Intelligenzprüfung und psychologische Berufsberatung 9783486749373, 9783486749359


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German Pages 201 [204] Year 1923

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Table of contents :
Vorbemerkung zur 1. Auflage
Vorwort zur 2. Auflage (März 1923)
Inhalts-Verzeichnis
Erstes Kapitel. Die Entdeckung der menschlichen Seele
Zweites Kapitel. Intelligenzprüfung
Drittes Kapitel. Untersuchungsplan für die Begabungsprüfung bei Schulkindern
Viertes Kapitel. Die rechnerische Verwertung der Resultate
Fünftes Kapitel. Das Ingenogramm
Sechstes Kapitel. Berufsiypologie
Siebentes Kapitel. Der Singuläre und die Typogenen
Achtes Kapitel. Die Berufung in der modernen Demokratie
Neuntes Kapitel. Proben aus der Seebacher Begabungsprüfung 1920
Tabellen für die Ingenogramme zweier Klassen (Anhang)
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Intelligenzprüfung und psychologische Berufsberatung
 9783486749373, 9783486749359

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INTELLIGENZPRÜFUNG UND PSYCHOLOGISCHE BERUFSBERATUNG VON

DR. RUDOLF LÄMMEL ZW K1TE, VERMEHRTE UND VERBESSERTE AUFLAGE

MIT 46 ABBILDUNGEN IM TEXT

M Ü N C H E N UND B E R L I N D R U C K U N D V E R L A G VON

1923

R.OLDENBOURG

Meiner lieben Frau gewidmet, der treuen Mitkämpferin in schweren Zeiten. Z ü r i c h - M e i l e n , am 10. Januar 1922.

Vorbemerkung zur 1. Auflage. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich mit den nachfolgenden Ausführungen das Problem der Intelligenzprüfung und der psychologischen Berufsberatung nicht erschöpfend behandelt habe. Zwei Gründe waren es, die mich bewogen haben, die Arbeit in der vorliegenden Gestalt zu veröffentlichen. Erstens erscheint es mir von der größten Wichtigkeit, daß die Behörden allerorten die Notwendigkeit einer öffentlichen und mit dem Volksschulwesen zusammenhängenden psychologischen Berufsberatung begreifen; man muß sie auf das Problem hinweisen. Betrachtet -man die literarischen Leistungen, die (namentlich von »berufener« Seite aus) in Hinsicht auf diese wichtige Aufgabe erschienen sind, die Arbeiten der an der Spitze unserer Schul Verwaltungen stehenden Männer, so muß man mit Erschrecken bemerken, daß der Geist der Berufsberatung, der da lebt, noch immer der altväterliche ist, der sich in philosophischen Betrachtungen, wie sie alljährlich um die österliche Zeit üblich sind, ergeht. Keine Spur von fruchtbarer und neuschaffender Tätigkeit. Unsere Behörden — wenige ehrenvolle Ausnahmen abgerechnet — scheinen zu schlafen. Und doch hängt von der rechtzeitigen und richtigen Lösung dieses großen Aufgabenkomplexes mindestens so viel ab, wie von der Errichtung eines neuen Elektrizitätswerkes, der Durchstechung eines neuen Tunnels und sogar der Elektrisierung der Bahnen! Zweitens habe ich gedacht, die vorliegenden Resultate meiner Studien veröffentlichen zu sollen, weil sich mir bei der Verarbeitung meiner Versuche eine neue und, wie mir scheinen will, recht praktische Methode ergeben hat, die Methode der »Ingenogramme«, wie ich sie nannte. Die Darstellung des

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Ergebnisses der psychologischen Untersuchung in Form eines einzigen Schaubildes erschien mir, da diese Darstellung zudem eine weitgehende Relativierung der Zensierung ermöglichte, als praktisch wichtig. Ich richte an alle, die sich der Methode der Ingenogramme bedienen* werden, die Bitte, mir Material über die Ergebnisse zukommen zu lassen. Es bedarf für die grundlegende Herstellung genauer Ingenogramme der Altersklassen mehr Hilfsmittel, als mir zur Verfügung standen. Lehrlingsprüfungen, Rekrutenprüfungen und ähnliche Vorgänge eignen sich zur Ermittlung von Milieugrenzen, Schwankungsgebieten und Normalwerten, in bezug auf welche dann die Resultate der Untersuchung eines einzelnen erst für ihre richtige Würdigung erfahren können. Zürich-Meilen,

am 10. Januar 1922. Rudolf Lämmel.

Vorwort zur 2. Auflage (Marz 1923). Die rasch nötig gewordene neue Auflage ist in vielen Punkten ergänzt und verbessert. Die Ausführungen über mathematische Spezialbegabung, Sprachbegabung, Funktionsschnelle, Rekrutenprüfung sind neu. — Ich wiederhole an dieser Stelle die Bitte, mir empirisch gewonnene Ingenogramme mitzuteilen. Der Ausdruck »Intelligenzprüfung« ist als Ersatz für die nicht übliche Bezeichnung »Gesamtprüfung« zu verstehen Was im vorliegenden Buch als Intelligenzprüfung beschrieben ist, umfaßt also nicht nur die Untersuchung des Verstandes, sondern auch die aller anderen psychischen Qualitäten und auch die Feststellung der physischen Eigenschaften. Inzwischen ist die »Methodensammlung zur Intelligenzprüfung von Kindern und Jugendlichen« von W. Stern und O. Wiegmann erschienen. Dieser Sammlung habe ich zwei Tests zur Ergänzung meiner eigenen Anordnung entnommen. Im übrigen wendet sich die Sammlung mehr an den Spezial-

— Vli — forscher und Wissenschaftler, das vorliegende Buch aber ein weitere Kreise, namentlich an den Lehrer der Volksschule und der Mittelschule. Eis soll dadurch, daß es die Untersuchung der Begabungen in einen scharf umrissenen systematischen Rahmen bringt, die wirkliche Durchführung wesentlich erleichtern. Es soll ferner die Bedeutung der Begabungsforschung im Komplex der Berufsberatungsprobleme erkennen lassen, es soll die Seelenforschung als Sozialwissenschaft aufweisen und schließlich durch das Mittel der Ingenogramme einen brauchbaren Weg zeigen, wie das Ergebnis der Untersuchungen übersichtlich und präzise dargestellt werden kann. Niemand kann daran zweifeln, daß sich die wissenschaftliche Berufsberatung erst in den Anfällgen befindet. Was uns heute noch fehlt, ist ebensosehr die psychologische Typologie der Berufe, wie die der Menschen. Immerhin glaubt der Verfasser, wenigstens für die Typologie der Menschen im vorliegenden Büchlein praktisch brauchbare Methoden gegeben zu haben, während andere Kräfte ja am Werke sind, die Eigenart der Berufe psychologisch zu analysieren. Aus dem Zusammenwirken beider Gruppen von Untersuchungen: der genauen Kenntnis der Berufe wie der genauen Kenntnis der Ingenogramme von Milieus und Persönlichkeiten, wird einmal eine angenähert exakte wissenschaftliche Berufsberatung entstehen. Mir ist kein Zweifel, daß die Volksschule berufen ist, in der Frage der psychologischen Berufsberatung eine sehr erhebliche Vorarbeit zu leisten. Ich habe mich seit Jahren mit der praktischen Durchführung von psychologischen Untersuchungen im Rahmen meiner pädagogischen Tätigkeit beschäftigt, ohne auf die von der Universitäts-Psychologie ausgehenden Strömungen zu achten. So ist es gekommen, daß die im vorliegenden Buch enthaltene Zusammenstellung und die darin vertretenen Anschauungen nicht einer der zeitgenössischen »Schulen« entstammen, sondern die Darlegung eines persönlichen Weges sind. Wenn ich mich auch heute mit Vergnügen der Vorlesungen M e u m a n n s vor 25 Jahren in Zürich erinnere, so muß ich doch gestehen, daß ich die methodischen Grundlagen meiner Untersuchungen der Beschäftigung mit den exakten Wissenschaften verdanke, nicht einer Anregung dieses

— Vili — hervorragenden Bahnbrechers. Die äußere Anregung aber kam aus dem unmittelbaren praktischen Bedürfnis danach. Wenn einmal den Universitäten pädagogische Fakultäten angegliedert sein werden (ist denn nicht die Erziehung ein ebenso wichtiges Kulturgebiet wie Medizin, Jus oder Gottesgelehrtheit ? ?), wird die Beschäftigung mit den Problemen der Intelligenzforschung wohl ein Bestandteil der als notwendig zu erachtenden Lehrerbildung werden. Damit wird dem Stand der Volksschullehrer, zugleich mit seiner Erhebung auf ein höheres gesellschaftliches und intellektuelles Niveau, eine große Aufgabe zugewiesen. Wie denn überhaupt gesagt werden muß, daß ein wichtiger Teil unmittelbar bevorstehender Kulturarbeit von den Lehrern der Volksschule ausgehen wird.

Rudolf L&mmel.

Inhalts-Verzeichnis. Seite

Vorbemerkung Die Entdeckung der mensdilidien Seele Intelllgenzprüfung. Wozu dient die Begabungsprüfung ? Die psychologische Berufsberatung. Massenprüfung und Einzelprüfung

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Untersuchungsplan für die BegabungsprOfung. I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

Das Gedächtnis Technische Begabung Aufmerksamkeit und Konzentration Kombination und Phantasie Die künstlerische Veranlagung Das Sprachtalent Urteil und Kritik Die allgemeine geistige Reife Die mathematische Begabung Blick, Beobachtung, Zeugnistreue Die körperliche Prüfung

Die Rekrutenprfifung Die rechnerische Verwertung der Resultate Das Ingenogramm Intelligenz und Moral Berufstypologie Singulfire und Typogene Die Berufung in der modernen Demokratie Proben aus der Seebacher BegabungsprOfung

33 38 49 56 61 69 72 74 76 94 99

. 101 105 114 139 144 154 172 177

Tabellen für die Ingenogramme zweier Klassen (Anhang) . 184

Erstes Kapitel.

Die Entdeckung der menschlichen Seele. Die älteste Wissenschaft ist die Astronomie, das jüngste Gebiet menschlicher Forschung aber ist die Biologie der kindlichen Seele. In diesem Werdegange liegt eine eigene Tragik enthalten: der Weg von grenzenloser Ferne bis zum unmittelbaren eigenen Ich. Dieser Weg ist für die abendländische Kultur charakteristisch. Anders lief die Entwicklung im Orient; dort wurde das Ich schon vor Jahrtausenden entdeckt. »Kummer und Zorn« spricht Sanatsujata im Mahabharatam, »Begierde und Lust, Hochmut und Schlaffheit, Neid, Verblendung, Unbeständigkeit, Weichmütigkeit, Verdrossenheit, das sind die zwölf großen Sünden, welche das Leben der Menschen verderben. Der Begehrliche, der Gewalttätige, der Rauhe, der Geschwätzige, der Zornmütige und der Prahlerische, das sind die Sechs mit menschenfeindlichen Gesinnungen. Der Genußsüchtige, der Unbillige, der Hochmütige, der mit seiner Freigebigkeit Prahlende, der Geizige und Schwache, der viel sich Rühmende, der sein Weib Hassende, diese Sieben heißen die übrigen übelgesinnten Menschenfeinde«. Solche Selbstanalyse führten die Inder zu einer Zeit aus, da von einer europäischen Kultur noch kein leiser Schimmer vorhanden war. Während der Osten aber weiterhin fruchtlos an der Verinnerlichung bohrte, kam eine Absplitterung dieser altindischen Menschheitslehre, durchs Judentum hindurch, als Christentum nach Europa. Die religiöse Vertiefung, deren Zielsetzung in ein weit entferntes Jenseits gerückt war, verhinderte die Entdeckung der Seele im biologischen Sinne. Furcht und Schrecken vor dem ewigen Strafgericht hielten L ä m r a e l , Inteliigenzprüfung.

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die mittelalterliche Seele gefangen. Das völlige Fehlen des Entwicklungsbegriffes ließ den Gedanken an eine Erziehung im modernen Sinne nicht aufkommen. Wohl weiß ich, daß namhafte Forscher in jüngster Zeit versucht haben, das mittelalterliche Denken in einer der modernen Auffassung sympathischeren Färbung darzustellen. Vielleicht gelangt der Kunsthistoriker und der Denkmalforscher mit geringer Autosuggestion zu der Meinung, daß die Seele des mittelalterlichen Menschen von einer wundervollen Ruhe erfüllt sei, daß eben gerade durch diese auf ein unendlich fernes Ziel gerichtete Sehnsucht eine solche Festigkeit und Harmonie dem Menschen gegeben war, wie sie dem modernen Abendländer durchaus unbekannt, ja auch geradezu unverständlich ist. Diese Auffassung erscheint mir aber durchaus als eine Illusion; etwa von der Art, wie man sich gelegentlich das Leben eines Naturvolkes vorstellt: Ein friedliches Dasein in einem herrlichen Urwald unter paradiesischen Bedingungen. Die Wirklichkeit sieht leider ganz anders aus. — Wohl kann niemand den Eindruck leugnen, den die gewaltigen Baudenkmäler der mittelalterlichen Religiosität im Menschen des 20. Jahrhunderts erwecken. Trotzdem — ich sehe hinter den Mauern der gotischen Bauten die vergrämten Gesichter der Arbeiter, welche diese Bauten errichtet haben. Ich sehe in die Hütte der Leute, erkenne ein trauriges Dasein von gedrückten, gequälten, unerschlossenen Menschenseelen. Ich sehe die zunehmende Verrohung der Religiosität, sehe, wie ihre Träger und Repräsentanten mit brutaler Gewalt den leise sich meldenden Genius des menschlichen Geschlechtes vernichten, ich sehe zahllose Scheiterhaufen im christlichen Abendlande brennen, durch welche im bunten Durcheinander harmlose alte Weiblein und nicht minder harmlose Schulmeister mit der gleichen Grausamkeit vom Leben zum Tode befördert werden, mit der Calvin seinen größeren Nebenbuhler Serveto vernichtete. Dies alles jenem großen jüdischen Propheten zur angeblichen Ehre, dessen reine Worte für das junge germanische Volk in Wahrheit ganz unverständlich geblieben waren. Vielleicht kann man sagen, daß sich in der deutschen und italienischen Renaissance zum ersten Male die Seele freier Menschen regte. Gewiß aber scheint mir, daß die menschliche Seele noch für



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unsere Humanisten wie Zwingli und Melanchthon eine Terra incognita war. Man begreife wohl, was für ein großer Unterschiedbesteht zwischen dem, was wir unter Seele verstehen, und jenem, was die kirchliche Lehre als Seele bezeichnet. Das letztere ist' ein Geist, ein selbständiges Wesen, dessen zeitweilige Wohnung der Körper ist. Vor der Geburt und nach dem Tode existiert dieses an sich unveränderliche und ewige Gebilde. Hierin kam das indische Denken der christlichen Auffassung nahe, ohne sie indes in ihrer wahnsinnigen Ubertreibung ganz zu erreichen: D e r L e i b i s t e i n v e r ä c h t l i c h e s G e f ä ß der e r h a b e n e n u n s t e r b l i c h e n S e e l e ! Wie ganz anders ist dagegen die moderne Auffassung vom Wesen der menschlichen Seele! Man erlaube mir, es geradeheraus zu sagen: Eine Seele in jenem aus den indischen Vorstellungen entnommenen und im Abendlande bis zur Karikatur verzerrten Sinne gibt es nicht! Was wir als Seele begreifen, ist eine Summe von Fähigkeiten, Eindrücke aufzunehmen, Gedanken und Vorstellungen zu bilden, Ziele und Zwecke zu w o l l e n . Ohne die Frage, ob das Leben an und für sich eine unkörperliche Sache sei, entscheiden zu wollen, müssen wir uns vor der Tatsache beugen, daß die Seele der Menschen sich meist parallel mit dem Körper entwickelt. Die Seele des einzelnen ist bei seiner Geburt keineswegs ausgebildet; so wenig wie der Körper. Die Seele, das heißt jene genannte Summe von Fähigkeiten, wächst und entwickelt sich; sie ist also in einem höheren Sinne ein biologisches Gebilde. Wir kennen durchaus keine Seelen, die unkörperlich existieren würden. Die starre mathematische Seele des christlichen Dogmas ist wie so manches andere (Hexen, Zauberer, Engel, Teufel) ein Wahngebilde des verirrten Denkens. Wenn wir solchen kindlichen Aberglauben verflossener gelehrter Generationen ablehnen, so wollen wir doch nicht in das andere Extrem verfallen und nun die Seele schlechthin als ein begabtes Gemenge von bewegten Atomen des Sauerstoffs, Wasserstoffs, der Kohle und des Kiesels, des Schwefels, und Eisens usw. auffassen! So wenig die Atome ein Letztes, sind, daran die Vorstellung haften kann, so wenig ist der B e griff »Bewegung« ein befriedigendes Letztes in unserem philosophischen Weltbilde. Wäre die Spur einer Möglichkeit vori*



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handen, Seele aus Bewegung zu erklären — gerne wollten wir die Spur verfolgen. Doch ist kein Zweifel, daß eher das Umgekehrte Aussicht auf Erfolg hat, nämlich: die Eigenschaften der Seele als letzte Bausteine eines Weltbildes zu nehmen. Solche Gedanken zu begreifen, genügt es freilich nicht, auf dem Boden einer traditionellen philosophischen oder religiösen, mystischen oder realistischen Schule zu stehen. Man muß wissen, was die Forschung des verflossenen Jahrhunderts aufgedeckt hat, man muß erkannt haben, wie der Begriff der groben, plastischen Materie unter dem festen Griff der Forschung mehr und mehr verblaßte, wie die Idee der »absoluten« Bewegung mehr und mehr aufgegeben werden mußte, um einer r e i f e n Skepsis Platz zu machen. So wenig wir die »Geisteskraft« eines Menschen nach den Formeln und Definitionen der Physik messen können, so wenig können wir das Gemüt und den Verstand eines Menschen (und auch nicht eines anderen Lebewesens) aus der Bewegung der landesüblichen 80 Elemente erklären. Und anderseits: Die Seele eines Menschen ist nicht etwa ein Ding von g e r i n g e r e r Realität als zum Beispiel der Stoff. Genau so wie im Leben der Völker die gewaltigste Macht nicht dem B e s i t z zukommt, sondern der Idee, so ist auch im Leben des einzelnen sein s e e l i s c h e r Besitz das Entscheidende, nicht sein materieller. Die Gäben des Gemütes und der Intelligenz, die sich in einem Volke finden, sind unvergleichlich wichtiger als seine Kohlenbergwerke, Schiffe und Eisenhütten. Darum ist der Grundgedanke der sog. »materialistischen Geschichtsauffassung« völlig verfehlt: daß die materiellen Verhältnisse den Lauf der Geschichte, das Geschick der Völker bestimmen. Wäre dem so, dann wäre die kleine Schweiz längst verschwunden, dann hätte Deutschland, das alte Deutschland militaristischer Prägung, längst die Vorherrschaft über Europa, dann gäbe es auch niemals Aufstände in Irland, in Indien und vieles andere mehr. Nein: ein einziger Gedanke (und wir wollen als vorläufige Orientierung ausdrücklich sagen: sogar ein falscher!) kann einen mächtigen Staat stürzen; Aberglaube und Haß, Vorurteil und Kurzsichtigkeit können über alle materielle Macht triumphieren, geradeso wie dies soziale, religiöse, patriotische Ideale können. Es mag für ein gewisses Stadium der Entwick-



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lung, für gewisse bescheidene Gemüter, und schließlich: relativ zu noch unsicheren Standpunkten ein Fortschritt sein, sich das Werden als ein »materialistisch bedingtes« vorzustellen. Allein der Gedanke solcher einfacher Kausalitäten, wie sie dabei vorschweben, ist nun als gar zu grob erwiesen. Wir können hier, wo wir von der Seele als einem psychologischen Gebilde sprechen, darauf nicht näher eingehen. Ich verweise auf die Folgerungen, die sich m erkenntnistheoretischer Hinsicht aus der modernen relativistischen Auffassung des Geschehens ergeben, und die ich in meiner »Relativistischen Weltauffassung« geschildert habe. Daß ich mit meinen Anschauungen allein stehe, kann mich nicht irre machen. Zwischen der universellen Kathederphilosophie und den Strömungen des modernen Mystizismus geht meine Auffassung jenen mittleren Weg, der in der Richtung der wirklichen Entwicklung liegt. Wer hat die menschliche Seele, die wirkliche, entdeckt ? Ich weiß es nicht. Ich vermute, daß die englischen Aufklärer und teilweise auch ihre französischen Nachfolger die erste Ahnung von der Existenz einer menschlichen Seele als eines psychologischen Gebildes erlebten. Um die Zeit, da die letzten Scheiterhaufen in Europa brannten und da der Gedanke an die Gleichberechtigung aller Menschen entstand, da Rousseau auftrat und das Volk Frankreichs das mittelalterliche Denken in einem Meere von Blut ertränkte — um diese Zeit fing die menschliche Seele an, Gegenstand der Forschung zu werden. Hätte die Entwicklung des europäischen Denkens unmittebar an die englischen Aufklärer angeschlossen, so wäre der Menschheit vermutlich jene übermaterialistische Epoche erspart geblieben, die das ig. Jahrhundert brachte. Das philosophische Denken des europäischen Westens hat sich nach Newton in zwei Ströme gespalten: Der eine Strom ging über die e n g l i s c h e n Aufklärer, der andere über die f r a n z ö s i s c h e n und deren deutsche Nachahmer. Indem nun der Entwicklungsgang durch die letztere Richtung bedingt ward, geriet die Philosophie unserer Zivilisation in einen Sack. K a n t bezeichnete im Strome dieser deutsch-französischen Richtung einen Höhepunkt, in Hegel aber erlebte diese Art philosophischer Pseudomathematik ihren Harlekin. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts brachten endlich die endgültige



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Abwendung von der spintisierenden Philosophie, die als Nachfolgerin kirchlicher dogmatischer Lehre an ihrer eigenen Sterilität zugrunde ging. In der neu entstandenen Psychologie des Abendlandes treffen sich endlich die drei großen Völker des Westens wieder: die Deutschen, die Engländer und die Franzosen. Diese abendländische Psychologie der Gegenwart hat nichts mehr mit kirchlicher Dogmatik und nichts mehr mit metaphysischer Philosophie zu tun; sie ist eine reine Naturwissenschaft geworden. Da sie die ureigenste Angelegenheit der Menschen selbst betrifft, sollte sie uns eigentlich wichtiger denn jede andere Wissenschaft sein. Schließlich können wir darin sogar einen tiefen Sinn erblicken, daß wir die menschliche Seele zuletzt entdeckt haben: erst die Schale, dann, der Kern. Man begreife wohl, daß das gedankliche Niveau eines Volkes zu einer gewissen Zeit bei einem anderen Volke schon in einer viel früheren Zeit erreicht worden sein kann. Wenn Jesus Christus sagt: »Seid wie die Kinder«, »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, »Wehe dem, der den Kindern Böses tut« usw., so offenbart sich in diesen Gedanken eine hohe Ethik, mit welcher verglichen die der zeitgenössischen Griechen Römer und Germanen recht roh war. Die Seele des Kindes, ist in der Tat der liebenswerteste Gegenstand. Freilich, wenn Ellen Key das gegenwärtige Jahrhundert als das des Kindes bezeichnete, so hat sie vermutlich ein wenig vorgegriffen. Für -die große Mehrzahl der Menschen sind die Kinder die gleichgültigste Kategorie der Zeitgenossen, und es mag vielleicht frühestens das 21. Jahrhundert sein, das den Ehren-Namen »Jahrhundert des Kindes« zu tragen verdient. Ist es 150 Jahre her, daß die lebendige Seele des Menschen entdeckt wurde, so ist es vielleicht ein Menschenalter, daß die Seele d e s K i n d e s bemerkt wurde. Eine spätere Menschheitsepoche wird erst von dieser Entdeckung an die Neuzeit zählen, nicht von der Entdeckung Amerikas. Nur der ganz im Materialismus versunkene Geist der französischen Aufklärung und der deutschen mathematisierenden Philosophie konnte die Entdeckung Amerikas als eine Erweiterung des menschlichen Vorstellungsvermögens begreifen; etwa wie der Mann, der da meinte, er habe nun



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einen größeren Horizont, da er über Nacht Millionär geworden war. Wie im Leben der Völker vom Primitiven zum Differenzierten hin etwas wie eine Entwicklung stattfindet, so hat auch jeder einzelne seine Stufen der Erkenntnis durchzumachen. Das Kind ist seinem Urzeitinstinkt entsprechend zur Härte geneigt, und nur derjenige, dessen Wissen von der kindlichen Seele vom grünen Tische stammt, wird beim Kinde durchweg Herzlichkeit, Milde und Sanftmut suchen. Macht das Kind, bevor es das Licht der Welt erblickt, die Entwicklungsstadien tiefer stehender Organismen durch, so zieht sich der Gang des Werdens von der Geburt bis zur Reife längs der Spuren der menschlichen Ahnen hin. Das dreijährige Kind kann vielleicht einen eigentümlichen Charakterzug einer seiner 16. Ur-UrGroßeltern zeigen. Der 12 jährige Knabe wird dann vielleicht trotzdem das Ebenbild seiner Großmutter sein; dies alles aber kann verblassen, ehe das Kind zum Manne geworden, der dann entweder ein Eigener ist oder etwa auch als seines V a t e r s Kind durchs Leben geht. So ist die kindliche Seele belastet durch das Erbgut der Ahnen, und die Erziehung kann nur lösen, was gebunden ist, niemals aber etwas schaffen, wozu die Anlagen fehlen. Doch diese Lösung ist eine gewaltige Aufgabe. Nichts charakterisiert unsere westliche Kultur mehr als die grenzenlose Gleichgültigkeit, die alle gegeneinander empfinden. Daß jeder Mensch eine Welt für sich ist, daß jeder vom Regierungsrat bis zum Zuchthäusler eine Seele hat — was kümmert das den Bürger nebenan ? Allerdings, er ist ein Christ, und für ihn wird gelehrt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Aber, du meine Güte: wer wird solche Worte gar so genau nehmen ? Wohin käme man, wollte man wirklich seinen Nächsten »lieben wie sich selbst«? Noch mehr: je gebildeter ein Mensch ist, desto eher wird er sich für einen Stein oder für eine Pflanze interessieren, gelehrte Abhandlungen schreiben, als daß er für seinen. Mitbewohner auf der Erde oder in derselben Stadt ein lebendiges Interesse hätte. Es genügt nicht, die menschliche Seele entdeckt zu haben ; man muß die gewonnene Erkenntnis fruchtbar gestalten. Dadurch, daß man seinem Nächsten eine eigene Seele zubilligt,



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statt ihn durch eine bloße Nummer zu bezeichnen, erhebt man sich und ihn aus der Herde und erkennt Individualitäten: Diesen Schritt praktisch zu gestalten, dazu soll das vorliegende Büchlein einen Beitrag liefern. Es gilt, auf Grund der also gewonnenen Erkenntnisse die Summe der Reibungen in der Maschinerie der menschlichen Beziehungen auf ein Minimum zu reduzieren. Die Vorzüge und die Schwächen, die der einzelne in bezirg auf sein Milieu zeigt, sollen ihm nicht als Lob und Tadel angekreidet werden. Im Grunde genommen hat er ja weder Lob noch Tadel verdient, denn jeder ist, was er sein muß; nichts wirkt so bestimmend auf die Gestaltung des Lebens als wie das Erbe der Ahnen. Die Erkennung der Individualitäten soll diesem Zwecke dienen: Daß der Verlauf eines jeglichen menschlichen Lebens sich unter voller Ausnützung der positiven seelischen Kräfte gestalte. Daß die Menschen nicht nur vor dem Gesetze, sondern auch vor dem Schicksal und vor der Gesellschaft der Zeitgenossen gleichberechtigt würden. Weder das Genie noch auch eine Begabung »bricht sich Bahn«. Das »Soziale Deplacement« macht die Menschen arm; die wenigsten von den im Leben Schaffenden arbeiten dort, wo sie sich ihren seelischen Anlagen gemäß mit einem Maximum an Wirkung betätigen könnten. Dies gibt nicht nur innere Konflikte, sondern auch doppelt geringere Leistung. Dabei beachten wir den Umstand noch nicht, daß die Menschen ja auch einen Teil ihrer Kräfte in nationaler, geschäftlicher, persönlicher Konkurrenz vergeuden, so daß das Geschlecht der Erdenbewohner ohnehin auf keinen Fall mit der Summe seiner Kräfte zur Wirkung gelangen kann. Die praktische Verwertung der Kenntnis von den Seelen der Menschen ist ein Stück werktätiger Menschenliebe. »Es ist bis jetzt auch ohnedies gegangen«, höre ich sagen. Jawohl. Aber wieviel Elend und Unglück war dabei im Spiel! Solange man die Menschen nur als Soldaten und Munitionsarbeiterinnen, als Arbeiter und Gebärmaschinen, als wunschlose Träger und willenlose Werkzeuge eines Machtgedankens betrachtete, war der. weitere Inhalt des einzelnen gleichgültig. Seit jenes System durch den großen Krieg etwas in Mißkredit geraten ist, darf man daran erinnern, daß das ganze Gebäude der traurigsten Heuchelei (man denke, daß doch die sich gegenüber-



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stehenden christlichen Armeen »denselben« Gott anriefen!) von der Vernachlässigung der seelischen Werte des einzelnen seinen Ausgang genommen hat. Das Zeitalter des Militarismus wird erst dann vorbei sein, wenn jeder Seele ihre Auswirkung gegönnt ist, wenn es also keine psychischen Menschenherden mehr gibt. Das Studium der seelischen Eigenschafte'n hat seine größte Bedeutung in der Berufsberatung. Ich habe mich oft gefragt, wie es möglich ist, daß unsere Zeit sich mit einer so unvollkommenen Einrichtung der Berufsvermittlung begnügt, wie wir sie heutzutage vorfinden. Eine Erklärung für diese geradezu jämmerliche Unzulänglichkeit kann ich nur darin finden, daß die meisten Menschen die große Bedeutung dieser Frage nicht erkennen. Die Jagd nach dem täglichen Verdienst, der Ehrgeiz des politischen Lebens, die Eitelkeit so vieler kleiner Geister, die im Getriebe der öffentlichen Verwaltung große Rollen spielen, die Macht der Tradition, dies alles bewirkt, daß die Menschen oft jahrzehntelang an einer grundsätzlichen Frage vorbeigehen, ohne sie ernstlich anzupacken. Die psychologische Berufsberatung muß künftig genau ebenso ein Hauptstück sein wie der Schulunterricht. So wichtig alle Aufgaben der Erziehung sind — was nützt die beste Erziehung, wenn die also Erzogenen nicht auch dorthin berufen werden, wohin sie nach ihren inneren Anlagen gehören ? Erziehungssystem ohne Organisation der Berufung ist ein Gefäß ohne Inhalt. Die Beobachtung des .Werdeganges eines jeden Kindes wird dazu führen, die einzelne Psyche in einem viel höheren Grad zu berücksichtigen, als dies bisher geschehen ist. Die menschlichen Anlagen sind so verschieden, daß sich aus der heutzutage mehr oder minder einheitlichen Volksschule mehrere parallele Typen mit etwas verschiedener Verfassung loslösen müssen. Dadurch wird die einzelne Veranlagung besser verwertet und minder gemartert. Denn jede Schulung ist eine gewisse Vergewaltigung der Individualität, die nur durch die Unmöglichkeit, einem jeden ganz genau die entsprechende Schule und die entsprechenden Lehrer zu bieten, entschuldigt wird. J e weniger Tragödien wir in kindlichen Seelen der nächsten Generation auslösen, desto größer die positive Lebenskraft dieser kommenden Menschheit. Aus der

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regelmäßigen Betrachtung der Psychen der Schulkinder wird sich eine natürliche Verteilung in die Begabungsgruppen ermöglichen lassen. Ebenso wichtig wie die psychologische Berufsberatung wird die A u f s c h l i e ß u n g oder Lösung der einzelnen Seele werden. Wenn die Schullehrer mit Verstand und Liebe an die Aufgabe, gehen, die Seelen der Kinder zu erforschen, die Kinder nach den Ergebnissen dieser Forschung zu behandeln, dann wird sich bei dieser Gelegenheit zeigen, daß gar viele kindliche Psychen »verschlossen« und »unentwickelt« sind, daß ihre Entwicklung aus allerlei Gründen (Vererbung, Milieu) einen Defekt zeigt. Leichte Fälle wird der Lehrer selbst lösen durch die Besprechung mit dem Kinde, den Eltern usw. Schwere Fälle werden vielleicht einem sachverständigen Arzt zuzuweisen sein. Es ist klar, daß die meisten derartigen »Lösungen« auch mit einer Bearbeitung des Milieus verbunden sein müssen. Oft genug sind es ja die Eltern, die durch unverständiges Verhalten die Erschließung der Seele ihres Kindes hemmen. Sind doch die meisten Menschen »unerschlossen« durchs Leben gegangen, sich selber und ihres Daseins kaum bewußt, von Alltag zu Alltag taumelnd und niemals sich selbst gewahrend und verstehend; daher, »warum soll es mein Kind anders haben als ich?« — Dies ist, ausgesprochen und unausgesprochen, das Argument der Tradition. Wie ein bleierner Traum liegt es über der Menschheit, daß die meisten, geradeso wie sie ahnungslos aus der Kindheit ins Leben hineinwachsen, so auch ohne innere Vertiefung und ohne Selbsterkenntnis leben, heiraten, Kinder erziehen, Gesetze machen, einen Beruf ausüben. Es fehlen mir die Worte, die sehr große Bedeutung dieses Problems der »Aufschließung« der Seelen zu beschreiben. Unerschlossene Menschen sitzen in unseren Ratssuben und in den Kontors, ungelöste Konflikte beschweren das Denken der meisten Zeitgenossen. Von besonderer Bedeutimg ist dies Problem, das für die Herde schon wichtig genug ist, für den Führer. Ein einziger ungeschickter Professor, den die Zürcher einmal an der Technischen Hochschule als Lehrer hatten, verschuldete für tausend junge Leute unerquickliche Verhältnisse, für das Land einen technisch-wirtschaftlichen Schaden von größter Bedeutung. Ein



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ungeschickter oder etwas pathologischer Leiter eines städtischen Verwaltnngszweiges kann für seine Gemeinde zu einem großen Übel, für seine Angestellten zu einer Qual werden. Die »unerlösten« Menschen sind es, die- kleinlichen Zank als Lebensbeschäftigung üben, die um nichts Prozesse führen, Frau und Kinder quälen, im Suff die Erlösung suchen. Darum sind es auch nur die gewaltigsten Mächte, wie die R e l i g i o n , die imstande wären, Erlösung zu bringen. Soweit es sich dabei um wirkliche Religiosität handelt, ergibt die Verinnerlichung als Wirkimg, etwa wie ein psychisches B a d , eine wohltätige Lösung von Konflikten. Es ist ein Gebot der liebe, kranke Psychen zu heilen und ihre Konflikte zu lösen. Die Menschheit gewinnt dabei Kraft und verliert — Anstaltsinsassen ! Dieses gewaltige Menschheitsproblem ist heute erst an einer einzigen Stelle erkannt: die Psychoanalyse versucht beim k r a n k e n Menschen die Heilung durch Lösung von inneren Konflikten. Aber auch hier ist die vorsorgliche Behandlung viel sicherer als die nachträgliche Kur.

Zweites Kapitel.

Intelligenzprüfung. Wozu dient die Begabungsprüfung? Auch das Kind ist, wie der erwachsene Mensch, eihe psychische Einheit. Von dieser psychischen Einheit stammt jene Summe von unmerklichen Wirkungen, welche wir als »den Eindruck« bezeichnen, den jemand macht. Solche Eindrücke bestimmen starke Motive der persönlichen Einstellung, sie sind oft genug entscheidende Faktoren für Handlungen. Aber diese Gesamteindrücke entstehen aus Imponderabilien, d. h. aus Beziehungen, die sich nicht in scharfe Formen prägen lassen, die der Messimg natürlich durchaus nicht zugänglich sind und die häufig genug mit den persönlichen Vorurteilen des Beobachters behaftet erscheinen. Der unmittelbare »Gesamteindruck« eines Menschen darf für den erfahrenen Beobachter niemals entscheidend sein. Wie oft ereignet es sich, daß ein Junge einen sehr schlechten Eindruck macht, wenn er das erstemal vor den Berater kommt! Nicht immer aber bleibt dieser Eindruck bestehen. Denn der üble Eindruck kann aus schlechter Erziehung, aus vorübergehender Depression, aus Verwirrung entstehen. Geradeso ist es auch bei Erwachsenen. Stellt sich ein Lehrer bei einem Schuldirektor vor, so mag es wohl oft vorkommen, daß der persönliche Eindruck ein sehr guter ist. Allein trotzdem kann der gute Eindruck unter Umständen völlig verblassen, wenn sich die einzelnen Eigenschaften des Bewerbers durch Proben enthüllen. So sehr es also wahr ist, daß jeder Mensch eine psychische Einheit ist, die man nicht zerspalten kann, so wahr ist es doch anderseits, daß man einen Menschen noch durchaus nicht

— 13 — kennt, wenn man von ihm nichts als einen (wenn auch noch so starken) Eindruck hat. Will man einen Kanidaten untersuchen, so muß man sich schon entschließen, ihn zu analysieren, d. h. seine einzelnen Eigenschaften zu studieren. Dies sollte grundsätzlich immer geschehen, wenn es sich um Bewerber für eine Stelle handelt, was immer für eine Beschäftigung dabei auch in Frage komme. Die Postverwaltung wie die Eisenbahn, eine Fabrik oder ein kaufmännisches Kontor oder ein staatliches Amt: wer immer eine Stelle zu besetzen hat, sollte cille Bewerber auf ihre- wirklichen (d. h. also nicht bloß durch Zeugnisse angegebenen) Eigenschaften untersuchen. Ich weiß es aus eigener Erfahrung, daß oft genug minderwertige Bewerber wegen der g u t e n E m p f e h l u n g e n , über die sie verfügen, der großen Mehrzahl der anderen unbekannten Bewerber vorgezogen werden. Überall ist dies der Fall. Der bekannte Zustand, daß die staatlichen Betriebe ausnahmslos weniger produktiv sind als die privaten, kommt zu einem sehr wesentlichen Teil daher, daß der private Unternehmer viel mehr auf gute Qualitäten seiner Beamten und Arbeiter sehen maß als der Staat und die Gemeinde. Doch sind auch hier die Berufungsverhältnisse noch ganz mangelhaft, weil auch der private Unternehmer noch nicht gelernt hat, sich Aufklärung über die spezifischen Eigenschaften der Bewerber zu verschaffen. Auch er fragt nach der a l l g e m e i n e n Intelligenz in erster Linie. Braucht aber ein Motorwagenführer besondere allgemeine Intelligenz? Braucht ein Herrenkleider-Verkäufer sie ? Ein Mechaniker ? — Alle Berufe erfordern in erster Linie eine b e s o n d e r e Eignung; wenn dazu auch noch bedeutende allgemeine Intelligenz kommt, so ist dies gut, kann aber nicht ehtscheidend sein, schon deswegen nicht, weil sie selten ist. Wer einen Menschen kennen lernen will, muß ihn analysieren. Dies ist unser erster Grundsatz. Nicht Zeugnisse sollen Aufklärung geben, auch nicht Empfehlungen, sondern die Analyse. Ich will nun zwar damit nicht sagen, daß Zeugnisse und Empfehlungen abzuschaffen seien — sie mögen neben der wissenschaftlichen Untersuchung bestehen bleiben. Nur soll ihnen nie eine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Die entscheidende Bedeutung für die Beurteilung eines Menschen soll hingegen der psychologischen

— 14 — Analyse zukommen, welche man gewöhnlich als »Intelligenzprüfung« bezeichnet. Es handelt sich aber dabei in der Auffassung der vorliegenden Schrift I. um eine Prüfung der gesamten Begabung in intellektueller Hinsicht, 2. um die Untersuchung der seelischen Fähigkeiten einschließlich der Willensstärke und 3. um die Feststellung der physischen Bedingungen. Die intellektuellen, seelischen und körperlichen Anlagen zusammen sollen als die »Begabung« der Versuchsperson bezeichnet werden und wir wollen unter »Begabungsprüfung« eine Analyse aller dieser Anlagen verstehen. Die genaue Untersuchung eines Menschen, sei es eines Kindes oder eines Erwachsenen, auf alle seine Qualitäten hin, ist bis heute niemals das Programm irgendeiner staatlichen oder überhaupt gesellschaftlichen Institution gewesen. Dies hat bewirkt, daß unsere Jugendlichen in die Welt der werktätig Schaffenden hineinwuchsen, wie es gerade der Zufall wollte. Die Gegenwart beginnt diesen Zustand als unökonomisch zu betrachten. Von zwei Seiten (mindestens) kommt die Erkenntnis, daß wir analysieren müssen, wenn wir die Einordnung des einzelnen in den gesellschaftlichen Betrieb rationalisieren wollen: B e r u f s b e r a t u n g und K a n d i d a t e n a u s l e s e . Die Berufsberatung ist eine der folgenschwersten Entscheidungen im Leben eines Menschen. Es soll durch sie festgestellt werden, welche Beschäftigung das Leben dieses einen Menschenkindes erfüllen wird. Meist ist diese Entscheidung unwiderruflich, denn das »Umsatteln« erfordert eine, beim normalen Menschen selten vorkommende Tatkraft. — Die Kandidatenauslese ist für einen größeren Wirtschaftsbetrieb, für kommunale oder staatliche Anstalten ein-wichtiger Vorgang, dessen wissenschaftliche Durchführung gegenwärtig in Amerika (New York, Boston) und in Deutschland (Berlin) in Angriff genommen wird. Ich will mich hier nur mit dem Problem der Berufsberatung beschäftigen, indem ich die Methodisierung der Kandidaten auslese einer späteren Arbeit vorbehalte. Die Berufsberatung wird heutzutage leider ganz unzulänglich ausgeübt. Es hat ja gar keinen Wert, wenn ein Jüngling von 1 5 Jahren zu einem Berater geht, sich dort um Stellen zu erkundigen. Denn man beachte wohl: was ich unter »Be-

15 — rater« verstehe, ist nicht das, was als »Stellen vermittlungsbureau« bezeichnet wird. Die Vermittlung der Stellen geschieht heute meist privat, oft durch die Zeitung, sehr selten durch die sogenannten Berufsberatungsämter. Diese sind auch gar nicht dazu da, denn ihre Aufgabe ist die B e r a t u n g , nicht die Vermittlung. Dieser Unterschied wird vielfach nicht recht begriffen. Dies hat seinen guten Grund. Die Berufsberatung geht j a bei uns meist in einer so unwissenschaftlichen Weise vor sich, daß man sie in der Tat mit den Verhandlungen eines Stellen Vermittlungsbureaus verwechseln kann! Es ist falsch, die Berufsberatung für eine Stellenvermittlung zu halten. Man muß zuerst zum Berufsberater gehen, nachher ins Stellen Vermittlungsbureau. Der Berater braucht gar nicht wissen, welche Stellen gerade frei sind. E r muß zwar einen genauen Einblick in die Anforderungen der verschiedenen Berufe haben. Aber sein R a t muß lediglich dahin lauten: »auf Grund Ihrer Anlagen sollen Sie diesen und jenen Beruf ergreifen! Ferner kommt etwa noch in Frage der folgende verwandte Erwerbszweig... « Die Berufsberatung ist eine wissenschaftliche Angelegenheit wie eine ärztliche Untersuchung. Es gehört ja ohnehin auch eine solche noch mit zu ihr, wie wir sehen werden. Stellenvermittlung aber ist eine eher kaufmännische als wissenschaftliche • Sache. Stellungen werden durch mehr oder minder gut organisierte öffentliche oder private Bureaus vermittelt, ihre Tätigkeit wird durch Konjunktur und Krise beeinflußt, während die w i s s e n s c h a f t l i c h e B e r u f s b e r a t u n g s e l b e r von der w i r t s c h a f t l i c h e n L a g e d u r c h a u s u n a b h ä n g i g ist. Die wissenschaftliche Grundlage der Berufsberatung ist die Begabungsprüfung. Das Ziel der Berufsberatung ist dieses: Auf Grund einer Analyse der intellektuellen, seelischen und physischen Eigenschaften den passenden, das heißt naturgemäßen Lebensweg herauszufinden. Eine solche Berufsberatung wollen wir, um den wesentlichen Unterschied gegen die bisherige Methode hervorzuheben, eine psychologische nennen. Die übliche Berufsberatung, bei welcher Angebot und Nachfrage den Inhalt der Beratung bilden, wollen wir als statistische bezeichnen. Statistische Berufsberatung behandelt den einen Anfragenden genau so wie den andern: »Es ist jetzt



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eine flaue Zeit, warten Sie vielleicht noch ein halbes Jahr, dann wird es vermutlich besser sein, es wird dann eine Anzahl Lehrstellen bei Mechanikern frei.« — Im Gegensatz dazu betrachtet die psychologische Berufsberatung jeden einzelnen als eine Individualität, deren Eigenschaften zu ermitteln sind. Vermittelst der Begabungsprüfung wird ein bestimmter Beruf oder mehrere verwandte als der natürlichen Anlage entsprechend erklärt. Die Begabungsprüfung dient also dazu, diesen natürlichen Beruf herauszufinden. Nun wird man mir freilich einwenden, daß dieser natürliche Beruf oft genug keinen einzigen freien Platz aufzuweisen hat. Was sollen 50 junge Mädchen machen, für welche die Berufsberatung das Schneiderinnengewerbe als ihren natürlichen Anlagen entsprechend erklärt hat, falls zufällig in der ganzen Gegend keine Lehrstelle für diesen Beruf frei ist ? Hierauf muß ich zweierlei antworten: Erstens, daß diese Frage gar nicht hierher gehört, denn unsere Ausführungen betreffen nur die Berufsberatung, nicht die Stellenvermittlung; zweitens aber: Es ist auf alle Fälle für die jungen Mädchen gut, wenn sie genau wissen, wofür sie sich eigentlich eignen würden. Die Verhältnisse können sich ja in wenigen Jahren schon gründlich ändern und für viele dieser »geborenen Schneiderinnen« kann die Möglichkeit einer Umsattlung von dem falschen Berufe, den sie ergriffen haben, zu ihrem natürlichen Beruf hin stattfinden. Ich bin überzeugt, daß der erwähnte Einwand bei weitem nicht so niederschmetternd ist, als er dem herkömmlichen Denken im ersten Augenblick erscheinen mag. Die psychologische Berufsberatung. Vom Fingerabdruck bis zum Gesichtsausdruck stellt ein jedes Menschenkind eine wohlcharakterisierte Individualität vor, ohne Doppelgänger. Und alles Denken und Sinnen, Vorstellen und Gestalten ist einem einzelnen Menschen eigentümlich, ist ebenfalls individuell. So sind alle körperlichen und geistigen, alle seelischen Eigenschaften eines Menschen für ihn typisch. Daraus allein aber folgt schon, daß es für einen jeden Menschen nur e i n e n Beruf gibt, für den er »geboren« ist. Oder eine ganz beschränkte Anzahl von verwandten Berufen. Diesen » n a t ü r l i c h e n B e r u f « zu erkennen, ist die

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Aufgabe der psychologischen Berufsberatung. Der natürliche Beruf eines Menschen ist jener, in welchem er ein Höchstmaß an Leistung für die Allgemeinheit und an Zufriedenheit für sich erzielen kann, meist fügt sich das eine dem andern harmonisch zu: selten wird jemand zu finden sein, der sich in einem Beruf, für den er besondere Fähigkeit hat, unglücklich fühlt. Aber meistens ist es umgekehrt: viele Menschen fühlen sich unglücklich oder zumindest nicht recht behaglich, weil sie in einem Berufe arbeiten, für den sie nicht besonders geeignet sind oder zu sein glauben. Denn die Einbildung spielt hier wie überall eine beträchtliche Rolle: man kann sich die besondere Eignung vortäuschen, man kann sich die Unbegabtheit einbilden. Und da Vorbauen und Vorbeugen immer besser ist als nachträgliches Verändern und Umbauen, so ist es auf alle Fälle wichtig, s i c h ü b e r d i e w i r k l i c h e n F ä h i g k e i t e n in e i n e r W e i s e zu u n t e r r i c h t e n , d i e v o n I l l u s i o n e n und S u g g e s t i o n e n frei ist. Das will die psychologische und die psychometrische Berufsberatung durchführen. Nirgends ist die Wissenschaft das Allheilmittel, überall nur ein Hilfsmittel; so auch hier. Die besten Methoden und die schönsten Apparate, mit denen man eines Menschen Fähigkeiten und Fixigkeiten studieren kann, werden niemals den lebendigen Blick des erfahrenen Beobachters entbehren lassen. Nur in der Hand des gewiegten Pädagogen ist die psychologische Berufsberatung ein brauchbares Mittel. Auch erfordert die psychologische Berufsberatung seitens des Pädagogen eine gewisse Erfahrung in den Berufen selber, in den Anforderungen, welche an den Ausübenden gestellt werden. Darum gibt die New Yorker Berufsberatung Fragebogen an die Industrie heraus, in denen die einzelnen Fabriken aufgefordert sind, ihre besonderen Wünsche in bezug auf die Eignung der Lehrlinge kundzugeben. Ebenso für die kaufmännischen Unternehmungen der verschiedenen Richtungen. Man kann drei Gruppen von Fähigkeiten unterscheiden, ohne scharfe Grenzen ziehen zu können: körperliche, intellektuelle und seelische. Die drei Anlagerichtungen mischen sich beständig. — W a s i s t e i n f e s t e r W i l l e ? Wo beginnt der Eigensinn ? Warum nennen wir ein Kind, das unbedingt ein Stück Schokolade haben will und darum weint und zappelt, L ä'm m e 1, Intelligenzprüfung.

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eigensinnig, einen Mann aber, der unbedingt Nationalrat werden will und es vielleicht auch wird, »willensstark«? Wie schwach erweist sich doch unsere Urteilskraft, wenn wir solche Vergleiche betrachten! Die Eigenschaften des Körpers, des Geistes und die Anlagen des Gemütes bilden stets eine dreifache Durchdringung, die nach außen als »einzelne« scheinbar klar begrenzte Eigenschaften erscheinen. Die psychologische Analyse muß durch wohldurchdachte Versuche die elementaren Qualitäten aufhellen: Gedächtnis, Phantasie, Kombination, Präzision usw. Aber nie wird der erfahrene Psychopäde vergessen, daß der Mensch selber, den er vor sich hat, eine durch tausend Korrelationen gebundene harmonische Einheit ist, in der kein einzelnes Moment seiner elementaren Qualitäten frei, unverbunden sich auswirken und beobachtet werden kann! Die psychologische Berufsberatung soll als Gegensatz zu der »statistischen« und zur »altväterlichen« aufgefaßt werden. Geht man mit dem Knaben zu einem wohlmeinenden Pfarrer oder zu einem freundlichen Onkel, um. den künftigen Beruf zu besprechen, so mag es wohl vom natürlichen Takt und Geschick des Beratenden abhängen, wieviel »Psychologie« mit ins Spiel kommt. Geht man zu einer amtlichen Berufsberatungsstelle unserer Gegenwart, so spielt meist die Frage nach dem unmittelbaren Stand von Angebot und Nachfrage die wesentliche und entscheidende Rolle. Wo ein Plätzchen frei ist, dort wird es besetzt. Am Ende des Jahres erscheint die amtliche Statistik über die Tätigkeit der städtischen Berufs Vermittlung. Starke praktische Rücksichten und das Bedürfnis der unmittelbaren Gegenwart entscheiden die Berufswahl, wenig oder gar nichts hat dabei die natürliche Begabung zu sagen. Zwar, in den Fällen ausgesprochener auffallender Veranlagung namentlich in künstlerischer Richtung wird heute wohl meist der »natürliche Beruf« gewählt. Allein es ist eben dies zu fordern: nicht nur der für die Malerei geborene Mensch soll wirklich auch Maler werden, sondern j e d e r s o l l d a s w e r d e n , w o f ü r er g e b o r e n i s t ! Auch der Schlosser uitd der Feinmechaniker, der Lokomotivführer und der Professor sollen zu ihren Berufen nur auf Grund wirklicher Veranlagung, nicht auf Grund unsachlicher Bedingungen kommen. Ich muß daher verlangen, daß schon die Lehrer in der Volks-

— 19 — schule in der Lage sein müssen, den natürlichen Veranlagungen der Kinder ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Schule hat künftig nicht nur die Aufgabe, gewisse Kenntnisse zu vermitteln, sondern auch noch die der Forderung unserer Zeit entsprechende: die Anlagen der Kinder zu erforschen, sie danach möglichst individuell zu behandeln und nicht zu sehr auf Egalisierung der Bildung hinzuarbeiten. Gerade in einem vorsichtigen, liebevollen Eingehen auf die Eigenschaften des einzelnen liegt die Möglichkeit der Erzielung größerer Leistungen und größerer kindlicher Zufriedenheit mit der Schule. Hat der Lehrer vorgearbeitet, so wird sein Urteil, zusammen mit der Anschauung der Eltern und des Kandidaten, eine wichtige Grundlage für die Berufsberatung geben. Diese Berufsberatung aber sollte sich folgendermaßen gestalten: Mit dem fünfzehnten Lebensjahre (bis wohin die Ausbildung aller Kinder am besten in einer gemeinsamen Einheitsschule zu geschehen hat) soll jedes Kind einer g e n a u e n U n t e r s u c h u n g in bezug auf den Körper, den Intellekt und die Psyche unterworfen werden. Es soll durch eine solche Untersuchung, die natürlich einige Mühe verursacht und sich auf einige Tage ausdehnen kann, festgestellt werden, ob der Knabe besondere Anlagen aufweist, welche einen bestimmten Beruf als den natürlichen und daher wünschenswerten erscheinen lassen. Eine solche wissenschaftliche Berufsberatung kann freilich nicht von heute auf morgen geschaffen werden. Aber sie wird kommen und sie ist auf dem Wege! Man wird nun zunächst alle ausgesprochenen Richtungen absondern, über ihre natürlichen Berufe wird meist kein Zweifel sein. Dann werden die übrigen so behandelt: es wird festgestellt, welche Eigenschaften, auch wenn sie nicht »absolut« bedeutend sind, für das Kind «(relativ« wichtig erscheinen. Es wird ermittelt, wo die Maximalleistung zu erwarten ist, auch wenn diese Maximalleistung keine absolute Höchstleistung sein wird. Dazu gehört vor allem das Ausschalten der negativen Richtungen: der Knabe soll n i c h t studieren, er soll n i c h t Elektrotechniker werden, n i c h t Mechaniker usw. Auf solche Weise wird sich der Wahlbezirk immer mehr einengen. Erst wenn diese Durchmusterung beendigt ist und eine Gruppierung 2*



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vorgenommen wurde, soll gefragt werden: welche Stellen sind für unsere Kandidaten offen ? Und hierbei soll der Wahlkreis nicht zu eng gezogen werden. Für unser Land, weniger als vier Millionen Einwohner, sollte ein zentrales Amt die Anmeldungen aller Berufe einheitlich regulieren. Alle offenen Stellen in den Fabriken und Kaufhäusern, bei kleinen Meistern wie bei großen Unternehmern sollten zentral angezeigt werden. Natürlich wird zunächst nicht zu erwarten sein, daß j e d e r wirklich seinen »natürlichen Beruf« finden und erlernen kann. Aber wenn sich dieser Grundsatz als allgemeines Prinzip durchsetzt, so ist ein Schritt getan. Auch die Studiumsberatung gehört in die Berufsberatung. Wie oft entscheidet doch der Zufall, der Wunsch des Vaters oder des Onkels, was der Junge studieren muß! Hier erkennt man, welche Bedeutung es hat, wenn die Schule bis zum fünfzehnten J a h r einheitlich durchgeführt wird: die Wahl des künftigen Berufes wird für diejenigen, welche sich durch weitere Studien auf ihn vorbereiten, wesentlich erleichtert. Man erkennt, daß die Berufsberatung in Zukunft ein wichtiges Stück der »Staatspädagogik«, daß sie ein wesentlicher Teil der »Erziehung der Massen« werden muß. Nichts steht still, weder in der Natur, die uns umgibt, noch in den Einrichtungen der Menschen, deren Träger wir sind. Die Schule wird durch die wissenschaftliche Berufsberatung ergänzt, die Kinder des Volkes sollen nicht nur nach modernen Methoden u n t e r r i c h t e t , sondern auch berufen werden. Mehr und mehr gehen die wirtschaftlichen Betriebe dazu über, die Details ihrer inneren und äußeren Organisation nach den Grundsätzen Taylors einzurichten; aber auch die vollendetste Durchdringung eines Wirtschaftssystems mit den Ideen Taylors nützt wenig oder nichts, wenn die Menschen, welche die Träger und Regulatoren dieses Systems sind, nicht für die speziellen Aufgaben ihres täglichen Schaffensgebietes auch besonders begabt sind. Die Forderung nach einer psychologischen Berufsberatung bedeutet also in einem gewissen Sinne die Ausdehnung des Taylor-Systems auf die lebendigen Menschen. Nicht nur die mechanische Arbeit soll auf ein Minimum reduziert werden: auch die soziale und psychische R e i b u n g



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der Menschen, welche diese Arbeit leisten, soll zu einem Minimum gemacht werden. Das vornehmste Mittel aber, dieses Ziel zu erreichen, ist dies: Man trachte, daß in einem jeden Betrieb die einzelnen Arbeiter möglichst an jenen Plätzen wirken, die ihrer natürlichen Anlage am besten entsprechen. Schließlich ist jedes Volk und der von ihm gebildete Staat ein solcher Betrieb. Die Gesellschaft übernimmt freilich mit der allgemeinen Durchführung der wissenschaftlichen Berufsberatung eine neue Aufgabe und der Bürger neue Lasten. Wer will aber zweifeln, daß die für solche Zwecke verwendeten Mittel sehr viel produktiver sind als die hundertmal größeren militärischen Lasten. Wenn die Staaten mehr und mehr dazu gelangen, die stehenden Armeen abzuschaffen und wenigstens einmal das Milizsystem nach schweizerischem Muster einführen, so werden für diese und viele andere soziale Aufgaben genug Mittel frei! 1 ) Das ganze Berufsberatungssystem der Vereinigten Staaten von Nordamerika kostet noch nicht einmal den zehnten Teil der Summe, die der Bau eines einzigen Kriegsschiffes verschlingt! Allerdings steht auch dort die Berufsberatung, obschon sie weiter fortgeschritten ist als irgendwo, noch in den Kinderschuhen.

Der Spielraum in der Berufswahl. So wahr es ist, daß die natürlichen Anlagen eines jeden Menschen ihm einen ganz bestimmten Beruf vorschreiben, in welchem er das Maximum seiner Leistungen erreichen kann, so wahr ist anderseits folgender Satz: ein intelligenter und willensstarker Mensch wird in jedem beliebigen, bürgerlichen Beruf nicht nur überhaupt etwas leisten, sondern er wird darin sogar tüchtig werden können. Ein L e h r e r sagte mir, er hätte ebenso gut S c h r e i n e r werden können, denn er habe für diesen Beruf eine besondere Neigung und Vorliebe. Er habe aber auch für den kaufmännischen Beruf ein unbezweifelbare Neigung und er sei sicher, daß er auch ein guter K a u f m a n n geworden wäre. — Unzweifelhaft ist es richtig, daß die Menschheit auch leben kann, wenn sie nicht mit dem ') Das gilt in erster Linie heute für Frankreich, Italien und die slawischen Staaten.

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Maximum an rationeller Organisation ausgerüstet ist. So wenig man es als den Endzweck des menschlichen Daseins auf der Erde betrachten kann, daß ein jeglicher möglichst viel arbeite, so wenig kann man den letzten Zweck einer wissenschaftlich begründeten Berufswahl etwa darin erblicken, daß man auf diesem Wege erreichen soll, die Summe der geleisteten Arbeit auf ein Maximum zu bringen. Dies wäre der Standpunkt eines militärischen Herrschers oder eines Sklavenhalters. Das ist auch der Standpunkt der französischen Senatoren, die gegen die Einschränkung der Geburtenzahl auftreten, weil sonst Frankreich zwei Jahrzehnte später zu wenig militärische Arbeit leisten würde! — Bei der richtigen Berufswahl geht es aber innerster Linie um etwas ganz anderes als um die maximale Arbeit, nämlich um das p e r s ö n l i c h e G l ü c k , das in der Ausübung des am meisten zusagenden Berufes gefunden wird. Die notwendige Vorbedingung dafür, daß man bei der Ausübung eines Berufes zufrieden sei, ist aber gewiß, daß man für diesen Beruf bestimmte Anlagen besitze. Geradeso wie nun jeder Mensch eine ganz bestimmte Anordnung von Eigenschaften und Begabungen besitzt, da eine Schwäche und dort eine Stärke aufweist, ebenso hat umgekehrt jeder Beruf eine ganz bestimmte Zusammenstellung von Anforderungen, die er an denjenigen stellt, der diesen Beruf ausüben will. Wir sind zwar heute noch sehr weit davon entfernt, eine Berufstypologie zu kennen, immerhin sind einzelne Berufe schon. etwas genauer erforscht (siehe S. 152). Das Ideal einer wissenschaftlichen Berufsberatung wäre also dieses: daß man die Gesamtheit der beim Prüfling ermittelten intellektuellen Stärken und Schwächen (das Ingenogramm) den verschiedenen Berufstypogrammen gegenüberstellt, also den entsprechenden Kombinationen von verlangten Begabungen und zugelassenen -Schwächen, die einem jeden einzelnen der Berufe zukommen. Auf solche Weise kann es grundsätzlich möglich sein, den zu einem Menschen am besten passenden Beruf herauszufinden. Obwohl wir, wie gesagt, weit davon entfernt sind, einen solchen Vorgang absoluter Berufsberatung heute schon vornehmen zu können, so ist doch sicher, daß der einzelne, je intelligenter er ist, um so mehr Berufe finden wird, in denen

— 23 — er etwas Rechtschaffenes leisten kann. Sein I n t e l l i g e n z bereich e r f ü l l t dann eben die A n f o r d e r u n g e n f ü r eine große A n z a h l von B e r u f e n . Nun wissen wir zwar nicht bündig zu sagen, wovon das Glück eines Menschen abhängig ist; soweit es aber von der beruflichen Betätigung herrührt, hängt es jedenfalls mit den natürlichen Anlagen, die für diesen Beruf vorhanden sind, zusammen. Man wird daher unbeschadet des Umstandes, daß der Intelligente für vielerlei Berufe brauchbar ist, doch dabei bleiben müssen, daß es auch für ihn einige Berufe gibt, vielleicht sogar nur einen einzigen, für welchen er mehr geeignet ist als für jede andere Art von Beschäftigung. Massenprüfung und Einzelprüfung. Soll die psychologische Berufsberatung zu einem bedeutungsvollen Faktor in der Organisation der menschlichen Gesellschaft werden, so muß sie sich auf die Massen erstrecken. Der ganze Nachwuchs muß untersucht werden. Soll aber die Berufsberatung zu wertvollen Ergebnissen für jeden einzelnen gelangen, so muß sie zu einer individuellen Analyse führen. Man wird also dazu kommen, einen möglichst großen Teil der Arbeit in der Form der Massenuntersuchung durchzuführen. Die Ergebnisse der Massenuntersuchung bilden dann die Quellen für zweierlei Arten von Forschungen: 1. An die Massenuntersuchung schließt sich die individuelle Untersuchung unmittelbar an. Sie führt für einen jeden einzelnen zur Bewertung relativ zu seinem Milieu und dadurcli zu einem bestimmten Rat in bezug auf seinen Beruf. 2. Das Ergebnis der Massenuntersuchung kann in geeigneter Weise zu einer einheitlichen Charakterisierung der betreffenden Masse selber dienen. Mit Hilfe solcher Untersuchungen lassen sich für vielerlei Fragen soziologischer Art interessante und wichtige Grundlagen schaffen. Gleichalterige Kinder in verschiedenen Teilen einer Stadt oder eines Landes können verglichen werden. Die Entwicklung der einzelnen Massen im Laufe der Jahre kann ermittelt werden. Der mittlere Zustand eines bestimmten Alters in Hinsicht auf verschiedene Qualitäten kann festgestellt werden.

— 24 — Man erkennt, daß eigentlich erst die Massenuntersuchung die notwendigen Grundlagen liefert für die richtige Beurteilung eines einzelnen. Jeder Mensch ist ja während seines ganzen Lebens immer durch zahllcee Fäden mit seinen Mitmenschen und Zeitgenossen verknüpft. Vielleicht kann man vom Genie sagen, es sei »absolut«. Aber die ungeheure Mehrzahl der Menschen ist so beschaffen, daß die Vorzüge und Nachteile eines jeden einzelnen nur relativ zu den übrigen, das heißt zu deren Durchschnitt, zu verstehen sind. Man muß also diesen Durchschnitt kennen. Daraus folgt zunächst die unangenehme Notwendigkeit, alle einzelnen Merkmale womöglich durch Zahlen auszudrücken. Man gelangt so zur Überzeugung, daß irgend ein System der Zensur oder der Klassifikation nötig ist. Nicht immer muß man dabei zu den üblichen gefühlsmäßig bestimmten »Noten« greifen. Wenn man bei 12jährigen Kindern das Gedächtnis prüft, so kann man beispielsweise acht Ziffern hintereinander sagen 4 8 5 3 9 2 1 8 und dann verlangen, daß (bei der Massenuntersuchung) jedes Kind die Zahlen so gut als möglich aus dem Gedächtnisse aufschreibe. Wenn das Kind A vier Zahlen in richtiger Aufeinanderfolge wiedergibt, B aber nur die ersten zwei Zahlen, so kann man die Treffsicherheit des A als % u r | d des B als 2/8 angeben. Man merkt zwar sofort, daß die beiden Zahlen nicht streng vergleichbar sind. Schreibt A z. B. 9 2 1 8, weil es sich die letzten Klänge am besten gemerkt hat, B aber 4 8, weil es am Anfang am besten aufgepaßt hat, so ist schon die Vergleichbasis verschoben. Davon abgesehen gibt auch noch folgender Punkt zu Bedenken Anlaß: ist denn nun zu schließen, daß A ein doppelt so gutes Gedächtnis für die Wiedergabe von Zahlen hat? Durchaus nicht. Dies »doppelt« ist neben der nach Art des Wahrscheinlichkeitsbegriffes eingeführten willkürlichen Skala eine weitere Willkürlichkeit. Legt man ein Dezimalsystem für die Klassifizierung zugrunde, so bekommt A die Wertzahl 5, B aber 2,5. Solche Schwierigkeiten haften natürlich allen psychologischen Messungen an. Es wäre ganz verkehrt, sich darüber hinwegtäuschen zu wollen. Es wäre aber auch unrichtig, zu glauben, daß dadurch die rech-

— 25 — nerische Durchführung unmöglich gemacht sei. Nur wer sich in der Illusion wiegt, daß es überhaupt genaue Gesetze gibt, kann an dieser Ungenauigkeit Anstoß nehmen. In Wahrheit aber ist diese Unvergleichbarkeit ein allgemeines Kennzeichen unserer Natur. Hänge ich an eine Spiralfeder ein Gewicht, so dehnt sie sich aus. Hänge ich das doppelte Gewicht daran, so dehnt sie sich ums Doppelte aus. Aber nicht genau! Niemals ganz genau! Trotzdem lassen sich auf Grund solcher als genau vorhanden angenommener Proportionalitäten sehr gut brauchbare Theorien entwickeln. Für psychologische Messungen ist sowohl die Ungenauigkeit als auch die Unvergleichbarkeit der einzelnen Messungen natürlich größer als im allgemeinen für physikalische Untersuchungen. Trotzdem gibt die primitive rechnerische Verwertung der Ergebnisse brauchbare Resultate. Wenn z. B. bei dem obigen Gedächtnisversuch die Mehrzahl der Kinder 4 oder 5 oder 6 Zahlen im Gedächtnisse behalten hatte, so ist dies doch immerhin eine Ursache, anzunehmen, daß jenes eine Kind B, das nur 2 Zahlen behalten hatte, ein schlechtes Gedächtnis für derartige Begriffe hat. Natürlich muß man sich hüten, aus einer einzelnen solchen Beobachtung einen endgültigen Schluß zu ziehen. Weder ist ja das Experiment unfehlbar, noch ist das Gedächtnis durch eine derartige Probe erschöpfend untersucht. Wenn aber eine Anzahl von Gedächtnisversuchen ähnliche Ergebnisse zeigen, so wird man doch zu dem Schlüsse berechtigt sein, daß B ein schlechtes Gedächtnis hat. »Wie viel mal schlechter als der Durchschnitt ?« wird man fragen. Sei der Durchschnitt durch die Wertzahl 7,5 gegeben, während B den Durchschnitt 3 aus allen Versuchen davontrug. Es hat wenig Sinn, zu sagen, das Gedächtnis des B sei 2,5mal schwächer als dem Altersdurchschnitt entsprechend. Genau so wenig Sinn, wie es hätte, zu sagen, das Kind B habe ein Gedächtnis, das um den Betrag 4,5 geringer ist als der Durchschnitt für die gleichaltrigen Kinder. Wohl aber hat es einen bestimmten Sinn, zu erklären, daß B ersichtlich unter .dem Mittel stehe. Ein anderes Kind, dessen Wertzahl für das Gedächtnis sich aus vielen Versuchen mit 4 ergeben hat, hat ein besseres Gedächtnis als B. Wir wollen aber nicht sagen: Um 3 3 % % . Psychologische Begriffe erlauben nur in sehr



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oberflächlicher Weise rechnerische Betrachtungen. Um diese Fatalität wird niemand herumkommen, der dem Problem der menschlichen Seele mit reifer Vorurteilslosigkeit gegenübertritt. Dabei erweist sich, daß die verschiedenen psychischen Eigenschaften in sehr ungleicher Weise der Mathematisierung widerstreben. Als das eine Extrem, das völlig unmathematisierbare, kann man die künstlerisch-visionäre seelische Aktion betrachten: Das Komponieren, Dichten, künstlerisch Zeichnen, die schöpferische Rhythmik usw. sind psychische Handlungen, die wir in keiner Weise einer rechnerischen Betrachtung unterziehen können. Von da bis zum Gedächtnis, zur Phantasie, Kombination, Präzision, Ermüdung usw. werden die seelischen Qualitäten mehr und .mehr einer zahlenmäßigen Betrachtung zugänglich. Wir gelangen schließlich zu jenen Eigenschaften, wie Körpergröße, Kopfindex, Hirngewicht usw., die zwar nicht unmittelbare psychische Qualitäten vorstellen, aber solche wohl bedingen. Die physischen Eigenschaften lassen sich in viel vollkommenerer Weise durch Zahlen beschreiben, als dies bei seelischen Anlagen möglich ist. Daher kann man Körperlängen und Gewichte usw. zu statistischen Betrachtungen verwenden, wenn es sich um Massenuntersuchung handelt. Viel schärfer als bei psychologischen Experimenten kann man sinnvolle Mittelwerte bilden, Abweichungen ermitteln. Da heute niemand mehr bezweifeln wird, daß Körper und Seele, mögen sie nun eine Zweiheit oder letzten Endes eine Einheit sein, jedenfalls in unlösbarer Beziehung stehen, ist klar, daß die Beschreibung eines einzelnen Menschen wie auch einer Masse niemals eine Aufgabe der reinen Psychologie sein kann, sondern ebenso sehr eine Arbeit des A r z t e s und des Biologen ist. Es ist gleichgültig, ob man sich auf den Standpunkt stellt, der Körper bedinge durch seinen Bau und seine Gestalt die seelischen Eigenschaften (mens sana in corpore sano), oder ob man meint, der Leib werde durch die Seele »geadelt«. Auf jeden Fall ist die Überzeugung vom physiko-psychischen Parallelismus allgemein. Der Gedanke, das L e b e n sei überhaupt nichts als Bewegung der Atome, irgendeine ganz besondere Bewegung, ist freilich gar zu billig. Auf solche Weise wäre die Frage recht einfach gelöst. Dem Materialismus der vergangenen Jahrzehnte hat diese Vorstellung vorgeschwebt.

— 27 — Nimm eine elektrisch geladene Kugel, schwinge sie genügend schnell im Kreise herum, und du erhältst einen regelrechten elektrischen Strom. So auch: nimm ein Stück passenden Materials, bewege es nach dem geheimen Gesetz, so bekommt es L e b e n ! So billig wie ein Walpurgistraum ist diese Idee vom Wesen des Lebens Wobei übrigens für den einen Leben sein kann, was für den andern t o t ist (Relativität! 1 ). Lehnen wir also eine solche gar zu einfache Form des Monismus ab, so sehen wir dennoch in den seelischen wie in den physischen Funktionen eine Einheit höheren Grades. Ganz gewiß bedeutet jede körperliche Eigenschaft eine psychische Grundlage. Ich muß nur an die Rolle erinnern, welche die Schilddrüse spielt, oder gewisse Geschlechtsdrüsen. Ein Milligramm mehr oder weniger, und der Mensch ist in jeglicher Hinsicht »ein anderer«. Im Grunde macht es für die praktische Betrachtung nichts aus, ob man eine Identität oder eine Parallelität physiko-psychischer Art annimmt. Denn dies ist eine wichtige und -für die belebte wie die unbelebte Welt höchst eigentümliche Tatsache: wenn wir einen Organismus studieren, so müssen wir ihn — dies ist unsere Brille! — in Elemente zerlegen. Aber niemals sind diese Elemente voneinander unabhängige Tatsächen, sondern zwischen ihnen müssen wir eine unübersehbare Anzahl von Korrelationen annehmen, um bei solcher Schematisierung (Zerlegung in Elemente) nachher wieder die Wirklichkeit darstellen zu können. Wir studieren z. B. das Gedächtnis eines Kindes zu dem Zwecke, diese psychische Eigenschaft nach irgendwelchen Regeln charakterisieren zu wollen. Da bemerken wir zunächst, daß es ein »Gedächtnis« an und für sich gar nicht gibt! Wir haben da »ein« Wort für ein Ding, das sich als komplex erweist. Es gibt ja ein Gedächtnis für Farben, Zahlen, Gerüche, Personen, Bewegungen usw. Vergleichen wir eine zweite psychische Eigenschaft, z. B. die Kombinationsgabe, mit dem Gedächtnis. Auch da treffen wir auf eine große Anzahl möglicher Arten der Kombinationsfähigkeit. Wir sind geneigt, besonders die kausale Kombination hoch zu schätzen: wenn ') Vgl. L l m m e l , Seite 86).

Relativitätstheorie (Springer in Berlin, 1921,



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ein Tatbestand gegeben ist, welches sind seine Ursachen, was seine möglichen Folgen ? — Aber recht interessant erscheint die formale Kombination, als »Kunst des Aufbaues« einer gewünschten Figur aus Elementen. Entscheidend für praktische Verwendbarkeit eines Menschen ist stets die »sinnvolle Kombination«, d. h. die Fähigkeit, einen unvollständig bekannten Komplex von Tatsachen durch Ergänzung zu einer einheitlichen Erzählung, zu einem einheitlichen Vorgang zu schmieden. Und so weiter: es gibt gar viele Manifestationen dessen, was wir als »Kombinationsgabe« bezeichnen. Nun wohl: diese einzelnen Gaben, zu schauen und zu bauen (kombinieren), hängen ersichtlich untereinander zusammen. Sie stehen in wechselseitiger Korrelation. Aber sie stehen offenbar auch mit den einzelnen Richtungen des Gedächtnisses in Korrelationen! Denn die Gabe zu kombinieren ist zwar sicher zu einem guten Teil eine Angelegenheit des Verstandes, aber zu einem guten Teil auch eine vom Gedächtnis bedingte Fähigkeit. Nun sehen wir, wie sich das Bild verwirrt: die von uns künstlich geschaffenen psychischen Elemente sind k e i n e Elemente. Dadurch steigt die Zahl der eigentlichen Ur-Elemente ins Ungemessene. Außerdem stehen diese neuen Elemente alle untereinander in Beziehungen. Schließlich ist das zuletzt noch wirklich übrig bleibende: eben die Korrelation! Es soll damit gesagt sein, daß die einzelne Eigenschaft überhaupt für sich allein gar nicht existiert, sondern in einem Komplex steckt, aus dem sie in Wahrheit gar nicht herausgeschält werden, kann. Gewiß ist diese Anschauung eine recht skeptische Grundlage für psychologische Untersuchungen. Allein dieser Standpunkt muß gegenüber jenen Forschern, die einen Menschen durch eine Reihe von Zahlen charakterisieren zu können vermeinen, ausdrücklich hervorgehoben werden. Auch die psychologische Analyse eines Menschen vermag kein Schema zu liefern, das sozusagen automatisch die Versuchsperson erforscht. Hier wie bei jeder Forschung ist der Mensch, welcher die Untersuchung durchführt, das Wesentliche. Begabungsprüfungen erfordern eine große persönliche Erfahrung und einen feinen Spürsinn, ein divinatorisches Talent besonderer Art. Es läßt sich heute noch nicht absehen, wie weit die allgemeine Volksschule die Funktion der Berufsberatung wird

— 29 — durchführen können. Zunächst wird sicher für längere Zeit die Begabungsprüfung ein besonderes Amt sein. Dennoch darf vom Standpunkt einer fortschrittlich orientierten Staatspädagogik nicht übersehen werden, daß die psychologische Untersuchung der Schulkinder, die Erforschung ihrer Individualitäten, ihrer starken und schwachen Seiten, die Berücksichtigung dieser individuellen Abweichungen durch individualisierten Unterricht auch heute schon als Forderung erhoben werden muß. Dazu gehört, daß der Lehrer eine entsprechende Bildung erhält. Er soll in der Lage sein, auch selbst die Methoden der Begabungsprüfung anzuwenden. Denn aus dem Volksschullehrerstande muß vor allem der Beruf des Berufberaters hervorgehen. Auch müssen die von einem Spezialisten angestellten entscheidenden Berufsberatungen des 15. Lebensjahres auf die vollwertige Vorarbeit der Lehrer rechnen können. Die Massenuntersuchung ist die Voraussetzimg der Einzeluntersuchung; sie ist es auch wegen der Notwendigkeit, die mittleren Werte der einzelnen Eigenschaften zu gewinnen. Aber wir müssen feststellen, daß die Masse als solche auch eine Einheit ist, ein Organismus. Ihr kommen ebenfalls bestimmte Eigenschaften zu, womit keineswegs die Summe der Eigenschaften der Elemente gemeint ist. Allgemein bekannt ist die als »Psychose« bezeichnete Massenstimmung, ferner geistige Epidemien, religiöse Massenerscheinungen. Die Masse hat andere Wege und Formen, ihr Dasein kund zu tun als der einzelne. Wir haben noch keine Massenpsychologie; sind wir doch auch erst am Anfang der Psychologie der Einzelseele. Sicher scheint zu sein, daß der einzelne isoliert anders reagiert als in der Masse. Dies trübt neuerdings das Bild der Untersuchung. Die Beeinflussung ist durchaus verschieden: ich habe gefunden, daß ein Kind »mitgerissen« wird, also sozusagen positiv suggestiv von der Masse beeinflußt ist, während ein anderes Kind durchaus gestört, negativ beeinflußt wird. Die positive oder negative »Mitführung« der Einzelseele durch den Geist der Masse (z. B. Schulklasse) darf nicht mit dem Geist der Masse selbst verwechselt werden. Über den Begriff der Massenpsyche habe ich hier nichts mitzuteilen. Wir müssen uns nur darüber einigen, daß im allgemeinen

— 30 — gewisse Verfälschungen bei der Untersuchung von Individuen in Massen zu erwarten sein werden. Dabei soll von dem sogenannten »Examenfieber« gar nicht geredet werden — dieses muß man bei der Untersuchung nach Kräften bekämpfen. Wie sehr das, was als »Geist der Masse« bezeichnet werden kann, von dem verschieden ist, was als Stimmung des einzelnen betrachtet werden muß, soll an einem Beispiele gezeigt werden. Es kommt oft vor, daß eine Versammlung einen sehr sonderbaren Beschluß faßt. Spricht man dann mit jedem einzeln, so zeigt sich, daß niemand mit dem Beschluß so recht zufrieden ist. Der einzelne denkt, isoliert, anders als in der Menge. Doch darf nicht übersehen werden, daß geschickte Menschen jederzeit imstande sind, eine Massenstimmung hervorzurufen. Das kann der Lehrer mit seiner Klasse so gut wie ein Zeitungskönig. Es ist hier nicht der Ort, von den Problemen der Erziehung zu sprechen. Doch will ich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß mir als Sinn der Erziehung erscheint: die Aufspaltung der Massen in bewußte Individualitäten 1 ). Der Erfolg der Erziehung, als Fortschritt der Kultur zu begreifen, ist nach dem Grad dieser Abwendung vom Herdengeist zu beurteilen. Hochstehende Menschen haben zu allen Zeiten vermocht, selbständig zu denken, ohne von der Masse mitgerissen zu werden. Die Auflösung der Massen in Individualitäten bedeutet also die Ausbildung hochstehender Menschen. Dies ist der tiefere Sinn aller Erziehung. Erinnern wir an den Begriff des »Führers« — er existiert nur als Erscheinung der Masse, relativ zu einer Masse. Die wenig bekannte Erscheinung der freiwilligen krankhaften Unterordnung, des (Gehorchen-Wollen-) Müssens gehört hierher. Bei der psychologischen Untersuchung der Masse wird man auf die Symptome dieser Erscheinungen stoßen. Es gibt viele Menschen — Militaristen, Pfadfinderseelen usw. — , die in solchem »Massentum« eine erfreuliche Erscheinung erblicken. Nochmals will ich meiner Meinung Ausdruck verleihen, daß der Lehrer, wie der Erzieher überhaupt, es als seine Aufgabe betrachten muß, die Masse zu l ö s e n . Man Siehe meine »Erziehung der Massen. pädagogik«. Jena 1923.

Grundlagen der Staats-

— 31 — mißverstehe mich nicht: die Masse (Kinder einer Klasse, einer Schule, Zöglinge eines Heims, einer Anstalt, Bürger einer Ortschaft usw.) soll keineswegs bekämpft werden, sondern durch reingeistige Mittel aufgelöst, in möglichst viele Individualitäten gespalten werden. Ich möchte noch einen Vergleich besprechen, der sich mir seit vielen Jahren aus der psychologischen Betrachtung der Masse ergeben hat. Man könnte doch meinen, daß die Masse prinzipiell- keine anderen Eigenschaften haben kann, als sie den Menschen selber zukommen, die Elemente jener Masse sind. Tatsächlich ist dies aber doch der Fall: die Masse hat Eigenschaften, die den Elementen gar nicht zukommen, und umgekehrt. Für diesen eigentümlichen Zusammenhang bietet nun die Mathematik ein Gleichnis. Die Integration einer Funktion liefert eine neue Funktion, welche ganz wesentlich andere Eigenschaften hat. So gibt z. B. die Summation der reziproken ersten Potenz über ein gewisses Gebiet einen Logarithmus. Die reziproke erste Potenz ist ( i : x) eine rationale gebrochene Funktion, das Integrationsergebnis aber eine transzendente Funktion! Die Eigenschaften transzendenter Funktionen sind ganz andere als die rationaler Funktionen! — Es sei aber nocheinmal betont, daß es keine Psychologie der Masse gibt; wir kennen heutzutage nur die Reaktion des Massengeistes auf den einzelnen, also Erscheinungen der Psychologie des Einzelwesens, die aus der unerforschten Massenpsyche strömen. Das Problem der Begabungsprüfung ( = Intelligenzprüfung) steckt in einem weiteren Komplex; die Fragen der Staatspädagogik und ihre Lösungen bestimmen entscheidend die Durchführung der Begabungsprüfung. Wenn einmal — wie es mir als erstrebenswert erscheint — alle Kinder in Landerziehungsheimen aufgezogen werden, wird sich alle zwei Jahre die Prüfung der kindlichen Anlagen leicht durchführen lassen. Bei unserem heutigen System der Erziehung, wo drei Faktoren: Haus, Schule und Straße auf das Kind einwirken, wird die Begabungsprüfung natürlich der Schule zuzuweisen sein; minder zweckmäßig. wäre es, die Kinder zum Zweck der Untersuchung in eine besondere Anstalt zu schicken (wie man sie etwa zwecks Impfung zum Arzt schickt). Nehmen wir also die Sachlage wie sie heute noch meist vorliegt: da und

— 32 — dort beginnt man, mit Schulkindern Versuche über die Intelligenzprüfung zu veranstalten. Die ersten derartigen Prüfungen, welche ich in Seebach (bei Zürich) veranstalten konnte, waren für die Kinder recht anregend, für die Lehrer interessant und für den Verfasser sehr lehrreich. Die Begabungsprüfungen sollen im 6. Altersjahr beginnen und, alle zwei Jahre sich wiederholend, mit dem 14. Jahr abgeschlossen werden. Im 15. Lebensjahre soll dann die kritische, für die Berufsberatung entscheidende Untersuchung stattfinden. Um für den weiteren Gebrauch kurze Ausdrücke verwenden zu können, nennen wir die entscheidende psychologische Berufsberatung des 15. Lebensjahres kurz die »Wende«, weil sich mit ihr das Geschick gewissermaßen wendet. Die nachfolgenden Ausführungen, welche sich speziell im vorliegenden Abschnitt auf die Untersuchungen v o r der Wende beziehen, stammen aus jahrelangen eigenen Erfahrungen in dem von mir früher geleiteten Reformgymnasium Zürich und aus der erwähnten Intelligenzprüfung in Seebach sowie aus zahlreichen einzelnen Intelligenzprüfungen und Berufsberatungen im Laufe der vergangenen 18 Jahre. Die Begabungsprüfung einer Schulklasse besteht aus mehreren Teilen, die sich auf folgendes Schema bringen lassen: 1. Die Elementaranalyse. Die einzelnen Eigenschaften, deren Untersuchung beschlossen wurde, werden erforscht. Das Ergebnis der Fragen, schriftlichen Arbeiten, Zeichnungen sowie der physischen Untersuchung wird nach einem Dezimalsystem für jedes Kind bewertet. 2. Die Statistik der Klassen, d. h. der Jahrgänge. Die einzelnen Resultate werden klassenweise zu Mittelwerten zusammengefaßt, die mittleren Abweichungen berechnet. 3. Die Korrelationsstatistik. Die einzelnen Eigenschaften werden paarweise in bezug auf ihre Korrelation untersucht. 4. Die Mittelwerte und die Korrelationen werden Funktionen des Alters dargestellt. (Beispiel: Wie nimmt Gedächtnis im Laufe det Jahre zu, und wie verändert sich Zusammenhang zwischen dem Gedächtnis und z. B. der obachtungsgabe ?)

als das der Be-

-

33 -

5- Die Herstellung der individuellen Ingenogramme. (Seite 116). Da die Zahl der psychischen Funktionen wie der psychischen Merkmale eine beliebig große ist, muß eine willkürliche und zweckmäßige Auswahl stattfinden. Es handelt sich also darum, eine durch die Erfahrung als brauchbar erwiesene Zusammenstellung als Schema zu verwenden. Ich habe in letzter Zeit für meine Untersuchungen das im nachfolgenden beschriebene Schema verwendet. Es kann und will nicht den Anspruch machen, ein »absoluter Schlüssel« zu sein. Doch ist es ein Weg der möglichen Forschung. Es sei aber betont, daß wir in diesem Buch in der Regel nur von der »allgemeinen« Prüfung sprechen. Innerhalb einer jeden Berufsgruppe wird die spezielle Eignung für eine besondere Art des Berufes ¿tets noch durch eine Spezialprüfung zu ermitteln sein. Diese ist nicht Aufgabe des Pädagogen, sondern eines erfahrenen und für seine Aufgabe speziell geschulten Fachmannes. Das Schema, nach welchem wir die Intelligenzprüfung durchführen, beruht zunächst darauf, daß wir die folgenden acht Hauptgruppen von Eigenschaften des Prüflings untersuchen : I. G e d ä c h t n i s . Es wird das Gedächtnis für Eindrücke des Auges, des Ohres und der Geruchs- und Geschmacksnerven untersucht, die Stärke der Erinnerung in ihrer Abhängigkeit von der Zeit, das Gedächtnis für räumliche Anordnung und für Bewegungen. II. M e c h a n i s c h - t e c h n i s c h e B e g a b u n g . Bei den Spezialprüfungen der mechanischen Richtung wird die Prüfung mit Hilfe verschiedener Apparate durchgeführt. Bei unserer allgemeinen Intelligenzprüfung, die grundsätzlich von jedem Lehrer mit seiner Schulklassß angestellt werden kann, prüfen wir in der Regel ohne Apparate den Sinn für Anordnung und Zusammenhang, Bewegung, Konstruktion, Geistesgegenwart usw. III. K o n z e n t r a t i o n . Die Fähigkeit des Prüflings,mit Aufmerksamkeit einen sich entspinnenden Sachverhalt zu verfolgen, sein Vermögen, die vorgelegte Aufgabe durch L A m m e i , Intelligenzprüfung.

3

— 34 — Konzentration auf das Endziel zu lösen. Die Geschwindigkeit, in welcher solche Lösungen erfolgen, Indizien für die Intensität der Willenskraft. IV. K o m b i n a t i o n u n d P h a n t a s i e . Zerlegungsund Zusammensetzungsaufgaben verschiedenster Art werden vorgelegt, Fortsetzung begonnener Handlungsreihen verlangt. V. K ü n s t l e r i s c h e V e r a n l a g u n g e n . VI. U r t e i l u n d K r i t i k . Es werden verschiedene Sachverhalte vorgelegt, ihre Beurteilung und Kritisierung verlangt. VII. Allgemeine g e i s t i g e Reife. Diese wird, obwohl sie natürlich in engster Korrelation mit den meisten übrigen Tests steht, durch einige besondere Untersuchungen unmittelbar festgestellt. VIII. B e o b a c h t u n g s g a b e u n d

Zeugnistreue.

Drittes Kapitel.

Untersuchungsplan für die Begabungsprüfung bei Schulkindern. (Für Lehrlinge, Kandidaten für eine Stelle oder Erwachsene Oberhaupt kann der gleiche Plan mit wenigen Änderungen benützt werden.)

I. Das Gedftchtnis. A

Ein einfaches vierzeiliges Gedicht wird monoton vorgelesen, z. B. : Wie der Wind Mein Kind Eilt die goldene Zeit Bis wir eins und alles sind Mit der Ewigkeit. Von Bernhard Moser (Irrfahrt).

Alle Kinder schreiben sofort nach erfolgter Vorlesung auf, was sie davon behalten haben. Ein anderes Gedicht wird mit starkem Pathos vorgetragen und seine schriftliche Wiedergabe ebenfalls nach der ersten Verlesung verlangt, z. B. : Der Tag ist um (kleine Pause) und w i e d e r u m hat Deine Macht (kleine Pause) Dein K i n d b e w a c h t , wobei das gesperrt Gedruckte betont wird. — Nun wird das erste Gedicht zum zweitenmal vorgelesen und die Kinder müssen es aufzuschreiben versuchen. Darauf erfolgt die Verlesung des Gedichtes zum drittenmal usw. — Die gleiche Probe wird nun in der Weise gemacht, daß 3*

— 36 —

A1 A2

die mündliche Wiedergabe eines Vierzeilers verlangt wird. Zwischenhinein müssen die Kinder etwa alle zwei Minuten nach Angabe des Leiters der Prüfung die Zeit notieren. Bei diesen Proben müssen die Kinder sehr weit auseinander sitzen, damit alles Abschreiben vermieden wird. Diese Untersuchung ist mit der Klasse wenigstens sechsmal durchzuführen und soll wenigstens zweimal so lange bei ein und demselben Stoff verweilen, bis die überwiegende Mehrzahl der Kinder das Gedicht auswendig kann. Der gleiche Versuch wird nun mit mehreren Strophen eines Gedichtes wiederholt. Es wird ein für das Fassungsvermögen der Klasse besonders schwieriger Vierzeiler in der gleichen Weise behandelt, z. B..: Noch füllte schwarze Nacht die weite Welt, und kaum entstieg dem Horizont des Frühlichts blasser Saum, da rauschte nach dem Himmelsturm auf Flammenschwingen der Morgenvogel Phönix und begann zu singen. Von Carl Spitteier (Olympiseber FrOhling).

B

B1

B2 C

Diese vier Zeilen dürften für die meisten älteren Kinder als recht schwierig gelten. Man spricht den Kindern eine Gruppe von Worten vor, z. B. Jugend - Traum - Glück - Wohlstand - Friede - Alter Ende. Es wird schriftliche Reproduktion verlangt. Dann Zeitmarke. Die' gleichen Worte werden neuerdings wiederholt. Die Kinder werden aufgefordert, diese Worte schriftlich wiederzugeben, ohüe sich um das zu kümmern, was sie vorher geschrieben hatten (»denn dies könnte ja falsch sein und würde sie vielleicht verwirren«). Der Versuch wird zehnmal wiederholt, jedesmal mit anderen Worten. Nach Verlauf von 30 Minuten werden die Versuche nach B teils mit, teils ohne Angabe des auslösenden Wortes auf einem neuen Blatt Papier zur Niederschrift verlangt. Die 10 Proben nach B werden nach Verlauf einer Woche verlangt. Eine Reihe von sinnlosen Silben wird an die Tafel geschrieben, z. B.: ra ta mo re xi so lei reu tü su, was man

— 37 —

C1 D

E

F

G

G1

mehr oder minder ausdehnen kann je nach dem Alter der Kinder. Die ganze Klasse wiederholt laut von-der Tafel lesend diese Silbenfolge. Alle Kinder müssen die rechte Hand (in der sich Bleistift oder Feder befinden) ruhig rechts vor sich hingestreckt halten. Der Leiter löscht nun die Silben von der Tafel weg und verlangt Reproduktion. Dann Zeitmarke. Der Leiter liest nun die gleichen Silben noch einmal vor, läßt sie im Chore wieder zweimal wiederholen, wobei er mitspricht. Reproduktion. Zeitmarke. Die Zeitmarken muß auch der Leiter in sein Tagebuch notieren, worin er den Gang derartiger Untersuchungen genau niederschreiben soll. — Ähnliche Silbenfolgen werden nun derart an die Tafel geschrieben, daß über oder unter einzelne Silben noch besondere Zeichen gesetzt werden, z. B . : Pfeile, Kreise, Punkte, Quadrate, Wellenlinien. und C 2 analog zu B 1 und B a . Wie C, nur mit Zahlen statt mit Silben. In beiden Fällen ergeben sich die besten Resultate, wenn man nur 2 Buchstaben oder 2 Ziffern nimmt. Bei 3 Elementen stellen sich schon bedeutende Schwierigkeiten ein. Wortgruppen mit leicht erkennbarem Sinne werden vorgesprochen. Reproduktion nach ein-, zwei-, drei- und mehrmaliger Wiederholung verlangt, z. B.: Vater Mutter Sohn Tochter Spaziergang Wald Bank Abendessen Eisenbahn Haus Nacht Ruhe Schlaf. Die Probe A wird in bezug auf ein einzelnes bestimmtes Gedicht, dessen 3 erste Worte gegeben werden, nach Verlauf längerer Zeit wieder verlangt, z. B. nach einer Stunde, nach einem Tag, nach einer Woche, nach einem Monat. Es wird eine Figur auf die Tafel gezeichnet, oder eine schon vorhandene aber verdeckt gewesene Zeichnung ge zeigt und nach einer Sekunde wieder verhüllt. Aus dem Gedächtnis nachzeichnen. Zeitmarke. Unter das ganze einen Strich quer über jedes Blatt. Die Zeichnung wird zum zweitenmal für eine Sekunde gezeigt, jedes Kind muß sie neuerdings zeichnen. Es wird ein Fünf-Eck gezeichnet mit allen Diagonalen bis auf zwei. Die Figur wird 2 Minuten lang gezeigt und genaues Nachzeichnen verlangt.

— 38 — G2 H

J K L L1

Es werden konzentrische Kreise und exzentrische Kreise, ähnliche und unähnliche Rechtecke gezeigt und ihre getreue Wiedergabe verlangt. Es werden zwei-, drei- oder mehrfarbige Kreise auf Karton gezeigt. Nach einer halben Sekunde wird die Wiedergabe des Eindruckes verlangt. Hierauf werden dieselben Kreise in veränderter Reihenfolge gezeigt. Schriftliche Beschreibung. Zeitmarke. 10 Variationen. Den Kindern wird eine Geschichte erzählt, deren Inhalt ihnen in allen Teilen verständlich ist. Schriftliche Wiedergabe verlangt. Orientierungssinn. (Im Schulhof. »Blinde Kuh« usw.) Bewegungsgedächtnis. Der Prüfer macht eine Bewegung, die schriftlich beschrieben werden soll. Mit Stäben und Flächen werden Relativbewegungen ausgeführt, die nachher beschrieben werden sollen. II. Technische Begabungsprüfung.

Die technische Begabungsprüfung soll das Verständnis für spezielle rein technische Zusammenhänge oder Tatbestände ermitteln und dem Prüfer entscheidendes Material zur eventuellen Beratung der Berufswahl in technischer Richtung geben. Die Klassenprüfung wird verhältnismäßig leicht gefaßt. Es ist bekannt, daß hier besonders Ungeübte selbst gegenüber leichten Anforderungen oft vollkommen versagen; sie kamen mit derartigen Dingen noch nie in Berührung. Andere aber, die selber »basteln« oder mit dem bekannten Metallbaukasten »Meccano« und »Märklin« spielen, erlangen dadurch eine große Fertigkeit in technischer Hinsicht, die aber auch nur rein äußerlich sein kann. Die technische Begabung kann ohne Vorübung nicht voll zum Ausdruck kommen. Aus diesen Gründen können aus der Prüfung leicht falsche Schlüsse gezogen werden. Es gilt, diese Faktoren soviel wie möglich auszuschalten. In der allgemeinen Klassenprüfung wird man daher möglichst einfache allgemeine theoretische und praktische Versuche anstellen, die den Grad der prinzipiellen Veranlagung zeigen sollen. Weiterhin wird es sich empfehlen, diejenigen Prüflinge, welche gut abschneiden und demnach fähig wären, höhere Tests zu ertragen, einer engeren

— 39 — Prüfung zu unterziehen, wo wieder die Anforderungen der Praxis mehr berücksichtigt werden können. Für die Klassenprüfung wenden wir das folgende Schema an: A Ein gezeichnet vorliegendes unregelmäßiges Vieleck soll durch eine gerade Linie in zwei gleiche Teile geteilt werden, ebenso ein Dreieck. B Eine einfache technische Konstruktionsskizze (dem Alter entsprechend auszuführen!), z. B. ein Wasserrad mit Zuund Ablauf, soll nach Vorlage abgezeichnet werden. C An einer technischen Konstruktionsskizze sollen die mehrfach möglichen Bewegungskombinationen beschrieben werden, z. B. bei Abb. i oben. 1. Rad B dreht sich nach rechts oder nach links? 2. Zahnstange A bewegt sich nach rechts oder nach links? 3. Zahnstange O bewegt sich nach rechts oder nach links ?

D

D1 E

Es ist dann jeweils anzugeben, welche Bewegungsformen die anderen Teile, z. B. bei 1. Zahnstange A und B machen. Vor den Schülern wird eine ganz einfache elektrische Schaltung zusammengestellt. (Eine Trockenbatterie, ein 3 poliger Schalter, 2 Fassungen mit Lämpchen. Serienschaltung, so daß je eine der beiden Lampen nach Wahl brennen kann.) Es wird nun das hierzu nötige Material an die Schüler verteilt, und diese sollen versuchen, selber die Schaltung zu machen. (Diese kann auch an der Wandtafel vorgezeichnet werden.)

Das Schaltungsschema ist von den Schülern zu zeichnen. Sortieren von 5 Eisenplättchen, die verschieden dick sind, in einer Reihe nach zunehmender Dicke. (Die Plättchen werden auf einem Karton angeordnet und dann dem Prüfer gebracht.) F • Ein technischer Handgriff,. z. B. das Schleifen eines Messers, wird demonstriert und soll nachgemacht werden. (Um rasch vorwärts zu kommen, zeigt man nur die Haltung beim Schleifen der mittleren Partie des Messers.

— 40 —

G

Die Schüler treten der Reihe nach heran und werden etwa i Minute lang am Schleifstein gelassen und in ihrnr Haltung beobachtet. Sie müssen sich dabei ohne weitere Anweisung behelfen.) Mit Teilen aus »Meccano«- öder »Märklin «-Metallbaukästen ist ein Modell nach einer Vorlage herzustellen. Die Vorlagen mit den nötigen Teilen weiden an die Schüler verteilt. Man kann z. B. folgendes wählen: 8. 10. 12. 14.

H

J

K

Jahr Jahr Jahr Jahr

kleiner Wagen, Flaschenzug, Zahnradvorgelege mit Schneckenrad, Kurbelübersetzung.

Die Schüler kommen einzeln zum Katheder und man zerlegt vor ihnen einen einfachen technischen Gegenstand, z. B. für Kinder bis zu 12 Jahren einen Operngucker und für ältere ein Türschloß. Der Gegenstand wird'wieder zusammengesetzt und soll dann von dem Prüfling vor den Augen des Lehrers wieder auseinandergenommen und zusammengestellt werden. Prüfung der Geistesgegenwart. Jeder Schüler bekommt ein Stichwort. Es wird nun eine spannende Geschichte erzählt, wobei die Prüflinge aufmerksam zuhören und doch beim Aufrufen ihres Stichwortes aufspringen sollen. Die Kontrolle ist durch ein geometrisches System der Aufeinanderfolge der Kinder möglich. Geldzählen. Z. B. 1325 Spielmünzen usw.

Die Ermittlung der Zensuren kann hier natürlich nur rein gefühlsmäßig erfolgen, das einzige mathematisch zugängliche Moment ist die zur Reproduktion gebrauchte Zeit. Außerdem werden die Versuche jeweils von zwei Standpunkten aus betrachtet. 1. Hat der Prüfling den technischen Vorgang ganz im allgemeinen verstanden, die Aufgabe richtig gelöst ? 2. Wie hat er sie gelöst ? Ist die Ausführung auch präzise und sauber ? Versuche, die nur jeweils mit einem einzigen Prüfling durchgeführt werden können, wie z. B. F (Messerschleifen) und H (Auseinandernehmen und Wiederzusammensetzen eines Gegenstandes), müssen mit anderen Arbeiten verbunden werden, damit die übrigen Schüler etwas

— 41 — zii tun haben. Man kann z. B. zugleich nacheinander in dieser Versuchsreihe noch A, B und C machen. Die fertigen Arbeiten werden dann immer am Katheder abgegeben und mit Zeitmarke versehen. (Ebenso beim Austeilen.) Dies kann ein Helfer besorgen, während der J-eiter der Prüfimg sich ganz der Beobachtung der einzeln vortretenden Schüler widmen sollte. *

*

*

Die Daimler-Motorenwerke bei Stuttgart veranstalten seit einigen Jahren Aufnahmeprüfungen für ihre Lehrlinge. Unsere Bilder geben einen Begriff von der hierbei verwendeten Methode. Es ist klar, daß wir solche Untersuchungen ganz allgemein, also für alle Knaben, auch wenn ihr voraussichtlicher Beruf ein anderer ist/in das Programm der Begabungsforschung für die Fünfzehnjährigen aufnehmen können. Freilich muß es sich dabei um eine Sammlung von wohldurchdachten und klarformulierten Aufgaben handeln. Die vierte der hier angegebenen Aufgaben ist nicht genügend klar zum Ausdrucke gebracht, weil nicht gesagt ist, ob beide Gefäße nach außen luftdicht verschlossen sind; ferner wäre für die richtige Lösung unbedingt nötig, zu wissen, unter was für Umständen das größere Gefäß mit Wasser gefüllt wurde. Daß diese Angaben fehlen, darf nicht der Methode zur Last gelegt werden, sondern nur der Unerfahrenheit des Prüfungsleiters. Die gleiche Unklarheit in der Angabe zeigt sich auch in der Aufgabe 3, die übrigens in der vorliegenden Fassimg für einen 1 5 jährigen Knaben zu einfach ist; sie kann in zweckentsprechender Weise durch eine Zusatzfrage erschwert werden: Wie ist das gegenseitige Verhältnis der Geschwindigkeiten von Zahnrad und unterer Zahnstange ? Man kann sich auch hier fragen, welchen Einfluß es aufs Resultat habe, wenn der Prüfling vorher in der Behandlung solcher Aufgaben Übung und Erfahrung erlangt hat ? — Das Ergebnis der Untersuchung wird dadurch nur solider. Freilich tritt eine etwaige Inhomogenität recht stark in die Erscheinung, wenn Geübte und Ungeübte gemeinsam untersucht werden. Dies muß man natürlich vermeiden. Für die Ausbildung des logilch-mechanischen Verstandes der Kinder wäre es durch-

— 42 —

DMG

Aufnahmeprüfung

Nanw

JE iyUUM/t.

der Lehrlinge für 1920. ober« Zahnstanq«

untere Z a h n s t a n g » Aufgaben:

L W n p a i c M t M mH Anlagen, zwischen denen zum Teil eine sehr geringe Korrelaton

— 89 — herrscht. Die Erfahrung zeigt beispielsweise, daß es ein isoliertes besonderes konstruktives Talent gibt, dessen Vorhandensein sich durch eine erstaunliche Leichtigkeit bei der Lösung geometrischer Konstruktionsaufgaben kundgibt. Es gibt ferner ein spezifisches analytisches Talent, d. h. eine ausgesprochene Vorliebe für die algebraische Behandlung geometrischer Probleme. Wohlbekannt ist das Vorhandensein einer besonderen zahlentheoretischen Anlage im menschlichen Hirn. Schließlich seien auch noch die Rechenwunder erwähnt, deren allgemeine Intelligenz meist (aber nicht immer) sehr gering ist und deren besondere rechnerische Fertigkeit von uns nicht als eine mathematische Begabung betrachtet werden kann. Auf Grund solcher Überlegungen lassen sich verschiedene mathematische Typen aufstellen und es ist möglich, durch eine eingehende Untersuchung bei jedem Prüfling den Oktanten der mathematischen Spitzenleistung zu finden und daraus die Spezialität oder den Typ zu erkennen. — Von einigen in dieser Richtung angestellten Versuchen sei hier eine Probe mitgeteilt. Dasjenige, was sicher für sämtliche Typen als ein wesentlicher Bestandteil angesehen werden muß, ist das Funktionsgefühl. Man kann bei einer summarischen Prüfung auf die detaillierte Untersuchung der Oktanten für mathematische Begabung verzichten, wenn man die Art und Weise, wie die vorgelegten funktionstheoretischen Aufgaben gelöst wurden, selbst vom Standpunkt der einzelnen Oktanten aus in Betracht zieht. Bei einer Gruppenuntersuchung ist es natürlich notwendig, daß man elementar bleibt, damit man nur die Fähigkeit und nicht etwa vorhandene Kenntnisse prüft oder Unkenntnis festlegt. Einer Anzahl naturwissenschaftlicher Dozenten (Mathematiker, Physiker; Astronomen) einer deutschen Universität wurde folgende Aufgabe gestellt: Geben Sie mir binnen 5 Minuten eine graphische Darstellung des Funktionszusammenhanges si x + si y — Z, wo die Größe Z ein Parameter ist, der alle für ihn möglichen Werte auch wirklich passieren soll. Obwohl natürlich jeder der Anwesenden die Sinusfunktion sehr gut kannte, erwies sich die Aufgabe doch als schwer.

— 90 — Diese relative Schwierigkeit würde natürlich sofort überwunden, wenn man statt 5 Minuten 20 Minuten Zeit geben könnte. Bei der nun einmal vorgeschriebenen Zeit von 5 Minuten, die sich nicht vergrößern ließ, weil dieses Experiment nur eine Demonstration im Rahmen eines Vortrages war, kamen nur die Spitzenbegabungen dazu, überhaupt Lösungen hervorzubringen. Von diesen seien drei erwähnt. Der Student A

sin x + smj-Zz \ /J imaginär Z=1 V 7t 6 2X 7T Abb. 19.

Abb. 20.

gibt die in Abb. 19 dargestellte Lösung. Professor B die in Abb. 20 wiedergegebene Darstellung und der Mathematikprofessor C der betreffenden Universität gab die beste Lösung (Abb. 21), die immerhin wegen der Kürze der Zeit noch unvollständig war. Es hat sich gezeigt, daß die besonderen Fach-

Abb. 2 1 .

Studien und Spezialkenntnisse gegenüber den grundsätzlichen und aus der natürlichen Anlage heraus zu bestreitenden Forderungen, die bei der Lösung solcher Aufgaben gestellt werden, zurücktreten. Ich bringe hier zur Orientierung des Lesers noch die richtige und vollständige Lösung der Aufgabe (Abb. 22). Es sei bemerkt, daß sich diese Aufgabe noch in mannigfacher Weise komplizieren und vereinfachen läßt. Nach meinen

— 91 — Erfahrungen kann man auf Grund solcher Tests das Vorhandensein einer raathematischen Spezialbegabung feststellen. Wird beispielsweise die graphische Darstellung von x si x - f y • si y = i (Z) binnen einer halben Stunde vollständig geliefert, so wie in einem Quadranten es die Abb. 23 zeigt, dann kann das Vorhandensein einer mathematischen Begabung als sicher be-

cos x + cos y =Z Abb.

32.

trachtet werden. Wird ferner das graphische Bild des Funktionsgesetzes x si y -f- y si x = 1 (Z) (Abb. 24) binnen einer halben Stunde geliefert, so hat man den Beweis, daß der Prüfling ganz hervorragend mathematisch begabt ist. Ähnliche Tests zeigen Abb. 25 und 26. Voraussetzung für eine richtige Beurteilung ist natürlich die empirische Kenntnis eines reichen Prüfungsmaterials. Es müßte durch groß angelegte systematische Untersuchungen die mathematische Spezialbegabung verschiedener Milieus untersucht werden. Derjenige, der eine solche Untersuchung durchgeführt hat, wird dann in der Lage sein, die mathematische Begabung eines einzelnen relativ zu einem derartigen Milieu festzustellen. Nach unseren bisherigen Erfahrungen

— 92 — xsix+y-s¡y=1

Abb. 23.

x.siy+y-s¿ x-1 Abb. 24.

— 93 —

/•ffxt rgy=z. Abb. 25.

-

94 —

ergibt sich für die Untersuchung der mathematischen Spezialbegabung bei Erwachsenen mit mathematischer Hochschulbildung die nachfolgende Übersicht: Mathematischer Schwellentest für naturwissenschaftlich gebildete Akademiker. Test: si .* si y = 2 N a m e : St. Galler Fläche Zeit:

10 min

j

x si * y si y = 1 Zürcher Curve

* si y y si = 1 Meilener Curve

'

30 min

60 min

i

Hervorragende Begabung 30 min

\

€0 min

|

1 h 30 min

gute mathem. Begabung

i i h

|

: 2h

|

2 h 30 min

genügende mathem. Begabung mehr als 3h

; 4h j ungenügende mathem. Begabung

5h

für das Studium der reinen Mathematik!

VIII. Blick, Beobachtungsgabe, Zeugnistreue. Im 8. Oktanten untersuchen wir jene Fähigkeiten, die mit dem Auge und dem Ohr unmittelbar zusammenhängen. Für die meisten handwerklichen Berufe sind die Tests A bis D von Bedeutung. Die Gabe, genau beobachten und das Beobachtete sicher und richtig reproduzieren zu können, ist für den künftigen Arzt wie für den Juristen von entscheidendem Werte. —• Die musikalischen Tests unter I sind nur zur Orientierung bestimmt und haben für den Fall besonderer Begabung eine Bedeutung. A

(Vorausgesetzt ist, daß die Prüflinge nichts von Pendelgesetzen gehört haben.) Es werden zwei Pendel, deren Längen veränderlich sind, gezeigt. »Jedes Pendel braucht eine gewisse Zeit, um eine Schwingung auszuführen, eine

— 95 — hin oder her. J e länger ich den Faden mache, desto mehr Zeit braucht der Pendel, desto größer ist die Schwingungsdauer. Ich zeige euch nun zwei Pendel und ihr sollt aufschreiben, was ihr von den beiden Schwingungsdauern sagen könnt.« Man zeigt zuerst zwei gleichlange Pendel, dann das eine viermal länger als das andere, neunmal länger, iömal länger. — F e r n e r : man hängt an einem Faden ein i-kg-Gewicht, am andern ein 5 kg-Gewicht auf. »Was sieht man da, bei diesen verschiedenen Gewichten, was ist's mit den Schwingungen der Pendel ?« B

Eine gegebene Strecke in 2 oder 3 Teile teilen. (Auf der Tafel vormachen.) Ebenso: zu einer gegebenen Strecke das Doppelte, Dreifache darunterzeichnen.

C,

Ein Vieleck ist auf die Tafel gezeichnet. Alle Diagonalen bis auf eine, zwei oder drei sind drinnen. »Was fehlt?« Schriftlich, nicht mündlich zu beantworten. — Man zeichnet ein Gesicht und läßt einen Teil weg, derart, daß man den Eindruck haben muß, es »fehlt« etwas. Z. B. das eine Auge wird nur zur Hälfte gezeichnet. »Was fehlt?« —

D

Ein Bild wird gezeigt und nachher verdeckt. Nun wird eine verfängliche Frage gestellt. »Was für einen Hut hatte die Frau auf dem Kopfe ? « (sie hatte aber gar keinen). — »Was pflückt der Mann?« (er reinigte aber einen blühenden Apfelbaum von den Raupen). — Ein Bild »Abend Stimmung « wird gezeigt, wobei der Mond falsch gezeichnet ist (oder »Morgenstimmung«, wobei der Mond ohnehin oft genug von den Malern selbst falsch gezeichnet wird!) . . . »Was ist da zu sagen ?«

E

Eine abgekartete Szene wird den Prüflingen vorgespielt. Ich verabredete z. B. mit zwei älteren Kandidaten (im Reformgymnasium), daß sie vor meinem Eintritt ins Lehrzimmer miteinander in Streit geraten sollten und dann sogar handgemein werden müßten. Bestimmte Schimpfworte, Bewegungen usw. waren zu registrieren. Die Prüflinge wissen vorher nichts von der Veranstaltung einer derartigen Probe, sie nehmen sie also meist kühl auf. — Der Bericht, welcher ihnen nachher abverlangt wird, ist auf Vollständigkeit, Richtigkeit, Vorsicht, Zuverlässigkeit

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E1

bzw. die entsprechenden negativen Faktoren zu untersuchen und »gefühlsmäßig« nach dem Dezimalsystem zu bewerten. Ein kleines Theaterstück wird den Kindern vorgeführt, wobei sie wissen, daß sie nachher den Inhalt wiedergeben sollen. Beispiel: Es war einmal eine Frau in einer kleinen Stadt in Thüringen. Der Mann war gestorben, die Tochter lebte mit der Mutter einsam. Beide saßen oft vor ihrem Häuschen und sprachen über ihre Sorgen. Die junge Tochter war verlobt, der Verlobte aber seit Jahren im Weltkrieg verschollen. Schon vier Jahre kein Bericht. »Ja, du wirst die Hoffnung wohl aufgeben müssen, deinen Bernhard wiederzusehen. Der ist längst tot!« sagt die Mutter. — »Nein«, antwortet die Tochter, »ich fühle es, er lebt noch. Und wenn er auch nicht lebt, so will ich keinen anderen.« »Aber«, wendet die Mutter ein, »der Nachbar Hans ist doch auch ein rechter Mann, und der will dich heiraten. Man kann doch nicht sein Leben lang trauern, wenn auch die Treue eine schöne Tugend ist. Denke, wenn alle Menschen so handeln würden und einen erlittenen Schmerz niemals vergessen wollten.« — Aber, die Tochter Marie bleibt fest. Eine Nachbarin kommt hinzu und mischt sich ins Gespräch. »Früher war die Marie so munter, sie muß sich den Kummer aus dem Kopf schlagen, sie darf nicht soviel an das denken, was nun doch vergangen ist. Der Hans (sie ist die Mutter) ist doch gewiß ein lieber Mensch, und er sagt mir alle Tage, ich solle mit der Marie reden « usw. Marie weint und sagt: »Gewiß ist der Hans ein guter Bursche, aber ich hoffe bestimmt, daß mein Bernhard wiederkommt, ich fühle es, daß er noch lebt.« — Ein Knabe mit einem Telegramm erscheint. Für Frau Wohler. Marie öffnet zitternd das Telegramm: »Reise morgen über Stettin zurück herzliche Grüße dein getreuer Bernhard « — ein Telegramm aus Stockholm! Marie schreit vor Freude, alle weinen.. .usw. Das Theaterstück soll womöglich genau eingeübt werden, ehe es gespielt wird. Oder es soll stenographisch aufgenommen werden. Eventuell phonographisch. Die Wiedergabe durch die Schüler oder Prüflinge (solche

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F

G

H

I

Proben sind auch bei Erwachsenen sehr lehrreich!) soll sich sofort an die Darstellung anschließen, damit kein Gedanken- und Kenntnis-Austausch stattfinden kann. — Nach Gefühl zensieren. »Ich werde euch jetzt einen etwas ungewöhnlich klingenden Satz vorsprechen; den sollt ihr sofort, nachdem ich ihn euch gesagt haben werde, niederschreiben!« — (Schnell und monoton): »Vor vielen hunderttausend Jahren lebten hier in Zürich sehr wenige Menschen, die sich vor der grimmigen Kälte der Gletscher in Höhlen zurückziehen mußten und kümmerlich mit Bären zusammen darin hausten, wobei sie sich mit den Tieren, um die Beute und Nahrung streiten mußten«. Es werden auf Karton gezeichnete, große, gut sichtbare Gruppen von drei, vier bis 15 Punkten gezeigt und sofort wieder verdeckt. Dauer der Schaustellung etwa 1 Sekunde. »Schreibt die Anzahl der gesehenen Punkte nieder!«. Zeitmarken! — Man kann auch nach Art der auf Schießständen üblichen Zeiger hergerichtete runde Flächen mit Stielen verwenden, die man Zu dreien bis zu 15 in Formen stellt und dann zeigt. Hierbei kann man »Haufen« oder »Systeme« bilden. Fünf Punkte können z. B. entweder so aussehen: oder auch so: bei welcher Anordnung die Zahl der Treffer natürlich größer sein wird. Diese Versuche lassen sich leicht und vielfältig variieren, so daß man in einer Viertelstunde ohne Mühe 100 Proben bringen kann; samt kleinen Pausen und ZeitmarkenDas Taktgefühl: Instruktion: Zeichen für Hebung — und Senkung —, für kleine Pausen I und für große Pausen 11. Beispiel: »Üb' im mer Treu und Red lieh keit..« — Ein Satz soll nach diesem Schema interpretiert werden. Beispiel: »kaum war er, halb unbewußt, vom Lager aufgesprungen«, ergibt: /-n | o r\ | | , Die gleiche Probe wird mit »la la«, also sinnlosen Silben, wiederholt. Der Leiter muß scharf akzentuieren, damit deutlich wird, wie er die Wiedergabe erwartet. Das Tongefühl absolut. Die Schüler treten einzeln vors Klavier, singen einen vorgespielten Ton so gut sie können L a in m e 1, IateUigenzprüfung.

7

— 98 — nach. Wiederholung! Ein sehr gut musikempfindlicher Leiter und ein Gesanglehrer hören zu und stellen den Erfolg fest. I 1 Tongefühl relativ. Sekunden, Terzen usw. werden vorgespielt und Reproduktion verlangt. Einzeln vors Klavier! I 8 Drei Töne wiedergeben, vier und mehr, bis alle Prüflinge abfallen = Melodie-Test. I 8 Unterscheidung von Diu- und Moll. J Es wird die Beschreibung eines Objektes verlangt, das allen wohlbekannt, aber nicht im Zimmer sich'tbar ist (Schulhaus, Türe usw.). K Es wird die Beschreibung eines Ereignisses verlangt, das allen gut in Erinnerung ist (eine Feier, ein Ausflug). L Es wird verlangt, daß die Prüflinge Geräusche von Tieren und Naturvorgängen (Wind, Wasser) durch Vergleiche wiedergeben oder durch Laute beschreiben. Beispiel: Der Hund bellt »wau, wau«, der Kuckuck ruft »gugu, gugu«. — Die Eisenbahn »dröhnt«, das Wasser »rauscht« im Bach, das Sägen des Zimmermanns hört sich wie »ächzen« an usw. Die Vorgänge können auch diktiert werden: »Beschreibt das Geräusch des Sägens, des Sprechens einer Volksmenge, des Miauens einer Katze« usw. M Welche Gerüche habt ihr in Erinnerung? N Welche Farben kommen in der Natur vor ? Und wo ? N 1 Welche Farbe seht ihr, wenn ich »a« sage ? Welche bei e, i, o, u ? 0 Erinnerungsvermögen für Bewegungen: noch keine Methode für Massenuntersuchung gefunden. Die negativen und positiven »Spitzen« wird jeder Turnlehrer aus seinen Zöglingen auslesen können. Auf Grund von vielfachen Einzelerfahrungen. Man kann natürlich wie bei den IProben verfahren, wenn Zeit genug vorhanden ist. 0 1 Erinnerungsfähigkeit für einzelne rhythmische (abgeschlossene, eine Einheit bildende) Bewegungen. Wie bei den I-Proben verschiedene Grade der Schwierigkeit. Nur durch Einzelkontrolle sicher zu erproben. O* Interpretation von Lauten durch Farben, Assoziationen zwischen Farben und Vokalen, Interpretation von Geräuschen (Händeklatschen) durch rhythmische Bewegungen usw. (Für Kinder mit rhythmischem Unterricht.)

— 99 — Die körperliche Prüfung. Vom Leser wird hier die Kenntnis der beiden folgenden Kapitel Ober »Verwertung« und »Ingenogramm« vorausgesetzt.

Die Untersuchung des körperlichen Züstandes ist für die Jahre der Kindheit noch bedeutend wichtiger als die eigentliche Intelligenzprüfung. Wir wollen hier nur die wichtigsten Faktoren der Beschreibung kurz angeben. Wieder ordnen wir auf dem Kreisumfang die Normalwerte jener Faktoren an.

Gewicht Abb. 27.

Das Physiogramm.

An der Basis des Kreises befindet sich das Gewicht, an der Spitze die in Zentimetern gemessene Höhe. Rechts von der Höhe die Körperfülle (Gewicht, dividiert durch die dritte Potenz der Höhe), relative Kopfgröße. Im zweiten Kreisviertel werden die turnerisch-rhythmischen Eigenschaften gelagert, im dritten Kreisviertel die auf Lunge und Herz bezüglichen Angaben. Daä letzte Viertel beginnt mit dem Brustumfang und beschreibt im weiteren Verlauf die Gestalt des Kopfes vermittelst mehrerer Indizes. Die Schärfe von Gehör und Gesicht werden am Beginn des ersten Viertels, rechts von der Höhe markiert. Diese Untersuchungen sind zu einem Teil Aufgabe des Arztes. Auch hier wird sich für jede Altersklasse eine mittlere



100



Leistung ergeben und eine mittlere Abweichung. Abb. 27 bringt ein Beispiel für derartige »Physiogramme«. Es ist ersichtlich, daß der Anblick eines solchen Physiogramms bei einiger Übung rasch einen Überblick über die körperlichen Anlagep vermittelt. Bei Schulkindern sollte jede einzelne der untersuchten Eigenschaften in halbjährigen Intervallen nach ihren Absolutwerten aufgeschrieben und in gewöhnlichen graphischen Darstellungen (im rechtwinkeligen Koordinatensystem) wiedergegeben werden. Man kann dann mit einem Blick die zeitliche Entwicklung der körperlichen Eigenschaften des

Kindes übersehen. Zeichnet man in diesen Darstellungen noch das Gebiet der mittleren Schwankung mit der Linie der idealen Normalwerte ein (Abb. 27), so hat man eine rasche Orientierung über die relative Entwicklung der körperlichen Merkmale. Es wird Aufgabe des Zusammenwirkens von Ärzten und Psychologen mit Lehrern sein, ein viel detaillierteres Schema, als wir es gebracht haben, auszuarbeiten. Umfangreiche statistische Erhebungen müssen gemacht werden, ehe wir in die Lage gelangen, die richtige Einstellung eines einzelnen Physiogramms in ein Milieu zu zeichnen. Unsere Abb. 28 zeigt z.B. die auf Milieu bezogene zeitliche Änderimg der Körperhöhe. Wir müssen dazu nicht nur wissen, wie viele Zentimeter hoch



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»durchschnittlich« der Zehnjährige, Elfjährige, Zwölfjährige usw. ist, sondern auch die Schwankung um diesen Mittelwert, die Grenzen des betreffenden Milieus (Stadtkinder sind in der Regel größer als Landkinder usw.), und dann erst läßt sich das Wachstum des einzelnen richtig bewerten, wenn wir es auf ein solchermaßen hergerichtetes Milieu beziehen. Darüber wird im Kapitel »Das Ingenogramm« noch weiteres berichtet werden. Die Rekrutenpröfung. Jeder Schweizer hat beim Eintritt in die schweizerische Milizarmee eine Prüfung abzulegen, die sogenannte Rekrutenprüfung. Diese findet also im 20. Lebensjahre statt. Während des Krieges führten die Vereinigten Staaten von Nordamerika ebenfalls eine Prüfung ihrer Dienstpflichtigen ein. Diese Prüfung war entsprechend den sehr viel weiter fortgeschrittenen psychotechnischen Erfahrungen auf eine durchaus moderne Basis gestellt. Über diese amerikanische Prüfung sind seither ausführliche Berichte erschienen. Aus ihnen geht hervor, daß im ganzen 1 % (eindreiviertel) Millionen Soldaten im Laufe eines Jahres geprüft wurden. Für die Ausbildung des Prüfungspersonals wurde eine Schiile für Militärpsychologie geschaffen, in der etwa 100 Offiziere und 300 Mannschaften innerhalb zweier Monate angelernt wurden. Auch die Individualprüfungen sind von Leuten ohne größere Allgemeinbildung unter Aufsicht eines Psychologen durchgeführt worden. In jedem Truppenlager befand sich ein Stab, bestehend aus 4 Sanitätsoffizieren, 6 »militärpsychologisch ausgebildeten Mannschaften« und dreißig bis vierzig Hilfsdienstpflichtigen. Dieser Stab konnte täglich bis zu 2000 Mann »prüfen«. Von den Ergebnissen dieser Prüfung sei folgendes berichtet. Die Armeepsychologen gelangten dazu, drei über dem Durchschnitt stehende Intelligenztypen anzunehmen, einen durchschnittlichen Intelligenztyp und drei unterwertige Typen. Dazu kommt ein vierter Intelligenztyp, der für den Militärdienst untauglich ist. Milizsysteme oder auch eine künftig vielleicht einzuführende Zivildienstpflicht bieten die gewünschte Gelegenheit, die gesamte junge Generation beim Passieren des 20. Lebensjahres einer gründlichen geistigen und körper-



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liehen Untersuchung zu unterziehen. Es wird in friedlichen Zeiten möglich sein, derartige Untersuchungen ohne allzu großen Kostenaufwand viel eingehender zu gestalten als die bisher geübten schweizerischen oder die 1916/17 durchgeführten amerikanischen Untersuchungen. Der Gedanke, die Art des militärischen Dienstes auf Grund der persönlichen Verhältnisse des Rekruten zu bestimmen, ist natürlich nicht neu. Die Durchführung dieses Gedankens beschränkte sich aber auf wenige Äußerlichkeiten: als Reiter verwendete man beispielsweise Bauernsöhne, die gewöhnt waren, mit Pferden umzugehen; das künftige Offiziersmaterial für die Artillerie wird aus den Studierenden der technischen Hochschule ausgelesen usw. Wenn einmal in einer hoffentlich nicht allzu fernen Zukunft für Männer und Frauen die Zivildienstpflicht eingeführt wird, erhält diese Prüfung im 20. Lebensjahr eine geradezu universale Bedeutung für das Volk. Aber auch heute schon läßt sich das System der Rekrutenprüfung zu einem für das Volksganze sehr bedeutsamen Vorgang ausgestalten. Wenn wir annehmen, daß die im vorliegenden Buch vertretene Forderung, alle jungen Leute müßten beim Austritt aus der Volksschule einer Begabungsprüfung unterzogen werden, erfüllt sei, so bildet die im 20. Jahr bei abgeschlossener geistiger und körperlicher Entwicklung vorzunehmende Intelligenzprüfung 1 ) eine wichtige Ergänzung jener Begabungspiüfung. Darüber hinaus aber wird diese Rekrutenprüfung nicht nur für die unmittelbaren Zwecke des Milizsystemes Orientierungen ermöglichen, sondern sie wird auch für den Prüfling selbst von besonderer Bedeutung und nicht zu unterschätzendem Werte sein. Viele Menschen entwickeln sich nach dem 15. Lebensjahre noch in eigenartiger Weise. Eine neuerliche allgemein geübte Untersuchung des geistigen und körperlichen Zustandes im 20. Lebensjahr ist für diese nicht seltenen Fälle, wo eine endgültige Entscheidung im 15. Lebensjahr nicht getroffen werden kann, unerläßlich. — Von all diesen Erwägungen abgesehen, muß man bedenken, daß die praktische Psychologie selbst, die modernste im Dienste des Volkswohls stehende Wissenschaft, eine sehr große Bereicherung erfährt, ] ) D . h . aber, wie immer in diesem Buch: » G e s a m t - P r t l f u n g i 'aller Anlagen.

— 103 — wenn sie instand gesetzt wird, die Durchführung solcher massenpsychologischer Untersuchungen zu übernehmen. Die Rekrutenprüfung soll sich an das hier gegebene Schema der auf 8 Oktanten verteilten psychologischen Gruppen anschließen. Das gegenwärtig bei der schweizerischen Miliz übliche Prüfungssystem ist zu wenig eingehend, und es tastet gewissermaßen nur die untere Begabungsgrenze ab. Viele Fachleute erklären die Prüfung geradezu für zwecklos. In der Tat kann man den Standpunkt einnehmen, daß es besser sei, keine Prüfungen vorzunehmen, als viele tausendjunge Leute einer ganz oberflächlichen Untersuchung ihrer geistigen und körperlichen Eigenschaften zu unterziehen. Die pädagogischen Erfahrungen meiner eigenen Praxis haben mir gezeigt, daß eine derartige z w e i t e grundsätzliche Überlegung über den zu wählenden Beruf aus verschiedenen Gründen von großer wirtschaftlicher wie auch ethischer Bedeutung ist. 1. Die Zahl der jungen Leute, die in den 20er Jahren finden, daß der Beruf, über den in ihrem 15. Lebensjahr entschieden wurde, nicht der richtige sei, ist viel größer als man gewöhnlich annimmt. 2. Die Qualität und volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Menschen steht durchschnittlich weit über dem mittleren Niveau. (Wir sehen dabei von den unruhigen Geistern mit krankhaften Anlagen, bei denen der ewige Wechsel der Ausdruck ihrer Abnormität ist, vollständig ab.) Gemeint sind nur diejenigen, die aus einem inneren Drange heraus umsatteln. Die von mir 1902 gegründete und bis 1914 geleitete Privatschule »Reformgymnasium Zürich« beschäftigte sich mit der Vorbereitung junger Leute für die Studien an der Universität und technischen Hochschule. Es handelte sich hierbei in der Regel um Erwachsene in den 20er Jahren, Männer und Frauen, die fast ausnahmslos aus wirklicher innerer Neigung sich entschlossen hatten, einen bereits ergriffenen Beruf aufzugeben und sich für einen neuen auszubilden. Mein ältester Schüler war dabei ein 54jähriger Berliner Bankdirektor, der nach einer erfolgreichen Lebensarbeit sich

— 104 zur Ruhe setzen wollte and die Absicht hatte, die großen praktischen Erfahrungen seiner 30jährigen Tätigkeit dadurch zu krönen, daß er nun nach einer derart gründlichen Vorbereitung noch Nationalökonomie studierte. Die meisten dieser erwachsenen Schüler haben im späteren Leben eine Karriere durchgemacht, die ganz bedeutend über dem Niveau des durchschnittlichen akademisch gebildeten Bürgers liegt. Man kann sagen, daß diese innere Stimme, die diese unruhigen Geister aus ihrer zuerst ergriffenen Tätigkeit hinwegrief, sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als richtig erwiesen hat. Wenn ein Postbeamter, der seinen Dienst Tag für Tag gewissenhaft aber freudlos versieht, in sich den Drang nach etwas anderem verspürt, einen Drang, der zunächst auch noch ganz unbestimmt sein kann, wenn er nur wahr und tief empfunden vorhanden ist, so wird es für einen derartigen Mann immer eine Erlösung sein, wenn ihm die Möglichkeit geboten ist, seinen Beruf zu ändern. Den Fall des Postbeamten, der umsattelt, habe ich zweimal verfolgen können. Das eine Mal wurde ein Professor der deutschen Literaturgeschichte daraus, das andere Mal ein sehr gesuchter und geschätzter Spezialarzt. Diese Bemerkungen sollen zeigen, daß die Möglichkeit einer zweiten Berufswahl für das Interesse der Nation ebenso sehr wie für den betroffenen Einzelnen von Vorteil ist. Bei der Berufswahl im 15. Lebensjahr entscheidet doch im Grunde der Vater oder der Berufsberater. Bei einer nachträglichen Korrektur entscheidet der Betroffene selbst. In einem solchen Falle kann man fast stets sicher sein, daß die nachträgliche Wahl die richtige ist. Wenn nun für eine derartige zweite Berufswahl die allgemein einzuführende Rekrutenprüfung als wissenschaftliche Grundlage gewonnen werden kann, so erhält diese Prüfung eine wirkliche, weit über ihren ursprünglichen Rahmen hinausgehende Bedeutung. Ich trete daher dafür ein, daß diese Prüfung überall, wo Milizsystem eingeführt ist, stattfindet und eingebürgert wird. Aber auch in Deutschland, wo infolge des ungerechten »Friedens« von Versailles nicht einmal ein Milizheer vorhanden sein darf, könnte eine derartige wissenschaftliche Untersuchung aller 20jährigen eingeführt werden.

Viertes Kapitel.

Die rechnerische Verwertung der Resultate. Die Intelligenzprüfung umfaßt nach der im vorigen Kapitel dargelegten Methode etwa 100 Tests. Nimmt man eine durchschnittliche Testdauer von einer Viertelstunde an, so ergeben sich 25 Stunden. Dies dürfte der Minimalaufwand für eine einzelne Klasse sein. Wir erhalten dann durch das Studitim der Ergebnisse der 100 Proben für jedes Kind 100 Zensuren, von denen ein großer Teil rein gefühlsmäßig festgestellt ist. Nehmen wir ein schematisiertes Beispiel als Grundlage für die Anweisung, wie man mit den Zensuren, die alle im Dezimalsystem ausgedrückt werden sollen, die weiteren Berechnungen durchführt. Der leichteren Übeisieht halber nehmen wir eine kleine Klasse von 10 Kindern an. Ferner führen wir zur Vereinfachung der Berechnung zunächst für jeden Prüfling in einer jeden einzelnen der 8 Hauptfunktionen die Mittelwertsberechnung durch. Hat also der Prüfling A bei der Untersuchung seines Gedächtnisses (siehe S. 35) die folgenden Noten erhalten: 4 2 2 8 8 4 9 9 9 6 5 2 4 4 6 8 8, so bilden wir aus allen diesen Zahlen zunächst das arithmetische Mittel. Wir erhalten das arithmetische Mittel = 5,78. Es ist wichtig, sich darüber klar zu sein, daß hierbei allen einzelnen Gedächtnistypen (davon wir 17 unterschieden haben) gleiches Gewicht zugeschrieben wird. Es hegt im Beheben des Untersuchungsleiters, solchen Funktionen, die er für besonders wichtig hält, ein größeres Gewicht beizumessen. Man kann z. B. alle jene Proben, bei denen die Reproduktion nicht sofort, sondern erst nach Verlauf einer Stunde verlangt wird, mit vierfacher Kraft bewerten, und diejenigen, deren Reproduktion nach einer Woche geprüft wird, -mit sechs-

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facher Kraft usw. Die betreffende Einzelzensur ist dann mit 4 oder mit 6 zu multiplizieren und demgemäß die Zahl der Versuche als um 3 beziehungsweise 5 größer anzusehen. Betrachtet jemand z. B. den 3. Test als von iofacher Bedeutung im Vergleich zu den übrigen, ebenso den 6., so ergibt sich eine andere Bewertung des Gedächtnisses dieses Zöglings: 4,34; man sieht, daß die relative Bewertung der einzelnen Typen des Gedächtnisses sehr wesentlich ist für den Ausfall der summarischen Bewertung. Wird aber bei einer Untersuchung immer nach den gleichen Grundsätzen verfahren, so ist klar, daß die Methode einwandfreibleibt. Betrachten wir nun unser Schema auf Tabelle I I I (im Anhang). Das Gedächtnis ergab den Mittelwert 6,8, der Prüfling 20 zeigte eine Abweichung von —2 vom Mittel; diese Abweichungen bilden die zweite Matrix der Tafel. Sie sind so beschaffen, daß die Summe der Abweichungen einer vertikalen Kolonne Null gibt; dies ist eben die Eigenschaft des »arithmetischen Mittels«. Wir bilden nun die Quadrate der Abweichungen und stellen sie zu einer dritten Matrix in Tab. IV zusammen. Aus diesen Abweichungen berechnen wir ebenfalls die Mittelwerte. So zeigt z. B. das Gedächtnis, welches den Mittelwert 6,8 hatte, als mittleres Abweichungsquadrat den Wert 2,91. Ziehen wir daraus die Wurzel, so haben wir ein Maß der durchschnittlichen Abweichungen. Man nennt die so erhaltene Zahl die S t a n d a r d - A b w e i c h u n g . Sie ist hier Man kann eine »lineare mittlere Abweichung« erhalten, indem man die einzelnen Abweichungen ohne Rücksicht auf ihre Vorzeichen betrachtet und so aus ihnen den arithmetischen Mittelwert sucht. Aus Tabelle I I I findet man 1,5 dafür. Das Gedächtnis unserer kleinen Gruppe zeigt eine mittlere (»lineare«) Abweichung von 2 1 % . J e größer derartige mittlere Abweichungen sind, desto weniger einheitlich ist die Masse. Aber es ist gut, ausdrücklich hervorzuheben, daß weder dem Mittelwert selbst, noch den Abweichungen eine unmittelbare reelle Bedeutung zukommt. Auch beachte man, daß sich nicht nur das übliche arithmetische Mittel bilden läßt, sondern ebenso kann man quadratische, kubische Mittel usw. bilden. Welches ist das »wahre« oder »richtige« Mittel?

— 107 — Antwort: Es gibt kein in der Natur vorhandenes wahres oder richtiges Mittel. Mittelwerte sind Betrachtungsformen, nicht Realitäten. Genau so wenig gibt es ja einen mittleren Typus überhaupt oder einen Idealmenschen. Jede an einer Masse durchgeführte Intelligenzprüfung liefert Stoff zur Auffindung von K o r r e l a t i o n e n zwischen einzelneil Funktionen. Dreifach ist das Gebiet dieser Korrelationen : 1. Innerhalb der psychischen Qualitäten, 2. innerhalb der körperlichen Eigenschaften, 3. Korrelationen zwischen körperlichen und psychischen Eigenschaften. Das Studium dieser Korrelationen gehört mehr iir das Gebiet der eigentlichen Psychologie als hierher. Natürlich führen auch die Massenuntersuchungen an einem Individuum zur Entdeckung von Korrelationen. Es ist bekannt, daß man verschiedene große Allgemeinrichtungen in diesen Fragen erkannt haben will: mathematisch-musikalische Begabung, sprachlich-phantastische usw. Auch die Fragen, ob es zwischen dem Geschlecht und der betreffenden psychischen Funktion eine Beziehung gibt, gehört hieher. Sind Mädchen fürs Rechnen weniger gut begabt als Knaben ? Sind Frauen zuverlässiger im Farbengedächtnis als Männer, minder zuverlässig in der Zeugenaussage als Männer ? Wir können heute . alle diese Fragen noch nicht entscheiden. Sicher gehört das Studium der Korrelationen zu den reizvollsten Aufgaben der pädagogischen Praxis. Aus dem geringen Material, das mir zur Verfügung stand, ließ sich wenig Sicheres ermitteln. Aufgefallen ist mir die unerwartete Tatsache, daß zwischen den von mir aufgestellten acht psychologischen Grundfaktoren gerade die P h a n t a s i e mit der K o n z e n t r a t i o n ziemlich verknüpft erscheint. Wenn man auch beachten muß, daß ich die vollständige 100-Test-Prüfung nicht durchführen konnte, vielmehr für die 8 Faktoren summarische Mittelwerte nehmen mußte, woraus also eine gewisse Unsicherheit meiner Zensuren folgt, so ist die beobachtete merkwürdige Korrelation vielleicht doch der Ausdruck einer wirklich bestehenden Verbindung zweier Anlagen der Seele.

— 108 —

Anderseits kann man nicht überrascht sein, daß unsere Tests VII und VIII, nämlich »Reife« und »Blick, Beobachtungsgabe, Zeugnistreue« weitgehende Übereinstimmung aufweisen. Die Korrelation ist beinahe vollkommen. Doch wollen wir nicht vergessen, daß dies einigermaßen zu erwarten ist. In unseren Tests überdecken sich ja viele Gebiete; wir können solche psychologische Hauptgruppen, die sich gegenseitig nicht wenigstens teilweise enthalten, die sich also völlig ausschließen, gar nicht auffinden. In der Einschätzung der »Allgemeinen Reife« ist eben sehr viel von dem enthalten, was als Test VIII erscheint: Blick, Beobachtung usw. Daher ist die Korrelation, die wir antreffen, nur zum Teil eine beachtenswerte Tatsache, die dem Milieu zukommt; zum andern Teil ist diese Korrelation nichts anderes als eine nachträgliche Kontrolle. ob wir gleichmäßig und vergleichbar bei der Erteilung der Zensuren verfahren sind. Das Fehlen einer Korrelation würde also eher einen Fehler systematischer Art bei unserer Zensierung andeuten, als einer Eigenschaft des Milieus entsprechen. Wenn mit solcher Kritik und Reserve an das Problem der Korrelationen herangetreten wird, so ist zu hoffen, daß nach Abschälung der nur äußerlichen, unwichtigen, oberflächlichen Ergebnisse sich schließlich doch irgend welche wirkliche Beziehungen nachweisen lassen. Solche psychologische Korrelationen hätten bei mancher Frage Bedeutung; wenn man z. B. eine Klasse t e i l e n muß, so wird man gut tun, gleichartige Typen zusammenzugeben. Gleichartige Typen haben aber u. a. eben dieses Kennzeichen: sie haben gleiche Korrelationen. — Wir wollen uns nicht verhehlen, daß im Grunde die Seele des Menschen (wie schon einmal festgestellt und als Grundsatz erklärt) doch eine E i n h e i t ist. Es kann demnach keine der von uns betrachteten Eigenschaften für sich beanspruchen, in der Psyche des Menschen eine gesonderte Existenz zu haben. Man kann nichts Einzelnes herausnehmen, um es zu beti achten. Es hieße daher, zu viel verlangen, wollte man der psychologischen Prüfung vorschreiben, die einzelnen Gebiete dürften nicht mehr oder minder ineinandergreifen. D>es zu verh'ndern, ist ganz unmöglich und der kritische Leser möge diesen Punkt nicht übersehen.

— 109 — Wer in die Methodik der rechnenden Betrachtung mehr Einblicke erhalten will, als sie unsere wenigen Zeilen hier bieten, der sei auf das vortreffliche Werk von J o h a n n s e n : »Elemente der exakten Erblichkeitslehre« verwiesen (Verlag Fischerin Jena). Es entsteht noch die Frage, auf welche Weise es möglich ist, dem einzelnen Test eine bestimmte Zensur zuzuschreiben,

Bcgtbunftn. Abb. 39. Zaunr im Hiliea.

daß dann die von den verschiedenen Prüfern festgestellten Zensuren miteinander vergleichbar würden. Wir wollen vor allem feststellen, daß wir die Bewertung der einzelnen Leistungen so verstanden wünschen, daß die beste und die schlechteste Leistung, welche das betreffende Milieu zeigt, mehr oder minder genau durch die Noten 10 und 1 charakterisiert werden soll.. Unser Bild »Zensur im Milieu« zeigt mehrere Methoden zur Erfüllung dieser Forderungen. Es handelt sich um eine Klasse von 60 Kindern, die in bezug auf die Schnelligkeit untersucht wurden, mit welcher sie größere Menge» Geld-

— 110 — münzen zählen konnten. In erster Linie wurde hierbei auf die Zeit, innerhalb welcher die Zählung richtig durchgeführt wurde, gesehen. (Axis der Art und Weise der Durchführung der Zählung selbst ergab sich auch noch ein Indizium für das Talent zur Disposition und Organisation.) In der nachfolgenden Reihe stehen in der ersten Zeile in gleichmäßiger Entfernung die Zeitmarken geschrieben; darunter in der zweiten Zeile die Anzahl der Schüler, welche bis zum Beginn dieser Zeitmarke (und nach Ablauf der vorhergehenden Zeitmarke) ihre Zählung vollendet haben. In der dritten Linie der Aufzählungsreihe sehen wir die Summe aller Schüler, welche bis zum oben angeschriebenen Zeitpunkt ihre Arbeit schon abgegeben haben. Ergebnis eines Tests

Zählung großer Mengen.

Von 60 Kindern sollte eine größere Summe gezählt werden. Die schwach gestrichelte Linie ist die Aufzählungsreihe, die angibt, wieviel Kinder Insgesamt nach jeder halben Minute mit der Auigmbe fertig waren. Die schwarze Linie zeigt an, wieviel Kinder in einen bestimmten Augenblick mit der L & u n g zu Ende waren. Die Linien A, B, C, D, B zeigen eine Anzahl Zensunnethoden zur Bewertung der Leistungen.

Minuten: 8

8

m

9

9*

10 1 0 * " 11 1 1 3 0

12 I 2 M

13 1 3 "

14 14a0

15 1 5 »

16 l 6 w

17

Anzahl: 1

0

2

0

1 2

4

10

9 6

8 5

3 3

2 2

1 0

1

2 9 35

43 48

51 54

56 58

59 59

60

Summe. 1 1

3 3

4

6

1 0 20

Diese Verhältnisse stellen wir nun graphisch dar (Abb. 29). Auf horizontaler Achse tragen wir die Zeitskala ab. Nach Verlauf von je einer halben Minute wurden die in der letzten halben Minute eingelaufenen Arbeiten gezählt; in unserer graphischen Darstellung tragen wir entsprechend der zweiten Linie der obigen Tabelle für jede Halbminutenzeitmarke einen zur Zeitachse senkrechten Strich ab, dessen Höhe der Zahl der Schüler entspricht, die in der letzten halben Minute mit der Zählung fertig wurden. Am oberen Ende des Striches notieren wii diese Zahl. So ist z. B. 13 Minuten nach Beginn des Experimentes die Zahl 8 zu sehen. 14 Minuten zeigt 3 usw. In derselben Weise verfahren wir zur graphischen Darstellung der Aufzählungsreihe, nur verwenden wir für diesen Zweck eine viermal stärkere Verkleinerung des vertikalen Maßstabes, um keine allzugroße Figur zu erhalten. Die gestrichelt gezeich-

— 111 — nete Linie ist also die Integrallinie zur vorher gezeichneten Variationsfigur. Nach 14 Minuten waren also z. B. 51 Schüler fertig, nach 1 5 Minuten waren es 56 und nach 17 Minuten waren alle fertig. Wann war die Hälfte aller Schüler fertig ? Nach 12 Min. waren 29 fertig, nach 12 Min. 30 Sek. waren es 37. Daraus findet man durch Interpolation, die natürlich nur einen summarischen Aufschluß gibt, daß die Hälfte der Schüler 12 Min. 5 Sek. nach Beginn des Experimentes fertig war. Diesen Wert nennen wir die Mediane des Milieus. Auf ähnliche Weise findet man, daß das erste Viertel der Schüler nach 1 1 Min. 15 Sek., das dritte Viertel aber nach 1 3 Min. 12 Sek. fertig war. Die Hälfte aller Schüler liegt also im Bereich der beiden mittleren Viertelwerte, und zwar um 12 Min. 5 Sek. herum mit einem Spielraum von beinahe 2 Min. Es ist also für dieses Milieu charakteristisch: 1. Die Variationsbreite beträgt 9 Min.; in diesem Zeitraum erfolgte das Fertigwerden aller Schüler. 2. Die Mediane wurde nach 12 Min. 5 Sek. erreicht; das heißt also, es wurden ebensoviele Schüler vorher als nachher fertig. 3. Der Viertelspielraum beträgt 1 Min. 57 Sek. Das heißt, in dieser Zeit, vor und nach Erreichung der Mediane, gab die Hälfte der Schüler ihre Arbeit ab. Die Mediane stellt für den einzelnen Prüfling, wenn man vor Beginn des Experimentes von seinen Fähigkeiten noch gar nichts weiß, den wahrscheinlichsten Wert vor. Das Milieu läßt sich aber besser durch den Mittelwert charakterisieren: Das arithmetische Mittel aus allen Zeitangaben. Wir geben gleich ein etwas abgekürztes Verfahren: Wir suchen einen in der Nähe des vermuteten Mittelwertes gelegenen bequemen Zeitpunkt, z. B. 12 Min., und bestimmen die Abweichungen von diesem provisorischen Mittelwert, wobei wir gleich eine jede solche Abweichung mit der Zahl der Prüflinge multiplizieren, welche diese Abweichung zeigen. Dies gibt uns eine vierte Linie zu den dreien der obigen Tabelle. 4 0 6 0 2 3 4 5 =

— 24

o

3 8 7,5

6 7,5 =

+

6 7 4 0 5 54



112



Die erste Gruppe bis zu der in der Mitte der Zeile stehenden o sind negative Abweichungen mit der Summe 24. Die zweite Gruppe sind positive Varianten mit der Summe 54. Das arithmetische Mittel ist derjenige Wert, in bezug auf welchen die Summe der Abweichungen gleich o ist. Unsere Abweichungen ergeben die Summe + 3 0 ; verteilen wir diese auf die 60 Prüflinge, so entfällt auf jeden der Betrag von 30 Sek. Das arithmetische Mittel ist also 12 Min. 30 Sek. Man kann sich leicht davon überzeugen, daß nunmehr die Summe aller negativen Abweichungen gleich —38 Min. 30 Sek., diejenige der positiven Abweichungen aber + 3 8 Min. 30 Sek. wird. Wir bezeichnen nun als lineare Abweichung oder lineare Streuung (wie wir auch unser arithmetisches Mittel genauer als das lineare Mittel bezeichnen) die Summe aller linearen Abweichungen, wenn wir sie auf das ganze Milieu gleichmäßig verteilen. Dies ergibt als lineare Streuung den Betrag von 1 Min. 17 Sek. Diese Streuung erstreckt sich auf beide Seiten des linearen Mittels und reicht also weiter als die oben erläuterte Viertelstreuung. Wir beschreiben das Zählungsergebnis für unser Milieu nunmehr folgendermaßen: Die mittlere Dauer der Zählung betrug 12 Min. 30 Sek. plus oder minus 1 Min. 17 Sek. Statt der Viertelstreuung und der linearen Abweichung kann man auch die Standard-Abweichung benützen. Nun wollen wir diese Ergebnisse des Zählungstestes durch Zensuren beschreiben. Betrachten wir das Variationspolygon, so sehen wir, daß 8 Min. nach Beginn des Experiments der erste Schüler mit seiner Aufgabe fertig war, 17 Min. nach Beginn der letzte. Der Gedanke ist wohl berechtigt, die Zensuren, mit denen man das Milieu beschreiben will, auch im Milieu aufzubrauchen. Darauf beruht die unter dem Variationspolygon gezeichnete Zensurenskala A. Die Skala C wurde so eingerichtet, daß der Mediane die Zensur 6, den beiden Vierteln aber die Zensuren 7 und 5 zugeordnet wurden. Daraufhin wurde nach beiden Seiten extrapoliert. Als die beste Methode der Zensurierung eines umfangreichen Milieus erscheint mir die folgende: Wir bezeichnen das Gebiet der linearen Streuung durch die Grenznoten 4 und 7, so daß sich also 3 Notenwerte innerhalb des linearen Streuungs-

— 113 — gebietes befinden, 3 oberhalb und 3 unterhalb. Man beachte wohl, daß die Zensur o ursprünglich nicht gegeben wird, wir also 10 Noten, aber nur 9 Intervalle haben. Dabei verzichte ich durchaus darauf, die extremen Leistungen im Milieu genau durch extreme Zensuren wiederzugeben. Diese Skala B charakterisiert nach meinen Erfahrungen das Milieu am besten. Es spielt keine Rolle, wenn es sich einmal ereignet, daB eine Leistung durch die Zensur 0,5 und eine andere durch die Zensur 12 bezeichnet werden muß; denn nicht die ungewöhnlichen Varianten charakterisieren das Milieu, sondern die in den mittleren Gebieten gelagerte Masse. Je größer die Masse und je einheitlicher das Milieu, desto bedeutungsloser werden gelegentliche einzelne Absonderlichkeiten.

Lftmmel, Intelligenzprtfuag.

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Fünftes Kapitel.

Das Ingenogramm. Wir haben der Intelligenzprüfung 8 psychische Faktorengruppen zugrunde gelegt. Dies mag mehr oder minder praktisch sein — jedenfalls ist es völlig willkürlich. Möge niemand glauben, daß die zahllosen psychischen Elemente, auf welche man bei der Analyse stößt, sich wirklich in 8 natürliche Gruppen teilen. Dies wäre eine Art Hegeischen Achter-Glaubens. Indessen drängte der Wunsch, eine prägnante Form der Ergebnisse einer Analyse zu finden, nach einer Schematisierung. Dazu kam die Überzeugung, daß das künstliche Element bei der Analyse eben dieáes sei: Die Zerlegung in einzelne psychische Faktoren. Wie wir schon gesehen haben, sind diese elementaren Faktoren Kunstgebilde. Will man aus ihnen gleichsam mosaikartig wieder die einheitliche Individualität rekonstruieren, so braucht man dazu vor allem die Erkenntnis von der Existenz zahlloser Korrelationen. Solche gegenseitige Bedingtheiten gibt es in großer Zahl. Korrelationen existieren nicht nur zwischen verwandten psychischen Faktoren, sondern auch zwischen scheinbar verschiedenartigen. Die Gesamtheit der Korrelationen führt wieder zur individuellen Einheit zurück. Doch sind wir heute noch weit davon entfernt, ans der Analyse die Synthese wirklich durchführen zu können. Aber der Weg liegt klar vor uns. Die Aufgabe selbst erinnert mich immer an eine andere von monumentaler Einfachheit und Größe: Die Astronomen aller Länder arbeiten seit Jahrzehnten daran, die Eigenschaften des Weltalls zu untersuchen. Sie studieren die einzelnen Elemente (Sterne), ihre gegenseitigen Beziehungen (Sternhaufen und Nebel)

— 115 — und versuchen so zu einer Vorstellung über den Bau des Ganzen zu gelangen. Wir denken uns eine größere Anzahl gleichalteriger Kinder als Gegenstand unserer Untersuchung. Die psychologischen Eigenschaften wollen wir mit Hilfe unseres ioo-Test-Systems ermitteln. Wir teilen unsere 8 Hauptfaktoren in so viele Untergruppen, als das Schema unserer Intelligenzprüfung erforderlich macht. Von jedem einzelnen Test bestimmen wir für das vorgelegte Milieu den Mittelwert und die lineare Streuung. Wir tragen von einem Punkte aus nach 8 Richtungen unsere Hauptfaktoren auf und verteilen dazwischen auf ioo Strahlen die detaillieiten Ergebnisse der Tests. Dabei verfahren wir folgendermaßen: Nehmen wir an, der Test III B hätte als Mittel den Betrag 7 und als Schwankung 2 ergeben. Wir zeichnen nun einen Kreis von z. B. 10 cm Radius und tragen in der zu jenem Test zugehörigen Strahlenrichtnng den Mittelwert 7 ab, verändern aber den Maßstab derart, daß diese Länge sich bis zum Ende des Kreisradius erstreckt. Die Schwankung 2 in bezug auf die Größe 7 ergibt eine Schwankung von 2,9 in bezug auf die Größe 10, d. h. 29%. Nehmen wir ferner an, der Test III E hätte für unser Milieu den Mittelwert 8,5 ergeben und eine Schwankung von 1,7, d. h. 20%. Dann tragen wir auf dem zur Richtung III E gehörigen Strahl den Wert 8,5 wieder sö ab, daß wir den Maßstab geeignet verändern, damit auch der Mittelwert der Eigenschaft III E durch dieselbe Länge, nämlich 10 cm, dargestellt werde, wie alle übrigen Mittelwerte. Die Schwankung von 20%, also 2 cm, wird wieder nach außen und innen abgetragen. Wir erhalten so als Darstellung der Mittelwerte aller 100 Proben einen Kreis; außerhalb und innerhalb der Kreislinie verlaufen 2 Kurven, die zum Kreise symmetrisch liegen. Die Kreislinie halbiert alle zum Zentruip zeigenden Sehnen. Natürlich erhält man genau genommen ein 100-Eck, das wir aber idealisieren und als Kurve zeichnen wollen. Für eine vorläufige Orientierung genügt es, alle Tests einer jeden der 8 Hauptgruppen zu Gruppenmittelwerten zusammenzufassen. Anderseits sind wir uns wohl darüber klar, daß wir die Wirklichkeit auch mit Hilfe von 100 Tests nicht genau beschreiben können. Zur Darlegung der Methode be8»



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dienen wir uns der 8 Gruppentests. Jeder dieser 8 Hauptfaktoren hat uns einen Mittelwert ergeben. Obzwar diese Mittelwerte verschiedene Größen sind, betrachten wir sie als einander gleichwertige Bestimmungsstücke und tragen nach den 8 Richtungen gleichlange Strecken ab. Wir erhalten so als graphische Darstellung der psychischen Eigenschaften eines normalen Individuums einen Kreis.

Nehmen wir an, das »Gedächtnis«, einer unserer 8 Hauptfaktoren, sei für die untersuchte Masse durch die Zahl 6 charakterisiert worden. Es ist dies der genau nach links verlaufende Faktor auf Abb. 30. Die Zensur 6 ist nach dem Dezimalsystem zu verstehen. 10 wäre das vollkommenste Gedächtnis. Fassen wir nun einen bestimmten Kandidaten W. F. ins Auge. Er erhielt für seine Gedächtnisleistungen durchwegs höhere Zensuren, z. B. für das Zahlengedächtnis die Zensur 8. Dies war seine beste Leistung bei der Gedächtnisprüfung. Diese Wert-

— 117 — zahl übertrifft den Klassendurchschnitt 6 um ]/3. Nun verlängern wir den Kreisradius, der zum entsprechenden Kreispunkt hinzielt, um y3 seines Betrages. Wir erhalten dadurch die mit »Zahlengedächtnis« überschriebene größte Radiuslänge im Gebiete des Gedächtnisses. Der betreffende Kandidat zeigte im Gebiete der mechanischen Begabung eine in noch höherem Grade das Klassenmittel überragende Leistung. Die Begabung zur Lösung konstruktiver »Meccano «-Aufgaben zeigte sich bei ihm um 60% größer als beim Klassendurchschnitt. Phantasie, Kombination, künstlerische Fähigkeiten und die kritische Betrachtimg vorgelegter Tatbestände sind unter dem Klassenmittel. Unsere Abb. 30 zeigt den Kreis des gleichaltrigen »normalen« Individuums und die abweichend verlaufende Linie des Kandidaten W. F. Diese Kurve nennen wir ein Ingenogramm. Der durch Mittelwertsberechnung konstruierte Normaltyp zeigt als Ingenogramm einen Kreis. Man hat mich gefragt, wieso es kommt, daß das Ingenogramm des Durchschnittsmenschen ein ganz genauer Kreis sei ? Antwort: Dies ist lediglich eine zweckmäßige Annahme. Wir stellen uns die Gesamtheit aller psychischen Faktoren als zu einer Einheit gehörig vor. Dem Durchschnittstyp müssen wir die einfachst gestaltete Darstellung zubilligen, die am wenigsten Eigentümlichkeiten aufweist, also den Kreis. Wir müssen ferner jeder Eigenschaft nicht nur einen mittleren Wert, sondern auch eine mittlere Schwankung zubilligen. Als Maß für diese letztere wollen wir das arithmetische Mittel der Abweichungen betrachten, wobei wir alle Abweichungen als positiv ansehen. (Die algebraische Summe der Abweichungen vom arithmetischen Mittel wäre ja gleich 0.) Wir tragen die so erhaltene mittlere lineare Abweichung vom Normalkreis aus nach außen ab, ebenso nach innen. Wir erhalten auf solche Weise einen geschlossenen Streifen, der den Normalkreis in sich enthält. Die Fläche des Streifens enthält das Gebiet der mittleren Leistungen. Auch hier bemerken wir, daß die Voraussetzung für die richtige Beurteilung eines einzelnen die Kenntnis der mittleren Eigenschaften einer entsprechenden Masse ist. In Abb. 30 sehen wir das mittlere Schwankungsgebiet zu beiden Seiten des Idealkreises dargestellt. Der Prüfling W. F. hat ein Ingeno-



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gramm, das zum größten Teil innerhalb des Gebietes der mittleren Begabung verläuft. Dieses Gebiet selbst ist das ingenographische Bild der Gleichaltrigen. Da, wo das Gebiet der mittleren Begabungen besonders breit beidseits des Idealkreises liegt (Kunst, Phantasie), liegen normalerweise sehr große Verschiedenheiten innerhalb der Menge vor. Da, wo das Gebiet der mittleren Begabung sich eng an den Idealkreis anlehnt (Reife, Verstand), stellt die Masse in Hinsicht auf die betreffende psychische Funktion mehr ein einheitliches Gebilde vor. Es versteht sich, daß für die Gestalt des Gebietes der mittleren Talente die Anordnung der fundamentalen psychischen Funktionen auf dem Umfange des Kreises maßgebend ist. Insofern unsere Anordnung nach 8 Hauptformen willkürlich war, ist auch die Figur jenes Gebietes der Alltäglichkeiten willkürlich. Wenn z. B. einmal feststeht, daß die geringste Korrelation zwischen »Verstand,Kunst« herrscht, eine grö ßere aber zwischen Gedächtnis und Kunst, so müssen wir im Ingenogramm Abb. 30 die beiden Faktoren »Reife und Gedächtnis« ihre Plätze wechseln lassen. Der Prüfling W. F. ragt im Gebiete der mechanischen Begabung ziemlich weit über den Durchschnitt heraus. Für die zahlenmäßige Bewertung dieses Herausragens müssen wir an unseren schon einmal dargelegten skeptischen Standpunkt erinnern. Wir können nur sagen: Wo ein Ingenogramm außerhalb des Gebietes mittlerer Begabung verläuft, dort haben wir die eigentlichen individuellen Merkmale zu suchen. Das ringförmige Gebilde der mittleren Begabungen hat natürlich zwei Gebiete, die »äußerhalb« sind: Das Gebiet besonderer Schwächen, dessen Zentrum der Kreismittelpunkt ist, und das Gebiet, welches an den äußeren Umfang des Ringes grenzt, die Region der Talente. Das Ingenogramm gestattet nicht nur, das Verhältnis der individuellen psychischen Faktoren zu den mittleren Qualitäten zu überblicken, sondern auch den Gesamtwert der Intelligenz zu überschauen. Der innere Umfang des Ringes begrenzt die geringste Fläche, welche noch als »durchschnittlich« gelten kann. Der Flächeninhalt läßt sich meist mit dem Auge abschätzen, in einzelnen Fällen wird man vielleicht zum Instrument greifen. (Integraph.) Die vom äußeren Umfang des

— 119 — Ringes begrenzte Fläche ist die beste Mittelleistung. Wenn das Ingenogramm eines Menschen eine größere Fläche hat, als diesem äußeren Mittelmaß entspricht, so kann man von einer »ungewöhnlichen Begabung« sprechen. Man kann dann wohl nach Gutdünken festsetzen: Wo der Normalkreis z. B. um den Betrag der dreifachen halben Streuimg überragt wird, liegt ein beachtenswertes Talent vor; wo der Normalkreis um mehr als die zehnfache halbe Streuung überragt wird, liegt ein ungewöhnlich starkes Talent vor. Wenn dieses nicht eine einzelne Qualität, sondern eine Anzahl zusammenhängender umfaßt, eine geniale Anlage. Ist dabei die gesamte Fläche des Ingenogramms mehr als doppelt so groß wie die äußere Streufläche, so ist das Individuum vielleicht als genial schlechthin zu bezeichnen. Ein Universalgenie müßte also in vielen Qualitäten überragend sein und eine vielleicht vierfache Fläche im Ingenogramm zeigen, verglichen mit der äußeren mittleren Streufläche. Nimmt man den idealen Normalwert eines jeden unserer psychischen Faktoren als = i an, so wird die ideale Normalfläche, also das Maß der gesamten Intelligenz eines Normalwesens aus dem betreffenden Milieu gleich der Fläche des Einheitskreises, = n. Die Erfahrung hat mir gezeigt, daß die Werte der wirklichen Intelligenzen zwischen 50% und 170% dieser idealen Mittelfläche liegen. Die Ingenogramme, welche Flächen zwischen diesen Grenzen aufweisen, bezeichnen also »normale« Menschen. Ich will betonen, daß wir hier nur ein Indizium haben, keineswegs aber ein für sich allein ausschlaggebendes Merkmal. Es könnte ja sein, daß einzelne Ausnahmen nach dieser oder jener Richtung stattfinden. Übrigens tritt uns auch hier wieder die markante Eigentümlichkeit der Ingenogramme entgegen: sie sagen nichts »Absolutes« aus, sondern sie geben die Relation zum Milieu wieder. Dabei ist wohl zu beachten, daß dieses Milieu selbst kein festliegendes ist. Die Ingenogramme z. B., welche auf unseren Tafeln die »Entwicklung von W. L.« im Laufe der Jahre angeben, sind so zu verstehen: Das Ingenogtamm des Milieus Abb. 31 selbst ist immer auf die jeweils Gleichaltrigen bezogen. Wer die Figuren aufmerksam beobachtet, merkt also nicht nur eine starke Veränderung des individuellen Ingenogrammes,



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sondern auch eine schwache Änderung in der geistigen Verfassung des Bezugsmilieus. Diese kann sich natürlich nicht in einer Veränderung des idealen Normaltypus äußern, da dieser immer durch den Kreis wiedergegeben ist, sondern nur in Schwankungen des Bereiches der mittleren Begabungen. — Man wird kaum fehlgehen, wenn man eine Ingenogrammfläche von z. B. 40% als Kennzeichen einer geistigen Minderwertigkeit betrachtet. Ich erinnere hier noch an den Gedanken des Ingenogramm- und Physiogramm-Biographie V. L.

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A b b . 31.

dreidimensionalen Ingenogrammes, dessen Rauminhalt sich danach als Funktion des Gehirnvolumens darstellen muß. Unter gewissen Voraussetzungen erhält man als Wert der mittleren linearen Schwankung etwa 25% für den Fall eines ideal gestalteten Milieus von zahlreichen Individuen, wobei die Verteilung nach der Formel e ' *" ** vor sich geht. Die Mathematik der Ingenographie wird den Gegenstand einer besonderen Abhandlung bilden Jedenfalls ist auch für diesen idealen Fall eine mittlere Abweichung von etwa demselben Betrage vorhanden, wie er sich rein experimentall ergab, nämlich etwa 25%. Beachten wir auch noch, daß einer viermal größeren Intelligenzfläche bloß ein doppelter Radius zukommt. Was heißt dies ? Wir müssen die von uns geschaffene Sprache naturgemäß auslegen und dürfen nicht erwarten,



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neue Gesetze zu finden auf Grund von willkürlich eingeführten Konventionen und Methoden. Also: dies heißt zunächst noch nicht, daß hier irgendein quadratisches Gesetz zugrunde liegt, d. h. in der Natur der Sache. Wir hätten ja dann beim räumlichen Ingfnogramm ein kubisches Gesetz usw. zu erwarten. Wir erkennen, daß unsere Methode die guten Anlagen besonders bedeutend, die schlechten Begabungen aber besonders geringwertig darstellt. Nichts hindert, statt der von uns gewählten linearen Abweichung die quadratische zu nehmen: man suche den arithmetischen Mittelwert in gewöhnlicher Weise, bestimme alle Abweichungen, nehme die Quadrate davon, wobei ein jedes mit der Anzahl der Varianten, welche diese Abweichung zeigen, zu multiplizieren ist, bestimme den Mittelwert durch Division durch die Anzahl der Varianten (Schüler, Personen, Mächtigkeit der Masse usw.) und ziehe die Quadratwurzel. Man erhält auf diese Weise eine etwas größere Abweichung als die »lineare« ist.. In idealen Fällen ist die Vergrößerung 25% des linearen Mittels. Nichts hindert, diese quadratische »Standard-Abweichung« als die eigentliche oder »wahre« zu betrachten. Man wird die Ingenogramme erst dann als »nicht-normal« betrachten, wenn mindestens die gesamte Fläche (also abgesehen von einzelnen unter- oder übernormalen Gebieten) unter oder über dieser Standardfläche hegt. Es ist aber zu bedenken, daß schon das arithmetische Mittel, welches für die Standard-Abweichung Ausgang ist, eine künstliche Größe bedeutet. Man könnte die gemessenen Größen (erteilte Zensuren, verstrichene Minuten, gehobene Gewichte usw.) auch gleich von vornherein ins Quadrat erheben, den Mittelwert suchen, dann die Wurzel ziehen; man erhielte auf solche Weise ein »arithmetisches Mittel zweiten Grades«, von dem man dann die Standard-Abweichung bestimmen könnte. Jedermann sieht, daß hier beliebige Größen und Methoden hineingebracht, werden können, allein die Zweckmäßigkeit entscheidet und nur der natürliche und praktische T a k t kann wählen. Man hat mich gefragt, ob es denn richtig sei, das einzelne Ingenogramm überhaupt in Beziehung zu setzen zu einer Gruppe, in welcher der betreffende einzelne selbst auftritt ?



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Antwort: Ja, es ist richtig. — Auch die Analyse eines Menschen ist etwas Relatives. Zunächst drückt sich in der Zensur eine Wertschätzung relativ zum Prüfer aus. Durch Einschaltung von möglichst viel objektiven Faktoren, Apparaten, statistischen Methoden (siehe z. B. den Test II £ , Seite 39) versuchen wir, dieser subjektiven Trübung zu entgehen. Allein auch dann, wenn es uns gelungen wäre, lauter objektive Zensuren einzuführen, wäre doch kein richtiges Bild des Prüflings gewonnen. Alle psychischen und physischen Qualitäten des Kindes wie des Erwachsenen erhalten ihre Bedeutung erst in dem Augenblick, wo die gleichen Qualitäten für das Milieu, aus dem dieser einzelne stammt, untersucht worden sind. Es ist also die Bezugnahme auf das Milieu unvermeidlich; überdies auch zweckmäßig, denn erst dadurch werden die Angaben praktisch bedeutungsvoll.

Was gehört alles zum Milieu? — Soll man alle Gleichaltrigen dahingehörig betrachten oder nur europäische Kinder oder nur Kinder der betreffenden Nation; müssen wir nicht auch zwischen Stadt und Land und in bezug auf das soziale Milieu eine Trennung machen? Eine einzelne Schulklasse gestattet durchaus nicht, zuverlässige Durchschnittswerte für das betreffende Alter zu finden. Will man über das Gedächtnis der 12 jährigen Kinder Aufschluß erhalten, so wird man eine große Anzahl von Klassen in verschiedenen Vierteln einer Großstadt und in verschiedenen ländlichen Gegenden untersuchen müssen. Man wird vielleicht finden, daß die GroßstadtKinder ein anderes Gedächtnis zeigen als die Landkinder.

— 123 — Übrigens muß ausdrücklich betont werden, daß die so erhaltenen Durchschnittszahlen meist nur einen »Phänotyp« im Sinne von Johannsen bezeichnen, selten eine echte biologische Einheit. Eine Frage für sich ist es, ob man die extremen Begabungen auch aufs Milieu beziehen und mit dessen Maßstab messen soll. (Siehe oben.) Hier ist alles Willkür, durch Zweckmäßigkeit gemildert. Zu unseren psychischen Typen, die in den Abb. 33 bis 38 in 6 Ingenogrammen dargestellt sind, soll hervorgehoben werden, daß die hier gegebene Anordnung versucht, folgender Forderung Rechnung zu tragen: Psychische Funktionen, zwischen denen erfahrungsgemäß eine starke Korrelation besteht, sind möglichst benachbart gelagert. Solche Funktionen, die eine verhältnismäßig geringe Korrelation zu haben scheinen, sind möglichst diametral gelagert. Natürlich ist dies nicht durchweg gelungen. Insofern aber die Forderung erfüllt werden konnte zeigte sie auch das gewünschte Resultat: Die harmonische Einheit soll durch eine dem Kreise möglichst nahegelegene Figur dargestellt sein! Ein in sich vollkommener Mensch sollte ein Ingenogramm ergeben, das entweder einen exzentrischen Kreis (in bezug auf den Mittelwertskreis) vorstellt oder eine Ellipse. Wenn dies in einigen Fällen durchaus nicht gelungen ist, so mag man billig im Zweifel sein, ob der Mißerfolg an der Disharmonie des betreffenden psychischen Typs oder an dem Versagen der Methode hegt. Auf alle Fälle sind die Ingenogramme ein vortreffliches Mittel, um das Resultat einer ausgedehnten psychologischen Analyse mit einem einzigen Blick überschauen zu können. Was immer für eine besondere Anordnung solchen Ingenogrammen zugrunde liegt: Sobald man sich für eine bestimmte Gruppierung auf dem Kreisumfang entschieden hat und dieselbe konsequent benützt, so endigt die ganze psychologische Analyse, soweit sie zahlenmäßig durchgeführt und dargestellt wird, mit der Zeichnung des Ingenogramms. Stellt man die Resultate der Prüfung einer Schulklasse für jedes Kind auf einem Merkblatt dar, so wird ein solches Dokument sämtliche Originalzensuren auch enthalten müssen. Zeigt

— 124 — aber das Merkblatt in der Ecke rechts oben das relative Ingenogramm, so wird man beim Durchblättern dieser Dokumente stets in erster Linie auf diese Ingenogramme blicken.

Der Beamte.

Der Irre.

Der Kaufmann.

Abb. 33—38.

Das Genie.

Das Ingenogramm einer Individualität, soweit wir es hier verstanden haben, enthält eine kurze Darstellung der psychischen Qualitäten. Es ist klar, daß sich diese im Laufe der Jahre sowohl absolut wie auch relativ (d. h. im Vergleich mit

— 125 — dem Mittel der Gleichaltrigen) verändert. Wir bringen auf Abb. 31 die Biographie eines Mädchens mittels Ingenogrammen. Man sieht, daß die Entwicklung bis zum 12. Jahre mehr und mehr gegen den Mittelwert zustrebt. Von da an zeigt sich zunächst eine ganz allgemeine Verringerung der Fläche (d. h. also der allgemeinen Begabung dieses Mädchens) und dann weiter eine ausgesprochene Entwicklung in künstlerisch-rhythmischer Hinsicht. Die relative Konzentration ist im 16. Jahre geringer als im 12. Bestimmte Formen der Phantasie und der Bewegungskunst sind stark entwickelt. Nach den gleichen Grundlagen lassen sich Ingenogramme für die körperlichen Qualitäten herstellen. Abb. 27 zeigt das physische Ingenogramm eines Kandidaten. Auch hier ist das Ingenogramm des Normalmenschen als Kreis angenommen. Die physischen und psychischen Ingenogramme eines Menschen, samt ihrer zeitlichen Entwicklung, bilden eine kurze, knappe und doch äußerst charakteristische Beschreibung. Für die Berufsberatung wie für die Kandidatenauslese sind die Ingenogramme wertvolle Hilfsmittel. Besser als viele Worte vermag ein Ingenogramm das Urteil darzustellen, das z. B. ein Lehrer über einen Schüler abgibt. Wenn sich ein Kandidat um eine Stellung bewirbt, so soll er seine durch den Berufsberater beglaubigten Ingenogramme vorlegen. Wenn ein Unternehmer, eine Fabrik, eine staatliche Anstalt einen Angestellten sucht, so soll ein bestimmtes Ingenogramm verlangt werden oder bestimmte Partien vorgeschrieben werden. Es ist wohl zu verstehen, daß die Ingenogramme keinem anderen Zweck dienen, als diesem: die richtige Verteilung der menschlichen Arbeit in die Wege zu leiten. Gerade deswegen, weil jeder irgendwelche Abweichungen vom theoretischen Normalmenschen hat, welche Abweichungen das Ingenogramm aufdeckt, wird diese Verteilung möglich. Denn jedermann soll dort verwendet werden, wohin die Abweichungen (positiv) weisen. Oder mindestens dort, wo die geringsten Minderwertigkeiten liegen. Wir haben bis jetzt das Ingenogramm vom Standpunkt des einzelnen Menschen, relativ zur Masse, betrachtet. Die Ingenographie kann natürlich auch Teilmengen einer Masse, relativ zur Masse, untersuchen» Es können also die einzelnen



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Altersgruppen relativ zum Durchschnitt aller Menschen betrachtet werden. Betrachtet man also z. B. das Gedächtnis als Funktion des Alters, nimmt man das Mittel aus allen Altersjahren, so erhält man das »mittlere menschliche Gedächtnis«. Ein bestimmtes Alter hat nun ein von diesem mittleren Gedächtnis abweichendes Erinnerungsvermögen. So lassen sich die »Jahrgangs-Ingenogramme« konstruieren. Aber auch ein bestimmter B e r u f kann für die bei seiner Ausübung wesentlichen Funktionen ein typisches Ingenogramm gestalten. Der Eisenbahnbeamte wird z. B. eine Anzahl Eigenschaften haben müssen, die für ihn besonders in Frage kommen. Physische und psychische. Bleiben wir bei den letzteren. Greifen wir 8 wichtige Gruppen solcher Fähigkeiten heraus. Reaktionsgeschwindigkeit, elementares Rechnen, Farbengedächtnis, Bewegungsgedächtnis, Tonhöhegedächtnis, Kombinationsgabe, logisches Schließen, Ergänzungsphantasie. Wir untersuchen eine größere Anzahl typischer Berufsleute auf ihre Fähigkeiten hin, zensieren, bilden die Mittel und zeichnen den rechnerischen Normalkreis für den Normalbeamten. Jeder einzelne Beamte weicht nun in bestimmter Weise vom Normalkreis ab. Die Eisenbahnleitung kann nun verlangen, daß für bestimmte Stellungen nur Leute genommen werden, deren »Berufs-Typogramme« nur bis zu gewissen Grenzen unter dem Normalkreis bleiben. Sie kann verlangen, daß künftig niemand im Bahndienst beschäftigt wird, der nicht eine größere als die durchschnittliche Fläche im Berufs-Typogramm aufweist. Der Typ des tüchtigen Bahnbeamten (»Außendienst«) zeigt gewisse Abweichungen vom Normalkreis des ganzen Volkes, d. h. vom nationalen »Phänotyp« der betreffenden Altersklasse. Solche Abweichungen sind die Grundlage für die Aufstellung des »Berufs-Typogrammes«. Wenn einmal die Massen-Psychometrie so weit entwickelt sein wird, daß sich vollwertige Normen und Mittelbereiche bestimmen lassen, dann wird das Ingenogramm eines Menschen seine bedeutsame Visitenkarte sein. Nicht dies ist die Meinung, daß jemand um seiner im Ingenogramm aufgedeckten Schwächen willen etwa »schlecht« zu plazieren sei im Leben; nein: alle Menschen haben, unabhängig von ihren Anlagen, das Recht

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auf eine menschenwürdige Existenz! — Aber es sollten alle Menschenkinder auf ihre »richtigen« Plätze kommen, und wenn da nun die eine Stellung etwas angenehmer, die andere etwas unangenehmer sein wird, so mag sich die menschliche Gesellschaft nach dem schon von Bellamy gegebenen Rezepte helfen: der angenehmeren Arbeit einen etwas größeren Arbeitstag, der peinlicheren Arbeit eine geringere Zahl von täglichen Schaffensstunden zuzuweisen! Zwischen dem wirklichen Gehirn des Prüflings und seinem nach genauen Methoden festgestellten Ingenogramm muß ein Zusammenhang bestehen. Ungefähr gesagt: Das Ingenogramm sollte eine Art Abbildung des Gehirns sein. Genauer gesagt: Das Ingenogramm ist eine mathematische Funktion der Gehirnkonstruktion. Man kommt leicht auf den Gedanken, das Ingenogramm auf 3 Dimensionen auszudehnen. Dadurch wird es möglich, eine größere Anzahl von engeren Korrelationen zu berücksichtigen. Auch kann man die Zahl der psychischen Funktionen damit vergrößern. Natürlich ist ein derartiges räumliches Modell weniger handlich als das zweidimensionale Ingenogramm. Von hier spinnt sich der Gedanke leicht weiter zu des Erkenntnis, daß eine mehrdimensionale Darstellung noch genauer als eine dreidimensionale in der Lage wäre, die Wirklichkeit mit ihren zahllosen Beziehungen durch ein getreues Ingenogramm abzubilden. Hat man soweit gedacht, so erkennt man zwar einerseits, daß die in unseren Figuren gegebenen Ingenogramme nur unvollkommene Bilder der Wirklichkeit sein können; aber anderseits bemerkt man, daß sie trotzdem in sehr einfacher Weise eine provisorische Orientierung ermöglichen, so daß sie ein praktisch brauchbares Hilfsmittel sind. Unsere Abbildungen zeigen außer dem idealen Normalkreis und der mittleren linearen Schwankung auch noch die »Grenzen des Milieus«. Diese Linien geben die extremsten Zensuren an, welche in dem Milieu (Klasse, Altersklasse, Berufsklasse usw.) gefunden werden. Nimmt man statistische Milieus, so kann die Grenze sich auf 100 beziehen oder auf 1000 usw. Sie bedeuten dann die extremsten Abweichungen, die sich innerhalb einer Gruppe von 100 oder 1000 der betrachteten Menge finden. Diese statistische Art der Ermittlung von Ingenogramm-Grenzen kommt z. B. in Frage, wenn man das



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Ingenogramfn für die körperlichen Anlagen zusammenstellt. Beträchtet man dabei eine einzelne Eigenschaft, z. B. die Körperhöhe, so hat das Milieu dafür 1. einen arithmetischen Mittelwert, 2. eine lineare Schwankung des Milieus um diesen Wert, 3. Grenzen, innerhalb deren sich alle 1000 Individuen der betrachteten Art (z. B. 12 jährige Knaben) befinden. Wir bringen drei Schulklassen zur Darstellung. Es war nicht möglich, für alle Schüler die sämtlichen Tests einzeln zu Mittelwerten zu vereinigen, sondern es wurden, um eine vorläufige Übersicht zu erhalten, die 8 Gruppen summarisch zensiert und die Detailzensierung der einzelnen Tests gefühlsmäßig vorgenommen. Die Tabellen (I—VI) bringen die dabei zugrunde liegenden Zahlen, die aus der1 Durchführung der Seebacher Intelligenzprüfung gewonnen wurden. Die graphische Darstellung zeigt, um das Wesen der Methode zu illustrieren, die über jene statistisch gewonnenen Zensuren hinausgehenden Detailzensuren. Es können also die Ingenogramme der drei Klassen nicht den Anspruch machen, ein genaues Bild der dort angetroffenen Wirklichkeit zu geben. Die Durchführung einer ins Detail genauen Prüfimg .erfordert ein eigenes Bureau und anderweitige Mittel, die dem Verfasser nicht zur Verfügung standen. Die Ingenogramme der drei Schulklassen haben als Milieugrenzen die in den Klassen wirklich vorhandenen Begabungsgrenzen. In der Regel wurde daran festgehalten, daß in jedem Milieu die beste und die schlechteste Note auch wirklich vertreten war. Der Xeser möge aber bedenken, daß diese Milieugrenzen bei der verhältnismäßig geringen Zahl der Schüler nicht sehr wichtig sind; ein einzelner neu hinzukommender Schüler könnte die Gestalt der Grenzen ändern, zwei neue Schüler könnten ein total anderes Bild der Milieugrenzen herbeiführen. Aber die Mittelgebiets-Schwankung könnte durch einen oder zwei Schüler nicht sehr wesentlich beeinflußt werden. Erst bei sehr großen Zahlen, wenn das »Gesetz der großen Zahlen« merkbar zur Geltung kommt, werden die Milieugrenzen fürs Milieu ebenso typisch, wie die Form des Mittelwerts-Gebietes.

— 129 — Der in der Mitte verlaufende dünne Kreis stellt das »Normalkind« des Milieus dar. Natürlich ist keines der in der Klasse wirklich vorhandenen Kinder ein Nonnalkind. Noch weniger aber ist eine der anderen geschlossenen Linien des Nr. 31 - dar Mate SoMW Hr. 3 > O M i k d M n t c M k >

Klasseningenogiamms ein Ingenogramm eines einzelnen Schülers. Die äußerste Linie stellt vielmehr die beste Leistung des ganzen Milieus, als einer Einheit, vor, die innerste Linie die geringste Leistung des Milieus. Wenn nun das Mittelgebiet der Klasse Heller im Otkanten »Phantasie« dem äußeren Rand nahe kommt, so kann dies als »gute Begabung der Klasse« L ä m m e l , IateUigeozprüfung.

9

— 130 — gedeutet werden — oder auch als das völlige Fehlen eines sehr phantasiereichen Kindes. Diese Klassen-Ingenogramme sind eben »relativ« zu verstehen. In den Ingenogrammen der I n g e n o g r a m m der Klasse Heller (47 MMcMw)

M 3 - d t o butt SchülwM . «O — dl« actti«cHt«st» ScfiOlartn ' 9 — «In« nMMn Schwann

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Abb. 40.

Klassen Hümbelin und Heller sind nun die besten und die schlechtesten Schüler durch ihre individuellen Ingenogramme vertreten. Der Schüler Nr. 31 der Hümbelin-Klasse ist der beste dieser Klasse, er bestimmt an mehreren Stellen die äußere Grenze des Milieus. Man sieht, welch großer Unterschied

— 131 — zwischen ihm und dem schlechtesten dieser Klasse, Nr. 3, besteht: das Ingenogramm des letzteren verläuft fast ganz innerhalb des Normalkreises und es grenzt an mehreren Stellen an die innere Milieugrenze. Eine solche Art, das Ergebnis einer Einzelprüfung im Zusammenhang mit dem Ergebnis der Prüfungen aller Gleichaltrigen zu zeigen, ergibt ohne Zweifel eine gute Orientierung. Die Methode stellt eine neue Art vor, einem Schüler ein Schulzeugnis zu geben und ganz allgemein eine neue Art, das Ergebnis der Prüfung eines einzelnen durch Bezugnahme aufs Milieu richtig einschätzen und übersichtlich darstellen zu können. In der Schule zu Seebach gibt es eine »Spezialklasse« unter der Leitung des Herrn Gallmann. Ich habe auch diese Klasse in orientierender Weise untersucht. Der schlechteste Schüler dieser Hilfsklasse — er bekam in allen Fächern die Note 1 — ist nun ins Milieu der Gleichaltrigen in die Klasse Heller hineingezeichnet worden. Es ergab die punktierte Linie Nr. 6 im Inneren des Milieus der Heller-Klasse. Dieses Kind Nr. 6 hat nichts zur Bildung des Ingenogramms der Heller-Klasse beigetragen, die Einzeichnung soll uns im Gegenteil von dem Umstand Rechenschaft geben, daß die Absonderung solcher schwach Begabten in Spezialklassen das Natürliche ist. Ich habe seit vielen Jahren die Trennung der Schüler nach ihrer Begabung gefordert und.weiß, daß es auch heute noch Lehrer gibt, die von dei Richtigkeit dieses Verlangens noch nicht überzeugt sind. Vielleicht belehrt der Anblick dieses Ingenogramms den einen oder anderen. Schwach begabte Kinder bilden im Altersmilieu für die übrigen einen Hemmschuh, und für sie selber ist das Lernen mit den »normalen« Kindern eine Qual. Beide Teile, die normalen und die schwach Begabten, kommen viel besser vorwärts, wenn sie getrennt arbeiten. Daß auch die hier als normal bezeichneten Kinder noch nach ihrer Begabung in zwei oder drei Gruppen getrennt unterrichtet werden sollten, sei nebenbei erwähnt. E s ist dies auch eine der von mir 1 9 1 0 erhobenen Forderungen, die heute anfangen, allgemeine Zustimmung zu finden, ohne daß freilich der Gedanke auch schon in unserer Schulverfassung enthalten wäre. — Schließlich sei noch auf die Schülerin Nr. 9 in der 9*

— 132 — Heller-Klasse hingewiesen; diese ist eine »mittlere« Intelligenz. Man sieht in diesem Beispiel klar, daß die mittlere Begabung als Wirklichkeit immer anders gestaltet ist als der rechnerische Normaltyp, der durch den Kreis gegeben ist. Höh«

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o Entwicklung alnaa Individuums Abb. 41. Zwei Physlochronen.

Ingenogramme und Physiogramme eines Kindes ändern sich im Wandel der Jahre natürlich. Bestimmt man für jedes Altersjahr die Ingenogramme, wie wir sie eben für die Klassen Hümbelin und Heller gefunden haben, so braucht man, um die Entwicklung eines einzelnen Kindes im Laufe der Jahre ver-

— 133 folgen zu können, eine Menge von Daten, wie sie uns heute gar nicht zur Verfügung stehen. Ich habe deshalb, um den Gedanken wenigstens grundsätzlich anzugeben, zwei schemarische

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Abb. 42. Zwei Ingenochronen.

unserer Methode dargestellten Veränderungen relativ zum jeweiligen Milieu in einem konstruierten Fall ersehen kann. Abb. 41 zeigt für zwei körperliche Eigenschaften, Höhe und Körperfülle, die auf solche Weise zustande kommenden Figuren. Die Bezeichnung »Physiochronen« soll bedeuten: physische Eigenschaften, wie sie im Laufe der Zeit erscheinen. Dabei ist dem jeweiligen arithmetischen Mitteltyp des Milieus eine

— 134 — stets gleichhoch bleibende Gerade zugeschrieben. Der lineare Spielraum ist nach oben und unten abgetragen, die Milieugrenzen ebenfalls. Zeichnet man nun in eine solche Physiochrone die individuelle Physiochrone eines Kindes ein, so erscheint uns der »relative« Zusammenhang in aller Schärfe. Will man wissen, welche Besonderheiten die körperliche Entwicklung eines Kindes zeigt, so muß man (darin besteht u. a das Neue unserer Methode) die Entwicklung des Kindes durchaus in Beziehung zu seinem Milieu, d. h. zu den gleichaltrigen anderen Kindern, die unter gleichartigen Bedingungen leben, setzen. Wie wenig solche Gedanken heute bei den Medizinern oder Psychologen bekannt sind, zeigt die Tatsache, daß man wohl Messungen über Körperhöhen der Kinder findet, aber selten und gerade in den bekanntesten Werken nicht: die Schwankungen ums Mittel; man sieht immer nur die berechnete Linie gezeichnet, die dem arithmetischen Mittel entspricht. Vergleicht man mit dieser Linie die wirkliche Linie des Wachstums eines Kindes, so kann man durchaus kein Bild davon gewinnen, welche Bedeutung die einzelnen Abweichungen haben. Dies ist mir vor Jahren aufgefallen, als ich die Kinder in der Odenwaldschule regelmäßig auf Höhe und Gewicht untersuchte. Vergebens forschte ich damals nach Daten für die mittlere lineare Abweichung von der angegebenen mittleren Höhe. Dieses Material muß eben erst von unseren Schulen beschafft werden. Dazu sollen die vorliegenden Ausführungen ebenfalls anregen. Die Abb. 42 zeigt zwei Ingenochronen. Als Ingenochronen sind die Linien bezeichnet, welche die Veränderung des Ingeniums im Laufe der Jahre relativ zum jeweiligen Milieu angeben. Die geistigen Anlagen, nach unseren acht Grundkomponenten gemessen, alle Jahre einmal durch eine Untersuchung ermittelt, ergeben eine bestimmte Veränderlichkeit im Laufe der Entwicklung. Das eine Kind macht vor seinem 15. Jahre geringe Schwankungen durch, ein anderes hat heftige Variationen. Alles wird unter Bezugnahme aufs Milieu dargestellt, so daß alle jene Schwankungen, die der einzelne samt seinem ganzen Milieu mitmacht, aus dieser Darstellung verschwinden. Nur die Veränderungen in bezug auf die Gleichaltrigen und Gleichartigen kommen also zum Vor-

— 135 — schein. Es leuchtet ein, daß der Werdegang des einzelnen in vieler Hinsicht durch eine solche »Relativität« schärfer bezeichnet wird als durch die Angabe absoluter Messungen. Denn bei der Berufswahl wie bei der Auslese von Kandidaten als Bewerbern um eine Stellung kommt, es ja nur darauf an, aus dem vorhandenen Milieu die Bewerber auszulesen; wer schließlich eine bestimmte Note erhält oder einen Posten in einer Industrie oder bei der Verwaltung zugewiesen bekommt, der gelangt dazu nur durch seine Stellung relativ zu den andern. Aus den Physiochronen Abb. 41 lesen wir z. B. folgendes ab: Der Prüfling B. L. war zunächst von normaler Größe, etwas über dem Mittel, aber im linearen Schwankungsgebiet. Er blieb dann ein wenig hinter seinem Milieu im Wachsen zurück, erreichte im 10. Lebensjahr sein relatives Minimum. Von da an wuchs er aber schneller als das Milieu und ist im 20. Lebensjahr bis knapp an die obere Milieugrenze gerückt, so daß er unter seinen Altersgenossen einer, der größten ist. Alle diese Physiochronen sind »pro mille« zu verstehen, d. h. sie beziehen sich auf ein Milieu von 1000 gleichaltrigen Menschen, die durch statistische Untersuchungen betrachtet worden sind. Ausdrücklich sei aber bemerkt, daß wir diese Untersuchungen heute noch nicht haben, daß also unsere Physiochronen nur aus praktischer Erfahrung gefühlsmäßig gezeichnete Linien sind. Hoffentlich geben sie aber Veranlassung, daß die nötigen Arbeiten bald und in zahlreichen Ländern durchgeführt werden. Es genügt freilich nicht, daß man die Achtjährigen, die Neunjährigen usw. untersucht. Sondern es ist nötig, daß man in den Schulen und (besser!) in den Heimen die einzelnen Kinder durch alle Jahre ihrer Entwicklung hindurch verfolgt. Denn wenn man auch annehmen kann (siehe das Kapitel »Der Singuläre und die Typogenen«), daß die Art des Wachsens der verschiedenen Einzelwesen ähnlich ist, so wissen wir dies doch nicht sicher. Alle bisher veröffentlichten Werte (z. B. für die Körperhöhen) sind allerdings auf Grund dieses Gedankens zusammengestellt, daß die einzelnen eines Milieus einander vertreten können. Die Höhe also, die ich heute in Zentimetern für die Zehnjährigen ermittle, diese Höhe wird in einem Jahre von den heute Neunjährigen ebenfalls ungefähr

— 136 — erreicht werden. Die gleiche Höhe wird von den heute Achtjährigen ungefähr in zwei Jahren erreicht usw. Niemals aber sind aus einem genügend großen Kreis heraus Beobachtungen veröffentlicht worden, die wirklich jeden einzelnen durch Jahre hindurch wiedergeben. Dies also muß gemacht werden. Ehe wir in den Besitz solcher entscheidender Statistik gelangt sein werden, können wir die Physiochronen nicht richtig zeichnen. Natürlich gilt das gleiche für unsere Ingenochronen. Auch da genügt es nicht, die Angaben der heute vorgenommenen Untersuchung der Zehnjährigen, der Elfjährigen, der Zwölfjährigen usw. so aufzufassen, als ob die Jahrgänge einfach immer auf ihre entsprechenden Plätze nachrücken würden. Wir müssen die Untersuchung der Begabungen der einzelnen durch die ganze Zeit der Entwicklung hindurch haben, dann erst können wir »sprechende Ingenochronen« bilden. Freilich wird die gleichzeitige Untersuchung der Verschiedenaltrigen auch schon in groben Umrissen die richtigen Formen der Linien geben, auch schon die Einstellung des einzelnen zu seinem Milieu zu beurteilen gestatten. Es ist ja, wie wenn man als Förster die Bäume in allen ihren Lebensstadien kennen lernen wollte; es ist ausgeschlossen, daß ein Mensch so lange lebt, wie eine Kiefer leben kann. Es kann also niemand zusehen, wie sich eine Kiefer im Laufe ihres Lebens verändert, wie sie zunimmt an Höhe, an Dicke usw. Aber man kann die vielen verschiedenaltrigen Kiefern in einem großen Walde betrachten, kann annehmen, daß alle diese Kiefern ziemlich gleichartig wachsen, so daß der Anblick, den heute eine ioojährige Kiefer bietet, eben der gleiche ist, wie der, den eine 30jährige vor unseren Augen einst in 70 Jahren bieten wird. Man begreift aber anderseits leicht, daß der Einfluß des anderen Standortes, des anderen Klimas (in den folgenden 70 Jahren) usw. sicher ergeben wird, daß die heutige ioojährige ihrem Altersgenossen tiach Verlauf von 70 Jahren doch nicht gleichen wird. Dennoch — wir haben nun einmal noch keine Aufzeichnung über das Wachstum einer einzelnen Kiefer durch Jahrhunderte hindurch ermittelt. So begnügen wir uns mit jener Orientierung; die Bäume entsprechen den Menschenkindern, der Förster ist der Berufsberater.

— 137 — Betrachten wir noch die Physiochronen Abb. 41, Seite 132, welche die »Körperfülle« wiedergibt. Man sieht, daß B. L., der in den letzten Jahren schnell gewachsen ist (wir wissen allerdings nicht, um wie viele Zentimeter, wenn wir nur die Physiochronen haben!), jedoch nicht mit seinem ganzen Körper wuchs; der Leib blieb zurück, so daß der junge Mann schlanker und schlanker wurde und nun mit 20 Jahren ein ganz dünner Typ, beinahe untere Milieugrenze, geworden ist. Es ist klar, daß man durch eine solche Kurve auch den Einfluß einer Abmagerungskur, einer Entfettungskur auf scharfe Weise zum Ausdruck bringen kann. Unsere Ingenogramme lassen noch eine andere Art der Deutung ihres Inhaltes zu. Betrachtet man einen einzelnen, von der Mitte ausgehenden Strahl, z. B. I A (Wiedergabe eines einfachen Gedichtes). Alle Angehörigen des Milieus (z. B. Schulklasse) haben eine Zensur geliefert, sie sind also auf diesem (nach links laufenden) Strahl irgendwo vertreten. In der Nähe des Mittelwertes sind viele nahe beieinanderliegende Zensuren vorhanden, weiter vom Mittelwert entfernt sind weniger Zensuren, und an den Milieugrenzen hören sie natürlich auf. Man kann sich nun die Anzahl der Kinder, die eine Zensur »6« bekommen haben (es sind in der Heller-Klasse fünf Kinder) als eine Strecke lotrecht auf die Zeichenebene aufgetragen denken. Stellt man für alle Zensuren die »Belegungsdichten« durch solche Senkrechte dar, die sich auf dem Punkte des Strahls erheben, der die betreffende Zensur bedeutet, so erhält man das bekannte »Variationspolygon« (wie z. B. Abb. 11). Ein solches Polygon, das sich bei unseren Untersuchungen stets als sehr unsymmetrisch ergab, wird jeder einzelne der 100 Tests ergeben, und es kann hier eine mathematische Behandlung anknüpfen. Wir wollen auf diese Darstellung nicht weiter eingehen, doch sei folgendes bemerkt: Unsere' Ingenogramme und Physiogramme sind danach als ebene Darstellungen (nach Art der Landkartenzeichnungen) aufzufassen, Darstellungen eines im Räume befindlichen flächenhaften Gebildes. Dieses Gebilde ist wie ein Ringgebirge, es hat einen ungefähr über dem Normalkreis befindlichen Kamm, es fällt zu beiden Seiten ab und erreicht in den Linien der Milieugrenzen die Ebene. Eine solche Ringgebirgsfläche stellt also ganze Milieu durch alle ein-

— 138 — z e l n e n dar. Man kann auf diesem Ringgebirge dann das Ingenogramm des einzelnen einzeichnen, es ist eine auf der Fläche laufende Linie. Die Schüler einer Klasse bilden vom biologischen Standpunkt aus keine »homogene« Masse. Wohl kann dies in entlegenen Dörfern da und dort zutreffen. Allein in den größeren Städten, die ja in den nächsten Jahren vor allem zum Anwendungsgebiet für statistische Betrachtungen gemacht werden, sitzen die verschiedenartigsten Typen durcheinander. Das Ingenogramm eines Milieus sollte eigentlich eine für dieses •Milieu charakteristische Gestalt haben. Ist aber das Milieu eine Mischung verschiedener Typen, so vermischen sich naturgemäß die Formen, die zu einem jeden Typus gehören, und es entsteht ein Summenbild, das keinem vorhandenen Typus zugehört. Es entstehen hier dieselben Schwierigkeiten, wie in der Biologie, wo die »Reinen Linien« selten genug vorhanden sind. Bekanntlich hat Johannsen die scheinbar einheitlichen Typen, auf' die wir gewöhnlich stoßen, als »Phänotypen« bezeichnet. Wir können uns dieser Ausdrucksweise anschließen. Eine städtische Schulklasse, eine Gruppe von tausend Rekruten oder auch 500 Bewerbern um einen Posten als Kassier — alle diese Gruppen sind nicht als einheitliche Typen, sondern als P h ä n o t y p e n zu verstehen. Betrachtet man z. B. die großen Verschiedenheiten im Temperament, in der Geschwindigkeit von Auffassung und Reproduktion, so wird man unschwer zu dem Schlüsse gelangen, daß man eigentlich jede Schulklasse in zwei oder drei Temperamentgruppen teilen sollte. Um zu einer gerechten Beurteilung der einzelnen Gruppen zu kommen, müßte man die gleichen Temperamente zusammenfassen. Wir stoßen also auch hier wieder auf das Verlangen nach einer Auflösung der Schulklasse in »Stufen«. Hat man z. B . 100 Kinder auf eine Schulklasse zu verteilen, so ist es zweckmäßig, drei Temperamentgruppen zu bilden und den Unterlicht in drei parallelen Stufen durchzuführen. Gleiches gilt f ü r die Arbeiter einer Fabrik, die Beamten einer großen Anstalt usw. Überall wird man die »innere Reibung« im Betrieb bedeutend herabsetzen, wenn man gleiche Typen zu Gruppen — Arbeitsgemeinschaften — zusammenfaßt.

— 139 — Die nach den Methoden der Intelligenzprüfung erhaltenen Einblicke in den geistigen Zustand des Prüflings gestatten keinerlei Schlüsse für die moralische Bewertung der Persönlichkeit. Dieser Umstand muß sorgfältig erwogen werden. Faktoren, die man als Wirkungen des moralischen Zustandes eines Menschen betrachten kann, sind beispielsweise: E h r lichkeit, Ehrgeiz, Zuverlässigkeit, persönliches Ben e h m e n , B e g e i s t e r u n g s f ä h i g k e i t , M u t , T r e u e gegenüber einem abgegebenen Versprechen oder einer übernommenen Verpflichtung, A u s d a u e r in der Verfolgung einmal gesteckter Ziele. — Es handelt sich hier nicht um elementare Eigenschaften des Intellektes, sondern um komplizierte seelische Äußerungen, für welche wir nicht die geringsten Anhaltspunkte zu einer objektiven Feststellung auf dem Wege einer Prüfung besitzen. In dieser Hinsicht kann man nur durch eine langjährige Beobachtung zu einem brauchbaren Resultat gelangen. Es wird daher beispielsweise der Lehrer einer Schule in der Lage sein, Auskünfte über die moralischen Qualitäten zu geben. Es wird dabei vorausgesetzt, daß der Lehrer selbst sich dabei eine weitgehende Objektivität gegenüber den Schülern bewahrt hat; ferner muß noch ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß eine Entscheidung über die moralischen Qualitäten im frühen K i n d e s a l t e r (6 bis n Jahren) durchaus unzulässig ist. Man hat oft genug Gelegenheit, zu sehen, daß ein kleines Kind lügt oder stiehlt oder in anderer Weise gegen die geltenden Sitten verstößt. Das Kind hat aber durchaus nicht die Urteilsfähigkeit, welche die Grundlage eines moralischen Bewußtseins ist. Trotzdem ist es wohl möglich, daß der Lehrer durch sorgfältige Beobachtung auch schon bei diesen Schülern zu richtigen Resultaten in bezug auf deren moralische Bewertung gelangt. Für die Frage der Berufswahl spielt die Moral des Prüflings überhaupt keine Rolle. Wie gut oder wie schlecht auch sein moralisches Gefühl entwickelt ist, so muß er eben doch den Beruf ergreifen, für welchen er veranlagt ist. Anders liegt der Fall für das Problem der Kandidatenauslese bei der Berufung durch Volkswahl, durch eine Behörde oder durch einen Unternehmer. Hier spielen nicht nur die intellektuellen Eigenschaften, sondern in mindestens ebenso großem Maße

— 140 — auch die-moralischen Anlagen des Kandidaten eine Rolle. Es hat seine gute Berechtigung und einen tiefen Sinn, daß die politischen Parteien bei den Wahlempfehlungen ihren Kandidaten alle möglichen guten Eigenschaften moralischer Art zuschreiben. Leider stimmen diese Anerkennungen nicht immer. Der Abgeordnete im Nationalrat läßt sich in einen staatsrechtlichen Kuhhandel ein, den seine eigenen Wähler hinterher mit Entrüstung verwerfen. Der von der Postverwaltung gewählte Vertrauensmann bestiehlt als Oberpostsekretär Hunderte von Briefen mit Dollarsendungen aus Amerika. Der vom Fabrikanten eingesetzte Buchhalter geht mit einer riesigen Summe durch. In allen diesen Fällen wären die Wahlstellen sehr froh gewesen, wenn sie durch sichere Tests vor der Wahl die moralische Qualität des zu Berufenden hätten erfahren können. Davon ist aber, wie gesagt,, keine Rede. An die Stelle eines derartigen Tests tritt der mehr oder minder gute öffentliche »Leumund«. Dieser Leumund ist ebenso sehr richtig, wie es wahr ist, daß des Volkes Stimme Gottes Stimme ist. Die meisten Urteile der Menschen, die sich auf moralische Fragen beziehen, sind Vorurteile, und es mag bestenfalls die Hälfte aller derartigen Leümuiidsurteile die Wahrheit treffen. Naive Gemüter haben versucht, die moralischen Eigenschaften des Prüflings durch eigens für diesen Zweck erdachte ziemlich kindliche Fragen zu erproben. Fragt man etwa einen Fünfzehnjährigen: »Was würdest du tun, wenn du iooooo Fr. fändest, die jemand an einem einsamen Ort in einer kleinen Truhe im Walde vor vielen Jahren vergraben hat ?« So kann man aus der Antwort, wie immer sie auch ausfallen möge, nicht den geringsten Schluß auf die wirklichen moralischen Qualitäten des Prüflings ziehen. Wenn er sagt: »Ich trage das Geld sofort zum Bürgermeister und freue mich über die 10% gesetzlichen Finderlohnes«, so kann das ebensogut ehrlich gemeint sein, wie auch eine auf Täuschung des Fragestellers berechnete Komödie. Antwortet der Jüngling aber: »Ich würde mir von dem Gelde ein Haus und schöne Kleider kaufen und wollte herrlich leben«, so ist der Schluß auf eine unmoralische Persönlichkeit mindestens in der Hälfte aller Fälle unhaltbar. — Fragen wir nun aber, um den aufzudeckenden Mangel an Moral in schärferer Weise heraus-

— 141 — zubekommen, folgendermaßen: »Ein reicher Fabrikant, der seine Angestellten und Arbeiter seit Jahren ausbeutete, entließ einen langjährigen Buchhalter plötzlich. Der Buchhalter, der eine zahlreiche Familie hatte, war nun mitten im Winter ohne Erwerb. Zufälligerweise hatte er eine größere Summe Geldes aus der Fabrikkasse, die er bei einer Bank einzahlen sollte, noch bei sich. Die Summe genügte, um für sich und seine Familie Überfahrt nach Brasilien und Kauf eines Gutes dort zu ermöglichen, wo er einen Jugendfreund in einer kleinen Schweizer Kolonie besaß. Niemand würde davon etwas wissen, und durch eine geschickte Buchung am letzten Tages seines Dienstes in der Fabrik würde das Fehlen des Geldes nicht bemerkt werden. « — Bei der Beantwortung dieser Frage tritt die Relativität der moralischen Begriffe mit aller Schärfe in die Erscheinung. Man kann vermuten,.daß gerade moralisch minderwertige Personen die Tat des Buchhalters entrüstet verdammen werden, während ehrliche und freimütige Menschen, die vielleicht an Stelle dieses Buchhalters die Defraudation gar nicht ausführen würden, bei der Beantwortung der Frage die Handlung des Bachhalters eifrig verteidigen. Von entscheidender Bedeutung ist, daß die H a n d l u n g e n der Menschen (abgesehen von den Affekthandlungen) in der Regel vom V e r s t a n d , nicht von moralischen Überlegungen geleitet werden. Dies ist die beim »normalen« Menschen im allgemeinen immer vorhandene Disziplinierung der tieferen Seelenkräfte durch die Macht des Intellektes; eine Disziplin, die vielleicht ebenso oft ungünstig wirkt, als sie wohltätig ist. B e i s p i e l : Am 6. März 1799 ergaben sich in Jaffa (Palästina) 3000 türkische Soldaten den eingedrungenen Franzosen gegen die Zusicherung freien Abzuges. N a p o l e o n ließ aber nachher alle Gefangenen (bis auf einige ägyptische Soldaten) töten. Er hatte weder genügend viel Leute, die Gefangenen zu bewachen, noch auch genug Lebensmittel, sie zu ernähren; durch ihre Freilassung fürchtete er, die türkische Armee zu stärken. Das machte ihn, wie in hundert anderen Fällen, zum Mörder. »Dieses Beispiel«, schreibt André Peyrusse, »wird unsere Feinde lehren, was sie von französischer Loyalität zu halten haben, und früher oder später wird das Blut der 3000 Opfer über uns kommen.« — Dieses Blut ist nun allerdings schon mindestens zweimal über die Franzosen gekommen, ohne daß diese oder die anderen Nationen daraus viel gelernt hätten. Die Handlungen der P o l i t i k e r sind vielmehr in einem etwas weiteren Sinne immer noch Affekthandlungen, insoferne

— 142 — als keinerlei h i s t o r i s c h e E i n s i c h t dabei zur Geltung kommt. Das zeigten die Mittelmachte von 1914 bis 1918 sehr klar — seither beweisen es die Franzosen noch schärfer I

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß den moralischen Anschauungen der Charakter der R e l a t i v i t ä t in einem hohen Grade anhaftet, während bei den Leistungen des Intellektes nur in geringem Maß von einer Unsicherheit der Bewertung gesprochen werden kann. (Beispiel: War Wilhelm Teil ein Mörder? — Ist es erlaubt, unter Umständen einen unangenehmen Menschen zu töten? Unter w e l c h e n Umständen?) Nur bei den a n t i s o z i a l e n moralischen Qualitäten (Habsucht, Geiz, Demagogie, Gewissenlosigkeit, Herrschsucht, R o h e i t , Standesdünkel usw.) wird die Bewertung einigermaßen absolut, wenigstens vom Standpunkt der Nation aus, Man sagt oft, dumme Leute seien gute Menschen. Das ist ein volkstümlicher Irrtum. Um »gut« zu sein, muß man allerlei Überlegungen anstellen können, ob das, was man tut, mit den wirklichen Interessen der Person, für welche es geschieht letzten Endes verträglich ist. Gut zu sein ist eine gewissermaßen moralische Bewertung. Sie ist aber nicht als vorhanden zu denken bei einem unintelligenten Menschen. In der Tat ist doch die große Mehrzahl der Verbrecher von geringer Intelligenz. So wird man wieder auf den Zusammenhang zwischen Intelligenz und moralischen Eigenschaften hingewiesen. Man kann sich sehr wohl vorstellen, daß ein Mensch, der gewisse als unmoralisch geltende natürliche Anlagen besitzt, kraft seiner Intelligenz sich vor Fehltritten bewahrt. Anderseits ist es ganz klar, daß ein moralisch hochstehender Mensch durch irgendwelche zufällige Kombinationen in die Lage geraten kann, ein Vergehen oder ein Verbrechen zu. verüben. So mag es denn nicht selten vorkommen, daß ein sittlich hochstehender Mensch im Gefängnis sitzt, während ein moralisch minderwertiger in Freiheit lebt. Grundsätzlich muß also daran festgehalten werden, daß nur ein intelligenter Mensch »gut« sein kann; daß also das moralische Bewußtsein und der Verstand durchaus parallel entwickelt sind. Diese Anschauung wird durch die Tatsache gestützt, daß sich mit geringem Verstand sehr häufig ver-

— 143 — brecherische Triebe paaren. Anderseits muß zugegeben werden, daß mit zunehmender Intelligenz die moralischen Handlungen zwar im Durchschnitt normaler werden, die einzelnen Abweichungen aber immer bedeutungs- und verhängnisvoller. Es scheint, als ob irgendein wichtiger Punkt als selbstständiger Urmoral-Faktor neben dem Verstände noch in der Seele des Menschen tätig wäre. Ich sehe hierbei ganz von jenen Verirrungen der deutschen und französischen Politikformen ab, die in Napoleon und Bismarck bekannte Exponenten fanden. Danach durfte die Staatsraison vor aller bürgerlichen Moral gehen. Entsprechend haben auch Ludwig XIV. und Friedrich der Große gehandelt. Ebenso dachten die Hohenstaufen, die nach L e w i n eine wahre Verbrecherdynastie waren; ebenso dachten die alten Römer und die Ägypter. Einzig das jüdische Volk versuchte eine Moral herzustellen, die für den Staat, für die Familie und für den einzelnen von gleicher Bedeutung sein sollte. Die weitere Eutwicklung dieser Moral führte zum Christentum. Wann werden wir eine Handlung als moralisch bezeichnen ? Nur dann, wenn sie für die Menschen, die im Bannkreis der Wirkung dieser Handlung sind, vorteilhaft ist. Die Entscheidung darüber erfordert die Fähigkeit, die Folgen der betrachteten Handlung zu ermessen, und zwar sowohl die unmittelbaren als auch die späteren. Sie erfordert die Bewertung der Denkart der betroffenen Menschen, die Einschätzung der gegen diese Handlung bestehenden Widerstände und die Abwägung der gesamten Vorteile und Nachteile der sich hieraus ergebenden Wirkungen. Je größer der von der Wirkung betroffene Umkreis ist, desto mehr fordert die Handlung, um in unserem Sinne moralisch zu sein, nicht nur logisch klar, sondern auch historisch kritisch zu denken. Es ist daher leichter, im Kreise der Familie oder der Sippe oder im Gebiete eines Dorfes günstige Wirkungen auszuüben, als in großen Gewaltbereichen. Der Prozentsatz der guten Familienväter ist sicherlich sehr viel größer als der Prozentsatz dei guten Herrscher. Ein Monarch müßte, um seiner Aufgabe gerecht werden zu können, ein W e i s e r sein. Aber wieviele Monarchen waren weise ?

Sechstes Kapitel.

Berufsiypologie. Jeder Beruf muß gelernt werden. Auch der Künstler muß sich »einarbeiten«, und häufig ist eine anregende Lehre bei einem tüchtigen Meister für ihn wertvoll. Überhaupt ist das Lehrlingssystem bei der theoretischen Erlernung eines Berufes als Ergänzung nötig. Jahrzehntelang hat man aufs Publikum frischgebackene junge Ärzte losgelassen, die keinerlei praktische Lehre hinter sich hatten. Das Lehrgeld mußte hinterher vom Publikum gezahlt werden. Früher aber war das Lehrlingssystem beim Arztberuf allgemein üblich gewesen. Seit Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts ist hier eine Wendung zum Besseren eingetreten; mehr und mehr bürgert sich die Forderung ein, daß der Arzt mindestens ein Jahr lang unter sachkundiger Leitung praktisch gearbeitet haben müsse, ehe er seinen Beruf ausüben dürfe. — Ähnlich steht es mit dem Lehrer, dem Ingenieur, dem Juristen: Die Gegenwart erkennt hier überall die große Bedeutung der praktischen Einführung in den Beruf. Wir werden daher durchaus darauf verzichten, eine Einteilung der Berufe in »studierte« und »nichtstudierte« zu geben. Denn nicht nur müssen die gelehrten Berufe in Wahrheit doch noch praktisch erlernt werden, sondern auf der anderen Seite erleben wir es, daß auch die rein praktischen Berufe sich durch den Ausbau der Gewerbeschulen und Fachschulen aller Art mehr und mehr in ihrer Bedeutung und in den Anforderungen, die sie an den einzelnen stellen, heben. Dazu kommt, daß in der gegenwärtigen Zeit der Unterschied zwischen den beiden Arten Berufen auch in bezug auf die wirtschaftlichen, ja sogar in bezug auf die gesellschaftlichen Vorteile

— 145 — sich zu vermindern beginnt. Eine Entwicklung, die übrigens nur zu begrüßen ist, mag sie auch für die betroffenen »studierten« Zeitgenossen unangenehm erscheinen. Wir können nicht anders zu einer Übersicht über die Berufsarten gelangen, als dadurch, daß wir nach irgendwelchen Gesichtspunkten Einteilungen bilden. Wie in allen Fragen der Wirklichkeit, ist es auch hier unmöglich, eine

Haushalt 13%

Ernebung, Kunst, Mss. Hygiene 1,4% Recht, Ver*V%

Abb. 43.

Verteilung der Berufe in der ClvQisation des 20. Jahrhunderts.

scharfe und befriedigende Einteilung zu geben. Wir müssen uns auf rein praktische Zusammenstellungen beschränken. Wieder sind es acht Formen von Berufsarten, die wir als wichtig für das Volksganze unterscheiden. (Aber damit will nicht gesagt sein, daß die Zahl 8 eine besondere Bedeutung für die menschlichen Berufe habe!) Die Abb. 43 zeigt uns die Verteilung der selbständig Erwerbenden in diesen Berufen nach statistischen Quellen und Schätzungen. Eine genaue Angabe, wieviel Prozent der Erwerbstätigen in diesen acht Berufen schaffen, ist heute noch ganz unmöglich, dafür -fehlen die Unterlagen. Weil es aber als sicher betrachtet werden muß, daß sich diese »Belegzahlen« der Berufe ohnehin beständig im L l m m e l , Iatelligenzprüfung.

IO

— 146 — Fließen befinden, werden wir der genauen Angabe für einen bestimmten Zeitpunkt keinen zu großen Wert beilegen. 1. L a n d w i r t s c h a f t Produktion von Milch, Fleisch, Getreide, Gemüse, Wolle, Kaffee usw. 2. H a n d e l Kaufmann, Bank, Messe, Markt, Agent, Exporteur, Reeder, Importeur usw. 3. V e r k e h r Post, Eisenbahn, Kabel, Trams

Telegraph,

Telephon,

Schiff,

4. I n d u s t r i e Gewerbe, Fabrikation, Technik, Maschinen, Apparate, Präparate 5. E r z i e h u n g , K u n s t , W i s s e n s c h a f t Lehrer, Schulen aller Art, Künstler, Kunstgewerbler, Professoren, Forscher, Spezialisten, Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer usw. 6. G e s u n d h e i t s w e s e n Arzt, Pfleger, Spitalwesen, Sanatorien, Alters- und Jugendheime, Tierarznei 7. R e c h t s w e s e n Rechtsanwaltschaft, Richter 8. Die V e r w a l t u n g Beamte aller Art, namentlich im Gemeinde- und Staatsdienst. Diese acht Gruppen haben in sich keineswegs einheitliche Merkmale. In jeder Gruppe gibt es bescheidene und anspruchsvolle Stellungen. Die Gruppe »Handel« z. B. umfaßt alles vom Ladendiener bis zum Großkaufmann, die Gruppe »Industrie« hat den Lohnarbeiter und den Petrolkönig in sich. Und alle Berufe haben von allen psychischen Faktoren des Normalmenschen eine gewisse Dosis nötig. Wir haben heute noch nicht die Anfänge einer psychologischen Berufskunde. Da muß sich vorläufig jeder auf die Kenntnisse verlassen, die er aus persönlicher Erfahrung, als unmittelbare Erlebnisse besitzt. Es gehört eben vor allem eine

— 147 — große Menschenkenntnis dazu, ferner aber auch eine bedeutende Sacherfahrung, um das Typische der Berufe zu erfassen und danach für den Einzelfall den »Berufsrat« zu erteilen. Welche psychologischen Faktoren sind für die Ausübung eines Berufes maßgebend ? — Wir können vor allem erkennen: Es gibt Berufe, die Führertalent erfordern, und solche, die Beamtentreue verlangen. Dies sind zwei Typen, die in allen acht Gruppen vorkommen. Wir wollen diese Typen als den Leiter-Typ und den Beamten-Typ bezeichnen. Im kaufmännischen Leben z. B. ist es klar, daß der Chef eines Handelshauses ein »Leiter« sein muß, der Buchhalter aber ein Beamter. »Beamter« ist hier als Ausdruck einer Typologie gebraucht und bedeutet: einen fleißigen, zuverlässigen Mann mittlerer Veranlagung. Ein anderes Doppel ergibt sich aus der Einstellung zu den Lebensproblemen der Gesellschaft: Wir haben den sozialen Menschen vom eigenbrödlerischen zu unterscheiden. Der Mensch wird freilich mit 15 Jahren selten diese Trennung klar erkennen lassen. Indessen werden doch eine Reihe von Tests auf diesen Gehalt an sozialen Instinkten zu untersuchen sein. Der Eigenbrödler soll an Stellen mit kleinem autonomen Bereich gestellt werden, der Sozialtyp kann in größere Betriebe hineinkommen. Wir können ferner den »technischen« Typ vom »künstlerischen« unterscheiden. Zum technischen gehört ein großer Teil des wissenschaftlichen Gebietes, zum künstlerischen gehört ein geringerer Teil der Wissenschaftler, nämlich die schöpferisch Arbeitenden. Wir sprechen hier von den Berufstypen »Techniker« und »Künstler«, womit wir also mehr als die gleich bezeichneten einzelnen Berufe meinen. Der technische Berufstyp wird überall in den acht Gruppen die Berufe der extensiven Arbeit, der unmittelbaren Werterzeugung vertreten. Der Künstlertyp wird die intensive, an einem Punkt durch Vertiefung arbeitende Leistung erzeugen. Der O r g a n i s a t o r ist eine weitere ausgesprochene Form, ein richtiger »Typ«. Er unterscheidet sich vom Führer (»Leiter«) dadurch, daß der Führer auf Menschen wirkt, unmittelbar und durch seine Persönlichkeit, während der Organisator auf die Gestaltung unpersönlicher Beziehungen wirkt. Eine Reihe 10*

— 148. — unserer Tests prüft die organisatorische Anlage. Das Figurenlegen, die Methodik des Geldzählens usw. Überhaupt lassen sich die meisten Tests in ihrer Beziehung zum Organisationstalent überprüfen. So schreibt z. B. Gertrud G. zu den Fragen VII B und C: »Ich würde 200000 Fr. an die Gemeinde schicken, um die Schulden zu bezahlen und die Armen zu unterstützen, meinem Bruder würde ich 100000 Fr. geben und mir auch, meiner Mama und meinem Vater den Rest, das sind 600000 Fr.« — »Ich will eine gute und tüchtige Frau geben.« — »Ich kann am besten schwätzen, und auch zum Singen und Klavierspielen habe ich Talent.« — Dasselbe 1 1 jährige Kind schreibt als Antwort auf die Frage: »Was ist Hoffnung ?«: — »Hoffnung ist, wenn man nicht immer niedergeschlagen ist, wenn nicht gerade alles nach seiner Meinung geht und wenn man immer noch hoffen kann, es wird anders.« — Wer solche Äußerungen einer kindlichen Seele beurteilen soll, muß selbst sich in die kindliche Vorstellungswelt eindenken können. Man gelangt zu ganz falschen Schlüssen, wenn man etwa mit der erstaunlichen Naivität von F. W. Foerster an die-Analyse tritt. Foerster würde etwa sagen: »Seht, wie gut das Kind im Grunde seiner Seele ist, wie genau.es seine Fehler kennt, da es zugibt, am besten schwätzen zu können.« (Siehe S. 148.) In Wirklichkeit ist diese Bemerkung natürlich nur das Echo von gelegentlichen Vorwürfen. Ebenso ist die Verteilung des Geldes an die Gemeinde usw. nicht im Garten des kleinen Mädchens gewachsen, sondern sie geht auf Bemerkungen des Lehrers zurück. Dennoch läßt die ganze Anlage der Antwortbildung ein Talent für Disposition erkennen. Da ein besonderes musikalisches Talent nicht vorhanden zu sein scheint, so wäre bei diesem Kinde auf die Entwicklung dieser Anzeichen eines Organisationstalentes zu achten. Auch die Probe V I I I E (Zeichnung einer Erzählung) zeigt ausgesprochene Anlage zu logischer Disposition. Die entgegengesetzte Veranlagung zum organisatorischen Talent ist ein Typ, den wir als »Handwerker« bezeichnen wollen: Eine geistige Veranlagung, die erfolgreiches Vertiefen in ziemlich eng begrenztem Gebiet ermöglicht. Der Handwerkertyp manifestiert sich ziemlich deutlich durch mehrfaches Versagen in verschiedenen Gebieten bei der Intelligenz-

— 149 — prüfung. Diesem Versagen steht dann in meist-gut erkennbarer Weise das Aufleuchten gegenüber, das im Gebiete der Veranlagung eintritt. Diese acht psychologischen Typen sind zu je zweien als »diametral« bezeichnet. Es ist aber klar, daß jeder einzelne Prüfling bestimmte Mengen von allen acht Qualitäten in sich enthält. Anderseits wird man jedem Berufstyp eine bestimmte Dosis dieser acht Tendenzen zubilligen. Wir gelangen so zur Aufstellung einer Matrix für psychologische Summenwirkung. Während uns das Ingenogramm die Details der Anlagen eines einzelnen zeigt, gibt uns die hier folgende Matrix die Auslegung der Analyse in Form von Summenein drücken, welche der Prüfungsleiter nicht nur aus den meßbaren Resultaten der Analyse, sondern auch aus dem durch Imponderabilien gebildeten u n m i t t e l b a r e n p e r s ö n l i c h e n E i n drucke schöpft: Sozial — Eigenbrödler Führer — Beamter Künstler — Techniker Organisator — Handwerker. In jeder Gruppe unserer achtgliedrigen Berufseinteilung finden sich zahlreiche Tätigkeitsbereiche: Jeder einzelne dieser Bereiche, wie z. B. der Kaufmannsberuf, der Lehrerberuf, haben in sich verschiedene Formen, die bald diesen, bald jenen psychologischen Summentyp der obigen Einteilung beanspruchen. Wir sind noch weit davon entfernt, eine wissenschaftlich aufgebaute exakte Berufspsychologie zu besitzen. Aber wir sind uns darüber klar, daß es eine derartige Wissenschaft gibt. In einem großen Handlungshause z. B. braucht es an den verschiedenen Stellen psychische Typen verschiedenster Art — und sind doch alle »Kaufleute«. Stellen wir uns ein Warenhaus vor: Ein Generaldirektor und 6 Abteilungsdirektoren leiten den Betrieb. Eine Anzahl Einkäufer und Einkäuferinnen, zahlreiches Bureaupersonal, Verkaufspersonal, Aufsichtsbeamte, Reinigungsangestellte, Installateure, Mechaniker usw. Wir verlangen von dem Angestellten, der das Publikum unmittelbar bedient, weder das Talent eines Führers noch eines Organisators: Er soll eher ein in seinem Gebiet ver-

— 150 — sunkener Eigenbrödler sein vom Typus des Beamten. Unsere Summentypen sind natürlich auch in verschiedenem Grade in einem einzelnen Menschen ausgebildet. »Verkäufer« ist ja ebenso ein Typ wie »Beamter«. Für unsere Einteilung ist der Verkäufertyp im Beamtentyp enthalten. Jeder, der im Rahmen eines großen .Gemeinwesens eine engbegrenzte Aufgabe erfüllt, soll dem Typ des Beamten entsprechen. Dazu gehört der Verkäufer und der Bureaudiener ebensogut wie das Tippfräulein. Ünsere acht Summentypen sind nicht solche Funktionen, die sich gegenseitig ausschlössen. Der Typ, der durch einen bestimmten Menschen dargestellt wird, ist durch seine relative Höchstkomponente gegeben. Man wird vom Abteilungschef ein großes Organisationstalent verlangen, und es ist ohne Zweifel gut, daß es nicht allzuviel derartige Stellungen gibt, denn diese Talente sind sehr selten. Es ist aber eine Erfahrungstatsache, daß a l l g e m e i n e Begabungen die normale Erscheinung vorstellen und spezielle Begabungen eine Ausnahme bilden. Ein Mensch, der ein vorzüglicher Organisator ist, ist überhaupt ein gut oder vorzüglich Begabter. Unser Abteilungschef ist also nicht bloß ein guter Organisator, sondern er hat gewiß auch Führertalent, vielleicht künstlerisches Gefühl und eine zumindest praktische soziale Einfühlung. Organisationstalent muß in bescheidenem Maße ja auch der Chef der Verpackungsabteilung zeigen, der im übrigen mehr die Fähigkeiten des Beamten und Technikers, als des Führers und Künstlers haben muß. Das Studium der für einen bestimmten Beruf erforderlichen Eigenschaften führt zur Aufstellung des Berufstypogrammes. Ein solches Typogramm kann man sich auf verschiedene Weise verschaffen. Untersucht man in verschiedenen Bureaus nach den Methoden der Intelligenzprüfung die Eigenschaften der Tippfräuleins, so gelangt man zu einer empirischen Festlegung ihres Berufstypogramms. Man kann aber auch den Abteilungschefs Fragebogen vorlegen: Welche Eigenschaften verlangen Sie von ihrem Tippfräulein? Ich erinnere den Leser daran, daß es sich hier nicht um die Kenntnisse handelt, welche man durch Schulung erwerben kann, sondern um jene natürlichen Anlagen, welche durch eine richtige Erziehung ausgelöst und entwickelt werden. können. Man gelangt auf

— 151 — solche Weise zu einem idealen Berufstypogramm, das auch ein gewisses Interesse hat. Wenn der Bewerber um eine Stellung ein bestimmtes Ingenogramm besitzt, welches sich dem Berufstypogramm der gewünschten Stellung nähert, so sollte ihm die Stellung sicher sein. Immerhin wollen wir bemerken, daß wir nicht hoffen dürfen, jemals eine schematische Methodik zu finden, die den lebendigen Blick des Leiters der Intelligenzprüfung oder des Abteilungschefs im Warenhaus ersetzen kann. Ingeriographie und Berufstypologie können, auch wenn sie einmal in vollkommenster Weise entwickelt sein werden, nur ein Hilfsmittel zur rascheren Orientierung beider Parteien (Arbeitsucher und Arbeitgeber) werden. Das Berufstypogramm kann sich darauf beschränken, diejenigen Gebiete anzugeben, in denen eine mehr als mittlere Begabung erwünscht ist. Versuche mit Fragebogen sind in New York in großer Zahl gemacht worden. Solange aber nicht statistisch bearbeitete Antworten vorliegen, ist der Berufsberater immer noch auf seine persönlichen Erfahrungen übei die typischen Erfordernisse eines Berufes angewiesen. Nebenbei sei vermerkt, daß sich das Berufstypogramm nach Raum und Zeit verändern wird. Der Amerikaner verlangt von einem Verkäufer andere Eigenschaften als der Münchner. Letzterer wieder ist heute auch nicht derselbe, der er vor einer Generation war. Ferner: Scheinbar verwandte Berufe können auch gänzlich verschiedene Typogramme aufweisen. Vielfach wird bei der Verwandlung der Pferdepost in Autopost der Kutscher zum Chauffeur gemacht. Dies ist ein typisches Beispiel für irrtümliche Berufung. Ein guter Kutscher ist noch lange kein guter Chauffeur. — Ein anderes Beispiel: Der Kammerstenograph ist noch lange kein guter Gerichtsstenograph. Im ersteren Falle spielt die stenographische Geschwindigkeit die ausschlaggebende Rolle, im letzteren Falle die Zeugnistreue der Wiedergabe. Die Aufgabe, das Ingenogramm des Prüflings mit dem Typogramm der verschiedenen Berufe derart zu vergleichen, daß sich eine gewissermaßen zwangsläufige und jedenfalls wissenschaftlich begründete Berufsberatung ergibt, ist das Kardinalproblem der modernen Psychologie. Wie wir schon

— 152 — wiederholt betont haben, sind gegenwärtig erst Ansätze zu derartigen Leistungen vorhanden. Es ist eine geringe Anzahl von Berufen genauer untersucht worden. Einer der ersten wissenschaftlich analysierten Berufe war der der Telephonistin. Der Begründer der modernen Psychotechnik, Hugo Münsterberg 1 ), hat diesen Beruf als ersten wissenschaftlich betrachtet. Ebenso existieren Untersuchungen über Funker und Tele-

A b b . 44.

Ingenogramm einer Stenotypistin.

Milieu: k a u f m . weibl. Angestellte.

graphisten, Metallarbeiter, Kriminalbeamte usw. Sehr bekannt sind die Eignungsprüfungen für die verschiedenen Verkehrsberufe : Straßenbahnführer, Chauffeure, Lokomotivführer, Flugzeugführer usw. Die Aufgabe ist erkannt und ihre Schwierigkeit liegt klar vor unseren Augen. Es können wohl Jahrhunderte darüber vergehen, bis das Problem der Berufsberatung in einer wissenschaftlich einwandfreien Form als gelöst betrachtet werden kann. Die Aussicht auf eine derartig lange und langsame Entwicklung darf uns aber nicht davor abschrecken, die heute schon erkennbaren Richtlinien zu verfolgen. ') Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1914 (H. Münsterberg, Professor der Psychologie an der Havard Universität).

— 153 — Wir sehen also, daß beim heutigen Stande der Wissenschaft die psychologische Typographie der Berufe noch ein wenig unbeackertes Feld ist, das dem natürlichen Bück und dem »Guten Geruch« des Beraters freien Spielraum gibt. Es erscheint mir nicht als utopistisch, wenn ich mir ausmale, daß

(Nur die Spitzenleistungen sind eingezeichnet.) Abb. 45. (Berufs-Typogramm.) »Man sucht einen redegewandten und schlagfertigen Herrn als Sekretär«.

sich in einer nicht allzufernen Zukunft die Ausschreibung einer offenen Stelle mit Hilfe des Berufstypogramms einfach gestalten läßt. (Siehe Abb. 45.) Man wird in der Ausschreibung diejenigen Gebiete, in denen man übernormale Leistungen erwartet, mit wenigen Strichen angeben können. Man wird dabei andere Gebiete, welche für die betreffende Stellung bedeutungslos zu sein scheinen, unberücksichtigt lassen. Dadurch erhält man eine übersichtliche Angabe der verlangten Spitzenleistungen.

Siebentes Kapitel.

Der Singulare und die Typogenen. Die Menschen sind miteinander viel mehr verwandt, als man gewöhnlich glaubt. Betrachtet man ein abseits gelegenes Dorf von 600 Einwohnern. Wie viele Ahnen haben diese ? Wir wollen von einigen komplizierenden Nebenumständen absehen und eine bloß orientierende schematische Betrachtung durchführen. Jeder hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern usw., er hat zwei hoch sieben Ahnen der siebenten Generation vor ihm. Wir rechnen drei Generationen aufs Jahrhundert und finden, daß wir von der Reformation heute schon zwölf Generationen weit entfernt leben. Jeder Dorfbewohner hätte also mehr als 4000 Ahnen, die Zeitgenossen von Luther und Zwingli waren. Greifen wir von unseren 600 Dorfbewohnern jene 50 heraus, die anscheinend gar nicht oder nur wenig miteinander verwandt sind, so entsprechen ihnen 200000 Ahnen zur Zeit der Reformation. In Wirklichkeit hat das ganze Gebiet des untersuchten Dorfes samt der Landschaft, mit welcher es in gelegentlicher Heiratsbeziehung steht, kaum zehntausend Bewohner gehabt. Wo bleiben die vielen errechneten Ahnen? Antwort: Infolge der sehr starken Verwandtschaft unter den Bewohnern eines Landstriches ist der größte Teil der Ahnen zweier scheinbar nicht Verwandter gemeinsam. Dieser Umstand wirkt nicht einfach und nicht doppelt, sondern vielfach, da ja die in der Ahnenkette vorhandenen, zur Eheschließung gelangenden Teile immer wieder solche scheinbar nicht verwandte Zeitgenossen sind. Was sich mit Rücksicht auf die Erziehung der Kinder des Volkes aus dieser eigenartigen Tatsache ergibt, habe ich in meiner »Massenerziehung« dargelegt. Hier wollen wir die-

— 155 — jenigen Überlegungen durchführen, die zu einer richtigen Einstellung des psychologischen Berufsberaters führen. Ich habe schon einmal das Bild gebraucht, daß der Berater sich zu den Jugendlichen ungefähr ebenso verhält, wie der Förster zu den Bäumen im Walde. Beide müssen vor allem dazu gelangen, am einzelnen das Typische zu erkennen. Sie müssen aber auch an den verschiedenen Typen die unterscheidenden Merkmale begreifen, und sie müssen schließlich auch in der Lage sein, innerhalb eines Typs eine originelle Individualität zu erkennen. Infolge der sehr starken verwandtschaftlichen Durchblutung eines Volkes finden sich eigentlich alle Eigenschaften in jedem einzelnen Menschen vor. Sie gelangen mehr oder minder leicht zur Entwicklung, mehr oder minder stark zur Entfaltung. Grundsätzlich ist aber kein einzelner etwas anderes als der Nachbar. Ja, man kann noch sehr viel weiter gehen und sagen: Die gewöhnliche Art, Ehen aus den Gliedern eines einheitlichen Milieus zu schließen, wäre beinahe Inzucht . . . , wenn nicht doch in jedem Milieu gewisse Typen vorhanden wären, die sich trotz aller Ehemischung stets vom neuen aufspalten und als bestehende Differenzen im scheinbar einheitlichen T y p des Volkes bleiben. Die Ehe schafft in der Regel kein wirklich »neues« Blut, sondern die Frau bringt grundsätzlich die gleiche Erbmasse, die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten mit wie der Mann. Eine gewöhnliche Ehe in unseren Ländern (geschlossener Volksarten) gleicht daher in Hinsicht auf die Erzeugung neuer Merkmale eher einer Fortpflanzung durch Stecklinge als einer eigentlichen geschlechtlichen Genesis, wie wir sie uns vorurteilsgemäß denken. Denn die Frau hat im großen ganzen die gleichen Ahnen wie der Mann1). Das muß man sich wohl vor Augen halten. Man mag es gut oder schlecht finden — es ist nun so. Die Völker besitzen also einerseits eine sehr viel stärkere innere Verwandtschaft, als man meist denkt, und sie zeigen in sich anderseits eine Anzahl von physischen und psychischen Typen. Denkt man sich nun das Ingenogramm eines ganzen Volkes ermittelt, so zeigt es irgendwelche für dieses Volk charakteristische Merk*) Siehe Seite 17 der »Massenerziehung«.

— 156 — male. Wir sind heute noch weit davon entfernt, von der Gestalt solcher Ingenogramme eine richtige Vorstellung zu haben. Denn unsere primitive Art, die Fähigkeiten des Gedächtnisses und diejenigen der künstlerischen Richtung durch Zensuren von i bis 10 zu messen, ist nur als eine provisorische Orientierung anzusehen. Aber dennoch können wir hoffen, einmal dahin zu gelangen, auf solche Weise die besonderen Eigenschaften der einzelnen Völker, relativ zur ganzen Menschheit, zu begreifen. Denken wir uns die Eigenschaften eines Menschen nach irgendeiner festgelegten Methode messend ermittelt. Wir tragen nun die Größen der psychologischen Faktoren, ganz wie bei der Konstruktion des Ingenogramms, nach allen Richtungen hin ab. Aber wir wollen nun das räumliche Modell benützen. Nach einem bestimmten Schema, auf das wir nicht genauer an diesei Stelle eingehen wollen, sei für jeden Menschen die Bewertung seiner seelischen Fähigkeiten durch Strecken dargestellt, die sich von einem Punkt aus nach allen Richtungen im Räume lagern. Die Endpunkte dieser Strecken bestimmen den Verlauf einer Fläche, die wir als die Ingenosphäre des betreffenden Wesens bezeichnen wollen. Ein Volk hat eine bestimmte ideale mittlere Ingenosphäre, zu beiden Seiten laufen die Raumgebiete der mittleren Abweichungen, außerhalb und innerhalb die Milieu-Grenzen. Ein e i n z e l ner wird nun mit seiner Ingenosphäre in dieser Darstellung ganz bestimmte Züge aufweisen. Es wird sich zeigen, daß in einem Volke immer eine große Zahl von Ingenosphären einen einheitlichen Bau aufweisen. Ein »Typ« macht sich durch gleiche Vorzüge und gleiche Schwächen bemerkbar. Faßt man alle einem Typ angehörenden Individuen zu einer Gruppe zusammen, so kann diese Gruppe wieder durch ihren Normalwert und durch den Spielraum dargestellt werden. Sie steht dann mit diesem Ingenosphärenbild im allgemeinen Bild des Volkes. In einem Volke wird es nun eine Anzahl solcher typischen Sphären geben, diese Typen sind dann die eigentlichen biologischen Einheiten, die wirklichen »reinen Stämme« im Sinne der Erblichkeitslehre. Das ganze Volk ist eine Mischfigur aus diesen Typen. Die Menschen sind im großen ganzen stets so beschaffen, daß sie e i n e m der im Volk vorhandenen

— 157 — Typen angehören. Wir bezeichnen daher die Menschen als »typogen«, d. h. als einem Typus entstammend. Betrachtet man den zeitlichen Verlauf der Veränderungen dieser vielen Ingenosphären, so stellen sich uns im Geiste zahllose geringvolumige Sphären als die psychologischen Bilder der kindlichen Seelen dar; diese Ingenosphären wachsen und dehnen sich mit dem zunehmenden Alter, stärker und schärfer prägen sich die Züge der im betreffenden Volk vorhandenen Typogenen aus, die Sphären erreichen gewisse maximale Werte, und sie sinken vielleicht, bevor das Individuum stirbt, an dieser oder jener Stelle zusammen. So ist in diesem Modell des seelischen Seins und Werdens ein beständiges Fließen der Formen. Jeden Augenblick platzt eine solche Sphäre, und eine neue setzt sich in Bewegung, von unscheinbaren Dimensionen ausgehend. (»Unser Leben«, sagt der Kleinrusse, »ist ein Bläschen auf dem Wasser!«) Immer wieder bilden sich die gleichen Formen der Typen heraus und es mag wohl sein, daß die Entwicklung des einzelnen auch den Weg der Wanderung d u r c h m e h r e r e Typen h i n d u r c h kennt. Es erscheint als möglich, daß ein Mensch mit sieben Jahren die klaren Züge eines ganz bestimmten Typs zeigt (z. B. aufgeweckt, kritisch, heiter) und dann nach Durchlaufen einer kritischen Lebenszeit wie der Pubertät sozusagen »aufwacht« mit einer ganz veränderten Ingenosphäre (z. B. melancholisch, unkritisch, skeptisch, depressiv). Es mag auch sein, daß die verschiedenen Typen in einem Volke die Spuren von ehemaligen Vermischungen aus verschiedenen Völkern sind. Es mag ferner sein, daß die Typen verschieden hohe Stufen der Entwicklung bedeuten oder aber daß sie den sogenannten individuellen Schwankungen (Variationen) entsprechen, die sich stets in einem Milieu in Hinsicht auf die üblichen biologischen Merkmale finden. Wir werden uns auch darüber klar sein, daß die Ingenosphären der Menschen starken Schwankungen in bezug auf Stimmung, Ermüdung, Psychosen usw. ausgesetzt sind. Auch wollen wir die Existenz von verschiedenen Ingenosphären für Wach- und Traumzustand nicht in Abrede stellen. Was wir hier unter normaler Ingenosphäre verstehen, ist eigentlich eine

- 158 — Art Maximalleistungsbild der frischen, arbeitsfähigen Seele im ausgeruhten Körper. Wir wollen es nicht unternehmen, eine Aufzählung der Gruppen der Typogenen zu versuchen. Praktische Ansätze dieser Art sind im Kapitel »Berufstypologie« gemacht worden. Unsere Kenntnis von dem Wesen der »Massenseele« ist zu gering, als daß wir solche Versuche wirklich ausbauen könnten. Mag also der eine Forscher sich an die uralte Einteilung in vier Temperamente halten (cholerisch, sanguinisch, melancholisch und phlegmatisch); der andere kann grundsätzlich die Typen der Optimisten und Pessimisten unterscheiden. Oder man konstruiert acht Temperamente, je nach dem Oktanten der Ingenosphäre, in dem sich die maximale geistige Potenz findet. Dann haben wir also Typen von Gedächtnismenschen, von Technikern, von Konzentrierten, von Phantasten usw. usw. Auf alle Fälle können wir heute noch keine logisch befriedigende Einteilung solcher Art geben. Aber das wollen wir lernen, daß die Einzelwesen im allgemeinen nicht so sehr Individualitäten sind, als man gewöhnlich meint. Zwar wird es wohl richtig sein, daß die Ingenosphäre eines einzelnen zu gleicher Zeit nicht genau ein zweites oder drittes Mal vorhanden ist. Aber (man bedenke, daß unsere Tests ja nicht das Wissen, sondern die Fähigkeiten prüfen wollen) sicher hat die Geschichte der Menschheit sehr ähnliche Sphären aus dem Schöße der Zeit immer wieder auftauchen sehen. Der einzelne ist in dieser Einordnung rein nichts, er ist alles durch seine Beziehung zum Volke, zum Milieu. Die Ingenosphären häufen sich um die Normalflächen der Typogenformen; sie bilden, in sich gleichartig, R e s o n a n z b ö d e n für gleiche Ideen. Da der einzelne sich aus der Umgebung tetsächlich nicht herausschälen kann, so g i b t es einen »einzelnen« sozusagen n i c h t . Es existiert also nur der Einzelmensch s a m t seiner Beziehung zur Masse im allgemeinen und zu seinen Kontypogenen im besonderen. Ein einzelner steht vor allem mit »Seinesgleichen«, den Kontypogenen, in Wechselbeziehung. Er denkt wie sie denken, und wenn ein Typ von der Macht eines Gedankens ergriffen ist, so jeder einzelne durch psychische »Ansteckung«. Wer sich die Mühe gibt, seine Mitmenschen ernsthaft zu erforschen, wer sich auch

— 159 — vor allem über seine eigenen Handlungen und Gedanken zu innerer Klarheit durcharbeitet, der wird dahin gelangen, einen Menschen schon nach ganz kurzer Bekanntschaft »vorläufig taxieren« zu können. Warum? — Weil keiner (in der Regel!) ein wirklich »Eigener« ist, sondern jeder einzelne ist eine bloße Variation eines Musters, ist ein T y p o g e n e r , ist ein Stück im Volkskörper. Das Typenhafte einer Seele schafft sowohl die psychische Grundlage für die Einwirkung von außen, namentlich vom eigenen Typ her, als auch die Möglichkeit für die Wirkung nach außen auf die Träger der eigenen Form, auf die anderen Typogenen gleicher Struktur. Sehr selten — räumlich und zeitlich begriffen — zeigt sich im Volk ein wirklich Eigenartiger, ein S i n g u l ä r e r . Wir wollen als singulär einen Menschen bezeichnen, der sich durch ungewöhnliche Fähigkeiten auszeichnet, ein Individuum, dessen Ingenosphäre an einigen Stellen weit über das Mittelmaß seines Typs herausragt. Dehnt man die Milieugrenzen bis auf Millionen aus, so kann es vorkommen, daß immer noch, dann und wann, ein wahrhaft einzelner außerhalb der so weit gespannten Grenzen verbleibt. Anders gesagt: Jene seltenen Geister, die sich erst nach der. Produktion von vielen Millionen Menschen wiederholen, die erst nach Verlauf von vielen Jahren wiederkehren, diese seltenen Geister wollen wir als Singuläre bezeichnen. Gewiß wird es manche Stufe zwischen den Typogenen und den Singulären geben. E s wird wohl auch oft vorkommen, daß eine Zeit jemand für singulär nimmt, der nur etwa ein Virtuose ist, oder gar ein Gaukler, ein geschickter Blender. Hier gilt, wenn je, der Spruch G o e t h e s : »Was fruchtbar ist, allein ist wahr!« Der einzelne, dessen Gedanken sich als fruchtbar und lebendig erweisen, dessen Vorstellungen in die Jahrhunderte wirken und werkschaffend fortleben — der ist ein Singulärer 1 ). Sicher haben wir die Singulären eines Volkes bisher nicht immer genießen können. Zur Entwicklung der Singulären bedarf es besonders günstiger Umstände. Wie oft mag es wohl vorgekommen sein, daß ein Mann, der sein Leben lang als Bauer gewirkt hat, seinen Anlagen nach ein Singulärer für sein Volk hätte werden können.

bedacht.

Goethes Vater

hat

seinen

Sohn mit dieser

Bezeichnung

— 160 — E r ist aber hinter seinem Pfluge geschritten, hat seine Kühe gemelkt, etwa auch noch in der Gemeinde eine bescheidene Rolle gespielt, oder als guter Onkel und Vater im beschränkten Kreise der Sippe gewirkt. Glaube nur niemand, es sei wahr, was das billige Wort sagt: »Das Genie bricht sich selber Bahn.« Dies ist eine gar zu oberflächliche Weisheit, so kann nur sprechen, wer ganz an der äußersten Peripherie der Erscheinungen stehen bleibt und die Sigulären etwa so aufzählt: »Also, wir sehen Sokrates und Plato und Napoleon und Goethe ; sie alle waren Genies und sie sind durchgedrungen, oft unter harten K ä m p f e n . . . « So oder ähnlich mag sich im Geiste der unkritischen Denker die Sachlage darstellen. Dies ist grundfalsch. Das Genie bricht sich n i c h t B a h n , eher noch der Robuste und Gemeine — viel eher! Der Mann, der als psychologischer Berufsberater immer wieder in die Lage kommt, den Wert des einzelnen relativ zur Masse abzuwägen, darf an diesem wichtigen Problem nicht achtlos vorbeigehen. Denn die Entdeckung eines einzigen Singulären bedeutet fürs Volk einen in Zahlen gar nicht ausdrückbaren Gewinn. Aller Fortschritt kommt, wohin man auch dabei denken möge, von der starken Wirkung singulärer Persönlichkeiten. Wir sollen die Epigonen dabei nicht mit billiger Selbstüberhebung betrachten; sie sind genau so notwendig als Glieder im Sein des Allmenschen, als Teile im Räderwerk des Volkes, wie der Singulare. Aber so wie sich uns das Verhältnis der Singulären zu den Typogenen darstellt, ist es der Singuläre, der schlummernde Kräfte weckt, der Schätze zu heben lehrt und der w i r k t . Nicht nur der kontypogene Mensch, sondern, da in jedem Menschen die Anlagen aller psychologischen Qualitäten leben, a l l e Typogenen werden durch einen Singulären berührt. Dabei können wir das un-. mittelbare persönliche Wirkungsfeld des Singulären gar nicht weit genug stecken. Mag der eine als Künder einer neuen Religion wirken, der andere als Bringer einer neuen Epoche materieller Kultur; mag auch der Mann selbst den Millionen, auf die er wirkt, nie zu Gesicht gekommen sein: Wenn sein Werk Leben bekommen hat, so daß es die Massen ergreift, auf sie direkt oder indirekt einwirkt, so ist die Mission des Singulären getan.



161



Die konkrete und materielle Bedeutung eines hervorragenden Menschen für sein eigenes Volk kann nicht genug hoch eingeschätzt werden. Um jenem Typ meiner Leser, die eine Sache gerne in Franken und Rappen erkennen wollen, eine Vorstellung davon zu geben, was die rechtzeitige Entdeckung und Auslösung eines hervorragenden Typs für sein Volk bedeutet, sei ein Beispiel erwähnt: J a m e s W a t t . Dieser Mann wäre mit seinen Plänen beinahe gescheitert, es ist nur dem Zufall, daß er einön Gönner und Helfer fand, zu danken, daß E n g l a n d die Vorteile genoß, die aus der Konstruktion der ersten Dampfmaschinen flössen. Der Gönner des Watt, B u l t o n , gehört mit zum Bilde des Werdens: H ä t t e W a t t seinen B u l t o n nicht gefunden, der ihm V e r t r a u e n und Geldhilfe gab, so wäre W a t t j e n e r e i n f a c h e S c h m i e d g e b l i e b e n , als der er den kühnen Gedanken der Umbildung der damals völlig bedeutungslosen a t m o s p h ä r i s c h e n D a m p f maschine g e f a ß t h a t t e . Und nicht England, sondern F r a n k r e i c h wäre vermutlich in den Besitz der Vorteile gelangt, die es zum ersten Industrieland gemacht hätten. Es handelt sjch dabei um viele Milliarden Franken. An der Bedeutung dieser Wirkung des genialen einzelnen wird auch dann nichts geändert, wenn man sich etwa auf den Standpunkt stellt, die Industrie sei mit ihrer Proletarisierung und Mechanisierung, mit ihrer Wurzellosigkeit ein Unglück — eine Anschauung, die man ja oft genug hört. Das ist natürlich ein recht anfechtbarer Standpunkt. Der Werdegang des Menschen ist ebenso ein Stück natürlicher Entwicklung wie etwa das Wachsen eines Waldes. Es ist eine ganz unrichtige Einstellung, diese oder jene großen Züge der Entwicklung als »bedauerlich« hinzustellen. Der Forscher wird stets bedacht sein, die nun einmal gegebene Wirklichkeit aufs beste zu gestalten oder umzugestalten und wird es sich erlassen, dies oder jenes, was Wirklichkeit geworden ist, als »unrecht« zu bezeichnen. Wenn wir die Industrialisierung als eine Erscheinung von unglücklicher Wirkung auf die Menschen betrachten, so können andere sagen: Durch dieses Leid muß di£ Menschheit eben hindurchgehen, um jene Erlösung vom angeborenen Egoismus zu finden, die erst zur Vollkommenheit führt. Wenn wir das L ä m m e l , Intelligenzprüfung.

II

— 162 — Leid nicht hätten, das alle schlägt, würde die Bosheit und die Mitleidlosigkeit herrschen, und wir hätten ewig im Volke Herren und Sklaven zu unterscheiden. Auch die Typogenen sind, innerhalb ihres Typs betrachtet, nicht einerlei Art. Wir können, um für die Berufstypologie zu einer brauchbaren Gliederung zu gelangen, zwei Arten unterscheiden: die f i x i e r t e n Typogenen und die o f f e n e n . Die fixierten sind jene, die in der Erfüllung ihrer alltäglichen Pflichten und in der Ausübung ihrer Rechte aufgehen. Menschen, die, ungefähr dem Typ des »Beamten« entsprechend, die große Mehrheit der Angehörigen eines Volkes bilden. (Der starke Zug zu den »Staatsämtern« und zur fixen Besoldung hat seine guten und tiefliegenden Gründe.) Die fixierten sind die passiven Elemente im Volke, sie sind die T r ä g e r des k o n s e r v a t i v e n Gedankens; dies soll hier nicht als politische Bezeichnung, sondern als psychologische Qualifikation genommen werden. Um ganz klar zu sein: Auch die Kommunisten und die Sozialisten haben ihre konservativen Gruppen, haben viele einzelne, die innerlich durchaus konservativ, d. h. in unserem Sinne: fixierte Typogene sind. (Nicht ist gemeint: reaktionär im politischen Sinn.) Wir wollen bedenken, daß die politischen Parteien mitnichten eine psychologische Auslese im Volke bedeuten. Sondern sie sind eine vor allem nach der äußeren wirtschaftlichen Lage erfolgende Auslese. Es kann also der innerlich zum Kommunismus Disponierte sehr wohl, da er als Sohn eines großen Schuhfabrikanten geboren wurde, es lediglich dahin bringen, daß er etwas »Geld unter die Leute« bringt, vielleicht ein unkluger Verwalter wird — nicht mehr. Es kann ferner ein bei der sozialdemokratischen Partei eingeschriebener Mann in Wirklichkeit ein bloßer Streber sein, der die Stimmen der Arbeiter und ihre Groschen für sich verwenden will. Es kann ein Mitglied der sogenannten freisinnigen Partei (ich exempüfiziere hier immer für die Verhältnisse in unserem kleinen Schweizerlande) ein echter Sozialist sein, voll wahrer Liebe zum Volke, aufopfernd und selbstentsagend, mit wahrheitsgetreuer Einstellung zu den Problemen des politischen Alltags. Dies sei also eingeflochten, daß kein Mißverständnis entstehe: Unser psychologisches Modell eines Volkes mit seinen Typen betrifft natürlich die wirkliche

— 163 — seelische Verfassung, nicht die äußerliche Einstellung. Alle Parteien haben in ihrem Schöße Menschen aller T y p e n . . . möge sich niemand darüber täuschen! Damit ist nichts darüber gesagt, ob auch die »Programme« der Parteien alle »gleich gut« sind. Das möchte ich allerdings recht in Zweifel z i e h e n . . . ; aber die M e n s c h e n , die sind überall dieselben, wenn man ihre Kerne öffnet! Die o f f e n e n Typogenen sind die nach Erlösung, nach Offenbarung Strebenden. Sie sind es, die eine W a h r h e i t suchen, sie sind es, die das geistige Leben des Volkes tragen. Sie sind die »Arbeiter im Weinberge« und sie sind die Fleißigen, die aus den Gedankenblitzen der Singulären oder aus dem lebendigen Beispiel derselben nachschaffende W e r k e erstehen lassen. Die offenen Typogenen sind gleichsam wie unter einem Druck stehende Menschen, die suchen, des Druckes Herr zu werden. Sie erforschen, indem sie über die Notwendigkeit des Alltags hinausgehen, die Umwelt und schließlich sich selbst, wobei sie die Menschen und die menschlichen Verhältnisse so umzugestalten suchen, wie es die jeweils herrschende Weltanschauung bedingt. Sie allein haben eine Weltanschauung, sie allein sind die Träger von künstlerischen, wissenschaftlichen oder religiösen Einstellungen. Die offenen Typogenen sind es eigentlich auch allein, die mit ihren kontypogenea Singulären in der Beziehung der Resonanz stehen. »Ja«, so empfindet der einzelne dieser Ait, »dieser Mann hat die Wahrheit gefunden, der von ihm angegebene Weg führt zur Erlösung.« So zündet der Singulare im Typogenen das Licht an. Was für den Singulären relativ zur Masse gilt, das wiederholt sich tausendfältig im Guten wie im Unerwünschten im kleineren Maßstabe. Der Vater wirkt auf die Kinder kraft erblicher Ähnlichkeit, der Lehrer läßt in seiner Klasse die konsonanten Typogenen mitklingen und sichert sich dadurch einen gewaltigen Einfluß auf die ganze Klasse, und so mag wohl auch oft genug ein bescheidener Geist in der mittleren Sphäre einer typogenen Form durch die »zufällige« Konstellation dazu gelangen, große Wirkungen auszuüben. Aber: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr!« Bedenken wir dies, so werden wir nicht das Geschehnis von gestern heute schon als groß bezeichnen und den treibenden Mann als ii*

— 164 — singulär. Erst die Zeit bringt eine kühle Einstellung zum Geschehen. Der alte Satz »Volkes Stimme — Gottes Stimme« ist so falsch wie die meisten anderen ehrwürdigen Sentenzen vergangener Anschauungs-Epochen. Des Volkes Stimme ist nichts anderes als die Stimme der treibenden Singulären oder zumindest Pseudosingulären. Der falsche Prophet kann das Volk genau so stark begeistern wie der echte. Und wer will letzten Endes Richter sein und sagen: Dieser ist ein falscher Prophet? Es müssen Jahrhunderte vergehen, ehe wir eine kritische Würdigung vornehmen können. Sind sie aber vergangen, so fehlen oft genug die Daten, sich nachher noch eine richtige Vorstellung von dem vermuteten Singulären und der Art seines Wirkens zu machen. Aber wenn wir den Begriff des Singulären nicht allzu eng fassen, ihm den weitest denkbaren Spielraum geben von der Wissenschaft bis zum Mystizismus, so können wir solcher Singularitäten genug erleben und in der Geschichte betrachten. Vergessen wir aber nicht, daß auch der Singuläre eine determinierte Erscheinung ist: Er macht sich nicht selbst, sondern erstellt eine Erscheinung im Allmenschen vor, etwa wie im Leben eines einzelnen eine »Erleuchtung« oder eine »Vision« kommt. Und vergessen wir nicht, daß wir die Singulären von brauchbarer Qualität e n t d e c k e n sollen. Wir sollen sie entdecken, ihre Höchstleistung ermöglichen. Das Volk wird künftig das glücklichste und das wahrhaft r e i c h s t e sein, das die in ihm liegenden p s y c h i s c h e n S c h ä t z e am besten verwendet, das nicht R a u b b a u treibt mit menschlichen Seelen. Kohle und Eisen sind nützliche Dinge und sie imponieren den Mächtigen dieser Welt, den Kriegsministern und anderen Ephemeriden. Aber größer als alle Zinklager von Oberschlesien und gewaltiger als die mesopotamischen öllager ist die Wirkung eines einzigen Singulären, der seinem Volke geschenkt wird. Dasjeniges Volk, das als erstes in die Lage kommt, sich eine rationelle Organisation zur Entdeckung der in ihm schlummernden Talente zu geben, wird vor anderen Völkern einen Vorsprung haben, der sich durch keine irdischen Schätze ausgleichen läßt. Selbstverständlich bildet dieses Problem der Entdeckung der Singularitäten eine der Aufgaben der Berufs-

— 165 — beratung. Die zwischen den Singulären und Typogenen liegenden Talente und Virtuositäten sind aber ebenfalls unentbehrlich; ihre Aufgabe ist die V e r m i t t l u n g . An anderen Stellen dieses Buches ist dargelegt, wie wichtig schließlich die Berufung a l l e r Kinder des Volkes in ihre natürlichen Berufe ist. Wer sich in diese Gedanken vertieft, wird erkennen, daß die Organisation der Berufung für ein Volk von noch größerer Bedeutung sein kann, als zum Beispiel die Organisation seines Militärwesens. Wer seinem V o l k e ermögl i c h t , daß die T y p o g e n e n in ihren n a t ü r l i c h e n B e r u f e n a r b e i t e n , daß die T a l e n t e e n t w i c k e l t und s p e z i f i s c h b e s c h ä f t i g t werden, daß s c h l i e ß l i c h die vorhandenen Singularitäten zur A u s l ö s u n g g e l a n g e n , der g e w i n n t seiner N a t i o n mehr als h u n d e r t S c h l a c h t e n , er i s t größer als der g r ö ß t e F e l d h e r r . Wir wollen hier noch nebenbei eine wichtige Feststellung machen. Der Typogene ist in der fixierten Form »unaufgelöst«, das heißt, er ist nicht zur Selbstbesinnung gelangt, er ist noch in der U m g e b u n g seines Ichs, nicht bei sich selbst. Er bedarf so gut wie der offene Typ der Erlösung, Aufschließung. Wir wollen nun folgendes feststellen: Aufgabe einer rationellen psychologisch b e w u ß t e n Erziehung ist nicht nur die »Übertragung der Kultur von einer Generation zur anderen und Höherschraubung des Niveaus« (meine Formulierung von 1910 1 ) sondern auch: die Zertrümmerung der T y p e n , ihre Aufschließung, die Herstellung von Individualitäten an Stelle der Typen. Denn nichts ist für ein Volk schlimmer als der H e r d e n g e i s t in ihm. Das Erwachen des Geistes ist beim Menschen mit der Entfaltung der Indiv'dualität verbunden. Die Auflösung der Masse in Einzelseelen . . . dies ist also die zweite, vielle'cht noch wichtigere, weil tiefwirkende Aufgabe einer »bewußten Pädagogik«. Vater und Mutter in der Familie, der Lehrer und die Lehrerin in der Schule, sie haben diese große Mission der Aufschließung durchzuführen. Freilich: Wie soll einer, der blind ist, andere Blinde führen? Dies eben macht den Fortschritt in der Erschließung der Massen schwer: daß die Eltern und die Lehrer selbst zum größten Teil nicht er') »Reformation der Nationalen Erziehung«, Zürich 1910.

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schlössen sind, unerlöst wie die, denen sie Aufschließung ermöglichen sollen. So kann der Prozeß der Auslösung der Typogenen nur langsam fortschreiten, indem er von den wenigen ausgeht, sie selbst offen sind und die zufälligerweise einen W i r k u n g s k r e i s haben, einen Resonanzboden. Wenn aber die besten Kräfte unseres Volkes sich scheuen, als L e h r e r oder Erzieher zu wirken, weil der Arzt und der R e c h t s a n w a l t sich bedeutend besser stehen . . . wie soll da Aufschließung und Erlösung ins Volk kommen ? Es ist, als ob die uralte Idee einer Erbsünde durch alle Zeitalter hindurch und durch alle Weltauffassungen sich wie ein roter Faden zöge. Es ist, als ob wenige Schwache mit ihren verschwindend geringen Kräften versuchen wollten, die ungeheure Aufgabe der Erlösung zu vollbringen. Ist es nicht, als ob die alte jüdische Heilslehre in stets neuer Gestalt auftauchen würde ? Wenn wir die »Erlösung« durch die Analyse der Massen und deren daran geknüpfte seelische Aufschließung durchführen wollen wie viele Helfer brauchten wir da, und — wie wenige haben wir! Werden doch die meisten L e h r e r , die meine Ausführungen lesen, in sich kaum die nötigen ingenosphärischen Grundlagen haben, meine Schilderungen zu begreifen. Und die meisten Menschen, die im tätigen Leben stehen, sei es als Kaufleute, als Beamte, als Ärzte und Juristen — wie sollen sie nur die nötige »Zeit« finden, diese »Sachen« zu lesen? Darauf kann man nur antworten: Wie die größten Organismen aus winzigen Samenzellen aufwachsen, so entstehen auch die bedeutsamsten Vorstellungsformen und Denkarten aus unscheinbaren Anfängen. Wenn der Gedanke an die große Bedeutung einer richtig organisierten Berufung im Volke Wurzel faßt, so ist er fruchtbar, auch wenn nicht gleich der äußere Erfolg bemerkbar wird. Geistige Strömungen stellen sich in unserem psychologischen Modell als Wechselwirkungen zwischen den Typogenen und den Singulären dar. Um diesen Gedanken anschaulich darzustellen, sei auf Abb. 46 verwiesen. Statt der Sphären sind Ingenogramme gezeichnet. Der mittlere Typ eines Volkes ist durch den Kreis wiedergegeben, zu beiden Seiten laufen die linearen Schwankungsgebiete dieses »Phänotyps«. Aus dem Sammeltyp des Volksganzen ist nun eine Gruppe heraus-

— 167 — gegriffen, die in unserer Bezeichnung als »Kritisch-technisch« zu benennen ist. Das Schwankungsgebiet (in dem zirka 50% dieser Typogenen enthalten sind) und die Milieugrenzen dieses Typs liegen ganz innerhalb der Milieugrenzen des Volkes. Der Singulare aber soll außerhalb der Milieugrenzen verlaufen, wenigstens mit einzelnen Teilen seines Ingenogrammes, weil er keinen statistisch regelmäßigen Teil des Volkskörpers bildet. Wenn man die Erscheinung der »Resonanz« als durch die

gleiche Form der Sphären bedingt auffaßt, so hat man zumindest eine gute Arbeitsvorstellung. Man darf aber nicht vergessen, daß sich zwischen den Typogenen und dem Singulären viele Übergänge finden; aber nicht »unendlich viele«! Wie entsteht der Singuläre eines Volkes ? Wohl nicht anders, als wie sonst in der Welt des Organischen neue Spielarten entstehen, nämlich durch Mutation. Man könnte zwar daran denken, hervorragende Menschen dadurch zu erzeugen, daß man Ehen zwischen stark verschiedenen Typen oder zwischen Angehörigen verschiedener Völker herbeiführt. Allein die Erfahrung zeigt, daß durch solche Mischung keineswegs ein neuer Typ entsteht, sondern daß die Nachkommen, wenn schon nicht als Ganzes, so doch mit den meisten ihrer einzelnen

— 168 — Merkmale nach der Mendelschen Regel aufgespaltet werden. Der Gedanke, neue Formen durch Mischung extremer Typen herzustellen, muß aufgegeben werden. Sicher ist alles, was in dieser Hinsicht innerhalb eines Volkes zu erzielen ist, durch die heute bestehenden Typen schon erreicht. So bleibt nur der andere Gedanke, daß aus den normalen Formen der Typogenen von Zeit zu Zeit die Singulären durch Mutation entstehen. Viele Fragen drängen sich hier auf. Einerseits scheint die Erfahrung zu zeigen, daß die Singularitäten unfruchtbar sind; soweit sie es nicht sind, zeigen die Nachkommen fast ausnahmslos die Erscheinung der Regression, d. h. des Zurückgehens. Immerhin stehen dem einige Ausnahmen gegenüber. Die musikalische und die mathematische Begabung scheint sich durch Generationen erhalten zu können. Vielleicht wird eine spätere Wissenschaft trotz alledem entdecken, daß unter irgendwelchen Umständen jede besondere Singularität erbbar gemacht werdefi kann. Man kann die Vorstellung nicht von sich weisen, daß die seelischen Eigenschaften des Allmenschen im Laufe der Jahrtausende doch eine Entwicklung durchgemacht haben. Betrachtet man nur den Begriff »Humanität« und sein sehr längsames Erwachen im Menschengeschlechte, so gelangt man unschwer zur Meinung, daß die seelischen Eigenschaften der Menschen sich sogar in historischen Zeiten geändert haben. Sehr naheliegend ist auch der Vergleich zwischen der seelischen Entwicklung eines einzelnen (dargestellt durch seine Ingenochrone) und einer ähnlichen Entwicklung der Massenseele im Laufe der Jahrtausende. Die Persönlichkeit. Während wir früher (Seite 12) gesagt haben, schon das Kind sei eine Individualität, haben wir im vorliegenden Abschnitt den einzelnen in seinem Typus aufgehen lassen: Kein Mensch ist ein Eigener, jeder ist einem Typ »entsprungen«, ist t y p o g e n . Wie aber ein Typ vom andern verschieden ist, so erscheint auch innerhalb eines Typs der einzelne vom Nachbar (in Raum und Zeit) verschieden. Der Unterschied zwischen dem Menschen als einem Individuum und als einem Typogenen kann erst erkannt werden, wenn man v i e l e n Menschen gegenübergetreten ist. Man wird »Menschenkenner«, wenn man zunächst T y p e n erkennt. Dem Weltfremden ist jeder einzelne nur eine Persönlichkeit, er

— 169 — sieht und erkennt nicht den Typ in ihm. Wir wissen, daß die meisten Bewohner einer Ortschaft zum größten Teil »gemeinsames Blut« sind; aus mathematisch-biologischer Notwendigkeit. Aber wir wissen auch: So sehr die Blätter eines Baumes einander gleichen, so sind doch nicht zwei Blätter einander wirklich gleich. Dann drückt sich die Individualität aus. Ein Haufen von Eichenblättern, Ahornblättern und Fichtennadeln enthält drei Typen und zahllose Individuen; ähnlich müssen wir uns vorstellen, daß in einem Volke viele Typen, ein jeder mit zahlreichen Individuen existieren. Doch sei betont, daß wir hier von psychischen Typen, nicht von anthropologischen sprechen. Auch ist wohl sicher, daß eine vollständige I d e n t i t ä t zweier Menschen weder im Laufe der Zeit, noch im Raum (also zu einer bestimmten- Zeit) vorhanden ist. Man kann sagen: Die Abweichung des einzelnen von seinem Typ ergibt die Merkmale seiner Persönlichkeit. Ebenso sind die Variationen der einzelnen Typen gegenüber dem Phänotyp des ganzen Volkes das Charakteristische am Typ. So wenig nun alle denkbaren Typen wirklich vorhanden sind, so wenig gibt es alle denkbaren Individualitäten. Dies ist eine Tatsache, ist Wirklichkeit. Wir erinnern uns daran, daß z. B. nicht alle denkbaren Eigenschaften in einem, vorhandenen Grundstoff existieren, daß nicht einmal zu jedem beliebigen Atomgewicht ein Grundstoff möglich ist. (Grundsatz der Diskontinuität und der Mutation.) Die vorhandenen Individualitäten sind also die Träger existenzfähiger Kombinationen von Merkmalen. Ihre Zahl ist praktisch unendlich. Das Aufsuchen der individuellen Eigenschaften der Menschen ist für die zweckmäßige Einordnung in den gesellschaftlichen Betrieb unerläßlich; es ist noch viel wichtiger als die Erforschung der Eigenschaften der achtzig irdischen Elemente! Es besteht übrigens eine merkwürdige Analogie zwischen der Forschung im biologischen und derjenigen im physikalischen Kreis unserer Wissenschaften: In beiden Gebieten sind die Menschen anscheinend zu f r ü h zur Synthese übergegangen — zu einer Zeit, da die Analyse der Elemente noch ganz unvollendet war! Tausende von künstlichen Stoffen sind hergestellt worden, während wir doch noch nicht einmal die Eigenschaften eines einzigen Grundstoffes

— 170 — restlos erforscht haben! Und anderseits: Wir haben eine unendlich verwickelte gesellschaftliche Ordnung aufgebaut, ohne die einzelnen Menschen darin gründlich erkannt zu haben! Dies ist uns Quelle mancher Nachdenklichkeit. Das bekannte Schlagwort »Freie Bahn dem Tüchtigen« ist ein lehrreiches Beispiel für die Oberflächlichkeit unseres »täglichen« Denkens. Wir wollen den »Tüchtigen« als den »Talentierten« auffassen (von den Singulären sei hier abgesehen); wenn wir nun dahin streben, alle Talentierten zu entwickeln, so ebnen wir die Wege für vielleicht den z e h n t e n Teil des Volkes. Die übrigen neun Zehntel, die mittlere oder schwache allgemeine Begabung besitzen — sollen sie auch in Zukunft (wie bisher) blind in das Getriebe der menschlichen Gesellschaft hineinwachsen? — Nein: auch sie müssen »freie Bahn« erhalten, auch ihnen müssen die Wege geebnet werden. Eine unzweckmäßige Einordnung der neun Zehntel des Volkes hat wohl noch schlimmere Folgen als die Erschwerung des Aufstieges der Begabten. Darum sagen wir: F r e i e B a h n f ü r j e d e n ! Und da sich der »Kampf um die Plätze« nicht vermeiden läßt, so drücken wir die Forderung so aus: »Die f r e i e s t e Bahn für jeden!« Die Menschen sollen so durchs Leben wandern, daß dje Summe ihrer Leistungen für das Volksganze möglichst groß werde. Dazu also soll letzten Endes die Erforschung der Anlagen des einzelnen dienen. Wir wollen uns nicht verhehlen: Wir stehen erst am Anfang einer naturwissenschaftlichen Psychologie. Wir kennen weder die Menschen noch die B e r u f e genügend genau. Daher hat die psychologische B e r u f s b e r a t u n g , deren anderes Gesicht heißt: K a n d i d a t e n a u s l e s e , heute noch eine unübersehbare Fülle von Aufgaben vor sich. Aber alle Aufgaben gehen auf diese eine zurück: wir müssen Kenntnis haben von den natürlichen Anlagen eines jeden einzelnen! Als ein höheres Ziel der Begabungsprüfung mag es einst, wenn wir sehr viel mehr Kenntnis von der menschlichen Seele haben werden, erscheinen: Durch besondere »TypenTests« unmittelbar den Typus herauszufinden, dem der einzelne angehört. So wichtig es ist, die gesamte Intelligenz zu kennen, die einzelnen Begabungen und die persönliche Spitzenleistung

— 171 — — entscheidend für die Bewährung im Leben, für die Erfüllung eines Programmes (nicht einer einzelnen Aufgabe) ist doch der p r a k t i s c h e Typ; denn er spiegelt das Hineinstrahlen der P e r s ö n l i c h k e i t in die Masse der Kontypogenen. Gehen wir vpn der Synthese aus, indem wir nach den Spitzenleistungen die Typen aufbauen, so gelangen wir zu Vorstellungen dieser Art: Es gibt »Gedächtnis-Menschen«, ferner »Phantasie-Menschen«, »Konzentrierte Denker« usw. Oder wir können die beiden (relativ zum Milieumittel) größten Anlagen zu einem Doppel zusammenfassen: »Technisch-künstlerischer Mensch«, »Technisch-phantastischer Typ« usw. Doch erscheint es vorläufig als praktisch, die Typen aus der Beobachtung des täglichen Lebens heraus zu entnehmen und sie etwa durch die oben (Seite 149) mitgeteilten acht Kardinaltypen wiederzugeben. Solche praktische Typen werden sich durch besondere Tests feststellen lassen. Ich denke mir diese Typenanalyse als eine volkswirtschaftlich wichtige Aufgabe, die sich in einem Staate mit Milizsystem oder Zivildienstpflicht durch Verbindung mit der Rekrutenprüfung lösen läßt. Indem wir die formell immer zulässige Annahme machen, in jedem Menschen sei jeder Typ in irgendeinem Grade ausgebildet, können wir »Typogramme« der einzelnen relativ zu ihrem Milieu herstellen und die ganze, unseren Ingenogrammen entsprechende Betrachtung durchführen. Wir deuten hier nur clie Anordnung der 8 Typen an: Die 8 »praktischen« K a r d i n a l t y p e n im Milieu der Typogenen. Organisator Künstler Führer

Beamter Techniker Handwerker

Ingenogramm und Typogramm zusammen ergeben dann Charakterisierungen folgender Art: Die Persönlichkeit X ist ein technischer Typ mit der Spitzenleistung im Oktanten »Konzentration «.

Achtes Kapitel.

Die Berufung in der modernen Demokratie. »Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen«, sagt Schiller im Demetrius. Die »wenigen« zu finden, das wäre die ideale Aufgabe einer W a h l d u r c h s Volk. In der modernen Demokratie wird ein Teil der Beamten durch die Bureaukratie gewählt, ein anderer Teil durch die Parlamente aller Art und ein dritter, sehr wichtiger Teil unmittelbar durch das Volk. J e mehr dabei das Volk zu Worte kommt, desto weiter entwickelt erscheint die »Demokratie«. So wählen z. B. die Bürger im Kanton Zürich auch die Lehrer an den Volksschulen; doch nicht die Professoren an den Mittelschulen! Offenbar hat der Gesetzgeber gedacht, man könne dem schlichten Marin aus dem Volke wohl die Entscheidung über die Wahl eines simplen Schullehrers zumuten, doch nicht die eines Professors. Letztere Wahlen hat sich die Regierung vorbehalten. Die Leute, welche »Regierung« bilden, sind aber selbst unmittelbar durchs Volk gewählt. Daher ist die Volkswahl grundsätzlich das Entscheidende. Jedes Volk wählt sich die Regierung, die seine Parteibonzen für gut halten. Das ist die Regierung — die es verdient! Daß die Behörden und Parlamente bei Berufungen selten streng sachlich entscheiden, ist verzeihlich. Stehen doch die Menschen stets unter dem Eindruck bloßer Vorurteile (Psychosen) — viel mehr, als man gewöhnlich glaubt. Die von einem Bewerber um eine Stellung beigebrachten Zeugnisse sind oft nur eine Art Dekoration: es handelt sich darum, durch die Zeugnisse die aus allen möglichen anderen Gründen bestimmte Wahl zu »bemänteln«. Ich will natürlich nicht bestreiten, daß es auch vorkommt, daß man redlich sucht, den besten Kandidaten zu finden. Aber auch dann sind die technischen Vor-

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bedingungen heute meist nicht erfüllt, die Mitglieder der wählenden Behörde richtig zu instruieren. Der Kandidat, welcher nicht durch seine ingenographisc heBiographie, sondern durch seinen »Kurzen Lebenslauf« der Behörde vorgestellt wird, ist ihr so gut wie unbekannt. Die Wahl erfolgt ganz unwissenschaftlich auch dann, wenn der »beste Wille« da ist. Was ist die Folge ? Wir haben in allen Ländern das erbauliche Bild, daß die öffentlichen Betriebe Musterbeispiele für minder gute Leistungen sind. Die Beamten der Städte und Bezirke, der höheren wie der unteren Bureaus sind ja nicht die für das besondere Amt, das sie ausfüllen, t a u g l i c h s t e n , sondern sie sind kunterbunt zusammengelesen. Die ganze Beamtenmaschinerie des modernen Staates ist nach zufälligen und gelegentlich wirksamen, jedenfalls ganz unwissenschaftlichen Motiven aufgebaut. Von einer Berufung auf Grund psychologischer Untersuchung in bezug auf die Eignung ist heute noch keine Rede. Man denkt bei Lehrlingen wohl an solche Untersuchungen; aber der B e a m t e ? Wem Gott (mit Onkels Hilfe) ein Amt gibt — dem gibt er auch den Verstand. — Allenthalben gilt die Sitte, daß der Staatsbeamte eine Lebensstellung hat, mag er leisten, wie wenig er wolle. Der P r i v a t b e a m t e aber wird entlassen, wenn er zu wenig leistet. Dies ist der G r u n d , w a r u m die ö f f e n t l i c h e n B e t r i e b e u n r e n t a b e l s i n d . Muß das so sein? Diejenigen, welche hier an ein ehernes Muß glauben, sind demnach grundsätzliche Gegner aller Verstaatlichung und wollen womöglich auch alle schon verstaatlichten Betriebe, wie die Post, die Eisenbahn usw., wieder in die Hände von privaten Unternehmern überführen. Hier soll nun nicht von allgemeinen staatspolitischen Gründen die Rede sein, welche vielleicht bewirken könnten, daß man trotz der geringeren Rentabilität gewisse allgemeine Betriebe auf alle Fälle dem Staate reservieren möchte; sondern uns tritt die Frage entgegen: Wird nicht, wenn die Berufung der Kandidaten nach psychologischen Gesichtspunkten erfolgt, auf Grund ihrer wirklichen persönlichen und speziellen Eignung für das betreffende besondere Amt, wird nicht dann ein wesentlich anderes Bild entstehen ? — Ich bin überzeugt, daß dem so sein wird. Es erscheint mir als sicher, daß der Vorwurf, die staatlichen Beamten seien f a u l , ganz ungerechtfertigt ist. Nein,

— 174 — sie sind nicht faul, sondern sie sind n i c h t a u s g e l e s e n ! Sic sind auf Grund von ganz unrichtigen Methoden der Berufung in ihre Ämter gekommen. An sich wären sie, wenn man sie alle richtig plazieren würde, so gut und so schlecht, wie eben Menschen im allgemeinen sind. Bei privaten Betrieben wirkt die brutale Auslese so lange, bis die richtigen Menschen mehr oder minder glücklich gefunden sind. Ein älterer Beamter eines Privatbetriebes ist fast sicher ein sehr tüchtiger Mensch in seinem Fache — sonst wäre er schon lange entlassen worden. Ein älterer Beamter eines öffentlichen Betriebes, wie tadellos er auch als Mensch sein möge, ist durchaus nicht sicher ein vortrefflicher Beamter. Man denke z. B. an einen alten P r o f e s s o r an einem Gymnasium. Wie oft kommt es doch (leider) vor, daß dieser Mann trotz seines Alters ein schlechter Lehrer ist. Oder man denke an einen alten Sekretär einer hohen Behörde: er kann unter Umständen dreißig Jahre und länger dem Amte derart vorgestanden haben, daß ganze Generationen von Untergebenen schon die Überzeugung gewonnen haben: wie schlecht taugt der Mann für diesen Platz! Kein Fabrikbetrieb würde sich natürlich ein solches Unikum leisten; Staat und Gemeinde aber leisten es sich; leisten es sich überall, zu Dutzenden, zu Hunderten und zu Tausenden. Dies ist ein wichtiger Teil dessen, was ich das »soziale Deplacement« genannt habe. Man mißverstehe mich nicht. Es ist keine Schande, wenn man einem bestimmten Amt nicht gewachsen ist. Nicht gegen die Menschen soll ein Vorwurf erhoben werden, sondern gegen ein System. Die Berufung auf Grund der persönlichen Ingenogramme soll eben an die Stelle der Hintertreppenpolitik treten. J a , es wäre sogar nicht übel, wenn alle Bewerbungen um Ämter so ausgeschrieben würden, daß die Kandidaten zunächst nur ihre Ingenogramme (»amtlich beglaubigt!«) einreichen müßten. Es soll nicht mehr gesagt werden: »Wir hätten gerne einen Pfarrer für diese Stelle« oder »Wir wollen einen guten Kommunisten dort haben«, was alles überall und z. B. auch in Zürich schon vorgekommen ist. Sondern: die besten Ingenogramme kommen in einen engeren Wettbewerb! Wie aber verhält es sich mit den vom Volk direkt gewählten Beamten in einem modernen demokratischen Staat ? Das

— 175 — Prinzip ist gut, aber der Bürger kann nicht in die Lage versetzt werden, die einzelnen Kandidaten wirklich zu kennen. Also kann er auch nicht sachlich über sie urteilen. An die Stelle des Urteils des einzelnen tritt nun in allen modernen Demokratien das Urteil der P a r t e i . Die »Parteimaschine« wird in Bewegung gesetzt, der Kandidat wird »lanciert«. Ich bin überzeugt, daß man einst nach Jahrhunderten erstaunt sein wird, wie glimpflich wir noch bei solcher Anarchie gefahren sind. Die Regierung, das Parlament und die Richter werden durchs Volk gewählt. Aber in Wahrheit besorgen die verschiedenen Parteisekretäre und Parteioberhäupter die Wahl. Das Volk hat nur zu entscheiden, welche Parteien siegen sollen. Wo der Proporz herrscht, siegen sie alle proportional. Die Gewählten sind auf Grund von persönlichen Beziehungen, auch als Belohnung für geleistete Parteidienste gewählt. Ein Jurist wird Gesundheitsvortsand, ein Schreiner wird Bezirksrichter, ein Pfarrer wird Schulvorstand (wie anno dazumalI). Was kann ein Jurist nicht alles werden! Die meisten Eisenbahndirektoren sind Juristen — auch in der Schweiz! Es fällt mir schwer, meinen Zeitgenossen begreiflich zu machen, wie sehr ein solche!- gesellschaftlicher Betrieb ungemein kostspielig, sinnlos und zweckwidrig ist. Was kann ein einziger Magistrat, der etwa noch ehrgeizig ist, an seine eigene Mission glaubt, alles im Laufe einer Amtsdauer verschulden! Was haben wir namentlich in den Zeiten des Krieges und seiner Nachwehen nicht alles erlebt! Worauf beruht es denn, daß die staatliche Maschinerie so oft untaugliche Beamte bei direkter Volkswahl erhält ? Darauf, daß ihnen meist die besondere berufliche Begabung fehlt! Niemand wird so kühn sein, eine Eisenbahnbrücke durch einen Schneider bauen zu lassen; aber wir finden nichts dabei, wenn ein Advokat die Bahnen leitet. Gewiß, wir wollen nie vergessen, daß die allgemeine Gesinnung des zu einem leitenden Amt durchs Volk berufenen Funktionärs etwas recht Wesentliches ist; und daß jede Partei ein Anrecht hat, so lange überhaupt die politischen Parteien das Land beherrschen, daß ihre Gesinnung zum Ausdrucke komme. Ich denke nicht daran, diesen Anspruch, der in einer idealen menschlichen Gesellschaft einmal ver-

— 176 — schwinden muß, heute zu bekämpfen. Aber was man billigerweise verlangen kann, ist dieses: Eine jede Partei muß bei politischen Wahlen die besonderen Fähigkeiten ihrer Kandidaten in ausschlaggebender Weise berücksichtigen. Ich meine nicht, daß man auf Studien oder Zeugnisse abstellen solle. Sondern ich h a l t e eine eingehende O r i e n t i e r u n g zur E r l a n g u n g von Ingenogranimen f ü r u n b e d i n g t n o t w e n d i g . Kommt es doch oft genug vor, daß eine politische Partei ihren Kandidaten nicht genügend genau kennt. Ja, wepn wir alle Faktoren ins Auge fassen: Wie oft kennt ein Kandidat sich s e l b e r und seine Fähigkeiten ? Wenn ein Mann — möge er nun studiert sein oder nicht — ein nur ;joproz. Ingenogrammgebiet gibt, wie soll der ein Schulwesen leiten oder das Finanzwesen usw. ? Wenn in einem städtischen Parlament Leute sitzen, die »sehr unbegabt« sind, ja solche, die »nur aus Jux« gewählt worden waren (auch das ist vorgekommen !), wie soll da ersprießliche Arbeit entstehen ? •— Wir brauchen also, meine ich, nicht nur eine psychologische Berufsberatung, sondern auch eine psychologische Methode der »öffentlichen B e r u f u n g « durchs Volk.

Neuntes Kapitel.

Proben aus der Seebacher Begabungsprüfung 1920. Es wurden u. a. folgende drei Fragen gestellt: 1. Was ist Hoffnung? 2. Was würdest du machen, wenn du eine Million bekämst? 3. Was willst du werden? Einige der Antworten seien hier wiedergegeben. B r u n o L. schreibt: Hoffnung ist, wenn Leute das Böse rächen wollen oder das Schöne erwarten. Könnte ich plötzlich eine Million erben, so würde ich mir, eine Laute anschaffen und wollte spielen lernen. Zweitens würde ich mir eine Geldsumme, um etwas zu lernen, behalten. Gertrud G. schreibt: Ich würde 200000 Franken an die Gemeinde schicken, um die Schulden zu bezahlen und die Armen zu unterstützen. Meinem Bruder würde ich 100000 Franken geben und mir auch, meiner Mama und meinem Vater den Rest, das sind 600000 Franken. Ich will eine gute und tüchtige Frau geben. Ich kann am besten schwätzen, und auch zum Singen und Klavierspielen habe ich Talent. Hoffnung ist, wenn man nicht immer niedergeschlagen ist, wenn nicht gerade alles nach seiner Meinung geht und wenn man immer noch hoffen kann, es wird anders. Walter S. schreibt: Wenn ich eine Million hätte, würde ich ein Einfamilienhaus kaufen, etwa 1000 bis 2000 Franken, und 4000 bis 5000 Franken den Armen geben. Dann würde ich Lämmel, Intelligenzprufung. 12

— 178 — einige iooo Franken auf die Bank legen und mit dem übrigen Gelde herrlich und in Freuden leben. Ich will auf eine Bank. Später will ich Kassier auf einer Bank werden. Wenn die Bank noch mehr Banken in fremden Ländern hat, will ich auch dorthin. Ich kann am besten rechnen. Hoffnung ist, wenn man den Glauben an den Verschollenen nicht aufgibt. Anna B. schreibt: Ich wüßte nicht, was ich mit einer Million machen müßte. Überhaupt, wenn man so viel Geld hat, ist man nicht glücklich. H, Z. schreibt: Was ich werden will? Ich will kein dummer Soldat werden. Balthasar F . schreibt: Wenn ich eine Million hätte, würde ich das Geld an einem geheimen Ort in der Erde vergraben und nur dann nehmen, wenn ich nötig hätte und würde es gut verstecken, damit sich niemand danach gelüstet. Georg H. schreibt: Die Million täte ich in die Kasse. Ich täte zuerst noch drei oder vier Fußball kaufen, einen Sportplatz und eine Drahtleiste. Ich kaufte dann ein Doppelwohnhaus. Karl S. schreibt: Ich denke manchmal, wenn ich eine Million hätte, so würde ich zwei ganz junge Bären kaufen und dazu noch ein junges Pferd und eine Katze und einen jungen Hund. Ich würde dann noch ein schönes Haus kaufen und würde dann fröhlich leben. Ich will ein Mechaniker werden. Ich kann am besten Schmausen und Fußballspielen. Hoffnung heißt: ich hoffe, daß ich ein Millionär werde. Gruß und Kuß von Karl S. E . H. schreibt: Wenn ich eine Million hätte, täte ich meinen . Eltern iooooo Franken geben und ginge nach Amerika, dann nach Australien, um dort Pferde einzukaufen. Dann" täte ich sie wieder verkaufen. So bekäme ich eine zweite Million. Dann kehre ich wieder nach Hause zurück und will dort gut mit meinen Eltern und Verwandten leben.

— 179 — Ich möchte Mechaniker werden. Wenn einer Mechaniker ist, dann kann er für sich ein Geschäftlein kaufen, und dann kann er Meister in seiner Fabrik sein. Ich hoffe, daß ich einen guten Beruf lerne. Ida 0 . schreibt: Wenn ich eine Million hätte, würde ich es erst ein Jahr lang auf die Bank tun. Dann würde ich die Hälfte holen und ein Haus kaufen. Ein Auto würde ich auch noch kaufen. Ich möchte gerne Schneiderin werden. Ich kann am besten den Leuten Auskunft geben. Hoffnung ist, w e n n m a n j e m a n d e r w a r t e t . Willi S. schreibt: Ich erforsche am liebsten fremde Länder. Willi S. schreibt: Wenn ich eine Million hätte, so kaufte ich ein Haus, ein Velo, und iooo Franken würde ich für Lebensmittel brauchen. Das andere täte ich in die Kasse. Ich kann am besten klettern. Ich hoffe, daß ich nicht verlumpe. Paula H. schreibt: Wenn ich eine Million hätte, wollte ich es schön haben. Ich würde eine wunderschöne Villa kaufen mit einem großen prächtigen Park. Dann würde ich Dienstmägde und Diener besorgen und dann das übrige Geld auf die Bank tun. Ich möchte Klavierlehrerin werden. Unter Hoffnung versteht man, wenn jemand kranker sagt, man will die Hoffnung nicht aufgeben. Paul H. schreibt: Diese Million würde ich der Gemeinde Seebach geben. Ich will Konditor werden. Ich kann am besten Weggli machen. Frieda K. schreibt: Hoffnung ist, wenn man immer denkt, er kommt und er kommt auch. Die Erklärung des 12 jährigen Brunno L., was Hoffnung sei, ist im Gegensatz zu den meisten anderen Antworten eine originelle Leistung. Auch die Erklärung der gleichaltrigen Anna B., sie wüßte nicht, was sie mit einer Million anfangen müßte, ist im Vergleich zu den anderen frommen Wünschen originell. Im allgemeinen darf man bei der Beurteilung dieser Antworten



180



nicht vergessen, daß die Kinder wie ein Echo sind: sie sagen, was sie gehört haben. Dies ist j a der unvermeidbare Nachteil aller Schulung, daß sie die Individualität mit fremden Elementen durchsetzt; sicher wird dadurch auch die E n t w i c k l u n g der Besonderheiten des einzelnen gestört. Dieser erzieherische und nivellierende Einfluß der Schule ist gewiß sehr erwünscht, soweit es sich um unerfreuliche Anlagen des einzelnen handelt. Aber niemand wird bestreiten, daß die gleiche nivellierende Gewalt häufig genug auch die fruchtbaren und wertvollen Besonderheiten des einzelnen unterdrückt. Ein guter Lehrer wird aber stets in der Lage sein, die Besonderheiten der einzelnen zu berücksichtigen. Es wirft gewiß ein gutes Licht auf den Unterricht, den die Kinder in Seebach genießen, wenn man in den Antworten immer wieder die Rücksichtnahme auf die Gemeinde bemerkt. Eine derartige sozialrichtige Einstellung des einzelnen zur Gemeinschaft kann ganz gewiß überall dort, wo sie als organisch verankerte Eigentümlichkeit des Einzelnen erscheint, durch eine dem Gemeinwohl dienende Tendenz des Unterrichtes gefördert werden. Wenn aber Paul H. schreibt: Diese Million würde ich der Gemeinde geben, so klingt dies entschieden weniger vertrauenswürdig als die Absicht des Balthasar F., der sein Geld vergraben will. Die Absicht, von einer plötzlich erworbenen Million der Gemeinde einen gehörigen Teil abzugeben, tritt, außer bei einigen der oben angeführten Antworten, überhaupt bei den meisten Antworten auf. Indessen ist es, trotz dieser Gleichartigkeit, sehr gut möglich, in jeder Antwort eine individuelle Beigabe zu erkennen. Gertrud G. denkt nicht nur an die Gemeinde, sondern auch noch an die Armen, an Vater, Mutter, Bruder; auch an sich selbst, und zwar nicht zuletzt; wie ein gut erzogener Erwachsener tun würde. Hier ist nicht nur ein besonderes Organisationstalent zu vermuten, sondern auch eine bei dei Milieugrenze gelegene geistige Reife, namentlich, wenn man Karl W. damit vergleicht, der sich Pferde, Hund und Bären anschaffen würde. Was soll man aber zu Bruno L. sagen, der sich mit der plötzlich erworbenen Million eine Laute anschaffen will und sich eine Geldsumme zum Lernen »behalten« möchte ? — Ist das nicht ein ganz schlechter Kerl, da er doch weder an die Gemeinde, noch an seine Eltern denkt? Nein, lieber



181



Leser; wenn du dieses Kind sehen würdest, so könntest du nicht anders, als sagen: Das ist ein liebes und gutes Kind. In der Tat handelt es sich um eine offenbar künstlerisch veranlagte Natur. Ich habe ihm im Oktanten »künstlerische Veranlagung« die Note 12 gegeben — im Widerspruch mit meinem eigenen Dezimalsystem; obwohl ja eine starke Dosis Weltfremdheit dazugehört, aus solchen. Antworten auf eine dahintersteckende edle oder aber u n s c h ö n e Seele zu schließen, so gibt es doch ganz gewiß sogenannte »Psychologen«, die dergleichen tun. Irgendwo .im deutschen Sprachgebiet ist ein Professor der Psychologie s t o l z darauf, daß er die jungen Leute, deren Fähigkeiten er untersuchte, persönlich nicht angesehen habe und sich an sie auch gar nicht mehr erinnern könne. Er beurteile eben nur ihre Fähigkeiten und wolle sich durch den persönlichen Eindruck nicht beirren lassen. Hoffentlich gibt es nicht zu viele solcher Psychologen! Jedenfalls steht der Verfasser auf einem ganz anderen Standpunkt. Eine solche psychologische Untersuchung ist so wenig ernst zu nehmen wie briefliche ärztliche Behandlung oder Ähnliches. Der Leiter muß jedes Kind wiederholt einzeln vornehmen, er muß ihm in die A u g e n blicken, er muß sehen, wie es geht und springt, er muß hören, wie es spricht und liest, deklamiert und singt. Niemand kann ernstlich Anspruch darauf erheben, über die Seele eines Menschen Aussagen machen zu können, wenn er nicht dem Menschen selbst von Psyche zu Psyche gegenübergetreten ist. Eine andere Frage, die wir schon wiederholt berührt haben, ist die Trennung des I n d i v i d u e l l e n im Ergebnismaterial der Intelligenzprüfung vom K o n t a g i ö s e n ( = durch die Umgebung eingepflanzten Stoffes). Die Seebacher Intelligenzprüfung zeigte sehr klar einen starken Einfluß der Lehrer, einen viel geringeren Einfluß der Eltern auf die Vorstellungswelt der untersuchten 10- bis 12jährigen Kinder. Ich erinnere daran, daß der bekannte hervorragende Ethiker F. W. F ö r s t e r in seiner »Jugendlehre« von der Selbsterkenntnis der Kinder wunderschöne Züge berichtet. Er läßt die Kinder ihre eigenen Fehler angeben; und siehe: die Kinder erkennen genau, daß sie lügen, naschen, nicht folgsam sind usw. Dem gegenüber



182



muß unser naturwissenschaftlich orientierter Standpunkt betont werden: Das Kind hat j a gar nicht die nötige geistige Reife, um sich zu erkennen. Sich selbst verstehen und erkennen ist das Letzte und Höchste, wohin der Mensch gelangt. Man merkt hier wieder den alten Irrtum von einer im Kinde schon vorhandenen »fertigen Seele«. So wird die Trennung des Kontagiösen vom Individuellen zu einer Hauptaufgabe dessen, der jemand psychologisch analysieren will. Man begreift wieder in aller Schärfe, daß man über jeden Menschen nichts aussagen kann, wenn man nicht das Milieu kennt, in dem er gewachsen ist. Aus einer einzelnen der Seebacher Arbeiten könnte man ganz irrige Schlüsse ziehen. »Diese Million würde ich der Gemeinde geben« ist kontagiös zu erklären und kommt für die Beurteilung des Kindes nur indirekt in Betracht. Insoferne nämlich, als sich hieraus ergibt, daß das Kind, infolge der Schul-Erziehung, eine zumindest v e r s t a n d e s m ä ß i g e s o z i a l e E i n s t e l l u n g h a t . Man wird dies begrüßen; daß aber kein einziges der untersuchten Kinder eine besondere Verwendung der »Million« vorschreibt, läßt ebenfalls allerlei Schlüsse zu; unsere Lehrer fühlen sich immer noch zu sehr verpflichtet, im herkömmlichen Sinn zu »unterrichten«. Wir müssen aber dahin gelangen, daß die Kinder auch von den Sorgen, Plänen und Wünschen der Gemeinde etwas hören — wie sie j a auch in der Familie von Leid und Freude nicht ausgeschlossen sind. Politische Beeinflussung muß natürlich völlig unterbleiben.

yius der Seebacher Intelligenzprüfung (1920)

— 184 —

Aus der Seebacher Klasse Heller

13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 3 24 25 2

; Blick

7 6

4 7 6

!

9 6

7 9 5 9

Reife

7 8 8

Kritik

9 10 11 12

5

5

4 8 8

6 8 8

6

5 10 8 8 6 6

Kunst

7 8

9 8 6 10 8 8

6

Phantasie

3 4 5 6

7 8 8

Konzentration ]

j Gedächtnis

1 2

Techn. Anlage

\

Zensuren:

Nummer

5. Klasse

Mädchen

Tabelle I.

6 6 8 6

5 7 7 6

7 7 6

9

9

9

7 7 5 7 9

5 6

4 7

9 5 8

4 5 9

7 10

7 10

4 5 10 6 10

5 6 10 6 10

6

6

7 9

7 8

8

5 7 6 8 8 8

5 5 8

7 6 8

7

6

6 8

175

180

9 8

7 7 6

10

9

7 9 6 10

7 8 10

5 8

7 8

6 6

9

8

7 9

7 6

4 9

4 8

5 6

7 10 10

5

8 6 6 6

5 6 8

4 6 8

5

5 8 6

9 9 7 . 9 8

7 4 4 7 5 8 8

7 6 8 6 6 10 6

7 6 4 8 8

3 4 6 5 3 3 7

10 7 10 5 8 9 4 8 6 6 7 7 8 6

Summe

209

1C9

174

171

144

165

Durchschnitt

8,4

6,8

7.0

6,8

5,8

6,6

7-0

7,2

Generalmittel

8,1

6,6

6,7

6,6

5-1

6,1

6,7

6,6

44 58 63 51 72 45 60 44 51 73 50 79 47' 58 69 42 59 44 55 53 57 53 42 60 58 1387

— 185 —

Intelligenzprüfung (1920). (nur Mädchen).

—o,i —2,1 1,9 o,i o,i °,9 —o,i 1,9 —1,1 —o,i 1.9 o,9

—o,6 0,4 i.4 i,4 2,4 —0,6 °>4 —o,6 0,4 °>4 —o,6 2,4 — 1,6 1.4 2,4 °,4 -o,6 — 1,6 0,4 —2,6

—i,7 °,3' 2,3 —i,7 2,3 —2,7 o,3 —°,7 o,3 2.3 —'°,7 3,3 °,3 i.3 i,3 —0,7 —0,7 —o,7 °,3

1,9 1,9 °,9 0,9 °,9 —i,I

M 1,4 -1,6

—o,i

1,4

—o,7 —o,7

23,3

3°,°

°,9

'm

es Ö t« ja PH —o,6 —o,6 1.4 —o,6 2,4 o,4 °,4 —1,6 o,4 2,4 o,4 3,4 —o,6 —o,6 1,4 —2,6 2,4 -2,6 —o,6

cn C 3 M

Blick

— 1,1 — 0,T —0,1 0,9

"ö < d o CD H

Reife

•O o O

7 °,7 3,3 3.3-

— 1,1 1,9 1,9



186



Aus der Seebacher Klasse Heller

Gedächtnis

Techn. Anlage

Konzentration i

Phantasie

Kunst

Kritik

Reife

Blick

Zensuren:

Obertrag 209

169

174

171

144

165

175

180 1387

7 8 10

6 8 8

6 8

2 6 10

5 7 9

5 8 10

9 2

9

3 2 2

5 8 10 6

6

52

4 3'

3

4 4 6 6

3° 36 61

Nummer

5. Klasse

Mädchen

T a b e l l e II.

26 27 28 29

6 8 10 8

30

7 9 10

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

9 10 8 6

4 8 6 6 8 6

4 3 8 7 8

5 8 6

7 5 6 6 6

4 9 8

4 8 8

5 6 6

7 3 10 6

9 8 4 7 7 7 9 7 4 8 8

7 4 6 6 1

3

7 7 6 6

4 8 7 8 7 3 7 8

4 5 6 6

6

3 8

4 8

9 6 1

6

42 61 76

53 62 55 3i 48 55 53 29 62

41 42

7 6 8 6 10 8

43

7

44 45 46

4 8 8

47

7

4 6

Summe

170

141

142

138

96

121

138

131 1 0 7 7

Durchschnitt

7.7

6,4

6,5

6,4

4.4

5,5

6,4

6,0

Gen.-Somme

379

310

316

309 240

286

313

3 1 1 2464

Beneralmittel

8.1

6,6

6.7

6,6

6,1

6,7

6,6

7 2

4 4 6 2

7 6 6 6

4 4 4 5 4 6

5

4 4 4

4

4

5 3

5,i

7 6 4 6 5

8 7 5 8

9 8 4 8 6 6 6 4 5 3

55 48 39 50 43 36

— 187 —

Intelligenzprüfung (1920). (nur Mädchen). Abweichungen vom Mittel: CD

60

M 'S