 Nichtigkeit von Kartellen sollte erst durch nachträgliches Verbot der Kommission gelten, die zudem beweispflichtig sein sollte. Die andere, sehr viel engere Variante sah vor, dass die Nachweispflicht über die Unschädlichkeit der Absprache bei den Anmeldenden liegen würde. Absprachen blieben dann bis dahin nichtig.268
264 Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 12. November 1956. MAE 527 d/56 ann/hn; 527 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 208–215. S. 209, FN 4 und S. 211. 265 Vgl. Aufzeichnung über die Wettbewerbsregeln im Vertrag über den gemeinsamen europäischen Markt. Brüssel, 20. Oktober 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 185–192. 266 Allein die belgische Delegation konnte sich zu diesem Zeitpunkt keinem der beiden Kriterienkataloge anschließen. Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 12. November 1956. MAE 527 d/56 ann/hn; 527 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 208–215. S. 211, FN 9. 267 Ebd.: S. 210. 268 Darüber hinaus sollte zusätzlich noch das Kriterium erfüllt werden, dass die Verbesserungen „auch dem Verbraucher zugute kommen“. Neben der Auflage, nur zielnotwendige Einschränkungen vorzunehmen, sollte die Ausnahme auch erteilt werden, wenn durch die Kartellvereinbarung für Unternehmen nicht die Möglichkeit bestehen würde, „für eine wesentlichen
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Das Konzept der allgemeinen Nichtigkeit von Kartellen ließ jedoch die Frage des Zeitpunkts der Nichtigkeit offen, was angesichts der rechtlichen Folgen, die sich daraus für Kartelle und Dritte ergäben, nicht zu vertreten war. Die belgische Seite verweigerte deshalb dem Vorschlag die Zustimmung, dass erst der ablehnende Bescheid der Kommission die Nichtigkeit zur Folge hätte.269 Unabhängig von diesem Vorbehalt der Belgier blieb ungeklärt, ob Kartellabsprachen zwischen Anmeldung und Entscheidung der Kommission rechtsgültig wären oder nicht. Dem Vorschlag der Italiener, dass angemeldete Absprachen bis zur Entscheidung der Kommission rechtsgültig sein sollten, womit eine vorläufige Wirksamkeit entstanden wäre, verweigerte die deutsche Seite auf Expertenebene aufgrund der davon ausgehenden Rechtsunsicherheit für Kartellangehörige und Dritte ihre Zustimmung.270 Zur Behandlung von Monopolen konnten sich die Experten auf Basis der drei Entwürfe auf einen Katalog missbräuchlicher Praktiken einigen, der analog zur Aufzählung explizit verbotener Kartellvereinbarungen und abgestimmter Handlungen mehrerer Unternehmen war.271 Auf eine eindeutige Definition von „beherrschende Stellung“ konnten sich die Experten jedoch nicht einigen. Umstritten blieb auch die Frage, ob der Begriff überhaupt im Vertrag bestimmt werden sollte. Der niederländische Kompromissvorschlag, anstelle von „beherrschender Stellung“ die Begriffe „Monopol- oder Quasi-Monopolstellung“ zu verwenden und somit zwar eine Definition aufzunehmen, ohne diese jedoch zu eng auszulegen, fand keine Mehrheit.272 Veränderungen bei den Positionen der Sachverständigen ergaben sich hinsichtlich der Umsetzung der Grundsätze. Auf Expertenebene näherten sich die Franzosen der deutschen Idee an und stimmten einer von der Kommission einzuberufenden Konferenz der Mitgliedstaaten zu, um ein Zusatzabkommen über Ausführungsbestimmungen der Grundsätze zu vereinbaren. Darüber hinausgehende Pläne, dass der Rat nach Ablauf einer Frist mit qualifizierter Mehrheit Durchführungsverordnungen erlassen können sollte, lehnten die Franzosen weiterhin ebenso ab wie die Beauftragung der Kommission, Verordnungen zu erlassen. Unabhängig vom französischen Vorbehalt gegenüber der Übertragung von Befugnissen an supranationale Organe diskutierten die Experten zunächst ohne Ergebnis über die Rolle der Versammlung im legislativen Prozess und über
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Teil der betroffenen Erzeugnisse die Preise festzusetzen, die Produktion oder den Absatz einzuschränken, oder den Wettbewerb anderer Unternehmen auszuschalten.“ Ebd.: S. 211. Vgl. ebd.: S. 211, FN 10. Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 8. November 1956. MAE 518 d/56 ann/msr; 518 d/56 ann/hn 518 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 197–202. S. 199. Demnach sollte die Forderung unbilliger Preise oder Geschäftsbedingungen, die Begrenzung von Produktion, Absatz oder technischer Entwicklung zum Schaden der Verbraucher, die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichartigen Leistungen gegenüber miteinander in Wettbewerb stehenden Handelspartnern sowie der Abschluss von Koppelgeschäften als missbräuchliche Praktik ausdrücklich untersagt sein, wenn ein Unternehmen hierbei seine „beherrschende Stellung“ ausnutzen würde. Vgl. ebd.: S. 200. Vgl. ebd.: S. 200, FN 11.
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mögliche Inhalte von Durchführungsverordnungen. Es zeichnete sich ab, dass im Vertrag keine ausreichend konkreten Bestimmungen zur Durchsetzung der Grundsätze enthalten sein würden, so dass die Experten auch über die Aufgaben der Kommission in der Übergangszeit debattierten, wobei sich die Franzosen ebenso der Kompetenzübertragung an die Kommission widersetzten. Die unterschiedlichen wettbewerbspolitischen und kooperationspolitischen Ansätze und Zielsetzungen der Staaten, die Präferenzen für unterschiedliche Instrumente und die fehlende Einigung auf die Einschätzung von Kartellen auf politischer Ebene führten Anfang November dazu, dass die Diskussionen auch auf Expertenebene bei der Frage der Umsetzung der Grundsätze stockten.273 Dennoch einigte sich die Mehrheit der Experten auf den Vorschlag, dass die Kommission die „Anwendung der Bestimmungen dieses Vertrags, des Zusatzabkommens und der Durchführungsverordnungen“ überwachen sollte. Verstöße gegen darin festgelegte Bestimmungen sollte sie mit Unterstützung der nationalen Behörden untersuchen und gegebenenfalls Schlichtungsverfahren einleiten, um die Verstöße abzustellen. Da das Handeln der Kommission transparent sein sollte, sollten auch die Regierungen der Länder von betroffenen Unternehmen von den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt werden.274 Nur die Belgier wollten Sanktionen allein durch Gerichte verhängt wissen und nach erfolglosem Schlichtungsverfahren allen am Verfahren beteiligten Parteien das Recht geben, den Gerichtshof anzurufen.275 Die anderen vier Delegationen waren mit Ausnahme der Franzosen bereit, der Kommission die Sanktionsbefugnis zu geben, die als Verwaltungsentscheidung beim Gerichtshof überprüfbar werden sollte.276 Die französischen Experten betonten einmal mehr, dass sie supranationale Institutionen ablehnten, die das Sanktionsrecht hätten, weil damit Rechtsfolgen für Staatsbürger und Unternehmen verbunden gewesen wären. Sie wollten verhindern, dass gemeinschaftliche Sanktionen von supranationalen Institutionen „unmittelbar auf die Unternehmen angewandt werden.“277 Der niederländische Vorschlag eines ‚Beratenden Ausschusses‘, auf den die Kommission bei Fachfragen zurückgreifen können sollte, ähnlich den nationalen Verfahren in den Niederlanden und Frankreich, wurde zunächst aufgenommen, blieb aber umstritten und wurde schließlich gestrichen.278 Der deutsche Vorschlag 273 Vgl. ebd.: S. 200f.; Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 12. November 1956. MAE 527 d/56 ann/hn; 527 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 208–215. S. 212f. 274 Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 12. November 1956. MAE 527 d/56 ann/hn; 527 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 208–215. S. 213ff. 275 Vgl. ebd.: S. 211. FN 10 und S. 214. FN 25. 276 Vgl. ebd.: S. 213ff. 277 Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 8. November 1956. MAE 518 d/56 ann/msr; 518 d/56 ann/hn 518 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 197–202. S. 202. FN 20. 278 Der niederländische Vorschlag ließ keinen Zweifel daran, dass ein wie auch immer gestaltetes Verfahren nur Fälle von „Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen der Artikel [...] und
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einer Beschwerdestelle im Sinne eines Kartellamtes, die die ‚Zuständigkeit für das Gesamtverfahren‘ erhalten sollte, war von dem niederländischen zu verschieden, um hierbei Kompromisse zu finden. Darüber hinaus gab es nach Ressortgesprächen in Bonn Ende Oktober und Anfang November und den politischen Ereignissen in Ungarn und am Suezkanal einen Wandel der deutschen Verhandlungsposition.279 D.3.e Die Veränderung des Kooperationswerts angesichts weltpolitischer Unsicherheit Parallel zu den Detailverhandlungen über die Wettbewerbsregeln hatte man auch keine Fortschritte auf höchster politischer Ebene bei den wesentlichen Vorbehalten der Franzosen gemacht, die bei der Pariser Außenministerkonferenz auf den Tisch gekommen waren. Bei allen Kontroversen waren die Meinungsverschiedenheiten der Staaten bei den Wettbewerbsregeln zwar nicht zentral, jedoch beispielhaft für die französische Verhandlungsposition im Ausschuss Gemeinsamer Markt.280 Erst die weltpolitisch bedeutenden Ereignisse in Ägypten seit der Verkündung des ägyptischen Staatschefs Nasser am 26. Juli 1956 den Suezkanal zu nationalisieren sowie das militärische Eingreifen der UdSSR in die Unabhängigkeitsbestrebungen in Ungarn bewirkten nachhaltige Neubestimmungen der Verhandlungspositionen. Besonders in Frankreich kam es als Folge des Eingreifens der USA und der UdSSR im Suez-Konflikt zur Ernüchterung über das eigene außenpolitische Gewicht in der Welt. Hinzu kamen Sorgen vor neutralistischen Tendenzen in den USA, die mancher nach dem gemeinsamen Vorgehen mit der UdSSR gegen Briten und Franzosen im Nahen Osten auf einmal auf der Seite der UdSSR sah. Zusammen mit den Ereignissen in Budapest trug dies in Paris, aber auch in Bonn und den anderen Hauptstädten, zur Besinnung auf den Wert internationaler Zusammenarbeit und Kooperation in Europa bei.281 Kurz nach dem Höhepunkt der Eskalation in Ungarn und kurz vor dem Gipfel der Suezkrise brach Adenauer am 5. November zu den seit Ende September geplanten Gesprächen mit der französischen Regierung in Paris auf.282 Die weltpolitischen Umstände ermöglichten es Adenauer, mehr durch seine in Bonn umstrittene Reise als mit Worten ein Zeichen zu setzen und auf den Vorteil guter und partnerschaftlicher Beziehungen hinzuweisen.283 Premierminister Guy Mollet hatte bereits im September angesichts der Spannungen um den Suez-Kanal intern
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der Durchführungsverordnungen“ behandeln sollte und dass das Verhalten von Unternehmen Gegenstand von Untersuchungen und Sanktionen sein sollte. Vgl. ebd.: S. 202. Vgl. Arbeitsgruppe für den Gemeinsamen Markt. Redaktionsvorschlag der deutschen Delegation betreffend die Wettbewerbsregeln für die Unternehmen. Brüssel, 13. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 215–216. S. 216. Über das französische Verhandlungsverhalten vgl. Groeben: Deutschland und Europa. S. 289f.; Lahr: Zeuge von Fall und Aufstieg. S. 347. Zur Relevanz der Suezkrise vgl. Guillen: Europe as a Cure. S. 513. Zur Suezkanal- und Ungarnkrise vgl. Carstens: Das Eingreifen Adenauers. S. 595–598. Vgl. Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 666f.
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zur Beschleunigung der Verhandlungen in Brüssel gemahnt.284 Mit steigender internationaler Unsicherheit stieg auch der potentielle Nutzen einer Kooperationsvereinbarung zwischen den sechs Staaten. Der relative Wert einzelner nationaler Verhandlungsziele sank und die Chance gegenseitiger Zugeständnisse stieg. Die potentiellen Kosten des Scheiterns der beiden Projekte Gemeinsamer Markt und EURATOM überstiegen die nationalen Kosten einzelner Kompromisse, die unter anderen Umständen innenpolitisch nicht durchsetzbar gewesen wären. Sowohl im Hinblick auf die Atombewaffnung als auch auf die Energieabhängigkeit vom Öl des Nahen Ostens wurde in Frankreich nach der Suezkrise auch die Atomkooperation neu bewertet, die nach den Vorstellungen der Partner nur beim Zustandekommen des gemeinsamen Marktes verwirklicht würde.285 Vor diesem Hintergrund kam es parallel zu den Gesprächen von Adenauer und Mollet auf der Ebene hoher Beamter zu entscheidenden Annäherungen bei den bisher strittigen Punkten zwischen Frankreich und der Bundesrepublik.286 Vor allem trat die französische Seite nun von ihren bisherigen Maximalforderungen zurück und zeigte sich kompromissbereit.287 Zwar hatten Wettbewerbsfragen keine Rolle gespielt, aber dennoch hatten die Ergebnisse von Paris erhebliche Auswirkungen auf die weiteren Verhandlungen. Auch in den anderen vier Ländern war es infolge der weltpolitischen Ereignisse zur Neubewertung ihrer Präferenzen gekommen, so dass sie, wenn auch ohne Begeisterung, die deutsch-französischen Einigungen akzeptierten, auf die sie keinen Einfluss gehabt hatten.288 Müller-Armack wies später auf die große Bedeutung der Ereignisse im Herbst 1956 für den Gang der EWG-Verhandlungen hin. Diese zielten nun mehr in Richtung eines wie auch immer gearteten Ergebnisses, an das verstärkt politische Erwartungen geknüpft wurden. 289 Fast parallel zu dem Treffen der Regierungschefs in Paris setzte sich die Umorientierung der deutschen Verhandlungsposition fort. Einerseits wies Adenauer bei einem Gespräch mit von der Groeben kurz nach seiner Rückkehr aus Paris den Weg, um die Verhandlun-
284 Vgl. Guillen: Europe as a Cure. S. 513. 285 Vgl. Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 6f.; ders.: Europe as a Cure. S. 515f. 286 Vgl. Carstens: Eingreifen Adenauers: S. 598ff.; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 327ff. Thiemeyer vertritt die These, das bereits beim Treffen Adenauers mit Mollet am 26. September 1956 in Bonn „der entscheidende politische Durchbruch in den Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt erzielt“ wurde. Allein die diplomatische Unerfahrenheit Brentanos habe die Außenministerkonferenz im Oktober trotzdem scheiterten lassen. Vgl. Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 220ff. Unabhängig von Thiemeyers Begründung steht hierzu im Gegensatz die Tatsache, dass sich die Lage am Suezkanal erst Ende September/Anfang Oktober massiv zugespitzte und auf einen militärisch Eingriff in Ägypten zulief. Ebenso war die Ungarn-Krise, die zentrale Interessenspolitische Veränderungen brachte, noch nicht in ihrem Ausmaß zu erkennen. 287 Vgl. Guillen: Europe as a Cure. S. 513f. 288 Vgl. Thiemeyer: ‚Pool Vert‘ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 231 und S. 235ff. 289 Vgl. Müller-Armack: Fragen der europäischen Integration. S. 531, S. 534f. und S. 540.
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gen auf Grundlage des Spaak-Berichts fortzusetzen.290 Andererseits rückte die deutsche Delegation mit ihren Forderungen bei den Wettbewerbsregeln kurz danach sogar noch hinter die Einigung des Spaak-Berichts zurück. Die deutsche Delegation legte bei der Fortsetzung der Zweiten Lesung der Wettbewerbsartikel auf Basis der von den Experten erarbeiteten Vorschläge am 13. November 1956 einen als „Redaktionsvorschlag“ bezeichneten neuen Artikelentwurf vor, der dies deutlich werden ließ. Bereits in der Woche vor der Parisreise Adenauers war Franz Etzel in Bonn gewesen, um die europapolitischen Positionen des Auswärtigem Amts, des Bundeswirtschaftsministeriums und des gerade neu gegründeten Bundesministeriums für Atomenergie, mit Franz-Josef Strauß an der Spitze, zu koordinieren. Ein Ergebnis davon war die Abkehr von der bisherigen deutlichen Verhandlungsposition für ein wettbewerbspolitisches Gesamtkonzept, das an die deutsche Wettbewerbskonzeption angelehnt war. Meyer-Cording hatte sich sehr kritisch gegenüber der Etablierung supranationalen Rechts durch den Vertrag geäußert. Er konnte sich mit der Empfehlung durchsetzen, ein drittes materiell verschiedenes Kartellgesetz neben dem Kartellrecht der EGKS und dem künftigen deutschen Wettbewerbsgesetz zu verhindern und sich bei den Verhandlungen nur für allgemeine Grundsätze einzusetzen. Die Kartell- und Monopolprobleme sollten später nach ersten Erfahrungen mit dem Gemeinsamen Markt angegangen werden. Bis dahin sollten nationale Vorschriften, auf deren Harmonisierung die Kommission mittelfristig hinwirken sollte, ihre wettbewerbspolitische Wirkung entfalten.291 Die potentiellen wirtschaftlichen Probleme und die Tatsache der nicht vorhandenen Wettbewerbsgesetze in einigen Partnerstaaten galten in Bonn zu diesem Zeitpunkt nicht als ausreichende Argumente dafür, den europäischen Binnenmarkt möglichst schnell wie einen nationalen Binnenmarkt zu gestalten. Diese wirtschaftstheoretisch wohlbegründete Position, Mitte der 1950er Jahre noch unter Mitarbeit von von der Groeben im Bundeswirtschaftsministerium erarbeitet und verfolgt, war nun in der deutschen Regierung nicht mehr mehrheitsfähig. Der neue deutsche, in Brüssel vorgelegte „Redaktionsentwurf“ trug dann auch stärker die Züge einer intergouvernementalen Vereinbarung ohne direkte Konsequenzen für die Wirtschaftssubjekte. Wettbewerbsbehindernde Geschäftspraktiken sollten demnach zwar als unvereinbar mit den Zielen des Vertrags erklärt werden. Zu ihrer grenzüberschreitenden Bekämpfung wurden aber nur bilaterale Verhandlungen unter Anleitung der Kommission auf Basis nationalen Rechts vorgeschlagen. Falls nationales Kartellrecht nicht vorhanden war, sollten sich die Regierungen
290 Vgl. Bundesminister der Justiz, Referat IV, 4: Vermerk: Betr.: Konferenz über den Gemeinsamen Markt vom 5. 7. November 1956. Bonn, 8. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 203–205. S. 203. 291 Vgl. Vermerk von Meyer-Cording, Referatsleiter III, 5 im Bundeswirtschaftsministerium. Betr.: Vorschriften des in Brüssel verhandelten Vertragsentwurfs für einen Gemeinsamen Markt über Wettbewerbsregeln. Bonn, 5. Nov. 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 194–196. S. 195f.
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„bemühen“, solches zu etablieren.292 Andernfalls sollte der Rat nach vier Jahren die Möglichkeit haben, auf Vorschlag der Kommission und mit Zustimmung der Versammlung notwendige Regelungen zu treffen. Dieser Vorschlag war in seiner Allgemeingültigkeit und Unverbindlichkeit weit entfernt von den Zielsetzungen des Spaak-Berichts und verwunderte die anderen Delegationen.293 Auch von der Groeben erinnerte sich an seine Überraschung darüber, dass Müller-Armack nur noch für allgemeine „Absichtserklärungen“ plädierte, was wiederum von der Groebens Distanz zu den Vorgängen im Bundeswirtschaftsministerium deutlich macht.294 Neben dem starken wirtschaftsliberalen Einfluss Müller-Armacks auf die deutsche Verhandlungsposition mag auch das Dilemma, in dem sich die deutsche Verhandlungsführung befand, mit zu dieser deutschen Position im November 1956 beigetragen haben. Die offensive Durchsetzung eines rigorosen Verbotsprinzips mit Ausnahmegenehmigung, das man beim GWB innenpolitisch intensiv gegen alle Angriffe verteidigte, war aussichtslos. Und auch die Realisierung einer wettbewerbspolitisch zufriedenstellenden Harmonisierung der nationalen Gesetzgebungen durch nationale Gesetzgeber erschien von Anbeginn an zweifelhaft. Hier drohten zu hohe nachvertragliche Kosten durch Nichtvertragserfüllung der Partnerstaaten und nationale Anpassungskosten. Aus innenpolitischer Sicht war nicht akzeptabel, entweder das seit vielen Jahren hart umkämpfte GWB aufzuschieben oder innerhalb kurzer Zeit revidieren zu müssen. Auf weitere Verhandlungen konnte man nicht setzen, da Adenauer nach der Einigung von Paris auf den baldigen Abschluss der Verhandlungen drängte. In Brüssel konnte man jedoch ebenfalls aus innenpolitischen Gründen weder offen dem abgemilderten Verbotsprinzip zustimmen, wie es als Kompromiss vorlag und von den Benelux-Staaten präferiert wurde, noch dem von den Franzosen präferierten Verbotsprinzip mit Registrierung und Missbrauchsaufsicht. Auch wenn die deutsche Industrie Letzteres begrüßt hätte, musste dieses Konzept auf europäischer Ebene abgelehnt werden. Abgesehen von der Frage der ordnungspolitischen Überzeugung der Führung im Wirtschaftsministerium, drohte andernfalls die ohnehin schwache Verhandlungsposition in der innenpolitischen Auseinandersetzung um das GWB zu erodieren.295 Wenn das GWB innenpolitisch erst einmal durchgesetzt und einige Zeit angewendet wäre, könnte seine Konzeption eventuell andere Regierun292 Arbeitsgruppe für den Gemeinsamen Markt. Redaktionsvorschlag der deutschen Delegation betreffend die Wettbewerbsregeln für die Unternehmen. Brüssel, 13. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): S. 215–216. S. 216. 293 Vgl. ZAR CM3 NEGO 236: Secrétariat, Mémento interne. Groupe du Marché Commun, 13, 14 et 15 novembre 1956, Fascicule 10. Examen en seconde lecture des regles de concurrence. Bruxelles, 20 novembre 1956. MA/Sec. 70 mp. S. 2. 294 Vgl. Groeben: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. S. 56. 295 Vgl. Vermerk von Meyer-Cording, Referatsleiter III, 5 im Bundeswirtschaftsministerium. Betr.: Vorschriften des in Brüssel verhandelten Vertragsentwurfs für einen Gemeinsamen Markt über Wettbewerbsregeln. Bonn, 5. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 194–196. S. 195f.; Bundesminister der Justiz, Referat IV, 4: Vermerk: Betr.: Konferenz über den Gemeinsamen Markt vom 5. bis 7. November 1956. Bonn, 8. November 1956. Abgedr. ebd.: S. 203–205. S. 205.
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gen überzeugen und internationale Verhandlungen könnten unabhängiger von innenpolitischen Diskussionen geführt werden. Zudem schien die punktuelle Anpassung eines existierenden Gesetzes zur europäischen Angleichung zu einem späteren Zeitpunkt relativ günstiger als die Veränderung des Entwurfs zum GWB und damit die weitere Verschiebung eines Bundestagsbeschlusses. MüllerArmack legte einen pauschalen Vorschlag vor, der auf Zeit spielte, um die Einigung in den Vertragsverhandlungen durch den deutschen Vorbehalt beim Anmelde- und Registrierungsverfahren nicht länger zu verhindern. Die wettbewerbspolitischen Grundsätze waren damit nicht in Gefahr, zumal sich ein Kompromissvorschlag von der Groebens abzeichnete, der gute Aussicht auf die Unterstützung der Benelux-Länder hatte und nicht im Widerspruch zu den deutschen Interessen stand. Der deutsche Versuch, das Thema Wettbewerb zunächst weitgehend aus den Vertragsverhandlungen auszuklammern, scheiterte jedoch am Widerstand Italiens und Frankreichs.296 Nachdem deutlich wurde, dass auch Frankreich auf den Kompromissvorschlag von der Groebens einschwenken würde, war der neue deutsche Entwurf sowohl eine innenpolitisch befreiende Position für die Bundesregierung als auch ein indirektes aber deutliches Zeichen dafür, das neue Verhandlungsziel von der Groebens zu unterstützen. Ohne von den bisherigen Einigungen auf Grundsätze abzurücken, wollte dieser einzelne Detailfragen nach der bilateralen Einigung in Paris in die Zukunft verschieben, um bald zu abschließenden Ergebnissen zu kommen. Von der Groeben setzte sich kurz nach der Wiederaufnahme der Zweiten Lesung der Wettbewerbsregeln über die neuen deutschen Vorstellungen hinweg und legte am 13. November einen Vorschlag vor, der die weitere Diskussion straffen sollte.297 Er nahm alle strittigen Themenbereiche aus den Wettbewerbsartikeln für Unternehmen heraus. Artikel 42 enthielt weiterhin das allgemein unumstrittene Kartellverbot und in Artikel 43 schlug von der Groeben eine Regelung vor, nach der es Aufgabe eines Zusatzabkommens oder auch einer Durchführungsverordnung sein sollte, die genauen Umstände der Ausnahmetatbestände und der Zuständigkeiten für die damit verbundenen Verfahren zu regeln.298 Die Staaten hatten jedoch schon erneut die Expertenrunde beauftragt, weitere Kompromisse auszuhandeln und speziell einheitliche Ausnahmetatbestände vom Kartellverbot zu formulieren. Zwar war das grundsätzliche Kartellverbot nur noch Gegenstand redaktioneller Veränderungen, aber auch die Frage der Anmeldung und Genehmigung von Kartellen sollte nach Meinung der Mehrheit im Vertrag selbst und nicht erst später geklärt werden. Auf Voraussetzungen für Ausnahmen konnten sich die Experten bald einigen. Demnach sollten genehmigungsfähige Kartelle zur „Verbesserung der Produktion oder des Absatzes“ oder zur „Förderung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts“ beitragen und „die 296 BA B102/17333. Schreiben von Beutler und Sölter an Müller-Armack vom 26. Januar 1957. 297 Vgl. Vorschlag des Präsidenten für die Fassung der Vorschriften über die Wettbewerbsbeschränkungen, Brüssel 14. November 1956, Mar. Com. 113, MAE 541 d56/mp; 541 d56/hs, 541 d56/msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 217–220; Groeben: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. S. 56. 298 Vgl. ebd.: S. 219.
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Verbraucher gleichzeitig in angemessener Weise an dem sich daraus ergebenden Gewinn teilhaben“ lassen.299 Kartelle, die diese Bedingungen nachweislich erfüllten, sollten vom Verbot befreit werden. Somit wäre die Befreiung vom Verbot erst nach dem erfolgreichen Nachweis gültig gewesen und bis dahin nichtig und nicht einklagbar. Explizite Registrierung wäre nicht mehr nötig gewesen, da Unternehmen, die vom Verbot befreit werden wollten, den Nachweis über die Erfüllung der Kriterien erbringen mussten. Jedoch scheiterte diese Lösung an der Frage, welche Institution – und damit auch, ob auf nationaler oder supranationaler Ebene – den Nachweis der Ausnahmetatbestände bestätigen sollte. Diese Frage blieb offen. Auch die vom Delegationsleiterausschuss im Dezember 1956 gebilligte Fassung des Kartellartikels Nr. 42 äußerte sich nicht zu der Institution, die die Entscheidung über das Vorliegen der Ausnahmetatbestände treffen sollte.300 Nach ergebnislosen Verhandlungen waren die Staaten dem Vorschlag von der Groebens gefolgt und hatten die für die Anwendung und Durchsetzung der Grundsätze notwendigen Bestimmungen, und damit auch die Frage der Ausnahmegenehmigung, auf die Zeit nach Vertragsabschluß vertagt.301 Über die Behandlung von Monopolen und monopolartigen Marktsituationen nach dem Missbrauchsprinzip war man sich im Grundsatz bereits seit September 1956 einig. Nur der Katalog der explizit untersagten Praktiken wurde Ende November an einigen Stellen noch verändert und leicht verschärft.302 Ansonsten wurden nur noch redaktionelle Änderungen vorgenommen. Die von den Experten am 19. und 20. November ausgearbeitete und Anfang Dezember vom Delegationsleiterausschuss gebilligte Fassung lautete schließlich: „Soweit der Handel zwischen Mitgliedstaaten dadurch betroffen werden kann, ist es mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten, dass ein oder mehrere Unternehmen eine beherrschende Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentli299 Entwurf einer Fassung für Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe am 20. November 1956 ausgearbeitet unter Berücksichtigung des Meinungsaustausches innerhalb der engeren Gruppe am 19. November 1956. Brüssel, 20. November 1956. MAE 602 d/56 eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 224–227. S. 225. 300 Art. 42, Abs. 2 beginnt mit: „Es können für gültig erklärt werden...“, jedoch nennt der Artikel keine Institution. Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 241–245. S. 243. 301 Vgl. Art. 43 der vom Ausschuss der Delegationsleiter genehmigten Artikel ebd.: S. 244. 302 Das Verbot, unterschiedliche Bedingungen bei sonst gleicher Leistung gegenüber Handelspartnern anzuwenden, wurde verschärft, da nicht mehr diese Handelspartner „untereinander in Wettbewerb stehen“ mussten, wie es in Anlehnung an den belgisch-niederländischen Entwurf im Expertenentwurf vom 12. November noch geheißen hatte, sondern nun allein die Benachteiligung im Wettbewerb Maßstab wurde. Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe, Brüssel, 12. November 1956. MAE 527 d/56 ann/hn; 527 d/56 ann/eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 208–215. S. 212; Entwurf einer Fassung für Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe am 20. November 1956 ausgearbeitet unter Berücksichtigung des Meinungsaustausches innerhalb der engeren Gruppe am 19. November 1956. Brüssel, 20. November 1956. MAE 602 d/56 eg. Abgedr. ebd.: S. 224–227. S. 226.
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chen Teil des Gemeinsamen Marktes in missbräuchlicher Weise ausnutzen.“303 Monopole oder andere marktbeherrschende Unternehmen sollten also durch Missbrauchsverbot und -kontrolle überwacht werden. Offen blieb jedoch im EWG-Vertrag die Definition von marktbeherrschender Stellung und damit die Entscheidung darüber, ob Marktergebnis, Marktstruktur oder Marktverhalten als Maßstab für Wettbewerbsverzerrung im Gemeinsamen Markt gelten sollte. Die im Spaak-Bericht explizit geforderte Aufsicht über Unternehmenszusammenschlüsse fand keinen Eingang in den EWG-Vertrag. Die externe Konzentrationsstrategie als Behinderung des Wettbewerbs wurde von den Regierungen der Staaten nicht als dringend zu regelndes Problem angesehen; eine Einschätzung, die bereits 1960 vom Kommissar für Wettbewerb als problematisch für die gemeinsame Wettbewerbspolitik eingeschätzt wurde.304 In der zweiten Lesung der Wettbewerbsartikel im Ausschuss Gemeinsamer Markt am 13. November 1956 war ungeklärt geblieben, welche Institutionen, nationale oder supranationale, die Normen umsetzen und Vergehen gegen die Wettbewerbsgrundsätze verfolgen und ahnden sollten. In den folgenden Sitzungen des Ausschusses und der Expertenrunden zeichnete sich im Laufe des Novembers auch hier eine Mehrheit für die die Einigung aufschiebende Lösung ab. Ein Vorschlag von der Groebens, der sich an ehemalige deutsche Vorstellungen anlehnte, berücksichtigte die niederländischen Vorstellungen hinsichtlich der Beteiligung der Versammlung und listete zudem ausführlich und detailliert auf, welche Bereiche die zukünftige Durchführungsverordnung zu regeln habe. Die Ausarbeitung konkreter Anwendungs- und Durchführungsbestimmungen sollte an die Mitgliedstaaten delegiert werden. Innerhalb von drei Jahren sollte eine einstimmige Entscheidung mit Unterstützung und beratender Stimme der Kommission getroffen werden. Nach Ablauf von vier Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags sollte der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit die notwendigen Vorschriften erlassen können.305 Die Experten übernahmen das im Vorschlag von der Groebens noch enthaltene niederländische Element ‚Notwendigkeit der Zustimmung der Versammlung‘. Allerdings wurde die Frage nach der Rolle der Versammlung Anfang Dezember auf Delegationsleiterebene auf Eis gelegt, da die Entscheidungen über das institutionelle Gesamtgefüge der Gemeinschaft noch 303 Entwurf einer Fassung für Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe am 20. November 1956 ausgearbeitet unter Berücksichtigung der Meinungsaustausches innerhalb der engeren Gruppe am 19. November 1956. Brüssel, 20. November 1956. MAE 602 d/56 eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 224–227. S. 225. Und gleichzeitig: Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. ebd.: S. 241–245. S. 243. 304 Vgl. HAEKB CEAB3 476: Blatt 093–112. „Das Kartellrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Lichte zweijähriger Erfahrung“. Redemanuskript von der Groeben vor der Internationalen Kartellrechtskonferenz, Frankfurt am Main, vom 7. bis 11. Juni 1960. X/3237/60-D. Blatt 101. 305 Vgl. Vorschlag des Präsidenten für die Fassung der Vorschriften über Wettbewerbsbeschränkungen. Brüssel, 14. November 1956. Mar. Com. 113. MAE 541 d/56 mp; 541 d/56 hs, 541 d/56 msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 217–220. S. 219.
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ausstanden.306 Das deutsche Element einer speziellen Regierungskonferenz wurde fallen gelassen, denn letztens Endes etablierten die Staaten mit dem Rat eine dauerhafte Konferenz der Mitgliedstaaten als Organ der Gemeinschaft. Der Kommission sollte es ungenommen bleiben, die Initiative zu ergreifen und eine Konferenz der Mitgliedstaaten zur Ausarbeitung der Durchführungsverordnung einzuberufen. Mit der Auflistung der Regelungstatbestände einer zukünftigen Verordnung trug von der Groeben zur Zuspitzung der Konflikte und damit zur Beschleunigung der Verhandlungen bei. Gleichzeitig wurde damit im Vergleich zum SpaakBericht nur ein kleiner Schritt nach vorne getan. Diskutiert wurde nun nur noch darüber, wie lang der Übergangszeitraum sein sollte, nach dessen Ende der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können sollte, und darüber, welche wettbewerbspolitischen Dinge durch die Verordnung zu regeln waren. Hinsichtlich des Zeitraums drängten die Niederländer auf eine kurze Übergangszeit von zwei Jahren. Deutsche und Franzosen tendierten zu vier Jahren, so dass der Vertrag den Kompromiss von drei Jahren festschrieb.307 Hinter dieser Frage stand jedoch die viel bedeutendere Auseinandersetzung zwischen den Niederlanden und Frankreich. Während die Niederländer so bald wie mögliche eine supranationale Organisation in der Verantwortung wissen wollten, plädierten die Franzosen weiterhin für die starke Stellung der Nationalstaaten. Deren Einflussnahme wollte man in Paris durch einen möglichst langen Zeitraum, in dem nur einstimmig im Rat entschieden werden könnte, gesichert wissen. Entscheidungen von supranationaler Ebene, die nationalen Interessen zuwider sein könnten, wollte man nach Möglichkeit lange verhindern. In Den Haag sah man hingegen das nationale Interesse am besten in einem mit qualifizierter Mehrheit abstimmenden System gesichert, zumal sich scheinbar in vielen Fragen Übereinstimmung mit anderen ‚Kleinen‘ abzeichnete. Die Delegationsleiter billigten den Katalog mit zahlreichen Fragen, über die im Rahmen der Vertragsverhandlungen eine Einigung nicht zustande gekommen war und die in der Zukunft entschieden werden sollten. Dazu zählten die Einführung von Buß- und Zwangsgeldern, die konkreten Regelungen zur Bewilligung der Kartellausnahmegenehmigung und gegebenenfalls die Einschränkungen von Kartellverbot und Missbrauchsaufsicht für bestimmte Wirtschaftszweige. Letztere waren zwar in allen vorhandenen und geplanten nationalen Wettbewerbsgesetzten enthalten, aber als dieses Thema bei den Expertengesprächen am 19. und 20. November aufkam, war kurzfristig kein Einvernehmen über die Wirtschaftszweige zu erzielen gewesen, so dass auch dieses Thema in den Katalog aufgenommen worden war. Zusätzlich wurde festgehalten, dass die verfahrenstechnische Rolle von Kommission und Gerichtshof festgelegt und der Anwendungsbe306 Vgl. Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 241–245. S. 244, FN 3. 307 Vgl. Entwurf einer Fassung für die Wettbewerbsregeln (von der niederländischen Delegation vorgeschlagen). Brüssel, 15. November 1956. MAE 547 d/56 ann/msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 220–223. S. 222.
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reich der nationalen und europäischen Rechtsordnungen koordiniert und damit auch definiert werden müsste.308 Die französische Regierung hatte sich zwar mit ihrem Ziel der Harmonisierung nationalen Rechts nicht durchsetzen können, aber doch so sehr darauf beharrt, dass eine gegenteilige Einigung auch nicht möglich gewesen war. Die verfahrenstechnische Rolle von Kommission und Gerichtshof, die nun Gegenstand zukünftiger nachvertraglicher Verhandlungen wurde, war in den drei nationalen Vorschlägen ursprünglich getrennt von „Vorschriften zur Anwendung der Normen des Vertrags“ im Themenbereich „Entscheidungen und Beschwerden“ behandelt worden. Die Vertragsstaaten hatten sich für die Kartell- und Wettbewerbspolitik, einem der bedeutendsten Politikfelder nach der Liberalisierung, noch nicht auf konkrete Institutionen einigen können. Auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik geschah die Übertragung von Verfügungsrechten sehr vorsichtig und zögerlich. Hierfür waren vor allem die beiden großen Staaten, Frankreich und die Bundesrepublik, verantwortlich. Der Verhandlungsleiter von der Groeben hatte die Präferenzen der Gegner von supranationalen Institutionen in diesen beiden Staaten nicht übergehen können. Von der Groeben konnte sich hingegen mit seinem Vorschlag durchsetzen, die „Zulässigkeit von Ausnahmen von dem Grundsatz“ des Kartellverbots in der Übergangszeit „nach der Gesetzgebung jedes einzelnen Mitgliedstaates“ zu regeln.309 Damit wurde ein Weg gefunden, dass keine Rechtsnormen im Vertrag beschlossen wurden, die wegen fehlender Zuständigkeit nicht anwendbar gewesen wären. Zudem ermöglichte dieser Vorschlag die Zustimmung der Franzosen, da innerhalb der Übergangszeit die von ihnen favorisierte Lösung gelten sollte. Zugleich konnten sie sich bei den erneuten nachvertraglichen Verhandlungen für dieses System weiterhin stark machen. Die Zuständigkeit der Staaten für die Anwendung der Kartellgrundsätze in der Übergangszeit wurde von der Expertenrunde Ende November auf die Missbrauchskontrolle von marktbeherrschenden Unternehmen erweitert und genauer formuliert. Danach sollten auch hier Entscheidungen „nach den in diesen Staaten geltenden Vorschriften“ getroffen werden.310 Jedoch bestand keine Übereinstimmung darüber, ob somit bis zum Erlass von europäischen Durchführungsbestimmungen die im Vertrag niedergelegten Kartell- und Missbrauchsgrundsätze Relevanz hätten. Eine explizite Festlegung auf die Berücksichtigung der Artikel 42 (Kartellverbot) und 42a
308 Vgl. Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 242–245. S. 244. 309 Vorschlag des Präsidenten für die Fassung der Vorschriften über Wettbewerbsbeschränkungen. Brüssel, 14. November 1956. Mar. Com. 113. MAE 541 d/56 mp; 541 d/56 hs, 541 d/56 msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 217–220. S. 220. 310 Entwurf einer Fassung für Wettbewerbsregeln von einer Expertengruppe am 20. November 1956 ausgearbeitet unter Berücksichtigung des Meinungsaustausches innerhalb der engeren Gruppe am 19. November 1956. Brüssel, 20. November 1956. MAE 602 d/56 eg. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 224–227. S. 227.
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(Missbrauchsaufsicht), die zwischenzeitlich den Delegationsleitern vorlag311, fand nicht die Zustimmung aller. Die Delegationsleiter einigten sich in Artikel 43a auf den Kompromiss, dass in der Übergangszeit einerseits die „nationalen Behörden über die Zulässigkeit von Kartellen und die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt nach den in diesen Staaten geltenden Vorschriften“ entscheiden sollten. Andererseits sollte die Kommission parallel dazu die Grundsätze der Artikel 42 und 43 überwachen, bei vermuteter Verletzung in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden, „die Amtshilfe (zu) leisten“ hätten, Aufforderungen zur Veränderung aussprechen und im Zweifel das wettbewerbsschädigende Verhalten begründet feststellen und veröffentlichen.312 Die Staaten konnten sich darauf einigen, der Kommission eine Kontrollfunktion zu übertragen, die Delegation von Entscheidungsbefugnissen für Maßnahmen mit Rechtsfolgen für Staatsangehörige an diese supranationale Institution fand jedoch keine Mehrheit. D.3.f Festschreibung der Grundsätze im Vertrag Der Leiter der deutschen Delegation, Ophüls, telegraphierte am 20. November 1956 nach Bonn, dass bei den Wettbewerbsregeln der Durchbruch erzielt sei. Von der Groeben machte den Delegationsleitern einige Tage später ähnliche Mitteilung. Nachdem am 28. November die Kompromissfassung der Artikel im Ausschuss Gemeinsamer Mark die Zustimmung bekam, billigten die Delegationsleiter am 6. Dezember 1956 die den Wettbewerb betreffenden Artikel des EWGVertrags.313 In der Redaktionsgruppe wurden im Januar und Februar 1957 die Grundsatzartikel 42 (Kartellverbot/Art. 85 EWGV) und 42a (Missbrauchskontrolle/Art. 86 EWGV) nur noch redaktionell bearbeitet. Artikel 43a (Art. 88 EWGV) und Artikel 43b (Art. 89 EWGV) waren jedoch inhaltlich noch sehr umstritten. Die noch nicht abschließend entschiedenen Fragen im Zusammenhang mit diesen beiden Artikeln versuchten einige Staaten, durch Formulierungsvorschläge doch noch zu präjudizieren. Dies bot neue Reibungspunkte und erforderte neuerliche Entscheidungen über Formulierungen auf Delegationsleiterebene. Die großen Probleme der Vertragverhandlungen offenbarten sich aber erst noch bei 311 Vgl. Titel II, Kapitel 1, Die Wettbewerbsregeln. MAE 262 d/57 eg; 262 f/57 vr; 262 d/57 i. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 238–241. S. 241. 312 Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 241–245. S. 244f. 313 Vgl. Fernschreiben von Ophüls an das Auswärtige Amt in Bonn. 20. November 1956. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 231f.; Ausschuss der Delegationsleiter, Aufzeichnung des Vorsitzenden des Ausschusses Gemeinsamer Markt, Stand der Arbeiten in der Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt am 24.11. 1956. Brüssel, 24. November 1956. Ch. Del. 67. MAE 627 d/56mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 989–994. S. 992f.; Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 241– 245.
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den Gesprächen über den Agrarmarkt und über die Einbeziehung der überseeischen Gebiete, die erst im Januar und Februar teilweise auf der Ebene der Außenminister geklärt werden konnten.314 Die Wettbewerbsregeln schienen vorerst fertiggestellt. Ende Januar waren es die Franzosen, die die in Artikel 43b festgelegte Zusammenarbeit von Kommission und Mitgliedstaaten stärker formalisieren und gleichzeitig geregelt wissen wollten, dass die Staaten autonom gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgehen konnten. Die Franzosen, die eine eigene nationale Wettbewerbspolitik hatten, wollten im Zweifel nationale Unternehmen vor Wettbewerbsverzerrungen aus anderen Ländern schützen können; und zwar unabhängig von der Kommission. Zudem sollte die Kommission nicht nur den Verursachern vorschlagen, wie diese ihre Verletzung der Wettbewerbsregeln zu beenden hätten, sondern auch „die beteiligten Mitgliedstaaten ermächtigen, die geeigneten Schutzmaßnahmen zu treffen“, unabhängig von möglichen Verhaltensänderungen der Verursacher nach dem Kommissionsvorschlag.315 Die Niederländer griffen diesen Änderungswunsch der Franzosen in einem mit Belgiern, Luxemburgern und Italienern abgestimmten Vorschlag auf und erweiterten ihn um die Aussage, dass geeignete Maßnahmen jene seien, „die erforderlich sind, um [...] Abhilfe zu schaffen“, womit sie ihn inhaltlich etwas einschränkten.316 Zudem stellten sie den Halbsatz innerhalb des Artikels so um, dass die Staaten erst dann die Option zum eigenen Eingriff erhalten sollten, wenn die Verhaltensänderungsvorschläge der Kommission nicht von den Verursachern befolgt würden. Damit wendete sich dieser Vorschlag gegen die Möglichkeit unabhängiger nationaler Eingriffe, schwächte das eigentliche Anliegen der Franzosen ab und implizierte zudem die Stärkung der Kommission. Zusätzlich nutzten die vier Delegationen das von den Franzosen aufgeworfene Thema, um ein ‚Logrolling‘ zu initiieren. Sie machten ihre Zustimmung zur Veränderung von Artikel 43b grundsätzlich davon abhängig, dass die Kommission bei der Kontrolle staatlicher Handelsmonopole autonom vom Ministerrat obligatorische Empfehlungen an die Staaten zur Umsetzung der vereinbarten Umformung der Handelsmonopole erteilen dürfte; eine Materie des Artikels 28 (Artikel 37 EWGV), der auf Delegationsleiterebene noch offen war.317 Wenn auch modifiziert, war der französische Vorschlag aufgegriffen worden, um in einem anderen Bereich des Vertrags Interessen gegen die Franzosen durchzu314 Vgl. Marjolin: Meine Leidenschaft Europa. S. 331 und S. 337ff.; Spaak: Memoiren. S. 320. 315 Ausschuss der Delegationsleiter, Entwurf eine Fassung für Artikel 43b, Brüssel 25. Januar 1957. Ch. Del. 246. MAE 291 d/57 eg; 291 f/57 dvl. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 250–251. S. 250. 316 Ausschuss der Delegationsleiter, Neuer Vorschlag für die Fassung des Artikel 43b, Brüssel 9. Februar 1957. Ch. Del. 311. MAE 485 d/57 eg; 485 d/57 wf. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 260–261. S. 260. 317 Vgl. Redaktionsgruppe, neue Fassung der Art. 42–44c, sprachlich überarbeitete Fassung, 2. März 1957. MAE 262 d/57 msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 282– 291. S. 286, FN 4; Ausschuss der Delegationsleiter. Fassung der Artikel betreffend die Öffentlichen Unternehmen – Öffentlichen Dienste – Staatsmonopole. Paris, 17. Februar 1957. Abgedr. ebd.: S. 272–274. S. 274.
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setzen. Diese hatten sich nämlich bisher der Übertragung von Weisungsbefugnissen an die Staaten zur Modifikation staatlicher Monopole für die Kommission widersetzt.318 Ergebnis war, dass die Franzosen sowohl die Umstellung als auch die Ergänzung ihres Vorschlags akzeptierten und den Forderungen der Italiener und Benelux-Staaten in Bezug auf Artikel 28 nachgaben.319 Im Gegenzug zu dem Zugeständnis, dass die Kommission von Anbeginn der ersten Stufe Empfehlungen an die Staaten zur Umformung von staatlichen Handelsmonopolen aussprechen durfte, konnten die Franzosen durchsetzen, dass die Staaten vor Erlass von Durchführungsverordnungen gemäß Artikel 43 (Art. 87 EWGV) unabhängig von der Kommission in ihrem Staatsgebiet Maßnahmen gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit negativen Folgen für die eigenen Staatsbürger ergreifen durften. Jedoch hatten die Benelux-Delegationen und Italien gleichzeitig ihr Verhandlungsziel, die Stärkung der Kommission bei der Wettbewerbspolitik, ein Stück weiter erreichen können. Die Redaktionsgruppe versuchte noch im März 1956 zwei Wochen vor der geplanten Vertragsunterzeichnung, zu große nachvertragliche Interpretationsspielräume auch durch eindeutigere Formulierungen einzuengen; was vor allem bei Artikel 43b, der die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten der Kommission und der Mitgliedstaaten in der Übergangsphase festlegte, notwendig war.320 Angesichts der Tatsache, dass einige Länder kein nationales Wettbewerbsrecht hatten und somit die Benachteiligung von Unternehmen in der Bundesrepublik, Frankreich und den Niederlanden wahrscheinlich war, wurde entschieden, dass die Mitgliedstaaten in der Übergangsphase „im Einklang mit ihren eigenen Rechtsvorschriften und den Bestimmungen der Artikel 85 und 86“ über Kartelle und den Missbrauch marktbeherrschender Stellung entscheiden können sollten. Alle Unternehmen sollten durch Berücksichtigung des europäischen Wettbewerbsrechts einer möglichst einheitlichen Einschränkung der Vertragsfreiheit unterliegen.321 Zwischen Dezember 1956 und März 1957 waren auch die Planungen für das institutionelle Geflecht der Gemeinschaft vorangeschritten. Die Rolle der parla318 Vgl. Arbeitsgruppe für den Gemeinsamen Markt. Öffentlichen Unternehmen – Öffentlichen Dienste – Staatsmonopole (Vorschlag der französischen Delegation). Brüssel, 4. Januar 1957. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 245–247. S. 246f. 319 Vgl. Redaktionsgruppe, neue Fassung der Art. 42–44c, sprachlich überarbeitete Fassung, 2. März 1957. MAE 262 d/57 msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 282– 291. S. 286; Entwurf des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Brüssel, 18. März 1957. Abgedr. ebd.: S. 300–307. S. 305. 320 So wurde bspw. nicht festgelegt, dass die nationalen Behörden „Amtshilfe leisten“, sondern dass sie Amtshilfe „zu leisten haben.“ Vgl. Entwurf des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Brüssel, 18. März 1957. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 300–307. S. 304.; Ausschuss der Delegationsleiter, Fassung der Artikel betreffend die Wettbewerbsregeln, Abschnitt 1: Die Normen für Unternehmen, Brüssel, 10. Dezember 1956, Ch. Del. 94. MAE 788 d/56 mrs. Abgedr. ebd.: S. 241–245. S. 244f. 321 Vgl.: Entwurf des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Brüssel, 18. März 1957. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 300–307. S. 304.
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mentarischen Versammlung im Gesetzgebungsprozess der Gemeinschaft stand nun fest und die ursprüngliche Absicht, die die Niederländer eingebracht und verfochten hatten, dass die Versammlung volles Mitbestimmungsrecht bei der Ratsentscheidung über die Durchführungsbestimmungen erhalten sollte, war hinfällig geworden. Sie sollte nur noch vor der Entscheidung des Rates über „zweckdienliche Verordnungen oder Richtlinien“ angehört werden.322 Diese institutionellen Anpassungen hatten keinerlei Einfluss auf den Charakter des Wettbewerbsrechts, schwächten allerdings die Rolle der supranationalen Ebene gegenüber den Regierungen. Da in Belgien und Italien nationale Wettbewerbsgesetze gescheitert waren und auch in der Bundesrepublik der Widerstand im Parlament gegen das GWB groß war, kann jedoch die Entscheidung gegen das Zustimmungsrecht auch positiv bewertet werden, wenn man das Ziel einer von nationalen politischen Einflüssen und Partikularinteressen möglichst unabhängigen Kartellpolitik in den Vordergrund stellt.323 In den ersten Märztagen, als der letzte Schliff an den Artikeln vor der Unterzeichnung vorgenommen wurde, brachten die Niederländer noch ein bis dahin nicht zur Sprache gekommenes Anliegen ein. Demnach sollten Ausnahmen vom Kartellverbot nicht nur für Einzelfälle erteilt werden, wie es bisher vorgesehen war, sondern zusätzlich sollten Gruppen von Abkommen, Beschlüssen oder Praktiken bei Vorliegen der bisherigen Kriterien für vereinbar mit dem Vertrag erklärt werden können.324 Die Einzelheiten der Ausnahmegenehmigungen waren ohnehin noch im Rahmen der Durchführungsverordnung zu klären, so dass die Niederländer ihr Interesse durchsetzen konnten.325 Invers analog zum nationalen Kartellrecht von 1956, bei dem das Missbrauchsprinzip durch ministeriell festlegbare Gruppenverbote in Richtung Verbotsprinzip verschärft werden konnte, enthielt nun das europäische Wettbewerbsrecht die Möglichkeit, das Verbotsprinzip durch Gruppenausnahmen in Richtung des Missbrauchsprinzips abzumildern. Müller-Armack bekannte sich im Zusammenhang mit dieser Thematik einige Wochen später vor dem Ausschuss ‚Gemeinsamer Markt/Euratom‘ des Deutschen Bundestages eindeutig zum Wettbewerb der Ideen und Systeme. Er betonte, beiden wettbewerbspolitischen Möglichkeiten, der deutschen Einzelfall322 Ebd. 323 Grundlage dieser Einschätzung ist der Sachverhalt, dass die parlamentarische Versammlung sich aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammensetzte. Die erste Direktwahl des „Europäischen Parlamentes“ fand erst 1979 statt. 324 Die sprachlich überarbeitete Fassung vom 2. März 1957 enthielt die Einzelfallausnahme. Die Fassung vom 6. März hingegen, in der später im Vertrag üblichen Zählung, enthielt schon die Gruppenausnahme. Vgl. Redaktionsgruppe, neue Fassung der Art. 42–44c, sprachlich überarbeitete Fassung, 2. März 1957. MAE 262 d/57 msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 282–291. S. 283; Gemeinsame Regeln (Artikel 85 und 91), Brüssel, 6. März 1957, Ch. Del. 405. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 294–298. S. 295. 325 Müller-Armack berichtete später im Bundestagsausschuss, dass es in diesem Zusammenhang zu einem „sehr subtil ausgearbeiteten Kompromiss“ gekommen war. Dieser kann hier mit vorliegenden Dokumenten nicht nachvollzogen werden. PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957. S. 3.
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ausnahme und der niederländischen Gruppenausnahme, sei „eine faire Chance gegeben“. Welche Regelung sich später in der Praxis durchsetzen würde, war seiner Meinung nach offen.326 Am 25. März lag der EWG-Vertrag zur Unterschrift in Rom vor. Für die Unternehmen im Gemeinsamen Markt enthielt er Regeln, die Basis für eine europäische Wettbewerbspolitik werden konnten. Erste Entscheidungen eines Wettbewerbskonzepts für den Gemeinsamen Markt waren damit getroffen. Für Kartelle sollte das von Deutschland und Frankreich anvisierte Verbotsprinzip gelten, ergänzt um Ausnahmetatbestände für Einzelfälle und auch für noch zu definierende Gruppen von wettbewerbsverhindernden Strategien. In der Schwebe blieb, ob es ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder ein Verbot mit Legalausnahme sein sollte. Die damit verbundene Grundsatzfrage über die Bewertung von Kartellen wurde ebenso wie die Frage der Zuständigkeit für Genehmigungen und Aufsicht von Kartellen in die ersten Jahre nach Vertragsabschluss verschoben. Die Franzosen hatten nicht durchsetzen können, dass nur allgemeine Grundsätze aufgestellt würden, an die das nationale Recht angepasst werden sollte und für deren Durchführung nur jeweils nationale Behörden zuständig sein würden. Erst nachdem deutlich geworden war, dass die Grundsätze im Kern den deutschen Vorstellungen entsprechen würden und es den Anschein machte, dass die Franzosen mit ihren Vorstellungen recht isoliert waren, rückten die Deutschen von einer im Ergebnis ähnlichen Position ab und stimmten der Übertragung der vollständigen Zuständigkeit an die Kommission nach einer Übergangszeit zu. Die Übergangszeit war notwendig, da eine Einigung nicht in allen Punkten zur Zufriedenheit der Deutschen möglich gewesen war. Man war in der günstigen Lage, bei zahlreichen Punkten zwischen den Franzosen und den anderen vier Ländern gestanden zu haben. So war es möglich, zugleich wesentliche Grundsätze durchzusetzen und auf Zeit zu spielen. Erhards Forderung aus dem Mai 1956, bei der nationalen Zuständigkeit in der Wirtschaftspolitik auf liberale und Marktwirtschaftliche Grundsätze zu achten, wurde auf europäischer Ebene insofern erfüllt als sich bei der Wettbewerbspolitik die Achtung dieser Grundsätze abzeichnete. Aus diesem Grund musste es nicht abgelehnt werden, Befugnisse zur Durchsetzung dieser Wettbewerbsartikel auf die europäische Ebene zu übertragen. Erhard selbst war mit den Wettbewerbsregeln höchst zufrieden, „er hätte diese Bestimmungen [...] selbst schreiben können,“ soll er später anerkennend gesagt haben.327 Für die Übergangszeit benötigte man jedoch Institutionen, die Ausnahmegenehmigungen für Kartelle erteilten und die den Missbrauch von marktbeherr326 Ebd.: S. 4. 327 Groeben: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. S. 54. Dieser Erinnerung von der Groebens über Erhards Beurteilung des wettbewerbspolitischen Konzepts des EWG-Vertrags steht die Analyse Küsters entgegen, nach der Erhard nicht mit dem Ergebnis zufrieden war, obwohl Müller-Armack und von der Groeben als Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministeriums an den Verhandlungen beteiligt waren. Ob Küsters die integrationspolitischen Differenzen zwischen Erhard, Müller-Armack und von der Groeben bei seinem Urteil berücksichtigte, ist unklar. Vgl. Küsters: Adenauers Europapolitik. S. 671.
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schender Stellung und die daraus entstehende Störung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten kontrollierten. Andernfalls war mit zunehmender Vermachtung des Marktes zu rechnen und die Liberalisierungen würden an Wirkung einbüßen. Deshalb sollten die nationalen Behörden mit Unterstützung der Kommission für die Anwendung der Normen zuständig sein, bis man sich auf notwendige, klärende Durchführungsverordnungen einigen würde. Umso größere Relevanz besaß die Tatsache, dass zwischen den Vertragspartnern auch die Frage in der Schwebe blieb, ob es sich bei den Wettbewerbartikeln 85 und 86 um allgemeine Grundsätze handeln sollte oder ob mit den Artikeln gültiges, sofort anwendbares Recht geschaffen wurde. Die Feststellung des Interimsausschusses, dass der Delegationsleiterausschuss im Zusammenhang mit Artikel 88 festgestellt hatte, dass „die Vorschriften des Artikels 85 sofort anwendbar sind, dass heisst mit Inkrafttreten des Vertrags,“ stärkte später zwar diese Auslegung, verhinderte aber nicht, dass einzelne Kooperationspartner, namentlich die Niederländer und die Franzosen, in der Übergangszeit nicht dementsprechend handelten.328 Der Kommission gestand man allgemeines Aufsichts- und Untersuchungsrecht zu, nicht zuletzt, da kurzfristig in drei der sechs Staaten weder gültiges Wettbewerbsrecht noch Behörden zu dessen Durchsetzung vorhanden waren. Diese Regelung war von keiner Delegationen zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt worden; lässt man unberücksichtigt, dass die Franzosen dem allgemeinen supranationalen Untersuchungsrecht, dem Unternehmen direkt unterliegen sollten, nicht zugeneigt waren. Im Laufe der Verhandlungen waren die Aufsichts- und die Kontrollaufgaben aber immer enger an nationale Behörden gebunden worden, die in allen Mitgliedstaaten eingerichtet werden sollten. Zudem übertrug man der Kommission noch keine eigene durchgreifende Sanktionsgewalt. Um das ihr zugewiesene Aufsichtsrecht nicht völlig wirkungslos werden zu lassen, gestand man der Kommission in der Übergangszeit mit der Veröffentlichung von vertragswidrigen Absprachen nur das schwächstmögliche Sanktionsmittel zu. Dabei blieb offen, welche rechtliche Konsequenz die Veröffentlichung von Verstößen gegen die Grundsätze des Vertrags vor nationalen Gerichten haben würde. Das Ergebnis der Verhandlungen war hierbei, dass man für die Übergangszeit zwar einen Kompromiss zwischen französischer Durchführung auf nationaler Ebene und supranationaler Aufsicht geschaffen hatte. Aber beide Konzeptionen waren so stark abgeschwächt worden, dass für die ersten Jahre kaum mit aktiver europäischer Wettbewerbspolitik zu rechnen war. Die Kommission wurde eher zu einer moralischen Wächterin der Grundsätze in Form des Untersuchungs- und Veröffentlichungsrechts fortgesetzter Verstöße gegen die Grundsätze. Sie erhielt die Aufgabe, das bisher in schwierigen Verhandlungen Erreichte so lange zu bewahren und dafür zu Sorge zu tragen, dass 328 Interimsausschuss für den Gemeinsamen Markt und Euratom, Sekretariat. Aufstellung der auslegenden Erklärungen zu Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und seiner Anhänge oder der dazu gehörigen Protokolle, Abkommen und Erklärungen. Brüssel, 6. Mai 1957. MAE 945 d/57 lö/eg; 945 d/57 lö/msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 308.
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die Grundsätze Beachtung fanden, bis sich die Staaten auf ihren Vorschlag über weitere Schritte einigen würden. Ohne diese Aufgabendelegation an die supranationale Ebene hätte die Gefahr bestanden, dass die Grundsätze bis auf Weiteres weder von den Staaten noch von den Unternehmen ernst genommen worden wären. Mit dem Auftrag an die Kommission und den Rat, Richtlinien oder Verordnungen zur Klärung offener Fragen zu erarbeiten, sicherten sich die Staaten selbst ab, dass die nach wie vor notwendigen legislativen Entscheidungen für eine aktive Wettbewerbspolitik getroffen würden. D.3.g Die Ratifizierung der Verträge – Verhandlungsergebnisse und nationale Präferenzen Die Debatten im deutschen Bundestag anlässlich der Unterzeichnung und der Ratifikation der Verträge zeigten einmal mehr, dass die Wettbewerbsregeln kein großes politisches Thema der Verhandlungen über die Kooperation der Staaten durch Zusammenlegung ihrer nationalen Märkte waren. Es standen andere Themen, bei denen Nutzen und Kosten der Verhandlungsergebnisse eindeutiger zugeordnet werden konnten, im Vordergrund. Die wettbewerbspolitischen Positionen wurden zudem ausgiebig bei den Debatten über das GWB ausgetauscht. Gleichwohl wurde im Bundestagsplenum und auch im Bundestagssonderausschuss ‚Gemeinsamer Markt/Euratom‘ die Haltung der Bundesregierung zu den Kartell- und Wettbewerbsregeln deutlich. Vier Tage vor der Unterzeichnung der Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) gab Staatssekretär Hallstein in einer Generaldebatte des Bundestags für die Bundesregierung eine Erklärung zu den Verträgen ab.329 Er ging nach der allgemeinen Erinnerung an die Ziele und Absichten der Europäischen Einigung auf die grundsätzliche Struktur der Verträge ein und stellte punktuell einzelne Elemente der Verträge, speziell des EWG-Vertrags, heraus. Für die Bundesregierung waren die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, dessen „Hauptstück: die Zollunion“ war, die Einrichtung „europäischer Sozialfonds“ und die „vier gemeinsamen Hauptorgane“ des Vertrags zentral. Die Unterzeichnung der Verträge war für die Bundesregierung die „Voraussetzung für eine freizügige wirtschaftliche Entfaltung in Europa.“330 Hallstein definierte die Wirtschaftsgemeinschaft ausdrücklich als „Zoll-Union, ergänzt durch Wettbewerbsregeln, die Berichtigung von Wettbewerbsverzerrungen.“ Als weitere Pflichten der Mitgliedstaaten sah er Zahlungs-
329 Staatssekretär Hallstein im Namen der Bundesregierung. Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 35. 200. Sitzung am 21. März 1957. S. 11327(B)–11334(C); Erklärung der deutschen Bundesregierung zum Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 56, 22. März 1957. S. 473–479. 330 Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 35. 200. Sitzung am 21. März 1957. S. 11334 (A).
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bilanzausgleich, gemeinsame Wirtschafts-, Währungs- und Konjunkturpolitik und gemeinsame Außenhandelspolitik an.331 In der anschließenden Debatte über die Römischen Verträge nahmen die meisten Redner zu der gesamtpolitischen Einordnung des Projekts Stellung.332 Die Ausgestaltung der Zollunion, die Folgen für die Wiedervereinigung Deutschlands und die Behandlung der überseeischen Gebiete und damit die Verwicklung in eine Kolonialpolitik, für die man nicht verantwortlich zeichnen wollte, waren ebenso Themen und Kritikpunkte wie die Konstruktion der Gemeinschaft, die geringe parlamentarische Kontrolle und die Verteilung möglicher Soziallasten. Teile der Opposition befürchteten vor allem negative wirtschaftliche Auswirkungen, die Bundesregierung stellte vor allem die politische Relevanz und die anvisierten politischen Ziele ins Zentrum der Auseinandersetzung. Bei dieser Generaldebatte zur europäischen Einigung wurden der wirtschaftspolitische Gehalt des Vertrags und die anvisierte Wirtschaftsordnung nur am Rande gestreift. Allein Bundeswirtschaftsminister Erhard und der CDU-Abgeordnete Fritz Hellwig, seit 1956 Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestags und bedeutendster Gegenspieler Erhards in der deutschen Kartelldebatte, sprachen die europäische Kartell- und Wettbewerbspolitik an.333 Erhard ging auf seine Kritik am Gesamtwerk ein, die er während der Verhandlungen bei internen Besprechungen aber auch nach Außen zum Ausdruck gebracht hatte.334 Seine Position war in der Öffentlichkeit häufig als europafeindlich und -ablehnend wahrgenommen und dargestellt worden. An die Öffentlichkeit gelangte Urteile, wie zum Beispiel bei der Gemeinschaft handele es sich um „volkswirtschaftlichen Unsinn“ oder sie sei „ein schwer gepanzerter Wagen mit zu kleinem Motor und überdimensionierten Bremsen“, hatte er sich von Rednern der Opposition vorhalten lassen müssen. Einleitend stellte er nun fest, dass „es 331 Vgl. Erklärung der deutschen Bundesregierung zum Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 56, 25. März 1957. S. 474. Hallstein selbst hat diese Definition, mit der starken Betonung der Wettbewerbsregeln im Deutschen Bundestages nicht erwähnt. Die Hervorhebung in der offiziellen Verlautbarung der Bundesregierung macht jedoch deutlich, welche Relevanz dem Wettbewerbsrecht bei der Informationsvermittlung über das Projekt insgesamt und über den gemeinsamen Markt mit beigemessen wurde. Vgl. Erklärung der Bundesregierung, Staatssekretär Hallstein. Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 35. 200. Sitzung am 21. März 1957. S. 11327(D)–11334(C). S. 11328f. 332 Die Opposition kritisiert einleitend vor allem die nach ihrem Verständnis ungenügende Informationspolitik der Regierung und die mangelhafte und zu späte Einbeziehung des Parlamentes in die Vertragsverhandlungen. Vgl. Redebeitrag von Heinrich Deist (SPD) und von Robert Margulies (FDP): Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 35. 200. Sitzung am 21. März 1957 S. 11327–11380. S. 11334(C)–11342(B) und S. 11350(C)–11355(D). 333 Fritz Hellwig war als Geschäftsführender Direktor des von BDI und BDA finanzierten Deutschen Industrie-Instituts in Köln seit vielen Jahren Gegner des von Erhard favorisierten strengen Kartellgesetzes gewesen. Erhard wiederum hatte sich im Frühsommer 1956 erfolglos gegen die Wahl Hellwigs durch die CDU/CSU-Fraktion zum Vorsitzenden des Ausschusses eingesetzt, in dem das GWB beratschlagt wurde. Vgl. Hentschel: Ludwig Erhard. S. 264f. 334 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 423f.
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[...] in Europa in den letzen neun Jahren wohl kaum einen Staatsmann gegeben (habe), der auf dem wirtschaftlichen Felde so konsequent eine europäische Politik eingeleitet und fortgeführt hat, wie ich das für mich in Anspruch nehme.“335 Er war nach intensiver Abwägung der politischen Ziele und möglicher Gewinne gegen die zu erwartenden ökonomischen Nachteile zu einer prinzipiellen Befürwortung des Gesamtprojektes gekommen. Als Wirtschaftsminister urteilte er aber vor allem ökonomisch und sparte dabei nicht mit Kritik an den wirtschaftlichen Folgen der gewählten Kooperationsform. Er zielte auf die ‚Integrationisten‘ im Auswärtigen Amt, als er den eingeschlagenen Weg kritisierte, die Nachfrage nach europäischer Zusammenarbeit mit der Idee „einer unlöslichen Schicksalsgemeinschaft zu wecken.“ Ihm schien dies nicht der schnellste und effektivste Weg für eine erfolgversprechende Kooperation zu sein. Für Erhard blieb die europaweite Liberalisierung im Rahmen der OEEC ohne supranationale Organisationen unzweifelhaft erstrebenswerter. Er prangerte geradezu an, dass „in diesem Vertrag [...] ebensoviel von der Angst vor dem Wettbewerb oder von der Furcht, in den Gemeinsamen Markt einzugehen, erkennbar“ sei wie, dass der Vertrag „Bestimmungen enthält, die diesen Gemeinsamen Markt erreichen oder erzwingen wollen.“ Erhard äußerte Bedenken zur erfolgreichen Umsetzung des Projekts, da er eine starke Ambivalenz zwischen der „Sorge, was da alles passieren kann, wenn der Gemeinsame Markt Wirklichkeit wird“ und der geradezu wie selbstverständlich geäußerten „Verpflichtung, allerdings recht behutsam, in den Gemeinsamen Markt“ einzutreten, erkannte.336 Ausführlich kritisierte er einzelne Regelungen der Zollpolitik und der Einbeziehung der überseeischen Gebiete, jene Maßnahmen zur Konjunktur- und Zahlungsbilanzpolitik sowie die institutionellen Strukturen wie den Wirtschaftsund Sozialrat, machte aber abschließend deutlich, dass sein Standpunkt als Folge der intensiven Auseinandersetzung mit und im Interesse für eine erfolgreiche Wirtschaftsgemeinschaft zu werten sei.337 Hellwig hob in seiner Rede anerkennend hervor, dass die Bundesregierung im Rahmen der Verhandlungen „dem Grundsatz zur Geltung hat verhelfen können, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf die Prinzipien des freien Wettbewerbs und der freien wirtschaftlichen Initiative – unter weitgehender Beschränkung staatlicher Eingriffe – zu gründen“.338 Der Zuruf des SPD-Abgeordneten Heinrich Deist „Darin unterscheiden wir uns nicht!“ war einerseits als ‚Nachwehen‘ der GWB-Debatte zu verstehen, zeigte aber andererseits, dass sich die beiden großen deutschen Parteien bei der europäischen Wettbewerbsordnung, wie beim Gesamtkonzept von EWG und EURATOM insgesamt, einig waren.339 Mit 335 Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 35. 200. Sitzung am 21. März 1957. S. 11342(B)–11345(B). S. 11342(B), (C). 336 Wie auch die vorangehenden Zitate ebd.: S. 11343 (B). 337 Ebd.: S. 11345 (B). 338 Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 35. 200. Sitzung am 21. März 1957. S. 11361(A)–11366(B). S. 11363 (B). 339 Ebd.: S. 11363 (B).
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diesem hohen außenpolitischen Konsens im Hintergrund konnte die Bundesregierung ohne Bedenken zur Vertragsunterzeichnung nach Rom fahren. Die deutsche Wirtschaft äußerte sich verhalten positiv bis abwartend. In der Einschätzung überwog leidenschaftslose Skepsis, ob sich die im Vertrag enthaltenen Optionen in den ersten Jahren zu Dirigismus entwickeln würden. Dies galt auch für die Wettbewerbspolitik, deren Ausprägung noch offen war. Auch wenn die Wettbewerbsgrundsätze denen des GWB ähnlich waren, wäre man mit dem Missbrauchsprinzip auch für Kartelle und mit einer größeren Anzahl an Ausnahmetatbeständen zufriedener gewesen. Die Bestimmungen, deren Umsetzung ebenso abzuwarten war wie die Verabschiedung der Durchführungsverordnung gemäß Artikel 88, waren dem BDI zu restriktiv. Ebenso äußerte sich Hans Wolter vom Verband der Eisenschaffenden Industrie in einem Schreiben an MüllerArmack im Februar 1957.340 Die Einigkeit zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium, der deutschen Wirtschaft und den ordoliberal geprägten Wissenschaftlern in der Bundesrepublik über die Integration vor 1955 hatte bei der Gestaltung der Wettbewerbsregeln Risse bekommen. Jedoch war die von den drei großen Wirtschaftsverbänden präferierte Freihandelszone mit den anderen Staaten nicht durchsetzbar gewesen, sondern nur das Projekt eines ‚kleineuropäischen‘ Gemeinsamen Marktes. Bei dessen Realisation mussten konfligierende Interessen ausgeglichen werden. Die mehrheitlich gewünschte Marktausdehnung durch Schaffung eines Gemeinsamen Marktes, der perspektivisch einem Binnenmarkt ähnlich werden sollte, war weder mit hohen Zollschranken, wie es die französische Wirtschaft gefordert hatte, noch mit einer laxen Wettbewerbspolitik, wie es die deutsche Wirtschaft bevorzugte, realisierbar. Wollten die Regierungen der nationalen Nachfrage nach Ausdehnung der wirtschaftlichen Kooperation nachkommen, mussten sie eine gemeinsame Wirtschaftspolitik und damit eine gemeinsame Wettbewerbspolitik gestalten. Ihrer Kritik zum Trotz standen abschließend alle drei großen deutschen Wirtschaftsdachverbände der BDI, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der DIHT dem Gesamtprojekt aus EWG und EURATOM positiv gegenüber. Ihre an erster Stelle stehende Präferenz für die Freihandelszone hatten sie nicht erreichen können. Sie begrüßten zwar die Vergrößerung des Wirtschaftsraumes, jedoch blieb die hohe Nachfrage der Wirtschaft nach weiterer Ausdehnung der Märkte bestehen.341 Nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 kam es am 9. Mai 1957, genau sieben Jahre nach Verkündung des Schuman-Plans, zur ersten Lesung des Ratifikationsgesetzes im Bundestag.342 Die Debatte wurde von Außenminister von Brentano eröffnet, der noch einmal das Gesamtgewicht des Vertragswerks betonte und seine politische Bedeutung eindeutig über die wirt340 BA B102/17333: Schreiben von Beutler und Sölter an Müller-Armack vom 26. Januar 1957. Ebenso Schreiben von Hans Wolter an Alfred Müller-Armack vom 15. Februar 1957. 341 Vgl. Bührer: German Industry and European Integration. S. 105; Bührer; Schröder: Germany's Economic Revival. S. 194, Jeutter: EWG – Kein Weg nach Europa. S. 247. 342 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 36. 208. Sitzung am 9. Mai 1957. S. 11999(C)–12028(B).
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schaftliche Relevanz stellte. Er hob besonders die Leistungen Spaaks hervor und unterstrich, dass beide Verträge nur möglich geworden waren, weil „zahlreiche Kompromisse zum Ausgleich der nun einmal widerstrebenden Interessen geschlossen“ worden waren.343 Alle weiteren Redner erinnerten größtenteils an ihre Ausführungen in der Bundestagssitzung am 21. März desselben Jahres.344 Einzelfragen wurden an die Ausschüsse verwiesen. Abschließend setzte der Bundestag auf Antrag aller Fraktionen einen 31-köpfigen Sonderausschuss ‚Gemeinsamer Markt/Euratom‘ ein.345 Dieser Sonderausschuss wendete sich in seiner fünften Sitzung am 22. Mai 1957 den beiden Aspekten „Zollunion und Beseitigung mengenmäßiger Beschränkungen“ und „Wettbewerbsregeln, Wirtschaftspolitik“ zu.346 Neben Unterabteilungsleiter Karl Carstens vom Auswärtigen Amt und Vertretern der Bundesministerien für Atomfragen und für Finanzen standen Müller-Armack, von der Groeben und die beiden Referatsleiter Helmut Klein und Eberhard Günther vom Bundeswirtschaftsministerium den Abgeordneten bei Fragen zur Verfügung. Müller-Armack erläuterte einleitend die Struktur der Verträge und ihre Zielsetzung, die über die Bildung einer Zollunion hinausging. Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Staaten sei dabei notwendig, da äußere Koordinierungsund Ausgleichsmechanismen, wie sie im 19. Jahrhundert mit der Goldwährung vorhanden gewesen waren, fehlten. Müller-Armack betonte an dieser Stelle speziell die Wettbewerbspolitik. „Bestimmte faire Verhaltensweisen für den Wettbewerb“ waren aus Sicht der Bundesregierung Voraussetzung für einen Binnenmarkt gewesen, der frei von Beschränkungen sein sollte. Müller-Armack versuchte nach außen die deutsche Rolle bei der Durchsetzung der Wettbewerbsregeln unbedeutender darzustellen, als sie gewesen war. Damit schob er taktisch die Verantwortung für die Wettbewerbsregeln zu einem großen Teil den Partnerländern zu, um potentielle Kritik zu entschärfen. Bereits im Januar 1957 hatte Müller-Armack den Hauptgeschäftsführer des BDI, Wilhelm Beutler, darüber informiert, dass die Bundesregierung das Thema Wettbewerb hatte ausklammern
343 Ebd.: S. 12001 (A). 344 Redner in der Debatte über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft waren: Dr. Hans Furler (CDU/CSU), Willi Birkelbach (SPD), Dr. Alexander Elbrächter (DP [FVP]), Robert Margulies (FDP) und Artur Stegner (GB/BHE). Vgl. ebd.: S. 11999(C)–12019(A). 345 Ebd.: S. 12028(A). Bis dahin waren der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten sowie der Ausschuss für Wirtschaftspolitik und der Ausschuss für Außenhandelsfragen federführend gewesen und mit Fragen der Europäischen Integration betraut worden. Dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestags hatten Außenminister von Brentano und auch Staatssekretär Hallstein nach den Außenministertreffen in Venedig (Juni 1956) und in Paris (21. Oktober 1956) und dem Regierungscheftreffen in Paris (19./20. Februar 1957) über den Fortgang der Verhandlungen Bericht erstattet. Vgl. Erklärung der deutschen Bundesregierung zum Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 56, 22. März 1957. S. 473. 346 Zu den folgenden Ausführungen vgl. PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957.
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wollen, die französische und die italienische Seite dies jedoch ablehnten.347 Auch im Sonderausschuss berichtete er den Abgeordneten, alle Delegationen hätten den deutschen Vorschlag zurückgewiesen, den Vertrag von konkreten gemeinsamen Wettbewerbsregeln zu entlasten und damit mögliche Diskussionen über Sinn und Notwendigkeit übernationaler Wettbewerbsregeln zu umgehen. Den anderen Regierungen hatten Wettbewerbsregeln quasi als „Voraussetzung [...], sich auf einen derartigen gemeinsamen Markt einzulassen“, gegolten. Allein ein grundsätzliches Verbot von Preisdiskriminierungen hatte die Bundesregierung verhindern können. Müller-Armack referierte, dass zwar Erfahrungen aus der EGKS mit Preislisten für alle Waren bestanden, jedoch eine solche Regelung „die Flexibilität der Preise sehr stark inhibiert“ hätte, die daher für die Bundesregierung unannehmbar gewesen war.348 Die Abgeordneten bewerteten diesen ‚Erfolg‘ anders als Müller-Armack. In ihrem Teilbericht „Gemeinsamer Markt“, legten die Mitglieder des Sonderausschusses die Diskriminierungsbestimmungen des EGKSVertrags detailliert dar, um damit zu kritisieren, dass der EWG-Vertrag ein solches Diskriminierungsverbot nicht enthielt und Diskriminierungen nur für marktbeherrschende Stellungen untersagte.349 Müller-Armack hatte im Zusammenhang mit dem Kartellverbot wiederholt darauf hingewiesen, dass im Vertrag „der gleiche Ansatz vorgesehen (war), wie in unserem Kartellgesetzentwurf“,350 der zeitgleich zum Ratifikationsgesetz in den Bundestagsausschüssen beraten wurde. Der Ausschussbericht hingegen ging über den Buchstaben des Vertrages hinaus und nahm bereits die noch zu schaffenden legislativen Wettbewerbsregelungen nach der Übergangszeit ins Auge, um eine „elastische Handhabung“ der strengen Grundsätze zu fordern. Kritisiert wurde von den Abgeordneten auch, dass verschiedene Kartellformen, wie Konditionenund Rationalisierungskartelle und vertikale Vertriebsbedingungen, nicht generell vom Kartellverbot befreit worden waren. Wegen der starken Einflussnahme der Wirtschaft auf die Gesetzgebung galten für diese Kartellarten im GWB teilweise Ausnahmen vom Kartellverbot.351 347 BA B102/17333: Schreiben von Beutler und Sölter an Müller-Armack vom 26. Januar 1957. 348 PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957. S. 2f. 349 Vgl. Deutscher Bundestag. 2. Wahlperiode, Drucksache 3660. Schriftlicher Bericht des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – über den Entwurf eines Gesetzes zu den Verträgen vom 25. März 1957. In: Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 224. Sitzung am 5. Juli 1957. S. 13378–13429. Einzelbericht Gemeinsamer Markt. S. 13407–13420. S. 13413(C). 350 PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957. S. 3. 351 Vgl. Deutscher Bundestag. 2. Wahlperiode, Drucksache 3660. Schriftlicher Bericht des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – über den Entwurf eines Gesetzes zu den Verträgen vom 25. März 1957. In: Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 224. Sitzung am 5. Juli 1957. S. 13378–13429. Einzelbericht Gemeinsamer Markt. S. 13407–13420. S. 13413(C).
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Das Problem der anstehenden Umsetzung der konstitutiven Grundsätze in der Übergangsphase sprach Müller-Armack in der Sitzung des Sonderausschusses am 22. Mai an. Er hielt in diesem Zeitraum die „konkurrierende Tätigkeit der Europäischen Kommission“ und der nationalen Behörden für möglich, ließ aber unerwähnt, dass dies nur in drei Partnerländern geschehen könnte, da die anderen Vertragspartner zunächst nationale Behörden beauftragen mussten.352 Der Abschlussbericht benannte jedoch später deutlich das damit verbundene Problem der Benachteiligung von Unternehmen in Ländern mit Kartellgesetzen. Speziell die Benachteiligung von Exportkartellen während der Übergangsphase, in der die Staaten für die Umsetzung der Wettbewerbsregeln zuständig sein würden, wurde negativ hervorgehoben.353 Auf Nachfrage des SPD-Abgeordneten Karl Mommer im Sonderausschuss hinsichtlich des geltenden Kartellrechts in der Bundesrepublik nach Verabschiedung der Verträge machte Müller-Armack deutlich, dass für ihn außer Frage stand, dass die Grundsätze der Artikel 85 und 86 EWGV auch ohne ausführende Bestimmungen geltendes Recht in allen Mitsein würden, und zwar unabhängig davon, ob es in der Zwischenzeit zur Verabschiedung des deutschen Kartellgesetzes kommen würde oder nicht.354 Auch wenn Müller-Armack sich bei dieser Auffassung auf einen Beschluß des Interimsausschuss in Brüssel Anfang Mai berufen konnte, sollte sich bald zeigen, dass diese Auslegung des Vertrags nicht von allen Vertragspartnern geteilt wurde.355 Sie wurde später zum zentralen Gegenstand nachvertraglicher Auseinandersetzungen zwischen den Partnern. Abgeordnete der Opposition, namentlich Hellmut Kalbitzer (SPD), kritisierten bei den Beratungen im Sonderausschuss das durchgängige Prinzip des Vertrages, dass „dem, der aktiv Unrecht tut, nicht in den Arm gefallen wird, sondern dem Geschädigten das Recht zugestanden wird, sich hinterher zu wehren.“356 Das Thema Dumping wurde Anlass für eine Grundsatzdiskussion über die 352 PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957. S. 4. 353 Vgl. Vgl. Deutscher Bundestag. 2. Wahlperiode, Drucksache 3660. Schriftlicher Bericht des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – über den Entwurf eines Gesetzes zu den Verträgen vom 25. März 1957. In: Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 224. Sitzung am 5. Juli 1957. S. 13378–13429. Einzelbericht Gemeinsamer Markt. S. 13407–13420. S. 13413(D). 354 PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957. S. 15f. 355 Mit Inkrafttreten des Vertrags auf Grundlage von Artikel 88 seien die Vorschriften des Artikels 85 sofort anwendbar und es würde „Aufgabe eines jeden Mitgliedstaates sein, für die Anwendung der Bestimmungen des Artikels 85 zu sorgen.“ Vgl. Aufstellung der auslegenden Erklärungen zu Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und seiner Anhänge oder der dazu gehörigen Protokolle, Abkommen und Erklärungen. Brüssel, den 6. Mai 1957. MAE 945 d/57 lö/eg; 945 d/57 lö/msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 308. 356 PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957. S. 14.
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gesamten Sanktionsbefugnisse des Vertrags. Ähnlich wie in der sozialistischen Regierungsfraktion in Paris kamen hierbei auch in Bonn Forderungen nach schärferen supranationalen Sanktionsmöglichkeiten bei Vertragsverstößen auf.357 Dieses grundsätzliche Problem internationaler Verträge, welches sich später auch bei den Wettbewerbsregeln als Problem für die schnelle Etablierung einer europäischen Wettbewerbspolitik herausstellen sollte, wurde nach Ansicht der Opposition institutionell nicht befriedigend gelöst. Sich dieser Unzulänglichkeit bewusst, hoffte Müller-Armack, dass die Transformation der Grundsätze in ein gemeinsames europäisches Kartellgesetz anders als das GWB „nicht dem Zeitverschleiß“ unterliegen würde.358 Nachdem am Mittwoch und Donnerstag der ersten Juliwoche 1957 das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das einen fundamentalen Systemwechsel der deutschen Wirtschaftspolitik manifestierte, nach jahrelangem Streit den Deutschen Bundestag passiert hatte, stand am Freitag die zweite und dritte Lesung des Gesetzes zu den Römischen Verträgen auf der Tagesordnung, und damit auch die Entscheidung über die Etablierung eines europäischen Wettbewerbsrechts. Sowohl Befürworter als auch Gegner der Römischen Verträge argumentierten vor allem mit den gesamtpolitischen Implikationen. Wirtschaftspolitische Frage standen weder bei den einen noch bei den anderen im Vordergrund. Vereinzelt wurde das dirigistische Wirtschaftssystem Frankreichs dem Konzept der deutschen Marktwirtschaft kritisch gegenüber gestellt und die Befürchtungen geäußert, dass sich der französische Dirigismus auch in den Gemeinschaften ausprägen würde. Speziell die Angleichung der Zölle an das eher protektionistische französische Zollsystem wurde kritisiert. Auch der Sonderausschuss hatte in seinem Abschlußbericht gefordert, dass bei der zukünftigen Ausgestaltung der gemeinsamen Wirtschaftspolitik die „marktwirtschaftlichen Prinzipien, auf denen das Vertragswerk ruht“, zum Tragen kommen müssten.359 Die europäische Wettbewerbs- und Kartellpolitik wurde nicht erwähnt. Erhard hatte sich aber auch bereits am Tag zuvor in der Abschlussdebatte zum GWB das Verdienst zu eigen gemacht, dass 357 Vgl. Latte: Die französische Europapolitik. S. 98. 358 PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 37. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 22. Mai 1957. S. 4. 359 Deutscher Bundestag. 2. Wahlperiode, Drucksache 3660. Schriftlicher Bericht des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – über den Entwurf eines Gesetzes zu den Verträgen vom 25. März 1957. In: Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 224. Sitzung am 5. Juli 1957. S. 13378–13429. Einzelbericht Gemeinsamer Markt. S. 13407–13420. S. 13417(C, D). Auf mündliche Beratung der Berichte wurde verzichtet. Die in der zweiten Lesung als Ergebnis der Ausschussberatungen abgestimmten Änderungen am Ratifikationsgesetz betrafen vor allem die Verfahrensweisen zwischen Bundestag und Bundesrat zur An- und Übernahme von europäischen Regelungen und Verordnungen, betrafen aber nicht den materiellen Inhalt des Vertrags. Vgl. PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 48. Stenographisches Protokoll der 15. Sitzung des 3. Sonderausschusses – Gemeinsamer Markt/Euratom – am Mittwoch, 19. Juni 1957. S. 5; Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 224. Sitzung am 5. Juli 1957. S. 13314(D)–13350(A).
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der Geist des GWB „in den Wettbewerbsregeln des Gemeinsamen Marktes seinen Niederschlag gefunden“ habe. Er hatte seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, „dass dieser Geist einer freiheitlichen Wettbewerbsordnung bei aller Unzulänglichkeit in den Anfängen allmählich über Deutschland hinausgreifend die Grundlage einer Wettbewerbspolitik auf breiter internationaler Ebene abgeben“ werde.360 Sein im Dezember 1954 in Paris öffentlich bekundetes Sendungsbewusstsein, dass durch den „gelieferte(n) Experimentalbeweis“ des westdeutschen Wirtschaftsaufstiegs nach 1945 „die Prinzipien einer liberalen, aber sozial verpflichteten Wirtschaftspolitik“ zu europäischen Werten würden, war dabei erneut deutlich geworden.361 Mit großer Zustimmung der Regierungsfraktionen und der SPD-Fraktion wurde am 5. Juli 1957 das Gesetz zu den Verträgen vom 25. März 1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft im Deutschen Bundestag verabschiedet. Nach der Zustimmung des Bundesrates und der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 27. Juli 1957 waren damit die Römischen Verträge von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert.362 Auch in den anderen Ländern verlief der Ratifikationsprozess ohne große Probleme. Die französische Nationalversammlung stimmte dem Vertrag fünf Tage nach dem Deutschen Bundestag zu, der französische Senat am 24. Juli.363 In Italien und den Benelux-Staaten erhielten die EWG-Verträge im Herbst die nötige Mehrheit.364 In allen Parlamenten überwog sowohl bei den christlichen, als auch bei den liberalen und sozialdemokratischen Parteien die proeuropäische Grundeinstellung, auch wenn die für den Vertrag verantwortlichen Regierungen in Italien und in Frankreich im Mai 1957 abgelöst worden waren.365 Allein in den Niederlanden waren die Wettbewerbsartikel Gegenstand nationaler Auseinandersetzung gewesen. Erst nachdem ein eigenes Gesetz zur Durchführung von Artikel 88 des Vertrags verabschiedet worden war, war die Zustim-
360 Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 223. Sitzung am 4. Juli 1957. S. 13242–13252. S. 13247 (A). 361 Erhard, Ludwig: Rede vor dem Club „Les Echos“ am 7. Dezember 1954 in Paris. In: Erhard: Deutsche Wirtschaftspolitik. S. 255. 362 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 224. Sitzung am 5. Juli 1957. S. 13314–13349. Die Debatte in der 181. Sitzung des Bundesrates am 19. Juli 1957 und die Anrufung des Vermittlungs-Ausschusses bezog sich nur auf die Veränderung der legislativen Struktur der Bundesrepublik und hatte Veränderungen der nationalen Zuständigkeiten von Bundestag und Bundesrat, unter anderem bei der Entsendung von Abgeordneten in die Gemeinsame Versammlung von EGKS, EWG und EURATOM, zum Gegenstand. Der Bundesrat wünschte, dort angemessen vertreten zu sein. Vgl. PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 60, 61, 62. 363 Vgl. zur Ratifikationsdebatte und den europapolitischen Positionen der drei großen Parteien in Frankreich Latte: Die französische Europapolitik. S. 100–120; Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 3, FN 11; Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 474–478. 364 Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 478ff. 365 Zur Rolle Monnets und seines Aktionskomitees bei den nationalen Ratifizierungen vgl. Weilemann: Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. S. 146f.
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mung zum EWG-Vertrag gesichert.366 Kartelle und missbräuchliche Praktiken, auch wenn sie gegen die Artikel 85 und 86 verstießen, blieben demnach in den Niederlanden so lange rechtsgültig bis das Wirtschaftsministerium als zuständige Behörde nach niederländischem Recht eingreifen würde.367 Damit hatte bereits einer der Vertragspartner bevor der Vertrag in Kraft trat, aus innenpolitischen Gründen Teile der wettbewerbspolitischen Vereinbarungen für die Übergangszeit suspendiert. Es zeigte sich erneut, dass die Annäherung der nationalen wettbewerbspolitischen Präferenzen mit der Vertragsunterzeichnung noch lange nicht abgeschlossen war. Zahlreiche legislative Fragen zur Umsetzung der Wettbewerbsartikel waren noch offen und mussten in den nächsten Jahren geklärt werden. Nach der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunden der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs bei der italienischen Regierung am 12. Dezember 1957 traten aber zunächst die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft als erfolgreiches Ergebnis rund zweijähriger Verhandlungen der Staaten über die Vertiefung der europäischen Integration am 1. Januar 1958 in Kraft.368 D.4 EINIGUNG AUF DEN KLEINSTEN GEMEINSAMEN NENNER? D.4.a Übereinstimmung auf der konstitutionellen Ebene Bereits am 24. November 1956 hatte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt von der Groeben dem Ausschuss der Delegationsleiter melden können, dass ein Kompromiss erreicht wurde und dass „die die Wettbewerbsregeln betreffenden Artikel 40 bis 43 [...] formuliert“ waren.369 Abgesehen von der noch offenen Frage des Diskriminierungsverbots und der Annahme des Einigungsvorschlags durch den Ausschuss, die am 28. November erfolgte, waren die Wettbewerbsregeln auf dem besten Weg, einer der ersten Bereiche zu werden, die frei von grundsätzlich konfligierenden Interessen waren. Für die hohe Übereinstimmung der Präferenzen sprach, dass die Verhandlungen weiter voran geschritten waren als jene über die Regelungen der staatlichen Beihilfen, über den Anpassungsfonds, den Investitionsfonds und die Zahlungsbilanz- und Währungspolitik. Es war eine Einigung auf gemeinsame Regeln zustande gekommen, an die 366 Vgl. Niederländisches Gesetz vom 5. Dezember 1957 zur Durchführung des Art. 88 des EWG-Vertrags. Abgedr. in: WuW 11(1961). S. 38. 367 Vgl. Schumacher, Hermann: Enthalten die Artikel 85 und 86 des EWG-Vertrags bereits in den Mitgliedsstaaten geltende Rechtsnormen? In: WuW 8 (1958). S. 779–782. S. 780. 368 Die deutsche Ratifikationsurkunde wurde am 9. Dezember 1957 hinterlegt. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Ratifikationsurkunden der Italiener und der Franzosen bereits vor. Vgl. Bundesgesetzblatt vom 8. Januar 1958. PADB Gesetzesdokumentation II 474, Bd. II, Lfd. Nr. 65. 369 Ausschuss der Delegationsleiter, Aufzeichnung des Vorsitzenden des Ausschusses Gemeinsamer Markt, Stand der Arbeiten in der Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt am 24.11. 1956. Brüssel, 24. November 1956. Ch. Del. 67. MAE 627 d/56mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 989–994. S. 992f.
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bei den beiden ‚Schlußlichtern‘ der Verhandlungen, Landwirtschaft und Verkehr, nicht zu denken war. Die Wettbewerbsartikel hatten nicht zu derart schwerwiegenden Divergenzen geführt, dass die politische Ebene der Delegationsleiter oder sogar die der Außenminister damit hätte befasst werden müssen, wie dies beispielsweise beim Agrarmarkt notwendig wurde. Jedoch lagen Ergebnisse nur deshalb vor, weil nach der Einigung auf Grundsätze der Wettbewerbspolitik weitere für ein wettbewerbpolitisches Gesamtkonzept notwendige Entscheidungen mit der ‚Methode von der Groeben‘ in die Zukunft geschoben worden waren und der EWG-Vertrag370 unvollständig geblieben war.371 Mit Beginn der Europäischen Gemeinschaft war aktive europäische Wettbewerbspolitik auf dem Gemeinsamen Markt noch nicht möglich. Die Unterschiede zwischen den wirtschaftspolitischen Traditionen und damit auch Zielsetzungen der sechs Staaten waren bei aller Ähnlichkeit, die angesichts der unterschiedlichen Kartell- und Wettbewerbsgesetze überraschte, noch zu groß. Eine Präferenzangleichung innerhalb weniger Monate und eine Einigung auf ein gemeinsames wettbewerbspolitisches Konzept waren nicht möglich gewesen. Dennoch legte der EWG-Vertrag die notwendige verfassungsähnliche Basis der europäischen Wettbewerbspolitik. In Anlehnung an Brendel war der EWG-Vertrag das Verhandlungsergebnis der ersten, der konstitutionellen, Ebene.372 Ähnlich einer nationalen Verfassung wurden im ihm bestimmte Rechtsgrundsätze festgeschrieben, die über anderen Rechtsnormen standen und an die die Staatsgewalt gebunden war; und zwar sowohl die der Staaten als auch die von den Staaten zusammengelegte und auf die Organe der EWG übertragene Gewalt. Grundsätzlich schrieben die sechs Staaten im EWG-Vertrag das Ziel fest, einen grenzüberschreitenden Markt für Güter und Dienstleistungen zu schaffen, der einem Binnenmarkt ähnlich sein sollte. Der Abbau der Grenzen und Handelsschranken zwischen den Staaten sollte von der Annäherung der Wirtschaftspolitiken der Staaten begleitet werden. Ausdruck der primär marktwirtschaftlichen Ausrichtung des europäischen Binnenmarktes war das in Artikel 3, Absatz f) des EWG-Vertrags festegelegte Ziel der „Errichtung eines Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt.“373 Konkreteres enthielten die Wettbewerbsartikel 85 bis 94. Die Selbstverpflichtung der Vertragspartner, einerseits alle notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung der 370 Vgl. Bundesgesetzblatt, Teil II, 1957. S. 753–903. 371 Diese Methode schlug von der Groeben Ende November auch dem Delegationsleiterausschuss für jene „Probleme, deren Erörterung und Lösung viel Zeit in Anspruch nehmen würde,“ vor. Vgl. Ausschuss der Delegationsleiter, Aufzeichnung des Vorsitzenden des Ausschusses Gemeinsamer Markt, Stand der Arbeiten in der Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt am 24.11. 1956. Brüssel, 24. November 1956. Ch. Del. 67. MAE 627 d/56mrs. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Gründungsverträge. S. 989–994. S. 994. 372 Vgl. Brendel: Wettbewerbspolitische Konzeptionen. S. 90ff. 373 Von einer grundsätzlich marktwirtschaftlichen Ordnung kann allerdings angesichts der interventionistischen Vereinbarungen für die Agrarwirtschaft (Art. 38–46) und den Verkehr (Art. 74–84) nicht die Rede sein. Teilweise wurden diese Bereiche explizit von den Wettbewerbsbestimmungen ausgenommen.
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Vertragsziele zu ergreifen und andererseits alle Maßnahmen zu unterlassen, „welche die Verwirklichung der Ziele [...] gefährden könnten“, wurde in Artikel 5 festgehalten. Auf die Wettbewerbsregeln bezogen bedeutete dieser Grundsatz, dass die Staaten aktiv die Wettbewerbsregeln für Unternehmen (Art. 85–89 EWGV) durchsetzen und staatlich verursachte Wettbewerbsverfälschungen durch öffentliche und monopolartige Unternehmen oder durch Genehmigung von Dumping-Praktiken und Subventionen (Art. 90–94 EWGV) abbauen mussten. In Zusammenhang mit dem Abbau der Handelsschranken vereinbarten die Staaten in Artikel 37 des Vertrags, staatlich gewährte rechtliche Handelsmonopole schrittweise umzuformen, um den freien Wettbewerb nicht zu beeinträchtigten. Darüber hinaus wurden Diskriminierungen jeder Art durch Private oder Staaten aufgrund der Staatsangehörigkeit untersagt (Art. 7 EWGV). Zahlreiche Verweise auf die Wettbewerbsgrundsätze in anderen Teilen des Vertrags machten die herausragende Stellung des Wettbewerbs für den Gemeinsamen Markt deutlich. Die zur Herstellung des europäischen Binnenmarkts notwendigen Angleichungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie Rechts-, Steuer-, Finanz- und Verwaltungsvorschriften der Staaten, wurden als zukünftige Aufgaben in den Vertrag aufgenommen (Art. 95–102 EWGV). Die starke Einbindung der Wettbewerbsregeln in den Vertrag und die Verknüpfung zahlreicher Artikel mit ihnen ist Ausdruck der Ausrichtung der Wirtschaftsordnung des gemeinsamen Marktes am Prinzip des Wettbewerbs und der Selbstbindung der Staaten an dieses Prinzip. Der EWG-Vertrag stellt in diesem Sinne das wettbewerbspolitische Ordnungsgefüge dar, in das sich spätere Gesetze fügen mussten.374 Grundlagen für praktische Wettbewerbspolitik durch die Wahl der ‚Spielregeln‘ und die Festlegung der Verfahren zur Kontrolle ihrer Einhaltung schufen die Staaten jedoch nur teilweise, da sie sich zwar auf die abstrakten aber nicht mehr auf die konkreten Regeln für die Wettbewerbspolitik einigen konnten. D.4.b Präferenzen, Verhandlungsmacht und Handlungsautonomie der Regierungen Bei der Frage, welche Regierungen ihre nationalen Präferenzen für Wettbewerbspolitik bei den Vertragsverhandlungen durchsetzen konnten und welche konfligierenden Interessen zum Ausgleich gebracht wurden, muss einleitend festgehalten werden, dass es eine eigene, unabhängige Präferenz für Kooperation auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik nicht gab. Selbstredend forderte weder die Wirtschaft selbst die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit noch sah man auf Seiten der Regierungen die Notwendigkeit für grenzüberschreitende Kartell- und Wettbewerbspolitik. Die Interessen von Endkonsumenten und Verbrauchern konnten sich schon auf nationaler Ebene kaum Gehör verschaffen, auf internationaler Ebene waren sie nicht zu vernehmen. Zudem trugen mangelhafte Kenntnisse über internationale Kartelle oder Konzerne, die auf dem europäischen Markt oder 374 Vgl. Brendel: Wettbewerbspolitische Konzeptionen. S. 90f.
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dem Weltmarkt marktbeherrschende Stellungen hatten, zu dem geringen Interesse der europäischen Regierungen an internationalem Kartell- und Wettbewerbsrecht mit bei. Dies dokumentierten auch die wirkungslosen Ansätze hierzu im Rahmen der Vereinten Nationen und des Europarates.375 Die Rechtskonkurrenz zwischen nationalem und EKGS-Wettbewerbsrecht für die Montanindustrie hatte zwar Konflikte verursacht, aber auch diese waren nicht Anlass, um eine gemeinsame Wettbewerbsordnung zu begründen. Für diese existierte nur eine abgeleitete Präferenz als Folge der Nachfrage nach Zusammenlegung der Märkte. Der Anlass für die Kooperation der sechs EGKS-Staaten war die Nachfrage der Wirtschaft nach größeren und leichter erreichbaren Märkten und das Interesse der Menschen an mehr Wohlstand gewesen. Die Präferenzen für die Aufhebung der tarifären und nicht-tarifären Grenzen für den Güter- und Dienstleistungssowie Produktionsfaktormarkt wurden ergänzt durch das jeweils unterschiedlich ausgeprägte Interesse an Zusammenarbeit in den drei überwiegend gemeinwirtschaftlich geführten beziehungsweise staatlich dominierten Monopolmärkten Atomenergie, konventionelle Energie und Verkehr. Angesichts der weltpolitischen Konkurrenzsituation der westlichen, marktwirtschaftlichen Staaten mit den sowjetisch dominierten und staatswirtschaftlich geprägten Volkswirtschaften des Ostblocks war die Präferenz für Wohlstand mit der Erkenntnis verbunden, dass dessen unerlässliche Voraussetzung Frieden und ein Klima der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den westlichen Ländern war, das durch institutionalisierte Kooperation hergestellt werden sollte. Als Ausdruck rationalen Handelns gingen die Regierungen mit ihrem Interesse an Kooperation aufeinander zu und ließen in ihren Administrationen gleichzeitig Realisierungskonzepte entwerfen. Dabei wurde bald deutlich, dass für die erfolgreiche Zusammenlegung nationaler Märkte die Angleichung der Wirtschaftsordnungen oder mindestens der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken notwendig werden würde. Das Ausmaß der Angleichungsnotwendigkeit war jedoch umstritten. Die kleineren Länder mit hoher Außenhandelsabhängigkeit und die Länder mit weniger gefestigten Wirtschaftsordnungen, die entweder relativ größeren Nutzen aus der Markterweiterung oder relativ geringere Kosten durch Angleichung der Wirtschaftspolitik erwarteten, waren zu größeren Annäherungen bereit, wie die Benelux-Initiative zum Ausbau der Kooperation im Mai 1955 zeigte. In der Bundesrepublik und in Frankreich hingegen wurden die durch Einschränkungen der nationalen Wirtschaftspolitik aufgrund von Anpassungen an eine gemeinsame Wirtschaftspolitik entstehenden Kosten sehr viel höher veranschlagt als in den anderen Ländern. In Frankreich war stark umstritten, ob Vor- oder Nachteile der weiteren Zusammenarbeit überwiegen würden. Obwohl die EVG gescheitert war, waren in beiden Ländern die Präferenzen für Sicherheit nach den Pariser Verträgen zudem zurückgegangen und fielen verhältnismäßig geringer ins Gewicht. In den Benelux-Staaten und in Italien hatten die Pariser 375 Vgl. Das Kartellproblem in internationaler Beleuchtung, 19. Juli 1956, Vermerk Günther an Erhard (I B 5 – 2385/56). Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 150–156. S. 150f.
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Verträge hingegen keine vergleichbaren Auswirkungen gehabt. Hier wurde der durch die Marktausdehnung erhoffte Nutzen um den hohen, sicherheitspolitisch erwarteten Nutzen infolge der engeren Bindung an die Nachbarländer ergänzt. Potentielle Nachteile durch den Verlust politischer Gestaltungsmacht wurden als relativ geringer erachtet. Bei der Konferenz von Messina hatten die Außenminister grundsätzliche Interessenkonvergenz für engere Zusammenarbeit festgestellt. Angesichts der unterschiedlich stark ausgeprägten Präferenzen auf unterschiedlichen Politikfeldern, stellte sich daran anschließend die Frage, wie groß die Chancen für eine Einigung auf Kooperation und einen Ausgleich gleichgerichteter und konfligierender Interessen wirklich waren. Anstatt die unterschiedlichen Schwerpunkte der drei vorliegenden Memoranden zu diskutieren, beauftragten die Außenminister Sachverständige ohne Entscheidungsbefugnis unter der Leitung des belgischen Außenministers Spaak damit, die Interessenkonvergenzen auszuloten. Das erste Ergebnis der Arbeit dieser Sachverständigen, des Spaak-Ausschusses, war, dass für Teilkooperationen auf einzelnen Märkten, wie Verkehr und konventioneller Energie, keine ausreichende Homogenität der Interessen bestand, nicht zuletzt weil in der Bundesrepublik und in Italien weitere Teilintegrationen abgelehnt wurden. Hingegen zeigte sich Konvergenz bei den Themen Atomenergie und Ausdehnung nationaler Märkte durch den Abbau von Handelsschranken oder sogar durch Zusammenlegung der Märkte. Jedoch gab es hierbei zwei Kumulationspunkte der Interessen, die zu Gegensätzen führten. Der hohen französischen Präferenz für Kooperation bei der Atomwirtschaft stand die hohe Präferenz der anderen fünf Staaten für die Liberalisierung des Handels gegenüber. Das Interesse der Franzosen an letzterem blieb mindestens bis zum Regierungswechsel im Januar 1956 fast prohibitiv gering. Die französische Bereitschaft zu Konsultationen war in Messina in erster Linie von der sicherheitspolitisch geprägten Präferenz für die Kooperation bei der Atomenergie angetrieben worden. Eigene Unzulänglichkeiten bei der Atomforschung sollten ausgeglichen und Deutschland sollte, nicht zuletzt auf diesem militärisch hoch brisanten Forschungsfeld, gebunden werden.376 Die durch den partiellen Verlust der Autorität über die nationale Wirtschaftspolitik verursachten Kosten gepaart mit der geringen internationalen Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft überwogen in der Einschätzung der französischen Regierung den potentiellen Nutzen aus der Wirtschaftskooperation, so dass das französische Interesse an ihr gering war. Für diese Bewertung der Lage waren maßgeblich die handelspolitische Abteilung im Quai d’Orsay, die Bürokratie im Finanz- und Wirtschaftsministerium und die französische Wirtschaft verantwortlich. Da sie sich unter der neuen Regierung Mollet ab Februar 1956 nur sehr langsam änderte, waren die Sachverständigengespräche in Brüssel lange Zeit von der konstruktiven 376 Die „deutsche Frage“ war für alle französischen Regierungen zwischen 1955 und 1957 ein entscheidender Grund für die Kooperation. Vgl. Latte: Die französische Europapolitik. S. 106f.; Guillen: Frankreich und der europäische Wiederaufschwung. S. 9f.; ders.: Europe as a Cure. S. 507.
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Zusammenarbeit bei der Atomgemeinschaft und der französischen Zurückhaltung bei den Verhandlungen über die Wirtschaftskooperation geprägt. Während der parallel zu den Gesprächen in Brüssel regelmäßig stattfindenden Konsultationen der Außenminister hatte sich die französische Verhandlungsmacht beim Projekt Wirtschaftskooperation aufgrund des sehr geringen Interesses am Abbau von Handelsschranken in der französischen Wirtschaft als sehr groß erwiesen. Bei diesem Projekt drohte nun eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner auf dem Niveau desjenigen Landes, das das geringste Interesse an Kooperation hatte. Die Verhandlungsmacht der fünf anderen Staaten blieb trotz ihrer hohen Interessenkongruenz gering. Die Drohung mit alternativer, exklusiver Kooperation war wirkungslos, da der Kooperationswert ohne Frankreich zu gering gewesen wäre. Speziell auf deutscher Seite waren weitere Kooperationsprojekte ohne Frankreich nicht vorstellbar. Neben dem geringen Nutzen für die Wirtschaft hätten mögliche Verstimmungen den Ausgleich mit Frankreich erschwert, den auch die Wirtschaft als Grundlage für die gesunde wirtschaftliche Entwicklung erkannt hatte. Jedoch gab die asymmetrische Verteilung der Präferenzen beim Atomenergieprojekt den anderen fünf Staaten, deren Interesse an diesem Projekt geringer war als am gemeinsamen Markt, ausreichende Verhandlungsmacht. Am Ende ermöglichte die schwache Verhandlungsposition Frankreichs auf dem Gebiet der Atomwirtschaft die Verknüpfung der beiden Projekte und damit die erste notwendige Einigung der Staaten auf dem Weg zur späteren EWG und EURATOM. Wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen der Römischen Verträge war der Regierungswechsel in Frankreich. Auch wenn das Wahlergebnis kein eindeutiges Votum für Guy Mollet gewesen war, kann seine Wahl nach seinen betont proeuropäischen Äußerungen im Wahlkampf doch als Ausdruck veränderter Präferenzen in der französischen Gesellschaft gewertet werden. Nachdem die neue französische Regierung einerseits zum Ausdruck gebracht hatte, dass sie den Wert der Kooperation zur Handelsliberalisierung höher bewerten würde als ihre Vorgängerregierung und sich demnach für den gemeinsamen Markt aussprach und andererseits die fünf anderen Staaten bei der Außenministerkonferenz im Februar 1956 in Brüssel die Verknüpfung der beiden Projekte als Grundvoraussetzung noch einmal betont hatten, war die Interessenkonvergenz ausreichend, um mit konkreten Verhandlungen zu beginnen. Hinzu kam, dass der Wert und damit die Relevanz der Atomkooperation von den gesellschaftlichen Gruppen in allen Ländern bald geringer eingeschätzt wurde als der Wert der Wirtschaftskooperation. Dies hing damit zusammen, dass die Gruppe der möglichen Gewinner der Atomkooperation diffus und zahlenmäßig geringer war als die der Wirtschafskooperation. Hingegen waren die potentiellen Verlierer der Atomkooperation anders als die potentiellen Verlierer des Gemeinsamen Marktes kaum auszumachen, zumal sich ein Großteil der französischen Wirtschaft offensiv als Verlierer der angestrebten Wirtschaftskooperation präsentierte. Aus dem tendenziell geringeren Interesse am Projekt eines gemeinsamen Marktes folgte somit für Frankreich eine grundsätzlich höhere Verhandlungsmacht.
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In der Bundesrepublik hingegen waren Industrielle und die Administration im Wirtschaftsministerium von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft überzeugt. Die Initiative der Benelux-Länder im Mai 1955 hatte im Prinzip positives Echo hervorgerufen, das allein durch Zwischenrufe des Wirtschaftsministers gestört worden war. Der Nutzen von Kooperation durch Expansion der Märkte war unbestritten, aber Erhard drängte darauf, dass die Kosten durch Angleichung der Wirtschaftspolitik nicht zu groß würden. Die wesentlich von ihm geprägte Soziale Marktwirtschaft, deren letzte tragende Säule der klaren Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung trotz jahrelanger großer Anstrengungen für ein deutsches Kartellgesetz noch nicht stabil stand und von deren ökonomisch positiver Wirkung für die Volkswirtschaft er geradezu missionarisch überzeugt war, sollte nicht durch dirigistische Elemente ausgehöhlt werden. Die EGKS und der schlechte Zustand der französischen Wirtschaft boten ihm ausreichend negatives Anschauungsmaterial, um seine Vorbehalte gegenüber einem gemeinsamen Markt in der institutionellen Gestalt der EGKS oder mit dirigistischen Eingriffen französischen Zuschnitts zu nähren und zu bestätigen. Auf den ersten Blick fiel seine Kosten-Nutzen-Analyse der Zollunion der sechs westeuropäischen Staaten, wie in Paris, negativ aus, so dass Erhard fälschlicherweise in den Ruf geriet, Gegner der Wirtschaftskooperation zu sein. Seine Ablehnung basierte jedoch auf dem Vergleich zwischen einem nicht auf marktwirtschaftlichen Grundätzen basierenden Gemeinschaftsmodell französischer Prägung und dem Konzept einer Freihandelszone, bei dem die nationale Wirtschaftspolitik nur minimal angepasst werden müsste; ein Konzept, das auch mehr Zustimmung in der deutschen Wirtschaft fand. Sein Engagement gegen den gemeinsamen Markt war immer zugleich ein Engagement für die Sicherung der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik und für einen liberalen Außenhandel. Die hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft gab ihm die Selbstsicherheit, vom Erfolg und der Überlegenheit der von ihm vertretenen Wirtschaftsordnung im Wettbewerb der Systeme überzeugt zu sein. Erhards Zustimmung zum gemeinsamen Markt war zu gewinnen, wenn die Angleichung der Wirtschaftspolitik auf Basis marktwirtschaftlicher Prinzipien geschah. Begreift man die Wettbewerbsordnung einer Volkswirtschaft als Ausdruck der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber dem Prinzip Marktwirtschaft,377 so wird die Relevanz von europäischen Wettbewerbsregeln für die deutsche Verhandlungsposition deutlich. Erhards anfänglicher Widerstand gegen eine Kooperation ohne ausreichend marktwirtschaftliche Elemente führte dazu, dass die Bundesregierung die Forderung nach Berücksichtigung von Wettbewerbregeln übernahm und von Anfang an zum Gegenstand der Verhandlungen machte. Diese Forderung fand auch Niederschlag bei den Gesprächen des Spaak-Ausschusses in Brüssel. Die Arbeiten des Regierungsausschusses sind als Schnittstelle zwischen der ersten und der zweiten Ebene im Erklärungsmodell Moravcsiks zu sehen. Die Regierungen gingen als Folge nationaler Nachfrage nach Kooperation auf Expertenebene aufeinander zu, um die Realisierungswahrscheinlichkeit weiterer 377 Vgl. Bork: The Antitrust Paradox. S. 425.
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Kooperation abzuschätzen. Das Debakel des Scheiterns von EVG/EPG war allen Beteiligten noch in deutlicher Erinnerung. Parallel kam es auf der politischen Ebene mit dem Junktim von Atomkooperation und Wirtschaftskooperation zu einem ersten Verhandlungsergebnis, um nicht beim kleinsten gemeinsamen Nenner zu enden. Erst nachdem diese Situation klar war, ergriff Spaak die Möglichkeit, seinen Außenministerkollegen mehr als nur einen Bericht über die Realisierungswahrscheinlichkeiten weiterer Kooperation vorzulegen. Hierzu beendete er im März 1955 die Gespräche der Sachverständigen, die vor allem Uneinigkeiten in Detailfragen zu Tage befördert hatten. Mit der Beauftragung Uris und von der Groebens verfolgte Spaak das Ziel, in dem Bericht die Interessenkonvergenzen zu bündeln und in den Vordergrund zu stellen, um damit eine Blaupause für die Verhandlungen zu erstellen. Bei den daraufhin beschlossenen Verhandlungen sprach vieles dafür, dass vor allem die Franzosen ihre Interessen würden durchsetzten können, da sie über hohe Verhandlungsmacht verfügten. Überträgt man Moravcsiks Thesen auf diese Situation, spiegelte dies auch die Paketlösung aus Wirtschafts- und Atomkooperation wieder. Mehrfach mussten die anderen fünf Staaten dieses Junktim bekräftigen und verteidigen. Die Verhandlungsmacht der Franzosen wurde auch an zahlreichen Sonderinteressen deutlich, die sie durchsetzen konnten. Diese waren vor allem die Berücksichtigung des Agrarmarkts im Gemeinsamen Markt nach überwiegend französischen Vorstellungen, die Einbeziehung der überseeischen Gebiete inklusive einem Investitionsfond für diese Gebiete, dessen Nettoempfänger nur Frankreich wurde,378 und die Schutzklausel Frankreichs beim Zollabbau, den Frankreich im Notfall von der Entwicklung seiner Zahlungsbilanz abhängig machen konnte. Diese Schutzklausel kam zwar nicht zur Anwendung, dennoch ist das Gewicht der durchgesetzten französischen Sonderinteressen verglichen mit denjenigen anderer Länder unübersehbar. Deren Sonderinteressen waren entweder durch größere Interessenkonvergenz mit anderen Verhandlungspartnern geräuschloser akzeptiert worden, wie beispielsweise die deutschen Forderungen nach Wettbewerbsregeln, hatten geringere Folgekosten für die Partnerländer, wie die Berücksichtigung des innerdeutschen Handels im gemeinsamen Markt, oder widersprachen dem von der Mehrheit angestrebten Gesamtkonzept nicht so extrem, wie die Freizügigkeit für italienische Arbeitskräfte. Zudem spricht für die prinzipiell hohe Verhandlungsmacht der Franzosen, dass sie mit ihrer Forderung nach Angleichung der Soziallasten auf dem vergleichsweise hohen französischen Niveau die Verhandlungen lange Zeit bremsen konnten, ohne ihre Position dadurch nachhaltig zu schwächen. Die Franzosen behielten ihre starke Position auch bei, nachdem klar war, dass Frankreich den Kooperationsnutzen bei der Atomgemeinschaft nur erhalten würde, wenn es sich ebenfalls auf den gemeinsa378 Das Gesamtvolumen von 581,25 Mill. EZU-Rechnungseinheiten wurden 200 Mill. je von Frankreich und der Bundesrepublik getragen. Die Niederlande und Belgien zahlten je 70 Mill. ein, Italien 40 Mill. und Luxemburg 1,25 Mill. EZU-Rechnungseinheiten. Jedoch allein Frankreich profitierte per Saldo aus dem Fonds. Vgl. Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 391.
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men Markt einließ. Hingegen hatte die Neubewertung des Gesamtkooperationsnutzens aufgrund der Spannungen in Algerien, der Suezkrise und der Entwicklung in Ungarn in der zweiten Jahreshälfte 1956 auf die französische Verhandlungsposition relativ größeren Einfluss als auf die der anderen Länder. Hinzu kamen die stärker werdenden außenwirtschaftlichen Probleme Frankreichs im Laufe desselben Jahres.379 In den Benelux-Staaten, der Bundesrepublik und auch in Italien, das hohes Interesse daran hatte, die notwendigen Entwicklungskosten im Süden des Landes und das Arbeitskräfteüberangebot zu exportieren, blieb die Interessenintensität für den Gemeinsamen Markt dennoch tendenziell höher als in Frankreich. Jedoch blieb die Verhandlungsmacht der anderen fünf Staaten im Vergleich zu der Frankreichs gering. Berücksichtigt man neben der Interessenintensität auch die wirtschaftliche Größe der Verhandlungsbeteiligten zur Bestimmung ihrer jeweiligen Verhandlungsmacht, so ist auch darin eine Ursache für den französischen Einfluss zu finden. Zudem war die Verhandlungsmacht des anderen großen und wirtschaftlich starken Staates, der Bundesrepublik, aus historischen Gründen tendenziell geschwächt. Vor dem Hintergrund des primären Ziels der stabilen Westbindung der Bundesrepublik verhinderte Adenauer, dass Erhards Avancen für das Freihandelskonzept im Rahmen der OEEC, hätte man es als ernsthafte Option vertreten, dazu genutzt werden konnte, die deutsche Verhandlungsposition mit der Drohung exklusiver Kooperationen zu verbessern. Nach gesonderter Analyse der Rezeption dieser Haltung in den Administrationen der Verhandlungspartner an anderer Stelle könnte beurteilt werden, inwieweit Erhards Äußerungen trotzdem zur Stärkung oder zur Schwächung der deutschen Verhandlungsmacht beigetragen haben. Jedenfalls verhinderte diese Situation, dass die Bundesrepublik ihre wirtschaftliche Stärke voll zum Einsatz bringen konnte. Neben den engen wirtschaftlichen Verflechtungen und politischen Verbindungen war beiderseits des Rheins die Grundlage der Zusammenarbeit die Erkenntnis, dass Frankreich seinen internationalen Status nur durch die Entwicklung von Europa aufrechterhalten konnte und dass die Bundesrepublik ihre internationale Anerkennung langfristig nur durch die Unterordnung mittelfristiger wirtschaftlicher Präferenzen unter das Oberziel der europäisch institutionalisierten Kooperation ausbauen konnte.380 Um Verhandlungslösungen auf der Präferenzebene des Staates mit dem geringsten Interesse zu verhindern, wies Moravcsik auf die Relevanz der Verhandlungsautonomie der jeweiligen Delegationen für die Aushandlung von Paketlösungen hin. Da vor allem die Verhandlungsautonomie der französischen Delegation stark eingeschränkt war, waren Kompromisse von ihr kaum zu erwarten. Nicht erst bei den Verhandlungen, sondern schon bei den Sondierungsgesprächen bekam die französische Delegation enge Vorgaben aus Paris. Auch in der Delega379 Die mittelfristig daraus resultierenden Veränderungen der französischen Wirtschaftspolitik leisteten einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Vertrags-Verhandlungen und der EWG. Vgl. Meyer: Wettbewerbsverzerrungen im internationalen Handel. S. 74. 380 Vgl. Hendricks, Gisela; Morgan, Annette: The Franco-German Axis in the European Integration. Cheltenham, Northhampton 2001. S. 3ff.
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tion geäußerte thesenartige Ansätze, die Verhandlungsposition zu überdenken und auf eine Kompromisslinie einzuschwenken, hatten umgehende Zurechtweisungen aus dem Quai d’Orsay zu Folge.381 Die zunächst größere Autonomie der neuen Regierung Mollet gegenüber nationalen Gruppen in Frankreich reichte wegen der knappen Regierungsmehrheit nicht, um die Ablehnung von supranationalen Institutionen und die Forderungen nach Angleichung der sozialstaatlichen Normen auf das französische Niveau als nationale Präferenzen zu überhören. Die Verhandlungsautonomie der Bundesregierung nahm hingegen mit der bevorstehenden Bundestagswahl 1957 kontinuierlich ab, da Adenauer einen europapolitischen Erfolg vorweisen wollte. Jeder erwägte Kompromiss und jede Paketlösung bei den Verhandlungen wurden in diesen beiden, für die Verhandlungen bedeutenden, Staaten genau beobachtet. Die Handlungsautonomie der Regierungen war nicht nur von nationalen Interessen, sondern auch vom Politikfeld und damit von den Nutznießern oder Zahlern einer bestimmten Einigung abhängig. Grundsätzlich galt, dass das Gros des Nutzens der Gesamtkooperation bei der gleichen Gesellschaftsgruppe anfallen würde, die die Belastungen durch eine gemeinsame Kartell- und Wettbewerbspolitik zu tragen hätte. Bei den Regierungen war unbekannt, wie viele transnationale Kartelle eine gemeinsame Wettbewerbsordnung beträfe.382 Ebenso war nicht klar auszumachen, wer Verlierer und Gewinner spezifischer Wettbewerbsregeln sein würde. Nach Moravcsik gewannen durch diese Ungewissheit Konzepte und Meinungen aus den Administrationen und aus der Wissenschaft an Einfluss auf das Regierungshandeln. Auf deutscher Seite sind hier aus der Administration sowohl von der Groeben, von Boeckh und Meyer-Cording als auch weitere leitende Beamte wie Gocht oder Günther auszumachen. Einige von ihnen, darunter von der Groeben und Gocht, beriefen sich früh auf die Beiträge des ordoliberal geprägten Wissenschaftlichen Beirates beim Bundeswirtschaftminister oder standen in engem Kontakt zu diesem. Nicht zuletzt daher fanden Ordnungsvorstellungen und Konzepte aus der Wissenschaft durch den Beirat Eingang in die deutsche Verhandlungsposition.383 Auch Müller-Armack, wenngleich Mitglied der Administration, ist als Vertreter wissenschaftlich basierter Standpunkte einzuordnen, die er bei den Verhandlungen ausführlich vortrug. Er wies später daraufhin, dass „die Zahl der Nationalökonomen bei den Verhandlungen [...] denkbar gering“ war, so dass er als Vertreter wirtschaftswissenschaftlicher Standpunkte eine hervorgehobene Position hatte.384 Ein anderer prominenter Ökonom, der niederländische Delegationsleiter beim Spaak-Ausschuss, Gerard Marius Verrijn Stuart, war an den späteren Regierungsverhandlungen nicht mehr beteiligt. 381 Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen. S. 997f. 382 Vgl. Vgl. Das Kartellproblem in internationaler Beleuchtung, 19. Juli 1956, Vermerk Günther an Erhard (I B 5 – 2385/56). Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 150–156. S. 150f. 383 Vgl. Mestmäcker, Ernst-Joachim: Auf dem Wege zu einer Ordnungspolitik. In: Mestmäcker; Möller; Schwarz (Hrsg.): Eine Ordnungspolitik für Europa. S. 9–49. S. 20f. 384 Müller-Armack, Alfred: Die Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes. In: MüllerArmack (Hrsg.): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. S. 401–415. S. 402.
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Darüber hinaus stand bei der Kartell- und Wettbewerbspolitik in allen Ländern eine diffuse Bevölkerungsmehrheit als Gewinner des Gesamtprojekts einer kleinen Gruppe von Gewerbetreibenden gegenüber, die im grenzüberschreitenden Verkehr tätig war und als potentieller Verlierer scharfer Wettbewerbsregelungen angesehen werden konnten. Die Mehrheit der Unternehmer, die primär auf dem nationalen Markt agierte, konnte hingegen einen relativen Vorteil davon haben, dass zukünftige Konkurrenten in den anderen Staaten, speziell in Italien, Belgien und Luxemburg, mittelfristig ebenso wie sie einer wettbewerbspolitischen Aufsicht unterstellt würden. Auch wenn die aus dieser Gesamtsituation folgende hohe Verhandlungsautonomie der Regierungen bei der Wettbewerbspolitik partiell zurückging, sobald die Verhandlungen sich von der konstitutionellen Ebene auf die legislative Ebene bewegten, kann abschließend mindestens für die konstitutionelle Ebene eine hohe Verhandlungsautonomie der Regierungen bei den Kartell- und Wettbewerbsregeln festgehalten werden. Erst wenn die Verhandlungen direkte Handlungseinschränkungen für Unternehmen bedeuteten, sank die Autonomie der jeweiligen Regierungen. Differenziert man die Verhandlungsautonomie nach den bedeutendsten Staaten, gilt für die Bundesrepublik, dass sich die nationalen wettbewerbspolitischen Auseinandersetzungen der gesellschaftlichen Interessengruppen auf das GWB konzentrierten. Dies band zwar deren Aufmerksamkeit, schränkte die westdeutsche Regierung aber solange bei Kompromissen auf internationaler Bühne ein, bis diese bei den nationalen Diskussionen hätten gegen sie verwendet werden können; sprich bis zur Unterzeichnung der Verträge. Der Einfluss der Wirtschaftsverbände in Deutschland, speziell des BDI, muss aber auch unter dem Aspekt gesehen werden, dass die den BDI stark prägende Montanindustrie bereits dem scharfen EGKS-Recht unterlag. Einerseits waren somit Nachteile gegenüber den anderen Wirtschaftszweigen auszugleichen, andererseits war durch die Erfahrungen mit dem EGKS-Recht die Ablehnung einer starken supranationalen Behörde ausgeprägt. Insgesamt lag aber in der Bundesrepublik wie in den Niederlanden das Hauptinteresse der Wirtschaft auf der Öffnung der Märkte. Wettbewerbsregeln waren unter diesem Umstand in gewissem Umfang hinzunehmen. In Frankreich hingegen bestanden aufgrund der geringen Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft Sorgen vor dem freien Wettbewerb nach dem Wegfall der tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnisse. Diese Ängste prägten entscheidend die französische negative Beurteilung der Wirtschaftskooperation. Sich offen für das Recht der Wirtschaft einzusetzen, Kartelle zu bilden oder Märkte zu monopolisieren, war hingegen keine Lösung für die französische Verhandlungsführung. Auch wenn man damit der Wirtschaft signalisiert hätte, dass man ihre Sorgen ernst nahm, widersprach eine solche Position der französischen Wirtschaftspolitik. Nicht nur die Forderung nach Angleichung der Soziallasten, sondern auch die Versuche der französischen Delegation, bei den Wettbewerbsregeln die heimische Wirtschaft vor dem Zugriff einer supranationalen Behörde zu schützen, müssen als Ausdruck der geringen Verhandlungsautonomie der Franzosen gewertet werden. Gleiches gilt für das Ziel, die Verantwortlichkeit des
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Wettbewerbsschutzes möglichst lange bei den Staaten zu belassen, da dann unter dem Deckmantel des Wettbewerbsschutzes von französischer Seite einseitig Maßnahmen für die eigene Wirtschaft hätten getroffen werden können. Da beides unvereinbar mit dem Gesamtziel der Kooperation war und Frankreich sich bei den Verhandlungen isoliert hatte und vor allem unbeweglich in Details war, konnte es sich mit diesen beiden Punkten gegen die um ein Gemeinschaftsrecht besorgten Belgier, Niederländer und Italiener, die Teile von Verhandlungspaketen vergleichsweise flexibler anbieten konnten, nicht durchsetzen. Die relativ schnelle Einigung auf eine wettbewerbspolitische Basis im EWGVertrag kann somit durch drei zentrale Faktoren erklärt werden. Der erste war die hohe Verhandlungsautonomie aller Regierungen bei der Wettbewerbspolitik auf der konstitutionellen Ebene. Der zweite war der große Einfluss von Administration und Wissenschaft. Dieser war möglich, weil die Konsequenzen einzelner Wettbewerbsregelungen für betroffene Unternehmen – bei hohem Nutzen aus dem Gesamtprojekt für genau diese und weitere Unternehmen sowie potentiellem Wohlstandsgewinn für die Gesamtbevölkerung – nicht genau absehbar waren. Der dritte zentrale Faktor war die Festschreibung des Abbaus staatlicher Handelsschranken bei gleichzeitiger Sicherung des Wettbewerbs als Kern der Wirtschaftskooperation im Spaak-Bericht, der fast vollständig autonom erstellt worden war. D.4.c Die Einigung auf wettbewerbspolitische Grundsätze Die deutsche Seite hatte im Sommer 1955 recht früh, intensiv und langfristig erfolgreich, die Durchsetzung von Wettbewerbsregeln für den europäischen Markt gefordert. Die wesentlichen Akteure dabei waren jene drei Länder, die ein Wettbewerbsrecht hatten oder seine Durchsetzung massiv verfolgten. Trotz des hohen Interesses aller Beteiligten, möglichst viele Elemente von der eigenen Konzeption auf europäischer Ebene durchzusetzen und eine möglichst hohe Deckung von nationalem und supranationalem Recht zu erreichen, nicht zuletzt um den eigenen Unternehmen Anpassungen zu ersparen, kam es aufgrund der formal hohen Interessenkonvergenz für Wettbewerbsregeln schnell zur Einigung auf Grundsätze, mit denen die deutsche Delegation zufrieden war. Der Vorteil der deutschen Verhandlungsposition für eine klare Wettbewerbsordnung bestand darin, dass ihr Grundanliegen bereits im Spaak-Bericht enthalten war und von allen Partnern geteilt wurde. Ebenfalls war hilfreich gewesen, dass die Diskussionen über die Grundsätze zu einem Zeitpunkt stattfanden, zu dem Frankreich noch hoffnungsvoll das Ziel verfolgte, die Durchführung der Grundsätze nach der Harmonisierung nationaler Gesetze in der Verantwortung der Mitgliedstaaten zu belassen; eine Position, für die anfänglich auch die deutsche Seite Sympathien gezeigt hatte. Nach der Einigung auf die Grundsätze, die in ihrer Ausrichtung den deutschen Präferenzen entsprachen, befand sich die deutsche Delegation in einer relativ komfortablen Verhandlungsposition. Das Streben der Franzosen nach nationaler Harmonisierung und Umsetzung der Grundsätze stieß bei den deutschen ‚Integra-
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tionisten‘ im Auswärtigen Amt, bei dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe von der Groeben und bei Niederländern und Italienern auf Ablehnung. Auch im Bundeswirtschaftsministerium nahm man Abstand von diesem Vorhaben, da die Harmonisierung der nationalen Gesetzgebungen auf dem Niveau des GWB mehr als unwahrscheinlich war. Die Präferenzen der Niederländer und Italiener, schon mit Inkrafttreten des Vertrags sämtliche Kompetenzen bei der supranationalen Behörde zusammenzulegen, löste Supranationalitätsphobie in Frankreich aus und nährte die Sorgen Erhards vor einer dirigistischen Behörde. Außerdem war man in Bonn nicht bereit, die Entscheidungsbefugnisse in der Wettbewerbspolitik zu einem Zeitpunkt aus der Hand zu geben, zu dem zentrale Fragen ungeklärt und nachvertragliche Verschiebungen gegen die deutschen Interessen möglich waren. Aus dieser Mittellage, in der sich die Deutschen befanden, gelang es relativ gut, die von deutscher Seite geforderte Trennung der Teilbereiche des Wettbewerbsrechts sowie die Grundstruktur von Diskriminierungsverbot, Kartellverbot und Missbrauchskontrolle marktbeherrschender Stellungen zu sichern. Darüber hinaus gelang es, weitere legislativ wichtige Entscheidungen zur Gestaltung des europäischen Wettbewerbsrechts in eine Übergangszeit zu verschieben, von der sich die deutsche Regierung erhoffte, nach Verabschiedung des GWB unabhängiger von innenpolitischen Zwangslagen für die von ihr favorisierte Wettbewerbspolitik agieren zu können. Die grundsätzliche Frage nach der wettbewerbspolitischen Grundkonzeption der europäischen Wettbewerbspolitik, die Frage , ob Verbots- oder Missbrauchsprinzip angewendet werden sollte, wurde von der Mehrheit der Staaten entschieden. Während der Einwand Belgiens zu Gunsten des allgemeinen Missbrauchsprinzips verhallte, wurden das Kartellverbot mit Ausnahmen (Art. 85) und das Verbot missbräuchlicher Ausnutzung marktbeherrschender Stellungen (Art. 86) zum Kern der Wettbewerbsvorschriften für Unternehmen. Mit Artikel 85, Absatz 1 hatten sich die Staaten auf das Verbot wettbewerbseinschränkender Absprachen geeinigt. Absatz 2 erklärte die Nichtigkeit verbotener Absprachen. Ausnahmen vom Verbot wurden auf Vorschlag der deutschen und der französischen Delegation unter bestimmten Bedingungen für bestimmte Arten von Absprachen zugelassen (Art. 85, Abs. 3). Die Niederländer hatten sich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass zu einem späteren Zeitpunkt auch Gruppen von Absprachen und Vereinbarungen pauschal vom Verbot ausgenommen werden konnten. Artikel 86 zielte darauf, Einzelne vor wettbewerbsschädigenden Handlungen eines Marktbeherrschers zu schützen. Verboten wurde „die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben.“ Der Zustand der „beherrschenden Stellung“ oder der Maßstab für die Beeinträchtigung des Handels blieb undefiniert. Die französischen und die deutschen Vorstellungen waren auf der konstitutionellen Ebene „nicht allzu weit“ von einander entfernt. Müller-Armack erinnerte sich später, dass ihn diese Tatsache überrascht hatte.385 Diese Übereinstimmung 385 Küsters: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. S. 366; vgl. Müller-Armack: Weg nach Europa. S. 114.
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war jedoch keine Basis für ein tragfähiges Wettbewerbskonzept. Der Wunsch der Niederländer und der Deutschen, die dabei gegen die Franzosen von den anderen drei Staaten unterstützt wurden, dass sowohl das Kartellverbot als auch die Kontrolle marktbeherrschender Stellungen des Vertrages nur bei Behinderungen des zwischenstaatlichen Handels im Gemeinsamen Markt greifen sollten, machte deutlich, dass zwar im Grundsatz Einigkeit darüber bestand, wie der Wettbewerb zu schützen sei, aber über Funktion und Zielrichtung des Vertrags unterschiedliche Vorstellungen vorhanden waren. Die Franzosen standen allein mit ihrem Wunsch, die nationalen Wettbewerbsgesetze zu harmonisieren. Sieht man von der anfänglichen Sympathie für diese Lösung in der Führung des Bundeswirtschaftsministeriums ab, verfolgten die anderen fünf Regierungen das Ziel, europäische Rechtsvorschriften für den gemeinsamen Markt zu schaffen, die nationales Recht quasi überwölben sollten. Nach der Festlegung der wettbewerbspolitischen Ziele und damit der Einigung auf konstitutioneller Ebene scheiterten die weiteren Verhandlungen auf legislativer Ebene. Wollte man eine vollständige Wettbewerbskonzeption für den gemeinsamen Markt schaffen, so mussten grundlegende institutionelle Entscheidungen getroffen werden.386 Die Auswahl bestimmter institutioneller Arrangements und Organisationen, verbunden mit der Übertragung von souveränen Entscheidungsbefugnissen, kam jedoch nicht mehr zustande. Auf der dritten Analyseebene in Moravcsiks Erklärungsmodell fanden die Staaten bei den Verhandlungen zwischen Mai 1955 und März 1957 keine langfristigen Lösungen für eine aktive europäische Kartell- und Wettbewerbspolitik. Die dazu nötigen Entscheidungen sollte der Rat auf Vorschlag der Kommission innerhalb von drei Jahren einstimmig und danach mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung des Parlaments treffen und gemäß Artikel 87 des EWG-Vertrags hierzu Verordnungen oder Richtlinien erlassen.387 Die zu verhandelnden offenen Fragen und Themen hatte man in Artikel 87 festgelegt, womit zugleich entschieden worden war, worüber in der Zukunft nicht mehr verhandelt werden sollte. Das Gestaltungsrecht der europäischen Wettbewerbspolitik blieb angesichts der Einstimmigkeitsklausel in der Übergangszeit für weitere drei Jahre bei den Staaten. Jeder Staat behielt sein Vetorecht bei den anstehenden legislativen Entscheidungen. Dadurch stieg die Bereitschaft aller Staaten, sowohl den Wettbewerbsartikeln 85 und 86 als auch der Liste von zu klärenden Fragen des Artikel 87 zuzustimmen. Damit stand aber auch fest, dass die wettbewerbspolitische Gesamtkonzeption erst in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags Gestalt annehmen würde. 386 Zu den Bestandteilen von Wettbewerbskonzeptionen vgl. Willeke, Franz-Ulrich: Wettbewerbspolitik. In: Issing, Otmar (Hrsg.): Allgemeine Wirtschaftspolitik. 2. Auflage. München 1988. S. 33–50. S. 37; Herdzina, Klaus: Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftstheoretischen Fundierung der Wettbewerbspolitik (Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze 116). Tübingen 1988. S. 60; Brendel: Wettbewerbspolitische Konzeptionen. S. 80f. 387 Anfänglich hatte man sich in der Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt auf „zweckdienliche Beschlüsse“ geeinigt. Erst bei den Formulierungsangleichungen der einzelnen Artikel an den Gesamtvertrag einigte sich die Redaktionsgruppe darauf, dass mit dieser Formulierung sowohl Verordnung als auch Richtlinie gemeint sein könnte.
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Dennoch hatten die Staaten auf der dritten Untersuchungsebene Moravcsiks Beschlüsse für die Übergangszeit fassen müssen. Wenigstens für diese Zeitspanne musste geklärt werden, wer Träger der Wettbewerbspolitik sein sollte. Der EWGVertrag enthielt dafür noch keine langfristige Lösung. Der Interessengegensatz zwischen Franzosen und Deutschen auf der einen und Niederländern und Italienern auf der anderen Seite hatte Einigungen verhindert. Während die Bündelung von Entscheidungsmacht in einer supranationalen Organisation in den Wirtschaftsadministrationen der beiden großen Länder zunächst abgelehnt wurde, versprach man sich in den kleinen Ländern die Sicherung der vertraglichen Übereinkunft am ehesten mittels Durchsetzung und Kontrolle durch supranationale Institutionen. Jedoch war diese institutionelle Frage mit einer anderen Kontroverse zwischen Deutschen und Franzosen verbunden. Letztere sprachen sich für das klare Kartellverbot aus, wollten es aber durch nationale Behörden ausführen lassen, was der französischen Exekutive hohen politischen Einfluss auf die Wettbewerbspolitik bei deren Implementierung gesichert hätte. Die deutsche Position hingegen setzte zwar ebenso auf das klare Kartellverbot, strebte jedoch die juristisch eindeutige Exekution ohne politischen Einfluss an. Belgier und Niederländer hingegen waren von vornherein für eine zwar nicht strenge, aber doch eindeutige Regelung, die durch supranationale Behörden, sprich fern von politischer und nationaler Entscheidungsgewalt, umgesetzt werden sollte. Das anfänglich vermeintliche Dilemma der deutschen Position, einerseits supranationale Behörden abzulehnen, andererseits der ordoliberalen Überzeugung folgend für die Sicherung von wettbewerbspolitischen Normen durch ein unabhängiges Kartellamt einzutreten, war vor allem ein Dilemma der Führungsetage im Bundeswirtschaftsministerium. Die Integrationisten des Auswärtigen Amts und die Verfechter der ‚kleineuropäischen‘ Kooperationslösung im Bundeswirtschaftsministerium wiesen den Weg für eine institutionell abgesicherte Wettbewerbsordnung auf supranationaler Ebene und trugen somit dazu bei, das Dilemma aufzulösen. Die Artikeln 88 und 89 schrieben die institutionelle Ausgestaltung zur Sicherung der Wettbewerbsgrundsätze in der Übergangszeit fest. Die Entscheidungs- und Sanktionsbefugnis lagen in diesen Jahren zunächst dezentral bei den Staaten. Zur eigenen Bindung an die Grundsätze hatten die Staaten die Aufsicht über die Beachtung der Bestimmungen an die Kommission übertragen und erteilten ihr die Befugnis, Entscheidungen vorzubereiten und Ermittlungen anzustellen. Letzteres sollte auf Intervention der Franzosen nur in Zusammenarbeit mit den Staaten geschehen, während diese selbständig gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgehen durften. Im Ringen um Details hatten die kleinen Staaten die Pflicht zur nationalen Amtshilfe durchgesetzt und dafür gesorgt, dass die Staaten in der Übergangszeit nur nach Autorisierung durch die Kommission gegen wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen vorgehen durften. Einzelne Staaten durften nicht von sich aus unter dem Vorwand, den Wettbewerb zu schützen, ausländische Unternehmen benachteiligen. Angesichts der ständigen Forderungen Frankreichs nach Schutzklauseln für die eigene Wirtschaft hatten diese Klarstel-
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lungen hohe Relevanz für die Stabilisierung der wettbewerbspolitischen Zielrichtung. Zudem zeichnete sich mit dieser Übertragung von ersten notwendigen Kompetenzen an die Kommission eine Wettbewerbspolitik im Sinne Erhards und Müller-Armacks ab. Die im Zusammenhang mit der Etablierung einer Wirtschaftsordnung in Westdeutschland 1948 geäußerten Überzeugungen MüllerArmacks, dass „staatliche Maßnahmen zur Schaffung und Sicherung der Wettbewerbswirtschaft“ ebenso Grundbedingung der Marktwirtschaft waren wie „gewisse Elemente einer zentralen Steuerung“, bedeuteten auf die rationale Zusammenarbeit der Staaten übertragen, dass Entscheidungsbefugnisse auf europäischer Ebene zentral zusammengeführt werden mussten, um Voraussetzungen für eine dauerhafte marktwirtschaftliche Ordnung zu schaffen.388 Das Urteil Hoerens, dass ohne „den Druck der Amerikaner“ und „den paneuropäischen Pioniergeist von Monnet oder von der Groeben(s) [...] bis heute kein europäisches Regulierungskonzept für die Kontrolle von Kartellen und Monopolen in Kraft getreten“ wäre, muss relativiert werden.389 Die Triebkräfte, die die Staaten veranlassten, bei den Verhandlungen zur EWG Entscheidungsmacht zusammenzuführen und Teilsouveränitäten an eine internationale Organisation zu delegieren, waren andere. Im Vordergrund standen die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen am Gesamtprojekt Gemeinsamer Markt und eine hohe Übereinstimmung darüber, dass es hierzu unabhängig vom wettbewerbspolitischen Konzept einer harmonisierten oder zumindest angeglichenen Wettbewerbspolitik bedürfe, um ähnliche Kartell- und Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen im Gemeinsamen Markt zu schaffen. Die Staaten blieben nicht bei der Methode zwischenstaatlicher Vereinbarungen stehen. Sie vereinbarten stattdessen die Einrichtung von gemeinschaftlichen Institutionen, weil sie trotz zahlreicher konfligierender Interessen, die ohne Zweifel zur hohen Unvollständigkeit der Wettbewerbsartikel beigetragen hatten, erkannten, dass für alle Vertragspartner gleiche Regeln gelten mussten, wenn die gemeinsamen Interessen erreicht werden sollten. Um gegenseitige, nachvertragliche Übervorteilungen der Vertragspartner zu verhindern und aus Sorge vor dem Interventionismus der Partner einigten sich 388 Müller-Armack, Alfred: Die Wirtschaftsordnungen sozial gesehen. In: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 1 (1948). S. 125–154. S. 152. 389 Vgl. Hoeren: Europäisches Kartellrecht. S. 421. Der unbestrittene Einfluss der US-Amerikaner auf die Formulierung der Kartell- und Dekartellisierungsartikel des EGKS-Vertrags spielte bei den EWG-Verhandlungen keine Rolle. Die Entscheidung der sechs Regierungen gegen eine Fusionskontrolle zeigt dies. Sollte Hoeren auf den gedankengeschichtlichen Einfluss der Amerikaner angespielt haben, so vermisst man bei der personalisierten Schilderung Darlegungen über die engen Beziehungen Monnets nach Amerika. Eine weitere Verbindungslinie, die hier nicht analysiert werden kann, aber in einer elitenzentrierten Interpretation der europäischen Kartellrechts- und Wettbewerbspolitikgeschichte nicht fehlen sollte, zieht sich vom Protagonisten des deutschen Kartellrechts Franz Böhm über den Staatssekretär im Auswärtigen Amt und späteren ersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein bis zum deutschen Emigranten und einflussreichen amerikanischen Kartellrechtsprofessor Heinrich Kronstein. Verknüpfungen über das von letzterem mitbegründete Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main wären näher zu untersuchen.
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die Regierungen auf enge Grenzen des wirtschaftspolitischen Ermessensspielraums. Müller-Armack nannte es später die „List der Idee“ des Gesamtkonzepts, dass trotz der mehrheitlich national interventionistisch ausgerichteten Regierungen „ein sehr strikter Antiinterventionismus“ den Vertrag bestimmte. Nicht liberale Überzeugung oder Druck von Außen, sondern „eine gewisse nationale Eifersucht“ hatte die liberale Ausrichtung des Vertrags geprägt.390 Die Einigung auf wettbewerbspolitische Grundsätze und Regelungen mit sehr geringen Befugnissen für die Gemeinschaftsorgane in der Übergangszeit bedeutete noch lange nicht die Realisierung einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik. Wie sich in den ersten Jahren der EWG zeigen sollte, war noch nicht einmal eine einheitliche Interpretation dieser Grundsätze gesichert. Die ungelösten Fragen der Vertragverhandlungen waren infolge der konfligierenden Interessen, die mit zu der Unvollständigkeit des Vertrags geführt hatten, vertagt worden. Jedoch wies von der Groeben, inzwischen Wettbewerbskommissar der Europäischen Kommission, noch im Juni 1960 öffentlich auf diejenigen Probleme bei der Wettbewerbspolitik hin, die „in der Zukunft“ zu lösen waren.391 Dazu zählte er die Schaffung von Behörden und Verfahren, die die Anwendung der Artikel 85 und 86 in allen Mitgliedstaaten ermöglichen würden, die Beseitigung der Rechtsunsicherheit, die die verschiedenen Auffassungen über die rechtliche Wirkung von Artikel 85 verursacht hatten, der Erlass gleichmäßiger Vorschriften über Anmeldepflicht und Publizität von Kartellen, die Abgrenzung des Geltungsbereichs der materiellen Vorschriften des nationalen und gemeinschaftlichen Rechts und die Klärung der Frage, ob die Zuständigkeit für die Durchsetzung der Übergangszeit dezentral belassen oder zentralisiert werden sollte. Der EWG-Vertrag enthielt eine Wettbewerbsordnung, die Umsetzung in konkrete Wettbewerbspolitik blieb aber, wie das Gesamtprojekt Gemeinsamer Markt, eine „Projektion in die Zukunft“.392 Die Annäherung der Wirtschaftspolitik der Vertragspartner und damit die Klärung der Frage, welche Wettbewerbspolitik im Gemeinsamen Markt umgesetzt werden sollte, musste in den folgenden Jahren fortgesetzt werden.
390 Müller-Armack: Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes. S. 405. 391 HAEKB CEAB3 476. „Das Kartellrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Lichte zweijähriger Erfahrung“. Redemanuskript von der Groebens vor der Internationalen Kartellrechtskonferenz, Frankfurt am Main, vom 7. bis 11. Juni 1960. X/3237/60-D. Blatt 093–112. Blatt 109. 392 Müller-Armack: Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes. S. 408.
E DAS „VORBEREITUNGSSTADIUM“ – DIE ANSTRENGUNGEN DER GENERALDIREKTION IV FÜR DIE ANWENDUNG DER GRUNDSÄTZE (1958–1960) E.1 DIE GENERALDIREKTION IV ALS TEIL DER KOMMISSION E.1.a Die Europäische Kommission – Kollegialorgan und Verwaltungsapparat Die sechs Staaten gründeten mit dem EWG-Vertrag eigene Institutionen und Organisationen, um die im Vertrag festgeschriebenen Ziele umzusetzen. Hierbei lehnten sie sich an bestehende Institutionen der EGKS an. Dabei wurden die Zuständigkeiten einzelner Organe der EGKS, wie die des Europäischen Gerichtshofs und der Parlamentarischen Versammlung, auf die EWG ausgedehnt. Jedoch wurden bei der EWG die legislativen Zuständigkeiten zwischen den Gemeinschaftsorganen ‚Europäische Kommission‘ und ‚Rat‘ anders aufgeteilt, als bei der EGKS. Das Ergebnis dokumentierte die Auseinandersetzungen zwischen den supranationalen und den intergouvernementalen Kräften bei den Verhandlungen. Müller-Armack erinnerte sich später sehr genau, dass Hallstein, von der Groeben und Ophüls vorschwebte, „durch Schaffung supranationaler Organisationen eine Über-Montanunion zu schaffen, als Vorstufe eines künftigen Bundesstaates.“ Dies hatte für die „härteste Auseinandersetzung innerhalb der deutsche Delegation“ gesorgt, nachdem Müller-Armack „belehrt durch die Erfahrungen mit der Montanunion, auf direkte Weisung Erhards hin das Verhältnis der Kommission und Ministerrat“ umgekehrt hatte. Nach Auffassung Müller-Armacks wurde „der Ministerrat [...] zum eigentlichen Entscheidungsorgan der Gemeinschaft gemacht, während die Kommission eine vorbereitende, vorschlagende Funktion haben sollte.“1 Eine solch klare Trennung blieb aber Wunschbild Müller-Armacks. Eine klare Aufgaben- und Machttrennung der drei klassischen, Montesquie`schen Gewalten war für die EWG nicht geschaffen worden, denn die Legislativgewalt war zwischen Rat und Kommission aufgeteilt. Anders als bei der EGKS verblieb zwar die abschließende Entscheidungsbefugnis beim intergouvernementalen Rat, jedoch konnte dieser nur auf Vorschlag der Kommission entscheiden. Änderungen des Kommissionsvorschlags waren nur einstimmig möglich. Die Kommission hatte somit großen Einfluss auf die Entscheidungen des Rates. Sie selbst konnte allerdings keine legislativen Pläne gegen den Willen der Staaten durchsetzen. Die Spannungen, die sich aus dem Widerspruch zwischen nationalen, oftmals konfligierenden Interessen und den im Vertrag vereinbarten gemeinsamen Zielen ergaben, wurden durch diese Verknüpfung der Entscheidungsvorlage von dem den 1
Müller-Armack: Weg nach Europa. S. 117.
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gemeinschaftlichen Interessen verpflichteten Organs Kommission mit der Entscheidung des von den nationalen Interessen geprägten Organs Rat gedämpft.2 Die Staaten hatten die Kommission zwar durch den Vertrag beauftragt „für die Anwendung dieses Vertrags sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen.“3 Die Auflistung der weiteren Aufgaben legte jedoch offen, dass der Kommission keine vollen Exekutivbefugnisse zugewiesen worden waren. Sie konnte nur vereinzelt eigene Entscheidungen treffen und ihre Befugnisse nur in dem Rahmen ausüben, in dem der Rat sie dazu legitimieren würde. Auch wenn die Kommission auf Gemeinschaftsebene für die Implementierung zahlreicher rechtlicher Regelungen zuständig wurde, oblag die konkrete Umsetzung durch administratives Handeln zumindest in der ersten Übergangsphase den Mitgliedstaaten. Die Kommission sollte Entscheidungen des Rates vorbereiten und die Staaten bei der Umsetzung von Gemeinschaftszielen beaufsichtigen und überwachen. Erst einige Jahre später, nach der Entwicklung europäischer Politikfelder, sollte sie eigenständige Implementierungsbefugnisse erhalten. Für diese Aufteilung der Exekutivbefugnisse zwischen der Kommission und den nationalen Administrationen waren sowohl die Absicht, die neu geschaffene Organisation in ihrer Größe zu beschränken als auch das Interesse der Mitgliedstaaten an einer Garantie dafür, dass die Kommission nicht alleine und unkontrolliert handeln könnte, ausschlaggebend gewesen. Sabino Cassese und Giacinto della Cananea analysierten neben diesen beiden Spannungsverhältnissen im institutionellen Gefüge ein weiteres Merkmal der Machtverteilung im EWG-Vertrag, das sowohl die Zeichen von supranationalem als auch von nationalem Denken zeigt und die weitere Umsetzung des Vertrags beeinflusste.4 Die institutionelle Gestalt der Kommission selbst trug den Kompromiss zwischen nationalen und gemeinschaftlichen Zielen in sich. Die neunköpfige Kommission sollte aus Mitgliedern der sechs Mitgliedstaaten bestehen, wobei maximal zwei aus demselben Mitgliedsland stammen durften.5 Die Regierungen beriefen sie einstimmig für vier Jahre und sicherten ihnen völlige Unabhängigkeit zu. Weisungen von Regierungen durften weder angefordert noch entgegengenommen werden. Die Kommission war als Kollegialorgan konzipiert und auf die gemeinschaftlichen Ziele verpflichtet. Eine Folge des Kollegialprinzips war, dass ein Kommissar immer nur im Namen der Kommission handeln konnte und sein Handeln gleichzeitig immer auch die Gesamtkommission band.6 Bei der Beset2 3 4 5 6
Vgl. Wirsing, Erich: Aufgabe und Stellung der Kommission in der Verfassungsstruktur der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. In: Europa-Archiv 19 (1964). S. 77–90. S. 79–83. Art. 155, EWG-Vertrag. Vgl. Cassese, Sabino; della Cananea, Giacinto: The Commission of the European Economic Communuity. The Administrative Ramifications of its Politcal Development (1957–1967). In: Heyen (Hrsg.): Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft. S. 75–94. S. 78ff. Die großen Staaten stellten zwei Kommissare und die Benelux-Länder je einen. Zu Aufbau und Struktur der Kommission vgl. Nugent, Neil: The European Commission. Basingstoke, New York 2001. S. 82–118, speziell zum Kollegialprinzip S. 91ff. Darüber hinaus: Donelley, Martin; Ritchie, Ella: The College of Commissioners and their Cabinets. In: Edwards; Spence (Hrsg.): The European Commission. S. 33–51. S. 33–37.
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zung der Kommission zeigte sich bald, dass die Regierungen sich gegenseitig bei der Besetzung der Kommissare relativ freie Hand lassen würden, mit Ausnahme der Besetzung des Kommissionspräsidenten. Mit der Einstimmigkeit war zwar ein Vetorecht verbunden, aber im Prinzip entschieden die Regierungen, ob eine den gemeinschaftlichen Zielen oder den nationalen Interessen aufgeschlossene Persönlichkeit einen Sessel im Kollegialorgan erhielt. Auch wenn der Konflikt bei jedem Kommissar zwischen geforderter Loyalität gegenüber dem Gemeinschaftsinteresse und Verbundenheit mit dem Heimatland, aus dem die meisten als Politiker kamen und in das später einige als Politiker wieder zurückkehrten, sicher der schwächste war, zeigt sich daran doch auch das gespaltene Verhältnis der Mehrheit der Staaten zur Institutionalisierung einer supranationalen Behörde. Einerseits bedurfte es der Delegation von Kompetenzen an gemeinschaftliche Organisationen, um die Stabilität der von den Staaten getroffenen Einigung zu sichern und die gemeinsamen Interessen zu verwirklichen, andererseits hatte sich die Mehrheit der Staaten nicht für eine echte Delegation von Souveränitätsrechten entschließen können. Zudem wurden die zusammengeführten Machtbefugnisse nicht zwischen verschiedenen Organen aufgeteilt, sondern Legislativ- und Exekutivgewalt lagen zunächst überwiegend sowohl bei der Kommission als auch beim Rat.7 Gleichwohl enthielt der Vertrag zahlreiche Optionen, um in der Zukunft weitere Befugnisse an die Kommission zu übertragen. Diese Möglichkeit förderte das Engagement der Kommission, zur Einigung der Staaten beizutragen. Gleichzeitig führte diese Konstruktion im Laufe der knapp 50jährigen Geschichte der europäischen Zusammenarbeit aber immer wieder dazu, dass neue Politikfelder durch die Kommission entwickelt wurden, die nicht immer den gemeinsamen Interessen der Staaten entsprachen. Auf die dadurch bereits in den 60er Jahren entstehende Gegendynamik von Seiten der Staaten wurde an anderer Stelle hingewiesen.8 Der EWG-Vertrag bestimmte die Aufgaben der Kommission von Politikfeld zu Politikfeld unterschiedlich.9 Grundsätzlich hatte die Kommission jedoch als einziges Organ das Initiativrecht. Hierfür oblag ihr die Entscheidungsvorbereitung mit Problemidentifizierung, Informationssammlung und Entwurfserarbeitung. In gewissem Umfang war sie auch für die Konsensbildung im Rat mitverantwortlich. Die Kommission in diesem Zusammenhang als „ehrliche Maklerin“ darzustellen, 7
8 9
Diese Entwicklung verstärkte sich in den vergangenen 50 Jahren, speziell seit den 1980er Jahren. Vgl. Nugent. European Commission. S. 236–241; Rometsch, Dietrich; Wessels, Wolfgang: The Commission and the Council of the Union. In: Edwards; Spence (Hrsg.): The European Commission. S. 213–238. S. 214–222. Vgl. Gillingham: European Integration 1950–2003. S. 495. Im Folgenden vgl. Coombes, David: Politics and Bureaucracy in the European Community. A Portrait of the Commission of the E.E.C.. London 1970. S. 78–82; Michelmann, Hans J.: Organisational effectiveness in a multi-national bureaucracy. Farnborough 1978. S. 13ff. Nugent unterschied für die EU-Kommission 2001 sieben Funktionen: Politikinitiativ-, Legislativ-, Exekutiv-, Vertragsüberwachungs-, die Repräsentations- und Verhandlungsfunktion, die Mediator- und Maklerfunktion und zuletzt die Mobilisierungsfunktion. Vgl. Nugent: The European Commission. S. 10–14.
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mag als Leitbild dienen, als Darstellung ihrer Funktion ist es hingegen ungenügend.10 Die strategische Prägung dieser Charakteristik offenbart sich darin, dass die gemeinschaftlichen Interessen, die die Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten im Widerspruch zu dieser Kennzeichnung vertreten muss, als neutral, unabhängig und über den Interessen der Staaten stehend und somit als vermeintlich besser skizziert werden. Dabei war es gerade der Auftrag der Kommission, die Interessen der Staaten zu vertreten, jedoch hierbei die gemeinsamen im Vertrag niedergelegten langfristigen Interessen gegen die konfligierenden kurz- und mittelfristigen Interessen der Mitgliedstaaten zu verteidigen. Vor Gebrauch des Initiativrechts war die Kommission gut beraten, mit den entsprechenden Ausschüssen des Europäischen Parlaments, dem Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Mitgliedstaaten den Meinungsaustausch zu suchen, um die aktuelle Interessenlage zu kennen. So lange wie im Rat Einstimmigkeit galt, waren wenig konsensfähige Entscheidungsvorlagen quasi wertlos. Das mögliche Ziel, mit solchen Vorlagen die Mehrheitsverhältnisse im Rat bei einer bestimmten Frage öffentlich zu machen, konnte die Kommission aus Gründen der Autoritätswahrung nur in Ausnahmefällen verfolgen.11 Die Kommission hatte darüber hinaus die Aufgabe, Gemeinschaftsrecht zu implementieren und die Durchführung der im Vertrag vereinbarten Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten zu überwachen. Darüber hinaus war sie nach Artikel 156 EWGV verpflichtet, jährlich einen Tätigkeitsbericht zu geben und vertrat die Gemeinschaft abhängig vom Politikfeld nach außen. In den ersten Jahren verstand sich die Kommission unter ihrem Präsidenten Hallstein auch als ‚Gewissen‘ der Gemeinschaft und supranationaler Förderer der Zusammenarbeit.12 Diese Überinterpretation des Vertrags durch den Agenten hatte jedoch die Folge, dass die Kommission die nationalen Interessen der ‚Herren der Verträge‘ aus den Augen verloren, was zu ihrer Schwächung führte.13 Robert Marjolin, Kommissar in diesen Jahren, führte die Krise von 1965 später darauf zurück, dass sich die Mehrheit der Kommissare von der „goldenen Regel entfernt“ hatte, dass ihre Auf10 Die Charakterisierung der Kommission als „honest broker“ wurde bereits 1970 von Coombes gebraucht. Vgl. Coombes: Politics and Bureaucracy. S. 79. Heinrich Schneider charakterisierte 1992 Leitbilder nicht nur als Zielvorstellungen, sondern auch als Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Gerade im europäischen Integrationsprozess, der, so Schneider, nicht den Charakter der „Herstellung von Ordnungen“ hatte, hätten sie eine wichtige Rolle und könnten sich als Ergebnis der Entwicklung quasi als institutionelle Verfestigung bilden. Sie seien aber auch geprägt von politischen Strategien und Interessenvorstellungen der Akteure im politischen Raum. Sie haben dann die Funktion sowohl Situationen zu deuten, das Ziel zu konzeptionisieren und Handlungsstrategien anzubieten. Institutionen lassen sich durch die Verknüpfung mit Leitbildern zweckdienlich rational begründen. Akteure unterwerfen sich (unbewußt) den Leitbildern und werden somit auch ihre Träger. Vgl. Schneider: Europäische Integration. S. 4. Vgl. auch Wessels, Wolfgang: Institutionen der EU. Langzeittrends und Leitideen. In: Göhler (Hrsg.): Die Eigenart der Institutionen. S. 301–330. S. 315ff.; Janning, Josef: Leitbilder. In: Weidenfeld; Wessels (Hrsg.): Europa von A-Z. 9. Aufl. S. 304–310. 11 Vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 48. 12 Vgl. Coombes: Politics and Bureaucracy. S. 82. 13 Vgl. Gillingham: European Integration 1950–2003. S. 54.
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gabe auch darin bestand „das, was sie für den gemeinsamen Vorteil hielten, mit dem in Einklang zu bringen, was sie von den Anliegen der Regierungen, einschließlich der des eigenen Landes, wussten.“14 In Anlehnung an Coombes lassen sich die Funktionen der Kommission im Politikprozess abschließend in drei Bereiche systematisieren: legislative Initiativfunktion, administrative Implementierungsfunktion und die Mediationsfunktion.15 Um alle drei Funktionen zu erfüllen und diese in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten auszuüben, etablierte die Kommission im Laufe der Jahre Formen der engen Zusammenarbeit mit den nationalen Regierungen. Als ‚Anhang‘ zum Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten bei der Kommission (AStV), eine Institution die im Vertrag nicht vorgesehen war, bildete sich ein ausgedehntes Ausschusswesen nationaler Beamter. In späteren Jahren entwickelten sich zudem im nachlegislativen Raum zahlreiche gemeinsame Ausschüsse von Kommission und Mitgliedstaaten zur Implementierung von Gesetzen und zur Kontrolle der Kommission durch die Mitgliedstaaten.16 E.1.b Die erste Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Nichts von alldem war jedoch zum Jahreswechsel 1957/58, als der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein zum ersten Präsidenten der Europäischen Kommission einstimmig bestellt wurde, absehbar.17 Hallstein prägte die Kommission in den neun Jahren seiner Präsidentschaft entscheidend. Er verschaffte ihr „einen so zentralen Platz im Institutionengefüge“ und nahm „so viel Einfluss auf die Dynamik des Integrationsprozesses“ wie kaum jemand nach ihm, urteilte Beate Neuss 1988.18 Allenfalls Jaques Delors verfügte als Präsident der Kommission von 1985 bis 1995 ähnliches Format.19
14 Marjolin: Meine Leidenschaft Europa. S. 350. Zum Scheitern von Hallstein vgl. Gillingham: European Integration 1950–2003. S. 68–72; Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 258. 15 Vgl. Coombes: Politics and Bureaucracy. S. 234–240. 16 Zum AStV, auch bekannt unter dem französischen Akronym COREPER, und der sogenannten Komitologie Vgl. Harnier, Otto: Der Ausschuss der Ständigen Vertreter und der Sonderausschuss Landwirtschaft. In: Groeben; Thiesing; Ehlermann (Hrsg.): Kommentar zur EWGVertrag. S. 4299–4304; Docksey, Christopher; Williams, Karen: The European Commission and the execution of Community policy. In: Edwards; Spence (Hrsg.): The European Commission. S. 125–153. S. 129–143; Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 42f. 17 Der Berufung Hallsteins war einmal mehr ein Junktim der Staaten zwischen dem zukünftigen Sitz der Organe und der Besetzung des Präsidentenpostens vorausgegangen. Vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 242ff. Zur Wahl Hallsteins und seiner Stellung vgl. auch Küsters: Walter Hallstein. S. 103f.; Narjes, Karl-Heinz: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. Ein Zeitzeugengespräch mit Michael Gehler (ZEI Discussion Paper C 135). Bonn 2004. S. 28ff. und S. 59. 18 Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 245. 19 Für eine ebenfalls anerkennende, aber kritische Betrachtung der Leistungen Hallsteins vgl: Gillingham: European Integration 1950–2003. S. 54–66 und S. 71f. Zu Delors vgl. ebenso kritisch ebd.: S. 157–163.
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Die erste Kommission setze sich aus herausragenden Persönlichkeiten aus Politik und Verwaltung zusammen.20 Die Besetzung dieser acht Posten spiegelte sowohl die fachliche Erfahrung der jeweiligen Personen als auch die besondere Interessenlage einiger Länder an bestimmten Aufgabengebieten wider.21 Vizepräsident wurde der Franzose Marjolin. Er war entscheidend an der Gestaltung der Verträge wie an deren Durchsetzung in Frankreich beteiligt gewesen und bekam die Zuständigkeit für die Wirtschafts- und Finanzpolitik.22 Weiterer Vizepräsident und Kommissar wurde der langjährige niederländische Landwirtschaftsminister Sicco Mansholt, der sich im Laufe der Jahre durch hohe persönliche Unabhängigkeit von seinem Land auszeichnete.23 Der Italiener Piero Malvesti wurde dritter Vizepräsident. Bis zu seiner Berufung als Präsident der EGKS im September 1959 war er für das Ressort Innerer Markt und für die Presse- und Informationsarbeit zuständig.24 Die Verantwortung für die „Entwicklung der überseeischen Staaten und Territorien“ übernahm der Franzose Robert Lemaignen. Er war der einzige Kommissar, der aus der Wirtschaft kam. Er hatte seit Kriegsende im CNPF gearbeitet und hatte zuletzt das Amt des Vizepräsidenten der Internationalen Handelskammer inne gehabt.25 Jean Rey, seit 1954 belgischer Wirtschaftsminister, wurde zum Kommissar für die Außenbeziehungen bestellt.26 Der Italiener Giuseppe Petrilli, den Émile Noël als „eine umsichtige und entschlossene Persönlichkeit von ruhiger Stärke“ charakterisiert,27 war bis 1961 Kommissar für Soziales.28 Der Leiter der luxemburger Delegation im Spaak-Ausschuss und in den Regierungsverhandlungen, Lambert Schaus, wurde im Juni 1958 zum zweiten Kommissar
20 Über die Mitglieder der ersten EWG-Kommission, deren Biographie, ihre Aufgaben und Leistungen vgl. Verschiedenes. Für eine „lebensnahe“ Darstellung der Kommissionsmitglieder des Jahres 1963 vgl. Loch, Theo M.: Die Neun von Brüssel (Europäische Schriften des Bildungswerks Europäische Politik 4). Köln 1963. Zur Zusammensetzung, Ressortverteilung und Zusammenarbeit vgl. Condorelli-Braun, Nicole: Commissaires et Juges dans les Communautés Européennes. Paris 1972. S. 40ff. und S. 159–163. Für die deutschen Kommissionsmitglieder Hallstein und von der Groeben vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 232–276. Für eine Binnensicht vgl. Groeben, Hans von der: Walter Hallstein als Präsident der Kommission. In: Loth; Wallace; Wessels (Hrsg.): Walter Hallstein. S. 121–138. S. 134ff.; Groeben: Deutschland und Europa. S. 298. 21 Vgl. Condorelli-Braun: Commissaires et Juges. S. 41. 22 Zur Person Marjolins vgl seine Autobiographie: Marjolin, Robert: Meine Leidenschaft Europa. Vorw. von Raymond Barre. Übers. von Johann Karl Teubner und Rudolf J. Teubner. Unter Mitarbeit von Philippe Bauchard. 1988. 23 Vgl. Cassese; della Cananea: The Commission of the European Economic Communuity. S. 80; Noël, Emile: Walter Hallstein: Ein persönliches Zeugnis. In: Loth; Wallace; Wessels (Hrsg.): Walter Hallstein. S. 165–169. S. 166. 24 Ihm folgte Guiseppe Caron. Vgl. Loch: Neun von Brüssel. S. 121f. 25 Zu Lemaignen und seiner Nominierung als Kommissar vgl. Migani, Guia: The Commissioner Robert Lemaignen and the african states. The origins of the European Development Policy. In: Historische Mitteilungen 18 (2005). S. 150–161. S. 150f. 26 Von der Groeben kannte Rey aus der Zeit als Unterabteilungsleiter Schumannplan im BMWi. 27 Vgl. Noël: Walter Hallstein. S. 166. 28 Ihm folgte der Italiener Lionello Levi Sandri. Vgl. Loch: Neun von Brüssel. S. 101.
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der EWG für Verkehr berufen und gehörte ebenso wie Marjolin, Rey und Mansholt bis 1967 allen von Hallstein geführten Kommissionen an.29 Dies galt auch für den zweiten deutschen Kommissar, der jedoch erst nach längeren Diskussionen in der westdeutschen Regierung am Tag vor der konstituierenden Sitzung der Kommission berufen wurde. Das Bundeskabinett, das diese Entscheidung frei von den Partnerländern treffen konnte, beschloss, den Unterabteilungsleiter für den Schumanplan im Bundeswirtschaftsministerium, Hans von der Groeben, als Kommissar nach Brüssel zu schicken.30 Er wurde damit ein zweites Mal gegen den Willen Erhards mit einer wichtigen Aufgabe auf europäischer Ebene betraut. Ursprünglich hatte Erhard von der Groeben aus taktischen Gründen im Herbst 1957 zwar selbst nominiert, stimmte jedoch aufgrund geänderter Gesamtsituation am 15. Januar 1958 im Bundeskabinett neben Atomminister Siegfried Balke und Post- und Fernmeldeminister Richard Stücklen gegen seinen Mitarbeiter.31 Hallstein hatte im Januar 1958 die Empfehlung des ehemaligen Vizepräsidenten der EGKS Etzel, der als Bundesfinanzminister im dritten Kabinett Adenauers nach Bonn zurückgekehrt war, unterstützt, von der Groeben als zweites Mitglied der Kommission nach Brüssel zu entsenden. Etzel kannte von der Groeben nicht erst seit den EWG-Verhandlungen, sondern bereits seit dessen Zeit als Vertreter der Bundesrepublik bei Gesprächen in der EGKS in Luxemburg. Das Vertrauen wurde von der Groeben auch aus dem Auswärtigen Amt ausgesprochen, das ihn bei regierungsinternen Vorgesprächen zu den Vertragsverhandlungen und bei den Verhandlungen in Brüssel immer gestützt hatte.32 Auf die Verteilung der Zuständigkeiten in der Kommission hatte Deutschland nach der Übernahme der Präsidentschaft durch Hallstein nur noch nachrangigen Einfluss. So erhielt von der Groeben das vermeintlich unbedeutende Ressort der Wettbewerbspolitik. Die anderen Regierungen verkannten die Relevanz der Wettbewerbspolitik für die Verwirklichung der Idee des Binnenmarktes, so von der Groeben später.33 Er, der an allen Phasen des bisherigen Wegs der Staaten auf dem Weg zu dauerhafter Kooperation beteiligt gewesen war, erhielt somit als Kommissar die Verantwortung für die Wettbewerbspolitik im weitesten Sinne. Hierzu zählten neben der Kartell- und Monopolpolitik auch die Beihilfepolitik, die Rechtsangleichung und die Steuerharmonisierung. Nach Worten von der Groebens bestanden somit „gute Voraussetzungen für eine einheitliche Wettbewerbspolitik.“34 29 Michel Rasquin, ehemaliger luxemburger Wirtschaftsminister, war erster Verkehrskommissar gewesen; starb aber im April 1958. Vgl. Condorelli-Braun: Commissaires et Juges. S. 41. 30 Vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 266ff. 31 Vgl. 9. Sitzung des Bundeskabinetts am 15. Januar 1958. Abgedr. in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Hrsg. für das Bundesarchiv von Hartmut Weber. Bd.11. Berab. von Ulrich Enders und Christoph Schawe. München 1998. S. 79–87. S. 81f.; Groben: Deutschland und Europa. S. 295f.; Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 266ff. 32 So von der Groebens Wahrnehmung. Vgl. Groeben: Walter Hallstein. S. 135. 33 Vgl. Groeben: Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaft. S. 81; Groeben: Deutschland und Europa. S. 301. 34 Groeben: Aufbaujahre. S. 81. (Herv. i. O.).
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Die Kommission musste möglichst schnell die ihr formal zugestandene Rolle im Institutionengefüge der EWG finden. Als ausgleichendes Kollegialorgan geplant, konnte sie nur gemeinschaftlich die ihr übertragenen Aufgaben erfüllen. Die Übertragung von Ressortverantwortlichkeiten, wie bei den bundesdeutschen Ministern, war nicht möglich. Gleichwohl teilten die Kommissare die wichtigen Tätigkeitsbereiche der Kommission unter sich auf. Dem Kollegialprinzip versuchten sie Rechnung zu tragen, indem bei der konstituierenden Sitzung jedem Aufgabenfeld drei Kommissare zugeordnet wurden. Für das Gebiet Wettbewerbspolitik wurden der Vizepräsident der Kommission und Kommissar für Wirtschafts- und Finanzfragen Marjolin und der Kommissar für Außenbeziehungen Rey stellvertretende Kommissare.35 Diese Kombination aus Ressort- und Kollegialprinzip hatte bei der Hohen Behörde der EGKS funktioniert, konnte sich aber langfristig in der EWG-Kommission nicht durchsetzen. Durch die Verknüpfung einer Generaldirektion (GD) mit einem Themenbereich und einem Kommissar bei gleichzeitigem Wachstum der verschiedenen Themengebiete ergab sich bald die Notwendigkeit zur Spezialisierung, die die produktive Zusammenarbeit der drei Kommissare im jeweiligen Fachgebiet verhinderte.36 Nach französischem Vorbild stand jedem Kommissar ein Kabinett zur Seite. Es war als Stab persönlicher Berater konzipiert, die überwiegend Landsleute des jeweiligen Kommissars waren.37 Die Einrichtung der Kabinette war zwischen Hallstein und den französischen und italienischen Kommissaren umstritten gewesen. Einige Kommissare wollten nicht auf dieses Instrument der Arbeitsbewältigung verzichten, andere, unter ihnen Hallstein, befürchteten, dass die kollegiale Zusammenarbeit der Kommissare durch zu große und selbständige Kabinette leiden würde. Am Ende wurde jedem Kommissar anheim gestellt, ein Kabinett einzurichten. Allerdings wurden jedem Kommissar maximal zwei Berater zugestanden, mit Ausnahme des vierköpfigen Kabinetts für den Präsidenten.38 Das Treffen der jeweiligen Kabinettchefs etablierte sich mit der Zeit zur Vorbereitung und Vorabsprache der Kommissionssitzungen und die Kabinette selbst wurden zu einem wichtigen Scharnier zwischen den Kommissaren und den Generaldirektionen. Auch wenn sie damit eine entscheidende Rolle im Institutionengefüge einnahmen, scheinen sich die Befürchtungen Hallsteins nicht bewahrheitet zu haben. Karl-Heinz Narjes, stellvertretender Kabinettschef Hallsteins in den ersten fünf Jahren, erinnerte sich später an den „Mannschaftsgeist“, der nicht nur zwischen den Kommissaren zu konsensorientiertem Arbeiten führte, sondern ebenso die Zusammenarbeit auf der Ebene der Kabinette und Generaldirektoren prägte. In 35 Vgl. Condorelli-Braun: Commissaires et Juges. S. 40f. 36 Vgl.: Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 39f. 37 Grundlegend zum Kabinettsystem und dessen Etablierung in den ersten Kommissionen vgl. Ritchie, Ella: The Model of French Ministerial Cabinets in the Early European Commission. In: Heyen (Hrsg.): Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft. S. 95–106. Vgl. auch Groeben: Aufbaujahre. S. 59; Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 35f. 38 Vgl. Ritchie: Model of French Ministerial Cabinets. S. 99; Coombes: Politics and Bureaucracy. S.124; Donelley; Ritchie: The College of Commissioners and their Cabinets. S. 42–45; Michelmann: Organisational effectiveness. S. 17–21.
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den ersten, noch überschaubaren Kommissionen vor der Fusion der Exekutiven von EWG, EGKS und EURATOM 1967 funktionierte das Kollegialprinzip noch. Noël schrieb es der großen Führungskraft Hallsteins zu, dass in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft in der Kommission nie abgestimmt werden musste.39 Für Hallstein war es zunächst wichtig, die Kommission nach außen eindeutig und klar gegenüber den Mitgliedstaaten, dritten Staaten und gegenüber anderen supranationalen und intergouvernemental arbeitenden Organisationen abzugrenzen und zu positionieren. Als wichtigstes Instrument der Machtausübung erschien ihm hierzu der Aufbau einer eigenen Verwaltung. In den ersten Jahren behielt er sich durch die Zuständigkeit für die Generaldirektion Verwaltung „die Entscheidungsbefugnis über Personal und Verwaltung vor“ und hielt damit ein wichtiges Instrument des Aufbaus in seinen Händen.40 Als Präsident hatte er kein eigenes inhaltliches Ressort, sondern zeichnete für das Exekutivsekretariat der Kommission verantwortlich. Dieses koordinierte die Zusammenarbeit der gesamten Kommission und stand bis 1987, auch nach der Zusammenfassung der Exekutiven der drei Gemeinschaften, unter der Leitung von Émile Noël, dem ehemaligen Kabinettchef des französischen Ministerpräsidenten Mollet. Hallstein nutzte seine Gestaltungsautonomie, da der Vertrag keine Verwaltungsstruktur vorgab. Die Organisationsstruktur der Kommission wurde den Regierungen und administrativen Einheiten der meisten Länder nachgebildet. Den einzelnen Kommissaren wurde eine hierarchische Verwaltungsstruktur unterstellt, die sich aus Generaldirektionen (Hauptabteilungen), jeweils drei bis vier Direktionen (Abteilungen) und weiteren Abteilungen (Referaten) zusammensetzte. Zudem kam die Kommission überein, gemeinsam mit den Exekutiven von EGKS und EURATOM einen gemeinsamen juristischen Dienst, ein Statistisches Amt und ein Presse- und Informationsamt aufzubauen.41 Die Aufgabenverteilungen mit dazugehörigen Mitarbeiterstäben waren nach 10 Wochen beendet. Drei Wochen später lag das erste Organigramm der ersten Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor.42 Beim Aufbau des Beamtenstabes und der alleinigen Mitarbeiterauswahl durch die Kommission kam es zu Auseinandersetzungen mit den Regierungen. Hier kollidierten die nationalen Interessen, eigenen Beamten hohe Positionen auf europäischer Ebene zu beschaffen, um dadurch Einfluss innerhalb der Kommission zu erhalten, mit dem Autonomiestreben der Kommission. Letztere setzte sich durch. Hierbei griff sie auf die zahlreichen nationalen Beamten, die Mitarbeiter der EGKS und auf Fachkräfte aus Wissenschaft und Wirtschaft zurück. Für die Beset39 Vgl. Noël: Walter Hallstein. S. 169. Vgl. auch Narjes, Karl-Heinz: Walter Hallstein in der Frühphase der EWG. In: Loth; Wallace; Wessels (Hrsg.): Walter Hallstein. S. 139–163. S. 144f.; Condorelli-Braun: Commissaires et Juges. S. 163. 40 Vgl. Noël: Walter Hallstein. S. 166. 41 In der Kommission war das Statistische Amt, unter Leitung von Rolf Wagenführ, Robert Marjolin unterstellt. Für den juristischen Dienst, unter Leitung von Michel Gaudet, zeichnete Jean Rey verantwortlich. Vgl. Narjes: Walter Hallstein. S. 141; Groeben: Aufbaujahre. S. 61. 42 Vgl. Narjes: Walter Hallstein. S. 140. Zum Aufbau der Verwaltung vgl. auch Groeben: Deutschland und Europa. S. 302ff.
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zung der Posten waren in erster Linie Qualifikationsmerkmale wie bisherige Leistung in Verwaltung, Wirtschaft oder Wissenschaft sowie Sprachkenntnisse und „eine untadelige persönliche Haltung“ entscheidend.43 Auch wenn dadurch die Berücksichtigung persönlicher oder parteipolitischer Ansprüche verringert wurde, musste der nationale Proporz bei der Besetzung der höheren Beamtenposten beachtet werden. So sollte jeweils ein Viertel der höheren Beamten aus den drei großen Mitgliedsländern Bundesrepublik, Frankreich und Italien stammen. Die übrigen Mitarbeiter sollten aus den Beneluxländern rekrutiert werden, wodurch diese Länder gemessen an der Einwohnerzahl leicht bevorteilt wurden. Auf Vorschlag des Kommissars wurde der jeweilige Generaldirektor bestellt, der danach an der Einstellung der ihm unterstehenden Mitarbeiter beteiligt wurde. Die Generaldirektoren sollten als Schaltstelle zwischen den fachspezifischen Abteilungen, den Kommissaren und den Regierungen fungieren und verkörperten später „das ‚geballte Wissen‘, die Fachkompetenz der Gemeinschaft,“ urteilte Neuss 1988.44 Für den einfachen Dienst wurde vor allem lokal rekrutiert, so dass auf dieser Ebene Belgier tendenziell stärker vertreten waren als andere Nationalitäten.45 Rund dreißig Prozent des Personals waren der Mehrsprachigkeit der Organisation geschuldet. Da die Kommissare sich im ersten Jahr vielfach mit Personalfragen beschäftigten, hatte die Kommission am Ende des ersten Jahres bereits rund 1000 Mitarbeiter.46 Infolge ihres stetigen Wachstums in den folgenden Jahren arbeiteten Ende 1963 bereits mehr als 2000 Menschen für die Europäische Kommission.47 Der Arbeitsstil der Beamten war laut Narjes anfänglich noch stark von den Eigenheiten der nationalen Verwaltungen geprägt, was zu einigen Problemen führte. In der deutschen Bürokratie galt der Referentenentwurf als Meisterstück des Fachmanns. Konzepte und Ideen wurden ‚unten‘ ausgearbeitet und nur durch geringfügige Änderungen der jeweils oberen Leitungsebenen ergänzt. In den romanischen Ländern hingegen ließ sich der Abteilungsleiter oder Generaldirektor 43 Groeben: Walter Hallstein. S. 133. Hallstein nahm Einfluss auf die Einstellungspraxis und behielt sich bei der Besetzung von Spitzenpositionen das persönliche Gespräch mit den Kandidaten vor. Laut Narjes förderte Hallstein beim Aufbau der Kommission junge Bewerber. Der Fall François-Xavier Ortolis, später von 1973–1977 Präsident der Kommission, beweist, dass Hallstein einem 33-jährigen die Leitung einer Generaldirektion zutraute. Narjes führt dies darauf zurück, dass dem 28-jährigen Hallstein mit der Berufung auf einen Lehrstuhl in Rostock ebenso Vertrauen entgegen gebracht worden war. Vgl. Narjes: Walter Hallstein. S. 141f. François-Xavier Ortoli, aus dem französischen Wirtschaftsministerium gekommen, war bis zu seiner Berufung als Generaldirektor 1959 zunächst Kabinettschef von Robert Lemaignen gewesen. Vgl. Ritchie: Model of French Ministerial Cabinets. S. 99. Zur Person Narjes, der ab 1963 Kabinettschef von Hallstein bis 1967 wurde und von 1981 bis 1985 als Kommissar nach Brüssel zurückkehrte vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 350–373. 44 Neuss: Europa mit der linken Hand. S. 38. 45 Vgl. Coombes: Politics and Bureaucracy. S.128. 46 Vgl. Narjes: Walter Hallstein. S. 140; Groeben: Aufbaujahre. S. 58. 47 Vgl. Nugent: The European Commission. S. 29. Im Jahr 2000 waren mehr als 16.000 Menschen permanent in der Administration der Europäischen Kommission angestellt. Insgesamt beschäftigte die Kommission über 21.000 Menschen. Vgl. ebd.: S. 163f.
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Informationen kommen, trug Fachwissen zusammen und erarbeite selbst Entwürfe und Konzepte. Deutsche Referenten fühlten sich anfänglich in romanisch geprägten Generaldirektionen somit oftmals eingeschränkt. Andersherum waren Referenten in deutsch geprägten Generaldirektionen zögerlich bei der Ausfüllung des größeren, ungewohnten Spielraums, der auch mehr Verantwortung bedeutete.48 Noël urteilte später in seinem „persönlichen Zeugnis“ über Walter Hallstein, dass dieser für die jungen Europabeamten durch seine „politische Vision und die moralische Stärke“ eine herausragende Rolle spielte und maßgeblich zur Identitätsbildung der Beamten der Kommission beitrug.49 Bei der Zusammenarbeit der Kommission mit Mitgliedstaaten und anderen Organen der EWG achtete die Kommission auf Hierarchien. Dies offenbarte sich auch gegenüber den Ständigen Vertretern der Regierungen in Brüssel. Der Ausschuss der Ständigen Vertreter gewann für die Vorbereitung der Ministerräte mit der Zeit eine zunehmend wichtige Rolle. Für die organisatorische Vorbereitung initiiert, wurden in diesem Gremium bald auch inhaltliche Vorabsprachen getroffen. Die Minister konnten sich somit direkt den Problemfällen zuwenden, die auf der unteren Ebene der Ständigen Vertreter nicht geklärt werden konnten. Eine Beteiligung der Kommission an diesen Sitzungen war geboten, Hallstein sah dadurch jedoch den inhaltlichen Dialog zwischen Kommissaren und nationalen Ministern im Rat schwinden. Um dies zu verhindern und um die Kommissare von den Ständigen Vertretern abzugrenzen, sollten bei deren Treffen nur noch Generaldirektoren die Kommission vertreten. Kommissare empfingen zwar weiterhin Ständige Vertreter, nahmen aber nicht mehr an deren Sitzungen teil. Sie vertraten die Kommission nur im Rat. Zum Ausgleich lud Hallstein anlässlich des halbjährlich stattfindenden Wechsels der Präsidentschaft die Ständigen Vertreter zum Diner und offenen Austausch, da sie bei der Durchsetzung mancher gemeinschaftlicher Interessen gegenüber nationalen Regierungen eine nicht unerhebliche Rolle spielten.50 Dieser administrative und formale Auf- und Ausbau der Kommission51 wurde von den Mitgliedstaaten nicht nur positiv gesehen. Die Kommission musste inhaltliche Ergebnisse vorweisen und den Verwaltungsapparat durch die Qualität ihrer Vorlagen und Entwürfe rechtfertigen. Hallstein erkannte ihre über das Tagesgeschehen hinausgehende Verantwortung für die Entwicklung der Gemeinschaft. Er wusste, „dass die junge Kommission noch schwach und anfällig“ war und deshalb „um so anspruchsvoller und unnachgiebiger“ auftreten musste.52 Mit Nachdruck verfolgte Hallstein die schnelle Umsetzung der Zielvorgaben des Vertrags. Er war bestrebt, im Interesse eines föderal zu gestaltenden Europa möglichst bald die Kompetenzen der Kommission gegenüber dem Rat auszudehnen 48 Diese Kulturunterschiede waren für Narjes ursächlich, dass Bonner Ministerialbeamte die Kommission in den ersten Jahren unattraktiv fanden. Vgl. Narjes: Walter Hallstein. S. 143f. 49 Vgl. Noël: Walter Hallstein. S. 165. 50 Vgl. Narjes: Walter Hallstein. S. 145; Noël: Walter Hallstein. S. 167. 51 Der Begriff „Kommission“ steht hier für das politische Kollegialorgan der Kommissare. Ebenso bezeichnet „Kommission“ auch die administrative Verwaltungsorganistation. 52 Noël: Walter Hallstein. S. 168.
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und mittelfristig die Kommission als europäische ‚Regierung‘ zu etablieren.53 Besonders die zeitlichen Fristen des Vertrags für die Verabschiedung von Verordnungen oder Richtlinien zur Durchführung von beschlossenen gemeinsamen Politiken verstand er als Maximalzeiträume, die unterboten werden sollten.54 Auf Grundlage der Artikel 155ff. EWG-Vertrag musste die Kommission mit den ihr übertragenen Kompetenzen die inhaltlichen Probleme angehen und zeigen, dass sie die ihr übertragenen Funktionen ausfüllen konnte. Dies galt auch für die Wettbewerbspolitik. E.1.c Die Generaldirektion IV: Wettbewerbspolitik zwischen Aufbau und Aufbruch Zur Erfüllung dieser Aufgabe wurde dem Kommissar für Wettbewerbspolitik von der Groeben die ‚Generaldirektion IV Wettbewerbspolitik‘ (GDIV) unterstellt, die im Laufe des Jahres 1959 124 Planstellen umfasste.55 Von der Groeben stellte sich ein kleines Kabinett zusammen. Er berief seinen Stellvertreter aus dem Bundeswirtschaftsministerium Hans Estner als Kabinettschef, „der sich in Brüssel aus persönlichen Gründen nicht recht wohl fühlte“ und schon im Sommer 1958 nach Bonn zurückkehrte.56 Dessen Nachfolger wurde der bisherige stellvertretende Kabinettschef, der junge Ernst Albrecht.57 Der Deutsche Erich Wirsing rückte noch 1959 als Stellvertreter nach. Zum Generaldirektor berief von der Groeben auf Vorschlag von Mansholt den Kartell- und Wettbewerbsfachmann aus dem niederländischen Wirtschaftsministerium Pieter VerLoren van Themaat.58 Diesem stand nach seinem Amtsantritt im Mai 1958 ein Sekretariat mit sechs Mitarbeitern zur Seite.59 Es setzte sich aus seinem direkten Assistenten, dem Belgier Carles van 53 Vgl. Hallstein, Walter: Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. Düsseldorf, Wien 1969. S. 59f. 54 Hiermit stieß er aber sowohl bei den Franzosen als auch innerhalb der Kommission auf Widerstand. Vgl. Neuss: Europa mit der linken Hand? S. 247. 55 Vgl. HAEKB. Collection of the organigrammes, 1952–1997. Stellenplan der Generaldirektion IV für 1959. 56 Groeben: Deutschland und Europa. S. 303. Estner wurde 1959 Leiter der Unterabteilung EGKS und später Leiter der Europaabteilung im BMWi. Vgl. Löffler: Soziale Marktwirtschaft. S. 210. 57 Ernst Albrecht wurde 23-jährig Mitarbeiter der EGKS, von dort als Sekretär dem „SpaakAusschuss“ empfohlen und wurde später Sekretär des von von der Groeben geleiteten Ausschusses Gemeinsamer Markt bei den EWG-Vertragsverhandlungen. Als Sekretär des Interim-Ausschusses bezeichnete er sich 1998 als „der erste Beamte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.“ 1967–1970 war er Generaldirektor für Wettbewerb und von 1976 bis 1990 niedersächsischer Ministerpräsident. Vgl. Albrecht, Hans: Interview am 7.8. 1998 von Wolf D. Gruner. Interview 640 des Oral History Project des Historischen Archivs der EU am European Universtiy Institute. http://wwwarc.eui.eu/oh/pdf/INT640.pdf. Aufgerufen und gespeichert am 12. Juni 2006. 58 Vgl. Kapteyn: Pieter VerLoren van Themaat. S. 99f. Vgl. auch Groeben: Deutschland und Europa. S. 302. 59 Vgl. VerLoren van Themaat, Pieter: Einige Betrachtungen über die Entwicklung der Wettbewerbspolitik in Europa vor und seit dem Zustandekommen der Verordnung 17/62. In:
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Aken, sowie drei Niederländern und zwei weiteren Deutschen zusammen. Das Führungsteam der GDIV war somit deutsch-niederländisch geprägt. Die Generaldirektion IV wurde in vier Direktionen unterteilt. Im Zentrum dieser Studie steht die Direktion A, die für ‚Kartelle, Monopole, Dumping, Diskriminierungen durch die Industrie‘ zuständig war. Ihre Leitung hatte der Deutsche Hermann Schumacher, dem sein Landsmann von Riedel als Assistent zur Seite stand. Die Direktion untergliederte sich 1958 zunächst in drei Abteilungen. Bis zum Erlass einer Verordnung nach Artikel 87 des EWG-Vertrags lagen in den ersten Jahren ihre Aufgaben vor allem im ministeriell-administrativen Bereich und damit bei den beiden Abteilungen ‚Rechtsfragen‘ und ‚Wirtschaftliche Fragen‘. Die anfänglich fünfköpfige Abteilung 1 ‚Rechtsfragen‘, die später unter ‚Allgemeine Fragen‘ firmierte, erarbeitete die Grundlagen für die Anwendung der Kartellvorschriften. Sie wurde vom Franzosen Roland Mussard geleitet. Im Vordergrund der Arbeit standen die Klärung von Grundsatz- und Verfahrensfragen sowie die Ausarbeitung von Konzepten für Verordnungen oder Richtlinien. Darüber hinaus erstellten die Mitarbeiter der Abteilung 1 juristische Stellungnahmen zu einzelnen Kartellverträgen und -vereinbarungen und zum Verhältnis innerstaatlicher Rechtsvorschriften zum EWG-Kartellrecht.60 Die Aufgabe der Abteilung 2 ‚Wirtschaftliche Fragen‘ erstreckte sich auf Basis von Artikel 7 und der Artikel 85 bis Artikel 91 auf die Analyse wirtschaftlicher Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsbeeinträchtigung. Sie wurde zuerst mit vier Mitarbeitern der Leitung des Italieners Pietro Santorelli unterstellt. Neben der Beobachtung der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung und einzelner Wirtschaftszweige entstanden hier Untersuchungen über wirtschaftliche Grundstoffschwierigkeiten, Probleme mittelständischer Industrieunternehmen und die Preisbindungen der zweiten Hand. Gemäß Artikel 87, Absatz 2 wurden die Einschränkung des Anwendungsbereichs von Artikel 85 und 86 auf bestimmte Wirtschaftszweige geprüft. Die Konzentrationsproblematik rückte erst nach 1963 in den Fokus dieser Abteilung.61 Die Abteilung 3 ‚Einzelfälle, Berichterstatter‘ hatte zunächst mit dem Franzosen René Jaume, dem Deutschen Helmut Scheufele und dem Italiener Renato Albini drei leitende Berichterstatter und fünf weitere Mitarbeiter.62 Da sie mit der Durchsetzung der Artikel 85 und 86 beauftragt war, erhielt sie erst mit Erlass der ersten Durchführungsverordnung nach Artikel 87 im Februar 1962 eine ausreichende rechtliche Grundlage für ihre Arbeit. Bis dahin untersuchte sie Verdachtsfälle von privater Diskriminierung gemäß Artikel 7 oder Verstöße gegen die Artikel 85 und 86 sowie gegen die Artikel 90 und 91. Man erörtere Einzelfälle mit Beteiligten, führte Anhörungen durch und erstellte Entscheidungsvorlagen für die Everling; Narjes; Sedemund (Hrsg.): Europarecht, Kartellrecht, Wirtschaftsrecht. S. 398–415. S. 399. 60 Vgl. ZAR CM2 1964/252. Kommission: Generaldirektion für Wettbewerb. Vorbereitendes Dokument über Budgetfragen 1964 für die Kartellpolitik. Anlage zu einem Schreiben vom 25. September 1963 an den Rat. Dok.: 8505/IV/63-D. S. 1 und Anlage: Organigramm 1964. 61 Vgl. ebd.: S. 1f. 62 Vgl. HAEKB. Collection of the organigrammes, 1952–1997. Aufstellung der besetzten Planstellen in 1959.
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Kommission. Mit Beginn der aktiven Kartellpolitik ab 1962 wuchs diese Abteilung stetig und wurde nach Wirtschafszweigen aufgespaltet.63 Die drei weiteren Direktionen der GDIV ‚B. Rechtsangleichung‘, ‚C. Steuerfragen‘ und ‚D. Staatliche Beihilfen und Diskriminierung durch die Staaten‘ waren personell kaum kleiner, hatten jedoch maximal drei Abteilungen. Zusätzlich war der GDIV eine ‚Ständige Arbeitsgruppe für Dokumentation und technische Unterstützung‘ beigeordnet, die 1959 eine Stärke von 26 Mitarbeitern hatte.64 Nur noch fünf der 124 Planstellen der GDIV waren zu Beginn des Jahres 1959 nicht besetzt.65 Der nationale Proporz ihrer Mitarbeiter entsprach in etwa dem der Kommission. In der GDIV überwog der Anteil niederländischer und belgischer Mitarbeiter ein wenig, während Italiener und Franzosen leicht, Luxemburger stark unterrepräsentiert waren.66 Jedoch glich sich dies bei den Leitungspositionen der Direktionen und Abteilungen wieder etwas aus.67 Die Kartell- und Wettbewerbspolitik im engeren Sinne war mit dem Deutschen von der Groeben als Kommissar, dem Niederländer VerLoren van Themaat als Generaldirektor und der Leitung der zentralen Direktion A ‚Kartelle, Monopole, Dumping, Diskriminierung durch die Industrie‘ durch den Deutschen Schumacher einseitig deutsch-niederländisch geprägt, was nur marginal durch den Franzosen Mussard als Leiter der wichtigen Abteilung ‚Rechtsfragen‘ ausgeglichen wurde. Mit dieser Mannschaft musste von der Groeben nun die dringendsten Probleme der Wettbewerbspolitik bearbeiten. Die grundsätzlichen Zielsetzungen für die Wettbewerbspolitik waren die Öffnung der Märkte durch die Verwirklichung der Zollunion, die „Beseitigung der Wettbewerbsverfälschungen und Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs“ sowie die „Förderung eines wirksamen Wettbewerbs als Steuerungsinstrument des marktwirtschaftlichen Geschehens.“68 Aus den Vertragsverhandlungen vertraut mit der Materie und ihren Hürden war von der Groeben sehr bewusst, dass neben den zahlreichen Unvollkommenheiten des Vertrags zunächst einmal die volle Entscheidungsbefugnis der Kommission auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik durchzusetzen war. Der Einstieg in die aktive Wettbewerbspolitik würde erst durch eine Richtlinie oder eine Verordnung des Rates gemäß Artikel 87 möglich. Das Initiativmonopol gab der Kommission die Möglichkeit, sowohl Inhalt und Form zu bestimmen als auch den besten Zeit63 Vgl. ZAR CM2 1964/252. Kommission: Generaldirektion für Wettbewerb. Vorbereitendes Dokument über Budgetfragen 1964 für die Kartellpolitik. Anlage zu einem Schreiben vom 25. September 1963 an den Rat. Dok.: 8505/IV/63-D. Anlage: Organigramm 1964. 64 Vgl. HAEKB. Collection of the organigrammes, 1952–1997. Aufstellung der besetzten Planstellen in 1959. 65 Vgl. ebd. und ebd.: Stellenplan der Generaldirektion IV für 1959. Mitte der 1990er Jahren verfügte die GDI IV über rund 350 Mitarbeiter in sieben Direktionen. Vgl. Schmidt, Ingo; Schmidt, André: Europäische Wettbewerbspolitik. Eine Einführung. München 1997. S. 95. 66 Die nationale Zusammensetzung der Mitarbeiter der GDIV 1959: D: 26%; I: 24%; F: 22%; NL: 13%; B: 12% und L: 3%. Vgl. HAEKB. Collection of the organigrammes, 1952–1997. 67 Nationalität der vier Direktoren 1959: Jeweils D, F, I, und B ein Direktor; Nationalität der elf Abteilungsleiter: F: 4 (36%); D: 3 (27%); I: 2 (18%) und B und NL jeweils 1 (9%). Vgl. HAEKB. Collection of the organigrammes, 1952–1997. 68 Groeben: Aufbaujahre. S. 81.
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punkt für eine Initiative abzuwarten. Jedoch war allen bewusst, dass „das Wirken der Kommission [...] umso fruchtbarer (war), je mehr Sicherheit bestand, dass die von ihr verfassten und dem Ministerrat vorgelegten Vorschläge dort günstig aufgenommen wurden oder jedenfalls nicht an einem unbedingten Nein scheiterten, das keinen Raum zum Verhandeln ließ,“ erinnerte sich später Marjolin.69 Die potentiellen Vorteile gegenüber dem Rat, wie besserer Überblick über die verschiedenen Interessenlagen der Mitgliedstaaten und größeres Fachwissen, musste sich die Kommission erst erarbeiten. Somit rückte sie Planungen für eine Richtlinie oder eine Verordnung zunächst in den Hintergrund und verfolgte primär die Sammlung von Informationen und Erfahrungen. Gleichwohl hatte die unmittelbare Anwendung der Artikel 88 und 89 durch die Mitgliedstaaten und die Kommission und damit auch die Durchsetzung der Artikel 85 und 86 höchste Priorität, da „sich sonst eine erneuter Streit über Inhalt und Methoden der Wettbewerbspolitik ergeben hätte, der bei den vorhandenen Unterschieden in den Auffassungen eine aktive Wettbewerbspolitik unmöglich gemacht oder sie auf unbestimmte Zeit vertagt hätte,“ beschrieb von der Groeben rund 20 Jahre später seine Zielsetzung.70 Allerdings zeigten sich hierbei schon bald nach Beginn der Arbeiten durch die GDIV erste Schwierigkeiten. Genau das, was von der Groeben später meinte verhindert zu haben, trat hinter den Kulissen ein. E.2 BEGINN DER ARBEIT DER GDIV - DIE NATIONALEN VORAUSSETZUNGEN ZUR UMSETZUNG VON ARTIKEL 88 UND 89 E.2.a Die Ausgangslage für eine gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik Gemäß Artikel 88 des EWG-Vertrags sollten die zuständigen nationalen Behörden der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften und den Vorschriften der Artikel 85 und 86 über die Zulässigkeit von potentiell wettbewerbseinschränkenden Praktiken der Unternehmen entscheiden. Artikel 89 beauftragte die Kommission, die Verwirklichung der Inhalte von Artikel 85 und Artikel 86 zu überwachen und gleichzeitig deren Anwendung in den Mitgliedstaaten durch eigene Kontrollen und Untersuchungen zu fördern. In Verdachtsfällen sollte sie „in Verbindung mit den nationalen Behörden“ Untersuchungen beginnen. Die Befugnisse zu abschließenden Maßnahmen gegen wettbewerbsschädigendes Verhalten lagen bis auf weiteres bei den Mitgliedstaaten. Als ersten Schritt verschaffte sich die GDIV einen Überblick über Wettbewerbsrecht und -politik der Mitgliedsländer. Erste Ergebnisse darüber lagen im Juli 1958 vor.71 Sie zeigten, dass nur in der Hälfte der Mitgliedstaaten die erfor69 Marjolin: Meine Leidenschaft Europa. S. 350. 70 Groeben: Aufbaujahre. S. 84. 71 Die folgenden Darlegungen basieren darauf, so fern nicht anders kenntlich gemacht: HAEKB BAC71 188/190. Blatt 0303–0314. Bericht über die Lage in den sechs Ländern [...]. Brüssel, den 26. Juli 1958. COM (58) 162 rev.
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derlichen Rechtsvorschriften zur Durchführung von Artikel 88 und 89 vorhanden waren. In Italien war die Regierung im Rahmen der Ratifikation des EWGVertrags ermächtigt worden, Behörden zu bestimmen, die über die Zulässigkeit von Kartellen72 auf dem gemeinsamen Markt gemäß Artikel 85, Abs. 3 entscheiden sollten. Sanktionsbefugnisse gegen Kartelle oder wettbewerbsbehindernde Praktiken konnte die GDIV diesen Behörden jedoch nicht erteilen, so dass diese italienische Regelung in weiten Teilen wirkungslos blieb. Belgien und Luxemburg hingegen erklärten weder Behörden für zuständig noch existierten ausreichende Gesetze, auf deren Basis gegen Kartelle oder missbräuchliche Marktpraktiken hätte eingeschritten werden können. In Belgien hatte zwar ein Gesetzentwurf gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Macht vorgelegen, jedoch war dieser durch den Rücktritt der Regierung Achille van Acker im Juni 1958 auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Die luxemburger Regierung hatte zwar im Frühjahr 1958 ein Wettbewerbsgesetz entworfen, die Kommission ging aber nicht davon aus, „dass in Kürze aus dem Vorentwurf ein Gesetz entstehen“ würde.73 Obwohl sich aus Artikel 5 des EWG-Vertrags für die Staaten die Verpflichtung ableitete, mit ausreichenden Rechtsmitteln ausgestattete Behörden zu benennen, war die Umsetzung von Artikel 88 und 89 und damit die Durchsetzung der Wettbewerbsbestimmungen für Unternehmen durch nationale Behörden nur in der Bundesrepublik, in Frankreich und in den Niederlanden möglich. Die Kommission erwartete im Sommer 1958 auf absehbare Zeit keine Änderung dieses Zustands der Rechtsungleichheit für Kartelle und Unternehmen. Auch unter der Annahme, dass Artikel 85 und 86 direkt gültiges Recht wären, das durch die jeweilige nationale Judikative Anwendung finden müsste, änderte sich dieser Befund nicht erheblich. In Bezug auf Belgien blieb angesichts des speziellen konstitutionellen Systems offen, ob sich Gerichte für Sanktionen zuständig sehen würden. In Bezug auf Italien ging die Kommission davon aus, dass Richter Kartelle für rechtsungültig erklären könnten, allein Sanktionsmöglichkeiten für aufgedeckte Kartelle fehlten. Darüber hinaus wurde angenommen, dass kein Gericht ein Urteil fällen würde, solange wegen fehlender, zuständiger Behörden nicht die Möglichkeit bestand, eine Ausnahmegenehmigung vom Kartellverbot gemäß Artikel 85, Absatz 3 zu erhalten. Sollte eine Behörde mit dieser Entscheidung beauftragt werden, war nicht davon auszugehen, dass ein Gericht vor dieser Entscheidung die Nichtigkeit eines Kartells erklären würde. Die Wirkung des im Vertrag festgeschrieben Verbotsprinzips war somit einstweilen in Richtung des Missbrauchsprinzips stark abgeschwächt. Ähnliches galt für Frankreich, wo zwar die Rechtslage klar war, aber die Kommission starke Unterschiede zwischen der formalen Rechtslage und der praktischen Rechtsanwendung feststellte. Wie im EWG-Vertrag waren Kartelle 72 Im Folgenden wird der Ausdruck „Kartell“ summarisch für „alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ gebraucht, die durch den Artikel 85, Abs. 1. erfasst werden. 73 HAEKB BAC71 188/190. Blatt 0303–0314. Bericht über die Lage in den sechs Ländern [...]. Brüssel, den 26. Juli 1958. COM (58) 162 rev. Blatt 0305.
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grundsätzlich ungültig, wobei formal die Möglichkeit einer Genehmigung bestand. Diese war jedoch bis 1958 von keinem Unternehmen eingeholt worden. Die Kommission schätzte die Lage so ein, dass das Kartellverbot in Frankreich, und damit auch das des EWG-Vertrags, nur dann zur Anwendung kommen würde, wenn Verwaltungsbehörden aufgrund von Klagen Dritter oder durch Untersuchungen der eigenen Organe über die Rechtsgültigkeit von Kartellen entscheiden mussten. Da dies seit 1953 in nur etwa 10 Fällen geschehen war, schloss die Kommission, dass die rechtlichen Folgen trotz Kartellverbots für Kartelle eher mit denen des niederländischen Missbrauchsprinzips vergleichbar waren. Grundsätzlich ging Frankreich aber scharf gegen den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen vor. Bei bestimmten Praktiken, wie Verkaufsverweigerung, Preisbindung oder diskriminierenden Preisen, gestanden Gerichte verstärkt den Geschädigten Schadensersatz zu. Mit Ausnahme der Preisbindung der zweiten Hand, die in Frankreich verboten war, bestand hierbei hohe Deckung von nationalem und gemeinschaftlichem Recht. Insgesamt war das französische Recht mit seiner Möglichkeit der Schadensersatzklage schärfer als das EWG-Recht, jedoch waren die Verbotsbestimmungen aufgrund der schwachen Durchsetzung verwässert. Die wettbewerbspolitischen Konsequenzen waren damit dem niederländischen Recht ähnlich. In den Niederlanden war mit dem Ratifikationsgesetz ein eigenes Gesetz zur Durchführung von Artikel 88 des Vertrags verabschiedet worden.74 Es nahm dem europäischen Kartellverbot die Spitze. Kartelle und missbräuchliche Praktiken, auch wenn sie gegen Artikel 85 und 86 verstießen, waren demnach in den Niederlanden rechtsgültig bis nach niederländischem Recht das Wirtschaftsministerium als zuständige Behörde eingreifen würde.75 Im Gegensatz zur französischen Kartellpolitik waren die Niederländer bis dahin häufiger gegen Kartelle vorgegangen. Die Kommission hatte Kenntnis von einigen hundert Kartellen. In der Begründung des Ratifikationsgesetzes hatte die Regierung jedoch zugesagt, dass die zuständige Behörde im Interesse der Allgemeinheit sowohl niederländische Rechtsvorschriften anwenden als auch die gemeinschaftlichen Interessen gemäß Artikel 85 und 86 berücksichtigen würde.76 Daher beurteilte die Kommission das niederländische Missbrauchsprinzip wohlwollend, wenngleich der Behördenweg bis zum möglichen Verbot lang war. Angesichts dieser Tatsache trat in den Niederlanden die durchführbare Schadensersatzklage, die nur gegen vorsätzliche und vom Ministerium behördlich verurteilte Kartelle oder Missbräuche erhoben werden konnte, in den Hintergrund. In der Bundesrepublik war die rechtliche Lage für Kartelle seit dem am 1. Januar 1958 in Kraft getretenen ‚Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen‘ eindeutig und ähnlich wie auf europäischer Ebene. Zudem existierte mit dem Bundeskartellamt eine zuständige Behörde, die gemäß Paragraph 9 GWB ein 74 Vgl. Niederländisches Gesetz vom 5. Dezember 1957 zur Durchführung des Art. 88 des EWG-Vertrags. Abgedr. in: WuW 11(1961). S. 38. 75 Vgl. Schumacher: Artikel 85 und 86 des EWG-Vertrags. S. 780. 76 Vgl. Wohlfahrt; Everling; Glaesner (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. S. 261.
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Kartellregister führte. Nach Urteil der GDIV erteilte das GWB „alle erforderlichen Befugnisse zur Ergreifung wirksamer Maßnahmen gegen Kartelle und die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt, die den Grundsätzen des Vertrags zuwiderlaufen.“77 Das Kartellamt drang bald darauf, möglichst schnell die im Vertrag niedergelegten Grundsätze auszulegen, um der Rechtsspaltung vorzubeugen. Hohes Interesse daran bestand auch, weil nach deutschem Recht von den Unternehmen Fristen für Anträge auf Kartellgenehmigung einzuhalten waren. Kartelle hatten eine Übergangsfrist von einem halben Jahr nach Inkrafttreten des GWB, in der sie Eintragungen oder Genehmigungen beantragen konnten. Erst im Anschluss daran wurden sie mit der Folge der Strafbarkeit ungültig. In der Bundesrepublik war man darüber hinaus dezidiert der Meinung, dass bis zum Erlass von Bestimmungen gemäß Artikel 87 nur die Verfahrensregeln des GWB maßgebend seien, unabhängig davon, ob es sich um strafrechtliche Ahndung oder den Anwendungsbereich von Artikel 85 und 86 handelte. Angesichts dieser unterschiedlichen Voraussetzungen und Auffassungen über die Umsetzung der Vertragsvorschriften in den sechs Mitgliedstaaten stand die Kommission in der Übergangszeit vor einer großen Herausforderung. Zudem hatte sich ein weiteres, für die Kommission wichtiges Resultat abgezeichnet. Niederländer und Deutsche drängten offensiv darauf, dass alle Mitgliedstaaten möglichst bald ihren vertraglichen Pflichten nachkamen und notwendige Verfahrensregeln für bestehende und entstehende Kartelle erließen. Um Benachteiligungen der einheimischen Wirtschaft vorzubeugen, bestanden beide Regierungen auf baldige, gleichmäßige Anwendung der im Vertrag vorgesehenen Regelungen in allen Mitgliedstaaten und zögerten andernfalls selbst die Anwendung der Artikel 85 und 86 hinaus.78 E.2.b Die Ausübung der Vertragskontrollfunktion durch die Kommission In Anbetracht der Untersuchungsergebnisse beschloss die Kommission am 9. Oktober 1958, die Regierungen Belgiens, Italiens und Luxemburgs schriftlich aufzufordern, ihrer aus dem Vertrag herrührenden Verpflichtung nachzukommen und die notwendigen Gesetze zur Durchführung der Artikel 88 und 89 zu verabschieden.79 Reaktionen aus den Hauptstädten ließen allerdings lange auf sich warten. Die Situation spannte sich jedoch bis zum Sommer 1959 an, da sich die Regierungen der anderen drei Mitgliedstaaten angesichts fehlender Gesetze und unzureichender Behördenzuständigkeiten in Belgien, Italien und Luxemburg immer mehr auf den Grundsatz der Gleichbehandlung beriefen. Bereits im Februar 1959 hatte der Präsident des Bundeskartellamts Eberhard Günther bei 77 Vgl. HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0303–0314. Bericht über die Lage in den sechs Ländern [...]. Brüssel, den 26. Juli 1958. COM (58) 162 rev. Blatt 303. 78 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. S. 10. 79 Vgl. ebd.: S. 7.
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einem Gespräch in Brüssel die faktische Suspendierung des Artikels 85 aufgrund der offenbaren Nichtanwendung in allen anderen Staaten angesprochen. Nachdrücklich hatte daraufhin die Kommission vor den Gefahren durch einen Präzedenzfall für den gesamten Vertrag gewarnt.80 Die Durchsetzung der für das gemeinschaftliche Wettbewerbssystem im Gemeinsamen Markt so wichtigen Wettbewerbsvorschriften drohte sich zu verzögern bis die Regierungen in Brüssel, Rom und Luxemburg ihren Vertragsverpflichtungen nachkommen würden. Als die anderen drei Regierungen, allen voran die Bundesrepublik und die Niederlande, immer häufiger ihre eigene Untätigkeit mit der Untätigkeit der drei anderen Länder entschuldigten, war die Vertragserfüllung von zwei Seiten aus in Gefahr. Daraufhin legte die Kommission den Sachverständigen der Regierungen auf Basis eines Rechtsgutachtens im Juni 1959 ein ‚Arbeitsdokument zum Grundsatz der Gegenseitigkeit in zwischenstaatlichen Verträgen‘ zur Diskussion vor. Es verneinte die Frage, ob „ein Mitgliedstaat sich auf die Tatsache berufen (darf), dass ein Mitgliedstaat oder mehrere die Rechtsvorschriften der Art. 85ff. nicht oder nur abweichend anwenden, um sich selbst den Verpflichtungen, die ihm in Anwendung des Art. 88 obliegen, zu entziehen.“81 Das Kurzgutachten wies ausdrücklich auf die Verpflichtungen der Staaten und die möglichen Sanktionsmöglichkeiten in den Artikeln 169, 170 und 171 des EWG-Vertrags hin. Die Kommission war nach Artikel 169 befugt, den Gerichtshof nach Konsultationen mit dem säumigen Staat anzurufen, wenn sie der Auffassung war, dass dieser seinen Verpflichtungen nicht nachkam. Ebenso konnten Mitgliedstaaten, die ebensolcher Meinung waren, nach Artikel 170 zunächst die Kommission damit befassen und im weiteren Verlauf den Gerichtshof anrufen. Anordnungen oder Sanktionen gegenüber einem Mitgliedstaat konnte nur der Gerichtshof verfügen. Die Staaten selbst waren weder durch den EWG-Vertrag noch durch internationales Vertragsrecht befugt, die Vertragsnichterfüllung von Vertragspartnern mit eigener Nichterfüllung zu quittieren. Dieser wenig überraschenden Interpretation, die die Rechtsauffassung der Kommission bestätigte, stimmten alle Kartellsachverständigen der Regierungen „unter juristischem Gesichtspunkt“82 zu. Alle bekräftigten, sich für die einheitliche Erfüllung des EWG-Vertrags einzusetzen. Jedoch waren sich die Regierungsvertreter auch einig, dass gleichmäßiges Vorgehen aller Mitgliedstaaten bei der Wettbewerbspolitik aus politischen Gründen geboten sei.83 Die Kommission war ihrem Auftrag nachgekommen, für die Vertragserfüllung zu sorgen. Sie hatte die unzufriedenen Mitgliedstaaten auf eine Art und Weise auf ihre Pflichten hingewiesen, die diese ihr nicht verdenken konnte. Gleichzeitig war sie auf diesem Weg einmal mehr deren Forderung nachgekommen, die drei säumigen Staaten an ihre 80 Vgl. BA B102/124647. Vermerk über Gespräch Günthers in Brüssel am 17. Februar 1959. 81 HAEKB CEAB3 476. Blatt 086–089. Arbeitsdokument zum Grundsatz der Gegenseitigkeit in zwischenstaatlichen Verträgen. Brüssel, den 17. Juni 1959. IV/2588/59-D. Blatt 086. 82 HAEKB CEAB3 476. Blatt 036–040. Dossier der GD Wettbewerb „Die wesentlichen Ergebnisse der bisherigen Kartellkonferenzen“ Blatt 039. 83 Vgl. ebd. und HAEKB CEAB3 476. Blatt 086–089. Arbeitsdokument zum Grundsatz der Gegenseitigkeit in zwischenstaatlichen Verträgen. Brüssel, den 17. Juni 1959. IV/2588/59-D.
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Vertragsverpflichtungen zu erinnern. Ihre Rolle als ‚Hüterin des Vertrags‘ hatte sie damit erfüllt, wenngleich der Erfolg sich erst mit der Zeit einstellen sollte. Die belgische Regierung zeigte sich endlich Ende Juni 1959 grundsätzlich kooperationswillig. Sie sendete der Kommission ihren Gesetzentwurf gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen zur Kenntnisnahme. Die Kommission prüfte ihn und Hallstein bat einen Monat später um nur zwei kleinere Änderungen an dem „vorzügliche(n) Gesetzentwurf,“ wovon sich eine auf die Präzisierung der Behörde bezog, die über die Ausnahmegenehmigung nach Artikel 85, Abs. 3 entscheiden sollte.84 Nachdem der Gesetzentwurf im Herbst von der belgischen Regierung mit den Änderungsvorschlägen der Kommission an den Senat geleitet worden war, begann der parlamentarische Gesetzgebungsprozess. Der Senat stimmte dem Entwurf zusammen mit den Vorschlägen der Kommission am 15. Dezember 1959 zu und leitete beides an die Abgeordnetenkammer. Auf der sechsten Konferenz der Kartellsachverständigen im Februar 1960 äußerte der belgische Vertreter die Einschätzung, dass das belgische Wettbewerbsgesetz innerhalb von drei, vier Monaten verabschiedet würde.85 Die italienische Regierung hingegen ließ sich von der Kommission nicht nur mehrfach bitten, notwendige Gesetze in Italien zu initiieren, sondern erweckte auch den Anschein, nicht an einer schnellen und zielgerichteten Lösung interessiert zu sein. Die Instabilität der italienischen Regierungen in diesen Jahren tat ihr Übriges. Nachdem auch wiederholte Aufforderungen auf unterer diplomatischer Ebene von der GDIV über den Ständigen Vertreter Cattani an die italienische Regierung nichts bewirkten und sich in Italien über ein halbes Jahr nach der Ermahnung der Kommission keine Veränderung abzeichnete, wurde man in Brüssel ungeduldig. Daraufhin wendete sich von der Groeben im Juli 1959 direkt an den italienischen Minister für Industrie und Handel, Emilio Colombo, und bat um Unterrichtung über den Stand der Arbeit. Antwort erhielt er erst Monate später, und zwar vom Ständigen Vertreter Italiens in Brüssel. Dieser berichtete Anfang Oktober, dass Untersuchungen eingeleitet seien und mit der Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs für ein italienisches Kartellrecht begonnen wurde. Erst wenn dieses Gesetz vom Kabinett genehmigt wäre, wollte die Regierung von der Möglichkeit des Ratifizierungsgesetzes Gebrauch machen und per Rechtsverordnung zuständige Behörden ernennen. Auch wenn man in Rom beides bis Ende 1959 anstrebte, sah sich der der Ständige Vertreter nicht im Stande einen genauen Zeitpunkt zu nennen.86 Der Prozess verzögerte sich jedoch. Der Anfang Dezember 1959 vom italienischen Ministerrat gebilligte Gesetzesentwurf, den die Kommission erhielt, beinhaltete keine entsprechenden Bestimmungen über die Rechtsverordnung zur Benennung von zuständigen Verwaltungsbehörden. Angesichts dessen wurden in der GDIV, gemeinsam mit dem juristischen Dienst der Europäi84 Die zweite Anmerkung betraf nur eine sprachliche Klarstellung. Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 032–033. Schreiben Hallstein an van der Schueren. Brüssel, 30. Juli 1959. 85 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. S. 7. 86 Vgl. HAEKB BAC104 1993/351. 000058. Schreiben des Ständigen Vertreters der Republik Italien an von der Groeben. Brüssel, 1. Oktober 1959.
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schen Gemeinschaften, erste Schritte eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Artikel 169 gegen Italien geprüft. Jedoch war die Lage in Rom nicht eindeutig. Nur in dem Fall, dass Colombo gegenüber von der Groeben bei dessen Besuch der italienischen Regierung im Dezember 1959 weder die baldige Verabschiedung des Gesetzes noch die Benennung von zuständigen Behörden durch ein Dekret zusagen würde, wollte man in Brüssel ernsthaft über ein solches Verfahren nachdenken.87 Colombo machte zwar entsprechende Zusagen und wendete damit ein Verfahren bis auf weiteres ab, aber die italienische Regierung wartete zum Jahreswechsel 1959/60 noch auf die Stellungnahme des italienschen Nationalrates für Wirtschaft und Arbeit, um den Gesetzesentwurf an das Parlament weiterleiten zu können.88 Das gemeinschaftlich vereinbarte EWG-Wettbewerbsrecht konnte in Italien zwei Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags nicht angewendet werden. Auch die luxemburgische Regierung wurde von der Kommission über ihre Ständige Vertretung mehrfach auf die Relevanz und Dringlichkeit hingewiesen, Gesetze zu verabschieden und für die Anwendung der Artikel 88 und 89 notwendige Behörden einzurichten. Auf die Aufforderung der Kommission vom Oktober 1958 reagierte die luxemburgische Regierung aber erst im September 1959 mit einer vollmundig klingenden, wenig aussagekräftigen und mit Einschränkungen versehenen Erklärung. Knapp ein Jahr nach der förmlichen Aufforderung durch die Kommission teilte die luxemburgische Regierung von der Groeben durch ihren Ständigen Vertreter mit, dass sie erstens einen Gesetzesvorentwurf ausgearbeitet hätte, um missbräuchliche Ausnutzung marktbeherrschender Stellungen zu beenden, dass zweitens das Gesetzgebungsverfahren erst nach Beendigung der Konsultationen mit den Berufsverbänden in Gang gesetzt werden könnte und dass drittens mit bestehendem luxemburgische Recht „ein Vorgehen gegen gewisse Verstöße“ der in Artikel 85ff. erwähnten Wettbewerbsbehinderungen durch luxemburgische Behörden ohnehin möglich sei.89 Da diese Informationen für die Kommission überraschend und in ihrer Kürze wenig aussagekräftig waren, bat von der Groeben Anfang Oktober 1959 um weitere Erläuterungen. Dieses Mal nahm man von luxemburger Seite innerhalb eines Monats Stellung. Dabei zeigte sich, dass die Regierung noch weit von einer Gesetzesinitiative entfernt war, was sie mit dem Regierungswechsel nach dem Tod des Premierministers Pierre Frieden im Frühjahr 1959 begründete. Der Legislative sollte erst im kommenden Frühjahr das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht vorgelegt werden. Selbstbewusst wurde dennoch die luxemburger Rechtsauffassung dargelegt, wonach der Wirtschaftsminister des Großherzogtums gegen „bestimmte Verletzungen der Art. 85ff. des EWG-Ver-
87 Vgl. HAEKB BAC104 1993/351. 000043–000045. Vermerk von Schumacher für von der Groeben. Brüssel, 14. Dezember 1959. 88 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. S. 8. 89 Vgl. ebd.: S. 9.
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trags vorgehen“ könnte.90 Bei näherer Betrachtung stellte sich indes heraus, dass nur Fälle von „Preisabsprachen“ und „unerlaubter Spekulation“ verfolgt werden konnten. Der Wirtschaftsminister war nur befugt, gegen Kartelle und Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung einzuschreiten, wenn diese Preisbindungsoder Preisdiskriminierungssysteme aufbauten oder Koppelungsgeschäfte abschlossen. Auch das Untersuchungs- und Sanktionsrecht des Wirtschaftsministers bezog sich bei näherer Betrachtung nur auf Fälle, die Einfluss auf das Preissystem hatten. Die noch im September 1959 erwähnte Erlaubnis zum Eingriff „gegen gewisse Verstöße der Artikel 85ff“91 verblasste und ließ die Tragweite des Wortes „gewisse“ deutlich werden. Von staatlichem Eingreifen gegen unerlaubte Praktiken gemäß Artikel 85 und 86 EWGV konnte in Luxemburg Ende 1960 nur punktuell die Rede sein, denn nationales Recht verbot nur einen Teil der wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen, die durch Artikel 85 und 86 verboten beziehungsweise durch das Instrument der Preisfestsetzung nur mittelbar eingeschränkt waren. Die GDIV bewertete die luxemburger Auskünfte eindeutig, wenn es in einer internen Vorlage hieß, dass „der Erlass von Vorschriften, die eine Erfüllung der Verpflichtungen aus den Artikeln 88 und 89 ermöglichen, [...] daher dringlich“ blieb.92 Die Kommission war mit den Aktivitäten in Luxemburg und in Rom Ende 1959 keineswegs zufrieden. Jedoch gab es auch von anderer Seite Grund zu Verstimmungen. Aus deutschen und niederländischen Industriekreisen wurden Vorwürfe von Benachteiligung laut. Diese wies der Generaldirektor der GDIV VerLoren van Themaat Ende 1959 im Kreis der Ständigen Vertreter entschieden zurück und hob hervor, dass auch die Behörden dieser beiden Länder noch keine Entscheidungen aufgrund des EWG-Vertrags getroffen hätten. Zudem habe sich die GDIV – dem Ziel der Einheitlichkeit von Wettbewerbspolitik und anderen Politikbereichen verpflichtet – zunächst mit Staatsmonopolen und mit öffentlichen Beihilfen beschäftigt. In beiden Fällen bezogen sich die Untersuchungen nicht auf die Niederlande oder die Bundesrepublik.93 VerLoren van Themaat wiederholte diese Darlegung öffentlich in einem vom Presse- und Informationsamt der Europäischen Gemeinschaften im Dezember 1959 herausgegebenen Beitrag zur Wettbewerbspolitik. An dieser Stelle lehnte er auch Forderungen aus deutschen Industriekreisen kategorisch ab, bei Handelsmonopolen und Beihilfen weniger streng behandelt zu werden. Diese hatten ihre Forderungen damit begründet, dass die deutsche Seite bei der Kartellpolitik Vorleistungen erbracht hätte. VerLoren van Themaat betonte, dass auch das Bundeskartellamt bis Dezember 1959 kein 90 Schreiben des luxemburgischen Ständigen Vertreters an die Kommission am 9. November 1959. Zitiert aus: HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. S. 9. 91 Ebd. 92 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. S. 10. 93 Vgl. HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959, Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0060.
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Verfahren auf Grundlage des EWG-Vertrags vorgenommen hatte, während es in anderen Staaten zu Verfahren gekommen war, so dass von Vorleistungen von deutscher Seite keine Rede sein konnte. Zudem forderte er die Regierungen auf, die Kommission stärker gegenüber der Wirtschaft zu unterstützen. Die Kommission vermisste öffentliche Zustimmung zur ihrer Politik oder wenigstens ein öffentliches Bekenntnis zu den Ende 1959 veröffentlichten Grundsätzen des Wettbewerbs.94 Der Kommission war es in diesen ersten beiden Jahren gelungen, juristisch den Standpunkt zu untermauern, dass der EWG-Vertrag den Staaten keine rechtliche Grundlage dafür bot, Teile des Vertrags, die andere Mitgliedstaaten nicht erfüllten, ebenfalls zu ignorieren. Hierfür hatte sie die Rückendeckung der Mitgliedstaaten erhalten. Gleichwohl blieben die Bundesrepublik, die Niederlande und Frankreich zögerlich beim Vorgehen gegen Kartelle und marktbeherrschende Stellungen auf dem Gemeinsamen Markt. Die Kommission scheute sich wiederum, diese drei Regierungen, die teilweise unter innenpolitischem Druck standen und möglichen Verstimmungen mit den heimischen Industrien auf Kosten der Kommission und des Wettbewerbs auswichen, auf politischer Ebene ausdrücklich auf ihre Vertragspflichten hinzuweisen. Die GDIV wollte es sich nicht mit den Ländern verderben, die im Prinzip die gemeinsame Wettbewerbspolitik unterstützten. Sie hatte inzwischen beschlossen, verstärkt auf die Regierungen in Brüssel, Rom und Luxemburg einzudringen, damit möglichst bald ausreichende Gesetze von den jeweiligen Parlamenten verabschiedet würden.95 Gleichzeitig war bereits Mitte 1958, als die ersten Ergebnisse vorgelegen hatten, deutlich gewesen, dass in der Hälfte der Staaten keine ausreichend autorisierten Behörden vorhanden waren, um im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften und den Vorschriften der Artikel 85 und 86 über die Zulässigkeit von potentiell wettbewerbseinschränkenden Praktiken der Unternehmen zu entscheiden. Trotzdem plante die Kommission noch nicht, dem Rat eine Richtlinie oder Verordnung gemäß Artikel 87 vorzulegen. Sie wartete erst einmal ab und begann gemäß Artikel 89 aktiv zu werden. E.3 DIE KARTELLSACHVERSTÄNDIGENKONFERENZEN – DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER ZUSAMMENARBEIT MIT DEN MITGLIEDSTAATEN Auch wenn die Entscheidungsbefugnis über die Zulässigkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Praktiken in der Übergangszeit bis zum Erlass von Richtlinien oder Verordnungen gemäß Artikel 87 dezentral bei den Mitglieds94 Vgl. HAEKB BAC18 1986/2235. VerLoren van Themaat, Pieter: Die Fünf Grundsätze der Wettbewerbspolitik der Kommission. Hrsg. vom Presse- und Informationsdienst der Europäischen Gemeinschaften. Brüssel, Dezember 1959. 3f. 95 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. 10f.
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ländern lag, war der Kommission mit Artikel 89 die klare Zuständigkeit für Verfahren bei vermuteten Verstößen gegen Artikel 85 und 86 erteilt worden. Die Ergebnisse dieser Verfahren, die in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden durchgeführt werden sollten, sollten sowohl Grundlage der Feststellung einer Zuwiderhandlung als auch eines Vorschlags zur Beendigung der Zuwiderhandlungen werden. Im weiteren Verfahren konnte die Kommission die Fortsetzung der Zuwiderhandlung feststellen und mit einer Entscheidung die Mitgliedstaaten zu Maßnahmen ermächtigen, deren Bedingungen und Einzelheiten sie festlegte. Daraus ergab sich nicht nur die Notwendigkeit formaler Zusammenarbeit von Kommission und nationalen Behörden, sondern auch das Erfordernis der inhaltlichen Abstimmung zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten. Sollte eine einheitliche Wettbewerbspolitik erreicht werden, so durfte eine nationale, zuständige Behörde möglichst nicht gegen die Auffassung der Kommission oder einer anderen nationalen Behörde handeln. Es galt die Situation zu verhindern, dass der eine Staat das Kartellverbot durchsetzte, ein anderer Mitgliedstaat nach Artikel 85, Absatz 3 demselben Kartell eine Ausnahmegenehmigung erteilte, während ein dritter sich nicht um dieses Kartell kümmerte oder zu der Auffassung gelangte, dass es nicht unter das Kartellverbot nach Artikel 85, Absatz 1 falle. Die Kommission erkannte früh, dass die gleichmäßige Anwendung des Kartellrechts durch die Mitgliedstaaten und die Kommission für die Realisierung der europäischen Wettbewerbspolitik von maßgeblicher Bedeutung war, und beschloss auf Vorschlag der GDIV Anfang Oktober 1958, die enge Zusammenarbeit mit den Mitgliedsländern zu institutionalisieren.96 Zum Aufbau dieser Zusammenarbeit lud von der Groeben alle Mitgliedstaaten zu einem Meinungsaustausch am 18. und 19. November 1958 nach Brüssel ein, zudem jeder Mitgliedstaat bis zu vier Vertreter senden sollte.97 Von der Groeben machte in der Eröffnungsansprache deutlich, dass die „Durchsetzung einer einheitlichen Wettbewerbspolitik“ die „wichtigste Aufgabe“ der Kommission und der Mitgliedstaaten war.98 Zu deren Umsetzung betrachtete er die enge Zusammenarbeit zwischen den nationalen, für die Kartellpolitik zuständigen Behörden und der Kommission als „zwingende Notwendigkeit“.99 Der erste Schritt sollte die gemeinsame Meinungsbildung über die gegenwärtigen Rechtsauffassungen und Rechtslagen sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf Gemeinschaftsebene sein. Von der Groeben hatte in der Einladung zu der Konferenz je um „ein Referat über die Rechtslage und die Praxis sowie die bisher getroffenen Maßnahmen zur 96 Vgl. ebd.: S. 8. 97 Vgl. HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0013–0049. Einladungsschreiben von der Groeben an die Wirtschaftsminister der Mitgliedstaaten. Ein Beobachter der Hohen Behörde der EGKS wurde von von der Groeben im Interesse enger Zusammenarbeit zur ersten Kartellsachverständigenkonferenz eingeladen. Vgl. HAEKB CEAB2 1795. Von der Groeben an Finet. 3. November 1958. Blatt 000002. 98 HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0055–0057. Notiz für die Ansprache von Herrn von der Groeben [...]. Brüssel, 5. November 1958. Blatt 0055. 99 Ebd.: Blatt 0056.
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Durchsetzung der Art. 85ff.“ gebeten.100 So war nicht nur gesichert, dass „die Besprechung [...] den Zweck einer ersten Fühlungnahme“ hatte, wie es später in der Pressemitteilung der Kommission hieß.101 Die Kommission verfolgte mit der Konferenz auch den Plan, allen Beteiligten die zahlreichen wettbewerbsrechtlichen und -politischen Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten und damit auch die Notwendigkeit umfangreicher Abstimmungen zwischen den Staaten und der Kommission deutlich zu machen. Dabei zeigte sich, dass neben der umstrittenen Frage der Direktgültigkeit der Artikel 85 und 86 und dem Zeitpunkt der Nichtigkeit von Absprachen auch zentrale Begriffe dieser Artikel gemeinsam ausgelegt werden mussten. Die Kommission erkannte, dass sowohl die „Auffassungen über den Sinn und Zweck sowie über die Nützlichkeit eines mehr oder weniger freien Wettbewerb(s)“ zu diesem Zeitpunkt zwischen den Mitgliedstaaten noch zu stark divergierten und somit eine allgemeine Diskussion dieser Themen nur „zu einer wenig fruchtbaren Konfrontation der verschiedenen Auffassungen“ geführt hätte.102 Die Rechtsnatur der Artikel 85 und 86 war für die Anwendung der Artikel 88 und 89 unbestritten von herausragender Bedeutung und sollte deshalb auf Vorschlag der Kommission als erster Versuch möglicher Zusammenarbeit erörtert werden. Nach Ansicht von der Groebens sollte der konstruktive Meinungsaustausch über nationale Auffassungen, mit möglicherweise positiven ex-post Ergebnissen, Schlüssel für eine gemeinsamen Wettbewerbspolitik werden. Ex-ante Diskussionen mit dem Ziel eines gemeinsamen, harmonisierten Standpunkts hielt er hingegen nicht für förderlich. Grundsätzlich bat er die Sachverständigen, dass der Weg des diskursiven Austausches gewählt werde, wenn es nicht zur „vollen Meinungsübereinstimmung“ komme.103 Um eine Generaldebatte über Sinn und Zweck der Kartellpolitik zu vermeiden, schlug die Kommission vor, anhand von Einzelentscheidungen zur kontinuierlichen Annäherung der Interpretationen und Anwendungen der Kartellvorschriften zu kommen. Von verhältnismäßig eindeutigen Fällen ausgehend hin zu schwierigen Fällen sollte „eine schrittweise Ausfüllung der Art. 85ff. mit Leben“ erreicht werden.104 Die drei Staaten mit eigenem Kartellgesetz sprachen sich tendenziell für diesen Vorschlag aus.105 Hingegen widersprachen jene drei Länder ohne eigenes Kartellrecht einem solchen Vorge100 HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0013–0049. Einladungsschreiben von der Groeben an die Wirtschaftsminister der Mitgliedstaaten. 101 Pressenotiz des Informationsdienstes der EWG-Kommission, IV. A/1339. Zitiert nach: o.A.: Kartellkonferenzen der Regierungssachverständigen der EWG-Länder. In: WuW 9 (1959), S. 445–446. S. 445. 102 HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0050–0054. Aide-Mémoire zu Punkt 3 der Tagesordnung der Sachverständigenkonferenz am 18./19. 11. 1958. Blatt 0053. 103 HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0055–0057. Notiz für die Ansprache von Herrn von der Groeben [...]. Brüssel, 5. November 1958. Blatt 056. 104 HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0050–0054. Aide-Mémoire zu Punkt 3 der Tagesordnung der Sachverständigenkonferenz am 18./19. 11. 1958. Blatt 0054. Vgl. HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0055–0057. Notiz für die Ansprache von Herrn von der Groeben...¸ Brüssel, 5. November 1958. 105 ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. 2074/58-D. S. 28.
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hen. Italien argumentierte, dass es für eine möglichst hohe Übereinstimmung der national zu schaffenden Gesetze mit den Artikeln 85 und 86 wichtig sei, die Inhalte dieser Artikel erst zu präzisieren, bevor mit Untersuchungen von Einzelfällen begonnen würde. Andernfalls befürchtete die italienische Regierung, dass zu viele Aspekte vernachlässigt würden oder zu spät zur Diskussion kämen.106 Auch wenn die Kommission sich somit bei dieser ersten Kartellsachverständigenkonferenz in dieser Frage nicht durchsetzten konnte, so hatte sie doch ein grundsätzliches Ziel erreicht. Alle Vertreter der Mitgliedstaaten hatten die Notwendigkeit zur Fortsetzung der Konsultationen erkannt und stimmten dem Plan der Kommission zu, weitere Konferenzen auszurichten. Bis Ende 1959 tagten die Sachverständigen der Mitgliedstaaten sechs Mal mit leitenden Mitarbeitern der GDIV. Dabei war die Kommission immer durch den Generaldirektor VerLoren van Themaat, Direktor Schumacher und bis zu acht weitere Mitarbeiter der GDIV sowie durch Jochen Thiesing, inzwischen für den Gemeinsamen Juristischen Dienst der Europäischen Gemeinschaften tätig, vertreten.107 Aus der Bundesrepublik nahmen regelmäßig der Kartellreferatsleiter des Bundeswirtschaftsministeriums Helmut Epphardt, der Präsident des Bundeskartellamtes Günther und bis zu drei weitere Mitarbeiter aus Bonn und Berlin teil. Die französische Delegation umfasste ebenfalls meist fünf bis sechs Sachverständige und wurde vorwiegend vom Direktor der ‚Direction Générale des Prix et des Enquêtes Economiques‘ geleitet. Die Hohe Behörde und das Sekretariat des Ministerrates schickten jeweils mindestens einen Beobachter. Mit der Zeit wurde die Konferenz der Kartellsachverständigen, die im Vertrag nicht vorgesehen war, fest institutionalisiert. Bei der siebten Kartellsachverständigenkonferenz Mitte März 1960 wurde angesichts von 43 Teilnehmern beschlossen, zumindest für die Beratung konkreter Kartellfälle, mit der man im Laufe des Jahres beginnen wollte, die Sitzung aus Gründen der Vertraulichkeit auf zwei Teilnehmer pro Mitgliedstaat zu beschränken.108 Infolgedessen pendelte sich die Gesamtteilnehmerzahl bei den folgenden Konferenzen zwischen 25 und 30 Kartellsachverständigen ein. Auf Einladung der GDIV diskutierten die Sachverständigen meist auf Basis von Arbeitsdokumenten, die die Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ den Kartellsachverständigen der Mitgliedstaaten nach Abstimmung mit dem juristischen Dienst der Kommission vorlegte. Zwei große Themenbereiche waren in den ersten beiden Jahren zwischen den Staaten und der Kommission umstritten und mussten geklärt werden. Zunächst war eine Einigung auf eine grundlegende Rechtsauslegung der Artikel 85 und 86 notwendig. Offen war die Frage, ob die 106 Vgl. HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0149. 107 Jochen Thiesing war Referent in von der Groebens Unterabteilung Schumanplan im BMWi gewesen. 1958 wechselte er zu den Juristischen Diensten der Gemeinschaften nach Brüssel und war dort einige Jahre für das EWG-Wettbewerbsrecht verantwortlich. Vgl. Löffler: Soziale Marktwirtschaft. S. 552. 108 Frankreich und der Bundesrepublik wurden aufgrund der besonderen Behördenstruktur drei Vertreter zugestanden. Vgl. HAEKB BAC71 1988/197. Blatt 00146–0172. NKKS am 16. und 17. März 1960. IV/1824/60-D. Blatt 0172.
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Artikel des Vertrags nur Grundsätze darstellten oder bereits geltendes Recht waren, das nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch Unternehmen und Privatpersonen band. Neben diesen wichtigen Auslegungsfragen über die Rechtsnatur der Artikel 85 und 86 besprachen die Sachverständigen den Begriff „Gemeinsamer Markt“ in Artikel 85 und 86, die Bedeutung der Aufzählungen in den Artikeln 85, Absatz 1 und 86 und nahmen sich einzelne Punkte der Artikel 86, 89 und 90 vor. Zudem bestanden unterschiedliche Ansichten über den Charakter der Freistellungsentscheidung gemäß Artikel 85, Absatz 3. Ob diese Entscheidung der zuständigen Behörden konstitutiven oder deklaratorischen Charakter hatte, war aufgrund ihrer unterschiedlichen Rechtswirkungen für Unternehmen von hoher Relevanz. Im Fall der konstitutiven Entscheidung stellte sich zudem die Frage, inwieweit diese rückwirkenden Charakter hatte und gegebenenfalls bis zu welchem Zeitpunkt. Bis zu einer Entscheidung durch den Gerichtshof wollte man diese Frage aber offen lassen. Zu einem anderen wichtigen Themenkomplex der Konferenzen entwickelte sich die Gestaltung der Zusammenarbeit der Kartellsachverständigen untereinander und mit der Kommission. Er war in der Übergangszeit wegen der verschränkten Doppelzuständigkeit von Kommission und nationalen Behörden gemäß Artikel 88 und 89 von hoher Bedeutung. Damit verbunden waren auch die Ausgestaltung der Vertragslücken und die Klärung, welche Instanzen langfristig über Ausnahmegenehmigungen, Nichtigkeitserklärungen und Sanktionen entscheiden sollten. Jedoch handelte es sich dabei weniger um Auslegungsfragen als um Themen, die zu einem späteren Zeitpunkt durch Richtlinien oder Verordnungen nach Artikel 87 politisch entschieden werden mussten. E.4 DIE GEMEINSAME AUSLEGUNG DER WETTBEWERBSARTIKEL MIT DEN SACHVERSTÄNDIGEN DER REGIERUNGEN E.4.a Die Rechtsnatur der Artikel 85 und 86 – Programm oder gültiges Recht? Die Kernfrage bei der Auslegung der Artikel 85 und 86 lautete, ob die Vorschriften der beiden Artikel in den Staaten sofort anwendbar waren, sprich unmittelbar geltendes Recht darstellten. Damit war die Frage verbunden, ob durch den EWGVertrag bereits einheitliches europäisches Wettbewerbsrecht in den Mitgliedstaaten galt. Der Brüsseler Interimsausschuss hatte im Mai 1957 unter Berufung auf den Ausschuss der Delegationsleiter den Vertrag dahingehend ausgelegt, dass Artikel 85 direkt gültiges Recht sei.109 Diese Auslegung war kurz vor der Unter109 Mit Inkrafttreten des Vertrags seien die Vorschriften des Artikels 85 auf Grundlage von Artikel 88sofort anwendbar und es würde „Aufgabe eine jeden Mitgliedstaates sein, für die Anwendung des Bestimmungen des Artikels 85 zu sorgen.“ Vgl. Aufstellung der auslegenden Erklärungen zu Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und seiner Anhänge oder der dazu gehörigen Protokolle, Abkommen und Erklärungen. Brüssel, den 6. Mai 1957. MAE 945 d/57 lö/eg; 945 d/57 lö/msr. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 308.
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zeichnung der Verträge in Rom vom Ausschuss der Delegationsleiter gebilligt worden.110 Nach eingehender Prüfung schloss sich die Kommission in ihrem ersten Tätigkeitsbericht vom September 1958 dieser Rechtsauffassung ausdrücklich an. Sie lehnte die Auffassung ab, „wonach die Artikel 85 und 86 nur Grundsätze enthalten, die erst noch entwickelt werden müssen, bevor sie praktische Bedeutung erhalten.“111 Sie vertrat den Standpunkt, dass sie selbst nach Artikel 89 und die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Artikel 88 gegen Kartelle und den Missbrauch wirtschaftlicher Macht vorgehen könnten. Die Deutlichkeit der Kommission in dieser Frage war auch eine Reaktion auf die lebhaften Diskussionen in Wirtschaft und Wissenschaft, die diese Interpretation der Wettbewerbsregeln teilweise in Frage stellten.112 In der Bundesrepublik war aus dem Bundeswirtschaftsministerium heraus schon früh die Position vertreten worden, dass die Artikel 85 und 86 gültiges und sofort anzuwendendes Recht seien. Nicht nur Abteilungsleiter Müller-Armack hatte diese Position vor dem Bundestagsausschuss bei der Ratifikationsdebatte zu den Römischen Verträgen vertreten, sondern bereits 1957 auch Eberhard Günther – noch als Kartellreferatsleiter des Bundeswirtschaftsministeriums. Ungeachtet möglicher und notwendiger Ergänzungen des europäischen Kartellrechts waren die im Vertrag niedergeschriebenen Kartell- und Missbrauchsregelungen Günthers Auffassung nach sofort anzuwendendes Recht. Kartellvereinbarungen, die den zwischenstaatlichen Handel einschränkten, waren demnach mit Inkrafttreten des Vertrags verboten und nichtig, wenn nicht eine ausdrückliche Ausnahmegenehmigung erteilt würde. Auch der Missbrauch marktbeherrschender Stellungen war gemäß Artikel 86 verboten, wenn er geeignet war, den zwischenstaatlichen Handel im Gemeinsamen Markt zu behindern.113 110 Vgl. Materialien zum EWG-Kartellrecht. II. Der niederländische Wirtschaftsminister zu den Art. 85ff. In: WuW 9 (1959). S. 52f. S. 53. 111 Erster Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, 17. September 1958. S. 66. 112 Für einen Diskussionsüberblick und die folgende Darstellung vgl. Knebel: Europäische Wettbewerbsregeln. S. 134–138; Haslbeck, Franz Josef: Die Regelung des Wettbewerbs im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. München 1960. S. 37–71; Thiesing, Jochen: Wettbewerbsregeln. In: Groeben; Boeckh (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. S. 255–312. S. 258–268; Wohlfahrt; Everling; Glaesner (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. S. 258f.; Koch, N.: Das Verhältnis der Kartellvorschriften des EWG-Vertrags zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. In: Betriebsberater 14 (1959). S. 241–248. insbes. S. 242, FN 3. 113 Vgl. Günther, Eberhard: Die Regelungen des Wettbewerbs im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. In: WuW 7 (1957). S. 275–293. S. 278. Auch andere unterstützen diese Position früh. Vgl. Koch: Verhältnis der Kartellvorschriften. S. 241–248; Haslbeck: Regelung des Wettbewerbs. S. 44–47. Abweichend wurde vertreten, dass die Artikel zwar gültiges Recht wären, allerdings erst mit dem Erlass einer Verordnung oder Richtlinie Vereinbarungen, Beschlüsse und wettbewerbsbehindernde Praktiken rückwirkend mit Inkrafttreten des Vertrags nichtig würden. Weitere Ausdifferenzierungen dieser Position waren die „Spaltungstheorie“ und die „Doppelfunktionstheorie“; die eine differenzierte sofortige und spätere Nichtigkeit anhand der Wirkung, die andere knüpfte das unmittelbare Verbot an die wirtschaftlichen Auswirkungen der jeweiligen Praktiken. Vgl. Knebel: Europäische
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Industriefreundliche Stimmen vertraten hingegen die Auffassung, dass die Artikel 85 und 86 nur allgemeine Programmgrundsätze ohne Rechtswirkung darstellten. Dies war bereits in der Debatte über das GWB am 3. Juli 1957 deutlich geworden. Der Bericht des wirtschaftspolitischen Ausschusses vom 27. Juni 1957 über das GWB, vorgelegt vom Generalberichterstatter und Ausschussvorsitzenden Hellwig, nahm zur „Behandlung von Wettbewerbsbeschränkungen und [...] Verpflichtungen in zwischenstaatlichen Verträgen“ Stellung.114 Darin wurde die Ansicht vertreten, dass „die in den Artikeln 85 und 86 niedergelegten Grundsätze [...] nur einen Rahmen“ darstellten, „der nach Inkrafttreten des Vertrags mit konkreten Rechtsnormen insbesondere im Hinblick auf ihre Anwendung und ihre Durchsetzung [...] auszufüllen sind.“115 Erst nach der Umsetzung von Verordnungen gemäß Artikel 87 seien „die in Artikel 85 und 86 niedergelegten Grundsätze anzuwenden.“116 Der Wirtschaftspolitische Ausschuss ging davon aus, dass bis dahin die nationalen Vorschriften Gültigkeit hatten. Albrecht Spengler vertrat in der wissenschaftlichen Diskussion auf Basis eines Gutachtens für den BDI den Standpunkt, dass die Artikel 85 und 86 nur programmatische Verfassungsprinzipien seien.117 Er stützte seine Argumentation auf Artikel 87. Demnach waren die Artikel 85f. nur der Rahmen für Verordnungen oder Richtlinien. Da die Artikel 85 und 86 alleine eine Wettbewerbspolitik nicht ermöglichten, ging er von der NichtAnwendbarkeit und von keiner unmittelbaren Wirkung aus. Bis zu Ausführungsverordnungen nach Artikel 87 gelte allein nationales Recht.118 Vereinzelt wurde auch die extreme Auffassung vertreten, dass die Verbote der Artikel 85 und 86 aufgrund der Formulierungen „innerhalb des gemeinsamen Marktes“ (Art. 85) und „auf dem Gemeinsamen Markt“ (Art. 86) erst nach dem Ende der kompletten Übergangszeit nach Artikel 8 des EWG-Vertrags, sprich nach 12 bis zu 15 Jahren, rechtsgültig würden.119
114 115 116 117 118
119
Wettbewerbsregeln. S. 135f.; Haslbeck: Regelung des Wettbewerbs. S. 52–56; Thiesing: Wettbewerbsregeln. S. 255–312. S. 267. Eine Einzelmeinung vertrat Charley del Marmol, der sich für die Position aussprach, dass die Artikel 85 und 86 reine Ermächtigungsnormen für die nationalen Behörden und Gesetzgeber darstellten, jedoch selbst keine eigene Rechtswirkung entfalten würden. Vgl. hierzu Knebel: Europäische Wettbewerbsregeln. S. 136; Haslbeck: Regelung des Wettbewerbs. S. 61f.; Wohlfahrt; Everling; Glaesner (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. S. 250. Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte 38. 222. Sitzung. Anlage 4 zu Drucksache 3644. S. 13180–13226. S. 13188(A)– 13189(C). Ebd.: S. 13189 (A). Ebd.: S. 13189 (C). Vgl. Spengler, Albrecht: Abgrenzung zwischen dem GWB und den „Vorschriften für Unternehmen“ im EWG-Vertrag. In: WuW 8 (1958). 73–89 und 461–468. Vgl. zu dieser später nicht bestätigten Mindermeinung, dass es sich nur um Programmsätze handele, die beiden mit Nuancen ähnlichen rechtswissenschaftlichen Dissertationen aus dem Herbst 1958 (Knebel) und dem Frühjahr 1960 (Haslbeck): Knebel: Europäische Wettbewerbsregeln. S. 137f.; Haslbeck: Regelung des Wettbewerbs. S. 64–71. Vgl. zur sich durchsetzenden Gegenmeinung: Thiesing: Wettbewerbsregeln. S. 255–312. S. 260–264. Vgl. Knebel: Europäische Wettbewerbsregeln. S. 136; Haslbeck: Regelung des Wettbewerbs. S. 60.
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Diese Frage konnte auch nicht durch ein einhelliges Meinungsbild der Regierungen der Mitgliedstaaten geklärt werden. Die Position der niederländischen Regierung stand der der deutschen Regierung stark entgegen. Zwar vertrat sie nicht die Auffassung, dass die Artikel 85 und 86 nur Grundsätze wären, aber auf eine Parlamentsanfrage hin betonte der niederländische Wirtschaftsminister Zijlstra im Parlament, dass es sich bei der gebilligten Auslegung des Interimsausschusses vom Mai 1957 nur um eine „Deklaration“ handelte und „als ein Interpretationsbeschluss der Delegationsleiter“ zu werten war.120 Somit stand das niederländische Gesetz vom 5. Dezember 1957 nicht im Widerspruch zu der niederländischen Rechtauffassung, dass Artikel 85 bis zur Ausführungsverordnung „nicht von Rechts wegen wirken könnte“, ohne dass Mitgliedstaaten aktiv würden.121 Auch VerLoren van Themaat hatte 1957 – noch als Mitarbeiter im niederländischen Wirtschaftsministerium – die Meinung vertreten, dass in der Übergangszeit, bis zum Erlass von Verordnungen oder Richtlinien, die Artikel 85 und 86 kein unmittelbares und anwendbares Recht seien.122 Danach würden das Kartell- und Missbrauchsverbot ihre Wirkung jedoch sofort entfalten. Dies würde dann, im Gegensatz zur in Westdeutschland vertretenen Position, ohne jegliche Rückwirkung geschehen. Ähnlich hatte das niederländische Landgericht in Zutphen in erster Instanz am 11. Juli 1958 in einem Streit über die Vertragsverletzung bei einer Marktaufteilungs- und Quotenabsprache zwischen einem belgischen und einem niederländischen Unternehmen entschieden. Der Beklagte hatte sich unter Bezugnahme auf Artikel 85 des EWG-Vertrags von der Absprache losgesagt, was das Gericht mit der Begründung für unrechtmäßig erklärte, dass die Artikel 85 und 86 noch kein gültig anzuwendendes Recht seien.123 Diese viel beachtete Entscheidung machte deutlich, dass in den Niederlanden mit einer Anwendung dieser Artikel als gültiges Recht bis auf weiteres nicht zu rechnen war. E.4.b Festlegung einer gemeinsamen Rechtsauffassung Unabhängig davon hatte die Kommission ihre Rechtsauffassung mit dem ersten Tätigkeitsbericht öffentlich und klar zum Ausdruck gebracht. Ihr nächstes Ziel war, dass alle Mitgliedstaaten diesen Standpunkt teilen würden. Sie hatte der Einladung zur ersten Konferenz der Kartellsachverständigen der Mitgliedstaaten deshalb eine Denkschrift über die Rechtsnatur der Artikel 85 und 86 beigelegt.124 Auf dem Weg intensiver Erörterungen sollten die Grundlinien der Rechtsnatur 120 Materialien zum EWG-Kartellrecht. II. Der niederländische Wirtschaftsminister zu den Art. 85ff. In: WuW 9 (1959). S. 52f. S. 53. 121 Ebd. 122 Vgl. Haslbeck: Regelung des Wettbewerbs. S. 57. 123 Vgl. Urteil der Arrondissementsrechtbank zu Zupthen vom 11. Juli 1958. In: Betriebsberater (13) 1958. S. 932f.; Schumacher: Artikel 85 und 86 des EWG-Vertrags. S. 779–782. Auch ein späteres Urteil im März 1960 bestätigte diese Auslegung: Niederländisches Gericht zur Bedeutung des Art. 85ff. EWG-Vertrag. In: WuW 10. (1960). S. 773. 124 Vgl. HAEKB BAC71 1988/190. Aide-Mémoire zu Punkt 3 der Tagesordnung der Sachverständigenkonferenz am 18./19. 11. 1958. Blatt 0050–0054.
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und möglicher Abstimmungsbedarf aufgezeigt werden. Dies führte in der ersten und vor allem in der zweiten Kartellsachverständigenkonferenz Mitte Januar 1959 bald zu Ergebnissen.125 Wichtigster Punkt war die Übereinkunft, dass die Artikel 85 und 86 Rechtsvorschriften waren und nicht nur den Charakter von Grundsätzen hatten. Nach Ansicht der Kommission und der Regierungssachverständigen ging dies aus den Artikeln 88 bis 90 hervor, für deren Umsetzung durch die nationalen Behörden und die Kommission die Rechtsgültigkeit von Artikel 85 und 86 Voraussetzung war. Durch den Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten waren die Artikel des Vertrags Bestandteil der jeweiligen nationalen Rechtsordnung geworden. Sie hatten gemäß allgemeiner verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Bestimmungen Vorrang vor nationalen Vorschriften, ohne diese jedoch außer Kraft zu setzen. Unabhängig von einer genauen Definition des Wirkungszeitpunktes der Artikel 85 und 86 galten diese mit dem Gesamtvertrag gemäß Artikel 247, Absatz 2 ab dem 1. Januar 1958 als in Kraft getreten. Konsequenz dieser übereinstimmenden Rechtsauffassung war, dass die Artikel 85 und 86 in den Mitgliedstaaten direkt anwendbar waren und nicht der Bezugnahme auf eigene nationale Gesetze bedurften, was im Prinzip von allen bestätigt wurde.126 Keine Diskussionen gab es darüber, dass infolgedessen in der Zukunft zu erlassende Verordnungen verbindliches Gemeinschaftsrecht sein würden. Die Schlussfolgerung der Kommission, dass damit alle Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Kartellpolitik verpflichtet waren, rief jedoch weitere Diskussionen hervor. Einige Staaten forderten zunächst eine einheitliche Auslegung, andere wiesen auf die Einheit des Vertrags und die gemeinsame Anwendung von Artikel 37 (Handelsmonopole) und Artikel 91 (Dumpingpraktiken) hin oder forderten, den Grundsatz der Gegenseitigkeit in der Anwendung der Wettbewerbsvorschriften einzuhalten. Im Grundsatz billigten aber alle Staaten den Standpunkt der Kommission, die die einheitliche Vertragsanwendung zusagte.127 Keine Differenzen gab es hingegen bei der Feststellung der Kommission, dass die Mitgliedstaaten bis zum Inkrafttreten der nach Artikel 87 zu treffenden Vorschriften sowohl das Verfahren der Überprüfung von Kartellen und beherrschenden Stellungen als auch die Rechtsfolgen der Entscheidung von Unverträglichkeit eines Kartells oder einer beherrschenden Stellung mit dem Gemeinsamen Markt 125 Vgl. für den folgenden Abschnitt: ZAR CM2 1958/749. NKKS am 18. und 19. November 1958. 2074/58-D; HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0146–0171. Blatt 0150–0159; HAEKB CEAB3 476: Blatt 041–044. Stellungnahme der zweiten Kartellkonferenz der Regierungssachverständigen zur Rechtsnatur der Artikel 85ff. des Romvertrages, Brüssel, den 19. Januar 1959. GDIV, Direktion A, 224/59-D. 126 Darin, ob die Artikel 85ff. in jedem Mitgliedstaat direkt anwendbar waren, war man sich prinzipiell einig, wenngleich von italienischer Seite Vorbehalte hinsichtlich des Zeitpunkts dieser Wirkung angesichts des eventuell aufschiebenden Charakters von Teilen des Artikel 87 gemacht wurden. Die Analyse dieser Frage verschob man aber auf später. HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0152f. 127 Vgl. ebd.: Blatt 153f.
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nach eigenem Recht regeln müssten. Die Kommission mahnte, dass zu diesem Zweck in allen Mitgliedstaaten unverzüglich zuständige Behörden benannt werden müssten. Diese Mahnung wurde allgemein akzeptiert, hatte jedoch mehr deklaratorischen Charakter, da in einigen Hauptstädten entsprechende Handlungen weiter auf sich warten ließen. Strittig war auch die Frage, welche Behörden mit welchen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden sollten. Die Kommission schlug vor, dass nur Verwaltungsbehörden die notwendigen Entscheidungen treffen sollten, so wie es in den Niederlanden der Fall war. In Frankreich waren es faktisch auch die Verwaltungsbehörden, da die Gerichte keine Urteile fällten, ohne dass Behördenentscheidungen vorlagen. In der Bundesrepublik lag die Befugnis ebenfalls primär beim Bundeskartellamt, war aber ergänzt um Zuständigkeiten der Gerichte. Mit dem Appell auch an die drei anderen Staaten, ebenfalls Verwaltungsbehörden mit der Entscheidungskompetenz zu betrauen, hoffte die Kommission, unterschiedlichen Auslegungen durch nationale Gerichte zuvorzukommen. Durch regelmäßige Abstimmungen unter den Regierungssachverständigen sollte sich eine europaweite einheitliche Anwendungspraxis herausbilden, anstatt dass durch Gerichte mit unterschiedlichen Rechtstraditionen eine Vielzahl juristischer Auslegungen entständen. Von der deutschen, französischen und italienischen Seite wurden bei der zweiten Kartellsachverständigenkonferenz Vorbehalte hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen geäußert. Nach ausführlicher Diskussion einigten sich die Sachverständigen abschließend darauf, dass die Kompetenzübertragung an Verwaltungsbehörden erste Priorität hatte und unter dem Vorbehalt geschehen sollte, dass gerichtliche Nachprüfungen der Verwaltungsentscheidungen immer möglich wären. Gerichtliche Entscheidungen in Zivilprozessen – wo diese möglich wären – sollten hingegen nicht von den Entscheidungen der Verwaltungsbehörden abhängig sein. Die Ergebnisse der ersten und zweiten Kartellsachverständigenkonferenz leitete die Kommission den Regierungen der Mitgliedsländer Ende Januar 1959 zu, damit diese im Zweifelsfall den Auffassungen ihrer Sachverständigen widersprechen konnten, was jedoch nicht geschah. Die Kommission sah sich daraufhin in ihrer bisherigen Rechtsauffassung über die Rechtsnatur der Artikel 85 und 86 von den Mitgliedstaaten bestätigt und veröffentlichte die zentralen Ergebnisse in ihrem Zweiten Gesamtbericht im März 1959.128 Wichtigstes Ergebnis war somit, dass „in allen Mitgliedstaaten ein einheitliches Kartellrecht mit dem Inhalt der Artikel 85 und 86“ bestand.129 Die Kommission konnte weitere Maßnahmen darauf aufbauen, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten diese Artikel als Rechtsvorschriften ansahen und dementsprechend handeln würden. Zur Genugtuung der Kommission wurde diese Auffassung der Kommission und der Kartellsachverständigen sowohl in der Wirtschaft wie auch in der Wissenschaft 128 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. S. 6; Zweiter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, 31. März 1959. S. 84–87. 129 Zweiter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, 31. März 1959. S. 84.
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bestätigend aufgenommen.130 In der GDIV ging man davon aus, dass nun in der Wirtschaft einzelne Kartellverträge so geschlossen würden, dass sie nicht unter Artikel 85 fallen würden.131 Bei der Durchsetzung europäischer Wettbewerbsregeln war dies ein erster kleiner Erfolg. Auch wenn über die Notwendigkeit enger Zusammenarbeit bei den Vorbereitungen von Entscheidungen nach Artikel 88 „eine übereinstimmende Auffassung erzielt werden“ konnte, bedeutete dies noch nicht die übereinstimmende Anwendung der Wettbewerbsvorschriften.132 Abgesehen vom Problem fehlender Behörden in den drei erwähnten Ländern, hatte die Kommission bis dahin den Zeitpunkt der Wirksamkeit des Kartellverbotes offen gelassen. Ungeklärt blieb, ob diese Rechtsvorschriften bereits mit Inkrafttreten des Vertrags rückwirkend seit dem 1. Januar 1958 gültig und Kartelle zu diesem Zeitpunkt bereits nichtig waren, oder ob es dazu erst der Entscheidung einer zuständigen Behörde bedurfte.133 Somit blieb offen, ob die Entscheidungen der Behörden nach Artikel 88 bis zum Inkrafttreten der gemäß Artikel 87 erlassenen Vorschriften deklaratorisch oder konstitutiv wirken würden. Einig war man sich nur, dass die Kommission darüber einstweilen keine Entscheidung treffen bräuchte, sondern dass die nach Artikel 88 zuständigen Behörden hierfür zuständig waren. Abschließende Urteile in dieser Frage sollten der Rechtsprechung und in letzter Instanz dem Gerichtshof der Gemeinschaft überlassen werden.134 Praktiker aus Recht und Wirtschaft kritisierten daraufhin an dieser Übereinkunft, dass bis dahin keine Rechtssicherheit bestand. Allgemein hoffte man darauf, dass es möglichst bald zur Klärung des Zeitpunkts der Nichtigkeit von Kartellen vor dem Gerichtshof kam.135 Ein Urteil des Gerichtshofs der Gemeinschaft im Februar 1959 hatte die Diskussionen über die Direktgültigkeit und die Frage des Zeitpunkts der Nichtigkeit erneut aufkommen lassen. In einem Rechtsstreit zwischen dem deutschen Kohlegroßhandelsunternehmen Friedrich Stork & Co. und der Hohen Behörde der EGKS hatte der EuGH über den Zeitpunkt der Wirksamkeit des Kartellverbots des Artikels 65 EGKS-Vertrag geurteilt.136 Kern des Rechtsstreits war es, ob zwischen Inkrafttreten des EGKS-Vertrags am 25. Juli 1952 und der Errichtung des Gemeinsamen Marktes am 10. Februar 1952 gegründete Kartelle mit dem 130 Vgl. Deringer, Arved: Kartellvorschriften des EWG-Vertrags geltendes Recht? Stellungnahme der Regierungssachverständigen der Mitgliedstaaten. In: Betriebsberater 14 (1959). S. 93f. 131 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17. S. 6. 132 Zweiter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, 31. März 1959. S. 86. 133 Vgl. ebd.: S. 86f. 134 HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0157ff. 135 Vgl. Deringer: Kartellvorschriften des EWG-Vertrags. S. 94. 136 Vgl. Rechtssache 1/58. Friedrich Stork & Co. gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Urteil vom 4. Februar 1959. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes. Band V 1958–1959. Luxemburg 1959. S. 43–73.
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Kartellverbot des Artikel 65 EGKS-Vertrag unvereinbar waren. Das Problem bestand darin, dass die Hohe Behörde in diesem Zeitraum als allein zuständige Instanz aufgrund eines Übergangsabkommens keine Ausnahmegenehmigungen erteilen konnte. Der Gerichtshof entschied deshalb aufgrund von Paragraph 12, Absatz 2 des Übergangsabkommens zum EGKS-Vertrag, dass das Kartellverbot erst zu dem Zeitpunkt wirksam werden konnte, zu dem die Hohe Behörde die Möglichkeit hatte, Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Für vor Errichtung des Gemeinsamen Marktes gegründete Kartelle galt somit keine unmittelbare Nichtigkeit.137 Der Standpunkt der Kommission und der Kartellsachverständigen zur Direktgültigkeit stand nun erneut zur Debatte, da die EuGH-Entscheidung auf die Gültigkeit des Artikels 85 EWGV übertragen wurde. Weil die Artikel 65, Absatz 1 und 4 des EGKS-Vertrags und Artikel 85, Absatz 1 und 2 des EWG-Vertrags übereinstimmendes Kartellverbot mit Nichtigkeitsfolgen festlegten, wurde argumentiert, dass die Nichtigkeitswirkung von Artikel 85 noch nicht vorliegen könne, da in einigen Ländern keine Voraussetzungen für Ausnahmegenehmigungen vorhanden waren.138 Die Kommission sah sich genötigt klarzustellen, dass dieses Urteil nicht auf die Rechtsnatur des Artikels 85 EWG-Vertrag anwendbar sei, da EWG-Vertrag und EGKS-Vertrag „in wesentlichen Punkten“ unterschiedlich waren.139 Zudem gab für den EWG-Vertrag keine der Übergangsbestimmung für den EGKS-Vertrag vergleichbare Rechtsnorm, auf die der EuGH sein Urteil gestützt hatte. Ferner galten unterschiedliche Zuständigkeitsregelungen für die Anwendung der Wettbewerbsartikel im EGKS-Vertrag und im EWG-Vertrag. Während der EGKS-Vertrag der Hohen Behörde die ausschließliche Zuständigkeit für kartellrechtliche Verstöße und mögliche Ausnahmegenehmigungen zuwies, waren im EWG-Vertrag bis zum Inkrafttreten von Regelungen gemäß Artikel 87 die nationalen Kartellbehörden zuständig. Die Übertragung des EuGHUrteils auf Artikel 85 des EWG-Vertrags war somit nicht zulässig. Die Tatsache, dass Belgien, Italien und Luxemburg noch keine zuständigen Behörden eingerichtet hatten, stellte nach Auffassung der Kommission keinen Grund dafür dar, an der Rechtsnatur des Artikels 85 als direkt wirksames Recht zu rütteln.140 Zwar bestritt keiner der Mitgliedstaaten diese Interpretation,141 jedoch war einmal mehr 137 Vgl. ebd.: S. 49. 138 Sowohl Arved Deringer als auch der BDI griffen diese Anfechtung auf. Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/Kommission(60) 17.S. 6. Vgl. auch Roellecke, Gerd: Ruhrkohlenverkaufskartell mit Montan-Union-Vertrag vereinbar. In: Betriebsberater 14 (1959). S. 176. 139 HAEKB CEAB3 4761. Blatt 025–031. Bemerkungen zum Urteil des Gerichtshofes der Gemeinschaft. GDIV/A Brüssel, 11.6.1959. S. 5. 140 Vgl. ebd.: S. 6f. 141 Die Hypothese, dass die „Väter“ des EWG-Vertrags in Kenntnis dieses Falles im EWG-Vertrag andere Zuständigkeits- und Übergangsregeln aufnahmen, muss wohl verneint werden, da dieser erst am 4. Januar 1958 nach der Entscheidung der Hohen Behörde am 27. November 1957 vor den EuGH gebracht worden war. Gleichwohl wird in der Hohen Behörde, die in den Jahren 1953, 1956 und 1957 Entscheidungen getroffen hatte, die ursächlich für die Rechts-
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deutlich geworden, dass eine gemeinsame Auslegung der Wettbewerbsartikel durch Kommission und Mitgliedstaaten ebenso notwendig war wie die Klärung der nationalen Zuständigkeiten und der weiteren Verfahrensfragen. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Anwendung der Artikel 85 und 86 war die Klärung der Frage, ab wann der Gemeinsame Markt bestand, da sich beide Verbote auf die Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt bezogen. Nur wenn dieser existierte konnte das Handeln von Wirtschaftssubjekten Gegenstand der Artikel 85 und 86 werden. Die Kommission hoffte im November 1958, diese Frage trotz ihrer weitreichenden Folgen aus dem Vertrag heraus klären zu können, ohne eine Grundsatzdebatte auszulösen.142 Bei der zweiten Kartellsachverständigenkonferenz präsentierte die niederländische Delegation drei mögliche Ansichten über die Existenz des Gemeinsamen Marktes. Es musste Einigkeit darüber gefunden werden, ob der Gemeinsame Markt seit dem 1. Januar 1958 bestand, ob er zwar bestand, aber nur schrittweise verwirklicht würde oder ob der Gemeinsame Markt erst in 12 oder 15 Jahren nach der Übergangszeit gemäß Artikel 8 bestehen würde. Die Kommission ging auf Grundlage von Artikel 91, Absatz 1, in dem vom Gemeinsamen Markt in der Übergangszeit die Rede war, von der Existenz des Gemeinsamen Marktes seit 1. Januar 1958 aus. Nach Widerspruch der italienischen Delegation143 gestand die Kommission bei der dritten Kartellsachverständigenkonferenz Mitte April 1959 zwar zu, dass bei der Anwendung von Rechtsvorschriften unter Bezugnahme auf den Begriff „Gemeinsamer Markt“ der jeweilige Entwicklungsstand des Gemeinsamen Marktes berücksichtigt werden müsste, unterstrich aber noch einmal ihre grundsätzliche Auffassung. Danach war es nicht im Sinne des Vertrags, wenn einerseits gegen staatliche Maßnahmen, „die Märkte trennen und den Wettbewerb verfälschen“, vorgegangen würde, andererseits Unternehmen in der Übergangsphase nicht daran gehindert werden könnten, die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes durch Kartelle, Absprachen und die Ausnutzung von Monopolstellungen zu behindern. Die Kommission unterstrich ihre Argumentation mit dem Hinweis auf die Delegationsleiter der Konferenz von Messina, die verbindliche, für Unternehmen geltende Regeln gefordert hatten, die die „Aufteilung der Märkte“ durch Unternehmen „an [...] Stelle der bisherigen Abschließung“ verhindern sollten.144 Letztlich stellten die Sachverständigen der Regierungen die Auffassung der
sache Friedrich Stork & Co. gegen Hohe Behörde wurden, ein Problembewusstsein vorhanden gewesen sein. Vgl. Rechtssache 1/58. EuGH-Urteil vom 4. Februar 1959. S. 53ff. 142 Vgl. HAEKB BAC71 1988/190. Blatt 0050–0054. Aide-Mémoire zu Punkt 3 der Tagesordnung der Sachverständigenkonferenz am 18./19. 11. 1958. Blatt 0054. 143 Vgl. HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0146–0171. Blatt 0159f. 144 Bericht der Delegationsführer der Konferenz von Messina. S. 18-B. Zitiert nach: HAEKB CEAB3 476. Blatt 045–048. Arbeitsdokument zum Begriff der Worte „Gemeinsamer Markt“ [...]. Brüssel, den 25. März 1959, 1261/1/59-D. Blatt 046.
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Kommission über die Existenz des Gemeinsamen Marktes seit dem 1. Januar 1958 nicht mehr in Frage.145 Zur vollständigen Auslegung der Wettbewerbsartikel stellte die Kommission bei der vierten und fünften Kartellsachverständigenkonferenz die rechtliche Bedeutung der Aufzählungen in den Artikeln 85, Absatz 1 und 86 zur Diskussion.146 Schnell war dahingehend Einigkeit erzielt, dass die Aufzählung des Artikels 85, Absatz 1 nur Relevanz für die Frage besaß, ob durch bestimmte Absprachen und Verhaltensweisen der Unternehmen „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ bezweckt oder bewirkt würde. Ebenso war unstrittig, dass sich die Aufzählung in Artikel 86 nur auf den Begriff des Missbrauchs marktbeherrschender Stellung bezog.147 Hingegen stieß die Auffassung der Kommission, dass die Aufzählungen in den Artikeln 85, Absatz 1 und 86 Basis für Vermutungstatbestände seien, auf Protest. Auch genauere Unterscheidungen möglicher Vermutungstatbestände änderten dies nicht.148 Alle Delegationen widersprachen deutlich der Auslegung der Aufzählungen als unwiderlegliche Vermutungstatbestände. Dies hätte zur Folge gehabt, dass die aufgezählten Absprachen des Artikels 86, Absatz 1 per Definition ohne Beweispflicht einer Behörde unter das Kartellverbot gefallen wären. Belgier, Luxemburger und Deutsche widersprachen sogar grundsätzlich jeder Interpretation, dass es sich um Vermutungstatbestände handelte. Dem widersprach die niederländische Delegation nicht, empfahl aber, die rein theoretische Erörterung auszusetzen und stattdessen die Klärung später anhand von konkreten Anwendungsfällen fortzusetzen. Aus pragmatischen Gründen war nur die französische Delegation bereit, eine gewöhnliche, sprich widerlegbare Vermutung zuzulassen. Sie erkannte darin die Möglichkeit, die konkrete Arbeit der zuständigen Behörden zu erleichtern und dadurch den Vertragsvorschriften am ehesten gerecht zu werden. 149 VerLoren van Themaat brach die Diskussion hierüber ab, da auch er weitere theoretische Erörterungen für wenig fruchtbar hielt, hob jedoch gleichzeitig hervor, dass die Kommission nie von einer unwiderleglichen Vermutung ausgegangen war.150 Im Ergebnis war dies ein Rückzug der Kommission. Nur die Franzosen konnten sich 145 Vgl. ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 28; HAEKB CEAB3 476. Blatt 045–048. Arbeitsdokument zum Begriff der Worte „Gemeinsamer Markt“ [...]. Brüssel, den 25. März 1959, 1261/1/59-D. 146 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 049–052. Arbeitsunterlage über die Bedeutung der Aufzählungen in Art. 85 Abs. 1 und in Art. 86. Brüssel, den 11. Juni 1959. IV/2898/59/-D. 147 Vgl. HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0109; HAEKB CEAB3 476. Blatt 049–052.. Arbeitsunterlage über die Bedeutung der Aufzählungen in Art. 85 Abs. 1 und in Art. 86. Brüssel, den 11. Juni 1959. IV/2898/59/-D Blatt 049ff. 148 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 053–056. Ergänzung des Arbeitsdokumentes über die Bedeutung der Aufzählungen in Art. 85 Abs. 1 und in Art. 86“. Brüssel, den 11. September 1959. IV/2898/59-D (Addendum); HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0109. 149 Vgl. HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0109. 150 Vgl. ebd.: Blatt 0110f.
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vorstellen, die Nachweispflicht der zuständigen Behörden durch Vermutungstatbestände potentiell zu entlasten. Dahinter stand auch die französische Wettbewerbsrechtsauffassung, die stärker vom Missbrauchsprinzip geprägt war. Aus rechtsstaatlichen Erwägungen waren hingegen die anderen Regierungen nicht dazu bereit, die Behörden von der uneingeschränkten Beweispflicht in jedem Einzelfall zu entlasten. Sie waren überzeugt, dass der Vertrag keine andere Regelung zulassen würde.151 Um das Missbrauchsverbot des Artikels 86 anwenden zu können, sollte nach Ansicht der GDIV der Terminus „beherrschende Stellung“ gemeinsam mit den Sachverständigen genauer definiert werden. Da die von der GDIV ausgearbeiteten Standpunkte kaum Anlass zur Diskussion gaben, kamen Mitgliedstaaten und Kommission im Juni und Oktober 1959 überein, dass Artikel 85 und 86 ein einheitliches Instrument der Wettbewerbspolitik bildeten.152 Demnach waren die zuständigen Behörden verpflichtet, das Kartellverbot des Artikels 85 durchzusetzen, um den Wettbewerb wiederherzustellen. Sie hatten auch den Auftrag, missbräuchliche Ausnutzung von marktbeherrschenden Stellungen gemäß Artikel 86 zu verhindern, ohne diese jedoch selbst beseitigen zu können. Für die Anwendung des Artikels 86 war dabei unerheblich, wo der Sitz eines Unternehmens war. Relevant war allein der Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung mit Wirkung auf dem Gemeinsamen Markt und damit die Behinderung des zwischenstaatlichen Handels. Als Kennzeichen der beherrschenden Stellung sollte „das Fehlen einer wesentlichen Konkurrenz“ gelten. Hierzu sollten die Märkte bestimmter Waren und Warengruppen, unter Berücksichtigung naher Substitute untersucht werden. Im Einzelfall wollte man sich an den in den jeweiligen Branchen üblichen Einschätzungen orientieren. Würde festgestellt, dass ein Unternehmen hinsichtlich einer Ware oder Warengruppe unabhängig vom Verhalten seiner Konkurrenten und seiner Abnehmer über sein eigenes Marktverhalten entscheiden oder ohne Verluste übermäßige Forderungen an seine Abnehmer stellen könnte, einigten sich die Experten darauf, davon auszugehen, dass dieses Unternehmen in seiner wirtschaftlichen Freiheit nicht durch Wettbewerb eingeschränkt wäre. Dann sollte von einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt für diese Ware oder Warengruppe ausgegangen werden. Als Teile des Gemeinsamen Marktes sollten solche Teile betrachtet werden, die eine gewisse Geschlossenheit aufwiesen. Bei dieser Prüfung sollten mehrere Faktoren berücksichtig werden. Als quantitative Kriterien einigte man sich auf die Anzahl und Größe der Betriebe im Verhältnis zum Gesamtsektor, deren wirtschaftliche Entwicklung, die Absatzentwicklung, die Zahl der Arbeitnehmer, die Kapazitäten 151 HAEKB CEAB3 476. Blatt 053–056. Ergänzung des Arbeitsdokumentes über die Bedeutung der Aufzählungen in Art. 85 Abs. 1 und in Art. 86“. Brüssel, den 11. September 1959. IV/2898/59-D (Addendum). Blatt 056. 152 Vgl. für die folgenden Ausführungen: HAEKB CEAB3 478. Arbeitsdokument zum Begriff beherrschende Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder einem wesentlichen Teil desselben im Zusammenhang mit dem Arbeitsprogramm. IV/2923/59-D. Blatt 057–063; HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0112f.
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und Investitionen, die Preisentwicklung und deren Parallelitäten bei anderen Unternehmen, die Elastizität von Angebot und Nachfrage und der Anteil von Ausund Einfuhr der Ware und die Anteile des jeweiligen Unternehmens daran. Zusätzlich sollten Kriterien wie Marktzutrittsmöglichkeiten, der technische Fortschritt in der Branche, Besitz von Patenten und Anwendung von aggressiven Methoden zur Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz berücksichtigt werden. Insgesamt bestand bei diesen grundlegenden Festlegungen für den Artikel 86 hohes Einvernehmen zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten, da es nicht um Kompetenzen und Zuständigkeiten sondern um theoretisch-technische Verständigungen zwischen Experten ging. Wie später dargelegt wird, stieß zu diesem Zeitpunkt allein das von der Kommission angestrebte Projekt einer Dokumentation über marktbeherrschende Unternehmen auf Widerspruch. E.4.c Auslegung des Artikels 89 – Versuch der Kompetenzausdehnung durch Vertragsauslegung Für die weitere Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten war es erforderlich, Einvernehmen über Inhalt und Bedeutung des Artikels 89 zu erzielen. Bei der dritten Kartellsachverständigenkonferenz am 14. und 15. April 1959 konnte man sich lediglich auf einige Punkte einigen, bei einzelnen kam es hingegen zu Kompetenzkonflikten zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten.153 Auf Antrag der Italiener wurde zunächst die Interpretation des Ermessensspielraums, der durch Artikel 89, Absatz 1 der Kommission auferlegten Tätigkeitspflicht so eng formuliert, dass fortan kein Zweifel mehr an dieser Pflicht bestand. Diese umfasste sowohl die Überprüfung der Entscheidungen von nationalen Behörden im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Artikeln 85 und 86 als auch, ob sich Unternehmen mit diesen Grundsätzen im Einklang verhielten. Einigkeit bestand auch darüber, dass die Kommission durch Artikel 89, Absatz 1, Satz 2 dazu verpflichtet war, auf Antrag eines Mitgliedstaats Untersuchungen vorzunehmen. Ebenso musste die Kommission den nationalen Behörden bei hinreichend begründetem Verdacht auf Verstöße gegen Artikel 85 oder 86 von Unternehmen Gelegenheit zur Stellungnahme über deren Anwendung der europäischen Wettbewerbsartikel geben. Jedoch kam es über das genaue Verfahren in diesen Fällen zu Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten der Kommission. Die Kommission war der Meinung, dass sie zwar berechtigt, jedoch nicht verpflichtet war, Amtshilfe der zuständigen nationalen Behörden in Anspruch zu nehmen und dass sie somit ermächtigt war, eigene unabhängige Untersuchungen auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten anzustellen. Dem widersprachen alle Mitgliedstaaten vehement. Nach ihrer Auffassung war es nur nationalen Behörden erlaubt, nach einer Anfrage um Amtshilfe von der Kommission Untersuchungen anzustellen. Hierbei war unter 153 Zu den folgenden Ausführungen vgl. ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 7–25; HAEKB CEAB3 476. Arbeitsdokument zu Art. 89 des Vertrags. Brüssel, den 25. März 1959. 1257/59-D. Blatt 069–075.
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den Mitgliedstaaten unstrittig, dass die Pflicht zur Amtshilfe auf Gegenseitigkeit beruhte sowie Ermittlungen und Untersuchungen einschloss. Jedoch erwarteten die Sachverständigen der Regierungen eine direkte Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Behörden. Eine autonome Untersuchungsbefugnis konnte die Kommission für sich gegen die Mitgliedstaaten nicht durchsetzten. Die beabsichtigte Ausdehnung ihrer Befugnisse auf dem Weg der Auslegung erreichte sie auf diesem Weg nicht.154 Ebenso widerstanden die Mitgliedstaaten dem Ansinnen der Kommission, im Rahmen der Untersuchungen eigenständig betroffene Unternehmen befragen zu können. Sie stimmten der Notwendigkeit einer Anhörung zu, waren aber nicht bereit, der Kommission das Recht einzuräumen, diese autonom auszuführen. Stattdessen musste die Kommission die Mehrheitsmeinung der Mitgliedstaaten akzeptieren und die nationalen Behörden künftig an Anhörungen beteiligen. Direkter Kontakt mit Unternehmen, ohne dass nationale Behörden davon in Kenntnis gesetzt wurden, wurde den Mitarbeitern der Kommission untersagt.155 Jene drei Staaten, die Gesetze und zuständige Behörden hatten, widersprachen auch dem Ansinnen der Kommission scharf, die Empfehlungen zur Beendigung von wettbewerbschädigendem Verhalten gemäß Artikel 89, Absatz 1, Satz 3 nicht nur an die nationalen Behörden, sondern auch an die Unternehmen zu richten. Jedoch war die Kommission wenig geneigt, dies zu akzeptieren. Dementsprechend fasste VerLoren van Themaat die Diskussion dergestalt zusammen, dass „nach Ansicht einzelner Delegationen“ die Kommissionsansicht „der rechtlichen Grundlage entbehre.“156 In einem späteren Dossier der Kommission hieß es sogar, dass nur eine Minderheit der Regierungen Artikel 89 dahingehend auslegen würde, dass die Kommission nicht ermächtigt sei, ihre Vorschläge direkt auch an Unternehmen zu richten.157 Auch wenn diese Vorschläge der Kommission zur Beendigung wettbewerbswidrigen Verhaltens nur Empfehlungen im Sinne von Artikel 189 und nicht verbindlich waren und keiner Prüfbarkeit des Gerichtshofs unterlagen, traten bei dieser Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen nationaler und suprantionaler Ebene ernsthafte Konflikte zwischen den ‚Herren des Vertrags‘ und der ‚Hüterin des Vertrags‘ auf. Dies war ebenso der Fall bei dem Plan der Kommission, betroffene Unternehmen vor der formalrechtlichen Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen den Vertrag die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben. Die Staaten stimmten dem nur unter dem Vorbehalt zu, dass sie darüber informiert würden. Vor allem auf Forderung der französischen, italienischen und belgischen Kartellsachverständigen einigte man sich, die
154 Vgl. ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 12–16. 155 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 036–040. Dossier der GD Wettbewerb „Die wesentlichen Ergebnisse der bisherigen Kartellkonferenzen“ Blatt 38. 156 ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 18. 157 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 036–040. Dossier der GD Wettbewerb „Die wesentlichen Ergebnisse der bisherigen Kartellkonferenzen“ Blatt 38.
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nationalen Behörden auch hierbei zu beteiligen. Einmal mehr wurde das Recht der Kommission zurückgewiesen, sich direkt an die Unternehmen zu wenden.158 Weitere Auslegungen blieben unumstritten, zumal die Kommission auch nicht weiter versuchte, den Vertrag extensiv zugunsten ihrer Kompetenzen auszulegen. Nur Mitgliedstaaten konnten Adressaten der Ermächtigung durch die Kommission werden, um gemäß Artikel 89, Absatz 2, Satz 2 Maßnahmen gegen festgestellte Wettbewerbsbeschränkungen zu ergreifen. Art und Weise dieser Abhilfemaßnahmen sollten allein im Ermessensspielraum der Kommission liegen. Diese sagte zu, keine Ermächtigungen ohne enge Absprache mit den beteiligten Mitgliedstaaten zu erteilen.159 Diese Regelung war zweifelsfrei, da sie durch die Zuweisung der Schlichtungskompetenz an die Kommission alle Vertragspartner vor gegenseitiger Übervorteilung schützte. Zum Abschluss der Beratungen über die Auslegung der Artikel dankte VerLoren van Themaat zwar den Vertretern der Mitgliedstaaten für ihre Mitarbeit, doch es wurde deutlich, dass die Vertreter der Kommission nicht mit allen Ergebnissen zufrieden waren. Nachdem auf dieser untersten Ebene Verständigungen erzielt worden waren und die Kommission in vielen Fällen für eine einheitliche Auslegung der Wettbewerbsartikel gesorgt hatte, plante man in der GDIV, die Kompromisse gemeinsam mit strittigen Punkten durch ein entscheidungsbefugtes Organ der EWG abstimmen zu lassen. VerLoren van Themaat kündigte an, dem Gremium der Kommissare die Anmerkungen der Staaten über die zentralen Auslegungsfragen vorzulegen. Diese sollten dann „aufgrund der umfassenden Kenntnisse der verschiedenen Ansichten“ eine endgültige Stellungnahme beschließen.160 Es war deutlich geworden, dass die Vertreter der Regierungen empfindlich auf jegliches Ansinnen der Kommission reagierten, Zuständigkeiten an sich zu ziehen, die ihr nicht durch den Vertrag eindeutig zugewiesen waren. Unabhängig von juristischen Problemen bestand noch kein Klima vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission. Vielmehr begegnete man sich mit verhaltener Skepsis. Dies verwundert weniger, wenn man berücksichtigt, dass in den Kartellsachverständigenkonferenzen in den meisten Fällen genau jene nationalen Beamten der GDIV gegenübersaßen, über deren eigene nationale Kompetenz diskutiert wurde und die ihre nationale Hoheit auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik schwinden sahen. Zahlreiche dieser Zuständigkeitsstreitigkeiten waren das Ergebnis der im Vertrag festgeschriebenen Doppelzuständigkeit in der Übergangsphase. Es blieb abzuwarten, welchen Verordnungsoder Richtlinienvorschlag die Kommission dem Rat gemäß Artikel 87 vorlegen würde, um diesem Zustand ein Ende zu bereiten und langfristig drohende Kompetenzstreitigkeiten zu verhindern. Bis dahin musste aber konkrete Wettbewerbspolitik auf Basis der gemeinsamen Vertragsauslegung realisiert werden. 158 Vgl. ebd.; HAEKB CEAB3 476. Blatt 069–075. Arbeitsdokument zu Art. 89 des Vertrags. Brüssel, den 25. März 1959. 1257/59-D. Blatt 074; ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 23f. 159 Vgl. ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 24f. 160 Ebd.: S. 25.
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E.5 ERSTE ANSÄTZE GEMEINSCHAFTLICHER WETTBEWERBSPOLITIK E.5.a Die Arbeitsmethode und das Arbeitsprogramm Trotz der unterschiedlichen Rechtsauffassungen der Regierungen und der Kommission entwickelten sich die Kartellsachverständigenkonferenzen mit der Zeit zu einem konstruktiven Gremium. Der im ersten Jahr im Vordergrund stehende unverbindliche und manchmal verhaltene Informationsaustausch und die gemeinsame Auslegung des Vertrags wichen zunehmend Vorbesprechungen und der gemeinsamen Abstimmung nationalstaatlichen Handelns. Als nach einem knappen Jahr bei der fünften Konferenz im Oktober 1959 zur Diskussion stand, ob die nationalen Behörden bereit seien, konkrete Fälle im Kreis der Sachverständigen vor der Entscheidung über Ausnahmegenehmigungen vom Kartellverbot für Unternehmensvereinbarungen zu erörtern, war die belgische Seite die Frage nach dem Charakter der Sachverständigenkonferenz auf. Keine der Delegationen widersprach daraufhin der Feststellung VerLoren van Themaats, dass die Kartellsachverständigenkonferenzen nur informelle Sitzungen ohne Entscheidungsbefugnis waren. Von Seiten der Kommission hoffte man, dass die Erörterungen und Beschlüsse der Kartellsachverständigen von den nationalen Behörden berücksichtigt würden. Entscheidungen nach Artikel 88 konnten jedoch nur die nationalen Regierungen oder Behörden treffen, die zu diesem Zeitpunkt dafür die Verantwortung trugen.161 Während der ersten drei Kartellsachverständigenkonferenzen bis Mitte April 1959 hatte man sich auf Grundzüge über die Zusammenarbeit der nationalen Behörden untereinander und mit der GDIV geeinigt. Die erste Grundlage, um voneinander abweichende Auslegungen angesichts der verteilten Zuständigkeiten durch Artikel 88 und 89 zwischen den Staaten und der Kommission zu verhindern, war die gemeinsame Auslegung der Wettbewerbsartikel gewesen. Bereits bei der zweiten Kartellsachverständigenkonferenz im Januar 1959 versuchte die Kommission, den zweiten Schritt zu machen und bestimmte Fälle festzulegen, bei denen die nationalen Behörden und die Kommission sich abstimmen sollten. Bei innerstaatlichen Kartellen und Absprachen verschiedener Staatsangehöriger, die gegen Artikel 85 verstießen, und bei Unternehmenspraktiken, die nicht im Einklang mit Artikel 86 ständen, erachtete sie gemeinsame Beratungen für unerlässlich. Die Delegationen Deutschlands und Frankreichs erhoben jedoch Widerspruch gegen den amtlichen Austausch über konkrete, der Kommission vorliegende Fälle und stimmten nur halbamtlichen Beratungen zu Studienzwecken zu, die die Entscheidung in keiner Art und Weise präjudizieren würden. Die beiden Pole der anschließenden Diskussion vertraten die Franzosen und die Niederländer. Erstere hatten eine klare Präferenzenhierarchie und bevorzugten zunächst rein 161 Vgl. HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0106.
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theoretische Untersuchungen und sodann die Erörterung von „Schulfällen“. Erst im Anschluss daran konnten sie sich die gemeinsame Untersuchung konkreter Fälle vorstellen. Die Niederländer hingegen drängten auf eine beschleunigte Politik und bevorzugten deshalb die baldige Untersuchung praktischer Fälle. Sie schlugen vor, theoretische Untersuchungen später vorzunehmen. Der Hinweis des anwesenden Beobachters der Hohen Behörde der EGKS und Leiters der dortigen Abteilung ‚Kartelle und Konzentration‘, Richard Hamburger, dass die EGKS mit „Musterfällen“ gute Erfahrungen gemacht hatte, ebnete schließlich den Weg für ein gemischtes Verfahren. Mit Nuancen sprachen sich die anderen vier Delegationen für die Prüfung von Schulbeispielen und, mit Ausnahme der Italiener, auch für die gleichzeitige Bearbeitung konkreter Einzelfälle aus, um auf der Grundlage von beiden die gemeinsame Auslegung der Artikel 85 und 86 voran zu treiben. Diese parallele Analyse von bestimmten Falltypen mit Erkenntnisgewinn für eine Vielzahl von Fällen und von konkreten Fällen wurde beschlossen.162 Die Mehrheit der Sachverständigen stimmte der Kommission darin zu, dass die gemeinsame europäische Kartellpolitik nur durch praktische Zusammenarbeit entstehen konnte. Gegen die französischen Präferenzen hielten die Sachverständigen fest, dass „jede rein theoretische Unterhaltung über Prinzipien, die der Kartellgesetzgebung zugrunde liegen, [...] zu vermeiden“ seien, da Diskussionen über Prinzipien und Methoden der Kartell- und Wettbewerbspolitik immer wieder schnell in die Sackgasse geraten waren.163 Theoretische Fragen, die sich bei der Auslegung von Artikel 85 und 86 ergeben hatten, sollten nun anhand von Schulfälle geklärt werden. Aus konkreten Fällen, die die Mitgliedstaaten vorlegen mussten, sollte die Linie der europäischen Wettbewerbspolitik gemeinsam erarbeitet werden. Um weitere Erfahrungswerte über die Entscheidungspraxis in den Mitgliedstaaten zu bekommen, sollten auch nationale, wettbewerbspolitisch relevante Gerichtsurteile mit Begründungen untereinander ausgetauscht werden. Die Sachverständigen beschlossen, dass eine kleine spezialisierte Arbeitsgruppe, bestehend aus jeweils einem Vertreter interessierter Delegationen, Musterfälle und konkrete Fälle für die Kartellsachverständigenkonferenz vorbereiten sollte.164 Nachdem die Methode beschlossen war, musste man sich auf das Arbeitsprogramm verständigen. Zunächst sollten sowohl Kartelle als auch beherrschende Marktstellungen überprüft werden. Die Beobachtung öffentlicher Unternehmen und Monopole gemäß Artikel 90 wurde als wenig dringlich hintangestellt. Gegen den Plan der Kommission, sich zunächst aktiv den Kartellen zuzuwenden und hinsichtlich des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen auf Anzeigen aus der Wirtschaft zu warten, protestierten die Niederländer und die Belgier. Vor allem erstere befürchteten dadurch die Benachteiligung der „erst kürzlich industrialisierten Staaten“ und deren Wirtschaft, die weniger stark durch Konzentra162 Vgl. HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0160–0163. 163 HAEKB CEAB3 476. Blatt 090–092. Arbeitsdokument betr. Die Arbeitsmethode und das Arbeitsprogramm, Brüssel, den 25. März 1959. IV/1458/59-D. Blatt 090. 164 Vgl. ebd.: Blatt 090f.
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tion als durch Kartelle geprägt war.165 Die Franzosen unterstützten diese Position, indem sie sich für ein gleichmäßiges Vorgehen gegen Kartelle und Machtmissbrauch aussprachen. Sie zeigten Verständnis für die niederländische Position, da sie inzwischen erkannt hatten, dass viele ihrer Unternehmen kleiner waren als die jeweilige, vor allem deutsche Konkurrenz auf dem Gemeinsamen Markt.166 VerLoren van Themaat, der auf die unterschiedliche Behandlung von Absprachen und den Mißbrauch von Marktmacht im EWG-Vertrag verwies, konnte den Beschluss der Mehrheit der Delegationen nicht verhindern, keine zeitlichen Staffelung bei der Untersuchung der in den Artikeln 85 und 86 niedergelegten Wettbewerbsbeschränkungen vorzunehmen.167 E.5.b Informationsbeschaffung der Kommission durch eine Kartelldokumentation Wollte man sich nicht auf Anzeigen beschränken, waren umfangreiche Marktinformationen die Grundlage jeder Kartellpolitik. Die GDIV hatte die Absicht, ihr diesbezüglich großes Defizit durch Rückgriff auf die bei den Staaten vorhandenen Kenntnisse über Kartelle und marktbeherrschende Unternehmen abzubauen. Sie wollte getrennte Dokumentationen für internationale und nationale Kartelle anlegen und zunächst mit internationalen Preis- und Marktaufteilungskartellen beginnen. Beide Kartellarten neigten dazu, die positiven Wirkungen des staatlichen Zollabbaus durch private wettbewerbsbehindernde Praktiken aufzuheben. Hingegen konnten nach allgemeiner Einschätzung produktionsbeschränkende internationale Kartelle, im Gegensatz zum Montanbereich der EGKS, vorerst ohne großen Schaden vernachlässigt werden. Darüber hinaus sollten alle neu entstehenden internationalen Kartelle dokumentiert werden, die mindestens 50 Prozent des Imports oder Exports eines Produkts zwischen zwei Mitgliedstaaten bestimmten. Bei diesem Kriterium handelte es sich unbestritten um eine rein praktische, nicht um eine wirtschaftstheoretische oder juristische Grenze.168 Die GDIV planten, dass zum Aufbau dieser Dokumentationen die Mitgliedstaaten Material sammeln und der Kommission zur Verfügung stellen sollten. Von der GDIV sollte die Dokumentationen anschließend zusammengestellt und dann unter den Mitgliedstaaten bekannt gemacht werden. Gemeinsam mit den Sachverständigen sollten dann mögliche Auffälligkeiten oder potentielle Fälle von Verstößen gegen Artikel 85 beurteilt werden, um im Zweifel zusammen mit den Mitgliedstaaten Untersuchungen einzuleiten. Informationen über rein nationale Kartelle sollten vorerst auch nur national dokumentiert werden, wenn sie mindestens 50 Prozent des Im- oder Exports eines Gutes betrafen, durch Diskriminierung von Einkäufern oder Verkäufern aufgrund von Nationalität auffielen oder die freie Niederlassung ausländischer Unternehmen einschränkten. Abgeschlossene natio165 HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0165. 166 Vgl. Warlouzet: La france et la mise en place. S. 180. 167 Vgl. HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0164ff. 168 Vgl. ebd.: Blatt 0166ff.
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nale Dokumentationen sollten nach Weiterleitung an die Kommission Gegenstand gemeinsamer Untersuchungen von Kommission und Mitgliedstaat werden.169 Diesen Plänen der GDIV stimmten die Sachverständigen der Regierungen im Prinzip zu, allerdings deuteten sich bei der Informationssammlung erste Hindernisse und Widerstände an. Die Niederländer erwarteten die tendenzielle Schieflage der Dokumentation, da sie durch die Anmeldepflicht für Kartelle in den Niederlanden über umfangreicheres Material verfügten als andere Regierungen, weshalb sie eine Diskriminierung der niederländischen Wirtschaft befürchteten. VerLoren van Themaat versuchte seine Landsleute zu beschwichtigen und verwies darauf, dass an einem Kartell, das unter Artikel 85 fallen würde, definitionsgemäß mindestens Unternehmen aus zwei Mitgliedstaaten beteiligt sein müssten. Die Methode der EGKS, bei der in einer kleinen Dokumentationsstelle zwei Mitarbeiter auf Preisabsprachen achteten, lehnte die GDIV ab. Da der Gemeinsame Markt der EWG eine größere Warenmenge aufwies als der Montanmarkt und anders als bei der EGKS keine Preislisten vorhanden waren, war eine solche Methode nicht realisierbar. Zudem bestanden alle Mitgliedstaaten darauf, die Auswertung der Dokumentation gemeinsam vorzunehmen, so dass gesichert war, dass denkbare Einseitigkeit der Dokumentation oder die Benachteilung einzelner nationaler Märkte nicht eintreten würde.170 Dennoch kam der Aufbau der Dokumentation nur zögerlich in Gang. Wie auch bei den Zusagen, konkrete Einzelfälle an die Kommission zu leiten, scheiterte der schnelle Aufbau nicht an der Zustimmung der Sachverständigen, sondern an der Umsetzung in den Nationalstaaten. Im Januar 1959 zwischen den Sachverständigen vereinbart, traten in den Staaten bald Schwierigkeiten bei der Informationszusammenstellung auf. Italiener, Luxemburger und Belgier sahen sich aufgrund fehlender gesetzlicher Grundlagen nicht dazu in der Lage, die erforderlichen Informationen zusammenzustellen. Als die Belgier Mitte April 1959 bei einer der folgenden Konferenzen von den Problemen der Länder ohne Kartellmeldepflicht berichteten, zeigten sich Grenzen der vertraglich vereinbarten Kooperation. Die Niederländer sahen ihre Befürchtung der Benachteiligung der Unternehmen aus Ländern mit Meldepflicht bestätigt und beriefen sich im Gegenzug auf das Prinzip der gleichmäßigen Behandlung der Unternehmen in allen Vertragsstaaten. Darüber hinaus wurde von anderen Delegationen, auch von deutscher Seite, Einspruch dagegen erhoben, dass Informationen aus Kartellregistern und über Einzelfälle – auch bei vermuteten Verstößen gegen Artikel 85 – an die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten weitergegeben würden, da die Frage der Geheimhaltungspflicht der Kommissionsbeamten und der Vertreter der Regierungen noch nicht ausreichend geklärt war. Die Kommission musste sich infolgedessen einstweilen mit den ihr zur Verfügung gestellten Unterlagen zufriedengeben und sich verpflichten, diese nicht 169 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 090–092. Arbeitsdokument betr. Die Arbeitsmethode und das Arbeitsprogramm, Brüssel, den 25. März 1959. IV/1458/59-D. Blatt 091f. 170 Vgl. HAEKB BAC71 1988/191. Blatt 0146–0171. NKKS am 15. und 16. Januar 1959, 852/59-D. Blatt 0168.
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an die anderen Mitgliedstaaten weiterzugeben, was dem ursprünglichen Ziel der Dokumentation zuwiderlief. Obwohl alle Sachverständigen zugesagt hatten, Rücksprache mit ihren Regierungen zu halten, veränderte sich die Lage bis zur vierten Kartellsachverständigenkonferenz im Juni 1959 nicht.171 Die belgische Seite warf hingegen vorsichtig die Frage auf, ob die Mitarbeit an der Dokumentation „nicht über die Verpflichtungen hinausgehe, die sich für die Mitgliedstaaten aus dem Vertrag ergäben.“172 Auch wenn VerLoren van Themaat mehrfach den freiwilligen und informellen Charakter betont hatte, war diese Frage Ausdruck des Missfallens gegenüber dem selbstbewussten und fordernden Auftreten der Kommission. Auch wenn die anderen Delegationen dies teilten, trat keine von ihnen dieser impliziten Infragestellung des ganzen Projekts entgegen. Abschließend lehnte keine Delegation grundsätzlich ab, die Kommission mit Informationen zu versorgen. Jedoch erbaten die Sachverständigen eine offizielle Anfrage der Kommission an ihre jeweilige Regierung, in welcher der inoffizielle Charakter der Auskünfte noch einmal betont wurde.173 Von offener Kooperation und Unterstützung der Kommission bei der ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Aufgabe konnte kaum die Rede sein. Nur von deutscher Seite kam ein positives Statement zu den Plänen der Kommission. Die anderen Mitgliedstaaten verhielten sich hingegen skeptisch zurückhaltend gegenüber Maßnahmen der Kommission und achteten besonders auf das Gleichgewicht möglicher Belastungen der heimischen Wirtschaft. Die Generaldirektion Wettbewerb ließ jedoch ihr Vorhaben nicht ruhen. Nach Auffassung der GDIV griff die aktive Unterstützung des Aufbaus der Dokumentation in keiner Weise über die Vertragsbestimmungen hinaus. Angesichts der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes war die Dokumentation notwendig, um zu einer gleichmäßigen und einheitlichen Anwendung der Kartellbestimmungen zu gelangen.174 Anstatt sich hinter die nationale Hindernisse und das unkooperative Verhalten der Mitgliedstaaten zurückzuziehen, nahm sie den Auftrag des EWG-Vertrags ernst. Die Kommissare unterstützen das Anliegen der GDIV, zur Erfüllung ihrer Aufgaben Material zu sammeln und Dokumentationen anzulegen. Um internationale Kartelle aufzuspüren, sollte die GDIV mit einer Gesamtdokumentation, die besser gewappnet sein als es den Mitgliedstaaten möglich war, da sie immer den gesamten Gemeinsamen Markt im Blick hatte. Jedoch änderte sich auch nach der offiziellen Anfrage nach Unterstützung auf Ministerebene durch Kommissar von der Groeben Ende Juli 1959 kaum etwas. Ein Hemmschuh blieb der Umstand, dass drei Mitgliedstaaten keine wettbewerbsrechtliche Grundlage hatten. Die anderen Staaten, die auf Grund vorhandener Rechts- und Verwaltungsvorschriften über umfangreiches Material verfügten, vor allem die Bundesrepublik und die Niederlande, stellten dieses nur zögerlich zur Verfügung, solange 171 Vgl. ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 27f. 172 HAEKB BAC71 1988/194. Entwurf. NKKS am 29. und 30. Juni 1959. IV/3776/59/D. S. 18. 173 Vgl. ebd.: 18f.; HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0103. 174 Vgl. ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2435/1/59-D. S. 27f.
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sie die einzigen blieben. Ähnliche Probleme zeichneten sich auch bei der gemeinsame Besprechung von konkreten Kartell- oder Missbrauchsfällen ab.175 Im Bundeswirtschaftsministerium wurde zunächst geprüft, „ob die Bundesrepublik die [...] gewünschten Unterlagen über das Vorhandensein von Kartellen zu liefern“ hatte.176 Zudem waren intern die Fragen offen, ob die GDIV direkt mit der in der Bundesrepublik zuständigen Behörde, dem Bundeskartellamt, Informationen austauschen durfte, ob dies erst nach Genehmigung durch das dienstvorgesetzte Bundeswirtschaftsministerium geschehen dürfte und ob jeglicher Schriftverkehr zwischen Bundeskartellamt und Kommission über das Bundeswirtschaftsministerium laufen müsste. Die Bereitschaft zur Informationsweitergabe war allein angesichts der gesetzlichen Lage in Italien, Belgien und Luxemburg nicht groß. Bundeskartellamtspräsident Günther brachte intern die gleichen Bedenken zum Ausdruck, die die Niederländer bei den Treffen der Sachverständigen bereits offen geäußert hatten. Neben den Deutschen konnten nur die Niederlande vergleichbare Unterlagen zur Verfügung stellen, so dass die Benachteiligung der deutschen Wirtschaft drohte. Günther befürchtete aber ebenso, dass die Kommission bei einer Verweigerung der Informationsweitergabe nach Artikel 87 tätig werden könnte, was mittelfristig eine zentralistische Wettbewerbspolitik zur Folge haben könnte. Er empfahl daher, die Einführung nationaler Kartellgesetze in den anderen Ländern weiterhin mit Nachdruck zu fordern und zugleich mit der Kommission zu kooperieren; nicht zuletzt, um die Position der Bundesregierung bei kommenden Auseinandersetzungen mit den anderen Ländern zu stärken.177 In einem bilateralen Gespräch zwischen Müller-Armack und von der Groeben am 3. Oktober 1959 sagte der inzwischen zum Staatssekretär für Europafragen im Bundeswirtschaftsministerium aufgestiegene Müller-Armack178 die Bereitstellung von Dokumenten zu. Zur Bedingung machte er, dass sich die Kommission vehement auch um Auskünfte der anderen Staaten bemühen würde und dass die Dokumente von der Kommission nicht zur selbständigen Kartellverfolgung benutzt würden. Beides sagte von der Groeben zu.179 Die einige Tage später beim fünften Zusammentreffen der Kartellsachverständigen Anfang Oktober 1959 erfolgte Nachfrage VerLoren van Themaats nach Informationen der Staaten für die Dokumentation brachte wenig neue Erkenntnis. 175 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, 5. Februar 1960. Dok.: IV/KOM(60) 17. S. 13f. 176 BA B102/134647. Vermerk für Abteilungsleiter AI von IB5 Lüpke, 1.10.1959 zur Vorbereitung Gespräch mit von der Groeben am 3.10. 1959. Am 31. Juli hatte von der Groeben die offizielle Anfrage an Erhard gerichtet. Am 7. August 1959 hatte Generaldirektor VerLoren van Themaat dem Kartellreferatsleiter im BMWi Epphardt die geplante Dokumentation und die angestrebte Kartellpolitik noch einmal schriftlich erläutert. Vgl. BA B102/134647. Schreiben von der Groeben an Erhard. 31. Juli 1959; Ebd. Schreiben VerLoren van Themaat an Epphardt. 7. August 1959. 177 BA B102/134647. Stellungnahme von Günther zum Anliegen der Kommission. 6. November 1959. 178 Vgl. Löffler: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. S. 566. 179 BA B102/134647. Vermerk über das Gespräch von der Groeben mit Müller-Armack, 27. Oktober 1959.
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Franzosen und Niederländer sagten eine baldige Antwort auf die Anfrage von der Groebens vom Juli zu, während die Luxemburger keinen genauen Zeitpunkt hierfür angeben wollten.180 In der Chefetage des Bundeswirtschaftsministeriums in Bonn war man trotz der Zusage von der Groebens skeptisch gegenüber dem Projekt der Dokumentation geblieben. Die Beamten der Kommission waren zwar gemäß Artikel 214 EWGV zur Geheimhaltung verpflichtet, aber Erhard bat den Bundeskartellamtspräsidenten Günther bei der anstehenden Sachverständigenkonferenz im Dezember erneut, vor weiteren Zusagen zunächst zu klären, welche Vertraulichkeitsregeln in den anderen Ländern existierten. Obwohl die Kommission zugesagt hatte, die Bedingungen der deutschen Seite, soweit es in ihrer Macht stand, zu erfüllen, wollte Erhard erst nach dieser Auskunft über den Umgang mit den deutschen Kartellinformationen entscheiden.181 Gleichzeitig betonte er Mitte Dezember auf ministerieller Ebene gegenüber von der Groeben die deutsche Unzufriedenheit über die nicht vorhandenen Kartellgesetze in einigen Mitgliedstaaten. Er nutze den Informationsbedarf der Kommission, um Druck auf sie auszuüben. Unter der Bedingung, dass die Kommission sich dafür einsetzte, dass die anderen Mitgliedsländer mit ihren Plänen zu den notwendigen Gesetzen voranschritten, stellte er in Aussicht, Akten über Kartelle zur Verfügung zu stellen, die unter Artikel 85 fielen.182 Auch auf diese Bedingung der deutschen Regierung ging von der Groeben ein.183 Bei der sechsten Kartellsachverständigenkonferenz Mitte Dezember 1959 wurde die Kommission erneut von den französischen, luxemburgischen, italienischen und belgischen Vertretern vertröstet. Die Franzosen sagten zwar Unterlagen zu, jedoch war man in Paris nicht bereit, der Gemeinschaft exklusiv Auskünfte zukommen zu lassen. Man verwies stattdessen auf die im Januar 1960 im französischen Amtsblatt veröffentlichten Informationen. Die Italiener und Luxemburger entschuldigten sich erneut mit der unzureichenden Gesetzgebung ihrer Länder. Die eingeholten und zur Verfügung gestellten Informationen der Belgier beruhten zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur auf freiwilligen Informationen der Berufsverbände. Erst nach dem Erlass des belgischen Wettbewerbsgesetzes „in drei bis vier Monaten“ sollte eine ausreichende Basis zur Datenerhebung existieren. Epphardt brachte bei dieser Kartellsachverständigenkonferenz das Thema Amtsverschwiegenheit und die damit verbundenen Problem zur Sprache. Die italienische Delegation unterstützte die vorsichtige deutsche Auffassung auch im Hinblick auf den Austausch über konkrete Fälle. Da offensichtlich Einigkeit bestand, dass möglichst nur durch nationale Gesetze gebundene Staatsbeamte ermächtigt werden sollten, an den Auswertungen der Dokumentationen und der Untersuchung der Fälle teilzunehmen, schlug VerLoren van Themaat vor, dass die Kommission eine entsprechende Anforderung an die Mitgliedstaaten richtete.184 180 Vgl. HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0106. 181 BA B102/134647. Schreiben Erhard an Günther 14. Dezember 1959. 182 BA B102/134647. Schreiben Erhard an v. d. Groeben 14. Dezember 1959. 183 BA B102/134647. Schreiben von der Groeben an Erhard 15. Februar 1960. 184 Vgl. ZAR CM2 1959/740. NKKS am 15. und 16. Dezember 1959. IV/29/1/60-D. S. 26ff.
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Sollte diese von den Mitgliedstaaten befolgt werden, stand von deutscher Seite der Weitergabe von Informationen zur Erstellung einer Kartelldokumentation bei der Kommission und zur Bearbeitung von Einzelfällen nichts mehr im Weg. Einmal mehr zeigte sich, dass die Sachverständigen einiges beschließen konnten, ohne dass diese Beschlüsse faktische Kraft erlangten. Dazu bedurfte es formaler Entscheidungen der Kommission und offizieller Anfragen bei den Regierungen. Das Insistieren der Regierungen auf den offiziellen Weg war aber gleichzeitig Taktik, um den Prozess zu bremsen, und Ausdruck der Kompetenz- und Hierarchiewahrung gegenüber der Kommission. In Bonn war man im Prinzip bereit, den Aufbau der europäischen Wettbewerbspolitik durch kooperatives Verhalten zu unterstützen. Man wollte auch erreichen, dass die europäische Wettbewerbspolitik der nationalen ähnlich wurde und somit die relativen Wettbewerbsnachteile der deutschen Wirtschaft aufgrund des im europäischen Vergleich strengen nationalen Wettbewerbsrechts mildern. Jedoch konnte man aus innenpolitischen Gründen bei der Herausgabe von Informationen kaum in Vorleistung treten. Der BDI trat so vehement mit seinen Forderungen an das Bundeswirtschaftsministerium heran, sich stärker für die Gleichbehandlung aller Unternehmen im Gemeinsamen Markt und gegen die Herausgabe von Akten einzusetzen, dass Epphardt meinte, dem BDI gegenüber den Einsatz Erhards für deren Anliegen belegen zu müssen. Jedoch widersprach der stellvertretende Kabinettschef von der Groebens, Wirsing, dem Anliegen Epphardts, das Schreiben des Wirtschaftsministers an von der Groeben vom 14. Dezember 1959 auch an den Leiter der Abteilung Wettbewerbsordnung im BDI, Arno Sölter, weitergeben zu dürfen.185 Trotz wiederholter Zusagen gegenüber der Kommission wartete man im Bundeswirtschaftsministerium noch solange mit der Übersendung von Akten an die GDIV, bis in Belgien und Italien im März 1960 die Gesetzesentwürfe im Parlament eingebracht waren. Erst Anfang Mai begann man im Bundeskartellamt unter dem Vorbehalt, dass die anderen Mitgliedstaaten sich nicht verzögerten, Kartelllisten zusammenzustellen, um sie in Richtung Brüssel zu schicken. Diese gelangten jedoch nur über Bonn, wo man sich „einen eigenen Eindruck über Art und Umfang der Unterlagen, die [...] der Kommission zur Verfügung“ gestellt würden, verschaffen wollte, an die Kommission.186 Im Zusammenhang mit der Übersendung weiterer Informationen nach Brüssel bestätigte sich die Tendenz, dass das Bundeskartellamt, allen voran sein Präsident Günther, im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit der Kommission sehr viel kooperationsbereiter war als das Bundeswirtschaftsministerium. Europaabteilungsleiter Ulrich Meyer-Cording verband noch im Januar 1960 den Hinweis auf ein der Presse entnommenes Marktaufteilungsabkommen zwischen einem italienischen und einem französi185 Vgl. BA B102/134647. Aktenvermerk Epphardts über Gespräch mit Wirsing bezüglich der Weitergabe des Schreibens. 186 Vgl. BA B102/134647. Schreiben Langer an Günther, 25. März. 1960. Ebd.: Müller-Armack kündigt Zustellung von Akten von der Groeben an. Schreiben vom 25. März 1960; Anschreiben Günthers an VerLoren van Themaat bei der Überstellung der Akten. Schreiben vom 6. Mai 1960.
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schen Unternehmen an den Präsidenten des Bundeskartellamts mit der Frage, ob nicht die Weitergabe solcher Informationen besser sei als die Unterstützung des Aufbaus der Dokumentation.187 In Berlin hegte man jedoch die Befürchtung, dass erneute Hinweise aus der Bundesrepublik auf Kartellverdachtsfälle, die die Kommission bearbeiten sollte, dort als Bevormundung aufgefasst werden könnten und dem Verhältnis nicht förderlich wären.188 Unabhängig vom innenpolitischen Druck aus der Wirtschaft, auf gleichmäßige Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln in allen Mitgliedstaaten zu achten, blieb man im Frühjahr 1960 im Bundeswirtschaftsministerium grundsätzlich misstrauisch, ob mit den Kartelllisten und weiterem Datenmaterial aus dem Bundeskartellamt bei der Kommission im Sinne der Bundesregierung umgegangen würde. Zwischen dem Bundeskartellamt und der Generaldirektion IV hatte sich hingegen ein Verhältnis der vertrauensvollen Zusammenarbeit und Achtung entwikkelt. Dazu trug das prinzipiell analoge Verständnis von Wettbewerbspolitik bei, nach dem die Herstellung und Bewahrung des Wettbewerbs das Ziel der Wettbewerbspolitik war und Wettbewerb nicht als Mittel aufgefasst wurde, um andere wirtschaftspolitische Ziele zu erreichen. Anlässlich der Meinungsverschiedenheiten über weitere Informationsabgabe an Brüssel plädierte Günther im Juni 1960 gegenüber Erhard offen dafür, die Kommission in ihren „kartellpolitischen Absichten“ zu unterstützen und dabei außer Acht zu lassen, dass bis dahin nur die Niederländer der Kommission vergleichbare Listen mit 13 Kartellen zur Verfügung gestellt hatten.189 Im Bundeswirtschaftsministerium wurden indes aus dem Referat für europäische Wettbewerbsfragen Bedenken geäußert, dass die Zustellung von Kartelllisten an die Kommission Anfragen auf Akteneinsicht zur Folge haben könnte, die man der Kommission nicht versagen könnte. Ebenso wurden Zweifel laut, ob das Bundeskartellamt entsprechend der Weisung handelte, jegliche Akten nur über das Bundeswirtschaftsministerium nach Brüssel zu schicken oder ob es nicht am Ministerium vorbei Informationen mit der Kommission austauschte.190 Neben des Skepsis gegenüber dem Handeln der Kommission gab es demnach offensichtlich auch kein volles Vertrauen in das Bundeskartellamt. Zudem war es bei der ersten Überstellung von Kartelllisten zwischen Bundeswirtschaftsministerium und Bundeskartellamt zu einer ‚Panne‘ gekommen, da eine Exportvereinbarung von AEG, Siemens-Schuckert-Werken und Brown, Boverie & Cie. trotz Bedenken aus Berlin nach Brüssel gemeldet worden war.191 Darauf187 188 189 190
BA B102/395120. Meyer-Cording an Günther am 5.1. 1960. BA B102/395120. Günther an Meyer-Cording am 6.2. 1960. BA B102/395120. Günther an Erhard am 1.6. 1960. BA B102/395120. Aktennotiz Obernolte an Epphard vom 8.6. 1960 zum Schreiben Günther an Erhard am 1.6. 1960; Abteilungsleiter Langer an Bundeskartellamtspräsident Günther am 26.7. 1960. 191 Die Informationen aus dem Bundeskartellamt hatten ein Exportabkommen für Gas,- Wasserund Dampfrohre bis sechs Zoll und ein dazugehörenden deutsches Durchführungsabkommen des Stahlrohrverbandes e.V. enthalten, sowie eine „Linoleum Manufactures´s Convention“ und eine Export-Vereinbarung von AEG, Siemens-Schuckert-Werke und Brown, Boverie & Cie. über elektrotechnische Erzeugnisse. Der Hinweis eines Mitarbeiter des Bundeskartell-
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hin stimmte Ende Juli 1960 Abteilungsleiter Langer der Zustellung einer weiteren Kartellliste erst nach einer genauen Prüfung im Bundeswirtschaftsministerium, die die Streichung eines Eisenbahnradreifenkartells über Preise und Quoten von der Liste zur Folge hatte, und der direkten und wiederholten Fürsprache Günthers, der Intervention Hallsteins sowie von der Groebens zu. Gleichzeitig wies Langer das Bundeskartellamt an, mögliche Aktenauszüge, die die Kommission in der Zukunft erbeten würde, nur noch über ihn nach Brüssel zu leiten.192 Zwar zeichnete sich Mitte des Jahres 1960 eine positive Entwicklung beim Abbau des Informationsdefizits der Kommission ab, doch war diese bis dahin von einer annähernd vollständigen Dokumentation über internationale und nationale Kartelle weit entfernt. Sollten sich die Befürchtungen der Niederländer und der Deutschen hinsichtlich der Benachteiligung einzelner nationaler Volkswirtschaften aufgrund einseitiger Informationen nicht bewahrheiten, musste sich die Kommission bis auf Weiteres in Geduld üben und sich auf Anzeigen und Informationen aus der Presse beschränkten. Auf dieser Basis war eine aktive europäische Wettbewerbspolitik jedoch nur sehr bedingt möglich. E.5.c Dokumentation über marktbeherrschende Unternehmen – der Gleichbehandlungsgrundsatz Die bis Ende 1960 zumindest teilweise geklärten grundsätzlichen Probleme des Austauschs nationaler Informationen waren bereits bekannt, als bei der fünften Kartellsachverständigenkonferenz im Oktober 1959 auch eine Dokumentation über „marktbeherrschende Stellungen“ zur Erfassung von Verstößen gegen Artikel 86 zur Diskussion stand. Die GDIV hatte eine solche nach der grundsätzlichen Auslegung des Begriffs „marktbeherrschende Stellung“ vorgeschlagen. Ähnlich wie die Kommission im Sommer ihre offizielle Anfrage an die Mitgliedstaaten zum Aufbau der Kartelldokumentation begründete die GDIV ihr Anliegen nun mit der regionalen Beschränkung der nationalen Behörden. Sie könne „ihren Verpflichtungen nach Art. 89 nur nachkommen“, wenn sie einen Überblick über den gesamten Gemeinsamen Markt hätte. Deshalb war die Zentralisierung der relevanten Materialien bei der Kommission notwendig. Zuerst sollten jene Informationen für eine solche Dokumentation ausgewertet werden, die durch Statistiken oder andere amtliche Tätigkeiten vorhanden waren oder als Ergebnis von Ermittlungen gegen einzelne Unternehmen vorlägen. Versorgungsunternehmen für Strom, Gas, Wasser und ähnliches, Verkehrsunternehmen, Banken und Versicherungen, die Landwirtschaft gemäß Artikel 42 sowie diejenigen Wirtschaftszweige, die unter den Montanunionsvertrag oder den Euratom-Vertrag fielen, sollten voramtes, dass die Bekanntgabe der Exportvereinbarung von AEG, SSW und BBC „erhebliche nachteilige Folgen in der Elektrowirtschaft auslösen“ würde, war wegen Abwesenheit der zuständigen Referats- und Abteilungsleiter im BMWi erst nach der Weiterleitung der Unterlagen nach Brüssel gesehen worden. Man entschied sich im Nachhinein nichts zu unternehmen, sah sich jedoch in der Praxis bestätigt, in Zukunft Unterlagen nur über das BMWi nach Brüssel zu schicken. Vgl. BA B102/395120. Vermerk Epphardt vom 19.7. 1960. 192 BA B102/395120. Langer an Günther am 26. Juli 1960.
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erst ausgenommen bleiben. Die Kommission plante auch hier, aufgrund der zusammengetragenen Informationen zunächst jene Fälle genauer zu untersuchen, die im Verdacht ständen, den Aufbau des gemeinsamen Marktes zu stören.193 Gegen diese weitere Dokumentation sprach sich nun die deutsche Delegation aus. Sie stellte damit die gegen den Willen der GDIV von einer Mehrheit der Sachverständigen, angeführt von den Niederländern, Belgiern und Franzosen, getroffene Entscheidung für ein gleichmäßiges Vorgehen gegen Kartelle und den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen aus dem Januar desselben Jahres zur Diskussion. Die potentiellen Vorteile einer solchen Dokumentation rechtfertigten nach Ansicht der deutschen Seite den zu ihrem Aufbau notwendigen organisatorischen Aufwand nicht, wenn man eine zweckdienliche Dokumentation errichten wollte. Um den Verwaltungsaufwand zu minimieren, sollte man es auf Beschwerden über missbräuchliche Ausnutzung von wirtschaftlicher Marktmacht ankommen lassen und diese Fälle dann gemeinschaftlich untersuchen, forderte die deutsche Delegation. Diese Argumentation der deutschen Seite unterstützte jedoch das Misstrauen der Partnerländer, die ohnehin hinter dem Verhalten der deutschen Regierung das Ziel erkannten, die großen deutschen, tendenziell marktbeherrschenden Unternehmen vor zu scharfer Kontrolle zu schützen. Im Gegensatz zur Argumentation zu Beginn des Jahres berief sich VerLoren van Themaat nun auf Artikel 89, der sich nicht nur auf Kartelle, sondern auch auf den Missbrauch von Marktmacht bezog. Er verwies auch auf jene Übereinkunft der Kartellsachverständigen, die auf Betreiben der Niederländer und Belgier zu dem Gleichbehandlungsgrundsatz geführt hatte, der nun Grundlage des Kommissionsanliegens einer Dokumentation der marktbeherrschenden Stellungen war. Hierin unterstützten ihn auch andere Delegationen, wobei einmal mehr deutlich wurde, dass Frankreich sich für ein behutsames Vorgehen gegen Kartelle und Absprachen auf breiter Basis wirtschaftlicher Einschätzungen und Abwägungen gegenüber anderen wirtschaftspolitischen Zielen stark machte.194 Die GDIV griff den niederländischen Vorschlag auf, die Dokumentation zunächst auf einzelne Sektoren zu begrenzen und plante vorerst nur die Industrie in Augenschein zu nehmen. Jedoch hatte gegen die sehr umfassenden und detaillierten Dokumentationsvorstellungen der Niederländer, die einen eigenen Entwurf vorgelegt hatten, nicht nur die deutschen Delegation Bedenken. Auch die belgische Delegation verwahrte sich gegen die Dauerüberwachung von einmal in der Dokumentation erfassten Unternehmen und plädierte stattdessen für die baldige Untersuchung von konkreten Fällen, in denen ein Missbrauch vermutet würde.195 Bedenken von deutscher Seite hinsichtlich möglicher „schwarzer Listen“ von Unternehmen, die überdurchschnittlich scharf in den Fokus der Aufsichtsbehörden gelangen würden, zerstreute VerLoren van Themaat mit dem Hinweis, dass mögliche Listen intern 193 Vgl. HAEKB CEAB3 478. Blatt 057–063. IV/2923/59-D. Arbeitsdokument zum Begriff beherrschende Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder einem wesentlichen Teil desselben im Zusammenhang mit dem Arbeitsprogramm. Blatt 061ff. 194 Vgl. HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0113. 195 Vgl. ZAR CM2 1959/740. NKKS am 15. und 16. Dezember 1959. IV/29/1/60-D. S. 7.
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blieben und zudem nur der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten wäre, nicht jedoch die marktbeherrschende Stellung selbst. Das bessere Wissen darüber würde somit im Sinne des Vertrags dazu beitragen, Missbrauch zu verhindern. Da allein Deutschland weiterhin Bedenken hatte und diese nicht rechtlicher, sondern nur zweckmäßiger Natur waren, setzten sich die Sachverständigen der Benelux-Staaten für eine Dokumentation über marktbeherrschende Unternehmen ein, die mit möglichst geringem Arbeitsaufwand erstellt werden sollte. Der Einsetzung einer mit den Details einer möglichen Dokumentation befassten Arbeitsgruppe verweigerten sich schließlich auch die deutsche und die französische Delegation nicht.196 In Bonn war diese Dokumentation jedoch Wasser auf die Mühlen des Kartellreferatsleiters, der der Dokumentationsidee ohnehin skeptisch gegenüber stand. Epphardt berichtete nach seiner Rückkehr aus Brüssel umgehend seinen beiden Vorgesetzten, die Leiter der Europa- und der Grundsatzabteilung, Meyer-Cording und Wolfram Langer,197 dass die Ausdehnung der Dokumentation auf die Wirtschaftszweige kaum abzuwenden war, in denen die deutsche Industrie stark sei. Nun drohte hier eine relative Benachteiligung der deutschen Wirtschaft durch die europäische Wettbewerbspolitik.198 Zunächst beriet aber die Arbeitsgruppe Ende Oktober 1959 in Brüssel nur über die Auswahl der Wirtschaftzweige, in denen ein hoher Konzentrationsgrad vorlag und die deshalb vorrangig erfasst werden sollten.199 Sie schlug den Sachverständigen drei Branchen vor: „Zündkerzen für Kraftfahrzeuge“, „Phosphatdüngemittel“ und „Zeitungsdruckpapier“. Aus diesen Branchen sollten die Mitgliedsländer Daten über die Anzahl der Unternehmen, ihre jeweilige geographische Lage, die Gesamtproduktion und den Gesamtverbrauch in der Gemeinschaft erfassen und ebenso Export- und Importmengen differenziert nach Handel innerhalb der EWG-Länder und mit Drittländern zusammenstellen. Weitere Informationen sollten jeweils von den drei größten Unternehmen gesammelt werden, um mögliche marktbeherrschende Stellungen offen zu legen. Die Entscheidung darüber, um welche Unternehmen es sich handeln sollte, blieb den Mitgliedstaaten überlassen. Von diesen Unternehmen sollten die Produktionskapazitäten, die tatsächlichen Produktionsmengen und der Anteil der tatsächlichen Produktion an der Gesamtproduktion ermittelt werden. Zudem interessierten die Kapitalver-
196 Vgl. HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0117; ZAR CM2 1959/740. NKKS am 15. und 16. Dezember 1959. IV/29/1/60-D. S. 7. 197 Epphardt war in Personalunion Referatsleiter des Kartellreferats der Gundsatzabteilung (IB5) und des Referats für Wettbewerbsfragen der neuen Europaabteilung (EA4). Zu den Abteilungsleitern im BMWi Langer und Meyer-Cording vgl. Löffler: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. S. 232f. 198 Vgl. BArch B102/134647. Epphardt an Abteilungsleiter I und E am 12.10. 59 (Eilt!). Ergebnis der Kartellsachverständigen am 8./9. 10 1959. 199 Vgl. HAEKB BAC71 1988/196. Blatt 0054f. VerLoren van Themaat an Ophüls, Brüssel, den 21. Oktober 1959. Blatt 0054.
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flechtungen, speziell jene über 30 Prozent, die Export- und Importanteile sowie mögliche Syndikatsbeteiligungen dieser Unternehmen.200 Diese und weitere Informationen über diese drei Branchen sollten mit Hilfe eines bei der sechsten Kartellkonferenz Mitte Dezember 1959 beschlossenen Fragebogens zusammengetragen werden. Belgier und Niederländer erklärten jedoch umgehend, dass sie zahlreiche Fragen nur mit Hilfe einer freiwilligen Umfrage unter den Unternehmen der Branche würden beantworten können. Auch die deutsche Seite äußerte sich skeptisch darüber, ob zu allen Punkten, wie beispielsweise zu gewährten Darlehen, Informationen zu beschaffen seien. Unabhängig von diesen Detailfragen sprachen sich die Delegationen mehrheitlich für die Datenerfassung mit Hilfe des Fragebogens aus. Indifferent blieben die Italiener und allein die Luxemburger erklärten sich mit dem Verfahren nicht einverstanden. Sie befürchteten die Preisgabe von Geschäftsgeheimnissen, da in ihrem kleinen Land Informationen über einen Industriezweig häufig identisch mit den Angaben über das einzige Unternehmen auf dem Markt waren. Die deutsche Seite, die sich trotz ihrer grundsätzlichen Bedenken zur Mitarbeit an der Dokumentation bereit erklärt hatte, akzeptierte diese Begründung nicht, denn die Bedenken der Luxemburger ihrer Ansicht nach galten für alle Staaten. Auch die Namen der jeweils drei größten Unternehmen in den anderen Mitgliedstaaten waren bekannt oder einfach herauszufinden. Zudem wies der deutsche Sachverständige auf die Verschwiegenheitspflicht der Kommissionsbeamten hin, die dafür Sorge tragen würde, dass die Informationen nicht veröffentlicht wurden. Die Luxemburger sagten zu, ihrer Regierung diesen Aspekt vorzutragen und auf die Revision der ablehnenden Position hinzuwirken. Abschließend kamen die Sachverständigen überein, dass die Fragebögen offiziell von der Kommission an die Mitgliedstaaten gesandt und möglichst binnen zwei Monaten, aber spätestens bis zum 1. April 1960, bearbeitet zurückgeschickt werden sollten.201 Ob sich die geheime Hoffnung der GDIV erfüllen würde, durch die Dokumentation über die Informationen über marktbeherrschende Unternehmen hinaus auch die ein oder andere verbotene Absprache aufzudecken, war Ende 1959 noch nicht abzusehen.202
200 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 064–065. IV/5076/59-D. Ergebnisse der Arbeitsgruppensitzung vom 28.10. 1959 über marktbeherrschende Stellungen. Brüssel, den 28. Oktober 1959. Vgl. auch den Fragebogen: HAEKB CEAB3 476. Blatt 065–068. IV/5475/59-D. Entwurf für einen Fragebogen zur Artikel 86 des Vertrags. Brüssel, 25. November 1959. 201 Vgl. ZAR CM2 1959/740. NKKS am 15. und 16. Dezember 1959. IV/29/1/60-D. S. 9ff. 202 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/KOM(60) 17. S. 14.
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E.5.d Die Arbeitsmethode der gegenseitigen Konsultation in der Praxis Unabhängig von der schleppenden Bereitstellung von Informationen für die beiden Dokumentationen hatte bis Oktober 1959 keiner der Mitgliedstaaten einen konkreten Fall in der Runde der Kartellsachverständigen zur Diskussion gestellt. Zur gemeinsamen Klärung möglicher Auslegungsfragen waren von deutscher und niederländischer Seite Beispiel- und Schulfälle vorgelegt worden. Jedoch war dieses Vorgehen nur bedingt fruchtbar gewesen.203 Angesichts dessen forderte VerLoren van Themaat die Delegationen im Oktober 1959 zu einer endgültigen Stellungnahme auf, ob die nationalen Behörden bereit seien, die Sachverständigenkonferenz vor einer Entscheidung nach Artikel 88 zu konsultieren. Diese informelle Konsultation ohne bindenden Charakter war nach Meinung der GDIV „notwendig, um zu einer einheitlichen Kartellpolitik zu gelangen.“204 Die deutsche Seite äußerte vorsichtig Einspruch hinsichtlich jeder Art von Verfahren, die einer Vorabstimmung gleich gekommen wären. Sie konnte solchen Verfahren nicht zustimmen, da nationale Gesetze berücksichtigt werden mussten und das GWB mit nur einer sehr eingeschränkten Ausnahme, der Ministererlaubnis, keine Weisungen von außen an das unabhängig entscheidende Bundeskartellamt vorsah. Grundsätzlich zeigte man von deutscher Seite aber weiterhin kooperationsbereit und wollte sich auf keinen Fall verweigern, zumal dies nach deutscher Auffassung aufgrund des Artikels 5 über die Aufgaben der Mitgliedstaaten, des Artikels 213 über das Recht der Kommission zur Einholung von Auskünften und des Artikels 89 nicht möglich war. Abschließende Zusagen wollte der deutsche Sachverständige aber erst nach Rücksprache mit seinem Dienstvorgesetzten in Bonn geben. Im Gegensatz dazu unterstrichen Franzosen und Niederländer die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, um zu einer gemeinsamen Kartellpolitik zu gelangen. Sie waren bereit, diesen informellen Konsultationen der Kartellsachverständigen über konkrete Fälle einen hohen Stellenwert einzuräumen, nicht zuletzt weil dies ihrer weniger am Recht als an wirtschaftlichen Erwägungen orientierter nationaler Wettbewerbspolitik entsprach. Dass diese Konsultationen keinerlei Bindungswirkung haben sollten, erleichterte ihnen diese Position. Belgier und Luxemburger hielten ihre Stellungnahme bis zur nächsten Sitzung zurück. Italien war nur durch einen Mitarbeiter der Ständigen Vertretung vertreten, der sich jeder Äußerung enthielt. Auch nachdem VerLoren van Themaat und der Direktor der Direktion A ‚Kartelle und Monopole‘, Schumacher, erneut betonten, dass eine solche Fühlungnahme keine Abstimmung sein könnte, geschweige denn einen Beschluss herbeiführen könnte, und zum wiederholten Mal die hohe Relevanz dieser Konsultationen für die gemeinsame Wettbewerbspolitik propagierten, kam keine Entscheidung zustande. Obwohl die Tagesordnung zuvor bekannt gewesen war, zogen sich die Delegationen darauf zurück, den 203 Vgl. ZAR CM2 1959/738. NKKS am 14. und 15. April 1959. IV/2335/1/59-D. S. 28ff. 204 HAEKB BAC71 1988/195. Blatt 0100–0121. Entwurf. NKKS am 8. und 9. Oktober 1959. IV/5308/59-D. Blatt 0107.
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offiziellen Standpunkt der Mitgliedstaaten erst nach Rücksprache in den Hauptstädten bekannt geben zu können.205 Auch im Dezember lagen noch keine konkreten Fälle vor, wenngleich drei Delegationen versicherten, dass Fälle in Arbeit waren, die man bei Zeiten vorlegen wollte. Die deutsche Seite zog sich als Begründung für das eigene Stillhalten auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit zurück. Außerdem hatte die Kommission drei Fälle aus den Sektoren Zinkblech, Majolika und Kraftfahrzeugersatzteile aufgenommen und stand deshalb mit dem Bundeskartellamt in Verbindung. Die Belgier waren aktiv geworden und sogar die Franzosen kündigten einen Fall an und berichteten von einem weiteren. Da die französische Kartellkommission, die erst Mitte Oktober 1959 neu besetzt worden war, bisher nur vier bis fünf Fälle pro Jahr untersucht hatte, war aber aus Frankreich ein größeres Engagement nicht zu erwarten. Die Niederländer sagten für den Anfang des Jahres einen Fall zu, von italienischer und luxemburgischer Seite war weiterhin nichts zu erwarten.206 Die Kommission ging aufgrund dieser Zusagen davon aus, dass zwei Jahre nach Inkrafttreten des EWG-Vertrags mit der Methode der gegenseitigen Konsultationen die konkrete Zusammenarbeit von Kommission und Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Artikel 88 und 89 langsam begann.207 E.6 DAS ENDE DES „VORBEREITUNGSSTADIUMS“? – DIE FÜNF GRUNDSÄTZE DER EUROPÄISCHEN WETTBEWERBSPOLITIK E.6.a Erfolge und Schwierigkeiten von zwei Jahren Vorbereitungsarbeit Schon bald nach der Aufnahme der Tätigkeiten der Organe der EWG hatte sich die gegenseitige Information von Rat und Kommission über ihre jeweiligen Absichten als hilfreich herausgestellt. Auf der einen Seite waren der Kommission durch den Vertrag in einigen Fällen ausdrückliche Initiativaufträge für Richtlinien oder Verordnungen übertragen worden. Auf der anderen Seite war die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der sechs Länder nach Artikel 145 des Vertrags Aufgabe des Rates. Daraus ergab sich die Notwendigkeit der gegenseitigen Information von Kommission und Rat über geplante Aktivitäten. Hierfür hatte sich der ‚Gedankenaustausch‘ mit der Zeit als zweckmäßiges Mittel erwiesen. Diese Institution hatte man formal von den im Vertrag vorgeschriebenen Erörterungen vor einer Entscheidung unterschieden. Der Gedankenaustausch war „streng informell“ und sollte „den Teilnehmern eine freie Meinungsäußerung gestatten“, die für keine Seite Bindungen nach sich zogen.208 Die Kommission 205 Vgl. ebd.: Blatt 0107ff. 206 Vgl. ZAR CM2 1959/740. NKKS am 15. und 16. Dezember 1959. IV/29/1/60-D. S. 25f. 207 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 036–040. Dossier der GD Wettbewerb „Die wesentlichen Ergebnisse der bisherigen Kartellkonferenzen“ Blatt 040. 208 Der informelle Charakter wurde unterstrichen, indem der Gedankenaustausch nicht auf der Tagesordnung des Rates erschien. Jedoch sollten zur Vorbereitung dem Meinungsaustausch vertrauliche Mitteilungen zwischen Rat und Kommission voraus gehen. Vgl. ZAR CM2
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konnte auf diesem Weg dem Rat Informationen über ihre Arbeit geben und gleichzeitig Meinungen und Stellungnahmen von den Mitgliedstaaten zu unterschiedlichen Themen erhalten. Parallel dazu waren in den ersten beiden Jahren der institutionalisierten Zusammenarbeit der sechs Staaten im Rahmen der EWG Fortschritte bei der gemeinsamen Außenhandelspolitik und Agrarpolitik erzielt worden.209 Mit der Angleichung nationaler Wirtschaftspolitiken, allen voran der nationalen Wettbewerbspolitik, waren die Staaten gemeinsam mit der Kommission hingegen vergleichsweise wenig vorangekommen. Nach dem organisatorischen Aufbau der Generaldirektion IV hatte die Kommission ihre Aufgaben der Vertragsüberwachung und Vertragsdurchführung gemäß Artikel 89 ausgeübt. Sie hatte auf eine ähnliche Rechtsgrundlage in allen sechs Staaten hingewirkt, zumal diese in den ersten Jahren für die Umsetzung der Wettbewerbsregeln verantwortlich waren. Dabei lag das Augenmerk vor allem auf den drei Ländern, die keine eigenen Kartellgesetze hatten. Für das von den Vertragsstaaten gemeinsam vereinbarte Ziel einer europäischen Wettbewerbspolitik hatte sich dabei in den ersten beiden Jahren bereits dreierlei gezeigt. Erstens war deutlich geworden, dass die bei den Vertragsverhandlungen vor allem von den Franzosen und abgeschwächt auch von den Verantwortlichen im Bundeswirtschaftsministerium favorisierte Lösung einer Harmonisierung der nationalen Gesetze auf Basis gemeinsamer Grundsätze nicht zu einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik geführt hätte; und zwar unabhängig davon, ob die Kommission eine moderierende oder koordinierende Rolle erhalten hätte. Weder mittel- geschweige denn kurzfristig wäre es parallel zum Abbau der tarifären Handelshemmnisse zwischen den Staaten und zu einer aktiven Wettbewerbspolitik gekommen. Auszudenken bleibt, zu welch zähen Auseinandersetzungen es zwischen der Kommission und Frankreich, den Niederlanden und der Bundesrepublik bei einer Rechtsharmonisierung gekommen wäre. Allein das Taktieren des kleinsten Staates Luxemburg führe man sich vor Augen, dessen Regierung wider besseres Wissen die Kommission mit unzureichenden Informationen hinhielt, ganz zu schweigen von der Schwäche der Kommission, eine solche Aufgabe womöglich gegen die Interessen von sechs Staaten zu lösen. Zweitens war mittlerweile offensichtlich, dass die Kommission in diesen ersten beiden Jahren in ihrer Rolle als Hüterin des Vertrags im Kontakt mit den Mitgliedstaaten vorsichtig abwartend agierte. Bei der Beachtung der rechtmäßigen Anwendung des Vertrags im Allgemeinen und der Artikel 85 und 86 im Speziellen zeigte sie Fingerspitzengefühl. Sie scheute davor zurück, die Staaten auf ihre Vertragsverpflichtungen gemäß Artikel 5 hinzuweisen und mit der Anrufung des EuGH zu drohen, nicht zuletzt weil dies ihr letztes Druckmittel war. Drittens hatte sich gezeigt, dass die Sicherheitsfunktion des Artikels 89 des Vertrags in den Fällen, in denen einzelne Staaten die Grundsätze in der Übergangszeit nicht anwendeten, sei es aus Mangel an Gesetzen oder aus politischen 1960/645. Einleitende Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen dem Rat und der Kommission [...]. Brüssel, 29. September 1959. R/721/59 S. 2f. 209 Vgl. Groeben: Aufbaujahre. S. 71, S. 78f. und S. 102–110.
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Gründen, zwar ihre Berechtigung hatte, jedoch relativ wirkungslos blieb. Die Kommission konnte weder allein aktiv werden noch sich gegen die ‚Herren des Vertrags‘ durchsetzen, um die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes mit einer aktiven Wettbewerbspolitik zu flankieren. Die dafür notwendigen Voraussetzungen wurden in Belgien, Italien und Luxemburg erst langsam geschaffen. Im Februar 1960 erwartete von der Groeben in diesen Staaten in absehbarer Zeit die Anwendung von Artikel 88.210 Es hatte sich gezeigt, dass viele notwendige Maßnahmen nur gemeinsam von Kommission und Mitgliedstaaten begonnen werden konnten. Das Ziel der langfristigen Angleichung der nationalen Wettbewerbspolitiken versuchte die Kommission auf dem Weg der Institutionalisierung des informellen Austauschs der nationalen Fachreferenten über die nationale und die gemeinsame Wettbewerbspolitik zu erreichen. Mit den Kartellsachverständigenkonferenzen verfolgte sie sowohl die Absicht, das Verständnis der nationalen Kartellsachverständigen untereinander zu fördern als auch ihr eigenes großes Informationsdefizit abzubauen. Mittelfristig nutzte sie die Treffen der Fachreferenten dazu, eigene Vorstellungen zur Wettbewerbspolitik mit den nationalen Ansichten auf dieser Ebene zu klären, bevor sie mit ihren Absichten an den Rat oder die Öffentlichkeit trat. Mit dieser Strategie hatte die Kommission in den ersten beiden Jahren Erfolg gehabt und erzielte Einvernehmen zwischen Kommission und Mitgliedstaaten über die großen Linien der Interpretation und der Auslegung der Artikel 85 und 86 des EWG-Vertrags. Auch wenn einzelne Fragen noch offen waren und abschließend vom Gerichtshof entschieden werden mussten, hatte sich die Kommission mit der Durchsetzung ihrer Rechtsauffassung eine solide Basis für die weitere Etablierung einer aktiven Wettbewerbspolitik verschafft. Dass dieser Prozess schwierig und zäh war, zeigte sich daran, dass im Kreise der Kartellsachverständigen zwar über eine Vielzahl theoretischer Fragen Konsens erzielt wurde, die aktive gemeinsame Umsetzung, speziell die Zusammenarbeit bei Kartellfällen, jedoch nicht vorankam. Es war nicht absehbar, wann und wie es zu aktiver gemeinschaftlicher Wettbewerbspolitik kommen würde. Für von der Groeben schien hingegen die Mitarbeit der Mitgliedsländer bei der Kontrolle von marktbeherrschenden Stellungen Anfang 1960 gesichert, auch wenn die Erhebungen über die drei ausgewählten Wirtschaftsbereiche gerade erst angelaufen waren und der Kommission noch keine Ergebnisse aus den Mitgliedstaaten vorlagen.211 Bei all den kleinen Erfolgen war auf Sachverständigenebene aber eine wesentliche Schwäche der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten deutlich geworden. Nach anfänglichem Willen zur Zusammenarbeit kam es wiederholt dazu, dass die auf Sachverständigenebene getroffenen Vereinbarungen entweder national nicht umgesetzt oder nach Rücksprache in den Hauptstädten bei der nächsten Konferenz aufgrund nationaler Interessen eingeschränkt wurden. Nicht nur kleine und an sich unerhebliche Missachtungen gemeinsamer 210 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/KOM(60) 17. S. 19. 211 Vgl. ebd.
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Vereinbarungen über die Organisation der Zusammenarbeit, wie beispielsweise das rechtzeitige, schriftliche Vorlegen von nationalen Änderungswünschen zum Protokoll, dokumentieren die schwerfällige und unambitionierte Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Staaten und der Kommission. Dies galt insbesondere für die großen und wettbewerbspolitisch relevanten Projekte. Aus dem von den Sachverständigen mehrheitlich gebilligten Plan, möglichst bald eine Dokumentation zu erstellen, wurde ein zähes Ringen mit den nationalen Behörden um die Herausgabe von Informationen. Die Reaktionen aus den Hauptstädten auf die offizielle Anfrage hierzu zogen sich teilweise über ein halbes Jahr hin oder wurden vorsichtig, ablehnend aufgeschoben. Die Niederländer und vor allem auch die Deutschen befürchteten durch dieses Projekt Benachteiligungen für ihre Wirtschaft. Die Franzosen, bei denen sich erst Anfang 1959 die Rechtsauffassung von der unmittelbaren Geltungskraft der Artikel 85 und 86 durchgesetzt hatte,212 zogen sich auf formale Gründe zurück. In den drei anderen Staaten zeigte man sich hinsichtlich der Dokumentation zwar kooperativ, verwies jedoch auf die fehlende Datengrundlage infolge nicht vorhandener nationaler Gesetze. Die Absicht, nicht nur theoretische Erörterungen zu führen, sondern auch Einzelfälle zu untersuchen krankte bald an ähnlichen Problemen. Besonders die Länder ohne eigene Gesetze rückten zunehmend von dem Plan ab, konkrete Fälle zu bearbeiten und tendierten immer stärker der ursprünglichen französischen Position zu, erst einmal theoretische Dialoge zu führen und Schulfälle zu erläutern. Die Niederländer und die Deutschen, die dieses Vorgehen eher ablehnten, befürworteten im Prinzip die Vertiefung der Untersuchungen praktischer Fälle, zogen sich aber auf den Grundsatz der Gleichbehandlung zurück. Die von den Fachleuten als notwendig anerkannten Maßnahmen waren in den Hauptstädten nicht immer politisch erwünscht gewesen. Dabei wurden auch die seit dem Vertragsschluss gewandelten nationalen Präferenzen deutlich. Der Einfluss von Seiten der Wirtschaft auf deren Ausprägung, sei es direkt oder indirekt, blieb zentral. Sofern der einheimischen Wirtschaft durch die Anwendung des europäischen Kartell- und Wettbewerbsrechts Belastungen drohten, wurde dieses nur zögerlich umgesetzt. Selbst im Bundeswirtschaftsministerium hatte zwischenzeitlich der Schutz der heimischen Wirtschaft Konjunktur. Wenngleich dies auch aus strategischen Gründen eingesetzt wurde, um die Kommission anzutreiben und dem mittelfristigen Ziel diente, eine möglichst effektive Wettbewerbspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu etablieren, nahm das wettbewerbspolitische Handeln der Bundesregierung auf internationaler Ebene auch auf nationale wirtschaftliche Interessen Rücksicht. Der häufige Verweis auf fehlende nationale Gesetze in einigen Mitgliedstaaten als Grund dafür, ursprünglich beschlossene Aktivitäten nicht umsetzen zu können oder die Aussage des luxemburgischen Sachverständigen, er wüsste zwar vom Entwurf einer Antwort an die Kommission, könnte aber nichts über den Inhalt aussagen,213 mag zwar im Einzelfall häufig nicht unzutreffend gewesen 212 Vgl. ZAR CM2 1959/740. NKKS am 15. und 16. Dezember 1959. IV/29/1/60-D. S. 25. 213 Vgl. ebd.: S. 17.
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sein, war aber häufig auch taktischer Natur. In den meisten Fällen dokumentierte es auf jeden Fall die Machtlosigkeit der Sachverständigen und vor allem die der Kommission bei der Durchsetzung der gemeinsamen Interessen für eine europäische Wettbewerbspolitik gegen die nationalen konfligierenden Interessen. Die Konferenz der Sachverständigen war von den Staaten im vertraglich festgeschriebenen Institutionengefüge nicht vorgesehen und hatte dementsprechend auch keine Entscheidungskompetenz. Aber auch die Machtmittel der Kommission, etwas gegen einzelne Staaten durchzusetzen, waren beschränkt. So musste von der Groeben bei der Darlegung der Leistungen der GDIV noch im Februar 1960 vor dem Kollegium der Kommissare bekannt geben, dass die Mitgliedstaaten immer noch keine konkreten Fälle vorgelegt hatten – trotz Drängens der Kommission. Ebenso erfolglos waren die Versuche der GDIV gewesen, bei der gemeinsamen Interpretation des Vertrags an zahlreichen uneindeutigen Stellen des Vertragstexts auf dem Weg der Auslegung Kompetenzen an sich zu ziehen. Hier war sie auf klare Ablehnung der Mitgliedstaaten gestoßen, die nicht bereit waren der Kommission auf diesem Weg weiteren Aufgaben zu übertragen. Zu Beginn des Jahres 1960 stand die Kommission an einem Punkt, an dem zwar zahlreiche Hürden aus dem Weg geräumt waren, aber wichtige Elemente zukünftiger Wettbewerbspolitik politisch entschieden werden mussten. Die Kommission hatte bisher noch keinen Gebrauch von ihrem Initiativrecht für Durchführungsrichtlinien oder -verordnungen gemäß Artikel 87 gemacht. Hier galt es zu entscheiden, ob nationalstaatliche Instanzen oder gemeinschaftliche Instanzen weitere Kompetenzen zur Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften des Vertrags erhalten sollten. Wenn die Staaten sich nicht für die Ermächtigung der nationalen Instanzen aussprechen sollten, mussten sie sich einig werden, ob der Rat, die Kommission oder der Europäische Gerichtshof die notwendigen Befugnisse erhalten sollte.214 Unabhängig von den Problemen der Zusammenarbeit mit den Staaten hatte die Kommission weitere Schwierigkeiten bei der Implementierung einer aktiven Wettbewerbspolitik erkannt. Anders als bei nationaler Wettbewerbspolitik, konnte sie nicht von einem vollständig integrierten und einheitlichen Markt ausgehen. Die Strukturen der nationalen Volkswirtschaften und der einzelnen Wirtschaftszweige in den Ländern waren sehr unterschiedlich. Angesichts dessen war es nicht sinnvoll, die Kartellpolitik isoliert von den anderen Bereichen der Wettbewerbspolitik im weiteren Sinne, wie der Beihilfenpolitik oder der Politik gegen öffentliche Monopole, durchzusetzen. Die Kommission war bald zur Einsicht gelangt, dass sich eine einheitliche Politik in sachlicher und zeitlicher Perspektive sowohl auf private als auch auf staatliche wettbewerbsverfälschende Praktiken beziehen musste. Da der Gemeinsame Markt schrittweise eingeführt wurde, hatte sie parallel zu den Übergangsphasen Prioritäten bei der Wettbewerbspolitik gesetzt. Erste Priorität bekamen Verstöße gegen die Artikel 85 und 86, da diese dazu geeignet waren, den Abbau von staatlichen Handelshemmnissen in ihrer Wirkung
214 Vgl. Groeben: Aufbaujahre. S. 83.
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zu konterkarieren. Gesellschaftliche und ordnungspolitische Zielsetzungen des Vertrags sollten später in den Vordergrund treten.215 Als weiteres Problem der Wettbewerbspolitik hatte die Kommission nach zwei Jahren die Oligopolmärkte erkannt. Die Staaten hatten im Vertrag keine Möglichkeit vorgesehen, Unternehmenskonzentration zu verhindern, zu verbieten oder gar rückgängig zu machen. Von der Groeben erhoffte sich aus der Wissenschaft neue Erkenntnisse über das Phänomen der Konzentration in Zusammenhang mit technischem Fortschritt, wirtschaftlicher Expansion und der Änderung von Gütern. Jedoch sah der Vertrag nicht vor, dass die Kommission Veränderungen der Marktstruktur aufgrund unternehmerischer Konzentrationsstrategien entgegentreten konnte.216 Somit waren oligopolistische Märkte ein Faktum, mit dem sich europäische Wettbewerbspolitiker auseinandersetzen mussten. Da jedoch das Problem, dass einzelne Unternehmen den Preis als Objekt der Marktstrategie anwenden konnten, größer wurde, je größer der Anteil der jeweiligen Unternehmen an einem Wirtschaftszweig war, blieb abzuwarten, inwieweit die Kommission auf Grundlage von Artikel 86 gegen die negativen Auswirkungen von Konzentration in Märkten vorgehen konnte. Nach Auffassung der Kommission hing der Erfolg des Gemeinsamen Marktes wesentlich davon ab, ob die Markt-Preisfunktionen des freien Marktes funktionsfähig blieben. Aus diesem Grund wollte sie die Konzentrationsentwicklung einzelner Branchen ebenso im Auge behalten wie jede nationale, konzentrationsfördernde Politik, sei es durch Steuerrecht, Patentrecht oder Gesellschaftsrecht. Letzterem wollte sie mit den Vorschriften des Vertrags zur Rechtsangleichung entgegentreten.217 Diese Umsetzungsprobleme blieben jedoch nachrangig, solange keine konkrete Kartellpolitik unter Mitarbeit der Mitgliedstaaten zustande kam. Zwar liefen erste Ermittlungen gegen Unternehmen, die aufgrund von Beschwerden aufgenommen worden waren, jedoch war nicht davon auszugehen, dass es sich dabei um große und für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes relevante Fälle handeln würde. Für die Arbeit der Kommission und die Umsetzung einer europäischen Wettbewerbspolitik waren und blieben die fehlenden Gesetze in drei der Mitgliedstaaten störend, da in den anderen drei Mitgliedstaaten aus diesem Grund kaum Motivation zur Kooperation bestand. Wettbewerbskommissar von der Groeben urteilte in einem internen Kommissionspapier über die ersten beiden Jahre Wettbewerbspolitik, dass zur Durchsetzung der Verbote der Artikel 85 und 86 insgesamt „viel, aber politisch noch zu wenig erreicht“ worden sei.218
215 Vgl. HAEKB CEAB3 476. Blatt 093–112. „Das Kartellrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Lichte zweijähriger Erfahrung“. Redemanuskript von der Groeben vor der Internationalen Kartellrechtskonferenz, Frankfurt am Main, vom 7. bis 11. Juni 1960. X/3237/60-D. Blatt 99ff. 216 Vgl. ebd.: Blatt 103. 217 Vgl. ebd.: Blatt 101ff. 218 Vgl. HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/KOM(60) 17. S. 19.
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E.6.b Fünf Grundsätze als Basis zukünftiger Wettbewerbspolitik Angesichts dieser Umstände hatte die GDIV bereits im Laufe des Jahres 1959 eine Bestandsaufnahme vorgenommen und ein Grundsatzpapier zur europäischen Wettbewerbspolitik entworfen. Die Kommission hatte dem Rat bereits im Sommer 1959 einen umfangreichen Bericht über die anstehenden Projekte in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Sozialpolitik der Gemeinschaft, der gemeinsamen Agrarpolitik und über weitere ihr relevant scheinende Themen vorgelegt. Dieser enthielt auch das Grundsatzpapier der GDIV „Probleme im Zusammenhang mit den Wettbewerbsvorschriften des Vertrags“. Zu letzterem sollte dem Rat im Oktober ein Exposé vorgelegt werden.219 Der Ausschuss der Ständigen Vertreter beriet zur Vorbereitung der Ratssitzungen im Juli 1959 über das weitere Vorgehen mit den vorgelegten Positionspapieren der Kommission, legte einen Zeitplan für die Behandlung der vorgeschlagenen Projekte fest und terminierte die Fragen der Wettbewerbspolitik auf das Jahresende. Anfang November 1959 erläuterte Generaldirektor VerLoren van Themaat den Ständigen Vertretern die von der Kommission aufgestellten Grundsätze der Wettbewerbspolitik, die dem Rat zum Meinungsaustausch vorgelegt werden sollten. Er berichtete von der Arbeit der Kommission auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik und legte deren Einschätzungen und Probleme dar. Nach Auffassung der Kommission war es nach einjährigen Untersuchungen und überwiegend theoretischen Erörterungen im Kreis der Sachverständigen der Mitgliedstaaten über verschiedene Bereiche der Wettbewerbspolitik sowie der Ausarbeitung eines Verfahrens zur Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden an der Zeit, zu praktischen und politischen Entscheidungen überzugehen.220 Da die meisten der anstehenden Probleme zur Errichtung des in Art. 3, f) des Vertrags vorgesehenen Wettbewerbssystems nach Einschätzung der Kommission weniger technischer als politischer Natur waren, hatte sie großes Bedürfnis nach Austausch mit dem Rat über das weitere Vorgehen.221 Die Hauptprobleme stellten ihrer Ansicht nach die fehlenden Gesetze in drei der Mitgliedstaaten und die unzureichende Vorlage konkreter Fälle von Seiten der Mitgliedstaaten dar. Ohne diese Fälle konnte die im Kreis der Kartellsachverständigen begonnene Methode der Rechtsinterpretation nicht fortgesetzt werden. Eine Einigung auf ein standardisiertes Verfahren zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission fehlte bislang. 219 Vgl. ZAR CM2 1960/645. Einleitende Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen dem Rat und der Kommission [...]. Brüssel, 29. September 1959. R/721/59 S. 4. 220 Vgl. ZAR CM2 1960/645. Auszug aus dem Entwurf eines Protokolls über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, 22. Januar 1960. Dok.: 399/59 Ausz.1. S. 18f.; ZAR CM2 1960/645. Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen Rat und Kommission [...]. Brüssel, 21. Januar 1960. R/68/60 S. 1ff. 221 Vgl. HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0047.
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Da zum gegebenen Zeitpunkt die Möglichkeit bestand, dass ein und dasselbe Kartell in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich bewertet würde, konnte von Einheitlichkeit und homogener Anwendung der Wettbewerbsregeln keine Rede sein. Die aus dieser Situation resultierende Rechtsunsicherheit für die Wirtschaft bewertete die Kommission als nicht akzeptabel. VerLoren van Themaat betonte vor den Ständigen Vertretern, dass das erarbeitete Verfahren der Zusammenarbeit nun an vielen Stellen der „Nachhilfe auf politischem Gebiet“ bedurfte, sei es beim Aufbau der Dokumentation oder bei der gemeinsamen Untersuchung und Entscheidungsvorbereitung konkreter Fälle.222 Die Kommission hoffte, den Zusammenhang der verschiedenen Probleme bei der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Wettbewerbssystems beim Gedankenaustausch mit dem Rat besser offen zu legen als dies bisher bilateral mit den einzelnen Mitgliedstaaten oder multilateral auf der Ebene der Beamten möglich gewesen war.223 VerLoren van Themaat betonte die Absicht der Kommission mit dem entscheidungsbefugten Rat „einen Gedankenaustausch über die politischen Probleme herbeizuführen,“ um die bestehenden politischen Hürden aus dem Weg zu räumen, damit die von der Kommission formulierten fünf Grundsätze der Wettbewerbspolitik umgesetzt werden könnten.224 Diese fünf Grundsätze erläuterte VerLoren van Themaat den Ständigen Vertretern abschließend. Sie zielten erstens auf den inneren Zusammenhang der Wettbewerbspolitik mit den übrigen Teilen des Vertrags, zweitens auf die Einheitlichkeit der Politik, drittens auf die homogene Durchführung der Einzelmaßnahmen in den sechs Staaten, viertens auf die Anwendung einer empirischpragmatischen Methode bei der Untersuchung von vermuteten Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln und fünftens auf die Entwicklung eines Präventivverfahrens.225 Der innere Zusammenhang der Wettbewerbspolitik mit den anderen Tei222 Vgl. ebd.: Blatt 0050. 223 HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0043–0045. Einleitende Aufzeichnung: Betrifft: Vorbereitung des Gedankenaustausches zwischen dem Rat und der Kommission über den Stand..., Brüssel, den 10. November 1959, R/875 d/59 ann/gp. Blatt 0044. Neben der Wettbewerbspolitik gegenüber Unternehmen stellte VerLoren van Themaat auch die Arbeiten auf dem Gebiet der Dumpingvorschriften, der staatlichen Beihilfen, der Rechtsangleichung und der steuerlichen Vorschriften dar. Vgl. HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0050–0054. Vgl. zu diesen Themen auch: Groeben: Aufbaujahre. S. 296–299. 224 HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0048. 225 Zu den fünf Grundsätzen der Wettbewerbspolitik, später Grundlage der offiziellen Politik der GDIV, vgl. HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0043–0045. Einleitende Aufzeichnung: Betrifft: Vorbereitung des Gedankenaustausches zwischen dem Rat und der Kommission über den Stand..., Brüssel, den 10. November 1959, R/875 d/59 ann/gp. Blatt 0044; HAEKB BAC118 1986/ 2235. VerLoren van Themaat, Pieter: Die Fünf Grundsätze der Wettbewerbspolitik der Kommission. Hrsg. vom Presse- und Informationsdienst der Europäischen Gemeinschaften. Brüssel, Dezember 1959; ZAR CM2 1960/645. Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen Rat und Kommission [...]. Brüssel, 21. Januar 1960. R/68/60.
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len und Zielen des Vertrags war notwendig, da der Zusammenhang zwischen Abbau staatlicher Zollschranken und Zunahme privater Absprachen in der Industrie „nicht nur eine theoretische Schlussfolgerung“ war, sondern sich in „einem Jahr praktischer Erfahrungen“ gezeigt hatte.226 Die Abschaffung staatlicher Beschränkungen des Handelsverkehrs hatten „auf dem privaten Sektor zu allerlei Maßnahmen zur Angleichung, Rationalisierung oder Spezialisierung geführt.“ Diese bezeichnete VerLoren van Themaat zwar als auch „zweckdienlich“, jedoch war es gleichzeitig zu Absprachen über Marktaufteilung gekommen, um nationale Märkte weiterhin vor Konkurrenz abzuschotten. Da „die Abschaffung dieses Schutzes [...] eines der ersten Ziele des Vertrags“ war, so VerLoren van Themaat, wurde die Wettbewerbspolitik auf dem Felde der Absprachen mit zunehmendem Abbau von Handelshemmnissen immer wichtiger. Möglichst schnell sollten die ersten Absprachen, die erst in geringer Anzahl bestanden, in ihre Schranken verwiesen werden. Er ging davon aus, dass es später immer schwieriger würde, vorhandene Absprachen wieder rückgängig zu machen, zumal ihre Anzahl steigen würde und damit das Problem schwieriger zu handhaben wäre. Der Grundsatz des inneren Zusammenhangs äußerte sich für die Kommission somit Ende 1959 in der Bekämpfung von Kartellabkommen, die einen Heimatschutz nach Mengen oder Preisen bezweckten. Parallel zum Abbau der Zölle und Kontingente sollten in einem weiteren Schritt die Angleichung der Rechtsvorschriften und der Abbau von mit dem Vertrag nicht vereinbaren Beihilfen voran gebracht werden.227 Damit in engem Zusammenhang stand der zweite Grundsatz der einheitlichen Anwendung der Wettbewerbspolitik. Wettbewerbsverfälschungen öffentlichrechtlicher Natur und privatrechtlicher Natur sollten demnach gleichermaßen bekämpft werden. Verschiedene Typen von Wettbewerbsbeschränkungen, die jedoch den gleichen wirtschaftlichen Effekt hatten, sollten mit gleichem Nachdruck und nach gleichen Grundsätzen verhindert werden.228 Obwohl die Wettbewerbsbeschränkungen in den einzelnen Staaten mit sehr unterschiedlicher Intensität auftraten, wollte die Kommission erreichen, „dass die Wettbewerbsbedingungen in den einzelnen Ländern die gleichen“ wurden, was unterschiedliches Vorgehen in den Mitgliedstaaten bedeutete.229 VerLoren van Themaat betonte, dass es dabei nicht um den Ausgleich oder die künstliche Nivellierung von Produktivitätsunterschieden ging, sondern um „die Abschaffung von öffentlichen oder privatwirtschaftlichen Maßnahmen, die die Wettbewerbsbedingungen verfälschen.“230
226 Dieses und folgende Zitate: HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0055. 227 Vgl. ZAR CM2 1960/645. Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen Rat und Kommission [...]. Brüssel, 21. Januar 1960. R/68/60 S. 4. 228 Vgl. ebd.: S. 5. 229 HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0058. 230 Ebd.
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Die einheitliche Durchführung der Wettbewerbspolitik in allen Mitgliedstaaten war der dritte Grundsatz der Kommission. Hierzu hatte sie zunächst in den Mitgliedsländern Ansprech- und Kooperationspartner gesucht und die Herstellung ähnlicher nationaler Rechtsvorschriften eingefordert. Die Tatsache, dass letzteres noch nicht in allen Mitgliedstaaten umgesetzt war, trug entscheidend zu den Problemen mit den anderen Mitgliedstaaten bei. VerLoren van Themaat forderte in diesem Zusammenhang mehr politische Unterstützung aller Regierungen für die Arbeit der Kommission und ermahnte Belgien, Italien und Luxemburg zum beschleunigten Erlass von Vorschriften und zum Aufbau zuständiger Behörden, die mit ausreichend Personal ausgestattet würden, um die Rechtsvorschriften anzuwenden und mit der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten zu kooperieren.231 Um den Grundsatz der homogenen Anwendung in den Mitgliedstaaten zu erfüllen, betonte er, dass die Kommission auf die informellen Beratungen unter den nationalen Behörden bei Entscheidungen über Ausnahmegenehmigungen vom Kartellverbot gemäß Artikel 88 besonderen Wert legte.232 Dazu forderte er als nächsten wichtigen Schritt die Einigung über ein verbindliches Konsultationssystem zwischen den Staaten und der Kommission.233 Mit dem vierten Grundsatz, empirisches Vorgehen bei Verdachtsfällen, zielte die Kommission darauf, Wettbewerbsfragen nicht isoliert und ohne Berücksichtigung der jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Lage zu analysieren. Bei der Wettbewerbspolitik sollte nicht nur die allgemeine Entwicklung des Gemeinsamen Marktes, sondern auch die unterschiedlichen Wettbewerbsverhältnisse und strukturellen und konjunkturellen Probleme der jeweiligen Wirtschaftszweige sowie der verschiedenen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.234 Um hierzu möglichst viele empirische Informationen zu erhalten, blieb die Kommission auf die Mitarbeit der Mitgliedstaaten angewiesen. Mit diesem Grundsatz wollte die Kommission auch dem Prinzip der Gleichbehandlung der verschiedenen Volkswirtschaften in der Gemeinschaft entsprechen.235 Als fünften Grundsatz hatte sich die Kommission vorgenommen, jede neue Störung des Wettbewerbs auf dem Gemeinsamen Markt zu verhindern. Weder durch Maßnahmen von Regierungen noch durch solche der Wirtschaft sollten neue Wettbewerbsverfälschungen entstehen können.236 Gleichwohl waren weiterhin Präventivmaßnahmen auch bei privatwirtschaftlichen wettbewerbsbehindernden Strategien wichtig, da hier das Verbot oder die Androhung der Nichtigkeit als 231 Vgl. ebd.: Blatt 0059f.; ZAR CM2 1960/645. Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen Rat und Kommission [...]. Brüssel, 21. Januar 1960. R/68/60. S. 5. 232 Vgl. ZAR CM2 1960/645. Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen Rat und Kommission [...]. Brüssel, 21. Januar 1960. R/68/60. S. 5f. 233 Vgl. HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0060 234 Vgl. ebd.: Blatt 0062. 235 Vgl. ZAR CM2 1960/645. Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen Rat und Kommission [...]. Brüssel, 21. Januar 1960. R/68/60. S. 6. 236 Ebd.
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nicht ausreichend galt, um Absprachen und den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu verhindern. Hierfür waren aber politische Entscheidungen der Mitgliedstaaten notwendig, die ein klares Vorgehen der Kommission unterstützen und ermöglichen würden.237 Der Generaldirektor der GDIV konnte die Ständigen Vertreter von der Relevanz der Probleme und damit der Dringlichkeit des Austausches zwischen Kommission und Rat und der politischen Entscheidungen des Rats überzeugen. Die Ständigen Vertreter beschlossen, dem Anliegen der Kommission zu folgen und den Gedankenaustausch im Rat mit dem Ziel zu führen, dessen Zustimmung zu den fünf Grundsätzen zu erhalten. Die Kommission sollte offene Fragen der Mitgliedstaaten zur zukünftigen Wettbewerbspolitik klären und gleichzeitig erfahren, welche Konsequenzen die Mitgliedstaaten aus der geplanten Wettbewerbspolitik und deren speziellen Anwendungsbereichen befürchteten.238 Nach dieser Sitzung und dem tendenziell positiven Signal der Mitgliedstaaten durch die Ständigen Vertreter entschloss sich die Kommission, diese fünf Grundsätze im Dezember 1959 in Form einer kleinen Schrift von VerLoren van Themaat zu veröffentlichen. Damit sollte der Wirtschaft gegenüber deutlich gemacht werden, dass die Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften des Vertrags vorangetrieben wurde und die Unternehmen ihr Verhalten daran anzupassen hatten. VerLoren van Themaat reflektierte darin auch die Arbeit der GDIV des Jahres 1959. Er kam zu dem positiven Ergebnis, dass die Kommission „aus dem vorzubereitenden Stadium [...] in die Phase der konkreten Aktivitäten getreten“ sei.239 Was VerLoren van Themaat nach außen in Richtung Unternehmen und Öffentlichkeit als Tatsache darstellte, fiel in einem internen Bericht für die Kommissare etwas verhaltener aus. Hier berichtete von der Groeben seinen Kollegen, dass das „Ziel des Arbeitsprogramms für das Jahr 1960 [..] der Übergang aus dem Vorbereitungsstadium in das Stadium der aktiven Kartellpolitik sein“ müsste.240 Demnach blieb aktive Kartellpolitik der Gemeinschaft zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages nach wie vor ein Zukunftsprojekt.
237 Vgl. HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0046–0065. Auszug aus dem Protokollentwurf über die 74. Tagung des AStV am 6. November 1959. Brüssel, den 9. November 1959, R/867 d/59 (Ausz.) Blatt 0063f. 238 ZAR CM2 1960/645. Aufzeichnung. Betrifft: Gedankenaustausch zwischen Rat und Kommission [...]. Brüssel, 21. Januar 1960. R/68/60 S. 2. 239 HAEKB BAC118 1986/2235. VerLoren van Themaat: Fünf Grundsätze der Europäischen Wettbewerbspolitik. S. 6. 240 HAEKB CEAB3 4761. Blatt 003–025. Kommissionsvorlage „Kartellpolitik“ von von der Groeben, Brüssel 5. Februar 1960. Dok.: IV/KOM(60) 17. S. 19.
F DIE FORTSETZUNG DER PRÄFERENZANNÄHERUNG MIT ANDEREN MITTELN – EUROPÄISCHE WETTBEWERBSPOLITIK DURCH DELEGATION? (1960–1962) F.1 DIE ANWENDUNG VON ARTIKEL 87 – DIE KOMMISSIONSINITIATIVE FÜR EINE VERORDNUNG F.1.a Die neue Richtung der Generaldirektion IV – Umsetzung von Artikel 87? Zu einem Gedankenaustausch zwischen Kommission und Rat über die weitere Wettbewerbspolitik kam es erst Anfang Februar 1960, da die Ständigen Vertreter beschlossen hatten, diesem Thema ausreichend Zeit bei der Ratssitzung einzuräumen und den Mitgliedstaaten Zeit zur Vorbereitung zu geben.1 Nachdem sich die Kommission mit den Vertretern der Mitgliedstaaten über ihre Vorschläge zur Koordinierung der Konjunkturpolitik ausgetauscht hatte, stand die Wettbewerbspolitik am 1. Februar 1960 auf der Tagesordnung.2 Von der Groeben berichtete als zuständiger Kommissar über die Fortschritte auf dem Feld der Wettbewerbspolitik, die er für „eines der vier großen Probleme (hielt), mit denen die Gemeinschaft befasst“ war.3 Die Errichtung der Wettbewerbsordnung war nach Auffassung der Kommission neben dem Abbau von Zöllen und Kontingenten, der Koordinierung der Wirtschaftspolitik, der Herstellung des freien Personen-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs und des Niederlassungsrechts ein zentrales Aufgabengebiet in den ersten Jahren der Gemeinschaft. Von der Groeben informierte die Minister und die in deren Vertretung anwesenden Staatssekretäre und Ständigen Vertreter4 über die bisherigen Aktivitäten der GDIV und über die Zusammenarbeit in den Kartellsachverständigenkonferenzen, wobei er die Umsetzungsprobleme offen ansprach. Abschließend
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HAEKB BAC26 1969/75. Blatt 0043–0045. Einleitende Aufzeichnung: Betrifft: Vorbereitung des Gedankenaustausches zwischen dem Rat und der Kommission [...]. Brüssel, den 10. November 1959. R/875 d/59 ann/gp. Blatt 0045; ZAR CM2 1960/2. Protokoll über die 28. Tagung des Rates der EWG am 1. und 2. Februar 1960. Brüssel, 26. Februar 1960. 74/60 rev. S. 18–44. Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen: ZAR CM2 1960/2. Protokoll über die 28. Tagung des Rates der EWG am 1. und 2. Februar 1960. Brüssel, 26. Februar 1960. 74/60 rev. S. 18–44. Ebd.: S. 18. Im Folgenden wird der Begriff Minister bei Diskussionen und Beschlüssen im Ministerrat synonym für Minister, Staatssekretäre und Ständige Vertreter verwendet, da letztere in Vertretung der jeweiligen Minister anwesend waren.
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stellte er die fünf Grundsätze der Wettbewerbspolitik vor und bat den Rat, diese formal als Basis der zukünftigen Wettbewerbspolitik zu bestätigen.5 Während der folgenden Aussprache wurde die deutsche Unzufriedenheit über die unterschiedliche Anwendung der Rechtsregeln deutlich.6 Staatssekretär Müller-Armack, der den ungern und deshalb selten nach Brüssel reisenden Wirtschaftsminister Erhard häufig im Rat vertrat, zeigte sich zwar kooperativ gegenüber der Kommission, aber enttäuscht von der Entwicklung der Wettbewerbspolitik.7 Er sprach sich ebenso wie die Vertreter der Niederlande und Belgiens – allerdings mit kleineren Einwänden – prinzipiell für die Grundsätze aus. Auch die anderen drei Mitgliedstaaten brachten keine grundsätzlichen Einwände vor. Allein die Ausführungen des italienischen Industrie- und Handelsministers Colombo waren mehr hemmend denn konstruktiv, da er sich für die Prüfung der gemeinsamen Wettbewerbspolitik zu einem späteren Zeitpunkt aussprach. In Rom wollte man erst einmal das nationale Wettbewerbsgesetz durch das Parlament bringen, bevor man sich mit einer möglichen europäischen Verordnung auseinandersetzen wollte.8 Müller-Armack forderte von der Groeben zu einer klaren Stellungnahme zu den Plänen der Kommission für eine Verordnung nach Artikel 87 auf, da er deren Realisierung ausdrücklich befürwortete und sich dieser bisher zu diesem Thema nur zurückhaltend und im Konjunktiv geäußert hatte. Die anderen Länder unterstützten das deutsche Anliegen, wenngleich unterschiedliche Beweggründe dahinter standen. Der Hintergrund der deutschen und niederländischen Intention war die Überwindung der heterogenen Rechtsgrundlagen für die Anwendung der Artikel 85 und 86, um dadurch zu einer einheitlichen Wettbewerbspolitik zu kommen. Die französische Seite hingegen strebte tendenziell klar festgelegte und möglichst geringe Befugnisse der Kommission an.9 Ihr Ständiger Vertreter Gorse – aus Paris war zu dieser Ratssitzung kein Minister oder Staatssekretär angereist – lehnte weitere Formalisierungen der Konsultationen zwischen Kommission und Mitgliedstaaten und umfangreichere Eingriffe in nationale Entscheidungen durch gemeinschaftliche Verfahren deutlich ab.10 Diese französische Ablehnung, die 5
Bei der Erläuterung einzelner Grundsätze unterließ es von der Groeben nicht, im Kreis des Rates an die drei Mitgliedstaaten ohne eigenes Wettbewerbsrecht zu appellieren, die gesetzgeberischen Maßnahmen zu beschleunigen. Andernfalls befürchtete er ernsthafte Schwierigkeiten bei der Durchführung der gemeinsamen Wettbewerbspolitik, sowohl für die Kommission als auch für die Mitgliedstaaten. Vgl. ZAR CM2 1960/2. Protokoll über die 28. Tagung des Rates der EWG am 1. und 2. Februar 1960. Brüssel, 26. Februar 1960. 74/60 rev. S. 23f. und S. 27. 6 Auf dieser politischen Ebene der Minister betonte die deutsche Seite noch einmal die Geheimhaltungspflicht bei der Verwendung nationaler Akten an, die die deutsche Seite im Gegensatz zu anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung stellte. Vgl. ebd.: S. 28 und 32. 7 Vgl. ZAR CM2 1960/2. Protokoll über die 28. Tagung des Rates der EWG am 1. und 2. Februar 1960. Brüssel, 26. Februar 1960. 74/60 rev. S. 27ff. und S. 31. 8 Vgl. ebd.: S. 35ff. 9 Vgl. Warlouzet: At the Core of European Power. S. 66. 10 Vgl. ZAR CM2 1960/2. Protokoll über die 28. Tagung des Rates der EWG am 1. und 2. Februar 1960. Brüssel, 26. Februar 1960. 74/60 rev. S. 27–44. Die vorgebrachte Forderung
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sich gegen das Präventivverfahren und damit gegen den fünften Grundsatz richtete, verhinderte jedoch nicht die einstimmige Billigung der Grundsätze als Grundlage für die weitere Arbeit der Kommission durch den Rat. Gleichzeitig befürworteten alle Mitgliedstaaten einen baldigen Kommissionsentwurfs für eine Verordnung oder Richtlinie nach Artikel 87 des Vertrags „zur Verwirklichung der in den Artikeln 85 und 86 niedergelegten Grundsätze.“11 Wenngleich die Zustimmung zu den Grundsätzen positiv war, war die Kommission mit dieser klaren Aufforderung eine Entscheidungsvorlage für den Rat zu erstellen nicht völlig zufrieden, da sie damit ihre bisherige Strategie der Informationssammlung und des Abwartens beenden musste. Zudem war die Erfahrungsbasis für einen Vorschlag zu diesem Zeitpunkt unbefriedigend dünn, da wichtige Erkenntnisse aufgrund fehlender Beratungen mit den Kartellsachverständigen der Regierungen über konkrete, vorgelegte Einzelfälle fehlten.12 Gleichwohl durfte das Spannungsverhältnis, das im EWG-Vertrag in der Mehrzahl der Fälle zwischen dem Rat und der Kommission bei der Rechtsetzung errichtet worden war, von keiner Seite überdehnt werden. Zwar hatte der Rat die Kommission aufgefordert, ihre Arbeit zu einer Verordnung nach Artikel 87 voranzutreiben, aber es lag allein in der Macht der Kommission, dem Rat einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten. Das Vorschlagsrecht ging bekanntlich weit über das übliche Initiativrecht nationaler Verfassungen hinaus, da es bei der Kommission monopolisiert war. Artikel 152 des EWG-Vertrags ermächtigte den Rat zwar dazu, die Kommission zur Unterbreitung von Vorschlägen aufzufordern, jedoch konnten von ihm keine inhaltlichen Vorgaben ausgehen. Nur durch einstimmige Änderungen von Kommissionsvorschlägen konnte der Rat nach Artikel 149, Absatz 1 eigene Inhalte setzen, eine hohe Hürde.13 Ob die Mitgliedstaaten gegen die Interessen der Kommission eine Verordnung erlassen konnten, hing damit von der Interessenidentität der Mitgliedstaaten ab. Im Konfliktfall konnte die Kommission mit ihrem Entwurf Kosten und Nutzen, die sich auch dem geplanten Rechtsakt für Wirtschaftssubjekte und Regierungen ergäben, so einseitig verteilen, dass dies die in der Übergangszeit erforderliche Einstimmigkeit der Staaten bei eine Richtlinie oder Verordnung gemäß Artikel 87 quasi ausschloss. Allerdings war sie den Zielen des EWG-Vertrags und der Kooperation der Staaten verpflichtet und besonders die erste Kommission unter ihrem Präsidenten Hallstein verfolgte das Ziel, die Kooperationsabsichten des Vertrags durch Rechtsetzung zu verfestigen.
nach Harmonisierung der sozialen Rechtsvorschriften und die Aufforderung an die Kommission entsprechende Regierungsmaßnahmen anzuregen, musste den an den Vertragsverhandlungen beteiligten Anwesenden wie ein „ceterum censeo“ der Franzosen geklungen haben. Ebd.: S. 42. 11 Artikel 87, Absatz 1 EWG-Vertrag. 12 Vgl. HAEKB BAC71 1988/197. Blatt 00146–0172. NKKS am 16. und 17. März 1960. IV/1824/60-D. Blatt 0150. 13 Vgl. Wirsing, Erich: Aufgabe und Stellung der Kommission in der Verfassungsstruktur der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. In: Europa-Archiv 19 (1964). S. 77–90. S. 83f.
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In der Kommission prüfte man im Februar und März 1960 zur Lösung ihres Informationsproblems die Möglichkeit einer Verordnung auf Basis von Artikel 213 des Vertrags, der der Kommission das Recht zur Einholung von Auskünften zugestand.14 Gleichzeitig zeichnete sich in Belgien die Verabschiedung eines angemessenen Wettbewerbsgesetzes ab. Nichts dergleichen war in Italien oder Luxemburg abzusehen. Aufgrund der niederländischen Rechtslage wurden die Wettbewerbsartikel des EWG-Vertrags dort weiterhin nicht angewendet und auch aus Frankreich waren keine Signale zu empfangen, dass der Wirtschaftsminister oder die Gerichte Artikel 85 und 86 anwenden würden. Allein die kooperative Zusammenarbeit mit dem Bundeskartellamt in Berlin entwickelte sich langsam.15 Daraus leitete man im Bundeswirtschaftsministerium aber auch das Recht ab, weitere Forderungen nach der Realisierung aktiver Wettbewerbspolitik zu stellen, die direkt an die Kommission und indirekt an die Vertragspartner gerichtet wurden. So reifte in der GDIV die Einsicht, dass die notwendige Etablierung einer aktiven Wettbewerbspolitik angesichts des fortschreitenden Zollabbaus nur über eine Verordnung oder ein Richtlinie nach Artikel 87 gelingen würde. Zunächst ging man hierzu auf die ‚Auftraggeber‘ zu und holte ein Stimmungsbild auf der Ebene der Kartellsachverständigen der Regierungen ein. VerLoren van Themaat konfrontierte die Sachverständigen Mitte März 1960 mit drei möglichen Handelsoptionen der Kommission zur Weiterentwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik. Die erste enthielt ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 169, um einzelne Staaten auf die Umsetzung ihrer Aufgabe nach Artikel 88 und 89 zu verpflichten. Die zweite Option sah vor, möglichst schnell eine Verordnung nach Artikel 87 zu erlassen. Hierbei konnte zunächst nur eine vorläufige Regelung angestrebt werden, um nach der Sammlung von weiteren Erfahrungen später eine überarbeitete Verordnung zu erlassen. Als dritte Option blieb der Kommission, die Mitgliedstaaten formal nach Artikel 89 aufzufordern Einzelfälle zu entscheiden, um weitere Erkenntnisse über die Vorstellungen und Auffassungen der Mitgliedstaaten von einer gemeinsamen europäischen Wettbewerbspolitik zu erhalten.16 Mit Ausnahme des deutschen Vertreters, der mehr über die Pläne der Kommission zur Durchführungsverordnung wissen wollte, reagierten alle Delegationen verhalten. Keine sprach sich für die Lösung der Umsetzungsprobleme über den juristischen Konfliktfall aus. Franzosen und Niederländer plädierten für den eingeschlagenen Weg der Zusammenarbeit durch Austausch und gemeinschaftliche Untersuchung von Einzelfällen, zu denen auch die Deutschen etwas beitragen wollten. Der belgische Sachverständige äußerte sich zurückhaltend zu jeglichen 14 Vgl. HAEKB BAC71 1988/89. Handschriftliche Übersicht zur Verordnung 17. Blatt 459– 462. Blatt 459. 15 Vgl. BA B102/134647. Umfangreicher Schriftverkehr des Kartellreferates des BMWis mit dem Bundeskartellamt und der Kommission im Frühjahr und Sommer 1960. Vgl. hierzu auch McLachlan, D. L.; Swann, Dennis: Competition Policy in the Common Market. In: The Economic Journal 73 (1963). S. 54–79. S. 64ff. 16 Vgl. HAEKB BAC71 1988/197. Blatt 00146–0172. NKKS am 16. und 17. März 1960. IV/1824/60-D. Blatt 0156.
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weiteren Maßnahmen der Kommission und verwies auf die nationalen wettbewerbspolitischen Aktivitäten. Luxemburger und Italiener sprachen sich vorrangig für die nationale Umsetzung aus, was im Hinblick auf die Umsetzung einer aktiven europäischen Wettbewerbspolitik jedoch angesichts fehlender Gesetze in diesen Ländern wenig hilfreich war. Jedoch votierten die Vertreter dieser beiden letzten Staaten ausdrücklich für die Erarbeitung einer Verordnung nach Artikel 87, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen. Die Italiener erhofften sich die Verlagerung des Konflikts über die Umsetzung der im Vertrag vorgeschriebenen Wettbewerbspolitik in den Ministerrat. Den Luxemburgern war die abschließende Regelung der Abgrenzung der Entscheidungsbefugnisse zwischen Gerichtshof und Kommission wichtig. Kooperativ hatten sich alle sechs Delegationen im Hinblick auf die Fortsetzung der bisherigen, aus Perspektive der Kommission fruchtlosen Zusammenarbeit gezeigt, was jedoch nichts am Problem änderte, dass verwertbare Informationen und daraus resultierende Erfahrungswerte maximal aus drei Ländern stammen konnten. Allein von deutscher Seite hatte die Kommission Zuspruch zur Umsetzung der in Artikel 85 und 86 festgelegten Grundsätze durch eine Verordnung gemäß Artikel 87 erhalten. Die inhaltlichen Pläne der Kommission hierzu hatte aber keiner der nationalen Vertreter kommentiert, ebenso wenig hatte es Widerspruch hinsichtlich der Absicht der Kommission gegeben, eine Verordnung und keine Richtlinie zu erlassen.17 Trotz der geringen Erfahrungsbasis wurde im Juli 1960 in der Kommission ein Redaktionsausschuss eingerichtet, der einen ersten Entwurf nach Artikel 87 erarbeiten sollte. Die Kommission entschied, dass nur mit einer Verordnung „alle Mitgliedstaaten in der gleichen Art und Weise“ gebunden werden konnten, während mit einer Richtlinie die Einheit der Rechtsprechung und damit die dringend notwendige Rechtssicherheit in den Mitgliedstaaten nicht zu garantieren war. Der Ansatz der Informationsbeschaffung über Artikel 213 wurde von der Kommission nicht weiterverfolgt.18 Neben der Aufforderung durch den Rat, mag zu diesem Handeln der Kommission beigetragen haben, dass wenigstens eins der drei strategischen Ziele der GDIV für die Übergangszeit erreichbar schien. Die anderen beiden Ziele waren kurz- bis mittelfristig auf dem bisherigen Weg der Zusammenarbeit und angesichts der nationalen Rechtslage ohnehin nicht zu erreichen, denn weder waren alle Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, dass die Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrags vom Verbotsgrundsatz ausgingen, noch, dass die Aufsicht über Ein- und Ausfuhrkartelle, internationale Marktaufteilungsabsprachen und Preis- und Quotenkartelle am besten von der Kommission durchgeführt würde und nicht von den Mitgliedstaaten. Nur das dritte Ziel war greifbar, da die Verabschiedung von Durchführungsregeln im Rat vor dem 1. Januar 1961 mehr als unwahrscheinlich war. Das Gewicht des Kommissionsvorschlags wurde dadurch potentiell größer, da der Rat ab dem 1. Januar 1961 gemäß Artikel 87 mit 17 Vgl. ebd.: Blatt 0156ff. 18 ZAR CM2 1960/95. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 29. November in Luxemburg (Erster Teil). Brüssel, 1. Dezember 1960. Dok.: R/1220/60 (Teil I). Vertraulich. S. 39.
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qualifizierter Mehrheit über den Kommissionsentwurf beschließen konnte und die von der GDIV gefürchtete Vetomacht eines Staates damit aufgehoben wäre.19 Der Redaktionsausschuss, der aus dem französischen Leiter der Abteilung ‚Rechtsfragen‘ der Direktion A, Roland Mussard, sowie den beiden Deutschen Schlieder und Thiesing, letzterer für den Juristischen Dienst der Gemeinschaften, bestand, legte den Kommissaren am 13. September 1960 ein erstes Konzept für eine Verordnung zur Durchführung des Kartellverbots und der Missbrauchsaufsicht vor, das diese in der folgenden Woche in ihrer 117. Sitzung nach kleineren Überarbeitungen billigten.20 Gleichzeitig nahm die Kommission mit den Ständigen Vertretern Kontakt auf, um mit ihnen das weitere Verfahren zum Erlass einer Verordnung nach Artikel 87 festzulegen.21 Die Kommissare beauftragen die GDIV zudem, einen für den Rat entscheidungsfähigen Entwurf zu verfassen und zuvor die Meinungen der Mitgliedstaaten, der Industrieverbände und der Arbeitnehmerverbände einzuholen. Damit begann der erste Rechtsetzungsprozess nach Artikel 87 des EWG-Vertrags, der sich bis Februar 1962 hinzog und in die ‚Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86‘ mündete. Diese blieb als ‚VO Nr. 17‘ bis 1. Mai 2003 nahezu unverändert die Grundlage der europäischen Wettbewerbspolitik.22 Am Ausgangspunkt dieser Entwicklung mussten jedoch erst einmal die Lücken des EWG-Vertrags, die eine aktive Wettbewerbspolitik bisher verhindert hatten, geschlossen werden. Die Kommission hatte den Auftrag erhalten, Einigungen, die bisher nicht möglich gewesen waren, zwischen den Mitgliedstaaten zu finden. Es sollte sich zeigen, welche Staaten ihre Interessen bei der Wettbewerbspolitik durchsetzten konnten, und ob und wie das Institutionengefüge der EWG geeignet war, um zu Entscheidungen zu gelangen.
19 Vgl. VerLoren van Themaat: Einige Betrachtungen. S. 400f. Demnach war es nicht das Ziel der Kommission, dem Rat rechtzeitig einen Vorschlag vorzulegen, damit dieser noch vor dem 1. Januar 1961 eine Verordnung beschließen könnte, wie Hambloch unter Verweis auf den Vierten Gesamtbericht der Gemeinschaften schreibt, der zu dieser Frage keine Aussagen macht. Vgl. Hambloch: Entstehung der VO 17. S. 882; Vierter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel Juni 1961. S. 65ff. 20 Vgl. HAEKB BAC71 1988/89. Handschriftliche Übersicht zur Verordnung 17. Blatt 459– 462. Blatt 459. 21 Daraus ging hervor, die Meinungen der Mitgliedstaaten durch Thematisierung bei der Kartellsachverständigenkonferenz zu berücksichtigen, interessierter Wirtschaftskreise, wie UNICE und Gewerkschaften, zu befragen und das Parlament durch von der Groeben mündlich zu unterrichten. Als Ziel wurde vereinbar, dass die Kommission dem Rat vor dem 1. 11. 1960 den Vorschlag zuleiten möge, „so dass dessen Beschluss noch vor dem 1. 1.1961 möglich ist.“ Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Ergebnis der Erörterungen zwischen Vertretern der Kommission und den Ständigen Vertretern am 16. 9. 1960.... Blatt 0046f. 22 Am 1. Mai 2003 trat die Verordnung Nr. 1/2003 in Kraft, die der Rat am 16. Dezember 2002 beschlossen hatte.
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F.1.b Erarbeitung des Kommissionsentwurfs – Rücksichtnahme auf nationale Präferenzen? Mit einer ersten Verordnung sollten nach Vorstellung der GDIV nicht sofort alle Probleme der Anwendung der Artikel 85 und 86 umfassend geregelt werden. Nur die wichtigsten Fragen sollten geklärt und erste Anwendungsschritte ermöglicht werden. Die Kommission beabsichtigte, die Informationsmöglichkeiten der zuständigen Behörden zu verbessern, Grundlagen für die Rechtssicherheit der Unternehmen zu schaffen, für vorhandene Kartelle Übergangsbestimmungen zu erlassen und eine hinreichend einheitliche Anwendung des Artikels 85 zu sichern. Um größtmögliche Rechtssicherheit zu erreichen, wollte die Kommission sowohl für Kartellmitglieder als auch für negativ von Kartellen Betroffene eine sichere Grundlage schaffen, aus der eindeutig erkennbar sein sollte, was gestattet und was nicht gestattet war. Beendet werden sollte die weiterhin bestehende Ungewissheit, ob Artikel 85 ohne die vorherige Entscheidung einer Behörde unmittelbar anwendbare Rechtsnorm war. Bestehende Kartelle, so genannte Altkartelle, sollten Rechtssicherheit erhalten und die Kommission wollte erste Verfahrensschritte zur Anwendung von Artikel 85, Absatz 3 einführen. Der Redaktionsausschuss schlug eine nach Kartellarten differenzierte Anmelde- und Registrierungspflicht vor, um das Verbotsprinzip durchzusetzen und das immer noch große Informationsdefizit der GDIV abzubauen. Innerhalb der ersten sechs Monate sollte die Anmeldepflicht für eine ganze Reihe von internationalen, vertikalen Altkartellen gelten. Andere Altkartelle, die innerhalb einer dreijährigen Übergangsfrist einen Antrag auf Genehmigung stellen würden, sollten bis zum Widerspruch durch die Kommission vorübergehend gültig sein. Für diejenigen Altkartelle, die der Anmeldepflicht nachkämen oder einen Antrag auf Genehmigung nach Artikel 85, Absatz 3 stellen würden, sollte die potentielle Nichtigkeit erst ab der Entscheidung der Kommission gelten, die damit zugleich konstitutiven Charakter bekam.23 Für Neukartelle, die sich nach Inkrafttreten der Verordnung gründeten, plante der Redaktionsausschuss, dass diese der grundsätzlichen Genehmigungspflicht gemäß Artikel 85, Absatz 3 unterliegen sollten.24 Diese Punkte bildeten, unabhängig von der differenzierten Behandlung von Alt- und Neukartellen und des Widerspruchsverfahrens für Neukartelle, den Kern des Verordnungsvorschlags. Sie wurden später zum zentralen Diskussionsgegenstand in allen an diesem Rechtssetzungsprozess beteiligten Gremien. Die Kom23 Vgl. Memorandum über den Entwurf einer Verordnung gemäß Art. 87. Brüssel, 23. September 1960. Dok.: IV/5178/60-D. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 309– 314. S. 310f. 24 Bei Altkartellen sah man keine Differenzierung vor zwischen Kartellen, die vor dem 1. 1. 1958 und nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags entstanden waren. Dieses Zugeständnis an die Vertreter der Interpretation der Wirkung des Verbotsprinzips bot ausreichend Anpassungsmöglichkeiten für die Wirtschaft, nicht zuletzt weil zwei Jahre über die Wirkung diskutiert worden war und die Kommission von Anfang an ihren eindeutigen Standpunkt in der Öffentlichkeit vertreten hatte.
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mission legte Artikel 85 als Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt aus und wollte dies mit der Verordnung endgültig festlegen. Infolgedessen konnten sich an Absprachen beteiligte Unternehmen solange nicht auf Artikel 85, Absatz 3 berufen, bis die Kommission eine ausdrückliche Entscheidung über eine Ausnahmegenehmigung vom Kartellverbot nach Artikel 85, Absatz 3 treffen würde. Die Ausnahmegenehmigung sollte unabhängig von der Kartellart nur auf Antrag möglich und erst ab dem Zeitpunkt der Entscheidung gültig sein. Auch die Möglichkeit, dass für Neukartelle, die einen Genehmigungsantrag stellten, eine vorläufige Gültigkeit entstehen konnte, sollte die Kommission nicht innerhalb von sechs Monaten nach Empfang des Antrags widersprechen, änderte nicht das grundsätzliche Ziel des Redaktionsausschusses, Artikel 85 als Kartellverbot mit Genehmigungsvorbehalt festzuschreiben. Mehrere Maßnahmen für eine einheitliche europäische Wettbewerbspolitik waren hingegen nach übereinstimmender Meinung in der GDIV zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht entscheidungsreif. So lagen für die Umsetzung von Artikel 86 keine geeigneten, für alle Branchen in allen Mitgliedstaaten gleichmäßig dienlichen Maßstäbe vor, um die Existenz marktbeherrschender Stellungen festzustellen. Damit fehlte ein Ansatzpunkt für Zwangsmittel, um marktbeherrschende Unternehmen einer Anmeldepflicht zu unterwerfen oder zur Genehmigung der Ausnutzung dieser Position zu bewegen. Offen blieb auch die Frage, ob die Kommission in der Wettbewerbspolitik unabhängig entscheiden sollte oder, ob ein Ausschuss an ihrer Seite Entscheidungen beratend begleiten sollte. Keiner der Mitgliedstaaten hatte eine einheitliche Regelung hinsichtlich der Existenz und der Besetzung eines solchen Gremiums, die ohne Weiteres hätte übernommen werden können. Ähnliches galt für die Stellung der Gerichte in der Wettbewerbspolitik. In dieser ersten Verordnung schon Differenzierungen zwischen Branchen oder bestimmten Gruppen von Unternehmensvereinbarungen bei der Anwendung von Artikel 85 und 86 vorzunehmen, erschien nicht dringlich. Alle diese Themen sollten ebenso in einer zweiten Verordnung geklärt werden wie die Abgrenzungen zwischen nationaler und europäischer Rechtsanwendung auf ein und dasselbe Kartell. Die GDIV sah sich aufgrund der vorliegenden Informations- und Erfahrungsbasis nicht dazu in der Lage, Vorschläge für Sanktionen bei Verletzung von Artikel 85 oder 86 zu machen. Der erste Entwurf sah nur die Androhung von Zwangsgeldern vor, wenn Kartelle der Anmeldepflicht nicht nachkommen oder Entscheidungen der Kommission nicht beachten würden. In der Generaldirektion Wettbewerb setzte man zudem auf die zivilrechtlichen Folgen für Kartelle, die von der Kommission als nichtig erklärt worden waren. Nach Auffassung in der GDIV war eine umfassendere Regelung, die auch Sanktionen gegen vertragswidriges Verhalten vorgesehen hätte, mit dem bisherigen Personalbestand nicht zu bewältigen. Qualifiziertes Personal für Kontrolle und Aufsicht über internationale und grenzüberschreitende Kartelle stand der
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GDIV aber nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, um den damit befürchteten Arbeitsaufwand zu bewältigen.25 Die GDIV lud für die erste Oktoberwoche leitende Beamte der Regierungen und für den darauf folgenden Tag Vertreter des europäischen Industriedachverbandes ‚Union des industries de la Communauté européenne‘ (UNICE) und der Gewerkschaften zum Austausch über ihre Pläne ein. Im Bundeswirtschaftsministerium und in der französischen Administration hatte man darauf bestanden, vor den Verbänden angehört zu werden.26 Jedoch versuchte die GDIV bereits im Vorfeld des Treffens Anfang Oktober, erste Tendenzen der Mitgliedstaaten zum Verordnungsentwurf herauszufinden und nutzte hierfür die informelle Institution der Kartellsachverständigenkonferenz, die Ende September 1960 zum achten Mal tagte.27 Hierbei betonten alle Sachverständigen, dass ihre Meinungsäußerungen nur als vorläufige Stellungnahmen, wenn nicht sogar nur als persönliche Stellungnahmen zu verstehen und zu werten wären.28 Man einigte sich auf den informellen Austausch, der nicht protokolliert wurde. Die GDIV stimmte diesem Verfahren zum gegebenen Zeitpunkt zu, nutzte jedoch hinterher die Abschrift des ProtokollTonbandes, um die Meinungstendenzen der Mitgliedstaaten vorliegen zu haben.29 Führende Mitarbeiter der GDIV erörterten unter Vorsitz des Kommissars für Wettbewerb mit leitenden Regierungsbeamten am 6. Oktober 1960 zahlreiche Einzelfragen des Entwurfs.30 Hierbei wurde abschließend deutlich, dass die 25 Vgl. Vermerk über den Entwurf einer Verordnung gemäß Art. 87. 23. September 1960. Dok.: IV/5176/60. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 315–319. S. 317ff.; VerLoren van Themaat: Einige Betrachtungen. S. 401. 26 Grundsätzlich stieß das Vorhaben der Kommission, die Verbände anzuhören, auf Kritik, da hierzu nach Auffassung in Bonn und Paris der Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) institutionalisiert worden war. Vgl. BA B 102/134644. Verschiedene interne Vermerke des Referats EA 4 im Bundeswirtschaftsministerium. 27 Den Mitgliedstaaten war am 23. September 1960 für die Gespräche am 6. Oktober 1960 und für den Meinungsaustausch der Kartellsachverständigen am 27./28. September 1960 ein Memorandum über die geplante Verordnung und ein erläuternder Vermerk zugestellt worden. Vgl. Memorandum über den Entwurf einer Verordnung gemäß Art. 87. Brüssel, 23. September 1960. Dok.: IV/5178/60-D. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 309– 314; Vermerk über den Entwurf einer Verordnung gemäß Art. 87. Brüssel, 23. September 1960. Dok.: IV/5176/60. Abgedr. ebd.: S. 315–319. 28 Vgl. HAEKB BAC71 1988/198. Blatt 0294–0311. Niederschrift über die 8. Konferenz der Kartellsachverständigen [...] am 27. und 28. September 1960. IV/5367/60-D. Blatt 0299. 29 Vgl. HAEKB BAC71 1988/198. Blatt 0163. Vermerk Jaume für VerLoren van Themaat, Brüssel 21. November 1960. 30 Die Bundesrepublik war nicht mit hohen Regierungsbeamten vertreten. Aus dem BMWi waren Kartellreferatsleiter Epphadt und sein Mitarbeiter Obernolte anwesend sowie die Herren Koenigs, Vertreter des Bundeskartellamtes, und Kuhn, Vertreter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik. Minister Erhard und Abteilungsleiter Langer waren verhindert, und nur angesichts einer bilateralen Besprechung von Kommission und hohen Regierungsbeamten am 15. Oktober 1960 hatte die Kommission sich entschieden die Sitzung am 6. Oktober auch ohne Beteiligung deutscher politischer Beamter durchzuführen. Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Blatt 0069–0074. Vermerk über die Sitzung der Regierungsvertreter am 6. Oktober 1960 in Brüssel über Memorandum der Kommission betreffend Erlass einer Verordnung nach Artikel 87. Brüssel, den 6. Oktober 1960; HAEKB BAC71 1988/107. Blatt
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Kommission für ihre Pläne nur aus den Niederlanden uneingeschränkte Unterstützung erhielt. Die deutsche Seite trug zahlreiche Bedenken vor, die alle mit der Befürchtung einer zu schwachen Verordnung begründet waren. Skepsis herrschte in Bonn gegenüber allen Elementen, die dazu geeignet waren, das Verbotsprinzip durch die Festschreibung von Formen vorläufiger Gültigkeit in der Verordnung oder durch zu langsames Handeln der Kommission abzuschwächen. Nur nach einer konstitutiven Entscheidung über Ausnahmen vom Verbot sollten Kartelle möglich sein.31 Die Belgier widersprachen hingegen dem grundsätzlichen Konzept. Sie sprachen sich für das Verbotsprinzip mit Legalausnahme aus und plädierten bei Neukartellen für die vorläufige Wirksamkeit nach einem Genehmigungsantrag ohne Widerspruchsfrist. Auch die Franzosen verstanden Artikel 85 als Verbot mit Legalausnahme. Aufgrund der äußerlich hohen Übereinstimmung ihres eigenen nationalen Kartellverbots mit Artikel 85 gingen sie davon aus, dass die geplante europäische Wettbewerbspolitik ihrem nationalen Konzept entspräche.32 Unternehmensabsprachen waren demnach zunächst bis zum Einspruch durch staatliche Aufsicht rechtsgültig. Der Entscheidung der Kommission, mit dieser ersten Verordnung keine Regeln zur Aufsicht und Kontrolle von marktbeherrschenden Stellungen nach Artikel 86 festzulegen, wurde nur von deutscher Seite Verständnis entgegen gebracht. Die technischen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung und Erfassung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, an denen das Bundeskartellamt bis dahin ebenfalls ohne Erfolg arbeitete, waren ihr bekannt. Alle anderen Delegationen forderten hingegen die Kommission auf, auch für die Anwendung des Artikels 86 Regelungen zu treffen.33 Mehrheitliche Zustimmung erhielt die Kommission für ihre Vorschläge in jenen Bereichen, in denen sie noch keine detaillierten Regelungen treffen wollte. Jeweilige Mindermeinungen gingen dabei auf spezielle nationale Wünsche zurück. So kritisierten die Deutschen den Plan, die Abgrenzungen zwischen nationaler und europäischer Rechtsanwendung offen zu lassen, da sie befürchteten, dass sich nationale Kartelle durch Ausnahmegenehmigungen nach Artikel 85, Absatz 3 dem GWB entzögen.34 Die Italiener sahen es als „schwerwiegende[n] Sicherheitsfaktor“ für ganze Branchen an, dass keine Sonderregelungen für einzelne Wirtschaftsbereiche gemäß Artikel 87, Absatz 2c getroffen werden sollten.35
31 32 33 34 35
0045. Interner Vermerk für Direktor Jaume, Brüssel 29. September 1960; mit handschr. Vermerk des stellv. Kabinettschefs von der Groebens Wirsing über ein Telefonat mit Günther. Hierzu zählten das Widerspruchsverfahren, das baldiges Reagieren der Kommission auf Ausnahmeanträge voraussetzte, und die Vereinbarkeit der vorläufigen Wirksamkeit durch Meldung und Erlaubnisantrag für Altkartelle. Vgl. Warlouzet: At the core of European Power. S. 66; BA B102/134645. Drouin, Pierre: Une nouvelle Épreuve pour les „six“. La mise au point d’une panalolie antitrust. In: Le Monde vom 24. Februar 1961. Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Blatt 0069–0074. Vermerk über die Sitzung der Regierungsvertreter am 6. Oktober 1960 in Brüssel über Memorandum der Kommission betreffend Erlass einer Verordnung nach Artikel 87. Brüssel, den 6. Oktober 1960. Blatt 0073. Vgl. ebd.: S. 328. Die deutsche Seite konnte dies nicht nachvollziehen und vermutete hinter der italienischen Aufforderung, dies zu ändern, nur eine Verzögerungstaktik der Italiener. Vgl. ebd.: S. 330f.
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Zum Auskunfts- und Prüfungsrecht der Kommission in einem bereits eingeleiteten Verfahren gab es keine einheitliche Meinung der Mitgliedstaaten. Im Prinzip wurde diesem Recht nicht widersprochen, jedoch kündigten Franzosen und Deutsche dazu eigene Entwürfe an. Auch über das Verhältnis von EuGH und Kommission bestanden unterschiedliche Meinungen, die von einer ausschließlichen verfahrensrechtlichen Kontrolle des Kommissionshandelns durch den EuGH, von Frankreich, den Niederlanden und Luxemburg gefordert, bis zum vollständigen Prüfungsrecht für alle Kommissionsentscheidungen, von Italienern und Deutschen gewünscht, reichten. Ebenso klafften die Meinungen der Mitgliedstaaten zur Frage der Publizität auseinander. Die Kommission war hierbei selbst noch indifferent, konnte aber keine einheitliche Position der Mitgliedstaaten übernehmen.36 Insgesamt ergab sich ein sehr heterogenes Meinungsbild der Mitgliedstaaten und spätestens nach diesem Treffen der Kommission mit den hohen Regierungsvertretern Anfang Oktober 1960 war aber klar, dass ein einstimmiger Beschluss des Rates über eine Kommissionsvorlage im laufenden Jahr nicht mehr zu erzielen war. Zudem lehnten die Mitgliedstaaten den Kern des bisherigen Kommissionsvorschlags mehrheitlich ab. Der Plan der Kommission, ihr die ausschließliche Zuständigkeit für die Ausnahmegenehmigung vom Kartellverbot zu erteilen, wurde von nahezu allen Mitgliedstaaten als Störung des vertraglichen Gleichgewichts zwischen Kommission, EuGH und nationalen Behörden aufgefasst und vor allem wegen der fehlenden Beteiligungsrechte der nationalen Behörden am Verfahren abgelehnt. Diesen Kritikpunkt wollte die Kommission berücksichtigen, die grundsätzliche Ausrichtung war für sie hingegen nicht disponibel. Am folgenden Tag, dem 7. Oktober 1960, trafen sich VerLoren van Themaat, der Redaktionsausschuss und weitere Mitarbeiter der GDIV vormittags mit Vertretern der UNICE und nationaler Industrieverbände und am Nachmittag mit Vertretern der Gewerkschaften. Vertreter der Mitgliedstaaten nahmen an diesen Besprechungen als Beobachter teil. Die Industrie protestierte quasi gegen das gesamte Vorhaben der Kommission und widersprach dem Plan vehement, der Kommission allgemeine Untersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse zu erteilen. Sie lehnte die Anzeigepflicht entschieden ab und verwies auf die Konzentrationsgefahren in der Wirtschaft, die sich aus der Meldepflicht und der Kartellaufsicht bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Aufsicht über marktbeherrschende Stellungen gemäß Artikel 86 ergäben. Gründe für die unterschiedliche Behandlung von Alt- und Neukartellen erkannten die Unternehmensvertreter nicht an. Von Seiten des BDI wurde vorgeschlagen, auf Basis von Artikel 85, Abs. 3 generelle Ausnahmen vom Kartellverbot zu erklären und somit für ganze Bereiche das Verbotsprinzip mit Legalausnahme einzuführen. Das hinter diesen Positionen stehende Ansinnen, das Kartellverbot auf diesem Weg auszuhöhlen und in Richtung Missbrauchsprinzip zu verändern, lehnte die Kommission mit Verweis auf den Vertrag ab. Alle Wünsche der Industrie, die auf die Aufweichung
36 Vgl. ebd.: S. 329.
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des Verbotsprinzips zielten, wies sie klar zurück.37 Dagegen erklärte sie sich bereit, den Wunsch der Unternehmen nach engerer Zusammenarbeit von Beamten der Kommission und der nationalen Behörden bei Untersuchungen zu berücksichtigen und die Einrichtung einer die Kommission bei ihren Entscheidungen beratenden Institution weiter zu prüfen. Letzten Endes blieben die Standpunkte aber unvereinbar, da die Vertreter der Industrie den gesamten Entwurf der Kommission „als unvollständig und nicht billigenswert“ ablehnten.38 Auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren verweigerten sich die Industrieverbände der konstruktiven „Mitwirkung bei der Durchsetzung der Artikel 85 und 86.“39 Sehr viel angenehmer muss der Meinungsaustausch mit Vertretern des europäischen Dachverbandes der christlichen Gewerkschaften und der nationalen Gewerkschaften am Nachmittag des gleichen Tages für die Mitglieder der Kommission gewesen sein. Hier trafen sie auf konstruktive Unterstützung für die Durchsetzung der Kartell- und Wettbewerbsvorschriften des EWG-Vertrags. Die Gewerkschaftsvertreter tendierten sogar zu umfangreicheren Regelungen der Anzeigepflicht für Altkartelle, forderten kürzere Übergangsfristen sowie weiterreichende Publizitätsvorschriften mit einem öffentlichen Kartellregister und der Veröffentlichung von Anträgen auf Ausnahmegenehmigung als die Kommission bisher vorsah. Sie beanstandeten lediglich die fehlenden Vorschriften zur Anwendung des Artikels 86. Zu einem beratenden Ausschuss äußerte sich die Mehrheit der Gewerkschaftsvertreter verhalten, da sie darin zu hohen Verwaltungsaufwand vermutete und die Verschleppung von Einzelfällen befürchtete.40 Vor der Erarbeitung einer Endfassung setzte sich die Kommission am 15. Oktober 1960 noch einmal bilateral mit den Spitzen des Bundeswirtschaftsministeriums und des Bundeskartellamts in Bonn zum Meinungsaustausch zusammen.41 Da die deutsche Seite den wettbewerbspolitischen Kern der Kommissions37 Hierbei handelte es sich um die Forderung nach vorläufiger Wirksamkeit von Kartellen schon mit der Meldung, die Abschaffung der Bußgelder bei Nichterfüllung der Anmeldepflicht, die Begrenzung des Auskunfts- und Prüfungsrechts der Kommission nur auf Fälle vermuteter Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 und 86 und die genauere Festlegung der Verteidigungsrechte. Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Bericht über die Konferenz am 7. 10. 1960 (Meinungsaustausch mit Vertretern der UNICE über den Entwurf einer Verordnung nach Art. 87). Blatt 0147f.; Ergebnisvermerk über die Erörterungen des Memorandums der Kommission betreffend Erlass einer VO nach Art. 87 mit den Sozialpartnern am 7. Oktober 1960. Brüssel, 7. Oktober 1960. Blatt 0157f.; Liste de participants. Conférence „Projet de règelement de l’Art. 87 – Consultation de l’UNICE. Dok.: IV/5538/60-F. Blatt 0151. 38 HAEKB BAC71 1988/107. Bericht über die Konferenz am 7. 10. 1960 (Meinungsaustausch mit Vertretern der UNICE über den Entwurf einer Verordnung nach Art. 87). Blatt 0148. 39 Vgl. VerLoren van Themaat: Einige Betrachtungen. S. 401. 40 Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Bericht über die Konferenz am 7. 10. 1960 (Meinungsaustausch mit Vertretern der Gewerkschaften über den Entwurf einer Verordnung nach Art. 87). Blatt 0093f.; Liste de participants. Conférence „Projet de règelement de l’Art. 87 – Consultation de représentantes des syndicates. Dok.: IV/5539/60-F. Blatt 0095f.; Vermerk über die Konferenz am 7. 10. 1960. Blatt 0097–0099. 41 Dies war der nachgeholte Meinungsaustausch der Kommission mit der deutschen Regierung, der am 6. Oktober 1961 nicht hatte stattfinden können. Anwesend waren beide Staatsekretäre Müller-Armack und Westrick und beide zuständigen Abteilungsleiter Meyer-Cording und
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vorhaben grundsätzlich unterstützte, war auch dies ein konstruktives Treffen. Das Hauptaugenmerk der deutschen Seite lag darauf, „dass es zu keiner Regelung kommt, die das im EWG-Vertrag verankerte Verbotsprinzip praktisch in ein Missbrauchsprinzip verkehrte.“42 Hinsichtlich der Frage der unterschiedlichen Behandlung von Alt- und Neukartellen war man nahezu auf einer Linie. Die Kommission zeigte Verständnis für die Befürchtungen der deutschen Seite, dass das Verbotsprinzip für Neukartelle durch Arbeitsüberlastung der Kommission in Richtung eines Missbrauchsprinzips ausgehöhlt werden konnte. Ebenso war sie bereit, den deutschen Forderungen nach kürzeren Melde- und Antragsfristen auf Sondergenehmigung gemäß Artikel 85, Absatz 3 für Altkartelle zu entsprechen und anerkannte die Notwendigkeit, die vorläufige Gültigkeit von Altkartellen nach einem Antrag auf Anwendung des Absatzes 3 und ausstehender Entscheidung der Kommission zeitlich einzuschränken. Sie nahm den deutschen Vorschlag positiv auf, sich selbst die Pflicht aufzuerlegen, binnen drei Jahren Entscheidungen über alle Anträge auf Ausnahmegenehmigung von Altkartellen zu treffen. Auch wenn dies eine großzügige Übergangsfrist für Altkartelle bedeutet hätte, wäre die vorläufige Wirksamkeit dieser potentiell wettbewerbsbeschränkenden Absprachen damit begrenzt gewesen. Dieses Treffen war die letzte Möglichkeit der Bundesregierung, ihre nationalen Präferenzen einzubringen, bevor die Kommission ihren endgültigen Entwurf erarbeitete und dem Rat vorlegte. In Bonn begann man deshalb im Bundeswirtschaftsministerium und im Bundesjustizministerium sofort nach dem Treffen zu prüfen, ob jene Punkte, bei denen die Kommission sich nicht kompromissbereit gezeigt hatte, im Zweifelsfall hinnehmbar waren und welche eigenen Kompromissvorschläge im Rat eingebracht werden konnten. Kritisch wurden weiterhin die Pläne der Kommission zum Auskunfts- und Prüfungsrecht sowie zu Zwangsgeldern eingeschätzt. Insbesondere lehnte man im Bundeswirtschaftsministerium die Haltung der Kommission zur Alleinzuständigkeit für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen gemäß Artikel 85, Absatz 3 ab. Hier standen rechtliche Bedenken im Vordergrund, die prinzipielle Abneigung gegenüber der Kompetenzübertragung auf die supranationale Ebene war sekundär. Der zentrale Einwand galt den fehlenden Anfechtungsmöglichkeiten der Kommissionsentscheidung für Betroffene. Sollte der EuGH in diesem Fall nur das Recht zur Verfahrensprüfung, nicht jedoch zur erneuten Tatsachenprüfung haben, wäre die Kommission die einzige Tatsacheninstanz. Da das GWB hingegen drei Tatsacheninstanzen vorsah, wäre dies rechtspolitisch von deutscher Seite aus kaum zu Langer des BMWi, sowie der Referatsleiter Rechtsangelegenheiten der Europaabteilung Ulrich Everling, der Regierungsrat des Kartellreferats Obernolte, Bundeskartellamtspräsident Günther und der Ständige Vertreter in Brüssel Ophüls. Von der Kommission waren Kommissar von der Groeben, Generaldirektor VerLoren van Themaat und der Abteilungleiter „Rechtsfragen“ Mussard anwesend. Zu Folgendem vgl.: Kurzvermerk über die Besprechung am 15. Oktober 1960 mit dem Mitglied der Kommission Herrn von der Groeben über Entwurf der Kommission zu einer Verordnung nach Artikel 87. 18. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 331–336. S. 334. 42 BA B102/134644 Meyer-Cording an Erhard am 11. Oktober 1960.
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akzeptieren gewesen.43 Der endgültige Vorschlag der Kommission war daraufhin noch einmal genau zu prüfen und die Verhandlungen im Rat abzuwarten. Neben der Überprüfung des Kommissionsvorschlags ging man in Bonn auf die Interessenverbände der Wirtschaft zu und erfüllte so deren bereits im Frühjahr 1960 aufgekommene Forderung nach besserer Information. Nicht nur der Gesamtverband des Groß- und Außenhandels, auch der BDI, die Genossenschaftsverbände, das Handwerk und Vertreter des Groß- und Außenhandels hatten den Eindruck geäußert, schlechter als die Verbände der anderen Ländern informiert worden zu sein. Daher hatten sie wiederholt den Kontakt über das Kartellreferat im Bundeswirtschaftsministerium gesucht. Sowohl Bundeskartellamtspräsident Günther als auch Abteilungsleiter Meyer-Cording standen dem offen gegenüber, so dass es am 18. Oktober 1960 zu einem gemeinsamen Treffen mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft kam.44 Die Vertreter des Gesamtverbands des Groß- und Außenhandels, der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, des Zentralverbands deutscher Konsumgenossenschaften (ZdK), der Arbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels und des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZdH) drückten übereinstimmend ihren Unmut darüber aus, dass sie anders als die Industrie und die Arbeitnehmerverbände bisher noch nicht von der Kommission angehört worden waren. Sie forderten, dass die deutsche Regierung im Rat darauf hinwirke, dass die Kommission angewiesen würde, auch die anderen Verbände rechtzeitig anzuhören. Inhaltlich fehlte denselben Verbänden im bisherigen Entwurf der Kommission eine Vorschrift zur Publizität von Kartellanträgen und -genehmigungen. Zudem baten sie, Anträgen auf Ausnahmegenehmigung vom Kartellverbot eine Stellungnahme der vom Kartell betroffenen Abnehmer und Lieferanten beizufügen. Inhaltlich zeigten sich bei den Verbänden des Handels und des Handwerks andere Präferenzen als beim BDI. Während der BDI als einziger in dieser Runde den Kommissionsvorschlag tendenziell befürwortete und sich gegen die Anhörung von Arbeitnehmerverbänden aussprach, brachten die Vertreter des Zentralverbands des genossenschaftlichen Groß- und Außenhandels und des ZdK deutlich ihre Befürchtung zum Ausdruck, dass das Verbots- schleichend in ein Missbrauchsprinzip umgekehrt werden könnte.45 Währenddessen arbeitete die GDIV in Brüssel nach den Informationsgesprächen mit den Regierungsvertretern und den Wirtschaftsverbänden im Oktober 43 Zu diesen Fragen erbat das BMWi vom Bundeskartellamt und vom Bundesjustizministerium Stellungnahmen. Vgl. Kurzvermerk über die Besprechung am 15. Oktober 1960 mit dem Mitglied der Kommission Herrn von der Groeben über Entwurf der Kommission zu einer Verordnung nach Artikel 87. 18. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 331–336. S. 336. 44 Vgl. BA B102/134647. Vermerk von Obernolte für Epphardt am 19. Mai 1960; verschiedene Vermerke aus dem Kartellreferat sowie handschr. Vermerke von Epphardt vom 29. Mai und 19. September 1960. 45 Vgl. BA B102/134647. Betr. Entwurf der EWG-Kommission zu einer Verordnung gemäß Art. 87 des EWG-Vertrages Vermerk über die EWG-Besprechung mit den Spitzenverbänden am 18. Oktober in Bonn. Berlin, 25. Oktober 1960. Z2 90 01 20 – 313/60.
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einen Verordnungsentwurf für die Kommission aus.46 Die Beratungen in Brüssel hatten aber nicht dazu beigetragen, den Entwurf der Kommission im Kern zu ändern oder um entscheidende Inhalte zu ergänzen. Die Veränderungen infolge der Informationsgespräche waren minimal und trugen primär dazu bei, einzelne Bestimmungen im Interesse der Rechtssicherheit genauer zu formulieren und kleinere Regelungslücken zu schließen.47 Nur die Nachfrage nach engerer Beteiligung der Mitgliedstaaten am Verfahren berücksichtigte die Kommission, um mit ihrem Vorschlag nicht von vornherein in Opposition zu allen Staaten zu geraten.48 Hierbei hatte man von Bonn aus durch detaillierte und konstruktive Kritik großen Einfluss genommen.49 Offen blieb bis auf weiteres die Frage eines beratenden Ausschusses, die im Oktober 1960 von der GDIV noch geprüft und daher im Entwurf nicht berücksichtigt wurde.50 Artikel 1 des Entwurfs legte die Rechtsauffassung der Kommission zu Artikel 85 eindeutig fest. Das Verbot des Artikels 85, Absatz 1 war demnach gültig, „ohne dass dies einer vorherigen Entscheidung bedarf.“ Alt- wie Neukartelle sollten die Möglichkeit erhalten, einen Antrag auf Erlaubnis des Kartells gemäß Artikel 85, Abs. 3 zu stellen. Die Entscheidungskompetenz sollte bei der Kommission zentralisiert werden, zur Entscheidungsfindung sollte sie jedoch auf die nationalen Behörden zurückgreifen. Mit ihrer Verordnung forderte die Kommission zugleich umfangreichere Untersuchungs- und Kontrollbefugnisse in den Staaten, die sie aber in enger Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden aus46 Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Blatt 0162–0173. Generaldirektion Wettbewerb. Entwurf einer Verordnung gemäß Artikel 87 des Vertrags. IV/Kommission (60) 158. Brüssel, 21. Oktober 1960. 47 So wurde die rechtliche Lücke geschlossen, dass in der Zeit zwischen dem Erlass der Verordnung und dem Antrag eines Unternehmens auf Genehmigung, weiterhin nach Art. 88 die nationalen Behörden für die Anwendung des Artikels 85, Absatz 1 zuständig blieben oder die Kommission verpflichtet wurde, über die Anträge auf Genehmigung von nichtanmeldepflichtigen Kartellen innerhalb von drei Jahren zu entscheiden. Vgl. Memorandum über den Entwurf einer Verordnung gemäß Art. 87. Brüssel, 23. September 1960. Dok.: IV/5178/60-D. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 309–314. S. 310f.; Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, Dok.: IV/KOM (60) 158 endg, 28. Oktober 1960. Abgedr. ebd.: S. 337–359. S. 354. 48 Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Vermerk zum revidierten Entwurf eine Verordnung gemäß Art. 87. In: Generaldirektion Wettbewerb. Entwurf einer Verordnung gemäß Artikel 87 des Vertrags. IV/Kommission (60) 158. Brüssel, 21. Oktober 1960. Blatt 0162–0173. Blatt 0164. 49 Das Kartellreferat im BMWi hatte Anfang Oktober elf Fragen und Anregungen zum Auskunfts- und Sanktionsrechts an die GDIV gerichtet. Diese waren überwiegend als positive Anregungen von VerLoren van Themaat beim Treffen der Kommission mit den Spitzen von BMWi und Bundeskartellamt angenommen worden. Vgl. Vermerk. Betr. Memorandum der Kommission über den Entwurf einer Verordnung gemäß Artikel 87; 10. Oktober 1960. E A 4 – 9130/60. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 323–326; Kurzvermerk über die Besprechung am 15. Oktober 1960 mit dem Mitglied der Kommission Herrn von der Groeben über Entwurf der Kommission zu einer Verordnung nach Artikel 87. 18. Oktober 1960. Abgedr. ebd.: S. 331–336. S. 334ff. 50 Vgl. Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, Dok.: IV/KOM(60)158 endg, 28. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 337–359. S. 339.
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üben wollte. Mit dem Ende der Doppelzuständigkeiten von Kommission und Mitgliedstaaten bei der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen sollte die Rechtssicherheit erhöht werden. In Absatz 2 des Artikels 1 wurde der Grundsatz der Direktwirkung des Verbots noch einmal dadurch deutlich festgelegt, dass eine rückwirkende Entscheidung über eine Ausnahmegenehmigung ausgeschlossen wurde.51 Die Erarbeitung des Kommissionsvorschlags war von zwei Grundsätze geprägt gewesen. Erstens sollte hohe Identität zwischen dem Vertrag und der Ausführung der Vertragsbestimmungen hergestellt werden. Zweitens sollte die Grundlage für wirksame Wettbewerbspolitik geschaffen werden. Die Auswahl der wettbewerbspolitischen Mittel orientierte sich stärker am zweiten Grundsatz.52 Die Kommission war bei ihrer Auffassung geblieben, dass die Durchführung der Artikel 85 und 86, ebenso wie die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes, in Stufen geschehen und auf Erfahrungswerten aufgebaut werden sollte. Der Entwurf berücksichtigte zudem die eingeschränkte Kapazität der Direktion A ‚Kartelle und Monopole‘. Sie verfügte über gut 30 Mitarbeiter und es war schwer, „genügend qualifiziertes Personal zu finden.“53 Die Absicht des gestuften Vorgehens gegen Wettbewerbsbeschränkungen und die beschränkten Kapazitäten waren ursächlich für die getrennte Behandlung von bestehenden Kartellen und zukünftigen Kartellen in der ersten Durchführungsverordnung, der weitere Verordnungen folgen sollten. Die Anzeigepflicht wurde auf internationale Kartelle von Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten mit Wirkungen auf dem gemeinsamen Markt stark eingeschränkt. Um für Altkartelle Rechtssicherheit herzustellen, sollten diese als „vorläufig nicht als nach Artikel 85 des Vertrags verboten“ gelten, wenn die Kommission nach einem Antrag auf Ausnahmegenehmigung nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem Antrag widersprach. Mit diesen Vorschlägen erhielten Altkartelle die Möglichkeit, „aus dem Dunkel aufzutauchen.“54 Die Kommission hegte die Hoffnung, auf diesem Weg möglichst schnell umfangreiche Informationen zu erhalten und dadurch die gleichmäßige Anwendung des Rechts zu erreichen. Zwischen Informationsbedarf und Informationsverarbeitungskapazität abwägend enthielt der Vorschlag Ausnahmen von der Anzeigepflicht für bestimmte, vor allem vertikale, Absprachen von nur zwei Unternehmen.55
51 Vgl. ebd.: S. 351. 52 So von der Groeben vor den Ministern der Mitgliedstaaten. Vgl. ZAR CM2 1960/95. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 29. November in Luxemburg (Erster Teil). Brüssel, 1. Dezember 1960. Dok.: R/1220/60 (Teil I). Vertraulich. S. 31. 53 VerLoren van Themaat: Einige Betrachtungen. S. 401. 54 Von der Groeben bei der Ministertagung vgl. ZAR CM2 1962/684. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 7. März 1961 in Straßburg. Brüssel, 25. März 1961. R/209/61 (RC 4). Vertraulich. S. 24f. 55 Vgl. Artikel 5, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, Dok.: IV/KOM(60)158 endg, 28. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 337–359. S. 353.
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Wie im ersten Konzeptentwurf sollte die Kommission zur Durchsetzung der Anzeigepflicht und ihrer Entscheidungen das Recht erhalten, Zwangsgelder zu verhängen. Die potentielle Veröffentlichung des Kartells und die Rechtsfolgen der Nichtigkeit von Absprachen bei der Aufdeckung eines nicht angemeldeten Kartells sollte wettbewerbsschädigendes Verhalten der Unternehmen einschränken. Die Ermächtigung, mit Geldbußen gegen Verstöße gegen Artikel 85 oder 86 vorzugehen, war weiterhin nicht vorgesehen, obwohl dies einige Länder gefordert hatten. Die GDIV argumentierte auch hier mit fehlendem Personal, um eine solche Regelung anwenden zu können. Sollten sich die zivilrechtlichen Sanktionen als ungenügend erweisen, wollte man mit späteren Verordnungen entsprechende Geldbußen einführen.56 Die GDIV hatte auf der dünnen Basis ihrer bisherigen Erfahrungen mit der Umsetzung der Artikel 85 und 86 versucht, zwischen ihren Überzeugungen einer aktiven europäischen Wettbewerbspolitik und den eigenen Kapazitäten einen Mittelweg zu finden. Das Ergebnis war ein gemäßigter Entwurf, der nur für einen kleinen Teil der Wirtschaft Geltung und für die Gesamtwirtschaft keine besonders einschneidenden Wirkungen gehabt hätte. Die Interessen der Mitgliedstaaten hatte man in der Generaldirektion Wettbewerb nur ergänzend berücksichtigt, nicht zuletzt weil sie zu heterogen waren.57 Die GDIV legte der Kommission einen Entwurf vor, der nach der bisherigen Lage wenig Aussicht hatte, im Rat beschlossen zu werden. Als die Kommissare am 26. Oktober 1960 entschieden, den Entwurf der GDIV dem Rat als endgültige Fassung vorzulegen, war der erste Schritt im Rechtsetzungsprozess für die Kommission getan. Von der Groeben informierte die Öffentlichkeit auf einer eigens anberaumten Pressekonferenz von diesem für die Entwicklung einer einheitlichen europäischen Wettbewerbspolitik wichtigen Schritt am 8. November 1960.58
56 VerLoren van Themaat: Einige Betrachtungen. S. 401f. 57 Die Unsicherheit der GDIV mit diesem Vorgehen wurde deutlich, als wenige Tage nach der Zustellung des Entwurf an die Regierungen durch den Rat von der Groeben und sein stellvertretender Kabinettschef Wirsing bei verschiedenen Stellen im BMWi vorstellig wurden und versuchten eine erste informelle Stellungnahmen aus Bonn zum überarbeiteten Entwurf zu erhalten. Vgl.: BA B102/134645. Vermerk von Epphardt vom 9. November 1960. E A 4 – 925/60. 58 Vgl. HAEKB BAC71 1988/89. Handschriftliche Übersicht zur Verordnung 17. Blatt 459– 462. Blatt 460.
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F.2 DIE MITGLIEDSTAATEN IM INSTITUTIONALISIERTEN RECHTSETZUNGSPROZESS F.2.a Der nichtabstimmungsfähige Kommissionsvorschlag Am 31. Oktober 1960 legte Hallstein dem Rat der EWG gemäß Artikel 87, Absatz 1 offiziell die erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des EWG-Vertrags vor.59 Dabei bat er den Rat, nicht nur die Parlamentarische Versammlung (EP)60, wie es Artikel 87, Absatz 1 vorschrieb, sondern auch den Wirtschaft- und Sozialausschuss (WSA)61 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gemäß Artikel 198 zum Verordnungsvorschlag anzuhören.62 Als die Ständigen Vertreter am 4. November 1960 zum ersten Mal über den Kommissionsentwurf für den Rat vorbereitend berieten, waren die Meinungsverschiedenheiten so groß, dass sie keine Empfehlung aussprechen konnten. Sie überließen die Entscheidung über das weitere Vorgehen daher dem Rat und wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass am 31. Dezember 1960 die im Vertrag vorgesehene Frist ablief, innerhalb derer der Rat die Verordnung mit Einstimmigkeit beschließen musste. Auch wenn mehrheitlich bezweifelt wurde, dass innerhalb dieser Frist eine Entscheidung möglich wäre, musste auch entschieden werden, ob angsichts des Zeitdrucks mit den Vorbereitungen für einen Ratsbeschluss umgehend begonnen werden sollte oder ob erst die Stellungnahmen des Parlaments und möglicherweise des WSA abgewartet werden sollten.63 59 Dieser Verordnungsentwurf hat bei der Kommission die Dokumentennummer Dok.: IV/KOM(60)158 endg. und wird beim Rat als Dok.: R/1105/60 geführt. 60 Die Vertragsstaaten hatten die Gemeinsame Parlamentarische Versammlung der EGKS erweitert und als ebenfalls für EWG und EURATOM zuständig erklärt. Bereits 1958 benannte sich die Parlamentarische Versammlung selbst in Europäisches Parlament (EP) um. Es setzte sich bis zur ersten Direktwahl 1979 aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammen, welche diese entsprechend der nationalen Mehrheitsverhältnisse ins EP nach Straßburg entsandten. Im Folgenden werden die Begriffe Versammlung, Parlamentarische Versammlung und Europäisches Parlament synonym gebraucht; soweit nicht anders gekennzeichnet. 61 Die Vertragsstaaten institutionalisierten mit dem EWG-Vertrag den Wirtschafts- und Sozialausschuss als Vertretung gesellschaftlicher Gruppen mit beratender Funktion. Er setzt sich paritätisch aus Arbeitnehmer-, Arbeitgeber- und weiteren Interessengruppen zusammen. Zur Zusammensetzung des ersten WSA, dessen 101 Mitglieder auf Vorschlag der Regierungen für vier Jahre ernannt werden, vgl. Erster Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, 17. September 1958. S. 143–150. 62 Vgl. ZAR CM2 1962/682. Aufzeichnung des Rates. Betrifft: Vorschlag des Kommission gemäß Art. 87 Absatz (1) des Vertrags für eine erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86. Brüssel, 9. November 1960. Dok.: R/1142/60. S. 1f. 63 Vgl. ZAR CM2 1960/182. AStV. Entwurf einer Niederschrift über die 138. Tagung am 4. November 1960. RP/CRS/6/60. Brüssel, 5. November 1960. S. 22; ZAR CM2 1962/682. Aufzeichnung des Rates. Betrifft: Vorschlag des Kommission gemäß Art. 87 Absatz (1) des Vertrags für eine erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86. Brüssel, 9. November 1960. Dok.: R/1142/60. S. 1f.; BA B 102/134645. Auszugsweise Abschrift aus
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Bis dato hatte der Rat alle Vorschläge der Kommission direkt an das Parlament überwiesen.64 In dieser 39. Sitzung des Rates Mitte November 1960 kam es jedoch zu einer starken Spannung zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten über diesen Vorgang. Strittig war, zu welchem Zeitpunkt der Kommissionsvorschlag vom Rat an das Parlament und den WSA weitergegeben werden sollte, wenn dieser Vorschlag anschließend womöglich vom Rat abgelehnt und eventuell an die Kommission zurück verwiesen würde. Da der Entwurf von einigen Regierungen grundsätzlich in Frage gestellt wurde, war allen Beteiligten klar, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten über den vorliegenden Entwurf so grundsätzlich waren, dass eine kurzfristige Einigung nicht zu erwarten war. Vor diesem Hintergrund hielt es der belgische Wirtschaftsminister van der Schueren für zweckmäßiger, das Parlament erst nach einem ersten Gedankenaustausch des Rats über die Grundsätze des Kommissionsvorschlags um seine Stellungnahme zu bitten, und nicht das Parlament mit einem Text zu beschäftigen, der später nicht mehr zur Debatte stünde. Der italienische Industrie- und Handelsminister Colombo ergänzte den belgischen Vorschlag, dem Parlament zusätzlich zum Entwurf die Stellungnahmen der Mitgliedstaaten zuzustellen. Müller-Armack ging noch einen Schritt weiter. Er erkannte in einem vorab durchgeführten Austausch der Mitgliedstaaten über die Verordnung für die Kommission die Chance, gegebenenfalls Änderungen am Entwurf vornehmen zu können. Müller-Armack schlug vor, zunächst im Rat inhaltliche Fragen zu diskutieren, der Kommission die Möglichkeit zu Anpassungen zu geben und dann diese überarbeitete Variante direkt an das Parlament weiterzuleiten. Diesem Vorschlag schlossen sich der französische Staatssekretär der Finanzen Giscard d’Estaing und der luxemburgische Außenminister Schaus an. Van der Schueren griff die Idee auf und schlug vor, eine Sondersitzung der zuständigen Minister zur Erörterung des Kommissionsentwurfs abzuhalten.65 Das Interesse der Mitgliedstaaten, unabhängig von Stellungnahmen aus Wirtschaft, Gesellschaft und dem Parlament zu debattieren, stand im Gegensatz zum Interesse der supranationalen Kommission, die ihre Position im Gesetzgebungsprozess behaupten und gleichzeitig den Einfluss der anderen europäischen Institutionen sichern wollte. Der anwesende Kommissar von der Groeben hingegen widersprach der Ansicht, dass dem Parlament nur ein Text vorgelegt werden könnte, über den Einvernehmen zwischen Rat und Kommission bestand.66 Er betonte, dass das Parlament laut Vertrag „über den Vorschlag der Kommission und nicht über eine Aussprache des Ministerrates konsultiert“ werden musste.67 Von der Groeben, der die heterogenen Positionen der Länder kannte, war weder an einer Verzögerung
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Fernschreiben Nr. 1077 und 1080. Brüssel, 5. November 1960. Betr.: 138. Tagung der Ständigen Vertreter am 4. November 1960. Vgl. für die Darlegung des niederländischen Landwirtschaftsministers: ZAR CM2 1960/58. Protokoll über die Tagung im engeren Rahmen des Rates der EWG am 14. und 15. November 1960. Brüssel, 30. November 1960. Dok.: R/1162/60 rev. S. 47. Vgl. ebd.: S. 41–44. Für Beitrag von der Groebens im Folgenden vgl. ebd.: S. 43ff. Ebd.: S. 45.
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des Rechtssetzungsprozesses interessiert noch daran, sich den Inhalt des Kommissionsvorschlags vorschreiben zu lassen. Die Kommission sah sich durch einen Gedankenaustausch im Ministerrat in keiner Weise veranlasst, ihren Vorschlag zu ändern. Zuvor müssten die Stellungnahmen von Parlament und im Zweifel auch vom WSA vorliegen. Die Kommission war nicht bereit, ihre Stellung im Gesetzgebungsprozess auf eine rein vorbereitende und administrative Rolle reduzieren zu lassen. Dass der Rat nur auf Vorschlag der Kommission entscheiden konnte, war die einzige Trumpfkarte im Rechtssetzungsprozess, die von der Groeben sich zu diesem Zeitpunkt in einer für den Gemeinsamen Markt so relevanten Frage nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. Jedoch gelang es ihm nicht, die Diskussion zu beenden. Während Colombo zwischen von der Groeben und Müller-Armack zu vermitteln versuchte und gleichzeitig mit „Gründen der Zweckmäßigkeit“ dafür argumentierte, dass der Entwurf zuvor im Rat diskutiert werde, stieß von der Groeben bei aller wettbewerbstheoretischer Übereinstimmung auf den Widerstand Müller-Armacks. Dieser versuchte, die Stellung des Rats im Organgefüge der EWG zu verrücken. Er wollte erreichen, dass ein Vorschlag der Kommission nicht allein Grundlage der Beratungen des Parlaments wäre, sondern dass dieses erst nach einer gemeinsamen Stellungnahme des Rats darüber debattiere. Gleichwohl sollte es der Kommission ungenommen bleiben, ihren Standpunkt dem Parlament jederzeit außerhalb des Rechtssetzungsprozesses der EWG zu übermitteln.68 Giscard d’Estaing unterstützte Müller-Armack bei diesen Fragen der Machtverteilung zwischen den Organen. Nach seiner Auslegung des Artikels 87 war die Aufgabe des Parlaments darauf beschränkt, dem Rat zusätzliche Erläuterungen und Informationen zu bieten. Deshalb war er der Ansicht, dass dem Parlament ein möglichst ausgereifter und der endgültigen Verordnung naher Entwurf vorgelegt werden müsste.69 Der Kommissionsvorschlag sollte nicht gleich einer Regierungsvorlage in den nationalen Parlamenten vom Europäischen Parlament verhandelt werden. Das Bestreben in Paris und im Bundeswirtschaftsministerium, möglichst umfangreiche supranationale Befugnisse zu verhindern, das bereits bei den Vertragsverhandlungen nicht durchzusetzen gewesen war, scheiterte nun auch nachvertraglich; dieses Mal jedoch am gemeinsamen Kooperationsvertrag mit seinem in den Verhandlungen lange austarierten Institutionengefüge. Der niederländische, inhaltlich unbeteiligte Landwirtschaftsminister Marijnen erinnerte daran, dass der Kommissionsentwurf keine „Anregung (war), sondern ein Beschluss einer der beiden Institutionen, denen der Vertrag die Ausübung der legislativen Gewalt in der Gemeinschaft übertragen habe.“70 Im Interesse der kleinen Staaten verteidigte er die Stellung der Kommission und überzeugte diplomatisch geschickt, indem er darauf hinwies, dass der deutsche und der französische Vorschlag die Beziehungen zwischen den Institutionen nicht unbe68 Vgl. ebd.: S. 45. 69 Vgl. ebd.: S. 46. 70 Ebd.: S. 47.
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dingt zu Gunsten des Rates verzerren würden. Es konnte wohl nicht im Interesse der Mitgliedstaaten liegen, dass das Parlament über Positionen und Stellungnahmen des Rates und damit über einzelne Positionen der Regierungen diskutieren könnte. Auf Vorschlag des niederländischen Außenministers und Präsidenten des Rats Luns beschloss der Rat abschließend, dass die zuständigen Minister Ende November mit von der Groeben zusammenkommen sollten, um die Positionen der Staaten zum Kommissionsvorschlag auszutauschen. Als Ziel des Treffens wurde eine erste unverbindliche Stellungnahme des Rats angestrebt, die Parlament und WSA zusammen mit dem Verordnungsentwurf erhalten sollten. Dem davon unabhängigen Antrag der Kommission, dass der Rat auch die Stellungnahme des WSA einholen möge, widersprach keine Delegation. Von der Groeben hatte mit Unterstützung der Niederländer erfolgreich das Ansinnen einiger Mitgliedstaaten abgewehrt, den Kommissionsvorschlag bei Nichteinigung im Rat an die Kommission zurückzuverweisen. Implizit wurde damit bestätigt, dass die Kommission mit der Vorlage einer Verordnung beim Rat den legislativen Prozess in Gang setzte. Nun setze von der Groeben seine Hoffnung darauf, dass die anderen Gemeinschaftsinstitutionen das Ansinnen der GDIV, der Kommission umfangreiche, zentralisierte Befugnisse bei der Umsetzung der europäischen Wettbewerbspolitik zu übertragen, unabhängig von den konfligierenden nationalen Interessen unterstützen würden. Jedoch war die Weiterleitung des Entwurfs an EP und WSA noch nicht beschlossen. Ratspräsident Luns wies das Ansinnen von der Groebens zurück, bei dieser Ratssitzung bereits festzulegen, dass die Weiterleitung bei der nächsten Ratssitzung entschieden würde. Der Rat war frei, über den Zeitpunkt der Weiterleitung zu bestimmen und ließ sich in seiner Entscheidungsfindung weder durch die Kommission noch durch einen Wechsel des Abstimmungsmodus am Ende des Jahres gemäß Artikel 87 des Vertrags unter Druck setzen.71 Wie bei den vorangegangenen Gesprächen ergaben sich beim Meinungsaustausch der zuständigen Minister am 29. November 1960 in Luxemburg sehr schnell Inhalte, bei denen weder zwischen den Mitgliedstaaten noch zwischen einer Mehrheit der Staaten und der Kommission Übereinstimmung abzusehen war.72 Die zentralen Knackpunkte waren erstens die Anzeigepflicht für Kartelle und damit die grundsätzliche Interpretationsfrage des Artikels 85, Absatz 3 als Legalausnahme oder als Grundlage von Genehmigungen, zweitens das Ungleichgewicht der Durchführung von Artikel 85 und 86 und drittens die Zuständigkeits71 Vgl. ebd.: S. 48f. 72 Hierzu, zum weiteren Verlauf der Sitzung und den Stellungnahmen der Mitgliedstaaten vgl. ZAR CM2 1962/683. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 29. November in Luxemburg (Erster Teil). Brüssel, 1. Dezember 1960. Dok.: R/1220/60 (Teil I). Vertraulich. ZAR CM2 1960/95. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 29. November in Luxemburg (Zweiter Teil). Brüssel, 22. Dezember 1960. Dok.: R/1220/60 (Teil II). Vertraulich. ZAR CM2 1962/682. Zusammenfassende Aufzeichnung über den Gedankenaustausch der für Wettbewerbsfragen zuständigen Minister der Mitgliedstaaten mit dem Kommissionsmitglied, Herrn von der Groeben, über den Entwurf einer ersten Verordnung zur Durchführung der Artikel 85 und 86 des Vertrags. 2. Dezember 1960. R/1240/60 vertraulich.
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verteilungen zwischen nationalen Behörden und der Kommission bei Registrierungen, Untersuchungen und Entscheidungen von Kartell- und Machtmissbrauchsfällen. Mit der grundsätzlichen Systematik des Vorschlags und der Auslegung des Artikels 85 als Verbot mit Genehmigungsvorbehalt, das mit einer Anzeigepflicht für Kartelle verbunden war, die den Wettbewerb auf dem Gemeinsamen Markt besonders bedrohten, waren Franzosen und Belgier nicht einverstanden. Gegen die Anzeigepflicht, die nach ihrem Verständnis über die im Vertrag vorgesehene Regelung hinausging, sprach nicht nur der dafür notwendige relativ große Verwaltungsapparat, der nach französischer Auffassung nicht mit der Vorgabe der einfachen Verwaltungskontrolle in Artikel 87, Absatz 2 vereinbar war, sondern auch die mangelhafte Wirksamkeit. Der französische Staatssekretär Fontanet prognostizierte, dass das schwerfällige Verwaltungssystem die Arbeit der Kommission auf „formalistische und unfruchtbare Aufgaben“ leiten würde. Gerade die nicht angemeldeten, geheimen Kartelle, die im Zweifel für den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt am schädlichsten wären, würden mit diesem System nicht erfasst.73 Übereinstimmend kritisierten Belgier und Franzosen zudem, dass gute von schlechten Kartellen nicht anhand der Statuten, wie im Entwurf der Kommission vorgesehen, sondern nur nach dem Verhalten und den Auswirkungen auf dem Markt beurteilt werden könnten. Dieser impliziten Forderung nach ex-post Kartellkontrolle gemäß dem Marktverhaltensansatz schloss sich der luxemburgische Wirtschaftsminister Elvinger an. Er forderte, der statischen Sicht des Wettbewerbs auch die dynamische Sicht entgegenzustellen, der seiner Meinung nach eine realistischere Konzeption zu Grunde läge.74 Alle drei Mitgliedstaaten lehnten den Entwurf der Kommission in seiner vorliegenden Fassung mit dem Genehmigungssystem ab. Sie sprachen sich stattdessen für einen neuen Entwurf aus, der auf einem System freiwilliger Anmeldung basieren und die Kommission ermächtigen sollte, das Funktionieren der Kartelle zu kontrollieren. 75 Der niederländische Delegationsleiter van Alphen de Verr begrüßte hingegen den Kommissionsentwurf als eine sehr gute Kombination der in den Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen aus Verbotsprinzip und Missbrauchsprinzip durch die Ausnahmemöglichkeiten des Artikels 85, Absatz 3 und die im Vertrag vorgesehene Ausnahmemöglichkeit für Gruppen von Vereinbarungen. Die Niederländer erkannten die Beweggründe der Kommission für die Forderung der Anzeigepflicht an. Sie hielten diese aber nicht für ein zentrales Element des Verordnungsentwurfs, dem sie auch ohne diese zustimmten konnten. Eindeutig für den Kommissionsvorschlag und den Grundsatz des Verbotsprinzips sprach sich die deutsche Delegation aus. Für Müller-Armack gab es laut Vertrag nur 73 ZAR CM2 1960/95. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 29. November in Luxemburg (Erster Teil). Brüssel, 1. Dezember 1960. Dok.: R/1220/60 (Teil I). Vertraulich. S. 20. 74 Vgl. ebd.: S. 14f. 75 Vgl. ebd.: S. 9f., S. 21.
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verbotene und erlaubte, aber keine schlechten und guten Kartelle. Daran habe sich eine jede Verordnung zu orientieren.76 Dieser Auffassung stimmte der italienische Ständige Vertreter Cattani zu, forderte jedoch tendenziell strengeres Vorgehen gegen Altkartelle. Den Italienern erschienen die vorgesehenen Übergangsfristen als zu lang und die vorläufige Vereinbarkeit von bestimmten Kartellen als nicht mit dem Vertrag vereinbar. Die im Vertrag vorgesehene Nichtigkeit von Altkartellen bei Inkrafttreten des Vertrags und von Neukartellen bei ihrer Gründung konnte nach italienischer Auffassung allenfalls aus polit-psychologischen Gründen gegenüber der Wirtschaft durch die Verordnung dahingehend aufgeweicht werden, dass Altkartelle spätestens mit Inkrafttreten der Verordnung nichtig sein mussten. Rechtlich hingegen war dies vom italienischen Standpunkt aus nur schwer zu vertreten.77 Die vier kleineren Staaten, deren Wirtschaft weniger privatwirtschaftliche Konzentration aufwies, hielten der Kommission intervenierend vor, den Artikel 86 und damit die Kontrolle marktbeherrschender Unternehmen vernachlässigt und einen ungenügenden Entwurf vorgelegt zu haben. Sie sahen die Gefahr eines Ungleichgewichts zwischen der Bekämpfung des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen auf der einen und wettbewerbsbehindernden Absprachen auf der anderen Seite und fassten dies als eine nicht gerechtfertigte Übervorteilung der französischen und deutschen Wirtschaft auf. Van Alphen de Verr bat darüber hinaus im Interesse der Gleichbehandlung aller Staaten, auch Regelungen für Staatsmonopole festzulegen. Er fand hierfür aber keine Unterstützung der anderen kleinen Staaten, die teilweise über erhebliche Staatswirtschaften verfügten. Die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission bei der Entscheidung über die Ausnahmegenehmigung und die unzureichende Definition der Rolle der nationalen Behörden war für Fontanet ein weiterer Grund für seine Ablehnung des Kommissionsentwurfs. Hierin unterstützten ihn andere Mitgliedstaaten, vor allem Luxemburg. Jedoch zeigten sich bei diesem Thema deutlich die großen Auffassungsunterschiede von Wettbewerbspolitik, die zwischen den Franzosen und der Kommission sowie den sie unterstützenden Staaten bestanden. Die Annäherung der wettbewerbspolitischen Ziele hatte seit der Unterzeichnung der Verträge kaum Fortschritte gemacht. Die französische Regierung sah in Wettbewerbspolitik weiterhin nur ein Mittel, um andere wirtschaftspolitische Ziele zu erreichen. Da man in Paris von den wettbewerbspolitischen Entscheidungen in Brüssel Störungen bei der Umsetzung dieser nationalen Ziele und Auswirkungen auf das nationale Wirtschafts- und Beschäftigungsniveau befürchtete, wollte man diese Kompetenz nicht vollständig der Kommission übertragen. Fontanet forderte die Umkehrung der Zuständigkeitsreihenfolge des Kommissionsvorschlags und stützte sich dabei auf die Vertragsbestimmungen der Übergangszeit. Die Prüfungszuständigkeit sollte auch in Zukunft nicht bei der Kommission, sondern bei den nationalen Behörden liegen, die hierbei von der Kommission Unterstützung erhalten konnte. Nur in Fällen, in denen 76 Vgl. ebd.: S. 46f. 77 Vgl. ebd.: S. 29ff.
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nationale Behörden nicht aktiv würden, sollte die Kommission selbst Kartellprüfungen einleiten können. Zudem sollten die Regierungen an abschließenden Entscheidungen über Ausnahmegenehmigungen vom Kartellverbot oder über die Feststellung von vertragswidrigem Verhalten von Unternehmen beteiligt werden. Fontanet begründete das von ihm vorgeschlagene Alternativverfahren damit, dass nur mit gemeinsamen Entscheidungen von nationalen Behörden und der Kommission eine einheitliche Wettbewerbspolitik geschaffen werden könnte. Mit diesem Vorschlag wäre die Aushandlung von Genehmigungen und anderen wettbewerbspolitischen Entscheidungen zwischen den Staaten verbunden gewesen. In jedem Einzelfall würden „die beteiligten Regierungen dazu veranlasst, sich gegenseitig die erforderlichen Zugeständnisse zu gewähren, um zu einem gemeinsamen Beschluss zu gelangen“, fasste Fontanet seinen Vorschlag zusammen. Die deutsche ordoliberal geprägte Auffassung von Wettbewerbspolitik stand diesem Vorschlag diametral entgegen. Zudem würde eine solche Regelung schnelles Reagieren auf unternehmerische Wettbewerbsstrategien verhindern.78 Der Vorschlag Fontanets wurde von keiner anderen Delegation unterstützt. Von der Groeben lehnte jede Dezentralisierung im Interesse der Einheitlichkeit der Wettbewerbspolitik und der Schaffung des Gemeinsamen Marktes ab.79 Er wies auch die Kritik von Elvinger an der Entscheidung der Kommission gegen eine Richtlinie und für eine Verordnung zurück, die nach dessen Meinung eine „wirksamere Zusammenarbeit zwischen Kommission und Mitgliedstaaten gewährleistet hätte.“80 Zahlreiche praktische Probleme der Mehrfachzuständigkeit bei internationalen Kartellen und potentiell langwierige Abstimmungsprozesse zwischen den beteiligten Behörden sprachen gegen den französischen Vorschlag und gegen eine Richtlinie. Kartelle in mehreren Hoheitsgebieten, deren Schwerpunkt nicht auszumachen war, oder die Notwendigkeit umfangreicher Informationstransaktionen zwischen nationalen Behörden und der Kommission bei einem Kartellfall waren nur zwei Beispiele, die im Hinblick auf die spätere Umsetzung der Verordnung zu berücksichtigen waren. Von der Groeben betonte, im Interesse einer soliden Wettbewerbspolitik alles verhindern zu wollen, was den Eindruck machen könnte, die wettbewerbspolitischen Entscheidungen seien keine Rechts-, sondern eine Verhandlungssache. In der Wirtschaft durften keine Zweifel an der Einheitlichkeit der Wettbewerbspolitik aufkommen. Zudem musste die Gefahr gegenseitiger Absprachen der Staaten zu Lasten des Wettbewerbs gebannt werden. Diese Ziele waren für von der Groeben nur durch die alleinige Entscheidungszuständigkeit der Kommission zu erreichen.81 Diesen in der Tendenz ordoliberalen Standpunkt unterstützte Müller-Armack, der die Zentralisierung der Entscheidung bei der Kommission unter angemessener Beteiligung der nationalen Behörden forderte. Seiner Meinung entsprach es der „Logik des Gemeinsamen Marktes, bisherige Zuständigkeiten der nationalen 78 79 80 81
Ebd.: S. 22. Vgl. ebd.: S. 35. Ebd.: S. 39. Vgl. ebd.: S. 35f.
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Behörden internationalen Behörden zu übertragen.“ Er hielt dies insbesondere bei der Wettbewerbspolitik geradezu für zwingend notwendig, da hier „die Rivalitäten zwischen den Staaten sehr stark“ waren. Ansonsten befürchtete er „äußerst schwerwiegende Probleme [...], wenn bestimmt werden müsse, welcher Staat gegen ein Kartell vorgehen solle, dessen Einflussbereich sich auf das Gebiet mehrerer Mitgliedsländer erstrecke.“82 Dieser Auffassung stimmte Cattani grundsätzlich zu, forderte jedoch zusätzlich eine formalisierte Konsultation der nationalen Behörden, womit er die niederländischen Interessen nach einem beratenden Ausschuss unterstützte. Persönlich sprach sich von der Groeben ebenfalls für die Idee des Kartellausschusses aus, den die Niederländer bereits bei den Vertragsverhandlungen erfolglos gefordert hatten.83 Allerdings wurde sie erst im Spätherbst des folgenden Jahres in der GDIV im Zusammenhang mit möglichen Änderungen des Kommissionsvorschlags ernsthaft geprüft.84 Bei diesen drei Themen der zukünftigen gemeinsamen Wettbewerbspolitik zeigten sich ähnliche Meinungsfronten zwischen den Staaten wie bei den Vertragsverhandlungen drei Jahre zuvor. Darüber hinaus gab es kleinere Interessengegensätze der Mitgliedstaaten. Sie waren jedoch nicht so verteilt, dass sich daraus ohne weiteres Möglichkeiten für ‚package-deals‘ ergaben, da auch die den Interessen zugrundeliegenden Grundausrichtungen verschieden waren. Hinter der in die gleiche Richtung weisenden Kritik an Teilen des Entwurfs standen mitunter völlig unterschiedliche Zielsetzungen. Die Deutschen plädierten für mehr Publizität des Entscheidungsverfahrens und für die Verkürzung der Übergangsfristen, um eine schnellere Angleichung von Alt- und Neukartellen zu erreichen, betonten jedoch im Interesse von Geschädigten auch die Geheimhaltungspflicht. Zudem sprachen sie sich für die Verkürzung der Entscheidungs- und Widerspruchsfristen der Kommission aus. Dies forderten auch die Belgier. Sie sorgten sich um die Rechtssicherheit der Unternehmen bei fehlenden Entscheidungen der Kommission, während Müller-Armack Sorge hatte, dass Kartelle bei vorläufiger Wirksamkeit und fehlendem Widerspruch der Kommission zu lange den Wettbewerb schädigen könnten. Bei einer Lebensdauer von Kartellen von sechs bis sieben Jahren müsste die Kommission zu schnelleren Entscheidungen kommen, forderte Müller-Armack. Belgier und Niederländer wiesen gemeinsam auf Ungenauigkeiten des Entwurfs bei der Anzeigepflicht hin. Die einen stellten sie damit grundsätzlich in Frage, die anderen wollten genauer festlegen, welches Organ eines Kartells die Anzeigepflicht erfüllen müsste. Während zwischen den meisten Staaten im Detail ein Ausgleich über die unterschiedliche Grundauffassung hinweg unter Umständen möglich schien, bot die französische Position keinen Ansatzpunkt für ausgleichende Paketlösungen in Detailfragen. Van der Schueren, der eingangs die umfassende Ablehnung des Entwurfs durch die belgische Regierung dargelegt hatte, zeigte sich hingegen auch koope82 Ebd.: S. 47. 83 Ebd.: S. 37. 84 Vgl. HAEKB BAC71 1988/89. Handschriftliche Übersicht zur Verordnung 17. Blatt 459– 462. Blatt 461.
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rativ. Gegen Ende der Ratssitzung ließ er einen konstruktiven Vorschlag zur Ergänzung der Anzeigepflicht durch den belgischen Beamten Pulinickx einbringen. Um das Problem des Entwurfs zu lösen, dass nicht meldepflichtige Kartelle ohne Antrag auf Ausnahmegenehmigung keine gesicherte Auskunft darüber erhalten könnten, ob sie überhaupt unter Artikel 85 fallen würden, brachte er die Idee des Negativattests in die Diskussion ein. Auf Antrag sollte die Kommission Kartellen bestätigen können, dass deren Verhalten nicht im Widerspruch zu Artikel 85 stehe, was deren Rechtsunsicherheit reduzieren würde. Da die anderen Delegationen keinen Widerspruch äußerten, sagte von der Groeben die erneute Prüfung des Negativattests zu, das bereits in einem Vorentwurf der Kommission enthalten gewesen war.85 Dieser Meinungsaustausch von Mitgliedstaaten und Kommission im Rat Ende November 1960 hatte mehr Fragen aufgeworfen als Probleme gelöst. Der niederländische Ratspräsident hielt abschließend fest, dass weiterhin „ziemlich tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten“ bestanden.86 Die Mitgliedstaaten blieben weit davon entfernt, den Kommissionsvorschlag in der vorliegenden Fassung anzunehmen oder in zentralen Fragen zu Kompromissen zu gelangen. Insbesondere bei der Auslegung des Artikels 85 bestanden große Auffassungsunterschiede. Die niederländische und deutsche Regierung waren der Ansicht, dass Artikel 85 eine allgemeine Verbotsvorschrift sei. In diese Richtung äußerten sich auch die Italiener. Hingegen verstanden die anderen Regierungen, speziell die französische, aber auch die belgische und luxemburgische, den Artikel 85 als Vorschrift zur Verfolgung von Missbrauchstatbeständen. Über diese grundsätzliche Frage war Ende 1960 zwischen den Mitgliedstaaten offensichtlich keine Einigung zu erzielen. Die von den Franzosen, Belgiern und Luxemburgern wiederholte Forderung an die Kommission, den Entwurf noch einmal zu überarbeiten, lehnte von der Groeben ausdrücklich ab. Das Ziel des Treffens, dem Parlament und dem WSA eine erste vorläufige Stellungnahme des Rates mitzugeben, wurde nicht erreicht. 85 Das Negativattest des Vorentwurfs der Kommission hatte vorgesehen, dass Unternehmen, die ein Kartell ordnungsgemäß bei der Kommission anmelden würden, das Recht auf eine Entscheidung der Kommission erhalten sollten, ob dieses Kartell grundsätzlich unter Artikel 85 des EWG-Vertrags falle. Abgesehen von der potentiellen Arbeitsbelastung der Kommission durch dieses Recht, war dieser Regelung bei den Vorbesprechungen von deutscher und luxemburgischer Seite wegen rechtlich ungeklärter Folgen abgelehnt worden. Der Verordnungsvorschlag der Kommission vom 28. Oktober 1960 enthielt dieses Negativattest nicht mehr, nicht zuletzt da bei der EGKS keine positiven Erfahrungen damit vorlagen, wie von der Groeben bei der Ratssitzung am 29. November 1960 erklärte. Vgl. ZAR CM2 1960/95. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 29. November in Luxemburg (Erster Teil). Brüssel, 1. Dezember 1960. Dok.: R/1220/60 (Teil I). Vertraulich. S. 14; HAEKB BAC71 1988/107. Blatt 0069–0074. Vermerk über die Sitzung der Regierungsvertreter am 6. Oktober 1960 in Brüssel über Memorandum der Kommission betreffend Erlass einer Verordnung nach Artikel 87. Brüssel, den 6. Oktober 1960. Blatt 0072f. 86 ZAR CM2 1960/95. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 29. November in Luxemburg (Zweiter Teil). Brüssel, 22. Dezember 1960. Dok.: R/1220/60 (Teil II). Vertraulich. S. 49.
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F.2.b Auf drei Wegen zu einer Einigung Wegen der großen Differenzen beschloss der Rat auf Vorschlag der zuständigen Minister und der Ständigen Vertreter bei seiner nächsten Sitzung am 6./7. Dezember 1960, drei Wege einzuschlagen, um den Rechtsetzungsprozess über die notwendige Wettbewerbsverordnung voranzubringen. Als erstes wurde am 8. Dezember 1960 der Verordnungsvorschlag der Kommission unverändert an die Parlamentarische Versammlung und den WSA mit der Bitte um Stellungnahme weitergeleitet. Zwar konnte kein Standpunkt des Rates beigelegt werden, aber man einigte sich darauf, im Schreiben an Parlament und WSA diejenigen Punkte zu erwähnen, die zwischen den Staaten besonders umstritten waren, damit diese besonders geprüft würden. Besonders wurde auf die Tragweite des Verbots von Artikel 85, die Nützlichkeit eines Registrierungssystems, die Tragweite der Nichtigkeitsbestimmungen aus Artikel 85, Absatz 2 und die Frage des Gleichgewichts zwischen den vorgesehenen Maßnahmen gemäß Artikel 85 und 86 hingewiesen. Die jeweiligen Unterausschüsse des Europäischen Parlaments und des WSA nahmen ihre Beratungen noch im gleichen Monat auf. Diese mündeten im WSA Ende März 1961 und im Parlament Ende Oktober 1961 in endgültigen Stellungnahmen. Zweitens beschloss der Rat angesichts der zahlreichen Meinungsverschiedenheiten über den Kommissionsentwurf, die mit Kommissar von der Groeben begonnene Besprechung fortzusetzen, was im März 1961 geschah.87 Drittens forderten die Mitgliedstaaten die Kommission auf, erneut bilaterale Gespräche mit den Regierungen zu führen. Sie waren nicht bereit, die Kommission aus der Verantwortung für einen Entwurf zu entlassen, da der vorliegende im Rat offensichtlich nicht beschlussfähig war.88 Mitte Dezember tauschten sich die Regierungen zudem im Ausschuss der Ständigen Vertreter über die Bedeutung der ablaufenden Frist zur einstimmigen Annahme einer Verordnung gemäß Artikel 87 am 31. Dezember 1960 aus. Unterstützt von der belgischen Delegation forderte die luxemburgische Regierung, dass diese Situation, in der die Kommission dem Rat den Verordnungsentwurf nicht rechtzeitig vorgelegt hatte, um innerhalb der Einstimmigkeitsfrist zu entscheiden, nicht zu einem Präzedenzfall werden dürfe. Die Luxemburger Regierung vertrat unwidersprochen die Position, dass der Rat daher alles versuchen sollte, um zu einer einheitlichen Stellungnahme zu gelangen und die Durchführungsverordnung einstimmig zu beschließen.89 Die Strategie der GDIV, die Vetomacht eines 87 Vgl. ZAR CM2 1960/188. AStV. Entwurf einer Kurzniederschrift über die 142. Tagung am 1. Dezember 1960. Brüssel, 1. Dezember 1960. RP/CRS/10/60. S. 14. 88 Die Besprechungen fanden zwischen Dezember 1960 und Februar 1961 statt. Die Ergebnisse wurden dem Rat am 7. März 1961 in einem Kommissionsvermerk vom 28. Februar 1961 (Dok.: R/195/61/(RC1)) vorgelegt. Vgl. ZAR CM2 1962/684. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 7. März 1961 in Straßburg. Brüssel, 25. März 1961. R/209/61 (RC 4). Vertraulich. S. 4. 89 Vgl. ZAR CM2 1960/192. AStV. Entwurf einer Kurzniederschrift über die 145. Tagung am 16. Dezember 1960. Brüssel, 16. Dezember 1960. RP/CRS/13/60. S. 9.
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Staates zu umgehen, wurde durch die ‚Herren der Verträge‘ durchkreuzt. Jedoch fasste der Rat als Organ der EWG über dieses im Ausschuss der Ständigen Vertreter von einigen Mitgliedern vorgeschlagene Vorgehen keinen Beschluss. Im Konfliktfall ließ der von allen Staaten beschlossene Vertrag auch einen Mehrheitsbeschluss zu. Noch vor Abschluss der Beratungen im WSA und im EP setzten die zuständigen Minister am 7. März 1961 ihren im November begonnenen Meinungsaustausch in einer gut dreistündigen Sitzung am frühen Abend am Sitz des Europarates in Straßburg fort. Grundlage der Gespräche war eine von der Kommission nach den bilateralen Gesprächen erstellte Liste der nationalen Standpunkte. Im Vorfeld dieser Sitzung war Ende Februar in der französischen Tageszeitung ‚Le Monde‘ ein Artikel über die Verhandlungen des vorliegenden Kommissionsentwurfs für die Wettbewerbspolitik erschienen, der Aufsehen erregte.90 Unter dem Titel „Une nouvelle Épreuve pour les ‚six‘. La mise au point d’une panalolie antitrust“ wurden die Vertragsartikel 85 und 86 als französischen Ursprungs bezeichnet und der Verordnungsentwurf der Kommission als deutlich deutsch geprägt charakterisiert. Dies veranlasste die Kommission ebenso zu einer Stellungnahme wie die im Artikel wiedergegebenen Vorwürfe der französischen Arbeitgebern und der französischen Administration, dass das vorgeschlagene System schwerfällig und aufgrund überbordender Bürokratie seinen Zweck verfehlen werde. Angesichts der detaillierten Wiedergabe der französischen Verhandlungsposition, wie Fontanet sie im Rat dargelegt hatte,91 ist davon auszugehen, dass der Verfasser Pierre Drouin aus der französischen Regierung heraus gezielt mit Informationen versorgt worden war, um kurz vor der Fortsetzung der intergouvernementalen Gespräche die nationalen Präferenzen der Franzosen in Erinnerung zu rufen und damit deren Verhandlungsposition zu festigen. Der Versuch, die Auffassungen der Partnerländer bei der Ministertagung einander anzunähern, scheiterte jedoch erneut. Die im November vorgetragenen Positionen zu den zentralen Fragen hatten sich eher verfestigt und prallten mit unverminderter Schärfe aufeinander. Der niederländische Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Veldkamp drohte mit allgemeinem Vorbehalt, „falls man als Grundlage für die Verordnung ein ganz anderes System wähle, als es die Kommission vorgeschlagen habe.“92 Die französische, belgische und luxemburgische Forderung nach Umsetzung des Artikels 85 als Missbrauchsprinzip93 lehnte die niederländische Seite ebenso vehement ab wie die deutsche. Müller-Armack stellte erneut klar, dass Artikel 85 90 Vgl. BA B102/134645. Drouin, Pierre: Une nouvelle Épreuve pour les „six“. La mise au point d’une panalolie antitrust. In: Le Monde vom 24. Februar 1961. 91 Vgl. BA B102/134645. Rat der Europäischen Gemeinschaft, Generalsekretariat, Brüssel, den 27. Februar 1961. 161/61 (AG 147). Übersetzung des Artikels „Eine neue Bewährungsprobe für die „Sechs“. Die Schaffung eines antimonopolistischen Waffenarsenals“ von Pierre Drouin. In: Le Monde vom 24. Februar 1961. S. 8. 92 ZAR CM2 1962/684. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 7. März 1961 in Straßburg. Brüssel, 25. März 1961. R/209/61 (RC 4). Vertraulich. S. 19. 93 Vgl. ebd.: S. 9f., S. 14 und S. 21ff.
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nach deutscher Auffassung nur den Verbotstatbestand definiert und genau dies und nichts Anderes die „sehr klar geäußerte wirtschaftspolitische Absicht“ der Autoren des Vertrags war. Er wies mit eindeutigen Worten die Auffassung Fontanets zurück, dass man aus dem Wesen des Artikels 86, der sich auf das Prinzip des Missbrauchs gründete, den Rückschluss ziehen könne, dass dieses auch für Artikel 85 gelte. Aus Artikel 85, Absatz 1 und Absatz 2 gehe die Nichtigkeit von Kartellen und Absprachen klar hervor. „Sinn der Vertragsbestimmungen“ war es, Ausnahmen vom Verbot eigens durch den Rechtsakt der Genehmigungserklärung zuzulassen, wobei jede andere Regelung bedeutete, „dass nur der offensichtliche Missbrauch verfolgt würde,“ folgerte Müller-Armack. Die „wirtschaftspolitische Zweckmäßigkeit“ des Verbotstatbestands von Artikel 85 stand von deutscher Seite „nicht mehr zur Diskussion“, verteidigte Müller-Armack das Vertragsverhandlungsergebnis vom November 1956.94 Die Sorge, dass das Verbotsprinzip auf europäischer Ebene durch die Durchführungsverordnung schleichend in ein Missbrauchsprinzip umgekehrt werden könnte, war auch von Seiten der deutschen Wirtschaft geäußert worden, wenngleich mehr vom Handel als von der Industrie. Seit dem Meinungsaustausch des Bundeswirtschaftsministeriums mit den nationalen Verbandsvertretern im Oktober 1960 war man in Kontakt geblieben. Kartellreferatsleiter Epphardt hatte Anfang November 1960 allen bisher beteiligten Verbänden den dem Rat vorgelegten Kommissionsentwurf mit der Bitte um Stellungnahme zugestellt. Dem kamen zunächst die Verbände der Konsumgenossenschaften und der Groß- und Mittelbetriebe des Einzelhandels nach und beharrten übereinstimmend auf einer strengen europäischen Wettbewerbspolitik. Der ZdK sprach sich klar gegen den Kommissionsentwurf aus, der ihm zu schwach war. Er forderte den generellen Genehmigungszwang, die Publizität von Kartellen und ein Kartellregister sowie eine Anhörungspflicht der durch Kartelle potentiell betroffenen Unternehmen, eine Forderung die auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels unterstützte. Zudem wurde die eindeutige Zuständigkeit des Bundeskartellamts für die Fälle gefordert, in denen wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen negative und untersagte Wirkungen im Inland zeigen würden.95 Die darin zum Ausdruck kommende Befürchtung, dass nationale Kartelle sich durch Hinzuziehung eines ausländischen Unternehmens dem nationalen Recht entziehen könnten, machte deutlich, dass der regional agierende Handel und Einzelhandel im Vergleich mit dem nationalen Kartellrecht Nachteile von der Umsetzung der geplanten Wettbewerbsverordnung erwartete. Auch wenn der Kommissionsentwurf vorsah, dass Alleinabsatz- und Alleinbezugsvereinbarungen und Alleinvertretungsabkommen von der Anzeigepflicht ausgenommen sein sollten, schienen die grundsätzlichen wettbewerbspolitischen Interessen des
94 Ebd.: S. 17f. 95 Vgl. BA B102/134647. Stellungnahme des Zentralverbands deutscher Konsumgenossenschaften vom 2. Dezember 1960; Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittelund Großbetriebe des Einzelhandels vom 23. Dezember 1960.
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Handels mit dem GWB besser gesichert zu sein als mit der von der Kommission vorgeschlagenen Durchführungsverordnung. Bereits in seiner Stellungnahme zum ersten Vorentwurf der Kommission hatte sich der ZdK gegen jede Abschwächung des Verbotstatbestands des EWGVertrags ausgesprochen, da er ansonsten hinter dem Verbot des GWB zurück bliebe. Er vermisste schon damals „eine klare Bekräftigung des Verbotsgrundsatzes und Richtlinien, die die Wettbewerbsposition der von den geplanten internationalen Wettbewerbsbeschränkungen betroffenen Kreise stärken.“ Dabei betonte der ZdK, dass „gerade unsere Gruppe seit Jahrzehnten von Industriekartellen stark betroffen und deshalb an einer Kartellregelung im EWG-Raum in weitgehender Anlehnung an das GWB interessiert“ sei.96 Zwischen Handel und Industrie zeichnete sich in der Bundesrepublik ein Interessenkonflikt ab. In diesem Zusammenhang wurde auch die früh vorgebrachte Kritik, dass die Kommission nur die Industrieverbände und die Arbeitnehmer angehört hatte, von den Verbänden des Handels verschiedentlich wiederholt und auch vom Gesamtverband der Versicherungswirtschaft aufgegriffen. Gleichzeitig versuchte der BDI erfolglos, den Einfluss dieser Verbände, die tendenziell für schärfere und damit für die Industrie nachteilige Kartellbestimmungen votierten, zurückzudrängen. Der Leiter der Abteilung Wettbewerbsordnung im BDI, Arno Sölter, beschwerte sich Ende November 1960 in einem „persönlichen“ Brief an Epphardt, dass den zahlreichen Einzelverbänden des Handels Gehör geschenkt würde, die „munter die Belange der Industrie attackiert, aber selber kein Wort davon gesprochen“ hatten, für den freien Wettbewerb einzutreten. Sölters Vorwurf, dass der BDI als Spitzenverband der deutschen Industrie, die die Hauptlast der EWG-Regelung trage, nicht in die Konsultationen einbezogen worden wäre und die Regierung „alle Verhandlungen und Schritte völlig ohne Beteiligung des Spitzenverbandes der deutschen Industrie“ vorgenommen habe, wies Epphardt jedoch kurz vor Jahresende entschieden zurück. Gleichzeitig wies er daraufhin, dass der BDI der Aufforderung um eine Stellungnahme zum seit Anfang November bekannten Kommissionsvorschlag im Gegensatz zu anderen Verbänden noch nicht nachgekommen war.97 Die daraufhin umgehend zugestellte Stellungnahme des BDI, verbunden mit der Stellungnahme der UNICE, deckte sich im Wesentlichen mit den Positionen der Industrie, die bei der Kommission Anfang Oktober 1960 geäußert worden waren, und brachte keine neuen Standpunkte.98 Gleiches galt für die Stellungnahme des DGB, die dieser im Januar 1961 abgab.99 Unabhängig davon, nicht zuletzt wegen 96 BA B102/134645. Stellungnahme des Zentralverbands deutscher Konsumgenossenschaften vom 4. November 1960. 97 Vgl. BA B102/134647. Schreiben Sölter an Epphardt vom 30. November 1960; Ebd.: Schreiben Epphardt an Sölter vom 23. Dezember 1960. Sölter rückte daraufhin in einem prompten Antwortbrief von seinen scharfen Angriffen ab, ohne jedoch seine inhaltliche Position aufzugeben. Vgl. ebd.: Antwortschreiben Sölter an Epphardt vom 29. Dezember 1960. 98 Vgl. BA B102/134647. Schreiben Benisch und Hellmann (Abteilung Wettbewerbsordnung im BDI) an Epphardt vom 13. Januar 1961. 99 Der DGB begrüßte darin das Verbotsprinzip, wünschte eine stärkere Berücksichtigung von horizontalen Vereinbarungen, sprach sich aus Gründen des schnelleren Agierens gegen die
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der den Kommissionsvorschlag ablehnende Haltung der Franzosen, teilte man im Bundeswirtschaftsministerium die Befürchtungen des Handels, dass das Verbotsprinzip, wie es im EWG-Vertrag nach deutscher Auffassung festgeschrieben war, ausgehöhlt werden könnte.100 Beim Meinungsaustausch der zuständigen Minister im März 1961 blieb der Appell des Präsidenten des Rates, des belgischen Wirtschaftsministers van der Schueren, von rechtlichen Extrempositionen abzurücken, jedoch ohne Erfolg. Seine Aufforderung, sich kompromissbereit zu zeigen und sich unter Vernachlässigung rechtlicher Probleme dem Thema von der Seite der wirtschaftlichen Grundsätze zu nähern, war dem vom belgischen Beamten Pilinckx vertretenen Standpunkt, dass die Missbrauchskontrolle im Mittelpunkt des Vertrags stände, zu nah, um die die Meinungsgegensätze überbrücken zu können.101 Der belgische Kompromissvorschlag eines zeitlich gestaffelten Vorgehens, an dessen Ende ein „System von Anmeldung und Genehmigungsantrag versuchsweise ins Auge“ gefasst werden könnte, wurde von von der Groeben aus Gründen der Rechtssicherheit abgelehnt, da der Gerichtshof ein solches Vorgehen durch andere Auslegung des Artikels 85 jederzeit kassieren konnte. Seiner Ansicht nach sollten die Staaten mit der Verordnung Recht setzen, an dem sich der EuGH würde orientieren können.102 Auch Müller-Armack betonte, dass man von der Annahme eines solchen Kompromisses weit entfernt wäre. Er erklärte die deutsche Kompromissbereitschaft, schloss hinsichtlich der Grundausrichtung Konzessionen jedoch kategorisch aus, da er den Artikel 85 nicht auf einen „bloßen Missbrauchsparagraphen“ reduziert wissen wollte.103 Nur in Gebieten, in denen der Vertrag Spielraum habe, wie beispielsweise bei Verfahrensfragen, hielt er Zugeständnisse von deutscher Seite für möglich.104 Diesen Standpunkt unterstützte der italienische Handelsminister Colombo voll und ganz. Seiner Ansicht nach musste der Grundsatz der Nichtigkeit von Kartellen und Absprachen gelten und konnte nicht „durch die in Artikel 86 vorgesehene Verfolgung der Missbräuche ersetzt werden.“ Die von Franzosen, Belgiern und Luxemburgern geforderte Unterscheidung von nützlichen und schädlichen Kartellen war im Vertrag durch Einschränkungen in Absatz 1 und die Ausnahmetatbestände in Absatz 3 des Artikels 85 bereits vorgesehen. Darüber hinaus war Colombo der Meinung, dass für alle Kartelle, die nicht der wirtschaftlichen Entwicklung dienen, „der Grundsatz der Nichtigkeit in seiner
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Einbeziehung der nationalen Behörden in die europäische Wettbewerbspolitik aus und stand aus gleichen Gründen auch der Einrichtung eines beratenden Ausschusses skeptisch gegenüber. Vgl. BA B102/134647. Schreiben Rosenberg an Erhard vom 31. Januar 1961. Vgl. BA B102/134647. Leiter Abtl. E Meyer-Cording an Müller-Armack am 14. April 1961. Betr.: Erörterungen des Vorschlages der Kommission zu eine ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des EWG-Vertrages im Wirtschaftsausschuss des Bundestags am 12. April 1961. Vgl. ZAR CM2 1962/684. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 7. März 1961 in Straßburg. Brüssel, 25. März 1961. R/209/61 (RC 4). Vertraulich. S. 21ff. Ebd.: S. 22ff. Ebd.: S. 26. Vgl. ebd.: S. 32.
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vollen Schärfe gelten“ müsse.105 Damit wurde die italienische Präferenz für die Bewertung von Kartellen und Absprachen auf einer von wirtschaftlichen Abwägungen geprägten Basis deutlich. Nach weiteren Auseinandersetzungen zwischen Müller-Armack und Fontanet über die wettbewerbspolitische Ausrichtung des Vertrags brach van der Schueren die Sitzung mit dem Resümee ab, dass es schwierig sei, „noch im Laufe der Tagung positive Ergebnisse zu erzielen.“106 Die Minister entschieden, keine weiteren Gespräche auf der politischen Ebene zu führen und bis zum Abschluss der Arbeiten des Parlaments und des WSA auf der Ebene der Fachreferenten juristische Detailfragen klären zu lassen, die nicht durch das unterschiedliche Verständnis von Artikel 85 beeinflusst waren.107 Diese Arbeiten geschahen zwar im Rahmen des Rates, sollten aber inoffiziellen Charakter haben und keine regelrechten Arbeiten des Rates sein, die erst nach Empfang der Stellungnahmen von WSA und Parlament beginnen konnten.108 Obwohl sich die sechs Staaten im Herbst 1956 ohne größere Probleme auf die Grundzüge der Wettbewerbspolitik geeinigt hatten, bestanden gut vier Jahre später nahezu unüberwindbare Barrieren. Die Umsetzungs- und Verfahrensfragen, die auf Vorschlag von der Groebens in die nachvertragliche Zukunft geschoben worden waren, um Schwierigkeiten bei den Vertragsverhandlungen zu überwinden, waren nun Anlass für erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Die Argumente glichen denen aus der Zeit vier Jahre zuvor und Vorschläge, die in den Vertragsverhandlungen nicht durchsetzbar gewesen waren, wie der Kartellausschuss, wurden erneut eingebracht. Da die Regierungen nun aber vielfach mit den Bestimmungen des Vertrags argumentierten, entstand der Eindruck, dass der Graben zwischen den beiden wettbewerbspolitischen Fraktionen tiefer geworden war. Für die Franzosen und die Belgier, denen sich die Luxemburger anschlossen, musste Wettbewerbspolitik zwischen guten und schlechten Kartellen differenzieren. Dies sollte mit ex-post Kontrolle des Missbrauchs durch staatliche, möglichst nationale Behörden geschehen, deren Entscheidungen unter politischem Einfluss stehen sollten. Dies widersprach der deutschen Auffassung von Wettbewerbspolitik grundsätzlich. Noch im April 1961 verkündete Erhard vor dem Wirtschaftpolitischen Ausschuss des Deutschen Bundestags, er „halte es immer noch für besser, keine als eine schlechte Verordnung zu haben, die unseren wettbewerbspolitischen Vorstellungen von Grund auf zuwiderläuft“, eine Äußerung die einige Monate später im Sommer 1961 „nicht mehr geeignet (war), verbreitet zu werden.“109 Gleichwohl setzten sich Erhard und seine Mitarbeiter im Kartellreferat weiterhin vehement für das Verbotsprinzip mit Genehmigungsvorbehalt ein, nicht zuletzt um nicht innenpolitisch „jenen Kräften auftrieb (zu) geben, die das 105 106 107 108
Ebd.: S. 27. Ebd.: S. 30. Vgl. ebd.: S. 32f. Vgl. ZAR CM2 1960/193. AStV. Entwurf einer Kurzniederschrift über die 146. Tagung am 21. Dezember 1960. Brüssel, 22. Dezember 1960. RP/CRS/14/60. S. 12. 109 Vgl. BA B102/134647. Textstreichung und handschriftlicher Vermerk von Epphardt an der Entwurfsfassung von Obernolte für die Rede Erhards vor dem BDI am 9. Juni 1961, der Passagen aus der Bundestagsrede des Ministers vom 14. April 1961 übernommen hatte.
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Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen nach wie vor nicht verwinden“ konnten und „den Hüter dieses Gesetzes, das Bundeskartellamt, zur Zielscheibe ihrer Angriffe“ machten.110 Der Einsatz der Bundesregierung für die Etablierung des Verbotsprinzips mit Genehmigungsvorbehalt auf europäischer Ebene diente auch der Verteidigung und Sicherung des GWB. Für die strenge Anwendung des Verbotsprinzips mit klaren Nichtigkeitsregelungen zur Umsetzung der gemeinsamen Wettbewerbspolitik auf dem Gemeinsamen Markt hatten sich neben der deutschen auch die niederländische und die italienische Regierung ausgesprochen. Die Position der Italiener, die sich nicht deutlich für den Kommissionsentwurf ausgesprochen hatten, schien klar, allerdings waren zentrale Fragen, wie die Rechtswirkung der Ausnahmevoraussetzungen in Artikel 85, Absatz 3 oder die Frage vorläufiger Wirksamkeit von Kartellen bis zu Entscheidungen der Kommission noch nicht vollständig zur Sprache gekommen. Deutsche und Niederländer setzten sich hingegen ohne Einschränkungen für den vorliegenden Kommissionsvorschlag ein, der von Franzosen, Belgiern und Luxemburgern abgelehnt wurde. Gegenüber den Vertragsverhandlungen hatten sich jedoch weitere Verschiebungen ergeben. Neben den sechs Staaten saß nun der Deutsche von der Groeben nicht mehr als zur Neutralität verpflichteter Vorsitzender der Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt mit am Tisch der Verhandlungen. Stattdessen war er nun als Vertreter der Kommission beauftragt, die im Vertrag niedergelegten Grundsätze zu schützen, zu ihrer Umsetzung beizutragen und die vorhandenen Vertragslücken mit Hilfe von Rechtsetzung gemäß Artikel 87 zu füllen, worin er vom Präsidenten der Kommission Hallstein unterstützt wurde. Obwohl beide nicht wie Erhard oder Müller-Armack ordoliberal geprägt waren, waren sie Verfechter der Idee, ein geeintes Europa durch Recht und Rechtsetzung zu schaffen. Diese Methode auf die Wettbewerbspolitik angewendet, bedeutete im Ergebnis, dass vor allem die von der Bundesrepublik verfochtene ex-ante Kontrolle der Kartelle auf Basis des Rechts mit konstitutiven Entscheidungen über Ausnahmegenehmigungen vom Kartellverbot unterstützt wurde. Zudem war die Parlamentarische Versammlung am Rechtssetzungsprozess der EWG beteiligt und gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessengruppen hatten über den WSA einen institutionalisierten Einflusskanal erhalten. Wenngleich beide europäischen Organisationen keine Entscheidungsmacht hatten, konnten sie eventuell in dieser Situation über die nationalen Interessen hinweg Einfluss nehmen, da es keine gemeinsame Haltung der Mitgliedstaaten zum Kommissionsvorschlag gab.
110 Vgl. BA B102/134647. Epphardt an Rau. Vorlage für Ministerrede vor dem BDI 9. Juni 1961.
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F.3 ERGÄNZUNG, VERÄNDERUNG UND BESTÄTIGUNG – EINFLÜSSE AUF DEN KOMMISSIONSENTWURF F.3.a Die gespaltene Meinung des Wirtschafts- und Sozialausschusses Der Wirtschafts- und Sozialausschuss war vom Rat am 8. Dezember 1960 offiziell um eine Stellungnahme zum Vorschlag der Kommission für eine Erste Durchführungsverordnung für die Artikel 85 und 86 gebeten worden. Die Fachliche Gruppe für Wirtschaftsfragen des WSA beauftragte daraufhin eine eigene Arbeitsgruppe damit, die Stellungnahme des WSA für den Rat vorzubereiten. Diese beriet den Kommissionsentwurf im Januar und Februar 1961 in fünf Sitzungen, auch unter Beteiligung von Vertretern der Kommission.111 Auf den intensiven Beratungen der Arbeitsgruppe aufbauend verabschiedete die fachliche Gruppe für Wirtschaftsfragen ihren Abschlussbericht erst Anfang März. Der nach seinem Berichterstatter benannte ‚Bericht Malterre‘ wurde Grundlage der Stellungnahme des WSA, die in dessen 15. Sitzung am 27. und 28. März 1961 auf der Tagungsordnung stand. Nach intensiver Debatte an beiden Tagen entschied sich der WSA für eine bis dahin einmalige Stellungnahme, deren Besonderheit darin bestand, dass sie bei zwei zentralen Punkten die unvereinbaren Standpunkte je der Hälfte des Ausschusses wiedergab. Es handelte sich dabei um die Anzeigepflicht und die Rechtswirkung des Antrags auf Ausnahmegenehmigung nach Artikel 85, Absatz 3. Hier bildete sich zum ersten Mal die Meinungsfront entlang der beiden im WSA vertretenen gesellschaftlichen Gruppen. Andries Kloos, Sekretär des niederländischen Gewerkschaftsverbandes,112 schob die Verantwortung dafür, dass der WSA in dieser wichtigen Frage nicht zu einer einheitlichen Stellungnahme gekommen war, in erster Linie den Arbeitgebern zu. Seiner Ansicht nach hatten diese aus „Furcht [...], dass die Kartelle von der Kommission erfasst und gegebenenfalls verboten würden oder ihnen Änderungen aufgelegt würden“ gegen die Anzeigepflicht gestimmt.113 Die Fachliche Gruppe für Wirtschaftsfragen hatte sich nach langen Debatten Anfang März in dieser entscheidenden Frage mehrheitlich gegen die Anzeigepflicht ausgesprochen. Der Änderungsantrag der Arbeitnehmerseite im WSA, der darauf zielte, diesen Passus zu streichen, erhielt bei der Abschlussdiskussion im 111 Vgl. Bericht über die Beratungen des Wirtschafts- und Sozialausschusses über die am 8. Dezember 1960 vom Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beantragte Stellungnahme zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“. 29. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 381–452. S. 382. 112 Vgl. Erster Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, 17. September 1958. S. 146. 113 Vgl. Bericht über die Beratungen des Wirtschafts- und Sozialausschusses über die am 8. Dezember 1960 vom Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beantragte Stellungnahme zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“. 29. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 381–452. S. 416f.
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Plenum jedoch 41 zustimmende und 41 ablehnende Stimmen. Während die eine Hälfte des WSA sich für die Umsetzung des Verbotsprinzips mit Erlaubnisvorbehalt aussprach, war die andere Hälfte der Meinung, dass nur die Auslegung des Artikels 85 als Verbotsprinzip mit Legalausnahme zu vertreten sei. Die sich daran anschließenden Änderungsanträge führten zur Unterbrechung der Sitzung. Um überhaupt eine Stellungnahme abzugeben, nahm man nach intensiven Verfahrensdebatten Abstand von dem Gedanken, einen Kompromiss herbeiführen zu wollen. Das Gesamtverfahren zur Umsetzung der Verordnung wollte man nicht noch länger behindern und traf die salomonische Entscheidung, beide Positionen in die Stellungnahme aufzunehmen.114 Infolgedessen enthielt die Stellungnahme des WSA zahlreiche Argumente für und wider die Anzeigepflicht und zur Auslegung des Artikels 85 als Kartellverbot mit Genehmigungsausnahme. Zentrales Argument gegen die Anzeigepflicht war, dass sie im Vertrag nicht vorgesehen war und inhaltlich über den Inhalt des Vertrags hinausgehe. Ihre Gegner gestanden der Anzeigepflicht zwar zu, dass sie ein potentielles Mittel sei, um einen Überblick über die Kartelle auf dem Gemeinsamen Markt zu erlangen. Die damit verbundene hohe Arbeitsbelastung halte die Kommission jedoch von ihrer eigentlichen Aufgabe ab, mögliche Behinderungen des Wettbewerbs zu untersuchen. An der Anzeigepflicht kritisierte die Seite der Wirtschaftsvertreter, dass der Verwaltungsaufwand zu hoch, das freie unternehmerische Handeln eingeschränkt und die damit die Zusammenarbeit von Unternehmen und Kommission von vornherein eine negative Basis hätte. Deshalb votierte sie für ein System, bei dem die Kommission auf Anzeige Dritter tätig werden würde. Die Gegner der Anzeigepflicht befürworteten die Legalausnahme und forderten die rückwirkende Erlaubnis der Kommissionsentscheidung über das Vorliegen der Ausnahmetatbestände mit dem Argument, dass ein ex-ante Genehmigungsantrag im EWGVertrag nicht vorgesehen sei. Die Kommissionsentscheidung hätte damit rein deklaratorischen Charakter erhalten. Die Befürworter der Anzeigepflicht erklärten hingegen, dass erst mit der Anzeigepflicht Kenntnisse über vorhandene Kartelle gesammelt werden könnten, „ihre Überwachung erleichtert und eine Ermittlung der nicht angezeigten Kartelle durch die Kommission weniger oft erforderlich“ würde.115 Erst im Anschluss daran könnten sich die Behörden der Kontrolle und Aufsicht besonders schädlicher Absprachen zuwenden und über die potentielle Nützlichkeit von Kartellen entscheiden. Jede andere Regelung, nach der verbotene Kartelle bis zur Aufdekkung oder einem Beschluss der Kommission legal tätig werden könnten, widerspräche dem Vertrag. Den Vorschlag, dass die Kommission auf Anzeigen Dritter reagieren sollte, hielten die Befürworter der Anzeigepflicht für praktisch wirkungslos, da Kartellen innerhalb ihrer Organisation, aber auch durch ihre Existenz auf Märkten Sanktionsmittel zur Verfügung ständen, um Anzeigen zu 114 Vgl. ebd.: S. 430–434. 115 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“, 28. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 368–380. S. 378.
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verhindern. Auch wenn die Kommission keine Erlaubnisentscheidung nach Artikel 85, Absatz 3 treffen würde, beispielsweise aus Gründen der Arbeitsüberlastung, dürfe das Verbotsprinzip im Einzelfall nicht durch vorläufige Genehmigung oder rückwirkende Entscheidung außer Kraft gesetzt werden.116 Die Positionen über die rückwirkende Billigung von Absprachen durch Entscheidung der Kommission, über die Anzeigepflicht für Altkartelle und über den Grundsatz des vorherigen Genehmigungsantrags blieben zwar konträr, doch kam der WSA auch zu gemeinsamen Standpunkten und Ergänzungsvorschlägen zum vorliegenden Kommissionsvorschlag.117 Zur parallelen Anwendung von Artikel 85 und 86 bat der WSA um Vorschriften zur Anwendung von Artikel 86 und schlug vor, der Kommission hier weitreichende Untersuchungs- und Prüfungsbefugnisse zu erteilen, um eine „strenge und unterschiedslose Kontrolle“ zu ermöglichen.118 Die Kommission sollte schon vor der formalen Einleitung eines Wettbewerbsverfahrens umfassendere Nachprüfungsbefugnisse erhalten, insbesondere auf dem Gebiet der marktbeherrschenden Unternehmen.119 Der WSA befürwortete die Einführung des Negativattests, um Unternehmen die Möglichkeit zu geben, sich Sicherheit darüber zu verschaffen, ob sie von Artikel 85, einer Verordnung oder der Rechtsprechung betroffen seien. Die Mehrheit des WSA hielt ein Drittbeschwerdeverfahren für „unerlässlich“, bei dem Dritte, wie Staaten und natürliche und juristische Personen, ohne Nachweis eigenen Interesses Anzeige erstatten können sollten, da die Einhaltung von Artikel 85 und 86 von allgemeinem Interesse war. Der WSA sprach sich für die Zentralisierung der Entscheidungskompetenz bei der Kommission aus, sah darin aber nur einen möglichen Weg, um die einheitliche Wettbewerbspolitik zu erreichen. Für ebenso wichtig hielt er die Harmonisierung des nationalen Wettbewerbsrechts. Ohne die abschließende Entscheidungsbefugnis der Kommission in Frage zu stellen, plädierte er zudem dafür, dass die nationalen Behörden auf allen drei Handlungsebenen, bei Ermittlung, Untersuchung und Entscheidung, beteiligt würden.120 Der WSA griff die ursprünglich von den Niederländern aufgeworfene Idee der Einrichtung eines beratenden Ausschusses auf und schlug vor, dass dieser die Kommission bei Entscheidungen über Verfälschungen des Wettbewerbs, die nicht mit Artikel 85 und 86 im Einklang standen, und bei Erlaubnisentscheidungen nach Artikel 85, Absatz 3 unterstützen und eine wirtschaftliche Stellungnahme abgeben sollte. Im Unterschied zu den Vorstellungen der GDIV sollten diesem Ausschuss keine Beamten der Mitgliedstaaten angehören, sondern Vertreter des WSA. Er sollte das Recht erhalten, die 116 Vgl. ebd.: S. 379f. 117 Zu Folgendem vgl. ebd. und ZAR CM2 1962/686 Aufzeichnung. Betrifft: Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs einer ersten Durchführungsverordnung zu den Artikel 85 und 86 des Vertrags, Brüssel, 9. Juni 1961. R/290/61 (RC ) (Anlage). 118 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“, 28. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 368–380. S. 376. 119 Vgl. ebd.: S. 373f. 120 Vgl. ebd.: S. 374ff.
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Kommission zu Untersuchungen aufzufordern, was ihn in die aktive Wettbewerbspolitik einbezogen hätte.121 Darüber hinaus forderte der WSA, dass eine Abteilung des Gerichtshofs als Berufungsinstanz unbeschränkte Überprüfungsmöglichkeit für jegliche Entscheidungen der Kommission auf dem Gebiet des Wettbewerbs erhielt. Eine ausschließlich verwaltungsrechtliche Überprüfung der Kommissionsentscheidungen über Geldbußen auf Rechtmäßigkeit durch den Gerichtshof hielt der WSA für ungenügend.122 Zudem plädierte die Mehrheit des WSA für die Einführung von Strafsanktionen bei Verletzung des Artikels 85, Absatz 1 oder des Artikels 86.123 Grundsätzlich positiv stand der WSA dem Bemühen der Kommission um eine einheitliche Wettbewerbspolitik gegenüber. Er gestand der Kommission zu, nicht alle notwendigen Dinge in der ersten Verordnung zu regeln, zumal sie die Bearbeitung ungeregelter Zustände in naher Zukunft zusagte.124 In der Debatte des WSA zeigte sich von der Groeben im Namen der Kommission bei zahlreichen Detailfragen kooperativ, machte aber auch deutlich, dass das Legalausnahmeverfahren aufgrund der Kann-Bestimmung des Artikel 85, Absatz 3 nach Auffassung der Kommission nicht eingeführt werden könnte.125 Neben den rechtlichen Unvereinbarkeiten mit dem Vertrag wies er auf die negativen Folgen des Legalausnahmeverfahrens für Unternehmen und Kartelle hin. Ohne förmliche Genehmigung konnten unrechtmäßige Kartelle von der Kommission entdeckt und als nicht vereinbar mit Artikel 85, Absatz 1 für nichtig erklärt werden. Rechtsgeschäfte dieser Kartelle in der Vergangenheit würden infolgedessen ebenfalls nichtig. Die 121 Vgl. ebd.: S. 371ff.; Bericht über die Beratungen des Wirtschafts- und Sozialausschusses über die am 8. Dezember 1960 vom Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beantragte Stellungnahme zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“. 29. März 1961. Abgedr. ebd.: S. 381–452. S. 394. 122 Vgl. Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“, 28. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 368–380. S. 372. Über Form und Anbindung an bestehende Institutionen hatte man sich in der Fachlichen Gruppe nicht einigen können. Vgl. Bericht über die Beratungen des Wirtschafts- und Sozialausschusses über die am 8. Dezember 1960 vom Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beantragte Stellungnahme zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“. 29. März 1961. Abgedr. ebd.: S. 381–452. S. 395. 123 Vgl. Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“, 28. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 368–380. S. 373. 124 Dies waren: fehlende Vorschriften für Art. 86, eine ausreichende Regelung der Befugnisse zuständiger Behörden, die Frage der Einrichtung eines beratenden Ausschusses für die Kommission und fehlende Sanktionen bei Verletzung von Artikel 85 und 86. Vgl. ebd.: S. 369. 125 Andernfalls hätte in Zweifelsfällen der Gerichtshof entscheiden müssen. Damit wäre verbunden gewesen, dass Altkartelle Gefahr laufen würden, vom Gerichtshof rückwirkend bis zum Tag des Inkrafttretens des Vertrags für nichtig erklärt zu werden. Vgl. Bericht über die Beratungen des Wirtschafts- und Sozialausschusses über die am 8. Dezember 1960 vom Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beantragte Stellungnahme zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“. 29. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 381–452. S. 429.
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sich daraus ergebende allgemeine Rechtsunsicherheit im geschäftlichen Umgang mit Kartellen wollte die Kommission vermeiden.126 Für sie stand außer Frage, dass die Folgen einer Verordnung ohne Anzeigepflicht „Unklarheiten und Rechtsunsicherheit“ gewesen wären.127 Die Debatte im WSA war sowohl von der Kommission als auch in den Hauptstädten aufmerksam verfolgt worden. Im Bundeswirtschaftsministerium teilte man bei den umstrittenen Themen den Standpunkt der Anzeigebefürworter.128 Gleichzeitig machten die Debatten im WSA sehr deutlich, welche gesellschaftlichen Gruppen von einer effektiven europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik, die von einer mit ausreichenden Kompetenzen ausgestatteten Kommission umgesetzt würde, Nutzen erhofften und welche eher Kosten befürchteten. Im gleichmäßig mit Vertretern der Arbeitnehmer und Verbraucher und mit Vertreten der Arbeitgeber, des Handels, des Handwerks und der Industrie besetzten WSA hatte sich bei der zentralen Ausrichtung der zukünftigen Wettbewerbspolitik eine Pattsituation ergeben. Dem Änderungsantrag der Anzeigebefürworter, der sich inhaltlich mit dem Vorschlag der Kommission deckte, hatte eine Hälfte des WSA die Zustimmung versagt, so dass am 28. März 1961 beide Positionen Eingang in die endgültige Stellungnahme des WSA zum Kommissionsvorschlag gefunden hatten. Der WSA sprach sich somit am 28. März 1961 weder eindeutig für die Umsetzung des Verbotsprinzips mit Genehmigungsvorbehalt noch für das System der Legalausnahme durch die erste Durchführungsverordnung nach Artikel 87 des EWG-Vertrags aus.129 Diese Stellungnahme des WSA ging dem Rat Anfang April offiziell zu.
126 Vgl. ebd.: S. 388f. 127 Vgl. ebd.: S. 413. 128 Vgl. Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“, 28. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 368–380. S. 379, Randbemerkungen. 129 Hambloch, die zum Urteil kommt, dass der WSA sich in seiner „von der Kommission(hic) erbetenen Stellungnahme vom 29.(hic) März 1961 für das Genehmigungsverfahren“ aussprach, schätzt scheinbar – unabhängig davon, dass der Rat den WSA um eine Stellungnahme bat – die Relevanz der Forderung nach Rückwirkung einer Kommissionsentscheidung zu gering ein. Dahinter stand die Frage, ob das Verbotsprinzip mit Ausnahmegenehmigung und konstitutiver Entscheidung oder eher das Verbotsprinzip mit deklaratorischer Entscheidung über das Vorliegen des Legalausnahmetatbestandes gelten sollte. Dies wird bei der Stellungnahme der Anzeigepflichtgegner deutlich. Wenn es dort heißt, dass es „im Ermessen der Kommission liegen solle, darüber zu befinden, ob ein Kartell verboten oder nichtig ist oder ob ihm die Freistellung nach Artikel 85, Absatz 3 mit Wirkung für die Vergangenheit und die Zukunft erteilt werden kann“, so zielte dies auf die Ausprägung des Artikel 85 als Verbotsprinzips, wie es in Frankreich angewendet wurde und dem Missbrauchsprinzip näher stand. Auch die dritte „Erwägung“ der Anzeigegegner macht dies deutlich, worin sie den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass die Kommission nur sehr eingeschränkte Befugnisse erhalte, nämlich „in besonderen Fällen von Amts wegen tätig zu werden, alle erforderlichen Untersuchungen und Prüfungen durchzuführen, um Übertretungen zu ermitteln, und etwaige Anzeigen von seiten(hic) Dritter in Empfang zu nehmen.“ Vgl. Hambloch: Entstehung der VO 17. S. 889; Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Ersten Durch-
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F.3.b Die Annäherung der Sachverständigen – Ausweg aus der Sackgasse? Nachdem es im März 1961 beim Meinungsaustausch der zuständigen Minister zum Aufeinandertreffen von offensichtlich unvereinbaren Standpunkten über die Durchführung des Artikels 85 gekommen war, sollten nun die vom Rat beauftragen Fachbeamten der Regierungen mögliche Wege aus der Sackgasse sondieren und in einem ersten Schritt jene Punkte herausarbeiten, bei denen Einigkeit zu erzielen war. Alle anderen Themen mussten später im Kreise der Minister erörtert werden.130 Die Vertreter der Mitgliedstaaten, zumeist leitende Beamte der zuständigen Abteilungen der Regierungen,131 kamen im Mai, Juni und September 1961 zusammen, um Einzelfragen der Verordnung in erster Linie auf ihre juristische Vereinbarkeit mit dem Vertrag und mit den Gesetzen der Mitgliedstaaten zu prüfen.132 Anwesend waren auch VerLoren van Themaat für die GDIV und der Generaldirektor des Gemeinsamen Juristischen Dienstes der Gemeinschaften Gaudet, um die juristische und politische Position der Kommission zu einzelnen Themen zu erläutern. Bei den ersten beiden Sitzungen lag den Sachverständigen zudem die Stellungnahme des WSA vor und VerLoren van Themaat berichtete vereinzelt von den Beratungen des Binnenmarktausschusses. Noch vor der dritten Sitzung der Beamten informierte das Generalsekretariat des Rats die Mitgliedstaaten über die Änderungsvorschläge des Binnenmarktausschusses des Parlaments, die jedoch erst bei der Plenarsitzung des Parlaments im Oktober zur Diskussion stehen sollten.133 Unter Vorsitz der deutschen Ratspräsidentschaft, wahrgenommen von Meyer-Cording, wurden daraufhin im September 1961 erneut Positionen und Rechtsfragen diskutiert und mit den Änderungswünschen des Binnenmarktausschusses verglichen. VerLoren van Themaat machte hierbei wiederholt deutlich,
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führungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags“, 28. März 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 368–380. S. 376-379. Vgl. ZAR CM2 1962/684. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 7. März 1961 in Straßburg. Brüssel, 25. März 1961. R/209/61 (RC 4). Vertraulich. S. 33. Die französischen Dokumente sprechen hier von „Hohen Beamten“. Somit handelt es sich bei diesen Sachverständigen um leitende Beamte auf der untersten politischen Ebene und nicht um die in der Ministerialbürokratie rangniederen „Experten“, die sich in der Kartellsachverständigenkonferenz regelmäßig trafen. Zur Unterscheidung wird im Folgenden von „leitenden Sachverständigen“, „leitenden Beamten“ oder „hohen Beamten“ gesprochen. Für die drei Treffen am 17. Mai, 16. Juni und 19. und 20. September 1961 vgl. ZAR CM2 1962/685. Entwurf eines Berichts über die Tagung des Sachverständigengruppe [...], 17. Mai 1961. Brüssel, 26. Mai 1961. R/266/61 (RC 8). Vertraulich; ZAR CM2 1962/686. Entwurf eines Berichts über die Tagung der Hohen Beamten [...], 16. Juni 1961. Brüssel, 26. Juni 1961. R/358/61 (RC 13). Vertraulich; ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten zur Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs einer ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. Vgl. ZAR CM2 1962/686. Aufzeichnung. Betrifft: Änderungsvorschläge des Binnenmarktausschusses des Europäischen Parlamentes zur Durchführungsverordnung zu den Artikeln 86 und 86 des Vertrags. Brüssel, 6. Sept. 1961. R/380/61 (RC 14). Vertraulich.
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welche Änderungswünsche der Mitgliedstaaten oder des Binnenmarktausschusses die Kommission übernehmen könnte und welche Inhalte auch in einer überarbeiteten Entscheidungsvorlage der Kommission für den Rat enthalten sein würden. Die grundsätzliche Auslegungsfrage von Artikel 85 war zwar vornherein von der Diskussion ausgenommen worden, hatte jedoch immer wieder Einfluss auf die Einzelfragen. In konstruktiver Atmosphäre kamen die juristischen Sachverständigen noch im Mai zu Übereinstimmungen. Schon in der ersten Sitzung bestand Einigkeit darüber, die Forderung aus dem WSA aufzugreifen und die Verordnung um ein Drittbeschwerdeverfahren zu ergänzen.134 Ebenso befürworteten alle, in der Verordnung festzuschreiben, dass die Kommission auch von Amts wegen tätig werden sollte.135 Man kam überein, drei Methoden festzuschreiben, nach denen die Kommission ein Kartellverfahren einleiten könnte: auf Antrag, auf Drittbeschwerde oder von Amts wegen.136 Der bei der ersten Sitzung eingebrachte Vorschlag der Franzosen, dass die Kommission mit der Institutionalisierung dieser drei Methoden auch gegen den Missbrauch marktbeherrschender Stellung vorgehen könnte, fand allgemeine Zustimmung. So konnte das auch vom WSA bemängelte Ungleichgewicht zwischen der Anwendung von Artikel 85 und 86 in der Verordnung aufgehoben werden. Die weitergehenden Vorstellungen der Franzosen, dieses System auch zur Durchführung von Artikel 85 zu verwenden und auf diesem Weg Kartelle und den Missbrauch marktbeherrschender Stellung gleich zu behandeln, stieß hingegen auf Ablehnung, da sie auf die Abschaffung der Anzeigepflicht und die Einführung des Missbrauchsprinzips für Artikel 85 zielten.137 Insgesamt gab es während der drei Sitzungen aber keine konsensfähigen Vorschläge zur Einführung des Klage- und Beschwerdeverfahrens und zum Tätigwerden durch die Kommission zur Berücksichtigung des Artikels 86 von Amts wegen. Zu diesen Themen war es nicht möglich, dem Ministerrat einen entscheidungsfähigen Vorschlag vorzulegen.138 Gegenüber dem von den Belgiern eingebrachten und vom WSA geforderten Negativattest gab es zunächst weder Zustimmung noch Ablehnung. Man einigte sich darauf, dass ein Antrag auf Ausnahmegenehmigung zugleich im Sinne eines Negativattests gestellt werden könnte. Die Nichtanwendbarkeitsbescheinigung sollte im Zweifel von der Kommission mit Vorbehalten versehen werden und
134 Vgl. ZAR CM2 1962/685. Entwurf eines Berichts über die Tagung des Sachverständigengruppe [...], 17. Mai 1961. Brüssel, 26. Mai 1961. R/266/61 (RC 8). Vertraulich. S. 28–31. 135 Vgl. ebd.: S. 31f. 136 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Aufzeichnung: Betrifft Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs für eine Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 7. September 1961. R/382/61 (RC15). Vertraulich. S. 5. 137 Vgl. ZAR CM2 1962/685. Entwurf eines Berichts über die Tagung des Sachverständigengruppe [...], 17. Mai 1961. Brüssel, 26. Mai 1961. R/266/61 (RC 8). Vertraulich. S. 33–37. 138 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 9ff.
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nicht innerhalb einer festen Frist erstellt werden müssen.139 Jedoch bestand noch juristischer Klärungsbedarf hinsichtlich der Rechtsgültigkeit eines solchen Bescheids, zu der die niederländische Seite Vorbehalte äußerte.140 Die Erwartungen an die Rechtskraft eines solchen Bescheids reichten von der von Belgien geäußerten rechtlichen Bindung nationaler Richter bis zu der niederländischen Auffassung, dass ein solcher Bescheid der Kommission keinerlei Rechtsgültigkeit haben könnte. Die Kommission bezweifelte die von den Belgiern gewünschte Wirkung, worin sie von der Mehrheit der Staaten unterstützt wurde.141 Die deutsche Seite hatte dieses wettbewerbspolitische Instrument im Mai 1961 bei der ersten Sitzung, wie bereits im Oktober des Vorjahres, ebenfalls abgelehnt, deutete aber noch im Verlauf der Sitzung die Bereitschaft zu einem Tauschhandel an. Trotz rechtlicher Bedenken war die deutsche Seite bereit, dem Negativbescheid zuzustimmen, wenn die Anzeigepflicht beibehalten würde, da diese für die westdeutsche Regierung ein zentraler Bestandteil zukünftiger Wettbewerbspolitik sein sollte.142 Zudem war im WSA und auch bei den Diskussionen im Binnenmarktausschuss deutlich geworden, dass die Wirtschaft an diesem wettbewerbspolitischen Instrument großes Interesse hatte. Nachdem geklärt war, dass der Negativbescheid nicht so weitreichende Rechtsbindung entfalten würde, wie sie die Belgier wünschten, setzten die deutschen Sachverständigen sich deshalb in der dritten Sitzung im September für die Einführung des Negativattests ein. Gegen die Minderheit aus Italien und den Niederlanden betonten sie nun die höhere Rechtssicherheit für Unternehmen durch das Attest.143 Uneinig blieben die Sachverständigen jedoch in der Frage, ob das Negativattest auch auf die Feststellung der Lage nach Artikel 85, Absatz 3 ausgedehnt werden sollte und ob man den italienischen Vorschlag eines Negativattests für Artikel 86 berücksichtigen wollte. Für letzteres gab es im September keine Mehrheit, zumal offen war, ob
139 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Aufzeichnung: Betrifft Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs für eine Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 7. September 1961. R/382/61 (RC15). Vertraulich. S. 5. 140 Vgl. ZAR CM2 1962/685. Entwurf eines Berichts über die Tagung des Sachverständigengruppe [...], 17. Mai 1961. Brüssel, 26. Mai 1961. R/266/61 (RC 8). Vertraulich. S. 24. 141 Vgl. ebd.: S. 27. Die scharfe Position, „die Entscheidungen der Kommission könnten in keinem Fall für die Gerichte verbindlich sein“, wurde nachträglich von der Kommission abgeschwächt. Im Änderungsantrag der Kommission zu obiger Niederschrift sollte dieser Satz durch die Formulierung ersetzt werden, dass es „zumindest äußerst unwahrscheinlich (sei), dass eine Entscheidung der Kommission, in welcher erklärt würde, dass die Bedingungen für die Anwendung des Artikels 85 Absatz (1) bzw. des Artikel 86 nicht erfüllt sind, für die Gerichte verbindlich sein könnte.“ Vgl. ZAR CM2 1962/685. Änderungsantrag der EWGKommission zum Entwurf... [Dok.: R/266/61 (RC 8)]. Brüssel, 13. Juni 1961 R/266/61 (RC 8) Änder. 1. Vertraulich. S. 2. 142 Vgl. ZAR CM2 1962/685. Entwurf eines Berichts über die Tagung des Sachverständigengruppe [...], 17. Mai 1961. Brüssel, 26. Mai 1961. R/266/61 (RC 8). Vertraulich. S. 22. 143 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 13f.
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dieses Attest nur die Nichtexistenz marktbeherrschender Stellung oder die nicht missbräuchliche Ausnutzung dieser Stellung bestätigen sollte.144 Ausführlich wurde erörtert, wie die Zusammenarbeit von Kommission und Behörden bei Untersuchungen und Entscheidungen geregelt werden sollte. Ab der zweiten Sitzung bestanden kaum noch unterschiedliche Auffassungen davon, dass Ermittlung, Untersuchung und Vorbereitung einer Entscheidung über vertragswidriges Verhalten von Kartellen grundsätzlich in sehr enger Zusammenarbeit von Kommission und nationalen Behörden geschehen müsste.145 Jedoch zeigten sich bei der dritten Sitzung Differenzen darüber, wie diese Zusammenarbeit bei der Untersuchung und Vorbereitung von Entscheidungen im Detail aussehen sollte. Da die im Kommissionsentwurf vorgesehen Befugnisse zur Auskunftseinholung und Nachprüfung recht allgemein gehalten waren, plädierten alle für präzisere Formulierungen, um das Zusammenwirken von Kommission und nationalen Behörden zu gewährleisten. Forderungen von französischer und italienischer Seite, die Kommission enger an die nationalen Behörden zu binden oder gar darauf zu beschränken, nur nach Aufforderung von nationalen Behörden aktiv werden zu können, fanden keine Mehrheit und wurden auch von der Kommission abgelehnt. Für die schnelle Durchsetzung der Wettbewerbspolitik wäre eine solche Regelung ein Rückschritt gewesen, da sie zahlreiche Abstimmungsprobleme zwischen Kommission und nationalen Behörden zur Folge gehabt hätte. Abgesehen davon, dass 1961 immer noch nicht alle Mitgliedstaaten zuständige Behörden aufgebaut hatten, sprach auch das Ziel der einheitlichen Durchsetzung der Wettbewerbsregeln dagegen.146 Ein abschließendes, eindeutiges Meinungsbild gab es in dieser Frage nicht. Allein die Frage, welche Institution die abschließenden Entscheidungen über Verstöße gegen die Wettbewerbsvorschriften oder über Ausnahmegenehmigungen zu treffen habe, isolierte die Franzosen. Rechtlich geklärt war seit der ersten Sitzung, dass diese Entscheidung nur eine Exekutivbehörde treffen könnte, sprich Kommission oder Rat. Diese mussten dazu aber von den Mitgliedstaaten mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet werden.147 Die anderen fünf Mitgliedstaaten standen vorherigen Beratungen zwischen Kommission und Vertretern der Mitgliedstaaten, beispielsweise in einem Ausschuss, nicht abgeneigt gegenüber, stimmten aber eindeutig für die alleinige, abschließende Entscheidungsbefugnis der Kommission. Für die Franzosen hingegen war im Mai allenfalls eine Lösung denkbar, bei der die Entscheidungsbefugnis zwischen Mitgliedstaaten und Kommission geteilt würde. Sie forderten, dass die Kommissionsentscheidungen erst nach einem, am besten einstimmigen, Beschluss des Rats von der Kommis144 Vgl. ebd.: S. 16. 145 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf eines Berichts über die Tagung der Hohen Beamten [...], 16. Juni 1961. Brüssel, 26. Juni 1961. R/358/61 (RC 13). Vertraulich. S. 8. 146 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 30–34. 147 Vgl. ZAR CM2 1962/685. Entwurf eines Berichts über die Tagung des Sachverständigengruppe [...], 17. Mai 1961. Brüssel, 26. Mai 1961. R/266/61 (RC 8). Vertraulich. S. 6.
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sion getroffen werden sollten, womit sie die Sorgen der anderen Regierungen vor politischen Einflussnahmen auf die Kommissionsentscheidungen bestärkten. Die anderen fünf Regierungen wollten für die Zukunft verhindern, dass ein einzelner Staat eine Entscheidung blockieren oder die Gesamtheit der Mitgliedstaaten der Kommission eine Entscheidung aufzwingen konnte.148 Der Vorschlag des WSA, einen Beratenden Ausschuss einzusetzen, war in der zweiten Sitzung von den Sachverständigen zurückhaltend, aber nicht ablehnend besprochen worden. Jedoch überwog die Meinung, dass dies kein drängendes Thema war. Zuvor mussten die mögliche Zusammensetzung eines solchen Organs und seine Befugnisse geklärt werden. Luxemburger und Italiener äußerten Bedenken in Hinblick auf die mögliche Schwerfälligkeit eines solchen Systems. Nur die Niederländer sprachen sich grundsätzlich dafür aus, sahen aber ebenfalls keine Dringlichkeit.149 Durch mögliche Zugeständnisse an die Franzosen beim Beratenden Ausschuss konnte aber kein Kompromiss in der grundsätzlichen Frage der Entscheidungskompetenz der Kommission gefunden werden. Im Laufe der Gespräche separierte sich die französische Delegation mit ihrer Position zur Kommissionsentscheidung zunehmend. Der Kommissionsvorschlag sah in diesem Punkt vor, dass die nationalen Behörden bei der Untersuchung und der Vorbereitung der Entscheidungen von der Kommission beteiligt würden, die abschließende Entscheidung über Anträge auf Ausnahmegenehmigungen jedoch die Kommission allein treffen würde. Dieser Zentralisierung der Entscheidungsgewalt hatten auch WSA und Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments zugestimmt. Letzterer hatte sogar dem Parlament vorgeschlagen, diese Entscheidungskompetenzen auf Artikel 85, Absatz 1 und Artikel 86 auszudehnen sowie den Mitgliedstaaten kein Anhörungsrecht vor Entscheidungen zu geben. Diese Stärkung des Gemeinschaftsorgans lehnte aber selbst die Kommission aus rechtlichen Erwägungen ab, da sie die Pflichten und Befugnisse von nationalen Verwaltungsbehörden und Gerichten beschnitten hätte. Abschließend sprachen sich mit Ausnahme der Franzosen alle Delegationen für den Kommissionsentwurf aus. Da die Franzosen nicht bereit waren, die Entscheidungsbefugnis völlig in die Hände der Kommission zu legen und eine gemeinsame Entscheidung von Mitgliedstaaten und Kommission forderten, musste eine Lösung auf politischer Ebene gefunden werden.150 Gleiches galt für die Frage der Sanktionsbefugnisse der Kommission. Die Sachverständigen waren schnell darin übereingekommen, dass im Gegensatz zum Vorschlag der Kommission Artikel 87, Absatz 2, Buchstabe a) bereits mit der ersten Durchführungsverordnung umgesetzt werden sollte. Die Ergänzung des 148 Vgl. ebd.: S. 39–48; ZAR CM2 1962/686. Aufzeichnung: Betrifft Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs für eine Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 7. September 1961. R/382/61 (RC15). Vertraulich. S. 7. 149 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf eines Berichts über die Tagung der Hohen Beamten [...], 16. Juni 1961. Brüssel, 26. Juni 1961. R/358/61 (RC 13). Vertraulich. S. 29f. 150 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 23–26 und S. 34f.
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Kommissionsvorschlags um Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 und Artikel 86 befürworteten im Prinzip alle Delegationen. Nur die Niederländer konnten sich vorstellen, der Kommission Zeit zu lassen, um Erfahrungen mit der Umsetzung der Verordnung zu sammeln, sprachen sich aber nicht gegen Sanktionen aus.151 Jedoch bestanden unterschiedliche Meinungen zu den Voraussetzungen und Abstufungen der Sanktionen.152 Der Binnenmarktausschuss schlug vor, die Kommission dazu zu ermächtigen, Sanktionen für den Fall zu erlassen, dass eine durch Entscheidung festgestellte Zuwiderhandlung von Unternehmen fortgesetzt würde. Diesen Vorschlag unterstützten alle Delegationen mit Ausnahme der Italiener. Diese plädierten für obligatorische Sanktionen, die die Kommission rückwirkend für das Verhalten der Unternehmen vor Feststellung der Zuwiderhandlungen erteilen sollte. In diesem Punkt erhielten sie von den Franzosen Unterstützung, was konsistent mit der französischen Auffassung von Artikel 85, Absatz 3 als Legalausnahme war.153 Trotz Einigkeit in der Sache wurden die Detailfragen abschließend den Ministern zur Entscheidung vorgelegt, wenngleich die politische Tragweite geringer war. Bei der Frage der Publizität von Anträgen und Entscheidungen gemäß Artikel 85, Absatz 3 war es ähnlich. Alle Delegationen erkannten die Zweckmäßigkeit umfassenderer Veröffentlichungen als im Kommissionsentwurf vorgesehen an, um die Interessen Dritter besser zu schützen. Dabei bestand nach anfänglichen Bedenken Einigkeit, dass die Geschäftsgeheimnisse der Unternehmen gewahrt bleiben müssten, jedoch blieb im Detail noch Klärungsbedarf.154 Die Veröffentlichung verschiedener Zwischenentscheidungen und Teilergebnisse des Kartellverfahrens war umstritten und wurde in Abhängigkeit von der grundsätzlichen Auslegung von Artikel 85 unterschiedlich beurteilt.155 Im Verlauf der Diskussionen war deutlich geworden, dass die Mitgliedstaaten im Ministerrat zunächst Einigkeit über die Art der Anwendung des Artikels 85, Absatz 3 des EWG-Vertrags erzielen mussten, bevor andere Dinge, wie die Frage, ob die Nichtanwendbarkeitserklärung deklaratorischen oder konstitutiven Charakter haben sollte, entschieden werden konnten. Von der Vorstellung der Kommission wichen die Ansichten der Franzosen, Italiener und auch Luxemburger ab, die in Absatz 3 eine gesetzliche Ausnahme vom Verbotsgrundsatz sahen. 151 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf eines Berichts über die Tagung der Hohen Beamten [...], 16. Juni 1961. Brüssel, 26. Juni 1961. R/358/61 (RC 13). Vertraulich. S. 20. 152 So sprachen sich Belgier, Luxemburger und Deutsche für eine vorherige Empfehlung zur Abstellung des vertragswidrigen Verhaltens aus. Vgl. ebd.: S. 19–24. 153 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 36f. und S. 39. 154 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Aufzeichnung: Betrifft Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs für eine Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 7. September 1961. R/382/61 (RC15). Vertraulich. S. 9; ZAR CM2 1962 686. Korrigendum zur Aufzeichnung betreffend die Vorbereitung.... Brüssel, 8. September 1961. R/382/61 (RC 15) Korr. (d). 155 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 41ff.
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Die Entscheidung der Kommission sollte demnach nur deklaratorischen Charakter haben. Aktivitäten, die zwar unter Absatz 1 fielen, für die aber nach Absatz 3 eine Ausnahme galt, wären rückwirkend ab dem Zeitpunkt gültig gewesen, ab dem die Voraussetzungen für die Ausnahme erfüllt waren. Sollte dieser Ansicht des Verbotsprinzips mit Legalausnahme gefolgt werden, wäre es nach den Vertretern dieser Interpretation völlig ausreichend gewesen, ein Verfahren mit freiwilligen Antragstellungen, mit Drittbeschwerden und mit Tätigwerden von Amts wegen einzurichten. Damit wäre die Anzeigepflicht überflüssig geworden und auf eine Übergangsregel für Altkartelle hätte man verzichten können. Nur ein Gremium hätte dann kontrollieren und beaufsichtigen müssen, ob Kartelle die Bedingungen nach Artikel 85, Absatz 3 erfüllten beziehungsweise seit wann sie dies eventuell nicht mehr erfüllten. Diese ex-post Kontrolle hätte sich am Maßstab Marktverhalten und wirtschaftliche Auswirkung des Kartells auf dem jeweiligen Markt orientieren können. Die ex-ante Beurteilung von Kartellen aufgrund von Kartellverträgen hielten die Befürworter der Legalausnahme zudem weder für aussagekräftig noch für relevant. Die Rechtsform einer Unternehmensvereinbarung oder einer Absprache war ihrer Ansicht nach nicht aussagekräftig genug, um über die späteren wirtschaftlichen Auswirkungen zu urteilen. Eine rein deklaratorische Wirkung der Kommissionsentscheidung lehnte die Kommission hingegen als nicht vereinbar mit dem Verbot des Artikels 85 und der daraus folgenden Nichtigkeit des Absatzes 2 ab. Die Formulierung des Absatzes 3 „Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar erklärt werden“156 deutete auch nach deutscher und niederländischer Ansicht unmissverständlich auf das grundsätzliche Verbot des Absatzes 1 mit der Möglichkeit der Erlaubnis unter bestimmten, in Absatz 3 festgelegten Bedingungen hin. Ob diese Bedingungen vorlagen und damit eine Ausnahme erteilt werden konnte, musste ex-ante geprüft und durch konstitutive Entscheidung eines mit entsprechenden Befugnissen ausgestatteten Gremiums geklärt werden. Anträge von Unternehmen, die davon ausgingen, dass sie die Bedingungen des Artikels 85, Absatz 3 erfüllten, sollten jedoch bei Nichterfüllung der Bedingungen auch abgelehnt werden können. Auf dieser Interpretation des Artikels 85 basierte auch der Kommissionsvorschlag, der zudem notwendige Übergangsregelungen für Alt- und Neukartelle enthielt. Letztere sollten ihren Antrag vor der Konstituierung einreichen müssen, was einer Anzeigepflicht für Neukartelle gleich kam. Für Altkartelle sah der Vorschlag verschiedene Übergangsfristen vor, die nach der potentiellen Bedrohung des Wettbewerbs im geöffneten Markt gestaffelt waren. Für tendenziell den Binnenhandel besonders stark hemmende Kartelle galt die Anzeigepflicht mit kürzeren Anpassungsfristen. Die Vertreter des Verbotsprinzips mit Ausnahmevorbehalt befürchteten, dass mit dem französischen System, das die Einleitung eines Kartellverfahrens auf Antrag, Beschwerde oder von Amts wegen vorsah und rechtlich definierte Verbotsmerkmale ablehnte, die Missbrauchskontrolle für Kartelle nach rein wirtschaftspolitischen Kriterien durch die Hintertür eingeführt werden sollte. Auch die italienische Idee, das französische System um die Anzei156 Artikel 85, Absatz 3, erster Halbsatz. EWG-Vertrag.
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gepflicht für Kartelle sowie um unmittelbare Sanktionen bei Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 zu ergänzen, stellte für sie keinen annehmbaren Kompromiss dar. Bei der zweiten Sitzung im Juni waren mögliche Kombinationen verschiedener wettbewerbspolitischer Instrumente erörtert worden. Gleichzeitig hatte die deutsche Delegation ihre Bereitschaft erklärt, ein gemischtes System näher zu untersuchen, bei dem je nach Bedeutung für die Behinderung des Gemeinsamen Marktes zwischen einzelnen Kartellformen unterschieden würde. Die Belgier hatten sich dafür unter der Voraussetzung ausgesprochen, dass man Kartelle nach dem wirtschaftlichen Verhalten und nicht nach rein rechtlichen Kriterien der Existenz beurteilte. Während diese damit der französischen Position näher standen, plädierten die Niederländer mehr aus pragmatischen Gründen als aus Überzeugung für ein gemischtes System, das aber nur übergangsweise eingeführt werden sollte.157 Die Positionen blieben ebenso unvereinbar wie die Frage möglicher Übergangsregelungen für Altkartelle, die im Kreis der Fachbeamten der Regierungen nicht abschließend geklärt werden konnte. Solche waren beim Verbot mit Legalausnahme nicht notwendig, so dass die drei Delegationen, die sich für den deklaratorischen Charakter der Nichtanwendbarkeitserklärung aussprachen, jegliche Übergangsregelung ablehnten. Eine Streichung der Übergangsregeln, wie es der Binnenmarktausschuss vorschlug, lehnte Generaldirektor VerLoren van Themaat hingegen ab, da er ansonsten zahlreiche rechtliche Probleme befürchtete.158 Da einem weiteren Kompromissvorschlag von ihm nur die deutsche Delegation zu folgen bereit war, wurde auch diese Frage an den Rat verwiesen.159 Die Notwendigkeit der Anzeigepflicht war seit der ersten Sitzung im Mai umstritten gewesen. Der Vertrag machte dazu zwar keine Vorgabe, aber die Entscheidung darüber war eng mit der Auslegung von Artikel 85 verbunden. Als ein möglicher Kompromiss wurde die Einschränkung der Anzeigepflicht auf bestimmte Sektoren der Wirtschaft besprochen. Der von italienischer Seite bei der zweiten Sitzung eingebrachte Vorschlag der freiwilligen Anzeige wurde hingegen nur von den Franzosen unterstützt. Die Idee eines vom Antrag auf Ausnahmegenehmigung getrennten Registersystems, ob öffentlich oder nicht, wurde erst bei der letzten Sitzung in die Diskussion eingebracht und vermochte nicht mehr Basis für den Kompromiss zwischen freiwilliger Anzeige und Anzeigepflicht zu wer-
157 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Aufzeichnung: Betrifft Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs für eine Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 15. Juni 1961. R/295/61 (RC10). Vertraulich. S. 2f.; ZAR CM2 1962/886. Aufzeichnung: Betrifft Vorbereitung der Prüfung des Entwurfs für eine Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 7. September 1961. R/382/61 (RC15). Vertraulich. S. 3. 158 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 16ff. 159 Vgl. ebd.: S. 20 und S. 22.
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den. Ausführlichere Diskussionen oder politische Entscheidungen waren auch hier noch nötig.160 Im September 1961 wurde immer deutlicher, dass sich die leitenden Beamten bei zahlreichen Punkten mit ihren Argumenten im Kreis drehten und keine weitere Annäherung möglich war. Trotz der Berücksichtigung der Vorschläge aus WSA und Binnenmarktausschuss blieben auch bei der dritten Zusammenkunft die bekannten Übereinstimmungen und Differenzen bestehen, die auf der politischen Ebene des Rats weiter besprochen werden mussten. Jedoch zeichneten sich im Sommer 1961 zwei den weiteren Verhandlungsprozess entscheidende Entwicklungen ab. Zunächst hellte sich die bis dato undeutliche Position der Italiener etwas auf. Die italienische Regierung hatte sich bisher auf Ministerebene weder eindeutig für noch eindeutig gegen den Kommissionsvorschlag ausgesprochen, sich jedoch wiederholt ausdrücklich hinter deutsche Positionen gestellt. So hatte Cattani im November 1960 scharf die Nichtigkeit von Neukartellen bei ihrer Gründung und von Altkartellen, wenn auch nicht mit Inkrafttreten des Vertrags, jedoch mit Inkrafttreten der Verordnung, betont. Im März 1961 hatte Colombo die von der Kommission vorgeschlagene und von deutscher Seite kritisierte vorläufige Gültigkeit von Vereinbarungen, deren Anträgen die Kommission nicht widerspräche, als nicht zulässige Unterhöhlung des Vertrags und des Grundsatzes der Nichtigkeit bewertet.161 Schon im Oktober 1960, bei der Vorbesprechung mit der Kommission, hatte sich die italienische Regierung gegen alle Formen vorläufiger Wirksamkeit von Kartellvereinbarungen ausgesprochen.162 Bei der Auseinandersetzung über die Frage des Zeitpunkts der Wirkung der Ausnahmegenehmigung wurde bei der zweiten Sitzung im Juni deutlich, dass die Italiener zwar für die strenge Anwendung des Kartellverbotes gemäß Absatz 1 und für die direkte Nichtigkeit gemäß Absatz 2 fochten, aber gleichzeitig die Ausnahme vom Kartellverbot in Absatz 3 des Artikels 85 als Legalausnahme interpretierten. Entscheidungen gemäß Artikel 85, Absatz 3 konnten somit nur deklaratorischen Charakter besitzen. Die Italiener standen dennoch nicht in strikter Opposition zum Kommissionsvorschlag, sondern zeigten sich an Kompromissen interessiert. Im September rückten sie von ihren drei Monate zuvor geäußerten kritischen Bemerkungen über die Anzeigepflicht wieder ab, distanzierten sich im Laufe der Sitzung von der strengen, ablehnenden französischen Position und sprachen sich für die Anzeigepflicht aus, obwohl ihre Auslegung des Absatzes 3 als Legalausnahme keine Anzeigepflicht benötigte.163 Dahinter stand die Ansicht, dass die Kommission nur mit Hilfe der Anzeigepflicht schnell eine Übersicht über Kartelle und marktbeherrschende Stellungen im Gemeinsamen Markt bekommen konnte, um 160 Vgl. ebd.: S. 43–46. 161 Vgl. ZAR CM2 1962/684. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 7. März 1961 in Straßburg. Brüssel, 25. März 1961. R/209/61 (RC 4). Vertraulich. S. 7f. 162 Vgl. HAEKB BAC71 1988/107. Blatt 0069–0074. Vermerk über die Sitzung der Regierungsvertreter am 6. Oktober 1960 in Brüssel über Memorandum der Kommission betreffend Erlass einer Verordnung nach Artikel 87. Brüssel, den 6. Oktober 1960. Blatt0051. 163 Vgl. ZAR CM2 1962/686. Entwurf einer Niederschrift über die Tagung der Hohen Beamten [...], 19./20. September 1961. Brüssel, 3. Oktober 1961. R/408/61 (RC 16). Vertraulich. S. 3.
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internationale und den Gemeinsamen Markt behindernde Kartelle zu beaufsichtigen, woran die Italiener prinzipiell interessiert waren. Jedoch sprachen diese sich zugleich gegen Sanktionen bei Nichtbeachtung der Anzeigepflicht aus, so dass diese Regelung vom Ergebnis her nur der von den Franzosen unterstützten freiwilligen Anzeige gleich kam. Auch wenn dies gegen die anderen Mitgliedstaaten nicht durchzusetzen war, zeigten sich die Italiener damit insgesamt weniger dogmatisch als die Franzosen und versuchten immer wieder Kompromisse auszuhandeln. Die zweite sehr wichtige Entwicklung folgte aus dem Regierungswechsel in Belgien nach den Wahlen im April 1961. Die neue Regierungskoalition von christlich-sozialer und sozialistischer Partei wurde von Théo Lefèvre als Premierminister und Paul-Henri Spaak als Außenminister und stellvertretendem Regierungschef geführt und änderte die bisherige belgische Position zur europäischen Wettbewerbspolitik. Zu Beginn der dritten Sitzung im September gab die belgische Delegation bekannt, dass der Verordnungsentwurf nach dem Regierungswechsel intern erneut eingehend geprüft wurde und kündigte eine mögliche Änderung des bisherigen belgischen Standpunktes an.164 Dies wirkte sich aber nicht mehr auf die Gespräche der Hohen Beamten aus. Diese hatten im September 1961 den sechs Monate zuvor erhaltenen Auftrag des Ministerrats erfüllt und Übereinstimmungen und Differenzen der nationalen Positionen sowie mögliche Annäherungsmöglichkeiten herausgearbeitet. Auch wenn offiziell keine Kompromisse ausgehandelt werden sollten, bevor die vertraglich vorgeschriebene Stellungnahme des Parlaments vorlag, wie von der Groeben vor den um ihre Rolle im Rechtssetzungsprozess besorgten Parlamentariern betonte,165 waren diese Gespräche dienlich gewesen, um die im Vertrag angepeilte Angleichung der Wirtschaftspolitiken voran zu treiben und damit auch eine Einigung über eine europäische Wettbewerbspolitik zu erzielen. Bevor man auf politischer Ebene weiter verhandelte, musste die Debatte im Europäischen Parlament über den Bericht seines Binnenmarktausschusses abgewartet werden. F.3.c Unterstützung und Ergänzung des Kommissionsvorschlags durch nationale Abgeordnete Das Parlament war nicht unvorbereitet gewesen, als es den Kommissionsentwurf vom Rat am 8. Dezember 1960 zur Stellungnahme vorgelegt bekommen hatte. Bereits anlässlich des Dritten Gesamtberichts der Kommission im Herbst 1960 hatte sich der Ausschuss für Fragen des Binnenmarktes der Gemeinschaft, kurz Binnenmarktausschuss, mit der Wettbewerbspolitik beschäftigt und in seinem darauf folgenden Bericht ‚Fragen des freien Warenverkehrs und der Wettbewerbspolitik in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft‘, den das Parlament am 18. Oktober 1960 annahm, kritisiert, dass der Gesamtbericht der Kommission 164 Vgl. ebd. 165 Vgl. Beratung über den Bericht des Binnenmarktausschusses im Europäischen Parlament. 19. Oktober 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 485–608. S. 562.
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„keine definitiven Vorschläge“ für konkrete wettbewerbspolitische Maßnahmen enthalten hatte.166 Sowohl bei den Beratungen im Binnenmarktausschuss im September als auch bei der Parlamentsdebatte über den Bericht im Oktober war von der Groeben anwesend gewesen und hatte im Namen der Kommission deren Probleme und Pläne auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik erläutert.167 Die Parlamentarier hatten die Kommission daraufhin aufgefordert, möglichst umgehend Schritte zur Umsetzung der in den Artikeln 85ff. verankerten Grundsätze einzuleiten. In der Debatte war im Interesse der einheitlichen juristischen Auslegung die Zentralisierung der Untersuchungs- und Auskunftsbefugnisse sowie auch der Entscheidungskompetenz bei der Kommission und eine hohe Publizität für wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen gefordert worden.168 Insgesamt hatte das Parlament die Kommission darin unterstützt, eine erste Durchführungsverordnung voranzubringen, auch wenn diese nicht alle Probleme regeln würde, die sich bei Anwendung von Artikel 85 und 86 ergaben. Die Beweggründe hierfür waren im Parlament aber sehr unterschiedlich. Der deutsche konservative Abgeordnete Deringer mahnte zur baldigen Durchführungsverordnung im Interesse der Unternehmen, damit diese Rechtsicherheit über die Zulässigkeit von unternehmerischen Absprachen erhielten. Der niederländische sozialistische Abgeordnete Nederhorst hingegen sorgte sich über die Beeinträchtigung des Wettbewerbs durch die Zunahme von Kartellen und deren schleppende und ungenügende Kontrolle durch die Kommission169 Als dann der Kommissionsentwurf für eine erste Durchführungsverordnung im Dezember 1960 dem Parlament zur Stellungnahme vorlag, wurde der Binnenmarktausschuss damit federführend beauftragt. Jedoch verfassten auch die Ausschüsse für Verkehr, Energie, Landwirtschaft und für Wirtschaft und Finanzen Berichte, die im Abschlussbericht des Binnenmarktausschusses berücksichtigt wurden. Schon zu Beginn der Beratungen im Binnenmarktausschuss im Februar 1961 wurde klar, dass Artikel 85 auch in diesem Gremium nicht einheitlich ausgelegt wurde; weder hinsichtlich Absatz 1 noch hinsichtlich Absatz 3. Der vom Ausschuss zum Berichterstatter gewählte CDU-Abgeordnete und Rechtsanwalt Deringer versuchte zunächst, mit Hilfe eines Fragebogens Übersicht über die strittigen Punkte zu bekommen. Demnach teilte eine Mehrheit die Rechtsauffassung der Kommission in Bezug auf die grundsätzliche Auslegung des Artikels 166 ZAR CM2 1960/642. Europäisches Parlament. Sitzungsdokumente 1960–1961. Bericht im Namen des Ausschusses für Fragen des Binnenmarktes der Gemeinschaft [...]. 13. Oktober 1960. Dokument 69. S. 8. 167 Vgl. ebd.; ZAR CM2 1960/642. Generalsekretariat der Räte der Europäischen Gemeinschaften. Informatorische Aufzeichnung über die Arbeiten des Europäischen Parlaments. Nr. 8. Brüssel, 27. Oktober 1960. 645/60 (Brüss.) / 665/60 (Lux.). 168 Vgl. ZAR CM2 1960/642. Europäisches Parlament. Sitzungsdokumente 1960–1961. Bericht im Namen des Ausschuss für Fragen des Binnenmarktes der Gemeinschaft [...]. 13. Oktober 1960. Dokument 69. S. 8. 169 Vgl. ZAR CM2 1960/642. Generalsekretariat der Räte der Europäischen Gemeinschaften. Informatorische Aufzeichnung über die Arbeiten des Europäischen Parlaments. Nr. 8. Brüssel, 27. Oktober 1960. 645/60 (Brüss.) / 665/60 (Lux.). S. 5.
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85.170 Jedoch gab es verschiedene Positionen zur Meldepflicht, zur Übergangsregelung für Altkartelle, zur Publizitätsfrage und zur Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten.171 Die intensiven Beratungen begannen erst nach der Stellungnahme des WSA im April 1961, wie es inzwischen Gepflogenheit im Rechtsetzungsprozess der EWG geworden war. Das Parlament im Allgemeinen und der Binnenmarktausschuss im Speziellen arbeiteten bei der Prüfung des Kommissionsvorschlags und für den Entwurf der Stellungnahme eng mit nationalen und europäischen Beamten zusammen. Wettbewerbskommissar von der Groeben war wiederholt anwesend und nahm Stellung zum Kommissionsentwurf. Gleichzeitig berichtete er in den Gremien von Kommission und Rat über die Debatten im Parlament. Berichterstatter Deringer stand mit Mitarbeitern des Bundeswirtschaftsministeriums in Kontakt und stimmte sich bei Änderungsabsichten des Kommissionsvorschlags eng mit dem Mitarbeiter des Gemeinsamen Juristischen Dienstes der Gemeinschaften, Thiesing, und mit dem Direktor der Abteilung A der GDIV, Mussard, ab, die den Kommissionsvorschlag federführend erarbeitet hatten.172 Nach insgesamt acht Sitzungen des Binnenmarktausschusses zwischen Februar und Juli fand der dritte Entwurf Deringers für einen Bericht am 11. Juli dessen Zustimmung.173 Der nach dem Berichterstatter genannte ‚Deringer-Bericht‘ des Binnenmarktausschusses war am 19. Oktober 1961 Gegenstand einer besonders ausgiebig und kontrovers geführten Debatte im Parlament. Bei der Aussprache wurden sowohl national unterschiedliche wettbewerbspolitische Zielsetzungen als auch differierende Erwartungen von Wirtschaft und Verbrauchern an die Wettbewerbspolitik deutlich. Wie schon im Binnenmarktausschuss wurden im Plenum zahlreiche Argumente für und gegen wettbewerbspolitische Regelungen und einzelne Instrumente der Wettbewerbspolitik ausgetauscht. Erst nach zahllosen Anträgen zur Änderung des Berichts beschlossen die Abgeordneten um kurz nach ein Uhr in der Nacht ihre Stellungnahme zu dem Kommissionsvorschlag für eine erste Durchführungsverordnung gemäß Artikel 87.174 Das Parlament stellte sich mit seiner Stellungnahme insgesamt hinter die Kommission und stützte deren Auslegung des Artikels 85 als Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt sowie das Ziel, die einheitliche europäische Wettbewerbspolitik durch die Zentralisierung der gesetzlichen Grundlage und der Entscheidungs-
170 Vgl. Bericht von der Groeben bei der Ministertagung: ZAR CM2 1962/684. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am 7. März 1961 in Straßburg. Brüssel, 25. März 1961. R/209/61 (RC 4). Vertraulich. S. 5. 171 Dies konnte von der Groeben im März dem Rat berichten. Vgl. ebd. 172 Vgl. Vermerk von Epphardt über gemeinsames Gespräche von ihm und Günther mit von der Groeben und ein Gespräch mit Deringer. Bonn, 2. Juni 1961. E A 4 – 11807/61. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 475–477. 173 Vgl. Auszug des Sitzungsprotokolls des Europäischen Parlamentes. Beratung über den Bericht des Binnenmarktausschusses im Europäischen Parlament am 19. September 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 485–608. S. 542. 174 Vgl. ebd.: S. 608. Für den Debatteverlauf vgl. ebd.: S. 485–608.
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kompetenz auf europäischer Ebene zu erreichen.175 Darüber hinaus mahnte das Parlament, wie auch schon die Mitgliedstaaten und der WSA, das gleichmäßige Vorgehen gegen Kartelle und den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen an. Zudem forderten die Abgeordneten, dass öffentliche Unternehmen gemäß Artikel 90 berücksichtigt würden und sprachen sich für verstärkte Einspruchsrechte für die von Kommissionsentscheidungen betroffenen Wirtschaftssubjekte aus. Weiter trat das Parlament für erweiterte Publizität von Verfahren und Entscheidungen und für die Einführung von Sanktionen bei Verstößen gegen Artikel 85 oder 86 ein. In diesem Sinne wurden einzelne Artikel des Kommissionsvorschlags ergänzt und optionale Bestimmungen als Gebote für die Kommission formuliert.176 Die Parlamentarier definierten die Auskunftspflichten und -rechte von Unternehmern oder deren Vertretern im Untersuchungsverfahren eindeutig und schlugen vor, die Rolle von betroffenen Dritten im Verfahren durch ein Anhörungsrecht zu stärken.177 Die von der Kommission favorisierte Anzeigepflicht, stark umstritten und im Deringer-Bericht gestrichen, wurde durch Änderungsanträge von der Mehrheit der Abgeordneten des Parlaments wieder eingefügt und unterstützt. Im Gegensatz zum Kommissionsvorschlag sollte die Ausnahmegenehmigung gemäß Artikel 85, Absatz 3 von der Kommission rückwirkend erteilt werden können. Die Rückwirkung sollte aber maximal seit dem Zeitpunkt der Antragstellung gelten und war somit nur ein geringes Zugeständnis an die Befürworter des Verbots mit Legalausnahme. Das Parlament bestätigte das Widerspruchverfahren der Kommission, das die vorläufige Wirksamkeit von Absprachen zur Folge haben konnte und ergänzte den Kommissionsvorschlag um das Instrument des Negativattests. Der veränderte Verordnungsentwurf der Versammlung sah auf Vorschlag des Binnenmarktausschusses für die Kommission die alleinige Entscheidungskompetenz über die Feststellung und die Untersagung von Verstößen gegen Artikel 85 und 86 und die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen vor. Auch wenn diese Entscheidungskompetenz weiterhin unter dem Vorbehalt der gerichtlichen Nachprüfung durch den EuGH stehen sollte, gingen die Parlamentarier damit weit über das Ansinnen der Kommission hinaus und
175 Vgl. auch für die folgende Darstellung „Entschließungsantrag in Beantwortung der vom Ministerrat der EWG zu dem Vorschlag einer ersten Durchführungsverordnung zu den Artikel 85 und 86...“ Bestandteil von: Beratung über den Bericht des Binnenmarktausschuss im Europäischen Parlament am 19. September 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 485–608. S. 597–608. 176 Vgl. Art. 12, Art. 15 und Art. 17 des Kommissionsentwurfs und des Entschließungsantrages: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, Dok.: IV/KOM(60)158 endg., 28. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 337–359. S. 357f.; „Entschließungsantrag in Beantwortung der vom Ministerrat der EWG zu dem Vorschlag einer ersten Durchführungsverordnung zu den Artikel 85 und 86...“ Bestandteil von: Beratung über den Bericht des Binnenmarktausschuss im Europäischen Parlament am 19. September 1961. Abgedr. ebd.: S. 597–608. S. 605ff. 177 Vgl. Art. 9, Abs. 4 und Art. 15, Abs. 3, letzter Satz des Entschließungsantrages. Vgl. ebd.: S. 600 und S. 603.
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wollten die Mitgliedstaaten von potentiell politischer Einflussnahme auf die wettbewerbspolitischen Entscheidungen ausschließen.178 In der Parlamentsdebatte am 19. Oktober 1961 waren neben den gegensätzlichen unternehmerfreundlichen und verbraucherfreundlichen Positionen, die denen des WSA ähnlich waren, auch nationale Grenzen bei der Frage der Auslegung des Artikels 85 als Verbot mit Legalausnahme oder mit Erlaubnisvorbehalt deutlich geworden, die denen im Rat ähnelten.179 Insgesamt bestätigte das Parlament die Grundzüge des Kommissionsvorschlags gegen die Vorstellungen des Binnenmarktausschusses, behielt aber einige von diesem erarbeitete konkrete Vorschläge für Regelungslücken bei. Mit dem Ergebnis konnte die Kommission zufrieden sein, da die meisten Artikel ihres Entwurfs gebilligt wurden. Zudem stützten die Abgeordneten der nationalen Parlamente die Absicht, verstärkt wettbewerbspolitische Entscheidungsbefugnisse auf europäischer Ebene bei der Kommission zu bündeln. Der Wert der Stellungnahme des Europäischen Parlaments, die dem Rat Ende Oktober 1961 offiziell zugestellt wurde, für den weiteren Gesetzgebungsprozess war zwiespältig. Der Rat war zwar bei seiner Entscheidung über die Verordnung nicht an die Stellungnahme des Parlaments gebunden, jedoch war das Votum der Abgeordneten für das Genehmigungssystem, wie die gesamte Stellungnahme des Europäischen Parlaments, ein weiteres Gewicht in der Waagschale der Befürworter des Kommissionsvorschlags. Angesichts der Uneinigkeit der Staaten im Rat wog es relativ schwer. Zudem hatte das Ringen im Binnenmarktausschuss und im Plenum um einzelne Artikel der Verordnung gezeigt, dass die Wahl der wettbewerbspolitischen Instrumente auch eine stark normativ geprägte politische Entscheidung war, die nicht nur durch Vertragsauslegung zu lösen war. Die von verschiedenen Abgeordneten geäußerte Sorge, dass die Mitgliedstaaten mit der Kommission schon Kompromisse aushandelten während sie noch berieten, zeigte deutlich, dass die Abgeordneten sich ihrer realen Entscheidungsmachtlosigkeit bewusst waren.180 Auch wenn im Kreis der Sachverständigen „nicht der Versuch gemacht worden (war), Kompromisse auszuarbeiten“, wie von der Groeben den Abgeordneten am 19. Oktober versicherte,181 waren einzelne Regelungsvorschläge des Parlaments doch schon vor ihrer Verabschiedung verworfen worden. So war der Antrag, der Kommission die alleinige, umfassende Zuständigkeit zu geben, bereits einen Monat zuvor von der Kommission und den Sachverständigen
178 Vgl. Art. 7 des Entschließungsantrages. Vgl. ebd.: S. 602. 179 So stellte sich die sozialistische Fraktion geschlossen hinter das Verbotsprinzip und gegen Aufweichungen in Richtung Missbrauchsprinzip. Vgl. Auszug des Sitzungsprotokolls des Europäischen Parlamentes. Beratung über den Bericht des Binnenmarktausschuss im Europäischen Parlament am 19. September 1961. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 485–608. S. 508ff. 180 Vgl. ebd.: S. 516f. (Abg. Nederhorst); S. 530 (Abg. Blaisse), S. 543f. (Abg. De Smet), S. 546 (Abg. Metzger). 181 Ebd.: S. 562.
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abgelehnt worden und hatte keine Chance auf Realisierung.182 Zudem waren Kompromissen in der Runde der Sachverständigen der Regierungen schon dadurch der Weg bereitet worden, dass alle ihre Präferenzen offen gelegt hatten. Das Parlament hatte aber dennoch sehr wertvolle Arbeit geleistet, obwohl es genau die Aufgabe erfüllt hatte, die Giscard d’Estaing ihm implizit im November 1960 hatte zuweisen wollen.183 Die Stellungnahme bot dem Rat, aber auch der Kommission zusätzliche Erläuterungen zu möglichen Auslegungen des Vertrags und weitere Hinweise zu den unterschiedlichen Präferenzen in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten. Diese Informationen dürfen nicht unterschätzt werden, wenngleich die konkreten Änderungsvorschläge in den Verhandlungen höheren Stellenwert hatten. Sowohl für notwendige Kompromisse der Staaten als auch für weitere wettbewerbspolitische Instrumente, die die GDIV bisher nicht berücksichtigt hatte, lagen nun fundiert ausgearbeitete Regelungsvorschläge vor. F.4 ENTSCHEIDUNG IM RAT? – LÖSUNG DES KNOTENS DURCH VERKNÜPFUNG F.4.a Die Verknüpfung von Wettbewerbs- und Agrarmarktordnung durch die deutsche Regierung Kurz nach der Debatte des Europäischen Parlaments beschloss der Ministerrat, zu einem erneuten Gedankenaustausch der zuständigen Minister und der Kommission am 6. November 1961 zusammen zu kommen. Bei diesem zeigte sich bald, dass innerhalb des letzten halben Jahres Einzelfragen zwar klarer geworden waren und mit den Stellungnahmen des WSA und des Parlaments Änderungsvorschläge zum Kommissionsentwurf vorlagen, eine Einigung zwischen den sechs Mitgliedstaaten jedoch nicht möglich schien. Die primär politische Frage, wie Artikel 85 umgesetzt werden sollte, musste von den Staaten entschieden werden. Sie an den Gerichtshof abzugeben und durch juristische Klärung eine Lösung des Interessenskonflikts durch Auslegung des Artikels 85 herbeizuführen, hätte die Schwächung des Rates im institutionellen Gefüge der EWG zur Folge haben können, so dass dieser Diskussionsvorschlag, von Müller-Armack als Präsident des Rates vorgebracht, nicht aufgegriffen wurde. Von der Groeben appellierte an die Minister, dass die Staaten mit Artikel 87 ausschließlich dem Rat ein „wirkliches Gestaltungsrecht“ zugewiesen hatten, was dieser nicht zugunsten des Gerichtshofs aufgeben dürfte. Dies aufgreifend stellte der französische Staatssekretär für In182 Italiener und Belgier zogen Anfang Dezember den zunächst übernommenen Vorschlag des EP, mit der Verordnung die Verantwortung zur Umsetzung von Artikel 85 und 86 der Kommission vollständig zu übertragen, zurück, da die Kommission wegen „äußerst schwerwiegende(r) juristische(r) Bedenken“ diesen Vorschlag nicht übernehmen wollte. Vgl. ZAR CM2 1961/71. Protokoll über die Sitzung im engeren Rahmen anlässlich der 57. Tagung des Rates. Dok.: R/563/61 (MC/PV/R 13) rev.; 6. Dezember 1961; Vertraulich. S. 38. 183 Vgl. ZAR CM2 1960/58. Protokoll über die Tagung im engeren Rahmen des Rates der EWG am 14. und 15. November 1960. Brüssel, 30. November 1960. Dok.: R/1162/60 rev. S. 46.
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landshandel Missoffe die auf der rein juristischen Auslegung beharrende deutsche Position in Frage. Er unterstrich damit implizit die französische Meinung, dass die Vorstellungen der Niederländer und der Deutschen über die Durchführungsverordnung nicht die einzig möglichen wären.184 Nachdem das Parlament seine institutionell vorgesehene Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag abgegeben hatte und deutlich geworden war, dass weder dieser noch der vom Parlament veränderte Vorschlag eine Mehrheit im Rat bekommen würde, musste die Kommission von ihrem ursprünglichen Entwurf abrücken. In der GDIV hatte man die Diskussionen und Beratungen des WSA, des Parlaments und der Mitgliedstaaten im Rat und im Kreis der Beamten von Anfang an aufmerksam beobachtet. Parallel dazu waren neue Vorschläge wie das Negativattest geprüft und die vorhandenen Konsultativorgane der nationalen Wettbewerbspolitik im Hinblick auf die Ausgestaltung eines möglichen europäischen Kartellausschusses analysiert worden. Auf Basis einer im Oktober 1961 in der GDIV erstellten Prüfung der Positionen des WSA, des Europäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten stellte von der Groeben beim informellen Gedankenaustausch mit den zuständigen Ministern einleitend die Positionen des Parlaments denen des Kommissionsentwurfs gegenüber und deutete mögliche Kompromissmöglichkeiten an. Die Kommission war prinzipiell dazu bereit, den Artikel 86 stärker zu berücksichtigen, die Eröffnung des Untersuchungs- und Kontrollverfahrens auf Antrag zuzulassen und das Negativattest in den Entwurf zu integrieren. Jedoch konnte das Negativattest rechtlich kein ‚Freifahrschein‘ für die Zukunft werden, der Gerichte binden könnte. Vielmehr wäre es nur eine erste Einschätzung der Kommission in der jeweiligen Situation. Die Gestaltungswünsche des Parlaments, die auf eine nichtrevidierbare Entscheidung der Kommission zielten, lehnte die Kommission ab. Skeptisch abwägend stand sie auch den Forderungen des Parlaments nach umfangreicherer Publizität gegenüber. Da die Kommission sich in der starken Position befand, dass nur Frankreich sich gegen die alleinige Entscheidungskompetenz der Kommission gestellt hatte, konnte von der Groeben sich bei der vom Parlament und den anderen Mitgliedstaaten geforderten engeren Zusammenarbeit von Kommission und nationalen Behörden kooperativ und zustimmend zeigen. Ebenso hatte die Kommission aus Gründen der einfachen und schnellen Zusammenarbeit mit den Staaten keine Bedenken gegenüber einem festen, beratenden Gremium aus Sachverständigen der Regierungen an ihrer Seite. Hinsichtlich des unter den leitenden Beamten bis zuletzt umstrittenen Punkts der Behandlung von Altkartellen wies von der Groeben auf die „sehr begrüßenswerte Kompromissformel“ des Parlaments hin, nach der die Nichtanwendbarkeit des Artikel 85, Absatz 1 rückwirkend bis zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Ausnahmegenehmigung gelten sollte.185 Er legte dem Rat offen dar, welche Stellen ihres Entwurfs die Kommission zu ändern bereit war und von welchen Positionen sie 184 Vgl. ZAR CM2 1962/687 Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am Montag, den 6. November 1961. Brüssel, 13. November 1961. R/479/61 (RC22). S. 24. 185 Ebd.: S. 7.
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nicht abrücken würde. Gleichzeitig forderte er die Mitgliedstaaten auf, die von den Hohen Beamten vorbereiteten technischen Einzelfragen bald zu entscheiden, damit die Kommission diese Einigungen untersuchen und ihren Entwurf gegebenenfalls anpassen könnte. Mit dem Hinweis, dass der Rat nur auf Grundlage einer Kommissionsvorlage zum Erlass einer Verordnung befugt war, versuchte er die Rolle der Kommission im Gesetzgebungsprozess zu festigen.186 Mit Frankreich, Luxemburg und auch Italien sprachen sich drei Länder gegen den Kommissionsentwurf und seine grundsätzliche Systematik aus, jedoch aus unterschiedlichen Beweggründen. Franzosen und Luxemburger vertraten die These, dass mit Artikel 85 sowohl das System des Ausnahmevorbehalts als auch das der Legalausnahme juristisch vereinbar wäre. Sie setzten sich für ein schwaches, ex-post zu kontrollierendes Verbotsprinzip mit Legalausnahme ein. Der Kabinettschef des luxemburgischen Wirtschaftsministers, Simon, wies darauf hin, dass Nichtigkeit nach Zivil- und Verwaltungsrecht französischer Prägung erst durch Entscheidung von Gerichten oder Verwaltungsbehörden über das Vorliegen der Nichtigkeitsgrundlage gelten konnte.187 Missoffe legte die wesentlichen französischen Einwände erneut dar, wobei er sich auf seinen Vorgänger Fontanet berief. Bei diesen handelte es sich vor allem um die mangelhafte Berücksichtigung des Artikels 86 im Kommissionsvorschlag und die zu schwache Beteiligung der Staaten an abschließenden Entscheidungen der Kommission. Ein hohes Maß an Entscheidungsautonomie der Kommission lehnten Pariser Bürokratie und Regierung, voran de Gaulle, auch aufgrund ihrer grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber supranationalen Entwicklungen ab. Aus der französischen Wirtschaft kamen die Forderungen nach gleichmäßiger Kontrolle von Kartellen und marktbeherrschenden Stellungen. Sie versprach sich davon strengere Kontrollen der starken deutschen Wirtschaft und damit eine Verbesserung der eigenen Wettbewerbsituation.188 Missoffe hielt diejenigen Änderungen des Parlaments, die die Kommission übernehmen wollte, für ungenügend, da „die schwerwiegenden Einwände in Bezug auf die Wirksamkeit des System(s)“ nicht zerstreut würden. Um der französischen wettbewerbspolitischen Überzeugung zu entsprechen, müsste sich das wettbewerbspolitische System vielmehr an wirtschaftlichen Folgen von Kartellen und marktbeherrschenden Stellungen orientieren.189 Die Italiener waren einem solchen Entscheidungsmaßstab auch zugeneigt. Ihr Widerstand gegen den Kommissionsentwurf richtete sich jedoch nur dagegen, dass die Entscheidung der Kommission konstitutiven Charakter haben sollte. Sie befürchteten, dass dadurch Kartelle vor der Ausnahmegenehmigung vorläufig zulässig werden könnten und gleichzeitig nach der Ausnahmegenehmigung für sie nach italienischem Verständnis nur eine Zulässigkeitsvermutung gälte. Beides widersprach der italienischen Auffassung vom Grundsatz der Nichtigkeit, der aus186 Vgl. ebd.: S. 4–11. 187 Vgl. ebd.: S. 14. 188 Vgl. Spengler, Albrecht: Das marktbeherrschende Unternehmen im EWG-Vertrag. In: WuW 11 (1961). S. 509–529. S. 510f. Warlouzet: At the core of European Power. S. 66. 189 Vgl. ZAR CM2 1962/687 Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am Montag, den 6. November 1961. Brüssel, 13. November 1961. R/479/61 (RC22). S. 21.
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reichend nur zur Geltung kommen konnte, wenn die Kommission befugt wäre, Feststellungen über bestimmte Situationen in Vergangenheit und Gegenwart zu treffen und damit auch rückwirkend Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Andere italienische Kritikpunkte, wie die Anzeigepflicht, unzureichende Sanktionen und die zu geringe Beteiligung der Mitgliedstaaten an der Vorbereitung der Entscheidungen der Kommission, waren nicht zentral und standen singulär im Raum, so dass sie Anknüpfungspunkte für Kompromisse und Paketlösungen boten.190 Zu den Befürwortern des Kommissionsentwurfs gehörte auch der neue belgische Wirtschaftsminister Spinoy. Er machte kleinere Anmerkungen zu Einzelfragen, stellte sich aber insgesamt hinter die Kommission. Jedoch reichte die Unterstützung des Kommissionsvorschlags in seinen Grundzügen durch die Niederlande, die Bundesrepublik und durch Belgien weder für die qualifizierte Mehrheit noch für die angestrebte Einstimmigkeit. Die unterschiedliche Auslegung des Artikels 85, die die Grundkonzeption der Verordnung und damit auch der zukünftigen Wettbewerbspolitik prägen sollte, war und blieb Dreh- und Angelpunkt der Kontroversen. Eine Einigung war in dieser Ratssitzung im November 1961 offenbar aussichtslos. Von der Groeben übernahm in dieser festgefahrenen Situation beinahe die Rolle des Präsidenten des Rates. Er machte vermittelnde Vorschläge, um die erstarrten Positionen zu lockern und wies wiederholt auf Kompromisslösungen hin, jedoch ohne Erfolg.191 Das wichtigste Resultat dieser Ratssitzung war aber, dass die westdeutsche Regierung klarstellte, dem Übergang von der ersten zur zweiten Stufe des Gemeinsamen Marktes gemäß Artikel 8 des EWG-Vertrages, der Ende 1961 zur Entscheidung im Rat anstand, nur unter der Bedingung zuzustimmen, dass der Rat bis dahin eine Verordnung nach Artikel 87 mit ausreichenden wettbewerbspolitischen Instrumenten erlassen habe. Die Einführung der Wettbewerbsordnung sollte auf die höchste politische Ebene gestellt werden und „Gegenstand von Beratungen im Rahmen des Übergangs zur zweiten Stufe“ werden.192 Meyer-Cording verknüpfte die Verabschiedung von Wettbewerbsvorschriften mit der Einführung der gemeinsamen Agrarmarktordnung, da nach westdeutscher Ansicht die Verordnung gemäß Artikel 87 direkte Voraussetzung für Artikel 42, einem zentralen Bestandteil der Agrarpolitik, war.193 Dieses Junktim zwischen Wettbewerbsordnung und Agrarmarkt zielte auf die Haltung der Franzosen, die als Agrarexportland neben den Niederländern sehr hohe Präferenzen für die Umsetzung des gemeinsamen Agrarmarktes hatten. Gleichwohl war es nur die Reaktion auf die französische Verknüpfung der Agrarfrage mit der Zustimmung zur zweiten Stufe des Gemeinsamen Marktes fünf Monate zuvor.194 Sollte es zum Ausgleich 190 191 192 193
Vgl. ebd.: S. 16ff. Vgl. ebd.: S. 23–27. Vgl. ebd.: S. 21. Vgl. ebd.: S. 25. Artikel 42 des EWG-V regelte die Anwendung der Wettbewerbsregeln und Beihilfen bei der Produktion und dem Handel von landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Insbesondere die Möglichkeit Letztere zu gewähren, war für die Agrarmarktordung relevant. 194 Vgl. Siegler, Heinrich von (Hrsg.): Dokumentation der Europäischen Integration mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses EWG-EFTA. Von der Züricher Rede Winston
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zwischen den gegensätzlichen Interessen an der gemeinsamen Agrarmarktordnung, die in der von der Kommission vorgeschlagenen Fassung weder im Bundeswirtschaftsministerium noch im Landwirtschaftsministerium begrüßt wurde, und der Wettbewerbsverordnung, die in der Kommissionsfassung für Paris nicht annehmbar war, kommen, so standen die Niederländer als Hauptprofiteure dieses Junktims fest. Sie hatten überdurchschnittlich hohes Interesse an der klaren und eindeutigen europäischen Wettbewerbspolitik und als Agrarexportland hatten sie hohe Erwartungen an den Gemeinsamen Agrarmarkt.195 Ähnliches galt für Belgien. Als dritter Gewinner eines Ausgleichs der widerstreitenden Interessen von Deutschen und Franzosen auf Basis des jeweiligen Kommissionsvorschlags stand die Kommission fest. Anfang November blieb das Junktim von den anderen Delegationen unkommentiert. Bei der kurzen Diskussion über das weitere Vorgehen angesichts der Differenzen empfahl von der Groeben, die Problemfälle nicht an die Sachverständigen zurückzuverweisen, wie es Missoffe und Colombo vorgeschlagen hatten. Weil es auch auf der untersten politischen Ebene der Hohen Beamten zu gravierenden Meinungsunterschieden gekommen war, mussten die wegweisenden Kompromisse nach Ansicht von der Groebens auf Ministerebene ausgehandelt werden. Da es sich um politische Fragen handelte, sprachen sich auch Spinoy und der niederländische Staatssekretär Gijsels für weitere Gespräche auf Ministerebene aus.196 Der Rat entschied sich für beides. Möglichst bald sollten die Sachverständigen zusammen kommen und die Frage der Anzeigepflicht und der Rückwirkung besprechen, um mit möglichen Ergebnissen den weiteren Meinungsaustausch auf Ministerebene zu fördern. Angesichts des Junktims aus Wettbewerbspolitik, Agrarpolitik und dem Übergang zur zweiten Stufe des Binnenmarktes drängte nun die Zeit, denn die einstimmige Entscheidung über den Übergang zur zweiten Stufe musste „am Ende des vierten Jahres“ getroffen werden, andernfalls würde „die erste Stufe ohne weiteres um ein Jahr verlängert.“197 Wollte man dies verhindern, mussten Kompromisse gefunden werden. Eine Woche später bei der 55. Ratssitzung im engeren Rahmen der zuständigen Minister am 13. und 14. November 1961 bestanden aber trotz der vorherigen Beratungen der hohen Beamten weiter „bedeutende Meinungsverschiedenheiten.“198 Müller-Armack konnte als Präsident des Rats nur feststellen, dass die Arbeiten der Sachverständigen noch andauerten, ein Kompromiss aber greifbar nah war. Der Rat stellte zum wiederholten Male die Nichtbeschlussfähigkeit des Kommissionsvorschlags fest und beauftragte gleichzeitig die Sachverständigen, bis Anfang Dezember einen verhandlungsfähigen
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Churchills 1946 bis zu Bewerbung Großbritanniens um Mitgliedschaft bei der EWG 1961. Bonn, Wien, Zürich 1961. S. 432. Zu den Anfängen der Landwirtschaftspolitik der EWG vgl. Groeben: Aufbaujahre. S.146ff. Vgl. ZAR CM2 1962/687 Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am Montag, den 6. November 1961. Brüssel, 13. November 1961. R/479/61 (RC22). S. 27f. Artikel 8, Absatz 3 EWGV ZAR CM2 1961/64: Protokoll der 55. Sitzung des Rates der EWG am 13./14. Nov. 1961. Brüssel 22. Januar 1962, Dok.: R/459/61 (MC/PV/R 12) rev. S. 73.
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Kompromissvorschlag vorzulegen. Dieser sollte die Änderungswünsche des Parlaments und die eine Woche zuvor von von der Groeben vorgetragenen Kompromisspunkte der Kommission berücksichtigen, in enger Abstimmung mit der Kommission entwickelt und bei der nächsten Ratstagung am 2. Dezember diskutiert werden. Zuvor hatte Meyer-Cording als einziger das Wort ergriffen, betont, dass die westdeutsche Regierung „sehr großen Wert“ darauf legte, dass eine Lösung gefunden wurde, „bevor der Beschluss über den Übergang zur zweiten Stufe der Übergangszeit gefasst werde,“ und damit das Junktim erneut unterstrichen.199 F.4.b Kompromissangebote der italienischen Regierung isolieren die Franzosen Die italienische Regierung reichte noch vor den nächsten Sachverständigenverhandlungen Mitte November beim Rat schriftlich neu ausformulierte Vorschläge ein. Sie versuchte mit diesen ihre schon von Cattani und Colombo im November 1960 und März 1961 vorgetragenen Interessen in den Bereichen Anzeigepflicht sowie Kommissionsentscheidung und Zusammenarbeit der Kommission mit den Mitgliedstaaten durchzusetzen.200 Sie machte damit für die von ihnen vertretene Anzeigepflicht neue Vorschläge, die sie einige Tage später weiter modifizierte.201 Insgesamt rückte die italienische Regierung mit beiden Vorschlägen langsam von ihrer noch bei den Sachverständigengesprächen im Sommer vertretenen Linie ab und näherte sich – mit kleinen beiderseitigen Zugeständnissen – den Befürwortern der konstitutiven Kommissionsentscheidung. Die italienische Regierung machte einen Vorschlag zum erstmals von den Niederländern angeregten beratenden Ausschuss, der sich als mehrheitsfähig erwies. Im Gegenzug wünschte sie, dass die Untersuchungsbefugnisse der Kommissionsbeamten in den Staaten stark eingeschränkt würden. Nachprüfungen sollten nur Beamte der Mitgliedstaaten durchführen dürfen, die dabei nur auf Antrag durch Bedienstete der Kommission Unterstützung erhalten sollten. Diese Vorschläge waren zwar noch nicht völlig ausgereift, aber die Italiener dokumentierten mit ihnen ihre Kompromissbereitschaft gegenüber den Befürwortern des Kommissionsvorschlags und grenzten sich nun, da Kompromisse unausweichlich wurden, von der kompromisslosen Haltung der Franzosen ab. Die Sachverständigen versuchten zunächst, einen Kompromiss für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 3 zu finden. Unter welchen Umständen sollten welche Kartelle sich melden oder den Antrag auf Nichtanwendbarkeit von Artikel 85, Absatz 1 stellen? Sollte die Pflichtanzeige mit der Anmeldung gekoppelt werden oder sollte keine Anzeigepflicht eingeführt werden? Dahinter stand die zentrale Frage, zu welchem Zeitpunkt die Entscheidung über eine Ausnahme 199 Ebd.: S. 75. 200 Vgl. hierzu: ZAR CM2 1962/687. Schreiben des stellv. Ständigen Vertreters Italiens Mosca an den Generalsekretär des Ministerrates Clames. 13. Nov. 1961. Übersetzung des Rates vom 14. Nov. 1961. R/486/61 (RC23). 201 Vgl. ZAR CM2 1962/688. Arbeitsunterlage. Brüssel, 21. November 1961. T/523/61 (RC).
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gültig würde. Die von ihnen gefundene Lösung, die auch den Vorschlag des Parlaments aufgriff, bestand darin, die Anmeldepflicht mit der weitestmöglichen Rückwirkung der Kommissionsentscheidungen zu verknüpfen, um dieser konstitutiv bleibenden Entscheidung einen stärker deklaratorischen Charakter zu verleihen. Der Kompromiss, dem nur die Franzosen ihre Zustimmung verweigerten, sah die Anmeldepflicht für bestimmte Kartelle vor. Mögliche Erklärungen der Kommission über die Nichtanwendbarkeit des Verbots sollten ab dem Tag der Anzeige gelten, sofern an diesem Tag die Kriterien des Absatzes 3 erfüllt waren. Andere Kartelle, die als weniger relevant für mögliche Störungen des Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt angesehen wurden, sollten die Möglichkeit der freiwilligen Selbstanmeldung erhalten. Für diese freiwillig gemeldeten Kartelle sollte die Kommission die Nichtanwendbarkeit von Artikel 85, Absatz 1 bis zu dem Zeitpunkt rückwirkend erklären können, von dem an die Kriterien von Absatz 3 erfüllt waren. Auch wenn diesem Kompromissvorschlag andere Grundsätze zu Grunde lagen als dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission, war die Kommission im Interesse einer Einigung zur Änderung ihres eigenen Vorschlags bereit, wenn dies dazu beitrug, im Rat Einigkeit zu erzielen. Die Luxemburger Regierung konnte dieser Regelung zustimmen, da sie ihre Forderung nach stärkerer Unterscheidung zwischen guten und schlechten Kartellen durch die stärkere Differenzierung der Anmeldepflicht nach verschiedenen Kartellarten berücksichtigt sah. Für die nach allgemeinem Verständnis unschädlichen Kartelle hätte die Entscheidung der Kommission in der Regel deklaratorischen Charakter gehabt, ähnlich wie es die Luxemburger Regierung gefordert hatte.202 Zwar sahen die Italiener ihre Forderungen nach einem Meldesystem ohne Folgewirkungen bei Nichtanmeldung für alle Kartelle nicht erfüllt, jedoch war immerhin der konstitutive Charakter der Kommissionsentscheidung abgeschwächt worden. Auch die von den Italienern früh und wiederholt kritisierte Zulässigkeitsvermutung, die in Artikel 4 des Kommissionsentwurfes vorgesehen war, um „einerseits den berechtigten Interessen der Wirtschaft und andererseits dem Erfordernis einer möglichst einfachen Verwaltungskontrolle Rechnung zu tragen,“203 wurde gestrichen.204 Mit ihrem Anliegen, die Kommission zu obligatorischen Sanktionen bei Zuwiderhandlungen zu verpflichten, konnten sie sich nicht durchsetzen. Sie behielten sich eine endgültige Stellungnahme dazu für den Rat vor.205 202 Vgl. ZAR CM2 1962/687. Entwurf eines Protokolls über die Ministertagung am Montag, den 6. November 1961. Brüssel, 13. November 1961. R/479/61 (RC22). S. 14. 203 So die Kommission in der ausführlichen Begründung des Artikels 4. Vgl. Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, Dok.: IV/KOM(60)158 endg., 28. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 337–359. S. 341. 204 Gegen jegliche Verfahren vorläufiger Wirksamkeit hatte sich die italienische Regierung sehr früh ausgesprochen. Darin war sie bereits im Oktober 1960 im Stadium der Vorbereitung des Kommissionsentwurfes von deutscher und französischer Seite unterstützt worden. Vgl. Vermerk über die Sitzung der Regierungsvertreter am 6. Oktober 1960 in Brüssel über Memorandum der Kommission betreffend Erlass einer Verordnung nach Artikel 87. 6. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 327-331. S. 330. 205 Vgl. ZAR CM2 1962/688. Aufzeichnung. Betrifft: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 30. Nov. 1961. R/532/61 (RC 25). S. 22 und S. 36.
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Alle Delegationen stimmten für die Institutionalisierung der Zusammenarbeit von Kommission und Mitgliedstaaten in Form eines beratenden Ausschusses. Dieser sollte sich aus zuständigen Beamten der Mitgliedstaaten zusammensetzen und von der Kommission vor Entscheidungen angehört werden, ohne dass sie bei ihrer Entscheidung an seine Stellungnahme gebunden wurde. Selbst die Franzosen gaben in diesem Punkt ihre Außenseiterposition auf und forderten nicht mehr die gemeinsame Entscheidung von Kommission und Staaten über Ausnahmegenehmigungen oder Verstöße gegen die Wettbewerbsvorschriften des Vertrags. Italiener, Franzosen und Belgier wünschten aber weiterhin engere Zusammenarbeit zwischen nationalen Behörden und der Kommission beim Untersuchungsverfahren. Jedoch war die Kommission nicht dazu bereit, von den nach Meinung der Franzosen unzureichenden Worten „in Verbindung mit den zuständigen Behörden“ abzurücken. Diese waren dem Vertrag entnommen und sicherten nach Ansicht der Kommission sowohl das Gleichgewicht zwischen nationalen Behörden und Kommission als auch die Handlungsbefugnis der Kommission.206 Erfolglos blieben auch weitere Versuche der Franzosen, die Handlungsautonomie der Kommission einzuschränken. Die anderen Mitgliedstaaten wollten Verzögerungen oder mögliche Konflikte zwischen der Kommission und nationalen Behörden über Inhalt und Berechtigung von Anfragen der Kommission an Unternehmen vermeiden. Anders als die Franzosen erkannten sie kein Problem darin die Kommission im rechtlich festgeschriebenen Rahmen direkt mit Unternehmen in Kontakt treten zu lassen.207 Sie meinten, die Teilung der Zuständigkeit zwischen europäischer Ebene und nationaler Ebene dürfte kaum Konflikte hervorrufen, so dass hier mit der Durchführungsverordnung Kompetenz an die Kommission übertragen wurde. Dies war einige Jahre zuvor von den Sachverständigen gegenüber der Kommission abgelehnt worden, da es dazu noch keine rechtliche Grundlage gegeben hatte. Auch wenn sich nicht alle Präferenzen der Italiener hatten verwirklichen lassen, hatten diese doch die Gunst der Stunde genutzt. Als eine Einigung durch das von deutscher Seite aufgebrachte Junktim notwendig wurde, waren sie bei Kernproblemen der bisherigen Verhandlungen kompromissbereit geworden, machten konkrete, wenn auch nicht völlig systematische Vorschläge und konnten einige ihrer Interessen wahren. Für das zentrale Problem lag nun ein Kompromissvorschlag vor, dem jedoch die Franzosen ihre Zustimmung noch verweigerten. Anfang Dezember mussten die Franzosen im Rat von dem Kompromiss überzeugt werden. Zudem waren noch einige kleinere Themen mit Vorbehalten von den nationalen Sachverständigen versehen worden. Als die für Wettbewerb zuständigen Minister am vierten Tag der folgenden Ratstagung die Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 auf der Tagesordnung hatten, war ihnen bewußt, dass noch immer kein Dokument vorlag, dem alle Regierungen ohne Weiteres zustimmten. Selbst das Ziel der deutschen Präsidentschaft, auf dieser Sitzung nur Grundprinzipien zu erarbeiten, um in einer 206 Vgl. ebd.: S. 22. 207 Vgl. ebd.: S. 26.
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folgenden Sitzung zum Entschluss zu kommen, wurde nicht erreicht.208 Obwohl ein Kompromissvorschlag vorlag, befanden sich die Verhandlungen der Minister innerhalb kürzester Zeit wieder in der Sackgasse. Nachdem Colombo diesen Vorschlag trotz einiger Änderungswünsche der Italiener als gute Grundlage für die weitere Zusammenarbeit gelobt und damit klargestellt hatte, dass die italienische Regierung von der grundsätzlichen Opposition zum Kommissionsvorschlag abgerückt war, fegte Missoffe diesen Vorschlag kurzerhand vom Tisch. Nachdem die französische Regierung die Unterstützung der Belgier und auch der Italiener gegen den Kommissionsvorschlag verloren hatte, sah sich der französische Staatssekretär für Inlandshandel veranlasst, die französische Position ausführlich darzulegen.209 Einmal mehr äußerte er die Überzeugung, dass Wettbewerbspolitik von den wirtschaftlichen Gegebenheiten beeinflusst sein müsste. Nicht Strukturen der Zusammenarbeit von Unternehmen, sondern konkrete Verhaltensweisen und mögliche Wirkungen auf Verbraucherpreise müssten ihr Maßstab sein. Für die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes förderliche Absprachen, wie Rationalisierungs- und Spezialisierungsabkommen, dürften beispielsweise nicht durch den Verwaltungsaufwand einer Meldepflicht benachteiligt werden, da vorhandene Produktionskapazitäten durch solche Absprachen über die Grenzen hinweg ausgelastet werden könnten. Er lehnte es ab, alle Kartelle des Gemeinsamen Marktes durch Pflichtanmeldung zu erfassen und zu kontrollieren, da dies bei Unternehmen und Kommission hohen Verwaltungsaufwand verursachen würde, während die Bekämpfung unstatthafter Zusammenschlüsse zu kurz käme. Statt des Aufbaus einer großen und teuren Verwaltung müsse ein kleines Organ zur gleichmäßigen Kontrolle von schädlichen Zusammenschlüssen und marktbeherrschenden Stellungen geschaffen werden. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass die Grundstruktur der Durchführungsverordnung kaum noch zu verhindern war und der Kompromissvorschlag gute Chancen hatte, die qualifizierte Mehrheit des Rates zu erhalten,210 stellte Missoffe unabhängig von seiner ablehnenden Grundüberzeugung französische Forderungen für mögliche Kompromisse auf. Bei der einheitlichen Aufsicht über Kartelle und marktbeherrschende Stellungen müssten auch vertikale Absprachen mit Nachteilen für kleine und mittlere Unternehmen und negativen Auswirkungen für die Verbraucher im Gemeinsamen Markt berücksichtigt werden, um die Übervorteilung von Zusammenschlüssen der Industrie gegenüber dem Handel zu beseitigen. Der Anzeigepflicht konnte die französische Regierung unter der Bedingung zustimmen, dass die Kommission bei ihrer Kontrolle nach ausgewählten Wirtschaftssektoren getrennt vorgehen würde. Sollte dadurch die effizientere 208 Zu Folgendem vgl. ZAR CM2 1961/71. Protokoll über die Sitzung im engeren Rahmen anlässlich der 57. Tagung des Rates. Dok.: R/563/61 (MC/PV/R 13) rev.; 6. Dezember 1961; Vertraulich. 209 Hierzu vgl. ebd. S. 8–14. 210 Gemäß Artikel 148, Abs. 2 des EGW-V kamen qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse bei zwölf von 17 Stimmen dann zu Stande, wenn der Rat auf Vorschlag der Kommission entschied. Angesichts der Stimmengewichtung (BL: 2 Stimmen; D: 4 St.; I: 4 St.; NL: 2 St.) war die qualifizierte Mehrheit auch ohne die luxemburgische Stimme gegeben.
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Fokussierung auf schädliche Wettbewerbspraktiken gelingen, sollte die Kommission auch umfangreiche und scharfe Sanktionsmittel erhalten können. Jedoch beharrte Missoffe darauf, dass die Kommission in nationale Wirtschaftsräume nur eingreifen dürfe, wenn sie die Mitgliedstaaten zuvor unterrichten würde. Die von französischer Seite nicht neue Forderung nach Gleichbehandlung von Kartellen und dem Missbrauch von Marktmacht wies Präsident Müller-Armack mit dem Argument zurück, dass die unterschiedliche Behandlung im Vertrag festgeschrieben war und durch eine Verordnung nicht geändert werden könnte. Von der Groeben sprach sich zudem gegen den Vorschlag des sektorweisen Vorgehens aus technischen Gründen aus, wobei ihn Spinoy unterstützte.211 Er befürchtete politische, wirtschaftliche und auch juristische Probleme bei der auf bestimmte Sektoren beschränkten Anzeigepflicht und wollte sie deshalb vermeiden. Nur der Ständige Vertreter und höchste anwesende Vertreter Luxemburgs, Borschette, stellte sich auf die Seite der französischen Delegation, jedoch ohne inhaltlich Stellung zu beziehen. Eine neue Debatte über den gefundenen Kompromiss der Sachverständigen bei der Anzeigepflicht lehnte er jedoch ab.212 Nur die Franzosen waren mit der Regelung einer grundsätzlichen Anzeigepflicht mit Ausnahmen nicht einverstanden. Am intensivsten versuchte Colombo, die Franzosen zu dem von italienischer Seite stark beeinflussten Kompromiss zu überzeugen, an dessen Bestätigung er interessiert war. Das Ziel der Kartellkontrolle, die Spreu vom Weizen zu trennen, war nur mit der Pflichtanmeldung schnell zu erreichen. Der italienische Wirtschaftsminister war inzwischen auch davon überzeugt, dass sich diejenigen Kartelle, die sich für ‚Gute‘ hielten, durch die Koppelung von Anzeige und Antrag auf Ausnahmegenehmigung melden würden, überprüft würden und im Regelfall die Ausnahmegenehmigung bekämen. Alle anderen Kartelle unterstanden ohnedies den Ermittlungs- und Überwachungsbefugnissen der Kommission. Colombo war zwar von der gezielten Anwendung dieser Befugnisse auf bestimmte Sektoren und nicht auf alle Wirtschaftszweige gleichzeitig prinzipiell überzeugt, jedoch wollte er nicht, dass diese Einschränkung in der allgemeinen, dauerhaft gültigen Verordnung festgelegt wurde. Dies hätte eine nicht akzeptable Ungleichbehandlung von Sektoren verursacht. Der Kommission sollte die Schwerpunktsetzung bei der Ausübung ihrer Befugnisse überlassen bleiben. Meyer-Cording, mit Colombo einer Meinung, versuchte auf das französische Anliegen einzugehen und schlug vor, die von allen als sinnvoll erachtete Vorgehensweise nach Sektoren wenigstens als Option für die Kommission in die Verordnung aufzunehmen. Jedoch lehnte die Mehrheit der Regierungen es ab, einzelne Sektoren der Wirtschaft von der Anzeigepflicht auszunehmen und trat stattdessen dafür ein, weitere Kartelltypen als Ausnahmen zu definieren. 213 211 Vgl. ZAR CM2 1961/71. Protokoll über die Sitzung im engeren Rahmen anlässlich der 57. Tagung des Rates. Dok.: R/563/61 (MC/PV/R 13) rev.; 6. Dezember 1961; Vertraulich. S. 14ff. 212 Vgl. ebd.: S. 23f. 213 Vgl. ebd.: S. 17ff.
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Von niederländischer Seite versuchte Gijsels zu integrieren. Er betonte die grundlegenden Gemeinsamkeiten in den Auffassungen und vertrat die Meinung, dass alle Regierungen sich in der grundsätzlichen Ausrichtung der Wettbewerbspolitik, die auch im EWG-Vertrag festgelegt war, einig waren. Aus diesem Grund brachte er wenig Verständnis für die französischen Einwände auf, die er teilweise für haltlos hielt. Die Gefahr eines zu großen Verwaltungsapparates hielt Gijsels für völlig unbegründet und berichtete von den niederländischen Erfahrungen mit der Anzeigepflicht. Demnach waren rund 50 Beamte damit beschäftigt 1.500 Kartelle zu überwachen, von denen nicht einmal 5 Prozent internationale Kartelle waren. Einige dieser rund 70 Kartelle waren zudem Absprachen von niederländischen Unternehmen mit Unternehmen aus Drittstaaten und fielen deshalb nicht unter die Regeln des EWG-Vertrags. Gijsels forderte jedoch die Franzosen abschließend auf, ihre Änderungsvorschläge in präziser und diskussionsfähiger Form vorzubringen und damit ihre Kompromissbereitschaft zu belegen.214 Als die Franzosen beantragten, ihren Vorschlag der freiwilligen Anzeige gleichberechtigt mit dem Kompromissvorschlag der Sachverständigen zur Diskussion zu stellen, prallten die Meinungen noch einmal aufeinander. Die deutsche Seite verwahrte sich diesem Anliegen völlig und auch die Niederländer betonten, dass sie der Nichteinführung der Anzeigepflicht nicht zustimmen würden.215 Schließlich hatte man den Franzosen bereits die Brücke gebaut, über weitere Ausnahmen von der Anzeigepflicht zu verhandeln, die im ursprünglichen Kommissionsentwurf nur auf internationale Kartelle beschränkt gewesen war. Die Franzosen waren jedoch noch nicht bereit, über diese Brücke zu gehen und sich auf die Seite des Kompromissvorschlags zu begeben. Da das Ende der ersten Stufe des Gemeinsamen Marktes nahte, setzte das deutsche Junktim setzte alle unter Zugzwang. Missoffe lehnte den Vorschlag Meyer-Cordings ab, den Sachverständigen den Kompromissvorschlag zusammen mit optionalen französischen Änderungsanträgen als vom Rat gebilligte Arbeitsbasis zu übergeben, um bei der nächsten Ratssitzung ein abstimmungsfähiges Dokument vorliegen zu haben. Als auch Ratspräsident Müller-Armack darauf drang, die von der Mehrheit der Staaten und der Kommission akzeptierte Systematik als Grundlage für weitere Verhandlungen anzunehmen, beendete Missoffe quasi jede weitere Diskussion. Er betonte, grundsätzlich kompromissbereit zu sein, aber keinem anderen Vorschlag in Grundzügen zustimmen zu können als dem wiederholt vorgebrachten Französischen.216 Die Gefahr erkennend, dass es zu weiteren ergebnislosen Verhandlungsrunden der Sachverständigen kommen konnte, schaltete sich Hallstein in die Diskussion ein. Er vertrat die Auffassung, dass die Sachverständigen solange über den dem Rat vorgelegten Kommissionsvorschlag beraten müssten, bis der Rat einen anderen Kompromissvorschlag der Staaten wenigstens als Arbeitshypothese annahm. Für Hallstein bestand zwar für jeden Mitgliedstaaten das Recht zu jeder 214 Vgl. ebd.: S. 21f. 215 Vgl. ebd.: S. 27f. 216 Vgl. ebd.: S. 30ff.
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Zeit Änderungsvorschläge zum Kommissionsvorschlag einzubringen, jedoch mussten diese wenigstens die Chance auf einstimmige Annahme im Rat haben. Diese konnte Hallstein nach den Debatten im Rat für die französischen Änderungsanliegen nicht erkennen. Damit hatte Hallstein sowohl das Gewicht des Kommissionsvorschlags als auch den Druck auf die Franzosen erhöht. Dem Appell des Kommissionspräsidenten, den auch von der Kommission getragenen Kompromissvorschlag als Arbeitshypothese, die offen für französische Änderungswünsche sein sollte, anzunehmen, um eine konstruktive Arbeit der Sachverständigen zu ermöglichen, schlossen sich der Ratspräsident und der Ständige Vertreter Italiens, Venturini, an. Erst daraufhin gaben die Franzosen ihre starre Opposition auf und der Ständige Vertreter Frankreichs, Boegner, erklärte sich einverstanden, dass die Sachverständigen auf Basis der bisherigen Arbeit fortfuhren. Er deutete Kompromissbereitschaft bei den französischen Forderungen an, jedoch ohne ein positives Votum zum Kompromissvorschlag abzugeben.217 In der daraufhin auf Drängen von der Groebens fortgesetzten Diskussion über weitere Punkte der Verordnung konnten die Franzosen sich auch im Rat nicht damit durchsetzen, dass die Aktivitäten der Kommission nicht nur „in Verbindung“, sondern „in enger Zusammenarbeit“ mit den nationalen Behörden stattfinden sollten. Die anderen Staaten und die Kommission waren sich darin einig, dass die Kommission ihre Aufgabe selbständig, wenngleich nicht ohne Unterrichtung der nationalen Behörden, ausüben sollte, weshalb sie den Begriff „Zusammenarbeit“ ablehnten. Die Franzosen konnten schließlich nur einen Achtungserfolg erzielen und die Formulierung „in enger und ständiger Verbindung“ für die Art der Zusammenarbeit durchsetzen.218 Ebenso erfolglos blieb die bereits von den Sachverständigen abgelehnte deutsche Forderung, aus verfassungsrechtlichen Überlegungen ein Auskunftsverweigerungsrecht einzuführen.219 Sowohl der hierzu vorliegende Vorschlag des Europäischen Parlaments als auch eine formale Achtung der nationalen, jedoch sehr heterogenen Rechtsvorschriften fand keine Mehrheit. Der Rat beschloss, dieses Thema nicht in der ersten Verordnung festzulegen und forderte stattdessen die Kommission dazu auf, ihm hierzu bis zum 1. Juli 1962 einen Regelungsentwurf vorzulegen.220 Die Minister einigten sich auf die Prüfung von Wettbewerbshemmnissen nach Wirtschaftszweigen durch die Kommission und auf das Beschwerderecht Dritter, das für die Kommission Anlass für den Widerruf von Ausnahmegenehmigungen sein sollte. 217 Vgl. ebd.: S. 33ff. 218 Vgl. ebd.: S. 38–41. 219 Den sehr weit reichenden Ergänzungsvorschlag lehnte die niederländische Seite wegen der geplanten Einbeziehung von Vertretern von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen ab. Die Belgier meldeten weiterhin grundsätzliche Vorbehalte an. Vgl. ZAR CM2 1962/688. Aufzeichnung. Betrifft: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 30. Nov. 1961. R/532/61 (RC 25). S.26 und S. 28. 220 Vgl. ZAR CM2 1961/71. Protokoll über die Sitzung im engeren Rahmen anlässlich der 57. Tagung des Rates. Dok.: R/563/61 (MC/PV/R 13) rev. Brüssel, 6. Dezember 1961. Vertraulich. S. 43ff.
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Das wichtigste Ergebnis dieser Ratssitzung war aber die Deutlichkeit gewesen, mit der eingangs das Interesse der Franzosen an der freiwilligen Anmeldung zurückgewiesen wurde. Die Systematik der Pflichtanmeldung wurde auf höchster politischer Ebene von allen anderen Delegationen und der Kommission als sinnvoll erachtet und gebilligt. Besonders unnachgiebig vertraten die deutsche und die niederländische Regierung die Pflichtanmeldung. Colombo hatte zunächst versucht, die Franzosen zu überzeugen. Seine folgenden Kompromissangebote waren jedoch weder für die Mehrheit akzeptabel noch änderten sie das von den Franzosen abgelehnte System so weit, dass die Franzosen ihm zustimmen konnten. Ebenso erfolglos waren die Vermittlungsversuche Spinoys geblieben. Missoffe hatte klare Forderungen gestellt, beharrte jedoch auf dem französischen Standpunkt. Erst nach dem Eingreifen Hallsteins in die Diskussion hatte Boegner mögliches Einlenken der Franzosen und Kompromissmöglichkeiten angedeutet. Diese genauer auszuloten, war erneut Aufgabe der Sachverständigen, die dem Rat am 18. Dezember 1961 eine endgültige abstimmungsfähige Verordnung vorlegen sollten. F.4.c Die Einigung auf einen Kompromiss – die Verordnung Nr. 17 In ihrer Sitzung am 12., 13. und 14. Dezember 1961 prüften die Sachverständigen primär, für welche Arten von Vereinbarungen, Unternehmensbeschlüssen und -praktiken die Meldepflicht gelten sollte. Zudem diskutierten sie auf Basis eines französischen Entwurfs, ob die Kommission Untersuchungen einzelner Wirtschaftszweige vornehmen können sollte. Im Ergebnis wurde die Anmeldepflicht in einem Bereich stark ausgedehnt, während zwei Kartellarten davon ausgenommen wurden. Die im Kommissionsvorschlag ursprünglich vorgesehenen Ausnahmen von der Anmeldepflicht für Alleinabsatz- und Alleinbezugsvereinbarungen und Alleinvertretungsabkommen wurden auf Wunsch der Franzosen gestrichen. Diese vertikalen Behinderungsstrategien, bei denen meist kleinere Zulieferer- und Handelsunternehmen in ihrer formalen und materiellen Handlungsfreiheit durch größere Industrieunternehmen eingeschränkt werden, sollten nicht ausgenommen werden von der Kontrolle durch die Kommission, denn eine unterschiedliche Behandlung von vertikalen und horizontalen Absprachen war nach Artikel 85 nicht begründbar. Absatz 1 des Artikels 85 erwähnte diese Abkommen sogar ausdrücklich als verbotene Vereinbarungen, so dass sich die anderen Mitgliedstaaten dem französischen Anliegen schwer widersetzen konnten. Nur die Niederländer unterstützten am Ende den Plan der Kommission, Exklusivabnehmer und -lieferantenverträge sowie Alleinvertretungsvereinbarungen von der Anmeldepflicht auszunehmen. Die Mitgliedstaaten verhinderten damit die Absicht der Kommission, aus pragmatischen Gründen gestaffelt vorzugehen, sich zunächst den verhältnismäßig wenigen internationalen horizontalen Vereinbarungen anzunehmen und die zahlreichen Vertikalvereinbarungen zunächst von der Anzeigepflicht auszunehmen. Die gerade im Handel häufig vorkommenden Vertikalabsprachen
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unterlagen somit gegen den Willen der Kommission der Anmeldepflicht.221 Gleichzeitig wurden diejenigen Kartelle, die die einheitliche Anwendung von Normen und Typen oder gemeinsame Forschungen zur technischen Verbesserung zum Gegenstand hatten und haben, von der Anmeldepflicht ausgenommen, da diese Kartelle tendenziell unter die Ausnahmegenehmigung vom Verbot nach Artikel 85, Absatz 3 fielen.222 Um das französische Anliegen zu berücksichtigen, der Kommission Befugnisse zur Untersuchung von Wirtschaftszweigen, vor allem auch in den Bereichen zu erteilen, die von der Meldepflicht ausgenommen sein würden, erarbeiteten die Sachverständigen einen neuen Artikel. Nach diesem sollte die Kommission von Unternehmen Auskünfte verlangen können, wenn sie die Behinderung des Wettbewerbs aufgrund von Störungen des Handels, der freien Preisentwicklung oder anderer Anzeichen vermutete. Niederländer, Deutsche und Italiener meldeten Bedenken rechtlicher Natur an dem neuen Artikel an. Sie führten an, dass Artikel 86 sich nur gegen den Missbrauch von marktbeherrschenden Stellungen richtete, nicht gegen marktbeherrschende Stellungen generell.223 Jedoch erklärten die Franzosen den neuen Artikel zum absoluten Verhandlungsgegenstand. Sollte dieser in der vorliegenden Fassung akzeptiert werden, erklärten sie, auf frühere, zu anderen Bestimmungen geäußerte Vorbehalte verzichten und die Genehmigung des gesamten Entwurfes empfehlen zu wollen. Mit der Aussicht, im Rat Einstimmigkeit zu erzielen, empfahlen daraufhin auch die Sachverständigen der anderen Regierungen dem Rat die Annahme des neuen Artikels.224 Nachdem eine Einigung in Bezug auf die grundlegenden Fragen in greifbare Nähe gerückt war, gingen die Sachverständigen alle Artikel noch einmal auf Einzelwünsche und mögliche Vorbehalte einzelner Delegationen durch. Dabei fanden die zum wiederholten Mal vorgebrachten italienischen Anliegen, dass nationale Behörden vor den Unternehmen über Auskunftsverlangen unterrichtet und dass Sanktionen aufgrund von Verstößen gegen den Vertrag obligatorisch von der Kommission verhängt werden müssten, keine Mehrheit.225 Ebenso unterstützten 221 Vgl. Art. 5, Absatz 3, die Punkte c, d und e. Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, Dok.: IV/KOM(60)158 endg., 28. Oktober 1960. Abgedr. in: Schulze; Hoeren (Hrsg.): Kartellrecht. S. 337–359. S. 353; ZAR CM2 1962/689. Aufzeichnung. Betrifft: Erste Durchführungsverordnung zu Artikel 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 16. Dez. 1961. R/592/61 (RC 30). S. 10ff.; VerLoren van Themaat: Einige Betrachtungen. S. 402. 222 Vgl. ZAR CM2 1962/689. Aufzeichnung. Betrifft: Erste Durchführungsverordnung zu Artikel 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 16. Dez. 1961. R/592/61 (RC 30). S. 1f. 223 Dass zwei Tage nach der Aufzeichnung (R/592/61 (RC 30)) ein Korrigendum vorlag, dass den ursprünglichen Satz „die Sachverständigen einigten sich auf die Fassung des Artikels 9A (neu)“ ersetzte und wie dargestellt veränderte, macht die Relevanz deutlich. Vgl. ZAR CM2 1962/689. Korrigendum zu der Aufzeichnung betreffend... Brüssel, 18. Dez. 1961. R/592/61 (RC30) Korr.2.; ZAR CM2 1962/689. Aufzeichnung. Betrifft: Erste Durchführungsverordnung zu Artikel 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 16. Dez. 1961. R/592/61 (RC 30). S. 2. 224 Vgl. ZAR CM2 1962/689. Aufzeichnung. Betrifft: Erste Durchführungsverordnung zu Artikel 85 und 86 des Vertrags. Brüssel, 16. Dez. 1961. R/592/61 (RC 30). S. 2. 225 Vgl. ebd.: S. 30 und S. 42.
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allein die Franzosen das in der letzten Ratssitzung zum ersten Mal von den Niederländern auf politischer Ebene vorgebrachte Anliegen, die Verordnung nicht auf den Verkehrssektor anzuwenden. Damit wären Entscheidungen vorweg genommen worden, die erst im Zusammenhang mit der gemeinsamen Verkehrspolitik getroffen werden sollten. Deren Umsetzung stand gemäß Artikel 75 jedoch erst bis zum Ende der zweiten Stufe des Gemeinsamen Marktes auf dem Arbeitsprogramm der EWG.226 Die 60. Tagung des Rates der EWG wurde seine bis dato längste Sitzung. Neben der endgültigen Entscheidung über die Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags standen zahlreiche weitere Themen auf der Tagesordnung, die vom Rat abschließend diskutiert und im Zusammenhang mit dem Übergang zur zweiten Stufe des Gemeinsamen Marktes erreicht werden mussten.227 Als die Sitzung am Nachmittag des 18. Dezember 1961 von Erhard eröffnet wurde, ahnte keiner der Anwesenden, dass man nicht nur bis zum 22. Dezember zusammensitzen, sondern sich auch am 29. und 30. Dezember treffen würde. Erst nachdem am 30. Dezember Entscheidungen offen waren, die Uhr fiktiv angehalten wurde und unter deutscher Präsidentschaft weitere zehn Sitzungstage im Januar 1962 absolviert waren, war das Ziel am 14. Januar erreicht: Die zweite Stufe des Gemeinsamen Marktes konnte beginnen. Zur Sicherung des Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt war die Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 beschlossen.228 Verursacht hatte diese langwierige Sitzung aber nicht mehr die Wettbewerbsverordnung, sondern die noch ausstehenden Einigungen bei den verschiedenen Agrarmarktordnungen.229 Für die Wettbewerbsordnung hatten die Sachverständigen ausreichende Vorarbeit geleistet. Nachdem die noch auf Sachverständigenebene geäußerten Vorbehalte im Rat zurückgezogen worden waren, erklärten sich alle Delegationen mit dem Kompromissvorschlag einverstanden.230 Diesen übernahm von der Groeben daraufhin als Vorschlag der Kommission, so dass der Rat vertragsgemäß auf Vorschlag der Kommission entscheiden konnte. Man einigte sich im Rat darauf, dass diese Verordnung keine Entscheidungen über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Verkehr präjudiziere.231 Nachdem von der Groeben zusagte, dass die Kommission möglichst schnell Verfahrens226 Vgl. ebd.: S. 60. 227 Vgl. 14.1.1962: Beschlüsse des EWG-Rates betreffend den Übergang zur zweiten Stufe und die gemeinsame Agrarpolitik, sowie die Wettbewerbs- und Sozialpolitik. Abgedr. in: Siegler, Heinrich von (Hrsg.): Dokumentation der Europäischen Integration 1961–1963. Unter Berücksichtigung der Bestrebungen für eine ‚Atlantische Partnerschaft‘ (Dokumentation der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik 2). Bonn, Wien, Zürich 1964. S. 64–73. 228 Hierzu und zu den Umständen der Sitzung vgl. Müller-Armack: Weg nach Europa. S. 231ff.; Lahr: Zeuge von Fall und Aufstieg. S. 351–355. Sie hatten sich in den letzten Ratssitzungen die Führung der deutschen Delegation und Wahrnehmung der Präsidentschaftsaufgabe geteilt. 229 Vgl. Hendriks: Creation of the Common Agricultural Policy. S. 147f. 230 Vgl. ZAR CM2 1961/82 Auszug aus dem Entwurf des Protokolls über die Sitzung im engeren Rahmen (1. Teil) anlässlich der 60. Tagung des Rates... Brüssel, 26. Februar 1962. R/78/62 (MS/PV/R 1) Ausz. 1, (1. Teil). S. 4. 231 Ebd. S. 6–10.
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regeln für die Umsetzung der Verordnung erarbeiten würde, stimmten die Mitgliedstaaten bereits am 19. Dezember 1961 der Durchführungsverordnung einstimmig unter dem Vorbehalt zu, dass auch alle anderen Maßnahmen zum Übergang zur zweiten Stufe des gemeinsamen Marktes beschlossen würden.232 Als am 6. Februar bei der 61. Sitzung des Rates der französische Außenminister und Ratspräsident Maurice Couve de Murville die Vertreter der Mitgliedstaaten zu Stellungnahmen zur der in allen vier Amtssprachen vorliegenden Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 aufforderte,233 kam nur noch von belgischer Seite die Bitte an die Kommission, die Arbeiten an der Ausführungsbestimmung, die das Anmeldeverfahren näher regeln würde, zu beschleunigen. Nachdem von der Groeben dieses zugesagt hatte, verabschiedete der Rat, knapp zwei Jahre nachdem er die Kommission aufgefordert hatte einen Entwurf für eine Verordnung nach Artikel 87 vorzulegen, diese Durchführungsverordnung am 6. Februar 1962 als siebzehnte Verordnung im laufenden Jahr.234 F.5 DAS ERGEBNIS – DELEGATION DER EUROPÄISCHEN WETTBEWERBSPOLITIK AN DIE KOMMISSION Mit der VO Nr. 17 war politisch die lange Zeit umstrittene Frage eindeutig geklärt, ob die Artikel 85 und 86 unmittelbar anzuwendendes Primärrecht waren. Sie legte fest, dass die Verbote unmittelbar galten, „ohne dass dies einer vorherigen Entscheidung bedarf“. Damit folgte die VO Nr. 17 der Direktwirkungstheorie. Der Europäische Gerichtshof schwächte diese Auslegung zwei Monate später, im Boschurteil am 6. April 1962, zwar leicht ab und erklärte nur meldepflichtige Neukartelle bis zu ihrer Genehmigung als nichtig.235 Grundsätzlich wurde aber
232 Ebd. S. 12f. 233 Die Sprachsachverständigen wurden am 19. Dezember 1961 mit der Erarbeitung der französischen und deutschen Fassung und nach deren Genehmigung am 30. Dezember mit der Erarbeitung der niederländischen und italienischen Fassung beauftragt. Bei ihrer 200. Sitzung am 31. Januar und 1. Februar 1962 beschlossen die Ständige Vertreter den endgültigen Verordnungstext und legten dem Rat die Annahme des vorliegenden Entwurf in der Fassung vor, die die Sprachsachverständigen erarbeitet hatten. Vgl. ZAR CM2 1961/82 Auszug aus dem Entwurf des Protokolls über die Sitzung im engeren Rahmen (1. Teil) anlässlich der 60. Tagung des Rates... Brüssel, 26. Februar 1962. R/78/62 (MS/PV/R 1) Ausz. 1, (1. Teil). S. 13; ZAR CM2 1962/104. AStV. Entwurf einer Kurzniederschrift über die 200. Tagung... Brüssel, 4. Februar 1962. Dok.: 137/62 (RP/CRS 2). S. 10. 234 ZAR CM2 1962/1. Protokoll über 61. Tagung des Rates am 5./6. Februar 1962. Brüssel, 15. Mai 1961. Dok.: 242/62 (MC/PV 2) rev. S. 25f. 235 Vgl. Rechtssache 13/61. Antrag auf Vorabentscheidung im Sinne von Artikel 177 des EWGVertrags, enthalten in dm Urteil des Appellationshofes Den Haag vom 30. Juni 1961 in dem Rechtsstreit Kledingverkoopbedrijf de Geus en Uitdenbogerd gegen 1. Robert Bosch GmbH, 2. N. V. Maatschappij tot Voortzetting van de Zaken der Firma Willem van Rijn. Urteil vom 6. April 1962. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes. Band VIII. Luxemburg 1962. S. 95–118. S. 116f.
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mit der VO Nr. 17 die Anmeldung eine Absprache bei der Kommission Voraussetzung für einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung nach Artikel 85, Absatz 3. Zu unterscheiden waren von nun an meldepflichtige und nicht meldepflichtige Kartelle sowie jeweils auch Alt- und Neukartelle. Meldepflichtige Altkartelle waren ab Inkrafttreten der VO Nr. 17, sprich ab dem 13. März 1962 nichtig, wenn sie ihrer Meldepflicht nicht innerhalb der Frist bis 1. August 1962 nachgekommen waren. Hatten sie sich fristgemäß gemeldet, galten sie bis zu einer Entscheidung der Kommission über eine Ausnahmegenehmigung nach Artikel 85, Absatz 3 als vorläufig gültig. Das gleiche galt für nichtmeldepflichtige Altkartelle. Neukartelle hingegen wurden erst mit der Anmeldung vorläufig gültig, bis sie bei Entscheidung der Kommission vom Kartellverbot freigestellt werden konnten. Der konstitutive Charakter der Kommissionsentscheidung über die Ausnahmegenehmigung wurde festgeschrieben, jedoch konnte die Kommission den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Ausnahmegenehmigung so festzulegen, dass diese in einigen Fällen rückwirkend galt. Diese hatte dazu geführt, dass die Befürworter der Legalausnahme dem Kompromiss zustimmen konnten. Für meldepflichtige Neukartelle und nichtfristgemäße Altkartelle konnte die Kommission jedoch die Wirkung der Ausnahme vom Verbot nur bis maximal dem Tag der Antragstellung rückwirken lassen. Nichtmeldepflichtige Alt- und Neukartelle sowie fristgerecht gemeldete, meldepflichtige Altkartelle konnte sie sogar über den Zeitpunkt hinaus für wirksam erklären. Eine Verpflichtung zur rückwirkenden Wirksamkeit gab es jedoch nicht. Diese festzulegen, lag im konstitutiven Entscheidungsrahmen der Kommission. Die Meldepflicht galt für Alt- und Neukartelle gleichermaßen und war von der Kartellart abhängig. Nicht anmeldepflichtig waren reine Inlandskartelle, wenn sie den Im- oder Export nicht betrafen. Ebenso waren alle Absprachen, die nur zwei Partner und auch nur Preisbindungen und Geschäftsbedingungen bei der Weiterveräußerung betrafen, von der Anmeldepflicht ausgenommen. Die zahlreichen Ausschließlichkeitsbindungen über Bezug, Absatz und Vertrieb, die die Kommission und das Europäische Parlament vorsahen, waren unter Berücksichtigung der französischen Interessen nicht von der Meldepflicht befreit worden. Hingegen waren Vereinbarungen zwischen zwei Partnern, die Erwerber und Nutzer von gewerblichen Schutzrechten, wie beispielsweise Patenten oder Warenzeichen, oder von bestimmten Produktionstechniken und -kenntnissen beschränkten von der Anmeldepflicht ausgenommen. Auch Normen-, Typen- und Forschungsabsprachen mussten nicht gemeldet werden, und zwar unabhängig von der Anzahl ihrer Vertragspartner. Für die Unternehmen war die Einführung des Negativattests von hohem Interesse. Die Kommission konnte auf Anfrage feststellen, dass sie zum gegeben Zeitpunkt und nach Kenntnis der Lage nicht gegen das betreffende Kartell vorgehen würde. Diese von den Belgiern eingebrachte und vom WSA und vom Europäischen Parlament geforderte Ergänzung der Verordnung sollte den Unternehmen größere Rechtssicherheit verschaffen. Sollten sich jedoch neue Tatsachen
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ergeben oder von der Kommission ermittelt werden, konnte die Kommission gegen das Kartell aktiv werden. Mit der Verordnung erhielt die Kommission umfangreiche Befugnisse zur Umsetzung der Wettbewerbsartikel 85 und 86 des Vertrags und für die Ausgestaltung einer gleichmäßigen Wettbewerbspolitik in der EWG. Vor allem erhielt sie die alleinige Zuständigkeit zur Erteilung von Ausnahmegenehmigungen nach Artikel 85, Absatz 3. Die nationalen Behörden, die dafür bisher nach Artikel 88 zuständig waren, wurden mit Inkrafttreten der VO Nr. 17 ebenso wie nationale Gerichte von dieser Entscheidung ausgeschlossen. Die Kommission erhielt mächtige Ermittlungs-, Verfahrens-, Entscheidungs- und Sanktionskompetenzen, um Zuwiderhandlungen von Unternehmen gegen die Artikel 85 und 86 zu bekämpfen. Solange sie kein Verfahren einleitete, blieben die nationalen Behörden und Gerichte jedoch ebenfalls für die Durchsetzung der Verbote zuständig.236 Die Verfahren der Kommission mussten in „enger und stetiger Verbindung mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten“ geschehen. Und vor jeder Entscheidung über Negativatteste, Ausnahmegenehmigungen oder Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 oder 86 war die Kommission verpflichtet, den Beratenden Ausschuss anzuhören, der mit je einem Beamten aus den Mitgliedstaaten besetzt war. Bei ihrer Entscheidung war die Kommission in keiner Weise gebunden. Auf dieser Grundlage entwickelte sich die große Machtfülle der Kommission in den kommenden Jahren. Mit den in Artikel 14 der VO Nr. 17 festgeschrieben Befugnissen der Kommission, Bücher und sonstige Geschäftsunterlagen von verdächtigten Unternehmen einsehen zu dürfen, Abschriften und Kopien anfertigen zu können, an Ort und Stelle Befragungen durchführen zu dürfen und alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der Unternehmen betreten zu dürfen, konnte sie direkt auf die Wirtschaftsakteure und deren Handlungen zugreifen. Die Kommission war so von den Staaten mit guten Instrumenten ausgestattet worden, um die Unternehmen zu kontrollieren und von wettbewerbsbehindernden Maßnahmen abzuhalten. Die zentrale Entscheidung zwischen Verbotsprinzip mit Genehmigungsvorbehalt und Verbotsprinzip mit Legalausnahme war am Ende im Interesse der Kommission sowie der westdeutschen und niederländischen Regierung für das Genehmigungssystem entschieden worden. Die deutsche Regierung hatte zum entscheidenden Zeitpunkt die Asymmetrie der Präferenzenintensität für die Wettbewerbsordnung und für die Agrarmarktordnung erkannt und beide Themenfelder durch ‚log-rolling‘ verbunden. Erst nachdem die Deutschen die Wettbewerbspolitik mit der Entscheidung über die zweite Stufe verknüpft hatten, die Italiener mit kleineren Zugeständnissen auf die Seite der Genehmigungssystembefürworter gezogen werden konnten und die belgische Bevölkerung eine neue 236 Der Umfang der Zuständigkeit blieb jedoch auf die meldepflichtige Neukartelle vor der Anmeldung und meldepflichtige Altkartelle nach dem 1. August 1962 beschränkt. Der Umfang dieser Zuständigkeit war gering und umstritten. Vgl. Groeben, Hans von der; Boeckh, Hans von; Thiesing, Jochen (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. Artikel 1–136. Zweite neubearbeitete Auflage. Baden-Baden 1974. S. 899ff.
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Regierung gewählt hatte, waren die Franzosen weitgehend isoliert. Erst nachdem sich mit Ausnahme Luxemburgs alle Mitgliedstaaten, angeführt von den Deutschen und den Niederländern, auf eine Verordnung einigen konnten, der deutsche Kommissionspräsident der Durchsetzung der Wettbewerbspolitik seines zuständigen deutschen Kollegen zur Hilfe kam und dabei die Position des – ebenfalls – deutschen Ratspräsidenten gegen die französischen Interessen unterstützte, gaben diese am 2. Dezember ihren Widerstand auf. Vor diesem Hintergrund ist nicht weiter erstaunlich, dass in Paris die Ansicht fortbestand die VO Nr. 17 würde vor allem der westdeutschen Wirtschaft zum Wohle gereichen. Heute gilt die Aussage des damaligen Generaldirektors für Wettbewerb Claus Dieter Ehlermanns anlässlich des 80. Geburtstages von Arved Deringer nicht mehr, dass diese erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 „einer der ganz wenigen Rechtstexte der Gemeinschaft (ist), der seit seinem Erlass nicht ein einziges Mal geändert worden ist.“ Jedoch gilt bis heute, dass sie bis 2003 „das tägliche Leben der Unternehmer, ihrer Berater, der Kommission und des Gerichts intensiver bestimmt als irgendeine andere Gemeinschaftsverordnung.“237 Angesichts dieser Tragweite und der intensiven Diskussionen sowie ihrer Gleichstellung mit dem Agrarmarkt kann die VO Nr. 17 als eine der ganz zentralen Kooperationsentscheidungen der Mitgliedstaaten gelten. Sie sollte bis ins Jahr 2003 unverändert das Fundament der erfolgreichen europäischen Wettbewerbspolitik bilden.
237 Ehlermann, Claus Dieter: Ist die Verordnung Nr. 17 noch zeitgemäß? In: WuW 43 (1993). S. 997-1001. S. 997.
G DIE SCHAFFUNG DER GEMEINSAMEN KARTELL- UND WETTBEWERBSPOLITIK – UMSETZUNG BESCHLOSSENEN RECHTS DURCH GEMEINSCHAFTSINSTITUTIONEN (1962–1966) G.1 DIE VO NR. 17 IM EINSATZ – PRAXISTEST EINER INTERGOUVERNEMENTALEN ÜBEREINKUNFT G.1.a Die neuen wettbewerbspolitischen Kompetenzen der Kommission Die VO Nr. 17 gab der Kommission endlich die alleinige Zuständigkeit für die Freistellung vom Kartellverbot gemäß Artikel 85, Absatz 3. Konkurrierende Zuständigkeit mit den Staaten bestand weiterhin für Artikel 85, Absatz 1 und Artikel 86. Auch wenn sich die Zusammenarbeit der Kommission mit den Mitgliedstaaten im Einführungsstadium schleppend entwickelt hatte, hatte die Kommission bis April 1962 immerhin 33 Einzelfälle geprüft. Die Mehrheit dieser Fälle hatte sie von Amts wegen, zum Teil nach Beschwerden von Unternehmen oder Verbänden, untersucht. Nur die geringe Zahl von vier Fällen hatten ihr Mitgliedstaaten überwiesen. Jedoch war die Mehrzahl aller Fälle im Frühjahr 1962 noch im Untersuchungsstadium.1 Insgesamt erlangte die Übergangsregelung des EWG-Vertrags zwischen 1958 und 1962 keine nennenswerte Bedeutung im Hinblick auf die Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften des EWG-Vertrags für private Unternehmen. Außer in der Bundesrepublik waren die Artikel 85 und 86 in keinem der Mitgliedstaaten von nationalen Behörden angewendet worden. Mit der VO Nr. 17 erhielt die Kommission nun umfassende Kompetenzen für eine aktive Wettbewerbspolitik. Für die Mitarbeiter der Direktion A bedeutete die Verabschiedung dieser Verordnung nach Jahren der vorwiegend ministeriell administrativen und vielfach unerfreulichen Kooperation mit den Behörden der Mitgliedstaaten „a major psychological boost“.2 Zur Durchführung der VO Nr. 17 und durch diese hierzu ermächtigt erließ die Kommission am 3. Mai 1962 die Verordnung Nr. 27. Diese regelte die Ausführungsbestimmungen, die technischen Vorgänge und die Vorgaben über Form und Inhalte von Anträgen und Anmeldungen und der dazugehörigen Anmeldeverfahren.3 Die Unternehmen konnten mit von der Kommission ausgegebenen Formblät1 2 3
Vgl. Fünfter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, Juni 1962. S. 83. Goyder: EC Competition law. S. 46. Vgl. Verordnung 27 der Kommission. Erste Ausführungsverordnung zur Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. 2. 1962. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1053–1056.
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tern einen Antrag auf Negativattest – Formblatt A – oder einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung mit Formblatt B stellen.4 In der Bundesrepublik wurden diese Formulare über die Industrie- und Handelskammern ausgeben, allein in Hessen bis Ende Januar 1963 rund 5.000 Exemplare.5 Die Verfahren zur Anhörung und Befragung von Unternehmen regelte die Kommission erst im Sommer 1963 in einem zweiten Schritt mit der VO Nr. 99/63.6 Im Frühjahr 1962 stellte sich bald heraus, dass die in der VO Nr. 17 vorgesehenen Anmeldefristen zu knapp bemessen waren, so dass der Rat am 3. Juli 1962 mit der Verordnung Nr. 59 des Rates die Anmeldefristen für Altkartelle vom 1. August 1962 um einige Monate nach hinten verschob, um den Unternehmen die Chance zur Anpassung an die neuen gesetzlichen Regelungen zu geben. Absprachen von nur zwei Unternehmen konnten bis zum 1. Februar 1963 angemeldet werden. Kartelle mit mehr als zwei Unternehmen mussten sich hingegen bis zum 1. November 1962 melden.7 Der Umstand, dass zahlreiche Unternehmen der Gemeinschaft keine Erfahrungen mit nationalem Kartell- oder Wettbewerbsrecht hatten und die vorhandenen Erfahrungen mit der jeweiligen Wettbewerbsbehörde sich ansonsten stark unterschieden, machte eine umfangreiche Informationspolitik der GDIV notwendig. Sie setzte die Unternehmen ab Spätsommer 1963 mit Hilfe eines Merkblattes über deren Rechte und Pflichten und über das gesamte Wettbewerbsverfahren umfassend in Kenntnis, um die häufigsten Fragen der Unternehmen zu beantworten. Im Merkblatt wurden Auslegungen von Artikel 85 und 86, der Inhalt der VO Nr. 17, die Anmeldefristen für Altkartelle und weitere wichtige Formalitäten erläutert, ohne jedoch rechtsverbindliche Informationen zu geben. Zudem informierte die Kommission die Wirtschaft auch indirekt über deren Verbände.8 Bis zum 31. Oktober 1962 gingen bei der Kommission zunächst 800 4 5 6 7
8
Vgl. Artikel 4. Verordnung 27 der Kommission. Erste Ausführungsverordnung zur Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. 2. 1962. Ebd.: S. 1055. Vgl. BA B102/395096. Bericht der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Landes Hessen an den Hessischen Minister für Wirtschaft und Verkehr. Betr.: Durchführung des Art. 85 und 86 des EWG-Vertrags 22. Februar 1963. S. 1. Vgl. Verordnung Nr. 99/63 der Kommission vom 25. Juli 1963. über die Anhörung nach Artikel 19 Absatz 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1059–1063. Darüber hinaus erließ der Rat 1962 zwei weitere Verordnungen. Mit der Verordnung Nr. 26 des Rates vom 4. April 1962 wurde der Bereich der Landwirtschaft weitgehend vom Verbot des Artikels 85 freigestellt. Vgl. Goyder: EC Competition Law. S. 79ff. Mit der Verordnung Nr. 141 des Rates am 26. November 1962 wurde rückwirkend zum 13. März 1962 die Nichtanwendbarkeit der VO Nr. 17 des Rates auf den Verkehrssektor erklärt, dieser jedoch nicht vom Kartellverbot des Art 85 ausgenommen. Vgl. Sechster Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, Juni 1963. S. 81–85; Goyder: EC Competition Law. S. 79ff Zu Veränderungen in der wettbewerbspolitischen Behandlung des Verkehrs seit den 1980er Jahren. vgl. Schmidt; Schmidt: Europäische Wettbewerbspolitik. S. 92ff. Vgl. HAEKB BAC26 1969/78. Presse- und Informationsdienst der Europäischen Gemeinschaft. Dok.: 2383/4/IV/62-D. Blatt 0088–0129; Sechster Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, Juni 1963. S. 68; Gerber: Law and Competition. S. 351ff.
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Kartellanmeldungen ein. Die Mitgliedstaaten wurden über diese umgehend in Kenntnis gesetzt und von der GDIV nach dem Grad der vermuteten Wettbewerbsbeschränkung sortiert und gruppiert.9 Damit begann die umfangreiche Arbeit, die die Generaldirektion Wettbewerb das ganze Jahr 1963 stark beanspruchen sollte. G.1.b Die Vergrößerung der Direktion A ‚Kartelle und Monopole‘ Mehrfach waren während der Diskussionen über die Durchführungsverordnung Befürchtungen von Seiten einiger Mitgliedstaaten geäußert worden, dass zur Umsetzung des Anmeldesystems ein großer bürokratischer Apparat notwendig werden würde. Vor allem die Gegner des Genehmigungssystems, allen voran die Franzosen und die Industrie hatten dieses mit dem Argument kritisiert, dass damit keine einfache Verwaltungskontrolle umgesetzt würde, wie sie in Artikel 87, Absatz 2 im Vertrag festgeschrieben worden war. In der Schlussphase der Verhandlungen über die Verordnung hatten jedoch auch die Franzosen, nach Einbeziehung von Vertikalverträgen in die Pflichtanmeldung und einigen anderen Zugeständnissen an die Franzosen, dem Gesamtanmeldesystem zugestimmt. Schon im Verlauf der Verhandlungen war unter den Staaten die Erkenntnis gereift, dass unabhängig vom System der Wettbewerbsaufsicht, über das lange gerungen worden war, die Direktion A ‚Kartelle und Monopole‘ mit rund 50 Beamten des mittleren und des hohen Diensts zur Marktbeobachtung und Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gesamtsituation von Unternehmen bei möglichen Verfahren mehr Personal als bisher bräuchte. In der Übergangsphase hatte die Arbeit der Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ überwiegend im ministeriellen Bereich bei den beiden Grundsatzabteilungen gelegen. Mit der VO Nr. 17 kamen auf diese Direktion und ihre Abteilungen neue Aufgaben zu. Wie sich das Arbeitsvolumen und damit auch die Notwendigkeit zur Aufstockung des Personals nun mit der Anzeigepflicht entwikkeln würde, war bei den Haushaltsberatungen für das Jahr 1963 noch nicht abzuschätzen. Die Kommission beantragte beim Rat für die Direktion A eine umfangreiche Aufstockung des Personals um 64 A- und B-Planstellen sowie 28 weitere C-Planstellen für den niedrigen Dienst. Die Grundlage des Antrags waren Schätzungen, die von rund 8.000 bis 10.000 Anmeldungen von Kartellen und Unternehmensvereinbarungen bei der Kommission ausgingen. Der Rat wies diese umfangreichen Forderungen im Oktober 1962 zurück und genehmigte für 1963 nur jeweils die die Hälfte der 40 beantragten Planstellen der Kategorie ‚A‘ und der 24 beantragten ‚B-Planstellen‘. Von den ‚C-Stellen‘ genehmigte er nur 15. Doch selbst diese gaben die Mitgliedstaaten im Rat noch nicht frei, da sie den zukünftigen Arbeitsumfang für noch nicht einschätzbar hielten.10 Gleichwohl 9
Vgl. HAEKB BAC26 1969/78. Sprecher der Kommission. Information a la Presse. Bruxelles, le 7 novembre 1962. IP (62) 211. Blatt 0134. 10 Vgl. ZAR CM2 1963/165. Freigabe der für die Direktion „Kartelle und Monopole“ der Generaldirektion Wettbewerb gesperrten Planstellen (Mitteilung der Kommission an den Rat). Brüssel, 25. April 1963. Dok.: IV/Kommission(63) 134 endg. S. 1f.
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zeigte sich eine Mehrheit des Rates bereit, über weitere Planstellen im Rahmen eines Nachtragshaushalts für 1963 zu beraten, wenn sich durch die Entwicklung des Aufgabenvolumens im Laufe des Jahres 1963 starker Personalbedarf ergeben würde.11 Bis auf weiteres musste die Direktion A mit ihrem Personalbestand weiter arbeiten. G.1.c Die Bekanntmachung – eine Lösung für das sich abzeichnende Massenproblem Bereits gegen Ende des Jahres 1962 zeichnete sich ab, dass die Zahl der eingehenden Anmeldungen und Anträge zu niedrig eingeschätzt worden war. Als erste Maßnahme nutzte die Kommission bereits Ende 1962 das Instrument der Bekanntmachung, um die Flut der bei ihr eingehenden Anmeldungen und Anträge zu reduzieren und möglicherweise zahlreiche Einzelfallentscheidungen zu dezimieren. Bei den beiden am 24. Dezember 1962 verkündeten Bekanntmachungen konnte sie in gewissem Umfang auf ihre Erfahrungen und die gemeinsame Auslegung der Artikel mit den Kartellsachverständigen der Mitgliedstaaten in den vergangen Jahren zurückgreifen. Mit der ersten Bekanntmachung veröffentlichte sie ihre Auffassung, dass Alleinvertriebsabkommen mit Handelsvertretern nicht vom Kartellverbot des Artikels 85, Absatz 1 erfasst würden. Die Unterscheidung zwischen dem gebundenen Handelsvertreter und dem unabhängigen Eigenhändler war für die Kommission das zentrale Beurteilungskriterium für diese Ansicht. Für Vereinbarungen mit Letzteren schloss sie die Anwendung von Artikel 85, Absatz 1 nicht aus. Die Bekanntmachung enthielt deshalb genaue Abgrenzungsmerkmale, anhand derer Unternehmen ihre Abkommen beurteilen konnten.12 Die zweite Bekanntmachung bezog sich auf Patentlizenzverträge, die nicht unter das Verbot des Artikels 85, Absatz 1 fielen. Indem sie Elemente von Patentlizenzverträgen detailliert auflistete, diente diese zweite Bekanntmachung stärker als die erste dazu, Kriterien der zukünftigen Entscheidungspraxis der Kommission zu veröffentlichen. Sie gab damit Hinweise darauf, welche Maßstäbe die Kommission bei der Beurteilung von Einzelfallentscheidungen in Zukunft anwenden würde.13 Mit diesen Bekanntmachungen traf die Kommission keine kollektiven Entscheidungen und erteilte keine Sammelnegativatteste. Vielmehr versuchte sie damit, wenigstens das Interesse der an einer solchen Vereinbarung beteiligten Unternehmen an Negativattesten zu verringern und die Nachfrage nach Klärung individueller Rechtslagen durch Einzelfallentscheidungen der Kommission zu dämpfen. Die Bekanntmachungen hatten jedoch keine rechtsverbindliche Wirkung. Allein die Kommission band sich mit diesen Veröffentlichungen in 11 Vgl. ebd.: S. 4. 12 Vgl. Bekanntmachung der Kommission über Alleinvertriebsverträge mit Handelsvertretern vom 24. Dezember 1962. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1114ff.; Mestmäcker: Europäisches Wettbewerbsrecht. S. 337f. 13 Vgl. Bekanntmachung der Kommission über Patentlizenzverträge vom 24. Dezember 1962. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1116–1119; Goyder: EC Competition law. S. 48ff.
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ihrem weiteren Verwaltungshandeln, jedoch nur eingeschränkt. Sie behielt sich das Recht vor, ihre bekannt gemachte Meinung bei neuen Erkenntnissen oder Veränderungen der Umstände zu überprüfen. Da dieses von der Kommission angewendete wettbewerbspolitische Instrument keine Rechtsicherheit für die Unternehmen bedeutete, leistete es nur einen geringen Beitrag zu aktiver Wettbewerbspolitik.14 Kurzfristig verhinderte es nicht, dass bei der Kommission im Winter 1962/1963 weiterhin massenhaft Anträge eingingen. G.1.d Das unerwartete Ausmaß der Absprachen im Gemeinsamen Markt Nach Ablauf der Anmeldefristen am 1. Februar 1963 hatte die GDIV bis Ende April rund 36.000 Formulare mit Anmeldungen gezählt, die teilweise Sammelanmeldungen enthielten.15 Die eingeschränkte Rechtswirkung des Negativattests hatte zur Verunsicherung bei den Unternehmen geführt, so dass beispielsweise in Hessen, nach Diskussionen in den Industrie- und Handelskammern, die überwiegende Mehrheit einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung gestellt hatte.16 Die mit Abstand größte Zahl von Anmeldungen und Anträgen stellten die rund 31.000 Vertriebsabkommen dar. Diese Form unternehmerischer Absprachen, die im ursprünglichen Verordnungsentwurf der Kommission von der Anmeldepflicht ausgenommen war, hatten die Mitgliedstaaten auf Antrag der Franzosen in den letzten Sachverständigengesprächen im Dezember 1961 über die spätere VO Nr. 17 gegen den Willen der Kommission ebenfalls der Anzeigepflicht unterworfen. Die weiteren rund 5.000 Anmeldungen verteilten sich auf ca. 4.000 Anmeldungen und Anträge, die Lizenzverträge für Patente, technisches Wissen und Marken zum Gegenstand hatten. Nur rund 1.000 Anmeldungen und Anträge betrafen solche Vereinbarungen, die Kartelle im engen Sinne betrafen. In erster Linie waren es horizontale Absprachen.17 Von der Abteilung ‚Kontrolle‘ mussten angesichts dieser ‚Formularflut‘ zahlreiche verwaltungstechnische Arbeiten geleistet werden. Registrierung, formale Prüfung, Bestätigung des Eingangs, Aufforderungen an Unternehmen um 14 Vgl. Mestmäcker: Europäisches Wettbewerbsrecht. S. 39f. Erst 1968 wendete die Kommission das Instrument der Bekanntmachung wieder an, um ihre Auffassung der Vereinbarkeit von Vereinbarungen über zwischenbetriebliche Zusammenarbeit bekannt zu geben. Vgl. Bekanntmachung über Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen vom 29. Juli 1968. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1119–11126. 15 Anträge mussten zudem in siebenfacher Ausfertigung eingereicht werden. Vgl. Verordnung 27 der Kommission. Erste Ausführungsverordnung zur Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. 2. 1962. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWGVertrag. Band 1. S. 1053–1056. S. 1055. 16 Vgl. BA B102/395096. Bericht der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Landes Hessen an den Hessischen Minister für Wirtschaft und Verkehr. Betr.: Durchführung des Art. 85 und 86 des EWG-Vertrags 22. Februar 1963. S. 1f. 17 Vgl. ZAR CM2 1964/252. Kommission: Generaldirektion für Wettbewerb. Vorbereitendes Dokument über Budgetfragen 1964 für die Kartellpolitik. Anlage zu einem Schreiben vom 25. September 1963 an den Rat. Dok.: 8505/IV/63-D. S. 4.
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ergänzende Angaben und die Unterrichtung der Mitgliedstaaten waren umfangreiche Tätigkeiten, die alle anderen Aufgabenbereiche überlagerten. Die gesamte Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ hoffte, diese Arbeit bis Ende des Jahres 1963 abschließen zu können.18 Rund 10 Prozent aller Anträge bedurften zügiger Bearbeitung, da es sich dabei um Neukartelle handelte, für die es keine Übergangsregelung und keine vorläufige Wirksamkeit gab. Im Interesse der Rechtssicherheit und der möglichst geringen Behinderung wirtschaftlicher Aktivitäten strebte die GDIV eine rasche Bearbeitung dieser Anträge an, da eine negative Entscheidung der Kommission die Nichtigkeit der Vereinbarung bedeutete.19 Die mit der Durchsetzung der Artikel 85 und 86 beauftragte Abteilung ‚Einzelfälle, Berichterstatter‘ hatte mit der VO Nr. 17 die rechtlichen Grundlagen für ihre Arbeit erhalten. Bis dahin hatte sie Verdachtsfälle von Verstößen gegen die Artikel 85 und 86 und gegen die Artikel 90 und 91 untersucht. Einzelfälle waren mit Beteiligten erörtert, Anhörungen durchgeführt und Entscheidungsvorlagen für die Kommission erstellt worden.20 Nun kam mit der Ausarbeitung und der Vorlage von Entscheidungsvorschlägen an den Beratenden Ausschuss ein neues Aufgabenfeld hinzu. Zudem lag binnen kurzer Zeit mit dem Ablauf der Frist am 1. Februar 1963 eine nicht absehbare Zahl von zu prüfenden Einzelfällen vor. Nach der formalen Prüfung der Anzeigen begann man zu ermitteln, ob Handlungen der Unternehmen gegen Artikel 85 oder 86 oder gegen Entscheidungen der Kommission verstießen. Die Ermittlungen über Einzelfälle mussten in Verbindung und in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden eingeleitet werden. Die in diesem Zusammenhang zu erstellenden Vorlagen für den Beratenden Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen und für die Kommission wurden in vier nach Wirtschaftssektoren getrennten Abteilungen bearbeitet.21 Über die zahlreichen Einzelfälle infolge der Anmeldepflicht hinaus rechnete man mit einer weiteren Zunahme der Anträge von Neukartellen. Darüber hinaus lagen 44 Beschwerden Dritter im September 1963 vor. In der Kommission rechnete man mit Zuwachs, sobald die Beschwerden bearbeitet würden und sich deren Wirkung gegenüber nicht rechtmäßigen Wettbewerbsbeschränkungen entfalten könnte. Man hatte das Beispiel der Vereinigten Staaten vor Augen, wo bei der Federal Trade Commission, der dortigen zentralen Wettbewerbsbehörde, monatlich rund 100 Drittbeschwerden eingingen.22 18 Vgl. ebd.: S. 3. 19 Vgl. ZAR CM2 1963/165. Freigabe der für die Direktion „Kartelle und Monopole“ der Generaldirektion Wettbewerb gesperrten Planstellen (Mitteilung der Kommission an den Rat). Brüssel, 25. April 1963. Dok.: IV/Kommission(63) 134 endg. S. 2. 20 Vgl. ZAR CM2 1964/252. Kommission: Generaldirektion für Wettbewerb. Vorbereitendes Dokument über Budgetfragen 1964 für die Kartellpolitik. Anlage zu einem Schreiben vom 25. September 1963 an den Rat. Dok.: 8505/IV/63-D. Anlage: Organigramm 1964. 21 Vgl. ZAR CM2 1963/165. Freigabe der für die Direktion „Kartelle und Monopole“ der Generaldirektion Wettbewerb gesperrten Planstellen (Mitteilung der Kommission an den Rat). Brüssel, 25. April 1963. Dok.: IV/Kommission(63) 134 endg. S. 3. 22 Vgl. ZAR CM2 1964/252. Kommission: Generaldirektion für Wettbewerb. Vorbereitendes Dokument über Budgetfragen 1964 für die Kartellpolitik. Anlage zu einem Schreiben vom 25. September 1963 an den Rat. Dok.: 8505/IV/63-D. S. 3. Für eine weitere Differenzierung
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Um den Kritikern der Anmeldepflicht keine weitere Angriffsfläche zu bieten, nahm sich die Kommission für das Jahr 1963 vor, auch nicht angemeldete Kartelle mit Nachdruck aufzuspüren. Jedoch sollten die Ermittlungsaufgaben weitgehend dezentralisiert werden. In Brüssel wollte man die Behörden der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 13 der VO Nr. 17 und gemäß Artikel 89 des EWG-Vertrags um Unterstützung und die notwendigen Ermittlungen auf nationaler Ebene bitten. Auch hierbei konnte die Direktion auf die bisherigen Erfahrungen mit den Sachverständigen der Regierungen aufbauen. Zudem erwartete sie, dass die Arbeitsbelastung der Abteilung ‚Kontrolle‘ nach der verwaltungstechnischen Abtragung des Anmeldeberges wieder abnehmen würde.23 Zunächst war die Direktion A aber mit umfangreichen formalen Tätigkeiten beschäftigt. Der breite, horizontale und vertikale Praktiken gleichermaßen umfassende Kontrollauftrag, der der Kommission von den Mitgliedstaaten erteilt worden war, machte aber baldige über den Text des Vertrags hinausgehende Klarstellungen notwendig, welche unternehmerischen Praktiken verboten waren und welche mit Freistellung rechnen konnten. Das Problem der Masse musste zeitnah bewältigt werden. G.2 LÖSUNG DES ‚MASSENPROBLEMS‘ – DREI WEGE G.2.a Personalaufstockung als eine erste Möglichkeit Ende April 1963 beantragte die Kommission beim Rat die Freigabe der blockierten Planstellen, da „die Vorausschätzungen, die die Kommission ihren Anträgen zugrunde gelegt hatte, bei weitem überschritten worden“ waren.24 Allein die rund 950 Anmeldungen von Altkartellen, die bis zum 1. November 1963 gemäß der verlängerten Frist eingegangen waren, hatten „nur infolge aussergewöhnlicher Leistungen des Personals der Generaldirektion Wettbewerb“ bearbeitet werden können.25 Dabei war es nur um die Sortierung, Klassifizierung und Registrierung der Anmeldungen gegangen. Die Kommission sah sich inzwischen außerstande, mit dem vorhandenen Personal der Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ weitere Schritte einer sachgerechten Beurteilung aller vorliegenden Anmeldungen durchzuführen. Angesichts der rund 36.000 Formulare bat die Kommission den Rat um eine beschleunigte Freigabe der im Oktober 1962 vom Rat blockierten Stellen und
von Anzeigen und Anträge vgl. McLachlan; Swann: Competition Policy in the European Community. S. 142–148. 23 Vgl. ZAR CM2 1964/252. Kommission: Generaldirektion für Wettbewerb. Vorbereitendes Dokument über Budgetfragen 1964 für die Kartellpolitik. Anlage zu einem Schreiben vom 25. September 1963 an den Rat. Dok.: 8505/IV/63-D. S. 4. 24 ZAR CM2 1963/165. Schreiben Hallstein an Präsident des Rates Schaus vom 29. April 1963. Übersetzung. Dok.: R/343/63 (FIN 20). 25 Vgl. ZAR CM2 1963/165. Freigabe der für die Direktion „Kartelle und Monopole“ der Generaldirektion Wettbewerb gesperrten Planstellen (Mitteilung der Kommission an den Rat). Brüssel, 25. April 1963. Dok.: IV/Kommission(63) 134 endg. S. 3.
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kündigte eine Anfrage nach weiteren Planstellen im Rahmen eines Nachtragshaushaltes an.26 Als im Haushaltsausschuss des Rates im Mai 1963 über die Freigabe der Stellen beraten wurde, unterstützten allein die Niederländer den Antrag der Kommission vorbehaltlos. Die anderen fünf Mitgliedstaaten waren dazu nur unter dem Vorbehalt bereit, dass die Kommission sich verpflichtete, im laufenden Jahr keine weiteren Planstellen-Anträge für die GDIV zu stellen. Die Belgier sprachen sich gegen den dauerhaften Ausbau der Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ aus. Sie hielten nur deren vorübergehende Verstärkung für notwendig, da sie der Ansicht waren, die „akute Arbeitsbelastung“ würde wieder vorübergehen.27 Noch geringere Bereitschaft zeigten die Franzosen, die Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ durch eine Personalaufstockung zu entlasten und die Kommission bei Aktivitäten einer aktiven Wettbewerbspolitik, denen sie nur widerwillig zugestimmt hatten, zu unterstützen. Die Kommission sollte nach ihrem Willen zunächst nur die Hälfte der schon bewilligten – sprich ein Viertel der ursprünglich im Herbst 1962 von der Kommission beantragten – Stellen erhalten. Erst drei Monate später sollte die andere Hälfte freigegeben werden. Die Franzosen waren der Ansicht, das Problem sei durch die bessere Verteilung der vorhandenen und teilweise unbesetzten Planstellen innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb und durch Versetzungen zwischen den Direktionen zu lösen. Jedoch fanden sie keine Unterstützung und nach Diskussionen im Ausschuss der Ständigen Vertreter sah es zunächst so aus, als würde der Rat der Freigabe der Planstellen mit qualifizierter Mehrheit gegen das Votum der Franzosen zustimmen.28 Bis zur entscheidenden Ratssitzung hatten die Franzosen ihre Forderungen jedoch reduziert und wollten der Freigabe der Stellen unter dem Vorbehalt zustimmen, dass gleichzeitig der gesamte Personalbedarf der GDIV – sprich auch der der anderen Direktionen – für 1963 gedeckt und ein Nachtragshaushalt ausgeschlossen würde.29 Damit erklärte sich von der Groeben in der Ratssitzung Ende Mai 1963 einverstanden, so dass die Freigabe der im Oktober 1962 gebilligten Planstellen mit den Stimmen der Franzosen vom Rat beschlossen und die Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ um insgesamt 47 Planstellen erweitert wurde.30
26 Vgl. ebd.: S. 4. 27 ZAR CM2 1963/165. Vermerk. Betrifft: Von der EWG-Kommission für die Direktion „Kartelle und Monopole“ in der Generaldirektion“ IV „Wettbewerb“ beantragte Freigabe von Planstellen. Brüssel, 24. Mai 1963. R/420/63 (FIN 30). 28 Die Sitzungsunterlagen des Ratspräsidenten wiesen ihn darauf hin, dass das Thema „Freigabe der Planstellen für die Direktion ‚Kartelle und Monopole‘“ ein Tagesordnungspunkt der Kategorie B war, über den im AStV keine Einigkeit hatte erzielt werden können. Dem Präsidenten wurde eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit nach Artikel 148 vorgeschlagen. Vgl. ZAR CM2 1963/165. Note a l‘attention de la président. Brüssel, 29. Mai 1963. 29 Vgl. ZAR CM2 1963/165. Vermerk. Betrifft: Von der EWG-Kommission beantragte Freigabe von Planstellen für die Direktion „Kartelle und Monopole“ in der Generaldirektion“ IV „Wettbewerb“. Brüssel, 29. Mai 1963. R/437/63 (FIN 31). 30 Vgl. ZAR CM2 163/165. Extrait du process verbal de la 103ème session du Conseil de la C.E.E., tenue à Bruxelles, les 30 et 31. Mai 1963. Dok.: 811/63.
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Die personelle Verstärkung der Direktion ‚Kartelle und Monopole‘ war nur ein Weg, um das Massenproblem zu bewältigen. In der GDIV wollte man die rund 31.000 Anmeldungen und Anträge, die Vertriebsabkommen betrafen, stark bündeln. Um möglichst viele Einzelfallentscheidungen zu vermeiden, sollten hier viele vereinfachte Entscheidungen mit Gültigkeit für mehrere Anträge getroffen werden. Jedoch ging man im Herbst 1963 davon aus, dass auch danach noch eine ganze Reihe von Fällen übrig bleiben würde, die genauer untersucht werden müssten. Man kalkulierte, dass allein für die Bearbeitung der vorliegenden Fälle je zwei Mitarbeiter der vier Einzelfallabteilungen in den folgenden zwei bis drei Jahren beschäftigt wären. Die 4.000 Lizenzverträge waren quantitativ weniger, aber die Möglichkeit der Bündelung war aufgrund größerer Unterschiede geringer als bei den Alleinvertriebsabkommen. Man wollte sich hier soweit wie möglich des Hollerith-Lochkarten-Verfahrens bedienen, um ähnliche Fälle gleichzeitig bearbeiten zu können. Die übrig bleibenden 1.000 horizontalen Kartellabsprachen waren nach Auffassung der Kommission jene Absprachen, von denen die höchste Gefährdung für den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt ausging. Auf ihnen sollte der Schwerpunkt der Bearbeitung liegen. Die Direktion wollte einzelne Fälle aus Gruppen von Fällen durch Testentscheidungen zum Abschluss bringen, um später bei ähnlichen Fällen auf die gewonnenen Erkenntnisse zurückgreifen zu können. Aufgrund der bisherigen Erfahrung und der notwendigen eingehenden Analyse in den verschiedenen Phasen der Bearbeitung rechnete die Kommission hierbei mit einem Untersuchungszeitraum von rund zwei Jahren pro Fall. Auch nach der Aufstockung ihres Personals ging sie im Sommer 1963 davon aus, mit dem vorhandenen Personal 21 bis 35 dieser Fälle pro Jahr abschließend bearbeiten zu können.31 Das Problem der Masse bestand jedoch weiterhin. Da nicht jeder Einzelfall untersucht werden konnte, musste die Kommission einen anderen Modus finden, um die zahlreichen Anträge und Fälle schneller und umfassender bearbeiten und sich wieder den für die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes kritischen Unternehmenspraktiken annehmen zu können.32 G.2.b Ein Europäisches Kartellamt als organisatorische Lösung? Nach Ansicht von Bundeskartellamtspräsident Günther blieb der geringe Personalstand der Direktion A eine entscheidende Ursache dafür, dass die Kommission in den ersten Jahren nach dem Erlass der VO Nr. 17 nur wenige wettbewerbspolitische Entscheidungen traf. Anfang 1965 waren in der Direktion A lediglich rund 40 Beamte im Höheren Dienst tätig, während im Bundeskartellamt in Berlin Anfang September 1964 knapp 80 Beamte im Höheren Dienst beschäftigt
31 Vgl. ZAR CM2 1964/252. Kommission: Generaldirektion für Wettbewerb. Vorbereitendes Dokument über Budgetfragen 1964 für die Kartellpolitik. Anlage zu einem Schreiben vom 25. September 1963 an den Rat. Dok.: 8505/IV/63-D. S. 5. 32 Caspari, Manfred: Die Kartellpolitik der EG-Kommission. In: Gröner (Hrsg.): Wettbewerbsfragen der Europäischen Gemeinschaft. S. 61–75. S. 67.
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waren.33 Zum Jahreswechsel 1963/1964 hatte man sich auch im Bundeswirtschaftsministerium intensiv Gedanken darüber gemacht, wie eine wirksamere Rechtsdurchsetzung erreicht würde und wie auf das Massenproblem der Kommission zu reagieren war. Im Referat ‚Europäische zwischenstaatliche Wettbewerbspolitik, besonders Kartelle und Monopole‘ war man unzufrieden damit, wie in Brüssel die Prioritäten gesetzt wurden. Die Kommission sollte die anstehenden Kartellfragen schneller lösen und hierzu den mit der VO Nr. 17 eingerichteten Beratenden Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen, in dem die Mitgliedstaaten vertreten waren, häufiger einberufen. 1962 war es zu zwei, 1963 zu nur einer Beratung gekommen, wobei insgesamt nur fünf Fälle besprochen worden waren. Bereits im November 1962 hatte man der Generaldirektion den Vorschlag gemacht, mit Hilfe einer Gruppenfreistellung Teile des Massenproblems zu lösen, damit die Kommission sich endlich auf die wichtigeren Horizontalabsprachen konzentrieren konnte. Diese waren besonders geeignet, den Wirtschaftsverkehr zwischen den Staaten negativ zu beeinflussen. Zudem lanciert man in Bonn die Idee, die geplante Fusion der drei Exekutiven von EWG, EGKS und EURATOM dafür zu nutzen, die neue Kommission von Einzelfällen zu entlasten und „die Anwendung des Artikels 85 und 86 des Vertrags einem Europäischen Kartellamt“ zu übertragen.34 Die Idee einer solchen Behörde war bereits im Sommer 1961 noch während der Verhandlungen über die erste Durchführungsverordnung im Bundeskartellamt aufgekommen. In einer Formulierungshilfe für den Deutschen Bundestag war aus Berlin vorgeschlagen worden, dass das Parlament die Bundesregierung mit einer Untersuchung der Frage beauftrage, ob es recht- und zweckmäßig wäre „eine besondere Kartellbehörde der Gemeinschaft zu errichten,“ der die Aufgaben der Kommission übertragen würden, die sich aus den Artikeln 85 bis 90 EWGV und aus der Durchführungsverordnung gemäß Artikel 87 ergäben.35 Damals hatte die Idee im Bundeswirtschaftsministerium keine Unterstützung gefunden. Während der Leiter der Europaabteilung Meyer-Cording angesichts erster vager Formulierungen keine Bedenken gehabt hatte, war der Leiter der Grundsatzabteilung Langer der Einrichtung einer solchen Behörde entgegengetreten. Im Sommer 1961 gab er erstens zu bedenken, dass eine solche unabhängige Behörde im Gegensatz zu der Kommission an den nationalen Regierungen vorbei den Kontakt mit Unternehmen und Verbänden aufnehmen könnte. Zweitens befürchtete er, dass die Forderung nach einer Spezialbehörde für Wettbewerbsfragen Forderungen nach weiteren Spezialbehörden nach sich ziehen würde, was es in seinen Augen zu verhindern
33 Vgl. Günther, Eberhard: Europäische und Nationale Wettbewerbspolitik. In: Coing; Kronstein; Mestmäcker (Hrsg.): Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung. S. 279–318. S. 301f. 34 Vgl. BA B102/61693. Schr. Epphardt, EA4, an Unterabteilungsleiter EA am 3. Januar 1964. 35 Vgl. BA B102/134647. Günther an Erhard, Berlin 13. Juni 1961. Betr. Vorschlag der EWGKommission für eine erste Durchführungsverordnung zu den Art. 85 und 86 des EWGVertrages. Anlage S. 5.
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galt.36 Angesichts der sich abzeichnenden Arbeitsbelastung der GDIV in Brüssel, war es wieder opportun, diese Idee erneut zu erwägen. Von der Idee, die Kommission zu Gruppenausnahmen zu ermächtigen, hatte man hingegen im Februar 1964 in Bonn wieder weitgehend Abstand genommen. Dagegen sprach, dass, je nach Ausgestaltung einer solchen Ermächtigung, entweder die quantitative Entlastung zu gering gewesen wäre oder, wenn man dies vermeiden wollte, der Kommission die „Ermächtigung zur Rechtsetzung“ hätte übertragen werden müssen. Letzteres war mit dem Rechtssetzungsgrundsatz des Artikels 80 des Grundgesetzes nicht vereinbar.37 Die Kommission sollte Musterentscheidungen treffen, dem Rat eine Verordnung vorlegen, um bestimmte Typen von Absprachen pauschal von Artikel 85, Absatz 1 freizustellen und eine besondere Organisationseinheit schaffen, die sich mit Einzelfällen beschäftigen sollte. Gedacht war hier an spezielle ‚Wettbewerbskammern‘ innerhalb der Kommission, bestehend aus drei Beamten, die jeweils die komplette Zuständigkeit für Fälle erhalten und dem Gremium der Kommissare direkt Entscheidungsvorlagen liefern sollten. Da diese dann von den Kommissaren nur per schriftlichem Umlauf bestätigt werden sollten, bot dieser Vorschlag die Chance, das bisherige Verfahren zu straffen. Der bislang lange Instanzenweg, der bei jeder wettbewerbspolitischen Entscheidung und Zwischenentscheidung bis in das Gremium der Kommissare hinein führte, sollte dann nur noch einmal nötig sein.38 Langfristig verfolgte man im Bundeswirtschaftsministerium das Modell einer eigenständigen nachgeordneten Behörde nach dem Vorbild des Bundeskartellamts, der alle wettbewerbspolitischen Einzelfallentscheidungen übertragen werden sollten. Die Fusion der Gemeinschaften schien hierfür nun ein günstiger Zeitpunkt.39 Den Luxemburgern sollte als Entschädigung für den Umzug der Hohen Behörde der EGKS nach Brüssel ein Europäisches Kartellamt angeboten werden. Da die GDIV „nicht mehr zur ordnungsgemäßen Erledigung der zahlreichen Anträge imstande“ sei, so das Urteil aus der Europarechtsabteilung im Bundeswirtschaftsministerium, bestand im Frühjahr 1964 weiterhin „Interesse an der Errichtung eines Kartellamtes.“ Von der Groeben versuchte gleichzeitig im Kreis „der Kommission [...] vergeblich, für die Errichtung eines Kartellamtes ein-
36 Vgl. BA B102/134647. Vermerk von Epphardt E A 4 – 11878/61, Bonn, 15. Juni 1961. Betr. Vorschlag der EWG-Kommission zu einer ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des EWG-Vertrages. 37 Vgl. BA B102/395096. Vermerk von Peters, EA4, vom 12. Februar 1964, der am 14. Februar den Staatsekretären und dem Bundeskartellamtspräsidenten zuging. S. 3. 38 Zum diesem Gesamtkonzept besonderer europäischer Verfahrensabteilungen vgl. Steindorff: Durchsetzung des Wettbewerbsrecht in der EWG. S. 51–58; Günther: Europäische und Nationale Wettbewerbspolitik. S. 301–304; Holderbaum, Klaus: Chancen für eine Europäische Kartellbehörde? In: Europarecht 2 (1967). S. 116–133. S. 128–132. 39 Vgl. BA B102/395096. Vermerk von Peters, EA4, vom 12. Februar 1964 [...]. S. 8f.; Günther: Europäische und Nationale Wettbewerbspolitik. S. 302ff. Allgemein zur Einrichtung von nachgeordneten Behörden und speziell eines Kartellamtes vgl. auch: Everling, Ulrich: Zur Errichtung nachgeordneter Behörden der Kommission der Europäischen Gemeinschaft. In: Hallstein; Schlochauer (Hrsg.): Zur Integration Europas. S. 33–49. S. 38 und S. 44.
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zutreten.“40 In Bonn dachte man derweil darüber nach, ihn dabei durch einen offiziellen Vorschlag der Bundesrepublik zu unterstützen, setzte diesen Gedanken jedoch nicht um. Auch wenn man in Bonn im Spätsommer 1964 interministerielle Arbeitsgruppen bildete, um die Fusion der Exekutiven vorzubereiten und dabei auch den Plan eines europäischen Kartellamts berücksichtigte, war doch seit dem Sommer klar gewesen, dass das Interesse der Bundesregierung, im Fusionsvertrag „die Gründung eines Kartellamtes als nachgeordnete Behörde vorzusehen, von den übrigen Mitgliedstaaten abgelehnt“ wurde.41 Bereits seit Februar hatte sich abgezeichnet, dass die französische Seite der Idee einer neuen supranationalen Behörde skeptisch bis ablehnend gegenüber stand.42 Ein Europäisches Kartellamt deutscher, ordoliberaler Prägung war gegen die Interessen der anderen Mitgliedstaaten nicht durchzusetzen, so dass dieses Thema bei den Verhandlungen der Staaten über den Fusionsvertrag ab Herbst 1964 nur noch eine unbedeutende Rolle spielte.43 Die Idee eines Europäischen Kartellamtes wurde bis Ende der 1980er Jahre nicht mehr ernsthaft diskutiert.44 G.2.c ‚Befreiung‘ durch Gruppenfreistellung In der Kommission bereitete man im Winter 1963/1964 eine Verordnung nach Artikel 87 über die Anwendung des Artikels 85, Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und abgestimmten Verhaltensweisen vor, die dem Rat am 26. Februar 1964 vorlag. Der Verordnungsentwurf sah vor, dass der Rat der Kommission allgemein die Befugnis erteilen können sollte, nach eigenem Ermessen das Kartellverbot des Artikels 85, Absatz 1 auf Gruppen von Unternehmensvereinbarungen für nicht anwendbar zu erklären. Damit erbat sich die Kommission vom Rat genau die „Ermächtigung zur Rechtsetzung“, der man in Bonn schon allein aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zustimmen
40 Vgl. BA B102/61694. Vermerk von Everling, E2, vom 16. März 1964 für die Staatsekretärsitzung am 18. März 1964. Betr.: Implantation im Zusammenhang mit der Fusion der Organe. 41 BA B102/61695. Vermerk aus dem Grundsatzreferat IA2 vom 21. Juli 1964 für die Staatssekretärsitzung vom 27. Juli 1964. Betr.: Fusion der Gemeinschaften. 42 Vgl. BA B102/61693. Vermerk des Auswärtigen Amtes, LA 2, vom 13. Februar 1964. 43 Daran änderte auch der Beschluss der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 8. April 1965 nichts. Dieser enthielt in Artikel 3 den Hinweis auf „Organe mit richterlichen und quasi-richterlichen Aufgaben einschließlich der für die Wettbewerbspolitik zuständigen Stellen“, die in Luxemburg untergebracht werden sollten. Es kam jedoch nicht zur Ausgliederung entsprechender Befugnisse. Vgl. Holderbaum: Chancen für eine Europäische Kartellbehörde? S. 125. 44 Die Idee eines Europäischen Kartellamtes wurde Ende der 1980er Jahre von den Britten erneut aufgebracht und Mitte der 1990er Jahren von der Bundesrepublik nochmals lanciert; jedoch bis heute ohne Erfolg. Vgl. Cini, Michelle; McGowan, Lee: Competition Policy in the European Union. Basingstoke 1998. S. 220ff., Merker, Nils: Subsidiarität und Delegation. Anwendung der Artikel 85 EGV und Artikel 86 EGV durch die nationalen Kartellbehörden, Problematik des Artikels 85 III EGV und der ‚comfort letters‘. Berlin 1997. S. 407–432.
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konnte.45 In Bonn war man der Auffassung, dass das Massenproblem nicht dadurch zu lösen war, dass die Kommission ermächtigt würde, alle gleichlautenden Verträge von Unternehmen pauschal freizustellen. Man zog es vor, dass der Rat solche Vertragstypen festlegte, die allgemein keinen Anlass boten, nach Artikel 85, Absatz 1 gegen sie vorzugehen. Im Februar 1964 dachte man im Bundeswirtschaftsministerium daran, Lizenzverträge, die nach dem GWB in der Bundesrepublik erlaubt waren, und Alleinvertriebsabkommen, deren Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten nicht für schwerwiegend erachtet wurde, mit dieser Form des Typennegativattests bis auf weiteres vom Kartellverbot freizustellen.46 Im März 1964 wurde der Kommissionsvorschlag nach einer Vorbesprechung im Ausschuss der Ständigen Vertreter als so genannter ‚A-Punkt‘, der ohne Aussprache angenommen werden konnte, auf die Tagesordnung des Rates gesetzt, um an das Europäische Parlament und fakultativ an den WSA überwiesen zu werden. Beide um eine Stellungnahme gebetenen Gremien unterstützten nach Beratungen den Kommissionsvorschlag.47 Dies hinderte die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, einen eigenen Kompromissvorschlag durch ihre Sachverständigen ausarbeiten zu lassen, denn nicht nur die westdeutsche Regierung war mit dem Kommissionsvorschlag nicht einverstanden gewesen. Nur die Niederländer, die 1957 die Möglichkeit der Gruppenfreistellung kurz vor Abschluss der Verhandlungen durchgesetzt hatten, waren bereit, der Kommission die vollständige Kompetenz für Gruppenfreistellungen zu übertragen.48 Die Italiener vertraten die Position, dass vertikale Vereinbarungen grundsätzlich nicht unter das Kartellverbot des Artikels 85, Absatz 1 fallen würden, diese deshalb auch nicht nach Artikel 85, Absatz 3 davon freigestellt werden könnten und die vorliegende Verordnung damit gegenstandlos sei. Einer Verordnung, die nach ihrem Verständnis Artikel 85 zuwider lief, konnte die italienische Regierung nicht zustimmen.49 Gleiches galt auch für den von den nationalen Sachverständigen erarbeiteten Kompromissvorschlag, in den die Position des Bundeswirtschaftsministeriums Eingang gefunden hatte. Dieser bedeutete eine starke Veränderung des Kommissionsvorschlags, da die Mitgliedstaaten der Kommission nur die Befugnis erteilen wollten, bestimmte Alleinvertriebsabkommen und Lizenzverträge als Typen von Absprachen durch Gruppenausnahme vom Kartellverbot freizustellen. Damit konnte eine 45 Vgl. ZAR CM2 1965/4. Protokoll über die 158. Tagung des Rates der EWG am 2. Februar 1965. Brüssel, 6. August 1965. Dok.: 307/65 (MC/PV 2) rev. S. 27; BA B102/395096. Vermerk von Peters, EA4, vom 12. Februar 1964 [...]. S. 3. 46 Vgl. BA B102/395096. Vermerk von Peters, EA4, vom 12. Februar 1964 [...]. S. 3–6. 47 Vgl. HAEKB CEAB2 3439. Sprecher der Kommission. Informatorische Aufzeichnung, Brüssel, (o.D.) Februar 1965. Blatt 0023f.; ZAR CM2 1964/171. AStV. Entwurf einer Kurzniederschrift über die 291. Tagung vom 3. bis 6. März 1964. Brüssel, 16. März 1964. Dok.: 352/64 (RP/CRS 10). S. 7; ZAR CM2 1964/177. AStV. Entwurf eine Kurzniederschrift über die 324. Tagung am 16./17. und 21. Dezember 1964. Brüssel, 8. Januar 1965. Dok.: 1721/64 (RP/CRS 43). S. 12. 48 Vgl. ZAR CM2 1965/4. Protokoll über die 158. Tagung des Rates der EWG am 2. Februar 1965. Brüssel, 6. August 1965. Dok.: 307/65 (MC/PV 2) rev. S. 30. 49 Vgl. ebd.: S. 27.
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Lösung für 97 Prozent der Anmeldungen gefunden werden, die sich auf zweiseitige Wettbewerbsbeschränkungen bezogen.50 Jedoch fehlte im Rat die notwendige Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten zur Abänderung eines Kommissionsvorschlags. Nachdem die dem Ausschuss der Ständigen Vertreter Ende Januar 1965 vorliegenden Änderungsvorschläge der italienischen Regierung weder ganz noch teilweise Zustimmung bei den anderen Delegationen gefunden hatten, blieben die Italiener bei ihrer Ablehnung des Kompromissvorschlags der anderen fünf Länder.51 In der Ratssitzung am 2. Februar 1965 wurde unter französischer Präsidentschaft noch einmal deutlich, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten primär das Massenproblem lösen wollte, mit dem die Kommission durch die Bestimmungen der VO Nr. 17 konfrontiert war. Da dieses in erster Linie durch Alleinvertriebsverträge und Vereinbarungen über Erwerb oder Nutzung von gewerblichen Schutzrechten verursacht war, stimmten sie nur der Option von Freistellungsverordnungen für diese Gruppen von Vereinbarungen zu.52 Sie lehnten das wiederholt vorgebrachte Anliegen der Kommission ab, Rationalisierungsvereinbarungen von mittleren und kleineren Unternehmen beim Ein- und Verkauf sowie Spezialisierungsabkommen dieser Unternehmen, Vereinbarungen über die Aufstellung oder gleichmäßige Anwendung von Typen und Normen und Vereinbarungen zur gemeinsamen Forschung durch Gruppenfreistellungen fördern zu wollen und deshalb ebenfalls pauschal vom Kartellverbot freizustellen. Von der Groeben begründete das Anliegen der Kommission damit, dass die Unternehmen der Gemeinschaft schon zu diesem Zeitpunkt starker internationaler Konkurrenz aus dritten Ländern, allen voran den Vereinigten Staaten, ausgesetzt waren, so dass die Kommission mehrere Gruppen von Vereinbarungen vom Kartellverbot ausnehmen wollte. Zudem würde jede neue Verordnung über weitere Gruppenausnahmen in der Zukunft, wie es von Seiten der Mitgliedstaaten vorgeschlagen worden war, immer den langwierigen institutionellen Weg über die Anhörung des Europäischen Parlaments erfordern. Von der Groebens Interventionen blieben folgenlos. Mit Ausnahme der Italiener lehnten es die anderen fünf Regierungen ab, die gefundene Kompromisslösung aufzuschnüren.53 Der Staatssekretär im Außenministerium Cattani erklärte „die Verordnung als gegenstandslos“ für die italienische Delegation. Er sah keine Möglichkeit, von der grundsätzlichen Auf50 Von den 37.000 Anmeldungen, Anträgen und Beschwerden betrafen 556 mehrseitige Wettbewerbsbeschränkungen und 48 Beschwerden. Von den restlichen Anmeldungen und Anträgen waren 81 Prozent Alleinvertriebsabkommen, 16 Prozent Lizenzverträge und 3 Prozent sonstige Abkommen. Vgl. Siebter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, Juni 1964. S. 71ff. 51 Vgl. ZAR CM2 1965/93. AStV. Entwurf einer Kurzniederschrift über die 327. Tagung am 27./28. Januar 1965. Brüssel, 8. Februar 1965. Dok.: 143/65 (RP/CRS 3). S.16f. 52 Vgl. ZAR CM2 1965/4. Protokoll über die 158. Tagung des Rates der EWG am 2. Februar 1965. Brüssel, 6. August 1965. Dok.: 307/65 (MC/PV 2) rev. S. 26. 53 Vgl. ZAR CM2 1964/177. AStV. Entwurf eine Kurzniederschrift über die 324. Tagung am 16./17. und 21. Dezember 1964. Brüssel, 8. Januar 1965. Dok.: 1721/64 (RP/CRS 43). S. 12f.; ZAR CM2 1965/4. Protokoll über die 158. Tagung des Rates der EWG am 2. Februar 1965. Brüssel, 6. August 1965. Dok.: 307/65 (MC/PV 2) rev. S. 27f.
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fassung der italienischen Regierung abzurücken, dass Artikel 85 grundsätzlich nicht auf vertikale Vereinbarungen anzuwenden sei. Auch wenn mit dem Kompromissvorschlag das eigentliche Ziel der italienischen Regierung fast vollständig erreicht werden konnte, nämlich die Nichtanwendung des Kartellverbots auf vertikale Vereinbarungen, worauf ihn der niederländische Wirtschaftsminister Andriessen hinwies, war Cattani „nicht in der Lage“ entweder dem Kommissionsentwurf oder dem Kompromissvorschlag zuzustimmen.54 Nachdem sich alle anderen Delegationen für die Annahme des Kompromissvorschlags ausgesprochen hatten und gleichzeitig die Bereitschaft erkennen ließen, in der Zukunft weiteren Verordnungsvorschlägen der Kommission für Gruppenfreistellungen offen gegenüber zu stehen, erklärte von der Groeben „mit Rücksicht auf die faktischen Notwendigkeiten“ die Übernahme des Kompromissvorschlags als den eigenen, veränderten Kommissionsvorschlag. Die vertraglich vorgeschriebene Einstimmigkeit bei der Änderung von Kommissionsvorschlägen wurde so ausgehebelt. Nachdem deutlich geworden war, dass die Interessen der Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten nicht durchsetzbar waren, hatte die Kommission auf diese Art und Weise den Weg frei machen müssen, damit die Mehrheit der Staaten vertragsgemäß mit qualifizierter Mehrheit auf formalen Vorschlag der Kommission eine Verordnung über die Anwendung von Artikel 85, Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen erlassen konnte.55 Hätte sich die Kommission dem verweigert, wäre die Lösung des Massenproblems weiter verzögert worden und die Kommission hätte damit nicht im mehrheitlichen Interesse der ‚Herren der Verträge‘, ihrer Auftraggeber, gehandelt, was der konstruktiven Zusammenarbeit in der Zukunft hätte abträglich sein können. Die nun zur Abstimmung stehende Verordnung hatte zum Ziel, bestimmte Arten von Absprachen, die unter Artikel 85 fielen, allgemein vom Verbot auszunehmen, wenn die Kommission überzeugt war, dass diese stets die Ausnahmekriterien des Absatzes 3, des Artikels 85 erfüllten. Diese Absprachen sollten dann in der Regel auch von der Registrierungspflicht ausgenommen werden. Die Gruppenfreistellung konnte in Fällen, die zwar meistens, aber nicht immer freistellungswürdig waren, um die Auflage der Anmeldung ergänzt werden. Dann sollten diese Absprachen erst als genehmigt gelten, wenn die Kommission innerhalb von sechs Monaten keinen Widerspruch einlegte. Nach Ausarbeitung des Verordnungstextes in den vier Sprachen der Gemeinschaft beschloss der Rat in seiner 160. Sitzung am 2. März 1965 mit qualifizierter Mehrheit den von den Mitgliedstaaten ausgearbeiteten Kompromiss als Verordnung Nr. 19/65 des Rates. Die Italiener wurden mit ihrer Rechtsauffassung überstimmt.56 Mit dieser Verordnung ermächtigten die Mitgliedstaaten die Kommission dazu, bestimmte Alleinvertriebsabkommen gemäß Artikel 1, Absatz 1a und Ver54 ZAR CM2 1965/4. Protokoll über die 158. Tagung des Rates der EWG am 2. Februar 1965. Brüssel, 6. August 1965. Dok.: 307/65 (MC/PV 2) rev. S. 29f. 55 Vgl. ebd.: S. 31. 56 Vgl. ZAR CM2 1965/13. Protokoll über die 160. Tagung des Rates der EWG am 1./2. März 1965. Brüssel, 30. Juli 1965. Dok.: 311/65 (MC/PV 4) rev. S. 22.
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einbarungen über den Erwerb und die Nutzung von gewerblichen Schutzrechten gemäß Artikel 1, Absatz 1b vom Kartellverbot durch eigene Verordnung auszunehmen.57 Auf dieser Basis erließ die Kommission am 22. März 1967 mit ihrer Verordnung Nr. 67/67 „die erste bahnbrechende Gruppenfreistellung“ und befreite sich damit auf einen Schlag von „rund 25.000 Notifizierungen.“58 Für einfache Alleinvertriebsverträge ohne Gebietsschutz galt nach den in der Verordnung aufgeführten Kriterien fortan eine pauschale Ausnahme von Artikel 85, Absatz 1.59 Erst 1971 sollte der Rat die Kommission dazu ermächtigen, weitere Gruppenfreistellungen für Vereinbarungen über Typen und Normen, über gemeinsame Forschung und Entwicklung und zur Spezialisierung durchzusetzen.60 Diese nutzte die Kommission rund ein Jahr später, um eine Gruppenausnahme für Spezialisierungsabkommen zu erklären.61 Mit der Ermächtigung zur Gruppenausnahme korrigierten die Staaten faktisch zum großen Teil eine Entscheidung, die sie in den Verhandlungen über die VO Nr. 17 getroffen hatten. Um zu einer Einigung zu kommen, hatten die Mitgliedstaaten damals auf Wunsch der Franzosen auch die vertikalen Alleinvertriebsabkommen gegen den Willen der Kommission der Anmeldepflicht unterworfen und damit das Massenproblem zu einem großen Teil mitverantwortet. Dieses hinderte jedoch die Direktion A anfänglich daran, gegen die für den Wettbewerb schwerwiegenderen Kartelle vorzugehen. Jene Abkommen, die die Kommission in der Durchführungsverordnung hatte von der Anzeigepflicht ausnehmen wollen, konnten nun durch Verordnung der Kommission von Artikel 85, Absatz 1 pauschal freigestellt werden. Das im letzten Moment der Vertragsverhandlungen 1957 auf Wunsch der Niederländer in den Artikel 87 des EWG-Vertrags aufgenommene Instrument der Gruppenausnahme ermöglichte es nun, die intergouvernementale Fehlentscheidung zugunsten einer einstimmigen Verabschiedung der 57 Vgl.: Verordnung Nr. 19/65/EWG des Rates vom 2. März 1965 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz (3) des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1064–1968. S. 1065f. 58 Caspari: Kartellpolitik der EG-Kommission. S. 69. 59 Zur Verordnung Nr. 67/67 vgl. Verordnung Nr. 67/67/EWG der Kommission vom 22. März 1967 über die Anwendung von Artikel 85, Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von Alleinvertriebsvereinbarungen. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1069–1074. Mestmäcker: Europäisches Wettbewerbsrecht. S. 330– 337. 60 Vgl. Artikel 1, Verordnung Nr. 2821/71 des Rates vom 20. Dezember 1971 über die Anwendung von Artikel 85, Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1105–1109. S. 1107. 61 Vgl. Verordnung Nr. 2779/72 der Kommission vom 21. Dezember 1972 über die Anwendung von Artikel 85, Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen. Abgedr. in: Groeben; Boeckh; Thiesing (Hrsg.): Kommentar zum EWG-Vertrag. Band 1. S. 1109–1113. Zur Gruppenfreistellung der Spezialisierungsabkommen vgl. Mestmäcker: Europäisches Wettbewerbsrecht. S. 339–343. Zu weiteren Praxis der Gruppenfreistellungen vgl. Caspari: Kartellpolitik der EG-Kommission. S. 69ff.; Merker: Subsidiarität und Delegation. S. 124–135.
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VO Nr. 17 wieder rückgängig zu machen; wenn auch nicht in der Rechtswirkung, so doch in Hinblick auf die Praxis der Wettbewerbspolitik. Die Arbeitsfähigkeit der Kommission als Exekutive konnte somit teilweise wieder hergestellt werden. Gleichzeitig wurde aber bei der Entscheidung über die Gruppenausnahme deutlich, welche Ebene in der EWG die endgültige Legislativgewalt hatte. Den Inhalt der Ermächtigung zur Gruppenausnahme hatten allein die Mitgliedstaaten bestimmt. Das Ansinnen der Kommission, ihr pauschal Rechtssetzungsbefugnisse zu erteilen, hatten die Mitgliedstaaten zurückgewiesen und die Kommission sah sich am Ende genötigt, dem Kompromiss der Staaten zuzustimmen. Gleichzeitig hatte die Mehrheit der Mitgliedstaaten mit dieser Entscheidung den Vertrag in eine bestimmte Richtung ausgelegt. Die in ihrer Rechtsauffassung überstimmten Italiener wählten jedoch den von allen Staaten gemeinschaftlich vorgesehenen und im EWG-Vertrag festgeschriebenen Weg, um mögliche Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder den Organen der Gemeinschaft durch ein Schiedsgericht klären zu lassen. Sie erhoben Klage gegen den Rat vor dem EuGH, der damit seine wichtige Funktion im System der Europäischen Gemeinschaft und damit auch für die Durchsetzung der Wettbewerbspolitik unter Beweis stellen konnte. G.3 ENTSCHEIDUNGEN DER KOMMISSION ALS SIGNAL FUNKTIONIERENDER KARTELLAUFSICHT Nachdem 1963 der erste Schritt zur Bewältigung des Antragsbergs getan war und eine erste Systematisierung abgeschlossen werden konnte, nahm die Kommission 1964 erstmals ihre Aufgabe als Entscheidungsinstanz in der Wettbewerbspolitik wahr. Die ersten drei wettbewerbspolitisch relevanten Entscheidungen der Kommission waren Negativatteste. Alle wurden für zweiseitige Vereinbarungen ausgesprochen, an denen ein Unternehmen beteiligt war, das seinen Sitz nicht in einem Staat der EWG hatte.62 Gegenstand des ersten Falls ‚Grosfillex-Fillistorf‘ war ein Ausschließlichkeitsvertrag zwischen dem französischen Produzenten von Haushalts- und Hygieneartikeln Grosfillex mit dem schweizer Händler Fillistorf über das Verbot der Wiedereinfuhr in den Gemeinsamen Markt. Im zweiten Fall bestand ein Vertrag zwischen dem amerikanischen Hersteller von Fahrzeugteilen Bendix und dem belgischen Händler Maertens & Straet über deren Vertrieb in Belgien, der jedoch keinen Gebietsschutz und keine Ausschließlichkeit vorsah. Im Fall ‚Nicolas Frères-Vitapro‘ wurde die Verwendung eines Warenzeichens nach der Übereignung von Unternehmensteilen des französischen Herstellers von Haarkosmetik an die englische Firma Vitapro im Gemeinsamen Markt untersagt. Mit den Negativattesten in diesen drei Fällen vertrat die Kommission ihren Standpunkt, dass die Anwendung des Artikels 85 prinzipiell auch dann möglich 62 Für alle drei Fälle vgl. HAEKB CEAB2 3439. Sprecher der Kommission. Informatorische Aufzeichnung. Kartelle und Monopole. Brüssel, (o.D.) November 1965. P/69. Blatt 075– 0085. Blatt 0082.
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war, wenn Vertragsparteien nicht in einem Mitgliedstaat ansässig, aber Auswirkungen der Vereinbarungen auf dem Gemeinsamen Markt zu spüren waren. In allen drei Fällen ließ die Kommission jedoch die Frage offen, ob die betreffenden Absprachen zu diesem Zeitpunkt ihrer Meinung nach eine spürbar behindernde, beschränkende oder verfälschende Wirkung auf den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt hatten. Diese Aspekte prüfte sie überhaupt nicht, da alle drei Abkommen nicht den Tatbestand erfüllten, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern.63Auch das vierte Negativattest für ‚Dutch Engineers and Contractors Association (DECA)‘, über das die Kommission am 22. Oktober 1964 entschied, hatte für die Wettbewerbspolitik im Gemeinsamen Markt nur nachrangige Bedeutung. Die DECA war eine Vereinbarung niederländischer Baufirmen zur Ausführung von Bauaufträgen, die auch im Namen deutscher, belgischer und italienischer Baufirmen handelten. Da sich diese Vereinbarung jedoch nur auf die Erbringung von Dienstleistungen außerhalb des Gemeinsamen Marktes bezog, war eine Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten auch in diesem Fall nicht gegeben. Die anfänglichen Bedenken in der Wirtschaft in Bezug auf die Rechtssicherheit, die zu sehr viel mehr Anträgen auf Freistellung denn auf Negativatteste geführt hatten, blieben auch in den folgenden Jahren bestehen. Mit dem Negativattest wurde nur förmlich die neutrale Haltung der Kommission festgehalten, jedoch ohne dass es zu einer echten Entscheidung kam. Eine Rechtswirkung bestand nur von der Kommission zum Empfänger. Eine Rechtswirkung vor nationalen Gerichten wurde mehrheitlich verneint, gegenüber nationalen Kartellbehörden blieb sie umstritten.64 Insgesamt blieb das Negativattest trotz seiner positiven Informationskraft für Unternehmen gegenüber der Kommission aufgrund der mangelhaften Rechtssicherheit gegenüber Dritten ein wenig angewendetes Instrument der Wettbewerbspolitik. Ihm kam bei der Durchsetzung der Wettbewerbspolitik über die Jahre eine „schrumpfende Bedeutung“ zu, zumal der formale Aufwand zum Erlass eines Negativattestes in keinem Verhältnis zu seiner eher deklaratorischen Wirkung stand.65 Für die weitere Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik seit Mitte der 1960er Jahre bekam jedoch die erste Entscheidung gegen eine Absprache im September 1964 große Bedeutung. Die Kommission teilte einigen Unternehmen, die an einem kollektiven Ausschließlichkeitssystem beteiligt waren, auf Basis vorläufiger Prüfungen der Unterlagen mit, dass sie deren Verhalten für nicht vereinbar mit Artikel 85 hielte. Eine Freistellung war nach Auffassung der Kommission nicht möglich. In einem ähnlich gelagerten Fall einer kollektiven Ausschließlichkeitsvereinbarung hatte die Empfehlung der Kommission an die ‚Convention Faince‘ im Mai 1964 dazu geführt, dass diese ihr Verhalten angepasst hatte.66 In dem am 23. September 1964 von der Kommission entschieden Fall war 63 64 65 66
Vgl. Günther: Europäische und Nationale Wettbewerbspolitik. S. 290f. Vgl. Merker: Subsidiarität und Delegation. S. 136f. Zur Praxis der Kommission bei Negativattesten in den folgenden Jahren vgl. ebd.: S. 142. Vgl. HAEKB CEAB2 3439. Porte-Parole de la Commission. Note d’information. Bruxelles, (o.D.) janvier 1965. P/1. Blatt 0005–0014. Blatt 0010. HAEKB CEAB2 3438. Sprecher der
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es jedoch nicht dazu gekommen. Die Kommission verbot mit ihrer Entscheidung eine Ausschließlichkeitsvereinbarung zwischen dem deutschen Produzenten von elektrotechnischen Geräten Grundig und dem französischen Händler Consten, da sich Grundig verpflichtet hatte weder direkt noch indirekt andere Abnehmer in Frankreich zu beliefern und der Firma Consten ein Exportverbot für GrundigProdukte auferlegt worden war.67 Diese als Grundig/Consten-Fall in die Geschichte eingegangene erste wettbewerbspolitische Entscheidung der Kommission war auch Anlass für eine der ersten wegweisenden Entscheidungen des EuGH 1966, da beide Firmen gegen die Entscheidung klagten. 1965 erteilte die Kommission zum ersten Mal gemäß Artikel 85, Absatz 3 Ausnahmegenehmigungen von Artikel 85, Absatz 1. Dabei handelte es sich um die drei Fälle ‚DRU-Brondel‘, am 8. Juli entschieden, ‚Hummel-Isbeque‘ vom 17. September und ‚Jallatte-Voss‘ und ‚Jallatte-Vandeputte‘ mit der Entscheidung vom 17. Dezember 1965.68 In allen drei Entscheidungen befand die Kommission, dass die jeweiligen Alleinvertriebsverträge keinen absoluten Gebietsschutz beinhalteten und somit vom Verbot des Artikels 85, Absatz 1 freigestellt werden könnten. Da keines dieser Abkommen den Parallelimport beschränkte, errichteten sie auch keine privaten Handelsschranken im Gemeinsamen Markt. Parallel zu diesen Entscheidungen nutzte die Kommission wiederholt das Instrument der Empfehlung und der Mitteilung, wenn sie zu der Auffassung gelangt war, dass das Handeln der Unternehmen nicht mit Artikel 85 vereinbar war. In den ersten beiden Jahren, 1964 und 1965, teilte sie Unternehmen in sechs Fällen ihre Rechtsauffassung über die jeweiligen Vereinbarungen mit und gab ihnen die Möglichkeit, ihr Verhalten anzupassen. Die erste Entscheidung der Kommission aufgrund von Artikel 86 fiel erst 1971 gegen das amerikanische Unternehmen ‚Continental Can‘, dem sie die Ausnutzung der wirtschaftlichen Machtstellung auf dem Markt für Blechverpakkungen in Europa untersagte.69 Der Artikel 86 hatte aber auch schon zuvor Wirkung gezeigt, da viele Unternehmen sich bereits an die Vorgaben des Gesetzes angepasst hatten. In einigen Fällen hatten Unternehmen nach Beginn von Untersuchungen durch die Kommission ihr Verhalten verändert. Die allgemein zunehmende Konzentration in der Wirtschaft hatte die Kommission bereits früh als Problem für den Wettbewerb erkannt.70 Sie hatte jedoch auf diesem Gebiet sehr zurückhaltend agiert, da die häufig geäußerten Definitionsprobleme im Zusammenhang mit dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung weiter bestan-
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Kommission. Mitteilung an die Presse. Brüssel, 16. September 1964. IP (64) 145. Blatt 0147; Günther: Wege zur europäischen Wettbewerbsordnung. S. 133. Vgl. HAEKB CEAB2 3439. Sprecher der Kommission. Informatorische Aufzeichnung. Kartelle und Monopole. Brüssel, (o.D.) November 1965. P/69. Blatt 075–0085. Blatt 0082. Vgl. HAEKB BAC25 1980/933. Porte-Parole de la Commission. Note d’information. Ententes et Monopoles. Bruxelles, le novembre 1966. P-60. Blatt 0182–0191. Blatt 0191. Zu diesem Fall vgl. Schmidt; Schmidt: Europäische Wettbewerbspolitik. S. 63f. Vgl. HAEKB CEAB3 476: Blatt 093–112. „Das Kartellrecht de Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Lichte zweijähriger Erfahrung“. Redemanuskript von der Groebens vor der Internationalen Kartellrechtskonferenz, Frankfurt am Main, vom 7. bis 11. Juni 1960. X/3237/60-D. Blatt 101.
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den. Zudem herrschte Unsicherheit hinsichtlich der Rückendeckung einer weiten Rechtsauslegung durch den EuGH.71 Erst im Januar 1966 gab die Kommission bekannt, dass sie externe Konzentrationsstrategien, die zur Monopolisierung von Märkten führen würden, künftig unter dem Aspekt des Missbrauchs marktbeherrschender Stellung untersuchen und somit Artikel 86 im Zweifel auch zur Konzentrations- und Monopolkontrolle einsetzen würde. Sie wollte „solchen Zusammenschlüssen entgegentreten, die zur Monopolisierung eines Marktes“ führten, da eine vollständige Ausschaltung des Wettbewerbs als Missbrauch von Marktmacht interpretiert werden müsste.72 Ähnlich wie in der Bundesrepublik zeigte sich im Gemeinsamen Markt das Ausweichen der Unternehmen auf die externe Konzentrationsstrategie als Folge des Kartellverbots, da dies nicht durch eine ebenso scharfe Fusionskontrolle flankiert war. Auf europäischer Ebene wurde dieser Mangel der institutionellen Ausgestaltung des Wettbewerbs- und Kartellrechts, trotz eines Verordnungsvorschlags der Kommission 1973, erst Jahre später durch den Beschluss des Rates am 21. Dezember 1989 durch die Verordnung Nr. 4064/89 des Rates behoben.73 Mit der Anwendung der Artikel 85 und 86 und der VO Nr. 17 durch die Kommission und den EuGH nahm die europäische Wettbewerbspolitik Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre immer mehr Gestalt an. Gleichzeitig versuchten aber auch immer mehr angemahnte Unternehmen durch Verhandlung mit der Kommission einvernehmliche Lösungen für notwendige Anpassungen ihres Verhaltens an das europäische Wettbewerbsrecht zu finden. So wurden Entscheidungen der Kommission oder Prozesse vor dem EuGH vermieden und der Ermessensspielraum der Kommission erweitert. Hallstein kritisierte später an dieser Entwicklung, dass darunter die rechtsstaatlich-öffentliche Kontrolle durch die Kommission litt.74 Jeder Ordoliberale hätte Hallstein darin zugestimmt, dass die Ausrichtung der Entscheidungen am rechtlich festgelegten Ordnungsrahmen Vorrang haben müsste vor auf vertraulichem Weg zwischen Unternehmen und Bürokratie ausgehandelten Kompromissen. Zudem waren Entscheidungen und deren Veröffentlichung von hohem Wert für die Wirtschaftssubjekte, die daran ihr zukünftiges Verhalten anpassten, und damit auch für die Durchsetzung der neuen europäischen Wettbewerbspolitik sorgten. Dass die Mehrheit der Unternehmen jedoch zunächst den Verhandlungsweg wählte, verwundert angesichts der wirtschaftspolitischen Traditionen und der Ausrichtung der Wettbewerbspolitik am Maßstab des wirtschaftspolitischen Allgemeininteresses in fünf der sechs Mitgliedstaaten nicht. Zunächst verhielten sie sich gegenüber der neuen europäischen Wettbewerbspolitik so, wie sie es national gewohnt waren. Langfristig trug die 71 Vgl. Gerber: Law and Competition. S. 356f. 72 HAEKB CEAB2 3439. Sprecher der Kommission. Informatorische Aufzeichnung. Unternehmenskonzentration im Gemeinsamen Markt. Brüssel, (o.D.) Januar 1966. P/1. Blatt 0189– 0192. (Herv. i. O.); Neunter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Brüssel, Juni 1966. S. 77–81. 73 Zum Fusionskontrollverfahren vgl. Schmidt; Schmidt: Europäische Wettbewerbspolitik. S. 64–67. 74 Vgl. Hallstein, Walter: Die Europäische Gemeinschaft. Düsseldorf, Wien 1973. S. 123.
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Kommission jedoch mit ihrem Verhalten zur Entwicklung einer eigenen europäischen Wettbewerbspolitik bei, die eben nicht die Übernahme einer wettbewerbspolitischen Konzeption eines Landes war, sondern eine Mischung der unterschiedlichen wettbewerbspolitischen Traditionen der Mitgliedstaaten. Inwieweit die Kommission zu der von Hallstein kritisierten Entwicklung aktiv beitrug, ob sie nur auf die Nachfrage der Unternehmen reagierte oder durch die unzureichenden, von den Staaten durch Kompromisse und Linkages gestalteten Institutionen dazu gezwungen war, war 1966 noch nicht absehbar und bleibt an dieser Stelle offen. Manche Ausprägungen der Entscheidungspraxis und die Art und Weise der Durchsetzung der Kartell- und Wettbewerbspolitik der Kommission boten in den folgenden Jahren wieder Anlass für Kritik. Merker kam 1997 zu dem Ergebnis, dass auf die Bewältigung des Massenproblems in den 1960er Jahren in den 1970er Jahren eine Phase der Konsolidierung und des weiteren Aufbaus folgte. In dieser überwog die Tendenz, zahlreiche Fälle durch Verhandlungen in den Ausnahmebereich des Absatzes 3 des Kartellverbots zu verschieben. Erst in den 1980er Jahren nahmen die Einzelfallentscheidungen nach Artikel 85, Absatz 1 zu und das Instrument der formlosen Verwaltungsschreiben wurde verstärkt angewendet. Gleichzeitig wurden Gruppenfreistellungsverordnungen zunehmend genutzt. Im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes in den 1980er Jahren kam die Praxis auf einzelne Sektoren der Wirtschaft von der Kontrolle des Wettbewerbs auszuklammern. Gleichzeitig gelangte die europäische Wettbewerbspolitik zu neuer Durchsetzungskraft.75 Jedoch war erst 1966 zu erkennen, dass eine Anwendung und Durchsetzung der zwischen den Staaten vereinbarten Wettbewerbsregeln durch die Kompetenzübertragung an die Kommission für die Zukunft gesichert war. Trotz der Anstrengungen der Kommission trat die Anwendung von Artikel 86 zunächst in den Hintergrund. Auch wenn die Mehrheit der Staaten stets gefordert hatte, dass Artikel 85 und 86 gleichmäßig angewendet werden müssten, befand sich die Kommission auf diesem Feld Mitte der 1960 noch im Vorbereitungsstadium. Im Gegensatz zu den Jahren 1958 bis 1962 merkten aber die Unternehmen nun, dass die europäischen Wettbewerbsregelungen direkte Rechtskraft für sie entfalteten und dass ihre Vertragsfreiheit zugunsten der Wettbewerbsfreiheit eingeschränkt war.
75 Vgl. Merker, Nils: Subsidiarität und Delegation. S. 31; Gillingham: European Integration 1950–2003. S. 250–255.
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G.4 DIE BESTÄTIGUNG DER EUROPÄISCHEN WETTBEWERBSORDNUNG – DIE URTEILE DES EUGH VON 1966 Der Europäische Gerichtshof fällte zwei Monate nach der abschließenden Entscheidung über die VO Nr. 17 im so genannten Bosch-Fall sein erstes Urteil zu einem Fall, der den Artikel 85 des EWG-Vertrags betraf.76 Der EuGH war vom Appellationsgericht in Den Haag zu einer Vorabentscheidung nach Artikel 177 EWG-Vertrag dazu aufgefordert worden, ob das Exportverbot, das die Bosch GmbH mit ihren deutschen Abnehmern vereinbart hatte, nach Artikel 85, Absatz 2 nichtig war, soweit es die Ausfuhr nach Holland betraf. Hintergrund war der Schutz eines niederländischen Generalimporteurs für alle Boscherzeugnisse, der eine Absatz- und Kundendienstorganisation aufgebaut hatte. Der Fall kam vor Gericht, als Grundig und der Generalimporteur die niederländische Firma ‚Kledingverkoopbedrijf de Geus en Uitdenbogerd‘, die Bosch-Kühlschränke von deutschen Händlern trotz Exportverbots kaufte und in die Niederlande importierte, auf Unterlassung und Schadenersatz verklagten. Die eigentliche Frage, ob das Exportverbot unter Artikel 85, Absatz 1 fiel, entschied der EuGH nicht, da er hierzu Tatsachenermittlungen hätte vornehmen müssen, wozu er in Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EWGV nicht befugt war. Gleichwohl erklärt der EuGH, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass ein derartiges Exportverbot unter Artikel 85, Absatz 1 fallen könnte. Damit bildete dieses Urteil eine sehr gute Grundlage für weitere Entscheidungen der Kommission in ähnlichen Fällen. Sowohl Exportverbote zum Schutz ausländischer Generalimporteure in anderen Mitgliedstaaten als auch Reimportverbote für ausländische Abnehmer zum Konkurrenzschutz inländischer Abnehmer und damit auch zum Schutz des inländischen Preises konnte die Kommission nun unter der Vorgabe prüfen, ob sie grundsätzlich unter Artikel 85, Absatz 1 fallen könnten. Darüber hinaus entschied der EuGH mit dem Bosch-Urteil zwei grundsätzliche Auslegungsfragen. Zunächst stellte er mit diesem Urteil fest, dass Artikel 85 des Vertrags für horizontale und ebenso für vertikale Abkommen galt. Sehr viel wichtiger war jedoch die grundsätzliche, höchstrichterliche Bestätigung der Rechtsauffassung der Kommission und einer Mehrheit der Mitgliedstaaten, dass Artikel 85 mit Inkrafttreten des Vertrags anwendbar war. Indem die Mitgliedstaaten mit den Artikeln 88 und 89 Zuständigkeiten für die Anwendung des 76 Vgl. Rechtssache 13/61: Antrag auf Vorabentscheidung im Sinne von Artikel 177 des EWGVertrags, enthalten in dem Urteil des Appellationshofes Den Haag vom 30. Juni 1961 in dem Rechtsstreit Kledingverkoopbedrijf de Geus en Uitdenbogerd gegen 1. Robert Bosch GmbH, 2. N. V. Maatschappij tot Voortzetting van de Zaken der Firma Willem van Rijn. Urteil vom 6. April 1962. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung. Band VIII. S. 95–118; Koenigs, Folkmar: Hauptreferat: Kartelle. In: Institut für das Recht der Europäischen Gemeinschaft der Universität zu Köln (Hrsg.): Zehn Jahre Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft. S. 273–295. S. 293ff.
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Artikels 85 an nationale Behörden und an die Kommission übertragen hatten, gingen sie von der Anwendbarkeit des Kartellverbots mit Inkrafttreten des Vertrags aus, das damit unmittelbar geltendes und für Unternehmen verbindliches Recht war.77 Der EuGH fand klare Worte hinsichtlich der mangelhaften Anwendung des Artikels 85 vor dem Inkrafttreten der VO Nr. 17. Weder hätten die nationalen Behörden gemäß Artikel 88 noch die Kommission gemäß Artikel 89, Absatz 2 hätten von den dort dargelegten Rechten und Pflichten Gebrauch gemacht.78 Das Gericht lehnte zudem die Ermächtigungsthese ab, nach der Nichtigkeit erst nach Entscheidungen der Kommission oder nationaler Behörden einträte. Nach Auffassung des EuGH bildeten Absatz 1 und Absatz 3 eine Einheit, woraus der Schluss erging, dass eine Nichtigkeit gemäß Absatz 1 solange nicht für ein Kartell erklärt werden könnte, wie nicht eine Freistellung nach Absatz 3 möglich war. Da jedoch bis zum Inkrafttreten der VO Nr. 17 am 13. März 1962 keine ausdrückliche und eindeutige Zuständigkeitszuweisung für die Freistellungsentscheidung gemäß Artikel 85, Absatz 3 erfolgt war, konnte Nichtigkeit nur für jene Altkartelle gelten, für die die Kommission oder nationale Behörden darüber vor dem 13. März 1962 entschieden hatten.79 Insgesamt bestätigte der EuGH zwei Wochen nach Verabschiedung der VO Nr. 17, dass alle Kartelle, die unter den Artikel 85, Absatz 1 fielen, nach Absatz 2 nichtig waren, ohne dass hierzu eine Entscheidung einer Behörde notwendig war. Dieser Grundsatz war kurz zuvor in Artikel 1 der VO Nr. 17 festgeschrieben worden. Eine schnellere, wenn auch indirekte, Bestätigung einer grundlegenden Ausrichtung der VO Nr. 17 konnten sich Kommission und Mitgliedstaaten nicht wünschen, um so bald wie möglich zu einer rechtlich abgesicherten Wettbewerbspolitik zu kommen. Die nächsten Urteile, die direkt im Zusammenhang mit der Wettbewerbspolitik standen, fällte der EuGH im Sommer 1966. Am 13. Juli verkündete er in den beiden bereits angesprochen Fällen die für die weitere Wettbewerbspolitik zentralen Urteile. Er entschied in beiden Fällen für die Organe der EWG und wies damit sowohl die Klage der Republik Italien gegen den Rat als auch die Klage der Firmen Grundig und Consten gegen die Kommission ab. Im Grundig/Consten-Fall bestand seit dem 1. April 1957 eine Vereinbarung zwischen der deutschen Firma Grundig und der französischen Firma Consten, mit der Consten das Alleinvertriebsrecht von Rundfunk- und Fernsehgeräten der Firma Grundig für Frankreich zugestanden wurde. Consten hatte sich verpflichtet, keine vergleichbaren Produkte anderer Hersteller zu vertreiben und keine Grundigprodukte zu exportieren. Im Gegenzug gewährte Grundig einen vollständigen Gebietsschutz. Alle anderen Abnehmer von Grundig mussten garantieren, keine Produkte nach Frankreich zu exportieren. Grundig hatte diesen Ausschließlichkeitsvertrag mit 77 Vgl. HAEKB BAC28 1988/39. Der Rat. Informatorische Aufzeichnung. Betr.: Auslegung des Artikels 85 des Vertrags zur Gründung der EWG; Urteil der Gerichtshofs in der Rechtssache Bosch. Brüssel, 13. April 1962. 495/62 (AG 97). Blatt 0333–0336. Blatt 0335. 78 Vgl. Merker: Subsidiarität und Delegation. S. 19f. 79 Vgl. HAEKB BAC28 1988/39. Der Rat. Informatorische Aufzeichnung. Betr.: Auslegung des Artikels 85 der Vertrags zur Gründung der EWG; Urteil der Gerichtshofs in der Rechtssache Bosch. Brüssel, 13. April 1962. 495/62 (AG 97). Blatt 0333–0336. Blatt 0336.
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Consten bei der Kommission gemeldet. Das Verbot von Parallelimporten nach Frankreich war Anlass für die Kommission, dieses Vereinbarung für nicht vereinbar mit Artikel 85 des Vertrags zu erklären und die Freistellung vom Kartellverbot zu versagen. Beide Firmen waren nicht bereit gewesen diese Entscheidung anzuerkennen und hatten gegen die Kommission geklagt80 Der Gerichtshof bestätigte in seinem Urteil vom 13. Juli 1966 die Entscheidung der Kommission. „Eine zwischen einem Hersteller und einem Vertriebunternehmen abgeschlossene Vereinbarung, die darauf abzielt, die nationalen Schranken im Handel zwischen den Mitgliedstaaten wiederaufzurichten, könnte [...] den grundlegenden Zielen der Gemeinschaft zuwiderlaufen“, stellte der EuGH fest.81 Da die betreffende Vereinbarung darauf abzielte, den französischen Markt für Grundig-Erzeugnisse abzuschließen und innerhalb der Gemeinschaft getrennte Märkte „für Erzeugnisse einer weitverbreiteten Marke künstlich aufrechtzuerhalten“ erklärte er sie als nicht mit dem EWG-Vertrag vereinbar.82 Dazu stellte der EuGH fest, dass die bloße Möglichkeit einer Wettbewerbsverfälschung ausreichend sei, um das europäische Kartellrecht zum Einsatz zu bringen. Der Nachweis einer Wettbewerbsbeschränkung musste von der Kommission nicht erbracht werden. Es reichte aus, dass die unternehmerische Vereinbarung dazu geeignet war, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Mit dieser Entscheidung stärkte der EuGH der Kommission für ihre zukünftige Arbeit den Rücken.83 Der EuGH stellte die Erhaltung des Wettbewerbs über die Vertragsfreiheit der Unternehmen. Die Unvereinbarkeit von privaten Verträgen, die Beschränkungen des Exports oder des Re-Imports im Gemeinsamen Markt zum Gegenstand hatten, wurde als unvereinbar mit den ursprünglichen Zielen der Kooperation der Staaten erklärt, die im EWG-Vertrag festgelegt worden waren, der nun vom EuGH ausgelegt wurde. Die nicht zuletzt von den Unternehmen gewünschte Liberalisierung des Handels durch den Abbau von staatlichen tarifären und nicht-tarifären Handelsschranken durfte nicht von den Wirtschaftssubjekten zur Ausschaltung des Wettbewerbs eingeschränkt werden. Gleichzeitig bestätigte der EuGH mit dem Urteil im Grundig/Consten-Fall sein Urteil im Bosch-Fall aus dem Jahr 1962. Nicht nur horizontale, sondern auch vertikale Absprachen zwischen Unternehmen unterschiedlicher Produktionsstufen konnten demnach gegen das europäische Kartellrecht verstoßen. Diese Auslegung hatte die italienische Regierung im Rat angezweifelt und auf dieser Basis ihre Zustimmung zu der Verordnung Nr. 19/65 des Rates verweigert, mit der die Kommission dazu ermächtigt worden war, Gruppen von Vereinbarungen pauschal die Genehmigungsausnahme nach Artikel 85, Absatz 3 zu erteilen. 80 Vgl. Verbundene Rechtssache 56 und 58/64. Consten GmbH und Grundig Verkaufs GmbH vs. Kommission der EWG. Urteil vom 13. Juli 1966. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung. Band XII. S. 321–456. S. 327ff. 81 Ebd.: S. 388. 82 Edb.: S. 392. 83 Vgl. Goyder. EC Competition Law. S. 53ff.; Gerber: Law and Competition. S. 355f.
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Da die italienische Regierung sich nicht mit ihre Rechtsauffassung hatte durchsetzen können, reichte die Republik Italien kurz nach der Ratsentscheidung am 31. Mai 1962 Klage beim EuGH auf Annullierung der Ratsentscheidung über die Gruppenfreistellung sowie um eine Erklärung auf Unanwendbarkeit der Artikel 4 und 5 der VO Nr. 17 und der Bekanntmachung der Kommission vom Dezember 1962 über Alleinvertriebsabkommen ein.84 Im Kern war die italienische Regierung der Ansicht, dass der Rat mit der Verordnung zur Ermächtigung der Kommission auf Gruppenausnahme seine Rechte überschritten und damit den Anwendungsrahmen von Artikel 85 unrechtmäßig erweitert hatte. In allen drei Fällen konnte der EuGH jedoch keine Handlungen, die nicht mit dem Vertrag im Einklang standen, ausmachen und auch keine Überschreitung von Ermessensspielräumen erkennen. Mit seiner Entscheidung am Tag des Grundig-Consten Urteils wies der EuGH den Antrag der Republik Italien auf Annullierung der Verordnung Nr. 19/65 des Rates zurück.85 Der EuGH war damit bei der Gestaltung der gemeinsamen Wettbewerbspolitik seiner Rolle als Schiedsgericht zwischen den Staaten nachgekommen. Nur zwei Wochen zuvor, am 30. Juni 1966, hatte der Europäische Gerichtshof schon einmal im Interesse der Gemeinschaftsorgane entschieden. Der Appellationshof Paris hatte ihn gemäß Artikel 177 EWGV um eine Vorabentscheidung gebeten. In diesem Fall hatte sich die ‚Société Technique Minière‘ (LTM) in einem Verfahren wegen Nichterfüllung eines Alleinvertriebsabkommens mit der ‚Maschinenbau Ulm GmbH‘ (MBU) auf die Nichtigkeit des Vertrags wegen Artikel 85, Absatz 2 berufen. Das Abkommen hatte den Alleinvertrieb von Planiermaschinen in Frankreich umfasst, jedoch weder Parallelimporte noch Reexport ausgeschlossen. Aufgrund von nachvertraglichen Streitigkeiten über die Warenlieferung war der Fall vor das Appellationsgericht gekommen. Da das Abkommen nicht angemeldet war, stellte sich nun die Frage, ob der Artikel 85 auf diese Vereinbarung anwendbar war.86 Der EuGH stellte daraufhin die grundsätzliche Zuständigkeit des europäischen Rechts für diesen Fall fest. Aus dem Urteil ließ sich die umfassende Zuständigkeit des Artikels 85 für alle Fälle ableiten, in denen der Wettbewerb durch Vereinbarungen, die „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten“ beeinflussten, gestört werden konnte.87 Damit wurde auch die Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten als Abgrenzungsmerkmal definiert, um Gemeinschaftsrecht anstelle von nationalem Recht anzuwenden. Im Ergebnis schuf diese Entscheidung des EuGH nicht nur die Grundlage für eine umfassende 84 Vgl. Rechtssache 32/65. Regierung der italienischen Republik vs. Kommission der EWG. Urteil vom 13. Juli 1966. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung. Band XII. S. 457–508. S. 461. 85 Vgl. ebd.: S. 481–488. 86 Vgl. Rechtssache 56/65. Société Technique Minière (LTM) vs. Maschinenbau Ulm GmbH (MBU). Ersuchen um Vorabentscheidung, vorgelegt vom Appellationshof Paris. Urteil vom 30. Juni 1966. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung. Band XII. S. 281–319. S. 285ff. 87 Ebd.: S. 303.
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Zuständigkeit der GDIV für Handelsabkommen zwischen Unternehmen in Mitgliedstaaten, sondern auch dafür, gegen Vereinbarungen vorzugehen, die zwar nur innerhalb eines Mitgliedstaates wirksam würden, aber weitere Auswirkungen, speziell auf Importe und Exporte, in oder aus diesem Staat hätten.88 Mit diesen drei Urteilen, denen das Urteil im Bosch-Fall vorangegangen war, begründete der Europäische Gerichtshof seine Stellung in der europäischen Wettbewerbspolitik. Zudem trug er mit seinen umfangreichen Analysen und Interpretationen der Artikel des EWG-Vertrags und der VO Nr. 17, die über einfache Urteile hinaus gingen, nachhaltig dazu bei, dass die von den Staaten vereinbarten Vorschriften zur Kontrolle wettbewerbsbeeinträchtigender Strategien der Unternehmen im Gemeinsamen Markt durchgesetzt wurden. Der EuGH entschied in allen vier Fällen zugunsten der Zuständigkeit des Gemeinschaftsrechts, unterstützte die Interpretationen und die Anwendung des Rechts durch die Kommission und legte die Anwendbarkeit des Artikels 85 zugunsten der Entscheidungsmacht der Kommission aus. Diese akzeptierte die Führungsrolle des EuGH bei der Interpretation und Auslegung bereitwillig.89 Nach den Jahren der schwierigen Rechtsauslegung und Interpretation in der Übergangszeit, in der die Staaten daran beteiligt gewesen waren, war nun infolge von Entscheidungen der Kommission erreicht, dass die Rechtsauslegung durch die höchste juristische Instanz der Gemeinschaft geschah. Da der EuGH von allen europäischen Organen die höchste Immunität gegen politische Einflussnahme von Interessengruppen oder einzelnen Regierungen aufwies, konnte er aufgrund seiner Autorität zur stabilen Umsetzung der Wettbewerbsregeln und zur Etablierung der „Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft“ beitragen, deren Existenz er im Grundig/Consten-Urteil unmissverständlich bestätigt hatte.90 Er festigte mit diesen Entscheidungen auf dem Gebiet des Wettbewerbs gleichzeitig seine zentrale Stellung im Institutionengefüge der EWG und seine Rolle als positiver Integrationsfaktor. Gerber hob diese Rolle insbesondere für das Jahr 1966 hervor, zu dessen Beginn mit dem ‚Luxemburger Kompromiss‘ entgegen der ursprünglich, im Vertrag festgelegten Absicht die Einstimmigkeitsregel im Rat faktisch beibehalten wurde.91 Der Wunsch der Vertragspartner nach Stabilisierung der einmal gemeinsam getroffenen Entscheidungen für eine Wettbewerbsordnung erfüllte die Institution EuGH von Beginn an.
88 Vgl. Goyder: EC Competion Law. S. 66ff. 89 Vgl. Gerber: Law and Competition. S. 354. 90 Vgl. Verbundene Rechtssache 56 und 58/64. Consten GmbH und Grundig Verkaufs GmbH vs. Kommission der EWG. Urteil vom 13. Juli 1966. In: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Sammlung der Rechtsprechung. Band XII. S. 321–456. S. 394. Ebenso, wenn auch ohne Verweis auf dieses konkrete Urteil vgl. auch Streit, Manfred E.: Soziale Marktwirtschaft im europäischen Integrationsprozess: Befund und Perspektive. In: Cassel (Hrsg.): 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft. S. 177–199. S. 188. 91 Vgl. Gerber: Law and Competition. S. 352.
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G.5 DER ‚TAKE-OFF‘ DER EUROPÄISCHEN WETTBEWERBSPOLITIK Die ersten Jahre der EWG, das Vorbereitungsstadium, waren zwar keine verlorenen Jahre gewesen, aber aktive Wettbewerbspolitik, die wettbewerbsschädigendes Verhalten der Unternehmen verhindert hätte, hatte nicht stattgefunden. Der Nutzen der Kartellsachverständigenkonferenzen darf unter dem Aspekt, dass in drei der beteiligten Länder keine Erfahrungen mit einer Kartell- und Wettbewerbspolitik vorhanden waren, nicht zwar unterschätzt werden, aber deren Beitrag zu einer aktiven Wettbewerbspolitik blieb gering. Die Übergangsbestimmungen der Artikel 88 und 89 waren nicht dazu geeignet, die Unternehmen daran zu hindern, den parallel zur Ausdehnung der Märkte gestiegenen Konkurrenzdruck durch Absprachen untereinander zu mildern. Für die Unternehmen waren die Anfangsjahre ein langsamer und leicht zu verfolgender Übergang zu einer neuen, teilweise zuvor gänzlich unbekannten Wettbewerbspolitik. Die Kommission hatte die Möglichkeit, sich aufzubauen, ihre Rolle schrittweise zu finden und bei der Wettbewerbspolitik das Ausmaß der konfligierenden Interessen der Mitgliedstaaten kennen zu lernen. Die VO Nr. 17 ermöglichte ihr nun, unabhängig vom Wohlwollen der Regierungen und von deren aktuellen wirtschaftspolitischen Ausrichtungen infolge von innenpolitischen Abhängigkeiten, eine aktive Wettbewerbspolitik zu implementieren. Dazu hatte sie umfangreiche Befugnisse erhalten, wenngleich die Personalausstattung der zuständigen GDIV zunächst zu wünschen übrig ließ. Die Entscheidung der Mitgliedstaaten, die Kommission zu der zentralen, machtvollen europäischen Wettbewerbsbehörde zu machen, war zu großen Teilen ein Vorschlag der Kommission selbst gewesen und traf sie daher nicht unvorbereitet. Trotzdem hatte sie zu wenig Personal, um die Menge von Anzeigen und Anträgen zu bearbeiten. Hier wurde deutlich, dass weder die Regierungen noch die Kommission eine Vorstellung von der Menge von Absprachen, Vereinbarungen und Verträgen in der Wirtschaft hatten, die dazu dienten, durch festgeschriebene, langfristig vereinbarte Geschäftsbeziehungen, den Konkurrenzdruck zu mildern. Das aufkommende ‚Massenproblem‘ verhinderte erneut, dass die Kommission ihrer eigentlichen Aufgabe Absprachen zu verhindern, die die Entstehung des Gemeinsamen Marktes behinderten, nachkommen konnte. Der Aufstockung des Personals standen nicht alle Staaten positiv gegenüber. Die Idee, eine eigene Behörde zu schaffen, um einfacher und, da von den Entscheidungsstrukturen der Kommission losgelöst, schneller reagieren zu können, war nicht mehrheitsfähig. Erst mit der Ermächtigung zur Gruppenausnahme gaben die Mitgliedstaaten der Kommission ein Instrument an die Hand, das ihr einerseits sehr weit reichende Befugnisse übertrug, indem sie in eingeschränktem Rahmen eigenes Recht setzten konnte, das aber andererseits auch dazu geeignet war, sie von der nachrangigen Arbeit zu befreien. Mit dieser Ermächtigung erhielt die GDIV umfangreiche Befugnisse, die ihr innerhalb der Kommission eine herausgehobene Stellung ver-
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schafften. Nicht nur, dass ihre Handlungen und Entscheidungen direkte Folgen für die Unternehmen in den Mitgliedstaaten hatten, sondern auch, dass nun die Kommission selbst den Rahmen der Tätigkeiten der GDIV durch Gruppenausnahmen einschränken konnte, um sich schrittweise bestimmten wettbewerbsbehindernden Praktiken zuzuwenden, ließ die besondere Rolle der Wettbewerbspolitik und damit der GDIV im Rahmen der Kooperation der sechs westeuropäischen Staaten deutlich werden. Der Europäische Gerichtshof unterstützte die Kommission bei der Ausfüllung ihrer von den Staaten übertragenen Aufgabe. Goyder betonte hinsichtlich der beiden Urteile des EuGH vom 13. Juli 1966, dass diese „not only in the terms of substantive law but also in raising the moral of the officials in DG IV“ von höchster Bedeutung waren.92 Die Kommission und der EuGH waren von der Mehrheit der Staaten mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet worden, um die Vorstellungen von der am Recht orientierten und von politischer Einflussnahme möglichst freien aktiven Wettbewerbspolitik für den Gemeinsamen Markt aus eigener Kraft heraus umsetzen zu können.
92 Goyder: EC Competion Law. S. 66.
H FAZIT Abschließend werden die eingangs formulierten Fragen aufgegriffen. Wie bzw. auf welchem Weg kam es zu einer gemeinschaftlichen europäischen Wettbewerbspolitik? War sie das Ergebnis von rationalen Entscheidungen nationaler Führungspersonen – „a rational choice of national leaders“, wie Moravcsik behauptet? Daneben wird die Rolle der westdeutschen Politiker bei der Gestaltung dieser Wettbewerbspolitik thematisiert. Konnten sie so nachhaltig auf deren Gestaltung wirken, wie es insbesondere in Deutschland immer wieder behauptet wurde? Zudem wird anhand des Beispiels Wettbewerbspolitik die Erklärungskraft der Thesen Moravcsiks geprüft. Der Entscheidungsprozess der sechs Gründungsmitglieder der EWG über die gemeinsame Kartell- und Wirtschaftspolitik bestätigt die Erklärungshypothesen für jede der drei Analyseebenen des Erklärungsmodels von Moravcsik. Auf der ersten Analyseebene formierten sich in allen pluralistisch-demokratischen Staaten nationale Präferenzen für die Ausdehnung der wirtschaftspolitischen Kooperation, die mit der EGKS begonnenen worden war. In allen sechs Ländern galt es zudem, diejenigen Probleme der Wirtschaft zu mindern, die an der Schnittstelle zwischen der dem Regime der EGKS unterliegenden Montanindustrie und der Restwirtschaft entstanden. Das Interesse des produzierenden Gewerbes, der Industrie, der Agrarwirtschaft und des Handels an einer Ausdehnung der Märkte war so groß, dass die Regierungen der Staaten aufeinander zugingen, um weitere Kooperationsmöglichkeiten auszuloten. Die Ausnahme bildete Frankreich. Dessen Wirtschaft hatte nur geringes Interesse an einer verstärkten Zusammenarbeit in Gestalt der Liberalisierung von Märkten. Die französische Regierung vermochte jedoch genau dieses Interesse bei den Verhandlungen zu vertreten, indem sie sich anfänglich mehr hemmend denn konstruktiv an den Gesprächen der sechs Regierungen beteiligte. Ihr Interesse galt dem industriepolitischen Ziel, den neuen Industriezweig Atomwirtschaft in Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern. Unabhängig von diesen unterschiedlichen Interessen gab es rund eine Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen die jeweiligen Nationen schwer erschütternden Niederlagen und eine Generation nach dem Ersten Weltkrieg und Zeiten schwerwiegender Verwerfungen der internationalen Wirtschaftsstrukturen in der Zwischenkriegszeit in der Bevölkerung sehr hohe Präferenz dafür, den seit 1945 wieder erreichten Wohlstand zu sichern und durch die Zusammenarbeit mit anderen Ländern Strukturen zu schaffen, die die wirtschaftliche Prosperität garantieren würden. Zwischenstaatliche Instabilitäten und Krieg als größte Gefahren für jede Art von Wohlstand galt es zu vermeiden. Diese Präferenzen, die sowohl bei Produzenten wie bei Verbrauchern in gleichem Maß vorhanden waren, und die die Regierungen aller Staaten gleichermaßen zu erfüllen hatten, wurden deutlich, als während der Suez-Krise und des Ungarn-Aufstands 1956 bei den Vertragsver-
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handlungen Partikularinteressen zugunsten der das Staatensystem stabilisierenden Zusammenarbeit in den Hintergrund traten. Hingegen bestanden bei keinem der kleinen und finanzstarken Interessenverbände der Wirtschaft in einem der Gründungsstaaten Mitte der 1950er Jahre Präferenzen für aktive Wettbewerbspolitik. Der Gegenstand Wettbewerb und seine Rolle für Freiheit und Wohlstand war ursächlich dafür, dass es das Ziel von Wettbewerbspolitik sein musste, die Freiheit der Wirtschaftsakteure dort einzuschränken, wo sie hätten versuchen können durch Absprachen und Vereinbarungen Konkurrenz und Wettbewerb einzudämmen. Da diese Beschränkung der eigenen Freiheit generell nicht im Interesse von Unternehmern liegt, setzten sie sich auch in den 1950er Jahren nicht für eine aktive Wettbewerbspolitik ein; eine nationale Präferenz für Wettbewerbspolitik entwickelte sich somit auf diesem Weg nicht. In einigen Ländern war hingegen der Einfluss der Unternehmer auf die Politikgestaltung so groß, dass es 1955 keine nationale Wettbewerbspolitik gab. In der Bundesrepublik hatte über fast zwei Legislaturperioden hinweg ein Wettbewerbsgesetz verhindert werden können. Nur in zwei der an den Verhandlungen beteiligten Länder war es Regierungen nach 1945 gegen den Willen der Wirtschaft gelungen, den Wettbewerb fördernde Gesetze durchzusetzen. In beiden Fällen war dies mit dem Ziel geschehen, hohe Verbraucherpreise zu verhindern: im niederländischen Fall als Folge der Aufhebung von staatlicher Preiskontrolle, in Frankreich zur Stabilisierung der Preise. Um die Stabilität der Gesellschaft zu sichern, hatten Regierungen hier die Interessen der großen und heterogenen Gruppe der Verbraucher in der direkten Nachkriegszeit durchgesetzt. Auch Erhards Kartellgesetz war indirekt das Ergebnis der wirtschaftspolitischen Stabilisierungspolitik der Nachkriegszeit zu Gunsten aller Verbraucher. ‚Leitsätzegesetz‘ und Währungsreform aus dem Juni 1948 mussten durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ergänzt werden, um Wohlstand für alle schaffen zu können. Auch wenn es somit keine originäre Präferenz für eine gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik gab, zog die Nachfrage nach dem Abbau zwischenstaatlicher Handelsschranken die Entscheidung für Wettbewerbsregeln direkt nach sich. Allen voran entschied die deutsche Regierung, dass sie diese Nachfrage nach vereinfachtem Güter- und Warenaustausch über die Grenzen hinweg nur erfüllen wollte, wenn auch private Handelsschranken abgebaut würden. Die historische Erfahrung hatte sie gelehrt, dass dies nicht freiwillig geschehen würde. Ebenso wie sie innenpolitisch die Beschränkung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbsrecht verfolgte, erklärte sie bereits 1955 die Etablierung von Wettbewerbsregeln zu einem notwendigen Element zukünftiger zwischenstaatlicher Kooperation. Andere Staaten hatten ebenfalls ihre Sonderinteressen früh kund getan. Der Einfluss Erhards, der sich am liebsten der von Adenauer, Hallstein und Etzel angestrebten, über ein Freihandelsabkommen hinausgehenden Kooperationsform mit den EGKS-Staaten widersetzt hätte, und seines Staatssekretärs Müller-Armack auf die Ausprägung dieser westdeutschen Position war groß. Unterstützt wurden sie durch den ordoliberal geprägten Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirt-
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schaftsministerium. Bei allen internen Meinungsverschiedenheiten konnten sie sich zudem auf die Administration des Bundeswirtschaftsministeriums stützen. Um den Einfluß der Vertreter einer ordoliberal geprägten Wirtschaftsordnung in Wissenschaft, Politik und Administration der frühen Bundesrepublik zu verstehen, darf deren geradezu missionarisches Bestreben nicht unterschätzt werden. Zusammen mit Erhard und Müller-Armack prägten diese die wirtschaftspolitische Meinungsbildung in der Bundesrepublik der frühen 1950er Jahre entscheidend. Erhard konnte zwar seine eigene Kooperationspräferenz für eine westeuropäische Freihandelszone, die sich im Übrigen mit der Präferenz der deutschen Wirtschaft deckte, nicht durchsetzen, stellte aber infolgedessen hohe Ansprüche an die Ausgestaltung der Kooperation der sechs Staaten. Seine vor und während der Verhandlungen stets erhobene Forderung, die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit zwischen den Staaten nur auf einem mit dem der Bundesrepublik gleichartigen marktwirtschaftlichen Niveau anzustreben, konnte sich durchsetzen und fand überwiegend Eingang in die deutsche Verhandlungsposition. Vergleichbare wirtschaftspolitische Strömungen hatte es in den anderen Ländern nicht gegeben. Dabei war die Einflussmöglichkeit wirtschaftstheoretischer Anschauungen auf die Formulierung einer Politik gerade bei der Wettbewerbspolitik groß, da hierbei Kosten und Nutzen verschiedener wettbewerbspolitischer Konzepte weder eindeutig zu bestimmen noch einzelnen gesellschaftlichen Gruppen zuzurechnen waren und sind. Auch wenn mit einer laxen Wettbewerbspolitik tendenziell nur die große heterogene und damit durchsetzungsschwache Gruppe der Verbraucher belastet, hingegen die kleine, relativ homogene und damit meinungsstarke Gruppe der Unternehmer entlastet worden wäre, waren einige Regierungen nicht bereit, den Produzenten im Gemeinsamen Markt das Recht zu belassen, den eigenen „Gewinn über die natürliche Spanne hinaus“ zu erhöhen und „gleichsam den Mitbürgern eine absurde Steuer zum eigenen Vorteil“ zuzumuten, wie Adam Smith das Ergebnis fehlender Wettbewerbspolitik Jahre zuvor skizziert hatte. Damit ergab sich die Präferenz für die Wettbewerbspolitik, vor allem von der deutschen, aber auch von den meisten anderen Regierungen geteilt, indirekt aus der Präferenz der Wirtschaft für die Marktausdehnung. Somit bestätigt sich Moravcsiks These, dass es im Kern wirtschaftliche Interessen in den Staaten waren, die die Nachfrage nach weiterer Zusammenarbeit generierten und anstießen, nicht geopolitische Interessen von Führungseliten oder proeuropäische Akteure in supranationalen Institutionen. Auch wenn die Konvergenz der nationalen Präferenzen nicht auf allen Politikfeldern hoch war, war es doch für mehr als eine der Regierungen rational, die innenpolitisch geforderte zwischenstaatliche Kooperation auf bestimmten Politikfeldern anzustreben. Die Bündelung der zahlreichen direkten und abgeleiteten nationalen Präferenzen wurde im Abschlusskommuniqué von Messina und auch im Spaak-Bericht deutlich. Auch auf der zweiten Analyseebene Moravcsiks, den Verhandlungen der Staaten über die Gegenstände der Kooperation, zeigte sich in Hinblick auf die Wettbewerbspolitik, dass die Unterschiedlichkeit der Wirtschaftspolitiken bei gleichzeitiger Interdependenz der Staaten die entscheidende Triebkraft zur Eini-
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gung war. Da das Ergebnis der Verhandlungen über Wettbewerbspolitik eindeutig auf die relative Verhandlungsmacht der wichtigen Regierungen zurück zu führen ist, bestätigt sich die These Moravcsiks, dass die großen und damit präferenzstarken Staaten die Entscheidungen erheblich beeinflussen. In beiden Fällen, sowohl bei der Einigung auf die entscheidenden Artikel im EWG-Vertrag als auch später bei der VO Nr. 17, konnten nur Beschlüsse gefasst werden, weil die beiden großen Staaten ihre konfligierenden Interessen über die Formulierung eines Junktims zum Ausgleich brachten. Das eine Mal wurden die Atomgemeinschaft und der liberal geprägte Gemeinsame Markt miteinander verbunden, das andere Mal die den französischen Interessen entsprechende Agrarmarktordnung und die ordoliberal geprägte Wettbewerbsverordnung. Aus der Sicht der Bundesregierung, und speziell Erhards, konnte in allen Fällen bei der Wettbewerbspolitik der kleinste gemeinsame Nenner verhindert werden, auch wenn alle Regierungen Abstriche machen mussten. Es waren gemäß der These Moravcsiks die Staaten mit den größten Volkswirtschaften, die die Inhalte bestimmten, wenngleich die Einstimmigkeitsregelung auch den kleinen Staaten Gewicht verlieh, so dass sich hier die Kritik an der tendenziellen Nicht-Berücksichtigung dieser kleinen Staaten im Bargaining-Prozess durch Moravcsik bestätigte. Wie groß dieses Gewicht sein konnte wird daran deutlich, dass die Beantwortung der Frage offen bleiben muss, ob und mit welchem Inhalt es zu einer Einigung über die erste Durchführungsverordnung gemäß Artikel 87 gekommen wäre, wenn es im April 1961 in Belgien nicht zum Regierungswechsel gekommen wäre. Die Verhandlungen über die europäische Wettbewerbspolitik offenbarten aber gleichzeitig, dass keiner der Staaten eine vollständige Vetomacht besaß. Die Option exklusiver Zusammenarbeit mit anderen Staaten war keine realistische Handlungsdimension. Um das Gesamtprojekt mit absehbar positiven Wirkungen ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht zu gefährden, mussten auf einzelnen Politikfeldern, so auch bei der Wettbewerbspolitik, Kompromisse gefunden werden. Ergebnis hiervon waren auch die Übergangsregelungen der Artikel 88 und 89 zur Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften für private Unternehmen. Sie waren aus westdeutscher Sicht mittelfristig unzureichend, entsprachen aber offensichtlich dem Interesse der Mehrheit. Insbesondere am Beispiel der Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 zeigte sich, dass die unterschiedlichen nationalen Wettbewerbsgesetze und die unterschiedliche Durchsetzung der gemeinsam beschlossenen Normen Anlass dafür waren, die im November 1956 im Rahmen der Vertragsverhandlungen abgebrochenen und vertagten Gespräche über die legislativen Voraussetzungen für eine aktive Wettbewerbspolitik wieder aufzunehmen. Nicht die institutionellen europäischen Akteure waren hier die entscheidende Triebkraft, sondern, bei gleichzeitigem Ausbau der Interdependenzen der Volkswirtschaften, die Differenzen zwischen den nationalen Wettbewerbspolitiken. Erneut zeigte sich, dass sich die Regierungen der großen und damit wichtigen Volkswirtschaften mit ihren überdurchschnittlichen Präferenzen durchsetzen konnten oder, im Fall Frankreichs, doch zumindest gravierende Änderungen der gemeinsamen Regelung
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bewirken konnten. Im Ergebnis konnte sich die starke Nachfrage der deutschen und der niederländischen Wirtschaft durchsetzten, mögliche Benachteiligungen durch eine gemeinsame europäische und für alle Unternehmen gleiche Regelung zu verhindern. Nach 1958 war im Rahmen der bestehenden EWG das Drohpotential einer exklusiven Kooperation noch geringer geworden als es noch bei den Vertragsverhandlungen gewesen war, da die Veto-Option nun mit nicht vorhersehbaren Folgen verbunden war. Um die Zustimmung Aller zu bekommen, enthielt der gefundene Kompromiss über die VO Nr. 17 somit Elemente, die zwar konfligierende Interessen ausglichen, aber nicht nur zum Wohl der gemeinsamen Interessen waren. Im institutionellen Rahmen der EWG war jedoch bei den Verhandlungen über die Durchführungsverordnung die Bereitschaft zu Kompromissen in Detailfragen wichtig geworden. Da die wettbewerbspolitische Grundsatzdebatte in Westdeutschland mit der Entscheidung für das GWB entschieden war, konnte die Bundesregierung in dieser Situation von ihrer nun vergleichsweise großen innenpolitischen Unabhängigkeit profitieren. Von ihrer ursprünglich strengen Position des Kartellverbots konnte sie nun teilweise abrücken, da auch das GWB Ausnahmebereiche kannte. Das ursprüngliche Ziel einer möglichst geringen Abweichung nationaler und europäischer Wettbewerbsnormen im Interesse der heimischen Wirtschaft konnte auch bei Zugeständnissen auf europäischer Ebene erreicht werden, da man auch auf nationaler Ebene nicht alle Maximalpositionen hatte durchsetzen können. Die Auseinandersetzungen über die Durchführungsverordnung zeigten auch, dass die unterschiedlichen nationalen Präferenzen sowohl die Verhandlungen selbst als auch das Verhandlungsergebnis stärker beeinflussten als die Integrationsbemühungen der supranationalen Akteure. Der Ansatz Moravcsiks, der Kommission nur die Rolle des Agenten im Rahmen eines principal-agent-Verhältnisses zuzugestehen, bestätigte sich. Die Vorbereitung der Kooperationsschritte im Rahmen der EWG wurde zwar durch supranationale Akteure vorgenommen, aber die ausschlaggebenden Verhandlungsfortschritte und die abschließenden Entscheidungen wurden in den intergouvernementalen Ratssitzungen erzielt. Auch die geringe Einflussnahme von Interessenverbänden auf europäischer Ebenso bestätigte sich Moravcsiks These, dass in den ersten Jahren nach 1958 primär der nationale Kanal der Einflußnahme gewählt wurde, während die Interessenaggregation auf der europäischen Ebene noch wenig ausgereift war. Insgesamt wurde deutlich, dass eine von den nationalen Interessen losgelöste Politikgestaltung nicht möglich war, auch wenn die supranationalen Akteure, allen voran die Kommission, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. Nachdem die Kommission dem Rat ihren Vorschlag für die erste Durchführungsverordnung vorgelegt hatte, wandelte sich ihre Rolle mit fortschreitendem Verhandlungsprozess immer stärker vom Initiator der Verordnung über eine mehr moderierende Rolle bis zu einer reinen Beobachterposition bei den Debatten im Rat, wo im November und Dezember 1961 die entscheidenden Gespräche der Staaten stattfanden. Auch wenn der Kommissionsvorschlag in Teilen übernommen wurde,
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war er für die Staaten mehr Verhandlungs- als Entscheidungsgrundlage. Auch WSA und Europäisches Parlament hatten mögliche Regelungsvorschläge erarbeitet und damit wichtige Beiträge geleistet. Es zeigte sich jedoch, dass die Kommission in Fällen, in denen geringe Interessenkonvergenz der Staaten bestand, nur geringen Einfluss auf die Entscheidung hatte. Hier mussten die Mitgliedstaaten selbst eine Einigung finden. Die Vorschläge und Entwürfe der Kommission hatten wenig Gewicht. Die Kommission konnte allenfalls bei einzelnen Punkten, die nicht einstimmig sondern mehrheitlich entschieden werden konnten, ihre Stimme in die Waagschale legen. Im Fall der Ermächtigung der Kommission zur Erteilung von Gruppenausnahmen zeigte sich, dass die Kommission ihre Position gegen die Mehrheit der Staaten nicht durchsetzen konnte. In diesem Punkt hatte die von den Staaten beschlossene Verordnung inhaltlich nichts mehr mit dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag gemein, obwohl dieser von WSA und Europäischem Parlament unterstützt worden war. Vor allem die Entscheidungen über mögliche Erweiterungen des Handlungsspielraums der Kommission gegenüber den Regierungen trafen allein die Regierungen. Die Kompetenzenkompetenz wurde eindeutig von den „Herren der Verträge“ wahrgenommen. Die neuen supranationalen Akteure blieben auf die Beachtung der gemeinsamen Interessen der Staaten angewiesen. Der Einfluss europäischer Akteure auf die endgültige Entscheidung blieb beschränkt und konnte allenfalls auf der bürokratischen Ebene der Sachverständigen der Regierungen geltend gemacht werden. Die dritte These Moravcsiks, dass die Unvollkommenheit von Vereinbarungen und die Absicht aller Beteiligten, diese Vereinbarungen bei möglichst geringen Kosten einzuhalten, die Ursache für Souveränitätspooling war, bestätigte sich am Gegenstand der europäischen Kartell- und Wettbewerbspolitik mehrfach. Die Furcht vor Benachteilung der heimischen Wirtschaft zog sich wie ein roter Faden durch die Gestaltung der europäischen Wettbewerbspolitik durch die sechs Regierungen. Es war die Sorge davor, dass die Staaten nach dem Verlust von tarifären und nicht tarifären Handelshemmnissen zum Schutz der eigenen Wirtschaft in einen Subventionswettlauf, auch durch gesetzliche Bevorzugung, gerieten oder sich bei der Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln für Unternehmen gegenseitig übervorteilen könnten, die dazu führte, die Kommission mit den zentralen Aufgaben der Wettbewerbspolitik zu betrauen. Sie ermächtigten die Kommission im EWG-Vertrag als neutralen Agenten neue Vereinbarungen vorzuschlagen, zwischen den Staaten zu vermitteln, die getroffenen Beschlüsse zu implementieren und Recht zu interpretieren und durchzusetzen. Dabei sollte sie durch den EuGH unterstützt werden. Mit Beginn der EWG zeigte sich ab 1958 bald, dass die für die Übergangsphase getroffenen Regelungen nicht ausreichend und nicht pareto-effizient waren. Noch bestanden Anreize für die Mitgliedstaaten, die gemeinsame Einigung auf bestimmte Institutionen oder Verhaltensweisen nicht zu befolgen. Die legislativen Regelungen der Artikel 88 und 89, die den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellten, auf den die Staaten sich 1957 hatten einigen können, erwiesen sich als zu schwach. Dabei ist es unerheblich, ob Artikel 88 und 89 lediglich ungenügend
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formuliert waren, der gefundene Kompromiss in der Praxis nicht praktikabel war oder die Staaten angesichts der vereinbarten Durchführungsverordnung und den damit ohnehin notwendigen möglichen Änderungen für die Wirtschaftssubjekte keinen Anreiz hatten, nationale Gesetze anzuwenden. Die drei Länder ohne eigenes Wettbewerbsrecht, vor allem Italien, praktizierten die letzte Variante, um eigene Anpassungskosten möglichst gering zu halten. Bevor sie eigene zuständige Behörden schufen, warteten sie die gemeinsame Vertragsinterpretation und die Durchführungsverordnung ab. Der EWG-Vertrag war so unvollständig, dass weder Kommission noch Mitgliedstaaten die vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten durchsetzten. Mögliche Verluste, die sich durch die Vertragsmissachtung der Mehrheit der Staaten in der Übergangszeit ergaben, wurden geringer eingeschätzt als mögliche entstehende Kosten infolge von Vertragsdurchsetzung. Die Durchsetzung und Anwendung der konstitutiven Übergangsregeln des EWG-Vertrages wurde allein in der Bundesrepublik begonnen. In den meisten Staaten war der erwartete innenpolitische Nutzen aus der verzögerten Umsetzung des Vertrags in der Übergangszeit angesichts der nationalen Präferenzen und des Widerstands aus der Wirtschaft höher als mögliche Sanktionsgefahren, die von der supranationalen Ebene ausgingen. Die Kommission selbst war noch im Aufbau befindlich und zudem von den Staaten mit zu geringen Befugnissen ausgestattet worden, um die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln aus eigener Kraft durchsetzen zu können; womöglich gegen eine uneinheitliche Mehrheit der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus waren die nationalen Wirtschaftspolitiken noch überaus heterogen. Auch wenn Frankreich nach 1958 seine Wirtschaftspolitik änderte, hatte mit de Gaulle an der Regierungsspitze die Ablehnung supranationaler Institutionen zugenommen, was die Übertragung weiterer Befugnisse an die gemeinschaftliche Ebene erschwerte. Die französische Seite hatte zudem keinen Anlass, in der Übergangszeit über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus zu gehen und weitere nationale Regelungen zu treffen. Sie wollte die Artikel 85 und 86 in Verbindung mit nationalem Recht anwenden. Darüber hinausgehende Wettbewerbspolitik lag nicht in ihrem Interesse. Auch die niederländische Ratifikation des EWG-Vertrags machte deutlich, dass die im Vertrag festgelegte wettbewerbspolitische Einigung nicht das Ergebnis gemeinsam verfolgter Präferenzen war. Um das Gesamtprojekt nicht zu gefährden, wurde akzeptiert, dass die Niederlande die europäischen Wettbewerbsregeln für die Übergangszeit in ihrer Substanz veränderten und nationalem Recht anpassten. Dieses Verhalten der nationalen Regierungen gegenüber den gemeinsam getroffenen Regelungen wie auch Reaktionen aus der Wirtschaft verdeutlichten aber zugleich, dass die europäische Kartell- und Wettbewerbspolitik, im Unterschied zu anderen Politikfeldern, bereits von Anbeginn der EWG direkte Auswirkungen auf Unternehmen und Bürger der Mitgliedstaaten hatte. Es wurde deutlich, dass die sechs Staaten Ende der 1950er Jahre eine gemeinsame konstitutive Basis der Wettbewerbspolitik geschaffen hatten. Diese befand sich aber nicht auf dem von der deutschen Regierung und namentlich von Erhard beabsichtigten Niveau und
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bedurfte zudem zu ihrer Umsetzung als gemeinschaftliche Politik weiterer legislativer Regelungen. Als hierzu ab 1960 die erste Durchführungsverordnung auf der Tagesordnung der Regierungen stand, stellte sich erneut die Frage nach der Zusammenführung von Entscheidungskompetenzen. Sollten die Staaten weiterhin die letzte Entscheidungsbefugnis haben oder diese im Sinne der Übertragung autonomer Entscheidungsrechte auf einem klar umrissenen Politikfeld an die Kommission delegieren? Die deutsche Seite stimmte angesichts des Verhaltens der Partner zwischen 1958 und 1960/61 ohne Bedenken dem Delegationsmodell zu, um zu verhindern, dass die Partner weiterhin den Vertrag nachlässig erfüllten. Vor allem sollte die französische Prozesspolitik zugunsten der deutschen Ordnungspolitik zurückgedrängt werden. Unterstützung erhielten die Deutschen hierbei von der niederländischen Regierung. Zwar waren die Italiener ebenfalls für das Delegationssystem, jedoch wollten sie nur die wettbewerbspolitischen Tagesentscheidungen delegieren, während andere wichtige Befugnisse bei den Staaten bleiben sollten. Mit dem Ziel der Zusammenführung von Entscheidungskompetenzen auf supranationaler Ebene befanden sich die westdeutsche Regierung und die Niederländer, unterstützt durch die Kommission, in der Minderheit. Im Verlauf der Verhandlungen konnten die Italiener von Sinn und Notwendigkeit der Delegation der wettbewerbspolitischen Entscheidungsbefugnis an die Kommission überzeugt werden. Erst nach dem Regierungswechsel in Belgien und dem Junktim der Deutschen aus Wettbewerbspolitik und Agrarpolitik stimmten auch die Franzosen nach langem Widerstand der Delegation autonomer Entscheidungsrechte an die Kommission zu. Neben der von ihnen präferierten Agrarmarktordnung hatten sie für ihre Zustimmung das Zugeständnis erhalten, dass auch vertikale Behinderungsstrategien unter die Anmeldepflicht fielen. Im Ergebnis trug dies mit dazu bei, dass die Generaldirektion IV die ihr zugewiesenen Aufgaben aufgrund von Arbeitsüberlastung eine Zeit lang nicht erfüllen konnte. Zum zweiten Mal hatte ein Kompromiss nachvertragliche Verhandlungskosten entstehen lassen, da die Einstimmigkeit Kompromisse erfordert hatte, die sich hinterher als nicht praktikabel herausstellten. Letzten Endes bewies aber die lange Lebensdauer der Verordnung Nr. 17, dass die Mitgliedstaaten insgesamt zu einer guten Einigung gekommen waren, um eine aktive Wettbewerbspolitik zu gestalten. Sie hatten eine institutionelle Regelung gefunden, die es für amtierende und zukünftige Regierungen attraktiv machte, die ursprüngliche Einigung einzuhalten. Um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, wurden auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik Teile von nationaler Souveränität zusammengelegt und an eine internationale Organisation delegiert. Opportunistisches Verhalten einzelner Staaten wurde unterbunden, da die zentrale Zuständigkeit nun bei der Kommission lag. Diese war nur noch im klar abgegrenzten Umfang auf die Zusammenarbeit mit den Staaten angewiesen. Die Regelungen des Vertrags, der VO Nr. 17 und der Ermächtigung zur Gruppenausnahme boten der Kommission ausreichend Instrumente für die effiziente Umsetzung einer europäischen Wettbewerbspolitik. Der EuGH, dessen Rolle bereits mit dem EWG-Vertrag festgelegt worden, wurde mit fortdauernder Wettbewerbspoli-
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tik zu einer zentralen Gemeinschaftsinstitution zur Durchsetzung der Artikel 85 und 86. Mit all diesen Institutionen und Organisationen sicherten die Mitgliedstaaten die zwischenstaatliche Kooperation auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik. Entscheidend für die Delegation von Entscheidungskompetenz an die Kommission waren aber weniger europa-ideologische Argumente für neue Institutionen gewesen als der Wunsch der Mehrheit der Mitgliedstaaten nach Stabilität der wettbewerbspolitischen Einigung bei möglichst geringen nationalen Anpassungskosten. Fragt man nach dem Einfluß deutscher Konzepte und Vorstellungen auf die Europäische Kartell- und Wettbewerbspolitik, läßt sich bestätigen, dass die deutsche Regierung ihre Position in erheblichem Ausmaß durchsetzten konnte. Sie schuf sich durch ihre frühe, klare und sehr differenzierte Forderung nach Etablierung einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik im deutschen Memorandum für die Konferenz von Messina eine gute Ausgangsbasis für mögliche weitere Gespräche. Die dem Memorandum vorangegangene regierungsinterne Aggregation von Zielvorstellungen innerhalb der Regierung und der damit verbundene Kompromiss, der das politisch angestrebte Integrationskonzept mit einem marktwirtschaftlichen Ansatz verband, bot für die folgenden Verhandlungen ausreichend Flexibilität. Im Detail kam hinzu, dass sich die Franzosen zunächst bei der Einigung auf die konstitutiven Grundsätze mit den Deutschen auf einer Linie wähnten und somit die grundsätzliche Frage des ‚ob‘ einer Wettbewerbspolitik schon früh, nämlich mit dem Spaak-Bericht, entschieden war. Das Verbot privater horizontaler und vertikaler auf Marktmacht Einzelner beruhender Wettbewerbsbeschränkungen wurde als konstitutiver Grundsatz formuliert. Weitere notwendige legislative Entscheidungen sollten nach Vorstellung der drei Autoren des Spaak-Berichts von der Groeben, Uri und Spaak nicht durch intergouvernementalen Vertrag getroffen werden, sondern sollten durch die hierzu von den Staaten ermächtigte Kommission und das Parlament getroffen werden. Die frühe gemeinschaftliche Festschreibung von wettbewerbspolitischen Grundsätzen im Spaak-Bericht war für die deutsche Regierung der Grundstein für die weiteren Verhandlungen, auf den sie wiederholt zurückverweisen sollte. Bei den auf den Spaak-Bericht folgenden Vertragsverhandlungen waren sich die Staaten in Hinblick auf die konstitutiven, wettbewerbspolitischen Entscheidungen schnell einig. Beide große Staaten sprachen sich erneut für ein Kartellverbot aus. Allein die Belgier versuchten erfolglos, der zukünftigen Wettbewerbspolitik eine andere Grundlage zu geben. Die Befürchtungen im Bundeswirtschaftsministerium, dass die gemeinsamen Wettbewerbsregeln zu schwach würden, stellten sich schnell als unbegründet heraus, da auch die Franzosen ein scharfes Verbot von Absprachen und von Missbrauch marktbeherrschender Stellungen verankert wissen wollten. Letzten Endes schrieb der Vertrag ein klares Verbot von Absprachen und von Missbrauch marktbeherrschender Stellungen fest, woraufhin beide Regierungen der großen Staaten sich in dem Glauben wähnten, ihre wettbewerbspolitischen Grundsätze erreicht zu haben. Je nach Perspektive entsprachen Kartellverbot und Missbrauchsaufsicht des EWG-Vertrages entweder denen
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des deutschen GWB oder Artikel 85 wies hohe Identität mit dem französischen Absprachenverbot auf, mit dem das Hauptziel französischer Wettbewerbspolitik, die Preiskontrolle auf der nationalen Ebene, erreicht wurde. Die konfligierenden Zielsetzungen der französischen und der deutschen Wettbewerbspolitik deuteten sich zwar bei weiteren Vertragsverhandlungen, die legislative Detailregelungen zum Gegenstand hatten, an, wurden jedoch im Interesse des Gesamtvertragswerks, dass aus übergeordneten Zielsetzungen zum Abschluss gebracht werden sollte, nicht virulent. Die Regierungsvertreter hatten begonnen, recht weitgehende konkrete Regeln zu diskutieren, doch aufgrund von Differenzen im Detail und dem Einstimmigkeitsprinzip kam es im Rahmen der Vertragsverhandlungen nicht mehr zu Einigungen. Die für eine konkrete Wettbewerbspolitik notwendigen Entscheidungen wurden im November 1957 mit Zustimmung der Deutschen in die Zukunft verschoben; wenngleich auch nicht, wie noch im Spaak-Bericht vorgesehen, supranationalen Institutionen übertragen. Aus deutscher Sicht schien die Sicherung der bisher erreichten Wettbewerbsgrundsätze im EWG-Vertrag auch unter innenpolitischen Aspekten und angesichts des laufenden Gesetzgebungsverfahrens zum GWB akzeptabel. Die im Vertrag festgeschriebenen, wenn auch bisher nur konstitutiven Wettbewerbsnormen stützten das Versprechen gegenüber der heimischen Industrie, sich angesichts des nationalen wettbewerbspolitischen Systemwechsels auch auf europäischer Ebene für ein ebensolches Wettbewerbsregime einzusetzen. Unabhängig von der Durchsetzungsstärke einzelner Positionen auf dem internationalen Parkett und von innenpolitischen Überlegungen bestand ein entscheidender Vorteil für die Durchsetzung der deutschen wettbewerbspolitischen Interessen darin, dass die Situation sowohl bei den Vertragsverhandlungen als auch später bei der Auseinandersetzung über die Durchführungsverordnung von einer besonderes starken Asymmetrie der Präferenzenintensität zwischen den beiden großen Staaten Frankreich und Bundesrepublik gekennzeichnet war. Eine intensive französische Präferenz für die Atomgemeinschaft, verbunden mit einer insgesamt eher zurückhaltenden französischen Integrationsbegeisterung – die nicht zuletzt 1954 bei der Nichtratifizierung des EVG-Vertrags deutlich zum Vorschein gekommen war – stand einer starken deutschen Präferenz für den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gegenüber. Das geringe Interesse an der Wirtschaftsgemeinschaft, eine hinhaltende Verhandlungstaktik und die Verstärkung der französischen Außenseiterrolle durch die vehemente Forderung nach „sozialer Harmonisierung“, mit der die schlechte Wettbewerbsposition der französischen Wirtschaft aufgrund hoher nationaler Sozialleistungen zu Lasten der anderen Staaten verbessert werden sollte, stärkte die relative Verhandlungsmacht der deutschen Regierung. Dies kam bei den Vertragsverhandlungen zum Tragen. Eine vergleichbare asymmetrische Intensität der Präferenzen der beiden großen Staaten prägte auch den Abschluss der für die Wettbewerbspolitik wichtigen Verhandlungen über die spätere VO Nr. 17. Auch hier konnte sich die Bundesregierung trotz hoher Präferenz für eine starke ordoliberal geprägte Ausformulierung der legislativen Wettbewerbsregeln mit ihren Vorstellungen weitge-
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hend durchsetzen, da ihr eine französische Regierung mit hoher Präferenzenintensität für eine bestimmte Agrarmarktordnung gegenüber saß. Zudem hatte sich die deutsche Regierung mittels Anwendung der Übergangsregelung, insgesamt kooperativem Verhalten gegenüber der Kommission und einer klaren und nahezu unveränderten Position erneut eine gute Ausgangslage und damit einen Verhandlungsvorsprung gegenüber den Franzosen verschafft. Diese gerieten infolge die Nichtanwendung der Artikel, starker industriepolitischer Prägung der Wirtschaftspolitik und Misstrauen gegenüber der Kommission in eine defensive Verhandlungsposition. Zudem trugen ihre Äußerungen und Positionen dazu bei, dass die anderen Staaten zunehmend Vorteile darin erkannten, die Durchsetzung gemeinsamer Regeln nicht den Mitgliedstaaten zu überlassen. Die Deutschen hingegen vermochten es als großer Staat überzeugend ihre Position, die auch im Interesse der kleinen Staaten war, zu vertreten und sich für die gemeinsame Umsetzung der Wettbewerbsregeln nach deutschem Muster einzusetzen. Das teilweise vehemente Eintreten der deutschen Regierungsvertreter gegen die Verwässerung des Kartellverbots und für eine dem GWB und den ordoliberalen Grundvorstellungen möglichst nahe Verordnung war nicht zuletzt auch deshalb möglich, weil Erhard und Müller-Armack bei den Gesprächen über die Durchführungsverordnung im Gegensatz zu den Vertragsverhandlungen eine größere innenpolitische Unabhängigkeit hatten. Neben der gewonnenen Souveränität durch das Inkrafttreten des GWB war mit dem EWG-Vertrag über die Art und Weise der Fortsetzung der Integration entschieden worden. Adenauers politisches Integrationskonzept hatte sich weitgehend durchgesetzt und der latent vorhandene Konflikt zwischen Adenauer und den Ordoliberalen hatte sich aufgelöst. Im Interesse des innenpolitischen Friedens und mit Rücksicht auf die Staatsräson brauchten Erhard und Müller-Armack inzwischen bei der konkreten Ausgestaltung der Ersten Durchführungsverordnung keine Kompromisse einzugehen, sondern konnten gemäß ihrer liberalen Grundüberzeugung eine eindeutige Position vertreten. Zudem traten die deutschen Protagonisten, anders als die Franzosen, die primär die nationale Preispolitik im Blick hatten, für ein Wettbewerbskonzept ein, das nach ihrem Verständnis ein zentraler Bestandteil des in Westdeutschland allgemein akzeptierten Wirtschaftssystems darstellte. Da es integraler Bestandteil dieses Konzepts war, dass ex-ante die Verteilung von Gewinnern und Verlieren relativ unklar bleiben würde, stieg die Unabhängigkeit von nationalen Präferenzen mit dem Ergebnis, dass der Einfluss individueller Wertüberzeugungen und Präferenzen handelnder Akteure auf den politischen Prozeß zunahm. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Analysemodell Moravcsiks zwar zur Strukturierung der verschiedenen Handlungsebenen beiträgt, die die Beantwortung zentraler Fragen nach sich zieht. Jedoch zeigen sich Schwächen des Modells, sobald individuelle Akteure ihren unterschiedlich großen individuellen Handlungsspielraum nutzen und sich über die jeweiligen nationalen Präferenzen hinweg setzen konnten. Mit Moravcsik gerät zwar der Autonomiebereich der korporativen Akteure in den Blick der Analyse, jedoch bleiben Staaten und Regierungen während der Verhandlungen geschlossene Systeme, in denen individuelle
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Akteure nicht vorkommen. Die individuellen Präferenzen von nationalen wie supranationalen Akteuren sowie deren Unabhängigkeit von nationalen Präferenzen werden jedoch durch das Modell Moravcsiks nicht ausreichend beleuchtet. Insbesondere in den Fällen, in denen die intergouvernementalen Verhandlungen zunehmend von nationalen Präferenzen dadurch getrennt wurden, dass unabhängigere Sachverständige Entscheidungen vorbereiteten, hatten die individuellen Akteure große Handlungsspielräume. Dieser Mangel, auch wenn er als Konsequenz der Komplexitätsreduktion anzusehen ist und dem Ziel geschuldet ist, einen klaren Erklärungsansatz zu bilden, bedarf im Rahmen der historischen Betrachtung besonderer Beachtung. Zur Anreicherung mit Komplexität um individuelle Komponenten gehört es, die ‚key-policy-maker‘, die die Rolle des ‚political entrepreneurs‘ hatten, in den Blick zu nehmen. Die Protagonisten der Verhandlungen auf deutscher Seite, wie von der Groeben und Hallstein, aber auch Müller-Armack und Erhard, waren von zentraler Bedeutung dafür, dass sich die deutsche Position sehr viel besser durchsetzen konnte, als dies nach Kenntnis von Übereinstimmungen und Unterschiedlichkeiten der nationalen Wettbewerbsordnungen zu erwarten gewesen war. Die hohe innenpolitische Kontinuität und Stabilität der Adenauer-Regierung und damit einhergehend auch eine relativ durchgängige Position in der Wettbewerbspolitik von 1955 bis 1962 und darüber hinaus darf als eine weitere Begründung für den Erfolg der deutsche Position herangezogen werden, berücksichtigt man Regierungs- und damit im ein oder anderen Fall auch Politikwechsel in den anderen Ländern in diesem Zeitraum. Hinzu kam, dass die inhaltliche Kontinuität durch die hohe personelle Kontinuität in der deutschen Delegation unterstützt wurde. Die Änderungen, die mit dem Wechsel Hallsteins und von der Groebens in die aufzubauende Kommission verbunden waren, sind im Vergleich mit jenen in den meisten anderen Delegationen in Folge von Regierungswechseln als gering zu bewerten. Der Wechsel Hallsteins und von der Groebens an zentrale Positionen in der Kommission wirkte sich hingegen nicht nachteilig für die deutsche Delegation aus. Auch wenn die relativ geringe Präferenzenintensität oder sogar Geringschätzung der Wettbewerbspolitik durch die Partnerländer Ursache der Besetzung des Postens des Wettbewerbskommissars mit einem Deutschen war, unterstützte dies aber doch den Einfluss, den diese Personen als ‚key-policy-maker‘ auf die weiteren Entwicklungen hatten. Die Tatsache, dass die beiden entscheidenden und durch große Unabhängigkeit geprägten Positionen auf europäischer Ebene durch zwei Personen besetzt waren, die 1955 wesentlich an der Erarbeitung des deutschen Memorandums beteiligt gewesen waren, wird bei aller Neutralitätsvermutung Einfluss darauf gehabt haben, dass sich ein tendenziell „deutsches“ Verständnis nicht eindeutiger intergouvernementale Verhandlungskompromisse tradierte. Das Beispiel von der Groebens verdeutlicht zudem den hohen Einfluss einzelner Akteure unabhängig von nationalen Präferenzen. Von der Groeben kann nicht unterstellt werden, er habe nachdem der ‚Gordische Knoten‘ der Vertragsverhandlungen von Adenauer und Mollet Anfang 1956 zerschlagen worden war,
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das Projekt EWG forciert, um damit das Karriereziel eines EWG-Kommissars zu erreichen. Man wird davon ausgehen können, dass die Loyalität zu Erhard, vor allem aber zu Adenauer und dessen entschiedener Politik der Westintegration sowie die Überzeugung von der friedenstiftenden Notwendigkeit der Kooperation der westeuropäischen Staaten von der Groeben bewogen haben, sich für die Realisierung des Projekts einzusetzen. Eigene Verlusterfahrungen infolge des Zweiten Weltkriegs mögen für ihn, wie für zahlreiche andere einflussreiche Akteure, neben allen wirtschaftspolitischen Überzeugungen einen hohen Nutzenanreiz dargestellt haben, um sich auf verschiedene Art und Weise für die europäische Zusammenarbeit einzusetzen. Obwohl weiterhin starke Unterschiede bestehen, hat in den vergangenen 50 Jahren eine enorme Angleichung der Wirtschaftsstrukturen und der Wirtschaftspolitik stattgefunden. Die Traditionslinien der nationalen Wirtschaftspolitik bestehen bis heute fort und strahlen in einer Regelmäßigkeit, in der der Schutz der heimischen Wirtschaft thematisiert wird, immer wieder auf. Vergleicht man jedoch die unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen der Länder Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Strukturen von heute, so sticht die inzwischen vorhandene Konvergenz ins Auge. Der Stand der industriellen Produktion und die Rolle von Agrarwirtschaft und Dienstleistungsbereich in den verschiedenen Ländern und die bei aller Differenzierung große Übereinstimmung der Wirtschaftspolitiken sind Ausweis eines Prozesses der Angleichung der Strukturen und Handlungsbedingungen für die europäischen Bürger und Unternehmen. Nach 50 Jahren kann man heute von der Europäischen Wirtschaft sprechen, was zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht möglich war. Ein wichtiges Element dieses Prozesses war die Initiierung einer Wettbewerbsordnung. Sie wurde angestoßen von der Nachfrage der Wirtschaft nach Ausdehnung der Märkte und gleichzeitig von der ordoliberalen Grundüberzeugung in der westdeutschen Regierung. Diskutiert und übernommen wurde sie aus praktischen Sorgen der Übervorteilung und aufgegriffen, um eine europäische Wirtschaftsordnung zu bilden. Bei der Betrachtung der nationalen Kartellgesetze der Mitgliedstaaten heute stellt man weitgehende Übereinstimmung fest. Aus den geplanten und bewusst herbeigeführten Institutionen ist über die Jahre ein Konsens geworden. Die von MüllerArmack in liberaler Grundüberzeugung ausgesprochene Erwartung, dass sich auf dem Markt der Ideen und institutionellen Regeln die Instrumente der Wettbewerbsordnung durchsetzen, nach denen die Gesellschaft Nachfrage entwickelt, hat sich erfüllt. Die Folge davon ist jedoch, dass die von deutscher Seite zu Beginn der 1960er Jahre verfochtene Wettbewerbspolitik im „Europa der 27“ eine andere geworden ist. Ein Element dieses Systemwettbewerbs war es, dass das ursprünglich strikte Verbotsprinzip in der Anwendung durch die Kommission und ebenso durch die Reaktion der Wirtschaftsakteure auf dieses europäische Recht abgemildert wurde. Die Niederländer trugen 1957 mit der Einfügung der Möglichkeit zur Gruppenausnahme in den EWG-Vertrag zu seiner Abschwächung bei. Ebenso die Franzosen, als sie – bewusst oder unbewusst – durch die Einbeziehung von Vertikalabsprachen nicht nur die Arbeit der Kommission behinderten, sondern den
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Anlass dazu schufen, dass das Instrument der Gruppenausnahme sehr bald zum Einsatz kam. Die Verordnung 1/2003, mit der der Wandel vom Verbotsprinzip mit Ausnahmevorbehalt hin zur Legalausnahme vollzogen wurde, wie die Tatsache, dass inzwischen alle europäischen Staaten ein eigenes Kartell- und Wettbewerbsrecht haben, macht deutlich, dass sich die Wettbewerbspolitik in Europa weg von den Extrempositionen hin zu einer allgemeinen „Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten“ entwickelt hat, wie es im EWG-Vertrag als Aufgabe der Gemeinschaft formuliert worden war. Wettbewerbspolitik wurde somit zum Anlass für die langfristige Angleichung nationaler Wirtschaftspolitiken. Da die Notwendigkeit ihrer Etablierung von keiner der Regierungen bestritten wurde, glichen diese ihre konfligierenden Interessen in der Wettbewerbspolitik auf dem diskursiven Weg aus. Damit trug die Wettbewerbspolitik auf doppelte Art und Weise zur Wohlstandsentwicklung in Europa bei. Zum einen ermöglichte sie, dass die Wohlstand und Freiheit fördernden Funktionen des Wettbewerbs in der Wirtschaft effizienter wirken konnten. Zum anderen verbesserte sie das gegenseitige Verständnis der Staaten untereinander für die wirtschaftspolitischen Ansichten der jeweiligen Partnerländer. Die dabei bestehenden konfligierenden Interessen mussten in dem institutionellen Rahmen, den die Staaten sich selbst geschaffen hatten, friedlich zum Ausgleich gebracht werden. Die Diskussionen über die Wettbewerbspolitik trug insofern ein kleines Stück zur Erfüllung der zentralen Präferenzen der Europäer für eine nicht kriegerische Konfliktbewältigung der Staaten Europas bei.
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