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German Pages 252 [245] Year 2021
Frank Witzleben
Integrität und Freiheit Transformationen der Sozialität
Frank Witzleben
Integrität und Freiheit
Frank Witzleben
Integrität und Freiheit Transformationen der Sozialität
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Inhalt 1 Einleitung .............................................................................................................................................9 Integrität: Modelle und Phantasmen der Sozialität ......................................................................9 2 Politisch-anthropologische Konstellationen ..................................................................................19 2.1 Zwei Grundmodelle der Sozialität: Gehorsam versus Selbstverpflichtung ......................19 Resümee I.................................................................................................................................26 2.2 Autonomie: ein Überblick ......................................................................................................30 2.2.1 Zugehörigkeit – Ein Ausflug in Ethnologie und Anthropologie............................31 2.2.2 Nichtstaatliches und staatliches Recht – Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit .........................................................................................................42 2.2.3 Dispositionen der Sozialität – Die symbolische Organisation des Selbst .............47 2.2.4 Modi der Anerkennung ...............................................................................................55 Resümee II ...............................................................................................................................72 2.3 Das Arsenal der Integritätsverweigerungen ........................................................................73 2.4 Vertrauen ..................................................................................................................................80 2.5 Vertrauen in naturalistischer und konsequentialistischer Hinsicht..................................86 Resümee III..............................................................................................................................91 2.6 Psychologie der Loyalität ........................................................................................................92 2.7 Loyalität als Rechtsbeziehung ................................................................................................94 Resümee IV..............................................................................................................................96 3 Rechtskonstellationen .......................................................................................................................99 3.1 Das Recht an der eigenen Person...........................................................................................99 3.2 Das Öffentliche und das Private.......................................................................................... 103 3.2.1 Entgrenzung des Äußeren und des Inneren der Person ...................................... 103 3.2.2 Integritätsverletzungen im Internetzeitalter .......................................................... 107 3.2.3 Öffentlichkeit zwischen Staat und Gesellschaft ..................................................... 110 3.2.4 Die zivilisatorische Macht des Öffentlichen........................................................... 116 Resümee V ............................................................................................................................ 130 4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte..................................................................... 133 4.1 Bewährung und Versagen .................................................................................................... 133 4.1.1 Selbstüberschätzung, Selbstverlust und Selbstverachtung ................................... 135 4.1.2 Gehorsam, Charakter und Zerrissenheit................................................................ 140 5
4.1.3 Indifferenz und Abspaltung: Der Fall der Grausamkeit gegen andere ............... 147 4.1.4 Zur Kritik am Milgram-Experiment....................................................................... 151 4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung ........................................................... 153 4.2.1 Werte-Immunisierung der Gemeinschaft und des Selbst .................................... 153 4.2.2 Individuelle Schuld und kollektives Beschweigen: zwei Beispiele ...................... 156 4.2.3 Vulnerabilität und Resilienz ..................................................................................... 162 Resümee VI........................................................................................................................... 168 5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht.................................................................. 171 5.1 Die zwei Deutungen des Politischen und die Politik ....................................................... 171 5.2 Handlungsmacht und Freiheitsbedürfnis .......................................................................... 181 5.3 Paradoxien der Macht: Recht als Korrelat der Macht – Macht vs. Gewalt.................... 184 5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft? ...................................................................... 188 5.4.1 Integrität, Personstatus und Sozialität .................................................................... 188 5.4.2 Ist Integrität verhandelbar? ...................................................................................... 192 5.4.3 Substitute und unvollständige Substitute der Integrität ....................................... 196 5.5 Selbstachtung, Selbstverrat und Ideenverrat ..................................................................... 206 5.6 Delegitimation: Dissidenz, Pseudo-Dissidenz, Widerstand und Rebellion .................. 210 Resümee VII ......................................................................................................................... 214 6 Sphären der Integrität: Das gelungene, das gute, das gerechte Leben ..................................... 217 6.1 Grenzen der Normativität.................................................................................................... 217 6.2 Konstruktive Entwicklung des Integritätsbegriffs ............................................................ 224 6.3 Selbstachtung und Selbstübereinstimmung: Widersprüche und Kontrafaktizität....... 232 Literaturverzeichnis ........................................................................................................................... 237 A Monographien und Buchbeiträge ......................................................................................... 237 B Zeitschriftenaufsätze, Berichte, Enzyklopädien, Dokumente, Medien ............................ 245 C Rechtsquellen ........................................................................................................................... 248
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Dem Streit von Erwachsenen.
Für Laura und Franca und Petra, der Mitwanderin durchs Jahr, die geistige Abwesenheit geduldig ertragen hat.
1 Einleitung Integrität: Modelle und Phantasmen der Sozialität Integrität zu denken bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Noch um einiges schwerer fällt die differenzierte Anwendung des Begriffs, wenn diese nicht von einem abstrakten Moralismus oder von einer pauschalisierenden Gesellschaftskritik getragen sein soll, die z. B. Korrumpierbarkeit generell als ein Spezifikum einer Gesellschaftsform oder einer bestimmten Gesellschaft unterstellt. Im alltäglichen Umgang taucht der Begriff recht selten auf. Wir würden uns in unserem Normalumfeld schwer damit tun, eine Person als integer oder auch als nicht integer zu bezeichnen. Im letzteren Fall fällt dies natürlich leicht, wenn offensichtliche Rechtsverletzungen oder gar Menschheitsverbrechen vorliegen. Dabei zeigt sich schon eine recht komplexe Verschränkung zwischen dem Problem der Integrität und der Frage der Gerechtigkeit. Aber auch im Falle eines uneingeschränkt positiven Urteils, wenn also eine Person als ‚absolut integer‘ bezeichnet wird, so scheint eine solche Aussage doch sehr gewagt. Das Gefühl wäre nicht unberechtigt, ein Urteil zu fällen, welches nicht hinreichend untermauert werden kann, weil der eigene Erfahrungsausschnitt und der des Bekanntenkreises notwendigerweise beschränkt ist. Selbst Biografien und Autobiografien von Lebenden oder längst Verstorbenen sind bekanntlich keine zuverlässigen Zeugnisse. Nachrufe könnten eine schöne Quelle für Vorstellungen von Integrität sein, doch sie offenbaren vor allem ein tiefes Bedürfnis der Hinterbliebenen und der Gesellschaft auf der Suche nach Integrität. Es geht also auch um ein erkenntnistheoretisches Problem: Integrität taucht nirgends in der Reihe unserer Erfahrungen und empirisch gesicherten Vorstellungen auf, genauso, wie auch Wahrheit nicht Teil einer Aussage ist, sondern eine allgemeine Qualität, die an ihrer Form und ihrem Inhalt festzumachen ist. Der begriffliche Gehalt tritt von außen hinzu und muss sich rekonstruktiv wie projektiv bewähren. Daher bedarf es konkreter Beispiele aus Geschichte und Gesellschaft, um Verallgemeinerungen auf sicheren Boden zu stellen. Doch auch ganz unabhängig von sprachlichen Akten der Zuschreibung oder Bestreitung von Integrität existiert häufig ein sicheres Gefühl davon, ob eine Person als integer erscheint oder ob Zweifel daran berechtigt sind. Die Erfahrung der Bestürzung, wenn eine vermeintlich gut gekannte Person auf einmal nicht mehr vorbehaltlos als ein ganzes Wesen auf uns wirkt, ist real. Der phänomenologische Eindruck von Zerrissenheit ist dann unleugbar und kaum kompensierbar. Es geht dabei in erster Linie nicht um psychologische Bewertungen, sondern um die enttäuschte moralische Gewissheit. Und auch wir selbst werden nicht darauf verzichten wollen, 9
1 Einleitung
uns als Ganzes zu sehen. Sicher lassen sich bestimmte Haltungen und Handlungen benennen, die zur Integrität beitragen oder diese in Frage stellen. Auf eine Person als Ganze bezogen, verlassen wir uns wahrscheinlich eher auf ein mehr oder weniger klares Gefühl, weil wir ja nicht alle Besonderheiten einer Person und ihres Lebens erfassen können. Und wer dies versuchte, würde sich dem Vorwurf aussetzen, dass er genau in den Bereich eingreift, der die Identität, d. h. ihr je besonderes Personsein, verletzen würde, indem er nämlich die betreffende Person einer übermächtigen Zuschreibung aussetzt. An dieser Stelle wird ansatzweise schon der Unterschied zwischen den Vorstellungen von Integrität und Identität deutlich, der später theoretisch vertieft werden muss. Identität muss als im Wandel befindlich verstanden werden, als ein Konzept, das eine Entwicklungs- und Lerngeschichte beinhaltet. Im Unterschied zu Identität beinhaltet Integrität einen Bezug zum Leben der Person als Ganze auch in moralischer Hinsicht. So können wir zwar ohne Probleme von der Identität eines Mafia-Bosses reden und dessen Charaktermerkmale in allen möglichen Hinsichten differenziert betrachten. Das wird nicht gelingen, wenn es um Integrität geht. Die Rede von einem integren Mafia-Boss ist augenscheinlich in sich widersprüchlich, außer man beschränkt sich auf das Wertesystem, das ausschließlich in seinem Clan gilt. Dann würde der Begriff jedoch im ethischen Sinne leer sein und zu einem beliebigen Etikett einer beliebigen Gruppenmoral werden. Selbst ein konkurrierender Clan könnte bei entsprechenden Zuschreibungen schon anderer Meinung sein. Die Frage nach der Integrität einer Person erlaubt jedoch keinen tiefgreifenden Relativismus. Die Sprache der Integrität, so ist hier schon zu vermuten, muss in gewisser Hinsicht universell sein, indem sie auf Maßstäbe rekurriert, die zwar kulturell verankert sind, aber dennoch auf etwas Allgemeines verweisen. Diese komplexe Beziehung wird zu klären sein, doch dies muss in Annäherungsschritten erfolgen. Die moraltheoretischen Versuche, moralische Integrität anhand rein formaler Kriterien der Kohärenz und Widerspruchsfreiheit zwischen personalen Selbstverpflichtungen und sozialer Moral sowie an der konsequenter Orientierung an selbstgewählten Prinzipien zu definieren, kann in sozialphilosophischer Hinsicht nicht genügen, weil den Bedingungen der Konstitution der Person in Bezug auf die allgemeinen Bedingungen der Sozialität nicht Rechnung getragen wird.1 Das universalistische Kriterium unparteiischer Beurteilung im Sinne der kantischen Moraltheorie kann nicht unter allen Bedingungen eingefordert werden. Der Einstieg in das Thema soll aus diesem Grunde auch über das Feld der politischen Anthropologie erfolgen. Der Begriff der Integrität ist zunächst ausgehend vom Gefühl unserer Ganzheit zu klären. Um ein fundamentales Missverständnis gleich von vornherein zu vermeiden: Ganzheit ist nicht zu
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Die Argumentation in dem Aufsatz Integrity von L. Mcfall (1987) betont die Kohärenzbedingungen moralischer Integrität, lässt jedoch Raum für eine Konzeption personaler Integrität, die dort anzunehmen ist, wo eine Person ‚richtig‘ entscheidet, ohne allgemeine Prinzipien der Moral in Anspruch zu nehmen (vgl. dazu: ebd., 14).
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Integrität: Modelle und Phantasmen der Sozialität
verwechseln mit Einheit. Einheit wird philosophisch und psychologisch leicht mit einer Vorstellung von Harmonie verbunden. In der philosophischen Anthropologie H. Plessners nimmt ein christlich geprägter Begriff der Würde eine zentrale Stellung ein. Dieser umfasst für ihn „[…] die Idee einer Harmonie der Seele und zwischen Seele und Ausdruck, Seele und Körper […]“. Das „Ganze der Person […]“ stellt sich im „Einklang ihres Inneren und Äußeren“ dar (Plessner [1924], 69/2002, 75). Für den hier zu entwickelnden Integritätsbegriff wären die von Plessner in Anspruch genommenen Voraussetzungen des Würdebegriffs zu stark. Ebenso wenig können rechtstheoretische Würdekonzeptionen unmittelbar auf den Integritätsbegriff bezogen werden, weil damit eine normative Überlastung im Rahmen eines Projektes verbunden wäre, das an Sozialphilosophie und politischer Philosophie ausgerichtet sein soll. Einer moraltheoretischen Letztbegründung wird damit nicht Genüge getan, doch das kann auch von Vorteil sein. Die Ineinssetzung von Personbegriff und Würdebegriff bliebe zudem auf den christlich-abendländischen Kontext begrenzt.2 Was im Sinne Plessners als harmonisch zu verstehen wäre, liegt jedoch ganz im Bereich des subjektiven und vermutlich auch ästhetisch beeinflussten Empfindens; sogar eine rein phantasmatische Deutung ist nicht auszuschließen. Das Gefühl der Ganzheit kann uns auch täuschen und insofern ist es völlig korrekt, unsere Wahrnehmung und unser Gefühl daraufhin zu befragen, worauf diese denn beruhen. Der Sprung vom Erscheinen für uns zu einer sachlich begründeten Aussage ist jedoch recht groß. Gibt es da überhaupt etwas, das zum Bau einer Brücke zwischen unserem Gefühl und einer begründeten Aussage beitragen könnte? Oder ist die Bewertung von Integrität hoffnungslos reflexiv in dem Sinne, dass eine jede Person alleinige Urteilskompetenz in Aussagen über ihre Integrität besitzt?3 Doch was wird dann aus unserer mehr oder weniger geteilten Moral und aus dem Recht zur Verurteilung einer Person vor aner-
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Zu der christologisch begründeten Unterscheidung von äußerer und innerer Person, von Thomas v. Aquin über Meister Eckhart bis Kant und Hegel, siehe: T. Kobusch, in: F.-X. Putallaz/B.-N. Schumacher, Hrsg., (2008, 145–155). Die Vermutung, dass die Idee der Menschenwürde schon mit der Herausbildung einer auf die Transzendenz bezogenen Seelenvorstellung in der Achsenzeit (ca. 800–200 v. Chr.) verbunden sein könnte und insofern einen sakralen Hintergrund besitze, muss wohl spekulativ bleiben. (Siehe hierzu: H. Joas, 3. Aufl. 2012, sowie ders., 2015). In rechtstheoretischer Hinsicht ist es indes erforderlich, den Begriff der Würde kategorial vom sakralen Begriff der Seele zu unterschieden. Die Begründung allgemeiner Menschenrechte kann schwerlich auf spezifischen Seelenvorstellungen aufbauen. Die Frage der Deutungsmacht wird im Kap. 5) zum Thema Macht einzubeziehen sein. Die Mausoleen von Staaten verraten einiges über ihre Deutungsmacht und ihre Haltung zur geschichtlichen Wahrheit. Autoritär ‚geglättete‘ Erinnerungspolitik beraubt Menschen ihrer Geschichte und ihres Anspruchs auf Entschuldigung, wo immer Regierungen Verbrechen gegen ihre eigene Bevölkerung begangen haben. Die allgemeine bzw. offizielle Akzeptanz einer Deutung darf daher nicht als Wahrheitskriterium missverstanden werden. Hier könnten biografisch orientierte und auf geschichtswissenschaftlicher Forschung beruhende Deutungsansätze weiterführen.
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1 Einleitung
kannten Instanzen der Rechtsausübung? Und auch die Frage des Gewissens ist davon betroffen. Im Lateinischen ist der Begriff der con-sciencia etymologisch als das Mitwissen zu verstehen, das Wissen also, dem wir in den Augen der Anderen ausgesetzt sind und denen gegenüber wir uns immer in irgendeiner Weise offenbaren, qua Rede, Mimik, Gestik, Haltung, Handlung, Anwesenheit und Abwesenheit, weil wir auch immer öffentliche Wesen der unaufhebbaren Teilhabe sind. Nur der Tod befreit uns davon, jedoch nur uns selbst, denn die imaginierte Teilhabe in der Erinnerung der Anderen bleibt ein wichtiges Element der Sozialität, solange wir nicht vergessen werden. Ahnenkulte, familiäre Erinnerungen und Gedächtnispolitik bilden eine tiefe Schicht jeder Gesellschaft; die Art der Gestaltung kann uns mit deren Selbstverständnis vertraut machen. Natürlich lässt sich eine für ihre erfolgreiche Berufs- und Vereinstätigkeit und ihr auch finanziell sehr aufwändiges soziales Engagement bekannte Person, die als respektabel geschätzt wird, dennoch nicht als integer ansehen, wenn herauskommt, dass ihre großzügigen Projekte mit Geldern aus Steuerbetrug finanziert wurden. In solchen und anderen Fällen der Devianz, d. h. des Verstoßes gegen Gesetze, würden die zunächst vorbehaltlos anerkannten positiven Charaktereigenschaften gegen eine konkrete Handlungsweise abgewogen werden müssen und zu einer Revision des Gesamturteils nötigen. Und dabei würde die zweifellos hervorragende Leistung einer Person, im Verein oder im Beruf oder in beiden, zu denken geben, wenn es um ein insgesamt gerechtes moralisches Urteil gehen soll. Doch lässt sich weder das Eine noch das Andere ausblenden, wenn die Frage nach der Integrität ernsthaft gestellt wird. In weniger schwerwiegenden Fällen des eigenen Lebens stehen wir in unserem Verhältnis zu uns selbst geradezu täglich vor der Frage, wie wir manche unserer Denk- und Handlungsweisen, die wir aus guten Gründen eigentlich ablehnen, um sie dann doch zu praktizieren, in unser Gesamtbild von uns selbst integrieren (können) und um welchen Preis wir dieses tun. Bei der Untersuchung des Begriffs der Integrität kann es also nicht um die Einkreisung eines Ideals gehen, etwa davon, wie ein Leben ohne Fehl und Tadel auszusehen hätte. Es geht vielmehr um die Frage der Konstitution eines für uns und andere erkennbaren Selbst einerseits und um die Angebote bzw. Verweigerungen von Integrität andererseits, die der spezifischen Kultur und Gesellschaft zuzurechnen sind. Dabei sind zwei Blickrichtungen einzunehmen: die der Konstitution von Integrität und die ihrer Restitution. Eine Beschränkung auf partielle Integritäten, die einfach zu addieren oder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen wären, kann daher dem Begriff nicht gerecht werden. Für die einzelnen Bereiche des Lebens, die Vielfalt der Rollen in der Gesellschaft, stehen wertende und empirisch begründete Begriffe zur Verfügung wie Professionalität, Kreativität, Verantwortungsbereitschaft und andere mehr. Deren Vorteil ist es, dass sie an Kriterien anknüpfen, die zwar nicht immer eindeutig und unstrittig sind, aber in ihren spezifischen Kontexten eine gewisse Orientierung geben können. Im Begriff der Sozialität (Gesellschaftlichkeit) sind alle diese Komponenten zusammengeführt. Im Unterschied zum Begriff der Gesellschaft, der ohne Bedenken neutral-deskriptiv verwendet werden kann, verbinden sich im Begriff der Sozialität 12
Integrität: Modelle und Phantasmen der Sozialität
allgemeine normative Elemente einer Kultur mit deren Anforderungen und Gewährleistungen von Personalität. Schon bei diesem nur hinführenden Blick zeigt sich, dass wir es bei dem Thema Integrität mit einem dichten Bündel von Fragen zu tun haben. Zu solchen Fragen gehört die nach der Person, was wir also unter ‚Person‘ (ihrer Identität im Unterschied zu ihrem ‚Menschsein‘) im philosophischen Sinne verstehen, dann aber auch die Frage nach der Persönlichkeit im psychologischen Verständnis. Der letztere Fragebereich ist hochgradig kulturell imprägniert, denn wie die Anforderungen und Ideale an die Entwicklung von Persönlichkeit konkret aussehen, ist geschichtlich, gesellschaftlich, politisch und von den Lebensformen einer Kultur entscheidend mitbestimmt. Nicht zuletzt stellt sich, wie am obigen Beispiel deutlich wird, die Frage nach der Moral. Diese ist genuin mit weiteren Fragen verbunden, z. B. der nach der Verantwortung für unser Tun, der nach unserem Urteilsvermögen, unserer Freiheit und unserer Entscheidungsfähigkeit, welche in unserem Willen gründet, aber auch auf äußere Grenzen stößt. Wir stehen mit diesen Fragen daher auch inmitten der politischen Philosophie, denn wer wollte es leugnen, dass unsere Optionen auf die Dinge der Welt, an denen wir Anteil haben wollen, und auf uns selbst, d. h. unser Leben als Ganzes, nur in einem politischen Horizont eine Bedeutung haben können? Wie immer eine Gesellschaft aussehen mag, sie wird von menschlichen Wesen gestaltet, die sich als politisch verstehen müssen, weil sie über den Tag hinaus die faktischen Gegebenheiten mit einer gewünschten und realisierbaren Zukunft verbinden müssen. Die Ziele, die Mittel und Wege unterliegen dem Streit. Das macht das Politische des Menschen aus. Über diese politische Dimension hinaus kommt uns in bestimmten Augenblicken der Selbstehrlichkeit auch die Frage in den Sinn, welche Stellung wir in der Welt einnehmen und wie wir dem begegnen, was wir als Anforderung der Welt allgemein und der sozialen Mitwelt im Besonderen an uns wahrnehmen und empfinden. Mit anderen Worten: Das Problem der Integrität beinhaltet nichts Geringeres als die Frage nach unserer Person in ihrer Ganzheit und deren Gefährdung. Wer sich entscheidet, dieser Frage für sich keinerlei Bedeutung beizumessen oder diese nur punktuell und nach Bedarf aufzuwerfen, z. B. wenn er sich über die mangelnde Integrität einer anderen Person oder einer Institution beschwert, die in seine Person und ihre Rechte auf unangemessene Weise eingreift, der verweigert sich einer wesentlichen Einsicht: Er versteht nicht, dass es einen fundamentalen Zusammenhang gibt zwischen der Art und Weise, wie er selbst lebt und wie Individuen in einem gesellschaftlichen Miteinander überhaupt ein Leben führen können. Dabei dürfte klar sein, dass es bei dem Problem der Integrität nicht um einen mehr oder weniger kontingenten historischen oder biografischen Zusammenhang eines irgendwie geglückten Lebens geht, sondern um einen sehr spezifischen Modus des Selbstseins. Dieser ist in differenzierten Annäherungen zu klären. Dabei spielen die spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, von denen Individuen mehr oder weniger stark überwältigt, aber auch gestützt werden können, eine besondere Rolle. Die hier vorgelegte Untersuchung nähert sich diesem Thema daher auf dem Wege sowohl ge13
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sellschaftstheoretischer als auch anthropologisch-ethnologischer Reflexionen. Vorstaatliche Gesellschaften werden dabei genauso in den Blick genommen wie Verhältnisse der institutionellen Unterdrückung und Demütigung, wie wir sie z. B. vom Kolonialismus oder auch gegenwärtigen formierten und autoritären Gesellschaftssystemen kennen. Daher werden rechtstheoretische und rechtsphilosophische Aspekte, die das Verhältnis des Bürgers zum Staat und umgekehrt betreffen, ebenfalls einzubeziehen sein, denn jede Form der Integrität setzt ein in der Gesellschaft oder Gemeinschaft verankertes Personsein voraus, das mit einer Abgrenzung von Machtsphären und Rechtsregelungen formeller und nicht-formeller Art verbunden ist. Der Einstieg in das Thema erfolgt aus diesem Grunde auch über den Weg der Staatsphilosophie der Neuzeit und der Aufklärung. Die idealtypischen vertragstheoretischen Entwürfe von Hobbes und Rousseau erlauben eine Gegenüberstellung von Begriffsinstrumentarien, von denen auch heutige Diskussionen noch zehren. Diese betreffen den Rahmen der äußeren Integrität der Person im Staat in Abgrenzung von der inneren Integrität der Person im moralischen Sinne. Die Korrespondenz dieser Sphären der Integrität ist dabei von besonderem Interesse für die Frage der Freiheit. Der weitere Weg des Denkens führt dabei über einige Felder, die teils gut bearbeitet, teils für das Thema neu zu erschließen sind. Diese sind die Anthropologie, die politische Theorie, die Rechtsphilosophie und Moraltheorie (insbesondere Kants) sowie die Individualpsychologie. Das Verhältnis von Integrität und Freiheit wird am Ende unter machttheoretischen Fragen und mit Blick auf das Spannungsverhältnis von Normativität und Selbstdeutung in der Moderne vertiefend reflektiert. Dem Leser/der Leserin ist abverlangt, diesen mitunter verschlungenen Weg mitzugehen. Dabei wird sich, wie ich hoffe, auch ein Erlebnis der Klarheit einstellen. Die Schritte sind dabei mit Sorgfalt zu setzen. Die Wegweiser auf diesem Pfad sind dabei größtenteils in unserer gemeinsamen Sprache gesetzt. Wir müssen sie nur zu deuten wissen. Eine methodologische Bemerkung soll diese Einleitung abschließen. Der Fokus meiner Überlegungen liegt auf der Bedeutung der Integrität für unser Leben. Ich nehme diese Frage nicht einseitig als individualpsychologisches Problem auf, sondern stelle sie in den Zusammenhang eines im weitesten Sinne sozialökologischen Denkens, das auf die Erkenntnisse verschiedener Disziplinen angewiesen ist. Dies geschieht in der Hoffnung, einen roten Faden sichtbar machen zu können, der aus verschiedenen Blickwinkeln erkannt werden kann, ohne der Versuchung zu erliegen, daraus einen Lebensratgeber für ein integres Leben zu flechten. Die Erwartung, dass am Ende ein monistisches Konzept, sozusagen ein spiegelblanker Begriff der Integrität vor uns stehen wird, darf getrost schon am Anfang dieser Untersuchung enttäuscht werden. Unser Leben und unsere Lebensweisen sind mit dem Zustand der Welt, wie sie ist, auf vielfältige Weisen verflochten. Der Zustand der Welt, wie wir diese erleben, sei es unmittelbar durch die Auswirkungen unserer Lebensweise und Moral, sei es durch die vielfältigen Kanäle medialer Vermittlung, nötigt uns zu der Suche nach gültigen Gesichtspunkten menschlicher Selbstbetrachtung. Diese können nicht einfach universell deduziert werden. Die linguistischen und 14
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expressiven Codes der Moral sind unüberschaubar vielfältig. Die Integrität der Person spielt jedoch in allen Kulturen eine Rolle, die auf organisierter und erprobter Sozialität beruhen. Auf welche Handlungsformen, Inhalte und Normen sich indes Integrität stützt, hängt von historisch kontingenten Faktoren ab. Transformationen der Sozialität, von denen alle menschlichen Gesellschaften betroffen sind, stellen das Integritätsverständnis ihrer Mitglieder immer wieder auf die Probe. Daher ist Integrität keine Einbahnstraße, die nur aus der Richtung des Individuums befahren werden darf. Wir kommen an denen nicht achtlos vorbei, die aus einer anderen Richtung kommen. Und auch eine Moralphilosophie, die sich ausschließlich für das Richtige und das Falsche und das Gute und das Verwerfliche interessiert, hält vielleicht wichtige, aber nur zu grobe Wegweiser bereit. Ohne den Blick auf die in der conditio humana angelegten Haltungen der Unterstützung, der Indifferenz und der Verletzung lassen sich die mit der Frage der Integrität verbundenen sozialphilosophischen Herausforderungen nicht angemessen analysieren.4 Das Bild einer unübersichtlichen Landschaft scheint fürs Erste angemessener. Es gibt vielfältige Erhebungen in dieser Landschaft, aber keinen höchsten Aussichtspunkt mit Panoramablick auf alles. Die philosophische Anthropologie deutscher Tradition ist in dieser Hinsicht immer etwas zu anspruchsvoll, aber auch isoliert gegenüber der empirischen Anthropologie/Ethnologie der amerikanischen und französischen Forschung aufgetreten. Die Angst vor einem Relativismus rein kulturalistischer Ansätze hat eine eher biologistische Orientierung gefördert, die (z. B. bei A. Gehlen) sehr leicht mit dem universalistischen Auftritt vermeintlich höher entwickelter Kulturen gegenüber den kolonial unterworfenen Völkern verknüpft werden konnte. Der Weg zwischen Partikularismus und Universalismus bleibt immer eine aufregende Gratwanderung. Höhenängstlichkeit kann hier ein Vorteil sein, der zur Umsicht nötigt. Der Kompass auf diesem Weg soll eine sich selbst begrenzende Rationalität sein: Diese entwirft ihren Pfad anhand des noch gerade sichtbaren Geländes; sie entwirft prüfbare Modelle des Lebensweltlichen und verhält sich skeptisch zu Phantasmen, die tiefsten Sehnsüchten entspringen, die Urteilskraft aber leicht überfordern können. Der Mehrdimensionalität des Begriffs der Integrität ist unbedingt Rechnung zu tragen: Es sind deskriptive, askriptive und präskriptive Bedeutungsspektren im Blick zu behalten, die nicht immer scharf voneinander abzugrenzen sind. Rein psychologische oder moralphilosophische Abkürzungen sind dabei zu vermeiden. Die jeweiligen begrifflichen
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Die Diskussion des Konzepts der Integrität ist seit B. Williams Kritik des Utilitarismus (1979) maßgeblich auf die partikulare Ausrichtung der Person auf individuelle Projekte konzentriert gewesen. Die dafür zentralen Begriffe ground project und commitment fokussieren jedoch stärker die Identität, die bei Williams nicht von der Integrität zu trennen ist. Williams glaubt, auf diese Weise normative moralphilosophische Präjudizierungen des Integritätsbegriffs umgehen zu können. Da der Identitätsbegriff vorrangig psychologisch konnotiert ist, während der Integritätsbegriff im Zusammenhang der Moral steht, sollten beide Begriffe möglichst in ihrem jeweiligen Bezug benutzt werden. (Siehe hierzu vertiefend Abschnitt 6.1).
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1 Einleitung
Klärungen sollten sich dicht an den jeweils dargestellten Zusammenhang anlehnen, der den Kapiteleinteilungen folgt. Damit ist die Hoffnung verbunden, der Komplexität des Themas gerecht zu werden und dem Leser/der Leserin auf dieser Reise Orientierung zu geben. Die Einsicht, dass jede Ethik menschlichen Ursprungs ist und dass in der ethischen Reflexion der Mensch ein Bild von sich hervorbringt, mag dabei als Leitfaden der Lektüre dienen. Ethiken können die logische Implikation ihrer gesellschaftlichen Erzeugung nicht vollständig abstreifen, und wer auf welche Weise welche Begriffe nutzt, steht in einem Verweisungszusammenhang, der die eigene Person in dessen Zentrum einschließt. Die Objektivität des Ethischen ist daher immer intermediärer Art. Es geht also um die bewusste Deliberation und Wahl der Argumente in dem Wissen, dass der Raum der Gründe nicht abschließbar ist. In diesem Sinne ist auch das Spannungsverhältnis von Modell und Phantasma zu deuten: Ein Modell basiert auf Komponenten, die einen Gegenstand, einen größeren Wirkungskomplex (z. B. ein Ökosystem) oder eine Idee (z. B. die gerechte Verteilung knapper Güter) in einem funktionalen Zusammenhang von konstanten Faktoren und variablen Elementen und Relationen abbilden sollen. Die Zwecksetzung der Modellkonstruktion ist für die Auswahl und Gewichtung der Komponenten des Modells entscheidend. Die Erklärung von Zusammenhängen und das Streben nach Veränderung und Optimierung werden dabei wesentliche Motive dafür sein, im übersichtlichen Maßstab des Modells bestimmte Eigenschaften der Realität, für die das Modell steht, besser zu verstehen und möglicherweise besser zu kontrollieren. Phantasmen hingegen, bei Hobbes häufig auch Phantasien (fancies) genannt, sind einerseits Wirkungen eines Gegenstands auf uns, die unsere Affekte wecken; sie stehen nicht unter der Kontrolle der Ratio und bedürfen daher der Läuterung durch den Verstand. Andererseits kommt ihnen als Erscheinungen (appearences) nur eine innergeistige Qualität ohne Referenz auf einen äußeren Gegenstand zu.5 Phantasmen sind in den vorliegenden Ausführungen also so zu verstehen, dass sie einen Gegenstand oder ein Konzept so modellieren, als wären die wesentlichen Konstanten und die variablen Größen bekannt. Gegenüber Modellen liegt das Besondere von Phantasmen in ihrem Überschuss, der nicht erschöpfend in empirisch gehaltvolle Theorien auflösbar ist.6 Die Begründung von Herrschafts- und Gesellschaftsformen, sei es im Sinne von Hobbes, Rousseau oder diverser aktuellerer Varianten, wird ohne phantasmatische Elemente nicht auskommen; deren
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Zu einer differenzierten Analyse des hobbes’schen Begriffsclusters aus phantasma, idea und weiteren Synonymen siehe: K. Schuhmann (2004). Abgesehen von den jederzeit möglichen Sinnestäuschungen betont Hobbes die Gefahr der von uns selbst ausgehenden Täuschungen, „[…] da wir Dinge ersinnen, die es gar nicht gibt, bzw. Bildnisse für mehr als Bildnisse nehmen. Falsch kann man nicht die Dinge und noch nicht einmal unsere Bildvorstellungen nennen, da sie einerseits in Wahrheit sind, was sie sind, und andererseits nicht, wie Zeichen das tun, etwas versprechen, was sie nicht halten“ (Hobbes [1655] 1997, 67). Der phänomenale Charakter von Täuschungen dieser Art unterscheidet diese von logischen Trugschlüssen (vgl. ebd., 65–74).
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Integrität: Modelle und Phantasmen der Sozialität
Aushandlung ist Aufgabe der Politik, die ohne diese Elemente ein eher technisches Geschäft wäre, das sich gegenüber der Offenheit des Politischen verschließt. Da der Begriff der Integrität nur innerhalb von Kultur und Gesellschaft einen Sinn ergibt, müssen auch dessen phantasmatische Bezüge in den Blick genommen werden. Dabei kommt es auf deren entscheidungs- und handlungstheoretisches Deutungspotential für gesellschaftliche Transformationen an.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen 2.1 Zwei Grundmodelle der Sozialität: Gehorsam versus Selbstverpflichtung Sozialität oder auch Gesellschaftlichkeit ist dem menschlichen Wesen, wie wir es heute kennen, inhärent. Das vorgesellschaftliche Wesen Mensch wird jenseits der Einwirkung einer menschlichen Kultur, so rudimentär auch immer diese sein mag, nicht als eigentlich menschlich angesehen. Die Vorstellung eines Stadiums des Naturzustandes vor jeder ausgeprägten Sozialität haben Philosophen gerne dazu genutzt, den Menschen entweder als ein im Wesenskern egoistisches Wesen zu zeichnen (Hobbes) oder aber als ein Wesen, das aus einer primären Prägung durch Fürsorge selbst Fürsorge für die Mitglieder seiner Gemeinschaft entwickelt (Rousseau). Rousseaus Konzept der fürsorglichen Liebe, aus der Existenz sichernden Dyade der Mutter-Kind-Beziehung entwickelt, hat ihren Aufstieg vom aufklärerischen Denken über die Romantik bis tief in die Gegenwart pädagogischer Konzepte hinein Karriere gemacht. Die stärkste Garantie für das Funktionieren der Gesellschaft liegt bei Hobbes in der vorbehaltlosen Unterstellung der Menschen unter den Willen der allgemeinen Macht, die er Staat (commonwealth) nennt. Bildhaft erscheint dieser als ‚Leviathan‘, als Gesamtkörper, der aus den Körpern der nun Bürger genannten Menschen besteht. In einem Vertrag der Menschen untereinander, der die Staatsmacht in einem Akt des Zusammenschlusses der Einzelnen zu einem Staatsvolk gewissermaßen erzeugt, unterstellen sich die Bürger fortan der unbeschränkten Gewaltausübung des Leviathan. Diesem sind die Bürger als Garant ihres friedlichen Besitzstrebens und ihres Lebens zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Der Herrscher (bzw. das Gremium der Machtausübung) selbst unterliegt jedoch keinem der von ihm erlassenen Gesetze. Dementsprechend besteht die Gehorsamspflicht gegenüber jeder De-Facto-Macht. Die Frage nach deren Legitimität stellt sich schon insofern nicht, als die Gehorsamspflicht gegenüber der Macht mit dem absoluten Gebot der Nichteinmischung in die politischen Angelegenheiten des Staates verbunden ist, wofür sich in Hobbes’ Zeiten insbesondere der Calvinismus einsetzt. Als Quelle dieser Haltung wird der Römerbrief des Apostels Paulus (Römer 13, 1–7) in Anspruch genommen,
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in dem Paulus jede Herrschaft letztinstanzlich auf die Herrschaft Gottes zurückführt. Die calvinistische Position in dieser Frage bleibt indes kontrovers.7 Hobbes’ Lehre aus der Kontroverse um die Gehorsamspflicht ist kompromisslos: Jeder Versuch der Kritik oder Herausforderung des Herrschers würde einen Bürgerkrieg heraufbeschwören, zu dessen Verhinderung die Bürger ihm ja gerade ihr Recht auf Gewaltausübung, das diese im Naturzustand besitzen, übertragen haben. Der Gehorsam gegenüber dem Herrscher liegt also in einem Willensakt der Selbstverpflichtung aller gegenüber jedem begründet. Dieser Akt ist jedoch mitnichten ein Willensakt, der aus der Willkürfreiheit im Naturzustand hervorgeht, sondern ein Willensakt aus Vernunfteinsicht aus der Quelle der menschlichen Natur heraus (lex naturalis), insofern ohne das Zugeständnis eines unbeschränkten Gehorsams gegenüber dem Leviathan die Gefahr der eigenen Vernichtung durch andere drohen würde. Der freiwillige Verzicht auf Gewaltanwendung wird daher als Übertragung eines ursprünglichen Rechts (hier: auf die Staatsgewalt) und somit als Tauschakt konzipiert. Dies geschieht „[…] entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft. Denn es handelt sich um eine willentliche Handlung, und Gegenstand der willentlichen Handlungen jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst (Hobbes [1651] 3. Aufl. 1989, 101; Hervorh. i. Orig.).
Letztlich ist es die Furcht vor dem Tode, die in Analogie zur Mechanik die Übertragung der Machtansprüche der Einzelwillen auf den Herrscher zustande bringt. Da die Bürger in dieser Vertragsstruktur aber auch der Gewalt des Herrschers über ihr Leben zustimmen, ergibt sich zwangsläufig ein innerer Widerspruch des Konzepts zum Recht der Individuen auf Selbsterhalt. Das Notwehrrecht, gegen die Staatsgewalt in Anspruch genommen, gefährdet deren Bestand im Krisenfall. Die Rechtsübertragung durch Vertrag geht bei Hobbes auch nicht so weit, dass die Verfügung über sich selbst preisgegeben werden kann, ohne dass dafür im Gegenzug ein Anrecht auf ein bestimmtes erstrebtes Gut entsteht.8 Damit kann Hobbes als Vater des Gedankens gelten, dass Freiheit durch andere Rechte oder Güter substituierbar ist, sofern diese Sub-
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Zur Rekonstruktion der Debatte um die absolute Gehorsamspflicht nach dem Sturz und der Hinrichtung des Königs Karl I. im Jan. 1649 siehe: Q. Skinner (2009, Kap. 7, 224–251). „Erstens kann niemand das Recht aufgeben, denen Widerstand zu leisten, die ihn mit Gewalt angreifen, um ihm das Leben zu nehmen, da nicht angenommen werden kann, er strebe dadurch nach einem Gut für sich selbst. Dasselbe gilt für Verletzungen, Ketten und Gefängnis, einmal deshalb, weil eine solche Duldung keinen Vorteil nach sich ziehen würde wie etwa die Duldung, daß ein anderer verletzt oder eingesperrt wird, zum anderen auch, weil niemand sagen kann, wenn er Leute mit Gewalt gegen sich vorgehen sieht, ob sie seinen Tod beabsichtigen oder nicht“ (Hobbes, [1651] 3. Aufl. 1989, 14. Kap., 101).
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2.1 Zwei Grundmodelle der Sozialität: Gehorsam versus Selbstverpflichtung
stitution im Rahmen eines Vertrages freiwillig zustande kommt. Die nicht aufhebbare Willensfreiheit bleibt einerseits erhalten, andererseits löst sich die Freiheit im Naturzustand im Status des Bürgers in verhandelbare Freiheiten auf, die nun als Rechtsverhältnisse konzipiert werden müssen. Die hobbes’sche heuristische Annahme eines ‚Kampfes eines jeden gegen jeden‘ im Naturzustand erhält so eine fundamentale Bedeutung für die Begründung eines in sich hochgradig konsistenten Herrschaftsmodells, das aber seine Sicherheitsgarantie nicht über das Recht auf Selbsterhaltung hinaustreiben kann. Das Gespenst des Bürgerkriegs, das der in die Wirren der Religionskriege Englands hineingeborene Hobbes endgültig verbannen wollte,9 findet offenbar immer eine Hintertür, solange der Widerstreit zwischen Selbsterhalt und Staatserhalt nicht durch einen zuverlässigen Ausgleich der Machtsphären gelöst werden kann. Im hobbes’schen Vertragskonzept wird diesem Problem dadurch Rechnung getragen, dass die Loyalität des Bürgers gegenüber der Staatsmacht auf einem Tauschverhältnis beruht: Der Gehorsamspflicht des Bürgers korrespondiert die Schutzverpflichtung des Herrschers. Die Begründung der absoluten Macht, die absoluten Gehorsam einfordern darf, gelingt nicht vollständig, denn mit der Wechselseitigkeit der Ansprüche, auf die die Loyalität der Bürger sich stützt, kommt ein hypothetisches Element ins Spiel. Die Formel „Der Zweck des Gehorsams ist Schutz“ (Hobbes [1651] 3. Aufl. 1989, 21. Kap., 171) schafft ein Abwägungsverhältnis, das zuungunsten der Staatsmacht genutzt werden kann. Diverse Theorien zum sog. Politischen versuchen sich immer wieder an der Auflösung der Paradoxie der Macht auf der Suche nach einem festen Grund für eine aus ihrem Inneren heraus unerschütterliche Herrschaftsform. Auf die aktuell in Krisenzeiten wieder aufflammende Kontroverse um das Politische wird daher zurückzukommen sein. Der Staatsrechtler C. Schmitt hat zu Zeiten der Weimarer Republik mit der hobbes’schen Argumentationsfigur des latenten Bürgerkriegs als Untergrund jeder rechtsstaatlichen Ordnung die Machtergreifung Hitlers theoretisch sekundiert. Die sog. ‚Einheit von Volk und Staat‘ und sein Diktum, dass „[…] Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt [1922] 2009, 9), faszinieren nicht nur das konservative bis rechtsradikale Denken der Gegenwart.10 Wie verführerisch dieses Modell bis in die Gegenwart hinein wirkt, lässt sich gerade in Zeiten der Krisen der Gegenwart ablesen. Was zur Menschheitskrise stilisiert wird, weckt einerseits Zweifel am rechtsstaatlichen Instrumentarium der Krisenbewältigung. Auf der anderen Seite zeigen gerade autoritäre Regime eher einen bedenkenlosen Umgang mit Umweltkrisen und Pandemien; Machtfragen werden vor den Lebensschutz der Bürger gestellt. Nicht nur Russland, Belarus, Nordkorea und China, sondern auch im Kreise der EU-Staaten finden Modelle einer Staatsverfassung zunehmend Anklang, die zwar formell noch ein (wie auch immer) gewähltes Parlament kennen, das sich dann und wann auch versammelt und abstimmt, das in 9 10
Zu den biografischen Wurzeln der Furcht bei Hobbes siehe: F. Böttger 2014, 40. Zu den zwei Deutungen des Politischen siehe Abschnitt 5.1) zum Projektionsfeld Macht.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
seinen Rechten, besonders was die Opposition betrifft, erheblich eingeschränkt ist. Komplettiert durch vom Parlament gebilligte Gesetze werden dann gravierende Eingriffe der Exekutive in die Rechtsprechung durchgesetzt. Dies betrifft die Organe der Rechtsprechung genauso wie deren einzelne Entscheidungen. Integrität wird mit Blick auf diese Entwicklungen zu einem Systemproblem von grundsätzlicher Bedeutung, das die Institutionen und die in diesen agierenden Funktionsträger betrifft. Auf der Ebene der Handlungen und Entscheidungen von Individuen haben wir es unter diesen und ähnlichen Bedingungen also nicht mit einem rein innerpsychischen Problem zu tun, sondern mit den Fragen der Entrechtlichung und des Freiheitsverlustes sowohl der Mitwirkenden staatlicher Organe als auch der Gesellschaft als Ganzer. In Zeiten eines weltweiten Ausnahmezustands, augenblicklich mit Fokus auf der Corona-Pandemie, ist ein Einstieg in das Thema Integrität auf dem Wege der politischen Philosophie naheliegend. Das Verhältnis von Staat und Bürger ist von starken Verunsicherungen geprägt und verlangt nach Justierungen, die nicht einfach in der Verlängerung bislang akzeptierter Aktions- und Entscheidungsmodi bestehen können. An Hobbes anknüpfend hat C. Schmitt dessen Formel ‚auctoritas, non veritas facit legem‘ dazu genutzt, um die Möglichkeit der Begründung des Rechts aus sich selbst heraus grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Der mit dieser Formel verbundene Regress auf gewaltmäßige Durchsetzung staatlicher Ziele könnte das Gehorsamsmodell von Staat und Bürger in einer Weise wieder beleben, die das Ende von Demokratie bedeuten würde. Der Ansatz Rousseaus richtet sich explizit gegen das hobbes’sche Gehorsamsmodell der Selbstunterwerfung und es ist zu zeigen, ob und inwiefern seine Idee der Sozialität zu interessanten Gesichtspunkten bei der Konzeption des Integritätsbegriffs führt. Dabei geht es für Rousseau um die grundsätzliche Frage, ob und auf welche Weise individuelle Freiheit überhaupt mit Sozialität verträglich sein kann. Dieser weite Horizont der Frage bricht spätestens dann immer wieder auf, wenn Krieg und Krisen das Selbstbild der Menschen erschüttern. Bei der Frage der Sozialität, sowohl in ihrer allgemeinen Form als auch in ihren spezifischen Ausformungen, geht es um die Chancen und Mittel der Mitglieder einer Gemeinschaft, sie selbst zu sein, und darum, wie die Gemeinschaft mit Gefährdungen der Entwicklung von Individualität umgeht. Für Rousseau ist das Selbstsein Ausgangspunkt und Ziel seiner Idee von Sozialität. Die Idee der Freiheit ist in diesem Konzept der Ankerpunkt des Selbstseins schlechthin. Da er den Gesellschaftszustand an sich schon als deviant empfindet, weil dieser das Verderbliche im Menschen fördere, benötigt er besondere Postulate, die sicherstellen sollen, dass das Leben jenseits einer von ihm eigentlich ersehnten, aber unmöglich gewordenen Einheit von menschlicher Seele und Natur, dem Individuum noch zuträglich sein kann. Sein Modell des Gesellschaftsvertrages, den er sich als einen ideellen Akt denkt, der die Einzelwillen zu einem Gesamtwillen zusammenschließt, ist so konzipiert, dass ein jeder seine Freiheit mit der Freiheit aller anderen Gesellschaftsmitglieder verbindet. Die dadurch geschaffene Gemeinschaft basiert auf dem gleichen Stimmrecht aller, ohne Ansehen von Stand und Vermögen. Der Zusammenschluss zu einem Gesamtwillen basiert in die22
2.1 Zwei Grundmodelle der Sozialität: Gehorsam versus Selbstverpflichtung
ser Konzeption nicht auf einem Freiheitsverzicht, sondern einem Freiheitsgewinn für alle, weil ein jeder durch Überantwortung seiner Freiheit an die Versammlung von dem durch Freiheitsakte geschaffenen Gesamtwillen ein höheres Maß an Freiheit erhält, als er es alleine besäße. Wie weit dieses Denken jedoch noch von der Vorstellung einer in sich einheitlichen Souveränität nach absolutistisch-monarchistischen Vorstellungen geprägt ist, ist Rousseau von seinen Kritikern mit Recht entgegengehalten worden. Wenngleich nun das Volk selbst der Souverän ist, der die von ihm eingesetzte Regierung jederzeit abberufen kann, so bleibt es doch ein ungelöstes Problem, welche Rolle unterschiedliche Auffassungen und partikulare Interessen innerhalb der Gemeinschaft spielen können. Rousseaus Konzept sieht an dieser Stelle eine zweite Abstimmung vor, in der die bei der Meinungsbildung unterlegenen Parteien ihre dem Mehrheitswillen zuwiderlaufende Auffassung revidieren und sich dem Mehrheitswillen anschließen, damit aus diesem ein Gesamtwille hervorgeht. Ohne Rousseaus Verdienst um die Demokratietheorie zu schmälern, so ist doch ein Mangel des Konzepts ganz offensichtlich: Die Divergenz unterschiedlichster partikularer Interessen und Neigungen der Bürger spielt zwar keine Rolle bei der Entscheidung der Menschen, dass es einen qua Volkswillen gebildeten Staat geben soll; die in dieser Frage bestehende Einheit (Verfassungsfeinde hier einmal ausgenommen) kann jedoch schwerlich im Fall von Einzelentscheidungen und Gesetzen präjudizierend und normativ eingefordert werden. Erst die Idee einer in der gewählten Versammlung (Parlament) ebenfalls repräsentierten Opposition und das Konzept der Gewaltenteilung haben der Souveränitätstheorie Rousseaus grundlegende Anpassungen beschert. Sollte bei Rousseau der ursprünglich vom Volk gebildete Souverän eine in sich geschlossene und von Divergenzen unbeeinträchtigte Einheit bilden, in der die gleichgestellten Bürger und Bürgerinnen als Freie ‚aufgehoben‘ sind, so ist die Aufgabe der Sicherung der Integrität des Bürgers/der Bürgerin im demokratischen Verfassungsstaat zu einem guten Teil wieder an diese zurück überwiesen, wohingegen die Integrität des Staates nicht auf einer vorgängigen ‚Integration‘ seiner Bürger beruht, sondern auf der Sicherung der Integrität der Institutionen des Staates, vornehmlich seiner Rechtsinstanzen. Für den Bürger bedeutet dies, dass er innerhalb des Staates selbst Rechtssubjekt ist, d. h. er muss sich den Herausforderungen an seine Integrität nicht nur personaliter und intrapsychisch stellen, sondern auch als Bürger/Bürgerin in der politischen Öffentlichkeit. Neben der Grundbedingung der Gewaltenteilung, die ein exekutives Durchgriffsrecht der jeweils herrschenden politischen Partei(en) verhindern soll, ist das Rechtsverständnis aufgrund der dem Rechtswesen eigenen Traditionen selbst fundamental für die Integritätschancen der Bürger. Im Staatsverständnis von Hobbes steht die Sicherung des Lebens des Erwerbsbürgers und seines Besitzes im Vordergrund, im Staatsverständnis von Rousseau geht es um die Sicherung der Freiheitsansprüche von Freien und Gleichen. In der heutigen rechtstheoretischen Debatte zur Gestaltung des Sozialstaats spielt die Differenz beider Konzepte eine erhebliche Rolle, auch wenn die hobbes’sche Version des ungeteilten Gewaltmonopols ausgedient hat. Der Sicherungsauftrag des Staates bezieht sich auch heute 23
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noch vorrangig auf die Besitz- und Verfügungsrechte, die den normativen Kern des Privatrechts bilden. Demgegenüber steht konkurrierend das gesellschaftliche Interesse an der Garantie der Freiheit und der gesicherten Lebensgestaltung der per se gleichen Bürger und Bürgerinnen. Das Privatrecht, individuelle Freiheitsrechte und politisch auszuhandelnde allgemeine Staatsziele, die zum Teil sogar Verfassungsrang besitzen, stehen daher naturgemäß in einem grundsätzlichen Konflikt.11 Rousseaus radikales, auf dem einheitlichen Volkswillen aufgebautes Konzept orientiert sich ausschließlich an den gleichen Freiheitsrechten, die er durch den in der Kultur verankerten Zwang zu Kooperation und Arbeitsteilung, das Besitzstreben, die Vorratshaltung u. s. w. gefährdet sieht. Sein Diskurs über die Ursprünge und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (Rousseau [1755] 3. Aufl. 1993) wird eingerahmt von einer idealisierenden Erzählung des ‚wilden Menschen‘, dessen Lebensweise er indes für immer verloren hält (vgl. ebd., Erster Teil). Die Interessen von Volk und souveräner Regierung, so muss Rousseau sich eingestehen, sind nicht mehr zur Deckung zu bringen (vgl. Rousseau, ebd., 11f). Umso mehr kommt es im Gesellschaftsvertrag darauf an, dass der Gemeinwille trotz der Verderbnis der Menschen, die den Untergang des Staates jederzeit hervorrufen kann, stärker ist als das Individualinteresse: „Jeder, der sein Interesse vom gemeinsamen Interesse loslöst, sieht wohl, daß er es davon nicht völlig abtrennen kann, aber sein Anteil am allgemeinen Mißstand erscheint ihm nichts im Vergleich mit dem Sonderwohl, das er sich zu erwerben trachtet. Von diesem Sonderwohl abgesehen, wünscht er im eigenen Interesse genauso wie jeder andere das Gemeinwohl“ (Rousseau [1762] 1986, Viertes Buch, 1. Kap., 113/114).
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Revolutionäre der Ersten Französischen Republik (1792) von Rousseaus Gleichheitsanspruch, der aus sich heraus schon die Idee der staatlichen Einheit im Gemeinwillen gebiert, beflügelt waren. Da die Verfassung der Ersten Republik niemals in Kraft trat, konnte das Direktorium in wechselnder Besetzung die Rhetorik der Einheit des Volkswillens nutzen, um dem Schafott reichlich Arbeit zu verschaffen. Auch die auf den 11
In diesem Sinne kann man die Studie des Verfassungsrechtlers F. Rödl verstehen, der diesen Konflikt in der Privatrechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland an Beispielen wie dem Mietrecht untersucht. Rödls Versuch einer Rekonstruktion des Vermögensrechts des Bürgerlichen Gesetzbuches auf der Grundlage der Ideen gleicher Freiheit und ausgleichender Gerechtigkeit steht den Ideen von J. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (Rawls 1979) recht nahe. Rechtsphilosophisch maßgeblich ist dabei die „[…] Einsicht in den Charakter von Recht generell als normative Praxis der Rechtfertigung von staatlichem Zwang“ (Rödl 2015, 455), die dem Staat bei der Rechtssetzung weitgehende Freiheit gewährt. Eigentum fungiert in diesem Zusammenhang nicht nur als formelle, abstrakte Rechtsbestimmung. „Autonomie, Effizienz, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“ (ebd., 408) können als Werte ausgleichender Gerechtigkeit der Rechtsfortbildung zugrunde gelegt werden.
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2.1 Zwei Grundmodelle der Sozialität: Gehorsam versus Selbstverpflichtung
allgemeinen Willen des Volkes (unter der Führung der Arbeiterklasse) gestützte leninistische Variante der Führungsrolle einer Partei (der SED), in den Verfassungen der DDR (1968, 1974) verankert, hat den Bürgern/Bürgerinnen als Personen der politischen Öffentlichkeit wenig Spielraum gegeben, um an ihrer personalen Integrität zu arbeiten. Der geforderte Gehorsam gegenüber dem Ganzen der Gesellschaft, an den die Instrumente der Macht sich heften, setzt der Sozialität des Einzelnen jenseits der idealisierten ‚sozialistischen Persönlichkeit‘ deutliche Grenzen. Hierin mag auch ein wesentlicher Grund dafür liegen, dass bei den Bürgerinnen und Bürgern der DDR im Deutschland nach der Wende das Gefühl bestärkt wurde, man würde ihnen ihre Integrität insgesamt absprechen und damit auch ihre biografische Lebensleistung innerhalb dieser Grenzen. Wenngleich dieses Gefühl berechtigt sein mag, so offenbart es doch einen Mangel an Unterscheidung: der Selbstidentifikation mit einer bestimmten Gesellschaftsformation auf der einen Seite von der Identifikation mit sich selbst als eines Wesens, das eine Integrität sui generis besitzt, die nicht in Staat und Gesellschaft aufgeht, auf der anderen Seite. Dieser Unterschied muss als fundamental für jede Konzeption von Integrität festgehalten werden. Hobbes und Rousseau unterscheiden sich grundlegend in ihrem Verständnis davon, warum, auf welche Weise und zu welchen Zwecken sich Menschen zu einem Gemeinwesen, allgemein Staat genannt, zusammenschließen. Beide Theoretiker sind zutiefst beunruhigt von der Möglichkeit und Gefahr der Dissoziation der Gesellschaft. Das verbindet sie. Jenseits tiefergehender staatstheoretischer Analysen kommt es im Zusammenhang meines Themas hier nur auf einen Aspekt an: Wie ist die Integration des Einzelwesens in eine ihm übergeordnete Gemeinschaft politisch zu denken? Für Hobbes ist das im Menschen angelegte Streben nach Besitz und Ruhm immer ein Grund für die Gefährdung der Sozialität überhaupt, weil diese Kräfte sich ohne den Eingriff staatlicher Gewalt zwangsläufig gegen die anderen richten müssen, sodass Feindschaft unvermeidlich ist. Hobbes’ Physikalismus schreit gewissermaßen nach einer physisch spürbaren und gefürchteten Ordnungsgewalt. Der individuelle Nutzen der Unterwerfung unter staatliche Gewalt liegt daher auf der Hand. Ebenso natürlich das Gebot der Nichteinmischung der Bürger in die Vorbehaltsbereiche des Souveräns, denn der Ehrgeiz, der mit der Durchsetzung eigener Ideen verbunden ist, gefährdet seinerseits das Funktionieren des Ganzen. Verstand und ethische Tugenden der Bürger untereinander spielen indes auch für Hobbes eine unverzichtbare Rolle, insofern die Menschen untereinander sowohl den Behauptungen in der Sache vertrauen können als auch den Glauben in die Wahrheitsliebe der Personen besitzen müssen. (Siehe hierzu: Hobbes, ebd., 7. Kap., 49–51). Für Rousseau dagegen bilden die Ideen des Einzelnen, die in der Freiheit seines Geistes begründet sind, die Grundlage für die Ordnung von Freien und Gleichen in Freiheit, denn sie erweitern das individuelle Potential um die Kraft der Gemeinschaft, abgestimmte Ziele zum Wohl aller durchzusetzen. Was also bei Hobbes der Gehorsam leisten muss, geht bei Rousseau aus 25
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einer Vernunfteinsicht hervor, die dem Einzelnen die Selbstverpflichtung auf das Ganze der Gesellschaft leicht macht. Bei beiden Philosophen ist das qua Modell entworfene Ergebnis doch identisch: eine konfliktfreie Integration ursprünglich divergenter Individualität in Sozialität. Beide Ansätze fordern einen sehr ähnlichen Preis: Die Integrität des Einzelwesens wird entweder in einem präjudizierenden Akt von Gehorsam gegenüber einer autoritativ unbeschränkten Gewalt oder in einem ursprünglichen Akt der Selbstverpflichtung auf den einheitlichen Willen der Gemeinschaft aufgelöst. Die Person überantwortet ihr Selbstsein entweder an eine autoritative Macht oder aber an eine integrative Institution, die das Ganze der Gesellschaft bildet bzw. durch zeitlich begrenzte Repräsentation abbildet. Dass diese Überantwortung nicht auf einem Vertrag zwischen Souverän und Bürgern beruht, sondern auf einem (gedachten) Vertrag der Menschen untereinander, der ihnen erst den Status von Bürgern verleiht, ändert nichts an ihrer juridischen Wirkung: Selbstreflexion und Integrität erhalten so einen äußerst engen Rahmen, innerhalb dessen es nahezu unmöglich ist, die offene und dynamische Entwicklung der Person von ‚mechanischen‘ bzw. normierenden Kräften deutlich abzugrenzen. Die Frage nach der Autonomie stellt sich in beiden Modellvarianten nur in reduktionistischer Weise. Das Innen und das Außen verwirren sich im Extremfall schon innerhalb der Selbstwahrnehmung des Subjekts, d. h. intrapersonell, zu nicht differenzierbaren Motivschichten. Wer oder was Ton, Inhalt und Ziel des eigenen Handelns und Lebens bestimmt, die Konfiguration einer überzeugenden Ich-Perspektive also, bleibt dem Individuum im Kern verschlossen. Für eine Theorie der Freiheit im politischen Kontext stellt sich damit nicht vorrangig die Frage, ob die Person frei ist (z. B. im metaphysischen, psychologischen oder rechtlichen Sinne), sondern was genau freie Handlungen auszeichnet und welche Bedeutung diese für die Person und ihr Selbstverständnis gewinnen.12
Resümee I Die Stärke des hobbes’schen Modells liegt für seine Zeit der Religions- und Bürgerkriege und der abnehmenden Macht der Monarchie ohne Zweifel darin, die Furcht vor der Verletzung der eigenen körperlichen Integrität und die Furcht vor dem eigenen Tod durch die – der mensch12
Ein solcher Ansatz findet sich bei P. Pettit (2007), der Freiheit primär in den Zusammenhang faktischer und möglicher Entscheidungen stellt. Sein Freiheitsbegriff knüpft an die Traditionen des Republikanismus an, der die Bedeutung positiver Freiheitsgarantien des Staates gegenüber den individuellen Entscheidungsfreiheit eher gering einschätzt. Daher stellt der irische Soziologe und Philosoph P. Pettit die psychologische Frage der Wahl- und Entscheidungsfreiheit in einen direkten Zusammenhang zur Gesellschaftstheorie. Es wird zu prüfen sein, welche Konsequenzen für das Konzept der Integrität sich unter der Voraussetzung eines negativen Freiheitsbegriffs, der die Freiheit von Unterdrückung, Ausbeutung, Sklaverei und allgemein von Hindernissen der Selbstverwirklichung in den Vordergrund rückt, ergeben.
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lichen Natur geschuldet – immer unberechenbare Tat und List der Anderen erheblich einzuschränken. Vorausgesetzt dabei ist die Wirkung der radikalen Gleichheit aller in ihrer Furcht vor dem unbeschränkten Gewaltmonopol des Leviathan. Hobbes’ physikalistische Handlungstheorie reduziert die Domäne der Handlungen der Bürger auf Erwerb und Sicherung ihres Besitzes und Ansehens, worin ihre Individualität zum Ausdruck kommt. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, ihre Disposition zu allgemeiner Sozialität, wird durch eine quasi physische Gewalt von außen erzwungen, deren Gesetze absolut gelten. Da der Souverän selbst nicht der Wirkung der von ihm erlassenen Gesetze unterliegt, gibt es auch keinen Weg, den Souverän gerichtlich herauszufordern. Kohärenz und Sicherheit der Gesellschaft nach innen beruhen nicht auf Identifikation der Bürger mit dem Ganzen; ihre Basis ist vielmehr die Einhegung des Misstrauens der Bürger gegeneinander. Dazu braucht es einer Gewalt, deren Herrschaft weder zeitlich noch in der Wahl ihrer Mittel begrenzt ist. Die Stärke des rousseauschen Modells liegt dagegen in der Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller Bürger. Die ebenfalls im Grundsatz anerkannten unterschiedlichen Willen aller, selbst in den allgemeinen Fragen der Gemeinschaft, gestalten sich durch Verfahren der Abstimmung zum allgemeinen Willen, unter der Bedingung der Zustimmung durch Einsicht in das am Ende für alle Zuträgliche und Beste. Gemäß Rousseaus Verständnis kann es keine Einwilligung in die Preisgabe der individuellen Autonomie geben, denn eine solche käme einer Einverständniserklärung zur Selbstversklavung gleich, wie Rousseau in Vom Gesellschaftsvertrag entwickelt. Ein Verzicht auf Freiheit käme einem Verzicht auf das Menschsein selbst gleich (vgl. Rousseau 1762/1986, 11). Bei Rousseau gibt es also einerseits einen Hiatus von den physischen Kräften des Zwangs zur Gemeinschaft (im Verständnis Hobbes’) zur allgemeinen Sozialität qua Vernunfteinsicht. Seine Theorie basiert daher ganz entscheidend auf der präjudizierten Einheit, die einerseits die individuelle Abweichung der Meinungen und Interessen, als durch die Natur unserer Freiheit bedingt, akzeptiert, und andererseits jedem Bürger den Willen zur Gewährleistung des allgemeinen Willens abverlangt, auch wenn der eigene Wille dem Willen der Mehrheit widerspricht. Die Integrität des Bürgers ist also nicht in die Integrität (hier: Unangreifbarkeit und Unverletzlichkeit) des Souveräns aufgelöst; sie ist hingegen überantwortet an eine gemeinschaftlich anerkannte Verfahrensweise, der sich alle beugen, auch wenn es in bestimmten Fragen des Gemeinschaftslebens zu ihrem Nachteil sein sollte. Rousseau legt hier schon, auch wenn er es selbst nicht so deutlich benennt, den Grundstein für eine Theorie, die Demokratie an transparente Verfahrensweise bindet. In einer solchen Konzeption spielen das Recht und die Revidierbarkeit von Gesetzen qua Derogation eine entscheidende Rolle. Diese Konzeption beruht jedoch auf einer Hypothek, die schwer einzulösen ist: Rousseau kann nicht überzeugend erklären, wie eine nicht von Interessen gesteuerte Interpersonalität möglich sein soll. Für ihn bedeutet der gesellschaftliche Zustand per se eine Entfernung von der ursprünglichen Freiheit. Die Heterogonie der Zwecke nimmt er daher nicht ernsthaft in den Blick. Die später in der Romantik aufgenommene und 27
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bis heute wirkungsmächtige Idee der Selbstverwirklichung entwickelt Rousseau, indem er den positiv gefassten Begriff der Selbstliebe ins Zentrum seines Denkens rückt. Man könnte diese als eine unverzichtbare Schutzfunktion der Integrität bezeichnen. Selbstliebe (amour de soi) grenzt er von der kritisch betrachteten Eigenliebe bzw. dem Stolz (amour propre) ab, da letztere sich auch auf das Urteil anderer stützen muss. Erstere würden wir heute, als absolut gesetzte, dem Narzissmus zuordnen, ein Vorwurf, dem auch Rousseau nicht entgehen kann.13 Das besondere Kunststück seines Gesellschaftsvertrages besteht darin, die Eigenliebe mit dem Allgemeinwillen in Einklang zu bringen, ohne der Selbstliebe Abbruch zu tun. Charles Taylor hat Rousseaus Konzept der nur auf sich selbst bezogenen Anerkennung als die Idee der Authentizität gedeutet, die im 18. Jahrhundert vor allem durch Herders Vorstellung eines jedem Menschen gegebenen ‚Eigenmaßes‘ für sich selbst popularisiert wurde (vgl. hierzu: Taylor 1997, 16ff)14. Ohne diesen Gedanken hier weiter vertiefen zu müssen, ist in diesem Kontext von Bedeutung, dass Rousseau ein theoretisch kohärentes Konzept für eine enge begriffliche Verknüpfung von Gesellschaft, Staatsform, Individualitätskonzept und Menschenbild entwerfen möchte. Die Aufhebung der Entfernung von unserer menschlichen Natur bleibt dabei sein eigentliches Anliegen. Damit wird er indes keinesfalls zu einem naiven Vertreter einer ‚Zurück-zur-Natur-Philosophie‘, wie ihm gerne unterstellt wird.15 Sein politisches Hauptwerk Der Gesellschaftsvertrag ([1762] 1986) sollte man daher als einen politisch ambitionierten Versuch verstehen, Bedingungen der Möglichkeit der Selbstbestimmung unter der Voraussetzung einer unvermeidlichen Staatlichkeit zu sichern. Rousseau wird daher gerne als geistiger Urvater des Begriffs der Selbstverwirklichung gesehen, die der gesellschaftlichen ‚Entfremdung‘ entgegengestellt wird. Erst Marx wird dem Begriff der Entfremdung die Konturen verleihen, die er mit der kapitalistischen Warenproduktion verbindet. Seine Frühschriften indes beziehen diesen Begriff schon auf jede Art der Verdinglichung menschlicher Tätigkeit. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die 13
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In seiner weithin anerkannten Rousseau-Biografie kommt J. Starobinski zu dem Schluss, dass Rousseau sich hinsichtlich seines Selbstbildes von anderen Menschen nichts mehr erhofft, sondern „ ‚sich von seiner eigenen Substanz‘ “ nährt (Starobinski 1971/1993, 389). Ein Außen, dem Rousseaus Gewissen sich stellen müsste, gibt es demzufolge nicht. Dies ist umso bemerkenswerter, als Rousseau in seiner Erziehungsschrift Emile oder Über die Erziehung ([1762] 1995) das Gewissen als ein Doppelverhältnis sich selbst gegenüber definiert. (Siehe hierzu: ebd., Viertes Buch, Abschnitt Moralische Begriffe, Geschichtsstudien, Fabeln. 238ff). Der Begriff der Authentizität wird wegen seiner einseitig auf die subjektive Perspektive bezogenen Verwendung und auf Grund seines unklaren psychologischen Gehalts nicht einbezogen. Der Begriff der Integrität umfasst in der hier vertretenen Verwendung dagegen sowohl dessen interne als auch externe Seite; beide Seiten beinhalten normative Komponenten, die im Begriff der Authentizität gerade ausgeschlossen sein sollen. Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers ([1783] 2003), in denen Rousseau sein Leben in der Verbannung reflektiert, bezeugen seine Suche nach einer Verbindung zur Natur, dies aber in einer Weise, wie auch wir Heutige diese als Sehnsuchtsort und Kontrast zur urbanen Lebenswelt empfinden.
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gegenwärtigen ‚Weltverhältnisse‘ von Globalisierung und marktkonformer Effizienzsteigerung gerne zum Anlass genommen werden, um diesen Begriff in kritischer sozialphilosophischer Absicht wiederzubeleben. Am Ende lässt sich die rousseausche Konzeption auf eine schlichte Formel bringen: Die Integrität des Ganzen (hier: die Freiheitsgarantie im Staate) übersteigt die Summe der Integritätsansprüche seiner Bürger und verbindet diese zu einer neuen Einheit. Die naturgegebene Selbstliebe als die Domäne der individuellen Leidenschaften kommt auf diese Weise zur harmonischen Versöhnung mit der allgemeinen Menschenvernunft. Natur und Vernunft stehen in der säkular begründeten Vernunft einer Staatskonstitution durch freiwillig assoziierte Menschen nicht mehr im Gegensatz zueinander, sofern die Selbstliebe unter der Maßgabe gelingender Gemeinschaftsbildung sich selbst beschränkt und von der unmittelbaren Befriedigung der Leidenschaften absieht.16
Begriffsbestimmung I: Integrität im Staat und des Staates Hobbes’ und Rousseaus Konzepte des Staates überantworten den Integritätsanspruch der Einzelperson in ihrem Status als Bürger an eine durch einen Vertrag der Menschen untereinander legitimierte Machtinstanz. Bei Hobbes ist deren Recht auf Gewaltausübung unbeschränkt. Da Hobbes’ System keine staats- und verfassungsrechtliche Unterscheidung von Staatsgewalt und Regierungsgewalt kennt, kann der Bürger auch keine Rechtfertigung für Eingriffe gegen sich und seine Rechte verlangen. Die von ihm einzig in Anspruch genommene Sicherung seiner Integrität besteht in der Garantie der gleichen Freiheit zum Erwerb und der diese sekundierenden Gewaltfreiheit im Verhältnis der Privaten untereinander auf Grundlage des Gewaltmonopols des Staates. Eine Sicherung der Integrität im Verhältnis zur Staatsgewalt, als Anspruch der Bürger an eine Gesetzesbindung des Souveräns gedacht, existiert nicht. Für die in den ‚Körper‘ des Leviathan hineinverlegten ‚Körper‘ der Menschen geht deren eigene Integrität in dessen repäsentationale und faktische Macht über: Die Einheit im Staate erscheint perfekt gesichert, allerdings auf Kosten der personalen Integrität der Individuen. Die ‚höchste Vernunft‘ staatlicher Gewalt deckt sich mit deren Zweck, dem Erhalt der Macht. Macht und staatliche Vernunft werden so zu austauschbaren Synonymen. Ihr Verhältnis zueinander ist rein tautologisch. Macht im Sinne von Hobbes ahmt Naturgewalt im Medium des Staates nach, um Gesellschaftlichkeit hervorzubringen. Der Leviathan ist der gottähnliche Erzeuger von Gesellschaft, da das Allgemeine nur durch eine naturähnliche Gewalt hergestellt werden kann, die an die Stelle von 16
Vgl. hierzu die nuancenreiche Darstellung bei Kondylis (2002), insbes. Kap. VI, Abschnitt c): Der Konflikt von Kausalem und Normativem, 407–435; zu Rousseau, 412–416.
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Naturgesetzen tritt. So ist der Staat zwar ein von Menschen gemachtes Artefakt, aber er bedient sich der Naturkräfte, an erster Stelle der in den Menschen untilgbaren Furcht vor Gewalt. Bei Rousseau hingegen ist die Integrität des Staates, jedoch nicht die der jeweiligen Regierung, durch die Einheit der Gesamtwillen im allgemeinen Willen gesichert. Die Integrität des Allgemeinwillens, d. h. der Anspruch auf legitime Durchsetzung des für alle Besten, bleibt weiterhin rückgebunden an die Sicherung der Freiheit des Einzelnen. Normativ und moralisch betrachtet kann es zwar Widerstände gegen den Allgemeinwillen geben, jedoch ist ein Widerspruch prinzipieller Art in diesem Konzept nicht möglich. Das ungelöste Problem dieses Ansatzes liegt also in der nur formalen Kommensurabilität von Einzelwillen und Allgemeinwillen. Die individuelle Autonomie landet demzufolge auf dem Opferaltar eines Demokratieverständnisses, das den Einheitsgedanken in den Vordergrund stellt. Die Logik seines Ansatzes schafft Einheit auf der Grundlage einer postulierten unbedingten Reziprozität individueller und gemeinschaftlicher Interessen der Freien und Gleichen. Das Medium dieser Art der Reziprozität kann nichts Geringeres sein als die allgemeine menschliche Vernunft. Vertrauen und die Tugend der Wahrhaftigkeit im Verhältnis der Bürger zueinander sind (anders als bei Hobbes) konstitutive Bedingungen der Staatlichkeit. Das auf Dauer gestellte Allgemeine, das den Namen Staat verdient, erwächst aus dem Glauben an das Recht, das aus dem Willen aller hervorgeht.
2.2 Autonomie: ein Überblick Die oben skizzierten staatstheoretischen Modelle machen deutlich, dass sich die Komplexität des Integritätsproblems nur erfassen lässt, wenn die Verschränkungen der Makrostrukturen der Gesellschaft und ihrer Sozialitätsformen einerseits und der kulturellen Vorstellungen von der Person andererseits im Blick behalten werden. Das kann nur sukzessiv geleistet werden. Die individualpsychologischen Fragen, die mit der Identität einer Person zusammenhängen, bleiben von diesem Konnex nicht unberührt. Diese müssen daher mit der erforderlichen Genauigkeit getrennt bearbeitet werden, ohne sich von der Prämisse einer Entgegensetzung leiten zu lassen. Die hier angenommenen Zusammenhänge leuchten sofort ein, wenn auch nur die wichtigsten Fragen gestellt werden: a. Auf welchen Voraussetzungen und Bedingungen beruht die Zugehörigkeit einer Person zu ihrer Gemeinschaft und der Gesellschaft? b. Welcher Arten der inneren Disposition zu sozialitätsbezogenen Handlungen des Individuums bedarf es, damit aus äußerer Zugehörigkeit eine innere Bindung erwächst? c. Welche Modi der Anerkennung stellen Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat dem Individuum bereit? d. Wie wird Ungleichheit von Integritätsanrechten der Individuen durchgesetzt und mit welchen Mitteln der Integritätsverweigerung wird diese gesellschaftlich wirksam? 30
2.2 Autonomie: ein Überblick
e. Über welche Potentiale und Praktiken eines Lebens mit bzw. gegen Integritätsverweigerung und Integritätsverletzung verfügen Individuen? Da die Kriterien zur Beantwortung dieser Fragen nicht der einseitigen und subjektiven Festlegung durch das Individuum unterliegen, gehören diese einem Bereich an, den ich als den öffentlichen Bereich der Sozialität bezeichne. Dieser ist dem Individuum stets vorgängig. In gewisser Weise konstituieren die Bereiche a) bis d) den Rahmen, innerhalb dessen Individualität auf eine Weise ermöglicht wird, die als Abgrenzung eines Innenraums der Subjektivität verstanden werden kann. Dessen Existenz stellt schließlich die Bedingung der Möglichkeit von Integrität überhaupt dar. Die obigen Frage verweisen auf diejenigen Dimensionen, die für jeden Lebensvollzug auf je besondere Weise konstitutiv sind; auch und gerade im Falle ihrer Abwesenheit oder Verweigerung ist nun deren genauere Bestimmung erforderlich, um auf dem Weg zum besseren Verständnis von Integrität weiter zu kommen.
2.2.1 Zugehörigkeit – Ein Ausflug in Ethnologie und Anthropologie Die rousseausche Idee einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen, in der Besitz (noch) nicht zum Unterscheidungskriterium zwischen den Individuen geworden ist, mithin ein freies Miteinander ohne Missgunst und Macht in jeder Form, hat mit der Realität von Gesellschaften, wie Anthropologie und Ethnologie sie untersuchen, wenig zu tun. Auch als Fiktion oder Heuristik für die Bestimmung von Integrität unter größtmöglicher Freiheit ist sein Ansatz nicht weiterführend, weil er die Defizite seiner und auch unserer Gegenwart betont und der faktischen Differenzierung der Gesellschaft ausschließlich negativ gegenübertritt. Als Alternative bietet der ethnologisch-anthropologische Blickwinkel ergiebigere Gesichtspunkte, denen im folgenden Abschnitt nachzugehen ist. Von Geburt an sind Menschen teilhabende Wesen einer öffentlichen Gemeinschaft und damit Personen. Das fängt mit den Primärbeziehungen in der aufziehenden Gemeinschaft an, sei es durch die natürlichen Eltern, eine Kernfamilie der Aufzucht (also nicht notwendigerweise der Erzeugung im konventionellen Sinne) oder eine andere gemeinschaftliche Lebensform, z. B. dem Dorf als Lebenseinheit. Da auch die Erzeugung durch Varianten der Befruchtung, der Eizellengabe oder der Fremdaustragung einer Eizelle per se komplexe Formen gesellschaftlich organisierter ‚Lebensgabe‘ darstellen, zeigt sich schon im frühesten Stadium der Entwicklung, dass jedes heranwachsende menschliche Leben in einem Netz von Beziehungen steht, die auch schon vorgeburtlich Bedingungen der Möglichkeit der Existenz des Einzelwesens sein können. Diese Bedingungen sind unauflösbarer Teil der Person, ihre conditio sine qua non. Für Heran31
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wachsende und Erwachsene kann die Bedingung des eigenen Werdens zu einem wesentlichen Narrativ der eigenen Biografie werden, weshalb das Recht zu wissen, woher man kommt, inzwischen als ein wesentliches Persönlichkeitsrecht auch juristisch anerkannt ist. Das Bedürfnis nach Selbstwissen schließt also durchaus auch die vorgeburtliche Geschichte ein. Selbstwissen umfasst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, letztere zumindest in Gestalt von Potentialen, Erwartungen und Hoffnungen. Ohne ein solches Selbstwissen besäßen Personen auch keine Integrität. Das festzuhalten ist wichtig, auch wenn später die Frage der Integrität differenzierter gestellt werden muss in Fällen, wo dieses Selbstwissen zunehmend verloren gehen kann, bedingt z. B. durch Demenz. Die komplexen Fragen dieser Art von Zugehörigkeit sollen hier indes nicht vertieft werden. Sie verdeutlichen aber, wie sehr das Individuelle überhaupt schon immer Teil von etwas ist, das als das Öffentliche gilt. Das Öffentliche beruht auf Verfahren, Regeln und Handlungsformen der Gemeinschaft. Es ist der Bereich, aus dem heraus Stabilität, Bewegung und Veränderung der Gesellschaft erwachsen und der das Aktionsfeld der Individuen sozial und politisch transformiert. Die Anthropologie macht in ausgezeichneter Weise mit kulturspezifischen Verfahren vertraut, die in einer Deutlichkeit, die in der divers gestalteten ‚Moderne‘ selten zu erfahren ist, eine Integration und Platzzuweisung für das Individuum vorsehen. Das fängt schon mit der Namensgebung an, die bei den indigenen Stämmen Nordamerikas das Neugeborene in ein Verwandtschaftsnetz einbettet, in dem das ‚Ich‘ sprachlich je nach Kontext in seine Position zu anderen gesetzt wird. Aus den je spezifischen Beziehungen ergeben sich die vorgeschriebenen Anredeformen. Diese Setzung ist linguistisch-formal verbindlich und schließt Rechtsbeziehungen ein, aus denen sich materielle Ansprüche und Verpflichtungen innerhalb der Gemeinschaft ergeben. Auch das Recht auf Zuteilung des Namens ist dabei formell geregelt. So greift der Anthropologe M. Mauss die linguistischen Untersuchungen zu den Sprachen einiger Stämme Nordamerikas und indigener Sprachen Mexikos auf. Er stützt sich dabei zum Teil auch auf Ergebnisse der Forschungen des Linguisten und Ethnologen F. Boas: „Wenn man nun weitergeht und feststellt, dass das Leben der Individuen, das die Clans und die sie übergreifenden Gesellschaften in Gang hält, nicht nur das Leben der Dinge und der Götter, sondern auch das Eigentum der Dinge sicherstellt, und dass außerdem dadurch nicht nur das Leben der Menschen hier und im Jenseits, sondern auch die Wiedergeburt der (männlichen) Individuen als der einzigen Erben der Träger der ihnen verliehenen Namen sicherstelle, während die Reinkarnation der Frauen auf gänzlich andere Weise geschieht, so wird begreiflich, dass wir insgesamt gesehen bei den Pueblos einen Begriff der Person und des Individuums vor uns haben, das noch ganz mit dem Clan verschmolzen, doch auch schon von ihm abgelöst ist im Zeremoniell, durch die Maske, seinen Titel und Rang, seine Rolle, sein Eigentum und durch sein Fortleben und Wiedererscheinen auf Er-
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2.2 Autonomie: ein Überblick den in einem seiner Abkömmlinge, der mit denselben Stellungen, Vornamen, Titeln, Rechten und Funktionen ausgestattet ist“ (Mauss [1950] 1989, 230).
Die Namensgebung orientiert sich allgemein an den drei Kriterien von Rang (innerhalb der Familie), von Status (in der Gemeinschaft) und Rolle (personal/individuell). Die Namensgebung ist dabei mit der Ahnenwelt verknüpft und stellt damit Kontinuität und spirituelle Bezüge sicher.17 Ein zusätzliches magisches Element kommt dabei insofern ins Spiel, als die Namen animistische Bezüge aufweisen, die ihrerseits mit Schöpfungsmythen verknüpft sind und dem Individuum somit qua Namensgebung eine spirituelle Komponente verleihen, die es mit besonderen Kräften ausstattet. Die Ganzheit des Individuums, und darauf kommt es hier an, verdankt sich also seiner Einbettung in ein soziales und religiöses Ganzes. Dabei spielt der Ahnenbezug in den sog. Maskenkulturen eine besondere Rolle. Die bei Festen, Zeremonien und Kämpfen eingesetzten Masken verbinden die Individuen mit Fähigkeiten und Kräften, die das besondere Wesen der Person in ihrer Rolle bzw. Funktion in der Gemeinschaft zeigen und auf magische Weise aktivieren und potenzieren. Die etymologische Quelle des Personbegriffs wird in Anthropologie und Ethnologie auch gerne mit dem Bild der Maske verbunden. Das Wort persona im Lateinischen könnte auf die Übernahme des griechischen prosõpon (Gesicht, Miene, Gestalt) durch die Etrusker zurückgehen. In Mysterienspiel und Drama werden vermittels der Maske die Figuren des Spiels (Gesicht, Miene und Gestalt), ihre ‚Rollen‘ also, als Träger von Handlungsqualitäten sichtbar gemacht. Vielleicht bildet in der Übernahme aus dem Lateinischen das Verb per-sonare (=hindurchtönen) den Ausgangspunkt für die zunehmend abstrakte Umdeutung hin zum Begriff Person.18 Die Verknüpfung des Personbegriffs mit Rolle und Maske wäre in dieser Hinsicht ein nachvollziehbarer Deutungsansatz. Wie genau der Übergang von persona aus diesem Kontext in das römische Recht stattgefunden haben mag, bleibt indes spekulativ. Das römische Recht, das die Grundlage für das europäische Rechtssystem bildet, baut bekanntlich auf den Begriffen persona, res und actiones auf. Da die Maske im Unterschied zum realen menschlichen Antlitz eine Fixierung leistet, wohingegen das Gesicht durch seine Mimik mit den ständig wechselnden Gefühlen auf intime Weise verbunden ist und sich darüber hinaus lebensgeschichtlich wandelt, wäre in der Maske somit eine stabile ikonische Referenz etabliert.19 Jedes Rechtssystem
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Auch das römische Recht, dem das unsrige zugrunde liegt, hebt den Bürgerstatus durch Vorname, Nachname, die Einfügung des Vaternamens und in Dokumenten den Namen des Tribus (Abstammung) hervor. Im christlichen Verständnis wird der Rechtsstatus als Mitglied der Gemeinde und der Gesellschaft durch die Taufe hergestellt. Erst mit der Trennung von Kirche und Staat kommt es auch zu behördlichen Bevölkerungsregistern. Vgl. hierzu die Darstellung bei Mauss ([1950] 1989, 240ff). Das menschliche Antlitz steht in seiner unmaskierten und unverschleierten Form in vielen Kulturen wegen seiner Schönheit und Einzigartigkeit in unmittelbarem Bezug zum Spirituellen. Darauf verweist
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braucht diese in sich stabile Referenz.20 In Ritualen und in der Kunst erhält das durch die Maske Gesagte eine erhöhte Geltung. Dass der rechtliche Gebrauch sukzessiv den moralischen Bedeutungsgehalt konfiguriert, scheint mehr als plausibel.21 Während moderne Rechtssysteme mit dem Begriff der Schuld eher formal operieren und während zugleich das individuelle Schuldempfinden als Gewissen ins Innere verlegt ist, kommt der Scham die Funktion eines kollektiven Regulativs der moralischen Ordnung zu, das gleichwohl zutiefst die inneren Dispositionen der Person prägt. Selbstregulation der Gemeinschaft und Personstatus stehen folglich in einem engen Zusammenhang, da es bei der Scham um die Verletzung eines gemeinschaftlich anerkannten ideellen Guts geht, an dessen gewährter Teilhabe der Personstatus gebunden ist. Die anthropologisch begründete Abgrenzung von Scham und Schuld ist durch R. Benedicts Vergleich von japanischer und amerikanischer moralischer Kultur prominent geworden (Benedict [1946] 2019). In moraltheoretischer Hinsicht sind jedoch Zweifel an der Entgegensetzung beider Konzepte angebracht. In Benedicts Anschluss an M. Meads Unterscheidung von verinnerlichten internen und externen sozialen Sanktionen22 hat sich die absolut gesetzte Abgrenzung zweier ‚Kulturen‘ der Moral bis in heutige Zeit verselbstständigt. Benedicts Arbeiten basieren nicht auf eigenen empirischen Studien; sie stehen im Kontext der Beratung des amerikanische Militärs im Kampf gegen Japan.23 Schuld im Sinne einer formellen Zuschreibung von Verant-
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der Anthropologe J. Campbell, der seinerseits auf N. v. Kues theologische Deutung Gottes als Gesicht der Gesichter Bezug nimmt (Campbell [1959] 1984, 51). Kulturen, die den Gesichtsverlust kennen, verstehen das Gesicht als Wesen von Personalität schlechthin. Auch darin liegt ein Moment der quasi magischen Kräfte der Gemeinschaft über das Individuum begründet. Der Übergang vom sakralen zum säkularen Begriff der Person findet sich pointiert formuliert bei E. Durkheim: „In der Tat ist eines der Hauptaxiome unserer Moral (man könnte sagen, das Hauptaxiom), dass die menschliche Person heilig ist. Sie hat Anrecht auf den Respekt, den der Gläubige aller Religionen seinem Gott vorbehält“ (Durkheim [1902 u. 1903] 1984, 153/154). Es ist zu vermuten, dass das Ringen um den Integritätsbegriff auch mit der Suche nach einem Eigenwert der Person im spirituellen Sinne zu tun hat. Gegenüber dem Antlitz können mit der Maske sowohl Entlastungen als auch Erhöhungen der Person verbunden sein. In rechtspositivistischer Sicht sollte der Personbegriff als Begriff des objektiven Rechts nur formal im Verständnis von Akteur konzipiert werden. Da die substantiellen Merkmale der Person, wie Wille und Handlungsfähigkeit, in empirischer Hinsicht Personen nicht durchgängig zur Verfügung stehen, könnte eine Lösung dieses Dilemmas darin bestehen, die Rechtsperson als eine Rechtsfiktion zu konzipieren. Nach T. Altwicker ergeben sich daraus rechtslogische Probleme: „Mit einer Fiktion können weder die notwendigen noch die hinreichenden Begriffsmerkmale angegeben werden, die der Rechtsperson, insbesondere der juristischen Person, eigentümlich sind. Über die gesuchte ‚Rechtsperson an sich‘ erfahren wir mit dieser Verdoppelungsstrategie nichts. Insofern kann man von einer ‚Entpersonalisierung durch Fiktion‘ sprechen“ (Altwicker, in: Gröschner et al., Hrsg., 2015, 225–244; 236). Siehe dazu auch M. Mauss (a.a.O., 247/248). Siehe hierzu: M. Mead ([1937] 2017, Einleitung zur 2. Aufl., vii-x). Zu den psychologischen Unwägbarkeiten der amerikanischen Gegenangriffe gegen Japan siehe: J. Keegan 1993/1995, 530f. Zu einem aktuellen Kulturvergleich der Dispositionen zu Scham, Schuld und Stolz von Kindern aus Japan, Korea und den USA siehe: E. Furukawa et al., (2012).
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wortung hat kulturell sicher eine andere Funktion als Scham und Beschämung als Ausdruck gemeinschaftlicher Sanktionierung; allerdings können beide Formen sozialer Kontrolle in einem engen Zusammenhang stehen. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass es für Scham kein Maß gibt, während Schuld nach Kriterien gewichtet werden kann. Als ein Beispiel starken Schamempfindens kann hier die Angst vor Gesichtsverlust gelten, denn dieser betrifft immer die Person als Ganze. Die tiefgreifende Wirkung des Gesichtsverlustes findet sich nicht nur in der japanischen Kultur. Vergleichbares ist auch aus der melanesischen Kultur bekannt. In den Ehrbegriffen europäischer Kulturen finden sich ebenfalls Überschneidungen von intern und extern begründeten Formen moralischer Sanktionen, die nicht nach formellen Gesichtspunkten der Schuldabwägung differenzierbar sind. Es scheint plausibel, dass die Institution des Gesichtsverlustes in den adligen Kriegerkasten entstanden ist. Im melanesischen Bereich ist dieser Aspekt der Kultur nach wie vor an die männlich geprägte Kampfeskultur gebunden. Für das Verständnis von Integrität wird diese Unterscheidung von besonderer Bedeutung sein. Wenn es so ist, dass Scham sich auf die Person als Ganze bezieht und in Gemeinschaften mit starker sozialer Bindung als ein öffentliches Phänomen behandelt wird, Schuld dagegen mit spezifischen Verfehlungen verbunden und an die Institution formaler Rechtsprechung gekoppelt ist, dann wird die in der Moderne herausgebildete Differenzierung dieser beiden Bereiche auch Auswirkungen auf das Integritätsverständnis haben. In eher individualistischen Kulturen ist Scham jedoch nicht verschwunden; sie wirkt als Korrektiv von maßlosem Überlegenheitsdenken und individuellen Verfehlungen (auch jenseits des formellen Rechts) und eröffnet den Weg zur Reue und zum individuellen Verzeihen.24 In religiösen Gemeinschaften mit enger sozialer Kontrolle wird Scham als Mittel der Erziehung zur ‚Umkehr‘ effektiv eingesetzt. Das ist aber 24
In Scham, Schuld und Notwendigkeit (Williams 2000) sucht B. Williams die tiefere Verbindung unseres an Verantwortlichkeit gebundenen Schuldbegriffs zu dessen Quellen in der griechischen Antike. Da es hier darauf ankommt, den konstitutiven Zusammenhang zwischen dem Personbegriff und Integritätsvorstellungen im kulturellen und politischen Kontext aufzuzeigen, sind Williams Betrachtungen inspirierend für die Idee einer Verankerung von Scham in Kulturen, in denen Kultur und Person auf sehr dichte Weise miteinander verbunden sind. Bei der Lektüre griechischer Sagen erkennen wir heute hinter den Personennamen eher einen kulturell verankerten Handlungstypus als ein Individuum mit einer Entwicklungsgeschichte und moralischer Reflexion. Es geht also eher um die Frage, nach welchem göttlichen Gesetz gehandelt werden soll; Handlungsdispositionen sind daher nicht hochgradig individualisiert und ‚göttliche‘ Interventionen in kritischen Situationen sind nicht selten. Für ‚moderne‘ Individualisten spielt die Scham nach Williams moralisch nach wie vor eine fundierende Rolle, auch wenn kein externer Druck zur Rechtfertigung besteht. Allein die Imagination eines externen Beobachters oder unseres ‚höheren Selbst‘ können an die Stelle der urteilenden Gemeinschaft treten. Der von M.-S. Lotter im Anschluss an Malinowski diskutierte Fall eines Selbstmörders auf einer Trobriand-Insel, den sie als Beleg intern empfundener Scham deutet, sollte mit Vorsicht betrachtet werden (siehe hierzu auch die Ausführungen bei M.-S. Lotter 2012, 96–106). Tertiäre Deutungen anthropologischer Beispiele sind kaum verifizierbar. Außerdem ist zu bedenken, dass kulturelle Deutungssysteme im Wandel begriffen sind. Auch relativ isolierte Kulturen stellen kein ‚Museum‘ ewiger menschlicher
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nur die eine Seite. Die Auflösung verlässlicher Gemeinschaften führt auf der anderen Seite dazu, dass sich vermittels des Internets temporäre Kollektive formieren, die das Internet als sozialen Pranger benutzen, um einen Mechanismus der willkürlichen organisierten Beschämung auszulösen. Der Macht des Internets als Forum des Mobbing kann bislang nur sehr unzureichend mit gesetzlichen Mitteln begegnet werden. Aufbauend auf den von M. Mauss untersuchten Besonderheiten der Konstitution des Individuums in Kleingesellschaften,25 die dem modernen Personbegriff in seiner philosophischen und rechtlichen Abstraktheit weit voraus liegen, kann nun eine erste genauere abgrenzende Bestimmung von Identität und Integrität geleistet werden.
Begriffsbestimmung II: Integrität in Kultur und Gesellschaft Während Identität personaliter und lebensgeschichtlich gestaltet wird, sind es die Rahmenbedingungen einer Kultur und Gesellschaft, die dem Individuum eine Integrität a priori, d. h. unabhängig von den Ausformungen von Persönlichkeit und Charakter bereitstellen. Diese Art der Integrität stellt in primär am dichten Zusammenhalt orientierten Kleingesellschaften eine verlässliche Verbindung zwischen dem Individuum und seiner Gemeinschaft her: Kraft der Verwandtschaftsbeziehungen werden rechtliche und materielle Ansprüche sowie Pflichten auf die Person übertragen. Integrität ist daher auf das Ganze einer Gemeinschaft bezogen ein objektiver Wert, dessen Verletzung zu Konflikten und negativen Sanktionierungen führt. Während sich Identität funktional ausbildet und prozessual gelebt wird, basiert Integrität auf normativen Kriterien, die die Kultur an ihre Mitglieder weitergibt. Diese Kriterien unterscheiden sich je nach Gesellschaftsform gemäß dem Grad ihrer subjektiven Auslegung und Auslegbarkeit und ihrer
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Dispositionen dar. Insbesondere kann man dabei an den Einfluss der Missionierung denken, die auf den Trobriand Inseln um 1892 begann. (Siehe hierzu: G. Senft, in: Stüben, E., Hrsg., 1994, 71–91). Die hier zitierten älteren ethnologischen Texte verwenden in der Regel den Begriff der primitiven Kultur. Aus heutiger Sicht beinhaltet die darin mitgedachte Abgrenzung zu den ‚höher‘ entwickelten westlichen Industriekulturen eine pejorative Sicht auf sog. Naturvölker. Der Begriff des Naturvolks, der ebenfalls häufig gebraucht wird, geht wahrscheinlich auf Rousseau zurück. Eine Idealisierung der aus seiner Sicht wenig komplexen Gemeinschaften sollte jedoch nicht als wissenschaftlich begründet gelten. Die von dem Soziologen D. Gawora vorgeschlagene Begriffsbildung ‚traditionelle Völker und Gemeinschaften‘ wäre im deskriptiven Verständnis akzeptabel, wenn damit keine wertende Polarisierung von ‚traditionell vs. modern‘ verbunden sein soll. Eine sorgfältige Kommentierung der unterschiedlichen Begriffsvarianten bietet der Artikel ‚Naturvolk‘. Abrufbar unter: https:// de.wikipedia.org/wiki/Naturvolk (30.04.2020) sowie der Link zur Forschungsgruppe. Abrufbar unter: https://www.uni-kassel.de/fb05/fachgruppen/politikwissenschaft/didaktik-der-politischen-bildungpowi/mitarbeiterinnen/dr-dieter-gawora/forschung/forschungsgruppe-traditionelle-voelker-undgemeinschaften.html (30.04.2020).
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Abstufung. Der Personstatus ist folglich eine Art zunächst nicht-konditionierter Garantie der Gesellschaft; dies gilt für die rechtsförmig aufgebaute bürgerliche Gesellschaft in besonderem Maße.26 Diese Garantie kann je nach Kultur an mehr oder weniger strenge, mehr oder weniger formell oder traditionell statuierte Regeln und Normen gebunden sein. Anders als der Begriff der Identität eignet sich der Begriff der Integrität nicht für das in der Moderne, und da besonders in der Literatur, gepflegte Pathos der Individualität, da Integrität mit überindividuellen konstitutiven Bedingungen normativer Art verbunden ist, die den Personstatus betreffen.27 Integrität steht daher in dem Spannungsverhältnis zwischen der Erfüllung objektiver Kriterien des Personstatus und der individuellen Gestaltung des eigenen Lebens. Die Menschenrechte (seit 1948) haben dem Personstatus erweiternde Kriterien hinzugefügt, sind aber weit entfernt von einer umfassenden einzelstaatlichen Positivierung. Die konditionierten einzelstaatlichen Regelungen des Personstatus können in vielen Fällen einzelnen Menschenrechten oder sogar generell dem Anspruch des Würdeschutzes der Person widersprechen.28 Das ist allerdings nicht überraschend, denn die Menschenrechte in kodifizierter Form sind zu den in Kulturen und Gesellschaften entwickelten Personalitätskonzepten erst in jüngster Vergangenheit hinzugekommen. Die Diskussion um Universalismus und Partikularismus der Menschenrechte gerät daher leicht in Erstarrung, wenn die historischen und kulturellen Dimensionen nicht mitreflektiert werden.29 26
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In der Formulierung der Statuslehre des Staatsrechtlers G. Jellinek: „Die Anerkennung des einzelnen als Person ist die Grundlage aller Rechtsverhältnisse“ (Jellinek, [1896] 2016, 419). Die Philosophie der Person im Kontext der Philosophie des Geistes hat sich vor allem mit der Frage der Persistenz der Person beschäftigt und ihren Schwerpunkt auf das Verhältnis von Geist und Körper gelegt. Fragen der Konstitution der Person im Verhältnis zur Sozialität spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Zu einem Überblick über Personenbegriffe in dieser Tradition siehe: M. Quante (2007). Dieser Diskussionsansatz wird in der vorliegenden Arbeit nicht verfolgt. Als eklatante Beispiele seien hier die Praktiken der Genitalbeschneidung, die vielerorts noch als Definition des anerkannten Personstatus als Frau verteidigt werden, und der minimierte Rechtsstatus der Frau im öffentlichen Leben, in Familie und Ehe innerhalb der nach konservativer Rechtsauslegung regierten islamischen Staaten genannt. In animistich geprägten Gesellschaften spielt die schwarze Magie nach wie vor eine bedeutende Rolle, wenn eine Person der Gemeinschaft zu einer ‚Unperson‘ deklariert werden soll. Und schließlich kennen wir aus der deutschen Vergangenheit die Praktiken des durch ‚Gesetze‘ und Kennzeichnungspflicht betriebenen Ausschlusses der jüdischen Mitbürger, die zur völligen Aberkennung ihres Personenstatus im rechtlichen Sinne geführt hat. Der Impetus der Menschenrechtserklärung von 1948 war es, jeder staatlichen Gewalt jede Einschränkung des Personenstatus seiner Bürger zu untersagen. Die bis dahin noch übliche Berufung einer Regierung auf die Souveränität des Staates im Umgang mit seiner Bevölkerung sollte fortan unmöglich sein. Zur historischen und rechtstheoretischen Vorgeschichte dieses Neuansatzes im internationalen Recht, das erstmalig in den Nürnberger Prozessen zur Anwendung kam, hat der amerikanische Anwalt für Menschenrechte Philippe Sands eine bewegende biografische Rekonstruktion geleistet (Sands 2018). Diese Kontroverse ist hier nicht mein Thema. Ich verweise auf die umfangreiche Untersuchung von J. Eckel (2014), insbesondere auf die Einleitung zu grundbegrifflichen und methodischen Fragen (29–
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Personale Integrität wird auf das neue Mitglied vermittels Namensgebung, Maske und Ritual übertragen. Dabei geht es nicht allein um die formelle Mitgliedschaft, sondern um die Qualität von Zugehörigkeit. Die Praktiken dieser Übertragung stellen also die Bedingungen der Möglichkeit von Personalität im Rahmen der Gemeinschaft überhaupt dar.30 Es geht nicht um Substitute oder Ergänzungen, die dem Individuum akzidentiell zukommen, sondern sie strukturieren dieses von Grund auf. Daher ist auch zu erklären, warum die schwarze Magie in traditionellen Kulturen so gefürchtet ist, denn diese zielt auf Stigmatisierung und Ausschluss aus der Gemeinschaft. Deren zerstörerische Wirkung bis hin zu Krankheit und Tod des Individuums ist gründlich bezeugt.31 Eine Unterscheidung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, wie sie mit der Ausbreitung bürgerlicher Lebenswelten verbunden ist, hat für das traditionelle Gemeinschaftsleben keine tragende Bedeutung. Sofern man mit Vorsicht von ‚Öffentlichkeit‘ reden will, so gibt es diese in beschränkter Form z. B. bei den Stämmen des Hochlandes und der Sepik-Region Papua-Neuguineas innerhalb des Männerhauses. Dort werden Gegenstände des Ahnenkultes verwahrt, und die Beratungen über Fragen des dörflichen Lebens durchgeführt. Die Schädel der besiegten Feinde aus früheren Zeiten hatten dort ebenfalls ihren Platz, was inzwischen nicht mehr erlaubt ist. Der Wert der Tradition für das Leben und Überleben der Gemeinschaft erklärt die Rolle von „Konformität und Konservatismus ihrer Mitglieder“ (Malinowski 1983, 25). B. Malinowski, der die zur Milne Bay Province in Papua-Neuguinea gehörigen Trobriand Inseln Anfang des
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44). Dass Menschenrechte, wie wir sie heute verstehen, nicht auf ein naturrechtliches ‚Datum‘ zurückgehen, sondern sich einer Politik der Menschenrechte verdanken, ist sicher keine ganz neue Einsicht. Das Verdienst dieser Arbeit besteht v. a. darin, die politischen und rechtsphilosophischen Zusammenhänge in historischer Sicht offenzulegen. Im rechtstheoretischen Sinne muss die Maske als äußere Referenz für die als Rechtswesen adressierte Person ‚leer‘ bleiben, worauf S. Kirste unter Bezug auf die Phädrus-Fabel vom Fuchs hinweist, der die Maske eines Schauspielers findet, jedoch des Gehirns des Maskenträgers entbehren muss. (Zu den ‚beiden Seiten der Maske‘ siehe: S. Kirste, in: Gröschner et al., Hrsg., 2015, 345–382). Personalität und Rechtsperson müssen im ausdifferenzierten Recht strikt unterschieden werden. Von den soziologischen und ethischen Dimensionen der Personalität muss der Rechtsbegriff der Person absehen. Kirste stellt die Rechtsfähigkeit und, als deren Voraussetzungen, die Freiheitsfähigkeit sowie das Recht, Rechte zu haben, in den Mittelpunkt des Rechtsbegriffs der Person (vgl. ebd., 369–373). Für den in dieser Studie vertretenen Ansatz wären die notwendigerweise idealisierenden Elemente der Rechtstheorie zu eng gefasst, um der Funktion der Integrität im Selbstbezug der Person und in ihrer Sozialität gerecht werden zu können. Im Rahmen der Tätigkeit des Autors als Non-Formal-Education-Officer in der Regierung der Milne Bay Province in Papua-Neuguinea (1986–1989) hat dieser Beispiele solcher Wirkungen beobachten können. Trotz der starken Überformung von Animismus, Magie und Ahnenglauben durch die christliche Missionierung wurde bei Fortbildungen zur Community-Entwicklung die schwarze Magie als häufigster Grund für Stammeskämpfe, dörfliche Streitigkeiten und sozialen Unfrieden genannt. Das Gerichtsarchiv der Provinzhauptstadt Alotau bot in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einen reichhaltigen Fundus für Ethnologen und Ethnologinnen, die sich mit Magie befassten.
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20. Jahrhunderts gründlich erforscht hat, stellt fest, dass „[…] Glauben und Gebräuche, die von der Tradition mit einem Heiligenschein umgeben und mit einem übernatürlichen Stempel versehen sind, einen ‚Überlebenswert‘ für den Typ der Zivilisation“ darstellen, „der sie hervorgebracht hat“ (ebd.).32 Es war der Anthropologe R.A. Rappaport, der in seiner Arbeit zur Ökonomie und Ahnenglauben der Papuas den Begriff der Resilienz prägte. Er bezog sich damit auf die Fähigkeit einer Kultur, aus ökonomischen und sozialen Krisen sowie Störungen des ökologischen Gleichgewichts, z. B. im Falle der gefährdeten Nahrungsversorgung, zu lernen und die Grundlagen für eine erneuerte Stabilität zu schaffen (Rappaport [1968] 1984)..33 Das Konzept der Resilienz hat für die philosophische und sozialpsychologische Diskussion des Integritätsbegriffs in den letzten Jahrzehnten ein besonderes Gewicht erhalten. Unzählige Bürgerkriege, die erneute Ausbreitung der Folter in vielen ‚failed states‘ sowie die Begleitumstände erzwungener Migration machen Individuen und soziale Gruppen vulnerabel bis hin zur Traumatisierung. Vulnerabilität und Resilienz stehen in einem engen sozialpsychologischen Konnex, z. B. der Traumatherapie oder der Versöhnungsversuche im Rahmen der Arbeit von Wahrheitskommissionen. Ein hochgradig individualisiertes Integritätskonzept kommt dort an seine Grenzen, wo die Normalität des Alltags von Menschen nicht mehr gelebt werden kann,
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Aus den Beobachtungen des Verfassers bei Besuchen der Trobriand Insel Kiriwina Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, gerade 10 Jahre nach der Unabhängigkeit Papua-Neuguineas, ergab sich ca. 70 Jahre nach den Forschungen B. Malinowskis ein etwas anderes Bild. Der Konservatismus der dörflichen Gemeinschaften bestand weiterhin. Die traditionellen Regeln der Status-Zuweisung schienen einerseits intakt zu sein. Auf den Trobriand Inseln ist das Ranking der lokalen Autoritäten sehr eng mit der Verteilung der Yams-Ernte, der Vorratshaltung für Notfälle der Gemeinschaft und Nahrungsschenkungen an Familien des Dorfes verbunden (vgl. dazu auch: Wiessner/Schiefenhövel, 1996). Der Zugang zu der Hauptinsel Kiriwina mit kleinen Flugzeugen ist darüber hinaus von der Provinzregierung reguliert. Andererseits ist das Interesse an Bildungsteilhabe, High-School-Ausbildung und Ausbildung für eher formale Beschäftigungen im Vergleich zu anderen Landesteilen recht hoch. Bewohner der Trobriand Inseln, die zudem als Koralleninseln von der Erderwärmung und dem Anstieg des Meeresspiegels unmittelbar bedroht sind, waren in der staatlichen Verwaltung, in der Politik und in diversen Geschäftsbereichen stark vertreten. Rappaport wird als Begründer einer ökologisch orientierten Anthropologie anerkannt. Seine Grundannahmen in Pigs for the Ancestors (1968) bauen auf dem kybernetischen Regulationsmodell auf, das die ökologischen Bedingungen der Nahrungserzeugung zum Nahrungsbedarf (hier: speziell die Proteinversorgung) ins Verhältnis setzt. Folgt man Rappaports Theorie des Heiligen, dann ist der wiederkehrende Zyklus aus Kriegsführung und ausgleichenden Handlungen auf die Restitution der (heiligen) Ordnung der Ahnen ausgerichtet. In nachfolgenden Untersuchungen wurde die auf dem kybernetischen Modell aufbauende Annahme einer ‚ausgleichenden Systemlogik‘ in Frage gestellt. Zu einer methodologischen Kritik und Würdigung siehe: M.-S. Lotter, in: M. Hagner/E. Hörl, Hrsg., (2008, 275–298). In der von mir vertretenen Verwendung des Begriffs der Resilienz geht es – in Abgrenzung zu Rappaport – nicht um die religiös verankerten Selbstheilungskräfte der Gemeinschaft, sondern um die politischen und kulturellen Anstrengungen von Individuen und Gruppen, ihre Integrität zu sichern und ggf. zu erkämpfen.
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die Erfahrungen von Gewalt, Grausamkeit und Missbrauch gemacht haben. Die unterstützende Restitution der von außen verletzten Integrität kann dann nur in einem sozialen Netz geleistet werden, das durch Vertrauen und wachsendes Selbstvertrauen von Grund auf neu geknüpft wird. Der Ausflug in die Anthropologie traditioneller Gesellschaften Nordamerikas, Mexikos und der Trobriand Inseln, deren Erforschung auf das ausgehende 19. Jahrhundert und das frühe 20. Jahrhundert zurückgeht, mag etwas fremd für ein individualistisches Personverständnis klingen. Wenn man sich jedoch stark religiös gebundene Gemeinschaften ansieht, dann wird man ähnliche Elemente der Gemeinschaftsausrichtung feststellen können. Und auch in den unter Zwang und mit Gewalt christianisierten Gebieten in Folge der Conquista Lateinamerikas und den afrikanischen Kolonien findet man häufig eine doppelte Verankerung des Individuums als Person: Die Namensgebung kombiniert Ahnennamen aus der Stammestradition bzw. Generationenfolge mit Namen, die einen Bezug zur neu erworbenen Religion herstellen. Bezüglich der Namensgebung in den ‚modernen‘ westlichen Kulturen scheint es genau umgekehrt zu sein. Während frühere Generationen häufig noch die Generationenfolge als Zweit- und Drittnamen auf der Geburtsurkunde und im Personalausweis finden, scheint die Namensgebung heute ein gutes Beispiel für den Individualisierungsdruck in der Moderne zu sein. Der Name des neugeborenen Kindes soll originell sein und gleichzeitig eine einnehmende und hoffnungsvolle Projektion für das zu erwartende Leben bieten. Nicht die rückwärtige Anbindung an Traditionen, sondern die Identifikation mit Idolen und Vorbildern aus der medialen Welt könnten für viele Eltern, bewusst oder unbewusst, den Maßstab für die Namenssuche bilden. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch ein wachsendes Interesse an der eigenen Herkunft. Da gibt es einerseits den existenziellen Druck zur Aufklärung von Elternschaft bei Adoptionen und Zwangsadoptionen (besonders dramatisch die Fälle in der ehemaligen DDR sowie innerhalb kirchlicher Institutionen bei minderjährigen Müttern) und andererseits das wachsende Interesse an Namensforschung, Familiengeschichte und Stammbaumforschung. Hier haben sich inzwischen private Forschungsinstitute einen beachtlichen Markt erobert. Da die kulturellen Spiegel, in denen sich das Individuum in der Moderne selbst erfährt, im Unterschied zu denen der traditionellen Kulturen nicht mehr derart stark begrenzt und fest aufgestellt sind, dienen derartige rückwärtsgewandte Vertiefungen der eigenen Historie eher der akzidentiellen Ergänzung, dem Prestigegewinn oder im besten Falle der Selbstaufklärung. Die konstitutive Bedeutung für das Subjekt ist dabei eher als gering anzusehen. Ganz anders stellt sich dies indes im Falle der Stammes- und Familiengeschichten ehemaliger Kolonialgebiete besonders in Afrika und Südamerika dar. Die koloniale Gewaltausübung der europäischen Mächte hat zum Verlust der eigenen Siedlungsgebiete, zu Vertreibungen in fremde, unwirtschaftliche Territorien, zur Zerstörung kultureller und rechtlicher Traditionen und zum Verlust der kollektiven Identität insgesamt geführt. Die
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Rekonstruktion dieser Vorgänge und deren Wirkung auf das Verständnis von Sozialität hat gerade erst begonnen.34 Eine rein methodologische Anmerkung zu diesem Abschnitt sei hier vorausgeschickt. Der hier geübte ethnologisch-anthropologische Rückbezug hat keinen nur narrativen Anspruch. Dem Anspruch einer wertfreien Narration können die durch die Augen und Kategorien der europäisch-amerikanischen Anthropologie und Ethnologie gesichteten traditionellen Gesellschaften ohnehin nicht gerecht werden. Noch weniger dient der Ansatz dazu, ‚primitives‘ Denken einer aufklärerischen, normativen Vernunft gegenüberzustellen, um am Ende eine vollendete Vernunft, wie Kant und Hegel diese auf unterschiedliche Weise verstehen, in gleißendes Licht zu setzen.35 Hier soll nicht das Vorurteil gefördert werden, dass Selbstverhältnisse der Integrität ausschließlich und immer nur solche sein können, die dem Anspruch einer wie auch immer autonomen Subjektivität gerecht werden, sei es, dass wir eine solche als Realität oder aber als Fiktion der Moderne, ihr quasi genetisches Phantasma, charakterisieren. Daher sollte Enthaltsamkeit angebracht sein, was den Gebrauch der Entfremdungsmetapher als Grundstein der Sozialanalyse betrifft. Der theoretische Allgemeinheitsanspruch der Sozialphilosophie sollte sich auch an materialen empirischen Bezügen bewähren. Ins Positive gewendet soll dies heißen: Der Geltung der Priorität der Lebenswelt ist methodologisch unbedingt Rechnung zu tragen. Der Grund dafür ist sehr einfach: Die Ausformung des spezifisch Menschlichen (humanum) in all seiner Differenziertheit fordert den offenen Blick für das jeweils Andere im Anderen heraus. Dieser offene Blick ist nur im kritischen Umgang mit der eigenen kulturell geprägten Sprache möglich. Er verlangt Selbstreflexion, die der Sprecher/die Sprecherin gar nicht auf sich allein gestellt zuwege bringen kann. Wollten sie dies dennoch tun, unterliefen sie der Gefahr der Kurzschlüssigkeit und Zirkularität. Aus dieser offenen und selbstkritischen Haltung werden keinesfalls Relativismus und Selbstverleugnung erwachsen, denn womit und worin sprachfähige Subjekte ihre Identität behaupten und ihre Integrität zu sichern versuchen, ist eben ihre Lebenswelt. Diese besteht ihrerseits aus kulturellen Anleihen, Übernahmen und Überlappungen, die häufig erst bewusst gemacht werden müssen. Es geht also um das Transkulturelle als Bewegungsmoment in der Geschichte, um Irritationen und Eruptionen des bislang noch international und supranational notdürftig regulierten ‚Weltsystems Erde‘. Insofern man hier mit Blick auf das Individuum und seine Integrität eine gemeinsame Tiefenstruktur entdecken kann, wird diese Entdeckung die jeweiligen kulturellen Wurzeln nicht verleugnen müssen. Keine Kultur entgeht jedoch dem Schicksal des Transitorischen, sowohl aus Gründen 34
35
Der Sammelband Dekolonisierte Rechtskritik (W. Kaleck/K. Theurer, Hrsg., 2020) macht hier einen Anfang. Er zeichnet sich durch die enge Verknüpfung von Generationengeschichten, Erfahrungen kolonialer und postkolonialer Gewaltausübung und den integritätsverletzenden und -verweigernden Rechtssystemen der Vergangenheit und Gegenwart aus. In kritischer Reflexion hierzu siehe: S. Toulmin (1972/1983, insbes. 56–69).
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der Anpassung an veränderte Umwelten als auch aus Gründen des antizipierenden Lernens, das die menschliche Kreativität im besonderen Maße auszeichnet.
2.2.2 Nichtstaatliches und staatliches Recht – Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit Die Beziehung von Kultur und Personalität ist in einem Rechtsverständnis fundiert, das nicht in erster Linie und primär von zentralstaatlichem Recht geprägt sein muss. Rechtssysteme nichtstaatlicher Gemeinschaften erfüllen in erster Linie die Funktion des Ausgleichs bei Konflikten und bei der Sicherung der Ordnung nach innen sowie gegenüber benachbarten Gemeinschaften, die als Konkurrenten um Land und Ressourcen wahrgenommen werden. Die Abwesenheit einer regulatorischen Staatsgewalt und eines neutralen Rechtssystems mit übergeordneten Instanzen schafft eine historisch kontingente Zwischenzone von Zivilrechten und Gemeinschaftsrechten. Deren Bindungskräfte leiten sich aus den ökologischen und ökonomischen Lebensbedürfnissen, den symbolischen Identifikationen und Statusregeln der Gemeinschaft und den in Ritualen der Kultur verankerten religiösen Überzeugungen ab. Da die Nachbarschaft zu anderen Clans und Dorfgemeinschaften nicht aufgehoben werden kann und da es in vielen Bereichen wechselseitige Abhängigkeiten gibt (z. B. beim Wegerecht zwischen Hochland- und Küstenbewohnern in Papua-Neuguinea oder bei Geschäftsbeziehungen), kommt es im Fall von intergemeinschaftlichen Konflikten und Kämpfen darauf an, Lösungen zu erreichen, die beiden Seiten die Wahrung des Gesichts erlauben. Die Erfolge bzw. Misserfolge der Integritätswahrung der eigenen Gemeinschaft übertragen sich unmittelbar auf jedes ihrer Mitglieder. Verhandlungen, die sich traditionell zwischen den Ältestenräten abspielen, zielen weniger darauf ab, einen dauerhaften Frieden zu garantieren als einen fallbezogenen Ausgleich zu erreichen. Wie der Ethnologe J. M. Diamond für das heutige Papua-Neuguinea konstatiert, sind echte Versöhnung und ernst gemeinte Entschuldigungen selten zu erwarten. Reichweite und Erfolg der staatlichen Ziviljustiz sind daher eng begrenzt und werden aufgrund der hohen Anwaltskosten selten in Anspruch genommen (siehe hierzu: Diamond 2012, 119–124). Wo die Zugriffsrechte der Zentralgewalt auf die Territorien der Stämme begrenzt sind, weil die angestammten Landrechte verfassungsmäßig garantiert sind, kann daher von einer pluralen Rechtsordnung ausgegangen werden. Die Abgrenzung der involvierten Rechtssysteme kann je nach Fall unklar und unbestimmt sein. Da traditionelle Rechtsordnungen kein Strafrechtssystem darstellen, sondern primär der Konfliktregulation dienen, sind innergesellschaftliche Konfliktregulation und zentralstaatliche Strafverfolgung im Falle von Gesetzesverstößen schwer zu vereinbaren.36 36
Eine rein zivile regulatorische Funktion unterhalb von Straf- und Zivilrecht kommt heute den Ombudsstellen in den Bundesländern zu. Diese dienen der Anhörung von Beschwerden bei nachbar-
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Einen anderen Fall der Gleichzeitigkeit von Rechtsordnungen stellt der Konflikt der mit Militärgewalt etablierten zentralen Rechtsordnung der Kolonialmächte mit den lokalen Rechtsordnungen der unterworfenen Stämme dar. Wo die vorgefundenen Rechts- und Herrschaftsordnungen in Teilen hingenommen wurden, wurden diese zur Förderung von Konkurrenz unter den Stämmen und zur selektiven Privilegierung genutzt. Die Funktion von Recht war dementsprechend reines Herrschaftsmittel, das der Klassifizierung und funktionalen Unterordnung von Bevölkerungsgruppen nach ‚rassischen‘ Kriterien diente und eine ewige ‚gottgewollte‘ Ordnung der ‚weißen‘ Herrschaft sichern sollte. Dies galt eigentlich für alle Kolonialgebiete Afrikas und bis in die jüngere Vergangenheit für Südafrika und Namibia. Dabei stellte es weder für die jeweilige Kolonialnation noch ihre Juristen ein Problem dar, dass die nationalstaatlichen Rechte der Person auf die Menschen in den Kolonialgebieten keine Anwendung finden sollten. Das Menschenrechtsverständnis der europäischen Mächte wies zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sehr enge Grenzen und viele blinde Flecken auf. Ein erweiternder Blick auf den Pluralismus gleichzeitig bestehender Rechtsordnungen ist der Sozialanthropologie und speziell der Anthropologie des Rechts zu verdanken. Die Dekolonisierung hat in vielen Teilen der Welt zur Gründung neuer Nationen geführt. Hatten lokale Gemeinschaften ihre beschränkten Rechte zuvor von der jeweiligen Kolonialmacht gewährt bekommen, bestand nun die Chance, die Identität der Gemeinschaft im Rahmen des nation building selbstbewusst einzubringen. Für Entwicklungsorganisationen ergab sich nun die Chance, zwischen Projekten lokaler Gemeinschaften und den staatlichen Institutionen eine Brücke zu schlagen. Lokale Gemeinschaften können auf ‚Verwandtschaft‘ im weitesten Sinne dichter sozialer Beziehungen aufbauen und diese fördern. Die Bewährung der Person erfährt so Unterstützung und Bestätigung. Dabei geht es nicht um die familiale Zugehörigkeit im engeren Sinne, sondern um die Gemeinschaftsbildung i. S. einer Verantwortungsgemeinschaft. Die Ambivalenz der Interventionen staatlicher Institutionen, die darin besteht, dass diese einerseits Ressourcen zur Verfügung stellen (können) und andererseits als Eindringlinge wahrgenommen werden, fordert das besondere Geschick lokal akzeptierter Autoritäten heraus, Vertrauen in beide Richtungen zu schaffen: Die Integrität der lokalen Gemeinschaft und jedes ihrer Mitglieder muss gegen staatliche Anmaßungen (‚Paternalismus‘) verteidigt und gleichzeitig muss der Anspruch auf staatliche Mittel gegenüber der höheren Autorität durchgesetzt werden. Die Mikroebene der Gemeinschaft lebt von Interaktionen, die das Verhältnis von Bewährung und Bestätigung regulieren, die ihrerseits die personale Integrität in den Zusammenhang des Erhalts und der Entwicklung kollektiver Güter materieller oder ideeller Art stellen. Staatlichen Interventionen dagegen kommt
schaftlichen Problemen und bei Problemen mit staatlichen Einrichtungen. Die Ombudsstellen sind besonders auf die Herausforderungen interkultureller Kommunikation in der Einwanderungsgesellschaft spezialisiert.
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im Idealfall eine struktursichernde und erweiternde Funktion zu, die nicht der Mikroebene allein gilt, sondern diese mit übergeordneten politischen und wirtschaftlichen Staatsanliegen verknüpft. Ein besonderes Problem stellt dabei die Verflechtung staatlicher Interessen mit global operierenden Konzernen dar, sodass lokale Gemeinschaften sich einer doppelten Gegnerschaft gegenüber sehen, wo es um den Erhalt bzw. die Ausbeutung von Naturressourcen geht. Als ein Beispiel kann der Umgang mit Landrechten in Papua-Neuguinea gelten. Da das Land den Clans gehört, muss die Zentralregierung bei Infrastrukturprojekten (z. B. dem Straßenbau) ggf. Verhandlungen über den Landnutzung durch den Staat führen und das entsprechende Gebiet erwerben. Da das Infrastrukturprojekt zur Wertsteigerung des Gebietes beiträgt, ist es nicht unüblich, dass der Clan Nachverhandlungen anstrebt, um den Kaufpreis nachträglich zu steigern. Solche Auseinandersetzungen können langwierig sein und sie führen auch zu bewaffneten Konflikten. Ein weiteres Problem, das mit den Besitzrechten lokaler Gemeinschaften an Land zusammenhängt, ist das der Direktverhandlung mit ausländischen Unternehmen. Bis Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts konnten in Papua-Neuguinea Clans Direktverträge mit Unternehmen führen, ohne die Zentralregierung und die Provinzregierung einzubeziehen. Diese Verträge betrafen größtenteils Ausbeutungsrechte für Gold und Kupfer und Abholzungsrechte für Edelhölzer des tropischen Regenwaldes. Konflikte zwischen Clans und Dörfern waren deshalb dort zu erwarten, wo ein Clan, der sein Land zur Verfügung stellte, davon profitierte, während andere Clans nur die ökologischen Folgen ‚ernteten‘. In der Folge dieser konfliktreichen Entwicklungen, die in den lokalen Councils ausgetragen werden mussten, hat die Regierung die Prüfung der Verträge übernommen. Die ausländischen Unternehmen wurden dann zu Zugeständnissen beim Umweltschutz und zu Infrastrukturbeiträgen für die Region (Schulen, Krankenhaus etc.) verpflichtet. Regierungsbeamte, sog. liaison officer, werden zur Moderation eventueller Konflikte eingesetzt. Im Falle der Tagebau-Goldmine auf der Insel Misima (Milne Bay Provinz) konnten allerdings die Fischereigründe um die Insel herum gegen die beim Goldabbau eingesetzten und ins Meer geleiteten Cyanide nicht effektiv geschützt werden. In einem weiteren Fall war die Konfliktlage umgekehrt: Die von der Bougainville-Coppermine auf der Insel Bougainville erwirtschafteten Gewinne, an denen die Zentralregierung ca. 20 % Anteil hatte, kamen nur in geringem Umfang den Clans der Insel zugute. In der Folge entwickelte sich ein Bürgerkrieg (1987–1997) gegen die Regierung, den diese nicht gewinnen konnte. Weder der Einsatz einer britisch-südafrikanischen Söldnertruppe gegen die gut gerüstete Befreiungsarmee Bougainvilles noch die totale Wirtschaftsblockade der Insel konnten eine Wende zugunsten der Zentralregierung herbeiführen. Diese musste nach einem Krieg mit ca. 20 000 Opfern – bedingt durch Kriegshandlungen und die Wirtschaftsblockade – einem Referendum zustimmen, das zur Teilautonomie der Provinz Bougainville führte. Ein weiteres Referendum, das die volle Autonomie der Region zum Ziel hat, steht noch aus. Dieser Fall von Interlegalität ging also zugunsten
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der Landrechte der Inselbewohner aus und führte zur Stärkung politisch-rechtlicher Selbstverwaltung gegen die Rechtsansprüche der Zentralregierung. Diese und andere Fälle können als Beispiele dafür dienen, dass Rechtspluralität ein kulturelles und anthropologisches Faktum darstellt, das weder von nationalen Regierungen noch von den diversen und bislang noch sehr fragmentierten Rechtsregimen einer globalisierten Welt ignoriert werden kann. Die Unterscheidung nach Mikro- und Makrobereichen des Rechts verweist ja nur formal auf die Struktur, jedoch nicht auf die Funktion und die Gewichtung dieser Bereiche. Die Bedeutung des lokalen und in ethnischen und religiösen Kontexten verwurzelten Rechts erschließt sich nur aus der anthropologischen Innenperspektive der jeweiligen Ethnie. Regime, die nation building mit totalitären Staatszielen verbinden, werden alles daran setzen, das Eigenrecht lokaler Gemeinschaften zu beschränken und zu missachten statt produktiv einzubinden. Eklatante Beispiele der Gegenwart sind der Umgang mit den muslimischen Ethnien der Rohingya in Myanmar und der Uiguren in China. In diesen und ähnlichen Fällen ist der menschenrechtliche Schutz des Individuums nicht von dem Schutzanspruch zu trennen, der sich auf seine Zugehörigkeit beziehen muss. Die rein individualistische Deutung der Menschenrechte als Wesenskern der europäischen Moderne, wie sich diese in Teilen des Liberalismus findet, verfehlt die Bedingungen realer Sozialität. Konfliktfelder der oben beschriebenen Art sind Gegenstand einer Anthropologie des Staates, die Staaten nicht rechtspositivistisch als rein regulatorische, legislativ operierende Instanzen versteht, sondern die ‚Staat‘ als (mehr oder weniger) lockeres Band in sich heterogener, historisch gewachsener Lebensformen auffasst. Deren Bestand impliziert teils formale, teils informale Rechtsverhältnisse, die sich – z. B. durch Einwanderung – weiter differenzieren. In einem solchen Staatsverständnis öffnet sich das Rechtsbewusstsein moralischen Ansprüchen und Konflikten, die über das schon ‚gesatzte‘ Recht hinausgehen. In der Formulierung der Anthropologie des Rechts: „Religious and traditional ‚ethnic‘ laws are usually presented as alternative or counterhegemonic legalities […]. Which legal order then is considered to be ‚normal‘ legality, and which one the ,alternative‘ legality, will largely depend on the historical moment in time and on the eyes through which one beholds the normative and empirical power differential between legal orders and their construction of power“ (F. v. Benda-Beckmann, et al., 2009, 7).
Auf der Grundlage empirisch-anthropologischer Untersuchungen auf West Sumatra kommt F. v. Benda-Beckmann zu dem Ergebnis: „The Minangkabau people perceive their identity and culture (kebudayaan) as firmly rooted in the inseparable unity of their matrilineal adat, an umbrella term for their customs,
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen law and morality; and their belief in Islam. They are also conscious Indonesian citizens and have been prominent in the national parliament and governments during the early decades of independence, but it is adat and Islam that make a Minangkabau a Minangkabau. The motto of ‚adat is based on the Shariah, the Shariah is based on adat‘ has for nearly two centuries, and throughout any political turmoil, expressed the insoluble unity of adat and Islam“ (ebd., 123).
Bemerkenswert ist dabei, dass der ‚adat‘ besitz- und erbschaftsrechtlich matrilinearen Normen folgt und daher mit dem islamischen Recht in Konflikt steht. Benda-Beckmann verweist darauf, dass Rechtskonflikte der Minangkabau mit dem islamischen Recht des Staates, die aus dessen Zurückweisung des customary law folgen, unter Einbeziehung der Menschenrechte produktiv gelöst werden könnten. Dies gilt v. a. für den Zugang zu Wasser, der durch staatliche Eingriffe in angestammte Siedlungsrechte verhindert würde (siehe hierzu: ebd. 118–128, insbes. 124/125). Bei Konflikten dieser Art spielt der Einfluss von NGOs, die die Drittperspektive von Menschenrechten stark machen, eine besondere Rolle. Das verbreitete Vorurteil, dass Menschenrechte notwendigerweise mit ‚westlichem Individualismus‘ verknüpft sind und mit den elementaren Fragen der Lebenssicherung nichts zu tun hätten, lässt sich mit Blick auf Ernährung, Gesundheit und Ressourcensicherung allgemein leicht widerlegen. Staatliche Macht, die sich als Mittel der Rechtsordnung versteht, stellt sich den Bürgern gegenüber den Ansprüchen an Legitimität. Damit sind dann auch immer Fragen der moralischen Ordnung der Gesellschaft im Ganzen verbunden. Wo allerdings das gerade herrschende Recht als ‚die Normalität‘ absolut gesetzt wird, wird auch die Verbindung zwischen Rechtsadressaten und Rechtsgestaltung gekappt. Der Rechtsmonismus, der den Anspruch auf Durchsetzung des staatlichen Rechts absolut setzt, setzt sich der Gefahr aus, der rechtlich-moralisch differenzierten Rechtskultur der Gesellschaft nicht gerecht zu werden.37 Allein die Kontroversen um das Instrument der Volksabstimmung verdeutlichen, dass auch in erprobten Demokratien nicht alle Grundsatzfragen der Rechtsbildung gelöst sind. Der staatliche Anspruch auf Sicherung der Integrität der Bürger und Bürgerinnen verliert dann seine Überzeugungskraft, wenn Rechtsordnungen qua Staatsmacht als sakrosankt erklärt werden. Wenn auch das Recht selbst nicht als kontingent erscheint, dann sind es zumindest die historisch-sozialen Gesichtspunkte der Betrachter, der justiziellen und legislativen Akteure sowie derer, die mittelbar als demokratische Akteure auf die Rechtsgestaltung Einfluss nehmen. Unter den Themenabschnitten zum Begriff des Politischen und zum Begriff der Öffentlichkeit wird darauf zurückzukommen sein.
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Zu einer neueren Positionsbestimmung zur ‚Hybridität‘ des Rechts siehe: P. Gailhofer 2016, insbes. 111–121; sowie: Abschnitt 6.1).
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2.2.3 Dispositionen der Sozialität – Die symbolische Organisation des Selbst Die magischen und zum Teil unausweichlichen Kräfte der Kultur, die die Person in ein relativ sicheres bestehendes System einbetten, gibt es in den modernen und spätmodernen Lebensformen nicht mehr in Reinform, auch wenn bestimmte Reduktionsstufen weiter existieren mögen und in individuellem, familiärem und religiösem Ritual symbolische Sicherheitspraktiken bereitstellen können. Dabei ist Vorsicht geboten, weil selbst der hier fokussierte Bereich industrieller, westlicher Gesellschaften schon in sich hoch divers ausfallen kann, je nach Schwerpunkt der Analyse. Transkulturelle Perspektiven, die der faktischen Fragmentierung des Rechts gerecht werden, sind in der Entwicklung einer globalen Kultur des Rechts noch die Ausnahme.38 Der Bezug auf andere menschliche Wesen ist aus der Perspektive des frühkindlichen Organismus mit dem Bedürfnis nach elementarer Befriedigung körperlicher Bedürfnisse verbunden: Wärme, Nahrung, körperlicher Kontakt und das umfassende Gefühl sinnlich-ganzheitlicher Aufgehobenheit. Dazu gehört der Klang von Stimmen, die Anregung der Sinne durch gegenständliche Reize und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit durch eigene elementare Aktionen (Stimmerprobung, Bewegung), die der Erregung von Aufmerksamkeit dienen können. Das alles ist schon Lernen auf eine Weise, die die körperliche Erfahrung fördert, selbst ein Ganzes zu sein, ein Aktzentrum, das sich selbst nicht nur äußerer ‚Körper‘ ist, sondern ein sozusagen von innen erlebter ‚Leib‘. Die prinzipielle Noch-Fremdheit der Welt ist gegenüber der Dominanz des Leibes einschließlich der durch diesen vermittelten Lust- und Unlusterlebnisse zunächst keine Bedrohung. ‚Welt‘ entsteht sukzessiv vermittels der An- oder Abwesenheit von etwas. Das Aufrufen von Welt durch eigene Leibaktionen kann dabei erhebend oder frustrierend sein, je nachdem, wie zuverlässig sich die spontan erlernten Strategien einsetzen und zur Ausbildung von neuronal verankerten Handlungsmustern sichern lassen. Die Rolle der Mitwelt und Umwelt als Partnern der Interaktion kann dabei gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Entwicklung von Sozialität besteht also nicht nur aus dem Aufbau untereinander getrennter Reiz-ReaktionsSchemata, sondern aus der Verknüpfung von Aufmerksamkeits- und Handlungsmustern. Der elementare Aufbau des Selbst mündet in eine auf Rezeption und Aktivität ausgerichtete Einheit.
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Zum arabisch-europäischen Dialog über den arabischen Frühling siehe den Tagungsband Kultur, Identität und Menschenrechte. Transkulturelle Perspektiven (S. Dhouib, Hrsg., 2012), dessen Beiträge, noch von der politischen Aufbruchstimmung getragen, Grenzen des Transfers soziologischer und politischer Begriffe aufzeigen. Der von der Globalisierung vorangetriebene Modernisierungsprozess arabischer Staaten kann von den geopolitischen Imperativen der regionalen Hegemonialmächte nicht völlig abgetrennt werden. Die Durchsetzung von Menschenrechten stößt daher immer wieder auf größte Schwierigkeiten.
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Deren Individuation in allen ihren expressiven Äußerungen ist schon in den ersten Lebensmonaten erkennbar.39 Im Idealfall ist diese Einheit einem permanenten Einfluss von Bestätigung und Anregung sowie dem Bedürfnis nach eigener Öffnung ins ‚Außen‘ auf allen Wegen möglicher Mitteilung ausgesetzt. Intensive Lernphasen werden von langen Schlafphasen abgelöst. Letztere dienen der Verarbeitung und neuronal komplexen Integration der Erfahrungen in das kindliche Gehirn. Auf diese Weise werden die Ressourcen der Wahrnehmung und Handlungskoordination erweitert, die in sich schon Merkmale der Sozialität aufnehmen: die Basis für die erfolgreiche Interaktion mit anderen. Umgekehrt hängt es von der Gemeinschaft ab, ob die leibliche Einheit des Individuums auch als eine personale Einheit sui generis gesehen wird. Kulturen der Dominanz, aufbauend auf den ungebrochenen Wirkungen von Tradition, Ritual, Gehorsam und Erfolgsstreben neigen eher zu Praktiken und Strategien der Anpassung und Betonung der Sicherheit des Ganzen. Die Integrität der Person ist in diesen Fällen zwar hochgradig garantiert innerhalb der Wertematrix der Gemeinschaft; sie ist jedoch reduziert auf Anerkennungsrituale, die Abweichungen vom Alten und die Integration des in jedem Individuum angelegten Neuen äußerst schwierig gestalten können. Dieser Gesichtspunkt gewinnt immense praktische Bedeutung durch die Einwanderung von Menschen aus eher traditionellen Kulturen und Gemeinschaften in auf individuelle Freiheitsrechte ausgerichtete Gesellschaften. Unter dem Aspekt der Globalisierung wird darauf zurückzukommen sein. Auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln wird Individualität grundsätzlich ermöglicht, erworben und gelebt? Dabei ist zunächst (idealiter) die Rede von unbeschädigter, d. h. integrer Individualität. Diese Grundannahme rein begrifflicher Art ist an dieser Stelle noch unverzichtbar. Eine deskriptiv und empirisch ausgerichtete Sozialisationstheorie würde ohne Weiteres zu dem Ergebnis kommen, dass Beschädigungen von Integrität mit den damit einhergehenden Identitätsstörungen normal und unvermeidlich sind. Der Klärung der Grundbegriffe des Integritätskonzepts wäre dies jedoch nicht dienlich, außer wir definierten Integrität von vorherein
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Das Handbuch philosophischer Grundbegriffe (H. Krings/M. Baumgartner/C. Wild, Hrsg., 1973) gibt dazu ein prägnante Zusammenfassung unter dem Begriff Individuum: „Die Einheit des Individuums mit sich selbst stellt sich nur im praktischen Vollzug der Anerkennung der Verhältnisstruktur menschlichen Handelns her, in welchem das Individuum seine ureigenste Besonderheit geschichtlich so verwirklicht, dass dadurch die Besonderheit anderer Individuen in ihrer Positivität sichtbar wird im gemeinsamen Medium der Freiheit“ (A. Pieper, in: Hdb. philosophischer Grundbegriffe, Bd. II, 1973, 728–737, 737). Es ist nicht zu übersehen, dass diese Definition starke normative Elemente zur Interpersonalität und zur Möglichkeit von Freiheit beinhaltet. Wenn daraus folgen soll, den Begriff des Individuums an eine sehr prononcierte Version des Liberalismus zu binden, der Freiheit mit einer universalistischen Auffassung von Moral verbindet, bedeutete dies eine problematische begriffliche Engführung von Sozialität. In grundsätzlicher Kritik an der Sozialitätsferne der Moraltheorie auf der Grundlage eines kulturell gefassten Personbegriffs siehe auch: M.-S. Lotter (2012, 9–13).
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als eine empirische Variable, die bei der einen Person eine Funktion in ihrem Leben erfüllt, bei der anderen Person vielleicht gar nicht. Dann wäre sie so etwas wie eine zufällige Natur- oder Glücksgabe, wie z. B. die Haarfarbe, eine kräftige Gesundheit oder Ähnliches. Die obige Einleitung zu den ersten, freilich für ‚moderne Verhältnisse‘ noch etwas schematischen Grundmodellen von Individuum, Gesellschaft und der Macht von Traditionen und Staat konnte vergegenwärtigen, dass ein gehaltvolles Integritätskonzept ausschließlich mehrrelational und nicht etwa begrifflich monistisch konzipiert werden kann.40 Dies vorauszuschicken ist notwendig, wenn im Folgenden die individualpsychologische Sicht in den Vordergrund rückt. Die wissenschaftliche Entwicklung der Psychologie eröffnet heute auch die Möglichkeit, psychologische Theorien mit neurobiologischen Erkenntnissen zu untermauern, auch wenn auf diesem Gebiet noch einiges zu leisten ist. Die symbolische Organisation des Selbst ist mit seiner Prosozialität aufs Engste verknüpft. Integration in eine Gemeinschaft ist gleichursprünglich Lernen von Welt. Weltwissen, das Wissen von Menschen und Gegenständen, ist zunächst gestisch-mimisch und schon in den ersten Lebensmonaten über Lautunterscheidung und spontan nachahmende Lautproduktion vermittelt. Was indessen nicht gelernt werden muss, das ist die Ich-Perspektive. Diese Einsicht hat in Philosophie und Psychologie vom deutschen Idealismus bis hin zur analytischen Philosophie und Neurobiologie zu immer wieder neu belebten Diskussionen darüber geführt, worauf die Priorität der Ich-Perspektive im Kern beruht. Wenn ich mich auf mich selbst beziehe, dann ist mein reflektierender Blick oder Gedanke unlösbar in symbolische Welten verstrickt. Diese sind bereitgestellt von der Sprache und den Sprechern der Gemeinschaft. Selbst als kreativer, exaltierter Künstler, der nach einem noch nie dagewesenen Selbstausdruck sucht, orientiere ich mich an Formen und Regeln, selbst dann, wenn ich diese zu durchbrechen versuche. Dennoch gehe ich nicht in der Repräsentation meiner selbst auf, so differenziert und umfangreich diese auch sein mag. Das Ganze, das ich mir von mir vorstelle, schließt mich als Aktzentrum dieser Vorstellung nicht ein. Der amerikanische Sozialphilosoph G. H. Mead hat diese uneinholbare Differenz durch die begriffliche Unterscheidung von ‚I‘ und ‚Me‘ prägnant erfasst (Mead [1934] 1973, 216–229). Neben den ebenfalls nicht-deskriptiven Designatoren ‚hier‘ und ‚jetzt‘ besitzt ‚I‘ (ich) eine rein indexikalische Funktion: Nur im Akt ihres Gebrauchs können Ort, Zeit und 40
Die Stanford-Enzyklopädie Philosophie geht hier einen anderen Weg, indem Integrität an erster Stelle als ein formales Verhältnis der Person zu sich selbst definiert wird: „On the self-integration view of integrity, integrity is a matter of persons integrating various parts of their personality into a harmonious, intact whole. Understood in this way, the integrity of persons is analogous to the integrity of things: integrity is primarily a matter of keeping the self intact and uncorrupted. The self-integration view of integrity makes integrity a formal relation to the self ” (Stanford Encyclopaedia of Philosophy, para. 1: Integrity [2001/2017]; Hervorh. kursiv i. Orig.). Abrufbar unter: https://plato.stanford.edu/entries/ integrity (28.04.2020). Das grundsätzliche Problem eines ausschließlich subjektzentrierten Zugangs wird im Zusammenhang anthropologischer Überlegungen einzubeziehen sein.
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Person von anderen Personen erschlossen werden. Für die kooperativ agierende Person sind die indexikalischen Indikatoren indes unhintergehbare Modi des je aktuellen Selbstempfindens. Die indexikalischen Marker kennzeichnen auf sprachlicher Ebene diejenige Erfahrung, die in der Neurobiologie als Propriozeption bezeichnet wird: die unmittelbare leibliche Selbstwahrnehmung. Diese ist präsymbolisch und damit unhintergehbar. Im Unterschied zu der leiblichen Propriozeption ist der objektivierende Gebrauch ‚me‘, z. B. wenn ich mich im Spiegel betrachte (That’s me!), also das, was wir Selbstreferenz nennen, immer auch mit meiner sprachlich-symbolisch vermittelten Sozialität verknüpft. In der deutschen Sprache können wir die im Englischen so praktische Unterscheidung der beiden begrifflichen Aspekte von ‚ich‘ nur mit Hilfe des Reflexivpronomens vornehmen: Ich kenne mich. Die Gebrauchsweise von ‚ich‘ im referentiellen Sinne hat ohne Frage zu der Substantivierung ‚das Ich‘ beigetragen, als gäbe es eine Substanz, die man für sich gesondert untersuchen kann. Auch die Rede von dem Selbst entgeht häufig nicht dieser Gefahr. Die Dispositionen zur Sozialität weisen in Bezug auf die Grundlagen der Kooperation und die Bedeutung der Konkurrenz signifikante Bezüge zur Evolution des menschlichen Wesens auf. Der Vergleich zwischen dem homo sapiens sapiens und höheren Primaten belegt sehr starke Ähnlichkeiten im Bereich der gestisch-mimischen Kommunikation bis hin zu habituellen Reaktionen auf ‚gerechte‘ vs. ‚ungerechte‘ Belohnungen.41 Dass höhere Primaten sich vergleichen, wenn es um Nahrungsbeute und Nahrungsbelohnungen geht, und bei Benachteiligungen entsprechend reagieren, scheint unzweifelhaft. Mit der Rede von Gerechtigkeitsvorstellungen sollte man m. E. jedoch vorsichtig sein. Erst die Aktivierung der symbolischen Funktion und deren zunehmend freier Gebrauch, der das Individuum mit dem ‚Geist‘, d. h. den Vorstellungen und Weltdeutungen seiner Gemeinschaft in enge Verbindung bringt, kann als das herausragende menschliche Spezifikum gelten.42 Nahrungsneid ist nicht zwangsläufig mit Moral, in welcher Form auch immer, verbunden. Doch ohne Frage ist die Bereitschaft, Nahrung mit Mitgliedern der eigenen Gruppe zu teilen, als eine Sicherung des Überlebensvorteils anzusehen. Man könnte – allerdings nur im übertragenen Sinne – durchaus von einem rationalen Egoismus reden. Dieser verdankt sich ausschließlich dem Interesse an Selbsterhalt. Ist die gestische und lautliche Kommunikation höherer Primaten dicht an leibliche Bedürfnisse und
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Siehe die ausführliche Darstellung von Gerechtigkeitsexperimenten mit Kapuzineraffen (Sapolsky 2017/3. Aufl. 2019, 623–630), die als Beleg für die biologische Verankerung von Wir-ihr-Unterscheidungen gedeutet werden. G.H. Meads Begriff des verallgemeinerten Anderen bringt diese Grundidee zum Ausdruck. M. Tomasello betont mit Blick auf den moralischen Diskurs unter etwa gleichaltrigen Kindern den Aspekt des Lernens der Moral als Gemeinschaftsleistung: „Der entscheidende Punkt ist, dass Gründe, Rechtfertigungen und Entschuldigungen sowohl an andere als auch an das Selbst als Mitglieder derselben moralischen Gemeinschaft gerichtet sind, und wenn sie akzeptiert werden sollen, müssen sie in dem Wertesystem verankert sein, das wir alle teilen“ (Tomasello 2019/2020, 409).
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2.2 Autonomie: ein Überblick
situativ in der gegenständlichen Umwelt verankerte Handlungsketten gebunden, so weist hingegen die Sprache des Menschen die Möglichkeit auf, sich an Vorstellungen zu orientieren, die über das gegebene Umfeld hinausweisen, unser Handlungsfeld erweitern. Sprache ist das Medium, in dem wir uns selbst erweitern, in dem wir mächtig sind, weil wir der Sprache mächtig sind. Der Sprachmacht sind alle Menschen mächtig, und zwar auf Grund ihrer sozialen Natur. Es ist kein Zufall, dass die souveräne Gewalt autoritärer Systeme die Individuen ihrer Sprache berauben muss, um diese in Unterworfene zu verwandeln und ihr Denken und Handeln zu beherrschen. Depersonalisation fängt mit der Sprache an und zielt auf die äußere und innere Integrität. Wenn die vielfältigen Mittel symbolischer Gewalt hinzugenommen werden, die den Übergang zur körperlichen Gewalt erleichtern, eröffnet sich ein weites Spektrum depersonalisierender Kommunikationsformen. Praktiken der Depersonalisation sind jedoch keine Besonderheit nur autoritärer Systeme. In Gesellschaften mit umfassenden Freiheitsrechten werden diese auch gerne grenzwertig genutzt: Es geht dabei immer um Bloßstellung und Depersonalisation von politischen Gegnern und Vertretern ‚des Systems‘. Sprachliche Kommunikation schließt also nicht an sich schon das Reich der Freiheit in sich ein. Innerhalb einer auf die Präsenz und Mitarbeit aller ausgerichteten Gemeinschaft allerdings ist ihr positiver Einsatz zum Wohlergehen aller unübersehbar. Schon mit der Namensgebung fängt das abstrakte, auf die Beherrschung der Umwelt gerichtete und gleichzeitig doch immer selbstreferentielle Denken an. Merkwürdigerweise ist das Phänomen der Namensgebung in der evolutionären Anthropologie und Sprachentstehungstheorie m. W. wenig bearbeitet. Tiere geben sich keine Namen. Menschen ‚erzeugen‘ mit Hilfe von Namen stabile soziale Referenz: Namen erlauben, auf Wesen Bezug zu nehmen, die sich dauernd verändern: durch Wachstum, Reife, Handlungs- und Planungsfähigkeiten. Selbst nach ihrem Tod können sie noch ‚auf- und angerufen‘ werden, wie es in Ahnenkulten oder der Trauerarbeit der ‚Modernen‘ üblich ist. Der Prozess der Identifikation erhält einen stabilen Kern der Bezugnahme, unabhängig davon, wo die Person sich befindet, was sie tut, tun wird oder getan hat oder ob sie überhaupt ansprechbar und einer Antwort fähig ist. Die mit Namen versehene Person kann mit Eigenschaften, d. h. mit Attributen versehen werden. Die auch in heutigen politischen Systemen betriebenen Personenkulte nutzen noch diese stabile Referenz, um Kontinuität und ideologische Identifikation zu erzeugen. Auch so kann Legitimation von Macht und Herrschaft gesichert werden. Die Anfänge der teilhabenden Ich-Perspektive, die zuallererst Rückschlüsse auf eine ich-gesteuerte Handlungsperspektive erlauben, liegen in der ontogenetischen Entwicklung des Säuglings zunächst in der Imitation, die ihr vollständiges Stadium dann erreicht hat, wenn die Intention der Person erschlossen werden kann, deren Handlung imitiert wird. Erst dann kann die spontane und ungerichtete von einer beabsichtigten Imitation unterschieden werden. Nach Tomasello ist dieses Stadium des Säuglings mit ca. 9 Monaten erreicht. (Tomasello 1999/2002, 100f). Die Struktur des prosozialen Handelns ist dabei triadisch aufgebaut: Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand wird vermittelt durch eine Handlung einer Person, die sich lenkend qua 51
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Geste, Lautgeste oder beidem, auf den Säugling richtet und dessen Aufmerksamkeit und Interesse auf ein Etwas lenkt. Dieses Etwas wird vermittels einer Handlung in den Fokus des Kindes geführt. Die Nachahmung einer Handlung ist damit aus der Sicht des Säuglings ein konstitutiver Akt der aktiven Teilhabe, der eine doppelte Beziehungsaufnahme einschließt: zu der den Handlungskreis initierenden Person und zum Gegenstand. Der Handlungskreis ist also dann vollständig, wenn der Säugling sich selbst als Aktzentrum erfährt, das an sich selbst die Teilhabe an einem komplexen Geschehen ‚erfährt‘ und dabei seine aktive Rolle wahrnimmt. Dieses Erfolgserlebnis kann zu Lachen oder anderen Äußerungen von Überraschung oder Zufriedenheit, aber auch Verunsicherung führen. Der Vorgang selbst schafft ein integrales Muster, das sich als Grundlage weiterer Interaktionen zu einer schlechthin basalen Handlungskompetenz weiterentwickelt. Der Säugling wird so in ein dynamisches System der Teilhabe integriert und später wird die Sprache zu einem Mittel der differenzierten Steuerung der Bezugspersonen ausgebaut. In der Erfahrung aktiver Teilhabe wächst gleichursprünglich die Erfahrung von Unabhängigkeit heran: Sowohl die spontanen, wenig regulierten Handlungsimpulse, als auch die zunehmend willentlich gesteuerten sprachlichen Einflussnahmen auf die soziale Mitwelt prägen die Selbstwahrnehmung als ein potentiell unabhängiges Aktzentrum. Noch ist der Säugling, noch ist das Kleinkind kein gleichgestelltes Wesen in der Gemeinschaft, aber alle kindlichen Entwicklungsstadien bereiten gleichsam im Spiel auf das spätere Leben als ‚integrale Person‘ vor, die auf die Herausforderungen des Lebens eigene Antworten finden kann und muss. Tomasello beobachtet eine zunehmende Unabhängigkeit des Kleinkindes ab ca. 18 Monaten von der sprachlichen Einflussnahme der Mutter. Selbst ohne ein ‚Gerüst’ sprachlicher Unterstützung erkennt das Kind auch solche Intentionen der Erwachsenen, die sich nicht direkt auf das Kind beziehen. In derart erweiterter Perspektivenübernahme wächst die Unabhängigkeit des kindlichen Akteurs, auf Intentionen einzugehen (vgl. dazu: Tomasello 1999/2003, 134/135). Die Fähigkeit zum Fremdverstehen von Intentionen beruht nach Tomasello auf einer Interferenz zwischen dem Selbsterleben des Kindes und dem ‚Erkennen‘ der anderen als gleichfalls lebendigen, sich bewegenden intentionalen Wesen.43 Damit ist in der triadischen Interaktion ein Grundstein für das gelegt, was im Kontext dieser Untersuchung als Integrität der Person bezeichnet werden soll.44 43
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Die von M. Tomasello in frühen Arbeiten vertretene Simulationstheorie (Tomasello 1999/2003) basiert auf der Annahme einer vorsprachlichen Wahrnehmung von Ähnlichkeit des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘. Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den Arbeiten Tomasellos zwischen Kognitivismus und Interaktionsmus, also zwischen der Theorie evolutionär angeborener Strukturen und der Theorie eines durch Imitation geprägten kulturellen Erwerbs kooperativen Verhaltens, spielen für meine Überlegungen hier keine entscheidende Rolle. In The Birth of Ethics betont P. Pettit die Bedeutung von personaler Integrität und Engagement in der Gemeinschaft: „The appeal of being moral is nothing more or less than the appeal of being a person with integrity: a person integrated around suitably sustainable commitments” (Pettit 2018, 9). In dieser Allgemeinheit ließe sich diese Aussage sowohl auf traditionelle als auch auf moderne Gesellschaften
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2.2 Autonomie: ein Überblick
Das Gefühl für die eigene Identität bedarf also beider Interaktionsmodi, der Identifikation mit sowie der Abgrenzung von den Intentionen der erwachsenen Mitwelt. In diesem Wechselspiel gewinnt die Ich-Perspektive Stabilität, indem die Erschließung der Intentionen der Erwachsenen dazu beiträgt, sich in deren Perspektive zu versetzen und diese als eine Realität sui generis anzuerkennen.45 Das zunehmende Verständnis unterschiedlicher Intentionen anderer Menschen und der Möglichkeiten der Perspektivenübernahme kann das Ich sowohl verunsichern als auch erweitern. Darin liegt die Chance der Stabilisierung von Identität; ob aus dieser Integrität hervorgeht, lässt sich erst im Blick auf ein ‚reifes‘ Erwachsenen-Ich konstatieren. Die äußeren Rahmenbedingungen der Ontogenese der Integritätsentwicklung müssen jedoch kulturell abgesichert sein, d. h. sie bedürfen einer stabilen Machtverteilung in der Gemeinschaft.46 An der Quelle der Identität stehen zunächst jedoch das kindliche ‚Nein‘ und ‚Ja‘ als sprachliche und/oder gestische Stützen des Eigensinns. Dieser nimmt die Intentionen der anderen nicht mehr als Naturgegebenheiten, sondern als Chance des Aushandelns. In welcher Formation von Gesellschaft dies geschieht und nach welchen Idealen die Mikro-Einheiten der Erziehung sich ausrichten, ist für das Ergebnis nicht unerheblich.47 Das Erlernen der Geschlechteridentität im Kontext der eigenen sexuellen Verortung spielt dabei eine zentrale Rolle, geprägt von den Traditionen der sozialen Mitwelt bis hin zu den rechtlichen Normierungen des Staates. Leiberfahrung und Sexualität mitsamt ihren sozial kodifizierten Ausdrucksformen gehören zum wesentlichen Kern der Identitätsbildung. Die körperlich-sensuelle Seite der Identität steht am Anfang der Autonomie. Einige wichtige weitere Wegmarken sind noch in den Blick zu nehmen.
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beziehen. Das Problem liegt natürlich in der Formulierung ‚mehr oder weniger‘ und in der Frage, was anerkanntermaßen als moralisch gelten kann. E. H. Erikson hat in psychoanalytischer Sicht die Identitätsbildung als Abschluss der Phase der Identifikationen gedeutet. Unkritische Identifikationen mit der Erwachsenenwelt haben bei gelungener Ablösung in der Phase der Adoleszenz ausgedient. Identitätsbildung und Identitätskrise sind fortan nicht trennbar. Identitätsbrüche, häufig verbunden mit dem Kampf um Anerkennung, können sich unter Umständen weit in das Leben der erwachsenen Person erstrecken (vgl. Erikson, [1959] 13. Aufl. 1993, 138–142). In einer Formulierung des historisch-genetischen Denkansatzes bei G. Dux, die sich auf die Voraussetzung ausgebildeter Sozialität bezieht: „Jeder ist berechtigt, die Verhältnisse seiner Lebenslage in den Schutz der Integrität seiner Person einbezogen zu sehen“ (Dux 2009, 63). Integrität bedarf daher der körperlich-geistigen Stützung des Einzelwesens gemäß den Entwicklungsbedingungen der Kultur. Geist ist auf dieser Stufe vor allem als die selbstständige Ausübung der gesellschaftlichen Handlungspotentiale zu verstehen. Eine bedenkenswerte Erweiterung der in der Sozialphilosophie vorherrschenden dyadischen Betrachtung der Primärsozialisation im Anschluss an H. Plessners Leibbegriff findet sich bei G. Lindemann (2010, 275–291). In der von hier eingenommenen ethnologischen Perspektive ergibt sich die Einbeziehung des Dritten bzw. der Mitwelt in die Sozialisation in notwendiger Weise. In grundsätzlicher theoriebildender Perspektive siehe auch: A. Schütz/T. Luckmann (1993) sowie G. Lindemann (2014).
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
Der von E. H. Erikson idealtypisch gezeichnete Entwicklungsweg geht über die Stationen Urvertrauen vs. Misstrauen, Autonomie vs. Scham, Initiative vs. Schuldgefühl, Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl, Identität vs. Identitätsdiffusion, Intimität vs. Isolierung, Generativität vs. Selbst-Absorption und endet im reifen Erwachsenenalter bei der Integrität. Diese wird als konträre Ausformung dem Lebensekel und der Verzweiflung gegenübergestellt (vgl. Erikson [1959] 13. Aufl. 1993, 150/151). Mit Werksinn ist die Kompetenz zu eigenständiger Tätigkeit gemeint, die in heutiger Pädagogik gerne als Erfahrung von Selbstwirksamkeit bezeichnet wird. Lebensekel bzw. Verzweiflung stehen für Erikson im reifen Alter für eine Haltung, die die Rückschau auf das eigene Leben mit Bitterkeit und Enttäuschung verbindet und dem Tod unversöhnt begegnet. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Verzweiflung und Unversöhntheit mit dem eigenen Lebensende ‚der Welt‘ oder sich selbst oder beidem angelastet wird. Die dem Lebensekel entgegengesetzte Haltung ist die der Weisheit. Diese ebnet den Weg dahingehend, das eigene Leben anzunehmen, wie es war und noch ist. In der individual- und sozialpsychologischen Sicht Eriksons ergibt sich also zur Bestimmung von Integrität ein deutlicher stoizistischer Gesichtspunkt der gelassenen Selbstannahme in der Rückschau. Im Einklang mit der antiken Philosophie insbesondere der Stoa fügt sich nicht das Leben selbst zu einem Ganzen, als wäre das Leben eine dokumentarische Gegebenheit, die sich in objektiven Messgrößen erfassen ließe. Es ist genau anders herum: Die Einheit des eigenen Lebens verdankt sich einem gereiften Blick, der sich nicht in den Details der Erfahrung von Erfolg und Misserfolg, Ruhm oder Niederlage, Zuneigung oder Abneigung verliert. Entscheidend für die Sicht auf das Ganze des eigenen Lebens ist vielmehr die Distanz zu den kontingenten Umständen, derer wir nicht Herr werden konnten, und die daraus gewonnene Gewissheit, dennoch das unverwechselbare Subjekt unseres Lebensvollzuges zu sein, das seinem Streben nach Autonomie gerecht geworden ist. Insofern ist die Rede davon, dass Integrität eigentlich ein Ideal sei, das dann naturgemäß erst am Ende des Lebens reflektierend in den Blick genommen werden kann, recht plausibel. Damit erledigt sich allerdings nicht die Frage nach konstitutiven Bedingungen für dieses Ideal. Viel leichter erscheint es jedoch, Abweichungen von diesem Ideal zu konstatieren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass von Integritätsverlust besonders häufig im Zusammenhang von Bestechlichkeit die Rede ist.48 Die Dispositionen der Sozialität sind mit der symbolischen Organisation des Selbst aufs Engste verknüpft. Die Binnenstruktur von Individualität ist nur aus ihrem inneren Widerstreit im Aushandeln von Angleichungen, Identifikationen, Ablösungen und Neu-Organisationen des Selbst zu verstehen. Die „mehrdimensionale Ordnung des Sozialen“, wie Gesa Lindemann dies nennt (Lindemann 2014), bildet nicht nur äußerliche Anknüpfungspunkte für die Bildung des Selbst (im Sinne ambiger Optionen), sondern sie kann sich gestaltgebend und u. U. kulturell 48
Vgl. Artikel Bestechung, in: A. Pollmann 2010, 77–82; sowie A. Pollmann 2005, 83ff.
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2.2 Autonomie: ein Überblick
unausweichlich auf die Selbstidentifikation auswirken. In der Selbstidentifikation ist eine nicht auf ein Objektives gestützte Selbstaffirmation mit dem Vertrauen in die Erfahrbarkeit der Welt innerlich verknüpft. Immer mögliche empfindliche Störungen dieser inneren Verbindung gefährden die Ausbildung von Identität. Personalität, wie wir sie nur von reifen Menschen im Sinne Eriksons erwarten können, bedarf daher einer Einbettung in die höchsten Stufen kognitiver Funktionen, die das Einzelwesen in wachsendem Maße mit seiner Gemeinschaft und der eigenen Wahrnehmung und Aneignung von Welt verbinden.
2.2.4 Modi der Anerkennung Die Konstitution von Identität und Personalität gestaltet sich als ein Geflecht aus Identifikationen und Abgrenzungen. Keine (familiäre) Gruppe und keine Gesellschaft – ob nun vorstaatlich oder formell ausgerichtet – wird diesen Prozess dem Zufall überlassen. Im 19. Jahrhundert hat Durkheim mit seiner Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität ein Konzept vorgelegt, dass dem Umstand der zunehmend vom Gruppendruck und religiösen Imperativen befreiten Individualität der Person in arbeitsteiligen, industrialisierten Gesellschaften gerecht werden sollte. Zugehörigkeit ist nicht für ein Leben insgesamt vorgegeben. Das Individuum hat an der Moral seiner Gruppe Anteil, aber es muss die Moral der Gemeinschaft als ein autonomes Wesen im Verlauf seiner Erziehung selbst entwickeln. Auch die Teilhabe an diversen Gruppen kann in einer Gesellschaft, die den Übergang von der mechanischen zur organischen Solidarität kennt, gewählt werden. Unter welchen Bedingungen diese Wahl erfolgt, unter welchen Anstrengungen und Kosten und zu welchem und wessen Nutzen schließlich diese Wahl möglich ist, all das wird in Soziologie und Sozialphilosophie heftig diskutiert. Diese Fragen führen mitten hinein in die Diskussion politischer Grundsatzfragen. Die politischen Theorien von Liberalismus, Kommunitarismus, Konservatismus und Sozialismus, um nur einige zu nennen, haben alle ihre je eigenen Konzepte der Integrität hervorgebracht. Keine dieser Theorien kann diesen Begriff für sich reservieren. Jede dieser Theorien geht jedoch mit der sozialen Verortung des Individuums anders um. Für den hier erstrebten Zweck ist es jedoch ausreichend festzustellen: Der soziale Ort der Geburt besiegelt nicht das individuelle Schicksal, nicht die Konstitution von Identität und schon gar nicht dasjenige, was das Individuum als Integrität seiner Person bereit ist zu leben und zu verteidigen. Dennoch ist auch die moderne Gesellschaft weiterhin sehr formal und ‚mechanisch‘ organisiert. Auch wenn Tugenden der Sozialität nicht mehr primär doktrinär und durch harte Sanktionen oder religiöse Rituale eingefordert werden können, gibt es doch viele Bereiche der Gesellschaft, die dem Individuum zum Teil Anpassungen abverlangen, die an der Grenze des Zumutbaren liegen können. Während Anpassungen noch im 19. Jahrhundert vielleicht einen eher ‚sakralen‘ Hintergrund (i. S. Durkheims) 55
2 Politisch-anthropologische Konstellationen
verlangten, sind die säkularen Anpassungsformen hochgradig differenziert. Die Arbeitsfelder von Soziologie und Psychologie zu diesem Thema sind fast unüberschaubar, wenn man die entsprechenden Fachpublikationen darauf hin analysiert. Was diese Art der Anpassungen in einer nicht autoritär organisierten Gesellschaft von vormodernen Gesellschaften unterscheidet, ist die Tatsache, dass die verlangten Anpassungen als individuelle Leistungen erstens mit Formen der Anerkennung verbunden sind und zweitens mit selbst verantworteten persönlichen Zielen verknüpft werden können. Wie gut oder weniger gut dies funktioniert, kann hier zunächst unberücksichtigt bleiben, solange das begriffliche Gerüst nicht hinreichend geklärt ist. Eine generelle Unterstellung unter einen Gemeinschaftswillen oder gar die Identifikation mit der die Macht ausübenden Staatsgewalt ist damit jedoch nicht verbunden. Insofern ist es sinnvoll, auf die feinen sozialen Mechanismen zu schauen, die das Individuum zum anerkannten und nach Anerkennung strebenden Wesen formen. Dabei sollte die Perspektive auf das Individuum konkret bleiben, ohne den Begriff der Anerkennung theoretisch zu überlasten. Im Begriff der Anerkennung, wie dieser bei A. Honneth (1992/2003) entwickelt wird, finden wir dagegen eine philosophisch komplexe conditio der Sozialität schlechthin (in Anknüpfung an Hegel) facettenreich ausformuliert. Ich verstehe diesen Begriff jedoch so, dass er soziologischdeskriptiv auf das Ergebnis – und nicht auf die Voraussetzung – eines konkreten intersubjektiven Verhältnisses bezogen werden muss. Der Begriff Anerkennung ist in der normalen Sprache nur in der mehrstelligen relationalen Verwendung verständlich: Wer anerkennt wen warum und auf welcher Grundlage als wen oder was an? Und: Worin objektiviert sich die jeweilige Anerkennung? Als Begriff mittlerer Reichweite bleibt dieser auch in der Alltagssprache verankert, ohne die philosophische Fundierung von Sozialität allgemein zu beanspruchen. Das philosophische Projekt eines ideengeschichtlichen Vergleichs bleibt darüber hinaus indes schon deshalb interessant, weil es die Unterschiede der Hinsichten aufzeigt: Ob Anerkennung vom Subjekt her als Anspruch konzipiert wird oder von den inneren Anlagen zum Mitgefühl für andere her oder gar als Gleichheitsanspruch von Bürgern, die über ihre Rechtsverhältnisse gemeinsam entscheiden, kann Aufschluss über das vorrechtliche Selbstverständnis europäischer Gesellschaften geben.49 Ob sich die Sozialitätsbedingungen außereuropäischer Gesellschaften und (noch) existierender lokaler Gesellschaften mit dem Begriff der Anerkennung philosophisch-universell begreifen lassen, wage ich an dieser Stelle nicht zu beurteilen. Das zu ergründen wäre eine sehr komplexe Aufgabe historischer und kulturvergleichender Sprachforschung. Allerdings wäre eine Aner49
Vgl. hierzu die ideengeschichtliche Untersuchung bei Honneth (2008). Honneth resümiert in der Schlussbetrachtung seiner Untersuchung die Grenzen seines Versuchs, indem er auf die offenen Ränder und nur partiellen Überschneidungen der analysierten Begriffe verweist. Seine synthetisierende Sicht beruht auf der Verknüpfung des Standpunktes des inneren Beobachters mit der normativen Perspektive des gleichen rechtlichen Anspruchs auf Gestaltung der eigenen Lebenswelt.
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2.2 Autonomie: ein Überblick
kennung der Anerkennung in rechtstheoretischer Hinsicht schon im europäischen Kontext der EU ein interessantes Projekt, weil es vermutlich weniger Einheitlichkeit als viel mehr aufschlussreiche Differenzen zu Tage fördern würde. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man es bei dem sehr weiten semantischen Feld des Begriffs mit einem Fall von Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins zu tun hat. Unabhängig von einer spezifisch philosophischen Begriffsverwendung lässt sich festhalten: Die allgemeinen Bedingungen für Anerkennung müssen solcher Art sein, dass sie sich auf die Person als Subjekt (hier: Autorin/Autor von Handlungen) beziehen. Herkunft und Zugehörigkeit, Aussehen, Ähnlichkeit mit anderen, Geschlecht u. Ä. besitzen einerseits die besondere Qualität rein äußerlicher und in gewisser Weise fixierter Merkmale, andererseits sind diese Merkmale in Bezug auf Personalität in erster Linie kontingent: Nicht die Person hat diese selbst hervorgebracht und sie sind mit ihr als handelndem Wesen nicht auf eine von ihr intendierte Weise verknüpft. Dennoch verbirgt sich in diesen faktischen Bedingungen der personalen Existenz eine beeinflussende Macht, die unter Umständen eine determinierende Wirkung einschließt. Diese Macht lässt sich auch genauer ergründen. Sie zeigt sich häufig schon im Blick der anderen, die ihre soziale Mitwelt, ob sie nun wollen oder nicht, nur als etwas sehen können. In dem ‚als etwas gesehen werden‘ lässt sich die basale Struktur menschlicher Interaktion erkennen: Sie kann sich positiv, im Sinne des Vorteils für die Person, auswirken oder sie kann sich als Unfairness in Form von Vorurteilen, Stereotypen und Stigmatisierungen darstellen. Die verursachende Macht dieser Sichtweisen kann das Selbstbild prägen, sie muss es aber nicht notwendig. Schon Kleinkinder arbeiten am Bild ihrer selbst, indem sie zu ihren äußeren, mitgegebenen Merkmalen Stellung beziehen, ihre Auswirkung auf sich reflektieren und, was das Äußere betrifft, sich selbst eine Gestalt zu geben versuchen.50 Diese modifizierende Stellung sich selbst gegenüber wird auch grundlegende Auswirkungen auf die Erschließung der spezifischen Sexualität annehmen: erstens, als welches Geschlecht sich die Person in welcher Weise versteht, und zweitens, wie sie ihre Sexualität leben will. Daraus geht eventuell der Wunsch hervor, die Geschlechtszugehörigkeit zu ändern, was in vielen offenen Gesellschaften inzwischen auch rechtlich möglich ist. Weiterhin schließt die Haltung zu uns selbst in der Entwicklung zum erwachsenen Wesen ein breites Spektrum an Stellungnahmen und Urteilen zu gesellschaftlichen Rollen ein. Damit ist auch die Frage verbunden, wie gender in der engeren Gemeinschaft und in der Gesellschaft mit prägenden Verhaltensweisen und Erwartungen verknüpft wird und welche Variationsbreiten die Gesellschaft dabei zulässt.
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Die sozialpsychologische Attributionstheorie, die auf F. Heider zurückgeht (Heider [1958] 4. Aufl. 1977), bietet gut bestätigte Hypothesen über die Interferenzen zwischen Fremd-Attribution und Selbstwahrnehmung. Entscheidend ist dabei, ob wir das Verhalten von Personen als extern verursacht der Situation oder als intern verursacht dem Charakter der Person zuschreiben.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
Das Subjekt der Moderne ist also in eine präfigurierte Welt gestellt, muss diese Welt einschließlich der mitgegebenen eigenen Besonderheiten jedoch nicht als Schicksal hinnehmen. Die Chancen, das Selbstsein relativ eigenständig einzuordnen, zu interpretieren und ggf. neu zu ordnen, sind in der Gegenwart angewachsen. Gleichzeitig ist damit eine Herausforderung verbunden, die schon in Eriksons Forschungen in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als Gefahr der Diffusion von Identität erkannt wurde. Ob Gefahr oder Chance, dass hängt neben den individualpsychologischen Besonderheiten davon ab, inwieweit die soziokulturellen Bedingungen die Arbeit am Selbstsein unterstützen, sich dabei selbst sogar weiterentwickeln oder aber Hemmnisse aufbauen, die einseitig der Stärkung von Konventionen dienen und die Bereitschaft zur Unterordnung fördern. Der Zusammenhang zur politischen Kultur einer Gesellschaft und ihrem Erziehungssystem liegt damit auf der Hand. Indes braucht es präzisere argumentative Zwischenschritte, wenn auch ein Nachweis dafür erbracht werden soll, inwieweit es gesellschaftlich förderliche bzw. hemmende Bedingungen der Integrität gibt.
i) Der Modus der primären Annahme Anerkennungsverhältnisse haben ihre Wurzel im Umgang zwischen Menschen unterschiedlicher, in der Regel asymmetrischer Beziehungen: der zwischen Mutter/Vater und Kind, der zwischen Schüler und Lehrer, der zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Tatsache, dass sich im rechtlichen Sinne annähernd symmetrische Beziehungen zwischen Ehepartnern und Lebenspartnern entwickelt haben und dass die Arbeitswelt zunehmend an rechtliche Vorgaben gebunden ist, ist indes keine Garantie für die tatsächliche Erfahrung von primär verankerter ‚gleicher‘ Annahme auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft. Anerkennung impliziert auch immer ein Machtgefälle. Dieses kann vorübergehend sein. Auf Anerkennung im unmittelbaren Lebensumkreis kann kein menschliches Wesen verzichten. Auch wenn für viele Philosophen (und heutige Lebensberater) die Suche nach dem Glück ein Universal des Menschen zu sein scheint, so ist das Bedürfnis nach Anerkennung dieser Suche doch vorgelagert. Die Pädagogik hat spätestens seit der Aufklärung Anerkennung als Förderung von Entwicklung verstanden. Von einem völligen Verschwinden des Faktors Macht kann jedoch bis hin zur Gegenwart nicht die Rede sein. Umso mehr gilt dies für die Geschlechterverhältnisse. Anerkennung kann in ihrer subtilsten Form als Sicherung der leiblich-seelischen Kohärenz durch die zugewandte, bewusste Kontaktbereitschaft der mächtigeren Seite verstanden werden. Sie geschieht zunächst präsymbolisch vermittels des Körperkontakts, der Sensorik der Hautrezeptoren und der Öffnung der Sinne. Die Affektion durch die soziale Außenwelt sollte man sich nicht als bloßen Mechanismus von Reiz und Reaktion vorstellen. Affektion ist nur erfolgreich, weil der kindliche Organismus in sich das Potential zur Selbstaffektion besitzt. Die eigene Emp58
2.2 Autonomie: ein Überblick
fänglichkeit bildet gleichzeitig die Grundlage für die Verfeinerung der Wahrnehmung der Mitwelt sowie der Wahrnehmung seiner selbst als erlebender Leib. Dieser kann zunehmend gesteuert werden: einerseits durch die Koordination der Eigenbewegung und andererseits durch Blick, Gehör und Stimme; der Säugling reift zum teilnehmenden Wesen heran, das Aufmerksamkeit zeigt und diese von sich aus auch einfordert. Das Interesse an ‚Welt‘ kann natürlich gefördert oder auch schon in einem sehr frühem Stadium frustriert werden. Als Resonanzverhältnisse verstanden, werden diese für die Identitätsbildung essentiellen Mikro-Interaktionen auch gerne als Modell der Beziehung von Subjekt und Welt allgemein aufgefasst. Da der Resonanzbegriff jedoch für alle Phänomene menschlicher Kommunikation, Kultur, Kunst und des sozialen Lebens eingesetzt werden kann, sehe ich jedoch nicht, wie aus einem derart allgemein gehaltenen Begriff spezifische Erkenntnisse gewonnen werden können.51 Was indes am Frühstadium kindlicher Entwicklung beobachtet werden kann, ist die konstitutive Bedeutung der Reziprozität für die Interaktion. Die primäre Annahme als Mit-Wesen kann nur dann rezeptiv empfunden werden, wenn die Handlungen der beobachteten Person (aus der Sicht des Säuglings) nicht als zufällige Reize gedeutet werden (wie z. B. ein vom Wind bewegter Gegenstand im Gesichtsfeld), sondern als etwas, was den Säugling bzw. das Kleinkind ‚adressiert‘ und gleichzeitig etwas von ihm erwartet. Die Reaktion, also das vom Erwachsenen Erwartete, wird am Anfang nur impulsiv und reflexhaft und natürlich abgestimmt sein auf die Verarbeitungskapazität des Kindes. Die Herausbildung eines solchen Zyklus birgt in sich schon alles, was Kommunikation bedeutet: Die zunächst reflexhaften Reaktionen werden zu einer intendierten Antwort, die auf den als Absicht verstandenen Auslösereiz hin gerichtet ist. Umgekehrt kann die Antwort-Reaktion, wenn diese ihrerseits beantwortet wird, dazu genutzt werden, den erlebten Auslösereiz zu initiieren. Sobald dieser Zyklus vollständig und durch Wiederholung antizipierbar ist, kann von der Kreation einer bedeutungsvollen Geste geredet werden. Der anthropologische Schlüssel hierfür ist die Reversibilität, die als Wurzel der Reziprozität das Spiel des wechselseitigen Bezugs aufeinander stabilisiert. Da das gestische Handeln auf Seite der Erwachsenen normalerweise
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H. Rosa legt in seiner umfassenden Studie Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2019) einen Interpretationsrahmen für Sozialität in allen ihren Formen vor. Im letzten Teil (Kap. XV, 707–737) stellt Rosa die Verdinglichungsverhältnisse der Moderne den Anforderungen an eine resonant gelebte Subjektivität in der Demokratie kritisch gegenüber. Die im Kern rousseauschen Grundlagen dieser Reflexion auf die ‚gestörte‘ Moderne sind auch mit Blick auf den sehr breit angelegten Entfremdungsbegriff leicht zu erkennen. Da der deskriptiv-analytische und der normative Gehalt des Begriffs nicht klar getrennt werden, fällt der ordnende Blick auf die Gedankenführung mitunter schwer. Explanat und Explanandum werden nicht deutlich getrennt. Auch wenn dies erklärte Absicht ist, so fällt der Nachvollzug schwer, wenn auch defizitäre soziale Verhältnisse unter den Begriff Resonanz fallen sollen, dann aber im Sinne ihrer Abwesenheit. Eine spezifischere Verwendung des Resonanzbegriffs für die Bereiche der kindlichen Entwicklung und der Interaktion findet sich bei J. Bauer, Wie wir werden, wer wir sind (2. Aufl. 2019).
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auch mit Lautäußerungen und phonetisch einfachen Wortgebilden verknüpft ist, kann davon ausgegangen werden, dass die spätere Sprachentwicklung auf den reziproken Interaktionen aufbauen kann. In dem hier fokussierten Modus der (resonanten) Annahme ist die Reziprozität natürlich nicht symmetrisch. Das Bedürfnis nach Symmetrie, also nach gesicherter Teilhabe an einer im Wesentlichen unberechenbaren und unverstandenen Welt, kann doch schon hier mit einer gewissen Vorsicht unterstellt werden. Von einem anthropologischen Universal kann man im Falle der Reziprozität deshalb reden, weil diese im Wechselspiel des Nehmens und Gebens, in der Zuwendung durch Fürsorge und Liebe, in der Erotik und Sexualität, in den auf Vertrauen, Tausch (Simmel [1900/1907] 2017) oder Vertrag beruhenden Handlungen, aber auch in allen Formen der Konfliktaustragung bis hin zum Krieg eine fundierende Rolle spielt. Nicht zuletzt ist es die Reziprozität des Gebens und Nehmens von Gründen, die der Entscheidungsfindung in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zugrunde liegen sollte.52 Da der Blick zunächst auf die individuelle Entwicklung zu richten ist, müssen die Bedingungen der reziproken Teilhabe unter dem Gesichtspunkt der moralischen Person einbezogen werden. Damit verbunden ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen und auf welche Weise wir von vollständiger und allgemeiner Reziprozität reden können.
ii) Der Modus der Bewährung: Die Ontogenese der moralischen Person Im Modus der Bewährung liegt der Schlüssel für eine erfolgreiche Enkulturation. Der Begriff der Bewährung beinhaltet schon die Grundbedingung der Reziprozität. Er ist bewusst aus dem Verständnis heraus eingesetzt, dass der aus dem Behaviorismus bekannte Begriff der Anpassung die subjektive Seite der Selbstverortung auf einen passiven Vorgang reduziert. Die Begriffe der Adaption und Akkommodation (Piaget) kommen der hier bevorzugten Vorstellung schon etwas näher, doch auch diese sind hinsichtlich der Leistung des Individuums auf dem Weg zu ‚seiner‘ Kultur noch zu indifferent, da primär aus der Sicht der fixierten Kultur gedacht. Theoretiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts haben diesen Prozess als einen für das Individuum schmerzhaften Konflikt zwischen Individuum und Kultur gedeutet. Am weitesten ist in dieser Hinsicht wohl Freud in seinem Aufsatz Das Unbeha-
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Mit Blick auf reale politische Systeme ist die Bedingung der reziprok-allgemeinen Rechtfertigung von einem transzendierenden Gesichtspunkt her, der quasi vorgelagerte Interessenkonstellationen aus prinzipiellen Gründen der Vernunft einklammert, etwas zu ambitioniert. (Vgl. hierzu den Ansatz von R. Forst 2015, bes. 9–25). Das Kap. V, Abschnitt 9, bietet eine Reihe realistischer Einschränkungen. Der Ansatz der Rekonstruktion von ungerechten Rechtfertigungsbedingungen ist unabdingbar für die Erkenntnis von Machtstrukturen, lässt aber die Frage der Veränderung der sich einer allgemeinen Vernunft verweigernden Gewaltverhältnisse noch unbeantwortet.
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2.2 Autonomie: ein Überblick
gen in der Kultur ([1929/1930] 1970) gegangen. Ist das menschliche Wesen in der ausgelieferten Leibphase der primären Annahme – antipodisch verbunden mit Trennungsängsten – vorwiegend geschützt und unterstützt, so gilt bei dem heranwachsenden Wesen der Leib zunehmend als ein Zentrum der Leidenschaften. Aus der Sicht der Psychoanalyse liegt hierin der grundsätzliche Konflikt von individueller Selbstbehauptung und moralischen und normativen Ansprüchen der Kultur begründet. Aus der Sicht der Kultur könnte man diese Phase als individuelle Krisenphase der Bewährung bezeichnen, denn das Bedürfnis nach Autonomie einerseits und nach Realisierung der Ansprüche des Ich an sich selbst und andere andererseits kann nur in Form der Aushandlung befriedigt werden. Dazu bedarf es der Verfügung über geeignete Mittel der Kommunikation, der eigenen Handlungskontrolle und der Kenntnisse berechtigter und unberechtigter Erwartungen an die eigene Person und an andere Personen. Mit anderen Worten: Die Person muss sich in Auseinandersetzung mit den moralischen Anforderungen der Kultur eine je besondere Kontur verschaffen, d. h. Personalität für andere darstellen, um – in reziproker Weise – sich mit sich selbst identifizieren zu können. Diese Kontur darf jedoch nicht nur äußeres Image sein, wenn sie als verlässliches Element der Persönlichkeitsstruktur zu Entscheidungen und Handlungen in wesentlicher Weise beitragen soll. Die Arbeit an der Identität ist folglich mit dem Streben nach Macht verbunden. Auf dem Wege der Einforderung von Reziprozität können sich schon subjektive Parameter der Integrität bilden. Diese müssen nicht explizit und sprachlich abrufbar sein. Sie können sich auch vorbewusst in Form von praktischen Haltungen und emotional stabilen Identifikationen ausbilden. Umgekehrt ist die Verweigerung von Reziprozität sicher ein Hindernis für die stabile Ausbildung anerkannter Handlungsmuster. Solange Abhängigkeiten in der Kindheit oder – über diese hinaus – in asymmetrischen Interaktionsverhältnissen bestehen, die nicht durch Verlassen der Gemeinschaft oder Beziehung überwunden werden können, wird sich die eigene Machtlosigkeit als körperliche und psychische Erfahrung verfestigen. Wo die Person sich selbst mangels erfüllender reziproker Beziehungen nicht als stabile sensorisch-kognitive Einheit empfinden kann, wird sie sich ihres Aktionspotentials unsicher sein. Alternative Lebensweisen können dann im schlimmsten Fall weder gedacht noch angestrebt werden. Der Widerstand, sofern er überhaupt artikuliert wird, bleibt impulsiv und episodisch. Autoritär organisierte Gemeinschaften religiöser, weltanschaulicher und politischer Art gewinnen ihre Stärke gegen die Entwicklung subjektiver Autonomie häufig durch eine suggestive Verknüpfung traditioneller Vorstellungen und Gemeinschaftsrituale mit (unrealistischen) Zukunfts- und Erlösungsprojektionen. Deren Stärke resultiert daraus, dass sie den individuellen Willen einer höheren Macht unterstellen, sei es der Macht der Gemeinschaft oder der einer transzendenten höheren Gewalt. Das Phantasma des Gott-Königs lässt sich in vielen Varianten immer wieder neu beleben. In der Regel können die Binnenstrukturen der Macht von innen her nicht adäquat verstanden und kritisch aufgelöst werden. Spiel und Drohung greifen ineinander. Da die Kenntnis der Welt, 61
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auch nur der kulturellen Nahwelt, in der Kindheitsphase noch unsicher und bruchstückhaft ist und von phantasmatischen Komplettierungen lebt, bleibt die Erschließung der sozialen Realität dem spielerischen Probehandeln im Austausch mit der personengebundenen Nahwelt vorbehalten. Spiel, Ritual, Mythos und auf Märchen und Erzählung basierende Phantasien sind wichtige Entwicklungshilfen einer kulturell je spezifischen Initiation in die Welt der moralischen Verantwortung der Erwachsenen. Es gibt dann einen kulturell definierten Endpunkt des Spiels. Dieser kann auch formal definiert sein, etwa durch kulturell definierte Rollen und Pflichten oder juristische ‚Grenzpfeiler‘ wie Kinderrecht, Jugendrecht und Erwachsenenrecht. Im Ritual wird der Zugang zum Weltverstehen der Erwachsenwelt auf besondere Weise wiederbelebt: Man versichert sich der Dinge, die ‚noumenal‘, d. h. jenseits der empirisch-faktischen Welt von wesentlicher Bedeutung sind. Dazu gehört die Welt des Spirituellen und Religiösen, aber auch die Erinnerungsgeschichte einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Da sich diese nicht-empirische Welt einem diskursiven Zugang verschließt, kann sie leicht zu einem ‚Firmament‘ werden, das die Freiheit des Urteilens und Handelns begrenzt, jedoch auch das Gefühl von Sicherheit und Aufgehobensein verstärkt. In dieser Ambivalenz zwischen Selbstübereinstimmung und Übereinstimmung mit dem normativen Rahmen der Gesellschaft muss sich die individuelle Urteilskraft entwickeln und behaupten. Für das Gelingen des eigenen Weges gibt es weder empirische noch transzendental begründbare universelle Kriterien. Die Entwicklung der moralischen Person kann nicht als Blaupause gesellschaftlicher Idealvorstellungen zu Wege gebracht werden. Auch eine Generalisierung des Vernunftanspruchs kann nur in der Retrospektive sinnvoll sein: Wir vergewissern uns dessen, was wir unseren Handlungen und Entscheidungen projektiv nicht zugrundlegen konnten oder wollten. Die rechtfertigende Aufrechnung nach subjektiven und objektiven Faktoren bleibt dabei immer ein intrapersoneller und gesellschaftlicher Kampfplatz. Im Bereich des Kontrafaktischen gedeiht der Wahrheitsanspruch besonders gut. Es bleibt indes die Frage nach förderlichen bzw. hinderlichen Grundbedingungen integrer Entscheidungen. Diese seien im Folgenden kursorisch erläutert. J. Piaget hat in seinen sich über Jahrzehnte erstreckenden empirischen Untersuchungen zur Entwicklung des Denkens des Kindes zwei Schwerpunkte verfolgt. Der eine lag auf der Entwicklung des mathematischen Denkens, der andere auf der moralischen Entwicklung. Zwischen beiden Denkformen hat Piaget auch Bezüge im Reifungsprozess hergestellt, auf die es hier aber nicht ankommen soll. Zum Verständnis von Piagets Ansatz, dessen Arbeiten im Zusammenhang einer allgemeinen Theorie der Intelligenz zu sehen sind, muss zunächst das Umfeld der eher soziologisch orientierten Moraltheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts einbezogen werden. Im französisch-sprachigen Bereich gelten E. Durkheims soziologisch-pädagogische Schriften als normbildend für eine empirisch orientierte Sozialtheorie. Dem Forschungsfokus des sozialen Wandels verpflichtet, nimmt Durkheim vor allem die Makrostrukturen der Gesellschaft und deren Wirkung auf die Moral in den Blick. Dabei erscheinen als herausragende Charakteristika 62
2.2 Autonomie: ein Überblick
seiner Zeit des Jahrhundertwechsels die Verweltlichung der Moral und ihre damit verbundene Rationalisierung. Die Fundierung moralischer Einstellungen in transzendenten, religiösen ‚Sensibilitäten‘ (vgl. Durkheim [1902–03] 1984, 156) bleibt eingebunden in eine allgemeine soziale Heteronomie. Moral im Kontext einer zunehmend individualisierten Gesellschaft basiert auf der Autonomie subjektiv begründeter Einstellungen, Haltungen und Entscheidungen. Dieser Wandel lässt sich in der oben eingeführten Terminologie so verstehen, dass nicht die Zugehörigkeit (zu einer Gruppe oder Kleingesellschaft) den Schlüssel zur Moral bildet, sondern die individuelle Zurechenbarkeit von Handlungen und Entscheidungen. Das handelnde Wesen erfährt sich im Modus der Bewährung, weil ihm seine Handlungen als die seinigen als einer unvertretbaren Person zugerechnet werden. In makrosoziologischer Sicht spielt dabei die Assoziierung der Individuen durch die Institutionen die entscheidende Rolle: Die säkularisierte Moral verlässt sich nicht auf religiöse Bindungen und Seinsdeutungen als ihre Quelle, sondern sie schafft in ihren und durch ihre Institutionen normative Verbindlichkeiten. Auf diese muss das individuelle Handeln bezogen sein, wenn es nach sozialer Anerkennung strebt. In der Konzeption Durkheims verschmilzt das Einzelbewusstsein mit dem Kollektivbewusstsein zu einem psychischen Wesen eigener Art (vgl. Durkheim [1895] 1984, 187f). In gewisser Weise liegt diesem Ansatz die Vorstellung zugrunde, dass das traditionell und formal geregelte Miteinander in der entstehenden arbeitsteiligen Gesellschaft eines Ersatzes bedarf. Diesen sieht Durkheim in den überindividuellen Phänomenen der sozialen Realität. Das Einzelbewusstsein muss sich seiner kollektiven Verankerung nicht immer bewusst sein. Die soziale Tatsache (fait social) ist dem Individuum vorgeordnet und ‚eingeschrieben‘. Sie bildet das Integral von Gesellschaftlichkeit schlechthin, innerhalb dessen die Integrität des Einzelnen eingebunden ist. In seiner besonderen Verfasstheit als Teil eines übergeordneten Ganzen erfährt das Individuum so einerseits Autonomie und andererseits imperative Bindungen der Verantwortlichkeit.53 Einer vollständigen Subjektivierung der Verantwortung steht Durkheim daher ablehnend gegenüber. Die heutige Sozialisationsforschung kann dagegen dem Konzept Durkheims gesicherte Erkenntnisse zur Selbstwerdung der moralischen Person entgegenstellen. Die besondere Art der Zuschreibung von Verantwortung an das Individuum setzt schon in früher Kindheit ein und steigert sich bis hin zu einer formell gesicherten Einforderung von 53
In diesem Dualismus von Individuum (Autonomie) und hypostasierter sozialer Realität (Heteronomie), der eigentlich schon in I. Kants Aufklärungsbegriff überwunden schien, sehen die Kritiker Durkheims auch die Grenzen seines Ansatzes. Mit Recht lässt sich wohl sagen, dass Durkheims Theorie an der Schwelle einer Entwicklung steht, die einerseits die Rolle des Subjekts in der Gesellschaft neu zu bestimmen versucht, die andererseits den Subjekten als Einzelwesen die Sicherung des kollektiven Zusammenhalts nicht recht zutraut. Wenn Rousseau der Denker ist, der den sozialen Zusammenhalt als Ergebnis einer politisch bewussten Gestaltung sieht, so ist Durkheim der Denker, der Sozialität als ein quasi metaphysisches Band versteht, das in verschiedenen Formen der Solidarität gestaltbar, aber im Grundsatz nicht auflösbar ist.
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Rechenschaft im Erwachsenenalter. Wie und auf welchen Wegen dies geschieht, wurde von Piaget in seinen empirischen Studien auf vielfältige Weisen untersucht. Zwar folgt auch Piaget der Fragestellung, wie die Sozialisierung vonstatten geht, doch setzt er den Fokus auf die Sozialisierung des Denkens und schlägt damit einen individualpsychologischen Weg ein, auf dem die Ontogenese der moralischen Person im Vordergrund steht. Die theoretischen Pole bilden dabei das soziozentrische Denken auf der einen und das egozentrische Denken auf der anderen Seite. Während das soziozentrische Denken Religionen, Kosmogonien und politische Ideologien mit starker Bindungswirkung und Stabilität umfasst, beschreitet das individuelle Denken in der Ontogenese einen eigenen Entwicklungsweg: In der Kindheitsphase dominiert die egozentrische Erschließung der Welt gemäß dem subjektiven Interesse. Der kindliche Ego-Zentrismus macht mit zunehmender Reifung einer dezentrischen Weltsicht Platz. Diese ist nach Piaget der Disposition zum operationalen Denken zu verdanken. Dieses muss sich an objektiven Maßstäben wiederholbarer, auf Erfolg ausgerichteter Handlungen orientieren und bildet somit eine der Quellen der Vernunft. Soziozentrisches und egozentrisches Denken sind in ähnlicher Weise wenig förderlich bei der Herausbildung der Vernunft, weil beide logischen Gründen schwer zugänglich sind. Die Besonderheit des piagetschen Ansatzes liegt nun darin, dass er die Entwicklung der kindlichen Moral mit der Ontogenese logischer Operationen verbindet. Die Operationen der Reversibilität und der Reziprozität bilden die Schlüssel für die Entwicklung der Moral. Handlungen werden in ihrer Wirkung auf die Objektwelt und auf andere erkannt und es werden Rückschlüsse auf geeignete bzw. ungeeignete Handlungen gezogen, indem die Handlungskette im Geiste umgekehrt wird, d. h. es wird von der Wirkung auf die verursachende Handlung geschlossen (Reversibilität).54 Wenn die Wirkung der eigenen Aktionen auf andere Personen verstanden und in der Vorstellung antizipiert werden kann, ist die Basis dafür gelegt, sich in die Rolle des Interaktionspartners zu versetzen und diese als Akteure mit eigenen Handlungsantrieben zu verstehen (Reziprozität).55 Piaget hatte in Absetzung zu Durkheims Idee einer ‚einzigen Gesellschaft‘, deren Eigenschaften permanent und deren Werte im Wesentlichen unveränderlich seien, die Vorstellung einer kollektiven Verantwortlichkeit scharf kritisiert. Während Durkheim im Falle von Verbrechen
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Zum Einsatz von Ziel-Mittel-Operationen bei ca. 8 Monate alten Säuglingen auf der Grundlage von J. Piagets Forschungen siehe: M. Tomasello 1999/2003, 90ff. J. Piagets psychologische Studien gehen von einer starken Interferenz zwischen sensomotorischen Handlungen und geistigen Handlungen aus. Als Mittler zwischen beiden sieht er die symbolische Funktion. Die Frage, inwiefern der Spracherwerb möglicherweise eine Ebene sui generis logischer Operationen eröffnet, unabhängig von praktischen Operationen, ist auch heute nicht völlig geklärt. Ebenso fehlt es bislang an einer Theorie, die den Übergang von voroperationalen zu logischen Strukturen auf empirischer Grundlage erklärt. Seine Theorie der parallelen Entwicklung von logischem und moralischem Denken bildet nach wie vor die Grundlage der Entwicklungspsychologie.
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2.2 Autonomie: ein Überblick
der Strafe einen Wert an sich zuschreibt, weil ohne die Existenz von Strafen die Gesellschaft nicht bestehen könne, sieht Piaget einen Wandel der (zivilisierten) Gesellschaft hin zur Individualisierung von Verantwortung (vgl. Piaget [1954] 4. Aufl. 1981, 370–400; hier insbes. 371ff). Die Idee einer objektiven Verantwortlichkeit basiert auf der Annahme konstanter struktureller Elemente. Diese sind übertragbar, also vom Individuum abgelöst bzw. ablösbar. Die gesellschaftliche Entwicklung geht nach Piaget jedoch in Richtung einer Individualisierung der Verantwortlichkeit. Die Gesellschaft fördert die Bildung der moralischen Person, während kollektive moralische Imperative in den Hintergrund treten. Dabei spielt die Generationenwirkung nach wie vor eine vermittelnde Rolle, jedoch sei auch hier eine Entwicklung vom Autoritativen zum Egalitären zu erkennen (vgl. ebd., 379f). Diese Entwicklung einmal anerkannt, wendet sich der Blick folgerichtig auf die Ontogenese der moralischen Person. Deren Verhältnis zur Gesellschaft ist daher im Modus der Bewährung zu bestimmen, der seinerseits von primärer Annahme, Sozialisation, Bildung und Erziehung geprägt und gefördert ist. Der Modus der Bewährung schließt seinerseits an die anthropologisch fundierte Bedingung der Reziprozität an. Diese steuert in gewisser Weise die interpersonelle Ausrichtung auf das Handeln, die Gefühle und die Perspektiven der sozialen Mitwelt. Innerlichkeit und Außenbezug bilden (anfänglich) einen dichten Zusammenhang, aus dem das Individuum sich schrittweise herauslösen muss. Aufgrund der Forschungen Tomasellos in den letzten Jahrzehnten haben wir ein differenzierteres Bild der kindlichen Moralentwicklung gewonnen, das direkt an den Arbeiten Piagets anschließt und teilweise zu Revisionen von Einzelbefunden Piagets beigetragen hat. Das Rätsel der Moral, also die große Frage, wie gesellschaftliche Orientierungen, Werte und normative Konfigurationen des Handelns die Persönlichkeit formen und im reiferen Leben beeinflussen, scheint damit ein Stück weit entschlüsselt. Der Zusammenhang von Integrität und Sozialität wird damit ein wenig transparenter und der rein philosophischen Spekulation entzogen. Auch der ‚Soziologismus‘ des gesellschaftlichen Drucks als eigentliche Quelle der Moral, der das populäre Erziehungsdenken auch heute mancherorts noch prägt, hat damit ausgedient. Insofern ist es schlüssig, dass Piaget (auch im Anschluss an Dewey) für eine demokratische Erziehung anstelle eines Systems der Disziplin plädiert (vgl. Piaget [1954] 1981, 412f). Von hier ist der Schritt zur Rolle der Kultur nicht weit. Unter Kultur ist das geschichtlich geformte Potential einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu verstehen, sich selbst zu verorten, zu deuten und vermittels der Generationenfolge weiter zu erhalten und zu entwickeln. Mit Blick auf das Individuum geht es um die Selbstverortung im weiten Netz sozialer Kognitionen, die zum Erwerb und Erhalt personaler Integrität beitragen. Unter dieser Fragestellung muss der Modus der Bewährung des Individuums in allen seinen Entwicklungsphasen so gesehen werden, dass es der Teilhabe an Interaktionen der Erwachsenen bedarf. Zugehörigkeit und Angewiesenheit komplettieren einander. Interaktionen auf die65
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ser Stufe stellen ein praktisches Austarieren dar, eine Erprobung von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmacht in ihrer leibgebundenen und sprachlichen Realisierung. Erst in späteren Phasen der Interaktion gleichaltriger Kinder kommt ein normativer Gesichtspunkt hinzu. Dieser ist mit der Einnahme eines ‚Standpunktes der Kultur‘ verbunden, d. h. der Übernahme der Erwartungen, die innerhalb einer Gemeinschaft für alle aus einer unabhängigen Sicht gelten. Dazu gehören das Verständnis von Verpflichtungen, der Fairness und des Respekts, der Protest gegen Unfairness und Respektlosigkeit sowie die Rücksicht auf die Interessen anderer. Die Verhaltenskultur der Gesellschaft trägt im praktischen Sinne einerseits dazu bei, Probleme des Lebens zu lösen (instrumentell und sozial), und sie stabilisiert andererseits die als richtig und bindend verstandenen normativen Erwartungen an andere und sich selbst. Teilnehmer sein bedeutet daher, sich in einem sehr weiten Netz praktischer, sozialer und moralischer Anforderungen und Erwartungen orientieren zu können. Dafür bedarf es einer permanenten ‚Selbstregulation der Wir-Ich-Beziehung‘ (vgl. Tomasello 2020, 309). Intentionalität (subjektiv) kann im zunehmenden Reifungsprozess zur individuell (mit-)gestalteten Kooperation (kollektiv) ausgebaut werden. Der früh entwickelte Fundus von Reziprozitätserfahrungen wird mit zunehmender Reifung zu einem aktiv verfügbaren Repertoire an Interaktionsformen und -modi ausgebaut. In dem Maße der Verfügung über die Integration von Zweit- und Drittperspektiven und gegebenenfalls weit entfernten Fremdperspektiven kann die Person sich selbst unter dem Aspekt der Bewährung betrachten und sie kann und muss dies auch aus der Perspektive der anderen tun. Gelingende Reziprozitätserfahrungen steigern Reziprozitätserwartungen, womit sich der gestaltbare Lebensbereich erweitert. Handlungsmacht und Freiheitssinn bilden ein Gespann, das die Entwicklung der Person vorantreibt.56 Die Person als ‚gesellschaftliche Tatsache‘ (objektiv) ist damit auf dem Weg zur Persönlichkeit (subjektiv).
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Man kann hier mit Dewey zwei Philosophien unterscheiden, von denen die eine „[…] die Freiheit in der Wahl selbst findet, und die andere in der Macht, in Übereinstimmung mit der Wahl zu handeln“ (Dewey [1928] 2003, 276/277; Hervorh. kursiv i. Orig.). Die erste Auffassung wird nach Dewey vom klassischen Liberalismus vertreten, während die zweite Auffassung eine Korrektur dergestalt vornimmt, dass sie die Rolle von Institutionen betont, die Freiheit als Macht zum Handeln unterstützen. Deweys Ansatz strebt eine Verbindung beider Denkrichtungen an, indem er auf die politischen Implikationen der „[…] Identifikation von Freiheit und tätiger Vernunft“ verweist: „Kein Einzelner kann seine Tendenzen, als ein bloßer isolierter Teil zu handeln, bezwingen. Die theoretische Einsicht in die Verfassung des Ganzen ist weder vollständig noch sicher; sie gibt unter dem Druck unmittelbarer Umstände nach. […] Wir sind als Teile eines Ganzen zusammengebunden, und nur in dem Maße, wie andere frei sind, durch Aufklärung über die Natur des Ganzen und seiner eingeschlossenen Teile, kann jeder frei sein“ (ebd., 278).
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2.2 Autonomie: ein Überblick
iii) Der Modus der Offenheit: Selbstgefühl, Selbstentwurf und Selbstdistanz Wer den Blick auf sich selbst unter dem Aspekt der Bewährung einnimmt, stellt sich die Frage, worin er sich als ein individuelles Wesen erkennt und wiederfindet, letzteres vielleicht besonders in Zeiten der Unsicherheit und der Krise. Der Blick der anderen kann dabei eine Rolle spielen, auch die Art und Weise der Kooperation und der Involviertheit in Handlungsbezüge und komplexe Interaktionen. Diese Art der Selbstbefragung ist nicht an ein bestimmtes Alter oder ein besonders ausgeprägtes Reflexionsvermögen gebunden. Das bewusste ‚sich in ein Verhältnis zu sich selbst und anderen setzen‘ setzt schon bei Dreijährigen ein. Enttäuschende Erfahrungen, erfahrene Ungerechtigkeit, kindlicher Streit und viele andere Situationen verlangen Selbstregulation und Selbstjustierung. Dabei können äußerliche Zwecke, z. B. etwas für sich erhalten, genießen u. s. w. genauso eine Rolle spielen wie innere Zielsetzungen, wie z. B. gesehen und gehört werden wollen, einen Standpunkt vertreten, seinen Willen durchsetzen wollen und vieles mehr, was wir generell dem Gefühlsleben zurechnen. Die Sache, um die es geht, so abstrakt und allgemein diese gehalten sein mag, ist immer auch unsere Sache. Und diese müssen wir gegenüber anderen vertreten wollen und können. Damit kommen geteilte normative Ansprüche ins Spiel, die wir anderen gegenüber für vertretbar halten und die wir umgekehrt von anderen uns gegenüber einfordern. Von der Leiblichkeit aus gedacht bedarf es eines Selbstgefühls, aus dem heraus Wirkungen von innen nach außen realisiert werden können. Dabei erstreckt sich das Selbstgefühl immer auch auf die äußerliche gegenständliche Welt, derer das handelnde Wesen bedarf, um die Grenzen seines Körpers objektiv zu erfahren. ‚Geist‘, wie auch immer gebunden in der Aktivität des Gehirns, erstreckt sich also in die Welt und schafft ein Dazwischen. In diesem Zwischenreich sind Handlungen so zu situieren, dass ein Effekt im erstrebten Sinne in der äußeren Welt erzielt werden kann. Das Selbst lässt sich also als ein Aktionsmodus verstehen, in dem einerseits etwas erfahren/erlebt wird, und andererseits kausale Wirkungen erzielt werden. Jede Handlung bewirkt etwas an/in uns und gleichzeitig wirkt sie auf die ‚Welt‘ unseres Nahbereichs. Diesen Zusammenhang möchte ich mit dem Begriff der Offenheit hervorheben. Im Selbstgefühl richten wir die Aufmerksamkeit auf uns, indem wir die auf uns kaum kontrolliert hereinbrechende Vielfalt der Welt auf ein Minimum reduzieren. Das gefühlte Selbst ist daher keine sichere, stabile Entität, auf die wir uns immer verlassen können. In den mehr oder weniger bewussten Phasen unseres Lebens haben wir uns an wiederkehrende Situationen gut adaptiert. Dieses kaum bewusst gesteuerte Lernen hat uns zu mehr oder weniger akzeptierten Mitakteuren in einer für uns als Kinder und Jugendliche kognitiv noch unüberschaubaren Welt gemacht. Daraus haben sich habituelle Formungen ergeben, die wir zu einem Teil von uns gemacht haben. In diesem konstruktiven Prozess haben wir aber auch immer Ja-Nein-Entscheidungen treffen müssen: Was gehört zu mir/soll zu mir gehören? Was lehne ich ab und weise es von mir? In dieser Art der Selbstbefragung spielen 67
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Gründe eine zunehmende Rolle. In der aristotelischen Ethik finden wir das bewusste und auf ethischen Gründen beruhende Selbstbild im Begriff des Habitus wieder. Im Habitus (hexis bei Aristoteles) sind wir für uns und für andere als Handelnde erkennbar, die Sozialität auf eine Weise leben, die sowohl antizierbar ist als auch Verlässlichkeit beinhaltet. Der Habitus umfasst also deskriptive Elemente (‚so und nicht anders handle ich‘), die auf einen bestimmten gesellschaftlichen Kontext bezogen sind, als auch emotive (‚so möchte ich handeln‘) und normative Elemente (‚so sollten ich und andere handeln‘). In der ethischen Haltung erkennen wir den Charakter oder das Ethos der Person. Da das Selbstgefühl keine rein spontane, situativ gebundene Emotion darstellt, sondern als permanenter Begleiter fungiert, kommt ihm auch eine regulative Funktion zu, die aus der subjektiven Perspektive als Stimmigkeit bezeichnet werden kann. Aus diesem Grunde könnte es so scheinen, als enthielte das Selbstgefühl auch den Schlüssel für die Frage, wer wir wirklich sind. Da jedoch die Fremdeinwirkungen nicht zuverlässig eingeklammert werden können, bleibt das funktionale Ganze der Person auch in deren Innensicht immer opak und nur zum Teil verständlich. Als Säuglinge, Kinder und noch als Heranwachsende sind wir auf diese Fremdeinwirkungen angewiesen. Philosophisch ließe sich aus diesem Wirkungszusammenhang die Priorität des Anderen für die Selbstwerdung begründen. Auch als Erwachsene wissen wir nicht immer mit ausreichender Klarheit, von welchen Identifikationen wir uns leiten lassen. Im politischen Kontext spielt daher der Raum des Öffentlichen als Reich möglicher Identifikationen und Abgrenzungen eine gewichtige Rolle. Man sollte das Selbstgefühl also eher als eine starke Quelle für unser Handeln ansehen, in der Gefühle, habituelle Sicherheiten und Verunsicherungen und mehr oder weniger klare Selbstwahrnehmungen miteinander vermischt sind. Welche Sedimente psychischer und sozialer Erfahrungen im Selbstgefühl ‚aufgehoben‘ sind, können wir so leicht nicht klären. Gefühle sind in gewisser Weise intransparent, solange wir diese nicht auf den Seziertisch legen. Als Subjekte, die sich solchermaßen zum Objekt machen wollten, würden wir höchste Vorsicht walten lassen und ‚riskante Schnitte‘ vermeiden. Dass sie in irgendeiner Weise unsere erlebten Beziehungen, Leiberfahrungen und existenzielle Grundhaltungen widerspiegeln, ist wohl anzunehmen. Das Amalgam aus all diesem bleibt uns in der Regel undurchsichtig. Manchmal helfen Psychologen dabei, Teilbeziehungen aufzudecken. Vielleicht liegt in dieser Intransparenz auch die zu Handlungen motivierende Kraft des Selbstgefühls, doch ist mit dieser ‚Kraft‘ keine Gewissheit bezüglich Erfolg oder Richtigkeit der intendierten Handlung verbunden. Vermutlich verdanken sich auch einige unserer Intuitionen, von denen wir uns gerne leiten lassen, einem ‚sicheren‘ Selbstgefühl. Wer sich in dieser Gemengelage auskennen und nicht zum eigenen Opfer seiner Spontaneität werden will, kommt nicht darum herum, an seinem Selbstentwurf zu arbeiten.57
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Der an Hobbes’ Machtbegriff und am Konzept der Selbststeigerung (im Verständnis Nietzsches) orientierte Philosoph P. Kondylis belebt die Denkfigur der notwendigen Verbindung von Identität mit Macht: „Macht verschafft sich das Subjekt zunächst, indem es die eigene Selbsterhaltung abzusichern
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2.2 Autonomie: ein Überblick
Ein ungebrochenes Selbstgefühl, das ohne den Blick von außen auskommt, kann auch die Grundlage für den ‚Willen zur Macht‘ bilden: Selbstüberschätzung und Herrschaftsansprüche von sich selbst grenzenlos überzeugter Menschen können auf schwache Persönlichkeiten als ein charismatisches Faszinosum, quasi als Droge zur Steigerung des eigenen schwachen Selbst wirken.58 Dies gilt nicht nur für die in dieser Hinsicht erfolgreichen Diktaturen der Vergangenheit, sondern ebenfalls für die formell demokratisch, aber in der Entscheidungsfindung autokratisch organisierten Regime und Regierungen der Gegenwart. Das schwache Selbstgefühl ihrer Anhänger verhält sich offensichtlich negativ-reziprok zur unterstellten Macht des Potentaten; seine Anhänger steigern ihr schwaches Selbstwert- und Machtgefühl durch Identifikation mit der Macht. Politisch entscheidend ist dabei nicht der tatsächliche Machtzuwachs (z. B. als williger Helfer) und auch nicht der materielle Vorteil. Sogar das Gegenteil kann der Fall sein. Es zählt nur die motivierende Illusion, an der Macht zu partizipieren. Das auf Selbstwerdung gerichtete Individuum kann sich also bei seinen Entscheidungen nicht allein auf sein Selbstgefühl verlassen. Das Denken ist ja auch nicht in jeder Lage ‚selbstfixiert‘ auf den gerade gegebenen Gefühlszustand bezogen, sondern orientiert sich immer auch an der Möglichkeit des Andersseins.59 Dies kann in annehmender oder abweisender Form geschehen. Es kann ‚sachorientiert‘ oder ‚personenorientiert‘ sein oder aber eine Mischung aus beidem darstellen. Jede Kultur kennt Formen der formalen und der nicht-formalen Bildung, in denen sie das Individuum mit Erfahrungen und Wissen anderer versorgt, die bei nachhaltiger Ver-
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vermag, und dies erfolgt letztlich in Form der Erlangung einer festen Identität innerhalb einer geordneten Welt“ (Kondylis 1984, 33). Man sollte dabei aber im Auge behalten, dass das Subjekt sich die Mittel dazu nicht selbst bereitstellen kann, sondern diese kulturell in einem mühsamen Lernprozess erwerben muss. Von ganz anderer Seite kommend hat Foucault darauf insistiert, dass das Subjekt auf Macht angewiesen ist, wenn es seine Identität erhalten will. Die Institutionen der Gesellschaft, innerhalb derer die Macht des Subjekts auf den Nullpunkt reduziert ist, hat Foucault daher zum Ausgangspunkt seiner Gesellschaftsanalyse gemacht, die die Spuren der Macht am Subjekt dechiffriert. (Siehe dazu: Foucault [1961] 3. Aufl. 1976 u. 1975/3. Aufl. 1979). Hier sei auf die nach wie vor erhellende Studie E. Canettis Masse und Macht (Canetti [1960] 1981) verwiesen. H. Plessner ([1928] 3. Aufl. 1975) hat dafür den Begriff der exzentrischen Positionalität geprägt. Das Wortgebilde klingt ein wenig sperrig, bringt aber die Tatsache sehr prägnant zum Ausdruck, dass wir Menschen uns selbst nicht aus einem fixierten Zentrum heraus erleben, sondern aus unserem Zentrum heraustreten (müssen), um uns als Teil der Welt von außen zu sehen. Wir werden damit natürlich nicht zwangsläufig zu objektiven Beobachtern unserer selbst, aber wir beziehen unsere Wahrnehmungen und Aktionen auf weltliche Gegebenheiten, die wir mehr oder weniger klar und deutlich von uns selbst unterscheiden können. Insofern sind Menschen auch die Wesen, die für sich das Wissen erfinden, was andere Primaten in dieser Form nicht leisten können. Tiere sind nach Plessner ausschließlich zentrisch organisiert. Als Wesen mit konstitutivem Selbstwissen können wir nicht ausschließlich zentrisch agieren. Wer dies in besonderen Augenblicken dennoch tut, befindet sich, wie Psychologen es ausdrücken, in einem Tunnel.
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mittlung neue Orientierungen bereitstellen. Solche Orientierungen stellen auch Varianten des Selbstseins vor Augen, die hier als Möglichkeiten des Selbstentwurfs bezeichnet werden sollen. Der Wortteil ‚Entwurf ‘ hebt dabei hervor, dass wir über unser Leben nicht einmalig und definitiv entscheiden, sondern gewissermaßen im Probehandeln Potentiale unserer selbst ausloten, diese imaginativ in einem Entwurf verdichten und an dessen Klärung arbeiten. So diffus und unklar solche Entwürfe auch sein mögen, sie dienen der Bestimmung unseres Selbstbildes. Und auch hier sollte man unter ‚Bild‘ nicht etwa eine detaillierte Zeichnung oder ein gut belichtetes Foto verstehen, sondern einen tentativen Entwurf, der als Skizze beginnt, zunehmend Form und Farbe annimmt und gegebenenfalls in bestimmten Stimmungen und Phasen des Lebens im Detail oder sogar als Ganzes übermalt wird. Natürlich kann es auch so laufen, dass bestimmte Details ad hoc sehr präzise feststehen, z. B. eine bestimmte Partnerwahl oder eine Berufsentscheidung, und dass dann weitere ‚Ausschmückungen‘ erfolgen, die noch eine gewisse Offenheit für weitere Entwicklungen beinhalten. Der Begriff des Selbstentwurfs geht auch über die metaphorisch-äußerliche Darstellungsform hinaus; er integriert die Fülle emotiver und kognitiver Elemente, die ‚uns ausmachen‘.60 Was wir Selbstwertgefühl nennen, entspringt daher nicht unmittelbar unserem Selbstgefühl. Es ist viel stärker mit unserem Selbstentwurf verbunden. Vielleicht ist das Streben nach einer Ganzheit, wie wir diese im Begriff der Integrität einmal unterstellen, schon sehr frühzeitig maßgeblich. Das ist z. B. denkbar, wenn eine Person sehr früh und sicher entscheidet, Nonne oder Mönch zu werden, wodurch eine zumindest ‚integrale‘ Bindung für alles Weitere im Leben entschieden ist. Eheschließungen im 19. Jahrhundert besaßen eine ebensolche Bindungswirkung, wobei die Identifikationswirkung nicht immer dieselbe Stärke besessen haben mag. Da der Begriff des Selbstbildes in der Psychologie jedoch fest verankert ist, soll hier keine dogmatische Abgrenzung vorgenommen werden. Die obigen Erklärungen machen ausreichend deutlich, worum es geht. Die Offenheit des Selbstentwurfs ist jedoch nicht allein durch machtorientierte Selbstüberschätzung gefährdet. Auch das Gegenteil ist denkbar. Menschen können nicht nur selbstgerecht sein, sondern sich selbst auch Unrecht antun. Für Aristoteles war dies eine offene Frage, denn Unrecht tun setzt ja eine Normverletzung voraus.61 Sich selbst Unrecht anzutun klingt irgendwie merkwürdig. Fälle pathologischer Selbstverletzung sollen hier mal außer Betracht bleiben. Wir haben es im Falle des Unrechts sich selbst gegenüber natürlich nicht mit einer Rechtsverletzung zu tun, sondern mit der Frage der gerechten Selbstbeurteilung. Dabei geht es um Fragen der allgemeinen Moral und des guten Lebens. Nun könnte man sagen, dass jede Selbstbeurteilung ausschließlich im eigenen Ermessen liegt. Das würden wir jedoch keinem Hitler und keinem
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Im Englischen wäre der Begriff ‚self-conception‘ zu bevorzugen. ‚Selbstkonzept‘ im Deutschen dagegen klingt eher formal. Doch das könnte auch eine Geschmacksfrage sein. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, 11 (2), (1969, 144).
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2.2 Autonomie: ein Überblick
anderen Diktator durchgehen lassen, zumal er seine Macht im politisch-öffentlichen Bereich ausübt. Wenn jedoch jemand ganz für sich im Privaten seine Handlungen beurteilt, sieht es dann völlig anders aus? Der Fall des Asketen und Eremiten könnte hier weiter helfen. Dieser ist – einmal unterstellt – auf Reinigung von Sünden und ein frommes Leben ausgerichtet. Die Selbstbeurteilung auf diesem Weg fällt zwangsläufig äußerst selbstkritisch aus: Sein Streben kann maßlos gesteigert werden; die Selbstverurteilung, ‚nicht zu genügen‘, ist seine notwendige Antriebskraft. In diesem zugegebenermaßen seltenen Fall ist der Maßstab der Selbstbeurteilung selbst gesetzt und gleichzeitig absolut. Religiöses Denken bietet dafür reichhaltige Beispiele. Die Beurteilung im Sinne des ‚Nicht-Genügens‘ hat über diesen Fall hinaus jedoch auch eine universelle psychologische Bedeutung: Es geht um Maßstäbe, denen die Person nicht immer oder vielleicht gar nicht entsprechen kann. Der Selbstentwurf beinhaltet nicht nur Offenheit gegenüber den kontingenten Herausforderungen der Welt, an denen Personen wachsen können; er setzt mitunter auch Maßstäbe, die verfehlt werden können. Aus einer distanzierten Sicht auf sich selbst kann die Einsicht gewonnen werden, dass die Maßstäbe – ob nun selbst gesetzt oder übernommen – nicht stimmen, weil sie per se unpassend sind oder eben für die Person nicht passen. Diese Sicht von außen steht leider oft gerade dann nicht zur Verfügung, wenn sie besonders dringlich benötigt wird. Ein weiterer extremer Fall ist der des pathologischen Altruismus. Menschen, die davon betroffen sind, müssen anderen helfen. Ohne dieses permanente Streben wäre ihr Leben sinnlos und leer. Das Selbstgefühl im positiven, lebensfördernden Sinne bezieht sich nicht direkt auf die eigene Person, sondern geht den Umweg über die anderen, vermeintlich hilfsbedürftigen Personen. Eine kritische Differenzierung zwischen notwendiger und sinnvoller Hilfe für andere und den eigenen Bedürfnissen und Grenzen ist dem pathologischen Altruisten nicht möglich. Von außen betrachtet ist die Person nicht zu einer ‚gerechten‘ Einstellung sich selbst gegenüber in der Lage.62 Was hier Gerechtigkeit heißt, bedarf natürlich allgemeiner Kriterien. Der Selbstentwurf muss sich Maßstäben und Maximen stellen, die mit der Sozialität und ihren Formen der Solidarität übereinstimmen können, d. h. aus einer allgemeinen Sicht begründbar sind. Eine solche Sicht unter allgemeinen Kriterien und Maßstäben ist allerdings nur möglich, wenn die Befähigung zur Selbstdistanz gegeben ist, und diese ist nur dann förderlich, wenn die eigenen Maßstäbe nicht einfach gegen die anderer Personen ausgetauscht werden. Das wäre dann ja nur eine weitere Form der Anpassung. Im Gegenteil, es bedarf einer Distanzierung von der jeweiligen Besonderheit von Interessen und Perspektiven, um das eigene Handeln reflektierend selbst zu bestimmen. Auch wenn die angedeutete Verknüpfung von Selbstdistanz und Selbstreflexion hier noch etwas unklar erscheint, so wird doch im Ansatz deutlich, dass in dieser Verknüp62
Dies kann auch daran liegen, dass systemischer Altruismus – bewusst oder unbewusst – mit dem Bedürfnis nach Einfluss auf andere verknüpft ist.
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fung ein Schlüssel für das Rätsel der Autonomie in einer vorwiegend auf Heteronomie ausgerichteten Welt liegt. Mit der Offenheit des Selbstentwurfs ist die Tatsache, dass Menschen als narrative Wesen an Erzählungen von sich selbst arbeiten, aufs Engste verbunden. Daraus gehen ggf. Revisionen der Vergangenheit hervor, aber auch ‚projektive Erzählungen‘ davon, wer oder was wir sein wollen oder könnten. Die (gewünschte, erhoffte) Erzählbarkeit des eigenen Lebens kann ein wesentliches Motiv für die besonderen Ziele und Maßstäbe des Selbstentwurfs bilden, die Person aber auch mit dem Problem der Selbstehrlichkeit konfrontieren. Die abnehmende Stärke der Erinnerung wiederum hilft dabei, es mit der Selbstehrlichkeit nicht zu übertreiben. Erinnerungen stehen in dem Ruf, sich der gelebten Gegenwart und den bevorzugten Projekten ‚zukunftstauglich‘ anzupassen.63 Im Falle von Rechtsverletzungen, individuellem Versagen, Korruption und Menschheitsverbrechen bedarf es daher immer der Erinnerungen in der öffentlichen Moral und der Unbestechlichkeit des Rechts. Die Sozialität der Person bleibt also stets eingebunden in die Form von Staatlichkeit bzw. Gesellschaftlichkeit, wie funktionsfähig oder defekt diese auch immer sein mag.
Resümee II Im Modus der Offenheit sind wir in der Lage, Selbstgefühl, Selbstentwurf und Selbstdistanz auf (für uns) sinnvolle und lebenswerte Weise zu verbinden. Damit ist nicht gesagt, dass diese Verbindung in harmonischer, stets erfolgreicher und ausbalancierter Form gelingt. Wahrscheinlich sind es immer nur ‚Etappensiege‘ in Teilbereichen, die uns vermitteln, wir selbst zu sein und unsere Integrität zu bewahren, auch wenn unsere Identität sich im Wandel befindet und Gefährdungen ausgesetzt ist. Da wir als für andere sichtbare und erlebbare Personen uns immer auch einer objektiven Welt stellen müssen, die mit unserer subjektiven Welt häufig nur schwache Überlappungen aufweist, bleibt unser Selbstsein ein beunruhigender Auftrag. Ob und wie wir diesen annehmen, liegt ganz in unserer Hand oder besser: in unseren seelisch-geistigen Erwartungen an uns selbst. Selbstdistanz ist die Haltung rationaler Wesen zu sich selbst als Akteuren in einer umfassenden Sozialität. Diese ist nicht auf den Nahbereich, soziale Zugehörigkeiten 63
Das analytische Gedächtnis wäre damit überfordert, die Vielfalt der Erlebnisse, Handlungen und Erfahrungen auf Abruf zu vergegenwärtigen. Der Rückgriff auf Vergangenes steht – im Traum allerdings nur bedingt – im funktionalen Zusammenhang aktueller Situationen. In der Persönlichkeitstheorie und Neurobiologie wird daher zwischen dem horizontalen Gedächtnis und der vertikalen Integration des Erlebten und der Aktionen des Selbst unterschieden. Die Konsolidierung oder Langzeitspeicherung episodischer Erlebnisse hängt von der Aktivität des Hippocampus ab, die ihrerseits mit der Hemmung von Cortisol-Ausschüttung ansteigt. Bei hoher Hippocampus-Aktivität wird die Bildung neuer Assoziationen in Verbindung mit der gerade gespeicherten Episode gefördert. (Siehe dazu ausführlich: Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie, Kuhl 2010, Kap. 5.3, 227–244, hierzu bes. 230/231).
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2.3 Das Arsenal der Integritätsverweigerungen
u. Ä. beschränkt. Deren kognitiver Auf- und Umbau ist im Prinzip nicht abgeschlossen, auch wenn die Person sich irgendwann weigern sollte, etwas dazuzulernen. Diese offene Stellung zu uns selbst macht uns zu kritischen Betrachtern und Autoren unseres Lebens: Wir leben nicht nur unseren Werten entsprechend, sondern wir bewerten unsere Werte und die der anderen. Und umgekehrt geschieht uns natürlich dasselbe. Auch hier spielt die Reziprozität also eine konstitutive Rolle für das Selbstsein. Handeln bedeutet, über situationsgerechte Anforderungen und Routinen zu entscheiden, auch wenn das ‚Zuhause der Gewohnheiten‘ gut eingerichtet sein mag. Es hat den Anschein, als ließe sich manchmal das gesamte Leben ändern, wenn da nicht diese schmale oder breitere Basis wäre, auf der das bisherige Leben aufbaut und an der jede Zukunftsentscheidung positiv oder negativ anknüpfen muss. Der Blick auf die reale politische Welt sollte dabei aber nicht verloren gehen. Die Frage, welche Prädispositionen in der Verfasstheit einer Gesellschaft und in der Verfassung eines Staates zu der gelebten Offenheit der moralischen Person in ihrem komplexen Selbstverhältnis von Selbstgefühl, Selbstkonzept und Selbstdistanz beitragen oder diese maßgeblich beschränken, ist weiterhin im Blick zu behalten.64 Nicht zuletzt wird dabei eine besondere Art der Selbstreflexion ins Spiel kommen, die die Selbstachtung zum Gegenstand hat. Der Wunsch der Person sowie ihr Auftrag an sich selbst, ‚jemand zu sein‘, bilden einen dichten Zusammenhang, der in der sozialen Welt verankert ist, der aber seinen ‚individuellen Überschuss‘ nicht an diese abgibt.
2.3 Das Arsenal der Integritätsverweigerungen Integritätsverweigerungen richten sich gegen eine Andersheit aus der Sicht bzw. Projektion einer sozialen Einheit heraus auf eine andere soziale Einheit. Allgemein beruhen Integritätsverweigerungen auf einem offenen oder verdeckten Syndrom von Einstellungen, die ein ‚System‘, sei dies nun die Familie, eine Gruppe, eine Institution, eine ideologische oder religiöse Gemein64
Der israelische Philosoph A. Margalit konzipiert in Politik der Würde (2012) das konstitutive Wechselverhältnis zivilisierter Sozialität in dem Begriffspaar Achtung/Selbstachtung. Von hier aus lässt sich die faktische Verachtung der Menschenwürde in ‚unanständigen Gesellschaften‘ als fundamentale Verletzung der Sozialitätsbedingungen von Gleichheit und Freiheit charakterisieren. Ich würde dagegen das Reziprozitätsverhältnis nicht a priori auf seine positiven Seiten beschränken wollen. Eine stärker objektivierende Sicht könnte m. E. dazu beitragen, den Blick auf die jeweiligen soziologischen und politischen Besonderheiten von Macht- und Ungerechtigkeitsverhältnissen in den Blick zu nehmen. Da ich ‚Würde‘ als generischen Begriff verstehe, auf den sich Moralvorstellungen und Rechtsnormen beziehen lassen müssen (analog dem Art. 1 GG), verstehe ich das Anliegen in Margalits Schrift im israelischpalästinensischen Kontext eher als Einforderung des reziproken Respekts in der Gesellschaft und der Beachtung der rechtlichen Gleichheit durch den Staat. Der Begriff der Würde stellt die Verpflichtungen der Anderen und von Staat und Gesellschaft heraus; der Begriff der Integrität im hier vertretenen Verständnis fokussiert den Anspruch der Person an sich selbst.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
schaft, gegen eine als anders bewertete Person, Gruppe, Gemeinschaft oder Ethnie nach außen hin absichern soll. In ihrer Außenwirkung dienen Integritätsverweigerungen der Selbstidentifikation, der Rechtfertigung und Verteidigung sozialer Privilegien und deren Absicherung. Die Effizienz von Integritätsverweigerungen hängt davon ab, in welchem Ausmaß und mit welchen ‚Instrumenten‘ Teilgruppen der Gesellschaft habituellen und rechtlichen Einschränkungen unterworfen und generell durch faktische und formelle Rechtlosigkeit diskriminiert werden können.65 Als kulturelle Identifikationsmittel und Formen der Aus- und Abgrenzung können Integritätsverweigerungen kognitiv tief verankert sein. Nur einige Beispiele seien hier genannt: der Umgang mit kolonisierten Völkern durch die Kolonialmächte, die Entrechtung und Verfolgung jüdischer Mitbürger im Dritten Reich, der heutige Antisemitismus und Antiziganismus, das Apartheitsregime unter der Regierung der Weißen in Südafrika, die vielen ethnischen Säuberungen der Gegenwart (Rohingya in Myanmar, Uiguren in China), die Entrechtung und Verdrängung indigener Völker Südamerikas. Probleme der Integritätsverweigerung und -verletzung stellen sich indes auch in den Gesellschaften, die sich in ihrer Verfassung den Bürgerrechten verpflichtet fühlen: Die Sicherung von Integrität ist in der Praxis häufig fragil und muss oft individuell juristisch erstritten werden. Der Umgang mit der afro-amerikanischen Bevölkerung in den USA oder die Behandlung der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Der für das Individuum unverzichtbare Modus der Bewährung als moralische Person mit prinzipiell unbeschränkter Urteilskraft wird durch den Modus der Integritätsverweigerung ‚funktional‘ begrenzt. Aber auch unter der Bedingung rechtlicher Gleichheit und formeller Nicht-Diskriminierung ist Integrität nicht generell gesichert. Das bedeutet nicht unbedingt Entmündigung oder Unmündigkeit (wie Kant diese verstand); es bedeutet aber, dass durch das regulierte Zusammen-
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J. Nida-Rümelin untersucht in Über menschliche Freiheit die negative Verknüpfung von Demütigung und Selbstachtung. Sein Begriff der Demütigung weist eine gewisse Ähnlichkeit zum Begriff der Integritätsverweigerung auf. Nida-Rümelin gibt aber selbst zu bedenken, dass der Begriff der Demütigung, den er im Wesentlichen von Margalits Politik der Würde übernimmt, rein psychologisch und mentalistisch aufgefasst werden könnte. Er führt deshalb eine eigene Deutung des Begriffs ein, die diesen normativ versteht und sich auf strukturelle Defizite der Gesellschaft anwenden lassen soll, die ‚existenzielle Demütigungen‘ nach sich ziehen. Ich halte diesen Umdeutungsversuch für intuitiv nicht gut nachvollziehbar, da er sich von der Alltagssprache löst und vernachlässigt, dass Demütigungen sich innerhalb interpersonaler Verhältnisse abspielen (vgl. Nida-Rümelin 2005, insb. Kap. V, 127–141). Nida-Rümelin ist hingegen darin zuzustimmen, dass Demütigungen nicht zwangsläufig eine Verletzung der Menschenwürde beinhalten müssen (vgl. ebd., 136–138). Der Schutz der Menschenwürde ist generell auf einer juristischen Ebene zu gewährleisten, während Integritätsverweigerungen Gegenstand der politischen und gesellschaftlichen Kritik und Veränderung sind, für die rechtliche Interventionen allenfalls vorbereitende Funktion haben können. Als Beispiel kann hier die Gesetzgebung zur Inklusion angesehen werden, durch die allgemeine deklarative Vorgaben in national konkretisiertes Recht transformiert werden.
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2.3 Das Arsenal der Integritätsverweigerungen
spiel von Anerkennung und Belohnung sowie dem (potentiellen) Entzug dieser die Identität so konturiert wird, dass die individuelle Urteilskraft dem sozialen Selbsterhalt (qua Anerkennung) vor die evtl. gefährdete Selbstübereinstimmung stellt. Sofern dieser Widerstreit von sozialem Selbsterhalt und Übereinstimmung mit sich selbst situativ durch Abwägung von Gründen zu Entscheidungen führt, ist dies die normalste Sache der Welt und selten Gegenstand moralischer Abwägung. Jeder Tag besteht aus Dutzenden derartiger Entscheidungssituationen, ohne dass das Gefühl aufkommt, die Individualität aufzugeben, wenn das Bedürfnis sozialer Anerkennung ins Spiel kommt. Hier spielt die Überlegung eine Rolle, was die Person für sich als integritätsgefährdend ansieht und was als vertretbare Anpassung, die ja häufig mit Vorteilen verbunden ist, aufgefasst wird. Das Problem der Integritätsgefährdung stellt sich erst auf einer anderen Ebene: dann nämlich, wenn die Person einzig Güter materieller oder auch psychologischer Art (Genuss, Lob, Nachteil, Strafe) abwägt, ohne auf einer umfassenderen Ebene sich selbst und die eigenen Präferenzen in den Blick zu nehmen. Der damit verbundene Machtverlust in Bezug auf das Selbst wird möglicherweise gar nicht mehr bewusst oder nur als mehr oder weniger unbestimmt gefühltes Leiden an sich selbst erfahren. Das individuelle Erleben von Macht und Machtverlust spielt für die Gestaltung und Transformation von Sozialität eine zentrale Rolle. In Gesellschaft und Staat existieren – ganz unabhängig von ihrem deklarierten Selbstverständnis – vielfältige Formen der Integritätsverweigerung. Deren Fortleben verdankt sich teils gesetzlich akzeptierter Ungleichheit, teils unreflektierter Fortschreibung auf der Grundlage von Traditionen, Vorurteilen, politischer Majorität oder ökonomischen Interessen. In vielen Fällen spielen diese Faktoren zusammen und bilden ein dichtes Amalgam gegen gesellschaftliche Veränderung. Ungleicher Lohn für Frauen, ungleiche Aufstiegschancen, ungleiche Verteilung von Belastungen in Beruf und Familie sowie Ungeschütztheit gegen Gewalt im Privaten belegen, dass akzeptierte Anerkennungsverhältnisse, seien diese auch formal auf dem Papier gesichert, von der Realität noch weit entfernt sind, ganz zu schweigen von den offenen und institutionellen Formen des Rassismus, der Diskriminierung sozialer Gruppen und der Vorurteile gegenüber Herkunft und Religionen. Die Vermutung liegt nahe, dass es nicht allein um faktische und rechtliche Benachteiligungen geht, sondern darum, dass den diskrimierenden Verhältnissen fundamentale Integritätsverweigerungen zugrunde liegen, die kulturell tief verankert sind und denen durch einzelne rechtliche Regelungen, so wichtig diese auch sein mögen, nicht im vollen Umfang begegnet werden kann. Integritätsverweigerungen dieser Art zielen auf den Gleichheitsgrundsatz, treten jedoch meist in anderen Verkleidungen auf. Das ist nachvollziehbar, denn die offene Bestreitung des Gleichheitsgrundsatzes würde in einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft schnell Widerstände erzeugen. Von Integritätsverletzungen sind Integritätsverweigerungen insofern zu unterscheiden, als erstere untere Bedingungen starker Individualrechte juristisch angreifbar sind, letztere jedoch ‚subkutan‘ wirken, was ihre Aufdeckung und Bekämpfung erschwert. Die Grenzziehung sollte 75
2 Politisch-anthropologische Konstellationen
jedoch nicht als absolut verstanden werden, denn Veränderungen von Rechts- und Moralauffassungen sorgen für Grenzverschiebungen.66 In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Rassismus in der Schweiz seit 1993 als Offizialdelikt in das Strafrecht aufgenommen wurde, während in Deutschland rassistische Äußerungen nur dem Beleidigungsparagrafen unterfallen.67 Als ein weiteres Beispiel transformierender Verrechtlichung kann hier der Bereich der Erziehungspraktiken im Schul- und Erziehungssystem herangezogen werden. Das den Schulen und Erziehungseinrichtungen vom Staat gewährte Züchtigungsrecht ist bis vor wenigen Jahrzehnten gesellschaftlich akzeptiert und rechtlich unbestritten gewesen. Seelische Demütigung und Körperverletzung waren demnach keine strafbaren Handlungen. Den Lehrern billigte der Bundesgerichtshof noch 1957 ein gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht zu. Dies wurde erst 1972 abgeschafft, was an der Praxis zunächst wenig bedeutete. In der DDR waren Körperstrafen in der Schule seit Staatsgründung generell verboten; diese spielten jedoch in der Heimerziehung und im Strafvollzug weiterhin ein erhebliche Rolle. Das Züchtigungsrecht der Eltern ihren Kindern gegenüber wurde im vereinigten Deutschland erst im Jahre 2000 aus dem Rechtsbestand entfernt.68 Die Idee einer primären Annahme als gleiche Menschen, wie diese im Gleichheitspostulat der Rechtstheorie und Sozialphilosophie sowie in den Grund- und Menschenrechten zugrunde gelegt ist, sollte jeder Form der Integritätsverweigerung entgegenstehen. Häufig wird ja der Begriff der gleichen Würde aller Menschen den Apolegeten der Ungleichheit entgegengestellt. Auch wenn der appellative Gehalt des Begriffs, wie dieser aus der UN-Erklärung der Menschenrechte hervorgeht, seine deklaratorische Berechtigung besitzt, so halte ich es für problematisch, den Begriff der Menschenwürde rechtstheoretisch unmittelbar zur Begründung von Rechtsnormen heranzuziehen. Der Begriff der Menschenwürde kann jedoch als eine Grenze fungieren, an der Gesetze und Rechtsentscheidungen gemessen werden. Nicht ohne Grund erfährt der Würdebegriff weder im internationalen noch im nationalen Recht eine ausbuchstabierte Merkmalsbestimmung. Er bleibt, verstanden als unhintergehbare Referenz für die Gestaltung von Rechtsnormen, ein unverzichtbarer Begriff zur Abwehr von Menschenrechtsverletzungen. Allerdings würde er diese generische Funktion schnell verlieren, wenn angesichts der vielen Formen fak-
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Die explodierende Zahl von Publikationen zum Diversitätsmanagement macht deutlich, dass das Thema im Wirtschaftsleben und staatlichen Verwaltungen angekommen ist. Die Studien- und Fortbildungsangebote in diesem Bereich sind gleichfalls unüberschaubar geworden. Diversität wird zunehmend zum Markenzeichen von Unternehmen. Wie tiefgehend diese Entwicklung die Gesellschaft verändern wird, ist schwer abzusehen. Rückwärtsentwicklungen bis hin zu Gesetzesänderungen sind auch in Mitgliedsstaaten der EU nicht auszuschließen. Schweizerisches Strafgesetzbuch ([1937] Stand: 1. Juli 2020), Art. 261. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)§ 1631 [Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung v. 2.11.2000]. Abrufbar unter: https://dejure.org/gesetze/BGB/1631.html (15.12.2020).
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2.3 Das Arsenal der Integritätsverweigerungen
tischer Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft die Kritik primär auf den Würdebegriff gestützt werden sollte.69 Der Rechtstheoretiker müsste feststellen, dass die Würde nach dem Gesetz ja nicht verloren gehen kann. So ist der Würdebegriff eben konzipiert! Daher ist es nur konsequent, den Begriff der Integrität dort anstelle des Würdebegriffs zu benutzen, wo es um die lebensweltlich verankerten vielfältigen Gefährdungen eines selbstbestimmten Lebens geht. Der Begriff der Integrität fokussiert die Autorenschaft für das eigene Leben. Integrität kann in ihren Bedingungen und normativen Anforderungen zur Diskussion gestellt werden. Wo die Integrität der Person in Frage steht, muss von erheblichen Störungen in den Sozialbeziehungen ausgegangen werden. Doch auch dann, wenn Integritätszweifel im Spiel sind, ist die Menschenwürde der Person davon nicht berührt, da es bei der Menschenwürde um eine generalistische Zuschreibung geht. Der mit dem Begriff der Integrität verbundene Gleichheitsgrundsatz ist dagegen nicht rein generalistischer oder gattungsbezogener Art; er schließt sich positiv wie negativ an die jeweilige Verfasstheit der Gesellschaft mit Fokus auf dem Eigenwert der Person an. Für unsere Integrität und die der anderen können, ja sollten wir uns einsetzen. Von der gleichen Würde aller Menschen haben wir indes auszugehen. Für die politische Praxis ist entscheidend, dass der Integritätsbegriff interventionsorientiert ist, während dem Würdebegriff eher eine rechtlich-regulatorische Funktion zukommt. Die praktische Bedeutung des Begriffs der Integrität entspringt also nicht, wie im Falle des Würdebegriffs, rein philosophischen Quellen, sondern ist mit der unmittelbaren Erfahrung von Integrität vor aller Theorie in sozialen Beziehungen verbunden, z. B. im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern unter der Bedingung eines nicht-reduzierten Personstatus: Das faktisch noch ungleiche Wesen wird als potentiell gleiches Mit-Wesen gesehen und behandelt, also schon als das von vornherein idealiter integrierte Wesen. Dieses hat Anspruch auf alles das, was ihm sukzessiv und entsprechend seiner Reifung für die Selbstwerdung zur Verfügung gestellt werden muss: Wärme, Nahrung, Ansprache und Teilhabe. Diese Grundbedingungen des Sozialen gelten anthropologisch als relativ gesichert innerhalb der Nahgemeinschaften von Familie, Kleingemeinschaften und ‚dichten‘ Gemeinschaften mit einem hohen Maß an Kohärenz und sozialer Kontrolle. Kohärenz ist nach innen auf den Zusammenhalt (Kohäsion) gerichtet, während Konsistenz nur als angemessene Antwort auf Herausforderungen von außen gesichert werden kann: durch Adaption und Transformation des Ungewohnten, des Neuen und Fremden, aber auch durch Bewältigung von sozialen und ökologischen Krisen. Auch wenn sich in zentralen Fragen auf eine gewisse anthropologische Homogenität der Menschheit aufbauen lässt, sollten 69
Als generisch sind in der Linguistik Begriffe zu verstehen, die in Bezug zu verschiedenen Anwendungsklassen stehen. Als übergreifende Kategorien sind diese Begriffe nicht im Sinne der Logik ‚wohlbestimmt‘ und daher auch nicht für deduktive Ableitungen geeignet. Entscheidend ist daher die kontextuelle Eingrenzung des Begriffs, z. B. wenn im Persönlichkeitsrecht bestimmte Normen unter Bezug auf den Würdebegriff erläutert werden.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
kulturelle Unterschiede nicht kleingeredet werden. Die Unterschiede von Lebensweisen können uns mit den Differenzen von Werten vertraut machen. Wir sind also genötigt, auch dort zu dolmetschen, wo wir die fremde Sprache kaum kennen. Eine über die reine Adaption hinausgehende Universalisierung transkultureller Inhalte und Orientierungen bedarf daher immer besonderer Vermittlungen, die wertebezogen gestaltet sein müssen. Transkulturalität ist daher nur als Lernprozess denkbar, und Lernprozesse können mitunter lang anhaltender Art sein. Leider sind sie auch nicht immer von Erfolg gekrönt. Die theoretische Spannweite des Integritätsbegriffs ist in der Lebenspraxis auf vielfältige Weise verwurzelt und mit sehr unterschiedlichen Geltungsansprüchen in Recht, Moral und Politik verbunden. Eine rein philosophische Vorabdefinition wird nicht hilfreich sein. Genese und Geltung sind dabei im Blick zu behalten. Dasselbe gilt für den Begriff der Reziprozität. Dieser wird als allgemeine Reziprozität meist nur in der Deutungsvariante gerechter Interaktion verstanden werden, als wohne ihm schon ein dem Recht ähnliches Verhältnis inne. Nun haben wir es aber in vielen Fällen auch im Alltag mit negativer Reziprozität zu tun. Menschen behandeln sich nicht immer gut und fair. Daraus entsteht häufig ein negatives Wechselverhältnis. Im alttestamentlichen Verständnis würde darunter auch noch das Talions-Prinzip (‚Auge um Auge – Zahn um Zahn‘) als gerechte Form der Kriegsführung fallen. Dieses gilt nicht nur in der reversiblen Form ‚Wie du mir, so ich dir‘, sondern besitzt einen anerkannten Rechtsstatus aus einer unparteiischen Sicht. Dass das Vergeltungsprinzip aus rechtstheoretischer Sicht nicht vernünftig sei, wird man den kämpfenden Parteien nicht ohne Weiteres erklären können, ohne auf eine umfassendere Moraltheorie zurückzugreifen. Der sog. Krieg gegen den Terror und der Terrorismus selbst beschränken sich indes nicht einmal auf dieses Prinzip der Vergeltung. Auch die Eskalationsvariante negativer Reziprozität lässt sich mit dem allgemeinen Reziprozitätsprinzip nicht adäquat erfassen. Das Freund-Feind-Schema funktioniert ja gerade deshalb so gut, weil es reziprok wirkt. Diese Art der Reziprozität setzt allerdings eine fundamentale wechselseitige Integritätsverweigerung voraus. Anders lässt sich das reziproke Ziel der Vernichtung nicht rechtfertigen.70
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Eine differenzierte Analyse und Kritik des Kooperationsprinzips bei Tomasello, die sich auch auf die einseitig positive Deutung des Reziprozitätsprinzips allgemein bezieht, hat F. Nungesser (2016) in seinem Beitrag zum Verständnis rücksichtslosen Handelns geleistet. Die Einsicht, dass die Regeln kooperativen Handelns auch gegen die Kooperation so eingesetzt werden können, dass anti-soziales Verhalten zur Schädigung anderer in ‚effizienter‘ Weise ausgeübt wird, ist eigentlich naheliegend. Als eklatantes Beispiel bleibender Aktualität geht Nungesser besonders auf die Folter ein (vgl. Nungesser 2016, 149ff). Nungessers Kritik macht deutlich, dass die evolutionär-anthropologische Sicht kein ‚wahres‘ Bild des Menschen vorstellen kann, sondern nur einen modellhaften Entwurf, der auf einer Reihe von Vorannahmen aufbauen muss. Für Hobbes ist es zwingend anzunehmen, dass gerade die Struktur gelingender Kooperation dazu einlädt, diese zu missbrauchen. Daher kommt er immer wieder auf die menschliche List zu sprechen. Nach Hobbes erliegen wir einem Trugschluss, wenn wir von einem gegebenen Versprechen auf die wahrhaftige Absicht der Person schließen. Die Frage der personalen
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2.3 Das Arsenal der Integritätsverweigerungen
Im Unterschied zur Diskriminierung, die dem Täter-Opfer-Schema entspricht, haben wir es hier mit einem Täter-Täter-Verhältnis zu tun. Negative Reziprozität schließt das Dialogprinzip grundsätzlich aus; dialogisches Lernen dagegen befragt das Eigene, indem es sich für das Eigene des Anderen öffnet. Daraus resultiert wechselseitige Veränderung durch Lernen, nicht durch Anpassung oder differenzlose Identifikation. Nicht jede Integritätsverweigerung führt zu einem Freund-Feind-Verhältnis. Die Skala der Integritätsverweigerungen, verstanden als performative Akte von Individuen (personal und/oder institutionell) gegenüber Individuen und Gruppen, reicht von Desinteresse, Ignoranz, Benachteiligungen über direkte und mittelbare Diskriminierungen bis hin zu Demütigung und Gewalt in allen ihren Formen. Die Welt des Internets ist inzwischen zu einem gerne genutzten Ort und Medium für Integritätsverweigerungen aller Art bis hin zur Bedrohung des Lebens anderer geworden. Gesetze gegen Diskriminierung erfassen in der Regel nur die Spitze des Eisbergs der vielfältigen Varianten von Integritätsverweigerung.71 In den sozialen Räumen von Bildung und Erziehung sowie im öffentlichen Raum finden wir viele Verhaltensweisen, die unterhalb der Diskriminierung im rechtlichen Sinne einzuordnen sind und gleichwohl direkt auf die Integrität anderer zielen. Der Begriff der Integritätsverweigerung ist im Unterschied zu den Begriffen der Demütigung und Diskriminierung allerdings auch offen für den Bereich gerechtfertigter Integritätsverweigerungen. Diese liegen z. B. im Falle der Haltungen und Maßnahmen von Staat und Gesellschaft gegen gewaltaffine Gruppen und Milieus der organisierten Kriminalität vor. Aus dieser Art der Integritätsverweigerungen können jedoch keine Integritätsverletzungen hervorgehen, sondern nur Maßnahmen, die das Strafrecht vorsieht. Dieser Bereich soll jedoch in die weitere Argumentation nicht einbezogen werden, denn die Integritätsfrage stellt sich in diesem Zusammenhang nur für Personen, die sich als moralische Wesen (im weitesten Sinne) verstehen und als solche gesehen werden wollen.
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Integrität muss daher in einem weiter gesteckten Rahmen soziologischer und politischer Bedingungen behandelt werden. Eine instruktive Zusammenstellung und Kommentierung von Rechtsentscheidungen zu Diskriminierungen findet sich in dem Band Recht vor Gnade (Prasad et al. 2020). Der Band versammelt 20 neuere Fälle von Diskriminierungen, die vor europäischen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Rechtsentscheidungen geführt haben. Für Praktiker in der sozialen Arbeit gedacht, liefert der Band darüber hinaus ein differenziertes Bild unterschiedlichster Bereiche der europäischen Gesellschaften, in denen Integritätsverletzungen Alltag sind. Von Integritätsverweigerungen, die keinesfalls weniger schmerzhaft und herabsetzend sind als Integritätsverletzungen, ist dabei noch nicht einmal die Rede. Die Erweiterung der Sphäre der rechtlichen Klärung ist sicher wünschenswert; die sozialen Probleme sind damit jedoch noch nicht vom Tisch, sondern nur besser benennbar und politisch adressierbar.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
Begriffsbestimmung III: Integritätsverweigerung in Staat und Gesellschaft Unter dem Begriff der Integritätsverweigerung sind diejenigen Gesetze, Regeln, Mechanismen und Praktiken einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu verstehen, die Anpassungen, Beschränkungen, Diskriminierungen und Gefährdungen des Individuums vor und gegen dessen Freiheit zur sozialen Teilhabe und Entwicklung setzen. Die ethischen Implikationen von Integritätsverweigerungen sind vielfacher Art. Sie zielen (negativ) auf die Selbstachtung der Person als einer moralischen Person, die über sich selbst verfügt. Integritätsverweigerungen sind als performative Akte zu interpretieren, d. h. sie sind nicht einfach gegebene Strukturen oder Systemeigenschaften einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, sondern sie sind virulent nur durch Handlungen, formelle Maßnahmen und rechtliche Regelungen, die von Personen (individuell und/oder im Rahmen von Institutionen) gegen andere Personen durchgesetzt werden. Der Begriff der Integritätsverweigerung ist umfassender als der Begriff der Diskriminierung. Letzterer bezieht sich auf rechtliche Aspekte direkter und/oder mittelbarer Ungleichbehandlung; dieser kann unter rechtsstaatlichen Verhältnissen ggf. juristisch und vom Gesetzgeber begegnet werden. Ersterer bezieht sich auf habituelle und affektive Formen interpersoneller Interaktionen der Gesellschaftsmitglieder (als Privaten) sowie auf individuell realisierte und institutionell verankerte Formen des Umgangs mit Personen und deren rechtliche und/oder exekutive Ermöglichung durch den Staat. Der Begriff der Integritätsverweigerung soll nicht zuletzt hervorheben, dass diese immer auf einem aktiven Handeln und/oder Unterlassen beruht, womit die Aspekte von Verantwortung und Rechenschaft betont werden. Da Integritätsverweigerungen im Verhältnis Bürger-Staat und Bürger-Bürger alltäglich sind, und da es vielfältiger Mittel und Wege bedarf, um inadäquates Verhalten und ungerechte Verhältnisse zu verhindern, wäre es auch nicht hilfreich, in jedem Fall den Begriff der Menschenwürde juristisch zu bemühen. Die Durchsetzung von Sozialität und deren Wiederherstellung im Falle gravierender Verletzung sind eine Sache der Gesellschaft als Ganzer. Dabei geht es um politische und soziale Rechte. Die Menschenwürde im Verständnis des Art. 1 des Grundgesetzes fungiert dabei als Interpretationsdirektive, aus der sich jedoch nicht auf direktem Wege Rechtsnormen ableiten lassen.
2.4 Vertrauen Worauf können wir uns in der Gesellschaft eigentlich verlassen? Was macht uns so sicher, dass wir nicht lieber bewaffnet vor die Haustür treten sollten? Warum betrachten wir Staaten mit Skepsis, die das Recht bewaffneter Selbstverteidigung zu einem Grundrecht freier Bürger deklarieren? Wie sehen Menschen, die den öffentlichen Raum als Raum realer Lebensgefährdung verstehen (ich meine hier nicht den Autoverkehr), sich selbst und ihre Mitmenschen unter 80
2.4 Vertrauen
dem Gesichtspunkt der Integrität? Worauf kann sich eine Gesellschaft eigentlich stützen, wenn gegenseitiges Vertrauen unter Menschen, die sich nicht kennen und die sich fremd sind, einerseits unterstellt und andererseits gefordert wird? Kann eine Theorie der Sozialität sich nur auf die phantasmatischen Konstruktionen eines Hobbes oder Rousseau stützen, die auf sehr unterschiedliche Weise mit Annahmen arbeiten müssen, die jenseits der Beweismöglichkeit liegen und dennoch normativ folgenreich sind? Die innere Struktur des Vertrauens bedarf also der Klärung. Die Frage des Vertrauens gegenüber anderen hat I. Kant an einem recht alltäglichen Beispiel, dem des Lügens, diskutiert (Kant [1797] 10. Aufl. 1993, [A 301–315]). Sein absolutes Verdikt gegen die Lüge hat bis heute Gegenpositionen mit unterschiedlichsten Schwerpunkten provoziert. Ich möchte mich auf einen Aspekt konzentrieren, der zur Frage der Sozialität in besonderer Weise beiträgt. Kant selbst ist sich der Brisanz seiner Beispielwahl bewusst, wenn er die Lüge als grundsätzliche Gefährdung der Grundbedingung jeder Sozialität begreift, da er von der notwendigen Korrespondenz des wechselseitigen Vertrauens der Bürger untereinander und des Vertrauens in die allgemeine Rechtsgrundlage der Gesellschaft ausgeht. Der Lüge stattzugeben bedeutet, dasjenige preiszugeben, was die Gesellschaftsmitglieder allgemein verbindet. Von der Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit lässt sich schwerlich nach subjektivem Gutdünken entbinden, selbst wenn damit Schaden für andere abgewendet werden kann. Das von seinem Kritiker J.-B. Constant Kant zugeschriebene Beispiel ist wegen seiner Konsequenzen besonders instruktiv. Kant argumentiert dagegen, dass eine Lüge dann gerechtfertigt sei, wenn man das Leben eines Freundes mit einer Lüge retten wollte, wenn dieser Zuflucht vor einem Mörder sucht. Der zunächst Aufnahme gewährende Freund müsste auf die Frage des potentiellen Mörders, ob der Gesuchte im Hause sei, die Wahrheit sagen. Das Gebot der Wahrhaftigkeit sei absolut, „[…] weil es eine unbedingte Pflicht ist, die in allen Verhältnissen gilt“ (ebd., [A 311f] Hervorh. i. Orig.). An anderer Stelle, in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, bezeichnet Kant die Lüge, d. h. eine vorsätzliche Unwahrheit, auch als „[…] Verletzung der Würde der Menschheit in [seiner] eigenen Person“ (Kant [1797] 10. Aufl. 1993 [A 83/84]). Der allgemeine Wert der Pflicht als einer Selbstverpflichtung, die die Menschen im gesellschaftlichen Zusammenschluss vermittels des Rechts, das sie selbst mittelbar (durch eine repräsentative Vertretung) oder unmittelbar (in einer Versammlung) für sich selbst geschaffen haben, ist nicht mehr gesichert, wenn die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit durch ein Gesetz, das Ausnahmen zulässt, aufgehoben würde. Nun macht es das kantische Beispiel des von einem Mörder Verfolgten den Kritikern leicht, den Absolutheitsanspruch der kantischen Position in Frage zu stellen. Gemäß Kants Lügenverbot müsste die Zuflucht gewährende Person dem Verfolger das Versteck verraten und damit ggf. den Tod der verfolgten Person in Kauf nehmen. Und diese Position vertritt Kant auch vehement. Dass ihm das Schicksal der unschuldig verfolgten Person nicht am Herzen liege, kann man Kant sicher nicht vorwerfen. Sein Argument greift über den Einzelfall hinaus: Wer der Lüge stattgibt, 81
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selbst in der Situation der äußeren Bedrängnis oder um anderen zu helfen, gibt genau das preis, was die Gesellschaft nach Kant überhaupt erst möglich macht. Nicht die (kontingente) Lüge im Einzelfall, das ist auch Kant klar, zerstört die Grundlagen der Sozialität (bei Kant: Moralität). Bei einer generellen Erlaubnis zur Lüge sieht es nach Kant jedoch anders aus. Da es Kant darum geht, subjektive Maximen des Handelns auf ihre Eignung zu einem allgemeinen Gesetz der Menschheit hin zu prüfen, kann es kein allgemeines Gesetz geben, das Lügen erlaubt. Subjektive Maximen, die vermeintlich wohltätige Lügen rechtfertigen könnten, gibt es sicherlich reichlich. Diese werden häufig erst nachträglich zum Lügenfall konstruiert. Mit der Verallgemeinerung zu einer intersubjektiven Maxime hat es aber seine Schwierigkeit und mit der Formulierung eines allgemeinen Erlaubnisgesetzes für die Lüge ohnehin. Hat Kant also Recht, wenn nicht im Einzelfall, so doch rechtstheoretisch? In ihrem rechtstheoretischen Rahmen ist Kants Argumentation konsistent, wenn man sein Ziel teilt, ein unumstößliches, allgemein reziprokes Rechtsverhältnis zu begründen. Dazu bedarf es eines quasi metaethischen Standpunktes, dem es um den Vorrang der Konsistenz des Rechts überhaupt geht, bevor es um eine konkrete moralische Frage gehen soll. Unsere Intuitionen stimmen allerdings mit der Position Kants nicht zwanglos überein. Wir haben nicht zuletzt auf Grund geschichtlicher Erfahrungen ein anderes Verständnis vom Schutzanspruch gegenüber Willkürmaßnahmen staatlicher Organe oder privater Akteure. Das Recht auf Widerstand gegenüber Akteuren, die wesentliche Grundrechte der Verfassung abschaffen wollen, ist sogar verfassungsmäßig garantiert. Nun sind Fälle von Verletzungen bürgerlicher Rechte für Kant auch nichts Unbekanntes und Undenkbares. Doch auch, wenn Kant zugestanden wird, dass er nur das Beste für die Erhaltung der Gesellschaft will, lässt sich nicht übersehen, dass er eine wesentliche und absolut notwendige Unterscheidung nicht vollzieht bzw. aus bestimmten Gründen nicht bereit ist anzuerkennen. Diese besteht in der grundbegrifflichen Differenz zwischen der Bedingung des garantierten Vertrauens der Bürger untereinander (d. h. dem Lügenverbot als Rechtspflicht) und der Bedingung der Integrität der moralischen Person. Beide Bedingungen können sogar in Widerspruch zueinander stehen. Es ist auch unschwer einzusehen, wann genau dies der Fall ist: dann nämlich, wenn die Art und Weise der Macht- oder Gewaltausübung in einer Gesellschaft die personale Integrität ihrer Bürger nicht nur nicht garantiert (das wird ziemlich häufig der Fall sein), sondern diese durch zweifelhafte Gesetze, unkontrolliertes exekutives Handeln, institutionelles Unvermögen und/oder Korruption systematisch verletzt. Eine Gesellschaft, die die Integrität der Bürger als moralisch entscheidende Personen, d. h. ihre Freiheit, nicht akzeptiert und gegen diese arbeitet, hat konsequenterweise auch keinen Anspruch auf eine umfassende Wahrhaftigkeit des Bürgers gegenüber den staatlichen Instanzen, das Rechtssystem eingeschlossen. Da Kant also die Gefährdung der Kohärenz der Gesellschaft ausschließen will, stellt sich ihm die Frage der moralischen Integrität der Person nicht fallbezogen. 82
2.4 Vertrauen
Dabei wäre es gut denkbar, eine Maxime der Art Beteilige dich niemals in irgendeiner Form an der Ausübung von Unrecht gegen andere! im Einklang mit dem Kategorischen Imperativ zu vertreten. Eine situative Abwägung von ‚Lügen‘ versus ‚Beteiligung am Unrechttun‘ wäre dann zumindest erforderlich. So etwa argumentiert der französische Philosoph und Kant-Kritiker B.-J. Constant, indem er den Rechtspflichten, auf die Kant allein sich bezieht, die moralische Pflicht gegenüberstellt. Im Anschluss an diese Kritik liegt es auch nahe, auf Kants Verallgemeinerungsforderung zurückzugreifen: Eine subjektive Maxime, die der Lüge im genannten Fall stattgibt, würde auch den Test des Kategorischen Imperativ bestehen. Zumindest müsste Kant ein Patt zwischen moralischer Pflicht und allgemeiner Rechtspflicht eingestehen. Da er jedoch die notwendige Geltung des Rechts und das wechselseitige Vertrauen der Bürger in einem Akt der Begründung unlösbar zusammenfügt, kann er auch die Option einer Abwägung im Falle der Lüge nicht zulassen. In einer Fußnote in der Schrift über die Lüge weist Kant selbst darauf hin, dass Unwahrhaftigkeit eine „[…] Verletzung der Pflicht gegen sich selbst“ sei und damit in die Ethik gehöre, und er fügt dann zur Unterstützung seiner Einordnung der Lüge in die Rechtslehre hinzu: „[h]ier ist von einer Rechtspflicht die Rede“ (Kant [1797] 10. Aufl. 1993, [A 305]). Es bleibt aber im Falle der Lüge unbestimmt, welcher Art der Rechtszwang sein soll, der der Rechtspflicht korrespondiert, außer in einem förmlichen Gerichtsverfahren natürlich, wo eine falsche eidesstattliche Erklärung strafrechtlich von Belang ist. Kants Entscheidung zugunsten des Postulats des (öffentlichen) Rechts „nach dem Prinzip der Gleichheit, ohne welche keine Freiheit von jedermann Statt haben würde“ (a.a.O., [A 312]; Hervorh. i. Orig.), weist in verfassungstheoretischer Hinsicht jedoch den Vorteil einer klaren subsumtiven Ordnung auf, die die absolute Verbindlichkeit des Rechts moraltheoretisch sicherstellt. An diese ideale Voraussetzung der Konstitution von Recht überhaupt lässt sich in der politischen Realität nicht ohne Weiteres anknüpfen. Der Konfliktfall von subjektiver Integrität nach Kriterien der Moral und der Integrität des Rechts, verstanden als absoluter Anspruch auf Geltung der Gesetze, lässt sich in Kants Metaphysik des Rechts zwar dogmatisch auflösen; in der politischen Realität würde dieser Ansatz jedoch einer Fortentwicklung des Rechts im Wege stehen. Die Selbstbindung unseres Handelns in Ansehung des Rechts ist nicht deckungsgleich mit dem Anspruch auf Wahrung unserer Integrität, die wir an Maßstäben des Rechts wie der Moral bemessen. Davon kann Kant uns nicht entlasten. Kants Formel „Das Recht muß nie der Politik, die Politik aber jederzeit dem Recht angepaßt werden“ (a.a.O., [A 313]), gibt dem Recht eine stabile und durchsetzungsfähige Position gegenüber dem Raum der Gestaltung der politischen Öffentlichkeit durch die Bürger. Die interpersonale Gestaltung der Moral und deren Wandel haben keinen Einfluss auf die Gestaltung des Rechts. Man könnte hier von einem normativen Fehlschluss reden, insofern von der logischen Konsistenz der Moralbegründung auf die Bedingungen der Möglichkeit der Kohärenz der Gesellschaft geschlossen wird. Dabei wird übersehen, 83
2 Politisch-anthropologische Konstellationen
dass die faktischen Bedingungen der Kohärenz der Gesellschaft im entscheidenden Maße von den subjektiven Bedingungen der Moralität ihrer Mitglieder abhängen.72 Andernfalls hätten wir ‚leere Rechtsverhältnisse‘, die kein noch so starker Appell zum Leben erwecken kann. Andererseits hat der „Vorrang des Rechts vor dem Guten“ (Sandel 2005/2017, 281) bei Kant auch mit dem anthropologisch begründeten Misstrauen gegenüber dem ‚krummen Holz des Menschen‘ zu tun. Es ist leicht zu erkennen, dass diese Frage sehr schnell ins Prinzipielle führt, weil es um das Menschenbild geht, und da hat jede Seite des Moral-Recht-Streits gute Gründe für ihre Position vorzuweisen. Im Kap. 5) zum Thema Macht ist darauf zurückzukommen, denn der Streit um das Menschenbild prägt die diversen Positionen zum Begriff des Politischen. Was Hobbes’ Leviathan qua Allmacht garantiert, ist bei Kant allein dem Recht überantwortet. Im ersten Fall ist es die Allmacht des Herrschers, die das unabdingbare Vertrauen der Bürger untereinander – gegen deren egoistisches Bestreben – sichert, im zweiten Fall ist es die unbedingte Selbstverpflichtung der Bürger auf das Recht, für die Kant die Haltung zur Lüge als Prüfstein heranzieht. Dem absoluten Gewaltverbot der Bürger untereinander bei Hobbes entspricht bei Kant das absolute Lügenverbot. Dem absoluten Gehorsam gegenüber dem Souverän bei Hobbes korrespondiert im republikanischen Ansatz Kants die absolute Selbstverpflichtung auf Wahrhaftigkeit. Man könnte hier in historischer Perspektive N. Elias Recht geben. Nach Elias bildet die Verringerung der rein physischen Macht des staatlichen Gewaltmonopols in Verbindung mit der öffentlichen Kontrolle der Hoheitsträger die Bedingung für die Steigerung des individuellen Selbstzwangs. In dieser Sicht wäre Kants Verständnis des Handelns aus Pflicht (im Unterschied zum nur pflichtmäßigen Handeln) die höchste Form eines verinnerlichten Selbstzwangs im Namen der Vernunft. Der Antagonismus von staatlicher Zwangsgewalt einerseits und dem Recht der Gesellschaft andererseits findet sich schon bei Vertretern des aufgeklärten Absolutismus in Frankreich, die noch als Anhänger der Monarchie gelten können. Gewissensmoral des Bürgers und Befehlsgewalt des Monarchen kommen nicht mehr zwanglos überein. (Siehe hierzu: N. Elias (1983/1990, 131). Die hobbes’sche Idee einer qua Staatsgewalt durchgesetzten einheitlichen Sphäre von Recht und Sittlichkeit, die er der Gefährdung durch den Bürgerkrieg entgegenge-
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R. Dworkin vertieft diesen Zusammenhang für die auf Gewaltenteilung beruhenden Gesellschaften in einer Weise, dass „[…] die politische Moral aus der persönlichen Moral“ (Dworkin 2012, 685) folgen soll. In dieser Vorstellung gibt es keine systematisch begründbare Trennung von Recht und Moral. Dabei spielen für ihn juridische Rechte, die er als politische Rechte umfassender Art versteht, eine besondere Rolle, denn sie sind nicht schon juristisch kodifiziert, können aber institutionell ohne besondere gesetzgeberische Akte durchgesetzt werden. (Siehe hierzu: ebd., Abschnitt Recht und Moral, 676–688). Der Begriff der Integritätsverweigerung unterhalb der juristisch relevanten Integritätsverletzung kann für einige Fälle in Beziehung zu Dworkins Begriff der politischen Rechte und deren Verweigerung gesetzt werden. 84
2.4 Vertrauen
stellt, kann in der Zeit der Aufklärung trotz des real existierenden Monarchismus nicht mehr überzeugen. Kants Argumentation zum Lügenverbot geht also noch einen konsequenten Schritt weiter, indem er die absolute Geltung des Rechts zusätzlich in der Konstituente des wechselseitigen Vertrauens der Bürger absichert. Dass aber die Herrschaft des Rechts mit der Herrschaft der Vernunft gleichzusetzen sei, ist ein Schluss, der sich einer immanenten zirkulären Sichtweise verdankt.73 Die heutige Rede von offenen Gesellschaften fokussiert den gesellschaftlichen Wandel, der von der gelebten Moral von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen ausgeht, die zur Veränderung ungerechter Beziehungen in der Gesellschaft beiträgt. Der Wandel des Familienrechts, der rechtlichen Fixierungen überkommener Geschlechterverhältnisse und der Sexualmoral allgemein ist eine Folge der Integritätsverschiebung von der Staatsautorität und ihrer Organe hin zur auctoritas der Bürger. Diese kann sich sowohl unmittelbar als auch mittelbar in demokratischen Repräsentativorganen Geltung verschaffen. Insoweit der öffentliche Raum als Raum der demokratischen Willensbildung anerkannt und genutzt wird, erhält die von Kant geforderte Selbstverpflichtung auf Wahrhaftigkeit indes eine neue und fundamentale Bedeutung: Die Bürger übernehmen für sich und die Gesellschaft als Ganze politische Verantwortung. Diese bedarf des ernsthaften Engagements (commitment) und der Abwägung der besten Ziele und der Mittel ihrer Verwirklichung. In dieser Version des Politischen finden Lügen weder Platz noch Anerkennung. Der kritische Blick der anderen kann möglicherweise aus den Institutionen herausgehalten werden, nicht aber aus einer Öffentlichkeit, die um Zustimmung für Veränderung kämpft. Es ist daher nur konsequent, dass Staaten und Gemeinschaften, die sich gegen moralische Integrität und politische Urteilskraft stellen, Verrat anderer und Selbstverrat durch Druck- und Gewaltmittel bis hin zu Folter und Tötung erzwingen wollen. Wo also Verachtung der Freiheit und Überwachung das Band des Vertrauens der Bürger untereinander ersetzen oder auch nur partiell unterminieren, kann sich das Lügenverbot für integre Personen allenfalls auf den engsten privaten Bereich beschränken. Da aber auch dieser Bereich in Diktaturen und autokratischen Systemen nicht wirklich frei von innerer Zersetzung sein kann, ist die Wahrung der personalen Integrität auch hier nicht ohne Risiko möglich. Wenn diejenigen ‚Wahrhaftigkeit‘ ihrer Opfer verlangen, die an Wahrheit am wenigsten interessiert sind, gibt es keine gemeinsame moralische Basis. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn Kant auch versucht hat, die konstitutive Bedeutung des (Rechts-)Vertrauens anhand des Lügenverbots allgemein zu begründen, muss im Anschluss an obige Überlegungen eine Differenzierung eingebracht werden. Diese liegt darin, dass für die Akzeptanz des Lügenverbots entscheidend ist, wie weit sich die konsensuelle Loyalität des Individuums gegenüber seinem jeweiligen Lebens- und Handlungskontext erstreckt. Dieser kann seine gesellschaftliche Gruppe, 73
Siehe hierzu auch Abschnitt 6.1) zu den Grenzen der Normativität.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
eine Institution, eine Partei oder die Gesellschaft und der Staat sein. Doch Kant hat bei seinem Lügenbeispiel nicht die Rollen- und Interessenskonflikte moderner Gesellschaften im Blick, sondern es geht ihm um die Grundfrage, wie Gesellschaft überhaupt möglich ist, wenn wechselseitiges Vertrauen zum Problem wird. Wenn sein Lügenbeispiel dafür auch nicht sehr geschickt gewählt zu sein scheint, so muss doch zugestanden werden, dass er einen gewichtigen Aspekt der sozialen Kooperation anspricht. Im Grunde nimmt er damit eine rousseausche Position ein, die Einzelwillen und Gemeinwillen auf einen unzerbrechlichen geteilten Boden wechselseitigen Vertrauens stellen will. Das individuelle Wollen verwandelt sich auf wundersame Weise in das allgemeine Sollen. Hier leuchtet Kants Ideal den Weg: Der souveräne, im Geiste freie Bürger räumt dem Recht höchste Geltung ein, weil dieses unabhängig von persönlichen Neigungen über dem immer unvermeidlichen Streit um das Gute steht.74 Kants Haltung zur Lüge projiziert daher das Recht auf die Ebene des alltäglichen sozialen Umgangs, auf der das kodifizierte Recht normalerweise keinen ausgezeichneten Platz einnimmt. Um diesem Schwergewicht kantischer Moraltheorie gerecht zu werden, kann ein hypothetischer Blick auf die Evolution selbstregulierter menschlicher Kooperation in ihren Anfängen vor 150 000 Jahren helfen.
2.5 Vertrauen in naturalistischer und konsequentialistischer Hinsicht In The Birth of Ethics: Reconstructing the Role and Nature of Morality hat P. Pettit (2018) das Gedankenexperiment der Entstehung der Moral aus der Notwendigkeit kooperativer Beziehungen entwickelt. Seine Erzählung zu der Modellgesellschaft Erewhon (entspricht: nowhere) wendet sich den Anfangsgründen der Kooperation zu. Man sollte die Erzählung als eine anschaulich verpackte Theorie lesen, als ein nicht-reduktionistisches Narrativ, welches den Aufstieg zum Verständnis moralischen Handelns vom Ausgangspunkt eines fiktiven Nullpunktes her erleichtert. Die Methode kontrafaktischer Rekonstruktion ist in der Philosophie ja nicht ungewöhnlich, wenn es um den Konsistenztest hypothetischer Annahmen geht, deren empirische Überprüfung nicht durchführbar ist. Es sei hier nur auf J. Rawls’ Schleier des Nichtwissens verwiesen, der zur Aufdeckung allgemeinster Gerechtigkeitsprinzipien beitragen soll. 74
J. Rawls’ Konzeption der Person in Eine Theorie der Gerechtigkeit (Rawls 1971/1979) ist in diesem kantischen Sinne zu verstehen. Sein Urzustandsmodell legt die souverän im Sinne des allgemeinen Rechten entscheidende Person frei, um allgemeinste Grundsätze der Gerechtigkeit plausibel begründen zu können. Inwieweit sich auf dieser Konzeption der politische Liberalismus rechtstheoretisch gründen lässt, ist auch nach Jahrzehnten heftiger Debatten zu Rawls umstritten. (Siehe hierzu die differenzierte Diskussion des Konzepts bei M. J. Sandel: Politischer Liberalismus. In: Sandel 2005/2017, 280–334).
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2.5 Vertrauen in naturalistischer und konsequentialistischer Hinsicht
Anders als in rein kognitivistischen Theorien der Moral geht es bei evolutionär ausgerichteten Theorien indes um Fragen des praktischen Überlebens. In der rekonstruktiv-naturalistischen Sicht ist für Pettit Kooperation essentiell für den Fortbestand einer Gruppe. Von empirisch gesicherten Erkenntnissen der evolutionären Anthropologie zum Gruppenleben höherer Primaten ist dabei auszugehen. Die Erschließung und Sicherung von Nahrungsquellen steht dabei an erster Stelle. Die Akte der Lokalisierung von Nahrungsquellen, die Sicherung von Aufmerksamkeit und die Steuerung der Artgenossen auf ein entferntes Ziel hin konzipiert Pettit als sprachliche Akte, wobei er keine voll entwickelte Sprache voraussetzt. Linguistische Beispiele für Sprache in seinem Sinne findet Pettit auch im alltäglichen, nicht-normativem und nur um Information bemühten Sprechen. Solche Sprechakte dienen den adressierten Interaktionspartnern als Basis für die Erschließung von Informationen, die sich auf gemeinsame Bedürfnisse innerhalb einer miteinander geteilten Situation beziehen. Der Ursprung des Vertrauens in der basalen Kooperation der Gruppe liegt in der Verlässlichkeit der Information, die eines ihrer Mitglieder oder mehrere Mitglieder bereitstellen. Die wiederholt erfahrene Verlässlichkeit der informativen Akte überträgt sich auf die Einschätzung des aktiven Gruppenmitglieds. Der Anfangsgrund des Vertrauens ist damit gelegt. Das verlässliche Engagement (commitment) des Gruppenmitglieds bzw. der Gruppenmitglieder führt zur Reziprozität der Erwartungen, z. B. in Bezug auf verlässliche Nahrungssicherung. Die zur Nahrung hinführenden kommunikativen Akte werden ihrerseits als verlässlich gedeutet. Der Ursprung des Vertrauens in den Akteur/die Akteurin gründet sich auf den pragmatischen Wert seiner/ihrer Information. Die Konstitution eines ‚Wir‘ verdankt sich in dieser Sicht den wechselseitig stabilisierten Erwartungen an die jeweilig erfolgreichen Akteure und deren Strategien. Allgemein gesprochen: Die Quelle der Moral liegt in der erfolgreichen Kooperation; diese ist dann verlässlich, wenn sie Wege und Mittel der Koordination instrumentellen Gruppenhandelns durch kommunikative Akte bereitstellt. Die Akte der Koordination erhalten ihre Bedeutung nicht allein durch Initiierung in reversiblen Bezügen der jeweiligen Interaktionsteilnehmer, die von Fall zu Fall wieder hergestellt werden müssten. Es kommt eine neue Stufe hinzu: Die bedeutungssichernden Akte werden auch aus der Perspektive jedes Dritten, also aus der Sicht des Gruppen-Wir, verstanden und initiiert. Die Konstitution der moralischen Sphäre der Interaktion verdankt sich in dieser Sicht zweier korrespondierender Prinzipien: der moralischen Wünschbarkeit (moral desirability) und der Verantwortung für die Gemeinschaft (responsibility) (vgl. hierzu: a.a.O., 47). Die Integrität der Person verdankt sich ihrer Reputation auf Grund ihrer Verlässlichkeit innerhalb überlebenswichtiger Handlungskontexte. Die Anfangsgründe der Moral sind in diesem Verständnis mit personalen Qualitäten der Verlässlichkeit der Akteure eng verbunden. Dieser sehr kurze Abriss der Rekonstruktion der Moral muss in diesem Zusammenhang ausreichen, um einige kritische Aspekte zu vertiefen, die auf M. Tomasellos Kritik im Anhang zu
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
The Birth of Ethics zurückgehen.75 Tomasello betont vor allem den Aspekt der präsymbolischen Koordination. Er kritisiert an Pettits narrativ-hypothetischer Rekonstruktion der Moral vor allem, dass diese Sprache, und sei es auch in einer sehr elementaren Form, als Mittel der praktischen Koordination von Gruppenhandlungen voraussetzt. Demgegenüber macht er geltend, dass Koordination im Primatenleben einen weitaus elementareren Vorgang darstellt, der der Sprache nicht bedarf. Tomasello setzt an der Koordination mittels Zeigehandlungen an. Diese ist situativ und bedarf allein der Reversibilität: Die Beteiligten können die Wirkungen der eigenen Akte auf andere erkennen und umgekehrt die Absichten anderer aus deren Akten erschließen. Diese Art des Positionswechsels ist insofern elementar, weil sie auf eine geteilte Situation bezogen ist und weil sich der Erfolg der Akte an den wechselseitigen Reaktionen ablesen lässt. Dieses Muster der Intentionalität übersteigt den gegebenen Kontext nicht, ist aber (noch) nicht auf dem Stand einer verallgemeinerten Reziprozität aus der Sicht Dritter. Die Beteiligten behandeln die situativen Bedürfnisse wechselseitig als analog zu den eigenen Bedürfnissen. Das macht einen großen Unterschied zu dem, was unter Moral zu verstehen ist, denn von dieser lässt sich erst reden, wenn vom Standpunkt eines unbeteiligten Dritten über die Relevanz/Berechtigung wechselseitiger Bedürfnisse und Ansprüche entschieden werden kann. M. a. W.: Moral beinhaltet den Standpunkt der Gemeinschaft, der als normativ anerkannt und ggf. mit gemeinschaftlich anerkannten Mitteln durchgesetzt wird. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Tomasellos Forschungen zur Moralentwicklung von Kindern den Standpunkt der dritten Person als Schlüssel für das Verständnis von Gerechtigkeit in allgemeiner Form, d. h. als Regelbewusstsein, erkannt haben. Im Unterschied zu Pettits Annahme sprachgesteuerter Intentionalität macht Tomasello geltend, dass wechselseitiges Verständnis kooperativer Interaktionen schon in der praktischen Arbeitsteilung von „Ich“ und „Du“, z. B. bei der Nahrungsbeschaffung (das Beispiel der Jagd) wirksam ist. Individuelles ‚moralisches‘ Handeln folgt also nicht einem mehr oder weniger kognitiven Kalkül („Meine altruistische Handlung hilft den anderen und mir selbst, also handle ich moralisch“), sondern es basiert auf der Ausrichtung auf eine duale Struktur. In dieser sind die Akteure in ihren Rollen geübt. Gemeinsame Handlungen besitzen so eine verlässliche Binnenstruktur auf Grund von Wiederholung und gemeinsam erlebtem Erfolg. Das auf Reversibilität beruhende Verhaltensrepertoire instrumentellen Handelns birgt nach Tomasello in sich schon die Qualität des Moralischen. Moral, so lässt sich bis hier her zusammenfassen, besteht an diesem Punkt der Kooperation jedoch nicht in der Berufung auf eine Norm, sondern in der Verpflichtung des Akteurs/der Akteurin gegenüber der Gruppe. Es geht um seine/ihre Reputation, und die steht auf dem Spiel, wenn es um Wahrnehmung und Erfüllung der Rolle in der Gruppe geht. Den Schlüsselmecha75
Vgl. hierzu: M. Tomasello (Commentary, in: Pettit 2018, 334ff).
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2.5 Vertrauen in naturalistischer und konsequentialistischer Hinsicht
nismus bildet die Wechselseitigkeit der Erwartungen, in der die Mitglieder der Gruppe sich für gemeinsame Ziele engagieren. Im Falle verweigerter oder defekter Wechselseitigkeit sind daher praktische Sanktionen zu erwarten. Die moralische Begründung für diese liegt sozusagen auf der Hand und wird praktisch virulent in einem dem Fall angemessenen Verhalten der Gruppe. Eine Moral aus der Perspektive der dritten Person ist natürlich immer noch eine Gruppenmoral. Darin liegt auch ihre Stärke, die auf Durchsetzbarkeit beruht. Der Schritt zu einer universellen Moral verlangt dagegen die Einübung einer allgemeinen positiven Reziprozität. Für diese gibt es jedoch in der Regel nur eine schwache Grundlage in der individuellen Erfahrung. Natürlich kann die Gruppenmoral auch Anknüpfungspunkte für gruppenverbindende moralische Regeln hervorbringen. Wo der Austausch von Gütern und Ideen zwischen Gruppen und Nationen intensiv und kontinuierlich ist, werden sich leichter konsensuelle Regeln supramoralischer Art herausbilden, sofern diese wechselseitigen Vorteil sichern.76 Aber auch innerhalb einer Nation ist es häufig unrealistisch, dass universelles Vertrauen im Sinne Kants sich gegen starke Desintegrationstendenzen der Gesellschaft durchsetzt. Gegen das negativ-reziproke Misstrauen gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander ist dann kein Kraut gewachsen.77 Anerkennung bzw. Nichtanerkennung der Gesellschaftsmitglieder untereinander orientiert sich dann an den je relativen wechselseitigen Verortungen und Zuschreibungen aus der eigenen Position heraus. Das Vertrauen reduziert sich auf die Schwundstufe eines modus vivendi der Vermeidung von nahem Umgang und Konflikt. 76
77
Das internationale Recht bietet einige Beispiele langwieriger Durchsetzung geteilter Staatenregeln. Seine Durchsetzbarkeit ist allerdings immer gefährdet, besonders in Zeiten rückwärtsgewandter Nationalismen. Selbst weltumspannende Krisen, wie die der Pandemien, der Umweltzerstörung und des unbewältigten Hungers, der Armut und der Migration von z. Z. ca. 70 Mio. Menschen, erhöhen nicht zwangsläufig die Akzeptanz gemeinsamer Regeln. Das allgemeine Zwangsrecht (ius cogens) bezieht sich nur auf sehr beschränkte Fälle und ist selbst im Falle des Folterverbots schwer durchsetzbar. Das Ausweichen in den Bilateralismus entspricht moraltheoretisch dem Rückfall in die überschaubare Struktur der Reversibilität des Gebens und Nehmens: Die Verpflichtungen sind von wechselseitigem Nutzen und können von den Vertragspartnern jederzeit kontrolliert und ggf. vertragsrechtlich aufgehoben werden, wenn die Umstände es erfordern. Aber auch im Falle der eigentlich bindenden supranationalen Regelungen der EU, die durch eine im Grundsatz akzeptierte Rechtsprechung virulent werden müssten, zeigt sich ein auf Nationalismen gegründeter Widerstand. Unter solchen Voraussetzungen gedeiht das Bedürfnis nach Waffenbesitz und Sicherheitsfirmen besonders unter den relativ privilegierten Gruppen und Schichten, wie am Beispiel der USA deutlich wird. Da der in der amerikanischen Verfassung aufgenommene Glücksanspruch vor allem materialistisch gedeutet wird, sind unter den Bedingungen sozialer und ethnischer Ungleichheit sowie eklatanter Integritätsverletzungen soziale Spannungen systemisch vorgezeichnet. Es bedarf dazu nur entsprechender Anlässe, die geeignet sind, Wut und Empörung hervorzurufen. Da diese Gruppen und Schichten in keinem Vertragsverhältnis zueinander stehen, sondern sich als Konkurrenten im Kampf um begünstigende Vertragsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, dem Wohnungsmarkt u. s. w. sehen, ist die Möglichkeit eines dauerhaften Ausgleichs besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sehr begrenzt.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
Beide Rekonstruktionen der Moral (bei Pettit und Tomasello) fokussieren den Aspekt der Verlässlichkeit des individuellen Akteurs gegenüber der Gruppe. Zu Kants Problem tragen beide theoretischen Ansätze unmittelbar bei. Kants Beweisgang gegen die Zuträglichkeit der Lüge setzt an einem sehr hohen Punkt an, an ihrer Unvereinbarkeit mit der Forderung, zu einem allgemeinen Prinzip oder auch nur zu konsistenten subjektiven Maximen tauglich zu sein. Kant würde sich, wenn er überhaupt einen rekonstruktiven Ansatz übernehmen wollte, an Pettit orientieren. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie die Gemeinschaft oder Gesellschaft Verlässlichkeit erzeugen kann. Nun, sie muss die Moral erfinden. Das Anliegen der Sicherung der Integrität der Gemeinschaft würde durch einen Sprung in das Reich des Normativen bewerkstelligt. Die Vehemenz, mit der Kant jedoch das Lügenverbot als absolutes konzipiert, verbindet ihn in gewisser Weise mit der Argumentation Tomasellos. Die Lüge gilt ihm nämlich als eine Verletzung der Integrität der Gesellschaftlichkeit des Menschen schlechthin: der Menschheit in unserer eigenen Person. Im Falle von segregierten vorstaatlichen Gemeinschaften ist die Menschheit sozusagen zum Greifen nah. Aus der interpersonalen Lüge, die die duale reversible Handlungsstruktur zerstört, folgt für ihn notwendig die Destruktion der allgemeinen Reziprozität, auf die jede Moral einer Gesellschaft angewiesen ist. Dem kognitivistischen Ansatz Kants liegt folglich im Falle des Lügenverbots eine konsequentialistische Denkfigur zugrunde. Daraus leitet sich die Priorisierung der Geltung des Rechts gegenüber der Moral ab. Kants Diskussion der Lüge sollte daher unter dem Aspekt der Sicherung der Integrität der Gesellschaft, d. h. der Unverletzlichkeit ihrer Kohärenz und Konsistenz sowie der daraus resultierenden Verpflichtung ihrer Mitglieder zur Wahrung ihrer individuellen Integrität gedeutet werden. Der häufig anzutreffende empörte Moralismus, der mit der Kritik an Kants ‚rigorosem‘ Lügenverbot verbunden ist, müsste auf eine andere Ebene gehoben werden: Wir wären dann gehalten, nach der Integrität der Personen zu fragen, denen es um die Polemik gegen Wahrheitsansprüche rationaler Argumentation überhaupt geht. Die populistischen Ideologien und die Polemiken gegen sog. Main-Stream-Medien allgemein würden dann in einem prinzipiell anderen Licht erscheinen: als Versuche der Zersetzung der Integrität von Personen, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen. Das Ziel der Unterminierung des Vertrauens in die Legitimität staatlichen Handelns überhaupt wird dann klarer in den Blick genommen werden müssen. Für Kant ist es die aus der Gesetzesgeltung abgeleitete Autorität des Staates, die in erster und letzter Instanz die Integration auseinander strebender gesellschaftlicher Interessen sicherstellt. Als conditio sine qua non gedacht, wird man ihm darin folgen können, doch das rechtliche Band der Gesellschaft bedarf auch eines politischen Grundkonsenses, der seinerseits nur aufgrund moralischer Implikationen Bestand haben kann. Die Geltung des Gesetzes und die Integrität der Personen unter dem Aspekt gesellschaftlicher Verantwortung müssen in einer Demokratie gleichermaßen auf dem Prüfstand stehen. Dies sollte nicht nur retrospektiv im Falle politischer oder wirtschaftlicher Fehlentscheidungen und Skandale gelten. 90
2.5 Vertrauen in naturalistischer und konsequentialistischer Hinsicht
Resümee III Die oben entwickelten anthropologischen Grundlagen der Integrität Annahme als Person, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und Akzeptanz der moralischen Person als selbstbestimmtes Wesen unterliegen einer gesellschaftlichen Gestaltung. Diese Bedingungen sind jedoch nicht als nur ideal oder als rein rechtstheoretisch ohne jeden empirischen Gehalt zu verstehen. Ohne faktische Sicherung dieser Grundbedingungen wäre eine Kontinuität des Handelns in der Gemeinschaft nicht gewährleistet; als Grundbedingungen sind sie nicht rein normativ aufzufassen, denn die personale Bewährung in der Selbstbeziehung kann keinesfalls ausschließlich vorgängigen statischen Kriterien, z. B. denen der Gemeinschaft, gemäß normativen Maßstäben folgen. Sie ist durchgängig moderativ auf den Selbstentwurf bezogen. Dieser lässt Varianten zu, die ihrerseits in kulturellen, philosophischen und ideologischen Kontexten verankert und mit unterschiedlichen Entwicklungspotentialen ausgestattet sind. Die konstitutive Funktion des Vertrauens für die Sozialität des Menschen, wie diese z. B. von Kant am Beispiel des Lügenverbots, aber auch aus der evolutionären Sicht der Moral allgemein betont wird, wird dabei auf besondere Weise herausgefordert: Einerseits kommt es auf die Wirksamkeit traditioneller Bindungskräfte von lokal-gesellschaftlichen Beziehungen an und andererseits können die national-gesellschaftlichen Instrumente der Vertrauenssicherung qua Recht keinen befriedigenden Ersatz für den Verlust zuverlässiger interpersonaler Beziehungen bieten. Auf dieses Phänomen moderner Gesellschaften beziehen sich gerne Theoretiker, die die Gefahr der Vereinzelung als größte Herausforderung der Gesellschaft sehen, was sicher nicht ganz unberechtigt ist. Hinzukommt, dass Heterogenität und Diversität der Gesellschaft die personale Integration erschweren. Zugehörigkeiten werden unsicher, aber gleichzeitig wählbar durch persönliche Entscheidungen. Regressive Identifikationen, ob nun temporär oder dauerhaft, können die Illusion von Sicherheit erzeugen, ohne dass die Mühen der Urteilsbildung im Umgang mit anderen auf sich genommen werden. Zusätzlich zur innergesellschaftlichen Verunsicherung durchwirken Globalisierungseffekte den Alltag materiell wie ideell; transkulturelle Herausforderungen können sowohl Öffnung als auch Abschottung fördern. Die größte Schwierigkeit ist dabei der Aufbau einer lebensfähigen und lebenswerten Ich-Wir-Beziehung, die keiner ausgrenzenden Wir-Ihr-Konstellation bedarf. Damit ist die Frage verbunden, wie Gesellschaften voneinander lernen können und welche Transformationen aus Lernprozessen hervorgehen können. Eine statische Sicht wird sich dabei verbieten. Der Blick auf personale Integrität muss mit einer makrosoziologischen Sicht verbunden werden, die die Besonderheit der Akteure einschließt. Ohne eine normative Orientierung ist dabei nicht auszukommen. Diese wird nicht durch ein deontologisches Apriori zur Verfügung gestellt; es kommt dagegen auf eine theoretische Haltung mittlerer Reichweite an.
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
2.6 Psychologie der Loyalität Zum Vertrauen ist die Loyalität ins Verhältnis zu setzen. Während Vertrauen in die Gesellschaft und staatliches Handeln sowohl affektiv als auch kognitiv geprägt ist und weil Vertrauen auf einem Verhältnis der symmetrischen Reziprozität beruht, die im Falle des Vertrauensbruchs, der Enttäuschung u. Ä. zur Einforderung von Begründung berechtigt, haben wir es im Falle der Loyalität dagegen mit einer asymmetrischen Beziehung zu tun. Verlässlichkeit kann hier eingefordert werden, ohne dass die von der Loyalitätsforderung betroffene Person umgekehrt dazu berechtigt ist, die Legitimität der Instanz, die Loyalität einfordert, und die ihrer Zwecke in Frage zu stellen. Loyalität erweist sich so in erster Linie als ein Mittel, funktionale Ein- und Unterordnung unter vorgegebene Zwecke sicherzustellen. Über die Zwecke wird nicht gemeinsam entschieden. Diese sind institutionell oder personell vorbestimmt. Der Modus der Bewährung begrenzt den Autonomieanspruch der moralischen Person. Die loyal handelnde Person will nicht enttäuschen und sie will als verlässlich von bestimmten Personen oder Institutionen anerkannt werden. Meyers Lexikon führt folgende Bedeutungen unter ‚loyal‘ auf: „[…] gesetzmäßig, pflichtmäßig; politisch ‚gutgesinnt‘, zur Regierung haltend. Loyalität, Biederkeit, Gutgesinntheit, Untertanentreue […]“ (Hervorh. i. Orig., Leipzig 1927, 1233). Das Bedeutungsspektrum reicht also vom Rechtlichen über das Politische bis hin zum Charakterlichen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die erkennbare Ambivalenz des Begriffs in einem Lexikonartikel, der vor fast 100 Jahren und nur wenige Jahre nach Ende des Deutschen Kaiserreichs verfasst wurde. Bezeichnend ist aber auch, dass es neben der Worterklärung keine soziologische Begriffserklärung zur Funktion von Loyalität in der Gesellschaft gibt. In der Typologie Max Webers ist Loyalität mit traditionaler Herrschaft verbunden, wie diese z. B. im Verhältnis von Adel und Dienerschaft besteht; jedoch kommen Formen legaler Herrschaft und wirtschaftlicher Macht nicht ganz ohne Loyalität aus, wie noch am Arbeitsrecht zu klären ist. Ob Loyalität ein affektives Verhältnis zur Machtinstanz einschließt, lässt sich nicht verallgemeinernd sagen. Vom schlichten Gehorsam ist Loyalität insofern unterschieden, als letztere Belohnungen einschließt, auch wenn diese im Bereich des Politischen immateriell sein mögen, z. B. wenn man sich darüber freut, dass sich eine Person oder Partei durchgesetzt hat, mit der man sich identifiziert. Belohnungen können auch materiell sein, aber primär beruhen diese auf Anerkennung im pejorativen Sinne: Die loyale Person ist auf Anerkennung aus, indem sie zu einer Person oder Sache hält. Im direkten interpersonellen Verhältnis kann Anerkennung auch die Form einer Belobigung annehmen, faktisch oder nur in Aussicht gestellt. Diese bezieht sich dabei nicht auf eine erbrachte Leistung allein, sondern auf den Modus der Erbringung von Leistung in einem personalen Bezug, der auf Abhängigkeit beruht. Motive der handelnden Person 92
2.6 Psychologie der Loyalität
können daher Statussicherung und Statusverbesserung sein. Merkwürdigerweise kann eine loyale Person eine Statusverbesserung subjektiv schon allein darin sehen, dass sie sich als loyal zu einem Politiker, einer Gruppe oder Gemeinschaft versteht. Von dieser Art der Selbstaufwertung profitieren populistische Politiker und Bewegungen, selbst wenn diese effektiv nicht zu einer Verbesserung der Lage der loyalen Personen beitragen. Hier liegt ein Fall einer imaginierten Zugehörigkeit vor, die schon als persönliche Wertsteigerung empfunden wird. Imaginierte Zugehörigkeiten können generell zu weitreichenden individuellen Dispositionen und Verhaltensweisen führen. Das Internet spielt dabei als Quelle für Identifikationsangebote keine unerhebliche Rolle. Das kann bis hin zum Familienersatz reichen. Die rein informellen Loyalitäten, die durch Likes auf Facebook erzeugt werden, sind in ihrer psychologischen und materiellen Wirkung bisher noch kaum erforscht. Die Loyalität einfordernde Instanz oder Person kann in der Regel mit dieser Motivschicht des Anerkennungsstrebens rechnen und die Grenzen der Loyalität austesten. Der Vorteil loyaler Beziehungen in der Gesellschaft ist daher ihre Berechenbarkeit und Antizipierbarkeit, weil sie weitgehend moralische Deliberation ausschließen. Dabei sind Loyalitätsbeziehungen nicht zwangsläufig an Hierarchien gekoppelt. Die Asymmetrien können auch rein funktionaler Art sein. In heutigen Unternehmen gibt es zunehmend flache Hierarchien. Die Loyalität kann der Cooperate Identity eines Unternehmens oder einer Arbeitsgruppe gelten. Allerdings bedarf es auch dann einer Instanz, die über Bewährung oder Nichtbewährung, Status und Aufgaben sowie Gratifikationen entscheidet. Ein besonderer Fall liegt im Bereich der parteipolitischen Loyalität vor. Dort steht sie im Zusammenhang des Kampfes um Positionen. Machtwechsel sind daher immer mit einer Auflösung und Neuformierung von Loyalitätsbeziehungen verbunden. Loyalität kann sowohl in hierarchischen als auch in ‚flüssigen‘ Ordnungen eine Rolle spielen. Als reziproke Loyalität, z. B. in einer Partnerschaft, basiert diese im positiven Fall hingegen auf Freiwilligkeit, die bei der asymmetrischen Loyalität keine Rolle spielt, aber auch der negative Fall der Unterwürfigkeit soll in Partnerbeziehungen vorkommen. Die integritätseinschränkenden Wirkungen der Loyalität liegen auf der Hand: Loyalitätsbeziehungen desintegrieren die Ansprüche an selbstständige Urteilsbildung bei den beteiligten Personen bis zu einem bestimmten Grade, aber das muss nicht stören, solange keine fundamentalen Widersprüche zur öffentlichen Moral und sittlichen Ordnung auftreten. Ein Problem entsteht erst dann, wenn gravierende Konflikte die Abläufe beeinträchtigen und öffentlich werden. Kennzeichnend für Korruptionsaffären in Politik und Wirtschaft ist es, dass im Falle eines Skandals die Verantwortung zwischen den in Loyalitätsbeziehungen eingeschlossenen Parteien hin und her geschoben wird. Für Außenstehende sind die realen Entscheidungsabläufe ohnehin schwer durchschaubar. Entscheidungsprozesse in loyalen Beziehungsgeflechten sind wenig formalisiert und situativ flexibel gehalten. Daher sind heutzutage Handy- und Computerauswertung häufig die einzige Quelle der Beweissicherung vor Gericht und Untersuchungsausschüs93
2 Politisch-anthropologische Konstellationen
sen. Der unverhoffte ‚Verlust‘ dieser Daten ist daher ebenfalls nicht ganz untypisch. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die besondere Art des Vertrauens, die in vormals loyalen Beziehungen bestand, im Krisenfall sofort auseinanderfällt. Der Schein der persönlichen Integrität, auf den es dann nur noch ankommt, ist nur auf Kosten anderer aufrechtzuerhalten. Dafür stehen dann die sog. Bauernopfer. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass selbst der Schießbefehl der DDR im Falle der Republikflucht nicht formal als Vorschrift abgefasst war, sondern sich aus einer Summe von Einzelvorschriften und deren konkludenter Auslegung durch loyale Mitwirkung auf allen Ebenen der Verantwortung ergab bzw. ergeben sollte. Auf Loyalität beruhende Regelungen in Wirtschaftsunternehmen bzw. im Rahmen irregulärer staatlicher Machtausübung entsprechen natürlich auch nicht den objektivierten Kriterien bürokratischer Herrschaft im Sinne M. Webers.78 Das Beamtenrecht und das Allgemeine Dienstrecht sind gute Beispiele für eine juristisch fein ziselierte Loyalitätspflicht, die nicht einer konkreten Person gilt, sondern dem staatlichen Dienstherrn. Insofern unterfällt diese Art der entpersonalisierten Loyalität dem Recht, sodass Konfliktfälle ggf. von Verwaltungsgerichten zu entscheiden sind.
2.7 Loyalität als Rechtsbeziehung Im Arbeitsrecht (hier: der Bundesrepublik Deutschland) geht es nicht ganz ohne Loyalität. Der Begriff der Loyalität knüpft hier an den Begriff der Nebenpflichten im § 241, (2) BGB an.79 Die Hauptpflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung (gemäß dem Direktionsrecht der Arbeitgebers im Falle eines Dienstvertrages gemäß § 611 BGB) obliegt dem Arbeitnehmer ausschließlich persönlich. Die Nebenpflichten bestimmen das Verhältnis zum Arbeitgeber auch gegenüber Dritten und der Öffentlichkeit. Im Einzelnen umfassen diese Verschwiegenheit, Wahrung von Betriebsund Geschäftsgeheimnissen sowie Verbot der Beeinflussung von außen (z. B. durch Annahme von Geschenken) sowie Zurückhaltung in der Kritik des Arbeitsgebers (Beleidigung). Neben diesen allgemeinen Obliegenheiten kann der Arbeitsvertrag detailliertere Bestimmungen ent-
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Wo polizeiliche und militärische Aufgaben an private Sicherheitsfirmen vergeben werden, wie z. B. in Gefängnissen der US-Armee im Irak, sind die rechtlichen Kontrollen entsprechend schwach. Misshandlung und Folter können nicht mehr unmittelbar dem Staat zugerechnet werden, auch wenn dessen Geheimdienste von ‚Erkenntnissen‘ profitieren können, die durch diese Dienste erzielt werden. Illoyalität der privat beschäftigten Mitarbeiter kann durch Androhung von Entlassung leicht verhindert werden. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)§ 241 [Pflichten aus dem Schuldverhältnis]: „[…] (2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.“
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2.7 Loyalität als Rechtsbeziehung
halten. Rechts- und sittenwidriges Verhalten des Arbeitgebers fallen nicht unter die Loyalitätspflicht der Verschwiegenheit, doch da kommt es auf eine nachprüfbare Beweisgrundlage an. Ein neue Richtlinie, beschlossen vom EU-Parlament am 16.04.2019, sorgt für einen gewissen Schutz von sog. Whistleblowern, die entgegen ihrer dienstlichen oder arbeitsrechtlichen Verpflichtung zur Loyalität in Fällen von Verstößen gegen EU-Recht Rechtsschutz genießen sollen. Die Richtlinie [EU-Richtlinie 2019/1937 zum Schutz von Hinweisgebern] hat dabei besonders Geldwäsche, Steuerbetrug und Verstöße gegen Produkt- und Lebensmittelsicherheit, Umweltsicherheit und nukleare Sicherheit zum Gegenstand. Größere Unternehmen (ab 50 Mitarbeitern oder mit mehr als 10 Mio. Euro Jahresumsatz und öffentliche Behörden und Gemeinden ab 10 000 Einwohnern) müssen selbst Kanäle zur Meldung von Vorfällen bereitstellen. Der entscheidende Punkt ist der Vertraulichkeitsschutz für den Informationsgeber. Dieser kann die zuständigen Behörden anonym (online, Brief, Telefonhotline) informieren. Da die EU-Richtlinie in nationales Recht transformiert werden muss, wird es wohl einige Zeit dauern, bis die Richtlinie in allen EU-Staaten ihre Wirksamkeit im Alltag von Behörden und Betrieben entfaltet. Die EU hat den Dez. 2021 entsprechend der Umsetzungsfrist von zwei Jahren als Zieldatum festgelegt. Die Bundesrepublik hat mit dem Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vom 18. April 2019 auf Grundlage der früheren EU-Richtlinie (2016/943) bislang nur einen restriktiven Schutz von Whistleblowern befürwortet. (Vgl. Gesetz v. 8. April 2019, § 5). Der Umsetzungspflicht zur neuen EU-Richtlinie (2019/1937)80 ist die Bundesregierung bislang nur unvollständig nachgekommen.81 Personen, die Subventionsbetrug anzeigen wollen, auch wenn es nicht um EU-Gelder geht, sind nicht vom Gesetz geschützt. Weiterhin strittig ist der Schutz von Journalisten und Journalistinnen und der Vertraulichkeitsschutz gegenüber deren Informanten. Der Loyalitätsforderung kommt im Arbeitsrecht die Funktion zu, die über die vertraglich geregelten Dienstleistungen hinausgehenden Obliegenheiten des Arbeitsnehmers gegenüber dem Arbeitgeber hervorzuheben. Einen Eingriff in die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, insbesondere das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG, können die Nebenpflichten indes nicht beinhalten; allerdings ist der Arbeitnehmer gehalten, die Art und Weise, wie er seine Grundrechte innerbetrieblich nutzt, mit dem Geschäftsinteresse des Arbeitgebers abzustimmen. Die Integritätsanforderung besteht in diesem Zusammenhang in der Fähigkeit, sich bewusst und ggf. kritisch zu Zielen und Mitteln des Unternehmens zu stellen und Wege zu finden, seine Bedenken auf den Kommunikationswegen betrieblicher und gewerkschaftlicher Art zu artikulieren. Sofern Rechtsverletzungen im Spiel sind, ergibt sich natürlich auch eine 80
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Zu den Rechtsgrundlagen siehe die abrufbaren Internetquellen unter ‚Rechtsquellen‘ unter Literaturangaben. Siehe hierzu die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage im Bundestag vom 28.08.2020, Drucksache 19/21941. Abrufbar unter: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/219/1921941.pdf (15.12.2020).
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2 Politisch-anthropologische Konstellationen
staatsbürgerliche Verpflichtung, diese mit geeigneten Mitteln und ggf. unter Einbeziehung der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Bereitschaft zu einem unkalkulierbaren Risiko ist sicher nicht von jeder Person zu verlangen, aber ohne diese lässt sich Integrität innerhalb formal geregelter Dienstleistungsbeziehungen nicht sichern. Die Whistleblower-Richtlinie der EU öffnet hier einen Weg, den persönlichen Schaden für denjenigen, der Schaden von der Gesellschaft abwenden will, zu verringern. Die von Whistleblowern auch dann noch zu tragenden Konsequenzen für das eigene Leben, die Karriere und die Familie sind auch bei der neuen Rechtslage nicht zu unterschätzen.82 Der Preis der Integrität ist in per se asymmetrischen Beziehungen jedoch immer sehr hoch, vor allem, wenn dieser in der eigenen wirtschaftlichen Existenz oder im Verlust der Beziehungen zu anderen besteht, die das Handeln der Person verurteilen, weil sie auf den Lohn für ihre eigene Loyalität nicht verzichten wollen.
Resümee IV (1) Die Auflösung formal strikt geregelter und weitgehend personalisierter Autoritätsbeziehungen post-aufklärerischer Gesellschaften führt zu einer verstärkten Unabhängigkeit des Individuums von nicht hinterfragbaren gesellschaftlichen Mächten und Gewaltverhältnissen. Zugehörigkeiten werden teils zu Wahlzugehörigkeiten (Verband, Heirat, Stadt/Land, Religion, Auswanderung u. s. w.), teils zu Aufstiegszugehörigkeiten. Die Bindungskräfte der Gesellschaft werden zunehmend verrechtlicht. Dies gilt auch für das Verhältnis der Bürger untereinander als Private, und zwar in der Weise, dass die Kohärenzgarantie der Gesellschaft sich zunehmend in das Innere der Individuen verlagert und sich daher zu einer zentralen Forderung an die Moralität der Person gestaltet. So jedenfalls ist Kants striktes Lügenverbot politisch zu deuten. Und nur so ist es gut verständlich, warum Kant seine eigene Systematik unterläuft und ein Stück, das eigentlich – wie er selbst feststellt – der Tugendlehre angehört, zum Prüfstein seines Rechtsbegriffs macht. Aus einer übergeordneten Sicht gesellschaftlichen Wandels ist dieser Schritt zur Verrechtlichung der Moral und damit zur Moralisierung des Rechts durchaus plausibel, weil er den Statuswandel vom Rechtsuntertan zum selbstverantwortlichen Rechtsbürger deutlich markiert. Das damit verbundene Rechtsvertrauen haben die Bürger/Bürgerinnen sich fortan wechselseitig abzuverlangen; die absolute Geltung des äußeren Rechts ist dabei bei Kant vorausgesetzt, denn diese gründet auf dem Rechtszwang. Nur so kann die vom Naturrechtsdenken überformte Konzeption des autonomen Rechtssubjekts überzeugend gegen das Modell der immer nur abwägen-
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Als beeindruckendes aktuelles Beispiel siehe den Lebensbericht von Edgar Snowden (2019), der für die Offenlegung der illegalen Überwachungspraktiken der NSA wahrscheinlich den Preis eines dauerhaften Exils zahlen muss.
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2.7 Loyalität als Rechtsbeziehung
den Sittlichkeit als übergreifendes moralisches Band der bürgerlichen Gesellschaft in Stellung gebracht werden. Die auf dem Tugendbegriff aufbauende antike Staatsvorstellung kann in Kants Rechtstheorie daher auch keinen Platz finden. (2) Vertrauen als Grunddisposition von Sozialität kann, so wurde argumentiert, evolutionär aus der Sicherung von Grundbedürfnissen der vorstaatlichen Lokalgesellschaft abgeleitet werden; zumindest würde dieser Zugang die nicht bestreitbare elementare Funktion von Vertrauen für menschliche Beziehungen allgemein erklären. Da Vertrauen (auch im Falle obiger Herleitung) jedoch auch auf kommunikativen und kognitiven Leistungen beruht, lässt sich dessen soziale Bedeutung nicht rein funktionalistisch erklären. Selbstbewusste Wesen werden danach fragen, wem sie wann und aus welchen Gründen vertrauen können oder sollten. Die Entkopplung des Vertrauens von elementarer Überlebenssicherung der Kleingruppe stellt in einer funktional differenzierten Gesellschaft ihrerseits hohe Anforderungen an die Prüfung der Angemessenheit und Reichweite des Vertrauens. In den nach wie vor existierenden Loyalitätsbeziehungen finden sich jedoch Reste eines auf personale Abhängigkeit gegründeten Gehorsams. Verlässlichkeit in dieser Hinsicht verdankt sich einem eingespielten, wiederholbaren Handlungszusammenhang, jedoch basiert diese nicht auf einem vom Kontext abgelösten generellen Vertrauen in die Person. Maßgeblich ist hingegen ein nach situativen und strategischen Parametern ausgerichtetes Opportunitätsdenken. Dabei kehren sich die Vorzeichen der Asymmetrie nur selten um, z. B. dann, wenn im Falle von Irregularitäten die Verantwortungsrichtung von unten nach oben umgekehrt wird. Die implizierte Gehorsamspflicht ist dabei weitgehend vorrechtlich begründet und verdankt sich der Verpflichtung auf Personen und/oder Gruppen-, Verbands- und Unternehmensinteressen. Die hier wirksamen Mechanismen der Machtdurchsetzung erinnern zweifellos an das aus der Evolutionsforschung bekannte Gruppenverhalten von Primaten (siehe: Alphatiere, Belohnung/Bestrafung, Gruppenausschluss, Paarungspräferenzen). Es ist daher davon auszugehen, dass Loyalitätspflichten, sofern nicht explizit durch Vertrag geregelt und nicht nur als ‚Papier‘ verstanden, leicht in Konflikt mit allgemeinen Rechtspflichten nach bürgerlichem Recht geraten können. Dies ist selbst in Gesellschaften der Fall, in denen die Loyalität gegenüber dem Unternehmen auf starken Bindungskräften beruht. Aber auch da ist der Konflikt von partikularen Interessen und Allgemeinwohl nicht aufhebbar, wenn auch vielleicht weniger stark akzentuiert. In Deutschland bietet die Firmengeschichte des VW-Konzerns reichhaltige Beispiele derartiger Konflikte, aber VW steht damit nicht allein. Doch das wäre ein ganz anderes Kapitel zum Thema Loyalität und Politik in deutschen Aufsichtsräten.83
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Siehe dazu auch die aktuelle Analyse von C. Busse, u. a.: Kontrollverlust, in: Süddeutsche Zeitung, 1./2.08.2020, Nr. 176, 22. Abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirecard-skandalaufsicht-1.4984978?reduced=true (5.8.2020).
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3 Rechtskonstellationen 3.1 Das Recht an der eigenen Person Personalität verstehen wir a. als ein Verhältnis der Person zu sich selbst (individualpsychologisch), b. als ein Verhältnis der Person zu anderen Personen (sozialphilosophisch), c. als das Personsein im rechtlichen Sinne von Gewährleistungen, Rechten und Verpflichtungen und deren Verhältnis zueinander (rechtsphilosophisch). Welche qualitativen Merkmale des Personbegriffs im Vordergrund stehen, ist maßgeblich von der Situation und dem argumentativen Kontext bestimmt, also von den konkreten Lebens- und Handlungsbezügen. Im Zentrum des Personbegriffs steht das menschliche Wesen als eine geistig-körperliche Einheit des Erlebens, Handelns und Reflektierens. Diese personale Einheit erhält sich einerseits selbst, z. B. in der Sorge für sich selbst in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht. Dazu gehört die Erhaltung, ‚Pflege‘ und Entwicklung des Selbstbildes (z. B. durch Erzählung, Dokumentation, Leistung und Verweigerung, artifizielle Produktion und nicht zuletzt in der Selbstreflexion) genauso wie die Empfänglichkeit für Bestätigung, Kritik oder Ablehnung durch die soziale Umgebung. Auch wenn die Person sich über Merkmale des Äußeren, der Lebensführung oder Selbstdarstellung definieren mag, so sind (im Hintergrund wirkende) rein formale Aspekte doch zentral für das begriffliche Gerüst des Personseins. Personen werden sich grundsätzlich als Akteure und sozial Anteil nehmende Wesen empfinden und wahrnehmen. Das schließt das Extrem des Eremitendaseins nicht per se aus, weil die eremitische Selbstausgrenzung eben auch eine Form des Handelns darstellt, die sich immer noch – wenn auch im Sinne der Entsagung – auf die Gemeinschaft bezieht, die zugunsten einer spirituellen Gemeinschaft aufgegeben wird. Ebenso ist auch der in der Gegenwart zunehmende Terrorismus als eine Form der – in diesem Fall – aggressiven Selbstausgrenzung zu deuten. Auf diese neueren Zeitphänomene ist später zurückzukommen. Es wird dabei um die Grenzen des Rechts und die gesellschaftlichen Auswirkungen gewaltorientierter Politikvorstellungen gehen. Wo der Status des sozial vollständig respektierten Akteurs noch nicht erreicht ist, z. B. bei Kindern und Heranwachsenden, oder wo dieser Status gefährdet oder verloren ist, z. B. bei Beeinträchtigungen durch psychische und körperliche Faktoren, die mit Kontrollverlust und sozialer Abhängigkeit verbunden sind, erscheint das Personsein in praktischer Hinsicht nicht voll 99
3 Rechtskonstellationen
ausschöpfbar bzw. gefährdet. Und dennoch ist von der Kontinuität des Personseins auszugehen, auch wenn wesentliche Bedingungen der Aktivität und Teilhabe vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkt sind. Selbst im Extremfall des Komas geht Personalität nicht verloren. Personen werden also nicht zu einer Sache oder einem reinen Körper, auch wenn die bewusste Expression der Person nicht mehr möglich ist. Und dies gilt auch im Falle des Todes: Unsere Personenrechte (Bestattung, Erbschaftsregelung u. s. w.) müssen dann von anderen Personen vertreten werden. Damit rücken die kulturellen und rechtlichen Aspekte des Personbegriffs in den Vordergrund. Es wird deutlich, dass Personalität nicht einseitig nur vom Individuum ausgeht. Die Integrität der Person wird durch den rechtlichen und kulturellen Rahmen gesichert, je nach dem, in welchem Maße die Gesellschaft Substitute und rechtliche Sicherheiten der Personalität auch dort verwirklicht, wo die Person sich noch nicht oder nicht mehr selbst vertreten kann. Zwischen der Zugehörigkeit zu anderen und der Angewiesenheit auf andere gibt es also eine innere Verbindung. Diese ist nicht nur dem Begriff der Sozialität inhärent, sondern in erster Linie allen Formen der Interaktion im Nahbereich und darüber hinaus überall dort, wo Personalität der Unterstützung bedarf. Das Recht an der eigenen Person ist Grundbedingung der Integrität; die Tatsache der Angewiesenheit schützt vor einer auf Kosten anderer betriebenen Selbststeigerung. Angewiesenheit kann unter intransparenten Machtbedingungen jedoch auch zur Entmündigung beitragen. Entmündigende Verhältnisse stehen per se der Integrität entgegen. Wo solche Verhältnisse rechtlich fixiert sind, besteht ein erhöhter Begründungsbedarf. Am Beispiel des Verständnisses von Kinderrechten lässt sich gut nachvollziehen, wie zunächst im Erziehungs- und Familienrecht von Erwachsenen beschränkt gewährte Rechte zu Anspruchsrechten des Kindes an seine Erziehung und Bildung werden können. Die UN-Kinderrechtskonvention von 198984 (in Deutschland in Kraft seit 1992) hebt diese Verschiebung prägnant hervor, indem sie – bezogen auf das Reifungsalter des Kindes bzw. Heranwachsenden – Mitentscheidungsrechte über das eigene Leben festschreibt. Wie immer bei Konventionen der UN wird es entscheidend von der nationalen Umsetzung abhängen, ob dieses Verständnis von Kinderrechten zur juristischen Integritätssicherung von Kindern und damit zur Förderung von Persönlichkeit im psychologischen Sinne beitragen kann. Grundsätzliche Änderungen von Rechtsvorstellungen, die häufig zunächst im soft law nur deklarativ abgefasst sind, können über gesellschaftliche Debatten zu einem grundlegenden Wandel auch des positiven Rechts beitragen. Als Beispiel sei hier nur die UN-Konvention zur Inklusion genannt. Integritätsförderung für Individuen und Gruppen mit besonderen sozialen Merkmalen, so lässt sich gerade an diesem Beispiel deutlich machen, ist mit außerordentlichen gesellschaftlichen Anstrengungen verbunden. Schnelle Erfolge sind dabei schon deshalb nicht zu erwarten, weil die Strukturen der
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UN-Convention on the Rights of the Child (1990).
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3.1 Das Recht an der eigenen Person
Integritätsverweigerung in der Gesellschaft und im individuellen Denken tief verankert sind und daher in ihrer diskriminierenden Wirkung oft gar nicht bewusst wahrgenommen werden.85 Es wäre also ein Missverständnis, das Recht an der eigenen Person einseitig naturrechtlich im Sinne der ‚angeborenen Würde und Freiheit‘ begründen zu können. Vielmehr gilt: Der Status der Person ist auf vielfältige Weise mit den jeweiligen Formen der kulturell geprägten Rechtsverhältnisse verflochten, seien diese nun informal-habituell oder formal kodifiziert. In den qua Tradition verrechtlichten Verhältnissen sind natürlich auch die Konfliktanlässe antizipiert, die sich aus der möglichen Diskrepanz zwischen individuellen Ansprüchen und kollektiven Interessen ergeben können. Traditionelle Gerichtsbarkeiten, Ältestenrat und Dorfversammlung sind nur einige Beispiele dafür, dass den möglichen Konfliktbereichen auch regulierende Instanzen gegenüberstehen. Das Maß jedoch, in dem Freiheit und Gleichheit als Ansprüche und Realität den Individuen zugute kommen, ist indes vom politischen Wandel, d. h. den sozialen und individuellen Kämpfen, deren Erfolg oder Scheitern abhängig. Die Menschenrechte bilden dabei einen zentralen Maßstab der Orientierung, weil diese auf die personale Integrität eines Lebens unter menschenwürdigen Bedingungen ausgerichtet sind. Die Integrität sichernden Lebensbedingungen leiten sich indes nicht direkt aus dem allgemein gefassten Begriff der Menschenwürde ab, sondern aus den Verpflichtungen der internationalen Gemeinschaft und der Nationen, die sich aus der Konkretion deklarierter Rechte durch die anerkannten Konventionen und Menschenrechtspakte ergeben. In diesem Kontext ist die Bedeutung subjektiver Rechte und deren Verständnis in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland von besonderer rechtstheoretischer und politischer Bedeutung. Eine neuere Kritik, vorgetragen von C. Menke (Menke 2015) besagt, dass die im Grundgesetz verankerten Rechte normative Identitätszuschreibungen enthielten, die Unterordnung festschrieben. Das Subjekt gemäß bürgerlichem Rechtsverständnis erfahre so eine Eingliederung in eine mehr oder weniger als sakrosankt verstandene Ordnung, die Verfassungsrang besitze. Als Beispiel könnten hier die impliziten Rollenfestschreibungen für Frauen oder die Vernachlässigung von Kinderrechten im Grundgesetz gelten. Unter dem Aspekt einer emanzipatorisch aufgefassten Identitätspolitik ergibt sich daher ein innerer Widerspruch des Rechts: Die Allgemeinheit des Rechts, so die Paradoxie subjektiver Rechte, führt zur Seite des Subjekts hin zu einer Fixierung von Rollen und verhindert zur Seite der Gesellschaft hin die Durchsetzung von Rechten, die sich auf identitätspolitische Forderungen stützen, die der faktischen Benachteiligung, den Verletzungen und Entwürdigungen von Frauen entgegengesetzt werden könnten. Menke plädiert daher für ein Rechtskonzept von ‚Gegenrechten‘. Diese müssten es leisten, die in subjektiven Rechten quasi ‚naturalisierten Rollen‘ einer politischen Gestaltung zugänglich zu machen: Indem das Recht die kollektiven Erfahrungen von Unge85
UN-Behindertenrechtskonvention (2008).
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3 Rechtskonstellationen
rechtigkeit und Unterdrückung konstitutiv zugrunde legt, trägt es zur politischen Überwindung von Ungleichheit bei. Gruppenrechte und Gruppeninteressen erhielten auf diesem Wege eine identitätspolitische Anerkennung. Auch wenn Menkes Ansatz der hier vertretenen Intention einer Kritik von Integritätsverweigerungen und Integritätsverletzungen nahekommt, so überzieht er meines Erachtens den Anspruch des Rechts, Gerechtigkeit herzustellen, indem diesem aufgebürdet wird, die immer offene, fluide politische Gestaltung der Gesellschaft in feste rechtliche Formen zu gießen. Gleichzeitig wird dem Recht damit zugemutet, Moralauffassungen der Gesellschaft zu kodifizieren. Die Grenze zwischen gruppenbezogener Moral und Rechtssystem wäre folglich für diverse konträre Ansprüche offen. Sicher orientiert sich die Rechtsprechung auch immer an der Entwicklung der Moral in der Gesellschaft und geht dieser in vielen Fällen auch voraus, wie sich z. B. am Wandel des Ehe- und Partnerschaftsrecht ablesen lässt. Dennoch sollte der Raum des Politischen nicht dem Recht unterworfen werden, da die öffentliche Kontroverse einen erheblichen Anteil daran hat, normative Konflikte wenigstens vorübergehend zu lösen.86 Das Rechtsverständnis des Grundgesetzes ist, wie der Staatsrechtler E. Denninger zum Vorschlag von Menke anmerkt, nicht unpolitisch, sondern versteht Rechtsprechung als eine gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe, die sich der Veränderung von Verfassungs- und Lebenswirklichkeit stellt. (Siehe hierzu: Denninger 2018, 316–326). In der Tat scheint der Versuch, strukturelle oder auch historisch bedingte Merkmale von Individuen als kollektivrechtliche Besonderheiten in den Begriff des Rechtssubjekts konstitutiv einfließen zu lassen, um dessen vermeintlich die faktische Ungleichheit stabilisierenden Formalismus zu überwinden, ungeeignet, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Dieser Ansatz käme einer hegelianischen Volte gleich, die in zweifellos emanzipatorischer Absicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Allerdings würde es Hegel selbst nicht einfallen, die Paradoxien des Rechts, die es zweifellos gibt, auf dem Boden des Rechts selbst aufzuheben. In seiner Replik auf Denninger bezeichnet Menke seinen Ansatz selbst als ‚Traum‘ (Menke 2018). Ohne Frage bedarf Integrität der rechtlichen Stützung, jedoch nicht der Verrechtlichung. Der Erfahrungen kollektivrechtlicher Einbindung der Individuen durch Sonderrechte gibt es in der deutschen Geschichte genug und sie waren niemals ermutigend für die Durchsetzung von Freiheit, weder individuell noch kollektiv. Ein 86
Die sich zur Permanenz entwickelnde Corona-Krise verstärkt sowohl strukturelle, lokalitätsbedingte und an die berufliche Existenzform gebundene soziale Ungleichheiten, die zugleich auch erhebliche Rechtseinschränkungen bei der Gestaltung von Arbeit und Alltag bedeuten. Die öffentliche Diskussion, der nachhaltige bis aggressive Protest und der juristische Streit prägen den Raum des Politischen als einer Arena, in der die sichere und nur auf langfristige Gesetzesvorhaben gestützte Politik das Nachsehen hat. Das Recht hat als Korrelat der Macht zwar nicht ausgedient, aber die Rechtsprechung muss darauf Rücksicht nehmen, dass der allgemeine Konsens der Gesetzes- und Verordnungskonformität an den vielfachen Brechungen öffentlich wirksamer und als berechtigt anzuerkennender Partikularinteressen scheitern könnte. In der Summe sind die Partikularinteressen dann eben nicht mehr nur partikular, sondern ein allgemeiner Ausdruck politisch ungehörter bzw. unverstandener Einzelwillen.
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3.2 Das Öffentliche und das Private
absolutes Vertrauen darein, dass das Allgemeine auch das Vernünftige sei, lässt sich auch mit Hilfe des Rechts nicht begründen.87
3.2 Das Öffentliche und das Private 3.2.1 Entgrenzung des Äußeren und des Inneren der Person Der Bereich der Privatsphäre gilt in demokratisch verfassten Staaten als Kernbereich des Persönlichkeitsrechts. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland wird der Art. 2, Abs. 1 GG, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, in Verbindung mit der staatlichen Verpflichtung zum Schutz der menschlichen Würde nach Art. 1, Abs. 1 GG, rechtsdogmatisch zugrunde gelegt, wenn es um Klagen gegen Eingriffe des Staates oder Privater in diesen Kernbereich der Person geht, der als Bereich der äußeren Integrität zu verstehen ist.88 Dass der Würdebegriff im Grundgesetz in diesem Zusammenhang eine zentrale Stellung einnimmt, ist eine Besonderheit, die mit der Entstehung des Grundgesetzes mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus zu erklären ist. Selbstverständlich kennen Verfassung und Rechtsprechung anderer Staaten ebenso den Schutz von Persönlichkeitsrechten, ohne dass der Würdebegriff dabei an oberster Stelle stehen muss. Persönlichkeitsrechte werden juristisch generell im Zusammenhang allgemeiner Freiheitsrechte behandelt, aber nicht direkt aus diesen abgeleitet. In dieser Konzeption sind beide Bereiche rechtsdogmatisch als unabhängig voneinander zu betrachten. (I) In Sachen Persönlichkeitsrechte ist im Fall Esra erstmalig ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergangen. Dazu hier nur in Kürze: Der Schriftsteller Maxim Biller hatte in seinem Roman Esra (erschienen 2003) biografisch eindeutige Details seiner Beziehung 87
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Im Kapitelabschnitt 4.1.4 zum Verhältnis individueller und kollektiver Moral vertiefe ich obige Überlegungen. Der umfassendste Eingriff in Persönlichkeitsrechte durch den Staat liegt zweifellos in der Maßnahme der Sicherungsverwahrung vor. In diesem Fall verliert die Person ihre Integrität im Verständnis der äußeren Verfügung über sich selbst, z. B. ihre unbeobachtete Bewegungsfreiheit. Sicherungsverwahrung kann gerichtlich angeordnet werden, wenn nach Ablauf der Haftstrafe durch zwei psychiatrische Gutachten festgestellt, dass die Person auf Grund psychischer Krankheit eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Da die Sicherungsverwahrung keine strafrechtliche Maßnahme ist und im Grundsatz an der Möglichkeit eines Lebens in Freiheit orientiert sein soll, erfolgreiche Therapiemaßnahmen vorausgesetzt, ergibt sich daraus die staatliche Verpflichtung, gemäß Menschenrechten und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Wohnbedingungen zu schaffen, die das Recht auf Privatheit sicherstellen. Es wird anerkannt, dass der Person innerhalb der Grenzen der Verwahranstalt das Recht auf eine sinnvolle Lebensgestaltung zukommt. (Siehe hierzu: Beschluss des OLG Hamm v. 19.12.2012 – I – 11 W 68/12. Abrufbar unter: https://openjur.de/u/595799.html (20.07.2020).
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3 Rechtskonstellationen
zu seiner früheren Partnerin verwendet. Diese potentiell kompromittierenden Details waren nach Auffassung des Gerichts nicht ausreichend fiktional gestaltet, um mögliche Rückschlüsse auf lebende Personen zu verhindern. Da die ehemalige Partnerin, eine recht bekannte Schauspielerin, insbesondere gegen die Darstellung sexueller Details ihrer Beziehung klagte, weil sie darin eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte sah, hatte das Gericht den Konflikt zwischen der Kunstfreiheit nach Art. 5, Abs. 3, Satz 1 GG, und dem Anspruch auf Schutz der Persönlichkeitsrechte zu entscheiden. Der jahrelange Streit endete vor dem Bundesverfassungsgericht, weil der Verlag das vom Bundesgerichtshof ergangene Urteil zum Publikationsverbot nicht hinnehmen wollte. Das im Jahre 2007 ergangene Urteil begründet die Rechtmäßigkeit der Verbotsentscheidung u. a. mit der „Intensität der Verletzung der Persönlichkeitsrechte“, die sich daraus ergäbe, dass „Urbild und Abbild“89 in der ästhetischen Darstellung eine zu große Ähnlichkeit aufwiesen. Dieses Urteil kann als Präzedenzentscheidung zum Schutz der Privatsphäre gesehen werden, auch wenn es aus kunsttheoretischer Sicht immer umstritten blieb. (II) Persönlichkeitsrechte bedürfen der Kodifizierung. Als lex specialis konkretisieren diese die nach dem Grundgesetz allgemein verbürgten Freiheitsrechte. Wie selbstverständlich Freiheitsrechte als geradezu natürlich empfunden werden und nicht als das Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe und Kompromisse, wird gegenwärtig in den Zeiten der Corona-Krise besonders deutlich: Rechtlich begründete und zeitlich begrenzte Eingriffe in ausschließlich individualistisch gedeutete Freiheitsrechte werden als generell unzumutbar und geradezu als Ende der Freiheit verurteilt. Dem liegt die Haltung zugrunde, dass allgemein gefasste Grundrechte ohne Einbeziehung weiterer Rechtsfragen und besonderer Umstände als absolute Rechte eingefordert werden. Vor diesem Hintergrund kommt der Begründungspflicht von Legislative und Exekutive im Falle von Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten besondere Bedeutung zu. Diese Begründungspflicht staatlichen Handelns ist jedoch nicht vom Himmel gefallen. Sie besteht auch nicht erst seit der Entstehung liberaler Demokratien. Der Beginn positiv verfasster Menschenrechte wird gerne mit der Habeas-Corpus-Akte in Verbindung gebracht. Die Formel, zu Deutsch „Du habest einen Körper“, ist nicht als triviale Feststellung zu verstehen, sondern als präskriptive Formel für das ausschließliche Verfügungsrecht der Person über sich selbst, das nur unter strengen rechtlichen Bedingungen eingeschränkt werden darf. Das englische Parlament, das am 12. Juli im Jahre 1679 diesen Meilenstein des Persönlichkeitsrechts gegen den König Karl II. durchsetzen konnte, verbietet willkürliche Verhaftung und kodifiziert die staatliche Pflicht der richterlichen Haftprüfung. Die zweimalige Verhaftung und Anklage in derselben Sache wird ebenfalls untersagt. In der Verfassungsgeschichte Amerikas ging diese Formel in die Virginia Bill of Rights (1776) ein. Der Art. 104 GG entspricht 89
Vgl. hierzu Urteil des BVerG v. 13.06.2017. Abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/ entscheidungen/rs20070613_1bvr178305.html (20.07.2020).
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3.2 Das Öffentliche und das Private
in den Rechtgarantien bei Freiheitsentzug dieser historischen Errungenschaft. Nach den Erfahrungen während der Nazi-Herrschaft, der effektiven Aufhebung aller persönlichen Freiheitsrechte, ist dieser Artikel von besonderer Bedeutung. In der Rechtsprechung durch den US-Supreme Court im Fall Rasul vs. Bush hat die Habeas-Corpus-Akte eine erneute Aktualität in der Frage erhalten, wie weit die Regierung im Falle der Internierungen in Guantanamo bei der Einschränkung von Freiheitsrechten im Kampf gegen den Terrorismus gehen darf.90 Die Entscheidung darüber, wer auf die Person ‚körperlich‘ zugreifen kann, und die Maßgabe, dass die rein körperliche Sicherheit vor staatlicher und privater Gewalt in der Gesellschaft garantiert sein soll, mag unter rechtsstaatlichen Bedingungen selbstverständlich sein, doch lehrt die jüngste Entwicklung in autoritären Regimen, dass willkürliche Verhaftungen an der Tagesordnung sind und dass die richterliche Haftprüfung, wo diese denn noch formal aufrechterhalten wird, von politischen Einflussnahmen keinesfalls unabhängig ist. Die Beschwerden gegen willkürliche Verhaftungen und unmenschliche Haftbedingungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen in die Hunderte jährlich und sie kommen überwiegend aus Russland, Belarus, der Ukraine und der Türkei. Da der Weg nach Straßburg jedoch die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs voraussetzt, kann man davon ausgehen, dass viele Menschen auf dem Weg dahin scheitern und aufgeben. Menschen, die in Ländern wie Syrien verhaftet werden, haben nicht einmal die Möglichkeit einer Haftbeschwerde, weder national noch vor einem internationalen Gerichtshof. Sie müssen dagegen Folter und Tötung befürchten. Dabei sollte in Erinnerung bleiben, dass es dem Parlament in England nicht nur um die Sicherung eines fundamentalen Persönlichkeitsrechtes ging, sondern um die effektive Begrenzung der Macht der Staatsgewalt. Der äußere Integritätsschutz, die freie Verfügung über den eigenen Körper, seinen Aufenthalt, seine Unversehrtheit und Gesundheit, ist heute ein ebenso aktuelles Thema für viele Menschen wie zu Zeiten unbegrenzter monarchistischer Gewalt.91 Nicht zuletzt geht es bei Eingriffen in die körperliche Freiheit und Selbstbestimmung natürlich immer um die Verfügung über die Person in geistiger Hinsicht, um ihre Einstellung zum Staat, zur Regierung, zu politischen Maßnahmen und Gesetzen. Der Körper als das expressive Medium des Selbst, als die teils sichtbare, teils verborgene Außenseite des Inneren der Person, dient der Macht als das Medium, das den Zugriff auf Geist und den Willen ermöglicht. Am eindrücklichsten hat dies noch George Orwell in seinem Roman 1984 zum Ausdruck gebracht: Die vollkommene Macht ist die, die sich den Willen der Subjekte aneignet. Die Realität der 90
91
Siehe hierzu: United States, Habeas Corpus for Guantánamo Detainees. Abrufbar unter: https:// casebook.icrc.org/case-study/united-states-habeas-corpus-guantanamo-detainees (15.12.2020). Der Aufsatzband Die Unversehrtheit des Körpers: Geschichte und Theorie eines elementaren Menschenrechts (Walt, van der/Menke, Hrsg., 2007) verbindet ideen- und sozialgeschichtliche Reflexionen und Analysen zur Staatenpolitik mit Blick auf die UN-Antifolterkonvention in der Folge der Anschläge vom 11.09.2001.
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3 Rechtskonstellationen
arabischen Staaten nach Scheitern der arabischen Revolutionen, die Strategien des Machterhalts qua unbeschränkter Kontrolle in China, Russland, der Türkei und vieler osteuropäischer Staaten stehen Orwells dystopischen Szenarien in nichts nach. Das Modell liberaler Freiheitsrechte wird aber auch von populistischen Kräften in den westlichen Demokratien attackiert, die innerhalb ihrer Gesellschaften gerne die Entwicklung von Freund-Feindverhältnisse betreiben. Deren Unterstützung von außen durch autoritäre Regime im Interesse einer Destabilisierung ist allzu offenkundig. Der Bestand bürgerlicher Freiheiten sollte daher nicht als selbstverständlich genommen werden. Auf dem Spiel stehen Integrität und Freiheit der Bürger freier Staaten. In diversen neueren und älteren Despotien werden diese Freiheiten zum Ausgangspunkt der Sehnsüchte ihrer Bürger, die das eigentlich Selbstverständliche unter größten persönlichen Opfern erkämpfen müssen. Heute haben wir uns dank der digitalen Technologien und deren omnipräsenter Nutzung daran gewöhnt, dass nicht nur unsere ‚Außenseite‘ dem öffentlichen Blick, den Staatsorganen und dem Kommerz zugänglich ist. Die Medialität des Körpers besitzt ja noch Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten. Aktuelle Gefühle können zwar an körperlichen Symptomen erkannt werden, aber innere Dispositionen sind nicht so leicht zu erschließen. Das hat sich durch Verwendung digitaler Hilfsmittel grundlegend geändert. Auch wenn der Inhalt meiner Mitteilungen – außer im Falle des Hacking – nicht wörtlich erkannt werden sollte, so liefern die Metadaten meiner Aktivitäten ein recht eindeutiges Profil meiner Person. Sie offenbaren das Netz meiner Kontakte und Beziehungen, meine Bewegungsformen, meine Arbeits- und Freizeitaktivitäten sowie politische Interessen und Konsumgewohnheiten, wenn ich das Internet für Bestellungen nutze. Die äußere Integrität meiner Person steht hier also in Frage. Der Raum für Integritätsverletzungen ist im Grunde unüberschaubar geworden und gleichzeitig wird die klare Abgrenzung äußerer und innerer Integrität und Selbstbestimmung obsolet. Auch der ‚innere Raum‘ dessen, was mich ausmacht, unterliegt nicht mehr ausschließlich meiner eigenen Kontrolle. Die ‚Erfindung‘ der auf die freie Person bezogenen Privatheit geht in Mitteleuropa auf die bürgerlichen Bildungsschichten des 18. Jahrhunderts zurück. Für die Masse der abhängig Beschäftigten, der Leibeigenen, des Gesindes, der Pachtbauern und der Arbeiter, war dieser Luxus der Privatheit ohnehin ohne Bedeutung. Die feudalrechtlich begründeten Übergriffsrechte auf die Untertanen ließen diesen wenig Freiraum, sie selbst zu sein. Eine solche Idee hätte, selbst wenn es nur um die freie Wahl des Ehepartners gegangen wäre, kaum Raum greifen können. Sie war denen vorbehalten, die durch ihren Stand oder durch Förderung Zugang zu besseren Schulen, kirchlichen Internaten und – daran anschließend – Universitäten hatten. Die Verbürgerlichung der mitteleuropäischen Welt, an der der aufkommende Kapitalismus einen entscheidenden Anteil hatte, hat zur sukzessiven Generalisierung des Anspruch auf Selbstverfügung beigetragen, ein Anspruch, der sich naturgemäß nicht auf das Körperliche beschränken ließ, sondern die
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3.2 Das Öffentliche und das Private
ganze Person in ihrem Wollen und Streben umfassen musste. Die Entwicklung kollektiver Identitäten, z. B. im Klassenbewusstsein, hat dazu entscheidend beigetragen.
3.2.2 Integritätsverletzungen im Internetzeitalter Es ist nicht ganz ohne Ironie, dass der Integritätsschutz der Person mit der Entwicklung der Kommunikationstechnologie des Internets verstärkt in den Fokus der Rechtsprechung gerückt ist. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat mit den Artikeln zur Unverletzlichkeit der Wohnung, zur Freizügigkeit und zum Post- und Fernmeldegeheimnis, um nur einige zu nennen, Schutzrechte gegen staatliche Übergriffe geschaffen. Auch wenn es sich dabei nicht um unbedingte, absolute Rechte handelt, denn sie können nach Maßgabe besonderer Gesetze in bestimmten Fällen eingeschränkt werden, bot dieser Kernbestand an Rechten eine gewisse Sicherheit gegen Eingriffe in die Privatsphäre. In Zeiten des Internets ist die Privatsphäre durch Zugriff auf Kommunikationsgeräte (Computer, Smartphone und andere in materielle Systeme eingebaute digitale Technik) erheblich gefährdet. Sowohl der Staat als auch Private (Unternehmen, Werbeagenturen und soziale Netzwerke, mein technologieversierter Nachbar) haben relativ leicht Zugriff auf meine Aktivitäten, Konsumwünsche, meine Gedanken und Gefühle, eventuelle Krankheiten und persönliche Stärken und Schwächen. Nicht meine Räumlichkeiten, mein Briefkasten oder mein Telefon sind hier sensible Zonen für mögliche Integritätsverletzungen. Was im Grundgesetz von 1948 verständlicherweise im Vordergrund stehen sollte, das war die Person in ihrer räumlich-materiellen Privatsphäre. Diese Sphäre ist weitgehend aufgehoben, weil sich alles, was privat von Belang ist, von jedem Smartphonebesitzer (und das sind wir fast alle) mit sich herumgetragen wird. Besonders unsere Wege und Irrwege durch die Welt unterliegen einer ständigen Aufzeichnung, wodurch alle unsere menschlichen Kontakte für versierte Andere leicht einsichtig sind. Die etwas kuriose Lage besteht darin, dass die Integritätsrechte der Person auf ihre Geräte übergehen: Mein Handy, mein Computer und Autocomputer müssen vor Zugriff geschützt werden. Meine Geräte stehen also für einen zentralen Teil meiner selbst, wenn nicht sogar totaliter für mich selbst. Was der Gesetzgeber schlicht die Integrität informationstechnischer Systeme nennt, das ist in Zeiten des Internets auch meine personale Integrität. Das Problem der digitalen Souveränität wird erst im Ansatz verstanden und es ist auch nicht leicht, dieses Thema unter den traditionellen Vorgaben einer auf das Körper-Selbst bezogenen Integritätsvorstellung in den Kontexten neu zu denken, in denen Individualitätsmuster aus informationellen Spuren von Internetbenutzern zusammengesetzt werden können. In politischen Systemen, die alles über ihre Bürger wissen wollen und keinerlei Rechtsbeschränkungen unterliegen, gleicht der Zugriff auf die digitalen Kommunikationsmittel dem Zugriff auf die Person als Ganze. Im Unterschied zu der Integrität, die wir in Bezug auf uns selbst 107
3 Rechtskonstellationen
beanspruchen, soll die dem Fremdzugriff ausgesetzte Integrität als äußere Integrität bezeichnet werden. Digitale Souveränität wäre im Idealfall dort gewährleistet, wo die äußere Integrität ‚meiner‘ Daten ausschließlich in meiner Hand läge. Wir wissen nur zu gut, dass dies nicht der Fall ist. Was technologisch möglich wäre, ist wirtschaftlich nicht erwünscht. Die Unterscheidung von äußerer und innerer Integrität könnte die beruhigende Wirkung haben, dass der innere Kernbereich der Person nur dieser selbst zugänglich ist. Doch hilft diese Unterscheidung nicht wirklich, denn Inneres und Äußeres sind unter den Bedingungen des Internets nicht mehr vollständig trennbar. Innen und Außen sind in beide Richtungen durchlässig und für andere verfügbar. Der Zugang zu persönlichen Daten ist nur noch teilweise und mit einigem rechtlichen Aufwand möglich. Vergangenes bleibt präsent: Das Netz vergisst nicht, so die Problemlage. Was Geheimdienste und private Internetdienste speichern, ist dem Internetnutzer ohnehin nicht zugänglich. Die verfügbaren Daten sind so gut, dass mit ‚schlauer‘ Software relativ genaue Vorhersagen meines künftigen Verhaltens möglich sind. Was mit Blick auf mögliche terroristische Gefährdungen noch sinnvoll erscheinen mag, führt aufs Ganze bezogen in eine Überwachungsgesellschaft, die bei formaler Weitergeltung von Grundrechten den Leviathan zu neuem Leben erweckt. Das Selbstbestimmungsrecht und die informationelle Selbstbestimmung, mit der die personale Integrität als ureigenstes Anliegen freier Personen unlösbar verknüpft ist, wurden im deutschen Recht erst in den letzten Jahren zum Gegenstand verfassungsrechtlicher Prüfung. Das im Jahre 2008 ergangene Urteil des BVerfG (Urteil v. 27.2.2008) erweitert den Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2, Abs. 1 GG auf den Schutz der von der Person genutzten digitalen Technik und erklärt diesen Schutz zum „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. In der Urteilsbegründung wird dieser Schutzanspruch in den Zusammenhang des Schutzes der menschlichen Würde gemäß Art. 1, Abs. 1 GG gestellt. Auch die durch Art. 10 [Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis] zu gewährleistende informationelle Selbstbestimmung wird der Urteilsbegründung zugrunde gelegt. Das Gericht will damit der Tatsache gerecht werden, dass „[d]ie Nutzung der Informationstechnik […] für die Persönlichkeit und die Entfaltung des Einzelnen eine früher nicht absehbare Bedeutung erlangt [hat]. Die moderne Informationstechnik eröffnet dem Einzelnen neue Möglichkeiten, begründet aber auch neuartige Gefährdungen der Persönlichkeit. […] Die jüngere Entwicklung der Informationstechnik hat dazu geführt, dass informationstechnische Systeme allgegenwärtig sind und ihre Nutzung für die Lebensführung vieler Bürger von zentraler Bedeutung ist.“ 92
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BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 27.02.2008 – 1 BvR 370/07 –, Rn. 1–333; hier: Rn. 170/171. Abrufbar unter: http://www.bverfg.de/e/rs20080227_1bvr037007.html (20.07.2020).
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3.2 Das Öffentliche und das Private
Mit diesem Urteil sollte der verdeckte Zugriff auf digitale Kommunikationstechnik durch Geheimdienste im Rahmen von Online-Durchsuchungen rechtlich begrenzt und an richterliche Prüfung gebunden werden. Die Habeas-Corpus-Formel wird sozusagen zur ‚Habeas-HandyFormel‘ erweitert. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass das Verfassungsschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen die Methode der ausgedehnten, nicht anlass- bzw. verdachtsbezogenen Online-Durchsuchung mit einem Gesetz aus dem Jahre 2007 abgesegnet hatte, ohne die erforderlichen rechtlichen Beschränkungen für die Exekutivorgane vorzusehen. Das Urteil schließt, so die erklärte Absicht des Gerichts, eine Lücke im Persönlichkeitsrecht, die durch die allgemeine Nutzung von ‚informationstechnischen Systemen‘ eröffnet wurde. Eine unionsrechtliche Einigung zum personrechtlichen Datenschutz liegt inzwischen in der DSG-VO [EU 2016/679] vor. Diese nimmt jedoch nicht ausdrücklich auf den Integritäts- und Vertraulichkeitsschutz der Person Bezug, wie dies im Urteil des BVerG von 2008 explizit getan wird, sondern bezieht den Schutzanspruch nur auf die ‚personbezogenen Daten‘. Auch wenn dieser Begriff alles umfasst, was eine Person auf der Basis von Daten identifizierbar macht, so lässt diese sachliche Beschränkung auf das Informationssystem die Frage der umfassenden Verletzung grundrechtlicher Persönlichkeitsrechte außer Betracht. Seit der rechtlichen Geltung dieser VO im Bundesrecht müssen die Nutzer bei jeder Öffnung einer kommerziellen oder staatlichen Website einem Datentransfer zustimmen oder diesen ablehnen. In erster Linie geht es dabei um die IP-Adresse, diese kann aber durch Verknüpfung mit anderen Websites, auf denen die Person aktiv ist, zur Generierung weiterer personbezogener Daten führen. Ein Abwehrrecht gegenüber der auf das Informationssystem zugreifenden Person gibt es nicht: „Nicht der Schutz der Persönlichkeit des Betroffenen ist entscheidend, sondern der abstrakte Begriff des personenbezogenen Datums“ (Wehage 2013, 104). Nach J.-C. Wehage gewährleisten die Transparenz- und Offenlegungspflichten der die Daten sammelnden und verarbeitenden Unternehmen jedoch nicht den weitreichenden grundrechtlichen Schutzanspruch der Privatsphäre. Im Vordergrund stehen Eigentumsrechte am informationstechnischen System.93 Ein weiteres Konfliktfeld des Persönlichkeitsschutzes bietet die ‚transitorische‘ Weitergabe von personbezogenen Daten des Internetnutzers von Unternehmen mit Firmensitz in Europa in die USA. Das bestehende Privacy-Shield-Abkommen hält der EuGH hinsichtlich der Datensicherheit für nicht vereinbar mit Unionsrecht. Davon betroffen sind u. a. Clouddienste, die Speicherplatz in den USA unterhalten. Wenn Daten aus der EU nicht in Drittländer ausgelagert werden dürfen, entsteht für Cloud-Anbieter ein wirtschaftliches und technisches Problem. Eine mangelnde Datensouveränität Europas würde auch unmittelbaren Einfluss auf den Schutz der Privatsphäre seiner Bürger haben. Dies vor allem auch, weil der amerikanische Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) den US-Geheimdiensten das Recht auf Durchforstung der Daten93
Zum Schwerpunkt Persönlichkeitsrecht vgl. Wehage 2013, 114–134.
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banken von Online-Diensten gewährt.94 Die Ursachen und Hintergründe, die E. Snowden dazu bewogen hatten, zum Whistleblower zu werden, sind nach wie vor nicht aus der Welt. Die amerikanische Geheimdienste verstehen ihren Sicherheitsauftrag nach wie vor als gegen die ganze Welt gerichtet. Der NSA-Skandal hat offenkundig gemacht, dass auch befreundete Regierungen, Staaten und deren Bürger vor digitalen Übergriffen und zeitlich unbegrenzter Datenspeicherung nicht sicher sein können.
3.2.3 Öffentlichkeit zwischen Staat und Gesellschaft Vor diesem Hintergrund ergeben sich weitreichende sozial- und rechtsphilosophische Fragen. Diese hängen eng mit dem Bild freier, souveräner und auf Selbstbestimmung ausgerichteter Bürger zusammen. In nur wenigen Staatsverfassungen finden sich Ansätze einer Positivierung eines Bildes des selbstbestimmten Bürgers.95 Vorherrschend sind dagegen bestimmte Nichteingriffsgarantien im Sinne negativer Freiheit. Das Menschenbild, das der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegt, besitzt daher einen gewissen Ausnahmecharakter.96 Der normative Rahmen des Staatshandelns fungiert sowohl als Grenzbestimmung dessen, was dem Staat gegenüber seinen Bürgern gewährt werden soll, als auch als allgemeine Zielbestimmung dessen, wofür er zu sorgen hat. Negatives und positives Freiheitsverständnis sind daher eng miteinander verbunden. Zum Verständnis dieser Unterscheidung bedarf es eines Rückgriffs auf die von dem Philosophen I. Berlin eingeführte Begriffsbestimmung. Die Unterscheidung negativer und positiver Freiheit prägt die philosophische Diskussion in Anlehnung an I. Berlins Antrittsvorlesung in Oxford ([1958]1969/1995, 197–256) nach wie vor. Negative Freiheit wird als Freiheit von Einschränkungen durch Staat und Regierung, positive Freiheit als staatlicher Eingriff in die Freiheit individuellen Handelns verstanden. Die Unterscheidung beider Freiheitsbegriffe hat in der politischen Philosophie zur strikten Abgrenzung
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95
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L. Hegemann, Was das EuGH-Urteil für Ihre Daten bedeutet. Zeit-Online, 16.07.2020. Abrufbar unter: https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2020–07/eu-us-privacy-shield-usa-daten-uebertragungunternehmen-facebook#worum-geht-es (01.08.2020). Die im Jahre 2020 nunmehr vor 100 Jahren verabschiedete österreichische Staatsverfassung sowie das Staatsgrundgesetz (StGG) regeln den Kompetenzaufbau der Staatsorgane, die Wahl- und Beteiligungsrechte der Bürger sowie elementare Grundrechte. Weitergehende grundrechtliche Entscheidungen werden vom BVG getroffen. Seit Beitritt zur EU (1.01.1995) werden Entscheidungen zu Grundrechten der EMRK angepasst sowie der EU-Charta der Menschenrechte seit deren Unterzeichnung und Verkündung im Jahre 2000. Die Charakteristika des Menschenbildes der Verfassung der BRD fast E. Denninger unter den Begriffen der Gemeinschaftsgebundenheit, Gemeinschaftsbezogenheit, Eigenständigkeit, Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung und sittlicher Autonomie zusammen (vgl. Denninger 1973, 19ff).
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3.2 Das Öffentliche und das Private
liberalistischer von interventionsorientierten Staatskonzepten beigetragen. Für I. Berlin beinhaltet der positive Freiheitsbegriff die Ermächtigung des Staates und der Regierung zu autoritären und doktrinären Eingriffen in die individuelle Entscheidungsfreiheit. Die Legitimation dafür kann sich unterschiedlichster Konzepte bedienen, seien es nun Nationalismus, Ideologien der Gerechtigkeit als Gleichheit oder die Idee einer allgemeinen menschlichen Vernunft, wie sie z. B. von Rousseau, Kant oder Fichte vertreten wird. Für I. Berlin bleibt der auf einer vermeintlich allgemeinen Vernunft basierende Rechtszwang immer auch Zwang gegen die Individualität der Person. Positive Freiheitskonzepte in diesem Verständnis bedrohen nach I. Berlin die Pluralität menschlicher Lebensformen und Werte. In der Diskussion seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu Liberalismus, Kommunitarismus und Sozialstaat wird die Begriffsbestimmung nicht in der von I. Berlin vorgegebenen Schärfe übernommen. Während der politische Liberalismus dem Staat nur minimale Eingriffsrechte in das Handeln seiner Bürger zubilligt, gesteht seine ökonomische Variante dem Staat die Wahrnehmung allgemeiner Ordnungsaufgaben zu, die die Handlungsfreiheit der wirtschaftlichen Akteure sichern sollen. Die Vertreter des positiven Freiheitsbegriffs dagegen sehen den Staat in der Verantwortung dafür, rechtliche und materielle Voraussetzungen zu schaffen, unter denen ein potenziertes selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird. Der zentrale Streitpunkt ist bis heute die im politischen Liberalismus im Anschluss an Kant (und später J. Rawls) betonte Rolle der autonomen Person in ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Das Leitbild eines weitgehenden Anspruchs auf unbeschränkte, freie Betätigung der Bürger in ihrer selbstbestimmten Lebensführung (negative Freiheit) steht nicht im Widerspruch zum staatlichen Gestaltungsauftrag, Bedingungen zu schaffen, die es allen Bürgern und Bürgerinnen erlauben, de facto gemäß diesem Leitbild leben zu können. Es hat ebenso Bedeutung für das Verhältnis der Bürger zu nicht-staatlichen Einrichtungen und Unternehmen sowie für das Verhältnis der Bürger als Private untereinander. Damit eröffnet sich ein Problemkreis, der im Verständnis negativer Freiheit drei Dimensionen der Personalität umfasst: a. Privatheit: die Verantwortung des Bürgers/der Bürgerin für seine/ihre informationelle Selbstbestimmung; b. Sozialität: die Verantwortung des Bürgers/der Bürgerin für seine/ihre eigenen Aktivitäten und Äußerungen in der Öffentlichkeit in allen ihren medialen Foren und Formen; c. Politik und Moral: die Verantwortung des Bürgers/der Bürgerin für das informationelle Geschehen in der Öffentlichkeit allgemein, deren Teil er/sie ist. Der letzte Aspekt bezieht sich auf die Gesellschaft als eines öffentlichen Raums politischer und ethisch-moralischer Willensbildung.
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Allgemein gesagt: Der Bürger/die Bürgerin wird zum Träger informationeller, publizistischer und politischer Verantwortung, unabhängig davon, ob er nun Akteur/Akteurin oder (passiver) Empfänger innerhalb der informationellen Systeme ist. Die relativ neue Öffentlichkeit des Internets stellt sich als ein privat-öffentlicher und damit politischer Raum dar, innerhalb dessen alles das in verstärkter und potenzierter Form wiederzufinden ist, was in der analogen Realität schon angelegt war. Die Idee, dass ‚jedes Publikum‘ (die Öffentlichkeit) sich schon selbst aufkläre, wenn die Obrigkeit auf Gängelung von Denken und Rede ihrer Bürger verzichte, stammt von Kant. Erst im Nachkriegseuropa nach 1945 hat sich die Idee von Öffentlichkeit im Verständnis einer von Zensur freien Presse zu voller Akzeptanz entwickelt hat. Etliche Skandale, die von einer mutigen Presse an die Öffentlichkeit gebracht werden konnten, haben dazu beigetragen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Einflussnahme der angelsächsischen Alliierten auf den Aufbau einer Nachkriegsordnung. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass ‚die‘ Öffentlichkeit der Deutschen kein Interesse an der offenen Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi-Zeit hatte. Die anglo-amerikanische Tradition freier Rede hat dabei zur Weiterentwicklung der Idee der Öffentlichkeit als eines politischen Mediums wesentlich beigetragen. Vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes (für wahlberechtigte Bürger) spielt der Gedanke der freien Meinungsäußerung im politischen Raum eine wesentliche Rolle, doch gleichzeitig haben die Theoretiker der Öffentlichkeit stets auf die Gefahr ihrer Instrumentalisierung hingewiesen. Die Diskursethik, die sich als Kern der kritischen Theorie durch einschlägige Arbeiten von J. Habermas in Deutschland besonders gut etablieren konnte, betont die Bedeutung von Öffentlichkeit als Raum verfahrensmäßiger Vernunft. Diese an Kant anknüpfende Idee der Selbstaufklärung des Publikums bedarf zu ihrer Realisierung einiger Voraussetzungen. Im Abschnitt zur Individualpsychologie der Integrität ist darauf genauer einzugehen. Die Gegenüberstellung von Staat und Öffentlichkeit suggeriert ein homogenes Bild von Öffentlichkeit, als kämen in dieser die Interessen des Wahlvolkes in mehr oder weniger direkter Weise zum Ausdruck. Die Vagheit des Begriffs trägt dazu bei, dass dieser für ganz unterschiedliche Projektionen offen ist. Nicht zuletzt ist es den Schriften des amerikanischen Philosophen John Dewey zu verdanken, dass der Begriff der Öffentlichkeit auch in der deutschen Diskussion in kritischer und konstruktiver Weise aufgenommen wurde. Daher soll auf dessen Grundideen später zusammenfassend Bezug genommen werden (unter 3.2.5, ii u. ff). Wenn man den Raum des Öffentlichen per se als Begegnungszone von Freien und Gleichen versteht, die um das beste Argument ringen, dann liegt dem die Vorstellung einer Trennung von Staatsbürger (citoyen) und Bürger im Sinne von bourgeois zugrunde. Letzterer Begriff bezieht sich auf den Bürger als Erwerbsbürger, der seine materiellen Interessen und persönlichen Ambitionen verfolgt; ersterer meint den Bürger als politisches Subjekt, das an der Erhaltung und Entwicklung des Staatsganzen ein eigenes Interesse hat und sich dementsprechend je nach Status und persönlichen Möglichkeiten engagiert. Habermas hat in seiner Arbeit zum Strukturwandel 112
3.2 Das Öffentliche und das Private
der Öffentlichkeit einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis der bürgerlichen Lebenswelt des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts geleistet, aus der heraus die Dimension des Politischen eine allgemeine und umfassende Form annimmt.97 Auch wenn geschichtswissenschaftlich viele Details der Entwicklung strittig sein mögen, so lässt sich doch eine generelle Linie erkennen: Partikulare Standesinteressen der spätfeudalen Gesellschaft treten gegenüber dem allgemeinen Staatsinteresse in den Hintergrund. Die preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind ohne diesen Vorlauf nicht zu denken. Die Sicherung des allgemeinen Staatswohls nimmt konkrete rechtliche Form in diversen Reformen an: das Ende der Leibeigenschaft, die Einführung allgemeiner Schulbildung und vom Staat erlassener Lehrpläne, die Gründung von Universitäten und die Einführung von Studiengängen auch zur Förderung technisch-wissenschaftlicher Bildung sowie die Bindung kirchlicher Ausbildungsstätten an staatliche Vorgaben. Partikulare Standesinteressen verschwinden nicht, aber sie verlieren ihre politische Dominanz, weil das Interesse an der Entwicklung des Handels, wirtschaftlicher Freiheiten und der auf kapitalistischer Warenproduktion beruhenden Industrialisierung der feudal-agrarischen Wirtschaftsform den Rang ablaufen. Gleichzeitig gewinnt der Raum der öffentlichen Meinung in den Salons der Literaten und Philosophen eine erste, wenn auch recht schwache vorinstitutionelle Form. Der Raum der Öffentlichkeit, geprägt von den Bildungsschichten und reformorientierter höherer Beamtenschaft im preußischen Staat, erscheint als Reich der Vernunft, die sich nun in die Niederungen der Politik einmischt und damit auch deren kritische Beziehung zur Moral reflektiert. Bettina v. Arnims ‚Brief an den König‘ (Dies Buch gehört dem König, 1843), in dem sie das Elend der Armen zum Gegenstand einer Anklage macht, mag als ein ganz besonderes Zeugnis dieser Entwicklung und als deren später Reflex in der Romantik gelten. Auf die Sphäre des Politischen bezogen, erweitert sich der Raum der Öffentlichkeit indes zunehmend auf jedermann, der sich, wie Kant es in seiner Aufklärungsschrift formuliert, als ‚Gelehrter‘ versteht. Und das ist jeder Mann und jede Frau, der/die sich des Selbstdenkens befleißigt und ein Verständnis von ‚Welt‘ als Ganzer anstrebt. Der Weltbürger/die Weltbürgerin betritt den Raum des Öffentlichen mit dem Anspruch, diesen mitzugestalten. Politik, Vernunft und Moral gehen ein enges Bündnis ein, wenn auch zunächst im äußerlich unbegrenzten Raum des Diskurses freier, vernunftbegabter Wesen. Das rousseausche Denkmotiv der harmonischen Verbindung von individueller Selbstbestimmung und allgemeiner Vernunft gewinnt in der Idee der Öffentlichkeit eine zunehmend konkrete und gleichzeitig normativ aufgeladene Gestalt. Wenn 97
Zu diesem Abschnitt vgl. Habermas ([1961] 5. Aufl. 1971), 127–144). In Faktizität und Geltung (Habermas 1992) betont Habermas die wachsende Rolle von machtorientierten Akteuren wie Parteien und Interessensverbänden. Bei gleichzeitiger Ausweitung des Einflusses der Massenmedien ergibt sich für ihn eine Aufspaltung der Öffentlichkeit in Akteure und Zuschauer (vgl. hierzu: ebd., 450–467). Man beachte, dass das Internet erst einige Jahre nach dieser Publikation aus der Taufe gehoben wird.
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heute von Öffentlichkeit als der Vierten Gewalt im Staat die Rede ist, dann sollten wir diese Entstehungsmotive im Blick behalten, denn diese Gewalt nur der Presse zuzusprechen, bedeutete eine politisch fatale Verkürzung der kritischen Idee von Öffentlichkeit. Der Habermas-Schüler R. Forst greift das radikale Verständnis von Öffentlichkeit in seiner Theorie der ‚allgemeinen Reziprozität‘ als Minimalnorm vernünftiger und freier Wesen wieder auf. Das Ziel seines primär rekonstruktiven Ansatzes ist es, die inneren Strukturen von Herrschafts- und Rechtfertigungsverhältnissen offenzulegen, nichtlegitimierte Herrschaft und Willkür zu begrenzen und auf diesem Wege Demokratisierung zu fördern.98 Es ist sicher nicht verkehrt, den normativen Anspruch des Öffentlichen zu stärken, der sich als prinzipielle Anerkennung der Vernunftfähigkeit der Bürger darstellt, der aber auf die Forderung nach vernünftigen Begründungen im konkreten Fall politischer Kontroversen nicht verzichtet. Daher ist die demokratische Gesellschaft auf effektive Maßnahmen zur Erziehung zur Demokratie angewiesen. Nun ist auch bei bester Erziehung der Begriff der politischen Vernunft nicht über einheitliche moralische Maßstäbe zu gewinnen. Die Einhegung eines verlorenen Paradieses der Werte scheint weder aussichtsreich noch wünschenswert. Die Tatsache, dass die Religionen für diesen Zweck wieder verstärkt in Anspruch genommen werden, sollte daher als eine Herausforderung an die Politik demokratischer Gesellschaften verstanden werden. Größte Differenzen tun sich schon beim Gerechtigkeitsbegriff auf, der sowohl politisch als auch moraltheoretisch zu unterschiedlichsten Konzeptionen anleiten kann. Eine vereinheitlichte Deutung wäre vermutlich sehr abstrakt und in der Anwendung für beliebige Interpretationen offen oder könnte nur autoritär durchgesetzt werden. Auch das Ausweichen in unerlässliche argumentative Bedingungen (z. B. ‚die allgemeine Reziprozität von Rechtfertigungsbeziehungen‘ bei R. Forst) kann nur formal befriedigen, weil dies prinzipientheoretisch zwar überzeugen mag, doch im Bereich des Politischen aus pragmatischen Gründen (wie z. B. Entscheidungsfristen) wenig realistisch ist.99 Rechtfertigungsprozesse können daher nicht unbefristet vorangetrieben werden. Auch der Verweis auf oberste gerichtliche Klärung kann hier nicht befriedigen, a) weil damit dem Anspruch des Politischen der Öffentlichkeit nicht voll gerecht werden würde, b) weil Grundsatzurteile vor dem Bundesverfassungsgericht häufig erst nach Jahren ergehen und c) weil diese darüber hin98 99
Vgl. hierzu: Forst (2015), bes. Kap. 9/10. R. Forst beschränkt das Reziprozitätsprinzip zunächst auf den moralischen Kontext: „So herrscht in moralischen Kontexten das Prinzip reziprok-allgemeiner Rechtfertigung als Prinzip der praktischen Vernunft“ (Forst 2015, 48). Mit der Metapher des normativen Knoten versucht Forst der Tatsache gerecht zu werden, dass Menschen in moralischen Fragen aus eigenen Wertbezügen und praktischen Präferenzen heraus anderen gegenübertreten müssen. Dies kann nur gelingen, wenn eine Haltung der Distanz zu den eigenen Interessen und denen der anderen eingenommen wird. Der Knoten muss also gelockert oder sogar geöffnet werden (vgl. hierzu: ebd., 49ff). Jenseits der Festlegung auf bestimmte moralphilosophische Ansätze kommt es also auf den Rückgriff auf metaethische Haltungen an, die nicht in einer spezifischen Moral, sondern in allgemeinen Konstituenten der Sozialität verankert sind.
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3.2 Das Öffentliche und das Private
aus kontrovers und revidierbar sind. Hinzukommt d) die territoriale Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern sowie e) zwischen nationalem Recht und EU-Recht.100 In der Demokratie sollte man sich stattdessen auch auf die Revidierbarkeit durch Derogation von Gesetzen verlassen können. Das aber heißt, die Pandora-Büchse der Machtverschiebungen immer wieder neu öffnen zu müssen. Dies wird für die Welt der Argumente im Raum der Öffentlichkeit nicht ohne Folge bleiben.101 Die politisch-pragmatische Betrachtung der Rolle der Öffentlichkeit soll an dieser Stelle aus oben genannten Gründen Vorrang erhalten. Diese etwas realistischere Vorgehensweise ist m. E. eher dazu geeignet, die realen Brüche und Spaltungen der politischen Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen. Dies ist deshalb für das Thema Integrität und Freiheit von Bedeutung, weil das Agieren von Individuen, Gruppen, Verbänden, Parteien und staatlichen Einrichtungen in diesem Raum mittelbare und unmittelbare Auswirkungen auf jede Person hat. Diese Auswirkungen können zum Positiven oder Negativen beitragen. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Bewertungen weit auseinander driften können. Selbst im Falle weitgehend einheitlicher moralischer Orientierungen scheitern Entscheidungsprozesse an der unterschiedlichen Handhabung von Kriterien der Lagebeurteilung sowie der uneinheitlichen Deutung von Parametern. Weder die pragmatischen noch die ethischen Relevanzordnungen können als definitiv gesichert gelten. Im ‚normalen Fluss der Gesellschaft‘ mag dies nicht ins Gewicht fallen. In politischen und gesellschaftlichen Krisen und zu Zeiten grundlegender Transformationen des politischen Systems steht jedoch der Zusammenhalt der Gesellschaft auf dem Spiel. Räume der Integrität
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In Zeiten der Corona-Krise lässt sich der Zeitdruck auf gerechte Entscheidungen, die pragmatische Lösungen verlangen, nicht übersehen. Wer zuerst geimpft werden soll, wie der Impfstoff verteilt wird u. s. w., für diese Fragen gibt es eine Fülle von Antworten, die auf unterschiedlichsten Gerechtigkeitsvorstellungen und pragmatischen Prioritäten basieren. Für deren ‚richtige‘ Lösung steht kein Richter bereit. Es bleibt bei Plausibilitätsentscheidungen, für die es mehr oder weniger starke Akzeptanz in der Öffentlichkeit gibt. Die Diskursebene von Talkshows kann Entscheidungen nicht ersetzen, die im Nachhinein immer angreifbar sind. Der Blick auf kommende Wahlen kann ebenfalls Entscheidungen fördern, die höchst problematisch sind. Es sprechen auch grundsätzliche Erwägungen dagegen, die empirischen Begründungsverfahren des Rechts rechtsphilosophisch auf den Begriff der Gerechtigkeit selbst anzuwenden. Dies hieße, den Streit um Gerechtigkeit seiner gesellschaftlichen Dimension zu berauben und die Paradoxie des Rechts zu verkennen, die darin besteht, dass Recht nicht-normative soziale Praxis und kontingente Entwicklungen der Gesellschaft durch rechtsförmige Regelungen zumindest vorläufig zu kodifizieren beansprucht. Rechtsphilosophisch kann das Problem des unrechten Rechts nicht wirklich gebannt werden. Die Rechtfertigung von Rechtfertigungsnarrativen, z. B. bei R. Forst, führt zur Einführung eines doppelten Standards für Rechtfertigungsanforderungen (vgl. Forst 2015, 66). Die Vermutung liegt nahe, dass die Anwendung des begründungstheoretisch überlegenen Standards in den Bereich der Rechtsphilosophie fällt, die der (empirischen) Rechtstheorie den Weg weist. Der Verfassungsrechtler A. Fischer-Lescano hat zu diesem von ihm als Hyper-Juridismus bezeichneten Ansatz eine ausführliche Kritik vorgelegt, die die politische Bedeutung des vorrechtlichen Bereichs betont. (Siehe hierzu: Fischer-Lescano, 2018).
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müssen neu abgesteckt und durchgesetzt werden. Das Trennende und das Verbindende erhalten je nach gesellschaftlicher Stimmungslage eine potenzierte Gestaltungsmacht, ganz unabhängig vom je konkreten politischen Inhalt einer Kontroverse. Die Trennung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, ‚politisch‘ und ‚unpolitisch‘ gerät dabei ins Wanken: Politische Konflikte stellen persönliche Bindungen in Familie und Freundschaft in Frage. Die Übergänge von politischer Gegnerschaft zu Feindschaft werden fließend. Im besten Fall herrschen ‚Waffenruhe‘ und ‚Abstandhalten‘, doch die Polarisierung kann bei Verschärfung der politischen Lage jederzeit zunehmen. Das ist dann die Stunde populistischer Kräfte, die den öffentlichen Raum für sich einnehmen wollen, aber es ist auch die Stunde souveräner ‚Köpfe‘, die sich der Tendenz zur Identitätspolitik verweigern. Im Kontext der Geschichte der Wiedervereinigung spielt die von Habermas jüngst in einem Zeitschriftenbeitrag vertretene These eine besondere Rolle, dass sich eine eigenständige Öffentlichkeit in der Nachwendezeit der DDR nicht hätte herausbilden können, weil Presse und Medien sehr schnell der Markmacht westdeutscher Presseorgane und der Übermacht westdeutscher Medienanstalten unterworfen werden konnten. Die Chance einer offenen Selbstverständigung über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der sich auflösenden DDR-Gesellschaft wäre damit vertan gewesen. Die daraus resultierenden „[…] Verwerfungen im politischen Verhältnis zwischen dem Westen und Osten Deutschlands […]“ (Habermas 2020, 47) hätten den rechtspopulistischen Entwicklungen im Osten Deutschlands Vorschub geleistet. Im Zusammenhang der hier allgemein gehaltenen Funktionsbestimmungen von Öffentlichkeit ist zu betonen, dass sich die Konstruktion von Öffentlichkeit(en) immer der Tatsache realer Friktionen und geschichtlicher, kultureller und struktureller Differenzen stellen muss. Das deutsche Ost-West-Verhältnis oder das Katalonien-Spanien-Verhältnis sind nur zwei von vielen aktuell möglichen Beispielen. Die Kontroverse selbst kann daher im besten Fall nur als Chance nachholender Selbstverständigung genutzt werden. Die Idee einer relativ ausgeglichenen Einheit der Öffentlichkeit sollte daher als politisches Regulativ aufgefasst werden, wenn nicht die Mechanismen von Ausschließung im Sinne der ‚Wir-Ihr-Unterscheidung‘ in Gang gesetzt werden sollen.
3.2.4 Die zivilisatorische Macht des Öffentlichen i) Differenzierung und Spaltung der Öffentlichkeit Der Raum des Öffentlichen als Reich der Vernunft qua Diskurs ist durch einige Beschränkungen und Hindernisse geprägt, die in der Sozialität selbst begründet sind. Zunächst sind wir jenseits aller bewussten Äußerungen, die wir an andere absichtsvoll adressieren, öffentliche Wesen. Un116
3.2 Das Öffentliche und das Private
sere Sprache ‚verrät‘ vielleicht unsere Herkunft, unsere Ambitionen oder unseren Bildungshintergrund. Wo und wie wir für andere sichtbar leben, macht uns auch öffentlich zugänglich. Wir leben z. B. in einer Siedlung von Familienheimen. Wie wir Haus und Garten gestalten, welche Automarke vor der Tür steht oder ob wir überhaupt eine Auto fahren oder eher mit dem Fahrrad unterwegs sind, wann wir aufstehen und aus dem Haus gehen, wie wir uns kleiden u. s. w., alles dies ist auch anderen bekannt. Wer seine Arbeit verliert oder erkrankt und daher seine Wohnung nicht mehr regelmäßig verlässt, wird gegebenenfalls verwundertes Interesse oder auch Anteilnahme seiner Nachbarschaft erfahren. Im Dorfleben ist dies alles noch offenkundiger, aber auch in der Mietswohnung in einem dicht bebauten Stadtquartier sind Personen unvermeidlich partiell öffentliche Wesen. Der politisch ambitionierten Öffentlichkeit, in der der Bürger nach klassischer Vorstellung zum engagierten ‚gleichen‘ Staatsbürger wird, liegt also eine sozial sehr diverse Öffentlichkeit des Privaten voraus, anhand derer wir uns nicht zuletzt als Individuen wahrnehmen und einordnen. Die Liste dessen, was aus unserer vermeintlich gut verschlossenen Privatheit nach außen dringt, kann ziemlich lang sein. Wer seinen Alltag auf die vielen möglichen Hinweise für andere auf die eigene Person durchmustert, wird erstaunt sein, wie öffentlich er sein Leben führt. Selbst der Postbote könnte sich bei genauem Studium der Briefumschläge, die er in den Kasten steckt, schon ein gewisses Bild von der Person und ihrer Familie machen. Hinzukommt, dass die zumindest im eigenen Umfeld vielleicht noch unterstellte kulturelle Homogenität nur selten de facto besteht, sodass Unterschiede der Individuen und Gruppen stärker ins Auge fallen. Die durch Migration ethnisch und religiös diversifizierten Gesellschaften schaffen in sich neue Öffentlichkeiten, die durch Sprache, religiöse Kleidungsvorschriften und Symbole sowie sehr unterschiedliche Gestaltung von Alltagsabläufen und Feiertagen zum Teil äußerlich erkennbar sind, zum Teil dem fremden Blick verborgen bleiben. Umso mehr stellt sich daher für viele Menschen die Frage der Selbstidentifikation, die in Ermangelung eigener personaler oder sozialer Ressourcen häufig durch nationalistische und fremdenfeindliche Einstellungen beantwortet wird. Die Spaltung in ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ wird in Politik- und Sozialwissenschaften als verhängnisvolle Entwicklung zu einer aggressiven Identitätspolitik gesehen, an deren Ende meist die Bestreitung von Menschen- und Bürgerrechten für Einwanderungsgruppen steht.102 Wahrscheinlich bewirkt diese Unvermeidlichkeit des Öffentlichen der Person, dass Mittel und Wege ersonnen werden müssen, wie diese umgangen oder aber für eigene Zwecke genutzt werden kann. Und darin offenbart sich der gesellschaftliche und politische Kern des Öffentlichkeitsproblems: 102
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist es nachvollziehbar, dass die Transnationalität von Einwanderungsgesellschaften und die Transnationalität der Öffentlichkeit im internationalen Raum zunehmend in den Blick gerät (vgl. Schmitt, Caroline/Vonderau A., Hrsg., 2014). Die Bedeutung nationaler Öffentlichkeit wird sich damit m. E. jedoch nicht erledigen, aber der Deutungsrahmen nationaler Politik wird sich erweitern.
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3 Rechtskonstellationen
Einerseits: Der öffentliche Raum ist immer auch Raum der Selbstdarstellung, d. h. er wird produktiv zur Erfüllung des Bedürfnisses genutzt, man selbst zu sein. In dieser personalen Hinsicht steht das Bedürfnis, als Individuum gesehen zu werden, im Vordergrund. Damit verbunden ist das Interesse an der Wahrung und Sicherung der Integrität und diese wird auch immer an dem Blick anderer gemessen, sofern die anderen als Mitmenschen, Lebenspartner, Verwandte, Kollegen oder öffentliche Meinung allgemein (Druckpresse, digitale Medien u. s. w.) von Bedeutung sind. Im digitalen Zeitalter haben sich die Kommunikationskanäle und die damit verbundenen öffentlichen Verhaltensweisen auf dramatische Weise vervielfacht, sodass der kontrollierte Überblick kaum noch gewahrt werden kann: Die personalen Spuren sind allgegenwärtig; sie zeugen von den Bedürfnissen, Gewohnheiten und Interessen der Person. Intelligente Software in der Hand von Spezialisten kann Rückschlüsse auf Gefühle und Überzeugungen ziehen und Voraussagen über zukünftige Verhaltensweisen treffen. Die gleichzeitig gewonnene Freiheit der fast unbegrenzten Kommunikation und Informationsbeschaffung kann auch zur Fessel werden, weil es immer schwerer wird, sich informationell auszuschließen: Verwaltungen und Unternehmen reagieren nur noch auf digitale Ansprache. Soweit die nur sehr verkürzte Bestandsaufnahme. Andererseits: Soweit wir uns als öffentliche Personen verstehen, kommt der potentiellen Öffentlichkeit unseres Tuns eine zivilisatorische Kraft zu, und dies nicht nur dort, wo der physische öffentliche Raum mit Überwachungskameras bestückt ist. Im öffentlichen Raum sind Privatsphäre und die politische Sphäre, in der wir uns gegenseitig als Bürger und Bürgerin einordnen, längst nicht mehr trennbar. Das Private wird politisch und das Politische wird privat. Dies geschieht jedoch nicht in der von Rousseau erhofften Verschmelzung des Selbstseins aus den Antrieben der Eigenliebe mit den Bedürfnissen der Gesellschaft und deren immer fremden Blick auf uns. Dies kann schon deshalb nicht möglich sein, weil der Raum des Öffentlichen, der die politischen Ambitionen der Individuen, Gruppen und politischen Vereinigungen aufnehmen muss, in sich vielfach politisch gebrochen ist. Eine Strukturierung dieses Raumes auf Grundlage eines allgemein geteilten Vernunftanspruchs an die Akteure ist schon deshalb nicht ohne Weiteres zu erwarten, weil das Bedürfnis nach Selbstexpression in der medial geprägten Welt der Aufmerksamkeitserzeugung sich mit der Erwartung unmittelbarer politischer Wirksamkeit verbindet. Dem homo publicus an sich zu unterstellen, er sei per se an (universeller) Gemeinschaftsbildung interessiert, übersieht die vielfachen Brechungen der Öffentlichkeit. Angemessener wäre es, von Öffentlichkeiten im Plural zu sprechen. Plural organisierte Öffentlichkeiten leben davon, sich an andere Öffentlichkeiten wenden zu können. Sie adressieren sich dabei natürlich auch immer selbst. Die Fiktion einer allgemeinen und universellen Öffentlichkeit mag dabei im Hintergrund eine Rolle spielen. Auch Kants Idee einer Moral in ‚weltbürgerlicher Absicht‘ ist heuristisch keinesfalls obsolet, doch bedarf jede politisch-moralische Absicht auch eines Adressaten im politischen Raum. Wo Öffentlichkeiten sich jedoch nur noch selbst 118
3.2 Das Öffentliche und das Private
adressieren, degeneriert die politische Kultur. Die Gefahr, dass Teilöffentlichkeiten sich als Repräsentation der Öffentlichkeit schlechthin auffassen, ist den Öffentlichkeiten von vornherein inhärent. Ihre Wahrnehmung durch die Politik basiert auf effektivem rhetorischen Einsatz der Moral, auch wenn es nur um partikulare Moralitäten geht. Solange Öffentlichkeiten sich jedoch nicht antagonistisch verhalten und unter dem Dach der weitgehend geteilten Moral Schutz suchen, kann man darin eine Chance des Wettbewerbs der Meinungen sehen. Dabei sollte der Unterschied von Polarisierung und Antagonismus genauestens im Blick behalten werden. Dies fällt allerdings umso schwerer, als die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit Teil einer Strategie zur Erzeugung von Medienpräsenz darstellt. Die Sphäre des Öffentlichen ist immer auch Bühne der ehrlichen oder vorgespielten Erregung. Sobald aber der Alleinvertretungsanspruch von Öffentlichkeit behauptet wird, steht der gesellschaftliche Zusammenhalt auf dem Spiel. Der Meinungsforschung, von einer Vielzahl von Instituten zu allen Fragen des öffentlichen Lebens betrieben, kommt daher eine relativierende Bedeutung zu. Wenn also der Raum des Öffentlichen als in sich politisch strukturiert vorgestellt werden muss und wenn es zutrifft, dass dieser Raum allen Individuen, den assoziierten wie den nicht assoziierten, zugänglich ist bzw. sein sollte, dann kommt diesem Raum ein zivilisatorischer Auftrag zu: Er muss die Gleichheit aller in ihm Aktiven als normativ höchstes Gut anerkennen und einfordern und sicherstellen, unabhängig von institutioneller, persönlicher oder wirtschaftlicher Macht. Dabei ist es unverzichtbar, Gleichheit nicht als normativ gegeben, sondern als faktisch zu sichernde wechselseitige ‚Waffengleichheit‘ der in einer öffentlichen Kontroverse involvierten Personen zu verstehen und durchzusetzen. Das Thema der Gleichheit kann also nicht mit Hinweis auf die rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien als erledigt gelten. Autoritäre Staaten verweisen gerne auf solche ‚Garantien‘, während sie gleichzeitig die Bildung freier Assoziationen ihrer Bürger mit der Begründung der gefährdeten Sicherheit des Staates unterbinden und einen Kordon der Angst errichten. Dabei spielt die staatlich organisierte Öffentlichkeit die besondere Rolle, gegen jedwede Teilöffentlichkeit mit bürgerrechtlichen Anliegen in Stellung gebracht zu werden. Proteste gegen staatlich organisierten Wahlbetrug sind natürlich besonders unerwünscht, wie sich jüngst wieder in Belarus zeigte. Die Frage, ob staatlich organisierte Öffentlichkeit, wie z. B. Massenaufmärsche in der NaziZeit, als Öffentlichkeit gelten können, ist insofern schon obsolet, als solche Veranstaltungen dazu dienen, den Bürger seiner Privatheit zu berauben und zu einem Staatszweck zu instrumentalisieren. Die angestrebte Versammlung der Gleichen als organisierter Ausdruck eines Staatswillens beraubt diese ihrer Freiheit und Privatsphäre. Uniformierung zeigt sich nicht immer nur an der Kleidung, sondern vor allem im Geiste. Unter diesem Aspekt erhält die Integrität des Bürgers als Staatsbürger eine ganz besondere Bedeutung: Integrität bedeutet hier vor allem die Unvertretbarkeit der Person, ihres Willens und ihrer Ziele durch andere, seien dies Personen oder Institutionen. Wo Individuen ihre Selbstvertretung abgeben und sich nur noch durch Iden119
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tifikation eine Meinung bilden, wird Zugehörigkeit, ob diese nun faktisch oder nur imaginär gelebt wird, zur Fessel des eigenen Denkens. Das mag entlastend sein, oder wie die Systemtheorie es anspruchsvoller formuliert, ‚komplexitätsreduzierend‘; der Verantwortung für sich selbst kann ein derartiges Verhalten jedoch nicht entheben.
ii) Die innere Dynamik der Öffentlichkeit und die Rolle des Subjekts Demokratien lassen sich konsens- und konflikttheoretisch betrachten. Sich auf nur eine Seite der Betrachtung zu stellen und daraus Lob oder Kritik der Demokratie abzuleiten, wäre nicht sehr originell. Da es um Integrität geht, geht es auch um die Leistungsfähigkeit des Subjekts, sich in unübersichtlichen Entwicklungen und Situationen der Gesellschaft zurechtzufinden, überhaupt weiterleben zu wollen und Entscheidungen für sich und andere zu treffen, die nicht immer bequem und häufig auch schmerzhaft sind. Integrität spielt als Herausforderung an die Person wahrscheinlich dann eine recht geringe Rolle, wenn das Leben im ruhigen Fluss dahin geht. Es sind auch Situationen denkbar, die zu der Entscheidung führen, nicht mehr leben zu wollen, weil die Bedingungen unerträglich werden und die Integrität der Person auf dem Spiel steht, doch solche Fälle sollen an dieser Stelle zunächst nicht in Betracht kommen. Dafür vorbehalten ist der Abschnitt zur Vulnerabilität und Resilienz im Kap. 4 (4.2.3). Der Philosoph und Pädagoge J. Dewey hat die Herausforderungen der Demokratie durchgängig mit Blick auf das Individuum und die Gesellschaft in deren innerer Verschränkung betrachtet. Einige inspirierende Gedanken zum Thema Öffentlichkeit können an dieser Stelle auch den Blick auf die personale Integrität schärfen. Wie im Abschnitt 2.2.1 zum Begriff der Zugehörigkeit ausgeführt wurde, sind die Spiegel, in denen sich das Individuum erfasst und ohne die es keinen Begriff von sich selbst entwickeln könnte, schon kulturell aufgestellt. Das Öffentliche ist in seinem Urstadium von Familie und Gruppe als Sphäre der Selbstreflexion unmittelbar wirksam, d. h. es gibt hier keine Wahlmöglichkeit. Die sukzessive Ausweitung und Vertiefung dieser Sphäre macht den zum Erwachsenen reifenden Menschen zum Teilnehmer einer vielfach in sich gebrochenen Welt. Diese kann nicht mehr in den rein subjektiven Schemata erfasst werden, wie dies dem Kind in der magischen Phase des Denkens noch möglich erscheint. Reste des magischen Denkens finden sich freilich noch reichlich im Illusionismus von Erwachsenen, die die egozentrische Phase noch nicht überwunden haben. Im Bereich des Politischen breitet sich dieser Illusionismus immer wieder aus und gebiert Phantasmen utopischer oder dystopischer Art. Er wird dann gefährlich, wenn er eine breite Anhängerschaft findet, die nach Repräsentanz oder gar Hegemonie in der Gesellschaft strebt. Das verführerische Ziel der ‚Großen Gemeinschaft‘ wird dann der unübersichtlichen ‚Großen Gesellschaft‘ als kollektives Phantasma gegenübergestellt, wie Dewey mit Blick auf die amerikanische Politik der 20er Jahre des 20. Jahr120
3.2 Das Öffentliche und das Private
hunderts kritisch feststellt. Dass diese Illusion einer durch Ausgrenzung und Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen und durch Anstachelung nationalistischer Affekte formierten ‚großen Gemeinschaft‘ in der jüngsten Vergangenheit der amerikanischen Politik wiedererstehen konnte, ist mehr als beunruhigend. Die Ausstrahlung auf populistische Strömungen weltweit könnte die Strukturen einer bislang sehr schwach entwickelten Weltöffentlichkeit gefährden. Anhaltende Angriffe auf internationale Organisationen und Programme der UN bestätigen diese Befürchtung. Personale Integrität gerät unter diesen Bedingungen unter erheblichen Druck und es verwundert nicht, dass führende Regierungsmitglieder, politische Beamte, Experten aller Art, Richter und höhere Beamte aus dem Karussel der Macht geworfen werden, sofern sie sich den schnell wechselnden Imperativen der exekutiven Gewalt beugen. Dass diese Entwicklungen nicht nur singulär mit dem Ex-Präsidenten der USA verbunden waren, sondern zum ‚Markenzeichen‘ populistischer Bewegungen geworden sind, sollte politisch weiterhin beunruhigen. Die Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die sich um jeden Preis mit der Macht identifizieren, und diejenigen, die sich mit dem Leiden der Gesellschaft an Ungerechtigkeit, Korruption, Täuschung und Willkür identifizieren, wird zum Hemmnis für konstruktive Veränderungen. Es bleibt dann nur die Hoffnung auf die nächsten Wahlen, sofern diese unter demokratischen Voraussetzungen stattfinden können. Autokratische Systeme machen jedoch auch dieses Fünkchen Hoffnung zunichte, weil es ihnen nur um formelle Legitimation der Herrschaft, aber nicht um eine nennenswerte Repräsentanz der politischen Öffentlichkeit geht. Der jederzeit mögliche Umschlag von Macht in Gewalt gegen jede sich formierende Öffentlichkeit garantiert Stabilität auf gewisse Zeit. Die Idee der politischen Selbstvertretung der Bürger und Bürgerinnen stirbt unter Polizeiknüppeln. Eine ganze Region arabischer islamischer Staaten hat dies nach dem hoffnungsvollen Aufbruch des ‚Arabischen Frühlings‘ zu spüren bekommen.103 Doch auch mitten in Europa muss eine von demokratischen Idealen inspirierte Öffentlichkeit unter größten persönlichen Risiken gegen die staatliche Inszenierung von Macht und Gewalt antreten und befürchten, dass ‚der große Bruder‘ Russland aus kommunistischen Urzeiten der geostrategischen Partnerregierung von Belarus militärisch gegen dessen eigene Bevölkerung unter die Arme greift.
iii) Bruchlinien des Politischen im öffentlichen Raum Die benannten Spaltungen der Sphäre der Öffentlichkeit sollten nicht zu der Auffassung verleiten, dass die Öffentlichkeit ihrem Anspruch nicht genügt. Es könnte sein, dass das Konzept einer auf Bildung und Vernunft aufgebauten Sphäre konzeptionell so überlastet wurde, dass 103
Im Kap. 5) werde ich die Diskussion von Macht und Gewalt in ihrem Verhältnis zur Integrität aufnehmen.
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die faktischen Leistungen des Öffentlichen an einem zu hohen Ideal gemessen werden. Ob dieses Ideal in der bürgerlichen Welt der Salons des 18./19. Jahrhunderts tatsächlich diese herausragende Bedeutung besaß, sei hier einmal dahingestellt. Für heutige Verhältnisse müssen wir davon ausgehen, dass plural organisierte Öffentlichkeiten sich im Fluss befinden und nicht an einmalig fixierten und institutionalisierten Strukturen orientieren. Die rechtliche Gewährleistung von Pressefreiheit und von politischer und anderweitiger Zensur freien Medien ist eine Grundbedingung funktionierender institutioneller Öffentlichkeit. Diese reicht natürlich nicht aus, denn die privaten Medien sind ökonomisch aufgestellt und müssen sich daher am Markt behaupten. Die Konzentration von Medienmacht und die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen stellen eine Bedrohung für kleinere Presseorgane und Medien allgemein dar, die häufig mit sehr überschaubaren Redaktionen, Honorarkräften und mäßigen Gehältern auskommen müssen. Eine öffentlich-rechtlich gesicherte Berichterstattung und Programmgestaltung wiederum, wie wir diese in Deutschland kennen, muss sich sowohl auf einen durchschnittlichen Geschmack der Beitragszahler als auch auf die Bedürfnisse besonderer Gruppen einstellen. Eine Infantilisierung der Öffentlichkeit im Kampf um Aufmerksamkeit kann daher nie ausgeschlossen werden, aber damit muss eine Gesellschaft leben können, die nicht zum Wächterstaat werden will. Die nach politisch-gesellschaftlichem Proporz zusammengesetzten Presseräte gewährleisten hier einen gewissen Ausgleich in dem Maße, wie sie auch gesellschaftliche Diskussionen aufnehmen und dem Grundsatz der Kontroversität alles Öffentlichen verpflichtet sind. Die hier notwendige Balance ist ihrerseits mehr oder weniger Ergebnis eines Meinungsstreits, an dem Öffentlichkeit in allen ihren Formen teilhaben kann. Und dazu gehört auch eine Protestkultur, die sich als Gegenkultur versteht, verbunden mit Anliegen, die in der öffentlichen Wahrnehmung möglicherweise unterrepräsentiert sind. Da es hier nicht um eine soziologische Studie der Öffentlichkeit geht, soll es bei diesem allgemeinen Überblick bleiben. Es steht die personale Integrität im öffentlichen Raum zur Diskussion. Der selbstverständliche Grundsatz lebendiger Demokratien ist der der Förderung der Mündigkeit ihrer Bürger. Das scheint ein trivialer Anspruch, doch so selbstverständlich ist dieser nicht. Der Gleichheitsgrundsatz der Verfassung ist normativ zu verstehen, indes sind die empirischen Bedingungen der Erfüllung dieses Grundsatzes an nicht-rechtliche Voraussetzungen gebunden. Diese finden wir z. B. in der mehr oder weniger effektiven Gestaltung der Erziehung und Bildung sowie der Ausbildung, einschließlich eines auf Eigenwahl beruhenden Zugangs zum Berufsleben, die – so die theoretische Unterstellung – ein wesentliche Bedingungen eines selbstbestimmten Leben darstellen. In der Sorge um sich selbst ist die Person so einerseits auf Selbstkenntnis und Zielstrebigkeit angewiesen und andererseits auf eine Orientierungsfähigkeit innerhalb der Vorgaben der Gesellschaft. Da diese Vorgaben der sozialen und politischen Gestaltung unterliegen, ist die Selbstsorge auch immer Teil einer Sorge für das Ganze, an der das Individuum selbst teilhat in dem Maße, das seine persönlichen Interessen, seine Zeit und seine 122
3.2 Das Öffentliche und das Private
Energie zulassen. Dieses Interesse wird häufig erst dann erweckt, wenn es um Fragen der eigenen Zukunft, die der Kinder und Enkelkinder geht, wenn Selbstverständliches des gewohnten Lebens unter Druck gerät und Unsicherheiten zunehmen. Der kritische Punkt im subjektiven Bewusstsein ist dabei der grundsätzliche Konflikt, in den das Denken gerät. Zwei Varianten der Konflikaustragung kommen dabei in Betracht: 1. Die Suche nach Lösungen sollte sich am Besten in das schon Bestehende und Bewährte einpassen und möglichst wenig an Gewohnheiten rütteln. 2. Die erforderlichen Veränderungen sind so umfassend, dass eine grundsätzliche Um- oder Neuorientierung erforderlich ist. Diese kann entweder angenommen oder verweigert werden. Der Modus der Bewährung wird aktiviert oder ausgesetzt. Politisch ist die jeweils gewählte Haltung insofern von Bedeutung, als im Raum des Politischen Kräfte aktiv sein werden, die jeweils eine dieser Entscheidungslinien bevorzugen und stärken. Der eigene Konflikt kann dann zumindest vorübergehend durch Identifikation mit Parteien und Bewegungen im politischen Raum der Öffentlichkeit gelöst werden. Wo indes die ideologischen Positionen weit auseinander klaffen, sind Kompromisse kaum möglich. Dies kann so weit gehen, dass die geteilte Sprache, und hier besonders die politischen und ethischen Grundbegriffe des sozialen Lebens, nicht mehr der reibungslosen Verständigung dienen. Der Appell an Vernunft geht dann ins Leere, weil der gemeinsame Boden (common ground) der Argumentation erodiert und die Gesellschaft nur noch in identitäre Grüppchen zerfällt, die ihre politischen Deutungen aggressiv und unversöhnlich den Deutungen anderer entgegenstellen?104 Das Verhältnis von Macht und Gewalt bekommt unter diesen Bedingungen eine besondere Brisanz, worauf im Kap. 5) zurückzukommen ist.
104
Der amerikanische Philosoph F. Fukuyama betont In seinem neuerem Werk Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet die Gefahren der Auflösung liberaler Demokratien und der Faszination autokratisch durchgesetzter nationalistischer Einheit, wie diese in rechtspopulistischen Bewegungen zum Ausdruck kommt. (Siehe hierzu: Fukuyama 2018/2020, 168–192). Ob nun der von Fukuyama von Aristoteles und Hegel entlehnte Begriff der MegaIothymia (Überlegenheitsstreben) eine ausreichende politologische Erklärung für diverse Anerkennungskämpfe der Gegenwart bietet, sei hier dahingestellt. In einer analytisch sehr klaren Form gehen S. Levitsky/D. Ziblatt in ihrem Buch Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können der Frage des Überlebens der Demokratie in Zeiten der innergesellschaftliche Konfrontation und der Aushöhlung der amerikanischen Verfassung nach. Besonders lesenswert sind auch die Vergleiche der USA (während der Regierungszeit Trumps) mit Umstürzen gegen die Demokratie in anderen Ländern. (Siehe hierzu: S. Levitsky/D. Ziblatt 2018, 115–138).
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iv) Integrität: Identität und Sprachpolitik Die innere Ordnung des Selbst und seine Widerstandskraft gegen suggestive Überformungen des Denkens hängen wesentlich von dem Verhältnis der Person zur äußeren, erlernten und im öffentlichen Gebrauch genutzten Sprache und von dem Gespräch mit sich selbst ab. Da unsere Zugehörigkeiten mit zunehmender Reife zu einem gewissen Teil Wahlzugehörigkeiten sind, sind wir auch in dieser Hinsicht nicht durch unsere Sprache gefesselt. Öffentlichkeit beinhaltet auch die Freiheit der Wahl, in welche Sprachwelten wir probeweise oder auch dauerhaft eintauchen wollen. Mit diesem Eintauchen ist im positiven Fall inneres Wachstum verbunden, sofern ich die selbst entscheidende, integre Person bleibe, die sich dem ggf. auf mich ausgeübten Druck zur ‚Abschließung‘ gegen andere Sprachen, Sprech- und Lebensweisen entgegenstellt. Integrität bedarf also einer Souveränität über das eigene Sprechen. Wo wir dieser Souveränität in unserem Gegenüber nicht vertrauen können, können wir auch nicht sicher sein, es mit – im Bild gesprochen – Robotern oder hochartifiziellen Marionetten zu tun zu haben. Es lohnt sich, unsere Mitwelt einmal unter diesem Verdacht im Rahmen eines Gedankenexperiments zu betrachten. Viele Gespräche würden wir dann möglicherweise gar nicht führen wollen, weil wir uns das Ergebnis schon im Vorhinein ausmalen können. Im Gespräch mit uns selbst ordnen wir unser Denken und bereiten uns ggf. auch auf Gespräche mit anderen vor. An einem Bewerbungsgespräch mag dies besonders deutlich werden, denn dabei präsentieren wir uns, unsere Fähigkeiten und Interessen in einer für andere nachvollziehbaren und möglichst überzeugenden Form, die uns als klar denkende Wesen, offene Charaktere und emotional verlässliche Kollegen und Kolleginnen erscheinen lässt. Das mag etwas artifiziell und wenig alltäglich klingen, es darf allerdings nicht als kompletter Schein missverstanden werden, auch wenn in einer derartigen Situation die besseren Seiten vielleicht etwas überbetont werden. Verwunderlich ist es allerdings, dass diese Fähigkeiten der Selbstpräsentation, die im Erscheinungsbild eines selbstverantwortlichen Menschen in einer komplex organisierten Gesellschaft resultiert, vielen Menschen im öffentlichen Raum der politischen Diskussion mit anderen nicht zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen des Philosophen R. Dworkin von weiterführender Bedeutung. Unter der Fragestellung Wie ist Uneinigkeit möglich? nimmt er sich der politischen und ethischen Begriffe an, die immer wieder zu großer öffentlicher Verwirrung beitragen. Begriffe wie Gerechtigkeit, Legitimität, Täuschung und Grausamkeit, dies werden viele Teilnehmer politischer Diskussionen schon erfahren haben, führen zu Grundsatzstreitigkeiten, aus denen auch die schönsten Definitionen nicht heraushelfen.105
105
Siehe dazu: R. Dworkin (2011/2012), Kap. 8, 268–320.
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3.2 Das Öffentliche und das Private
Kann man deshalb davon ausgehen, dass diese Begriffe sämtlich relativ sind und daher nicht gegen völlig subjektive Auslegungen gesichert? Ohne Zweifel sind sie interpretationsbedürftig. Was Lexika dazu sagen, mag eine grobe Orientierung geben, doch strittig ist ja deren Gebrauch im politischen und ethischen Kontext. Dworkin nennt diese Begriffe deshalb auch ,interpretativ‘. Andere Begriffsarten, z. B., wenn von Bäumen die Rede ist, beziehen sich auf natürliche Arten und können daher in recht eindeutiger Weise genutzt werden. Der Umgang mit Begriffen dieser Art hängt von Kriterien ab, die eine gewisse Stabilität aufweisen. Wenn unklar ist, ob es sich bei einem gegebenen Exemplar um einen Strauch oder einen Baum handelt, dann müssen wir uns entsprechend kundig machen. Wir nutzen also Kriterien zur Herstellung von Eindeutigkeit. Wo diese nicht offensichtlich sind oder im Falle von uneindeutigen Neuentdeckungen beziehen wir uns weiterhin auf Kriterien, auch wenn wir diese möglicherweise neu anordnen oder erweitern müssen. Wenn ich hingegen mit einer anderen Person über Gerechtigkeit streite, dann stehen unabhängige Kriterien nicht zur Verfügung. Wir müssen dann in Fallbeurteilungen eintreten und uns der Klarheit und Widerspruchsfreiheit unserer Definitionen versichern. Willkürliche Umdeutungen, wie G. Orwell sie in seinem Roman 1984 vorführt, wenn das ‚Ministerium der Liebe‘ für Vernichtung Oppositioneller steht. In einer solchen Welt würde sich niemand mehr zurechtfinden, auch wenn es gelänge, alle Texte und Sprechweisen nach diesem Muster zu kodieren. Das Netzwerk unseres Denkens bedarf einer gewissen Verlässlichkeit der Sprache. Jede selektionistische Sprachpolitik, die ein bestimmtes Denken erzwingen will, kann dies nicht im Namen der Befreiung vorbringen, weil sie den Zusammenhang des öffentlichen freien Sprechens zerstören will, an dem teilzunehmen jeder Person freistehen muss. Nicht zufällig erfolgt der Versuch der Umdeutung der Begriffe zunächst in den geschlossenen Räumen von Parteiversammlungen als rituelle Einübung, um später in größeren Kontexten erprobt zu werden. Dies gelingt dann umso leichter, wenn die Sprachpolitik mit Vorurteilen und Feindbildern verbunden wird. Jede Art der Selbstvergewisserung bedarf eines Gegenübers. Eine Selbstvergewisserung dagegen, die des Gegenübers im Zerrbild des Feindes bedarf, bemäntelt nur die eigene Schwäche, die auf diese Weise in offenkundiger Weise fixiert wird. Eine besondere Beachtung verdient dabei das Framing. Mit diesem Begriff, der sich als Rahmung übersetzen lässt, ist gemeint, dass bestimmte Wörter und Begriffe mit bestimmten Einstellungen, die ich bevorzuge oder ablehne, in Verbindung stehen und eine reaktive Haltung hervorrufen, die nicht unter meiner vollen Kontrolle steht. Dieser Vorgang unterhalb der Schwelle der rationalen Prüfung von Argumenten wird in der Werbung und politischen Rede genutzt, um Identifikationen zu erzeugen, die auf Grundlage affektiver Zustimmung oder Ablehnung beruhen. Neuerdings wird den sog. Main-Stream-Massenmedien von populistischen Kräften gerne ein Framing in täuschender Absicht unterstellt, um deren angebliche Voreingenommenheit aufzudecken. Der Begriff des Framing lässt sich dabei so weit ausdehnen, dass dieser jede 125
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Aussage mit implizitem Wertbezug als Manipulation kennzeichnet. Der rhetorische Einsatz des Framing-Begriffs ist jedoch selbst ein Framing, welches der Herabsetzung anderer Meinungen dient.
v) Die Verlockung der ‚Großen Gemeinschaft‘ Es scheint ein großes Bedürfnis zu geben, Öffentlichkeit als relativ homogenen Raum zu denken, der die Idee der Gemeinschaft mit der Idee von Demokratie aufs Engste assoziiert. Die Frage, wie die ‚Große Gesellschaft‘ zur ‚Großen Gemeinschaft‘ werden kann, hat den Philosophen John Dewey vor fast einem Jahrhundert in seiner mehrere Teilbereiche des Öffentlichen behandelnden Schrift The Public and its Problems (1927)106 für die sich herausbildende Massendemokratie in den USA untersucht. Mit William James gehört Dewey zu den Begründern der Philosophie des Pragmatismus, die die Sozialität des Menschen ausgehend von der gemeinsamen organisierten Tätigkeit analysiert. Ähnlich wie Rousseau sieht er nicht die Summe der Tätigkeiten der Individuen allein als ausreichend für die Konstitution von Gemeinschaft an, wenn er ausführt: „Denn für Wesen, die beobachten und denken, und deren Ideen von Trieben beherrscht und zu Gesinnungen und Interessen werden, ist das ‚Wir‘ ebenso unvermeidlich wie das ‚Ich‘. Aber das ‚Wir‘ und das ‚Unser‘ gibt es nur, wenn die Folgen verbundenen Handelns wahrgenommen werden, genau wie ‚Ich‘ und ‚Mein‘ erst auftauchen, wenn ein besonderer Anteil am wechselseitigen Handeln behauptet oder beansprucht wird. Menschliche Assoziationen mögen ihrem Ursprung nach noch so organisch und in ihrem Wirken noch so beständig sein, sie entwickeln sich erst zu menschlichen Gesellschaften in einem menschlichen Sinne, wenn ihre Folgen, so sie bekannt sind, geschätzt und angestrebt werden“ (ebd., 131).
Für Dewey ist die Kommunikation als Austausch von Symbolen der Schlüssel der Gemeinschaftsbildung. Erziehung und Bildung sind die Mittel der Gesellschaft, die die Transformation vom rein Gesellschaftlichen als Raum individueller Interessen hin zur Gemeinschaft zu leisten haben. Ganz im Sinne der Psychologie von W. James sieht Dewey das stabilisierende Element der Gesellschaft in den Gewohnheiten, wobei er die höheren kognitiven Fähigkeiten der Kultur, das Beobachten und Reflektieren neben dem Begehren in das System der Gewohnheiten einbezieht. Gewohnheiten sind also keineswegs im Sinne einer habituellen Abstumpfung zu deuten, sondern als Ressourcen und Stabilisatoren des Handelns, in deren ‚Zwischenräumen‘ sich das 106
J. Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme ([1927] 1996).
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3.2 Das Öffentliche und das Private
Denken abspielt. Ohne diese Zwischenräume wäre Veränderung nach Dewey nicht vorstellbar. Daraus ergibt sich ein Verständnis von Freiheit nicht als Zustand, „[…] sondern [als] ein Akt, der Methoden und Mittel zur Kontrolle von Bedingungen einschließt“ (ebd., 143). Gemeinschaft bleibt für Dewey daher immer ein Auftrag an die Gesellschaft, den er in erster Linie als pädagogisch versteht, jedoch nicht als ideale oder transzendente Voraussetzung von Sozialität. Natürlich erübrigen sich mit diesem Zugang zur Freiheitsfrage nicht alle Probleme des Freiheitsdenkens in der politischen Philosophie und schon gar nicht in der Metaphysik, zumal die Rede von den Zwischenräumen doch allzu metaphorisch klingt. Schon wenn man stattdessen den Begriff der Spielräume verwendet, eröffnen sich weitere spekulative Möglichkeiten, Freiheit auch praktisch zu denken. In einem wörtlichen Sinne bestehen Spielräume vor allem im Bereich des Kulturellen, weshalb die Kontrolle von Kultur und Erziehung zur Grundausstattung autoritärer Regime gehört.107 Die Frage nach unserer Identität und Integrität in einer gegebenen Gesellschaft und in einem politischen System lässt sich aber auch nicht mit Blick auf diese oder jene Spielräume erledigen, wie groß oder klein diese auch sein mögen. Wir müssen das Konzept von Freiheit mit unserem Selbst auf eine allgemeinere Weise derart verbinden, dass wir eine individuelle Haltung zu ‚unserer‘ gegebenen Gesellschaft und deren politischem Handlungsraum einnehmen. Diese Haltung lässt vielfältige Varianten zu und diese richten sich nach dem Ausmaß und der Art und Weise, in denen wir die Bedingungen unseres eigenen Lebens zu kontrollieren beanspruchen. Öffentlichkeit ist daher der genuine Raum der Entfaltung des Denkens, Kommunizierens und Handelns von Bürgern und Bürgerinnen, die den Anspruch der Gestaltung des Politischen an sich stellen. Wo dieser Raum überwacht, autoritär eingeschränkt und mit den Mitteln der Macht zu einem Terrain der Manipulation und Angsterzeugung deformiert wird, können weder individuelle Freiheit noch demokratische Willensbildung durchgesetzt werden. Die Zwischen- und Spielräume des Handelns werden in derartigen Situationen nicht ausreichen, um eigentlich selbstverständliche bürgerliche Freiheiten zu leben. Nur wenige Jahre vor Deweys Essays zur Öffentlichkeit ist in Deutschland Plessner Schrift Grenzen der Gemeinschaft: eine Kritik des sozialen Radikalismus ([1924] Neuauflage 2002) erschienen. Plessner hat vor allem gegen F. Tönnies’ Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft ([1887] 2012) Stellung bezogen. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die pathetische Überhöhung des Gemeinschaftsgedankens in der Jugendbewegung und im Kommunismus. Er sieht in der Gemeinschaftssehnsucht auf der Seite der Intelligenz illusionäre Züge des deutschen Idealismus wiedererstehen und auf der Seite der Arbeiterbewegung eine Verweigerung gegenüber der technologisch und in ihren sozialen Verwerfungen bedrohlichen Moderne. Seine Kritik an einer überhöhten und gleichzeitig regressiven Gemeinschaftsideologie konnte er mit guten Gründen in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland erneuern. Für die Gegenwart ließen 107
Im Kap. 5) Abschnitt 5.4.3 gehe ich näher auf dieses Thema ein.
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3 Rechtskonstellationen
sich Plessners Vorbehalte problemlos adaptieren. Die Grundstimmung des ‚Wir sind ein Volk‘ von 1989 offenbart sich in den Debatten auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung als eine schwer einlösbare Steigerung der Erwartungen, weil übersehen wird, dass Gesellschaften auf den je besonderen Konfigurationsbedingungen von Biografien aufbauen. Diese konnten gar nicht gegensätzlicher sein als auf den Territorien von DDR und BRD. Welche Spätwirkungen die überwundene Teilung haben wird, obliegt der politischen Gestaltung durch die nachfolgenden Generationen. Fragen der Herkunft werden zunehmend zu Fragen der Gerechtigkeit. Die heutigen ‚Das Ich im Wir‘-Debatten stellen wichtige Gerechtigkeitsthemen heraus, ihre Prämissen bedürfen allerdings einer kritischen Prüfung. Dewey und Plessner sind sich in ihrer fast zeitgleich publizierten Kritik der ‚Großen Gemeinschaft‘ sehr nahe. Dewey kommt jedoch ohne starke anthropologische Vorannahmen aus. Für ihn stehen die Fragen der Integration einer auf Einwanderung gebauten Gesellschaft im Vordergrund. Religiöse Überzeugungen, nationale und ethnische Herkunft sowie eine mögliche politische Polarisierung der Parteien, wie sie im Amerikanischen Bürgerkrieg stattfand, bilden die thematischen Hintergründe. Nicht zuletzt ist es der Anspruch der US-amerikanischen Verfassung, alle Individuen unter dem Schirm der Freiheit zu vereinigen. Eine derartig starke Verankerung der Öffentlichkeit im Rechtsdenken ist wenige Jahre nach Ende des Deutschen Kaiserreichs nicht vorauszusetzen. Plessners ‚Dualismus von Leben und Geist‘ (vgl. Plessner [1924], 51/2002, 55) ist dem Pragmatismus fremd, da dieser ‚Geist‘ als den Handlungen und Handlungspotentialen inhärentes Phänomen versteht. Beide Philosophen verbindet dagegen das Vertrauen in das Politische als Gestaltungsantrieb des Menschen. Plessners These, „[…] Staat [sei] systematisierte Öffentlichkeit im Dienste der Gemeinschaft, Inbegriff von Sicherheitsmaßnahmen der Gemeinschaft im Dienste der Öffentlichkeit“, vor nunmehr fast 100 Jahren geschrieben (Plessner, ebd., 105), merkt man jedoch die Skepsis gegenüber einer mündigen, sich selbst regulierenden Öffentlichkeit an. Zum Konzept der Öffentlichkeit gehört der konstitutive Anspruch der Herausforderung der Macht. Dabei geht es um die Bedingungen der Legitimierung staatlichen Handelns unter Gesichtspunkten ökologischer, ökonomischer und politischer Angemessenheit und ethischer Begründung. Die Begriffe und Zielsetzungen des öffentlichen Streits sind daher nicht abschließend fixierbar; auch die (vorläufig) akzeptierten Regeln des Streits können mitunter ‚unter die Räder‘ geraten. Das Ziel einer ‚Großen Gemeinschaft‘ ist immer durch partikulare Interessen und Ansichten von Eliten, ideologischen Verfechtern absoluter Wahrheiten und religiösen Fanatikern gefährdet. Deshalb sollte man diesen phantasmatischen Idealmaßstab nicht selbst zu einem politischen Ziel erklären, denn ein solches Ziel könnte nur auf Grundlage einengender und daher desintegrierender Symbole der Identifikation formuliert werden. Die Mechanismen der Ausund Einschließung nützen gegebenenfalls schwachen Individuen in ihrer Identitätsbildung, sie gefährden jedoch immer auch den Raum des Öffentlichen als eines Handlungsraumes für alle, 128
3.2 Das Öffentliche und das Private
in dem Freiheiten nicht durch Integritätsverweigerungen unterminiert werden. Umgekehrt – und ins Positive gewendet – können aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozialer Milieus mit differenzierten Freiheiten auch Räume der „Entspezialisierung und Entdifferenzierung“ (Möllers 2020, 72) entstehen, wie der Verfassungsrechtler C. Möllers schreibt, und damit zur „Auflösung sozialer Verfestigung“ (ebd.) beitragen. Mitunter ist es der politisch artikulierte Vergleich sozialer Milieus untereinander, der Integritätsverweigerungen bewusst macht und zur Weiterentwicklung politischer Programme beiträgt. Da alles Handeln im gesellschaftlichen Alltag primär in ethisch-politischen Kontexten verankert ist, lässt es sich in der Regel leicht auf ein gut verständliches Vokabular einigen, das eine rationale Wahl zwischen verschiedenen Optionen erlaubt. Verschiedene Konzepte zur Verkehrssicherheit in einem Wohngebiet können verglichen und auf ihre Wirksamkeit hin geprüft werden. Eine rationale Wahl scheint hier möglich, auch wenn die Interessen der Beteiligten nicht identisch oder auch nur annähernd homogen sein sollten. Und wer wollte bestreiten, dass es dabei um eine ethische Frage geht, auch wenn die Mittel und Instrumente der Entscheidung rein verkehrspolitischer Art sind. B. Williams hat die für ethische Entscheidungen relevanten Begriffe als ‚dichte Begriffe‘ bezeichnet und diese von ‚dünnen Begriffen‘ unterschieden, die keinen deskriptiven Bezug, sondern nur einen allgemeinen Wertebezug aufweisen. Dichte Begriffe hingegen sind von komplexer Struktur. Beschreibung und Wertung sind nicht trennscharf zu unterscheiden. Ihre Deutung ist nicht durch eine reine Deskription ausschöpfbar, sondern es kommt auf ein Verständnis von Handlungszusammenhängen an. Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und ähnliche Begriffe von größter Allgemeinheit nötigen uns, auf umfassende Theorien und auf Deutungen kultureller und historischer Kontexte Bezug zu nehmen. Nach Williams sind derartige Begriffe sowohl ‚weltgeleitet‘ als auch ‚handlungsleitend‘ (Williams 1985/1999, 198). Wer von Grausamkeit redet, wird nicht nur etwas bezeichnen wollen, sondern er lässt einen Standpunkt oder eine Bewertung erkennen. Auch der Begriff der Menschenrechte ist ein gutes Beispiel für einen Begriff, den wir nur in historischen Bezügen mit unterschiedlicher interpretativer Ausrichtung annähernd klären können. Wie immer man die Grenzziehung bzw. Verbindung zwischen präskriptiven und deskriptiven Bedeutungsanteilen betrachten mag, es hängt von dem Kontext der Sprachverwendung ab, ob eine der beiden Komponenten überwiegt oder ob beide analytisch nicht getrennt werden können. Der Bedeutungsgehalt ergibt sich aus der spezifischen Mischung im jeweiligen Sprechakt. Manchmal bedarf es dazu einer juristischen Klärung, wenn z. B. behauptet wird, dass ein Begriff rein deskriptiv gemeint gewesen sei, obwohl dieser in beleidigender Absicht gebraucht wurde.
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3 Rechtskonstellationen
Resümee V Integrität unter dem politischen und staatsbürgerlichen Aspekt besteht in der Annahme von Herausforderungen, die das Subjekt in seinem privaten und öffentlichen Leben als einer Einheit des Denkens, Wollens und Handelns betreffen. In dieser Einheit liegt der durch keine Gesellschaft, kein politisches System und keine besondere Zugehörigkeit aufhebbare Anspruch auf Selbstvertretung. Selbstvertretung bedarf der Kommunikation und Zusammenarbeit mit anderen, mit dem Anspruch, einen an gemeinsamen Zielen orientierten Ausgleich individueller Unterschiede von Fähigkeiten, Interessen und Neigungen zu ermöglichen. Öffentlichkeit allgemein stellt formelle, informelle und materielle Ressourcen zur Verfügung, zu denen ein offener Zugang besteht, sodass die Arten und Formen der pluralen Öffentlichkeiten sinnvoll für individuelle und gesellschaftliche Ziele genutzt werden können. So verstanden ist das Kommunizieren und Handeln im Bereich des Öffentlichen eine Grundbedingung gesellschaftlicher Willensbildung, die zur Auflösung institutionell geronnener Macht und Interessenskonstellationen beiträgt und die Akzeptanz politischer Entscheidungen der Exekutive in Frage stellt oder auch fördert. Für das Individuum ist der Bereich des Öffentlichen Bedingung seiner Integrität als freies Wesen. In diesem Bereich erfährt es die Spiegelungen seiner Handlungen aus der Perspektive anderer. In der urteilenden und wertenden Auswahl und Zusammenführung der Spiegelungen seiner selbst durch andere liegt die Chance der Selbstkonstitution, deren zentraler Kern in der Selbstachtung besteht. Die umfassende Freiheit, ein Selbst auszubilden, ist im Bereich des Öffentlichen mit einer Vielzahl gesellschaftlicher und politischer Freiheiten bzw. Beschränkungen verwoben, die ihrerseits den eigenen Handlungen entweder Integrität verleihen oder diese unterminieren können. Die gesellschaftlich sehr divers gestalteten politischen Rechte sind dabei von den Menschenrechten zu unterscheiden. Letztere betreffen die Bereiche der personalen Integrität insgesamt. Manche Theoretiker setzen dafür den Begriff der Menschenwürde ein, weil dieser im Anschluss an Kant auf prägnante Weise die menschliche Fähigkeit zur Autonomie zum Ausdruck bringt. Mit Blick auf die konkrete Gestaltung politischer und sozialer Rechte in verschiedenen Gesellschaften erweist sich dieser Begriff jedoch als zu schwach und unterbestimmt, um die erforderliche juridische Verbindlichkeit für die Gestaltung einer gerechten Gesellschaft gewinnen zu können.108 Wie schon zuvor betont, kommt diesem Begriff die Funk-
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Die Menschenrechte der ersten und zweiten Generation (d. h. die beiden Pakte zu bürgerlichen und politischen Rechten sowie zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten ([1966], in Kraft seit 1976), lassen sich als Ansätze verstehen, politisch-rechtliche Verpflichtungen der staatlichen Gesetzgebung gemäß gemeinsamen Standards zu etablieren. (Siehe dazu den Dokumentenband Menschenrechte, 2004, 59–96). Auch wenn sich inzwischen in der Rechtsinterpretation die Auffassung von der Einheit und Unteilbarkeit der Menschenrechte durchgesetzt hat, kann diese Entwicklung auf der Ebene staatlichen Handelns leider nicht bestätigt werden. Die Menschenrechte der dritten Generation be-
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3.2 Das Öffentliche und das Private
tion einer rechtstheoretischen generischen Ressource zu, deren Ausgestaltung in der Hand des Nationalstaats und supra- bzw. internationaler Institutionen liegt und dessen Konkretisierung sich daher auf eine Vielzahl kultureller und staatsrechtlicher Traditionen bezieht. Man mag dies in vielen Fällen bedauern, wo der Staat seinen Bürgern von vornherein mit Misstrauen und Restriktionen begegnet. Man kann darin aber auch eine Chance sehen, denn Staaten können hier auch eine Vorreiterrolle einnehmen und auf einen internationalen Menschenrechtsschutz einwirken, der über deklarierte Selbstverständlichkeiten hinausgeht. Das politische Engagement im Namen der Menschenwürde allein wird indes nicht ausreichen, um eine international homogene Landschaft der Menschenrechte zu schaffen. Wir benötigen den Begriff der Menschenwürde indes immer dort, wo Individual- und Kollektivrechte in elementarer Weise verletzt werden und wo Wege beschritten werden müssen, um diese Rechtsverletzungen politisch, legislativ und juristisch unmöglich zu machen. Die Forderung nach Rechten, die es den Betroffenen erlauben, für ihre konkreten Rechte und ihre Selbstachtung selbstständig einzutreten, bedarf häufig langwieriger Kampagnen und Kämpfe. Diese können, der Natur der Sache folgend, in den Bereichen Frieden, Selbstbestimmung der Völker, Schutz der Umwelt und der Weltgesundheit im Falle von Pandemien nicht mehr allein national geführt werden. Im supranationalen Kontext der EU hat die Corona-Krise in Ansätzen den Unterschied von Menschenrechten und politisch-sozialen Rechten auf dramatische Weise vor Augen geführt. Während von der Unstrittigkeit der Menschenrechte ausgegangen werden konnte, was aber niemandem geholfen hätte, musste das Krisenmanagement der EU-Kommission auf eine deutliche Stärkung sozialer und wirtschaftlicher Strukturen der Mitgliedsländer setzen. Diese nehmen in Form der Staatshilfen Gestalt an, die auf das Gesundheitswesen, die Infrastruktur und wirtschaftliche Stabilisierung setzen. Die „[…] heilige Kuh nationaler Souveränität“, wie U. Guérot die ablehnende Haltung gegenüber einer gemeinsamen Sozialpolitik der EU nennt, ist zumindest in der Zeit der grenzübergreifenden Pandemie vorübergehend vom Eis (vgl. Guérot 2017, 80f). Vor diesem Hintergrund eines politisch und rechtlich komplexen Netzes von Rechten, Verpflichtungen und gesellschaftlichen Defiziten ist die Arbeit an der Selbstachtung mit einem grundlegenden Verständnis von Verantwortung verbunden. Dieses Verständnis beruht auf der Selbstverantwortung in den Bereichen des Lebens, die für das Individuum im Kontext seiner spezifischen Sozialität maßgeblich sind. Dieser Kontext ist nicht normativ vorgegeben, sondern erweiterungsfähig und -bedürftig. Er richtet sich nach den Konstituenten, die als Quelle und
treffen dagegen die Kollektivrechte ‚Recht auf Selbstbestimmung der Völker‘, ‚Recht auf Entwicklung‘, ‚Recht auf Frieden‘ und ‚Recht auf saubere Umwelt‘. In diesen Fragen sind sowohl die Adressierung der Rechte (Wem sollen diese dienen?) als auch die Verpflichtung von Staat und Regierung zur Umsetzung nicht verbindlich geregelt, sodass es an deren Einklagbarkeit mangelt.
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3 Rechtskonstellationen
Bedingung des eigenen und des kollektiven Lebens erkannt und anerkannt werden. Konstituenten sind jedoch nicht Determinanten, denn Konstituenten müssen reflektiert, argumentativ ins Spiel gebracht und auf ihre Tragfähigkeit hin geprüft werden. Auf diese Weise verflechten sich das Politische, das Öffentliche und das Private im Horizont einer Zukunft, deren Gestaltung aus einem nur schwer antizierbaren Zusammenspiel dieser drei Bereiche hervorgeht.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte 4.1 Bewährung und Versagen Selbstachtung ist als ein Begriff der Subjekt- und Freiheitstheorie auf einem sehr hohen theoretischen Niveau verortet. Sofern der Begriff in transzendentalphilosophischer Tradition mit dem Begriff der Vernunft unterlegt wird, wäre das Thema Integrität und Freiheit schon nahezu erledigt. Die Lehre Kants vom Faktum der Vernunft, die – kurz gefasst – besagt, dass der Mensch nicht umhin kann, sein Denken, sein Handeln und sein Wesen unter dem nicht-perspektivischen Gesichtspunkt allgemeinster Wahrheitsansprüche zu betrachten, kann an dieser Stelle nicht gewürdigt werden. Im Kontext einer intermediären Herangehensweise muss es an dieser Stelle ausreichen, den Wahrheitsanspruch an die je eigenen Widerfahrnisse, Erlebnisse und Handlungen auf die Person bezogen zu stellen und ihn quasi von unten her aufzubauen. Die zuvor schon entwickelten Begriffe der primären Annahme und der Bewährung können hier die ersten Stufen einer Leiter bilden, die zu den höheren Funktionen der Individualität hinaufführt und mit den kognitiven Funktionen der Selbstbetrachtung und Selbstreflexion verbunden ist. Die Frage der Selbstachtung stellt sich im Bereich der Öffentlichkeit zunächst nach der politisch-rechtlichen Seite hin. Das mag intuitiv nicht sehr befriedigend sein, denn bei der Selbstachtung geht es wohl eher darum, dass wir nach einem direkten Zugriff auf den Wert suchen, den wir uns selbst geben, geben wollen oder geben dürfen. Der Umweg über das Öffentliche sollte indes verdeutlichen, dass wir wenig Chancen auf einen unmittelbaren Zugriff auf uns selbst haben. Auch als völlig zurückgezogene Wesen haben wir ‚das Andere‘ von uns immer als ‚unser Anderes‘ im Sinn, gerade, wenn wir uns von diesem abkehren wollen. Der Einwand, dass bei jeder Moral- und Freiheitsvorstellung eine doktrinäre Idee des Selbst oder der Gesellschaft oder gar beider als Absolutes unterstellt werden müsste, kann in dieser Form nicht richtig sein.109 Auch der Weltenbummler, der aus der Enge seiner Heimat flieht, wird anderen gerne von 109
I. Berlin macht dieses Argument wiederholt in Zwei Freiheitsbegriffe (Berlin [1958] 1995, 197–256) geltend, indem er den Vernunftstandpunkt, d. h. „das rationalistische Argument“ als Oktroyierung „der einen richtigen Lösung“ (ebd., 234) kritisiert. Platons Vorstellung des von einer philosophischen Elite geleiteten Wächterstaates gilt ihm (wie vor ihm auch K. Popper) als Einstieg in autoritäres Staatsdenken, das sich die Vervollkommnung von Individuum und Gesellschaft zum Ziel setzt.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
dieser Enge erzählen wollen, die seiner Reise erst den angemessenen Flair des Besonderen und Individuellen verschafft. Er nimmt dabei selbst eine Unterscheidung, eine Differenzierung in sich vor, und darauf allein kommt es an. Wie aber ist es zu erklären, warum Menschen wachen Sinnes und in voller Absicht die ihnen gegenwärtigen öffentlichen Gesichtspunkte anderer ausschließen und den Weg der rechtlichen und moralischen Abweichung für sich wählen? Denn dass es bei jeder Entscheidungen um eine Wahl geht, wenn – mit Aristoteles – die Bedingung des von äußeren Zwängen freien Handelns als Voraussetzung allgemein unterstellt wird, erlaubt ja überhaupt erst eine moralische Betrachtungsweise. Als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen soll hier ein sehr spezieller Fall in den Blick genommen werden: der Fall Thomas Middelhoff. Dieser Fall bietet den Vorteil einer sozusagen externen Betrachtungsweise auf Grundlage gerichtlich verifizierter Tatsachen in Verbindung mit einer internen Betrachtungsweise auf Grundlage der ausführlichen Autobiografien der Person, die unter dem Titel A 115 Der Sturz (Middelhoff 2017a) und Thomas Middelhoff: Schuldig – Vom Scheitern und Wiederaufstehen (Middelhoff 2017b) erschienen sind. Weiterhin bietet dieser Fall die Möglichkeit, auf individualpsychologische Einsichten Bezug zu nehmen und nach Möglichkeiten der Verallgemeinerung zu suchen, die die Frage der Selbstachtung in einen größeren Kontext stellt. Die noch recht große individualpsychologische Lücke innerhalb des Integritätsbegriffs kann, so hoffe ich, auf diese Weise ein Stück weit geschlossen werden. Der Begriff der Selbstachtung scheint sich auf den ersten Blick mit der Vorstellung von Bewährung durch Leistung und Tadellosigkeit zu verbinden. Sicher hat auch die Schule mit ihren Benotungs- und Bewertungsmechanismen daran ihren Anteil, vielleicht auch das urmenschliche Überlegenheitsstreben, in dem schon Hobbes eine Gefährdung des Friedens der Gesellschaft gesehen hatte, vielleicht aber auch die einseitig monetäre Ausrichtung der Gesellschaft, die den anscheinend unendlich steigerungsfähigen Wert des Vermögens in den Mittelpunkt rückt. Und vielleicht aber gibt es zwischen diesen Komponenten – je nach individuellem Charakter – auch eine innere Verbindung. Das alles soll hier außer Betracht bleiben, nicht weil mögliche Zusammenhänge nicht interessant wären, sondern empirisch ungesichert und daher für weitgehende sozialphilosophische Schlussfolgerungen wenig geeignet. Autobiografische Aussagen jedoch können uns auf sehr intime Verknüpfungen von Motiven verweisen, die es ein wenig nachvollziehbar machen, wie es zur Unterminierung der Integrität der Person durch diese selbst kommen kann. An dieser Stelle muss nochmals betont werden, dass die Unterscheidung von Integrität und Würde dabei vorauszusetzen ist. Auch wo Integrität in Zweifel gezogen wird, gehen weder die Personalität noch der normative Anspruch auf Respektierung der Menschenwürde verloren. Ein anerkennender oder kritischer Blick auf die Persönlichkeit in ihren konkreten Ausprägungen ist uns ja gerade deshalb möglich, weil wir dabei immer die Personalität in Gedanken mitführen. 134
4.1 Bewährung und Versagen
4.1.1 Selbstüberschätzung, Selbstverlust und Selbstverachtung Thomas Middelhoff wurde wegen Untreue zu Lasten des Karstadt-Konzerns Arcondor und wegen Steuerhinterziehung zu drei Jahren Haft verurteilt. Ein aufwändiger Lebens- und Arbeitsstil auf Kosten des Konzerns und eine kostspielige Festschrift für einen Freund aus der Führungsetage seines früheren Arbeitgebers Bertelsmann, die vom Konzernvorstand nicht abgesegnet war, waren die Anklagepunkte. In seiner Rolle als Konzernchef, der zur Rettung des angeschlagenen Karstadt-Konzerns angeheuert wurde, sah Middelhoff sich zu diesen und anderen Extravaganzen auf Kosten des Konzerns und der Aktionäre berechtigt. Er wurde von der Politik und Wirtschaft hofiert und suchte deren Anerkennung. Er bewegte sich, von der deutschen Kanzlerin bis hin zu den in seiner Tätigkeitsphase amtierenden amerikanischen Präsidenten, auf höchster Ebene und verstand sich als Teil einer unangreifbaren Elite.110 Die Anklage gegen ihn hielt er stets für ungerechtfertigt. Er war sich sicher, dass er freigesprochen würde. Im November 2014 wurde er schließlich zu drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Einen Teil der Strafe hat er als Freigänger verbüßt. Ein Drittel der Strafe wurde ihm wegen guter Führung erlassen. Während der Haft hat er in einer Bethel-Werkstatt gearbeitet. Seine zweite Autobiografie (2017b) liest sich wie eine Selbstanklage aus den Rückblick des Geläuterten. Es sei vorweg gesagt, dass Middelhoff sich nach der Haftentlassung als einen durchaus zufriedeneren Menschen sieht, als er es zu Zeiten von Macht und Reichtum war. In seiner ersten Biografie, die eher eine Fallgeschichte darstellt, in der er mit seinen Prozessgegnern in Wirtschaft, Politik und Justiz abrechnet, kommt er zu dem nüchternen Ergebnis: „Die Achtung, vor allem mir selbst gegenüber – restlos verloren.“ Seine Privatinsolvenz belief sich damals auf einen geschätzten Betrag von 415 Mio. Euro. Middelhoffs Selbstreflexion konzentriert sich auf seine Arroganz, die ihm auch sein Vater schon zu Studienzeiten vorwirft, seine Eitelkeit und seinen Hochmut, Charaktereigenschaften, die er mit seinem Narzissmus erklärt: der Druck, durch Erfolge Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die Gier nach Anerkennung, so sieht es der Autor selbst, richtete sich in der Pubertät, besonders auf seine Eltern (vgl. 2017b, 59–64). Die Sucht nach Anerkennung verbindet sich mit wachsendem Erfolg mit der Faszination der Macht. Die Zuwendung durch andere, die als Bewunderer seines Erfolgs seine Nähe suchen, verstärkt das Gefühl, auch über Menschen bestimmen zu
110
Der Wirtschaftsjournalist R. Hank resümiert den Karriereweg Middelhoffs mit den Worten: „Nicht Aufopferung, sondern Statusabsicherung birgt den Schlüssel zum Verständnis“ (Hauk 2017, 99). Statusabsicherung ist soziologisch betrachtet sicher ein zentrales Motiv für Eliten, die ihren Erfolg auf Dauer stellen wollen. Es erklärt jedoch nicht, wie diese Ausrichtung des Willens und der Person auch dort ungebrochen funktionieren, wo Bedingungen der Sozialität systematisch außer Kraft gesetzt oder verletzt werden müssen. Die hier angestellten philosophischen Überlegungen sollen in diesem Punkt etwas Licht in die Sache bringen.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
können. Der Absturz ins Gefängnis ist verbunden mit der Suche nach Schuldigen; die eigenen Entscheidungen gelten als notwendig und unumgänglich, wenn nicht sogar als vernünftig in der Situation. Welche Folgerungen lassen sich für die Frage der personalen Integrität im Falle einer von der Person selbst verursachten Krise ziehen? Die Sicherung und Wiederherstellung der internen Integrität, wenn die externe Integrität vor aller Welt zu Bruch gegangen ist, stellt sich in erster Linie als Suche nach Schuldigen dar. Die erste Biografie A 115 – Der Sturz (2017a/2020) liest sich daher wie ein Versuch der Relativierung der eigenen Handlungsverantwortung, während das zweite Buch wie ein umfassender Versuch der Bezeugung von Reue gelesen werden muss: Die eigenen Verfehlungen werden im Lichte christlicher Werte und antiker Tugenden kritisch ausgeleuchtet. Die eigene Lebensweise samt moralischer und rechtlicher Grenzüberschreitungen wird dabei häufig weniger als persönliches Problem als vielmehr als eines ‚der Elite‘ in Wirtschaft und Politik dargestellt. Jenseits der strafrechtlichen Seite des Falles ist die Dimension der Verurteilung durch die Öffentlichkeit von besonderer persönlicher Tragweite. Der Ansehensverlust kann so groß sein, dass sich die sozialen Beziehungen, die Freundschaften und familiären Bindungen im Sog der beruflichen und persönlichen Krise auflösen. Eine Verurteilung ohne Bewährung ist in einer an den Werten bürgerlicher Rechtschaffenheit orientierten Gesellschaft ein zumindest vorläufiger Endpunkt. Vermeintlich stabile soziale Zugehörigkeiten lösen sich in Luft auf. Der an anderen verübte Verrat kann mitunter unverzeihlich sein; der Verrat an sich selbst erscheint dagegen nur dumm. Bis es zu einer Selbsteinsicht kommt, die mit den eigenen Entscheidungen kritisch ins Gericht geht, kann es ein langer Weg sein. Die Kluft zwischen Selbstrechtfertigung und Selbstkritik kann mitunter sehr groß sein. Sie kann (vielleicht am Ende) auch durch eine Selbstverurteilung geschlossen werden, die in der Einsicht gipfelt, ‚seinen Charakter verloren zu haben‘ (vgl. Middelhoff, 2017a, 90). Ob man dieser Wendung Plausibilität zuspricht, nach einem über Jahrzehnte an Macht, Reichtum und Selbstüberschätzung (hybris) gut gefülltem Leben, kann man sicher in Frage stellen. Da wir aber über keine universelle Theorie des gelingenden Lebens und subjektiver Wahrhaftigkeit verfügen, die wir sozusagen ‚von außen‘ wahr machen können und da Moralismus zu vermeiden ist, bietet sich vorerst ein Ausflug ins Literarische an. Middelhoffs Formulierung lässt an das Kunstmärchen Das kalte Herz von Wilhelm Hauff (1827) erinnern, das hier zusammengefasst sei: Der Protagonist der Erzählung, Peter Munk, bekommt von einem ihm gut gesonnenen Waldgeist, dem Glasmännlein, das ‚Startkapital‘ für ein eigenes Handwerk der Glasmacherei, scheitert aber an seiner Maßlosigkeit, seiner Selbstüberschätzung und Trunksucht. Um seinen Stand in der Gesellschaft nicht zu verlieren, liefert er sich dem bösen Waldgeist, dem Holländermichel aus, der ihm im Tausch gegen sein Herz, das dieser durch ein Steinherz ersetzt, grenzenlosen Reichtum verspricht. Seine Frau, die sich den 136
4.1 Bewährung und Versagen Armen gegenüber mildtätig verhält, erschlägt er im Zorn. Den Leuten des Dorfes erzählt er, dass seine Frau verreist sei. Das Leben im Reichtum wird ihm jedoch schnell fad, da er an nichts mehr richtige Freude empfinden kann. Mit Hilfe des guten Waldgeistes gelingt es ihm schließlich, den Holländermichel auszutricksen und sein eigenes Herz wieder zu erlangen, worauf ihn die Reue über sein vorheriges Leben einholt. Mit Hilfe der Zauberkräfte des guten Waldgeistes, dem Glasmännlein, wird seine Frau wieder zum Leben erweckt. Diese gebiert ihm einen Sohn, sodass am Ende das Familienglück über Gier und Großmannssucht siegt.
Nun lässt sich die verlorene, sehenden Auges und wissenden Verstandes unterminierte Integrität nicht durch Zaubermächte wiederherstellen. Die Zauberkräfte, die Middelhoff in sich selbst findet, besitzen dagegen eine gewisse psychologische Wirksamkeit, wie aus der Resilienzforschung bekannt ist. Es geht dabei um die Kräfte, die dazu befähigen, mit dem Scheitern zu leben. Eine dieser Kräfte besteht in der Akzeptanz von Fehlern, die wir gemacht haben. Dies schließt konsequenterweise ein, sich von Eitelkeiten zu verabschieden, die sich um die vermeintliche Einzigartigkeit der eigenen Person ranken. Eine weitere essentielle Kraft besteht in der Überwindung von Scham. Dies gelingt, wie auch Middelhoff hervorhebt (2017b, 233/234), durch Offenheit gegenüber Vertrauenspersonen. Nicht wie Zaubermächte im Märchen, sondern als im realen Leben verankerte Potentiale, sind es die von Verständnis geprägten Beziehungen, die eine erlösende Wirkung besitzen und die Erstarrung in Scham überwinden helfen. Einer weiteren, dritten Kraft bedarf es, um das Gefühl der Ganzheit des eigenen Lebens wieder erfahrbar zu machen und der Zerrissenheit der eigenen Biografie entgegenzustellen. Dabei ist die Unterscheidung von Ganzheit und Einheit im Blick zu behalten. Tiefgehende Scham und Reue mögen die Einheit der Person in Zerrissenheit hinter sich lassen.111 Der Kampf um die Ganzheit des eigenen Lebens ist damit jedoch nicht zwangsläufig ans Ende gekommen. Für die Meisterung einer umfassenden Sinnkrise bedarf es starker persönlicher Ressourcen, die man unter Bezug auf das Alte Testament als Glaube, Liebe und Hoffnung bezeichnen könnte, aber es sind auch ganz andere Namen denkbar, die in der Biografie einer Person verankert sein können und einen starken metaethischen Gehalt aufweisen. Es stellt sich nun die philosophische Frage, wie es sein kann, dass das Leben nach einem größeren Scheitern häufig als Befreiung empfunden wird. Welcher Autorität hat das Leben vor der Krise gehorcht? Was hat die Person gehindert, die Autorenschaft für das eigene Leben wahrzunehmen und gegebenenfalls wiederherzustellen, wenn das Leben einmal aus dem Ruder läuft? Niemand wird wohl annehmen, dass es unbedingt weitreichender Verfehlungen bedarf, 111
P. Bieri nennt dies in seiner Deutung des Raskolnikov-Themas in Dostojewskis Schuld und Sühne die ‚unaufhebbare Zerrissenheit‘ des Selbst (Bieri 2003, 364).
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
die einen ins Gefängnis bringen müssen, damit die Person zu einer umfassenden kritischen Betrachtung ihres bisherigen Lebens befähigt wird. Müsste der Verlust an Selbstachtung nicht schon dann auffallen, wenn die Verpflichtung auf sich selbst außer Acht gelassen wird, und zwar nicht nur in den Fällen, wo ein Gesetzesverstoß impliziert ist oder ein maßloser Egoismus an den Tag gelegt wird? Oder werden Individuen erst dann zu ‚Wächtern‘ ihrer Integrität, wenn ihre ‚Außenbeziehungen‘ nicht mehr reibungslos funktionieren und wenn die Zumutungen anderer empfindlich stören, wenn diese erhebliche Kritik an der zur Schau gestellten Identität üben? Wie lässt sich, wenn die Neigung dazu besteht, an der Negation der Prosozialität festhalten? Denn dass es sich dabei um eine aktive Haltung handelt, die gegen andere Menschen, Institutionen oder gar die Gesellschaft als Ganze gerichtet ist, dürfte ganz außer Zweifel stehen. Es geht dabei um die Überzeugung der Außer-Ordentlichkeit im wörtlichen Sinne, denn wer sich selbst als außerordentlich sieht, schränkt für sich möglicherweise die Geltung der für alle geltenden Ordnung, die auf wechselseitigem Vertrauen beruht, für seine Person grundlegend ein. In dieser Fragestellung verbirgt sich eine tiefgreifende anthropologische Dimension: Es geht um die Antinomie zwischen der gefühlten Gewissheit einerseits, individuell unvertretbar zu sein, und dem Wissen um unsere Kontingenz andererseits, die uns zu jederzeit vertretbaren Wesen macht.112 Individuen sind einzigartig, aber sie sind kein in der Ordnung der Welt unverzichtbarer Bestandteil. Auch wenn die Gewissheit des Todes, von der ja alle Menschen bedroht sind, nicht eingeklammert werden kann, so kann doch die Angst vor dem sozialen Tod, dem Verlust an Bedeutung in den Augen der anderen, die Person aus der Bahn werfen. Diese Angst kann zu einem verhängnisvollen Motiv dafür werden, sich ein vermeintlich sicheres Rollenrepertoire zuzulegen. Dieses kann gewissermaßen zu einem sozialen Exo-Skelett werden, das von der Person nicht mehr zu unterscheiden ist. Personalität zeigt sich nur noch in der Funktionsweise der Person. Für die Person selbst wird dieses Repertoire zu einer Art Rollengefängnis, dessen Gitterstäbe erst dann sichtbar werden, wenn das Gefühl des Selbstverlustes nicht mehr verdrängt werden kann. Der existenzielle Konjunktiv ‚Ich könnte auch anders‘ steht uns prinzipiell immer zur Verfügung; er besitzt allerdings wenig Gestaltungskraft, wenn uns eine auf Selbstdistanz aufbauende Urteilskraft zur eigenen Person nicht zur Verfügung steht. Die Entschuldigung „Es ginge schon, aber es geht nicht“ (Plessner [1968] 2004, 94) steht immer für Zweierlei: die hingenommene Herrschaft der Umstände und die Schwäche des Willens. Das soziale Exo-Skelett mag zwar ab und zu schmerzen, doch an Schmerzen gewöhnt man sich, zumal wenn die Gratifikationen auch ganz außer-ordentlich sind. 112
H. Plessner hat die anthropologische Antinomie der Unvertretbarkeit in seinem Essay Der kategorische Konjunktiv prägnant formuliert: „Ichauffassung erschließt in einem den Sinn für die Vertretbarkeit durch einen anderen (welcher über die gleiche Kapazität verfügt), und zwar nicht nur im Sinne einer logisch verständlichen Relation bzw. Korrelation, sondern aufgrund der Ichhaftigkeit selbst“ (Plessner 1968/2004, 94–109, 95).
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4.1 Bewährung und Versagen
Der Fall Middelhoff bietet bis zu diesem Punkt einen Einstieg, um der Unterscheidung von Charakter und gelebtem Leben auf die Spur zu kommen. Er stellt uns vor die Frage, ob die Person nicht doch ihren Charakter ausgelebt hat und eben genau daran gescheitert ist. Damit verbunden ist die Frage, ob wir nicht durch Erfahrung klug werden und – eine aufrüttelnde Erfahrung vorausgesetzt – unseren Charakter grundlegend ändern können. Nun ist die Charakterkunde durch die Sozialisationsforschung und empirische Persönlichkeitspsychologie ein wenig ins Hintertreffen geraten und wir müssen uns mit einem vorsichtigen Begriff von Charakter zufrieden geben, um nicht in küchenpsychologische ‚Charakterologie‘ abzugleiten. In der eher dynamisch orientierten Persönlichkeitspsychologie hat sich die Rede von den motivierenden Wesenszügen einer Person durchgesetzt, die den Blick auf dominante Lebenshaltungen richtet. Diese werden nicht als essentiell, sondern als prozesshaft verstanden, sind also nicht als abschließende Einordnung einer Person aufzufassen.113 Im Kontext der Aufarbeitung des Faschismus hat sich die These vom autoritären Charakter (im Anschluss an E. Fromm und T. Adorno) durchgesetzt. Das Milgram-Experiment von 1960 wurde zunächst als empirische Bestätigung dieses Konzepts aufgefasst, bis es selbst in die Kritik geraten ist. In der gegenwärtigen Populismusdiskussion wird gerne auf das Erklärungsmuster ‚autoritärer Charakter‘ Bezug genommen. Merkwürdigerweise sehen Vertreter dieses Konzepts keinen Widerspruch darin, im gleichen Zuge H. Arendts Begriff der Banalität des Bösen in Anspruch zu nehmen, mit dem diese Adolf Eichmanns Handeln als Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden zu fassen versuchte. Bei Generalisierungen dieser Art ist Zurückhaltung zu üben und jeder Fall für sich zu betrachten.114 Bei der späteren Diskussion des Milgram-Experiments (4.1.3) wird darauf einzugehen sein.
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Der kritische geschichtswissenschaftliche Blick muss hier natürlich anders verfahren. Das Bild von Hitler, Stalin, Pol Pot u. a. ist aus distanzierter Sicht der Wissenschaft ziemlich gesichert. Doch was hindert uns daran anzunehmen, dass diese Personen auch gänzlich anders hätten handeln können? Und wären sie dann noch Hitler, Stalin u. s. w.? Woher kommt unser Widerstreben, ihnen wenigstens hypothetisch eine andere Entwicklung zuzutrauen? Vielleicht zeigen diese Fragen, dass eine rein individualpsychologische Erklärung an Grenzen kommen muss, wenn machtpolitische Fragen außer Acht gelassen werden. Man muss nicht die Charakterkunde A. Adlers insgesamt vertreten, um nicht doch sehr differenzierte Aussagen zu Persönlichkeitstypen in Erwägung zu ziehen. Adler hat sich von einem zunehmend dogmatisierten Seelenmodell Freuds abgelöst und seine eigene Konzeption auf dem Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft aufgebaut. Im Kontext des Autoritätsthemas ist sein ‚Typus der Unterwürfigkeit‘ aufschlussreich: „Diese Neigung [erg.: der Unterwürfigkeit] findet man manchmal in den unglaublichsten Graden. Es gibt Menschen, die sich mit einem wahren Genuß unterordnen“ (Adler [1927] 1976, 225). Auch hier darf der historische Kontext nicht außer Acht gelassen werden, denn es hängt entscheidend von der Freiheitsauffassung einer Gesellschaft und ihrer Wertschätzung der Individualität ab, welche ‚Charaktertypen‘ für welche Bereiche des Lebens erzogen und gefördert werden.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
4.1.2 Gehorsam, Charakter und Zerrissenheit Wem oder was hat eine Person gehorcht, wem oder was ist sie mehr oder weniger blind gefolgt, wenn sie irgendwann feststellen muss, sich selbst verloren zu haben? Zunächst ist diese Frage von der Seite der Urteilsfähigkeit her anzugehen. Es geht also nicht um individuelle Pathologien, sondern Mentalitäten.115 Moralische Urteile, um die es hier ja geht, beziehen sich auf das Handeln und Verhalten anderer Menschen sowie das eigene Handeln und Verhalten. Dieses kann in der Vergangenheit liegen, in der Gegenwart oder in der Zukunft. Im letzteren Fall haben wir es mit noch ungelösten Handlungsproblemen zu tun, denn es geht dabei um die Frage, welche Ergebnisse und Folgen wir anstreben und mit welchen Konsequenzen wir rechnen bzw. rechnen müssen. Die Beurteilung meines eigenen Handelns ist auch dann, wenn es um meine Sorgen, meine Interessen und meine Wünsche geht, in kooperativen Kontexten verankert. Die erweiternden Gesichtspunkte anderer stellen keine beliebigen Gesichtspunkte dar, etwa wie eine Beratungs-Website, die ich jederzeit abschalten kann, sondern sie bilden die inhärente Sphäre der Selbstreflexion in Anbetracht der Rede und des Denkens anderer.116 Natürlich variiert das Gewicht, das die Person der inhärenten sozialen Sphäre gibt, je nach relevanten Personen, der Situation und deren Deutung. Daraus ergibt sich die Ambivalenz unseres Bezugs auf andere als urteilsfähige Wesen: Die Bereitschaft zur Relativierung dieses Gewichts hilft uns einerseits, an unserem Selbstbild festzuhalten, wo immer dieses gefährdet scheint; die Fähigkeit, ein gegebenes Gewicht des Fremdurteils ‚auszuhalten‘, schafft uns andererseits die Möglichkeit der Selbstdistanz. Diese kann sowohl in eine produktive als auch resignative Richtung ausschlagen. Für die an ihrem Selbstbild leidende Person sind unter Umständen die imaginären und die realen Anteile der ‚inhärenten sozialen Sphäre‘ nicht klar zu trennen. Innere Zerrissenheit und Abspaltung nicht kommunizierter Ungerechtigkeit im sozialen Austausch können in solchen Fällen eine selbstdestruktive Wirkung entfalten, womit sich u. a. die Kriminologie beschäftigt.
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Ganz anders verfährt hier der Ansatz von A. Pollmann, der sozialphilosophische Fragen im Horizont einer Sozialpathologie des Narzissmus und der Borderline-Symptomatik betrachtet. (Siehe dazu bes. die Reflexion bei: Pollmann 2005, 366–377). Eine in diesem Sinne ‚sozialpathognostisch‘ ausgerichtete Kritik der Gesellschaft, verbunden mit dem Anspruch einer umfassenden Zeitdiagnose, wäre ein sehr ambitioniertes Projekt, das an Grenzen der Empirie stößt. Pollmann weist ein derartiges Projekt der Sozialmedizin zu. In deren Rahmen könnten aufwändige Längsschnittuntersuchungen tatsächlich Krankheitstrends vergleichend erfassen. Integrität ist für Pollmann v. a. mit Gesundheit und Wohlergehen assoziiert (vgl. ebd., 73ff). Integrität in dem hier verstandenen Sinne schließt dagegen auch die Möglichkeit ein, dass Integritätsstreben mit Belastungen verbunden sein kann, die das subjektive Wohlbefinden beeinträchtigen können und dennoch zur Ganzheit der Person beitragen. M. Tomasello sieht den Gebrauch verpflichtender Gründe, die also die Erwartungen anderer einbeziehen, im Alter von sechs bis sieben Jahren gefestigt. (Siehe hierzu: Tomasello 2020, 469–479).
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4.1 Bewährung und Versagen
In realen Interaktionssituationen gehen wir von einer engen Verbindung der Überzeugungen und Argumente mit der Person aus. Die Person steht für das ein, was sie äußert. Ihre Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ist gleichzeitig eine Herausforderung an unsere Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit. Wo es Hinweise auf Störungen in der Reziprozität dieser Haltungen gibt, sodass die Beteiligten sich der anderen Person nicht sicher sein können, wird es zu vorsichtiger Rede und oberflächlichem Austausch bis hin zum Rückzug aus dem Diskurs kommen. Problemlösendes Handeln in Gegenwart und Zukunft scheitert in solchen Fällen nicht an äußeren Umständen, sondern an der inneren Einstellung der Beteiligten. Prosoziale Dispositionen erfahren eine Bestärkung in den kindlichen Reifungsphasen und bilden eine Ressource der Handlungsfähigkeit für das Selbst. Sie können jedoch auch auf ein Instrumentarium reduziert werden, das dem Selbst Sicherheit und Erfolge in diversen Rollen und Funktionen beschert, ohne dass es eine ernsthafte, d. h. belastbare Verbindung zwischen der Rede, dem Tun und den tatsächlichen sozialen Dispositionen gibt. Unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die unter dem Primat der Funktionalität und des messbaren äußeren Erfolges stehen, fällt diese Form devianter Sozialität nicht ins Gewicht, solange keine Prüfsteine ins Spiel gebracht werden und solange ‚der Laden rund läuft‘. Das Vertrauen in eine derart eingespielte Funktionalität zerbricht allerdings, wenn der Fall eintritt, dass Verantwortung für Versagen und Misserfolg eingefordert wird. Der Schein der Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ist dann nicht mehr aufrechtzuerhalten, wenn der funktionale Kontext auseinanderbricht. Dieses Schicksal kann auch einen Staat als Ganzen ereilen, wie am Beispiel des Mauerfalls der DDR zu erleben war. Auf der anderen Seite ist Russland ein Beispiel dafür, wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Charakter des Staates und die Elitenfunktionalität unter anderen Namen aufrecht erhalten werden konnten, nachdem der Kommunismus als Identifikationsprojekt abdanken musste. Der Staat, als hobbes’sches Gehorsamsmodell aufgefasst, muss sich dann allerdings gegen eine aufstrebende Zivilgesellschaft behaupten, was nur durch den Einsatz von Gewalt aussichtsreich erscheint. Im Falle des gegen die eigene Prosozialität gelebten Lebens ist es jedoch nicht so einfach zu erklären, wie Gehorsam auch dann weiter wirkt, wenn das Handeln ganz auf die eigene Person gestellt ist. Middelhoff lässt sich schwerlich als ein abhängig Angestellter mit Aufstiegswunsch charakterisieren. Er ist sehr schnell ‚ganz oben‘ angekommen. Welchen Kräften oder Mächten ist die Person derart unterlegen, dass sie sich selbst aufgibt und eines rational-distanzierten Verhältnisses zu ihren Taten und ihrem Leben insgesamt nicht fähig ist? Eine einfache Lösung dieser Frage könnte im Verweis auf die Leidenschaften bestehen. Diese sind ja die unseren und sie sprechen aus unserem Innersten auf eine unmissverständliche Art körperlich-seelisch zu uns. Für Kant waren es Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht, die den Charakter in Beschlag nehmen können. Leicht ließe sich noch die Selbstsucht hinzufügen, die – anders als der Egoismus als Habsucht – als Sucht zur Steigerung und Erhöhung des Selbst aufzufassen ist. Mit Süchten assoziieren wir Hörigkeit. Der Wille, sofern dieser sich auf die ganze Person im Sinne des ‚ein 141
4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
Selbst sein Wollens‘ bezieht, ist durch Leidenschaften geschwächt. Das Subjekt des Handelns versagt in zwei Hinsichten: (a) der Klärung des Wollens, von dem es getrieben ist, solange dieses nicht einer Begründung oder Kritik zugänglich ist, und (b) der Willensschwäche hinsichtlich der Intention, die Einheit zwischen dem Wollen und der Person aufrechtzuerhalten bzw. diese wiederherzustellen. Der Philosoph H. G. Frankfurt hat versucht, diese innere Struktur des Wollens durch die Unterscheidung zweier Stufen von Wünschen zu klären. Mein Wunsch, etwas zu genießen, z. B. eine Flasche Wein, kann sehr dringlich sein. Mein Wissen, dass dieser Genuss in der gegebenen Situation oder auch generell für mich schädlich sein könnte, kann mich von der Erfüllung dieses Wunsches abhalten. Ich könnte sogar den Wunsch zweiter Stufe haben, den Wunsch erster Stufe überhaupt nicht zu haben. Der interessante Punkt an Frankfurts Überlegungen ist dabei, dass es bestimmte Wünsche (‚Volitionen‘) in Bezug auf die Person als Ganze gibt, die in den Wünschen erster Stufe nicht aufgehen. Die Wünsche erster Stufe werden handlungswirksam als der Wille, etwas zu tun, was dem Wunsch entspricht. Ob man die Stufentheorie Frankfurts überzeugend findet, sei hier nicht diskutiert. Man könnte ja auch von der Gewichtung verschiedener Wünsche ausgehen. Diejenigen mit dem größeren Gewicht würden sich dann durchsetzen. Das wäre jedoch eine Betrachtungsweise, die den entscheidenden Punkt der ‚zweiten Stufe‘ verfehlt. Erhellend für das Thema Integrität ist es jedoch in diesem Zusammenhang, dass wir die Fähigkeit besitzen, uns von bestimmten Wünschen zu distanzieren, weil wir uns der Freiheit bedienen, unsere bestehenden Wünsche im Lichte anderer Präferenzen zu reflektieren. Dabei ist die Art dieser Prioritäten entscheidend, denn es geht bei diesen Präferenzen nicht um die Wahl zwischen verschiedenen Zielen oder Mitteln des Handelns, sondern um diejenige Wahl und Entscheidung, die die Personalität selbst zum Gegenstand hat. Damit ist die Frage der Entscheidungsfreiheit aufgeworfen, die das Personsein im Kern betrifft.117 Hieran anknüpfend ergibt sich ein etwas klarerer Blick auf die spezifische Zerrissenheit, die Personen erfahren müssen, die zwischen Wünschen erster und zweiter Stufe nicht klar unterscheiden können oder wollen. Die Fähigkeit, sich von Wünschen erster Stufe zu distanzieren, ist nicht nur eine zweite Stufe, sondern das besondere menschliche Vermögen, den Anspruch auf Personsein mit Inhalten und Werten zu füllen, die der ‚Herrschaft‘ der Wünsche erster Stufe 117
Zum Zusammenhang von Willensentscheidungen, Hierarchisierung von Wünschen und Person siehe: H. G. Frankfurt (2001, 65–83). Das Problem der nach oben immer offenen Hierarchisierung durch höherstufige subjektive Präferenzen stellt sich im Rahmen des auf Sozialität bezogenen Integritätskonzepts nur sehr bedingt, d. h. im Kontext eines geteilten Wertehorizonts. Die nach oben offene Präferenzordnung wird in diesem Verständnis durch das Selbstverständnis der Person begrenzt. Reflexivität und Rekursivität stehen in einem inneren Zusammenhang. Dem inneren Druck, ‚Selbstähnlichkeit‘ zu wahren, ist schwer zu entkommen. Daraus lässt sich ein metaethischer Wert konzipieren, wie er auf schönste Weise in dem Sinatra-Song „I did it my way“ zum Ausdruck kommt, mit dem besonders Politiker gerne ihren Abgang feiern.
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4.1 Bewährung und Versagen
Grenzen setzen, bevor diese in einen definitiven Willen zum Handeln münden. Ich begegne meinen Handlungswünschen also im Modus des vernünftigen Betrachters, der sich die Gründe seines Handelns vor Augen führt und diese auf ihre Tragfähigkeit hin prüft. Im Kern geht es also um den Anspruch, die Heteronomie der Wünsche einer autonomen Prüfung zu unterziehen. Autonom heißt hier nur soviel, dass die Prüfung verschiedener Handlungsoptionen auf ihre Tragfähigkeit und ihre Konsequenzen hin aus einer einheitlichen Sicht des Personseins erfolgt oder zumindest erfolgen könnte. Erfahren wir dagegen Zerrissenheit als ein strukturelles und chronisches Problem einer Person, dann werden wir dieser Person mit Vorsicht begegnen, denn ihre Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit müssen uns als problematisch erscheinen. Es ist also nicht unerheblich für die mit anderen gelebte Sozialität, wie die Person mit ihren Leidenschaften, Volitionen erster Stufe und beliebigen Wünschen umgeht. Die drei von Kant genannten Süchte sind aus der menschlichen Gesellschaft nicht wegzudenken und es ist auch nicht auszuschließen, dass diese manchen Menschen als eigentliches Lebensmotiv anhaften. Das wäre der Fall der Hörigkeit gegenüber einem unverstandenen Wollen, welches sich einer vernünftig abwägenden Klärung verschließt. Selbstverständlich lässt sich diese Liste ergänzen. Middelhoff nimmt selbst auf die alttestamentlichen sieben Todsünden Bezug, von denen er nach eigenem Bekunden kaum eine ausgelassen hat. Die oben ergänzte Selbstsucht spielt für ihn in verschiedenen Ausformungen dessen, was er seinen Narzissmus nennt, eine besondere Rolle. Es wäre jedoch verfehlt, Süchte als anthropologische Konstituenten mit unbeschränkter Machtausübung zu verstehen. Dann nämlich wären diese keiner Bewertung im Modus des Konjunktivs zugänglich. Das „Ich könnte!“ bezieht sich immer auch auf das Selbstbild unter der Bedingung möglicher Zerrissenheit. Der Bruch in der Einheit der Person macht sich in dem Gefühl der Fragilität der Identität bemerkbar und weckt Zweifel an deren ‚Überlebensfähigkeit‘. Der Wunsch, anders sein zu wollen, könnte hier seinen Ausgangspunkt nehmen und die Suche nach einer Veränderung und Neuausrichtung der Identität fördern. Konversion und Rekonversion sind universelle menschliche Optionen, die nicht nur Religions- oder Parteizugehörigkeit betreffen können.118 Wodurch auch immer der Bruch bedingt oder hervorgerufen sein mag, so macht dieser das Streben nach Ganzheit doch nicht vergeblich. Philosophisch von Interesse ist dabei, dass es dabei nicht um eine nur kontingente psychologische Qualität geht, sondern um den Kern der Personalität: das Streben nach einer Ganzheit, welches sich an den Widerfahrnissen des Lebens, den
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Für das Thema der Integrität sind daher Biografien radikaler Konversion von besonderem Interesse. Ehemalige Drogendealer, die in der Suchtprävention arbeiten, Ex-IS-Terroristen, die über den Islamismus aufklären, oder Ex-Neo-Nazis, die in der Aussteigerberatung tätig sind, gehören zu den Beispielen gelungener Resozialisierung. Für diese Personen erledigt sich subjektiv jedoch nicht die Frage nach dem mit ihrem Vorleben verbundenen Integritätsverlust, der sich auch mit der strafrechtlichen Maßnahme nicht erledigt. Der Schatten uneingelöster Ansprüche an sich selbst folgt der Person, vor allem, wenn gravierende Schädigungen anderer im Spiel sind.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
Erfolgen und Misserfolgen, dem Vermögen und Unvermögen und den eigenem moralischen Ansprüchen abarbeitet. Während Identitäten im Wechselspiel des Lebens ihre Formen und ihre Inhalte verändern und mit mehr oder weniger festen Klammern untereinander verbunden sein können,119 verbindet sich mit dem Begriff der Integrität eine moralische Dimension, die nicht in Parametern der Lebenspraxis aufgeht. Das Streben nach Integrität bzw. deren Wiederherstellung ist nicht terminiert; es muss auch nicht erfolgreich sein. Es wird sich an der Art und dem Ausmaß des persönlichen Versagens in Relation zur empfundenen Scham orientieren, insoweit die Person sich diese selbst eingestehen kann. Soweit zum Fall Middelhoff. Wie immer wir auch das Geflecht unserer Wünsche transparent machen wollen und ob wir uns dabei auf Frankfurts Stufentheorie stützen, das sei hier dahingestellt.120 Im Grunde geht es um die sehr einfache Frage, wie es uns gelingt, gegen bessere Einsicht zu handeln bzw. dieser nur sehr beschränkte Bedeutung zuzumessen. Sicher zielen die Angebote der Gesellschaft auf Korrumpierbarkeit durch Privilegien, Gratifikationen, Ausschließung von anderen als Mitstreitern oder Konkurrenten, Ausnutzung von Positionen und Vorteilen oder Übung von Permissivität. Da unsere Wünsche und Bedürfnisse eben die unseren sind, geben wir diesen eine gewisse Priorität vor den Wünschen und Bedürfnissen anderer. Das anthropologische äußere Mein und Dein steht nach Kant am Anfang aller Ungeselligkeit des Menschen; andererseits schafft es auch die Grundlage für eine rechtliche Ordnung. Wenn mein abends abgestelltes Fahrrad am nächsten Morgen nach an Ort und Stelle steht, freue ich mich natürlich. Diese Reaktion macht mir vielleicht bewusst, dass die Akzeptanz des äußeren Mein und Dein keineswegs als selbstverständlich anzusehen ist. Noch mehr gilt dieses für die Selbstbestimmung über das innere Mein und Dein, z. B. wenn andere Personen mich beleidigen, nötigen oder versuchen zu korrumpieren. Zum Erhalt des Selbst in der gewünschten Weise gehört die Befähigung zur Resistenz gegenüber Zumutungen durch andere. Wo Korrumpierbarkeit systemisch um sich greift, bedarf es einiger untereinander verbundener Voraussetzungen: 1. Der Anspruch auf ein bestimmtes Gut, einen persönlichen Vorteil, eine spezifische Form der Zuwendung, z. B. Sexualität o. Ä. wird zu eigenen Gunsten und zu Ungunsten anderer überdehnt.
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Die numerische Identität, die Unverwechselbarkeit des Individuums in Raum und Zeit betreffend, bleibt als abstrakte Größe natürlich erhalten. Daraus erklären sich die Paradoxien des Selbstseins, da wir in der Erfahrung des Wandels eines abstrakten Fixums bedürfen, für das wir wenig überzeugende Namen besitzen. Man kann sich mit dem Begriff Selbigkeit behelfen, so man damit keine spezifischen Qualitäten bezeichnet. Die Folk-Psychologie der Märchen aller Völker kennt eine Drei- oder Mehrstufentheorie der Wünsche, deren Abfolge in der Regel vom materialistischen Egoismus über die Einsicht in die gemeinschaftlichen Interessen hin zur Vorstellung des seligen Lebens führt. Die Geschichte von Peter Munk (s. o.) stellt eine modernere Variante dar, die mit bekannten Motiven arbeitet.
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4.1 Bewährung und Versagen
2. Die Überdehnung wird subjektiv als implizit gerechtfertigt gedeutet, und zwar primär in Bezug auf die eigene Person. 3. Der Anspruch (im obigen Sinne) wird nicht offen und diskursiv vertreten, sondern in Selbstverständlichkeit gelebt. 4. Der Anspruch ist autoritär gestützt durch Machtausübung, Androhung von Nachteilen oder korrumpierende Angebote (situativ und/oder institutionell) gegenüber abhängigen Personen, gleichviel, worauf diese Abhängigkeit beruht. 5. Derselbe Anspruch wird abgewiesen oder in Zweifel gezogen, wenn andere diesen für sich geltend machen, oder aber partiell gestützt, wenn er der Absicherung der eigenen Rolle oder Stellung dient. Sofern die Chance der Kontrolle über Güter, Vorteile und Zuwendung, um die es geht, ausschließlich in der Hand der betreffenden Person liegt, die diese für sich beansprucht, dann haben wir es mit der zusätzlichen Bedingung der unkontrollierten Machtausübung zu tun. Da Machtpositionen selten umfassend und unbegrenzt stabil gehalten werden können (den Fall der Langzeit-Diktaturen lasse ich hier außer Betracht), muss die Person über Strategien verfügen, sich unangreifbar zu machen. In Kontexten der Machtausübung, mit denen die Person ja hinreichend vertraut ist, sonst hätte sie ihre Position ja nicht inne, sind Machtpositionen immer gefährdet, weil auch andere nach Macht streben. Sind ökonomische Erfolge eine der Quellen der Machtausübung (z. B. im Management), so lehrt die Erfahrung, dass auch diese nicht auf Dauer gestellt sind. Aus dieser Einsicht folgt das Monopolstreben, das allerdings nur für wenige auf Grund ihrer Marktmacht möglich ist. Das Vertrauen in die eigene Unangreifbarkeit muss als weitere Bedingung hinzutreten, und das ist die Selbstüberschätzung. Diese ist immer mit einem Souveränitätsverlust verbunden, wenn man unter Souveränität die Fähigkeit versteht, zu seinem eigenen Besten auf lange Sicht zu entscheiden. Selbstüberschätzung heftet sich in der Regel an die subjektive Gewissheit der eigenen überlegenen Cleverness, wenn die Person durch die Art und Weise ihrer Privilegierung glaubt, die gute Chance zu besitzen, durch Täuschungsstrategien, verdeckende Operationen und Sicherung der Machtposition unangreifbar zu bleiben. Das Rätsel der systemischen Selbstkorrumpierung löst sich spätestens an dieser Stelle auf: Neben den äußeren Bedingungen (1) bis (4) bedarf es der (5) Disposition zur Selbstüberschätzung (6) in Verbindung mit einer als unangreifbar empfundenen Machtausübung. Als Angriff auf eine bestimmte rechtmäßige Verteilung des äußeren Mein und Dein in der Gesellschaft, einer Institution oder einem Unternehmen verlangt die Korrumpierung anderer und seiner selbst einen gewissen intellektuellen Energieeinsatz. Die Person verhält sich nicht nur in Abhängigkeit von ihren Bedürfnissen und Süchten, sondern sie handelt rational nach Gründen. Dass bestimmte Gründe, die Alternativen zuließen, eventuell keinen bedeutenden Raum einnehmen, das können ja auch die erweiternden Gesichtspunkte anderer sein, mag der Willensschwäche 145
4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
der Person zuzuschreiben sein, doch Willensschwäche ist kein Leiden, dem die Person wehrlos ausgeliefert ist. Der Strategien rationaler Selbsttäuschung mit einem hoch angesetzten Begründungsanspruch gibt es jedoch viele, sodass das Problem der Willensschwäche gut kompensiert werden kann. Es geht also um eine Form des Umgangs mit Situationen und uns selbst, die wir eingeübt haben und die wir durch Übung zum Positiven hin verändern können. Der selbstbestimmte Wille wächst mit seiner Betätigung. Die antike Tugendethik hat dafür den Begriff des Habitus (hexis) geprägt; dieser lässt sich sowohl auf die ethischen als auch auf die geistigen Fähigkeiten anwenden. Es geht um die Gesinnung der Person, in der ihr Handeln und Urteilen fundiert ist. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der erste Schritt zur Auseinandersetzung mit den eigenen eklatanten Verfehlungen häufig im Modus der Regression erfolgt: Die Person minimiert ihre reife Personalität und fokussiert die vermeintlich hauptverantwortliche Rolle anderer Beteiligter und der Umstände, um im Großen und Ganzen am unzerbrochenen Selbstbild festhalten zu können. Damit bestätigt die zur Regression neigende Person jedoch gerade die Kluft, die sich zuvor im Akt der Verfehlung zwischen dem tatsächlichen Tun und dem Anspruch eines nicht korrumpierbaren Willens auftut. Die subjektive Verantwortungsbereitschaft verhält sich in diesem Fall sozusagen umgekehrt proportional zur Größe des Versagens, Vergehens oder Verbrechens.121 Eine Steigerung dieses Modus wäre die soziopathische Haltung, in der das eigene Tun gegenüber einer Kritik von außen grundsätzlich abgeschottet wird. Möglicherweise bedarf es dazu einer grundlegenden asozialen Disposition, aber das wäre eine Frage der Individualpsychologie und Kriminologie. Höchstwahrscheinlich spielen auch Phantasmen der Selbstüberschätzung eine erhebliche Rolle. Die damit einhergehende moralische Entselbstung in Verbindung mit (anerkannten) Machtpositionen, auch solchen untergeordneter Art, kann zu einer gefährlichen politischen Mischung beitragen. Mit dem Blick auf reife Personen, die sich dem eigenen Tun stellen, öffnen sich ganz andere Türen der konstruktiven Einsicht: In einem Prozess der Abwägung lassen sich Gewichte setzen, die die Situation und die Handlung in einer erweiternden Sicht zugänglich machen. Dazu gehört die Einnahme von Perspektiven anderer Beteiligter und unabhängiger Dritter. Vollständige Transparenz wird es nicht geben, weil es manchmal um die ganze Person geht und diese ist niemals umfassend zugänglich. Ob die dabei erkannten Gründe und die in diesen zum Ausdruck kommenden Präferenzen einer unabhängigen Prüfung standhalten, ist in Rechtsstaaten 121
Möglicherweise hat H. Arendt sich zu sehr vom Wortlaut der Erklärungen Adolf Eichmanns leiten lassen, als sie die Rede von der Banalität des Bösen in ihren Zeitungsberichten für The New Yorker und dann im Untertitel ihres Prozessberichts in die Welt setzte. (Siehe dazu: Arendt 1964/13. Aufl. 2004, 371). Die Filmdokumente des Prozesses zeigen allerdings schon eine zerrissene Persönlichkeit, die durchgängig der Ausflüchte bedarf. (Siehe: ZDF-History: Der Fall Eichmann. [Erstsendung: 24.05.2016]. Abrufbar unter: https://programm.ard.de/?sendung=2872517825813945&first=1, 15.12.2020).
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4.1 Bewährung und Versagen
Gegenstand oft langwieriger Prozesse und/oder parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Dass diese Instrumentarien immer wieder zum Einsatz kommen müssen, zeigt, dass die v. a. im Management gebräuchlichen persönlichkeitspsychologischen Modelle der Integrität, die insbesondere bei der Auswahl von Führungspersonal eingesetzt werden, wenig nachhaltige Wirkung zeigen.122 Gewiss, es gibt auch leichtfertige und unüberlegte Versuche der Korrumpierung, die situativ bedingt sind und daher nicht zwingend in der Persönlichkeitsstruktur verankert sein müssen. Diese werden wahrscheinlich schneller auffliegen als statusgesicherte und auf langfristige Wirkung angelegte Korruptheit. Sofern jedoch politische und wirtschaftliche Interessen im Spiel sind, die für das Ansehen der betreffenden korrupten Person und ihr soziales und politisches Milieu eine Rolle spielen, scheint der Vorhang ziemlich dicht zu sein; wer diesen lüftet, z. B. als investigativer Journalist, kann seines Lebens in von Korruption geprägten Gesellschaften nicht wirklich sicher sein.
4.1.3 Indifferenz und Abspaltung: Der Fall der Grausamkeit gegen andere Wer vor sich selbst mit seinen unschwer als Verfehlungen und Versagen erkennbaren Handlungen leben will, ohne in Selbstzweifel zu verfallen, hat vielleicht die ‚Begabung‘ zur Indifferenz. Dann lässt ihn sein Tun gewissermaßen kalt. Der Blick auf das ähnlich inkorrekte Tun seines Soziotops mag dabei helfen: Die anderen machen es doch auch so. Es werden sog. Deckerklärungen gesucht, die das eigene. Handeln rechtfertigen und es in die Nähe von angepasstem Verhalten rücken: Wenn mein Handeln sich von dem der anderen nicht wesentlich unterscheidet, dann kann es so verkehrt auch nicht sein. Diese Strategie ist gut dafür tauglich, gewichtige Gründe, die sich auf die Selbstverantwortlichkeit beziehen, außer Kraft zu setzen. Indifferenz beinhaltet eine bewusst geübte Urteilsenthaltung. Bewusst geübt heißt hier, dass der Blick auf Gründe, die einem wohlbekannt sind, vermieden wird. Die Vermeidung ist eine mentale Handlung der Negation. Sie muss aktiv geübt werden und sie kostet am Anfang, je nach Charakter, auch etwas 122
Die klassischen Dimensionen des Persönlichkeitsmodells werden als die ‚Big Five‘ bezeichnet. Diese sind: Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Liebenswürdigkeit, Offenheit für Erfahrung und Neurotizismus. (Siehe hierzu: Kuhl 2010, 129–133). Dieses Modell erweitert das Pawlowsche Erregungskonzept des konditionierten Lernens und die auf den Psychologen Eysenck zurückgehenden ‚Big-Three-Persönlichkeitsfaktoren‘ Extraversion, Neurotizismus und Psychotizismus. Messungen dieser Faktoren erfolgen durch Selbstbewertungstests. Diese Faktoren sind zu einer Bestimmung der Integrität einer Person jedoch nicht unmittelbar geeignet, (a) da über deren Zusammenwirken wenig bekannt ist, (b) da sie als psychologische Konstrukte nur indirekt validierbar sind und (c) da ihnen eine normativ-integrative Funktion aus der das Selbst bewertenden Sicht der Person fehlt.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
Energie. Zur Gewohnheit geworden, wird diese Haltung am Ende nur noch wenig Energie beanspruchen. Zum Selbstverständnis eines bestimmten Soziotops geworden, kann die gegenseitige Bestärkung in der Verschwiegenheit gegenüber problematischen Praktiken das Gefühl der Zugehörigkeit bestärken. Hier kann an Middelhoffs Aussage zu seiner Sucht nach Anerkennung erinnert werden. Indifferenz bedarf einerseits der Akzeptanz der persönlichen Vorteile, die sich aus ihr ergeben, und andererseits einer Art kognitiver Diffusion. Letztere sorgt dafür, dass die Einwände gegen das eigene Handeln an Kontur und Klarheit verlieren. Unter dem Druck der Rechtfertigung im Falle einer Untersuchung oder Anklage zeigt sich die Kraft der Diffusion als sehr effektiv: ‚Mir war das nicht bewusst‘, ‚Daran kann ich mich nicht erinnern‘, ‚Das war damals so üblich‘ sind die gut bekannten Redewendungen. Dabei ist häufig nicht auszuschließen, dass die effektiv geübte Indifferenz nicht tatsächlich zu einem vorübergehenden Vergessen führt.123 Anders ist es mit der Abspaltung oder Dissoziation. Diese tritt dort auf, wo die Einsicht in das eigene Versagen und die eigene Schuld, aber auch die erlebte Verletzung sozusagen unabweisbar und schmerzhaft vor Augen stehen, körperlich gefühlt und gleichzeitig nicht zugelassen werden können, weil das eigene (Weiter-)Leben davon bedroht wäre. Dissoziation ermöglicht den Umgang mit unerträglichen Gefühlen, die das Funktionieren unterminieren, würden diese in den bewussten Fokus der Person rücken. Die vom gesellschaftlichen Leben verlangte Priorität des Funktionierens geht auf Kosten der Gefühle: Die Person erstarrt in bestimmten Bereichen und ist eines authentischen Austauschs nicht mehr fähig. Der Verlust von Lebendigkeit kann dabei umfassend sein und sich zu einem Krankheitsbild entwickeln, aus dem die Person ohne Hilfe nicht mehr herauskommt. Möglicherweise kompensiert die Person den Mangel an echtem Erleben durch gesteigertes Funktionieren und Erfolgssucht. Wo die Selbstachtung fundamental gestört oder gar unterminiert ist, bedarf es eines Gegengewichts, einer kompensatorischen Ressource der Anerkennung. Von dieser extremen Pathologie ist an dieser Stelle abzusehen. Sie wird unter dem Aspekt der Vulnerabilität wieder aufgenommen. Dissoziation ist also eine Form der psychischen Verarbeitung von Handlungen, Erfahrungen und Widerfahrnissen, die mit dem Selbstbild der Person und ihrem Selbstgefühl in äußerst schwerwiegender Weise nicht vereinbar sind: eine äußerste Zerrissenheit, die bewusst zu erleben der betroffenen Person unmöglich erscheint.124 Die Person ist auf eine schwer zu bewältigende Art ‚geschädigt‘, so könnte
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Indifferenz in dem hier erklärten Verständnis ist also immer gewählte Indifferenz und daher klar zu unterscheiden von psychisch bedingter Indifferenz, unter der Menschen leiden, die keinen für sie gangbaren Ausweg aus ambivalenten Situationsbewertungen finden können. I. Kertész, der als 14-Jähriger in das KZ Ausschwitz und von dort in das KZ Buchenwald deportiert wurde und dort im April 1945 die Befreiung erlebte, hat später als Schriftsteller die Dissoziation der Person auf vielfältige Weise verarbeitet. Seiner bekannten autobiografischen Reflexion Ich – ein anderer (Kertész 1993) stellt er das Rimbaud-Zitat „Ich ist ein anderer“ voran. In seiner eigenen Formulierung heißt es: „‚Ich‘ ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber sind.“ Als Weg des Überlebens in Ex-
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4.1 Bewährung und Versagen
man sagen, ohne dazu auf das sozialphilosophische Phantasma eines gänzlich unbeschädigten Lebens Bezug nehmen zu müssen, welches Adorno in utopischer Perspektive bewusst dem Leben unter Faschismus und Kapitalismus entgegenstellt (Adorno [1951] 1980). Als Beispiel der spezifischen Erfahrung der Zerrissenheit wird oft der psychologische Effekt des Milgram-Experiments angeführt. Auch wenn dieses wohl hinreichend bekannt ist, hier eine Kurzfassung: Die Testpersonen sollen einen Lerntest mit einer anderen Person durchführen. Diese Person wird ihnen kurz vorgestellt. Die andere Person (der ‚Schüler‘) ist für die als Lehrer tätigen Personen unsichtbar, angeblich in einem anderen Raum. Der Test wird den Personen im Experiment-Setting als Lerntest vorgestellt. Sie sollen Wortlisten vorlesen, die von den nicht sichtbaren, aber hörbaren Personen wiederholt werden sollen. Bei fehlerhaften Wiederholungen sollen per Knopfdruck Stromstöße ausgelöst werden. Bei jedem Stromstoß werden je nach dessen Stärke lautes Schreien und andere Reaktionen hörbar, z. B. ein Schlagen gegen die Wand, der verzweifelte Ruf nach Beendigung oder schließlich Verstummen. Fehler sollen also bestraft werden, um angeblich die Lerneffizienz zu fördern. Die Skala der Stromstöße reicht von geringen Voltzahlen bis zu 450 Volt und dementsprechend steigert sich die Lautstärke des Schreis. Ein Experimentleiter steht neben der ‚Lehrperson‘, die die Wortlisten verliest und die Stromstöße auslöst, angeblich zur Verbesserung der Lernens. Was die (freiwillig und ohne Bezahlung für die Mitarbeit) ausgesuchte Person nicht weiß: Die Antworten auf die Wiederholungsaufgaben und die Schreie kommen von einem Tonband. Es werden keine Stromstöße ausgelöst, aber die Knöpfe mit den Voltzahlen sind real. Die eigentlich zu testende Person ist also der ‚Lehrer‘ oder die ‚Lehrerin‘. Es geht in diesem Experiment darum, herauszufinden, wie weit die Person in der Zufügung von Schmerzen geht, wie bereitwillig sie den Auftrag durchführt oder gegebenenfalls Bedenken äußert, Widerstand leistet und den Versuch eventuell abbricht. Die Anleitungsperson im ersten Milgram-Experiment von 1960 (benannt nach dem durchführenden Psychologen Stanley Milgram) hat die besondere Aufgabe, im Falle von Verweigerung oder Widerstand durch wiederholte Äußerungen der Art ‚Bitte machen Sie weiter‘ oder ‚Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen‘, die Widerstandskraft der getesteten Person herauszufordern. Diese Aufforderung wird im monotonen, stereotypen Ton, jedoch ohne irgendwelche Androhungen vorgetragen. Nachfragen zur Verletzungsgefahr für den ‚Schüler‘ werden mit Pseudoerklärungen begegnet. Da die Teilnahme am Experiment freiwillig ist und da der Person nur ein kleiner Unkostenbeitrag (4 Dollar) und Fahrkosten von 50 Cent schon beim Eintreffen ausgehändigt werden, wird das Milgram-Experiment gerne als Test auf die Neigung zum Gehorsam und zur Unterordnung unter Autoritäten gedeutet. Da es nicht um einen beliebigen Gehorsam geht, sondern um tremsituationen geht es dabei um die Frage, wie die Person die Vorstellung des Ganzen von sich selbst bewahren kann, ohne dieses praktisch leben zu können.
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den Gehorsam, anderen Menschen starke Schmerzen zuzufügen, wobei die Schmerzensschreie und das völlige Verstummen je nach Voltstärke in einigen Fällen ‚konsequenter‘ Bestrafung auch die Möglichkeit der Tötung eines Menschen bedeuten können, ist der Rückschluss auf das ‚Gehorsamspotential‘ der Testpersonen naheliegend. Wer bei diesem Experiment bedingungslos oder auch nur bis zu einer bestimmten Grenze mitmacht, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie es um sein Mitgefühl für das Leiden anderer steht, das er selbst verursacht, und wie er seine Handlungsverantwortung sieht. Mit Recht ist gegen die Anlage des Experiments eingewandt worden, dass der Schein der Wissenschaft, der der Testperson durch das Labor-Setting vermittelt wird, dazu geeignet ist, ethische Bedenken von vornherein zu relativieren und die Verantwortung ‚abzugeben‘. Milgram selbst hat später den Versuchsaufbau als in Teilen unethisch kritisiert. Eine derartige Anlage des Experiments würde schon aus forschungsethischen Gründen heute nicht mehr akzeptiert werden. Das ändert allerdings nichts daran, dass hier eben ‚die Wissenschaft‘ als Autorität fungiert und das ist eine abstrakte Größe. Sie besitzt keinerlei Sanktionierungsmacht gegenüber der getesteten Person. Wie zu erwarten, waren es Personen mit ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein, die das Experiment in einem relativ frühen Stadium abbrachen.125 In Zusammenhang der Integritätsfrage ist es nun interessant, wie die Testpersonen nach der Aufklärung über das reale Test-Setting auf das eigene Verhalten eingehen. Das hängt natürlich vom Grad ihrer Bereitwilligkeit ab, ihrer ‚Lehreraufgabe‘ nachzukommen. Es gab eben auch Personen, die ihre Mitwirkung sehr frühzeitig abbrechen wollten und es dennoch nicht taten, und es gab Personen, die ohne den Versuch eines Abbruchs sehr weit gegangen sind. Letztere sollen hier in den Blick genommen werden. Es stellt sich die Frage, ob sich für die eher unkritischen und bereitwillig ‚kooperierenden‘ Personen im Nachhinein eine Zerrissenheit des Selbstbildes ergibt oder ob sie Entlastungs- und Rechtfertigungsstrategien einsetzen, die es erlauben, an ihrem Selbstbild festzuhalten. Eine Untersuchung ein Jahr nach dem Experiment ergab ein differenziertes Bild. Es gab Personen, die über ihre Teilnahme eher froh waren, da sie etwas über sich erfahren hätten und die – gemäß ihrer Deutung – vielleicht zu nützlichen psychologischen Ergebnissen haben beitragen können, und Personen, die noch sehr lange an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten. Es lässt sich feststellen, dass es zwei Wege gibt: Die einen gehen den Weg der Wert-
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In der ersten Versuchsreihe, in der der Versuchsleiter im Raum anwesend war, gingen 65% der Probanden/Probandinnen bis zur Höchstgrenze der ‚Bestrafung‘. Alle Teilnehmer/Teilnehmerinnen gingen jedoch bis 300 Volt mit. (Siehe dazu: S. Milgram [1974/1982], 77–81). Auf die verschiedenen methodisch differenzierten Wiederholungen des Experiments muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da es um den grundsätzlichen Aspekt der Diffusion der Verantwortung und deren Konsequenzen geht. Eine generelle Zurückweisung des Ansatzes scheint mir jedoch zu leichtfertig angesichts der weltweiten Rückkehr der Folter und der Tötung politischer Gegner, auf wessen Territorium auch immer.
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4.1 Bewährung und Versagen
umkehrung (‚eine wichtige Erfahrung‘, ,für mich gut‘), die anderen konfrontieren sich mit der Abgründigkeit des eigenen Handelns, für das sie sich selbst verantwortlich fühlen. Die Scham über sich selbst kann von einer wie auch immer gearteten Erklärung und Rechtfertigung nicht unterdrückt werden. Es handelt sich um eine ganz besondere Form der erlebten Ohnmacht, auch und gerade, weil die Person ihre Macht und Gewalt gegen andere zu deren Schaden ausgeübt hat. Es ist das Gefühl der Ohnmacht dem eigenen moralischen Anspruch gegenüber, den die Person an sich selbst stellt. Für Personen, die ihren Status als verantwortliche Akteure nicht aufgeben bzw. minimieren wollen und können, indem sie auf den (durchaus unethischen) Rollenzwang als Teil des Versuchs verweisen, bleibt nur der Weg der Klarheit über sich selbst. Dies schließt ein, den eigenen Opferstatus zu reflektieren und zu überwinden, ohne die Bedeutung der Mittäterschaft abzuspalten.
4.1.4 Zur Kritik am Milgram-Experiment H. B. Schmid hat in Moralische Integrität. Kritik eines Konstrukts (2011) das Milgram-Experiment methodisch, forschungsethisch und philosophisch einer umfassenden Kritik unterzogen. Es gilt ihm als ein verfehlter Versuch, das Konzept von moralischer Integrität überhaupt zu validieren. Er geht von dem zweifellos richtigen Gedanken aus, dass Moral nicht individualistisch verstanden werden kann, sondern nur unter Einbeziehung der Gemeinschaft. Diese Grundposition weitet er auch in späteren Publikationen dahingehend aus, dass der Gedanke individueller Verantwortung in einem auf die eigene Reflexion von Werten gestellten Leben philosophisch verfehlt und ideologisch voreingenommen sei: „In den Begriff persönlicher Integrität gehen starke atomistische Annahmen ein. Da reale Akteure nicht umhinkönnen, sich kognitiv und praktisch in holistischen Strukturen zu bewegen, sind sie sozusagen grundsätzlich kompromittierbar. Was das Milgram-Experiment uns zeigt, ist weniger der moralische Bankrott des alltäglichen Normalmenschentums, sondern primär die Grenze des Versuchs, so etwas wie die Substanz der Moral in der Innerlichkeit der einzelnen Individuen zu verorten und begrifflich von den Gemeinschaftspraktiken zu lösen […]“ (Schmid 2011, 294).
Der Gegensatz von ‚atomistisch‘ und ‚holistisch‘ mag der von Schmid vertretenen Position dienlich sein, jedoch wird er nicht konkretisiert. Es wird schwer sein, eine Moralphilosophie zu finden, die eine atomistische Moralvorstellung vertritt. Was unter ‚holistisch‘ zu verstehen ist, bleibt ebenfalls unklar, zumal in der Folge von Strukturen im Plural die Rede ist, ohne dass dazu Differenzierungen eingeführt werden. Dass Menschen in Situationen entscheiden und unter Be151
4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
zugnahme auf andere Beteiligte, kann ja nicht bedeuten, dass sie nicht auf Distanz zu sich selbst und der Situation gehen können. Moralphilosophisch und sozialphilosophisch könnte man Schmids Anliegen der Rekonstruktion der Gemeinschaft als Versuch sehen, Durkheims Position zur Gemeinschaft auf inverse Weise wiederzubeleben, wenn er unterstellt, dass ‚holistische Strukturen‘ generell Kompromittierbarkeit fördern und individuelle moralische Entscheidungen eine prinzipielle Überforderung darstellten. Es ist darüber hinaus unklar, warum Schmid seine Kritik auf den Bereich moralischer Entscheidungen begrenzt, denn warum soll es in anderen Bereichen um die individuelle Entscheidungsfähigkeit besser bestellt sein? Dass das Experiment in der ursprünglichen Form alle Mitwirkenden, von den Ko-Akteuren (die als Schauspieler engagiert wurden) bis hin zu den Wissenschaftlern, zu Mittätern macht, ist unbestritten. Die Bedingungen der Authentizität und Ernsthaftigkeit werden durch das Gesamtarrangement umfassend außer Kraft gesetzt. Die Möglichkeit der Verweigerung stellt sich also auf allen Ebenen des Versuchsaufbaus. In diesem Zusammenhang verdient auch eine Wiederaufnahme der Milgram-Hypothese durch den Persönlichkeitspsychologen P. Zimbardo im Jahre 1971 Erwähnung. Das sog. Stanford-Prison-Experiment hat für einige Furore in Wissenschaft und Öffentlichkeit gesorgt. Es wurde in einem Kellerraum der Stanford-Universität mit freiwillig teilnehmenden Studenten durchgeführt. Die Gruppe wurde in Gefangene und Wärter eingeteilt. Nach sechs Tagen musste das Experiment abgebrochen werden, weil Situationen von Gewalt und Grausamkeit nicht mehr kontrollierbar waren. Auch dieses Experiment ist wissenschaftlich und ethisch höchst umstritten. Zimbardo musste sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er manipulativ in das Experiment eingegriffen habe, indem er in der Rolle des Gefängnisdirektors und Experimentleiters den Wärtern Anweisungen gegeben hatte. Die Grenzen zwischen Spiel und Experimentsituation sind nach Aussagen von Teilnehmern nicht erkennbar gewesen.126
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Eine zusammenfassende Darstellung und Bewertung des Experiments aus dem Abstand von 47 Jahren (v. 20.06.2018) ist abrufbar unter: https://www.insidehighered.com/news/2018/06/20/newstanford-prison-experiment-revelations-question-findings (20.11.2020). Zur Kritik an der Forschungsmethodiksieheauch:https://eo-vmw-jwpa.ku.de/journalistik/methoden/methoden-der-empirischensozialforschung/experiment/beispiele-beruehmter-experimente/stanford-prison-experiment-haneybankszimbardo-1973/ (20.11.2020).
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4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung 4.2.1 Werte-Immunisierung der Gemeinschaft und des Selbst Wenn es kein individuelles moralisches Versagen geben kann, kann es dann ein kollektives moralisches Versagen geben? Woran sollte man dieses messen, wenn es in der wie auch immer gearteten Gemeinschaft keine Stimmen gibt, die sich für oder gegen etwas erheben? Ist das, was die Gemeinschaft verlangt, qua Gemeinschaftlichkeit gerechtfertigt, wie H. B. Schmid es sieht? Milgram hatte das Unvermögen einer Person, ihren eigenen ursprünglichen Handlungsmotiven zu folgen, motivationale Externalität genannt und auf spezifische Situationen bezogen (vgl. Milgram 1974/1982, 169–178). Daran anschließend schlägt Schmid den Begriff der volitionalen Externalität (Schmid 2011, 154) vor. Diese ist dadurch charakterisiert, dass das eigene Wollen an eine Instanz oder eine Gemeinschaft abgetreten wird. Schmid deutet dieses Phänomen als eine anthropologische conditio, womit er diese einer moralischen Bewertung entzieht. Dagegen ist einzuwenden, dass der Unterschied von Handeln (als sinnhaftes Tun) und Verhalten (als reine Anpassung an gegebene Bedingungen des Gruppenverhaltens) aufgehoben wird. Es ist Schmid darin rechtzugeben, dass volitionale Externalität eine Möglichkeit des Menschen darstellt. Es ist jedoch nicht klar, warum man sich mit dieser Möglichkeit als Grundlage einer Moraltheorie anfreunden sollte. Das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der Lager und der Völkermorde hat die Möglichkeiten volitionaler Externalität in allen Varianten durchgespielt. Der Blick nach China und Nordkorea zeigt, dass der Versuch der Beherrschung des Willens unangepasster und unerwünschter Menschen immer wieder zum Staatszweck erhoben werden kann. Oder stellt sich diese Frage gar nicht, weil mit einer bestimmten Disposition der Gemeinschaft einfach eine soziale Tatsache im Sinne Durkheims beschrieben ist, die in diesem Fall jedoch auf Wertindifferenz beruht? Auf diese Weise könnten wir ja z. B. den Antisemitismus vergangener Jahrhunderte bis in die jüngste Vergangenheit beschreiben. Wer sich demzufolge im Mittelalter an einem Pogrom oder zur Zeit des Nationalsozialismus am Holocaust beteiligte, tat vielleicht nicht das Richtige, aber er tat auch nicht etwas Falsches; er tat, was seine Gemeinschaft tat. Die Frage des ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ stellt sich hier nicht als eine moralische Frage, sondern als die Frage, ob man einer von der Gemeinschaft geübten Praxis folgt oder dieses besser sein lässt, wobei für keine der Entscheidungsrichtungen moralische Gründe zählen dürfen. Es geht nur um die Frage, ob man die Gewohnheit der Gemeinschaft für sich hinnimmt oder ablehnt. Die gefragte Haltung wäre in jedem Falle die der Indifferenz, aus der eine Art blinder Akzeptanz folgt. Allenfalls könnten noch Sanktionen der Gemeinschaft ins Spiel kommen, die die Indifferenz zur einen oder zur anderen Seite auflösen. Diese Sanktionen werden jedoch nicht moralisch begründet, sondern es reicht ein vager Hinweis auf das Funktionieren und den Erhalt 153
4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
der Gemeinschaft.127 Eine so gedachte Gemeinschaft lebt in einer extremen Situation, die als umfassende moralische Immunisierung verstanden werden muss. Damit soll gemeint sein, dass diese Gemeinschaft keinen Raum für moralische Abwägungen zulässt und diesen auch gar nicht benötigt. Sie vertraut (qua Gewohnheit und Regelbefolgung) darauf, dass die moralische Immunisierung bei ihren Gesellschaftsmitgliedern zu einer moralischen Indifferenz führt, wobei diese nicht als ein Mangel oder Leiden erscheint, sondern als ‚das Normale‘ und daher Richtige. Den Faktor des lebensbedrohlichen Zwangs, wie dieser in Lagern und anderen totalitären Einrichtungen gegeben ist, lasse ich für mein Gedankenexperiment hier bewusst beiseite. Die Frage, ob irgendwelche Regeln oder Gesetze diesen Zustand der Gesellschaft stützen, ist dabei unerheblich, weil es keine unumstößlichen Gründe geben kann, diese Regeln oder Gesetze abzulehnen oder zu befürworten. Als ein einziges subjektives Element der individuellen Entscheidung sei zugelassen, dass die Individuen sich den anderen angleichen und diese nicht enttäuschen wollen. In einer solchen Gemeinschaft moralischer Zombies gäbe es natürlich keinen moralischen Atomismus; im Gegenteil, alle Individuen wären mit allen irgendwie verbunden. Es gäbe allerdings auch keine Veränderung und keinerlei Einflussnahme auf andere durch Argumente, die irgendeine moralische Qualität beanspruchen könnten. Jeder wäre in dem Vorteil, sich von sich und seinem Tun niemals distanzieren zu müssen. Es gäbe auch keinen Grund einer Reflexion über sich selbst, weil die Gemeinschaft so funktioniert, wie sie ist. In dieser etwas dystopischen Beschreibung finden sich einige Elemente, die aus der Realität bekannt sind. Man wird sie in der einen oder anderen Weise in extrem konservativen und lokal recht engen Bereichen menschlicher Gemeinschaften finden. Gesellschaften unter einer Diktatur stehen immer unter dem äußeren und inneren Zwang der Gemeinschaftsbildung.128 Wenn solche Gemeinschaften 127
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Die Beispiele von Chor, Orchester und Gemeinschaftsspielen bei Schmid gehen in diese Richtung (vgl. Schmid 2011, 225f). In ihrer Schrift Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? (Arendt [1964/1965] 2018) argumentiert H. Arendt gegen die Anwendbarkeit des Begriffs individueller Verantwortung unter Bedingungen totalitärer Herrschaft. Da sie andererseits die kantische Urteilstheorie stark macht, ergibt sich ein nicht ganz leicht auflösbarer Widerspruch, auf den sie selbst hinweist (ebd. 76f). Die These von der Banalität des Bösen kann diesen Widerspruch vielleicht etwas abmindern, aber nicht ganz beseitigen. Da Arendt totalitäre Herrschaft mit einer Maschinerie gleichsetzt und das nicht nur metaphorisch meint, besitzen die ‚Rädchen‘ im System keinerlei Freiheitsgrad (vgl. ebd., 28f). Es sollte angemerkt sein, dass Arendt sich hier auf die Tätererklärung stützt und ihre These auf bürokratische Herrschaft überhaupt ausweitet. Denen, die nicht zu Mitläufern und Tätern werden wollten, gesteht Arendt keine genuin moralische Reflexion zu. Sie wollten nur nicht ‚mit sich selbst als Mördern‘ zusammenleben. Dabei dient ihr das sokratische Zwiegespräch mit sich selbst als Vorbild (vgl. ebd., 46). Da Arendt ihre Argumentation primär auf Täteraussagen stützt und da sie Biografien des Widerstands und der Verweigerung nicht einbezieht, erwecken ihre Thesen gelegentlich den Eindruck vorgefasster Meinung. Die heutige Auffassung individueller Verantwortung im internationalen Strafrecht betont im Unterschied zu Arendt die grundsätzliche Verantwortung aller beteiligten Akteure entlang der gesamten Befehlshierarchie. (Siehe hierzu: Rome Statute of the International Criminal Court
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4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
auch interne Moralität nicht zulassen, indem sie Indifferenz der Gemeinschaft gegenüber strikt bekämpfen, so ist es doch nicht zu verhindern, dass sie sich den von außen herangetragenen moralischen Erwägungen stellen müssen. Sekten entwickeln erhebliche Potentiale, den Abwehrkampf dagegen erfolgreich zu führen. Doch ist die kollektive Selbstimmunisierung nicht auf Sekten beschränkt. Diese ist auch in Gesellschaften, Institutionen, Unternehmen und Gruppen anzutreffen, die der kollektiven Identifikation erliegen. Das Ich kommt im Wir zum Erlöschen. Das kann durchaus ein erhebender rauschhafter Zustand sein. Rausch und Ideologie finden sich häufig eng gepaart. Die Kombination beider ist das Geheimnis manipulativer Machtausübung durch suggestive Ausschaltung des Anspruchs auf Selbstkontrolle.129 Das „Wie konnte ich nur!?“ abtrünniger Mitglieder verdeutlicht das Ausmaß an Befangenheit in ihrem Modus des Mittuns jenseits eines eigenen Urteils. Moralische Immunisierung bedeutet daher auch Vergessenheit gegenüber dem bewussten Wesen der eigenen Person. Der Wechsel in den bewussten Modus wird daher auch als eine Art Erwachen erfahren. Die Schriftstellerin Herta Müller beschreibt in ihrem Essay Das Ticken der Norm (Müller 1995/2016, 95–108) sehr eindrucksvoll, wie die kleine Veränderung des Wegzugs aus ihrem Heimatdorf in Rumänien in die nur 30 Kilometer entfernte Stadt ihr vor Augen geführt hat, wie sich ‚das Normale‘ des Dorfes tief in das Fühlen und Denken seiner Bewohner eingeschrieben hat: „Alle zusammen hatten im kleinen Dorf das Diktat des ‚Normalen‘ geschaffen, hoffend, dass der einzelne ihm nicht gewachsen ist“ (ebd., 95). In der Stadt kann sie klarer erkennen, wie der diktatorische Staat ‚Normalität‘ schafft: durch Überwachung, Bespitzelung, geheimpolizeiliche Vorladung, Verhaftung und Bedrohung des Lebens. Die Subtilität der Repression besteht in deren Verkleidung in allgemein anerkannten Begriffen von „Ordnung, Disziplin, Fleiß“ (ebd., 98), die den jeweiligen Zwecken und Mitteln des Staates flexibel angepasst werden. Erst aus der späteren Distanz erkennt sie, „[…] wieviel Raserei und Ungeheuerlichkeit der Staat diesem unreflektierten, fast angeborenen Kontrollmechanismen des Dorfes hinzufügt“ (ebd., 97). Ein moralisches Aufbegehren gegenüber der Gemeinschaft wird sich unter diesen Bedingungen zunächst als Angst bemerkbar machen. Der dystopische Entwurf einer moralisch immunisierten Gemeinschaft übertreibt vielleicht, aber er stellt Gesichtspunkte dafür bereit, die Binnenstruktur realer Gemeinschaften und Gesellschaften besser zu verstehen, die das Interesse an moralischer Integrität prinzipiell ausschließen wollen und daher bekämpfen müssen. Darin liegt jedoch auch eine Hoffnung, denn es wird deutlich, dass moralische Immunisierung nicht einfach passiert,
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(2002), Art. 33. Abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/nr/rdonlyres/add16852-aee9-4757-abe79cdc7cf02886/283503/romestatuteng1.pdf (07.12.2020). Die Psychoanalyse greift hier gerne auf das Erklärungsmuster des symbiotischen Regressionsbedürfnisses in der frühen Kindheit zurück. Für eine Erklärung der anhaltenden Außerkraftsetzung des bewussten Ichs halte ich diesen Ansatz jedoch nicht für ausreichend.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
sondern mit allen verfügbaren Mitteln, auch solchen der Gewalt, aufwändig durchgesetzt werden muss. Beispiele der Reflexion aus dem Inneren der Gemeinschaft heraus sind besonders aufschlussreich, weil sie ein starkes Argument gegen den universellen moralischen Relativismus bereitstellen. Dieser besagt in vereinfachter Form, dass es nicht gerechtfertigt sei, heutige moralische Maßstäbe, z. B. die der westlichen Kultur oder Demokratie, auf andere Kulturen oder historische Phasen der eigenen Gesellschaft anzuwenden. Wenn es nur um die Forderung geht, nicht a-historisch zu urteilen, ist gegen diese Position nichts einzuwenden. Wenn damit allerdings gemeint ist, dass es keine Grundlage für vergleichende moralische Urteile überhaupt geben kann, dann liegt hier ein Fehlschluss vor. Diese Position ist nur dann überzeugend, wenn unterstellt wird, dass Menschen einer bestimmten Kultur zu allen anderen Kulturen und historischen, gesellschaftlichen und politischen Zuständen der Menschheit einen gleich großen Abstand besitzen. Jede Ausmessung dieses Abstandes würde nur das triviale Ergebnis erbringen, dass wir anders sind als die anderen und umgekehrt. Und somit wäre jedes Argument gegen eine gesellschaftliche Praxis, z. B. das Steinigen oder Verbrennen von Frauen, sowohl anmaßend als auch obsolet, weil wir uns irgendwie zu Richtern in Angelegenheiten machen, die uns nichts angehen und für die wir weder ausgebildet noch ausreichend enkulturiert sind. Dieser heute oft zu hörende Vorwurf des moralischen Hegemonieanspruchs will uns nicht nur zu moralischen, sondern auch zu geistigen Analphabeten machen. Die Unteilbarkeit der immer unvollendeten menschlichen Vernunft bewährt sich dagegen darin, Verbindendes und Trennendes der Kulturen erkennen zu können, Geltungsansprüche zu prüfen und nicht blind zu übernehmen.
4.2.2 Individuelle Schuld und kollektives Beschweigen: zwei Beispiele Beispiel I: Wo Schuld und Schuldfähigkeit nicht anerkannt werden – ob nun individuell oder in Bezug auf Gruppen oder die Gesellschaft – kann es auch keine Verantwortung geben, weder im moralischen noch im strafrechtlichen Sinne. Die kollektive Selbstentlastung, wie wir sie im Falle der von Staaten und Ethnien begangenen Verbrechen gegen zu Feinden erklärten Bevölkerungsgruppen erlebt haben und erleben, weckt nicht unser Vertrauen in das selbstkritische Potential von ‚Großgemeinschaften‘. Dies gilt natürlich auch für Gemeinschaften, die sich als zutiefst religiös, als dem Guten selbst und der göttlichen Ordnung überhaupt verpflichtet fühlen. Die Unfähigkeit auch nur der moralischen Aufklärung von Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und Gewaltausübung in Institutionen der großen Kirchen legt davon beredtes Zeugnis ab. Eine straf156
4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
rechtliche Aufarbeitung ist einerseits wegen der juristischen Sonderrechte der Kirchen und andererseits wegen der Verjährung nur in wenigen Fällen zu erwarten gewesen. Die inzwischen unter größten Widerständen offen gelegten Missbrauchsfälle können als eklatante Beispiele für eine moralische Immunisierung gelten, die auf dem ideologischen Integritätsschutz der fraglichen Institutionen angewiesen ist. Dieser ‚Schutz‘ ist über Jahrhunderte gewachsen, war bis ins letzte Jahrhundert von Machtansprüchen gegenüber den Individuen und Gläubigen gestützt und ist heute noch durch eine Vielzahl von Sonderrechten gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Recht geprägt. Es handelt sich daher um eine besondere Form der Interlegalität, deren alleiniger Sinn die Privilegierung einer religiösen Institution darstellt. Diese Privilegierung ist nicht ohne Folgen geblieben. Ein besseres Beispiel für eine moralische Immunisierung (unter dem Deckmantel historisch gewachsener Sonderrechte) und für eine Verweigerung individueller Schuldübernahme gegenüber der Gesellschaft kann es in der Moderne und Gegenwart kaum geben. Da moralische Reflexion und Gewissen in erster Linie individuelle Potentiale darstellen, erklärt es sich auch leicht, dass es Aufklärung von Verbrechen und Vergehen nur geben kann, wenn Individuen Zeugnis ablegen und sich selbst und andere als Opfer erkennen können und wollen. Damit nehmen sie eine Position gegen ihre Gemeinschaft ein. Sie ‚spielen‘ nicht mehr mit, zumindest nicht nach den Regeln, die dem Beschweigen zugrunde liegen. Anders als das Verschweigen, das eine anstrengende Tätigkeit sein kann und sich in der Regel auf etwas Einzelnes bezieht, ist das Beschweigen eine gut etablierte umfassende Praxis, die keiner formellen Regelungen bedarf, denn sie ist gewohnheitsmäßig etabliert und von reziprokem Vorteil für alle, die sich daran halten. Die Hypernorm des Erhalts der äußeren Integrität der Institution erweist sich einerseits als existenzsichernd und andererseits als Garantie für die Aufrechterhaltung der verwerflichen Praxis. Verstärkt durch das nicht aufhebbare Bewusstsein der rechtlichen Verwerflichkeit, potenziert durch das religiöse Verdikt der sexuellen Sünde, ist die Immunisierung des individuellen Unrechtsbewusstseins perfekt. Da die Moralität der klerikalen Institutionen nicht in Zweifel gezogen werden darf, akzeptieren die Beteiligten die fundamentale Aufhebung ihrer Personalität gegenüber der Institution. Sie sind nur noch Werkzeug – in dieser Hinsicht. Die Institution der Beichte leistet in diesem Zusammenhang natürlich wesentliche Beihilfe: Eine noumenale – nur imaginierte – Instanz schafft seelische Reinigung außerhalb des Reichs der menschlichen Vernunft und ihres säkularen Rechtsbewusstseins. Das Übrige ist der aus Sonderrechten erwachsenden Vertuschungspraxis der Kirchen überlassen. Im Falle der Katholischen Kirche unterhalten die Diözesen Geheimarchive, in denen die Personalakten zu Disziplinarverfahren lagern. Das Schweigen hat also auch eine konkrete, institutionell und kirchenrechtlich abgesicherte Dimension.130
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Die Forschungskommission, deren Ergebnisse in der 2018 veröffentlichten MHG-Studie zu den Missbrauchsfällen an Kindern und Jugendlichen in der Katholischen Kirche dokumentiert wurden,
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
Das Beschweigen ähnelt dem Tabu: Es wirkt als eine absolut ausgezeichnete Vermeidungsnorm, die unter den Beteiligten, d. h. den Tätern und Mitwissern, konsensuell befolgt wird. Im Falle des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen wird diese Norm auch über die Opfer verhängt und ist oft wirksam bis ins hohe Erwachsenenalter. Den missbrauchten Personen wird eine Mittäterschaft und damit ein eigenes Interesse am Beschweigen suggeriert. Dies wirkt umso nachhaltiger und fataler für das seelische Überleben der Opfer, als Urteilskraft und autonome Verfügung über den eigenen Willen bei Kindern und Jugendlichen noch nicht ausgeprägt sind. Die destruktive Kraft der Scham tut ihr Übriges, um in vielen Fällen ein lebenslanges Trauma auszulösen. Beispiel II: Der Umgang mit dem Holocaust in der kollektiven Erinnerung der deutschen Geschichte ist ein Thema, das dem angestrengten Versuch der individuellen und kollektiven Identitäts-NeuBildung der Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zutiefst eingeschrieben ist. Hier liegt ein Fall des Gemeinschaftshandelns vor, der je nach Erzählweise den Schwerpunkt setzt auf a. die Schuldunfähigkeit der Einzelperson (keine Handlungspotentiale, kein oder wenig Wissen), b. die Schuldzuweisung an übergeordnete Instanzen (‚das totalitäre System‘), c. die innere Distanz zum System d. die äußere Distanz zur Diktatur und deren Zielen, e. die Zeitverhältnisse allgemein und die Krisen der 1918 gegründeten Weimarer Republik im Besonderen, f. die besonderen Bedingungen des Krieges, seit Kriegsbeginn 1939. Ein besonderes Problem ist dabei die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Wenngleich der Massenmord in den Vernichtungslagern nicht für jeden sichtbar war, so sind es jedoch die gewalttätigen und durch ‚Gesetze‘ gestützten Akte der Ausschließung, der umfassenden Entrechtlichung, Enteignung und Demütigung und schließlich der Deportationen. Die Vielzahl der KZ-Außenlager im ganzen Land, die „Elendszüge von Gefangenen“ (Kogon 1995, 123) auf deutschen Bahnhöfen und nicht zuletzt die bereitwillige Gefolgschaft in den einer unmenschlichen Ideologie verpflichteten Massenorganisationen machen es der Regression in das Nicht-
hat erstmals einen fast vollumfänglichen Zugriff auf die in den Geheimarchiven dokumentierten Disziplinarfälle gehabt. Abrufbar unter: https://bistumlimburg.de/fileadmin/redaktion/Bereiche/ missbrauch/MHG-Studie-gesamt.pdf (25.09.2020).
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4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
wissen äußerst schwer. Mit dem Plakat „Judenfrei“ haben sich unzählige Städte, Dörfer und Gemeinden eine besondere Auszeichnung geben wollen. Das Verschwinden der Nachbarn, der jüdischen Einrichtungen und Geschäfte und die Verfolgung derer, die dagegen Widerstand leisteten, konnte nicht übersehen werden. Humanität und die geistige Freiheit, in der ein großer Teil der nationalsozialistischen Elite einmal erzogen worden war, war ebenfalls verschwunden. Was von ihr blieb, war nur noch die ‚nationale Größe‘ einiger Dichter und Denker, deren Ideen sich mehr oder weniger gewaltsam in die herrschende Ideologie einpassen ließen. Als ein besonderer Fall des Beschweigens kann der Fall Franz Stangl dienen. Stangl, der als ‚Henker von Treblinka‘ erst 1970 von Brasilien in die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert wurde, hatte das Vernichtungslager Sobibor aufgebaut (1942) und war dort für die Tötung von 100 000 Juden verantwortlich. Er wurde in das Vernichtungslager Treblinka versetzt. Er wurde als Lagerkommandant beider Lager für die Tötung von 400 000 Juden angeklagt. Nach dem Aufstand in Treblinka wurde er zur Partisanenbekämpfung an die adriatische Küste versetzt. Das US-Militär nahm ihn nach Kriegsende wegen seiner Rolle bei der Partisanenbekämpfung in Haft. 1947 wurde er an die österreichischen Behörden übergeben, die ihn wegen seiner Beteiligung an der ‚T 4-Aktion‘ anklagen wollten. Er konnte aus dem wenig gesicherten Untersuchungsgefängnis fliehen und über die vom Vatikan organisierte sog. Rattenlinie mit Unterstützung des Bischofs Alois Hudal in Syrien Aufenthalt finden, bis er 1951 mit seiner Familien nach Brasilien auswanderte. Ab 1959 war er bei VW do Brasil beschäftigt. Erst 1961 wurde in Österreich nach ihm wegen seiner Rolle in Treblinka gefahndet. Simon Wiesenthal ist es zu verdanken, dass er 1967 an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert wurde, wo im Mai 1970 der Prozess gegen ihn begann. Das Besondere dieses Falls ist, dass Stangl über seine Tätigkeit in den Vernichtungslagern gegenüber seiner Familie konsequent geschwiegen hat. Als ein aussagekräftiges Zeugnis der Denkweise Stangls können die von der Journalistin Gitta Sereny aufgezeichneten Gespräche dienen. Stangl hatte diesen zugestimmt und schien ein besonderes Interesse daran zu haben, sein Schweigen zu brechen und sich mit sich selbst zu konfrontieren. Es war zu erwarten, dass die Journalistin mit ihren Fragen auf den Kern seiner Persönlichkeit zielen würde. Stangl musste damit rechnen, zu einer lebenslangen Haft verurteilt zu werden. Der Wiedereinstieg in ein bürgerliches Leben schien damit unwahrscheinlich. Es konnte also nur um sein Selbstbild gehen, in Konfrontation mit den moralischen Maßstäben einer kritischen Betrachterin. Er schien diese Gespräche selbst ungeduldig herbeigesehnt zu haben. Die Politologin Gesine Schwan hat diesen Fall aufgegriffen und dessen Besonderheit auch in Abgrenzung zur Verantwortungsabwehr im Fall Eichmann in ihrem Buch Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens (Schwan 1997) genauer analysiert. Sie zitiert dazu die
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
Gesprächsaufzeichnungen der Journalistin Gitta Sereny.131 In einem letzten Gespräche steht die Frage der Schuld im Raum. Zunächst reagiert Stangl mit Phrasen wie ‚reines Gewissen‘. Dann schränkt er ein: „[…] aber ich war dabei“, und geht einen Schritt weiter: „Also ja, in Wirklichkeit bin ich mitschuldig … weil … meine, Schuld … meine Schuld … erst jetzt in diesen Gesprächen …jetzt wo ich zum ersten Mal über das alles gesprochen habe …“ (Sereny 1995, zitiert nach: Schwan 1997, 113). Diese Äußerungen werden mit äußerster Anstrengung getan; Stangl macht lange Pausen und hält sich verkrampft an der Tischkante fest. Neunzehn Stunden nach diesem letzten Gespräch verstirbt Stangl an einem Herzinfarkt (28. Juni 1971). Er hatte schon früher Herzprobleme. Schwan deutet den Herztod mit einiger Vorsicht so: „Das Gespräch und auch wohl das Geständnis waren vielleicht der entscheidende Schritt für ihn, um sterben zu können“ (ebd., 115). Im Rahmen der Überlegungen zur inneren Zerrissenheit der Person kommt es hier auf die Tatsache an, dass es eine unaufhebbare Zerrissenheit gibt, die eine wie auch immer geartete Rückgewinnung personaler Integrität unmöglich macht. Diese Art von Zerrissenheit ist nicht im Mentalen isolierbar; sie umfasst den Körper und seine Ausdrucksformen und dies besonders in Situationen der Thematisierung möglicher Schuld. Stangls anfängliche Rationalisierung, er sei schon deshalb nicht schuldig, weil das im Strafrecht geforderte Tatmerkmal der Freiwilligkeit der Handlung gänzlich fehle, bezeugt seine vollständige personale Entselbstung. Stangl hatte zwar ein Leben äußerer Normalität noch über zwei Jahrzehnte leben können, worüber er sich auch recht zufrieden äußert, doch wird man schwerlich von einem gelungenen Leben reden können, denn die Frage nach dem Selbst muss mit allen erdenklichen Mitteln exkommuniziert werden. Diese Art der Normalität hat es in der Nachkriegsgeschichte im größeren Maßstab in großen Teilen der Bevölkerung gegeben, und sog. Deckerzählungen über Verweigerung, innere Emigration oder gar Widerstand werden auch denen geholfen haben, deren Handeln diesen Ansprüchen keinesfalls entsprach. Da es hier nicht um geschichtliche Aufarbeitung geht, sondern um philosophische Vertiefung, sollte dieses Potential der Selbsttäuschung nicht außer Acht gelassen werden. Allein gemessen am innerpsychischen Aufwand lässt sich das Beschweigen nicht als effektive Bewältigung anerkennen, weil es für die betreffende Person nicht einmal mit einem vorläufigen inneren Abschluss verbunden ist. Es genügt aber vor allem dem gerechten Anspruch der Opfer nicht, deren Interesse an Anerkennung von Schuld ein weiteres Mal dem Imperativ der Umstände und dem subjektiven Imperativ des irgendwie Weiterlebens der Täterseite untergeordnet wird. Bei allem psychologischen und philosophischen Bemühen um tiefgreifende Erklärungen handelt es sich dabei schlicht um die Feigheit vor sich selbst, und dieser folgt der Versuch der Rechtfertigung vor anderen auf dem Fuße. Dazu bedarf es jedoch einer tiefgreifenden Abspaltung der „Gesinnung der Freiheit und Würde“, wie E. Kogon es in dem Nachwort „Sie 131
Ich beziehe mich hier auf die Zitate bei G. Schwan (1997).
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4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
haben davon gewusst“ zu einem von W. Kempowski herausgegeben Essayband von 1979 benennt (Kogon 1979/1995, 178). Es geht hier nicht um einen Verlust, den die betreffende Person irgendwie erleidet; daran musste gearbeitet werden. Die Banalität des Bösen kann also nicht so vorgestellt werden, dass die Person nicht ihrer Zerrissenheit gewahr wird. Selbst A. Eichmann gesteht vor dem Nürnberger Gericht seine Aufspaltung in zwei unterschiedliche Personen ein.132 Die sog. Phase der Befreiung durch die Siegermächte betraf dann auch die individuelle Gesinnung. Unter dem Druck der Entnazifizierung musste nun der Prozess der Abspaltung umgekehrt werden, um sich und der Welt individuell und kollektiv zu beweisen, dass man trotz einer unleugbaren Schuld noch einer Zukunft in Freiheit und Würde fähig sei. Die Aufarbeitung der Schuld geschah indes nur zögerlich und in kleinen Schritten; sie wurde von dem Bedürfnis nach Zukunft überholt, was bis zu den ersten Nazi-Prozessen in der Verantwortung der Justiz der Bundesrepublik Deutschland in den 60er Jahren auch gelang. Die Resilienz der Täter, Mittäter und Mitwisser ging dem Anspruch auf Resilienz der Opfer voraus. Die Aufarbeitung von Schuld, jenseits einer pauschal verstandenen und daher auch zu nichts verpflichtenden Schuld aller, kann, wie G. Schwan in Politik und Schuld (1997) fordert, nur in einer politischen Gemeinschaft geleistet werden, die sich dem Bürgerethos verpflichtet fühlt. Auf den Mut des Einzelnen kann jedoch nicht verzichtet werden, auch wenn dieser individuell sehr unterschiedlich ausfallen mag.133
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Eine weiteres Phänomen der Banalität des Bösen ist die Option des Seitenwechsels, ohne das Risiko des Widerstands eingehen zu müssen. Der Fall des Syrers Anwar R., der militärischer Verantwortlicher des Foltergefängnisses Al-Khatib in Damaskus war und für den Tod von 58 Menschen und Folterung von 4000 Inhaftierten verantwortlich gemacht wird, ist hierfür ein sehr aktuelles Beispiel. Der seit April 2020 in Koblenz Angeklagte war 2012 desertiert und hatte sich in Jordanien angeblich der Opposition gegen das Assad-Regime angeschlossen. Auf Betreiben des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland wurde ihm nach wenigen Tagen Aufenthalt in Jordanien von der Deutschen Botschaft politisches Asyl angeboten, mit der Begründung seiner besonderen Schutzbedürftigkeit. Dabei spielte Anwar R.’s Angebot der Übergabe umfangreichen Materials zur Folter in Syrien eine Rolle. Siehe hierzu: https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Asyl-fuer-syrischen-Folterchef-,folter114.html [7.10.2020] sowie vom ECCHR: The al-Khatib trial on state torture in Koblenz, Germany. https://www. ecchr.eu/fileadmin/Q_As/QA_Koblenz_Syria_2020August.pdf. (7.10.2020). G. Schwan bezieht sich besonders auf den durch Indifferenz beschädigten Gewissenskern der Moral, dessen Wiederherstellung sie sowohl individuell als auch gesellschaftlich einfordert. Ihr Buch ist primär dem Nationalsozialismus und der chronischen Ambivalenz des Gedenkens gewidmet, denn die Diskussion um ein nationales Holocaust-Denkmal war in den 90er Jahren noch in vollem Gange. Ihre Überlegungen zum Umgang mit Schuld beziehen in den letzten Abschnitten jedoch auch die Fragen von Täterschaft, Mittäterschaft und Mitwisserschaft in der ehemaligen DDR mit ein (vgl. Schwan 1997, 220ff).
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
4.2.3 Vulnerabilität und Resilienz Vulnerabilität und Resilienz bilden ein Begriffspaar, das in der gegenwärtigen Verwendung aus der Behandlung von Traumata und posttraumatischen Belastungen stammt. Auf die ursprüngliche Herkunft des Resilienzbegriffs bei Rappaport wurde schon hingewiesen. Dieser wollte mit Resilienz die Fähigkeit einer Gemeinschaft bezeichnen, mit Katastrophen und Krisen so umzugehen, dass eine Wiederherstellung der Gemeinschaft und ihrer Lebensgrundlagen möglich ist. In den letzten Jahren ist der Resilienzbegriff auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausgeweitet worden, die mit Überforderung und Stressbewältigung zu tun haben. Dieser arbeitspsychologische, auf Selbstmanagement und Selbstoptimierung ausgerichtete Ansatz soll hier nicht einbezogen werden. Der Boom der therapeutischen Angebote zur Resilienz wird mit Recht auch von Psychologen kritisch gesehen und in direkten Zusammenhang mit der Individualisierung von Existenzrisiken gestellt. Im Wesentlichen wird für diese Entwicklung der seit ca. 30 Jahren anhaltende Kurs der Entsolidarisierung der westlichen Gesellschaften im Namen vermeintlich sich selbst optimierender freier Kräfte des ‚freien Marktes‘ verantwortlich gemacht. (Vgl. hierzu: Gebauer 2016, 161–174). An den Bedeutungsgehalt bei Rappaport anknüpfend, verwende ich den Begriff im Sinne von ‚Wiedererstarkung‘, die aus dem individuellen und/oder gesellschaftlichen Widerstand gegen körperliche und/oder seelische Verletzungen einer Person oder Gemeinschaft durch andere Personen oder Gemeinschaften erwächst. Die Art der ausgeübten körperlichen und seelischen Verletzungen, die bis zur Vernichtung gehen können, muss dabei intentional, d. h. gewollt sein, und sie muss sich gegen den Status als einer gleichen Person unter gleichen Personen richten. In dieser einschränkenden Bestimmung sollen also die durch unglückliche Zufälle, fahrlässiges Handeln oder Unachtsamkeit verursachten körperlichen und seelischen Verletzungen ausgeklammert sein. Nicht ausgeschlossen ist hingegen, dass strukturelle und weitgehend anonyme und daher keinem besonderen Tatwillen zuzuordnende Verletzungen unter dem Aspekt der Vulnerabilität thematisiert werden können und müssen. Die enge begriffliche und sachliche Verknüpfung von Vulnerabilität und Resilienz macht es plausibel, dass in solchen Fällen die gesellschaftliche Unterstützung vulnerabler Gruppen und Personen eingefordert werden muss.134 134
Als ein Beispiel kann hier die Einrichtung barrierefreier Zugänge zu Verkehrsmitteln, öffentlichen Plätzen, der eigenen Wohnung, Informationsbeschaffung, Bildung, Kultur und Unterhaltung dienen. Die gesellschaftliche und politische Verantwortung für die unbeschränkte Teilhabe am öffentlichen Leben von in ihren Fähigkeiten eingeschränkten Personen ist erst in den letzten zwei Jahrzehnten akzeptiert worden. Sie ist allerdings noch lange nicht überall in die Praxis umgesetzt. Vulnerabilität besteht hier in einer systemischen Integritätsverweigerung, die den Anspruch auf Gleichheit in der gesellschaftlichen Praxis in Frage stellt. In diesem Fall wäre es zynisch, Resilienz individualisieren zu wollen, nach dem Motto, die betroffenen Personen müssten eben individuelle Stärken gegen ihre Verletzbarkeit entwickeln. Das müssen sie ohnehin, aber vor allem in ihrer Stärkung gegen verbreitete Vorurteile.
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4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
Eine erweiternde Deutung des Konzepts findet sich in neueren Schriften von J. Butler, die den Zusammenhang von vulnerability und resistance argumentativ stark macht. In diesem Sinne hat Butler dem Begriff der Vulnerabilität eine doppelte Funktion zugewiesen: Einerseits erhält er eine allgemeine diagnostische Funktion für die Analyse der Gesellschaft und andererseits verweist er auf das Potential der Transformation von Vulnerabilität in eine emanzipatorische Kraft. Damit sind alle Formen demütigender und verletzender performativer Praktiken unter einen einheitlichen Begriff gebracht und gleichzeitig sind die Ansatzstellen und Richtungen der Transformation vorgezeichnet. Da sie von dem Begriff des Subjekts (im wörtlichen Sinne des Unterworfenseins in der/durch die Gesellschaft und der staatlichen Versagung notwendiger Lebenssicherung) ausgeht, muss Butler eine auf Widerstand ausgerichtete Sicht der per se politischen Subjektivität einnehmen, die sich in Aktionen der Solidarität artikuliert. Die Beziehungen der singulären Körper in ihrer Abhängigkeit von der politischen Infrastruktur und institutioneller Gewalt bilden für Butler die Basis einer Verbundenheit (interdependency) im Widerstand (vgl. Butler 2016, 12–27, hier insbes. 21). Man könnte eine gewisse Nähe zu Vorstellungen Frantz Fanons vermuten.135 Die hier im Zusammenhang der personalen Integrität eingenommene Perspektive ist demgegenüber begrenzter: Sie fokussiert den Person-Gesellschaft-Zusammenhang mit Blick auf konkrete Akteure und Gruppen, die politisch-interventionistisch ihre Handlungsfähigkeit erweitern. Einer Festlegung auf einen politisch und philosophisch ambitionierten Subjektbegriff bedarf es dazu nicht.136 Da Butler den Begriff der Vulnerabilität in Verbindung mit dem Widerstand (resistance) vulnerabler Gruppen entwickelt, übernimmt der Begriff des politischen Subjekts eine besondere Begründungsfunktion für die Idee einer von Gewalt und Diskriminierung freien Gesellschaft, die Butler auf vielfältige Weise in ihren Schriften entfaltet hat.137 Dabei kommt der Frage der körperlichen Integrität der Individuen gegenüber der staat-
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F. Fanons Schrift Die Verdammten dieser Erde ([1961] 2017) erhält im gegenwärtigen postkolonialistischen Diskurs eine neue und aktualisierende Rezeption, wie sich auch an den Neuauflagen dieses Klassikers ablesen lässt. Das in der Flüchtlingsarbeit erprobte Konzept des Empowerment kann hier als Beispiel dienen. In praktischer Hinsicht kommen dabei neben der Organisation von Protesten (gegen Missstände) Ansätze der Selbstorganisation von Geflüchteten in Betracht. Das Ziel dabei ist, nicht mehr nur auf von außen kommende Hilfe angewiesen zu sein und darüber hinaus in den Prozess politischer Repräsentanz aktiv einbezogen und damit Teil der Öffentlichkeit zu werden. (Zu diesem Ansatz siehe: E. Kleefeldt 2018, insbes. 47–58). Siehe in diesem Zusammenhang besonders: Butler 2016; in: Butler, J., et al., Eds., 2016, 12–27. Im Sinne interventionistischer Orientierung argumentiert auch die Philosophin M. Rozmarin. Sie hebt in ihrer Kritik an Butler hervor, dass es weniger auf Transzendierung von Vulnerabilität ankommt als darauf, „[that] a political theory of vulnerability should consider that vulnerability initiates different and wider options of engaging politically, in which vulnerable bodies not only transcend their vulnerability and perform courageous resistance but also mobilize new modes of knowledge and sensibilities that challenge power formation” (Rozmarin 2020, 615).
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
lichen Gewalt mit Recht eine besondere Bedeutung zu (vgl. hierzu: ebd., 14–19). Wo für die Staatsmacht die Gewaltoption häufig die einzige Durchsetzungsgarantie bedeutet, wird sie den Gewaltmitteln gegen eine öffentliche Protestkultur wenig Grenzen setzen. Ohne die aktuelle politische Diskussion, die aus der Engführung ,vulnerable Person/Gruppe = Opfer ohne Widerstandspotential‘ herausführen soll, hier vertiefen zu können, soll zunächst die Opferseite in den Blick genommen werden. Dabei ist zu beachten, dass die Opfer-Täter-Unterscheidung nicht ontologisch, sondern interpretativ angelegt ist. Auch die Täterseite kann sich häufig auf den Opferstatus berufen, um der eigenen, häufig erst nachträglichen Zerrissenheit, kompensatorisch zu begegnen. Auch die Täterseite erlebt – daran sei hier unter Bezug auf das Milgram-Experiment erinnert – Zerrissenheit, wenn sie (im Nachhinein) mit Kontrollverlust, Selbstverlust und dem Potential der eigenen Indifferenz und Grausamkeit konfrontiert wird. Hierbei geht es aber, wie auch im Falle Middelhoffs anzunehmen war, um das subjektive Interesse an Resozialisation. Für die Probanden im Milgram-Experiment musste die Auseinandersetzung mit Kontrollverlust ein unumgängliches Anliegen sein, auch wenn sie schließlich erfuhren, dass die Situation insgesamt nur fingiert war. Ihre Sozialität und deren Gefährdung wird ihnen selbst zum Problem, sofern sie den Verlust von Übereinstimmung mit sich selbst (Selbstkongruenz) als verstörend und dramatisch erleben. Ohne Zweifel kann in einer Diktatur fast jede Person auf erlebte Opfersituationen verweisen, denn Regime der Angst leben davon, den Geruch von Tod, Folter und existenzieller Gefährdung zu verbreiten. Und auf der anderen Seite kann es sich keine Diktatur leisten, persönliche Zurückhaltung, Indifferenz oder gar ‚Privatisieren‘ zuzulassen, denn es bedarf der ideologischen Absicherung des Systems auf allen Ebenen, wenn der Erhalt der Macht garantiert werden soll. Die Allgegenwart einer Macht, die jederzeit in Gewalt umschlagen kann, muss auch jederzeit gefühlt werden. Engagement (commitment) für die Gemeinschaft ist also nicht per se etwas Gutes; es kommt immer auf die Art der Gemeinschaft und ihre Ziele an. Eine ‚Neubildung‘ der Gesellschaft unter postdiktatorischen Vorzeichen wird daher nur möglich sein, wenn man eine genügende Zahl an Menschen findet, die sich erkennbar verweigert oder Widerstand geleistet haben. Soweit zur Problematik der interpretativen Ambivalenz der Täter-Opfer-Unterscheidung, die häufig in der Retrospektive die moralischen Begriffe gründlich durcheinander bringt. Für die tatsächlichen Opfer, soweit sie überlebt haben, und für ihre überlebenden Angehörigen oder eine verfolgte soziale Gruppe oder Gemeinschaft zählt dagegen nur eines: Diese sind darauf angewiesen, dass die Täter und Verantwortlichen aus der nur diffus benannten kollektiven Verantwortung heraustreten, nicht zu einem Teil einer noch so gut gemeinten distanzierten Geschichtsschreibung werden, sondern stattdessen Namen und Gesicht erhalten und sich zu ihrer Schuld und Verantwortung bekennen. Unter den UN ist im internationalen Recht die Einrichtung von Wahrheitskommissionen gefördert worden, die in Gebieten von Ethnoziden, Genoziden und rassistischer Unterdrückung den Opfern die Chance geben sollen, die Täter zu 164
4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
identifizieren und zur Rede zu stellen. Es geht dabei nicht um eine juristische Aufarbeitung mit dem Ziel der Verurteilung und Bestrafung, sondern um Wiederherstellung der Integrität der Opfer, indem diese die Erfahrung des an ihnen begangenen Unrechts zur Sprache bringen und den Täter/die Täterin der Gemeinschaft gegenüberstellen. Da die Schuld nicht juristisch aufgearbeitet und bewertet wird, steht der Gedanke der Beschämung des Täters/der Täterin bzw. der Täter/der Täterinnen im Vordergrund. Inwiefern diese Beschämung auf lange Sicht zur Resilienz (Wiedererstarkung) der Opfer etwas beiträgt, ist tatsächlich nur schwer zu beantworten. Empirische Untersuchungen fehlen und es bedarf einer transkulturellen Sensibilisierung, damit nicht unter dem Druck kollektiv gesteigerten Schamempfindens neue Konfliktlinien aufgetan werden, die an die früheren Ressentiments anknüpfen und zur Verweigerung oder neuer Aggression führen.138 Das etwas realistischere Ziel liegt in der Offenlegung selbst, im Kampf um Wahrheit. Da es in vielen Fällen um sexualisierte Gewalt als Waffe gegen ein Dorf oder eine ethnische Gruppe geht, ist eine öffentliche Verhandlung eine äußerst belastende Herausforderung für die betroffenen Personen. Erlittene Vergewaltigung stigmatisiert die Person in den Augen der eigenen Gemeinschaft, die sich als Ganze bloßgestellt und besiegt fühlt. Empathische Solidarität mit der Person und ihrem Leiden ist eher die Ausnahme. Wenn eine Frau oder ein Mann diesen Weg geht, benötigt sie/er die Stärke, ihre/seine Integrität auch außerhalb der Herkunftsgemeinschaft wiederzugewinnen. Ermutigende Beispiele dafür gibt es einige. Da die Integrität im Rahmen der Gemeinschaft nicht gewahrt werden kann, bedarf es einer quasi neutralisierenden Umgebung, die Ressourcen für eine erweiterte Identität zur Verfügung stellt. Es geht also um Identitätspotentiale, die aus der Isolierung, der Selbstanklage und der selbstdestruktiven Leidfixierung herausführen können. In vielen Fällen bedarf es dazu der Neubewertung von Zugehörigkeit, die oft nur mit einer Unterstützung von außen erfolgreich sein kann.139 Resilienz in diesem Kontext sollte als Unbeugbarkeit verstanden werden, und zwar in dem Sinne, dass die 138
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Eine eindrucksvolle Bestandaufnahme zum schwierigen, wenn nicht unmöglichen Versöhnungsprozess im Kosovo sowie zur staatlich gesteuerten Erinnerungspolitik am Beispiel des GULAG-Museums im Ural leisteten die Panelvorträge Memory and Collective Amnesia auf der von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Tagung (2016). Abrufbar unter: https://www.bpb.de/geschichte/ zeitgeschichte/deutschlandarchiv/236477/panel-1-memory-and-collective-amnesia (20.09.2020). Die Lebensgeschichten von Frauen, die der Gefangenschaft in Terrorgruppen und dem ihnen dort aufgezwungenen Leben entkommen konnten, sind dafür eindrucksvolle Zeugnisse. Zu Nigeria/Boko Haram siehe: S. Klein (2019). Zu den vergewaltigten jesidischen Frauen, denen der Hohe Geistliche Rat der Jesiden die Rückkehr in die Gemeinschaft verwehren will, weil sie von IS-Terroristen gezeugte Kinder geboren haben und diese nicht töten lassen oder aus der Gemeinschaft ausschließen wollen, siehe: Deutsche Welle (DW, 05.05.2019). Abrufbar unter: https://www.dw.com/de/nachis-vergewaltigungen-jesidische-frauen-wollen-akzeptanz-f%C3%BCr-ihre-kinder/a-48590779 (03.10.2020). Zu aktuellen Berichten über sexualisierte Gewalt in Kriegsgebieten weltweit siehe: C. Emcke (2015) sowie die Berichte von C. Lamb, der Auslandskorrespondentin der Sunday Times (C. Lamb 2020).
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
Person trotz schrecklichster Widerfahrnisse ihren Status als Akteur/Akteurin zurückgewinnt und auf ihre Zukunft hin projizieren kann. Dabei geht es nicht um das ‚Münchhausen-Prinzip‘, sich am eigenen Schopfe aus der Agonie herauszuziehen. Reale Gemeinschaften der Betroffenen und professioneller Helfer spielen in diesem Prozess eine erhebliche Rolle. Die Zeugenschaft einer erweiterten Öffentlichkeit kann dazu beitragen. Sie leistet einen nicht-juristischen Ansatz der Gerechtigkeit, der umso nötiger ist, wo die nationale und die internationale Gerichtsbarkeit bei der Anwendung von institutionell nur ansatzweise entwickeltem Weltrecht überfordert sind. In diesem Verständnis fungiert Öffentlichkeit selbst als eine gesellschaftliche Kraft, die einer Sicherung gegen autoritäre Interventionen bedarf, weil anders dem Wahrheitsanspruch nicht Genüge getan werden kann. Im Zentrum steht der Anspruch auf Wahrheit. In öffentlichkeitswirksamer Weise kämpfen auch heute noch Angehörige von ‚Verschwundenen‘, Gefolterten und Getöteten gegen das Beschweigen staatlicher Gewaltausübung zur Zeit der lateinamerikanischen Diktaturen Chiles und Argentiniens sowie der südafrikanischen Apartheidsregierung. Der Anspruch auf Wahrheit, erhoben von Angehörigen, Freunden und Menschenrechtsorganisationen und mittlerweile auch Kommissionen und Sondergerichten der UN (für Ruanda und Ex-Jugoslawien), gilt dem Recht der Opfer auf Zeugenschaft: Dabei ist das ihnen angetane Unrecht offiziell zu dokumentieren, sind die Täter namhaft zu machen und die Erinnerung der Gesellschaft und der Weltgesellschaft ist wach zu halten. Auch das ist Teil der Resilienz der Opfer. Das Recht auf Wahrheit steht zur Integrität der Person also in engster Beziehung. Die Verantwortung für dieses Recht geht auf die Gesellschaft, die staatlichen Institutionen und das Rechtssystem über. Es geht also um rechtliche Restitution.140 Für die Opfer ist die Anerkennung ihrer Integrität gegen den Anspruch des diktatorischen Staates, über ihr Leben und ihre Person zu bestimmen, über ihren Tod hinaus essentiell. Zu den bis hierher erarbeiteten Konstituenten der Integrität muss also das Recht auf Wahrheit hinzukommen. Wo staatliche und gesellschaftliche Gerechtigkeit dieses Recht nicht gewährleisten, muss von einer defekten Staatlichkeit und einer A-Sozialität der moralischen Grundhaltungen in der Gesellschaft ausgegangen werden. Aus der gesellschaftlichen Zugehörigkeit der Opfer – auch nach ihrem Tode – ergibt sich in umgekehrter Interpretation deren Angewiesenheit auf die gesellschaftliche Bereitschaft zur Aufdeckung der Wahrheit. Wenn dies erst Jahrzehnte nach den Verbrechen und dann noch in halbherziger Form geschieht, wirft dies ein Licht auf die Verantwortlichen und deren Demokratie- und Rechtsver140
Restitutionsansprüche (im rechtlichen Sinn der Rehabilitierung) können sich auch rückwirkend auf Grund von geänderten Rechtsauffassungen ergeben. Der seit 1872 in Deutschland bestehende § 175 StGB [Strafbarkeit homosexueller Handlungen] wurde erst 1994 ersatzlos gestrichen. Am 22.07.2017 trat das vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Rehabilitierung von Personen in Kraft, die seit Bestehen der BRD nach § 175 StGB verurteilt worden waren. Ein Anspruch auf Entschädigung im Falle von Haftstrafen wurde ebenfalls gesetzlich geregelt.
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4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
ständnis. Da das Recht auf Wahrheit nicht mehr nur individualrechtlich verstanden, sondern als ein kollektivrechtlicher Aufklärungsanspruch der Gesellschaft in Fällen von Staatsverbrechen anerkannt wird, erstreckt sich der Integritätsanspruch der Person auch in dieser Hinsicht subjektiv auf dessen Rechte und objektiv auf die Pflichten der Gesellschaft der Person gegenüber.141 Ein weiterer Aspekt des Wahrheitsanspruchs ist die Reue der Täter. Diese stellt zwar deren Integrität nicht wieder her, denn es besteht keine Berechtigung zur Restitution, wie z. B. im Re-Set der katholischen Beichte. Echte Reue kann aber ein nach vorne gerichtetes Verhalten der Versöhnung in Gang bringen, das auf der Opferseite eine Loslösung vom Hass erleichtern kann.142 Die Wiedergewinnung von Integrität hängt mit dem rechtlichen Umgang mit Vulnerabilität aufs Engste zusammen. Vulnerable Gruppen sind solche, die aufgrund von Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, sexueller Orientierung oder anderer besonderer Merkmale in ihrer Heimat, auf dem Weg und auf dem Zielgebiet ihrer Flucht, Auswanderung oder Immigration besonders von Gewalt und Diskriminierung bedroht sind. In Kriegs- und Krisengebieten gehören Frauen und Kinder zu den besonders gefährdeten Gruppen: Vergewaltigung, Folter, Versklavung und die Rekrutierung von Kindern als Kämpfer sind nur einige von vielen Bedrohungen. Die Spielarten des regional ausgeweiteten Terrorismus, der nach Staatsgewalt strebt, haben das Bild der Welt in dieser Hinsicht noch mehr getrübt, denn diese Kräfte können sich auf die Unterstützung anerkannter Staaten, insbesondere regionaler Hauptmächte sowie der an Einfluss interessierten Großmächte verlassen. Im großen Stil hinzugekommen ist ein Staats-
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Das Recht auf Wahrheit wird in dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters L. Joinet (2.10.1997) zur Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen als individuelles Recht von Opfern und deren Angehörigen sowie als kollektives Recht der Gesellschaft gesehen. Als kollektives Recht verstanden, dient dessen Einforderung der Prävention gegen Menschenrechtsverbrechen. In diesem Zusammenhang siehe bes.: Introduction, I., A.) The right to know, 17–25. Abrufbar unter: https://digitallibrary.un.org/ record/245520?ln=en#record-files-collapse-header (19.10.20). Zur aktuellen Diskussion des Rechts auf Wahrheit in individual- und kollektivrechtlicher Hinsicht im Falle von Staatsverbrechen siehe auch: S. Schmidt, in: Landweer, H., u. a., Hrsg., (2017, 331–352). Eindrucksvolle Beispiele dafür finden sich bei R. Sapolsky (2017, 819–823), der sich u. a. auf Berichte der Versöhnungskommissionen zur Aufarbeitung der Apartheid Südafrikas bezieht. Die von Sapolsky vertretene evolutionäre Biologie macht darauf aufmerksam, dass auch höhere Primaten über Versöhnungsgesten verfügen und diese zur Wiederherstellung von Gemeinschaft nutzen. Versöhnung ist in vielen Kulturen mit Kompensationsleistungen verbunden. Das traditionelle Rechtssystem in Papua-Neuguinea verfügt über komplizierte Regeln der Kompensation, die zur Beendigung von Stammeskonflikten zur Anwendung kommen. Im Hochland geht die traditionelle Rechtsprechung von Ältestenräten dem Common-Wealth-Recht vor, das Australien während der UN-Treuhandschaft über Papua-Neuguinea etabliert hatte. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts war es üblich, keine Polizeikräfte aus der Region der am Konflikt beteiligten Stämme einzusetzen, weil das starke System der Stammeszugehörigkeit zu gewalttätigen Übergriffen der Polizeikräfte führte. Im Hochland des Enga konnte man in den 80er Jahren nachts regelmäßig den Feuerschein brennender Dörfer beobachten, die in manchen Fällen von der Polizei angezündet worden waren.
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4 Selbstachtung: Individualpsychologische Aspekte
terrorismus, der gegen die eigene Bevölkerung ausgeübt wird. Syrien unter dem Herrscher B. al-Assad ist hierfür das wohl erschreckendste Beispiel.
Resümee VI (1) Als Konstituenten der Integrität sind bisher primäre Annahme, Zugehörigkeit, Bewährung als moralische Person, Teilhabe der Person am öffentlichen Leben und Anspruch auf Privatheit angenommen worden. Der Anspruch auf Wahrheit muss hinzukommen. Dieser Anspruch ist als elementarer Grundsatz der Angewiesenheit zu verstehen. Er fokussiert die Sphäre der Vulnerabilität sowie die Verpflichtung der Gesellschaft und des Staates auf Verantwortung für die Aufarbeitung von Integritätsverletzungen. Konstitution und Restitution von Integrität sind besonders dort im Zusammenhang zu betrachten, wo Integritätsverweigerungen und -verletzungen vom Staat und/oder von Privaten wirksam sind oder nach Belieben wirksam gemacht werden können. (2) Die besonderen Selbstgefährdungen der Integrität der Person wurden als Immunisierung gegen die Herausforderung von Selbstbestimmung und als Verfehlung von Selbstachtung fallbezogen analysiert. Als a-moralisch sollte Immunisierung nicht deshalb bewertet werden, weil dafür eine ganz bestimmte Moralauffassung in Anschlag gebracht werden müsste, sondern weil die Person ihre Personalität aufs Spiel setzt. Da für Personalität jedoch keine völlig gesicherten, unabhängigen moralischen Maßstäbe ohne Ansehen eines spezifischen kulturellen Kontextes zur Verfügung stehen, ist die moraltheoretische Einordnung nachrangig; sie wird in der Regel differenzierte Bezüge aufweisen. Personalität, soviel allerdings muss vorausgesetzt werden, kann sich nur erhalten und bewähren, wo die Person sich selbst und ihrem Standpunkt gegenüber auf Distanz gehen kann. Dies schließt allerdings auch ein, den Standpunkt der Gruppe, der Gemeinschaft – sog. gesellschaftliche Zwänge oder korrumpierende Angebote – als verhandelbar bzw. rechtfertigungsbedürftig zu verstehen. (3) Verhandelbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit müssen auch in umgekehrter Blickrichtung gelten. Die Frage nach der Zerrissenheit der Person muss in aller Deutlichkeit dort gestellt werden, wo deren Handeln sich gegen die Freiheit, die Unversehrtheit und die Lebensrechte anderer richtet. Sofern eben dieses Handeln aus den Dispositionen einer Gemeinschaft hervorgeht, durch die die Gemeinschaft sich selbst definiert, stellt sich die Frage der Zerrissenheit der Gemeinschaft in gleicher Weise, denn deren Haltung der moralischen Immunisierung verdankt sich einer Kette von Entscheidungen, wodurch auch immer motiviert, die zur Lähmung von Entscheidungsfähigkeit auf individueller und kollektiver Ebene führt. Keine Gruppe oder Gemeinschaft kommt aber auf Dauer an der Frage der Selbstachtung vorbei, auch wenn sie sich nach außen abschottet und hochkonsistente Ideologien und Kulte entwickelt. Gemeinschaf168
4.2 Kollektives Versagen und individuelle Entlastung
ten, die ihre Zukunft sichern wollen, müssen für die Generationenfolge sorgen. Die Hoffnung, dass ‚jeder Mensch ein Anfang‘ sei, wie Arendts bekanntes Diktum lautet, könnte dem Überleben totalitärer Gruppen und Gemeinschaften Grenzen setzen. Allerdings baut diese Hoffnung auf der Bedingung der Möglichkeit eines Artikulationsraumes auf, wie Arendt diesen in der athenischen Polis bzw. unter republikanischen Verhältnissen als gegeben annimmt. Die Frage der Integrität im Verständnis als Selbstachtung stellt sich im Anschluss an die vorherigen Überlegungen nun auf der machttheoretischen Ebene, denn die oben genannten notwendigen Konstituenten der Integrität sind zwar grundlegend, aber für sich genommen noch nicht hinreichend. Es muss auch um die Handlungsmacht und das Freiheitsbedürfnis als motivationale Konstituenten der Integrität gehen, und diese müssen in ihrer Wirkungsweise verstanden werden. Die politische Seite der Sozialität ist unter dem Begriff des Öffentlichen schon im Kap. 3) einbezogen worden. Die machttheoretische Vertiefung hat sich hier nun anzuschließen.
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht 5.1 Die zwei Deutungen des Politischen und die Politik Die im vorherigen Kapitel analysierten Formen der Bedrohung der Integrität von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften sind zu den Formen des Politischen zu rechnen. Sie sind ein irritierender, aber realer Aspekt des menschlich Möglichen; sie stehen aber nicht außerhalb der Gesellschaft und der mehr oder weniger starken Grenzziehungen der Zivilisation gegen das ‚Barbarische‘. Die athenische Polis der Antike hat versucht, die Innen-Außen-Unterscheidung ihrer politischen Identitätsbildung zugrunde zu legen. Das Barbarische bezeichnet zunächst nur das Andere, wird aber in der Sprache der griechischen Antike zu einem Synonym für die Bedrohung durch Völkerschaften, die – auf ihre Kampfesstärke und Rigorosität gestützt – dem nach Gesetzen organisierten Stadtstaat die bloße Gewalt entgegensetzen. Das Politische wird aber auch innerstaatlich immer dort zum Thema, wo die Grenzziehung zwischen Machtausübung und Gewaltanwendung nicht mehr sicher gewährleistet ist. Im Extremfall eines Konflikts, bei dem staatliche Macht und gesellschaftliche Akteure zur reziproken Gewaltanwendung übergehen, müssen wir von Bürgerkrieg sprechen. Arendt würde in einem solchen Fall vom Versagen der Macht sprechen, weil sie Machtausübung ausschließlich im Sinne legitimierter Macht versteht. Wo Macht wirksam sein soll, bedarf es der Zuschreibung von Macht durch eine Mehrheit. Der Einsatz von Gewalt bedeutet in dieser Sicht immer ein Eingeständnis des Verlustes von Legitimität, auch wenn dieser Einsatz auf Gesetze gestützt sein mag. Doch ist diese Auffassung nicht unumstritten: Die Berufung auf legalistische Positionen, z. B. auf Erhalt der Staatsordnung, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, dient in vielen Fällen dazu, legitimen Protest zu unterdrücken und der noch an der Macht festhaltenden Regierung Legitimität zu verleihen. Der Begriff des Politischen in allen seine Varianten ist immer mit einer essentialistischem Gestus verbunden. Er entfaltet seine Wirkung immer dort, wo der Anspruch erhoben wird, das menschliche Wesen mit Blick auf seine Sozialität und deren Grenzen zu bestimmen. Es sind also anthropologische Festlegungen der Art „Der Mensch ist …“ zu erwarten. Anhand der Staats- und Machttheorien von Hobbes und Rousseau konnte im 2. Kap. gezeigt werden, dass anthropologische Vorentscheidungen die jeweiligen Konzeptionen der Integrität, d. h. der (Un-) 171
5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
Antastbarkeit des Staates und vice versa seiner Bürger maßgeblich beeinflussen. Damit kommen phantasmatische Deutungen ins Spiel, die einen Letztbegründungsanspruch erheben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ‚das Politische‘ ein Begriff in Zwillingsgestalt ist. Allerdings sind die Zwillinge, die um denselben Thron streiten, auf dem das ‚Wesen das Menschen‘ inthroniert werden soll, höchst ungleich: a) Während in der einen Bedeutung das Politische mit den Affekten und Emotionen, mit den Kategorien von Zugehörigkeit und Ausschließung, Freund und Feind verbunden wird und zivilisatorische Errungenschaften wie gesellschaftlicher Wohlstand, institutionelle Sicherheiten, Recht und Frieden als normative Überhöhungen zugrunde liegender, realer Gewaltverhältnisse und des Strebens nach Selbsterhaltung respektive Selbststeigerung qua Machtstreben gedeutet werden,143 b) betont der Begriff in der anderen Bedeutung die dem Menschen innewohnende Kraft und Fähigkeit, für das Allgemeine einzutreten. Der Mensch als politisches Wesen in der letzteren Bedeutung versteht die Gestaltungsformen der Gesellschaft nicht als Kämpfe um Selbsterhaltung im biologisch-physiologischen Sinne bzw. als nur auf sich selbst bezogene Selbststeigerung um der Macht willen, sondern als Herausforderung an sich selbst, Zusammenhalt und Wohlergehen zu befördern. Menschliche Tätigkeit versteht sich in diesem Kontext als Realisierung von Freiheit. Die immer vorhandene Konkurrenz um Freiheitsansprüche und Freiheitsräume schließt partielle parteigebundene Gegnerschaft nicht aus, doch ist der Status der Konkurrenten untereinander als solcher im Grundsatz akzeptiert: Gegnerschaft bedarf der Feindschaft nicht, solange Regeln der Konflikaustragung in reziproker Weise akzeptiert sind. Politische Macht und staatliche Gewaltausübung werden in dieser Auffassung als Gegensätze verstanden. Die Philosophin Karen Gloy hat in einer jüngeren Publikation die strikte Entgegensetzung von Macht und Gewalt bei H. Arendt unter dem Zeichen der Legitimität in Frage gestellt (Gloy, 2020, 73–86) und damit Vorbehalte gegen Arendts Position aufgegriffen. Die skizzierten Positionen des Politischen unterscheiden sich fundamental in der Abgrenzung von Macht und Gewalt. Am Beispiel der mit Gewaltmitteln operierenden Konkurrenten um die Macht in Venezuela (im Jan. 2019), symbolisch oder auch faktisch eingesetzt, verweist Gloy mit Recht auf den häufig fließenden Übergang zwischen Machtmitteln und Gewaltmitteln besonders dann, wenn die Staatsgewalt sich noch nicht in vollem Umfang etabliert hat (vgl. ebd., 82). Es sei hier korrigierend hinzugefügt, dass es bei dem Konflikt in Venezuela nicht um Überzeugungen „für oder gegen den Staat“ ging (ebd.), sondern um den Kampf für oder gegen unterschiedliche Verfassungsentwürfe. Gloy deutet Arendts dualistische Konzeption von Macht und Gewalt 143
In dieser Beschreibung gehen sowohl der ‚wertfreie‘ als auch der ‚militante‘ Dezisionismus auf.
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5.1 Die zwei Deutungen des Politischen und die Politik
als Konsequenz ihres Verständnisses des Politischen als gemeinsames Handeln von sich als frei verstehenden Menschen. Die ‚Geburt des Neuen‘ als Schicksalsfrage der Gesellschaft wird bei Arendt in enger Verbindung mit der Tatsache der Natalität gesehen, d. h. mit der anthropologischen Tatsache des Geborenseins des Menschen. Die Ordnung des Menschlichen ist in dieser Sichtweise wesentlich von der legitimen Ordnung des Gesellschaftlichen bestimmt und diese muss die je aktuell geforderten Entscheidungen über Lebensbedingungen zukünftiger Generationen mit einschließen. Gloys Kritik an Arendts weit gefasster Legitimitätsprämisse ist nachvollziehbar, wenn Gesellschaft aus der Perspektive der Position (a) gedacht wird. Gloy macht allerdings nicht deutlich, in welcher Weise sie sich zur Auffassung des Politischen im Sinne von (a) stellt. Da es bei beiden Positionen um generalistische Anschauungen geht, die im strengen Sinne von Theorie nicht verifizierbar sind, ist es naheliegend, auf Unentscheidbarkeit zu plädieren. Der Rückgriff auf Biologie und Verhaltensforschung hilft hier auch nicht weiter und trägt eher zur Entwertung der politischen Philosophie bei. Eine andere Position zum Machtverständnis, die sich zwar nicht durchgängig auf biologische Begründungen stützt, aber mit dem Begriff der Selbsterhaltung mehrdeutig operiert, ist der Dezisionismus von P. Kondylis. Auf dessen mit dem Machtbegriff verknüpften Begriff der Identität wurde schon verwiesen. Kondylis definiert den Begriff der Selbsterhaltung nicht eindeutig, sondern unterstellt diesen in unterschiedlichen Gebrauchsweisen als sich selbst erklärend. Da für Kondylis ein reduktionistisches Verständnis im rein biologischen Sinne zu wenig wäre, ergänzt er: „Insbesondere mit Rücksicht auf das Selbsterhaltungsstreben anderer Existenzen bzw. Subjekte muß sich Selbsterhaltungsstreben zur Selbststeigerung potenzieren, wenn Erhalten möglich sein soll. Macht ist daher erfolgreiche Selbsterhaltung mittels einer solchen Selbststeigerung, die die relative Position eines bestimmten Machtträgers gegenüber anderen mit ihm konkurrierenden abzusichern und womöglich zu verbessern mag“ (Kondylis 2006, 133/34).
In dieser allgemeinen Bestimmung des Machtbegriffs ist es dann leicht möglich, auch alle ideellen Tätigkeiten, die mit Macht nicht ohne weiteres in unmittelbarer Verbindung stehen, dem Selbsterhaltungsstreben zu subsumieren. Auch wenn Nietzsche gerne als Pate dieses Gedankens hinzugezogen wird, so bleibt doch das logische Problem, dass Machtstreben und Selbsterhaltung je nach Bedarf als Wechselbegriffe genutzt werden. Daher kann keiner der Begriffe zur Klärung des jeweils anderen Begriffs definitorisch etwas beitragen. Als Theorie verstanden, ist das Machtkonzept hermetisch und nahezu tautologisch. Es käme also darauf an, die Binnenstruktur einer Tätigkeit von ihrer kontextuellen Machteinbettung zu unterscheiden, da ansonsten differentielle, kulturell induzierte Verschiebungen innerhalb der jeweiligen Machtsphäre nicht er173
5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
klärt werden können.144 An dieser Stelle kommt es jedoch zunächst auf den prozessualen Aspekt der Macht an, der bei Kondylis besonders betont und in den Zusammenhang seiner Auffassung des Politischen gestellt wird. Wie also ist mit der kontroversen, ja antagonistischen Bestimmung des Politischen und deren höchst gegensätzlichem Einsatz der Begriffe von Macht und Gewalt umzugehen? Wenn die Substantivierung ‚das Politische‘ nicht in die Irre führen soll, ist von der Annahme Abstand zu nehmen, dass es eine Essenz des Menschen im aristotelischen Sinne gibt. Schon Kant hatte mit seiner Frage „Was ist der Mensch?“ den weitest möglichen Horizont philosophischen Fragens entwerfen wollen. Ihm war allerdings bewusst, dass diese Frage immer wieder aufs Neue gestellt werden muss, ohne dass es möglich sein wird, einen obersten Schlussstein für das ‚Gebäude des Menschen‘ zu finden. Dies ist schon deshalb unmöglich, weil der Horizont sich je nach Bewegungsrichtung des Menschen/der Menschheit verschiebt. Auch der Philosoph/die Philosophin kann nicht die eine nur mögliche Perspektive auf Dauer einnehmen. Was lässt sich nun aus den diversen Macht-Gewalt-Konzepten lernen? Wer im Sinne der Theorien (a) das Politische als Untergrund von Politik versteht, wird dem Dezisionismus Vorrang einräumen. Ihm wird es um Durchsetzung von Zielen gehen, die sich an der Effizienz der Machtmittel und der Chancen ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung orientieren. Damit verbunden stellt sich die Frage der Einhegung von Widerspruch und Widerstand durch Macht- bzw. Gewaltmittel. Dezisionisten greifen daher auch gerne auf die Machtanleitung in N. Machiavellis Der Fürst ([1513] 1986) zurück, ein Werk, das unabhängig von der politischen Orientierung nach links oder rechts gerne in Politik und Wirtschaft rezipiert wird. Es stellt eigentlich keine Machttheorie dar, sondern eine Machterhaltungslehre. Auf diesem Gebiet hat Machiavelli Grundlegendes geleistet, weil er der transzendenten Rechtfertigung von Macht als Domäne der
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Einen differenzierteren Ansatz zur Machttheorie vertritt G. Dux. (Siehe hierzu: Dux 2009, 5. Kap., Nietzsches Philosophie der Moral. Ihre Bedeutung im Diskurs der Moderne, 145–189). Dux orientiert sich einerseits an Nietzsches Machtbegriff, wendet sich aber andererseits gegen naturalistische Reduktionismen, indem er die Rolle der konstruktiven Gestaltungskräfte der Kultur in evolutionär-genetischer Perspektive erschließt. Dux stimmt mit Nietzsche in der Kritik der kausativ verstandenen Subjektlogik überein, setzt jedoch dessen „[…] Kritik der transzendentalen Begründungen der Normativität“ (ebd., 189) seine kulturtheoretische Deutung der Moral entgegen. In seiner Konzeption bewirken Sprache und Bildung in der Moderne eine erweiterte Reflexivität gegenüber dem reinen machtfixierten Funktionsmodus der Gesellschaft. Die Bedingung der Möglichkeit der gesellschaftsimmanenten Gerechtigkeitsdiskurse setzt in dieser Auffassung einen Bruch mit monolithischen Machtvorstellungen voraus: Kultur und Gesellschaft werden zunehmend als durch die Lebensformen der Menschen gestaltet verstanden und somit einem konstruktiven Zugang geöffnet. Das prozessuale und prozeduale Machtverständnis von Dux ist m. E. für das Verständnis gesellschaftlicher Ausformungen von Integrität aufschlussreich. Die in den Kap. 5) u. 6) von mir entwickelten Konzepte ließen sich im Prinzip an einige Grundideen des dux’schen Ansatzes anschließen, die ihrerseits auch von A. Schütz/T. Luckmann (1994) inspiriert sind.
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5.1 Die zwei Deutungen des Politischen und die Politik
Theologie eine soziologische und pragmatische Sicht entgegensetzt. Diese basiert sowohl auf Deutungen der Geschichte als auch auf tiefgründigen Einsichten in die Psychologie der Macht. Nicht ohne Insistenz betonen einige Theoretiker in diesem Zusammenhang die Bedeutung des individuell unvermeidlichen Todes im Verhältnis zur Macht. Der Begriff der Selbsterhaltung erhält in dieser Verhältnisbestimmung ein besonderes Gewicht für die politische Theorie: Da wir als Individuen endlich sind, gilt uns das Fortleben der Gesellschaft in subjektiver Hinsicht als kontingent und existenziell uninteressant. In anthropologisch reduktionistischen Theorien verbindet sich mit dem Begriff der Selbsterhaltung (in der Deutung des Kampfes um die eigene Position) daher die Vorstellung von der grundsätzlichen Gefährdung und Zerbrechlichkeit der Gesellschaft. Die Begründungslast dieses Begriffs für Sozialität allgemein ist jedoch erheblich, denn wenn der Begriff viel mehr als nur das individuell-physische Überleben meint, dann ist er unglücklich gewählt. Wer sich indes mit dieser reduktionistischen Deutung begnügt, fällt sogar hinter das hobbes’sche Menschenbild zurück, denn Hobbes kennt eine ganze Reihe menschlicher Dispositionen, die man nur mit einem erweiterten Begriff der Selbstbehauptung zureichend erfassen kann. Das Verständnis von Selbstbehauptung im Kontext der Integritätsfrage ist mit Kriterien verbunden, die das Individuum nicht in Gänze aus sich selbst heraus erzeugen kann: Die Macht der Selbstdeutung muss sich gegen die Deutungsmacht der anderen in Bezug auf geteilte Werte und vermittels einer geteilten Sprache und deren Schlussregeln behaupten. Ohne diesen Rahmen würde jede Selbstdeutung ins Leere gehen. Sie könnte sich allenfalls noch in einen ästhetischen Solipsismus flüchten, doch dieser müsste ja das Publikum meiden. Wer dagegen im Sinne des Politischen unter (b) Politik gestaltet, wird der latenten Bedrohung durch die Gewalt hinter den geordneten Sphären der Gesellschaft die Macht des Normativen entgegensetzen. Er wird das Interesse an Selbsterhaltung nicht ausschließlich an Triebbedürfnissen, physiologisch-biologischen Parametern oder der Verfügung über Gewaltmittel messen. Er wird der Frage nachgehen, was denn das Selbst der Selbsterhaltung beinhaltet und diesen Begriff nicht als sich selbsterklärend auffassen. Selbstbehauptung in einem differenzierten sozialen Kontext bildet den Kern der Motivation zu einem Leben als ein von anderen unterschiedenes Wesen. An dieser Stelle kommt die Relevanz des Selbstwissens ins Spiel, und dieses lässt sich nicht in biologistischer und naturalistischer Terminologie hinreichend erfassen. Vor allem wird er die Frage, was sein Selbst beinhaltet, nicht an die Gesellschaft oder die staatliche Gewalt überantworten, sondern an sich selbst adressieren. Die Möglichkeit dazu setzt Freiheiten voraus, die durch rechtliche Garantien der Personalität in die Gesellschaft eingelassen sind und ggf. gefördert werden müssen, z. B. auch im Fall von Transformationsgesellschaften, die eher kollektivistisch geprägt waren. Der Anspruch der Gleichheit der politischen und öffentlichen Teilhabe besteht dann nicht mehr nur in der verfassungsrechtlichen Deklaration. Er bedarf der gesellschaftlichen Umsetzung. Diese darf nicht in paternalistischer Gewährung von (nicht vollständigen) Substituten der Freiheit bestehen; Macht muss sich aufteilen lassen, wenn allgemeine 175
5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
Freiheiten individuell wirksam werden sollen. Die Freiheit der Meinung und Rede werden in dieser Denkrichtung essentielle Bedeutung haben. Dazu bedarf es keiner essentialistischen Festlegungen auf eine bestimmte Ethik. Allerdings muss jedes Gesellschaftsmitglied in seinem Integritätsanspruch ernst genommen werden. In dieser Variante des Politischen ist ‚jeder Mensch ein Anfang‘ (H. Arendt), d. h. unhintergehbar individuell und auf Selbstbestimmung hin angelegt. Die Insistenz der Theorie liegt hier auf der ‚zweiten Geburt‘ als eines gesellschaftlichen Wesens, der Erschaffung des Neuen, der vita activa. Das Politische kommt dort erst ins Spiel, wo die gegebene politische Ordnung die menschliche Freiheit unzulässig beschränkt: Der Kampf um eine neue Ordnung, Umsturz und Revolution gehen aus dem vom Freiheitsbedürfnis nicht trennbaren menschlichen Wesen hervor. In den beiden Grundkonzeptionen des Politischen stehen sich die Melancholie der Vergänglichkeit und Fragilität der gesellschaftlichen Ordnung einerseits und die Hoffnung auf die verlässliche Schaffung des Neuen in der Gesellschaft mit der Gesellschaft andererseits konträr gegenüber. Der Vergänglichkeit wird auf der einen Seite mit dem trotzigem Akt der selbst inszenierten Destruktion nachgeholfen; nötigenfalls wird auch der Tod selbst in die Hand genommen. Macht geschieht um ihrer selbst willen und bedient sich daher der Gewaltmittel je nach Bedarf. Auf der anderen Seite wird dem die Schaffung des Neuen in der vita activa entgegengestellt: Die Hoffnung der Lebenden ist es, dass ihr unvollkommenes Leben nicht das letzte Wort in der Menschheitsgeschichte sein wird, denn dafür leben sie und dafür sorgen sie durch Erneuerung der Generationenfolge. In beiden Varianten scheint doch ein kleines Leuchten der Metaphysik auf: Der kalte, indifferente Glanz der auf Gewalt gestützten Macht und das wärmende Licht des Lebens streiten um den ersten Platz.145 Auf eine dritte, nur scheinbar alternative Konzeption des Politischen der französischen Philosophin Chantal Mouffe sei hier nur zusammenfassend eingegangen. Unter dem Eindruck von anfänglich spontanen und parteipolitisch unabhängigen Massenbewegungen gegen wirtschaftsliberalistische Staatskonzepte hat Mouffe mehrere Schriften zu einem agonistischen Demokratieverständnis vorgelegt. Abgeleitet von dem griechischen Begriff agon, der den Wettkampf
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In analogisierender Anwendung dieser Grundpositionen auf die Ebene von Global Governance geht es dagegen um den effektiven Einsatz der Machtmittel des militärischen Waffengebrauchs und derer des Warenaustauschs. Die USA und China verfügen – miteinander konkurrierend – über beide Optionen, die je nach Bedarf einsetzbar und kombinierbar sind. Wie sich im Falle Hongkongs zeigt, stützt sich China eher auf Gewaltmittel, um territoriale und wirtschaftliche Interessen gegen Integritätsansprüche der Einwohner Hongkongs durchzusetzen. Russland verfügt auf Grund seiner wirtschaftlichen Schwäche nicht in gleicher Weise über beide Optionen. Seine einseitige energiepolitische Stärke macht das Land vom Export abhängig. Der Ausbau der militärischen Stärke ist daher aus russischer Sicht die naheliegendere Option, um die einer Großmacht angemessene Teilhabe an der Gestaltung der Weltordnung durchzusetzen. Diese Bedingungen vorausgesetzt, ist das politische Interesse Russlands an der Förderung rechtspopulistischer, gewaltaffiner Strömungen in Westeuropa nachvollziehbar.
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5.1 Die zwei Deutungen des Politischen und die Politik
und Wettstreit im sportlichen Sinne meint, entwickelt sie ihr Konzept der Agonistik. Es geht ihr dabei um eine Rehabilitierung ‚radikaler Politik‘, die von einer, wie sie es nennt, Strategie ‚hegemonialer Überlegenheit‘ im Namen einer universalistischen Moral Abstand nimmt (vgl. hierzu: C. Mouffe 2014, 18–36). Mouffes Konzept knüpft dabei an postmarxistische Theorien und poststrukturalistische Deutungen des Subjekts an, um den normativ besetzten Bereich des Politischen durch eine sich als politisch und pluralistisch verstehende Ästhetik aufzubrechen (vgl. ebd., 132–160). Sie macht in einem Gespräch deutlich, dass ihr Konzept ganz wesentlich von der Skepsis C. Schmitts gegenüber liberalistischen Deutungen der Demokratie inspiriert ist (vgl. ebd., 199ff). In einer früheren Schrift über Carl Schmitt und das Paradox der liberalen Demokratie (Mouffe 2000/2018, Kap. 2, 49–67) weist sie die Suche Schmitts nach einer besonderen Entität des Staates in der Tradition seiner Politischen Theologie als vergeblich zurück, da eine solche Entität „[…] nur im Modus substantieller Einheit“ (ebd., 67) denkbar sei, die mit der Realität des Pluralismus nicht mehr zu vereinbaren sei. Auch wenn sich Mouffes Konzept gegen die Idee einer als homogen verstandenen Öffentlichkeit richtet, so folgt sie doch einem Konzept des Pluralismus, für das es auch staatliche Garantien geben muss. Wenn der Pluralismus auch die Ebene seiner Bestandsgarantien und der legitimatorischen Prozeduren umfassen soll, kommt er schnell an seine Grenzen. Selbstwidersprüche (Paradoxien) sind dann unvermeidbar. Den oben skizzierten beiden Konzeptionen des Politischen fügt Mouffe also nichts generell Neues hinzu. Es geht ihr nur um den Versuch einer spezifischen theoretischen Mischung dessen, was in der Wirklichkeit der europäischen Gesellschaften schon angekommen ist. Der in der Demokratie angelegte Widerstreit hat sich von der Ebene der Repräsentation schon längst abgelöst und auf der Ebene der rationalen Expression von Bedürfnissen und Identifikationen durchgesetzt, die von der Politik aufgegriffen werden müssen, wenn Legitimation nicht durch Ausschließung durchgesetzt werden soll. Soziale Bewegungen aller Art haben die Politik im 20./21. Jahrhundert immer unter Druck gesetzt und sich in vielen Fällen auch in den Kernbereichen der Repräsentation behauptet. Demgegenüber bleibt die Berufung auf den demos als prozessuale, fluide Selbstidentifikation des ‚Volkes‘ gegen ein äußeres ‚sie‘ abstrakt, wenn nicht sogar fiktional (vgl. hierzu: ebd., 66). Die Diskussion um den Begriff des Politischen betrifft das Verhältnis von Integrität und Freiheit auf dem Boden politischer Kontroversen und Kämpfe auf besondere Weise. Je nach Verständnis des Politischen geht es um unterschiedliche Strategien der Bewältigung von Konflikten in der Gesellschaft in Fragen der politischen Steuerung, der Identifikation und der ideologischen Hegemonien. Man könnte diese Widersprüche der politischen Psychologie, den Persönlichkeitstheorien oder der soziologischen Erforschung politischer Stimmungen überlassen. Alle diese Ansätze können sicherlich zur empirischen Demokratieforschung beitragen, doch irgendwann wird auf eine normative Ebene zurückzukommen sein, die es erlaubt, Verbindlichkeiten herzustellen, die von ausschließlich individuellen Dispositionen weitgehend frei sind. Auf 177
5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
der Ebene der empirischen Erforschung der menschlichen Psyche und der Gesellschaft wird man nur mit Beispielen operieren können. Diese reichen für eine normative Begründung dafür, welchen Weg die Gesellschaft gehen soll, nicht aus. Sie könnten willkürlich gewählt sein, und jeder hat andere Vorzeigeprojekte in der Hinterhand. Eine pure Verlängerung der Gegebenheiten (Traditionen, Praktiken, Institutionen) wird angesichts immenser Zukunftsprobleme auch nicht zufriedenstellen. Die Rhetorik der Selbsterhaltung der Nation hat in dieser Hinsicht schon einiges Unheil angerichtet, greift aber in diversen Populismen dennoch immer wieder um sich. Davon ist auch die individuelle Integrität auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht unberührt; in gewisser Weise kann daraus eine positive Politisierung erwachsen, weil jede Person sich fragen muss, in welcher Gesellschaft sie leben will. Es geht also nicht nur um die Fortschreibung der ‚Mechanik der Macht‘, sondern um die individuelle Disposition der Sozialität gegenüber. In diesem Sinne kann ‚das Politische‘ vom Rande der praktischen Politik her dieser neues Leben und neue Ideen einhauchen. Die Varianten des Politischen sind selbst ja nicht für die unmittelbare Umsetzung gemacht. Sie können indes als Orientierungsrahmen gelten, an denen konkrete politische Entscheidungen ablehnend oder zustimmend gemessen werden. Jedem Dezisionismus ist entgegenzuhalten, dass Entscheidungen nicht qua Entscheidungen richtig oder falsch sind, sondern weil sie der in großen Teilen unvorhersehbaren Zukunft einen Pfad abringen, der im Rahmen der bekannten Größen, der verfügbaren Theorien und der zu erwartenden Folgen als vernünftig erscheint. Unsicherheit wird es immer geben. Selbstüberschätzung und Kleinmut stehen als Paten solcher Entscheidungen immer parat. Es ist also festzuhalten: Im Unterschied zum Begriff des Politischen bezieht sich der Begriff Politik auf das Eruieren, Begründen, Diskutieren und die praktische Durchsetzung von Entscheidungen nach anerkannten Regeln (policy). Dazu bedarf es keiner Festlegung auf ein bestimmtes Menschenbild, keiner Einheitlichkeit von Ideologie und Weltanschauung, keines Einheitszwangs nach Vorstellungen von Herkunft oder Zugehörigkeit. Welche Prozesse und institutionelle Formen eine Gesellschaft auch immer entwickelt haben mag, Politik zu gestalten, sie wird immer die Möglichkeit der Gewaltfreiheit und des Kompromisses betonen, weil sie Veränderung dem Umsturz vorzieht, solange es Hoffnung auf Veränderung gibt. Konservative ‚Revolutionen‘ indes bedienen sich anderer Mittel: Der ‚Umbau‘ bewährter demokratischer Institutionen kann einem Umsturz gleichkommen, wenn er auf die Aushöhlung demokratischer Institutionen der Machtkontrolle zielt und wenn sich kein nennenswerter Widerstand dagegen regt. Theorien der Macht, die beanspruchen, dem Politischen mit indifferentem, neutralen Blick auf Macht und Gewalt zu begegnen, erzeugen immer wieder eine gewisse Faszination. Diese Faszination verdankt sich dem Gestus der Aufdeckung einer Wirklichkeit der Macht hinter der (angeblich) ‚rationalen Fassade‘ der bürgerlichen Ordnung. Vorgeblich stehen dabei nicht das Irrationale und die Fixierung auf die politische Gewalt im Vordergrund, sondern das wertfrei gedachte A-Rationale der Macht. Es mag den an Werten orientierten politischen Denker be178
5.1 Die zwei Deutungen des Politischen und die Politik
ruhigen, dass auch diese Theorien mit einem unverkennbaren Pathos und dem Gestus der Beschwörung auftreten. Auch die behauptete Sphäre des Wertfreien bedarf der enthusiastischen Profilierung. Diese Denkrichtungen sind vielfach inspiriert: Man kann sich auf Heraklits Diktum zum Krieg als ‚Vater aller Dinge‘, auf Thukydides‘ Recht des Stärkeren, auf das Thrasymachos-Theorem in Platons „Der Staat“ („Ich behaupte, dass das Gerechte nichts anderes ist, als das dem Überlegenen Zuträgliche“ (Der Staat, 338c, 1–2; Hervorh. i. Orig.), auf N. Machiavellis Machtanleitung für Fürsten, auf K. Marx’ Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Gewaltformen und nicht zuletzt auf C. Schmitts Politische Theologie sowie auf Lenins und Maos Machttheorien berufen. Alle diese Ansätze vereint der Gedanke, dass die Verfügung über die geeigneten Gewaltmittel den unhintergehbaren Kern jeder souveränen Macht bildet. Der Vorwurf der Machtblindheit gegen normativistische Theorien der Gesellschaft, der sich z. B. in den Schriften von P. Kondylis auf vielfältige Weise ausbuchstabiert findet, mag berechtigt sein; der Blick auf die Abgründe der Macht erhält seine Faszination doch erst vor dem Hintergrund der verlässlichen Kohärenz der Institutionen, der relativen Konsistenz des Rechts, nicht zu vergessen auch der verlässlichen Weiterentwicklung des Wissens. Ohne diese recht stabilen Voraussetzungen verliert die Faszination der Katastrophe, d. h. die Metamorphose der Macht in Gewalt, ihren intellektuellen Reiz. Für die Magie einer Macht, die als Willkür gegen andere inszeniert wird und die sich auf mythologische Quellen berufen muss, um von der Faszination des Tragischen zu zehren, ist der Raum eng geworden.146 Shakespeare als Analytiker der Macht und der menschlichen Fehlbarkeiten ist jedem ‚Wagnerismus‘ überlegen. Der implizierte anthropologische Nihilismus beruft sich dabei auf ein einseitiges Natur- und Triebbild des Menschen, das in der Realität so nicht zu finden ist, weil sich Menschen jeder Kultur in einem Personenstatus vorfinden, und dieser impliziert wirksame normative und präskriptive Elemente.147 Der mögliche Zusammen146
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Die Aktionen der Trump-Anhänger um den Wahlausgang in den USA vom Nov. 2020 zeugen von der Existenz tiefgehender Affekte gegen zivilisatorische Ordnungen, die auf der Autorität des Rechts beruhen. Die soziologischen Deutungen zu diesem Syndrom gehen bislang noch wenig über allgemeine Aussagen zum Populismus hinaus. Der machtheoretisch begründete Dezisionismus distanziert sich in der Form des wertfreien Dezisionismus bei P. Kondylis vom militanten Dezisionismus (vgl. Kondylis 2006, 22–27). Auch wenn Kondylis sich in seinem politischem Hauptwerk Macht und Entscheidung nicht explizit mit C. Schmitt auseinandersetzt, könnte die begriffliche Abgrenzung eine vage Form der Distanzierung zu dessen Politischer Theologie bedeuten. Erst in einem späteren Aufsatz nimmt Kondylis auf C. Schmitt Bezug. Dessen Anti-Normativismus folgend, teilt er auch dessen Kritik an der Utopie eines „[…] geradlinigen universalen Fortschritts“ (Kondylis 1995, 326) auf der Grundlage rechtsstaatlicher Institutionen. Dem wertfreien Dezisionismus kann man im besten Falle die Position des distanzierten Beobachters des Menschlichen zuschreiben, weshalb Kondylis sich auch von den Gegnern des militanten Dezisionismus distanziert, während der militante Dezisionismus sich in der Position der Feindschaft gegenüber liberalen Demokratien und deren Verfassungen sowie universellen Menschenrechten gefällt. In den
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
bruch der Institutionen und deren rechtlicher Stützung sollte indes kein Tabuthema der Demokratietheorie sein. Die verzweifelten und wenig hoffnungsvollen Versuche der Demokratisierung von außen im Irak, in Afghanistan, Mali und anderen Staaten werden aus der Perspektive des unaufgeklärten politischen Liberalismus immer wieder Rätsel aufgeben. Politische Vernunft ist nicht selbstevident, sondern bedarf einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Absicherung, weil der Raum hegemonialer Artikulationen in sich vielfach gebrochen ist. Ebenso kann die Realität von Pogromen, Völkermord und sog. ethnischen Säuberungen nicht aus der politischen Theorie verbannt werden, denn wo diese möglich wurden, zeigt sich im Nachhinein, dass ein längerfristiger politischer Prozess der Dehumanisierung vorangegangen ist. Dies belegen auch neuere Untersuchungen zu Konfliktfeldern des 20. Jahrhunderts, auf die einen Blick zu werfen schon deshalb lohnt, weil damit kurzschlüssige Atavismen vermieden werden können, auf die regressive Erklärungsmuster zur menschlichen Natur gerne zurückgreifen. Anhand der Untersuchungen zum Genozidverdacht in Tibet (1959) und zum Genozid von Srebrenica (1995) hat B. Barth die Bedeutung politischer Weichenstellungen durch die Regierungen für Massaker und Genozid belegen können (siehe: Barth 2006, 166–171). Die allzu leichtfertige Annahme, dass Feindschaft in der Sozialität des Menschen anthropologisch angelegt sei, beruht auf der Vermischung von Gegnerschaft und Todesfeindschaft. Selbst im Kriegsrecht bzw. im humanitären Völkerrecht wird auf der Unterscheidung dieser Begriffe bestanden. Staaten können als Völkerrechtssubjekte für Kriegsverbrechen angeklagt werden. Das Recht auf Wahrheit und das Recht auf Reparation und Entschädigung der Opfer bilden einen engen Zusammenhang. Die Aufarbeitung von Kriegsunrecht, man nehme nur die Beispiele Deutschland und Japan, ist auch Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch halbherzig und unvollständig. Stille Diplomatie und finanzielle Entschädigung erscheinen als der leichtere Weg, weil so nationale Kränkungen und erneute Feindschaften vermeidbar erscheinen.148 Ein reduktionistisches Menschenbild, das häufig nur dazu dient, die These vom angeblichen ‚Illusionismus der Menschenrechte‘ zu begründen, kommt einem autoritativen Verständnis des Politischen sehr entgegen. Doch ist der Weg zurück in ein Naturzustandsdenken und ein darauf aufbauendes einseitiges Bild der Sozialität des Menschen schon mit Blick auf die vielgestaltigen zivilisierenden Formen der Kulturen verwehrt. Das theoretische Bemühen, Macht rein phänomenologisch zu denken, muss fehlgehen, da uns Macht immer in einem dichten Geflecht sozialer Beziehungen begegnet, ganz entsprechend ihrer vielfältigen Funktionen in Kultur und Ge-
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populistischen Strömungen der Gegenwart finden militant-dezisionistische Ideen begeisterte Aufnahme. Der Vorrang der Polemik (gr. polemos: Krieg, aber auch Wettstreit) vor der ratio kennzeichnet ihr Verhältnis zur Demokratie als diskursiver und deliberativer Form der Willensbildung. Bezüge zum völkischen Denken und mythologisch inspirierten Weltanschauungen sind offensichtlich. Zum Begriff der Feindschaft und der absoluten Feindschaft in der Terrorismusdeutung in C. Schmitts Theorie des Partisanen (Schmitt [1963] 2017) siehe auch: Witzleben (2016, 156–167).
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5.2 Handlungsmacht und Freiheitsbedürfnis
sellschaft. Weil dies so ist, ist Macht auch immer doppelgesichtig und ambivalent: Ihr Gebrauch schützt nicht vor ihrem Missbrauch. Zur Macht gehört auch immer die Kritik an der Macht. Eine wie auch immer geartete Metaphysik oder Seinslehre der Macht entkoppelt diese von den Sphären menschlicher Erfahrung, Entscheidung und Entwicklung. Kulturen des Menschen, auch solche, die schon vor Urzeiten den Kampf nach Regeln im Sinne des ‚modernen‘ Völkerrechts integriert haben, haben Tausende von Jahren überlebt. Machtausübung und Machtbegrenzung gehen nicht aus der Macht selbst hervor, sondern aus Klugheitsregeln der Vernunft. Auch diese Einsicht verdanken wir der hobbes’schen Machttheorie, die sich nicht auf den ersten Satz in C. Schmitts Der Begriff des Politischen (1927) reduzieren lässt, in dem er die These aufstellt, dass die Unterscheidung von ‚Freund und Feind‘ als die eigentliche politische Unterscheidung gelten müsse. Versuche einer Bestimmung absoluter Grenzwerte des Menschlichen, der Gesellschaft und der Politik sind immer verführerisch. Sie können verhängnisvoll sein, wenn sie über ihren Nutzen als heuristische und kontrafaktische Gegenmodelle der Sozialität hinaus zur Identifikation mit der Macht aufrufen und zur Lösung von Problemen der Gegenwart eingesetzt werden sollen. Wo der Gesellschaft ‚das Moralische‘ als Element des Politischen abgesprochen wird, kann es auch keinen Integritätsanspruch des Individuums geben. Das Kollektive und das Autoritäre verdichten sich zu einem Amalgam reiner Macht, die von Gewalt nicht mehr unterscheidbar ist. Freiheit geht in der Willkürfreiheit der Gewaltausübenden auf.
5.2 Handlungsmacht und Freiheitsbedürfnis Im Projektionsfeld der Macht geht es um die Adressaten und die Adressierenden der Macht. Das zwischen den beiden Akteurstypen liegende spezifische soziale Feld der Interaktion kann als das ‚Projektionsfeld Macht‘ gelten. In M. Webers klassischen Formulierungen des Herrschaftsbegriffs „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ oder in etwas anderer Formulierung, Herrschaft sei die „[…] Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber [1922] 5. Aufl. 2009, 28), sind die beiden Seiten des sozialen Feldes bezeichnet. Da es bei Weber um Herrschaft geht, also um Macht, die – auf welchen Wegen auch immer – effektiv geworden und als legitim anerkannt ist, ist es zunächst nötig, diesen institutionellen Aspekt der Machtsicherung durch Herrschaft zurückzustellen. Macht ist politisch betrachtet mit dem Anspruch auf Herrschaftsausübung verbunden. Die auf Dauer eingerichtete Macht wird in Webers Terminologie daher Herrschaft genannt. Doch zunächst soll hier der Fokus auf die Aushandlung von Macht gesetzt werden. Es wird also einen Schritt zurück hinter die schon etablierte, politisch effektive Machtstruktur getan. Dann er181
5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
scheint Macht als eine durch mindestens zwei Perspektiven konstituierte Relation. Es wird bei Weber jedoch schon eine funktionale Komplementarität unterstellt, wenngleich diese durch den Begriff der Chance noch in der Schwebe gehalten wird. Webers Definition geht davon aus, dass die adäquate Antwort auf Machtansprüche, wenn diese denn erfolgreich sein sollen, auf der Seite der durch die Macht adressierten Personen, ausschließlich im Gehorsam bestehen kann. Damit wird schon grundbegrifflich eine Disposition oder Haltung der Machtinstanz unterstellt, die Machtansprüche an den erwartbaren und in der Situation zu erwartenden Gehorsam bindet. Dabei kommt es erst einmal nicht darauf an, auf welchem Herrschaftstyp die Machtansprüche basieren, ob es also um traditionale, charismatische oder bürokratische Herrschaft geht, wenn man sich denn an der Typologie Webers orientieren will. Das je spezifische Gefälle und das je spezifische Gefüge der Macht spiegeln sich in Webers Definition nicht ausreichend wider. Das sei an einem alltäglichen Beispiel verdeutlicht: Ich bitte einen Kassierer im Supermarkt, mir einen 100 Euro-Schein zu wechseln. Der Kassierer verweigert dies. Vielleicht macht er sich die Mühe, dies zu begründen, z. B. Durch den Hinweis, er habe nicht genug Kleingeld, er sei doch keine Bank oder Ähnliches. Auf die Begründung soll es hier nicht ankommen. Er könnte ja auch nur seine Position ausnutzen wollen, er könnte mich nicht mögen, schlechte Laune haben oder wie auch immer. Mir gegenüber ist er hinsichtlich meines Anliegens in einer Machtposition, denn er hat ‚die Herrschaft‘ über die Kasse; ich bin ein Bittsteller. Seinen Machtanspruch mit Gehorsam zu beantworten hieße für mich, seine Entscheidung zu akzeptieren und mich davon zu trollen. Das Projektionsfeld der Macht schließt aber nicht nur uns beide als Akteure ein. Es gibt vielleicht andere Kunden hinter mir, die mein Anliegen störend finden, falls ich nun auch noch eine Diskussion beginne, denn sie wollen bezahlen und weiter kommen. Oder ich finde Unterstützung bei anderen, die das Verhalten des Kassierers unmöglich finden. Oder aber ich nutze die Tatsache aus, dass der Kassierer nicht letztinstanzlich entscheiden kann und fordere ihn auf, die Geschäftsleitung hinzuziehen. Es sind also sehr unterschiedliche Verläufe denkbar, die je nach Initiative, Mut und Entschlossenheit der Beteiligten das Projektionsfeld der Macht aus divergenten Perspektiven ‚aufladen‘ können. Meine Macht als Kunde könnte auch eine Rolle spielen, doch die ist situativ betrachtet zu abstrakt und dem Kassierer könnte es egal sein, ob ich den Laden fortan meide. Einer direkten Übertragung dieses von rechtlichen und institutionellen Bedingungen nur schwach überformten Beispiels auf Herrschaft im Sinne Webers sind sicherlich Grenzen gesetzt. Unter rechtstaatlichen Bedingungen entwickelter Demokratien lassen sich jedoch ähnliche Verhältnisbestimmungen zwischen Bürger und exekutiven Staatsorganen erkennen: Das Projektionsfeld Macht ist mit seinen Komponenten Machtanspruch/Gehorsamsbereitschaft in komplementärer Weise aufgeladen wie ein Gitternetz der Erwartungen und Befürchtungen, die sich je nach Aktionspotential der Beteiligten entweder zur einen oder zur anderen Seite hin verstärken oder abschwächen. Abnehmende Gehorsamsbereitschaft schwächt die Machteffizienz 182
5.2 Handlungsmacht und Freiheitsbedürfnis
und fordert besondere Machtmittel heraus. Mut und Risikobereitschaft als Impulse des Selbst stehen dafür als psychologische Dispositionen eventuell individuell bereit, doch sind diese nicht deterministisch vorgegeben. Ihre ethische Qualität gewinnen diese als Haltungen und als solche sind sie der kritischen Reflexion zugänglich. Nicht die ungestüme Begierde (bei Platon: epithymia), sondern die auf Abwägung und Mut (bei Platon: thymos) beruhende Entscheidung, das als richtig erkannte Wollen gegen ungerechtfertigte Machtansprüche durchzusetzen, birgt in sich die Chance der Veränderung. Proteste bedürfen der Form des Politischen, wenn sie nicht versanden oder als Strohfeuer enden sollen. Auf den politisch ambitionierten Willen zur Veränderung der Machkonstellationen kann die etablierte Macht auf dreierlei Weise reagieren: mit der Verstärkung der Legitimationsanstrengungen, mit der Verstärkung der sanktionierenden Mittel der Machtdurchsetzung einschließlich der Gewaltanwendung oder mit der situativ gewichteten Kombination beider Optionen. Wo sich allerdings Macht mit Gewalt verbindet – ob nun als Androhung oder faktisch – sind die Gewichte zugunsten des Machtanspruchs des Stärkeren hin ungleich verteilt. Was E. Canetti in Masse und Macht den „Stachel des Befehls“ (Canetti [1960] 1996, 357ff) nennt, der sich unter Gewaltverhältnissen sowie den Bedingungen bedingungslosen Gehorsams tief in das Bewusstsein und den Angstmechanismus der von der Befehlsmacht Adressierten eingräbt, verlangt einen Befreiungsschlag, den die zum Gehorsam Erzogenen selten aus sich heraus leisten können. Der innere Zerfall der Gewaltinstrumente der Macht wird davon abhängen, ob es Teilen der Öffentlichkeit gelingt, den Konflikt zwischen Moralität und Immoralität des staatlichen Handelns so zu schärfen, dass sich Individuen und Gruppen der Gesellschaft ihrer Instrumentalisierung durch die Macht verweigern. Die kritische Phase, in der die vielleicht schon zur inneren Natur gewordene Submission in ihr Gegenteil ‚kippt‘, der sog. befreiende Kipppunkt kollektiven Verhaltens, steht allerdings nur für einen ersten Schritt der Veränderung, der beim Selbst als Teil einer neuen, anfangs nur vage konturierten politischen Idee seinen Ausgangspunkt nimmt. Ob daraus ein neuer Gesellschaftsvertrag mit einer bedeutenden Veränderung der Machtverhältnisse hervorgeht, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Entscheidend dabei ist, dass die Integrität der Bewegung nicht von Ersatzangeboten, d. h. unvollständigen Substituten der Macht, korrumpiert werden kann.149 149
Am Beispiel der Verhandlungen des Runden Tisches, an dem die originären Dissidenten der DDR mit den Vertretern der alten Parteien über das weitere Schicksal der DDR verhandelten, lässt sich der dornige Weg der Transformation des Alten in das Neue präzise ablesen. Der nach der Wahl der Volkskammer und der Bildung einer neuen Regierung unterzeichnete Staatsvertrag zur Währungsunion führt mit der D-Mark ein neues Medium der Macht in das wirtschaftspolitische System ein, das zur Entwertung der gerade neu gebildeten souveränen politischen Macht führen musste. Zu einem anderen Fall der Transformation politischer Machtverhältnisse – diesmal im Medium von Pandemiepolitik – könnte sich die Corona-Dauerkrise entwickeln. Der bisher unbestrittene Gesellschaftsvertrag der Machtverteilung zwischen Bund und Ländern sowie die Mechanismen der Verteilung von Reichtum und Arbeits- und Lebensrisiken geraten in Folge der Krise erheblich unter Druck. Möglicherweise
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
Zunächst seien jedoch die Verhältnisse in den Blick genommen, die es den von Machtansprüchen Adressierten erlauben, zu den Zumutungen der Macht aktiv in Beziehung zu treten, d. h. diese gegebenenfalls in einem ersten Handlungsimpuls auf Distanz zu halten. Macht beinhaltet immer auch die Chance, eigene Ziele gegen Machtansprüche anderer durchzusetzen. Webers Definition würde daher leer bleiben, wenn man nicht institutionelle Formen der Sicherung von Macht mitdenkt, was Weber zweifellos tut. Dabei ist die komplexe Frage der Legitimität der Machtansprüche und die ihrer Durchsetzungsmittel hier erst einmal beiseite zu lassen. Der Wille zur Durchsetzung, sowohl der Macht als auch der Selbstbehauptung ihrer Opponenten, ist mit dem Bedürfnis nach Freiheit auf Engste verknüpft. Jenseits einer philosophischen Grundlegung lässt sich schon auf der psychologischen Ebene eine innere Verflechtung von Machtausübung und Freiheitsbedürfnis feststellen: Das Bedürfnis, Freiheit zu genießen, muss sich mit dem Bestreben, das eigene Handeln auf wirksame Mittel zu stützen und damit Macht in irgendeiner Form auszuüben, auf eine effiziente Weise verbinden. Dabei ist die Art und Weise der geeigneten Mittel noch völlig unbestimmt. Diese können kommunikativer, institutionell-normativer, juristischer oder technisch-instrumenteller Art sein, je nach den Erfordernissen des Handlungskontextes. Macht tritt also nicht nur als etwas Äußeres dem individuellen Handeln entgegen, sondern ist mit dem Bedürfnis des Selbst, als handelndes Wesen in der Welt aufzutreten und erkannt zu sein, dem Handlungswillen selbst eingeschrieben. Bevor wir Mächte erkennen, erfahren wir Macht und natürlich auch Ohnmacht und Hilfslosigkeit an uns selbst. Die Bekanntschaft mit den von außen hinzutretenden Mächten der Gesellschaft fügt sich in die schon erlebte Machtwelt ein. Diesen Punkt der Dominanz äußerer Macht überspringen zu wollen, ist aporetisch oder verführt zu einem dezisionistischen Voluntarismus, der nur in Totalverweigerung oder Terrorismus enden kann.
5.3 Paradoxien der Macht: Recht als Korrelat der Macht – Macht vs. Gewalt Jedes Konzept von personaler Integrität setzt voraus, dass innerhalb der Gesellschaft oder Gemeinschaft abgrenzbare akzeptierte Machtsphären existieren. Machtsphären sind körperlich, räumlich, rechtlich-institutionell, aktional und informationell strukturiert. Selbstschutz in der Sozialität bedarf effizienter Mittel, die den rechtlich zulässigen Selbstschutz mit funktionierender exekutiver Gewalt verbinden. Wo Gewalt sich nur auf sich selbst beruft, sei es durch Selbstwird dabei auch das Verhältnis von Recht und Politik unter dem öffentlichen Druck auf die Politik der Krisenbewältigung neue Justierungen erfahren.
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5.3 Paradoxien der Macht: Recht als Korrelat der Macht – Macht vs. Gewalt
ermächtigung von Individuen bzw. Gruppen oder durch eine unkontrollierte exekutive Gewalt, sind die rechtlichen Schranken gegen willkürliche Handlungen seitens der Akteure außer Kraft gesetzt. Diese Situation kann dann eintreten, wenn die Legitimation staatlicher Machtausübung nicht mehr gegeben ist oder zumindest effektiv in Zweifel gezogen werden kann. Der öffentliche Raum der Willensbildung zerfällt unter solchen Bedingungen in zerstrittene Lager. Von einer ernsthaften politischen Krise kann dann geredet werden, wenn eine derartige Lage zu einer dauerhaften Unversöhnlichkeit führt. Das wird dann der Fall sein, wenn Bürgerrechte und Menschenrechte auf dem Spiel stehen. Die von Hobbes immer wieder beschworene Bedrohung des Staates durch den Bürgerkrieg wird dann zu einer Option der Akteure, wenn rechtliche Instrumente der Konfliktbewältigung nicht mehr greifen oder schon im Vorfeld möglicher Konflikte funktional entwertet worden sind. Da legitime Herrschaft das Recht als Korrelat der Macht benötigt, kommt es einerseits also darauf an, wie weit das Vertrauen in rechtliche Institutionen und deren Kompetenzen reicht. Andererseits kann das staatliche Gewaltmonopol in einer solchen Situation extensiv und intensiv zur Unterdrückung genutzt werden, wodurch die Rechtsinstanzen ihrerseits in die eine oder andere Richtung gedrängt werden oder sogar in ihren eigenen Reihen die gesellschaftlichen Konflikte austragen und damit ihre Unparteilichkeit aufgeben. Die epistemische Überlegenheit des Rechts gegenüber der Macht, die in dessen Traditionen, seinem Anspruch auf Unparteilichkeit, seinen transparenten Verfahrensweisen und der Gesetzgebung durch souveräne Körperschaften beruht, gewähren diesem einen Vertrauensvorschuss. Dem Recht, der Gerechtigkeit verpflichtet, wird eine größere Nähe zur Wahrheit unterstellt als der Macht. Macht steht immer unter dem Verdacht ihrer Korrumpierbarkeit, auch in der Demokratie; das Rechtsvertrauen ist von größerer Belastbarkeit als das Vertrauen in die Exekutive, doch sind Rechtsinstanzen nicht politisch immun und müssen daher gegen ihre Instrumentalisierung durch die Macht Resistenz zeigen. In autokratischen Systemen wird das Recht nicht einfach außer Kraft gesetzt; der Nimbus des unparteiischen Rechts wird aufrecht erhalten, auch wenn dieses sich schon längst der Macht untergeordnet hat. Das Recht als Korrelat der Macht steht unter Umständen zwischen den zwei Blöcken der dissidenten öffentlichen und der staatlichen Machtdemonstration. Dabei kommt es darauf an, dass diese Blöcke in sich sehr heterogene gesellschaftliche Kräfte aufnehmen, um ihre Durchsetzungschance zu erhöhen. Demokratie wird gemeinhin als Spiel nach Regeln verstanden. In solchen Situationen wird Demokratie zu einem Spiel oder Kampf um Veränderung der Regeln. Staatsverfassungen, die über einen Kernbestand an Regeln verfügen, die die Abschaffung der demokratischen Ordnung selbst verhindern sollen, sind auf solche Situationen vorbereitet. In der Bundesrepublik Deutschland sind der Art. 18 zur Verwirkung von Grundrechten im Falle des Versuchs ihrer Beseitigung und der Art. 20 (4) zum Widerstandsrecht gegen Versuche der Beseitigung der Demokratie ordnungssichernde Ergänzungen für den absoluten Krisenfall. Für die Frage der Integrität der Person sind diese Ergänzungen insofern fundamental, als der Integri185
5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
tätsanspruch der demokratischen Ordnung über die sichernde Funktion des Rechts hinausgeht und die Integrität der Bürger als die für ihr Staatswesen verantwortlichen Akteure adressiert.150 Gegen eine politische Propaganda, die die Grenzen des Grundverständnisses demokratischer Prinzipien provokativ austestet und überschreitet, können rechtliche Sicherungen allein jedoch nicht helfen. Macht erhält sich, solange sie unbestritten ist, reflexiv am Leben und steigert sich gegebenenfalls nach dem Motto „Macht macht Macht!“. Die Paradoxie der Macht, die darin besteht, sich durch Erfolge bestätigen zu müssen, die außerhalb ihrer Selbstbestätigungssphäre (der Regierung, der politischen Klasse) liegen, ist allerdings nicht auf Dauer aufhebbar. Das Verhältnis der realen zu den behaupteten Erfolgen ist natürlich immer manipulierbar. Man denke nur an die Regierungsnachrichten von der Front in den diversen Kriegen, die Erfolgsbilanzen zu Auslandseinsätzen der NATO oder die Verlautbarungen zur Überwindung wirtschaftlicher Krisen! Politische Macht muss sich mit dem Versprechen und der Aussicht auf Beherrschung der Zukunft legitimieren. In diesem Punkt ist sie dem Recht überlegen. Im günstigsten Fall kann das Recht der De-facto-Entwicklung nacharbeiten, was jedoch nicht ausschließt, dass Gerichtsentscheidungen unabhängiger Rechtsinstanzen zu anderen Lagebeurteilungen kommen als die Exekutive. In diesem Zusammenhang ist an Hobbes’ Machttheorie zu erinnern. Der konzeptionellen Gestaltung der souveränen Macht bei Hobbes als unbeschränkter Gewalt über Recht und Unrecht liegt die Annahme einer die menschliche Existenz durchwirkenden Zukunftsangst zugrunde. Wenn Hobbes Recht hätte, könnte das Versprechen auf eine unter allen Umständen gesicherte Zukunft einen entscheidenden Beitrag zur Selbstunterwerfung und bedingungslosen ‚Systemakzeptanz‘ leisten. Autoritäre Regime verfahren mehr oder weniger auf diese Weise. Dabei müssen sie eine weitere Paradoxie bewältigen, denn das Versprechen auf eine gesicherte Zukunft kann für die einen bedeuten, dass alles so bleibt, wie es ist, und für die anderen, dass notwendige oder gar umwerfende Veränderungen in Angriff genommen werden müssen. Der Spagat gelingt in der Regel dort, wo einerseits religiöser oder ideologischer Konservatismus gefördert und andererseits die als notwendig erachteten Veränderungen unter autoritärer staatlicher Kontrolle 150
Recht kodifiziert je nach den Bedingungen eines Gesellschaftssystems auch Integritätsverweigerungen, die zu sozialen und politischen Integritätsverletzungen konstitutiv beitragen. Das Kastensystem Indiens, Gesetze zur ‚Rassen‘-Trennung in der Zeit der Apartheit sowie im Schulwesen und im öffentlichen Leben der USA (bis 1964) oder auch die ethnische Klassifikation von Bevölkerungsgruppen sind nur die hervorstechendsten Beispiele. Auch in der Bundesrepublik Deutschland gab es restriktive Zugangsregelungen für bestimmte Gymnasien, Studiengänge und Berufe für Frauen. Die Aufhebung gesetzlich kodifizierter Integritätsverletzungen bedeutet jedoch kein Ende von Integritätsverweigerungen. Aus dieser Einsicht heraus ist in Deutschland das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschaffen worden, das allerdings erst im Jahre 2006 in Kraft trat und in seinem Anwendungsbereich an eng spezifizierten Merkmalen von Diskriminierung orientiert ist.
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5.3 Paradoxien der Macht: Recht als Korrelat der Macht – Macht vs. Gewalt
initiiert werden. Systemsprengende Effekte sind dann zwar immer noch möglich, aber solange der Raum des Öffentlichen durch staatliche Repression effektiv kontrolliert werden kann, gibt es wenig Chancen auf Durchsetzung der politischen Integrität der Bürger. Wo Freiheit und Sicherheit staatsdoktrinär nur als Gegensätze konzipiert werden, hat es das auf Unvertretbarkeit seiner politischen Interessen bestehende Individuum schwer. Wie Menschen sich zu dem politischen System stellen, in dem sie leben, wie sie sich zum Projektionsfeld Macht stellen, in dem sie selbst eine Rolle einnehmen, hat in der Sozialpsychologie ein eigenes Forschungsgebiet zur ‚Systemrechtfertigung‘ (system justification) hervorgebracht.151 Die Kernfragen dieses Ansatzes sind, welche Haltung Menschen zum etablierten politischen System einnehmen, wie sie ihre Haltung begründen/rechtfertigen und welchen Bedürfnissen und Motiven ihre Haltung entspricht. Der Systemrechtfertigung als Festhalten am Status quo steht die systemkritische Haltung gegenüber, die von liberalistischen Motiven des Kampfes um Selbstbestimmung bis hin zum aktiven Widerstand gegen staatliche Macht reichen kann. Einer Fixierung auf den Ist-Zustand, der in der Psychologie in der mit Selbstzweifeln kombinierten Variante auch als Lageorientierung bezeichnet wird, steht auf der anderen Seite eine den Horizont erweiternde projektive Lebenshaltung gegenüber.152 In Zeiten, die als existenzbedrohende Krisen wahrgenommen werden, sind die Bruchlinien zwischen den beiden Grundhaltungen besonders deutlich erkennbar. In der Folgezeit der Finanzkrise von 2008 war es besonders interessant herauszufinden, warum eigentlich benachteiligte und finanziell zum Teil erheblich geschädigte Gruppen der Bevölkerung eine das System rechtfertigende Haltung einnahmen. In dieser Zeit entstand – gegenläufig zur systembejahenden Haltung – die Occupy-Bewegung, die dem Wall-Street-Kapitalismus den Kampf ansagte. Der motivationale Hintergrund für Systemrechtfertigung lässt sich nach drei Bereichen unterscheiden: (a) dem Bedürfnis, kognitive Unsicherheit zu vermeiden, (b) dem Wunsch nach Sicherung existenzieller Bedürfnisse und (c) dem Bedürfnis nach gesichertem sozialen Beziehungen und den Erwartungen mit Blick auf gesicherte gesellschaftliche Entwicklungen. Da privilegierten Eliten die Sicherung dieser Bedürfnisse eher zugetraut wird als Vertretern neuer sozialer Bewegungen, ist das Maß der Systemakzeptanz auch immer Ausdruck der Angst vor Unsicherheit. Die Verschiebung und Neuordnung politischer Koordinaten ist immer ein langwieriger Prozess, der sowohl das Öffentliche als auch das Private umfasst. Hobbes’ Machttheorie, die die Zukunftsangst der Menschen als Beweggrund der Selbstunterwerfung deutet, scheint sich hier zu bestätigen. Natürlich bedarf es einiger Modifikationen, die die Diversifizierung von 151
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Vgl. dazu: J. T. Jost/M. R. Banaji (1994). Abrufbar unter: https://doi.org/10.1111/j.2044-8309.1994. tb01008.x (5.11.2020). In der Persönlichkeitspsychologie spricht man auch vom regressiven bzw. progressiven Steuerungsmodus. Beide Verhaltensmodi werden auf die vom Stresshormon Cortisol beeinflussten Operationsmodi des Hippocampus zurückgeführt. (Siehe hierzu: J. Kuhl 2010, 229f).
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
Herrschaft betreffen. Da das Bild von Herrschaft innerhalb globalisierter Wirtschaftsstrukturen und schwer durchschaubarer institutioneller Machtapparate einiges an Komplexität gewonnen hat, scheint Systemrechtfertigung nicht per se unvernünftig zu sein. Sie schließt allerdings eine Aufgabe des Anspruchs auf Selbstvertretung, die über Wahlakte hinausgeht, und damit die Gefahr einer Preisgabe von Integrität ein. Die aufrührerischen Gedanken eines E. de La Boétie in seiner Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft (1574) gegen den Trieb der Menschen zur Unterordnung haben ihre Aktualität offenbar nicht verloren, auch wenn ihre naturrechtliche Emphase nicht mehr ohne Weiteres geteilt wird: „Da also alles, was Empfindung hat, unter der Unterjochung leidet und der Freiheit nachgeht; da die Tiere, wenn sie schon vom Menschen vergiftet und an die Knechtschaft gewöhnt sein könnten, sich doch noch dagegen auflehnen und ihren Widerwillen kundgeben: was für ein Unglück hat den Menschen so unnatürlich machen können, daß er, der wahrhaftig nur zur Freiheit geboren ist, die Erinnerung an sein erstes Wesen und das Verlangen, wieder zu ihm zu kommen, verloren hat?“153
Für La Boétie sind es nicht die Gewaltmittel des Fürsten, die dessen Herrschaft sichern, sondern in erster Linie die Verklärung der Macht durch seine Untertanen. Die Nähe zur Herrschaft und die Gewährung von unvollständigen Substituten der Macht in Form von Stellung und erwartetem Reichtum tun hierzu ihr Übriges.154
5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft? 5.4.1 Integrität, Personstatus und Sozialität Personsein lässt sich ohne einen Bezug zur Integrität schwer vorstellen. Die starke begriffliche Verknüpfung der Vorstellungen von Person und Integrität deutet auf einen transkulturell universalen Zusammenhang hin, der für alle menschlichen Kulturen gilt.155 Aus diesem Grunde 153
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La Boétie, E. de (1574). Abrufbar unter: https://www.projekt-gutenberg.org/boetie/knechtsc/knechtsc. html. Abschnitt Drei Arten der Tyrannen, 2. Absatz (31.10.2020). Im Rahmen der neuerlichen Diskussion um das Imaginäre in der Politik siehe den Aufsatz von A. Hetzel, Niemand zu eigen. Zur Rolle der Einbildungskraft in den Subjektivierungstheorien von La Boétie und Vico. In: F. Trautmann, Hrsg., 2017, 143–164. Immanent ist hier so aufzufassen, dass der Fall der Versklavung besiegter Völker außer Betracht gelassen wird, weil Versklavung in der Regel dem reversibel praktiziertem Kriegsrecht entsprach und daher
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5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
wurde dafür argumentiert, den Begriff der Integrität von dem Begriff der Menschenwürde theoretisch abzugrenzen, da letzterer mit kontingenten historischen und rechtsphilosophischen Entwicklungen verbunden ist, die nicht in zwingender Weise mit der normativen Ausstattung einer Kultur zusammenstimmen. Da der Begriff der Menschenwürde zudem Gegenstand mitunter weit auseinander liegender Interpretationen und Begründungen ist, bedarf es immer besonderer Vermittlungen. Die Tatsache aber, dass es – je nach kulturellem Kontext – Überschneidungen beider Begriffe und Rechtsbereiche geben kann, macht Hoffnung auf die allgemeine Durchsetzung der Menschenrechte in dem Bereich der unabdingbaren Konstituenten von Personalität. Deren Positivierung im geltenden Recht kann Räume der Integrität schaffen und dies ist möglich, ohne dass ihre Deutung als universell im Sinne des Natur- oder Vernunftrechts akzeptiert werden muss.156 Da es nicht möglich ist, den Begriff der Person ohne Bezug auf Integrität zu denken, wird sich die Frage problematischer und gefährdeter Integrität als durchgängige Herausforderung an die individuelle soziale Urteilsfähigkeit darstellen müssen. Dies wird umso mehr beim Umgang mit Personen der Fall sein, die aufgrund ihrer Rolle in der Öffentlichkeit besonders exponiert sind und diese Rolle in der Regel mit Integritätserwartungen anderer an sie selbst verbinden und die diese Erwartungen ernst nehmen. Und es wird der Fall sein bei Personen, mit deren Denken und Handeln wir in besonderer Weise verbunden sind, sei es durch Vertrauen und/oder Abhängigkeit. Die Erste-Person-Perspektive ist also im Falle persönlicher Beziehungen im Nahbereich erstens mit der Zweite-Person-Perspektive und zweitens mit der an allgemein akzeptierte Kriterien der Integrität orientierten Dritte-Person-Perspektive verbunden. Beide erweiternden Perspektiven sind nicht automatisch und schon gar nicht a priori miteinander verbunden. Stabile Sozialität wird dann gegeben sein, wenn eine kohärente Beziehung zwischen den drei Perspektiven hergestellt werden kann. Über die Art und die zeitliche Dauer der Stabilität ist damit
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nicht als per se unrechtmäßig galt. Der Sieg über andere Völker konnte zur erzwungenen Rechtsangleichung an die Kultur der Sieger, aber auch zur Totalunterwerfung in Form der Sklaverei führen. G. Lohmann hat die „neue Menschenwürde“ in den internationalen Konventionen und UN-Pakten von den historischen Ursprüngen und Quellen diverser Würdebegriffe abgegrenzt. Die Entwicklung des Begriffs der Menschenwürde geht, wie Lohmann überzeugend darlegt, in der Nachkriegsentwicklung nach 1945 eigene Wege. Auch wenn in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von der inhärenten Würde des Menschen die Rede ist, wird damit keinesfalls eine naturrechtliche Deutung des Begriffs ausgezeichnet. (Siehe hierzu: G. Lohmann, in: D. Demko et al., Hrsg., 2015, 15–39). Die Konventionen und Dokumente der Vereinten Nationen lassen sich als Positivierung von Menschenrechten unter Bezug auf den Begriff der Menschenwürde verstehen. Da der Begriff der Menschenwürde immer wieder auf Kant zurückgeführt wird, sei hier auf die Untersuchung von N. Knoepffler verwiesen, der aktuelle Politikfelder unter dem Aspekt des rechtlichen Gehalts des Würdebegriffs untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Art. 1 GG zur Menschenwürde sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit den kantischen Bestimmungen nicht zu vereinbaren sind (siehe hierzu: Knoepffler 2018, 120–151).
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
jedoch noch nicht viel gesagt. Für Stabilität gibt es keine Kriterien a priori. Eine vollständige Kommensurabilität aller relevanten Elemente der Perspektiven gemäß der Regelstruktur von Sprechakten ist für Stabilität nicht gefordert. Der Grad der Stabilität ist in entscheidendem Maß von der Art der Selbstverpflichtung der Akteure in der jeweiligen Handlungssituation bestimmt. Sozialisation ist ein Prozess, in dem die Geltung von Perspektiven subjektiv plausibel gemacht und als objektiv erforderlich verteidigt werden muss. Akte der Distanzierung und Identifikation auf Grundlage ‚dichter‘ Begriffe (i. S. Dworkins und Williams’) überlagern die Regeln fairer reziproker Rechtfertigung und Begründung, wie diese in institutionell moderierter Kommunikation als gesichert gelten können. Dabei kommt drei voneinander abzugrenzenden Geltungssphären157 eine je spezifische Funktion zu. Die Grundvorhaben (bei Williams: ground projects) der Individuen, die prioritär der Geltungssphäre (I) zuzuordnen sind, stehen also schon im Nahbereich der Lebensgestaltung unter der Anforderung von Bewährung gegenüber anderen. Integrität ist daher ein relationaler Begriff, der in einem Handlungs-Verantwortungsfeld Gewicht besitzen muss, um in performativer und praktischer Hinsicht Wirksamkeit entfalten zu können. Sofern die Ebene des öffentlichen Lebens betroffen ist, stellt sich geradezu zwangsläufig eine Verbindung zu den ‚moralischen Projekten‘ der Gesellschaft in der Geltungssphäre (II) her. Die öffentliche Person, zu der jede Person potentiell werden kann, auch wenn sie sich die Sphäre des Öffentlichen nicht selbst ausgesucht hat, kann sich nicht mehr allein auf die Ebene ihrer individuellen Projekte verlassen. Dem Begriff des Staatsbürgers ist die potentiell öffentliche Rolle der Person inhärent. Als Staatsbürger sind Personen durch Staat und Recht adressierbar, und zwar unabhängig davon, welche Moralauffassungen sie bevorzugen. Dies gilt sowohl für die Wahrnehmung politischer Rechte als auch für Einforderung von Verantwortung im Falle von Rechtsverletzungen. Die dritte Geltungssphäre ist also die des Rechts (III); in ihr sind Personen sowohl Adressaten als auch Akteure.158 Integritätsansprüche der Person richten sich also immer an die Person selbst und darüber hinaus an die konkreten Bedingungen der Sozialität, die als Konstituenten der Integrität fungieren können. Daraus folgt: Der Kreis der Geltungssphären der Integrität wird sich je nach Handlungskontext von innen nach außen und damit auf die gesellschaftliche Anerkennung der Person erweitern, oder er wird von außen nach innen den gesellschaftlichen Einfluss auf die ‚Grundvorhaben‘ und ‚Grundauffassungen‘ der Person erweitern bzw. begrenzen. In vereinfachender Weise lassen sich diese Wirkungsrichtungen dem politischen Liberalismus bzw. dem Kommunitarismus zu-
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Der Begriff der Geltungssphäre wird hier in Anlehnung an dessen Verwendung in der Wissenssoziologie K. Mannheims gebraucht (vgl. Mannheim 1964/2. Aufl. 1970, 173f). Mannheim schließt sich an Bolzano an, der für die Sphäre der Wissenschaft das Prinzip der Kontinuierlichkeit der Urteile fordert. Siehe hierzu auch Abschnitt 6.1) zu Grenzen der Normativität.
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5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
ordnen, allerdings gibt es vorderhand keine guten Argumente dafür, einer Richtung allein die Führungsrolle in Fragen der Sozialität zuzusprechen. Obiges Modell sich erweiternder Kreise der Geltungssphären lässt sich nun auch auf die bisher in den Blick genommenen Staat-Bürger-Modelle anwenden: Das hobbes’sche Modell verlässt sich auf die Wirkung der Staatsgewalt von außen in den ‚Innenbezirk‘ des Individuums, um den Preis der Reduzierung des Personstatus auf die Verpflichtungen zu Gehorsam und Sittlichkeit. Das rousseausche Modell setzt auf die Erweiterung der Person aus deren ‚Innenbezirk‘ subjektiver Geltungsansprüche hinein in die Geltungsbereiche der geteilten Moral und der auf diese gestützten vernünftigen Gesetze. Das kantische Modell weitet den Geltungsanspruch des Rechts so weit auf die Geltungssphäre der Moral aus, dass das allgemeine, d. h. vollständig reziproke Vertrauen, mit dem Personenstatus der Bürger in eins fällt.159 In der Sicherung des Vertrauens, so wurde oben ausführlich dargestellt (vgl. Kap. 2.4), liegt für Kant der Sinn des Lügenverbots, das die Rechtssphäre mit der Sphäre der Moral und der der Person in konstruktionistischer Weise verbindet. Alle drei Modelle der hier einbezogenen Staatstheorien konzipieren ein phantasmatisches Gerüst, das den Zusammenhalt der Gesellschaft unter dem Anspruch der Prosozialität gegen die Gefahr der Dissoziation der Glieder der Gesellschaft sichern soll. Bei Kant kommt hinzu, dass der Personbegriff untrennbar mit dem Würdebegriff in der Weise verbunden ist, dass die Person sich als autonom in ihrer gesetzgeberischen Pflicht gegenüber der Menschheit in der eigenen Person erweist. Wer sich selbst zu einem Instrument eines Verbrechens macht, geht seiner Würde verlustig. Auf Grundlage des hier vertretenen Integritätsbegriffs, der von dem kantischen Würdebegriff deutlich abgegrenzt ist, ist zumindest die Frage nach der Verhandelbarkeit von Integrität nicht von vornherein selbstwidersprüchlich. Für Kant wäre dies allein schon eine absurde Frage.
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J. Habermas deutet das naturrechtliche Erbe Rousseaus und Kants im positiven Recht so, dass „[…] die durch Rechtsverfahren institutionalisierten Begründungswege, argumentationslogisch betrachtet, gegenüber moralischen Diskursen geöffnet“ (Habermas 1992, 552) bleiben. Habermas’ Konzeption des Rechts als rational-deliberatives Verfahren stützt sich auf die diskursethische Position zur Erzeugung von Legitimität: „Die Legitimität der Legalität verdankt sich einer Verschränkung rechtlicher Verfahren mit einer moralischen Argumentation, die ihrer eigenen Verfahrensrationalität gehorcht“ (ebd.). In dieser Konstruktion, die der Formalisierung des Rechts bei M. Weber entgegengestellt wird, kommen sowohl das moderne positive Recht als auch die naturrechtliche Fundierung des Rechts in der Moral zur Geltung, ohne dass das Recht seine normierende Funktion gegenüber der Moral preisgeben muss. Die vernünftige Rechtsordnung und die Ordnung der Vernunft stehen folglich in einem komplementären Zusammenhang.
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
5.4.2 Ist Integrität verhandelbar? Die Frage, wieviel Integrität die Gesellschaft benötigt bzw. zulässt, und ob nicht eine rein funktionalistische Sicht des Individuums in ausreichender Weise gewährleistet, den Fortbestand und die Entwicklung der Gesellschaft zu sichern, kann sich an die obigen Überlegungen direkt anschließen. Wenn es so ist, dass Integritätsfragen, das Individuum betreffend, nur sinnvoll in einer Gesellschaft aufgeworfen werden können, in der Integrität überhaupt eine Rolle spielt, ergibt sich aus der in den vorherigen Kapiteln begründeten Einordnung des Begriffs in eine Kultur bzw. in Formen einer pluralen Öffentlichkeit, die Entscheidungsfreiheit dem Konformitätsdruck kollektiver Identifikationen entgegensetzt. In demokratischen Gesellschaften werden daher Fragen der Integrität vorwiegend mit dem politischen Liberalismus und dessen starken Postulaten zur Autonomie der Person verbunden. Da der politische Liberalismus mit dem ökonomischen Liberalismus, der die Macht des ‚freien‘ kapitalistischen Marktes in den Vordergrund stellt, in geschwisterlicher Einheit auftritt, ist die Frage nach dem ‚Wieviel‘ der Integrität nicht rein rhetorischer Art. Der Grundkonflikt zwischen individueller politischer Freiheit und funktionaler, marktkonformer Unterordnung unter globale ökonomische Imperative, die nicht politisch erzeugt und gerechtfertigt sind, auferlegt der Gesellschaft einige Grenzen der offenen Gestaltung. In funktionierenden Demokratien lässt sich zwar ein Rechtfertigungsdruck gegenüber wirtschaftlicher Macht aufbauen, doch erweisen sich die Instrumente allein schon der Kontrolle der Finanzmärkte als zu schwach, um die Voraussetzungen für ein gemäß akzeptierten politischen Parametern gestaltetes Leben auch nur annähernd zu sichern. Andererseits kann nur eine Gesellschaft, die Integrität im Zusammenhang mit intelligentem Freiheitswillen konzipiert, nicht als naturrechtliche Voraussetzung von Sozialität schlechthin, sondern als Wegbeschreibung dahingehend, Konstituenten dafür zu schaffen, dass die in ihre partikularen Interessen und Projekte verwickelten Individuen die politischen Mittel zur Sicherung ihrer Existenz und Integrität erweitern. Grundlegende Ideen des politischen Liberalismus, aber nicht diese allein, können dabei eine Rolle spielen. Darüber hinaus kommt es dabei aber vor allem auf die Sicherung von Rechten sowie sozialen und ökologischen Lebensbedingungen an, die geeignet sind, sich der Art von Furcht entgegenzustellen, auf die sich Hobbes’ Konzept des Gewaltmonopols stützte.160
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In diesem Sinne ist die Verteidigung der Bürgerrechte als erstes Anliegen der amerikanischen Verfassung in der Deutung von J. N. Shklar zu verstehen. Der Geist der Gesetze im Verständnis Montesquieus, eng verbunden mit dem Anspruch auf effektiven Schutz gegen staatliche Gewalt, vor der sich fürchten zu müssen für Montaigne das größte Übel im Staate darstellt, zeichnet ihren Liberalismus der Rechte und der Furcht aus. Dabei geht es ihr um Erweiterung politischer Rechte, die der vorherrschende politische Liberalismus des rein negativen Freiheitsbegriffs nicht als Staatsaufgabe verstanden wissen will (siehe hierzu: Shklar 2017, 117ff).
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5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
Es ist aber keineswegs die Furcht allein, die Konstituenten der Integrität untergräbt. Individuen können sich auf vielfältige Weise mit der Macht, sei es der des Staates oder wirtschaftlicher Sachzwänge, arrangieren, ohne vorderhand einen für sie selbst allzu schmerzhafte Verluste zu erleiden. Die potentielle Maßlosigkeit der Wünsche und Bedürfnisse weist eine hohe Affinität zu der Vorstellung unendlich steigerungsfähiger Macht auf. Wo in persönlichen Projekten die Priorität eigener Wünsche zu sehr betont wird und die Standpunkte und Geltungsansprüche der Moral und des Rechts vernachlässigt werden, ist die Person auch idealer Kandidat/ideale Kandidatin für Zumutungen anderer, die ihre Integrität missachten oder gar unterminieren wollen. Vor allem ist es die Person selbst, die sich in sich selbst täuschen kann und daher reflexive Integritätsverletzungen und -verluste situativ oder auch dauerhaft ‚übersieht‘. Selbstoptimierung und Selbsttäuschung stehen im engen Zusammenhang mit einem als innere Motivation wahrgenommenen äußeren Druck, der nicht mehr aus seinen externen Bedingungen heraus, d. h. als fremde Macht, verstanden werden kann. Als Korrektive subjektiver, interner Art gegen Integritätsverlust können Scham und Schuld gelten. Im Kap. 4) wurden dazu ausführlich Beispiele besprochen. Scham und Schuld sind als Regulative zu verstehen, d. h. sie sind auch projektiv handlungsleitend und nicht nur in der Rückschau auf Erlebnisse und Handlungen bzw. Unterlassungen wirksam. Deren Wirksamkeit ist an einen Hintergrund von Sozialität gebunden, der Personsein in Zusammenhang mit Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit konzipiert. Dieser Zusammenhang ist nicht konstruktionistisch zu verstehen, etwa zum Zweck der Begründung eines Strafrechtssystems. Er ist hingegen als essentiell für den Personstatus aufzufassen und daher mit kulturellen Konstituenten der Person verbunden, die ihrerseits historischen und transkulturellen Transformationen unterliegen. Man denke beispielsweise nur an Transformationen des Personstatus von Frauen, die in vielen Gesellschaften erst seit wenigen Jahrzehnten begonnen haben und zum Teil gerade einmal im Ansatz Wirkung zeigen, weil sie oft über das zugestandene Wahlrecht nicht hinausgehen. Die Gründe, warum Integrität nicht offen verhandelbar ist, ergeben sich aus dem normativen und präskriptiven Begriffsgehalt. Als dichter Begriff ist dieser darüber hinaus auf vielfältige Weise in einem Netz wertbesetzter Interaktionsmuster verankert. Die linguistische Domäne dieses Begriffs ist die Sprache der Verbindlichkeit. Diese Sprachdomäne muss in verschiedenen Kulturen nach unterschiedlichen Schwerpunkten aufgefächert werden. Dabei werden praktische Notwendigkeiten, kulturelle Selbstverständlichkeiten und ideelle Bedürfnisse der Selbstidentifikation einen engen Zusammenhang bilden. Wir haben es also nicht mit einem empirisch-deskriptiven Begriff zu tun, der kontingenten Bedingungen unterliegt, aber auch nicht mit einem dünnen Konzept, das mehrere Deutungsrichtungen zulässt. Die Konstituenten von Integrität sind zu sehr mit dem Personbegriff verbunden, als dass eine graduierende Anwendung des Begriffs möglich wäre. Dass eine Person ihre Integrität freiwillig und bewusst zur Disposition stellen könnte, ist eine in sich widersprüchliche Vorstellung. Auch in der askriptiven Verwendung 193
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des Begriffs wäre es in sich widersprüchlich zu sagen, eine Person sei mehr oder weniger integer. Dass uns eine Person in ihrer Identität bzw. Identitätsdarstellung nicht sehr überzeugend erscheint, ist dagegen keine in sich widersprüchliche Annahme. Bei der Frage der Integrität müssen wir uns jedoch dem Anspruch stellen, die Person unter dem Aspekt ihrer Ganzheit zu betrachten. Dass dieser Aspekt seine normative Geltung nicht dadurch erhält, dass er von außen angelegt wird, sondern sozusagen aus der Mitte der Person kommt, wird dann immer deutlich, wenn Personen zur Haltung der Selbstkonfrontation finden. In Rekurs auf die Entwicklungspsychologie Eriksons wird man davon ausgehen müssen, dass dazu ein bestimmter Reifezustand erforderlich ist, der es erlaubt, die vernünftigen von den weniger vernünftigen Handlungen und Entscheidungen der Person zu trennen, und dies selbst dann, wenn die letzteren zum Kernbestand der Biografie geworden sind.161 Der dabei angelegte Vernunftbegriff kann sich dabei dicht an den Bereich des Lebensweltlichen halten, in dem auch metaethische Grundhaltungen verankert sind. ‚Nicht verhandelbar‘ bedeutet indes nicht, dass die Person nicht doch einige ihr wesentliche Ausrichtungen zuungunsten ihrer Integrität vornimmt und sich dessen auch bewusst sein muss, insofern sie damit bestimmte wesentliche personale Eigenschaften und Haltungen verändert oder sogar aufgibt, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu ihrer Identität gehörten. Eine solche Entscheidung darf allerdings nicht mit Kompromissen verwechselt werden, die Personen in einer Sache machen. Ohne die Fähigkeit zu Kompromissen wären wir zur Kooperation nicht in der Lage, doch bei Kompromissen stellen wir nicht unsere Person zur Disposition. Wir ändern dagegen bestimmte Bewertungen und Prioritäten, um eine Problemsituation zu bewältigen, für die auch die Gesichtspunkte anderer ein gewisses Gewicht besitzen. Kompromisse beinhalten also immer auch die Anerkennung anderer Personen als ernst zu nehmende Akteure. Da Kompromisse in reversibler Weise geteilte Standpunkte der Vernunft beinhalten müssen – falsche Kompromisse einmal ausgenommen – bestätigen sich die einen Kompromiss schließenden Personen ja gerade in ihrer Vernunftfähigkeit und als Vertreter legitimer Eigeninteressen. Im Gegensatz dazu ist eine erhebliche Verletzung der eigenen Integrität ohne Neuausrichtung der Identität geradezu unmöglich. Dabei ist es nicht erheblich, ob sich diese Neuausrichtung deutlich oder diffus gestaltet, und auch nicht, ob diese nur vor dem Selbst oder auch gegenüber anderen kommuniziert wird. Es kann natürlich auch zur inneren Spaltung kommen, z. B. wenn eine Person andere Personen oder ein Unternehmen ausspioniert und diese Tätigkeit vor sich selbst mit Vorteilen für sich und/oder mit der Abwendung von Nachteilen für sich und mög161
Zu einer eindrucksvollen Innensicht in der Haltung der Selbstkonfrontation siehe das Interview mit dem Ex-Terroristen der RAF Peter-Jürgen Boock (Zeitmagazin 19.11.2020, 17–27; Die Zeit, Nr. 48). Gespräche mit Aussteigern aus gewaltorientierten Gruppen erlauben einen tiefen Einblick in die Funktionsmechanismen von Gruppenidentität, die auf die Immunisierung gegen Bedenken der Gewaltanwendung ausgerichtet sind.
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5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
licherweise auch andere rechtfertigt. Die dazu erforderliche Doppelgesichtigkeit verlangt die Integration des Nicht-Integrierbaren, was eine erhebliche Anstrengung erfordert, selbst wenn es ‚nur‘ um die Aufrechterhaltung der äußeren Identität gehen sollte. In solchen Fällen, so könnte man sagen, substituiert die Person ihre Integrität durch Deutungskomponenten aus einer Sphäre, die per se nicht mit der Integritätssphäre kommensurabel ist. Man kann dies als einen Übersprung in eine Sphäre deuten, aus der kritische Fragen zur Integrität a priori verbannt werden müssen. Der versuchte Sprung zurück in die Sphäre der Integrität kann dann nur noch in abstrakter Bezugnahme auf das umfassende Menschsein erfolgen. Dieses ist ja tatsächlich durch den Integritätsverlust nicht ‚aufgezehrt‘, es bietet jedoch keine dem Integritätsverlust angemessene moralische Stützung, da es weder begrifflich mit der Integritätssphäre noch praktisch mit den Konstituenten der Sozialität verbunden ist. Integrität ist – so die Konsequenz aus obigen Überlegungen – immer an Konstitutionsbedingungen und Restitutionsbedingungen von Personalität gebunden. Diese Bedingungen sind einerseits gegeben und werden erlebt; sie sind andererseits auch gemacht und werden von den Subjekten getragen und gestaltet. In vielen Fällen sind es auch die institutionellen Strukturen, die Maß und Qualität von Integrität definieren und einfordern.162 Es geht bei Integrität nicht um ‚Reinwaschung der Seele‘ vor einer höchsten Instanz.163 Der aus christlichen Quellen gespeiste Begriff der Menschenwürde muss von dem an konkrete Sozialität gebundenen Begriff der Integrität unterschieden werden. Der zunehmend positivierte Begriff der Menschenwürde im Rahmen internationaler Verträge kann allerdings überall dort juridische Bedeutung entfalten, wo grundlegende Verpflichtungen des Staates seinen Bürgern gegenüber verletzt werden. Die Freiheitsphilosophie einer Gesellschaft wird sich folglich daran bemessen lassen müssen, welchen Wert diese der Integrität gibt und – im negativen Falle – welche Mittel und Wege sie nutzt, um Integrität in repressiver Weise als ein Moment der ‚Gefährdung‘ der Staatsmacht auszuschließen. Dabei sollte es nicht verwundern, dass dieselben Regime, die Integrität bekämpfen, wenn diese in Formen politischer Artikulation sichtbar und hörbar wird, in ihren Verfassungen
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Die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene empirische Studie Organizational integrity: Individual misconduct and the legal structure of society (Stark 2008) nimmt sich der Frage an, ob und wie die Führungselite und Beschäftigte ausgewählter deutscher Unternehmen mit Compliance-Anforderungen umgehen. Anlass zu diesem Forschungsauftrag waren Korruptionsvorwürfe gegen die Unternehmen Siemens und Deutsche Bank. Dabei geht es besonders um den Zusammenhang von individuellem Verhalten und spezifischen Merkmalen institutioneller Strukturen. Die Vorstellung der Reinigung der Seele durch Reue und Buße spielt in allen großen Religionen eine bedeutsame Rolle. Im Falle der Entscheidung über eine kirchliche Bestattung für Straftäter auf dem konfessionellen Friedhof gab die Reue des Täters den Ausschlag. Reue stellt Integrität wieder her. Zu einer kirchengeschichtlichen Untersuchung siehe: R. Schmitz-Esser, Weiße Knochen, unverbrennbare Ketzer. Beobachtungen zur Unterscheidung von Schuld und Strafe im Mittelalter. In: C. Bachhiesl/S. M. Bachhiesl/S. Köchel, Hrsg., 2020, 253–270.
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Bürgerrechte vorsehen und natürlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 (UN-MRK) und in vielen Fällen die Menschenrechtskonvention des Europarats (EMRK) unterzeichnet haben. In ihrer Auffassung von Staatsräson sind sie vom hobbes’schen Leviathan nicht zu unterscheiden.
5.4.3 Substitute und unvollständige Substitute der Integrität Gesellschaften werden durch die Konfigurationen von Biografien zusammengehalten: Sprache, Erziehung, Kultur, Zugänge zu Aktivitäten und Bildung jeder Art, Aufgaben und Erwerbstätigkeiten sowie der mehr oder weniger nahe oder weite Horizont von Chancen, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, bilden ein dichtes Netz des individuellen Lebensvollzugs. Auch intergenerationale Lebensformen und -imperative innerhalb dieses Netzes spielen dabei eine erhebliche Rolle. Da Menschen von Anfang an jedoch eigensinnige Wesen sind, muss das Maß des Eigensinns übergeordneten Imperativen im Namen des Ganzen der Gesellschaft angepasst werden. Der unbedingt notwendige Eigensinn, ohne den es auch keinen Wunsch nach Lebenserhaltung gibt, muss vom störenden getrennt werden. Merkwürdigerweise werden Revolutionäre mit Ergreifen der Macht notorische Verfolger von Eigensinn und dissidenten Auffassungen. Das Regime der Grenzziehung zwischen Systemkonformität und Systemfeindlichkeit funktioniert dann bestens, wenn dieses flexibel der Situation angepasst werden kann. So lässt sich ein Höchstmaß an Unsicherheit und Angst gewährleisten. Die stalinistischen Schauprozesse sind dafür ein bedrückendes Beispiel, weil auch Konformitätsbeteuerungen keine Rettung bedeuteten, denn die Kriterien für Abweichung konnten für jede Person und für jeden Tag neu angepasst werden. Dafür bedarf es einer manichäistischen Moralkonzeption, die nur noch Gut und Böse kennt und die sich nach dem Vorbild Robespierres die Strafgewalt Gottes anmaßt. An einem jüngeren Fall aus der deutschen Geschichte lässt sich dieser Machterhaltungsmechanismus verdeutlichen. Der Umgang mit dem systemkritischen, aber nicht einmal grundsätzlich dissidenten Liedermacher Wolf Biermann offenbarte schließlich, wo für die damalige DDR-Regierung die Grenze der Kritik überschritten war: Die Ausbürgerung während seines Aufenthaltes zu einem Konzert in der BRD enthielt die klare Ansage, dass gerade die Kritik aus sozialistischem Geiste am realen Sozialismus als höchst staatsgefährdend angesehen werden musste, weil sie weder dem Klassenfeind noch faschistischen Elementen zugeschrieben werden konnte. Damit war die Grenze zur ‚zersetzenden‘ Staatskritik in offenkundiger Weise tief in die DDR-Gesellschaft eingezogen. Zur Beruhigung der Staatsmacht hat dies nicht beitragen können, weil die kulturelle Intelligenz des Staates sich nunmehr positionieren musste: für oder gegen Biermann, der ja seinen Staatsbürgeranspruch nicht freiwillig aufgeben wollte. Die Spaltung der kulturellen Intelligenz indes konnte nicht verhindert werden: Es gab fortan 196
5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
diejenigen, die ihre Werke der Sprachreglementierung unterwarfen, und diejenigen, die am unreglementierten Denken und Schreiben festhielten und damit auf Publikation ihrer Werke in der DDR verzichten mussten. Zugeständnisse der Staatsmacht gab es bei denen, die sich durch ihre Werke schon ein besonderes Ansehen erworben hatten. Wer Zugang zu westlichen Verlagen hatte, musste ohnehin mit Überwachung rechnen. In noch viel stärkerem Maße traf die Zwangsanpassung an Staatsdoktrinen und Weltanschauung ‚im Tausch‘ gegen Privilegien im Bereich der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz zu. Die wissenschaftliche und politische Unabhängigkeit von Wissenschaftlern war der Staatsmacht besonders in der strategisch relevanten Grundlagenforschung, wie z. B. der Atomphysik, ein Dorn im Auge.164 Die ‚Verhandelbarkeit von Integrität‘, so muss in diesen Fällen betont werden, entsprang natürlich nicht der Vertragsfreiheit der Person, sondern ergab sich aus dem staatlichen Oktroy von Verhaltensregeln für zulässige und unzulässige Kritik. Die ihren Bürgern gegenüber in Teilen aufgeschlossene Staatsmacht ist nicht zwangsläufig brachial in dem Bestreben, ihre Ziele durchzusetzen. Das verfügbare Instrumentarium der Unterdrückung wird ja nicht gegen jede und jeden eingesetzt, die/der eine eigene Meinung vertritt. Wenn dies so wäre, wären erstens die Kosten dafür sehr hoch und zweitens würde es an dem notwendigen Minimum des gesellschaftlichen Zusammenhalts fehlen. Machiavellis Lehre vom Machterhalt hat nach wie vor ihre Bedeutung für Regime aller Art, wenn er auf die Bedeutung einer situativ angemessenen Mischung von Wohlergehen der Bürger, gemäßigtem Gebrauch der Gewalt, Sicherung des Staates nach außen und gekonntem Einsatz von Täuschung und Wahrheit als die unverzichtbaren Mittel kluger Herrschaftsausübung verweist. Man könnte Machiavelli als den Psychologen der geschickten Substitution der Integrität durch unvollständige Äquivalente bezeichnen.165 Da sich in der Renaissance als der Zeit seines Wirkens ein über die ständische Ordnung hinausgehender Personbegriff in den zunehmend vom Bürgertum geprägten Stadtstaaten Oberitaliens entwickelt, stellen sich Machtfragen auch als Integritätsfragen.
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Die bislang wohl umfangreichste Studie zu diesem Komplex wurde von R. Buthmann, dem ehemaligen Mitarbeiter des Instituts für Kosmosforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR, jüngst vorgelegt. Siehe: Buthmann, Versagtes Vertrauen: Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit (2020). Substitution wird hier in Analogie zur Ersetzung eines Terms (Mathematik) oder eines sprachlichen Ausdrucks (Linguistik) durch einen anderen, funktional äquivalenten Term oder Ausdruck verstanden. Im sozialphilosophischen Zusammenhang soll die Rede von unvollständiger oder defekter Substitution so verstanden werden, dass ein von der Person akzeptiertes Gut, eine Norm oder ein Wert zwar in mancherlei Hinsicht funktional sein kann, jedoch in Bezug auf den konsistenten Erhaltungsanspruch der Person Defekte oder wesentliche Einschränkungen aufweist. Man könnte verführt sein, Substitutionen der Integrität in einem Kostenmodell aufzurechnen; für Machiavelli oder einen Handlungsutilitaristen wäre dies ein rationaler Weg der Nutzenabwägung. Da der Integritätsbegriff allerdings den unvertretbaren Akteurstatus der Person zentral setzt, hieße dies, die Entscheidungsfreiheit der Person schon auf der konzeptionellen Ebene wesentlich einzuschränken.
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
Bürgertum und Adel konkurrieren um ökonomische und politische Rechte der Repräsentation und die Herrschaft des Fürsten bzw. der Fürstenfamilien ist nach wie vor mit Gebrauch von Gewaltinstrumenten, kleinen und größeren Kriegen, mit Korruption und Intrigen bis hin zum Meuchelmord verbunden. Sphären der Integrität der Bürger, zum Teil gestützt auf die Ideen und Künste der griechischen Antike, zum Teil von der Entwicklung der Wissenschaften und neuer Kunstformen gefördert, weiten sich aus, sind aber immer wieder gefährdet. Bildung wird zu einem sozialen Wert, der einerseits der Persönlichkeit Aufstieg und Erhöhung des Ansehens verleiht und andererseits dem Personbegriff neue Qualitäten im Sinne der Integrität und der politischen Repräsentanz verleiht. In J. Burckhardts Werk Die Kultur der Renaissance in Italien ([1860] 1996)166 finden sich dazu machtsoziologische Erklärungen, die für die historische und politische Genese der Integritätsfrage aufschlussreich sind: „Zunächst entwickelt die Gewaltherrschaft […] im höchsten Grade die Individualität des Tyrannen, des Kondottiere selbst, sodann diejenige des von ihm protegierten, aber auch rücksichtslos ausgenutzten Talentes, des Geheimschreibers, Beamten, Dichters, Gesellschafters. Der Geist dieser Leute lernt notgedrungen alle seine inneren Hilfsquellen kennen, die dauernden wie die des Augenblicks; auch ihr Lebensgenuß wird ein durch geistige Mittel erhöhter und konzentrierter, um einer vielleicht nur kurzen Zeit der Macht und des Einflusses einen größtmöglichen Wert zu verleihen“ (ebd., 132/133).
Auf der höchsten politischen Ebene, der des Kondottiere, sind von dieser Entwicklung zur Persönlichkeit auch deren Frauen begünstigt, worauf Burckhardt besonders hinweist. Auch wenn die in der Hierarchie der Gewaltherrschaft zur „höchsten Ausbildung der Persönlichkeit“ (ebd., 137) herangebildeten Menschen nur mimetisch an der Macht teilhaben und die Integrität des Herrschers einzigartig bleibt, so bahnt diese Entwicklung doch den Weg zu einer allgemeinen Auffassung der Person als eines Wesens mit einem Status sui generis. Burckhardt sieht in dem Streben nach universeller Bildung des urbanen Milieus von Bürgertum und Adel den Schlüssel für eine Transformation des Personbegriffs in politischer und rechtlicher Hinsicht. Wo die Legitimierung weltlicher Herrschaft nicht mehr überzeugend von der Theologie geleistet werden kann, treten Legitimität und Legalität auseinander. Für C. Schmitt ist die Säkularisierung der Staatsgewalt in der Politischen Theologie daher mit einer quasi göttlichen Machterzeugung ex nihilo verbunden, wie H. Blumenberg kritisch feststellt.167 Renaissance und Aufklärung dagegen
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Siehe dazu: J. Burckhardt ([1860]/1996, Zweiter Abschnitt, Die Entwicklung des Individuums, 131–170). H. Blumenberg wendet sich explizit gegen die Verwendung seines an Herkommen und Traditionen orientierten Legitimitätsbegriffs durch C. Schmitt, der diesen Begriff einseitig im Sinne der Rechtferti-
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5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
antworten auf die Depotenzierung theologischer Rechtfertigung der Macht mit einer Potenzierung der Machtkritik im Lichte bürgerlicher Moralvorstellungen, motiviert durch wirtschaftliches Erfolgsstreben. Politische Herrschaft und innergesellschaftliche Machtstrukturen stehen in einem Spannungsverhältnis von wachsendem Freiheitsbedürfnis einerseits und forcierten Gegenmitteln der Herrschaftssicherung andererseits. Unterordnung allein funktioniert nicht mehr widerstandslos. Effiziente Mittel gegen allzu große Freiheitsansprüche bestehen in geeigneten Substituten der Integrität, die Loyalität gewährleisten können (vgl. hierzu Abschnitt 2.6). Loyalitätsbeziehungen sind derart charakterisiert, dass diese faktische Ungleichheit durch Substitute von Macht und Integrität erträglich machen sollen. Notwendigerweise können Substitute nicht vollständig sein, denn dann würden diese die Macht selbst gefährden. Jede Zentralgewalt muss mit dem Dilemma umgehen können, dass die maßvoll verteilte Machtteilhabe nicht das Begehren nach Machtvergrößerung oder gar Machtübernahme weckt. Substitute erweisen sich als funktional für die Herrschaftssicherung auf Grund ihres mimetischen Kerns: Die Macht über Objekte, zugeteilte Aufgaben und Funktionen u. s. w. ersetzt den Verlust bzw. die Einschränkung von Macht über sich selbst. Der Modus der Anerkennung kann immer nur partiell sein und er muss sich als funktional im Sinne der übergeordneten Instanz erweisen. Daran hat sich auch in den heutigen Hierarchien von Staat und Wirtschaft nichts geändert. Was also können Substitutionsangebote für Integrität sein und wie wirken diese auf das Personsein unter dem Integritätsaspekt? Anthropologisch betrachtet geht es um das psychologische Problem der potentiellen Unendlichkeit der Wünsche in Relation zur nur relativen Vernünftigkeit des Wollens innerhalb eines durch Geburt und Tod begrenzten Lebens. Diese anthropologischen Determinanten lassen sich zur Klärung eines weiteren Problems heranziehen, das in der Möglichkeit der Selbsttäuschung besteht. Häufig steht diese Möglichkeit der Selbsttäuschung in engem Zusammenhang mit dem Streben nach dem ‚höchsten Gut‘ im Sinne des Glücks (eudaimonia) bei Aristoteles168 einerseits und dem Streben nach Wissen andererseits, das nach dem 1. Satz in der Metaphysik des Aristoteles allen Menschen „von Natur aus“169 eigen sei. Da Wissen und Glück keine abschließbaren, endlichen Güter darstellen und auch nicht a priori in harmonischer Beziehung zueinander stehen, ist es für endliche menschliche Wesen ein fast unlösbares Problem, das eigene Wollen so einzurichten, dass in der Gewissheit der Lebensgrenzen und der Fehlbarkeit der Vernunft ein Ganzes des Lebensvollzugs überhaupt ermöglicht wird. Dieses
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gung von Macht versteht. Schmitts Reduktion des Begriffs führt nach Blumenberg zu einer voluntaristischen Deutung der Macht, die folglich nur auf die Idee einer „[…] absolut souveränen Gott-Person“ (Blumenberg [1966] 6. Aufl. 2012, 110) gegründet werden kann. „Denn das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, [1097a24–b 12]). „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“ (Aristoteles, Metaphysik, I. Buch [A] 980a [21]).
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anthropologische Dilemma einmal vorausgesetzt, scheint die Orientierung an solchen hypothetischen Prinzipien einen Ausweg zu bieten, die in subjektiver Hinsicht eine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Für die Person erscheinen diese dann unhintergehbar, insofern sie dem eigenen Leben die gewünschte Form zu geben versprechen. Die jeweilige Form der Wünsche innerhalb einer Lebenskultur spielt dabei für die individuelle Bestimmung solcher Prinzipien eine maßgebliche Rolle. Unsere Wünsche können wir objekt- und handlungsbezogen verstehen. In vielen Fällen werden sich beide Ebenen verbinden, weil Objekte unserer Wünsche immer mit vorgestellten Handlungsmöglichkeiten assoziiert sind. Sich ein rasantes Auto zu wünschen, macht wenig Sinn, wenn dieses nur vor der Tür steht, nicht gefahren werden und nicht in einen sozialen Kontext eingefügt werden kann. Im weitesten Sinne verstanden, sind also Wünsche mehr oder weniger mit Projekten und Ambitionen verbunden. Das gilt für die auf Eigenschaften und Fähigkeiten der Person gerichtete Wünsche allemal. Wer sich bestimmte Kräfte, Begabungen, Schönheit, Klugheit u. Ä. wünscht, wird damit ja etwas vorhaben. Wenn diese Wünsche bezüglich der Vorhaben sich auf sehr enge Weise mit der Person verbinden, können wir auch von intrinsischen Wünschen reden. Die Person würde nicht die Person oder zumindest nicht vollständig die Person sein, die sie ist, wenn sie diese Wünsche nicht hätte. Der einfachste Fall, den man sich vorstellen kann, wäre z. B. der eines Künstlers oder einer Künstlerin, der/die sein/ihr Leben ganz auf seine/ihre Kunst ausrichtet. Starke intrinsische Wünsche bezüglich der Projekte und Vorhaben im Leben sind jedoch nicht deterministisch zu deuten, sondern als Konstituenten der Person. Diese Konstituenten sind der Person auf eine bestimmte Art und Weise zugänglich. Das wird dann besonders der Fall sein, wenn es wesentliche innere und/oder äußere Hemmnisse gibt, die der Verwirklichung dieser Vorhaben im Wege stehen. Unfälle bei Spitzensportlern und -sportlerinnen können zu einer solchen Situation führen und es gibt beeindruckende Beispiele von Personen, die dazu in der Lage sind, sich von biografisch dominanten Vorhaben zu verabschieden und doch wesentliche Qualitäten der Persönlichkeit zu leben, die die personale Integrität als Kontinuum wahren. Es ist ein Spezifikum des Menschen, Potentiale der Konversion an sich entdecken und nutzen zu können, ohne sich dabei aufzugeben. Im Zusammenhang des Abschnitts zur Resilienz (4.2.3) sind dafür allgemeine Bedingungen entwickelt worden. Dabei kommt es nicht auf die Größe und Prominenz der Vorhaben oder ein außerordentliches Leistungsbewusstsein an. Die gegebenen Beispiele haben nur illustrativen Wert und können jederzeit durch alltägliche Beispiele eines selbstbewusst geführten Lebens ersetzt werden. Die grundsätzliche Struktur der Fehlbarkeit unseres Wissens und Selbstwissens vorausgesetzt, ergeben sich vielfältige Optionen, unser Wollen auf Wünsche zu richten, die unsere Integrität im Sinne eines gelungenen Lebens gemäß eigenen Vorhaben gewissermaßen unterminieren können. Das Problem der Mehrstufigkeit der Wünsche wurde im Abschnitt (4.1.1) schon ausführlich diskutiert. Hier soll nun die subjektive Perspektive in den Blick genommen werden, aus der 200
5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
heraus Entscheidungen gegen sich selbst plausibel gemacht werden können. Dabei geht es also nicht um eine moralische oder moralisierende Fremdbewertung. Aus der subjektiven Perspektive muss dann so etwas wie eine retrospektive Feststellung der Art „Wie konnte ich nur!?“ möglich sein. In der Retrospektive ergeben sich Kriterien der Handlungsbeurteilung, die unter bestimmten Voraussetzungen Potentiale der projektiven Handlungssteuerung freisetzen. Der Raum der intelligenten Wahl erweitert sich; die eigene Vernunft wird als Macht erlebbar, etwas zu bewirken, ohne dass ein ausgefeiltes philosophisches Konzept der Rationalität bemüht werden muss. Unvollständige Substitute der Integrität wirken exakt in die Gegenrichtung: Entscheidungsfreiheit wird zugunsten von Entlastungen und Vorteilen eingeschränkt oder ganz aufgegeben. Effektiv wirksame Substitutionen von Integrität lassen sich an materiellen und sozialen sowie an Parametern allgemeiner Einstellungen identifizieren. Wenn einer Person Geld für einen Mord angeboten wird, wäre das ein Versuch einer materiellen Substitution seiner Integrität; es könnte dabei aber auch um einen besseren Platz in der Hierarchie einer Organisation, etwa der Mafia, gehen. Das wäre ein sozialer Vorteil im Bereich der Anerkennung (relativ zum Milieu der Organisation). Unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Moral der Gesellschaft werden solche Angebote selten gemacht werden, doch Substitutionsangebote, die von eigenen Projekten abbringen können, sind auch unter den normalen Funktionsbedingungen der Gesellschaft reichhaltig vorhanden und tragen in gewisser Weise zu deren Funktionieren maßgeblich bei. In kantischer Diktion hätten wir es im Falle einer umfassenden Substituierung der Integrität mit einer Instrumentalisierung der Person zu tun: Die Person wird zu einem Mittel für die Zwecke anderer und macht sich selbst zu einem solchen. In einer der Selbstzweckformeln des Kategorischen Imperativs ausgedrückt: „[Denn] vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle“ (Kant [1785] 10. Aufl. 1989, BA 75, Hervorh. i. Org.). ‚Frei sein‘ und ‚Zweck an sich selbst sein‘ stehen für Kant in einem denknotwendigen Zusammenhang, der die vernünftige Bestimmung über sich selbst nach einem allgemeinen Gesetz, dem Kategorischen Imperativ, einschließt. Das ‚solle‘ steht hier für einen unbedingten Gehalt, wie Kant diesen von der Gesetzgebung allgemein einfordert. Die Formulierung ‚niemals bloß als Mittel‘ lässt in pragmatischer Hinsicht der Interpretation einigen Spielraum, denn Kant wollte sicher nicht darauf bestehen, dass menschliche Interaktionen ausschließlich der reziproken Anerkennung des Selbstzwecks menschlicher Wesen zu dienen hätten. Die Ergänzung ‚jederzeit zugleich als Zweck‘ offenbart jedoch eine Paradoxie des Gedankens, wenn das ‚zugleich‘ wörtlich genommen werden soll. Streng genommen ist die Mittel-Zweck-Unterscheidung nur überzeugend unter der Voraussetzung des kantischen Dualismus von empirischer und intelligibler Person. Da es aber bei der Substituierung der Integrität um ein praktisches Verhältnis der Person zu sich selbst geht, wodurch diese hinsichtlich ihrer selbst gesetzten zentralen Vorhaben eingeschränkt wird, soll Kants Vorstellung vom Selbstzweck der Person hier nur in pragmatischer Hinsicht einbe201
5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
zogen werden, ohne seinen Dualismus zu übernehmen. Der Begriff des Selbstzwecks fungiert dann quasi als Platzhalter für die psychologischen Ressourcen der Person, die sich auf ihre Angewiesenheit auf Entscheidungsfreiheit und Integrität beziehen. Im Abschnitt zu Vulnerabilität und Resilienz (4.2.3) wurden dazu schon genauere Ausführungen gemacht. Was konkret für wen Substitutionsangebot sein kann, lässt sich nicht allgemein bestimmen. Daher können hier nur die Grundhaltungen aufgeführt werden, die bestimmten Substitutionsangeboten entgegenkommen. Es wird nicht verwundern, dass diese Grundhaltungen zu einigen bekannten philosophischen Theorien in Beziehung stehen. Menschen entscheiden, begründen und rechtfertigen sich auch immer in Form von allgemein gefassten Aussagen, die ihrerseits einen moralischen Begründungsanspruch erheben. Ein Teil dieses Spektrums sei hier zusammengestellt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. A. Deutungskomponenten für Substitutionsentscheidungen: a. hedonistische Rechtfertigung: individuelle Vorteile des Wohlstands, der Karriere, des Genusses, der Verfügung über Sachen und/oder Personen b. utilitaristische Rechtfertigung im Namen von Individuum und/oder Gruppe: Machtteilhabe, Status, Titel, Privilegien, Lageverbesserung allgemein, Akkumulation von Besitz c. altruistische Rechtfertigung: Opfer, Verzicht, Aufwand, Leiden für andere (auch in Verbindung mit Machtausübung) d. identifikationsbasierte, relativistische Rechtfertigung: Gruppe, Ethnie, Nation, Religion e. generalistisch-differenzorientierte Rechtfertigung: religiös-metaphysisch, idealistisch, ideologisch, fanatisch, terroristisch. Unvollständige Substitutionen wurden bisher so verstanden, dass diese die Entscheidungsfreiheit und Integrität auf eine Weise modifizieren, dass sie die Person in Hinblick auf ihr Selbstverständnis, ihre Selbstachtung einschließlich ihrer Vorhaben auf eine wesentliche Weise einschränkend verändern. Man kann nicht beides beanspruchen: den Erhalt der integren Person in der bewusst gewollten Ausprägung einerseits und die in Form von defekten oder unvollständigen Substituten zugänglichen Vorzüge andererseits. Da für Integrität Verhandelbarkeit ausgeschlossen wurde, gibt es hier auch keinen Kompromiss. Da nicht beides zu haben ist, kann auch nicht beides gewollt werden. Dies gilt natürlich nur vorbehaltlich der Prämisse ausreichender Rationalität. Das Maß der Freiheit, das man sich selbst wählt, hängt dann von der Entscheidungsrichtung ab. Der an spezifische Handlungskontexte gebundene Freiheitsbegriff ist dabei personaliter und handlungs-/entscheidungstheoretisch, aber nicht im Verständnis von Autonomie konzipiert. Damit ist der Vorteil verbunden, dass wir auch Menschen mit wesentlichen konstitutionellen Einschränkungen als Personen mit Freiheitsanspruch und Freiheitsbedürfnis verste202
5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
hen, ohne einen nur transzendentalphilosophisch zu begründenden Vernunftbegriff zugrunde legen zu müssen. Damit verbunden war – unter Bezug auf anthropologische und ethnologische Forschungen – die Auffassung, dass das Personsein an Konstituenten der Gemeinschaft und Gesellschaft gebunden ist. Daher ist im Falle wesentlicher Einschränkungen der Handlungsoptionen von Individuen die Verantwortungsbereitschaft von Gemeinschaft bzw. Gesellschaft gefordert, um Bedingungen der Personalität zu gewährleisten.170 Freiheitsverluste durch Substitutionen von Integrität sind in dieser Konzeption immer dann gegeben, wenn selbstgewählte Ziele und Projekte mit einer erheblichen Selbsteinschränkung verbunden sind, die das Potential eines Selbstverlustes oder sogar Selbstverrats in sich einschließt. Es muss also noch eine weitere Bedingung hinzutreten, damit nicht schon ungewollte oder kaum kontrollierte Spontanentscheidungen als integritätsgefährdend gelten: Die Person muss sich darüber im Klaren sein, dass ihre moralische Entscheidung, deren unmittelbare Folgen und längerfristige Konsequenzen irreversibel und nur unter sehr großem Aufwand oder vielleicht gar nicht ‚reparationsgeeignet‘ sind. Diese Betrachtungsweise bezieht natürlich die Folgen für die Person mit ein, seien diese nun intrapersonell, interpersonell oder im größeren sozialen Kontext zu erwarten. Ein hinreichend realistisches Menschenbild wird berücksichtigen müssen, dass Menschen ihre Biografien projektiv konfigurieren, das heißt, dass sie ambitionierte Wesen sind, die von sich, den anderen und ‚der Welt‘ etwas wollen, was ihnen nicht automatisch oder durch Gottes Hand zufällt.171 Ambitionen, Ehrgeiz, Aufstiegsstreben, Erfolgschancen aller Art sind wesentliche Antriebsmomente eines selbstbestimmten Lebens, aus denen sich die Selbstachtung speist. 170
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In dieser Hinsicht ist die neuzeitliche Grenzziehung zwischen der säkularen Integrität der Person und der sakralen, vornehmlich christlich geprägten Seelenvorstellung hervorzuheben. In der christlichen Vorstellung kann die Substitutionsrichtung zwischen Seelenheil und materiellen Gütern umgekehrt werden. Die Antwort von Jesus auf die Frage, ob ein tadelloses Leben nach den Geboten ausreiche, um in das Himmelreich zu gelangen, antwortet Jesus mit dem Nadelöhr-Gleichnis: „Denn leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Lukas 18, 25. Einheitsübersetzung [EU] 2016). Von der von Luther bekämpften Ablass-Praxis der Römischen Kirche bis hin zum Vanitas-Gedanken in der Dichtung des Barock behält der Gedanke der ‚Umkehr‘ des säkularen Lebens – verstanden als eine auf Verderbnis hin angelegte Verführung – auf das ewige Leben der erlösten Seele hin seine Wirkmächtigkeit. Dass die ‚Kleingeldversion‘ der Ablass-Praxis den späteren Reformator empören musste, liegt auf der Hand, da auf diese Weise die unsterbliche Seele und das Streben nach Erlösung in ein rechnerisches, quasi kaufmännisches Verhältnis zueinander gesetzt werden. Das Erbschaftsproblem klammere ich an dieser Stelle aus, auch wenn dieses einiges Material für die Integritätsfrage hergibt, denn auch da geht es um die Frage der freien Entscheidung im Kontext von Gerechtigkeitsvorstellungen. Eine kritische Betrachtung des Erbrechts trägt der Verfassungsrechtler C. Möller unter der Überschrift „Die Freiheit der Erblasser ist die Unfreiheit der Anderen“ (Möller 2020, 118) vor. Anders als im Falle der Schenkung liegt bei der Vererbung die Annahme einer freien Entscheidung über den Tod hinaus vor. Diese Annahme ist nach Möller aber durch keine Theorie der Freiheit gedeckt. Es ist daher naheliegend, hier einen Widerspruch innerhalb des Liberalismus zu se-
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Gleichzeitig sind diese Antriebe gerade wegen ihrer Eigendynamik und der Bindung psychischer und sozialer Energien im Widerstreit mit den von der Person selbst und relevanten Anderen ausgehenden Forderungen an Integrität. Wettbewerb und freier Markt fördern kreatives Leistungsdenken und damit auch gesellschaftlichen Fortschritt, so die Theorie. Das menschliche Potential, sich illegitime oder illegale Vorteile zu verschaffen, verbindet sich allerdings gerne mit den persönlichen Ambitionen. Aus diesem Grunde gibt es Regelkataloge für Führungspersonal, Compliance-Erklärungen von Firmen und Erklärungen zur Eigenständigkeit der Leistung bei akademischen Arbeiten. Man könnte diese Liste noch fortsetzen. Wozu dienen diese Erklärungen? Verlangen sie nicht Selbstverständliches? Offenbar nicht! Die Grenzziehung zwischen sachbezogenen Projekten und persönlichen Ambitionen ist immer etwas undeutlich und kann daher leicht zum illegitimen Vorteil hin verschoben werden, da eine Messung des wirtschaftlichen, politischen o. a. Erfolgs in der Regel nicht in Echtzeit erfolgt, sondern ein Versprechen auf die Zukunft darstellt. Die Frage der Rechtfertigung stellt sich subjektiv wie objektiv auch in Hinblick auf die Deutungsmacht. Von einer ausschließlich subjektiven Deutungsmacht kann man dann ausgehen, wenn die Person über den innersten Kreis ihrer Werke, Werte und Handlungen entscheidet, der sich weder intentional noch in den Folgen und Konsequenzen auf andere bezieht. Das könnte z. B. bei Handlungen im engsten Rahmen individueller Neigungen und Leidenschaften der Fall sein. Das wäre der Fall der strikt privaten hedonistischen Rechtfertigung, die die Person über ihre Integrität stellt. In solchen Bereichen gibt es keine legitime verbindliche Mitsprache anderer, die Rechtfertigungen einfordern könnten. In Fällen der Öffentlichkeit des Handelns ist dies völlig anders. Die Deutungsmacht bleibt nicht reflexiv auf die Person beschränkt, sondern erweitert sich auf andere Beteiligte und gegebenenfalls unparteiische Beobachter. Hier kann auf das Problem der wechselseitigen Durchlässigkeit des Privaten und des Öffentlichen bei der Nutzung des Internets zurückgekommen werden. Die Illusion der ‚rein privaten‘ Nutzung des Internets kann dann leicht zum Verhängnis werden, selbst wenn nur im Dark Net kommuniziert wird. Natürlich kann Deutungsmacht auch dann zum Gegenstand des Streits werden, wenn die Beteiligten in einer Verantwortungsbeziehung oder in Abhängigkeit zueinander stehen. Der Streit wird sich dann um die ‚richtigen‘ Werte drehen, da nur ein expliziter Wertebezug die Chance auf argumentative Durchsetzung hierarchisch ‚überlegener‘ Normen und Werte bietet. Dabei kommt es auf die generellen Rahmenbedingungen der Sozialität an, an welchen Grenzen sich die subjektive Deutungsmacht gegenüber de facto objektiven Deutungsmächten abarbeiten muss. Solche Rahmenbedingungen, die jeder ausbuchstabierten Ethik vorausliegen, lassen sich in einer offen gehaltenen Übersicht zusammenfassen. Für sich genommen stehen hen. Der meritokratische Ansatz der Verbindung von Freiheit und individueller Leistung fällt ebenfalls unter diesen Widerspruch.
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5.4 Wieviel Integrität braucht die Gesellschaft?
diese Rahmenbedingungen auch für mehr oder weniger explizite Menschenbilder. Der Begriff der Legitimität erfüllt seine Funktion also in seiner allgemeinsten Form im je spezifischen Deutungsrahmen und in seinem spezifischen ‚Grenzverhältnis‘ zu den anderen konkurrierenden Deutungsrahmen. B. Allgemeine Deutungsrahmen der Sozialität I. II.
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essentialistische Sicht: göttliches Gesetz, (deontologische) Gebotsmoral, Seelenheil, Naturrecht/Vernunftrecht, absolute Wahrheitsansprüche, Gerechtigkeit als formales Prinzip juridische Sicht: Wertebezug, transkulturell-ethische Moralbegründung, überpositives Recht, Universalität von Rechtsansprüchen, politisch-öffentliche Deliberation, reziprokreflexive Selbstachtung, Gerechtigkeit als Auftrag funktionalistische Sicht: (Über-)Leben, pragmatischer Minimalkonsens, Imperative der Organisation und Nutzenmaximierung, Akkumulation von Gütern (auch: monetär) identitätsbasierte Sicht: Betonung der eigenen Besonderheit, Ausgrenzung von Individuen und Gruppen, infrahumane Abgrenzungen individualistische Sicht: Selbsterhalt, Selbststeigerung, moralische Indifferenz gegenüber Staat und Gesellschaft.
Die allgemeinen Deutungsrahmen (B) lassen sich theoretisch mit den Rechtfertigungen für Substitutionsentscheidungen (A., a–e) kombinieren. Man erhält dann relativ abgegrenzte Geltungssphären, die immanent nach Kohärenzansprüchen strukturiert sind und eine gewisse Widerstandsfähigkeit nach außen besitzen. Eine solche Kombinatorik sollte jedoch nicht allgemeine Rechtfertigungsbedingungen ersetzen, sondern als Heuristik dafür genutzt werden, um in deskriptiver Form die Widerstände und Reibungen innerhalb der auf allgemeine Geltungsansprüche ausgerichteten Diskurse bewusst zu machen. In den auf öffentliche Deliberation ausgerichteten Gesellschaften werden die Deutungsrahmen (I–III) im vollen Umfang genutzt werden müssen, um den vielfältigen Themen und Problemlagen der Gesellschaft gerecht zu werden. Von deren Konkurrenz untereinander ist – je nach Themenkontext – auszugehen. Den Deutungsrahmen IV) und V) dagegen kommt wohl in den meisten Gesellschaften De-facto-Existenz zu, ohne die Chance auf De-jure-Legitimation zu erhalten, weil sie allgemein als sozialitätsgefährdend angesehen werden. Die öffentliche Gewichtung der jeweiligen Deutungsrahmen (B) in Kombination mit verallgemeinerungsfähigen Rechtfertigungen (A) kann zur Transparenz von ethischen Grundsatzfragen beitragen, die ggf. in legislativen Akten Berücksichtigung finden. Umgekehrt können individuelle Substitutionsentscheidungen mit integritätsgefährdender Wirkung in dieser Verfahrensweise als Einschränkungen oder Verletzungen personaler und interpersonaler Grundausrichtungen transparent gemacht werden. Dabei wird deutlich, dass 205
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die reflexiv prüfende Vernunft sich innerhalb und außerhalb ihres heimatlichen Terrains bewegen können muss. Integrität kann daher nicht monistisch-monologisch verteidigt werden; dies gilt auch für Weltanschauungen und Ideologien, die sich im essentialistischen Wahrheitsgestus anderen Perspektiven gegenüber verschließen. Die Beziehungen von Deutungsrahmen und Deutungskomponenten dürfen daher nicht als notwendige Paarungen, sondern nur als Wahlverwandtschaften verstanden werden. Wahlverwandtschaften verstehe ich hier im Sinne von M. Weber, wenn er die Lebenshaltung der Askese mit der protestantischen Variante des Calvinismus verbindet, ohne daraus ein historisches Gesetz abzuleiten.172
5.5 Selbstachtung, Selbstverrat und Ideenverrat Das 20. Jahrhundert ist nicht nur das der Weltkriege, der Lager zur Ausbeutung, Umerziehung und Vernichtung von Millionen von Menschen gewesen, sondern auch das des Ideenverrats und des Selbstverrats derer, die die Ideale ihrer Kultur in Ideologien eintauschten. Substitute der Integrität bestehen nicht nur in Angeboten materieller und sozialer Vorteile, sondern auch in Systemen der Weltdeutung, die gegen die eigenen Überzeugungen und die Ideale einer Kultur in Stellung gebracht werden. Als Selbstverrat kann ein solcher Ideenverrat angesehen werden, wenn das neue Deutungssystem tief in bisher als richtig, wahr und für alle verbindlich erkannte Überzeugungssysteme eingreift und pauschale Zustimmung zu Entscheidungen von Machtinstanzen verlangt, die nicht mehr an einzelnen Werten und Handlungsentscheidungen geprüft werden kann und soll. M. a. W.: Die dem Ideenverrat unterlegene Person gibt ihre Urteilsfähigkeit ab und sie ist sich dessen auch bewusst. Es ist für jedes diktatorische Machtsystem unverzichtbar, sich der Zustimmung der Eliten zu sichern, die für die Leitungsaufgaben im Staat und für Kultur und Bildung zuständig sind. Es ist daher nicht unberechtigt, für die Diktaturen des 20. Jahrhunderts einen Selbstverrat der Intellektuellen zu diagnostizieren. Eine umfassendere Einsicht in dessen Dimension ist erst nach der Auflösung der Sowjetunion möglich geworden. Dies galt sowohl für die Länder des Ostblocks als auch für das Gebiet der alten BRD, da ideolo-
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Vgl. hierzu: M. Weber ([1920] 2004, 106). Weber spricht zurückhaltend von einer „[…] allgemeine[n] Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften die religiöse Bewegung auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte […]“ (ebd.). Bezogen auf Webers Generalthese zur protestantischen Ethik könnte man gemäß den Übersichten A) und B) die Deutungsrahmen B) I/III in ‚Wahlverwandtschaft‘ mit der Deutungskomponente A., b) bei gleichzeitiger Zurückweisung der Deutungskomponente A., a) als strukturierende Einordnungshilfe nutzen. Die Zurückweisung von A., a) ist dann im Sinne der Askese-These Webers aufzufassen.
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5.5 Selbstachtung, Selbstverrat und Ideenverrat
gische Rücksichten nicht mehr im Vordergrund standen und – die alten Grenzen übergreifend – Akten zugänglich gemacht wurden.173 Der Philosoph Kurt Flasch hat in seiner umfassenden Studie zur Rolle der deutschen Intellektuellen vor und während des Ersten Weltkriegs Die geistige Mobilmachung (2000) die Motivschichten der Dichter und Denker, Hochschullehrer und Künstler untersucht, die sehr schnell dem Humanismus, dem weltbürgerlichen Denken und in manchen Fällen auch ihrem Pazifismus abschworen, als sich die Kriegsstimmung in Europa ausbreitete. Dem Nationalismus, dem germanischen Überlegenheitsdenken, häufig mit antisemitischer Ausrichtung und gegen den ‚Erzfeind‘ Frankreich gerichtet, und der Verherrlichung des Krieges als Reinigungsprozess auf dem Feld heroischer Selbstbehauptung gegenüber vermeintlich unterlegenen Völkern, waren keine rhetorischen Grenzen gesetzt. Diese Entwicklung war vor allem ein Massenphänomen unter Akademikern in gehobenen Positionen und unter Intellektuellen allgemein. Beispielhaft führt Flasch den auf seinem Gebiet renommierten Wirtschaftshistoriker Werner Sombart, aber auch den schwedischen Asienforscher Sven Hedin an, die beide auf das Geistesleben in Deutschland großen Einfluss hatten. Flaschs Resümee zu der Entwicklung bis zum Kriegswendejahr 1916/17 reflektiert den umfassenden geistigen Umbruch: „Die wichtigsten Elemente dieses Konsenses waren folgende: Das Zeitalter des Liberalismus und Individualismus ist definitiv zu Ende. Wir sind eingetreten in das Zeitalter der Organisation, die nicht nur ein technisch-militärisches Phänomen ist, sondern weltgeschichtliche Bedeutung hat: Sie löst die Ideen von 1789 ab, also die Vorstellung von internationaler Verbrüderung, von individuell einforderbaren Freiheitsrechten, von allgemeiner Gleichheit. Wir brauchen wieder Hierarchie und Aristokratie. Die Zeit des Subjektivismus ist überwunden, denn der Mensch versteht sich wieder als Teil eines wesentlicheren Ganzen, von Familie, Korporation, Vaterland, Kirche. Der Krieg bildet eine neue Stufe der Werterfahrung und setzt neue alte Werte wieder ein: Hingabe, Glaube, Einordnung, Heldentum, kurz das Überindividuelle, in Härte Erprobte, Opfer Fordernde. Das Pathos der ‚Entselbstung‘ (Marianne Weber) erfaßte die unterschiedlichen intellektuellen Lager, insbesondere auch die Theologen, die eine neue Religiosität begrüßten und die neue Hingabebereitschaft als Ausdruck christlicher Liebe feierten. Der ‚deutsche‘ Begriff von ‚Freiheit‘ stehe höher als der atomistische und egoistische der westlichen Demokra-
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Als Beispiele von besonderer Brisanz können hier die Aufarbeitung der Geschichte der ‚Organisation Gehlen‘ (siehe hierzu: S. Creuzberger/D. Geppert, Hrsg., 2018, 123–143) sowie die Dokumentation zur Geschichte des Auswärtigen Amtes, die in der Amtszeit des Außenministers Joschka Fischer (1998– 2005) initiiert wurde, gelten. (Siehe hierzu: M. Sabrow/C. Mentel, Hrsg., 2014). In beiden Fällen konnte eine Kontinuität der Biografien und politischen Deutungsmuster von Akademikern von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur jüngeren Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland nachgewiesen werden.
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht tien, er sei von größerer Innerlichkeit und lehne den rechnerischen Formalismus von Volksvertretungen ab“ (Flasch 2000, 282/283).
Der enge Zusammenhang von Selbstverrat und Ideenverrat verdankt sich hier der Überzeugung, auf der Höhe der Zeit zu stehen und über eine umfassende Gegenwartsdiagnose zu verfügen. Diese basiert auf einem starken antimodernen und antidemokratischen Affekt. Die alten Bindungskräfte einer erkennbar in die Krise geratenen politischen Ordnung werden überbewertet. Dies betrifft vor allem auch die Religion. Das Festhalten am Alten überwiegt gegenüber der Wahrnehmung technisch-wissenschaftlicher Umwälzungen, der Veränderung der sozialen Ordnung einschließlich der Geschlechterbeziehungen. Die Mystifikation von Kampf und Selbstbehauptung steht für das Bedürfnis nach Gleichheit der sozial und politisch extrem Ungleichen, wobei diese Gleichheit sich auf die Opferbereitschaft für den Kampf für den Sieg der Nation beschränkt. Von den tatsächlichen Opfern ist da verständlicherweise nicht die Rede. Die wenigen Jahre der Demokratie der Weimarer Republik haben an der Überlebensfähigkeit dieser Motivschichten im Denken vieler Intellektueller nichts ändern können. Der Nationalsozialismus konnte darauf problemlos aufbauen. Ideenverrat ist jedoch nicht auf regressive Ideologien beschränkt, sondern er kann sich auch mit einem starken Gerechtigkeitsdenken und der Idee vom moralischen und sozialen Fortschritt verbinden. Nach den Schrecken des Nationalsozialismus konnte die Hoffnung auf eine bessere Welt, mit denen sich Kommunismus und Sozialismus auf dem sowjetischen Herrschaftsgebiet als attraktivere Alternative zum westlichen Kapitalismus darstellten, viele Menschen zu Kompromissen gegenüber dem Staat veranlassen, die eine Gefährdung personaler Integrität bedeuten mussten. Die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf hat in ihrem autobiografischen Bericht Stadt der Engel (2011) eine umfassende Suche nach sich selbst vorgelegt. Im Kern geht es darum, den Anspruch der Integrität nicht aufzugeben. Während eines USA-Aufenthalts in Los Angeles nach Ende der DDR reflektiert sie ihr Verhältnis zu diesem Staat. Da sie mit ihren Romanen, die auch in der BRD mit großem Interesse aufgenommen wurden, innerhalb der DDR eine kritische Stimme darstellte und da sie gegen doktrinäre Tendenzen in der DDR-Kulturpolitik immer wieder anzugehen hatte, konnte sie als systemkritisch und oppositionell gelten, ohne jedoch eine dissidente Haltung einzunehmen. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann war diese kritische Haltung deutlicher geworden, auch wenn dies an ihrer grundsätzlichen Zustimmung zum Staat nichts änderte. Christa Wolf hatte sich in den letzten Tagen der DDR auf Protestversammlungen immer wieder für einen eigenen Weg der DDR unter demokratischen Bedingungen ausgesprochen. Ihr autobiografischer Bericht dreht sich um die Frage, warum sie sich nicht daran erinnern kann, als junge Frau einer Zusammenarbeit als inoffizielle Mitarbeiterin (IM) bei der Staatssicherheit zugestimmt zu haben. Christa Wolf hatte nach der Maueröffnung und dem Ende der 208
5.5 Selbstachtung, Selbstverrat und Ideenverrat
DDR ihre umfangreichen Opferakten einsehen können. Die Mitarbeiterin bei der Behörde zur Aufarbeitung weist sie am Ende dieser Einsichtnahme darauf hin, dass es noch eine weitere Akte gäbe, allerdings eine Täterakte. Diese bekommt sie kurz in die Hände; ein Zugeständnis der Mitarbeiterin, das eigentlich nicht zulässig ist. Während ihres USA-Aufenthalts wird Christa Wolfs IM-Tätigkeit in der deutschen Presse bekannt und breit diskutiert. Der Umstand, dass die Schriftstellerin nicht selbst darauf verwiesen hatte, obwohl ihr die Existenz der Täterakte schon einige Zeit bekannt gewesen war, spielte dabei eine besondere Rolle. Die Diskussion um ihre Person, aber auch das Problem mangelnder Erinnerung an eine auf Zustimmung beruhende Mitarbeit bei der Staatssicherheit stürzen sie in eine schwere Krise. Der Gedanke an Selbstmord taucht immer wieder auf. Auf der anderen Seite geht es ihr um eine biografische Reflexion darüber, wie die geschichtlichen Verhältnisse, die Erfahrung des Nationalsozialismus, den sie als junges Mädchen erlebt hatte, und ihre Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft im Sozialismus sie geformt haben. Was die autobiografische Erzählung vor allem deutlich macht, ist der Konflikt zwischen ihren ideellen Überzeugungen, die allerdings seitens der staatlichen Macht immer wieder enttäuscht werden, und der Erfahrung eines Selbstverrats, der zumindest in der Retrospektive nicht zu leugnen ist, für den die Autorin jedoch keine Erklärung findet. Es kommt in diesem Fall nicht so sehr auf eine zu bekennende Schuld anderen gegenüber an, sondern auf die Frage nach der Ganzheit der Person im Blick auf sich selbst. Es lässt sich aus der Radikalität des Selbstberichts erschließen, dass die Frage der Ganzheit aus der Innenperspektive der Person zu keinem Abschluss kommt und aufgrund des Konfliktes zwischen Ideenverrat und Selbstverrat auch nicht zu lösen war und demzufolge auch in der Retrospektive nicht zu lösen ist. Es bleibt ein fundamentaler Selbstzweifel, den die Autorin zumindest literarisch ausbalanciert, indem ihr in besonders kritischen Situationen in der ‚Stadt der Engel‘ die Engelsfigur Angelina an die Seite tritt. Nicht das rechthaberisch sich überhöhende Ich, sondern eine imaginäre noumenale Instanz stellt sich in kritischen Augenblicken an die Seite der Person, um diese zu einer Haltung der Aussöhnung mit sich selbst einzuladen. Die innere Zerrissenheit bleibt gegenwärtig, doch ein versöhnlicher Brückenschlag zwischen den biografischen Regionen des Selbst scheint möglich, ohne dass die Fiktion der Selbstkongruenz bemüht werden muss.174 Was literarisch an dieser Lösung der Frage der Selbstübereinstimmung als ein schöner Kunstgriff gelten kann, kann moralisch nicht befriedigen, da es an einer unparteiischen Drittperspektive fehlt. Darüber hinaus bleibt die historische Kränkung unaufhebbar, dass es nicht die an einem Humanismus von Goethe und Schiller geschulte Intelligenz war, die
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H. Plessners Begriff der „dialektischen Dynamik des Psychischen“ (Plessner 2002, 66) trifft diesen Vorgang sehr gut. Er erklärt diesen Prozess mit der „[…] Angst, mit der eigenen Tiefe konfrontiert zu werden und die Wohltaten der Unwissenheit über sich selbst zu verscherzen, indem man das Unbewußte durchwühlt und ins Licht des Bewußtseins zerrt […]“ (ebd., 66/67).
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
den Staat zu Fall brachte, sondern ein konkret auf Reisefreiheit und Freiheit von Bevormundung gerichteter Wille wachsender Teile der Bevölkerung. Bei dieser ausführlichen Darstellung geht es nicht so sehr um den Einzelfall und eine spezifische Schuld, sondern um die grundsätzliche Frage der Zerrissenheit, die nicht auf einer mit klarer Schuld verbundenen und deutlich umrissenen Handlung beruht. Es geht um die mehr oder weniger deutliche Zustimmung zu Verhältnissen, die wir nicht ändern können und die wir hinnehmen, um auf diese Weise ein für uns wesentliches Projekt zu verfolgen. Für Christa Wolf ist dieses Projekt zweifellos das Schreiben. Dabei stellt sie die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Mittelpunkt, und dies nicht immer im Sinne des zur kulturpolitischen Doktrin erhobenen sozialistischen Realismus. Andererseits ist das Schreiben für eine ambitionierte Schriftstellerin auch immer mit einer inneren Selbstverpflichtung auf Wahrhaftigkeit verbunden. Diesen Anspruch hat Christa Wolf ohne Zweifel für sich reklamiert. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Integrität nur dem zum Problem werden kann, der den Anspruch von Integrität an sich selbst stellt. Die Einsicht zuzulassen, dass einem möglich war, andere Menschen, Freunde und Bekannte an einen Staat zu verraten, der Opposition jeder Art mit harten Maßnahmen bekämpft, ist sicher nicht leicht zu ertragen. Warum für Wolf die Haltung der Dissidenz keine Option war, hätte sie nur selbst beantworten können. Sofern nicht externe Beurteiler mit gutem Recht Zweifel an der Integrität der Person vorbringen können, weil es z. B. um Fragen der Verantwortlichkeit geht, ist die Person auf sich selbst gestellt. Diese Einsamkeit der Selbstbeurteilung wollte schon Rousseau in seinem Exil für sich als einzige Quelle der Kritik beanspruchen. Die Gefahr, Opfer seiner Selbstliebe zu werden, war ihm nicht gegenwärtig. Ein freies Denken wird sich jedoch nicht der Möglichkeit berauben, der Tendenz zur Selbstbehauptung mit dem Außenblick zu begegnen, auch wenn diesem keine reale Macht über die Person zukommt. Das normative Festhalten an Integrität als Anspruch an sich selbst bedarf der Konfrontation mit einer Außenperspektive, selbst wenn diese dem eigenen Bewussten oder Unbewussten entspringt.
5.6 Delegitimation: Dissidenz, Pseudo-Dissidenz, Widerstand und Rebellion Die zu Beginn dieses Kapitels diskutierten zwei Deutungen des Politischen lassen sich kurzgefasst als gewaltfixierte Skepsis gegenüber legitimer Macht und als legitimatonskritisches Streben nach Machterweiterung gegenüberstellen. Beiden Richtungen ist das Potential der Delegitimation eingeschrieben. Während die gewaltfixierte Machtskepsis sich gegen die Deliberation politischer Ziele innerhalb demokratisch konstituierter und durch Wahl legitimierter Institutionen
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5.6 Delegitimation: Dissidenz, Pseudo-Dissidenz, Widerstand und Rebellion
wendet, um diese Institutionen und deren Repräsentanten insgesamt zu delegitimieren,175 geht es in der anderen Auffassung darum, die Legitimität solcher Machtverhältnisse in Frage zu stellen, die an Interessen gesellschaftlicher Gruppen und Verbände festhalten, die der Realisierung allgemeiner Lebensinteressen der Gesellschaft und der Durchsetzung vernachlässigter Partikularinteressen entgegenstehen. Machterweiterung im Sinne der zweiten Richtung soll neue Handlungsräume schaffen und ggf. bestehende Integritätsverweigerungen und -verletzungen beseitigen. Die ‚Kritik der Rechte‘ ist hier nicht als Kritik des Rechtssystems zu verstehen, sondern als Kritik an den uneingelösten Versprechen des Rechts. Für den politischen Anwendungsbereich des Integritätsbegriffs gilt daher, dass die Geltungssphäre des gelungenen Lebens vermittels der moralisch-ethischen und daher öffentlichen Geltungssphäre mit der Geltungssphäre des Rechts eng verknüpft ist. Der politische Prozess erhält dadurch seine innere Dynamik, insofern die Legislative sich Herausforderungen stellen muss, die auf die Umverteilung von Freiheiten zielen bzw. neue Freiheitsräume eröffnen sollen. Die feministische Gesellschaftskritik hat deutlich gemacht, dass die Geltungssphären in Bezug auf die Rolle der Frau geschichtlich und gesellschaftlich auf vielfältige Weise verschränkt sind und ein sich wechselseitig stützendes Gewebe der Integritätsverweigerungen und Unterdrückung darstellen. Die epistemische Macht der Definition der Geschlechterverhältnisse durchzieht die Sphären der Privatheit, der Gestaltung des öffentlichen Lebens und der Rechtsnormen. Gesellschaftliche Veränderungen bedürfen daher herausfordernder Interventionen auf allen drei Ebenen, wobei der Anstoß dazu, die gesellschaftliche ‚Logik‘ der Verhältnisse aufzubrechen, häufig von öffentlichkeitswirksamer privater Aktion ausgeht, die zu gesellschaftlicher Solidarisierung führt. Im Falle der Neuordnung der Geschlechterverhältnisse geht es zunächst um Umverteilung von Freiheiten; daraus kann freilich auch die Kreation neuer (gruppenbezogener) Freiheiten hervorgehen, die den Bereich der Selbstbestimmung maßgeblich erweitern. Identifikation und Distanzierung sind universelle Haltungen, Zugehörigkeiten nach Zwängen und Chancen zu differenzieren und ggf. einer Wahl zu unterziehen. Gesellschaftliche Veränderungen und die Neugestaltung von Zugehörigkeiten jenseits mehr oder weniger integritätsverletzender oder -verweigernder sozialer Bedingungen bergen in sich ein erhebliches Veränderungspotential. 175
In den rechtsradikalen identitären Strömungen wird für die entwertende Kritik demokratischer Institutionen gerne der beschönigende und nach Theorie klingende Begriff der Metapolitik benutzt. Der Kampf gegen die demokratischen Institutionen stellt sich dann als Versuch der Kaperung der Moral der Gesellschaft insgesamt dar, der sich, wie die Entwicklung in den Jahren der Präsidentschaft Trumps in den USA zeigte, von der höchsten Machtinstanz selbst vorangetrieben wurde. Der gesellschaftliche Prozess bewegt sich dann nur noch von Konflikt zu Konflikt, nicht jedoch vom Konflikt zur Kontroverse, die im Rahmen einer grundsätzlich anerkannten Gegnerschaft zu Lösungen führen könnte. Aber auch da gibt es sicher Grenzen. So spaltet der Kultus des Waffenbesitzes die amerikanische Gesellschaft so tiefgreifend, dass eine grundsätzliche Reform der Waffengesetze auch unabhängig von der Einflussnahme der Lobby der Waffenindustrie nicht zu erwarten ist.
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
Wie weitgehend Gesellschaften die Plastizität und Dynamik besitzen, solche Veränderungsprozesse in ihrem projektivem Gehalt aufzunehmen und politisch und rechtlich zu gestalten, lässt sich nicht verallgemeinernd sagen. Wo der offene Prozess von Identifizierung und Distanzierung einschließlich der Systemkritik nicht realiter und rechtlich in der Gesellschaft verankert ist, entsteht eine Situation, in der Dissidenz als Kritik der Macht unvermeidlich ist. Zum Dissidenten kann man sich selbst erklären, aber diese Zuschreibung kann auch von Seiten des Staates als Sanktion gegen die Person gemeint sein. Sie hat in der Regel Integritätsverletzungen zur Folge, wie Verlust der Arbeitsstelle, Einschränkungen von Grundrechten und Publikationsmöglichkeiten, Überwachung durch staatliche Organe oder angeworbene Zivilpersonen, Anklagen mit juristisch problematischem Gehalt und vieles mehr. Dissidenten verteidigen ihre Integrität in politischen Überzeugungen, wodurch sie in ihrer grundsätzlichen Kritik am System für Substitutionsangebote unzugänglich sind. Solche könnten in Privilegien bestehen, die mit Auflagen zur Staatstreue verbunden sind. Für Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der DDR war diese Option oft der einzige Weg, dem nachzukommen, was sie zu tun beanspruchten. Dass der intendierte Inhalt ihrer Tätigkeit dann nicht mehr zu erkennen war, musste als Demütigung in Kauf genommen werden. Für Dissidenten und Dissidentinnen war ein mit Verpflichtungen verbundenes Bekenntnis zur Staatstreue, das die Akzeptanz der Regierung einschloss, nicht denkbar. Ein Ideenverrat wäre für sie auch ein Selbstverrat gewesen. Von einem bestimmten Punkt der Integritätsverletzungen an kann für Dissidenten der einzige Ausweg sein, ins Exil zu gehen, vorausgesetzt, es gibt einen gangbaren Weg dahin. In dem Fall der freiwilligen Rückkehr in das Land, dessen Regierung der Person nach dem Leben trachtet oder diese der Freiheit beraubt, muss man von einem besonderen Mut der Person zur Herausforderung der Regierung sprechen.176 Dissidenz in der beschriebenen Form kann nicht als politische Haltung in einem rechtsstaatlich organisiertem Staatswesen beansprucht werden. Wo dies dennoch geschieht, besteht das Interesse darin, durch die Einnahme einer Haltung des Opfers eine Delegitimation staatlichen Handelns zu bewirken.177 Als kollektives Syndrom kann Pseudo-Dissidenz dazu genutzt werden,
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Die freiwillige Rückkehr des russischen Regimekritikers Alexej Nawalny nach Russland, nachdem er sich in Berlin von einem Giftanschlag in Russland erholt hatte, kann hier als ein außerordentliches Beispiel persönlichen Muts angeführt werden. Am Tag seiner Rückkehr am 16.01.2021 wurde er sofort in Haft genommen. Da die postsowjetischen Straflager insbes. bei politischen Gefangenen nach wie vor auf Destruktion der Persönlichkeit durch willkürlichen Zugriff auf Körper und Gesundheit der Gefangenen ausgerichtet sind, ist eine solche Entscheidung nicht ohne Risiko. Dieser Fall verdeutlicht die Unterscheidung von Systemkritik und Dissidenz: Der Systemkritiker setzt auf die Einhaltung und konsequente Anwendung der verfassungsmäßigen Rechte, um einen legalen Wandel im Lande herbeizuführen, während die Regierung die System- und Regierungskritik als einen Fall von staatsfeindlicher Dissidenz konstruiert und mit exekutiver und ‚rechtlicher‘ Gewaltausübung beantwortet. Die Vermutung ist nicht ganz abwegig, dass die im sozialen Gedächtnis verankerte generationenübergreifende Demütigung durch den totalitären Staat der DDR zu einer nachholenden Dissidenz in den
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5.6 Delegitimation: Dissidenz, Pseudo-Dissidenz, Widerstand und Rebellion
Anhängerschaft zu mobilisieren, um Gewaltaktionen und Rebellion als legitim und notwendig darzustellen. Widerstand gegen das als ungerechtfertigt angesehene staatliche Handeln ist in vielfältiger Form denkbar. In einer demokratischen Gesellschaft sind Protestformen zugelassen, die über das selbstverständliche Demonstrationsrecht weit hinausgehen. In solchen Fällen sind Entscheidungen über die Zulässigkeit von Aktionen häufig Gegenstand der Klärung vor Verwaltungsgerichten, sodass der Rechtfertigungsdruck für die Exekutive erhöht wird. Widerstand kann sich auch als spontaner Protest expressiv artikulieren. Das Demonstrationsrecht schließt nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch Spontandemonstrationen ein, wenn der Anlass eine Maßnahme oder eine politisch zugespitzte Situation darstellt, die spontanen Protest rechtfertigt.178 Die Methodik der Pseudo-Dissidenz mit dem Ziel der Erzeugung moralischen Drucks lässt sich in wesentlichen Punkten zusammenfassen: I. Delegitimation von Institutionen und deren Vertretern/Vertreterinnen II. Herstellung von Gegenöffentlichkeit und Besetzung normativer ‚Posten‘ und Positionen III. Symbolik von Massenbewegung (effektiv, imaginär) IV. Individualisierung/Personalisierung von Gegnerschaft bis hin zur Feindschaft V. Verrat an bzw. Umwertung von Ideen, die einen breiten Konsens darstellen (z. B. Humanität, Nothilfe, Gleichheitsgrundsätze) VI. Selbst-Heroisierung VII. Vorrang expressiver Artikulation vor rationaler Begründung VIII. Rhetorik des ‚übergesetzlichen Notstands‘ (häufig im Anschluss an C. Schmitt) IX. Militanz in angedrohter und realer Form Charakteristisch für Pseudo-Dissidenz ist die Nutzung demokratischer Rechte und Mittel gegen die Demokratie selbst. Ihre Artikulationsformen sind auf lange Sicht eingerichtet, da nur so ein Umwertungsprozess gefördert werden kann, der zu dem Kipppunkt eines allgemeinen Vertrauensverlustes in den Staat bzw. einzelne Institutionen führen soll. Was vorderhand den Eindruck spontaner und agonistisch-demokratischer Empörung erweckt, ist kalkulierte Inszenierung, die auf Gewalt abhebt. Der Einsatz rein phantasmatischer Mittel der Machtsymbolik sowie die mythische Überhöhung sektenartiger Ideologien kommen dem Bedürfnis nach holistischer Welt-
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gegenwärtigen identitären Quer-Bewegungen führt. Die Rhetorik des Kampfes für demokratische Rechte wird dabei im gleichen Zuge dazu genutzt, diese Rechte für andere einschränken zu wollen. Die Beliebigkeit der Bündnisse ist ein starkes Indiz für die abstrakte Staatsfeindlichkeit als das verbindende Element. Vgl. die sog. Brokdorf-Entscheidung des BVerfG, 14.05.1985, Az.: 1 BvR 233, 341/81. Abrufbar unter: https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BVerfG&Datum=14.05.1985& Aktenzeichen=1%20BvR%20233/81 (15.01.2021).
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5 Die Integrität der Person im Projektionsfeld Macht
deutung entgegen. Adressaten sind nicht die Bürger/Bürgerinnen als freiheitsbewusste Wesen mit Anspruch auf Integrität und Urteilsfähigkeit, sondern es geht um Gefolgschaft, die sich mit dem Nimbus des Plebiszitären schmückt. Demokratische Willensbildung wird zugunsten von Volk (demos als Menge), als wechselnde und beliebige Ansammlung der ausschließlich von Unmut bewegten Menschen, entwertet und boykottiert.179
Resümee VII Integrität ist einerseits als ein Konzept der Moralität im Sinne der formellen Ausstattung der Person durch Kultur und Gesellschaft zu verstehen und sie ist andererseits individuelle konstitutive Bedingung von Entscheidungsfähigkeit unter der Annahme echter Wahlmöglichkeit. Der begriffliche Kern des Konzeptes ist nicht psychologischer, sondern moraltheoretischer Art, insofern normative Elemente impliziert sind, die sowohl nach innen, also auf die Person hin, als auch nach außen auf die Sozialität hin, gerichtet sind. Das Personsein verdankt sich in diesem Verständnis anthropologischer und sozialer Konstituenten, die ihrerseits in ein Macht- und Rechtsgefüge eingelassen sind, von dem die Kultur der Gesellschaft samt ihrer Erziehungs- und Bildungsprozesse geprägt ist. Im Projektionsfeld Macht sind Personen einerseits Adressaten von Zuweisungen, Anweisungen, Gewährleistungen, Verletzungen und Verweigerungen, die ihre Integrität betreffen; sie sind andererseits auch Akteure, die mit gesellschaftlichen Herausforderungen affirmativ, indifferent, moderativ, experimentell-gestaltend und widerständig umgehen können. Je nach grundrechtlicher und menschenrechtlicher Orientierung der Gesellschaft und des Staates sind die Territorien integrer Lebensgestaltung unterschiedlich ausgebaut. Individuelle Lebensauffassungen, einschließlich eigener zentraler Projekte, die ethisch-moralisch kontroverse und zum Teil kontradiktorische Ausrichtung der Öffentlichkeit sowie die Ausrichtung der politischen Macht und des Rechts auf allgemein legitimierte Grundsätze des Zusammenlebens bilden nicht von vornherein einen homogenen und konsistenten Rahmen der Sozialität. Der Bereich des Politischen ist daher immer nach mehreren Richtungen hin offen. Unter dieser allgemeinen Voraussetzung muss der Begriff der Integrität eine Reihe kognitiver Komponenten und Potentiale in sich aufnehmen, denn die Selbstdeutung im Projektionsfeld Macht bewegt sich im Spannungsfeld von individuellen Dispositionen und den jeweils bevorzugten Deutungsrahmen der Sozialität. Substitutionsangebote der Integrität müssen in ein Verhältnis zur Selbstübereinstimmung auf der einen Seite und zu der auf die Sozialität bezogenen Selbstverpflichtung auf
179
Zu einer differenzierten Analyse siehe: B. Heidlberger, in: Aufklärung und Kritik, 4/2020, 233–248.
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5.6 Delegitimation: Dissidenz, Pseudo-Dissidenz, Widerstand und Rebellion
der anderen Seite gesetzt werden. Dazu bedarf es einer machtbewussten und machtkritischen Haltung sich selbst und anderen gegenüber.180 Eine Ermäßigung dieser ethischen Anforderung wäre nur um den Preis der Integrität selbst möglich.
180
In der Terminologie des Ansatzes von P. Pettit (2018) lässt sich auch von einer auf Kooperation gerichteten Abstimmung zwischen individueller Wünschbarkeit (moral desirability) und allgemeiner Verlässlichkeit (reliability) reden, denn diese beiden motivationalen Ausrichtungen jeder kooperativen Gruppenstruktur müssen sich auf geeignete Durchsetzungsmittel für bevorzugte Handlungsoptionen stützen können. Verlässlichkeit kann in diesem Zusammenhang als Vorstufe des Hüters des Allgemeinen mit normativem Anspruch verstanden werden. Während Hobbes eine handlungsbezogene und psychologische Deutung von Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit bevorzugt, verwandelt Kant diesen Anspruch der Person an sich selbst in eine allgemeine Rechtspflicht, die er am Beispiel der Lüge exemplifiziert (vgl. hierzu: Kap. 2.4/2.5). Was bei Kant den Eindruck der moralischen Belehrung hinterlässt, sollte indes staatsphilosophisch als ein Durchbruch gedeutet werden, denn nunmehr ist es das Rechtsbewusstsein der Bürger, das Staat und Gesellschaft zusammenhält. In der psychologisch-mechanistischen Version bei Hobbes bedarf es dagegen der Furcht vor der Allmacht des Herrschers, die die immer gefährdeten Dispositionen zu Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit sichert. An Kants Position gemäßigt anschließend, ist das Lügenverbot zumindest für den Bereich des politischen Handelns einzufordern. Andernfalls wäre es um den ‚Selbstreinigungseffekt‘ von Demokratien schlecht bestellt.
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6 Sphären der Integrität: Das gelungene, das gute, das gerechte Leben 6.1 Grenzen der Normativität Normative Ordnungen des Politischen werden gerne so vorgestellt, als würden sie die innere Ordnung des Selbst präjudizieren und konfigurieren. Dabei wird häufig eine bestimmte Deutung des Rechts zu Hilfe genommen, aus der sich mehr oder weniger klar bestimmte Auffassungen der Moral ergeben sollen. Der politische Liberalismus gilt in dieser Richtung als ein ehrgeiziges Projekt, das allerdings im internationalen Maßstab recht wirkungslos geblieben ist. Der Einsicht, dass die spezifischen normativen Ordnungen der Sozialität sich nicht ohne besondere begriffliche Anstrengungen einem homogenen, auf Freiheit gestellten Menschenbild einfügen lassen, müssten politische Konsequenzen folgen. Diese beträfen dann innergesellschaftliche und zwischenstaatlich verbindliche Regularien, die über das (immer noch unverzichtbare) Monitoring von Konventionen der UN hinausgehen. Der Vorrang des Rechts vor der Moral wäre dann dort zu fordern, wo die Moral staatlicher Macht sich willkürlich gesetzten Interessen und Staatszielen beugt, denen die Bürgerrechte geopfert werden. Am Beispiel des Lügenverbots bei Kant ist die Frage des Vorrangs des Rechts vor dem Guten, d. h. vor der individuellen und öffentlich geteilten Moral, in den Abschnitten 2.4 und 2.5 diskutiert worden. In staatstheoretischer Sicht, die die Integrität des Souveräns im Blick hat, ist der Vorrang des Rechts unabdingbar. In dieser Hinsicht verdanken sich Freiheit und Integrität des Individuums seiner Einbindung in staatliche Garantien. Außerhalb derer gibt es weder Freiheit noch Rechte oder überhaupt Recht. Die andere Sicht, die des Vorrangs des Guten vor dem Recht, nimmt für sich in Anspruch, dass Moral nicht im Recht aufgeht. Staat und Recht bedürften selbst der Moral oder sog. überpositiver Rechte, die einen Wertebezug aufweisen, der nicht qua Gesetz kodifizierbar ist.181 Es gibt allerdings auch Auffassungen, die Übergänge und Verbindun-
181
Der Verfassungsrechtler und spätere Verfassungsrichter E.-W. Böckenförde hat die Vermutung geäußert, dass der säkulare und daher von religiöser Begründung abgeschnittene Staat seine eigenen Voraussetzungen nicht garantieren könne. Das sog. Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkula-
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6 Sphären der Integrität: Das gelungene, das gute, das gerechte Leben
gen zwischen dem Recht und der Moral erkennen bzw. postulieren. Wo die Religion oder eine doktrinäre Moralauffassung nicht mehr Vertrauen und Verbindlichkeit überzeugend gewährleisten können, kommt der Zivilgesellschaft eine erhöhte Bedeutung zu: Moralische Forderungen an das Recht werden im öffentlichen Diskurs als Zielbestimmung des politischen Prozesses ausgehandelt. Autoritative Ordnungsstrukturen gelten dann nicht aus sich heraus, sondern sie beruhen auf Bürgerentscheidungen und Bürgerbeteiligung. Die Bedingungen der Akzeptanz staatlicher Macht unterliegen selbst der gesellschaftlichen Gestaltung. In diesem Verständnis war die Bedeutung der Öffentlichkeit als Raum des Politischen im Kap. 3) entwickelt worden. In der historisch-kulturellen Verbindung mit der reflexiv gewordenen Ordnung der Macht kann das reflexive individuelle Gestaltungspotential nur als normativ und prozedural verstanden werden. Theologisch-metaphysische Aufladungen des Personbegriffs sind in der öffentlichen Konzeption von Moral nicht mehr durchsetzbar, auch wenn sie in den Grenzfragen von Leben und Sterben immer eine Rolle spielen werden. Dem Bereich des praktischen und sozialen Lebensvollzugs sowie dem der individuellen Überzeugungen kommt allerdings eine gewisse Priorität gegenüber dem Öffentlichen zu, auch wenn das private Wesen der Person nicht aus den das Leben überformenden Rechts- und Moralbezügen herausgelöst werden kann. Darüber hinaus ist die Person der gleichzeitig auf allen gesellschaftlichen Ebenen virulenten Macht verfestigter sachlogischer Präferenzen solange ausgesetzt, wie es keine erheblichen Umwälzungen gibt, die in alle drei der in der Kapitelüberschrift benannten Bereiche eingreifen. Diese drei Bereiche sind als relativ unabhängig voneinander anzusehen. Unabhängig heißt hier nicht ‚isoliert‘, sondern nur soviel, dass jeder dieser Bereiche mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen zu tun hat, aber nicht für sich allein stehen kann. Daraus folgt, dass diese Bereiche, als Geltungssphären verstanden, von unterschiedlichen gesellschaftlich und kulturell verankerten Belangen sowie unterschiedlichen normativen Anforderungen, Logiken und Prinzipien durchwirkt sind. Dabei ist davon auszugehen, dass es zwischen diesen Geltungssphären alte und neuere Rechtsbeziehungen interlegaler Art gibt und geben muss. Gesellschaftliche Ordnungen stellen per se einen mehr oder weniger engen
risierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Hervorh. i. Orig.), 1964 in einem Vortrag geäußert und später in seine Schriften aufgenommen (Böckenförde 1991/2006, 112), hat zu immer wieder neu belebten Diskussionen über das Ethos der Zivilgesellschaft und die Rolle der Zivilreligion geführt. Als Nachkriegsschüler C. Schmitts nimmt Böckenförde Schmitts These, dass der liberale Rechtsstaat sich nicht aus sich selbst heraus begründen könne, in variierter Form wieder auf. Zur neueren Diskussion im Zusammenhang mit Populismus und Islamismus siehe: O. W. Lembcke/B. v. Klink (2017). Die Autoren plädieren für ein Ethos des Rechts als Grundlage des säkularen Staates in Verbindung mit dominanten Leidenschaften; letztere sollen sich als resistent gegenüber Affekten, Gefühls- und Willensschwankungen erweisen und somit eine gewisse innere Kohärenz der Orientierung der Person gewährleisten. Die Stabilität des politischen Systems hängt in dieser Auffassung von den Überzeugungen und politischen Leidenschaften seiner Bürger und Bürgerinnen ab.
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6.1 Grenzen der Normativität
interpretativen Zusammenhang von Geltungssphären dar, innerhalb dessen sich die Menschen orientieren müssen und an sozialen Veränderungen arbeiten können. I. Das gelungene Leben orientiert sich am Werkcharakter des Lebens, der Art und Weise der Befriedigung materieller und sozialer Bedürfnisse und an den Beziehungen zu anderen Menschen des Nahbereichs und der erweiterten Bereiche des individuellen Lebens. Im Selbstbild sind diese Bereiche je nach deren subjektiver Gewichtung mehr oder weniger stark integriert und hierarchisiert. Diese Offenheit erlaubt es dem Selbst, Justierungen, Umdeutungen, Gewichtsverlagerungen und Richtungswechsel vorzunehmen. Einige Transformationen sind teils schon kulturell durch Lebensaltersstufen vorgezeichnet; teils verdanken sich diese individuellen Entscheidungen, einschneidenden Erlebnissen oder persönlichen Einsichten. Gegenüber den als formal empfundenen rechtlich-institutionellen Bereichen des Lebens genießen erstere eine gewisse existenzielle Priorität. Fixierungen von Identität, aber auch fluide Übergänge zwischen sich überlappenden ‚Identitäten‘ können gleichermaßen von Bedeutung für die Person sein. In dieser Geltungssphäre sind auch die auf Integrität bezogenen ‚Verankerungen‘ der Person anzusiedeln, die als Grundausrichtungen oder Grundvorhaben des eigenen Lebens und als Selbstverpflichtungen bezeichnet werden können. Grundausrichtungen und Selbstverpflichtungen sind individuell und stehen in engstem Zusammenhang mit der Freiheitsauffassung und dem politischen Selbstverständnis der Person.182 Daher ist es nicht verwunderlich, dass der politische Liberalismus die Priorität auf die Sicherung der Geltungssphäre (I) setzt. Diese steht jedoch nicht in eindeutiger Relation zur Geltungssphäre (II). Mögliche Diskrepanzen sind darin begründet, dass die Deutungsmöglichkeiten die eigene Sozialität betreffend unter den diversen Vorzeichen der Moral ein großes Maß an Offenheit aufweisen; diese kommt der prinzipiellen Offenheit des Selbstentwurfs entgegen. Freiheit und Notwendigkeit der Entscheidung werden für die reife Person zu untrennbaren Begleitern. Rechtlich gesehen bezieht sich diese Geltungssphäre auf den Bereich der individuellen Grund- und Freiheitsrechte, die nach negativem und positiven Freiheitsverständnis den Handlungsraum der Person im Projektionsfeld Macht öffnen und begrenzen. II. Das gute Leben bezieht sich auf die Herausforderungen an die Sozialität der Person. Einer Moraltheorie, die eine allgemein geteilte Bestimmung des Guten schlechthin leistet, bedarf es
182
B. Williams hat sein ursprüngliches Integritätskonzept, das über Jahrzehnte am individuellen ground project und der Selbstverpflichtung (commitment) im Sinne von Identitätssicherung orientiert war, erst in Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Williams 2003) in den Zusammenhang politischer Philosophie gestellt. Individuelle Überzeugungen mit Wahrheitsanspruch werden mit sozialer Verantwortung, die ihrerseits auf Vertrauen aufbaut, eng verknüpft (vgl. hierzu bes.: ebd., 136–156). Im Unterschied zu eigenen früheren Ansätzen vertritt Williams in seinem letzten essayistischen Werk eine historisch und kulturell orientierte kontextuelle Betrachtungsweise, ohne jedoch die Bedeutung des allgemeinen Vertrauens zu relativieren.
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6 Sphären der Integrität: Das gelungene, das gute, das gerechte Leben
dazu nicht. Von einer dualistischen Auffassung, die in einer Entgegensetzung von empirischer und intelligibler Person besteht und eine essentialistische Moral voraussetzt, sind für die Bestimmung des guten Lebens keine politischen Impulse zu erwarten. Die Einheit des Guten – ob nun in religiöser oder idealistischer Konzeption verstanden – geht den Bedingungen der Sozialität nicht voraus. Als treibendes Moment der Kontroverse um das für die Gesellschaft jeweils Beste, nicht als Besitz von Wahrheit, kann indes das Gute den menschlichen Geist beflügeln. Das soll nicht ausschließen, dass essentialistische Moralauffassungen in der Gesellschaft vertreten werden und dass deren Ausübung grundrechtlich garantiert ist. Wesentlich ist nur, dass für individuelle und kollektive Moralauffassungen, die auch religiös begründet sein können, Bewährungskriterien gelten, die im allgemeinen Rechtsverständnis der Gesellschaft akzeptiert sind. Auf Grund dessen ergeben sich besondere Anforderungen an das Recht, insofern Rechtsinstanzen immer im Spannungsfeld zwischen Macht und Moral Entscheidungen treffen und begründen müssen. Dem Geltungsbereich des guten Lebens entspricht auf rechtlicher Ebene der Bereich der politisch-moralischen (juridischen) Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Gesellschaft. Soziologisch betrachtet ist dieser Bereich mit allen Formen der Öffentlichkeit, deren heterogenen Ausrichtungen und deren Kämpfen um Aufmerksamkeit und Durchsetzung verschränkt. III. Das gerechte Leben orientiert sich an schon kodifizierten oder zukünftig noch zu kodifizierenden legislativen Regelungen und deren juristische Anwendungen, die für Gerechtigkeit als Maßstab der Gestaltung des privaten, des öffentlichen und des politischen Lebens gelten können. Recht als Korrelat der Macht, wie in vorherigen Abschnitten erklärt, kann sich nicht auf transzendente Maßstäbe berufen. Recht ist immer Gegenstand des Politischen, was heißt, dass es nicht jenseits der Macht steht. Politik wirkt auf das Recht und das Recht setzt der Politik Grenzen bzw. erweitert deren selbstgesetzte Gestaltungsaufträge, z. B. dadurch, dass die legislative Umsetzung überpositiver Werte und Verfassungsgebote eingefordert wird. Die psychologische Wirksamkeit des Rechts ist an den Glauben an das Allgemeine gebunden, dem sich alle verpflichtet fühlen, ohne dabei von der Furcht vor der Macht und der Gewalt beherrscht zu sein. Im öffentlichen Raum des Politischen können sowohl das Recht als auch eine bestimmte Politik zum Gegenstand grundsätzlicher Kontroversen werden, deren Ausgang nicht antizipierbar ist. Wo die Unabhängigkeit des Rechts systematisch von einer herrschenden Politikauffassung unterminiert wird, geraten die Grundlagen des Staates ins Wanken. Die gesellschaftliche Arbeit am gerechten Leben hängt daher immer auch von den metaethischen Einstellungen ab, die die Institutionen und die Bürger als prosoziale Akteure dem Recht allgemein entgegenbringen. Ohne starke Kräfte der Gesellschaft, die politische Macht zur Verwirklichung des guten Lebens (II) einsetzen, kann das Recht, nur auf sich gestellt, nur sehr begrenzt zum moralischen Ausgleich unter den Bürgern beitragen. Rechtlich betrachtet haben wir es in diesem Geltungsbereich mit der Gestaltung verlässlicher Normen zu tun, die sowohl die Rechtssicherheit als 220
6.1 Grenzen der Normativität
auch die heterogenen Ansprüche an den Staat im Rahmen der individuellen Lebensgestaltung (Sphäre I) betreffen. Dabei kommt es auf die Ausbalancierung kontroverser bis antagonistischer moralischer Grundsatzfragen und Staatszielvorstellungen an. Der Bezug des Rechts zur politisch-moralischen Geltungssphäre (Bereich II) ist daher sowohl ordnender als auch autoritativer Art. Das Recht in all seinen Instanzen ist daher in Staaten mit Gewaltenteilung das Medium, in dem politisch-moralisch besetzte Werte, Normen und gesellschaftliche Zielsetzungen auf ihre Rechtstauglichkeit hin geprüft werden. Das Recht ist allerdings nicht schon qua Funktion mit der Vernunft selbst zu identifizieren.183 Die derart unterschiedenen Geltungssphären verweisen aufeinander, ohne sich gegenseitig einzuschränken. Der Bereich des guten Lebens (II) steht in enger Beziehung zu den individuell dominanten Lebenszielen, die mit der individuellen Auffassung vom gelungenen Leben (I) zusammenhängen. Dispositionen und Entscheidungen gegen anerkannte Grundsätze des guten Lebens können auf der Ebene der sozialen Beziehungen Sanktionen nach sich ziehen. Gegebenenfalls gefährden diese das Selbstbild, wecken das Bedürfnis nach Rechtfertigung und Begründung oder münden in mehr oder weniger erfolgreiche Selbsttäuschung. Wenn gleichzeitig Rechtsverletzungen im Spiel sind, kann dies dem Selbstentwurf entgegenstehen. Umgekehrt können gesetzliche Rechtstransformationen (III) direkt auf Optionen für das eigene Leben einwirken, Handlungs- und Entscheidungsspielräume (I) verändern (negativ wie positiv) und das Netz der eigenen moralischen Überzeugungen und Lebensgewohnheiten förderlich entwickeln oder beeinträchtigen (II). Konflikte der Selbstverortung werden in ethnisch heterogenen Gesellschaften dann auftreten, wenn das auf religiösen Imperativen aufgebaute Zivilrecht der Herkunftsländer (z. B. von Migrantengruppen) gegen Regelungen des Zivilrechts des Einwanderungslands verstößt oder mit diesen im Auslegungskonflikt steht. Wo der Rechtsstatus der Person ausschließlich im religiösen Gesetz verankert ist, kann es keine Personenrechte im Sinne von Freiheitsrechten geben. Sozial und ethisch stark segregierte gesellschaftliche Gruppen können daher in einem Dauerkonflikt mit dem Rechtsbereich (III) stehen, 183
An Kant orientierte Rechtstheorien stellen sich in diesem Punkt der rein säkularen Verankerung des positiven Rechts nur mit Vorsicht. Rawls’ Argumentation ist in diesem Punkt differenzierter, wenn er den Supreme Court in der amerikanischen Verfassung als die konstitutionell höchste öffentliche Vernunft ansieht, die das gewöhnliche Recht auslegt. Das vom Volkswillen in seinen gewählten Organen repräsentierte höhere Recht wird von der Interpretationspraxis des Supreme Court nicht berührt. Die Vernunft beider Bereiche sollte sich aber in Übereinstimmung und Harmonie befinden. Im Falle von politischen Kontroversen um die Verfassung sieht Rawls die Funktion des Supreme Court darin, „[…] den politischen Werten der Gerechtigkeit und des öffentlichen Vernunftgebrauchs“ Geltung zu verschaffen (vgl. hierzu: Rawls 1998, 333–345; 344). Der höchsten Instanz der Rechtsauslegung wird damit auch ein erzieherischer Auftrag in Hinblick auf die Entwicklung der öffentlichen Vernunft erteilt. Übertragen auf jüngere Entwicklungen zur Klimaschutzpolitik in Deutschland lässt sich dazu erweiternd feststellen, dass die öffentliche Vernunft (qua Kritik an Gesetzen) in Verbindung mit höchstrichterlichen Maßgaben des BVerfG dazu befähigt ist, dem Gesetzgeber substantielle Vorgaben zur legislativen Umsetzung von Verfassungsgeboten zu machen.
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wo diese primär die Gewährleistungen des Rechtsstaats, aber weniger dessen Verpflichtungen annehmen. Die Überlagerung von Identifikationen spielt aber grundsätzlich in allen Bereichen des Öffentlichen und der Moral eine kritische Rolle. In dieser Last der Moderne kann man sicher auch eine Überforderung des Individuums sehen. Aber vielleicht ist die Situation auch mit der omnipräsenten Nutzung digitaler Medien vergleichbar: Die jüngeren Generationen gehen selbstverständlich mit einer neuen Kommunikationsform um und die älteren Generationen fühlen sich sicherer in der Welt des Analogen. Die Art des gegenseitigen Vertrauens der Bürger untereinander, die Kant mit seiner Lehre zum Lügenverbot rechtstheoretisch als unabdingbar für ein republikanisches Staatswesen begründen wollte, ist moraltheoretisch betrachtet zwar nicht gegenstandslos für das gesellschaftliche Leben; als metaethische Norm, z. B. im Sinne des Dekalogs verstanden, kommt das Lügenverbot zwanglos mit dem common sense der Weltkulturen überein. Eine konstitutive Bedeutung für Sozialität käme diesem Verbot jedoch allenfalls in Gemeinschaften mit einer sehr engen sozialen Kontrolle zu. Das Bedürfnis nach expressiver Selbstdarstellung in einer medial sehr diversen Massengesellschaft, das häufig mit einer vorbehaltlosen Selbstehrlichkeit im Konflikt steht, sollte in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden.184 Es bleibt das Rechtsvertrauen in die Institutionen. Das Ausmaß der Zivilrechtsklagen sollte hier nicht nur als Beleg wachsenden Rechtsvertrauens genommen werden, sondern auch als Indiz eines Rechtsbewusstseins, das Gerichte in zivile Arenen verwandelt, in denen Urteile zur Befriedung und Befriedigung konkurrierender Ansprüche von Individuen beizutragen haben. Darüber hinaus spielt das Klagerecht von Verbänden eine immer größere Rolle, mit der Folge, dass Konflikte zwischen öffentlichen und privaten Belangen in Umweltfragen und in der Steuerung der Wirtschaftsentwicklung vor Gericht ausgetragen werden können. Sozialen Bewegungen kommt hier eine besondere Rolle zu, insofern diese sich sowohl auf die (allgemeine) Öffentlichkeit, die Politik und das Recht richten und durch die Verknüpfung von Sachfragen, expressiver Repräsentation und effektiven 184
Die Psychologie der Selbsttäuschung sieht Selbsttäuschung auch als Kompetenz, die Kontrolle über sich selbst aufrechtzuerhalten: „Selbsttäuschung ist etwas, das die Person gegen anders lautende Daten, Evidenzen, Schlüsse, Intentionen in ihrem eigenen System durchsetzen muss: Daraus folgt, dass Selbsttäuschung eine Form von Selbstkontrolle ist und damit energieaufwendig. […] Selbsttäuschung ist damit anstrengend und kognitiv kapazitätsaufwendig […]“ (Sachse 2020, 9). Die psychologischen Kosten der Selbsttäuschung sind allerdings hoch, weil bestimmte Überzeugungen und generell der Glaube an sich selbst kontrafaktisch stabil gehalten werden müssen, auch dann, wenn die widersprechende Realität in das Selbstbild einzubrechen droht. Zusätzlich bedarf es der Manipulation anderer, was den kommunikativen Aufwand erheblich steigert. Das menschliche Potential zur Selbsttäuschung ist anthropologisch universell und für das Problem der Integrität daher auch philosophisch von zentraler Bedeutung, da der Wahrheitsanspruch subjektiv und objektiv auf dem Spiel steht. Von der Selbsttäuschung ist die Lebenslüge zu unterscheiden, die systemisch geworden ist und als Selbstkonzept fungiert. Im Abschnitt 6.3) wird die Bedeutung der Selbsttäuschung unter dem Aspekt der Kontrafaktizität abschließend reflektiert.
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6.1 Grenzen der Normativität
Aktionen das politische Stimmungsbild der Gesellschaft kurz- und langfristig zu beeinflussen suchen. Die generelle moralische Differenzierung der Gesellschaft und ihre Uneinheitlichkeit in konkreten ethischen Fragen, die zur Entscheidung durch die Legislative anstehen (Organspende, Sterbehilfe, assistierte Sterbehilfe, Abtreibung, Impfpflicht, Einwanderung u. v. a.) sorgen dafür, dass der politische Prozess nicht zur Ruhe kommt. Dem Bürger und der Bürgerin wird die Mühe der politischen und ethischen Positionierung nicht abgenommen. Zusätzlich bietet das Recht auf Individualklage die Möglichkeit, für zentrale Belange der Person auf nationaler Ebene vor dem Bundesverfassungsgericht, vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte und in bestimmten Fällen auch vor dem Europäischen Gerichtshof zu kämpfen. Der politische Prozess liegt also auch nicht ausschließlich in Händen der Regierung.185 Die Weichenstellungen nach den Wahlen bleiben ja immer vorläufig, außer wenn das Bundesverfassungsgericht auf dem Wege der abstrakten Normenkontrolle Grundsatzentscheidungen trifft. Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes (1948) war eine solche Entwicklung nicht zu erwarten. Überdies hatten die Bürger und Bürgerinnen andere Sorgen; an eine derart unübersichtliche Gesellschaft, die auf vielfältige Weise mit den Staaten der EU verflochten ist, war wenige Jahre nach der erfolgten und erfolgreichen Gleichschaltung nicht zu denken. Da in einer normal durchmischten Gesellschaft sowohl Beharrungskräfte als auch soziale Bewegungen, die sich auf ungelöste Zukunftsfragen richten, um Aufmerksamkeit konkurrieren, kann eine tragfähige Politik ihren Gestaltungsraum nur in Richtung einer Selbstvertretung der Bürger und Bürgerinnen öffnen. Die jeweiligen Grenzen der Normativität werden nicht durch (neue) Rechtsnormen oder justizielle Gesetzesauslegung erweitert und dem Leben angepasst; es kommt stattdessen darauf an, dass es der Gesellschaft als Ganzes gelingt, die Geltungssphären der individuellen, auf Integrität gerichteten Lebensführung mit der offenen Landschaft moralischer Orientierungen so zu verbinden, dass in Grundsatzfragen und Zweifelsfällen (und vor allem in diesen!) Rechtssicherheit mit Hilfe der die Legitimität erzeugenden Instanzen hergestellt wird. Integrität erweist sich in diesem Zusammenhang als umfassender Begriff, an dem die sozialen, politischen und rechtlichen Akte der Konstituierung der Person zu messen sind. Anders als der allgemein gehaltene Würdebegriff konzipiert der Begriff der Integrität die Person als kulturelle Einheit mit allgemeinen Ansprüchen. Ihre Binnenperspektive als Person richtet sich auf Bewährung in der von Integritätsverweigerungen und -verletzungen, d. h. von Furcht freien sozialen Mitwelt. In diesem Verständnis
185
Die Rechtsentwicklungen zum Partnerschaftsrecht, zum Geschlechtsstatus der Intersexualität und zum selbstbestimmten Lebensende sind Beispiele der erfolgreichen individuellen Positionierung gegen vorherrschende Moralauffassungen und deren rechtliche Verankerung. Für das Individuum ergibt sich ein Machtgewinn innerhalb der Gesellschaft, weil es nicht auf anerkennende Zuwendung (im Sinne der Liebe bei Hegel) angewiesen ist, sondern weil es sich in einem kollektiven Akt der Selbstbehauptung von Betroffenen und ihren Unterstützern einen sicheren Grund der Selbstachtung erkämpft hat, der das subjektive Bestreben des Selbstseins in ein objektives Moment der Gesellschaft verwandelt.
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kann der Integritätsbegriff also nicht als Universal fungieren, sondern er steht in kulturellen Kontexten, die ihre ethische und normative Ausrichtung im transkulturellen Austausch reflektieren. Die Uneinheitlichkeit der Gesellschaft lässt sich nicht durch ein einheitliche Theorie der Gesellschaft kompensieren und schon gar nicht durch einen Rechtsmonismus, der die Begriffe von Recht und Legalität allein in staatlich-institutionellen Akten fundiert sieht.186 Eine ‚oberste‘ Schließung des Rechts gegenüber dem Politischen ist weder aussichtsreich noch wünschenswert; dass diese auch faktisch nicht möglich ist, dafür sorgen schon die Interferenzen differenzierter Rechtsbegriffe mit differenzierten Moralvorstellungen in der Gesellschaft. Noch viel mehr gilt diese Diversität der Geltungssphäre des Moralisch-Rechtlichen für die Gesellschaften und Kulturen untereinander. Die Vielfalt ‚normativer Codes‘ (vgl. Gailhofer 2016, 165) erlaubt keine direkte Anknüpfung an eine Moral, die die ‚Einheit des Ganzen‘ zu präjudizieren versucht. Für allgemein-reziproke Begründungen lässt sich daher keine universale Basis angeben, außer der verfahrensmäßigen politischen Voraussetzung, dass die Freiheit von Furcht für Begründungen jeder Art gesichert sein muss. Dies ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die zentrale Forderung an eine Politik des Rechts. Diese Forderung zielt auf die Sicherung der Person als eines souveränen Subjekts einer Gesetzesgestaltung, die einerseits von der Integrität der Person ausgeht und diese andererseits zum Ziel hat. Die Überprüfung der Persistenz von Gründen im jeweiligen Akteur-Kultur-Umfeld bleibt daher immer eine Herausforderung an die geübte Skepsis kritischer Reflexion. Dabei sollte im Blick behalten werden, dass Begriffe des Sozialen und des Ethischen als gemachte Begriffe zu verstehen sind, die sich für unser Selbstverständnis bewährt haben. Ob sie ihre Klarheit und Tragfähigkeit als Konzepte unseres Selbstverständnisses und als Werkzeuge des Denkens und Handelns auf Dauer behalten, hängt von der Entwicklung unserer Lebenspraxis in ihren vielfältigen Ausformungen ab.
6.2 Konstruktive Entwicklung des Integritätsbegriffs Die methodische Grundhaltung einer kulturell und politisch reflektierten Begriffsbestimmung lässt sich nunmehr praktisch so umsetzen, dass der Mehrdimensionalität des Integritätsbegriffs in Relation zu den bis hierher explizierten Kontexten Rechnung getragen wird. Es kommt also ganz darauf an, welche Zusammenhänge mit dem Begriff der Integrität erfasst werden sollen. 186
Gegenwärtige rechtstheoretische Diskussionen zur „internen ‚Hybridität‘ des Rechts“ (P. Gailhofer 2016, 164) stehen im Zusammenhang einer Suche nach Maßstäben, die zur „normativen Orientierung in Praktiken der ‚Interlegalität‘ “ (ebd.) aus der Perspektive der ‚Teilnehmer‘ (am Recht) beitragen können. Derartige Ansätzen knüpfen einerseits an dem aus der Ethnologie und Soziologie des Rechts hervorgegangenen Rechtspluralismus an und wollen diesen andererseits reflexiv für das rechtliche Verständnis in sich differenzierter heutiger Gesellschaften nutzen. (Vgl. dazu auch Abschnitt 2.2.2).
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6.2 Konstruktive Entwicklung des Integritätsbegriffs
Die Deutungskomponenten (A) und die Deutungsrahmen (B) im Abschnitt 5.4.3 sind dabei für mögliche Feinstrukturierungen mitzudenken. Aus der subjektiven Perspektive gedacht, haben wir es mit einer triadischen Struktur zu tun, in der Integritätsanspruch, Freiheitsbedürfnis und Sozialität sich wechselseitig aufeinander beziehen. Dabei sind die Modi der wechselseitigen Relationen von den spezifischen Kontexten bestimmt. C. Kontexte und Dimensionen der Integrität I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.
Soziogenese und Ontogenese der Person Anthropologische Grundlagen der Personalität Historische und kulturelle Quellen des Personbegriffs Rechtliche Konstituenten: Sicherungen und Beschränkungen des Persönlichkeitsrechts Politische Gestaltung von Persönlichkeitsrechten Akteurstatus der Person gegenüber politischer Macht und Gewalt Moralische Präferenzen und Qualitäten der Person Verschränkungen von individueller Lebensgestaltung, öffentlicher und individueller Moral Reflexivität: Bedingungen der Möglichkeit von Ganzheit im Verhältnis zur transitorischen Identität
Es ist leicht zu ersehen, dass je nach Kontext der Integrität unterschiedliche Wertebenen ins Spiel kommen. Moraltheorien zur Integrität stellen maßgeblich die Kontexte VII, VIII und IX in den Vordergrund. Vorausgesetzt ist dabei eine Art methodischer Individualismus, der mit mehr oder weniger starken Annahmen zu Autonomie, Vernunft, Handlungsfähigkeit u. s. w. arbeitet. Der Sozialität der Person wird vermittels Einbeziehung der Zweit- und Drittperspektive Rechnung getragen. Damit ist jedoch nur ein Tor zur Komplexität des Integritätsbegriffs geöffnet. Der normative Gehalt des Integritätsbegriffs verdankt sich vielfältigen Bezügen, aus denen sich die Person in ihrer reflexiven Selbsteinsicht nicht herauslösen kann. Doch gleichzeitig ist es das Subjekt, das sich selbst deuten muss. Wie radikal es dabei an die eigenen Grenzen geht und ob und wie es diese gegebenenfalls transzendiert, ist in erster Linie keine Frage der psychologischen oder philosophischen Theorie. Die Existenzialisten, wie z. B. J.-P. Sartre, haben das Subjekt gerne als empirisch und transzendent, d. h. als ein ‚Über-sich-Hinaussein‘ gedeutet, und daran ist sicherlich richtig, dass unsere Konstituenten nicht unsere Determinanten sind, solange die Sehnsucht nach der Freiheit des Selbstseins nicht erlischt. Im erkenntnistheoretischen Sinne sind wir nicht ‚Person‘, sondern Subjekt, und als solches stehen wir in einem „Schöpfungsverhältnis“ (Sartre [1936] 1964, 29) zu uns selbst. Diese Einsicht kann nach der Untersuchung der vielfältigen Kontexte der Integrität jedoch nicht, wie noch bei Sartre und in der auf Rousseau zurückgehenden Traditionslinie, auf die subjektzentrierte, individualistische Sicht beschränkt blei225
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ben. Unser schöpferischer Zugang zu uns selbst artikuliert sich nicht nur in unseren und durch unsere Handlungen, sondern auch in unseren Selbstdeutungen. Da Handlungen und Selbstdeutungen sich auf eine Art und Weise miteinander verweben, die uns selbst nicht immer transparent ist, und da wir naturgemäß die Deutungsmacht nicht aus der Hand geben wollen, liegt in dieser auch immer eine gewisse Gefährdung begründet. Diese ist dann zu befürchten, wenn eine Harmonisierung der Selbstdeutung um den Preis des selbstkritischen Denkens angestrebt wird, ohne dass dafür die mit anderen relevanten Personen geteilten Maßstäbe zur Verfügung stehen. In der Einleitung wurde die nicht nur metaphorisch gemeinte These aufgestellt, dass Integrität keine Einbahnstraße sei und dass wir an denen nicht vorbeikommen, die uns entgegenkommen. Natürlich können wir uns häufig aussuchen, mit wem wir reden und handeln, aber das wird nicht immer möglich sein. Herausforderungen und Zumutungen wird allerdings nur diejenige Person annehmen, die nicht im doktrinären Modus mit sich und anderen umgeht. Deutungsmacht muss also von Deutungshoheit unterschieden werden. In Analogie zum Diplomatenrecht in der Staatsrechtslehre könnte man versucht sein, der Person als Rechtssubjekt die Deutungshoheit über sich selbst zuzusprechen. Eine derartige Immunität gegen die Deutungsmacht anderer wird in manchen Staatsverfassungen dem Präsidenten zugebilligt. Dies war z. B. bei dem chilenischen Ex-Diktator Pinochet der Fall, der im eigenen Land für seine Verbrechen erst angeklagt wurde, nachdem nach seiner Verhaftung auf Grund eines internationalen Haftbefehls eine Anklage in einem anderen Land nach internationalem Recht zu erwarten war. Das Recht auf Selbstamnestierung wird z. B. auch dem Präsidenten der USA zugebilligt, und D. Trump schien nach seiner Abwahl entschlossen, dieses Recht in Anspruch zu nehmen. Die moralische (und ggf. rechtliche) Selbstbeurteilung kann nur solange das letzte Wort der Person über sich selbst sein, solange nicht mächtigere Faktoren ins Spiel kommen. Diese können personaler und/oder institutionengebundener Art sein. Unter der Bedingung des abgeschlossenen Systems der DDR war kein informeller Mitarbeiter/keine informelle Mitarbeiterin genötigt, seine/ihre Tätigkeit selbstkritisch zu betrachten. Erst die Offenlegung der Stasi-Akten nötigte zur Arbeit an der Selbstdeutung im moralischen und rechtlichen Sinne. Zur immer geteilten Deutungsmacht zählen also auch die anderen, sofern gegen diese nicht extreme Bedingungen der Exklusion als moralische Subjekte durchgesetzt werden. Auf Rousseau, der sich in der Isolation seines Exils gegenüber seinen Kritikern gegen jeden externen Maßstab der Beurteilung seiner Person verwehrt, wurde im Kap. 2.1) schon verwiesen. Man könnte nun die philosophische Haltung des Sokrates dagegenstellen, der in seiner kritischen Selbstbetrachtung „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ seine intellektuelle Unbeugsamkeit bis in den Tod unter Beweis stellte und dabei dem harten Fels eines unbestechlichen Denkens nicht ausgewichen ist. In dem Spannungsfeld dieser Positionen wird eine moderate Mitte nicht qua Definition zu finden sein. Letztendlich geht es dabei – jenseits der begrifflichen Bestimmung der Integrität – auch hier um eine Grenze der Normativität. Die Frage der Integrität im praktischen 226
6.2 Konstruktive Entwicklung des Integritätsbegriffs
Vollzug lässt sich also nicht abgrenzen von der Frage nach der Persönlichkeit im psychologischen Sinne. Dabei geht es um Persönlichkeitsstile, und diese können – freilich in sehr allgemeiner Form – zu Organisationsmodellen politischer Herrschaft in Beziehung gesetzt werden. Selbstintegration kann auf verschiedene Weisen angestrebt und gewahrt werden, die sich als Integrationsstile verstehen lassen.187 D. Integrationsstile a) Selbstintegration kann, von einem dominanten Wert oder mehreren dominanten Werten oder einer dominanten Norm oder mehreren dominanten Normen ausgehend, eine hierarchische Ordnung des Selbst dauerhaft stabil halten. Auf andere wird die gelebte Haltung der Person doktrinär wirken, aber es wäre – in einer Haltung der Sympathie – auch Respekt für konsistente Prinzipienfestigkeit denkbar. b) Selbstintegration kann horizontal-integrierend gelebt werden, indem Deutungskomponenten des Selbst erweiternd und auf mögliche Zusammenstimmung hin einer offenen Abwägung unterzogen werden. In der Außensicht auf die Person kann die Bewertung, je nach präferiertem Stil der beurteilenden Person, in Richtung Offenheit oder Beliebigkeit und Relativismus gehen. c) Selbstintegration kann exkludierend gelebt werden, indem die eigene Wertordnung pauschal gegen andere Wertordnungen gerichtet wird und die Person demzufolge einen exklusiven Anspruch für ihre Lebensweise und Selbstdeutung erhebt. In der Außensicht auf die Person kann die Bewertung, je nach Präferenz der beurteilenden Person, als identitätsstützend oder als identitätsfixiert und intolerant ausfallen. Die hier aufgenommenen ambivalenten Bewertungen der Integrationsstile drücken keinesfalls eine Ambivalenz des Autors aus, sondern sie sollen verdeutlichen, dass in soziologischer Sicht von der Realität ambivalenter Bewertungen auszugehen ist. Ein Normativismus der Integrationsstile wäre verfehlt und würde zu einem verabsolutierenden Menschenbild führen, für das die Sozialphilosophie keine starken Argumente bereit stellen könnte. Ausgehend von der Realität der Integrationsstile wird man mit Blick auf die Sozialität der Individuen jedoch die Bedeutung
187
I. A. Belyaev bezieht den Begriff der Integrität generell auf Kommunikationsstile, die er nach totalitarian, partitive und harmonic unterscheidet. Der hierarchisch organisierten De-facto-Integration stellt er die dynamische Variante gegenüber: „Wholeness defines the dominant vector of formation of human integrity, its transformation in the transition from the present into the future, setting at the same time some boundaries for its development” (Belyaev 2011, 633–643, 640). Integrationsstile leisten nach Belyaev je spezifische ‚vektorielle‘ Verbindungen zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit. Der Wertebezug muss dabei nicht im Vordergrund stehen.
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eines prozessualen Verständnisses von politischen Problemlösungen (in den Geltungssphären II und III) betonen müssen. Integrität in diesem Sinne bedarf kognitiver Konstituenten, die gesellschaftlich gefördert und gestützt werden müssen. Ich rechne diese Konstituenten zur notwendigen Ausstattung politischer Urteilsfähigkeit. Mit dieser sind Menschen nicht von Natur ausgestattet; sie müssen sie erwerben. Die Varianten der Integrationsstile wird man nicht als völlig frei kombinierbar mit den Deutungskomponenten (A) und Deutungsrahmen (B) ansehen können. Aus der internen Sicht der Person werden sich, je nach gelebtem Stil der Selbstintegration (D), biografischer Prägung und der eigenen Ausrichtung auf individuelle Lebensziele (purposes), subjektiv naheliegende Kombinationen ergeben, die sich als ‚Verwandtschaften‘ paaren lassen. Im politisch-psychologischen Kontext meiner Überlegungen zur Sozialität kann es also keine normativ zu verstehenden Bedingungen inhaltlicher Art geben, wie ein integres Leben auszusehen hat. Normativität kommt hier an absolute Grenzen. Indes kann es durchaus produktive Gesichtspunkte geben, die von der Sozialität einer in sich diversen Gesellschaft her gedacht, Integrität und Sozialität in einen Zusammenhang reflektierter Lebenskonzepte bringen. Dabei wird von den horizontal und vertikal gemischten Verhältnissen der Machtverteilung in der Gesellschaft auszugehen sein. Das Streben nach Integrität kann von der Sehnsucht nach Freiheit in den Formen ihrer Verwirklichung in effektiven Handlungen nicht getrennt werden. Die darin eingeschlossene Verantwortung für sich selbst und andere muss sich auf kognitive Potentiale gründen, die sich ihrerseits auf entwicklungsfähige Ressourcen in emotionaler und affektiver Hinsicht stützen können.188 Auf der anderen Seite kann die Überbetonung von Integrität als Selbstgerechtigkeit und Demonstration von Überlegenheit kritisch wahrgenommen werden. In einer neueren empirischen Studie aus Südafrika kommen die Sozialwissenschaftler J. Prinsloo und J. J. de Klerk zu dem Ergebnis, dass die moralische Charakterqualität von Führungspersonal in Unternehmen bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung in Gruppen nicht ausschließlich am Integritätsmaßstab beurteilt wird (vgl. Prinsloo/de Klerk 2020, 1–22). Während demonstrierte Integrität eher als überheblich bewertet wird, kann Vulnerabilität leicht als Entscheidungsschwäche gedeutet werden. Ethisch akzeptierte Führungsqualität basiert dagegen auf Integrität, die durch Vulnerabilität ergänzt wird.189 Integrität, die sich mit Unnahbarkeit und Unangreifbarkeit umgibt, dem rousseauschen Stolz aus distanzloser Selbstliebe nicht unähnlich, untergräbt die Bedingungen lebendiger Sozialität. Verletzlichkeit dagegen macht menschlich, sofern sie nicht mit sozialem Ausgeliefertsein verbunden ist. 188 189
Siehe dazu bes. Abschnitt 4.2.3 zu Vulnerabilität und Resilienz. „The findings that integrity and vulnerability have a positive impact not only on moral character, but also on the attractiveness of a leader’s profile significantly contribute to the field of ethical leadership. The findings demonstrate that individuals actually want such leaders and prefer them above those who lack integrity and vulnerability” (J. Prinsloo/J. J. de Klerk 2020, 17).
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Wer moderne und spätmoderne Gesellschaften als per se das Individuum überfordernde Risikogesellschaften versteht, übersieht, dass es die Ambivalenzen sind, die zu experimentellen Erweiterungen des Selbst in seinen vielfältigen Bezügen zu konkreten und abstrakten Herausforderungen der Gesellschaft führen. Der Umgang mit Integritätsverweigerungen und -verletzungen, mit den gesellschaftlichen Angeboten der Substituierung von Integrität oder deren taktischem Einsatz, mit den Zumutungen der Macht und der Gegensätzlichkeit moralischer Orientierungen innerhalb der Gesellschaft bedarf der freien Beweglichkeit des Denkens zwischen Widerspruch und abwägender Zustimmung. In Anknüpfung an Eriksons Entwicklungspsychologie wurde betont, dass reife Personalität, die also nicht nur formell-rechtlich zugestanden wird, einer Einbettung in die höchsten Stufen kognitiver Funktionen bedarf, ohne die das Einzelwesen mit seiner Gemeinschaft nicht in einen fruchtbaren Austausch eintreten kann. (Siehe hierzu: Abschnitt 2.2.3). Wo Erziehung, Kultur und Staatsverfassung keine Konstituenten der Integrität vorsehen und Integrität daher auf den moralischen ‚Innenbezirk‘ der Person beschränkt bleiben muss, sind die oben unterschiedenen Geltungssphären gegeneinander isoliert. Im umgekehrten Fall würden die individuellen Potentiale der Integrität gefördert, von denen einige hier zusammengestellt seien. Gegenüber dem Anspruch der Vernunft können die kognitiven Potentiale nur einen intermediären Status beanspruchen.190 Darin liegt auch ihr Vorteil begründet: Sie sind nicht appellativ, sondern interventionsorientiert konzipiert. Ihr Potential liegt in ihrem Anspruch auf Transformation und Gestaltung der Sozialität in gemeinschaftlichen Lernprozessen. Integrität in diesem Verständnis bedarf der Fundierung der politischen Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit. E. Kognitive Potentiale personaler Integrität im Projektionsfeld Macht 1) 2) 3) 4) 5)
Erhalt und Erweiterung der eigenen Entscheidungsfähigkeit Machtbewusste und machtkritische Reflexion von Entscheidungen Bewusstsein der eigenen Vulnerabilität Orientierung am Gebot der Nichtverletzung Einsicht in Grenzen des Wissens, subjektiv und objektiv
190
Man kann hier in Anknüpfung an die historisch-konstruktive Konzeption der Moralentwicklung bei G. Dux (2009) von einem prozessualen Aufbrechen der monolithisch verstandenen archaischen Gewalt-Macht des Herrscherkönigs durch den zunehmend egalitären Anspruch auf Gestaltungshoheit über die Gesellschaft im Namen der Vernunft reden. Dux setzt den Beginn des Reflexivwerdens von Gerechtigkeitsvorstellungen in der Philosophie der griechischen Antike an. Die zweistellige archaische und theologisch-metaphysische Grund-Folge-Relation der Gerechtigkeit erlaubt nach Dux keinen Widerspruch „[…] gegen die Gewaltverfassung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern lediglich gegen einzelne Akte der Herrschaftsverfassung“ (Dux 2009, 122).
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6) Identifikation und Distanzierung als Verfahren der Selbstprüfung 7) Fähigkeit, Konflikte in Kontroversen zu transformieren 8) Verantwortungsbereitschaft 9) Souveräne Verfügung über persönliche Vorbehaltsbereiche 10) Selbstachtung als Voraussetzung der Beantwortung externer Integritätsanforderungen 11) Beharrlichkeit in Wahrheitsansprüchen sich selbst und anderen gegenüber. Die hier gelisteten Potentiale sind so zu verstehen, dass sie ein intermediäres, verbundenes Konzept aus individuellem Integritätsanspruch, allgemeinen Sozialitätsbedingungen und reziprokem Anspruch auf Verständigung und Kooperation bilden. Die kognitiven Potentiale erstrecken sich auf die immer hypothetische und daher gestaltungsoffene Beziehung zwischen Selbstverpflichtung und Sozialität. Für Verständigung wird ein ermäßigter Vernunftbegriff vorausgesetzt, der als Herausforderung an die Urteilsfähigkeit konzipiert ist. Das Grundverständnis des Konzepts ist dabei angelehnt an die in vorherigen Kapiteln dargestellten Erkenntnisse der evolutionären Anthropologie und Moraltheorie (Tomasello), die auf Reifung der Person gerichtete Entwicklungspsychologie (Erikson), die anthropologischen und rechtstheoretischen Konzepte des Personbegriffs sowie unterschiedliche politische Konzepte zum Verhältnis von Machterfahrung und Freiheitsbedürfnis. Im Fokus der Frage nach der Integrität kommt allen diesen Ansätzen eine spezifische Bedeutung zu. Als intermediäres Konzept verstanden, bietet sich die Möglichkeit, die kognitiven Potentiale in spezifischen Kontexten zu operationalisieren und z. B. in Bildung und Erziehung problembezogen zu fördern. Die Transformation von Sozialphilosophie in gesellschaftliche Praxis kann dort Entwicklungen anstoßen, wo Sozialphilosophie als ein Medium gesellschaftlicher Selbstreflexion und Praxisanleitung verstanden wird.191 Dafür gibt es ermutigende Beispiele. Ein aktuelles Projekt, das von der Pädagogikprofessorin Bettina Blanck im Rahmen eines von ihr als Erwägungsdidaktik bezeichneten Konzepts initiiert wurde, sei hier vorgestellt.192 Blanck knüpft an R. Forsts Toleranzkonzeption (Forst 2011) an, die auf die erwägende Prüfung der eigenen Überzeugungen zielt und gleichzeitig (im Verständnis eines Verfahrens) die Haltung der Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen einfordert. Die Übung von Perspektivenübernahme steht dabei pädagogisch und didaktisch im Mittelpunkt des Lernarrangements, das Blanck mit Grundschulkindern erprobt. Sie stellt ihren Ansatz in den Zusammenhang von Demokratieerziehung, die schon im Grundschulalter einsetzen muss, um nachhaltig wirken zu können. Die eingesetzten Szenenarrangements 191
192
A. Schlittmaier hat in seinem Lehrbuch Philosophie in der Sozialen Arbeit (2018) einen umfassenden Ansatz zur Verbindung philosophischer und sozialphilosophischer Ansätze mit Fragen und Problemen der Sozialen Arbeit vorgelegt. Eine Diskussion dieser Transformationsversuche kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Dies muss in einem erweiterten Kontext der Begründung von Praxiskonzepten erfolgen. Siehe: Blanck 2019, in: Politische Psychologie, 7. Jg. 2019/2, 228–244.
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6.2 Konstruktive Entwicklung des Integritätsbegriffs
fordern auf unterschiedliche Weise zur kreativen Weiterentwicklung vorgegebener Aufgaben und Situationen auf. Dadurch wird erfahrbar, dass es keine konsensuell einheitlichen ‚richtigen‘ Lösungen gibt, was zu Kontroversen führen muss. In einem Fall, der Entscheidung über einen anzuschauenden Film, wird auch eine Abstimmung über das Abstimmungsverfahren durchgeführt, sodass sich zeigt, dass die Ergebnisse von Abstimmungen von der gewählten Verfahrensweise abhängen. Weitere Lernszenarien zielen auf die Erweiterung des Möglichkeitssinns bei Schätzungen und auf die Arbeit mit wissenschaftlicher Hypothesenbildung. Die Grundidee dieses Ansatzes kann so zusammengefasst werden, dass die Lernszenarien zweistufig angelegt sind, indem zwischen Erwägungsebene (Deliberation) und Entscheidungsebene (Dezision) unterschieden wird. Auf der offen gestalteten Erwägungsebene gibt es keine normativen Verbindlichkeiten oder optimalen Lösungen. Subjektive bzw. rein identitätsbasierte Meinungen werden nicht ausgeschlossen oder vorab auf Angemessenheit und Eignung hin bewertet. Das dahinter stehende allgemeine Bildungsziel aufgeklärter Toleranz verlangt also die Einnahme einer Haltung der maximalen Offenheit gegenüber den Perspektiven aller Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht demnach darin, von dem Extremfall der immer möglichen Nicht-Vereinbarkeit von Überzeugungen auszugehen, denn dann kommt es im Fortgang des Bildungsprozesses darauf an, die Qualität der Argumente zu prüfen, die zur Lösung eines Problems beitragen können. Die Grenzen dieser Verfahrensweise sind allerdings dort erreicht, „[…] wo Menschen Positionen/Lösungen vertreten, deren Begründungsniveau sie nicht bereit sind, auf den Prüfstand zu stellen und ggf. ihre Lösungen und Positionen entsprechend zu korrigieren“ (Blanck 2019, 240). Die Autorin versteht ihren Ansatz daher auch als einen Weg der Prävention gegen dogmatische Überzeugungen. Ihr geht es um Bildung im Sinne kritisch-reflexiver Verbesserung von Begründungen, wobei alle vorgebrachten Begründungen der gemeinsamen Abwägung zugrunde gelegt werden. Weniger geeignete Argumente werden nicht verworfen, sondern als Annäherungsschritte an bessere Begründungen verstanden. Blanck gesteht jedoch zu, dass aufgeklärte Toleranz dort an Grenzen stößt, wo kulturelle Identifikationen mit Praktiken verbunden sind, die für sie selbst inakzeptabel sind. Sie nennt in diesem Zusammenhang das Beispiel der Genitalverstümmelung (ebd., 242). Aber auch in solchen Fällen sieht Blanck den Weg weiterer gemeinsamer Erwägung nicht vollständig blockiert. Das metaethische Ziel bleibt die Fortsetzung des Gesprächs mit der Erwartung eines besseren wechselseitigen Verständnisses der Personen, unabhängig von Differenzen in der Sache. Darin könnte allerdings ein Problem liegen, wenn die Kontroverse sich nicht nur im pädagogischen Bereich des Probehandelns abspielt, sondern wenn es um notwendige und nicht aufschiebbare Entscheidungen geht.193 193
Auf die rechtliche Dimension dieses Beispiels wäre gesondert einzugehen, denn es handelt sich ja nicht um einen Fall, bei dem es nur um gute Begründungen subjektiver oder kultureller Einstellungen geht,
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6 Sphären der Integrität: Das gelungene, das gute, das gerechte Leben
6.3 Selbstachtung und Selbstübereinstimmung: Widersprüche und Kontrafaktizität „So ist die Integrität Hüterin der Tugenden im Reich der praktischen Vernunft. In glücklichen Zeiten verträgt sie sich mit der Freiheit, in unglücklichen Zeiten liegt sie im Streit mit ihr“ (Verf. unbekannt).
Wenn es wahr ist, dass unsere „[…] psychische Organisation […] Widersprüche und Inkonsistenzen verabscheut“ (Tomasello 2020, 463/464) und dass wir viel Mühe darauf verwenden, Dissonanzen im Netzwerk unserer Überzeugungen zu reduzieren, wie F. Heiders (1977) und L. Festingers (1978) Forschungen zur Einstellungsänderung gut belegen, dann liegt die Annahme nahe, dass wir einer grundlegenden Übereinstimmung mit uns selbst bedürfen, um handlungsfähig zu bleiben. Unsere Handlungsfähigkeit richtet sich jedoch nur in wenigen Ausnahmefällen ausschließlich auf uns selbst. Die einsame Weltumseglung ohne Kontakt zur Außenwelt via Funk und Medienbegleitung ist selten geworden, und bei einer Mount-Everest-Besteigung müssen wir uns inzwischen in eine ziemlich lange Reihe einordnen. Selbstübereinstimmung und Selbstachtung sind offenbar durch untergründige psychische Kanäle fest miteinander verbunden. Kognitive Dissonanzen lassen sich eine Zeit lang vermeiden, indem entweder verunsichernde Informationen abgewehrt oder aber in ihrer Gewichtung so abgeschwächt werden, dass sie das Gesamtsystem aus Glauben, Wissen und Überzeugungen nicht aus der Balance bringen. Die menschlichen Reifungsprozesse im Zusammenhang mit der Pubertät und dem Erwachsenwerden stellen dagegen einen ontogenetischen Umbau dar, der unvermeidlich ist, insofern dieser auf einer komplexen neuronalen Neuorganisation des Gehirns beruht. In den späteren Phasen des Lebens ist ein vergleichbarer Umbau nicht zu erwarten. Alles, was die Person, ihre Einstellungen, ihr Weltbild und Selbstbild erweitern könnte, beruht fortan auf Erfahrung und Lernen. Selbstübereinstimmung/Selbstkongruenz kann daher auf einem bestimmten Niveau stabilisiert werden und das Gefühl von Sicherheit vermitteln, sie kann aber auch in Auseinandersetzung mit Herausforderungen und der Akzeptanz von Dissonanz und Unsicherheitserfahrungen als ein dynamisches System verstanden werden. Deutungen können an Grenzen der Vermittelbarkeit stoßen; Konsistenz der Urteile ist nicht zu erwarten. Toleranz gegenüber entgegenstehenden Bewertungen besteht dann nur noch darin, sondern um die Durchsetzung des Rechts auf körperliche Unversehrheit, sofern man diesen Fall im Rechtsbereich des Grundgesetzes diskutiert. Für die Lehrerin bzw. Wissenschaftlerin ergibt sich damit eine Handlungsverpflichtung, die jenseits völlig freier Abwägung liegt. In jedem Falle bedarf es jedoch der Einbeziehung der Tochter und ihrer Aufklärung über das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und alle damit zusammenhängenden Fragen.
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6.3 Selbstachtung und Selbstübereinstimmung: Widersprüche und Kontrafaktizität
gegen andere Überzeugungen keine Mittel einzulegen, welcher Art auch immer, und gleichzeitig an den eigenen Überzeugungen festzuhalten. Eine pragmatische Maxime könnte dann etwa so lauten: Meine Werte und Überzeugungen sollten zu mir passen und andere nicht einschränken, sofern diese selbst mich und andere in ihren Werten und Überzeugungen nicht einschränken. Jede Form der Selbstbejahung bezieht sich auf Sozialität, ohne in dieser aufzugehen; sie kann sich von einer spezifisch konfigurierten Sozialität distanzieren, wozu es der Entwicklung vielleicht noch unerprobter Potentiale bedarf (vgl. die Übersicht: E. Kognitive Potentiale). Das Selbst verliert seine innere Plastizität, die sich mit seinem spezifischen Freiheitsbedürfnis verbindet, nicht an eine Gemeinschaft, die Gesellschaft und schon gar nicht an eine Staatsorganisation. Das Gefühl der Integrität ist propriozeptiv nach innen gerichtet, speist sich jedoch aus Quellen, deren Gewichte für die reifende Person, und für die erwachsene Person allemal, zunehmend bewusst justiert werden müssen. Machtbewusstsein und Machtkritik, Identifikation und Distanzierung sind kein Beiwerk der Integrität, sondern konstitutive Bedingungen der Urteilsfähigkeit; sie können dazu beitragen, den Substitutionsangeboten für Integrität kritisch zu begegnen. Selbstübereinstimmung setzt ein verlässliches Selbstwissen in Selbstdistanz voraus, das uns nicht uneingeschränkt zur Verfügung steht. Unser Handeln im Modus des Selbstwissens ist daher seiner Struktur nach mehr oder weniger kontrafaktisch, d. h. wir suggerieren uns das Vorliegen akzeptabler subjektiver Voraussetzungen für bestimmte Handlungen und Entscheidungen bzw. wir gehen von erwartbaren positiven Effekten unseres Handelns aus. Fragwürdige Selbsteinschätzungen können zu Handlungen führen, die uns überfordern und dennoch gut ausgehen. Dann haben wir wohl Glück gehabt. Dennoch wollen wir das Ergebnis dann gerne den eigenen Fähigkeiten zurechnen. Dem machttheoretisch versierten Machiavelli war klar, dass in der Politik und in der Kriegsführung außerordentliche Fähigkeiten zum Einsatz kommen müssen, dass aber der Erfolg des Handelns zur Hälfte von Fortuna, der Göttin des Glücks, abhängt. Die Diskrepanz von Denken und Sein, Wollen und Handeln, gehört auch im Bereich der Moral zur quasi gesetzmäßigen Grundausstattung des Menschen. Selbst diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – Unantastbarkeit für sich reklamieren, kommen irgendwann um diese Erfahrung nicht herum. Sofern wir uns nicht nur als Zuschauer des Lebens verstehen, werden wir in der Übung von Mitleid und Furcht (im Sinne Lessings) Verletzlichkeit erleben und an uns selbst erfahren. Die bildende Kunst, Dramen und Romane stellen dafür Übungsfelder des Gefühls bereit. Wo sich allerdings die Furcht in den aristotelischen Schrecken der Katastrophe (katastrophé) verwandelt, die nicht nur mehr ein Einzelschicksal ist, zeichnen sich die Grenzen einer nur auf sich selbst gestellten Lebensdeutung ab. Gleichzeitig und gegenläufig stellt sich die Tendenz zur ausgreifenden Selbstreflexion in der Moderne als erhöhter Druck zur Arbeit an der Selbstachtung dar. Was psychologisch erst einmal unverdächtig ist und in Seminaren zur Stärkung der Persönlichkeit angeboten wird, wird dann zum Problem, wenn Selbstachtung im Sinne von machtorientierter Durchsetzung oder Selbstoptimierung praktiziert werden soll. Mit 233
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Recht wird allenthalben in Soziologie und Psychologie kritisch konstatiert, dass sich auf dem Nährboden eines entgrenzten liberalistischen Marktverständnisses eine neue Form des Selbstzwangs entwickelt, die sich in subjektiver Perspektive als Freiheit zur exzessiven Selbstentäußerung darstellt. F.-J. Wetz verweist in seiner essayistischen Schrift Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung (Wetz 2014) auf die Gefahr „[…] ethisch anstößiger Voraussetzungen“ (ebd., 144) der Selbstachtung hin, der wir nur durch die Einnahme der Perspektive eines unparteiischen Beobachters begegnen können. Mit dem unparteiischen Beobachter ist es aber nicht anders bestellt als mit dem inneren Gerichtshof des Gewissens (Kant), den wir ja erst einberufen und kultivieren müssen. Welche Kompetenzen räumen wir dem unparteiischen Beobachter ein? Es geht dabei ja um die kognitiven Potentiale der eigenen Sozialität, die die Person in Anschlag bringen muss, damit der ‚unparteiische Beobachter‘ die relevanten ethischen Hinsichten einnehmen und die sich daraus ergebenden Fragen an die Person richten kann. Immerhin sind wir es ja doch selbst, die in vielen Fällen die Rolle des unparteiischen Beobachters einnehmen müssen, und das ist und bleibt eine paradoxe Operation des Geistes, die der Übung bedarf. Wir sind ihrer schon als Kleinkinder fähig, was aber nicht bedeutet, dass wir diese Fähigkeit in besonders kritischen Situationen auch nutzen. Wie schwer uns die Akzeptanz unparteiischer Urteile selbst beim Fußballspiel fällt, wenn der ‚Unparteiische‘ uns eines Fouls bezichtigt, ist bekannt. Wenn wir selbst noch diese Rolle übernehmen sollen, bedürfen wir des Potentials der Selbstdistanz, wenn wir nicht in die eigene Falle der Selbstgerechtigkeit tappen wollen. Der Gefahr, dass der ‚unparteiische Beobachter‘ sich zu einem reinen Topos der Moralphilosophie entwickelt, kann nur durch konstruktive Maßnahmen begegnet werden. Im umgekehrten Fall kann ein Mangel an Selbstachtung in fundamentaler Weise mit Fragen des Lebenssinns und dessen Gefährdung verbunden sein. Die Bedeutung von Vulnerabilität, Integritätsverweigerungen und Integritätsverletzungen ist in diesem Zusammenhang im Kap. 4) erörtert worden. Sowohl für die Seite der Schuld als auch für die Seite der Verletzung wurde – allerdings in grundlegend unterschiedlicher Blickrichtung – das Problem der Zerrissenheit in den Blick genommen. In manchen Fällen kann zudem das Band zwischen der Person und der Gesellschaft gänzlich zerreißen. Für die existentialistische Psychologie sind Grenzsituationen dieser Art auch immer Grenzen der Therapiemöglichkeit. Heilung im eigentlichen Sinne des Begriffs kann es nicht geben; es kann nur darum gehen, dass die Person einen Weg findet, die Autorenschaft für ihr Leben zurückzugewinnen. In diesem Verständnis wird die moralische Integrität der Person, bezogen auf den Fall großer Schuld, nicht wiederhergestellt, aber ein nicht selbstdestruktives Weiterleben wird eventuell möglich sein. Das Faktum nicht tilgbarer Schuld muss kontrafaktisch bewältigt werden, indem es sozusagen in vollem Bewusstsein eingeklammert wird, damit es nicht ausschließliche Dominanz über die Person erhält. In existentialistischer Sicht kann das Leben dann nur im Bewusstsein des Tragischen gelebt 234
6.3 Selbstachtung und Selbstübereinstimmung: Widersprüche und Kontrafaktizität
werden. Dies wird dann der Fall sein, wenn ein Schönrechnen, Abmindern und Verdrängen aussichtslos ist. Der Selbstamnestierung im moralischen Sinne sind vermutlich unüberwindbare Grenzen gesetzt; selbst Macht scheint kein geeignetes Mittel, moralisches Scheitern zu kompensieren. *****
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Es ist der Gewinn der Moderne, dass Personalität mit dem Freiheitsbedürfnis auf unauflösbare Weise verbunden ist. Der Konflikt zwischen Selbstachtung und virulenten Integritätsverweigerungen und -verletzungen verlangt danach, das Verhältnis von Macht, Gewalt und Recht je nach politischem Kontext und Konflikt neu zu justieren. Die Integrität der Person bildet dabei die Grundlage einer Sozialität, die sich der Tendenz zum Autoritarismus und zur Delegitimation einer von selbstbewussten Bürgern und Bürgerinnen getragenen Demokratie entgegenstellt. Dr. Frank Witzleben arbeitet zur Kultur-/Bildungstheorie und politischen Philosophie. Seine Erfahrungen in der univ. Lehrerausbildung Philosophie, in der Entwicklung und Implementierung des Faches Ethik, als Bundesvors. des FVB Philosophie und als Koordinator für Erwachsenenbildung in Papua-Neuguinea verbinden sich mit seinem handlungstheoretischen Denkansatz.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40561-9