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German Pages 535 [526] Year 2006
gerhard s. barolin
integrierte psychotherapie anwendung in der gesamtmedizin und benachbarten sozialberufen
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Eine Schrift der Akademie für psychotherapeutische Medizin und der Arbeitsgemeinschaft für integrierte Psychotherapie, Veranstalter der jährlichen Psychotherapiewochen in Bad Hofgastein
Mit freundlicher Unterstützung des Österreichischen Bildungsministeriums und der Kulturabteilung der Stadt Wien
p. A. MR Dr. Siegfried Odehnal Schelleingasse 8, 1040 Wien, Österreich Telefon +43 (0)1-505 44 54, Fax +14 [email protected]
Mit besten Empfehlungen
Gerhard S. Barolin
Integrierte Psychotherapie Anwendung in der Gesamtmedizin und verwandten Sozialberufen
Mit Beiträgen von Günther Bartl, Wilfried Biebl, Alfred Drees, Inge Frech, Adelheid Gasser-Briem, Albert Lingg, Gebhard Riedmann, Sigrun Rossmanith, Eduard Waidhofer, Hans Georg Zapotoczky und mit kunst-psychologischen Illustrationen von Hans Biedermann
SpringerWienNewYork
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ISBN-10 3-211-25775-6 SpringerWienNewYork ISBN-13 978-3-211-25775-3 SpringerWienNewYork
Einer liebenswerten jungen Generation, von der man hoffen darf, dass sie, trotz aller Düsternis, eine gute Zukunft baut.
Anonyme alte Volksmalerei. Der Text unter dem Bild lautet: „Zieeh sich ein yeds bey der Nasn, Was dich nit Prendt Thue auch nicht Blasn.“ Das gilt wohl für ungefragte lästige Einmischung in fremde Angelegenheiten. Für uns Psychotherapeuten ist nur der erste Teil gültig: Wir können uns nicht oft genug selbstkritisch an der eigenen Nase nehmen und im Spiegel (der Meinung des Anderen und der Supervision) betrachten. Deshalb ist dieses Bild hier. Aber wir sind aufgerufen, die Gefühle des Anderen wahrzunehmen, auch wenn sie uns nicht „brennen“ und unsere Hilfe anzubieten.
Inhaltsverzeichnis Vorwort des Rektor em. der human-wissenschaftlichen Universität des Fürstentums Liechtenstein, em. Vorstand des Psychol. Inst. und em. Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Wien
1
Vorwort des Präsidenten der österreichischen Ärztekammer
5
Vorwort des Autors
7
I. Integrierte Psychotherapie, Gerhard S. Barolin A. „Integrierte Psychotherapie“ – Grundsätzliches dazu A1. „...integrativ“, „...integriert“
17 17 17
• Somato-psycho-sozial (23) • Neurobiologie (23)
A2. Erfahrungsgut und Vorsatz
25
A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
28
• Gesetze (30) • Ausbildungswege (31) • Psychosomatik (32) • Neurose (40) • Gesundheit (54) • Psychotrauma (42) • Folter (46) • Zusammenfassung „Integrierte Psychotherapie“ (55)
A4. Wege und Ziele unterschiedlicher psychotherapeutischer Systeme
55
• Synopsis: Psychotherapie – Konzepte (58) • Psychoanalyse (66) • Analytische Richtungen (70) • Persönlichkeit (76)
A5. Freud, Schulz und Frankl
79
• Psychotherapeuten-Persönlichkeit (82)
A6. Psychotherapie: basal versus berufsspezifisch B. Das Gespräch in der Psychotherapie
83 85
B1. Das Gespräch und die Kommunikation im Gesundheitsberuf allgemein
85
B2. Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
93
VIII
Inhaltsverzeichnis
B3. Integrierte Psychotherapie bei Depression
109
• Begleitdepression (111) • Burn-out-Syndrom (118) • Zusammenfassung Depressions-Psychotherapie (120)
B4. Das Gespräch in der medizinischen Arbeitsgruppe
121
• Zusammenfassung zum Gespräch (130) • Tests und Statistik (130)
C. Hypnoid und Suggestion C1. Das Hypnoid
134 134
• Neurophysiologie des Hypnoids (134)
C2. Suggestion
138
C3. Die Hypnose
141
• Zusammenfassung zur Hypnose (151)
C4. Das Autogene Training als hypnoides Verfahren
152
C5. Das Autogene Training bei Kindern
160
• Zusammenfassung zum AT (162)
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenem Training (AT)
163
D1. Methodenkombination allgemein
163
D2. „Unser Modell“ im Einzelnen
164
• Methodik und Ergebnisse (165)
D3. Von der Gruppendynamik zur Gruppentherapie
169
• Gruppenkurztherapie? (173) • Zusammenfassung: Gruppe (176)
D4. Gruppenzusammenstellung und -Ablauf
176
• Didaktische und Selbsterfahrungsgruppen (190) • Zusammenfassung: „unser Modell“ (192)
E. Das Hypnoid in weiterer methodischer Anwendung
193
E1. Respiratorisches Feedback (RFB nach Leuner)
193
• Zusammenfassung RFB (197)
E2. Differenzierte Anwendung einzelner Komponenten des Hypnoids
199
E3. Psychohygiene im Allgemeinen und speziell im Sport
203
• Geburt (203) • Spitzensport / gemeinsam mit Riedmann (205) • Versehrtensport (216) • Kindersport (217) • Zusammenfassung zur Psychohygiene im Sport (220)
Inhaltsverzeichnis
F. Gerontopsychotherapie und Rehabilitations-Psychotherapie als Gebiete für die Integrierte Psychotherapie F1. Das Seniorentum mit seinen speziellen Problemen
IX
221 221
• Beziehung zur jüng. Generat. (231) • Pädagogik (235) • die böse Schwiegermutter (242) • Brückenbau zwischen Jung und Alt (243)
F2. Psychotherapie in Rehabilitation, Alter und Altersrehabilitation
251
• Altersdepression (256) • Zusammenfassung: (Alters-)Rehabilitations-Psychotherapie (265)
F3. Sexualität und ihre spezielle Entwicklung im höheren Lebensalter
267
• Allgemein (268) • Unser Kulturkreis (280) • Liebe (286) • Inzest (281) • Alterssexualität (289) • Behinderten-Sexualität (293) • In der Gynäkologie von Inge Frech (294) • Zusammenfassung zur (Alters-)Sexualität (298)
F4. Palliative Psychotherapie
299
• Lebensqualität (304) • Organentnahme (310) • Zusammenfassung: Gerontopsychotherapie (316)
F5. Katathyme Imaginationspsychotherapie (KIP)
318
• Zusammenfassung: KIP (323)
F6. Der psychotherapeutische Zugang über den Körper
324
• Musiktherapie (325) • Hippotherapie (326) • Tiere in der Psychotherapie (330) • Tanztherapie (331) • Kreativtherapie (333) • Konzentrative Bewegungstherapie (334) • Jakobson´sche Relaxation (334) • Yoga (334)
G. Psychotherapie und Schmerz
335
G1. Der Schmerz
335
G2. Integrierte Psychotherapie beim Kopfschmerz
340
• Kinder-Kopfschmerz (353) • sonstige Maßnahmen (355) • Zusammenfassung: Kopfschmerz-Psychotherapie (357)
G3. Integrierte Psychotherapie in Schmerzsyndromen außerhalb der Kopfschmerzen H. Methodenübergreifende Grundprinzipien H1. Schädigung des Patienten durch Psychotherapie
359 361 361
• Sekten (367) • Zusammenfassung: Psychotherapie-Gefahren (367)
H2. Welche Therapie für welchen Patienten?
368
I. Konklusion zum ganzen vorliegenden Barolin-Artikel
370
J. Quellenverzeichnis
375
X
Inhaltsverzeichnis
II. Psychiatrisch-psychotherapeutischer Konsiliardienst einschließlich Krisenintervention im Krankenhaus, Sigrun Rossmanith A. 18 Jahre Erfahrung im Unfallkrankenhaus
393 394
A1. Einleitung
394
A2. Besprechung anhand von Krankheitsbildern
396
A3. Therapeutische Wirkmechanismen
402
A4. Schwierigkeiten im psychotherapeutischen Konsiliardienst
403
A5. Schlussfolgerungen für den psychiatrisch-psychotherapeutischen Einsatz bei unfallchirurgischen Patienten
403
B. Weitere Gesichtspunkte (von Barolin) zur Psychotherapie im nicht-psychotherapeutischen Krankenhaus
404
B1. Einleitung
404
B2. Differenzierte Interventionen je nach diagnostischen Untergruppen
406
C. Weitere Gesichtspunkte von Adelheid Gasser-Briem
408
D. Zusammenfassung zum psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliarund Liäsondienst einschließlich Krisenintervention im Krankenhaus
409
E. Literatur
410
III. Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen Landpraxis, Günther Bartl
411
A. Einleitung
412
B. Der psychosomatische Zugang
414
C. Angewandte Methoden
416
C1. Gruppen als Auffangräume
416
C2. Hypnose
417
C3. Autogenes Training (AT)
417
C4. Kombinierte sich ergänzende und potenzierende Psychotherapiemethoden
420
Inhaltsverzeichnis
XI
D. Zusammenfassung
424
E. Literatur
424
IV. Die tiefenpsychologischen Psychotherapien, Wilfried Biebl
427
A. Entwicklung
428
B. Grundlagen für allgemeines psychotherapeutisches Verhalten
430
C. Tiefenpsychologische Psychotherapie
431
C1. Indikationsgebiete für die tiefenpsychologische Psychotherapie
431
C2. Das tiefenpsychologische Theorem
432
C3. Arbeitsfeld der tiefenpsychologischen (dynamischen) Psychotherapie
434
C4. Therapieziele tiefenpsychologischer Psychotherapie
435
D. Weitere Ergebnisse der Psychotherapieforschung
438
D1. Grundprinzipien
438
D2. Wirkfaktoren in der Psychoanalyse
438
D3. Die Gegenübertragung
439
E. Psychoanalytische Techniken
440
E1. Die Deutung
440
E2. Konzeptualisierungen der therapeutischen Grundhaltung
440
F. Seelische Prozesse im Patienten, welche zu positiven Ergebnissen führen können
441
G. Das Agieren = Acting out
442
H. Von der Bedeutung des Geschlechtes des Analytikers für Patienten mit bestimmten Störfeldern
443
I. Zur Traumanalyse
444
J. Die negative therapeutische Reaktion
445
K. Die Beendigung der Analyse
446
L. Zusammenfassung zu den tiefenpsychologischen Psychotherapien
447
XII
Inhaltsverzeichnis
V. Psychopharmako- und Verhaltenstherapie, Hans Georg Zapotoczky
449
A. Einleitung
450
B. Verhaltenstherapie und Depression
452
C. Kognitive Verhaltenstherapie und Psychopharmaka
455
D. Verhaltenstherapie und Schizophrenie
458
E. Kombinierte Therapie von Angststörungen
459
F. Posttraumatische Belastungsstörungen
460
G. Kritischer Ausblick
461
H. Zusammenfassung
463
VI. Systemische Psychotherapie, Eduard Waidhofer
465
A. Klassische Familientherapie
465
B. Systemisch-konstruktivistische Perspektive
468
C. Lösungsorientierte Kurztherapie
469
D. Standard – Methoden
471
E. Zusammenfassung
475
VII. Defokusierende Imaginationen in der integrierten Psychotherapie, Alfred Drees 479 A. Einleitung
480
B. Allgemeine Erfahrungen mit der Methode
482
C. Vergleichsfelder
487
D. Besprechung anhand von Kasuistik
488
D1. Die Lösung von Trauerfixierungen
488
D2. Psychosomatik
489
D3. In psychiatrischen Kliniken
490
Inhaltsverzeichnis
XIII
D4. Gewalttraumatisierte Patienten
492
D5. Angstneurosen
493
E. Zusammenfassung
493
VIII. Psychoedukation, Albert Lingg
495
A. Einleitung
495
B. Was ist nun „Psychoedukation“?
496
C. Fließende Übergänge
497
D. Allgemeiner Aufbau psychoedukativer Interventionen
498
E. Setting und Ablauf / personelle Voraussetzungen
499
F. Anwendungsbereiche
500
G. Eigene Erfahrungen und Ergebnisse
501
H. Zusammenfassung
502
I. Literatur
503
IX. GLOSSAR
505
X. SCHLAGWORTVERZEICHNIS
517
Vorwort des Rektor em. der human-wissenschaftlichen Universität des Fürstentums Liechtenstein, em. Vorstand des Psychol. Inst. und em. Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Wien Univ.-Prof. Dr. phil. Giselher Guttmann Psychologisches Institut der Universität Wien Liebiggasse 5, A-1010 Wien Telefon: +43/1/4277 478-20 Fax: +43/1/4277 478-19 Privat: Auhofstraße 42, A-1130 Wien Telefon: +43/1/877 45 63 Em. Vorstand des Psychologischen Institutes der Universität Wien. Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Auswahl von Büchern und Buchbeiträgen: „Lehrbuch der Neuropsychologie.“ Hans Huber, Bern 1981. „Ich sehe, denke, träume, sterbe.“ Ehrenwirth, München 1991. „Zur Psychophysiologie des Bewusstseins.“ In: Das Bewusstsein, Multidimensionale Entwürfe. Springer, Wien 1992. „Freud and the Neurosciences. From Brain Research to the Unconscious“. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1998. „Akademische Psychologie in Österreich. Ein historischer Überblick“. In: K. Acham (Hrsg.): Cognitio Humana, 2001. Österr. Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst sowie zahlreiche weitere Auszeichnungen.
Es gibt verschiedene Gründe, die einen Autor veranlassen können, ein Buch zu schreiben. Oft kommt die Anregung von einem Verleger, der eine bestimmte Interessentengruppe ansprechen möchte, womit meist Vorgaben für den Autor verbunden sind, die ihn leiten, aber auch einengen können. Das schönste Motiv für eine solche Entscheidung ist freilich, nicht von den äußeren Anforderungen gelenkt und getrieben zu sein, sondern der Wunsch, Erarbeitetes und als wesentlich Erkanntes für eine Folgegeneration brauchbar aktualisiert darzustellen. Das Ergebnis eines solchen Entschlusses liegt uns mit diesem Werk von Gerhard S. Barolin vor, der nicht nur mehr als ein halbes Jahrhundert wissenschaftlicher Entwicklung überschaut und erlebt hat, sondern selbst ein aktiver Teil dieser Geschichte war und ist. Aus einer solchen Perspektive betrachtet verändert sich oftmals Größe und Gewichtigkeit von aktuell diskutierten Problemen und wird klar, dass der „State of the Arts“ auch nur die vergängliche Momentaufnahme einer kontinuierlichen Entwicklung ist. Die aus dieser Überzeugung hervorgegangene „Integrierte Psychotherapie“ versteht sich ausdrücklich als ein nicht-metho-
2
Vorwort Guttmann
denfixiertes Konzept, das eng mit der somatischen Medizin und mit allen angrenzenden Wissenschaften (vor allem Psychologie, aber auch Pflege, Sozialarbeit, Pädagogik, Seelsorge, etc.) verbunden sein soll. Barolin fordert für die Integrierte Psychotherapie nicht nur grenzenüberschreitende Kenntnis in diesen Nachbargebieten, sondern gibt auch viele Beispiele seiner konkreten interdisziplinären Zusammenarbeit. Es sind überdies die Ansätze verschiedenster psychotherapeutischer Richtungen zu integrieren. Tatsächlich ist die oftmals geradezu sektenhaft anmutende Tendenz, sich von einander abzuheben – meist mit umso größerer Vehemenz, je kleiner der tatsächliche Unterschied ist – eine spezifische Eigenheit psychotherapeutischer Schulen. Vergleichbare Auseinandersetzungen sind kaum in anderen Bereichen der Medizin vorstellbar. Der von Barolin vorgeschlagene Lösungsweg ist der Aufruf zu einer grundlegenden Änderung der Blickrichtung – „patienten-zentriert“ statt „schul-zentriert“. Ausgewogenheit ist durchgehend die zentrale Tendenz dieses bemerkenswerten Buches. So ist beispielsweise unverkennbar, dass Barolin die Problematik der neuen Klassifikationen überaus kritisch betrachtet, die der Objektivierbarkeit wegen weitgehend auf nosologisches Verständnis verzichten. Und Katschnigs Buchtitel „Was ist aus der guten alten neurotischen Depression geworden?“ wird seufzend zitiert, um an erforderlicher Stelle auch den Begriff Neurose zu verwenden, freilich nicht ohne ihn präzis zu umschreiben. Gleichwohl bleibt Barolins Haltung auch in der Diskussion der Klassifikationsproblematik ausgewogen und er wünscht sich an Stelle von „entweder-oder“ ein „sowohl-als-auch“. Diese Tendenz zu einer ausgleichenden Betrachtung gilt auch für die „zwei großen Philosophien“ der Psychotherapie, wie Barolin die beiden grundlegend verschiedenen psychotherapeutischen Positionen nennt: Das Angreifen an der Wurzel oder am Symptom. Und einen Jahrzehnte andauernden Konflikt auflösend postuliert er, dass beide Strategien in fließendem Übergang, abhängig von Störung und Behandlungsstadium ineinander überzugehen haben. Wer, wie Barolin, das Autogene Training noch persönlich bei J. H. Schultz erlernen konnte, kann aus einem Erfahrungsschatz schöpfen, der in diesem Werk unter anderem im Modell der 2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training seinen Niederschlag findet. Doch ist die lebenslange Eigenerfahrung auch in allen anderen abgehandelten Anwendungsfeldern zu spüren, so in der Diskussion der hypnoiden Zustände, über die Barolin – einer der Pioniere der Hypnoseforschung und ihrer klinischen Anwendungen – wie wenig Andere berufen ist, zu schreiben. Und selbst im Sport, dem aus psychohygienischer Sicht ein Kapitel gewidmet und der oft und gerne als „Modell der Wirklichkeit“ zitiert wird, kann
Vorwort Guttmann
3
Barolin aus beachtlicher Eigenerfahrung sprechen: Denn zu einer Zeit, als der Spitzensport noch kein Beruf war, hat er sich im Skirennsport einen Namen gemacht, durch den er für uns schon damals nicht mehr in der Klasse der reinen Amateure einreihbar schien. Sein integratives Bemühen und seine Offenheit für alle psychotherapeutischen Schulen wird schließlich durch eine Reihe von kurzen Beiträgen von Gastautoren abgerundet, welche den Wunsch nach einer Abkehr von jeglicher Methodenzentriertheit vorbildlich dokumentieren. In Aufbau und Darstellung dieses Werkes wird aber auch das beachtliche didaktische Geschick Barolins erkennbar, wobei die Cartoons nicht unerwähnt bleiben dürfen, die immer an geeigneter Stelle in kürzelhafter Prägnanz Kerngedanken zu visualisieren vermögen. Man kann Barolin nur herzlichsten Dank dafür aussprechen, dass er uns hier eine wertvolle Synopsis von alter Erfahrung mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vorgelegt hat.
Vorwort des Präsidenten der österreichischen Ärztekammer Dr. med. Rainer Brettenthaler Dienstadresse: Ärztekammer für Salzburg Bergstraße 14, A-5024 Salzburg Telefon: +43/662/87 13 27 War erster und langjähriger Leiter des Psychotherapie-Referates der österreichischen Ärztekammer. Past president des Comité des Médicins Européens Brüssel.
Mit einem Vorwort zur Würdigung des Autors und des Themas beizutragen ist für mich als Präsidenten der Österreichischen Ärztekammer mit Ehre und Verpflichtung gleichzeitig verbunden. Eine lange Tradition bindet und band die österreichischen Ärztinnen und Ärzte an das Thema Psychotherapie: Namen wie Sigmund Freud, Alfred Adler, Erwin Ringel, Hans Strotzka, Viktor Frankl und viele andere zeigen, wie sehr man sich gerade in der österreichischen Ärzteschaft mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Die Fortsetzung dieser Tradition liegt nun mit dem Buch Gerhard Barolins vor. Ende der 90er Jahre ist die Frage der psychotherapeutischen Behandlung und der psychotherapeutischen Kompetenz nach einer längeren Unterbrechung in den Mittelpunkt des Interesses auch der Österreichischen Ärztekammer gerückt. Die österreichische Ärzteschaft hat sehr rasch auf die aufgeworfenen Fragen, insbesondere die nach der Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte Antwort gegeben: Ein Referat für psychosoziale, psychosomatische und psychotherapeutische Medizin wurde in der Österreichischen Ärztekammer eingerichtet. Ich selbst hatte die Ehre, dieses Referat jahrelang zu leiten. Mit Hilfe fachkundiger Kolleginnen und Kollegen wurde das sogenannte „PSY-Curriculum“ erarbeitet, das den Qualitätsansprüchen der Gesellschaft und der Gesundheitspolitik Rechnung getragen hat. Die Österreichische Ärztekammer hat mit der Einrichtung von Diplomen für psychosoziale, psychosomatische und psychotherapeutische Medizin dem steigenden Bedürfnis unserer Patientinnen und Patienten, aber auch dem steigenden Bedürfnis und Bedarf unserer Ärztinnen und Ärzte ebenfalls Rechnung getragen. In der Zwischenzeit haben sich einige Tausend Ärztinnen und Ärzte der Ausbildung in einem oder mehreren der genannten Diplome unterzogen und
6
Vorwort Ärztekammerpräsident
damit in viele österreichische Praxen – sowohl von Allgemeinmedizinern als auch von Fachärzten – eine neue Qualität der Behandlung, einen neuen Zugang zu unseren Patienten, eine neue Haltung zu psychischen Problemen gebracht. Die „Integrierte Psychotherapie“ – ein Name, der immer mit der Person Gerhard Barolins verbunden sein wird – diese integrierte Psychotherapie findet im vorliegenden Buch eine aktuelle und gesamthafte Darstellung. Gerade wir Ärztinnen und Ärzte, die täglich in der Praxis stehen, wissen den Wert einer theoretischen Ausbildung, eines theoretischen Zugangs sehr zu schätzen, ist dieser Zugang doch die Basis für vieles, was wir in der Medizin wissen oder zu wissen glauben. Wir sind uns aber auch durch unsere tägliche Arbeit sehr bewusst, wie sehr sich jede Theorie an den praktischen Gegebenheiten und Möglichkeiten von uns selbst, aber auch an denen unserer Patientinnen und Patienten orientieren muss. Dieses Buch leistet dazu einen hervorragenden Beitrag. Die Abgrenzung von anderen psychotherapeutischen Berufen ist nicht das Thema dieses Buches. Vielmehr ist es das Anliegen Barolins „patientenzentriert“, also zum Wohle des Patienten, bestehende Wege der Zusammenarbeit aufzuzeigen und neue zu bahnen. Im Mittelpunkt steht das ärztliche Bemühen, Menschen in Not zu helfen, ihre Leiden zu lindern, sie zu heilen, Heilung und manchmal auch Heil zu bringen, wie es der ärztliche Beruf seit Jahrtausenden in großer Demut vor der Natur des Menschen versucht.
Vorwort des Autors Univ.-Prof. Dr. med. Dr. hc. Gerhard S. Barolin Matzingerstraße 11/20, A-1140 Wien Telefon: +43/1/985 26 66; Fax: +50 [email protected] Ärztezentrale: +43/1/53 116 Mitglied der Wiener medizinischen Fakultät. Gastprofessor und Ehrendoktor der Rehabilitationsfakultät Riga. Über 600 Publikationen, davon Redakteur je einer Buchreihe über Rehabilitation und Neuro-Rehabilitation sowie über Kopfschmerz. Themen aus Psychotherapie: Neurophysiologie des Hypnoids; „Psychotherapy in rehabilitation“, sowie Redakteur der WMW-Themenhefte „Psychotherapeutische Medizin“. Neurologische und geriatrische Themen, Sportmedizin, rechtliche ethische Fragen, Begutachtung, Verbesserung der Arzt-Ausbildung. Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst erster Klasse und weitere Auszeichnungen. Parteizugehörigkeit: (mit Albert Camus) bei denen, welche sich keiner Sache ganz sicher sind.
Ist es sinnvoll, in den gegenwärtigen riesigen Blätterwald aus bedrucktem Papier ein weiteres Buch über Psychotherapie dazu zu pflanzen? So merkwürdig es klingt, die vorliegende Thematik konnten wir in der bisherigen Literatur nicht finden. Das „Wir“ meint mich, der sich schon jahrelang ein solches Buch überlegt hat, plus Kollegen, die mir als didaktisch und fachlich ausgezeichnet bekannt sind und bestätigt haben, dass so ein Buch eigentlich die oft strapazierte „Lücke“ ausfüllen würde. Ich solle es doch machen. Sie erklärten sich (manche regelrecht begeistert) bereit, mitzumachen. Das war mehr, als ich eigentlich erwartet hatte. Und so ging ich also ans Schreiben. Es gibt einige gute und kompetente Bücher über Psychotherapie, die mehrere psychotherapeutische Methoden nebeneinander stellen (wie es das vorliegende Buch auch tut), ich erwähne: Senf und Broda; Reimer und Mitarbeiter; Rudolph; Förstl; Uexküll (siehe Literaturverzeichnis und relevante Zitierungen im vorliegenden Buch). Aber sie gehen alle von einer spezialisierten Psychotherapie aus. Unser Buch hingegen will die Psychotherapie in Anwendung für die Gesamtmedizin vermitteln, deshalb „Integrierte Psychotherapie“. Diese will auf den Patienten zugehen und nicht darauf warten, bis er (vielleicht) kommt. Ich versuche das Kondensat einer lebenslangen Eigenerfahrung wiederzugeben (näher dazu in Kap. A2), habe es mir (natürlich auch) angelegen sein lassen, die rezente Literatur weitgehend mitzuverwerten. Ich vermeide aber „Alibizitieren“ (kommentarloses Zitieren um des
8
Vorwort Autor
Zitierens willen). Vielmehr verwende ich die Zitate mit der „späten Freiheit des Alters“ dazu, um sie mit eigenen Ansichten und Wertungen zu vergleichen (wo nicht kommentiert, stimme ich damit überein). Ich glaube, mit einer derartigen kritischen Zusammenschau der praktischen Anwendbarkeit zu dienen. So versuche ich „Althergebrachtes“ mit „Neuem“ zu vergleichen und erlaube mir auch zu sagen, wo ich das Alte für besser halte, wie z. B.: • Die neue Depressionsklassifikation, die an der Genese der Depression völlig vorübergeht, obwohl man diese für eine sinnvolle Psychotherapie nicht missen kann (B3). Gleiches sagt auch Zapotoczky (V). • Die praktisch kaum brauchbare Kopfschmerznomenklatur laut IHS (G2). • Die technokratische „Sozialarbeit“ wurde eingeführt, weil man unbedingt den englischen Ausdruck „social worker“ übersetzen „musste“. Auch Damen vom Fach bedauern diese Umbenennung statt der menschenzugewandten Für-Sorge (also für jemanden sorgen, der dazu nicht selbst in der Lage ist). • Die Übertreibung der „evidence based medicine“ (A1). • Den Pleonasmus „humanistische Psychotherapie“ (A4). Leider muss man bei solchen Trends zumindest teilweise mitschwimmen, sonst gilt man als antiquiert. Aber die, im Namen einer fragwürdigen emanzipatorischen Ideologie heute vielfach gängige, Sprachvergewaltigung mache ich nicht mit. Die Vermischung von sprachlicher mit biologischer Geschlechtlichkeit ergibt eine skurile Schreibweise, die in keiner Grammatik verankert ist und das Lesen erschwert. Überdies sind auch die eingefleischten Verfechter der sprachlichen Geschlechtsumwandlung keineswegs konsequent. Sonst müssten sie ja schreiben: • Der Mensch und die Menschin • Die Bezugsperson und der Bezugspersonerich • Die Aufsichtsorganin und der Aufsichtsorganer • Der Kinderer und die Kindin • Etc. Dass ich andererseits ein ausgesprochener Frauenfan bin (überhaupt und auch im Beruf), mag u. a. daraus hervorgehen, dass ich bei meiner Abteilungsleitung immer bestrebt war, mehrere weibliche Mitglieder in der Arbeitsgruppe zu haben. Abgesehen davon, gibt es vorgegebene geschlechtsspezifische Eigenarten, die man, zum Wohle des Patienten zum Tragen bringen und nicht gewaltsam gleichschalten soll. Natürlich gibt es dabei große individuelle Unterschiede, aber die Trends sind unverkennbar (vergl. B2). Es gilt das für Ärzte, aber auch für Pflegepersonal, Psychotherapeuten, etc. Frauen können, über die Mutter-Kind-Projektion, mit angeborenen fraulichen Eigenschaften größere Empathie und Geborgenheit vermitteln. Im Gespräch finden sie leichter den Zugang zum Menschen. Sie sind praktischen Lösungen näher statt langem „Theoretisieren“. – Das hat sich speziell in Extremsituationen von Krieg, Emigration, Konzentrationslager gezeigt (Eigenerfahrungen; vielfache Emigranten-Memoiren etwa Wengraf; Barbara Distel). Männer hingegen ermöglichen eine Vater-Projektion, die positivenfalls eine gewisse Sicherheit vermitteln kann. Männer können klarer ordnen und besser organisieren (Angelika Meister), auch sachlicher erklären. – Dass es allerdings keineswegs immer so sein muss, hat der österreichische Volksdichter Nestroy so ausgedrückt: „Es gibt nur ein’s was ärger ist als ein altes Weib, das ist ein Mann, der ein altes Weib ist.“ Da aber im wissenschaftlichen Schrifttum Männer (noch?) stärker vertreten sind als Frauen, bemühe ich mich, bei den Zitierungen von Frauen den weiblichen Vornamen dazu zu schreiben, damit man sie als solche erkennt.
Der Leser wird einerseits die „Wir“ – anderseits die „Ich“-Form finden. Mit ersterer bringe ich die Erfahrungen und daraus resultierenden Meinungen
Vorwort Autor
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meiner Arbeitsgruppe(n) zum Ausdruck. Die „Ich“-Form hingegen betrifft meine persönlichen Meinungen. Ich möchte das Buch für alle vier Deutschsprachigen Länder möglichst brauchbar machen, also für Deutschland, Österreich, Schweiz und Liechtenstein. Daher habe ich mich bemüht, bezüglich der Gesetze und Ansprechadressen jeweils österreichische, deutsche und Schweizer Verhältnisse zu berücksichtigen (Liechtenstein richtet sich ja teilweise nach Schweizer, teilweise nach österreichischen Normen). Allerdings habe ich mir erlaubt, mehrfach auch Umgangssprache respektive Dialektausdrücke aus dem Österreichischen einzuflechten, dort wo sie plastischer sind als die Schriftsprache. Hoffentlich entstehen dadurch keine Verständnisschwierigkeiten zwischen meinem österreichischen Deutsch und dem der werten anderen Deutschsprechenden. Sie wissen ja: Österreicher und Deutsche haben vieles gemeinsam bis auf die Sprache. Das kann bis zu ernsthaften (!) diplomatischen Konfrontationen führen. So wurden monate- oder jahrelang rechtlich untermauerte Noten ausgetauscht, dass die österreichische „Marmelade“ „Konfitüre“ genannt werden müsse, um nicht in das ganze europäische Gebäude Unordnung zu bringen. Zwar gibt es bei der EU schon ein eigenes Wörterbuch Österreichisch – Deutsch. Trotzdem hat sich gezeigt, dass auch die Brüsseler Diplomatie mit den Verständnisschwierigkeiten nicht immer zurande kommt. – Aber keine Angst, es wird nicht allzu arg sein. Auf Wienerisch (das ist eine Subspezies des Österreichisch-Deutschen) heißt es nämlich: • „Mir wearn kan Richter brauchn!“ • Die Deutsch-deutsche Übersetzung wäre etwa: „Ich gehe davon aus, dass sich die Befassung eines Gerichtes mit der in Frage stehenden Angelegenheit erübrigt, und eine konsensuelle Lösung auf dialogischer Basis im Bereich des Möglichen liegt.“
Im Layout habe ich mich bemüht (neben dem Sprachlichen) auch graphisch eine didaktisch möglichst eindrucksvolle Form zu finden und verschiedensten Bedürfnissen Rechnung zu tragen. 1. Petit-Passagen erläutern das Vorgesagte etwas näher (Kasuistiken und Einzelheiten). Sie können von dem, der schon viel über die vorher genannten Begriffe weiß und (oder) nur rasch Überblick sucht, überlesen werden, ohne dass der Zusammenhang verloren geht, bringen aber Details für näher Interessierte. 2. Die Fett-Passagen, sollen gleichzeitig mit besserer Einprägsamkeit des Wichtigen, dem noch Eiligeren die Möglichkeit geben, nur die Fett-Begriffe zu lesen und doch zu wissen, was ungefähr drinnen steht. 3. Ganz Eilige mögen nur die Zusammenfassungen am Beginn und am Ende der Abschnitte lesen (doppelt eingerahmt), eventuell dazu einige Merksätze (einfach eingerahmt).
Das Amtschinesisch einer (leider) Psychotherapie-Eigensprache wurde weitgehend vermieden (respektive die Autoren um „Übersetzungen“ ersucht). Wo aber doch Verständnisschwierigkeiten bestehen könnten, darf ich auf das Glossar am Ende des Buches verweisen. Auch sonst habe ich mich um möglichste Klarheit bemüht, indem ich wesentliche Begriffe plakativ definiert habe.
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Vorwort Autor
Das war aber gar nicht so einfach! Denn in der Psychotherapie wird mehr beschrieben und erzählt, als definiert. Natürlich habe ich Referenzwerke herangezogen, nenne u. a. Möller und Mitarbeiter; Gastpar und Mitarbeiter; Mertens und Waldvogel; Stumm und Pritz; Dorsch (wobei erstere beiden die derzeit ausführlichsten Standardwerke über Psychiatrie und Psychotherapie sind, die drei weiteren rezente lexikalische Nachschlagwerke). Vielfach musste ich dort aber Sätze finden wie: „Dieser Begriff wird von verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich gebraucht“. Ich habe im Buch jeweils dann die mir aus langjähriger klinischer Tätigkeit sinnvoll und einsichtig erscheinende Definition gegeben, eventuell kurz die anderen Definitionen diskutiert.
Die zahlreichen Hinweise auf andere Stellen des Buches verpflichten keineswegs dazu, dort nachzulesen, sollen jedoch demjenigen, der über ein Thema mehr wissen will, ermöglichen, in mehrerlei Zusammenhang darüber etwas zu erfahren. Ich hoffe, jene Hinweise dadurch relativ brauchbar gemacht zu haben, dass ich nicht die heute vielfach üblichen mehrstelligen Zahlen verwendet habe (ich selbst bin dadurch immer eher verwirrt als orientiert), sondern drei Kategorien. 1. Die Obergruppen, die Artikel der einzelnen Autoren mit römischen Ziffern. Verweise, die im Artikel selbst gelten, werden jedoch ohne römische Vorziffer gegeben. 2. Darunter steht der Abschnitt (als Untergruppe des Artikels): mit Buchstabe bezeichnet. 3. Die einzelnen Kapitel unterteilen dann diese Abschnitte und sind mit Buchstaben plus Ziffern bezeichnet.
Zum Verweise-praktisch-aufsuchen habe ich extra zwei farbige Bändchen einbinden lassen. Ich will dieses Buch einem großen Personenkreis widmen und hoffe, dass es ihn erreicht. • Ich hoffe, dass manche meiner wissenschaftlich versierten Kollegen Zeit und Lust finden hineinzuschauen. Sollten sich daraus fruchtbare Diskussionen ergeben, umso besser! Widersprüche mögen uns wechselseitig anregen. Ich möchte aber gerne auch andere Personenkreise ansprechen. • Jüngeren Kollegen in der psychotherapeutischen Ausbildung, die vielleicht noch nicht genau wissen, wohin ihre Reise gehen soll (mögen sie von der ärztlichen oder psychologischen*) Seite kommen), mag dieses Buch eine gewisse Entscheidungshilfe sein. • Aber auch Ärzte ohne spezialisiertes psychotherapeutisches Interesse, die gern über den Tellerrand blicken und etwas mehr über ihre Patienten wissen wollen, lade ich herzlich zu diesem Buch ein. Das gleiche gilt für die ärztlichen Assistenz- und Pflegeberufe (die ja viel mehr Zeit mit den Patienten verbringen als die eigentlichen Therapeuten!) und für Studenten. Für diese beiden letzteren Lesergruppen möchte ich vor allem das basale Ver*) Ich habe die Psychologen immer als willkommene Partner betrachtet, das auch in den leidigen Kämpfen zwischen den Lobbies von Psychologen und Ärzten (wegen des Psychotherapie-Gesetzes seinerzeit) immer zum Ausdruck gebracht. – Vergl. Kap A3. Schon in den 1970er Jahren war ich derjenige, welcher in der damals größten österr. Psychotherapie-Gesellschaft (die „für ärztliche Psychotherapie“ hieß) den Antrag stellte, dass man ab nun auch Psychologen in die Gesellschaft aufnehmen sollte. Auch habe ich vielfach mit Psychologen gut und konstruktiv zusammengearbeitet, siehe div. Angaben in vorliegendem Buch.
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ständnis für die Beziehung zum Patienten etc. (A3) vermitteln und Ihnen damit (hoffentlich) verständnisvolleren und reibungsärmeren Umgang mit ihrem Beruf ermöglichen.
Das Unterrichten war immer mein großes Anliegen. Die chinesische 3-Teilung des Lebens in: Lernen – Tun – Lehren, habe ich nie nur chronologisch gesehen, sondern auf allen meinen Lebensstationen das Erlernte gerne weitervermittelt. Die „venia docendi“ (wörtlich übersetzt: Gnade des Lehrens), einer jungen Generation Wissen weiterzugeben, wurde und wird von mir als Privileg aufgefasst und in extenso wahrgenommen (schließlich auch in vorliegendem Buch). Manche sind darüber allerdings gar nicht so sehr erfreut gewesen. Abgesehen von den unambitionierten Mitarbeitern und Studenten (die es natürlich – neben den ambitionierten und erfreulichen – auch gibt) kann man auch an Institutionen an-ecken: Beispiel 1: Es ist eine schlechte Tradition, dass viele der sogenannten „klinischen Praktika“ nach dem Prinzip ablaufen: „Ihr habt’s ka Zeit! I hab’ ka Zeit! Gebt’s her die Zettel, ich unterschreib sie euch“ (wörtliches Zitat). Leider weiß ich aus dem rezenten Umgang mit Studenten, dass es heute nicht viel besser ist als einst.*) 1970, als Oberarzt, schlug ich meinem damaligen Chef Reisner vor, doch die Praktika evaluieren zu lassen. Jeder Student musste einen (anonym oder nicht – wie er wollte) standardisierten Bewertungsbogen für das Praktikum abgeben, um sein Testat zu erhalten. Dabei sollte er nicht nur bewerten, sondern auch konkrete Vorschläge zur Verbesserung machen. Es zeigte sich nun dreierlei: • Die Meinungen der Studenten waren keineswegs irgendwie polemisch, unsinnig oder utopisch, sondern es kamen ausgesprochen konstruktive und vernünftige Bewertungen zustande. • Die Qualität der Praktika wurde schlagartig besser. Die paar didaktisch interessierten Assistenten arbeiteten weiter gut und die (leider in der Überzahl befindlichen) Desinteressierten wurden von der „drohenden“ Evaluation zu wesentlich stärkerer Bemühung stimuliert. • Am Ende des Jahres sagte mir mein damaliger Chef: „Wir müssen leider damit aufhören, denn in der Fakultät wurde mir der Vorwurf gemacht, wir verhetzen die Studenten!“ Beispiel 2: Viel später, als neurologischer Abteilungsleiter und a. o. Professor, war ich (entsprechend den österreichischen Bestimmungen) auch als Prüfer für die Studenten wählbar. Ich ließ anschlagen, dass ich nur Studenten prüfe, die vorher eine 6-wöchige Intensivfamulatur an meiner Abteilung machen würden. Darin war Folgendes enthalten: *) Die universitäre Lehre wurde durch das neue Curriculum in Österreich neu organisiert. Manches ist besser geworden. Leider ist aber vieles durch unverändert schlechte Lehrerpersönlichkeiten (die es jetzt – neben den guten und ambitionierten – ebenso gibt wie seinerzeit) gleich geblieben. – Die Lehre läuft weiterhin vielfach als frontaler Monolog ohne Rücksicht auf Verständlichkeit und Einprägsamkeit. – Die Prüfung scheint manchen Lehrern immer noch wichtiger als die Lehre zu sein. Sie sitzen dabei auf einem hohen Ross, freuen sich schikanöse Fragen zu erfinden, freuen sich an für den Prüfling demütigendem Zynismus und Witzchen. Das Wort „hinausschmeißen“ ist gängig. – Der Student wird vielfach nicht als „der junge Kollege“ aufgefasst, den man bei seiner Berufsentwicklung fördern soll und dessen fallweise wirkliches Versagen bei Prüfungen man bedauert, vielmehr als ein willkommenes Objekt der narzisstischen Abreaktion.
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• • • • •
Täglich eigene Demonstrationsvisiten. Die Assistenten wurden verpflichtet, täglich ein Seminar für die Studenten zu halten. Diese mussten dabei auch eigene Themen referieren. Ich machte mit ihnen „Repetitorien“. Daneben wurden sozial-amikale gemeinsame Unternehmungen arrangiert (siehe später über das Lernen: Lustbetonung verstärkt die Gedächtnisspur im neuro-biologischen Bereich [A1]. Dem dienen auch die Biedermann’schen Cartoons im vorliegenden Buch). • Die Studenten wurden zum Gruppenlernen angeregt. Dabei sollte auch solchen, die aus irgendwelchen Gründen einmal abwesend waren, das Versäumte von den anderen Gruppenteilnehmern ausführlich erklärt werden. Es war also das, was im neuen österreichischen Mediziner-Curriculum als optimaler Kleingruppenunterricht angestrebt wird (leider auch jetzt noch keineswegs ubiquitär erreicht – max. 7 Teilnehmer).
Dass meine Assistenten über die Mehrbelastung keineswegs immer glücklich waren, sei am Rande erwähnt. Aber zu ihrer Ehre sei gesagt, dass die Mehrzahl doch merkte, dass man beim Lehren auch selbst eine Menge lernt, und ambitioniert mittat. Es war auch manchen Studenten keineswegs angenehm, die geglaubt hatten, nur schöne Ferien zu haben. Nachdem ich manche wegen schlechter Vorbereitung ermahnt hatte, besserten die einen ihr Gruppenlernverhalten, andere verließen die Intensivfamulatur. Nach den 6 Wochen hielt ich dann das Fachrigorosum für die Studenten ab, und zwar in amikaler Weise, nachdem ich ihnen schon kommuniziert hatte, ich hätte ja schon mehrfach bei den Repetitorien gesehen, dass sie ordentlich vorbereitet sind, es würde jetzt nur auf ihre Art der Präsentation ankommen, ob sie eine bessere oder eine schlechtere Note bekommen, hingegen sei ein Durchfall unwahrscheinlich. – Das Rigorosum dauerte jeweils 45 min pro Student (länger als in der Universität vorgeschrieben), war „öffentlich“ (die anderen Studenten und auch die ausbildenden Assistenten waren anwesend. Diese konnten auch Zusatzfragen stellen). – Also einerseits Stressabbbau bei anderseits seriöser Wissenskontrolle. 2 Jahre später (also in entsprechender Entfernung von hierarchischem Druck) ersuchte ich die Studenten um eine briefliche Beurteilung, vor allem ob und wie ihnen das Gelernte in ihrer jungen ärztlichen Tätigkeit nützt, was sie an dem Praktikum gut oder schlecht empfunden hatten und welche eventuelle Verbesserung sie vorschlagen könnten. Ich gebe einige Kostproben der Antworten aus der meinerseits 1997 gemachten Publikation des Titels „Die medizinische Lehre und der humanitär-kommunikative Bereich: zwei Stiefkinder der Qualitätssicherung. – Beispiel: Kompakt-Lehrversuch mit integriertem Rigorosum zeigt, dass es auch anders gehen kann!“ • Dieses Praktikum habe ich als so positiv empfunden, dass es meinen späteren Lebensweg geprägt hat. • Der von Ihnen gepflegte Umgang mit den Kranken mit ihren teils schweren Leiden war für mich beispielgebend und wird mir hoffentlich in meiner späteren medizinischen Tätigkeit helfen, gerade unheilbar Kranken eine Stütze zu sein. Ich hoffe es nicht nur, ich bin mir dessen sicher. • Besonders gut hat mir die gemeinsame Wanderung, das Gespräch über Schädelhirntraumata am Berg und das Wienerlieder-Singen gefallen. Ich hoffe sehr, dass sich dieses Modell auch in anderen Krankenhäusern durchsetzen kann. • Es war das meine anstrengendste, zeitaufwändigste, aber zugleich sinnvollste Famulatur. Es wäre wünschenswert, wenn andere Professoren einen solchen Intensivkurs ebenso anbieten würden, anstatt immer nur mehr von den Studenten zu fordern. Ich habe nur einige Zitate gebracht, vor allem den Umgang mit den Kranken und das Klima betreffend. Es gab auch eine Menge positiver Voten über die Qualität des Unterrichts, das
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Bedside-teaching, den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis etc. – „Negative“ Kommentare und Verbesserungsvorschläge betrafen nur, dass die Studenten gerne mehr Zeit gehabt hätten, um die Patienten und ihre Verläufe näher kennenzulernen. (Also auch eher positiv, da damit bewiesen wurde, dass menschliches Interesse geweckt worden war). Das Wissenschaftsministerium hatte mir bei Beginn des Lehrversuches einen beschränkten Etat von Geldmitteln in Aussicht gestellt. Um diese hatte ich natürlich nicht für mich angesucht. Vielmehr sollten die mitarbeitenden Assistenten für die zusätzliche Mühe meritiert und eine systematische Auswertung mittels Statistiker ermöglicht werden. Jener in Aussicht gestellte Betrag blieb aber – trotz mehrmaliger höflicher Anfragen – eine Schimäre. Es sei meinen Mitarbeitern dafür gedankt, dass sie – obwohl ich ihnen das Zurückfallen auf „Gotteslohn“ mitteilen musste – doch jahrelang weiter mitmachten. (Besonders Koll. Pfeifhofer, der schon alles für die statistische Bearbeitung vorbereitet hatte). Nachdem jener Artikel über mehrjährige Erfahrungen von mir publiziert war (Barolin 1997a), erfolgte wenige Monate später ein Ukas vom Dekanat, dessen Quintessenz wohl war: „Da könnte ja jeder kommen!“. Es wurde ausdrücklich festgelegt, dass man außerhalb der Semesterzeit nicht (mehr) prüfen darf und dass alle Prüfungen und Lehrveranstaltungen im Rahmen der universitären Einrichtung geschehen müssen. Didaktische Bemühungen – noch dazu wenn sie zeigen, dass manches mit einigem Bemühen besser sein kann als das Hergebrachte – machen einen also keineswegs beim akademischen Establishment beliebt; womöglich wird man dafür bestraft. Das aber spielt keine große Rolle mehr, die Intensivfamulaturen waren über mehrere Jahre in geplanten Turnussen abgelaufen. Manche ambitionierten Studenten, die sich dem strengen Regime unterworfen hatten, konnten einiges für ihr Leben mitnehmen und vor allem: Es konnte gezeigt werden, dass „es geht!“, ohne immer nur mehr Geld und mehr Stellen zu verlangen.
Natürlich ist das vorliegende Buch keineswegs „vollständig“. Ich habe mich aber bemüht, Mehreres nebeneinander aufzuzeigen, auch miteinander zu vergleichen, wissenschaftliche Basis und Erfolgschancen offen zu legen. Dabei habe ich Selbsterprobtes in den Vordergrund gerückt, ohne die Erkenntnisse aus der Literatur zu vernachlässigen. Ob mir der Spagat nach 3 Seiten (gibt es den überhaupt?), nämlich zwischen Wissenschaft, Didaktik und Praxis, einigermaßen zufriedenstellend gelungen ist, soll der geneigte Leser entscheiden. Nach obigen und vielen gleichsinnigen Erfahrungen muss ich aber gewärtig sein, dass würdige Fachvertreter das Buch ordentlich abqualifizieren: • • • • • • •
als zu persönlich, alt-etablierte Dogmen in Frage stellend, auf denen man sich gut ausruhen kann, mit zu banaler Ausdrucksweise ohne viele Fremdwörter, auf die menschlichen Beziehungen mehr eingehend als auf statistische Absicherungen, individuelle Gespräche empfehlend anstatt standardisierter Fragebögen, völlig unseriös illustriert, etc. etc.
Es wäre schön, wenn Sie trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb?) in das Buch hineinschauen.
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Was bleibt? Auch die vorliegenden, mit meinen Ausführungen bedruckten, Blätter werden nach ein paar Jahren unweigerlich zur Makulatur. Ich weiß das, habe mich aber doch bemüht, etwas Bleibendes zu erreichen, nämlich das Weitergeben guten Gedankengutes an eine folgende Generation, in der Hoffnung auf Weiterwirken. Ordentliches Grundwissen und technische Kenntnisse sind natürlich unabdingbar für bestmögliche Erfüllung unserer psychotherapeutischen Aufgabe. Dazu will das vorliegende Buch eine Hilfe sein. Es will aber mehr sein. Das Buch will menschliche Qualität vermitteln helfen, die mehr ist als lexikalisches Wissen und technische Fähigkeit: • Humanitäre Grundauffassung • Neugierde für das Neue, gepaart mit Anerkennung des guten Alten. • Ständiges Arbeiten an der Besserung menschlicher Beziehungen (sei es mit Patient, Arbeitsgruppe oder privat). • Toleranz in der Diskussion, aber Festigkeit in den ethischen und humanitären Prinzipien. • Anerkennung des Anderen ohne deswegen sein eigenes Licht unter den Scheffel zu stellen.
Den Mitautoren danke ich für die Geduld, mit der sie auf meine vielfachen Rückfragen, „Übersetzungswünsche“ für Fachausdrücke, Erklärungs-, Ergänzungs- und Kürzungswünsche eingegangen sind. Alles sollte so kurz wie möglich, aber lange genug für plastische Beschreibung zwecks tiefergehenden Verständnisses sein, vor allem aber übersichtlich und praxisgerecht. Dabei sollte man aber doch nicht alles zu todernst nehmen (es hat auch der große Psychotherapeut J. H. Schultz zu mir einmal gesagt: „Schließlich spielen wir Psychotherapeuten ja alle irgendwie Theater“). Die geistreichen und treffenden Illustrationen des künstlerischen Psychologen (oder sollte man ihn psychologischen Künstler nennen?) wollen daran erinnern; mögen aber auch dazu beitragen, dass Einiges des Gesagten noch besser im Gedächtnis haften bleibt.
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Dipl. Psychologe Hans Biedermann Elmehle 1, 69412 Eberbach/Deutschland Telefon: +49/62 71/29 86 Fax: +49/62 71/714 37 Dienststelle: +49/62 82/92 07 41 Zuerst 18 Jahre in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, jetzt seit 1990 in einem Kinderheim der Jugendhilfe. Er entdeckte das Geschäft eines Karikaturisten im Zweitberuf als Kolumbus-Ei. Man setze einfach die Aggression, die der Alltag eh mit sich bringt, in boshafte Zeichnungen um und lasse sich selbige auch noch honorieren! Zwei Bücher von ihm sind vergriffen: „Die medizynische Heulkunde“ und „Die Drillinge des Sigmund Freud“. Noch zu haben ist „Vorsicht Psychologen“ bei Urban & Vogel, München. In Vorbereitung: „Geld und sonstiger Mist“. Verlag noch unbekannt. Zu danken habe ich vielen hilfreichen Menschen: Den unvergleichlichen Sekretärinnen (Lechner, [Ex-Frau-]Barolin, Kraus); kritischen Korrekturlesern für deren Mühe: den Damen Janetschek, Hofmann, (Tochter) Claudia, Preiser, Weinberger, Mag. Kroiss; den Herren Professoren und Doktoren Ploeger, Küstner, Hofmann, Pitschmann, Franzl; (Lebensabschnittspartnerin) Eva Hartmann für langfristige, konstruktive Mitarbeit; dem Verlag für das Eingehen auf viele Extrawünsche.
Sicher können wir (die Autoren dieses Buches) von unseren Lesern noch eine Menge dazu lernen (wie ich auch von jedem Patienten immer wieder dazu gelernt habe und dazu lerne). Kritische Anmerkungen werden lebhaft begrüßt, und wir erwarten sie gerne! Es liegen also eine Menge guter Absichten und Vorsätze vor. Hoffentlich kommt der geschätzte Leser zu dem Schluss, dass zumindest manches davon verwirklicht wurde. Danke, dass Sie das Buch zur Hand genommen haben!
Wien, Anfang 2006
Ihr Barolin
I.
Integrierte Psychotherapie G E R H A R D S. B A R O L I N
A.
Grundsätzliches dazu
A1.
„... integrativ“, „... integriert“
Schlagwort-Information: Integrierte Psychotherapie verstehen wir als nach allen Seiten offen, auf Methoden aufbauend, aber nicht methodenfixiert; in enger Kooperation mit der somatischen Medizin und allen verwandten Disziplinen.
Allgemein haben die letzten Jahrzehnte (in Österreich durch ein Psychotherapie-Gesetz 1991, in Deutschland einige Jahre später) zu einer verstärkten Eigenidentitätsfindung der Psychotherapie geführt. Das hat erfreulicherweise zu verstärkter Verwissenschaftlichung, mit vermehrter universitärer Repräsentanz geführt. Es haben sich daraus aber auch Nachteile ergeben, da sich die Psychotherapie teilweise in einen eigenen Elfenbeinturm zurückgezogen hat, und dadurch die Zusammenarbeit mit den anderen Gesundheitsberufen (vor allem mit der Medizin) vermindert wurde. Dem entgegen stellen wir unser Prinzip einer Integration der Psychotherapie (siehe Schlagwortinformation am Artikelanfang sowie Abb. 1). Der Begriff „Integrierte Psychotherapie“ wurde vom Autor in die Literatur eingeführt, und es wurde mehrfach darüber geschrieben (u. a. Barolin 1997, 1998). Unmittelbarer Anlass dazu war die streng schulische Einteilung der Psychotherapieausbildung in besagtem österreichischen Psychotherapiegesetz. Es schien dem Autor und Freunden daraufhin besonders wesentlich das Verbindende neben dem Trennenden hervorzuheben. Wir verstehen darunter nicht nur Brücken zwischen den einzelnen psychotherapeutischen „Schulen“. Vielmehr scheint es uns besonders wesentlich, die Verbindung der Psychotherapie mit der „organischen“ Medizin zu forcieren. (Dass die Begriffe Psychotherapie und Organmedizin nur scheinbar gegensätzlich sind und im Rahmen moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse immer näher zusammenrücken, wird im Folgenden noch näher ausgeführt). Dementsprechend haben Bartl, Odehnal, Wesiack und ich es für sinnvoll erachtet, im Jahre 1989 eine „Arbeitsgemeinschaft für Integrierte Psychotherapie“ zu gründen. Mehrfach finden wir, dass auch andere ähnliche Gedanken gehabt haben. So wollen z. B. Senf und Broda 1996 ihr umfangreiches Übersichtsbuch „Praxis der Psychotherapie“ als „integ-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
ratives Lehrbuch der Psychotherapie“ verstanden wissen. Sie beziehen das vor allem auf das wechselseitige Verständnis von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Auch soll eine existierende „Mauer“ zwischen den „konkurrenzierenden Berufsgruppen Ärzten und Psychologen“ durch Kooperationsformen und Förderung gegenseitiger Achtung abgebaut werden. – Wir können nur aus vollem Herzen zustimmen, möchten aber auch Mauern abbauen, die leider noch immer teilweise zwischen Psychotherapie und einer rein naturwissenschaftlich, respektive rein mechanistisch, ausgerichteten Medizin bestehen. Uexküll und Mitarb. bezeichnen „integrierte Medizin“ (Buchtitel 2002) als eine Medizin, die das Verständnis lebender Systeme als Einheit aus Organismus und Umwelt betrachtet und das salutogenetische Prinzip in den Vordergrund stellt (deutliche Analogien zu unseren Gedankengängen). Petzold bezeichnet als „integrativ“ die Verschränkung von Theorie und Praxis mit einer Didaktik-Theorie (Angela Stefan und H. Petzold). – Wir glauben gleichsinnig (und unsere vorliegenden Zeilen versuchen es auszudrücken), dass die schönsten Theorien nichts nutzen, wenn sie nicht klar praktisch umsetzbar gemacht werden. Die Integration der Psychotherapie in die Psychiatrie weist in den unterschiedlichen deutschsprachigen Ländern unterschiedliche Entwicklung auf. – Die folgende Zusammenstellung wurde zusammen mit (dem in diesem Buch auch mit einem eigenen Artikel vertretenen) Kollegen Lingg gemacht (der seine Ausbildung in Deutschland und der Schweiz absolviert hat) und durch Informationen der Deutschen und Schweizer Standesvertretung ergänzt. In Österreich und Deutschland war die Psychotherapie, als sie noch keine akademische Disziplin war, bei den Psychiatern beheimatet. Während die neue Identitätsfindung der Psychotherapie mit auch eigenständiger akademischer Repräsentanz einsetzte, hatte sich zugleich die Psychiatrie von den psychodynamischen Konzepten wegentwickelt zur so genannten „biologischen Psychiatrie“ (wo es vor allem um Transmitter, Medikamente und diverse körperliche Behandlungen geht). Erst in letzter Zeit hat sich wieder eine gewisse Rückentwicklung vollzogen, indem jetzt in Österreich und Deutschland der Facharzttitel gesetzlich „für Psychiatrie und Psychotherapie“ heißt, und damit auch obligat eine psychotherapeutische Ausbildung gekoppelt ist. – Allerdings gibt es dabei in Deutschland gewisse Unterschiedlichkeiten in den einzelnen Bundesländern. Die Schweiz hat eine viel längere psychodynamische Tradition. Das Fach der Psychiatrie war (und ist teilweise noch) sehr stark psychodynamisch ausgerichtet. Gewisse Nachteile konnte man (als in beiden Ländern Ausgebildeter) vergleichsweise sehen, nämlich dass durch das Fehlen von Neurologie und Innerer Medizin (Gegenfächer in Österreich) teilweise ein Übergewicht der Psychodynamik zu Ungunsten der organischen Basis für psychiatrische Störungen bestand. Wir stehen jetzt in einer Periode der „Wiederentdeckung“ der Psychotherapie für die Psychiatrie. Diesbezüglich sind die zwei rezenten Standardbücher mit dem Titel „Psychiatrie und Psychotherapie“ zu erwähnen (Gastpar und Mitarb., Möller und Mitarb. [etwa 2000 Seiten], beide 2003). Außerdem kümmert sich die Psychiatrie jetzt sehr stark um die sozialen Bezüge (die ja – laut unserer Ansicht, welche im vorliegendem Buch mehrfach ausgedrückt ist – mit einer fortschrittlichen Psychotherapie eng zusammenhängen). Wie es allerdings in den einzelnen Institutionen praktisch gemacht wird, hängt vielfach von den Chefs ab (die natürlich aus der alten Ausbildungsart kommen). Es gibt einerseits sehr stark psychotherapeutisch und psychodynamisch Orientierte, die das auch in ihrem Arbeitskreis so weiter tradieren, anderseits noch einseitig „biologisch“ Orientierte (Beispiel: Ein Chef, der zu seinem Assistenten sagte, er soll gefälligst nicht so viel mit den Leuten reden, sondern die Fragebogen ordentlich ausfüllen). Integration der Psychotherapie in die Allgemeinmedizin war bis vor wenigen Jahren nicht gegeben. Der Medizinstudent hat darüber praktisch nichts gelernt und der junge Arzt in der Turnusausbildung ebenso wenig. Hier scheinen sich neue Wege anzubahnen. Das neue Medizincurriculum gewichtet Psychotherapie mehr. Die Zusatzausbildungen des Arztes für
A. Grundsätzliches / A1. „...integrativ“, „...integriert“
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Psychotherapie (in Deutschland) und der „Psy-Diplome der Ärztekammer“ (in Österreich) eröffnen interessierten Ärzten neue Wege zur Psychotherapie. Das vorliegende Buch will diesen Weg verbreitern. Die seit neuerem in die postpromotionelle Arztausbildung fakultativ einfügbare „Lehrpraxis“ (ein Assistent macht in der Praxis eines erfahrenen „Mentors“ als Partner mit), will vor allem auch das kommunikative Klima zwischen Arzt und Patient verbessern helfen (Tönies). Die Innere Medizin hatte die Psychodynamik und Psychotherapie schon früher unter dem Namen „Psychosomatik“ „entdeckt“ (Uexküll 2003 komplex mit allen rezenten Bezügen dargestellt). Allerdings öffnete sich auch nur eine Minorität von Internisten – neben körperlichen Ursachen – der Psychodynamik (A3).
Ein wichtiger Schritt bezüglich einer Integration der Psychotherapie ist dadurch gegeben, dass seit 1993 in Österreich gesetzlich verankert ist, dass jede öffentlich-rechtliche Krankenanstalt bei Bedarf Psychotherapie für Ihre Patienten verfügbar haben muss. Eine derartige bindende Bestimmung existiert unseres Wissens in Deutschland und der Schweiz nicht. Allerdings muss man sagen, dass die praktische Umsetzung jener Bestimmung auch in Österreich keineswegs noch ubiquitär gegeben ist. Das hängt einerseits mit organisatorischen Prinzipien (auch Personalbudget etc.) zusammen. Anderseits sind die psychotherapeutisch Tätigen vielfach aus ihrer Ausbildung und bisherigen Tätigkeit noch nicht darauf eingestellt, jenen „integrierten“ Ansatz der Psychotherapie wahrzunehmen und in die Tat umzusetzen. Auch diesbezüglich will das vorliegende Buch eine Wegweisfunktion wahrnehmen.
Nach diesen Bemerkungen über die gegenwärtigen verschiedenen Wege der „Integration der Psychotherapie“ soll Abb. 1 die wesentlichen Gedanken aufzeigen, die für uns hinter dem Begriff der „Integrierten Psychotherapie“ stecken. Einzelne der Schlagwörter verstehen sich von selbst. Einige Kommentare seien angefügt. Im Sinne der Sorge um den ganzen Menschen (somato-psycho-soziale Einheit) soll sich die Integrierte Psychotherapie gemeinsam mit der übrigen Medizin auch mit verschiedenen somatischen Krankheiten und Behinderungen befassen, einschließlich der „physiologischen“ Behinderung des höheren Lebensalters und der menschlichen Extremsituation des Sterbens. Bekenntnis zur Evaluation ist nicht nur aus ökonomischen Gründen (um sozial sein zu können!), sondern auch im Sinne des ständigen Fortschritts der Wissenschaft unabdingbar, auch und gerade für die Psychotherapie, obwohl jene Notwendigkeit von manchen Psychotherapeuten bekämpft, ja als unmöglich hingestellt wurde. Die Evaluationsbereitschaft soll aber nicht zur Evaluationssucht werden. Die neuen medizinischen Zauberworte „Statistische Signifikanz“ und „Evidence based medicine“ sollten die Medizin nicht so verkomplizieren, dass sie sich schließlich selbst hemmt. Neben hohen Zahlen von „doppelt blind randomisierten cross-over-Untersuchungen“ gibt es auch klinische Evidenz und Wahrscheinlichkeit. Kuhn (kürzlich im 94. Lebensjahr verstorben) hat die antidepressive Wirkung des Tofranil 1957 an 7 gut beobachteten Fällen entdeckt, beschrieben und damit die neue Ära der Anti-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Integrierte Psychotherapie (n. Barolin) • Will direkt auf den Patienten zugehen und nicht darauf warten, bis dieser in einen isolierten Elfenbeinturm der Psychotherapie Einlass begehrt, somit sich dem gesamten Gesundheitssystem zur Verfügung stellen und möglichst alle erreichen, die ihrer bedürfen: – die psychogen Beeinträchtigten, – mit ihrer psychosomatischen Auswirkung, – die Patienten mit primär körperlichen Beeinträchtigungen unter MitBerücksichtigung ihrer psychischen Begleit- und Folgeerscheinungen: – speziell in der Rehabilitation, – Menschen höheren Lebensalters, – bis hin zur Sterbebegleitung. • Sie betrifft die gesamte „somato-psycho-soziale Einheit Mensch“, und verwendet dazu psychische Mittel, die sowohl psychotrop als auch somatotrop angreifen können, in Koordination mit allen Instanzen, die den Menschen betreffen: – medizinische (Medikation, Physiother. etc.) – Pflege – medizinische Assistenzberufe – Sozialarbeit – Administrat. – Pädagogik – Geragogik – Seelsorge, etc. • Dazu ist wechselseitige Kenntnis der Nachbargebiete vonnöten: Psychotherapeutisches Grundverständnis mit der entsprechenden Einstellung und Aktion, auch bei den nicht gezielt Psychotherapie-Treibenden: basale Psychotherapie • Psychotherapeut. „Schulen“ sollen als solide Lernbasis dienen. Anwendung soll jedoch schulübergreifend sein: „Patienten-zentriert, statt Schul-zentriert“ • Dazu muss integr. Psychother. auch „sozial-integriert“ und integrierbar sein mit Bekenntnis – zur Ökonomie (i. S. „Sozialethik“), – damit auch zur Evaluation. • Wissenschaft und Praxis müssen Hand in Hand gehen, eingebunden in ein übergeordnetes human-ethisches Postulat, mit einer besonders ausgeprägten kommunikativen Komponente. Abb. 1 Diese Abbildung soll einen Überblick geben, was hier zu erwarten ist und zugleich als Zusammenfassung für Integrierte Psychotherapie dienen (A3). Diese will sich allen anderen medizinischen Disziplinen und allen Gesundheitsberufen – mit dem Ziel einer Optimierung der Therapie für den Patienten – assoziieren (auch schon: Barolin 1997).
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depressiva in der Psychiatrie eingeleitet! Auch schicken wir unsere Kinder in die Schule, obwohl es nirgends doppelt-blind randomisierte Vergleichsuntersuchungen gibt, ob sie sich mit oder ohne Schule besser entwickeln. Das gleiche gilt für die Rehabilitation. Es wäre wohl (ebenso wie das Daheimlassen der Kinder aus der Schule) unethisch, Patienten mangels solcher Untersuchungen nach einem Schlaganfall nicht in die Rehabilitation zu schicken. Wenn in den Diskussionen in meiner Arbeitsgruppe übereifrige Kollegen nach mehr Statistik und mehr Evidenz fragten, pflegte ich gegenzufragen: „Wenn Ihre Mutter schwer krank ist, geben sie ihr dann nicht alles, was irgendwie wahrscheinlich gute Wirkung haben kann, auch wenn es noch nicht der evidence based medicine entspricht?“. Ich habe kritische Prüfungen mit Wirkungsstatistiken immer verlangt. (Davon zeugen auch zahlreiche klare Wirkungsübersichten aus meinem Arbeitskreis in den vorliegenden Zeilen). Ich wehre mich nur dagegen, dass eine übertriebene Überprüfungssucht als Vorwand für therapeutischen Nihilismus dient.
Nicht die Postulate einer Schule, sondern die bestmögliche Wirkung auf den Patienten soll im Vordergrund stehen, ist ein weiteres Prinzip der Integrierten Psychotherapie. Das soll natürlich nicht heißen, dass für die Lehre die einzelnen „Schulen der Psychotherapie“ überflüssig oder gar abzulehnen sind. Es hat dies vielmehr seine Parallele in unserem allgemein-medizinischen Lehr- und Lerngebäude, wo man auch zuerst das „Klassische“ und „Typische“ lernen muss. Aber in der Praxis gilt es darüber hinaus zu schauen, um Optimales zu erreichen.
Auch lernen wir alle ständig von Patienten und müssen die entsprechende Bescheidenheit aufbringen, diese Lehren vom Patienten entgegen zu nehmen. „Abschied von der eigenen Göttlichkeit“, so hat Bartl das genannt. Ein fortschrittlicher Gruppengeist (Gruppenzusammenhalt) im Bereich der Arbeitsgruppe des Gesundheitsberufes sollte auch ermöglichen, über die eigenen Erfolge, Misserfolge und Fehler zu sprechen und damit sich selbst als Beispiel zur Diskussion zu stellen. Die „somato-psycho-soziale Einheit Mensch“ sei noch etwas näher beleuchtet. Sie steht im Gegensatz zu der älteren Auffassung, dass Körper und Seele zwei Funktionsprinzipien sind, die getrennt voneinander respektive nebeneinander funktionieren. Das wird als „psychophysischer Dualismus“ bezeichnet. Dieser Auffassung folgte u. a. Freud (wie Wesiack festgestellt hat). Die Auffassung, dass es sich hier um ein einziges Funktionssystem mit nur unterschiedlicher Ausdrucksweise handelt, wird – abgesehen von den klinischen Erfahrungen – auch durch die moderne Neurobiologie unterstrichen (wie noch gezeigt wird). Auch die ganze Lehre von der Psychosomatik beruht auf jenem Funktionsprinzip der Einheitlichkeit. Jene somato-psycho-soziale Einheit wird vielfach auch als „bio-psycho-soziale Einheit“ bezeichnet. Das ist aber eigentlich ein Pleonasmus. Denn die Vorsilbe „bio“ (von bios = Leben) betrifft das ganze Leben mit Körper, Seele und Umwelt – siehe Biologie, die auch den umfassenden Lebensbegriff behandelt, im Gegensatz zur reinen Morphologie (Lehre vom Körperbau. – Definition aus Meyer’s Lexikon). – Daher ist die Bezeichnung physio-psycho-sozial oder somato-psycho-sozial adäquat; sie wurde auch von mehreren Anderen verwendet z. B. LubanPlozza und Pöldinger; Gabriel; sowie Ditz. – Ich bleibe also bei „somato-psycho-sozial“!
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Mehrfach wurde urgiert, dass unter jenen 3 Komponenten, Somatisch + Psychisch + Sozial, eine 4. Komponente für das Menschsein, nämlich die spirituelle, fehlt. Sie müsse zusätzlich genannt werden. Spiritualität bezeichnet die über das Naturwissenschaftliche hinausgehende menschliche Dimension, welche Suche nach Lebenssinn und -ausblick sowie ethische und religiöse Werte mitenthält. Ist dadurch transpersonal (berücksichtigt also nicht nur das Individuum selbst, sondern auch die anderen). Einerseits hat die Psychologie einen Brückenschlag dazu versucht; anderseits betrachtet sie die menschliche Psyche weitgehend unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten (Weidinger). Ich glaube aber doch, dass man Spriritualität unter den psychischen Faktoren subsumieren kann, so wichtig ich sie auch nehme (vergl. dazu auch F3: Spiritualität in der Sexualität).
Abbildung 2 zeigt schematisch, wie man sich die Zusammenhänge zwischen Psyche, Soma und Umwelt vorstellen und insbesondere auch, wo und wie dabei die Psychotherapie eingreifen kann. Es ist also ein Regelkreissystem anzunehmen, welches in mehrfacher Weise eine wechselseitige Beeinflussung bedingt. Es wirkt nicht nur Psychisches auf Psychisches und Körperliches auf Körperliches (wie im allgemeinen Verständnis klar ist [dicke Pfeile]), sondern auch Psychisches auf Körperliches und Körperliches auf Psychisches (punktierte Pfeile). Das führt uns zum Begriff der Psychosomatik, worauf im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Beispielhaft denke man für die psychische Wirkung körperlicher Maßnahmen an: • Beruhigende Wirkung von warmen Bädern. • Patienten beginnen oftmals ihr Herz auszuschütten, wenn sich ein Masseur 45 min. lang intensiv um sie bemüht und ihren „Körper verwöhnt“. Oftmals wissen so die Masseure wesentlich mehr von den Patienten als die zuständigen Ärzte. Es entspricht einem guten Zusammenarbeiten in der Arbeitsgruppe (gemeinsame Besprechungen), dass dann auch ein für den Patienten nützlicher Wissensaustausch stattfindet. • Es gehört zu den in der Massage gelehrten Grundsätzen, dass Striche in Kopfrichtung aktivieren und Streichen in Fußrichtung beruhigt. • Über die auch psychisch günstigen Einflüsse körperlicher Maßnahmen bei umschriebenen Krankheits- oder Leidensbildern findet man in B3 bezüglich der Depressionen und in Abschn. G bezüglich der Schmerztherapie einiges. Die körperliche Wirkung psychischer Maßnahmen kommt in dem vorliegenden Buch noch vielfach zum Ausdruck, speziell bei den verschiedenen körperlichen Wirkungen des hypnoiden Zustandes (Hypnose, AT, etc. [A3 – Abb. 4, C1, C3, C4]). Psychotraumata (im negativen Sinn) und Psychotherapie (im positiven Sinn) können überdies direkt hirnorganische Wirkung entfalten (siehe folgend Neurobiologie).
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Die somato-psycho-soziale Einheit Mensch: pathophysiologische und therapeutische Wege Somatische Therapie om y c h os a t i k “ „ Ps
Somatische Störung
Psychische Störung
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Psychotherapie Systemischer Ansatz Umfeld und Sozialisation Abb. 2 Die Zusammenhänge zwischen Psyche und Soma (Schlagwort: somato-psycho-soziale Einheit Mensch) bilden ein mehrfach ineinandergreifendes Regelkreissystem, in welchem auch Therapien an unterschiedlichen Stellen angreifen können. Ausgezogene Pfeile = Hauptrichtung. Strichlierte Pfeile = Wirkrichtung, die weniger evident ist, jedoch speziell für die vorliegenden Ausführungen eine Rolle spielt. – Siehe Text und Abb. 3.
Neurobiologie Im Rahmen neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse verwischen sich die Grenzen zwischen „dem Körperlichen“ und „dem Psychischen“ weitgehend. Das hat Rüegg kürzlich eindrucksvoll dargestellt, und der Titel seines Buches „Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn – neurale Plastizität als Grundlage einer biosozialen Medizin“ gibt schon Wesentliches daraus wieder; weiters Gottwald; Hüther; sowie Bauer.
• Neuronale Plastizität besagt, dass das Gehirn bis ins späte Alter in der Lage ist, immer noch neue Synapsen zu bilden und so auf neue Anforderungen durch strukturelle Veränderungen zu reagieren.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Worte, Sprache, Kommunikation, damit auch Psychotherapie können nachweislich veränderte Hirnfunktionen mit lokalen Schwerpunkten bedingen; messbar mit verfeinerten biochemischen Methoden funktioneller Kernspintomographie (MRT) und Positionentomographie (PET). Die Kaudatusaktivität ändert sich analog wie bei Medikation, Stresswörter hingegen wirken speziell im Bereich der Amygdala, ähnlich wie Depression. • Frühere und speziell frühkindliche Erlebnisse können ein „Stressgedächtnis“ im Gehirn hinterlassen, welches für neuerlich stressende Situationen stärker empfänglich macht als beim Gesunden. • Durch dauernde „Eingravierung“ derartiger psychisch bedingter hirnorganischer Veränderungen entstehen „neue Landkarten“ im Gehirn. Sie können jedoch auch wieder gelöscht werden, indem Lernvorgänge synaptische Verbindungen zwischen zwei Neuronen schwächen. Dies wird „Extinktion“ genannt. Übrigens zeigen auch Phantomschmerzen deutliche Veränderungen jener „Landkarten“ an. Vergleiche G3, gute Beeinflussbarkeit von Phantomschmerzen durch Hypnose. • Die Hypophysen-Nebennieren-Achse ist dabei von großer Bedeutung. So kann das Stresshormon Cortison gewisse Gedächtnisleistungen deutlich hemmen. Über jene Achse ist auch erklärbar, was wir Psycho-Neuro-Immunologie nennen. • Auch die „Kommunikation mit uns selbst“ (also Gedanken) können zerebral umstrukturieren. Selbst Spiritualität und Stimmung haben ihr neurophysiologisches Korrelat. Hüther hat gezeigt, dass um 6 Jahre herum das Maximum von neuronalen Verschaltungen besteht und das Nichtverwendete bis zum 14. Jahr wieder weggeräumt wird. Liebesgefühl und Geborgenheit sind fördernde Faktoren, Angst und Enttäuschung schädigende. Zum Lernen fügt Gottwald hinzu: Es kann als eine Weiterentwicklung von bisherigen neuronal verankerten Mustern durch korrigierende Neuerfahrung angesehen werden. Dazu sind folgende Punkte wichtig: • Die richtige Mischung von Vertrautheit und Neuem. • Darbietung eines Sachverhaltes unter Einbeziehung möglichst vieler Sinneskanäle. • Gleichzeitige Unterstützung der Abspeicherung im Gedächtnis durch positive Emotionen und Belohnungen, während Stress die Speicherung deutlich verringert. • Ein angemessenes Ausmaß von Herausforderung. • Gleichzeitig Vermeidung von Reizüberflutung. • Ausreichende Wiederholungen. Somit ist der alte Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ nur teilrichtig. Zwar werden die Haupt-Grundlagen für das spätere Lernen schon im Vorschulalter gelegt und verkümmern bei Nichtbenutzung auch anatomisch bis etwa zum 14. Lebensjahr (Musik, Sprachen). Es können sich aber auch im hohen Lebensalter einige neue Vernetzungen bilden als Ausfluss späten Lernens. Das ist einerseits für die sinnvolle Gestaltung des Alters wichtig, andererseits aber für die Kindererziehung (F1). Diesbezüglich ist vor allem zu bedenken, dass heute Kinder im Vorschulalter bis zu 1000 Stunden jährlich (!) beim Fernsehen verbringen, damit nicht nur erzieherisch schädigende Gewaltbilder introjiziert bekommen, sondern die Zeit überdies für soziales und kommunikatives Lernen völlig verlieren (Liebenow).
Konnten somit die wesentlichen neuen Erkenntnisse betreffend die (wie ich es nennen möchte) Stimmungs-Neurobiologie und Lern-Neurobiologie aufgezeigt werden, so gibt es auch neue Erkenntnisse über die „BeziehungsNeurobiologie“. Man nimmt dafür „Spiegelneurone“ als substanzielle und funktionelle Träger an. Bauer hat das in einem sehr lesenswerten Buch zusammengefasst, das den aussagekräftigen Titel führt:
A. Grundsätzliches / A2. Erfahrungsgut und Vorsatz
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„Warum ich fühle, was du fühlst“ (intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone). Daraus: • Schon das Neugeborene reagiert auf die freundliche Miene der Hauptbezugsperson (meist Mutter) durch einen ebenfalls freundlichen Gesichtsausdruck und imitiert Mundbewegungen der Mutter. Das funktioniert nur beim persönlichen Bezugspartner, nicht aber mit einer Attrappe; analog auch im Tier-Experiment bei Affen (Rizzolatti). • Das bereits beim Kleinkind „Eingespiegelte“ wirkt weiter in der menschlichen Beziehung, die aber ständig neue Einspiegelungen mit entsprechender Imitation und Gegenspiegelung sowie entsprechendem Gefühlsinhalt verursacht. • Auch bei der menschlichen Intensiv-Beziehung der Liebe kommt es zum Tragen: Wenn zwei miteinander im Bett sind, so sind es eigentlich vier, nämlich neben A und B auch der (die) Spiegel-A und Spiegel-B. Wir finden hier also die Grundzüge dessen, was wir seit langem in der Psychotherapie wissen, in dem neuen Wissen über die Spiegelneurone wieder. • Die Wesentlichkeit der frühkindlichen Beziehung + deren Weiterwirken als Grund-Matrix, aber mit ständig neuen Erfahrungen und Modifikationen. • Es ergibt sich so, das, was wir (je nach Terminologie) folgendermaßen bezeichnen: „Stimmung“, „Empathie“, „Sympathie“, „Übertragung“, „Gegenübertragung“, „Identifikation“, „Vorbild“, „Liebe“ etc. Einige eigene angewandte Lehrpraktiken – vergl. Vw., auch Gestaltung vorliegenden Buches – finden mit Vorgesagtem ihre neurobiologische Legitimation: • Das fallweise etwas Anekdotenhafte, • Die Vermischung von scheinbar Banalem und Bekanntem mit neuen Ergebnissen und Erkenntnissen, • Die Lustbetonung, nicht zuletzt auch durch die ausgezeichneten Bilder unseres Mitautors Biedermann, • Fallweise Wiederholungen, • etc., etc.
Die Psychotherapie kann also neben verschiedenen anderen somatischen Wirkungen auch direkt hirnorganische entfalten. Gleiches gilt für Lernen und Nicht-Lernen.
A2.
Erfahrungsgut und Vorsatz
Schlagwort-Information: Ich berichte über lebenslange Eigenerfahrung, in welcher die Psychotherapie mit gleichzeitiger somatischer Erfassung des Patienten einherging.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Dieses Zwischenkapitel möge nicht als Überwertung der eigenen Wichtigkeit aufgefasst werden! Es wird eingeschoben, weil besonders bei der vorliegenden Thematik Autorenpersönlichkeit und Erfahrungsgut einen wesentlichen Stellenwert für gewisse Statements und Erfahrungen haben. Ich entstamme der Wiener medizinischen Nachkriegsschule, wo noch Neurologie, Psychiatrie und Neurophysiologie in einem Fach vereint waren, wenn auch der Einzelne üblicherweise sich mehr hierhin oder dorthin spezialisierte. Psychotherapie lief in der Psychiatrie mit und in privaten Vereinigungen. Mein Interesse gehörte schon seit der Gymnasialzeit (ich weiß nicht warum) der Psychiatrie und Psychotherapie. Was ich aber da zu sehen und zu hören bekam, erschien mir bedenklich diffus und verschwommen. Daher „verordnete“ ich mir (nach meinem ersten ärztlichen Jahr in einem allgemeinen Landspital) ein Jahr Neurologie mit ihrer exakten Lokalisationslehre etc.*) Aus dem einen Jahr wurden 14 Jahre, die ich bei meinem klinischen Lehrer Reisner verbrachte. Dieser war kein Psychotherapeut, aber offen für alles Neue. So ermöglichte er mir, während der ganzen Zeit, die ich unter seiner Ägide verbrachte, etwas für die klassische Neurologie ganz Abwegiges zu treiben – so wurde es damals vielfach aufgefasst – Psychotherapie! Mir gelang es relativ lange, in den genannten 4 Sparten der Neurowissenschaft praktisch am Patienten sowie in Lehre und Forschung tätig zu bleiben. Das Autogene Training und die katathyme Imaginationspsychotherapie konnte ich bei ihren Begründern J. H. Schultz und H. Leuner persönlich kennenlernen und vertiefen. Mit diesen beiden Pionieren durfte ich ein Leben lang weiterhin fruchtbaren Gedankenaustausch pflegen, ebenso mit Frankl. Vor allem aus der Verbindung zwischen Neurophysiologie und Psychotherapie entstanden einige Arbeiten zur Neurophysiologie des Hypnoids, welche in diesem Band auch kurz erwähnt werden. Späterhin führte ich als Abteilungsvorstand die neurologische Schwerpunktabteilung eines österreichischen Bundeslandes und konnte in diesem Rahmen zusätzlich das erste österreichische wissenschaftlich-klinische („Ludwig-Boltzmann“)**) Institut für Neuro-Rehabilitation gründen. Wieder nahm ich mein psychotherapeutisches Interesse mit, diesmal in die klinische Neurologie und in die Neuro-Rehabilitation. Ich versuchte, neben wissenschaftlicher Arbeit, Lehr- und Administrationstätigkeit, auch immer möglichst nahe am Patienten zu bleiben. Ich versuchte, meinen Mitarbeitern das Gedankengut einer in die gesamte Medizin integrierten Psychotherapie zugänglich zu machen, und bildete etliche von ihnen zu Fachpsychotherapeuten aus. Bei der Entwicklung der im neuen Psychotherapie-Gesetz in Österreich relevanten Qualifikationen war ich mitbeteiligt und bin logischerweise auch Inhaber dieser, nämlich: „Psychotherapeut“, „Ärztekammer Psy-Diplom III für psychotherapeutische Medizin“, „Lehrtherapeut“. Meinerseits bestehen nur beschränkte Erfahrungen in der Psychotherapie bei PsychosePatienten und bei denjenigen schweren Neurosen, die meist stationär behandelt werden. Auch mit den klassisch als psychsomatisch bezeichneten Kranken, die in eigenen psychosomatischen Abteilungen behandelt werden (häufig im Zusammenhang mit der Inneren Medizin), hatte ich weniger zu tun. (Trotzdem wird sich im Folgenden zeigen, dass ich Einiges zur „Psychosomatik“ sagen kann und werde.)
*) Das dem ein Durchfallen beim (damals gemeinsamen) Rigorosum für Neurologie und Psychiatrie voranging, sollte nicht unerwähnt bleiben und möge Manchem zum Trost dienen. **) Es entspricht ungefähr den Max-Planck-Instituten in Deutschland (leider mit weniger Geldmitteln).
A. Grundsätzliches / A2. Erfahrungsgut und Vorsatz
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Größere lebenslange Erfahrung besteht hingegen mit Patienten, die auf Abteilungen liegen, welche nicht ausdrücklich der Psychiatrie, der Psychotherapie oder der Psychosomatik gewidmet sind. Es betrifft das: • Langjährigen klinischen Konsiliardienst auf allgemeinen Abteilungen. • Die neurologische Schwerpunktabteilung und das Ludwig-BoltzmannInstitut für Neuro-Rehabilitation und Prophylaxe, wo ich 22 Jahre hindurch Vorstand war. Der Rehabilitationspatient war nicht nur mit seinen körperlichen Beschwerden mein Anliegen, sondern auch mit den Problemen, die sich psychoreaktiv daraus entwickeln. • Eine Fülle von ambulanten Patienten, teils aus stationären Nachbetreuungsfällen, teils aus der Facharztpraxis. Diese Patienten sind nach Bochnik und Mitarb. „das weitaus größere Heer der Psychotherapie-bedürftigen Patienten, die ein leid- und krankheitsbeladenes Leben zu gestalten haben“. Es ist also keine Minorität von Psychotherapie-Patienten, über die ich berichten kann, sondern eher der große Durchschnitt, mit neurotischen und situationsbedingten Störungen. Schließlich ist noch eine weitere „persönliche Qualifikation“ zu erwähnen, die ich (leider) auch erreichen konnte. Ich bin nämlich seit 5 Jahren Schlaganfall-Patient und sehe als solcher die Probleme der Psychotherapie insbesondere in der Rehabilitation auch aus dem Blickwinkel des Betroffenen. Auch manche andere Erfahrungen des Selbst-Älter-Werdens, die man weder in Büchern liest, noch im Studium lernt, sind eingeflossen. Die klinischen Positionen habe ich nun als Pensionist verlassen und möchte gern das über ein Leben lang akkumulierte Wissen und Können weitergeben; wobei jedoch die Jahreszahlen im endständigen Literaturverzeichnis zeigen, dass ich auch die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen mit einbezogen habe. Ich möchte einen großen Kreis von Interessenten in den psychotherapeutischen, medizinischen und paramedizinischen Berufen ansprechen, wie schon in meinem Vorwort näher aufgezählt, vor allem aber eine aufstrebende Jugend mit Altem und Neuem bekannt machen, damit sie einerseits viele neue Wege sinnvoll begeht und andererseits doch sieht, dass nicht alles Alte schlecht ist oder war.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
A3.
Was ist Psychotherapie und was kann sie?
Schlagwort-Information: Es wird klargestellt, dass Psychotherapie die gesamte somato-psychosoziale Einheit Mensch betrifft. Die daraus resultierende somatotrope Wirkung der Psychotherapie wird besonders betont und erklärt.
Das so viel gebrauchte Wort „Psychotherapie“ wird keineswegs gleichsinnig verstanden und definiert. Daher ist ein Exkurs über die Definition nicht überflüssig. Ich unterscheide zwischen der Psychotherapie als eigenständigem Beruf, die ich im Folgenden „spezifische Psychotherapie“ nenne und einer „basalen Psychotherapie“, die ich gleichsetze mit psychotherapeutischer Grundeinstellung und Grundauffassung (es wird darauf in A6 noch näher eingegangen).
Wir definieren Psychotherapie: 1. Behandlung der (ganzen) somato-psycho-sozialen Einheit Mensch mit psychischen Mitteln, 2. Die einer lehr- und lernbaren Methode folgt, 3. Mit dem Ziel einer Besserung (bestenfalls Heilung) von Krankheitsoder Leidenszuständen.
Punkt 2 bezieht sich natürlich speziell auf die „spezifische“ (Zusatz-)Ausbildung. Aber auch die basale Psychotherapie bedarf des gezielten Lehrens und Lernens. Die Definition für Psychotherapie als „seelische Krankenbehandlung“ stammt schon von J. H. Schultz. Die „lehr- und lernbare Methode“ entstammt der Strotzka’schen Definition. Sie grenzt (in Übereinstimmung mit unserer Ansicht) die Psychotherapie gegen freundliche Grußworte mit „auf die Schulter klopfen“ ab, wenn auch diese – siehe auch später: starke Suggestivwirkungen des Arztgesprächs – psychotherapeutische Wirkung erzielen können (sollen!) vor allem plus stützenden und ermutigenden Worte (vergl. B1). Aber sie sind eben doch keine spezifische Psychotherapie (gehören evtl. zur basalen Psychotherapie). Im Übrigen können wir uns jedoch mit der Strotzka’schen Definition nicht identifizieren. (Siehe noch später bei den Psychotherapie-Gesetzen.)
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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Der Begriff „somato-psycho-soziale Einheit“ wurde schon in A1 näher beleuchtet. Wichtig scheint uns die Betonung, dass wir die ganze Einheit „Mensch“ mit psychischen Mitteln behandeln, nicht etwa nur „die Psyche“. Leider wurde diese Fehlauffassung auch von kompetenten Psychotherapeuten unterstützt (mittels des propagandistisch gut verwertbaren Ausdrucks des „Seelenarztes“), was zur Verwirrung beigetragen hat. Elektrotherapie heißt aber nicht Behandlung der Elektrizität, sondern mittels Elektrizität, und so bedeutet die Vorsilbe „Psycho“ auch, dass mit Hilfe von psychischen Methoden behandelt wird (im Gegensatz etwa zu Pharmakotherapie, wo Pharmaka eingesetzt werden, Physiotherapie, die über den Körper geht, etc.). Abgesehen davon würde das Konzept einer isolierten Behandlung „der Psyche“ einen Rückfall in die antiquierte dualistische Auffassung vom Menschsein bedeuten.
Das Ziel der Besserung von Leidens- oder Krankheitszuständen (wie es in alten Psychotherapie-Definitionen rangiert) veranlasst mich auch weiterhin beim Psychotherapieempfänger vom Patienten zu sprechen. Während, insbesondere die aus der Psychologie kommenden, Psychotherapeuten den Patienten lieber als Klienten bezeichnen. Patiens heißt (aus dem Lateinischen) der Leidende. Klient kommt vom lateinischen Cliens, bedeutete ursprünglich den Hörigen, der aber auch den Schutz seines Herrn genoss. Daraus hat sich der schutzbefohlene Klient beim Rechtsanwalt ergeben. Aus unserer PsychotherapieDefinition ergibt sich eigentlich ziemlich klar, dass wir es mit Patienten zu tun haben und nicht entweder mit Hörigen oder nur Beschützten. Aber über Worte muss man keineswegs streiten, Hauptsache, dass (unter welcher Benennung auch immer) wirklich dem Hilfebedürftigen sinnvoll geholfen wird.
Wenn auch in obiger Definition die spirituelle Komponente des Menschen nicht wörtlich enthalten ist, so sehen wir sie doch unter „psychisch“ subsummiert (A1). Die Psychotherapie wird also die spirituelle Komponente jeweils als wichtigen Teil der psychischen Komponente mit zu berücksichtigen haben. Bei der Sexualität (F3) gehen wir speziell darauf ein, auch in der Palliativtherapie (F4); wir legen dort auf die sinnvolle Zusammenarbeit mit dem Seelsorger besonderen Wert. Die Mitberücksichtigung der Religiosität (als einen wesentlichen Teil der Spiritualität) in der Psychotherapie soll nicht heißen, dass der Psychotherapeut „religiös“ sein muss, aber in der „Ressourcen-Mobilisierung“ (s. später) kann die Religiosität des Patienten ein ganz wesentlicher Faktor sein. Sie ist also zu respektieren und nach Möglichkeit einzubauen. Rudolf (2000) liegt auf der gleichen Linie mit unserer Definition, verwendet dafür aber eine noch kürzere Formulierung: „Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln“; ebenso Schüssler (1995) mit: „Behandlung von Kranken und leidenden Menschen mit psychologischen Mitteln und Methoden, gleichwertig zur Pharmakotherapie oder zu operativen Methoden“.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Hingegen müssen wir die Definition von Senf und Broda (1996) ablehnen. Mit „Krankenbehandlung bei seelisch bedingten Krankheiten, Beschwerden und Störungen“, schließt sie die mögliche Wirkung der Psychotherapie auf körperliche Störungen aus, ebenso wie Strotzkas Definition, die sogar in 2 Gesetze Einzug gehalten hat. Dagegen sprechen nicht etwa nur die theoretischen Erfahrungen, wie im Folgenden noch näher ausgeführt. Vergl. Abb. 4.
Gesetze / Recht In den Psychotherapie-Definitionen des österreichischen sowie deutschen Gesetzes (Lenz, Küfferle; Köhle und Mitarb.) ist manches sachlich und logisch nicht nachvollziehbar (Abb. 3). Dabei wurde offensichtlich ziemlich viel von Strotzka’s schon vorher existierender Definition übernommen, nämlich, (wie gesagt) die psychotherapeutische Behandlung von primär körperlichen Störungen eigentlich ausgeschlossen. (Wenn sich bisher auch noch niemand gefunden hat, der das eingeklagt hätte.) Überdies ist in beiden Gesetzen etwas passiert, was uns unsere Gymnasiallehrer für den „Deutschen Aufsatz“ strikte verboten haben. Es wird nämlich ein Begriff mit sich selbst erklärt: Psychotherapie mit psychotherapeutisch. Trotzdem sind es derzeit geltende Gesetze, wie es eben so in der Politik sein kann! „Historisch“ ergibt sich dazu, aus meiner „Zeitzeugen“- und Mitgestalter-Sicht, folgende Erklärung: Bei der Entstehung des österreichischen Psychotherapie-Gesetzes um 1990 gab es heftige Grabenkämpfe. Eine Psychologie-Lobby wollte die Psychotherapie ganz an die Psychologie binden und versuchte sogar den Ärzten die Psychotherapie gesetzlich zu verunmöglichen. Deswegen legte man dortseits auch großen Wert darauf, dass die Psychotherapie nur auf psychische Störungen wirken sollte. Die Ärzte konnten aber (logischer- und vernünftigerweise) doch durchsetzen, dass die Psychotherapie – als altes ärztliches Erfahrungs- und Behandlungsgut – für die Ärzte erhalten bleibt. Aber im österreichischen Gesetz ist die
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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Einengung der Psychotherapie auf psychische Störungen bestehen geblieben. (Wie es in Deutschland dazu gekommen ist, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich in Anlehnung an das schon früher bestehende österreichische Gesetz).
Gesetzliche Psychotherapie-Definitionen Österreich „Psychotherapie ist die nach einer allgemeinen und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewusste und geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern.“ Deutschland „Psychotherapie umfasst die Erkennung, psychotherapeutische Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Erkrankungen, an deren Verursachung psychosoziale Faktoren einen wesentlichen Anteil haben sowie von Belastungsreaktionen infolge körperlicher Erkrankungen.“ Abb. 3 Die derzeit geltenden Gesetze weisen leider sachliche und logische Fehler auf, die historisch erklärbar sind (siehe Text). Einiges über wesentliche Zusammenhänge zwischen Recht und Psychotherapie ist hier im Buch überdies zu finden: • Das fortschrittliche österreichische Krankenanstaltengesetz: A1; • Begutachtung: A3, G; • Psychotherapie als Körperverletzung sowie Schädigung durch Therapeuten: H; • Eherecht: F3; • Patiententestament, Organentnahme: F4; • Aufklärungs- und Wahrheitspflicht: B; • Inzest: F3.
Gesetzliche Ausbildungswege in den deutschsprachigen Ländern In Österreich gibt es derzeit zwei mögliche Ausbildungswege und Berufsbilder: einerseits „der Psychotherapeut“, welcher keine ärztliche Vorbildung haben muss und der „Arzt für Psychotherapeutische Medizin“, für welchen das ärztliche jus practicandi Vorbedingung ist. In der Berufsausübung haben beide nun die gleichen Rechte. Sie müssen beide ungefähr zusätzliche 2000 Stunden (Propädeuticum, Theorie, Praxis, Selbsterfahrung, Supervision) machen. – Wenn ich im Folgenden nicht mehr immer beide Berufsbilder nebeneinander nenne, so beziehe ich mich nicht auf deren gesetzliche Unterscheidung, sondern meine mit dem Psychotherapeuten oder dem psychotherapeutisch Tätigen sowohl den Psychotherapeuten als auch den Arzt für
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Psychotherapie (laut österreichischem Gesetz); resp. für das deutschsprachige Ausland: den dort für Psychotherapie Berechtigten. Der Schweizer Psychotherapeut muss ein absolviertes Studium einer Humanwissenschaft nachweisen plus 400 Stunden theoretische psychotherapeutische Ausbildung, plus 300 Stunden Selbsterfahrung, plus 250 Sitzungen Supervision, plus ein Jahr Vollzeitpraktikum in einer Institution. (Quelle: Schweizerischer Psychotherapeuten-Verband SBV ASB Statuten März 2002). In Deutschland gibt es mehrere Kategorien: 1.) Die psychosomatische Grundversorgung, 2.) Die Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“, 3.) Die Gebietsbezeichnung „Psychotherapeutische Medizin“, 4.) Die Zusatzbezeichnung „Psychoanalyse“. Die Einzelheiten sind bei Köhle und Mitarb. einzusehen. Diese Seitenblicke auf die (ja relativ kurz zurückliegende) Entstehung der PsychotherapieProfession einschließlich einiger Merkwürdigkeiten, wollen rein historisch und sachlich aufgefasst werden. – Es liegt mir keineswegs daran, alte Gräben aufzureißen, vielmehr an Zuschüttung alter Gräben; umso mehr als ich selbst auf vielfache ersprießliche Zusammenarbeit mit Psychologen zurückblicke. (Vw., C1.)
Psychosomatik Die wechselseitige Wirkung von Soma und Psyche wurde schon in A1 bei Abb. 2 angesprochen. Das Regelkreissystem gilt in allen Richtungen, sowohl im Sinne der Verursachung als auch im Sinne der Therapie (Schüssler). Dazu kommt der soziale Faktor. Wesiack (2003) sagt dazu, dass (vielfach fälschlich) die mehrfachen Interaktionen in jenem Regelkreissystem mit einer eindimensionalen Krankheitsgenese verwechselt wurden (vgl. auch Rudolf). Abb. 4 zeigt eine ausdrückliche Versuchsanordnung zur Demonstration der körperlichen („somatotropen“) Wirkungen von psychotherapeutischen Maßnahmen: „Rein“ somatische Lähmungen konnten durch Hypnose günstig beeinflusst werden (Simma und Barolin). Diese Möglichkeit der günstigen somatotropen Hypnosewirkung kommt noch im Kap. C3 mehrfach zur Sprache und zeigt sich auch bei der Selbsthypnose des Autogenen Trainings und anderen Hypnoid-Methoden (E). Psychosomatik ist ein großes Gebiet, hängt aber natürlich wechselseitig eng mit Psychotherapie zusammen, dementsprechend auch Schüssler’s Buch: „Psychosomatik/Psychotherapie“. Er bezieht sich auf Engel, der sagt: „Strictly speaking, there can be no psychosomatic disorder, just as there can be no biochemical or physiological diseases. Rather diseases have their psychosomatic biochemical and physiological components or aspects.“ Es gibt also keine psychosomatische Krankheit, sondern nur die psychosomatische Betrachtungsweise einer Krankheit. In gewissem Sinn ist somit jede Krankheit psychosomatisch oder somato-psychisch. Uexküll’s 2003 in der 6. Auflage erschienene „Psychosomatische Medizin“ mit über 1600 Seiten enthält viel Psychotherapeutisches. Von Pieringer gibt es ein rezentes Themenheft über psychosomatische Medizin, in dem er (mit Mitarbeitern) ausführt, dass „psychotherapeutische Medizin keineswegs nur die Arbeitsfähigkeit bezwecken darf, sondern eine neue Sinnorientierung und ein persönliches Weltbild“.
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A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie? / Psychosomatik
Bartl hat treffend gesagt (und ich stimme dem völlig zu): Psychosomatik muss sich zu einer allgemeinen fachübergreifenden diagnostischen und therapeutischen Haltung des Arztes entwickeln (III.A).
Kraft
Tonus
Reflexe
Beweglichkeit
Stimmung
Motivation
Status
Ergebnisse von Hypnose-Behandlung bei organischer Lähmung
besser
2
9
6
9
8
7
7
gleich
10
3
6
3
3
3
3
1
2
2
schlechter (N=12 Probanden in je 15 Hypnosesitzungen)
Abb. 4 In einer systematischen Studie konnten wir (Simma und Barolin) nachweisen, dass die Hypnose keineswegs wie vielfach fälschlich angenommen – nur auf funktionelle Lähmungen ihre Wirkung entfalten kann. Unsere „organisch“-gelähmten Patienten (PostApoplex, Parkinson, MS) zeigten auf gezielte Hypnose deutliche Besserungen. – Näheres im Text.
Susanne Ditz definiert Psychosomatik prägnant (und es fasst gut alles Vorgesagte zusammen): Lehre von den körperlich-seelisch-sozialen Wechselwirkungen bei der Entstehung, im Verlauf und bei der Behandlung von menschlichen Erkrankungen. Es steht dahinter eine metaphysisch-philosophische Einstellung zur Totalität des Menschen.
Susanne Ditz erklärt weiterhin die Klassifikation laut ICD und DSM 3 mit Bezug darauf wie folgt: • Man bezeichnet heute als somatoforme autonome Funktionsstörung, was wir traditionell früher als funktionelle Erkrankung bezeichnet haben. Es sind das hartnäckige organbezogene Beschwerden, die kein organisch fassbares Korrelat haben (Konversion, vgl. IV. C1). • Davon abgegrenzt werden psychosomatische Erkrankungen im engeren Sinn. Das sind solche, bei denen psychische Störungen sich relativ stark in körperliche Störungen mit objektiv fassbaren Funktions- oder Organstörungen umsetzen.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Somato-psychische Erkrankungen sind schwere körperliche Erkrankungen, die zu einer beträchtlichen psychosozialen Morbidität führen.
Psychosomatik bei der Frau bedarf aufgrund der zyklischen Schwangerschafts- und Laktationsveränderungen mit all ihren psychischen Komponenten einer speziellen Geschlechts-spezifischen Betrachtung (welche u.a. Mechthild Neises und Susanne Ditz in einem inhaltsreichen Buch wahrgenommen haben). Dementsprechend kommen in Kap. F3 über die Sexualität auch ein männlicher und ein weiblicher Referent zu Worte. Die in der „somato-psycho-sozialen Einheit Mensch“ als letzter Bestandteil rangierende soziale Komponente verlangt vom aufgeschlossenen Psychotherapeuten, das gesamte soziale Umfeld zu bedenken und zu berücksichtigen und dort, wo er kann, Einfluss zu nehmen. • Durch besseres Verständnis zwischen dem Krankenhaus und dem nächsten sozialen Umfeld des Kranken wird dessen Behandlung verbessert. • Die Familie soll vor Überlastung geschützt werden, denn sonst kommt es zum so genannten „Burn-out-Syndrom“. Der oder die Betreuende klappt zusammen, wird selber zum Patienten und der Kranke ist seines wichtigen sozialen Rückhaltes beraubt (B3). • Auch andere Störfaktoren aus der Familien-Beziehung sollen minimiert werden. Dieses Mitbehandeln der Familie kommt im Folgenden mehrfach vor: – Bei der Depression (B3), – Im Alter und in der Rehabilitation (Abschn. F), – Bei den Kindern (Dies ist ein eigenes großes Fach, einige spezielle Aspekte in C5), – In der hausärztlichen Praxis (Siehe Bartl Artikel III C4), – Expressis verbis: in der systemischen Familientherapie (Waidhofer-Artikel IV) und schließlich – In der Psychoeduktion (Lingg-Artikel IX).
Unter „Psychotherapeutischer Medizin“ wird eine Medizin verstanden, bei der psychotherapeutisches Denken und Handeln ständig präsent sind, sowohl in Diagnostik als auch in Therapie. In Österreich hat sich aber mit dem Ärztekammerdiplom für psychotherapeutische Medizin die Bezeichnung für eine psychotherapeutische Zusatzausbildung für Ärzte mit Jus practicandi (etwa 2000 Stunden) ergeben. In diesem Sinne wurde auch die (als Mitherausgeber angeführte) Akademie für psychotherapeutische Medizin gegründet.
Somit stehen die drei Begriffe: • Integrierte Psychotherapie • Psychosomatik • Psychotherapeutische Medizin in engem Zusammenhang, überlappen sich in wesentlichen Bereichen. Jeder der drei Begriffe hat aber eine gewisse Eigenständigkeit.
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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Nun aber fortgesetzt über allgemeine Prinzipien der Psychotherapie, die – gleichgültig unter welchen der oben angeführten Namen sie zur Anwendung kommt – gelten. Durch den Anhang „Therapie“ im Wort „Psychotherapie“ ist klargestellt, dass wir diese als Mittel für leidende oder kranke Menschen anwenden. Es entspricht einem allgemein-medizinischen Grundsatz, dass man dabei nicht nur oberflächlich das Symptom behandelt, sondern auch nach tieferliegenden Wurzeln sucht, um dort nachhaltiger angreifen zu können. Daraus kann sich – über die Wirkung am Symptom hinausgehend – eine Haltungs- respektive Einstellungsänderung des Menschen ergeben. Dies ist aber abzugrenzen gegen Ziele der Menschenveränderung oder gar Menschenverbesserung, wie sie in einem gewissen Überschwang mancherorts aufgekommen sind. Jene beiden Richtungen der Psychotherapie – nämlich die mehr am Symptom-angreifende und die mehr in die Tiefe gehende – ziehen sich durch das ganze psychotherapeutische Gebäude und es wird im Folgenden noch öfter darauf Bezug genommen werden. De facto dürfen sie jedoch nicht als gegensätzlich, sondern als einander sinnvoll ergänzend und ineinander übergehend (siehe noch später) aufgefasst werden. Es wird ja auch niemandem einfallen, bei einer Zahnwurzelentzündung zu sagen: „Man muss entweder operativ die Wurzel sanieren oder analgetisch behandeln“. Es entspricht einfachen ärztlichen Prinzipien, dass beides Hand in Hand zu gehen hat.
Es ist für den Erfolg einer Psychotherapie notwendig, dass eine starke Motivation des Patienten besteht. Diese wird vor allem durch den sogenannten „Leidensdruck“ gegeben. D. h. wenn der Patient nicht unter seinem Symptom leidet, wird er kaum die notwendige Motivation für eine Psychotherapie aufbringen. Denn diese ist – abgesehen vom Zeit- und Geldaufwand – keineswegs immer nur angenehm, sondern kann auch gewisse unangenehme Durchgangsphasen aufweisen. Das Gegenteil vom Leidensdruck ist der so genannte „sekundäre Krankheitsgewinn“, der Psychotherapie praktisch verunmöglicht oder zumindest weitgehend erschwert. Dieser liegt bei Gutachtenssituationen mit Entschädigungsansprüchen oder Pensionswunsch offen zutage, kann aber auch im Verborgenen blühen, etwa bei Rehabilitationspatienten, die sich vor einer ungeliebten heimischen Umgebung fürchten etc. Der Psychotherapeut muss darauf achten, um sich nicht in frustranen Bemühungen zu erschöpfen. Näher dazu noch bei der Schmerztherapie (G).
Eng mit Motivation und Leidensdruck hängt die Freiwilligkeit des Patienten zusammen. Diese macht natürlich die u. U. richterlich verordnete Psychotherapie besonders problematisch (worauf hier nicht näher eingegangen wird). In der klassischen Psychotherapie wartet man prinzipiell, bis der Patient kommt. In der Integrierten Psychotherapie – wie wir sie verstanden haben wollen – sieht das etwas anders aus:
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Zum Patienten im Krankenhaus muss der Arzt hinkommen und seine Motivation erst wecken. • Bei depressiven Patienten, deren Hemmung sie zurückhält, ist es durchaus günstig, fallweise spontan nachzufragen, evt. telefonisch (übereinstimmend mit Scholz B3). Das gilt natürlich besonders bei Suizidalität. • Der alte Mensch hat vielfach eine große Hemmschwelle, den Psychotherapeuten aufzusuchen. Dieser sollte daher fallweise in Zusammenarbeit mit den Angehörigen den alten Menschen aufsuchen und motivieren. Ein wichtiges Prinzip ist die Verantwortungsübernahme durch Psychotherapie. D. h. man kann nicht Psychotherapie einfach anfangen und dann den Patienten mit aufgewühlten aber unbearbeiteten Problemen alleinlassen. Es ist das unethisch, unverantwortlich und kann auch zu schweren Schäden (bis zum Suizid) führen. Ich pflegte meinen Mitarbeitern zu sagen, „wenn ihr den Patienten in Psychotherapie nehmt, dann habt ihr ihn am Buckel und müsst ihn eine gehörige Wegstrecke weiter tragen, wie mühsam es auch gerade sein mag“. Siehe dazu auch das Beispiel in Kap. H1.
Einer der wichtigsten Wirkfaktoren jeder Psychotherapie ist die darin enthaltene Empathie; zumindest sehe ich es so, zusammen mit einer ganzen Reihe anderer psychotherapeutischer Wissenschaftler. Das bedeutet das gefühlsmäßige Mitschwingen mit dem Patienten, also Mitgefühl (welches aber keineswegs „Mitleid“ sein soll). Auch soll sich der Psychotherapeut bei der Empathie immer fragen, wie weit sie evt. zu subjektiv ist und dadurch seine klare Linie mit notwendiger Objektivität stört. Das gilt bei guten Gefühlen (Empathie) und schlechten Gefühlen dem Patienten gegenüber (Aversion) = positive oder negative Gegenübertragung der analytischen Terminologie (vergl. IV und auch D2). Es gilt gleichermaßen für Psychotherapie wie für die Allgemeinmedizin. Dabei geht es auch um Objektivität bei Gutachtenspatienten, die einen (natürlich) durch Simulation besonders zur negativen Übertragung verführen können (vergl. Abschn. G). Analytisch wurde ursprünglich weitgehend Distanziertheit und Neutralität des Therapeuten dem Patienten gegenüber gefordert. Diesbezüglich gibt es aber deutliche Unterschiede im analytischen Kodex bezüglich älterer und neuerer Auffassung (vergl. IV und auch D2). Mit jenen gewissen Einschränkungen ist die Empathie also als eine nicht nur psychotherapeutische, sondern auch allgemein-ärztliche Haltung zu betonen.
Paracelsus hatte unser psychotherapeutisches Vokabular (mit: Empathie, Übertragung, wertfreier Annahme, Objektbeziehung etc.) noch nicht in seinem Sprachschatz. Und doch ist das Wesentliche daran in seinem klaren Ausspruch enthalten: „Was eigentlich heilt ist die Liebe“
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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Das Honorar Die alte Volksmalerei (Abb. 4a) zeigt, dass schon immer das Honorar imstande war, ein primär „göttliches Arztantlitz“ in ein „teuflisches“ zu verwandeln. Abgesehen vom Materiellen hat das Honorar einen wesentlichen Symbolwert. Manche Anfänger unserer Kunst haben Hemmungen, Honorare zu verlangen, da sie noch immer ihr Arzt/Therapeutentum nur im Sinne des Helfens und Heilens verstanden wissen wollen. Allerdings legen sich derartige Anfangsskrupel üblicherweise sehr rasch, und leider kommt es nicht selten zum Auspendeln in die andere Richtung: Das Honorar wird als Hauptsache betrachtet. Man hat daraus ein relativ praktisches „Zweck-Dogma“ gemacht des Inhalts, dass Wirksamkeit der Psychotherapie ohne Honorar nicht gegeben sein könnte. Wie manchen „Dogmen“, muss ich auch diesem widersprechen. Ich habe durch viele Jahre (bis zuletzt) auch Gratis-Psychotherapie durchgeführt, wo Abb. 4a Der Arzt hat dreierlei Gesycht: ein enges mir sinnvoll erschien. Es hat sich in lisch, wenn man ihn anspricht, und der Wirkung keinerlei Unterschied gehilft er einem aus der Not hat er ein zeigt. Es ist sicher gut, wenn der Patient Angesicht wie Gott. Soll aber die sieht, dass er etwas für die PsychotheraBezahlung heraus, so sieht er wie der pie als Gegenleistung tut, weil damit deTeufel aus. ren Wert erhöht wird. Auch will und soll ja der psychotherapeutisch Tätige davon mitsamt seiner Familie leben. Die klaren Honorarvereinbarungen sollen jedoch auch auf die sozialen Gegebenheiten abgestimmt werden. Bei Entschluss zur Gratisbehandlung pflegte ich zu dem Patienten zu sagen: „Dafür ist normalerweise dieses und dieses Honorar fällig. Aus den und den Gründen rechne ich Ihnen nur die Hälfte, respektive: behandle ich Sie gratis.“
Da die Psychotherapie jetzt eine eigene Profession geworden ist, haben wir verschiedene Quellberufe für die weitere Ausbildung zur Psychotherapie. Am wesentlichsten zu nennen sind dabei Ärzte und Psychologen. In Deutschland sind es viele Heilpraktiker, die den Psychotherapeutenberuf ergreifen. Psychologen bringen aufgrund ihrer Ausbildung ein besseres Vorwissen über menschliche Verhaltensweisen, Kommunikation, Reaktion etc. ein. Für die somatische Seite der Psychotherapie bzw. somatopsychischen Zusammenhänge sind hingegen die Ärzte vom Studium her besser geschult. Es müssen somit die Psychotherapeuten aus beiden Quellberufen Wesentliches dazulernen, was nicht in ihrem Studium enthalten war, noch mehr natürlich die Psychotherapeuten, die aus anderen Quellberufen kommen (wie es im österr. und deutschen Psychotherapie-Gesetz möglich ist).
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Jeder wird aber natürlich sein Vorwissen in „seine „Psychotherapiemethode miteinbringen. Das ist besonders zu betonen bei den ärztliche Psychotherapeuten (offizielle Bezeichnung „Arzt für Psychotherapeutische Medizin“), da manche fundamentalistisch-übereifrige Psychotherapeuten (erstaunlicherweise auch selbst dem ärztlichen Bereich entstammende) verlangt haben, der Arzt müsse „den weißen Mantel während der Psychotherapie ausziehen“; d. h. also sein Arzttum ablegen(?). Ich glaube vielmehr, dass das ärztliche Vor- und Zusatzwissen gewinnbringend in die psychotherapeutische Tätigkeit integriert werden soll, ebenso in umgekehrter Richtung eine Befruchtung stattfinden soll, indem nämlich der psychotherapeutisch ausgebildete Arzt aus dieser seiner zusätzlichen Ausbildung wesentliche andere und weitere Aspekte für seine ärztliche Tätigkeit dazu bekommt. Das hat J. H. Schultz „die Psychologisierung des Arztens“ genannt. Ich würde dem hinzufügen: + Bereicherung der Psychotherapie durch ärztliche Erfahrung. Die „psychosomatisch“ tätigen Ärzte (respektive Abteilungen) haben das Prinzip der Psychotherapie zusammen mit einer fachspezifischen körperlichen Behandlung (also eigentlich das, was unsere „Integrierte Psychotherapie“ verlangt). In der Realität sehen wir aber, dass einerseits das im Rahmen der Hierarchie nicht so einfach ist. Anderseits erfolgt häufig eine Ungleich-Betonung der psychischen oder somatischen Faktoren in Diagnostik und Therapie entsprechend der Grundeinstellung des oder der Therapeuten (respektive Abteilungsleiter). Psychosomatische Abteilungen gibt es meines Wissens einige in der Gynäkologie und in der Inneren Medizin. Aber auch das von mir seinerzeit gegründete und geführte LudwigBoltzmann-Institut für Neurorehabilitation kann als eine psychosomatische Abteilung für Neurorehabilitation bezeichnet werden. Moderne Rehabilitations-Institute bemühen sich heute psychische Dimensionen mit zu erfassen. Doch geht es vielfach kaum über einen „AlibiPsychologen“ hinaus, und eine echte Koordination der psychotherapeutischen und somato-therapeutischen Aktivitäten kann fehlen.
Es ergeben sich für die Psychotherapie wesentliche Parallelen zur Rehabilitation, weil beides ärztliche Maßnahmen sind, die dem Patienten nicht ohne sein wesentliches Zutun „übergestülpt“ werden, sondern Hilfe zur Selbsthilfe darstellen. (Näher darüber in Kap. F2.) Auch der neuere Ausdruck eines „salutogenetischen Ansatzes“ scheint für beides berechtigt, denn es gilt ja, mehr als nur Negatives zu bekämpfen, vielmehr die vorhandenen positiven Ressourcen herauszuholen und zu stärken. Was ist Psychotherapie nicht oder soll sie jedenfalls nicht sein? Schon im 3. Teil der Definition haben wir Psychotherapie gegen allgemeine Menschenveränderungs- oder gar Weltverbesserungsbestrebungen abgegrenzt. Weiters soll sie nicht sein: Freizeitgestaltung, Religionsersatz, eine ideologische Bewegung, ein Instrument des (Standes-)politischen Machtkampfes.
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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Wenn man das so aneinandergereiht liest, mag es recht selbstverständlich klingen. Doch hat es im anfänglichen Überschwang ganz anders ausgeschaut. Es war das in Anbetracht der damals völligen Neuheit des Gedankenguts durchaus verständlich und hat sich erst in späterer Zeit auf die Realität reduziert. Es scheint aber teilweise im Hintergrund noch bei manchen psychotherapeutisch Tätigen mitzuschwingen. In der Anfangszeit der Psychoanalyse wurde diese nämlich von vielen ihrer Anhänger mehr als „Bewegung“ denn als Therapie aufgefasst. Es kamen auch viele aus der Begeisterung für das Neue in die Psychoanalyse und unterzogen sich dieser nicht zum Zwecke einer Symptombesserung, sondern um „Mitglieder“ jener „Bewegung“ zu werden. Es lebte die Idee auf, mit der Psychoanalyse eine gesündere und freiere Gesellschaft zu schaffen. Auch Freud selbst gab 1910 seiner Vision Ausdruck, dass eine durchgreifende Aufklärung der Masse über die Mechanismen der Neuroseentstehung die Produktion von Symptomen entscheidend mindern werde. (Näheres bei Richter). Anna Freud schrieb dem gegenüber 1968: Die Suche nach einer eindeutigen „Wurzel der Neurose“ ist so unrealistisch wie die Hoffnung auf eine auf Erziehung gegründete Neurosenprophylaxe. Die Neurosen sind der Preis, den die Menschheit für die Kulturentwicklung zahlt. Späterhin wurde die analytische Auffassung durch manche ihrer Proponenten sehr stark mit marxistischen Ideen verquickt. (Speziell Fenichel zit. nach Bergmann). Kernberg (2000) berichtet, dass während des Allende-Regimes in Chile Lehranalysen abgebrochen wurden und die Kandidaten ins Ausland „flüchteten“, weil man in Gesellschafts-politischen Ansichten nicht übereinstimmte. Verurteilt man das, so will es natürlich nicht heißen, dass der Psychotherapeut zu (Gesellschafts-)politischer Abstinenz verpflichtet werden soll. Aber er soll Politik als Person treiben und nicht die Psychotherapie vor den Wagen seiner Politik spannen. Leider haben wir derartige psychotherapeutisch kaschierte Machtkämpfe auch in der unmittelbaren Vergangenheit gesehen und sehen sie noch immer (vergl. das vorhin in A2 und das in A4 von Butollo und Mitarb. bei der Diskussion des Terminus „humanistische Psychotherapie“ Gesagte).
Psychotherapie soll jedoch gesamthaft eine gewisse Breitenwirkung haben (ohne deswegen in die obgenannte „Weltverbesserungstendenz“ abzurutschen). Neben methodenspezifischer Psychotherapie sollte psychotherapeutisches Denken und Handeln in das allgemeine Gesundheitssystem einstrahlen. Das zu verwirklichen sind die Psychotherapeuten aufgerufen. Es wird im Folgenden noch mehrmals auf die erwünschte Öffentlichkeitswirksamkeit hingewiesen (siehe auch Kap. H3). – Es ist das auch ein Teil der von uns so genannten „basalen Psychotherapie“. • In Organisation, Administration, natürlich auch Arbeit am Patienten soll möglichst auf Lustbetonung statt Frustration abgestellt werden. • Die Erkenntnisse der Gruppendynamik sollen speziell in die Personalarbeit, aber auch in die Architektur einstrahlen. • Die wachsende Selbsterkenntnis soll sich in kontinuierlicher Ausbildung und Fortbildung niederschlagen. Vergleiche auch Kap. H3 und Abb. 31. • Die allgemein human-ethischen Postulate der Psychotherapie sollten sich in (Gesellschafts-)Politik und damit zusammenhängend auch in Öffentlichkeitsarbeit niederschlagen. Ich glaube, man kann das als einen Ausdruck der basalen Psychotherapie betrachten, worauf in Kapitel A6 näher eingegangen wird.
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Zur Frage der Menschenveränderung In analytischer Auffassung hören wir mehrfach von „Nachreifung“ (VI.C3). Soll das eine Menschenveränderung sein? Es wird wohl von Verschiedenen verschieden aufgefasst. Wenn es meint, die an und für sich bestehenden Fähigkeiten und Eigenschaften eines Menschen, die durch eine (Reifungs-)Störung behindert werden, besser zum Ausdruck zu bringen, so kann ich mich der Nachreifung anschließen. Ich glaube, dann haben wir schon sehr viel erreicht. Vielleicht haben wir dann den Menschen soweit geändert (zu sich selbst geholfen?), dass einiges Negative von ihm abfällt. Es erinnert an das, was Schultz im Gespräch mit Freud gesagt hat: „... wie ein guter Gärtner Hindernisse wegräumen“ (A5). Ein Mehr an Menschenveränderung ist jedoch sicherlich ein zu hoch gestecktes Ziel.
Es folgen Ausführungen zu den Begriffen „Neurose“, „Gesundheit“, „Psychotrauma“. Diese Begriffe sind zwar nicht unmittelbar der Kapitelüberschrift „Was ist Psychotherapie und was kann sie“ zuzuordnen. Es ist aber weitgehend der Einsatz der Psychotherapie mit der Auffassung davon in Verbindung. Deshalb wird hier dieser Exkurs eingefügt. Neurose Der Ausdruck „Neurose“ respektive „neurotisch“ rangiert mehrfach in vorliegenden Zeilen. Der gründliche Leser wird nach einer Definition fragen. Die einzelnen psychotherapeutischen Schulen verstehen aber sehr Unterschiedliches unter Neurose in Hinblick auf unterschiedliche Entstehungshypothesen. Das hat dazu geführt, dass die neuen Nomenklaturen (ICD 10 und DSM IV) den Begriff Neurose überhaupt fallen gelassen haben (während sie in den früheren Versionen noch vorhanden war), inkonsequenterweise aber das Zusatzwort „neurotisch“ doch fallweise benützen (so z. B. „neurotische Belastungsstörung“). Die neue psychiatrische Nomenklatur (Sass und Herpertz) spricht von Persönlichkeitsund Verhaltensstörungen, differenziert diese nach dem Erscheinungsbild und nicht (wie die psychotherapeutischen Schulen) nach ihrer Ätiologie, z. B. zwanghaft, histrionisch, emotional instabil, etc. (Vergl. Biebl IV. C1). Der Versuch der künstlichen Eliminierung des einprägsamen Begriffs der Neurose aus der Nomenklatur ist problematisch, denn es verbleibt ein wesentliches Manko. – „Neurose“ und „neurotisch“ ist in der Allgemeinmedizin und Umgangssprache und in der internationalen Literatur (weiterhin) verankert. (Z. B. bei Kernberg als einem der heute führenden Analytiker.)
Ich gebe daher im Folgenden eine Definition für Neurose, welche den „früheren“ und noch immer weit verbreiteteten Auffassungen entspricht. 1. Dauernder Leidens- oder Krankheitszustand der Gesamtpersönlichkeit, welcher einen beträchtlichen Leidensdruck ausübt. 2. Ohne fassbares organisches Substrat und nicht psychotisch bedingt. Wenn auf eine körperliche Schädigung (etwa Verstümmelung) eine neurotische Reaktion erfolgt, so ist diese (entsprechend obiger Definition) nicht durch die Verstümmelung erfolgt, sondern als eine Reaktion auf dieses Trauma. Der Ausdruck „vegetative Neurose“ (für Kopfschmerzen, Schweißausbruch, paroxysmale Tachykardie etc.) gibt die Möglichkeit körperlicher Beteiligung bei psychischen Störungen an, ohne dass deswegen ein organisches Substrat besteht.
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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Wenn sich aber aufgrund solcher körperlicher Beteiligung ein organisches Substrat etabliert, führt die Neurose zur psychosomatischen Krankheit.
3. Multifaktorielle Ätiologie • Unbewusstes, verdrängtes (evt. frühkindliches) Erleben wird durch eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Ereignis als Störfaktor aktiviert (dieser muss laut Kretschmer wie der Schlüssel zum Schloss passen). Es kann aber längere und schwere situative Belastung auch ohne solche Aktivierung direkt zur Neurose führen. Wesentlich dabei ist, dass jenes Früherlebnis vitale Bedrohlichkeit vorwiegend mit längerer Dauer gehabt hat. Die „vitale Bedrohlichkeit“ bezieht sich natürlich auf die damalige Kindheitssituation, also Liebesentzug durch die Mutter und dergleichen. (Siehe noch folgend – A4.) • Die Sozialsituation spielt eine wesentliche zusätzliche Rolle (etwa gesicherter ruhiger Familien- und Gesellschaftsrückhalt gegenüber Arbeitslosigkeit und familiärer Zerrüttung). • Mangel an kompensierenden und/oder protektiven Faktoren. • Genetische Prädisposition: Letzteres entspricht keineswegs allen psychotherapeutischen Schulen. Alfred Adler hat einen „nervösen Charakter“ postuliert, den Freud nicht als Mitursache, sondern als Folge psychischer Vulnerabilität bezeichnet hat. Wenn man aber Familien in ihrem Kontext und Verlauf sieht, erscheint es sehr wohl plausibel, dass gewisse Erblichkeitsfaktoren mitbedingen, ob traumatisierende Faktoren zu einer Neurose führen oder nicht.
4. Eine Neurose ist nicht einfach willentlich zu bekämpfen. Sie kann aber sehr wohl durch psychisch stark wirksame Ereignisse oder Eindrücke zum Verschwinden gebracht werden. So ist bekannt, dass in der akuten Situation, sowohl des Konzentrationslagers als auch des Schützengrabens, Neurosen kaum zur Wirkung kamen, sehr wohl aber wieder nach der Heimkehr.
5. Neurosen werden (auch wieder entsprechend allgemeinem Sprachgebrauch) unter die „funktionellen Störungen“*) gereiht (auf die in G noch näher eingegangen wird). Sie sind gekennzeichnet durch: a) Abwesenheit organisch fassbarer Befunde und b) positive Zeichen für Funktionalität. Dazu gehört auch Simulation. Diese unterscheidet sich dadurch von der Neurose, dass sie aktiv willentlich hervorgerufen wird, während die Neurose den Willen umgeht. Die im vorigen Punkt genannte Beeinflussbarkeit durch äußere Situationen ist aber bei beiden gegeben.
6. „Psychopathie“ stammt aus der Kurt Schneider’schen Terminologie und bezeichnet abnormales Verhalten, das keine sichere Einordnung als Neurose oder Psychose zulässt. Später hat man den Ausdruck „Charakterneurose“ dafür verwendet. Heute hat die ICD-Nomenklatur beides wegen schwieriger definitorischer Abgrenzung verlassen. Weitgehende Überschneidung besteht mit dem, was heute – auch nicht sehr klar – als Borderline-Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird (Grenze zwischen Neurose und Psychose, jedoch bei erhaltener *) In ICD 10 als „somatoform“ bezeichnet.
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Realitäts-Prüfung [im Gegensatz zur Psychose]). Jedoch ist der plakative Ausdruck „Psychopathie“ noch immer in Verwendung (Stierlin, 2005; sowie in der amerikanischen Literatur [Hare 2005]). Symptomatische Schwerpunkte: • Gestörte Kontrolle von Affekt, Impuls und Hemmung: • Instabilität der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, • Selbstbeschädigungen und parasuizidale Handlungen, • Vorherrschen primitiver Abwehr-Mechanismen. Therapeutisch hebt Hare die schlechte Therapierbarkeit wegen fehlendem Leidensdruck hervor. Kernberg (1996) empfiehlt Folgendes: • Relativ seltene Sitzungen (er nennt 1 x wöchentlich oder weniger, im Gegensatz zu den mehrmals wöchentlich üblichen Sitzungen bei klassischer Analyse). • Stützende Techniken. • Gemischt mit „expressiver Interpretation“, zunächst im Hier und Jetzt, stabile Aufrechterhaltung von Realitätsgrenzen. Auch die Übertragungsanalyse wird eingeschränkt durch die unmittelbare Lebensrealität und die Endziele der Behandlung.
7. Das, was man früher als „Aktualneurose“ bezeichnet hat, also neurotisches Reagieren auf eine spezielle belastende Situation, geht heute weitgehend in der folgend abgehandelten posttraumatischen Belastungsstörung auf. Das Psychotrauma Die posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder [PTSD]) steht seit 1993/94 als Entität in ICD 10 und DSM 4. Sie ist erst in den letzten Jahrzehnten differenzierter in die wissenschaftliche Erforschung und Nomenklatur eingegangen. In meiner Studentenzeit hörte ich 1952 in der neurologisch-psychiatrischen Vorlesung (damals war noch beides zusammen) den Wiener Ordinarius Hoff sagen: „Das einzig Unendliche ist die menschliche Toleranzbreite. Es gibt keine Belastungen, von denen der Mensch sich nicht erholen kann respektive die er nicht ohne Dauerschaden verkraften kann.“ Das war nicht etwa eine polemische Reaktion auf so und so viele Entschädigungsansprüche von KZ-Opfern (Hans Hoff war selbst Jude), sondern es entsprach der damaligen wissenschaftlichen Auffassung: Psychische Traumen machen keine strukturellen Läsionen. Diese können nur mechanisch entstehen. Und ohne solche gibt es kein Überdauern. Zwar hatte Oppenheim (zit. nach Flatten) schon 1889 das Konzept der traumatischen Neurose dargestellt, verlangte aber auch für diese eine strukturelle Läsion auf mechanischer Basis, welche (nach seiner Theorie) unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze sein könne. Im Laufe der Nachkriegszeit kam es schrittweise dazu, das anders zu sehen. Die intensivere Befassung mit Vietnam-Veteranen, Holocaust-Opfern, Gulak-Überlebenden, Asylanten (zu 10–30% mit Folter- und Vergewaltigungserlebnissen) etc. öffnete den Weg dafür, auch bei scheinbar „nur“ psychischen Traumen die Möglichkeit einer längerfristigen bis dauernden Schädigung anzuerkennen. Erst die neuesten neurobilologischen Erkenntnisse (A1) zeigten, dass auch psychische Traumen ohne mechanische Komponente zu strukturellen Hirn-(funktions)veränderungen führen können, die auch überdauern. Damit wurde gezeigt, dass überdauernde Schäden nach scheinbar „nur“-psychischen Traumata sich letztlich auch wieder mit strukturellen Veränderungen assoziieren. In letzter Zeit hat sich das Interesse am Psychotrauma stark intensiviert. Allein in den letzten paar Monaten sind etliche Monographien zu dem Thema erschienen – genannt: Fried-
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mann und Mitarb., Fischer und Riedesser, Seidler und Mitarb. Einiges daraus ist im Folgenden mitverwertet, jedoch nicht überall das Zitat einzeln beigefügt.
Heute unterteilt die Psychiatrie das Psychotrauma in drei Gruppen (Kasper 2003), nämlich: • Akute Belastungsreaktion: Tage. • Posttraumatische Belastungsstörung: Monate. • Andauernde posttraumatische Persönlichkeitsveränderungen: Jahre bis dauernd.*) Es besteht eine typische psychische + körperliche +soziale Symptomatik. • Als Criterium crucis für die Diagnose wird heute das Vorhandensein sogenannter „Flash backs“ angenommen (plötzlich auftretende Erinnerungen an die traumatisierende Situation mit starker emotionaler und vegetativer Reaktion [sympathikotones Arousal]) sowie von „dissoziativen Zuständen“. Dazu kommt • Depression, die durch Elemente von Aggression und Wut dysphorisch wirkt, emotionale starre Abkapselung und In-sich-Gekehrtheit, vegetative Störungen, insbesondere Schlafstörungen. • Besondere Neigung zur Selbstbetäubung durch Alkohol oder Drogen werden als Bewältigungsversuch angeführt. • Gedächtnisstörungen können vorliegen. • Meist besteht eine deutliche Brücken-Symptomatik zwischen dem Trauma und den späteren Gesundheits-Störungen (etwa flash-backs, Albträume). Allerdings gibt es auch symptomlos „schlummernde“ Psychotraumen, die bei einem Schlüssel-Erlebnis wieder aktiviert werden. So beschreibt Sabine Bode einen älteren Mann, der nach den Berichten über Bombardements in Afghanistan in einen dissoziativen Zustand kam mit Hochkommen des Jugend-Erlebnisses eines Flächen-Bombardements in seiner Heimat-Kleinstadt. Wobei er dann als „Flakhelfer“ (damalige Hilfs-Einsätze für Jugendliche bei den Flieger-AbwehrKanonen) mehrere Tage helfen musste, Leichen aus den Trümmern zu bergen. Auch inzestuös-sexuelle Früh-Traumata können jahrelang symptomlos „schlummern“. Darüber haben Egle und Mitarb. ein sehr ausführliches Buch vorgelegt. In F3 wird noch näher darauf eingegangen. • Im Rahmen der modernen neuro-biologischen Erkenntnisse (A1) weiß man, dass hippokampale Strukturen und speziell die Mandelkerne gewisse Veränderungen erleiden. Überdies ist die Cortisol-Ausscheidung erniedrigt und NOR-Adrenalin erhöht, zusammen mit etlichen anderen neuro-biologischen Parametern. Gmür definiert ein eigenständiges Medienopfersyndrom, das durch das hilflose Ausgeliefertsein an die Übermacht der Medien zu ähnlichen Störungen führen kann, bis zu Depression und Selbstmord.
Bemerkenswert ist, dass auch bei der 2. Generation, also den Kindern von Holocaust-Opfern, eine deutlich verringerte Cortisol-Ausscheidung feststellbar ist. Das „Warum“ ist nicht eindeutig geklärt. Man kann daran denken, dass *) Da meine diesbezügliche Eigenerfahrung beschränkt ist (hinsichtlich Geiselnahme und Folter-OpferBetreuung völlig fehlt), habe ich einen unserer führenden Experten auf dem Gebiet (Friedmann) ersucht, dieses Kapitel kritisch durchzusehen. Ich darf an dieser Stelle herzlich dafür danken.
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durch posttraumatisch bedingte Muster bei den Eltern eine dauernde belastete Familiensituation besteht, in welche die Kinder miteinbezogen werden. Auch phantasierte Traumata, insbesondere Missbrauchserlebnisse, die in Psychotherapie (scheinbar) herauskommen (sowohl in Analyse [worauf schon der spätere Freud hingewiesen hatte] als auch in Hypnose), können wegen ihres großen subjektiven Realitätsgehaltes als Psychotraumata wirken und müssen psychotherapeutisch entsprechend behandelt werden (wenn auch natürlich nicht rechtlich. – Vergl. dazu C3 und H1). Ein Training psychischer Traumatisierung ist nur beschränkt möglich. Man weiß zwar, dass Soldaten, die systematisch für den Fronteinsatz trainiert wurden, durch diesen weniger beeinträchtigt waren als solche, die plötzlich in die betreffende Situation kamen. Aber viele andere der psychisch traumatisierten Faktoren wirken keineswegs immunisierend, sondern eher sensibilisierend für Folgetraumen (Alleingelassenwerden, Bedrohung, Folter etc.). Der in Kinder- und Militärerziehung noch immer gebrauchte Spruch „Was uns nicht umbringt, macht uns härter“, ist somit als sehr problematisch zu bezeichnen. Gleiches gilt übrigens auch im Sport, wo man nur in kalkuliertem Maße an die Leistungsfähigkeit herangehen kann. Sonst kommt es zu Organschäden.
Natürlich gibt es auch Traumen, die keinerlei psychische Schädigung hinterlassen, und die hier gebrachte Aufstellung soll nicht zu der Übertreibung verführen, bei jeder Kleinigkeit zum Psychologen oder Psychiater zu laufen (wie es aus manchen Berichten der USA scheint). Bei uns ist allerdings eher das Umgekehrte der Fall, dass man zuwenig psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nimmt. Wenn man liest, dass Operationen zu psychischen Traumen gehören, so ist das im Normalfall sicher als überzogen abzulehnen. Wenn man aber die beiden in B4 geschilderten Operationen in Zusammenhang mit (von mir so genannter) „ärztlicher Antikommunikation“ in Betracht zieht, so kann man dabei wohl von iatrogenen Psychotraumen sprechen. Es kommt leider auch in der Medizin manches in Mode und wird dann übertrieben. Heute wird jede hirnorganische Demenz einfach „Alzheimer“ genannt, ohne zu berücksichtigen, dass dies ja nur eine besondere Unterform der Demenzen ist. Die „Borderline-Störung“ wird leider vielfältig gebraucht, ohne sich mit den Kriterien dafür näher auseinander zu setzen. So ist auch die „posttraumatische Belastungsstörung“ sehr in Mode gekommen und wird vielfach recht unkritisch verwendet. Unlängst hatte ich einen mittdreißig-jährigen Patienten, der seit etwa 15 Jahren verschiedene vegetative Beschwerden hatte, Ängste, ein subdepressives Bild bot. Man hätte ihn früher als Neurasteniker mit hypochondrischen Beschwerden und chronischer Disthymie diagnostiziert. In einem (fach-)ärztlichen Befund stand aber als Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung durch kindliches Trauma“. – Es scheint also sehr wesentlich, den Begriff des Psychotraumas nicht auszuweiten, sondern sich auf die vor-angegebenen Kriterien zu beziehen, welche auch den deutlichen Zusammenhang mit dem Trauma
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anzeigen. Denn jedes Kind hat natürlich (Erziehungs-)Traumen und die ganze tiefenpsychologische Betrachtung aus der Kindheitsentwicklung würde sich dann in den Unsinn einer „Kindheitstrauma-Belastungsreaktion-Therapie“ verkehren!
Der Sonderfall der früh-inzestuösen Kindheits- und Jugend-Erinnerungen wurde schon erwähnt und wird in F3 noch besprochen. Ob nach einem Trauma ein physiologischer oder ein pathologischer Ablauf eintritt, respektive wie lange eine pathologische Reaktion anhält, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. • Existenzielle Bedrohung des Ereignisses. • Vorbestehende Persönlichkeitsstruktur im Verhältnis zum Trauma: Dieses kann etwa „wie der Schlüssel zum Schloss“ in eine (unbewusste) psychische Entwicklung passen. Und so kann ein scheinbar leichtes Trauma individuell eine äußerst schwere Wirkung entfalten und umgekehrt. • Protektive Faktoren: Geordnetes Familienleben, gruppenmäßige Integration in der Vergangenheit machen die Persönlichkeit stabiler. • Vorbereitung auf das Trauma (Was plötzlich und unvorbereitet kommt, wirkt stärker; siehe vorerwähntes mögliches Stresstraining). • Einsames Ausgeliefertsein oder Im-Stich-gelassen-werden einem übermächtigem Trauma gegenüber (ich erinnere an die Wesentlichkeit der menschlichen Beziehung, auch in der Extremsituation des Alters [F1]). • Rechtzeitige und sinnvolle Primärbehandlung mit dem Gefühl der menschliche Nähe und des Aufgefangenseins kann der pathologischen Entwicklung bereits ein Gutteil vorbeugen. Dazu kommen spezifische psychotherapeutische Techniken. • Wenn es aufgrund des Zusammenwirkens von Faktoren zu einer tieferen Sinnkrise der Bewertung und der Ich-Relation kommt, kann sich auch nach einer Symptom-armen Latenz eine posttraumatische Belastungsstörung respektive Persönlichkeitsveränderung entwickeln.
Es ist daran zu erinnern, dass die Erziehung ständige Begrenzungen, unter Umständen auch Strafen, für eine normale Entwicklung notwendig macht. – Es gibt also auch so etwas wie „heilsame“ respektive „entwicklungsnotwendige“ Traumen. Es geht aber darum, solche in der Pädagogik adäquat zu gestalten, ohne dass sie pathogene Komponenten enthalten (F1). Für Kinder und Jugendliche ist besonders auf das schon bei der Besprechung der Neurose Vorgesagte zurück zu verweisen. Besonders belastend sind vital bedrohliche, wiederholte Erlebnisse während einer längeren Strecke in einem dafür besonders empfänglichen Alter. Kerstin Muth hat das eindrücklich an 50 Interviews von Überlebenden „Hidden Children“ dargestellt (jüdische Kinder, die dadurch dem Holocaust entgingen, dass sie unter den verschiedensten Umständen versteckt waren, in anderen Familien, Klöstern, vagabundierend, etc). Sie wurden umhergestoßen, kamen von einer bedrohlichen und unsicheren Situation in die nächste. Ständige Begleiter waren Angst und Einsamkeit. Aber auch bei diesen, schon in der Kindheit schwer geprüften Menschen, fand sich im Längsschnitt in etwa der Hälfte ein durchaus normales und adäquates weiteres Leben, teilweise konnten die üblen Erfahrungen sogar in eine positive Entwicklung des späteren Lebens eingebaut werden (Toleranz gegenüber Palästinensern,
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etc.). Bei den anderen blieb eine durchgehende schwere Schädigung; Also auch dabei das prinzipiell gleiche Trauma, das jedoch nach den vordem genannten Variablen sich mehr oder weniger schädigend – ja sogar positiv – auswirken konnte. Auch aus persönlichen Gesprächen mit Betroffenen und aus manchen öffentlichen Äußerungen Prominenter zeigt sich die Möglichkeit der durchaus unterschiedlichen Verarbeitung schwerer Psychotraumen bis hin zu höhergradiger Toleranz (siehe dazu Frankl in A5). Rudolf Kalmar wurde, nachdem er das KZ überlebt hatte, Chef-Redakteur der ersten österreichischen Zeitung. Mit „Zeit ohne Gnade“ schrieb er das (wahrscheinlich 1.) KZ-Buch nach dem Kriege 1946. Die Schluss-Passage seines Buches lautet: „Als ich letztlich an einer gesprengten HausRuine vorüberging, arbeiteten gefangene SS-Leute in dem feuchten, schneetriefenden Schutt. Ich sah ihnen zu – lange Zeit. Einer von der anderen Seite des Zauns. Ich kenne die Arbeit im Ziegel-Schutt. Die SS-Leute taten mir leid.“
Bei Erwachsenen zeigten sich speziell Vergewaltigung, Geiselnahme und Folter besonders gravierend. Sie haben in etwa der Hälfte der Fälle posttraumatische Belastungsstörungen zur Folge. Exkurs über die Folter Kaiserin Maria Theresia schaffte in Österreich die Folter (diese hieß damals „peinliche Befragung“) für die Rechtspflege ab. In gleiche Richtung führte die Aufklärung die übrigen europäischen Nationen. Es blieb Hitler vorbehalten, ein groß angelegtes Comeback für organisierte Folter zu inszenieren. Er blieb nicht der einzige. Die französische Fremdenlegion folterte systematisch im Algerien-Krieg, und heute rangiert die Folter in der „Rechtspflege“ von etwa der Hälfte der Staaten, die mit uns in den internationalen Gremien sitzen.
Die offizielle Begründung (wo man sich die Mühe dafür überhaupt macht) ist es, Informationen zu erhalten, welche andere Menschen schützen. Das kommt aber de facto nur zu einem geringen Teil in Frage. Vielmehr geht es darum, die Menschen zu entwürdigen, zu demoralisieren, ihren inneren Widerstand völlig zu brechen. Es kommt zu bleibenden körperlichen und psychischen Schädigungen, welche man nur teilweise therapeutisch verbessern kann. Besonders verabscheuungswürdig ist die heute übliche wissenschaftliche Fundierung der Folter durch Ärzte und Psychologen im Sinne einer systematischen Foltermedizin. Will heißen: Wie macht man die Folter möglichst wirkungsvoll (also schmerzhaft und menschenzerstörend), so dass der Mensch aber gleichzeitig möglichst lang überlebt und möglichst wenig sichtbare Spuren davon aufweist. Das einfache Verprügeln der Menschen bei Verhören in früheren Zeiten wirkt dagegen fast wie ein Kinderspiel. Jenes Pandämonium enthält u. a. Untertauchen und Wieder-zu-Bewusstsein-kommen-lassen (mehrfaches „Ertrinken-lassen“) in verschmutztem Wasser, alle Arten von perversen sexuellen Praktiken, tagelanges Stehen in einer Art von aufrechten Särgen, zwangsläufig in den eigenen Exkrementen, meist verbunden mit quälenden Lärm- und Lichtexplosionen, Stromstöße vor allem im Genitalbereich, Stunden- bis Tage-langes Hängen in abnormen Stellungen mit den da-
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raus resultierenden Gelenks- und Muskelschmerzen, sowie schwersten Kopfschmerzen bei Verkehrthängen etc. Wohl zum Schlimmsten gehört der Zwang, andere zu foltern oder Folterung und Tötung von Familienangehörigen mitanzusehen. Sicher gibt es noch einiges weitere „Psychologische“ und Chemische, das nicht voll bekannt ist.
Besonders bedrückend ist es, dass auch jene Nationen, die offiziell für Menschenrechte eintreten und sogar deshalb Kriege führen, in die Folter rückfällig geworden sind. USA bildet „Verhörspezialisten“ aus, die angeblich „nur“ psychologische Methoden anwenden, wobei man aber weiß, dass diese grausamer sind und stärkere dauernde Nachwirkungen haben können als körperliche Folter (Angelika Birck). Inzwischen haben Medienberichte auch aufgezeigt, welche Scheußlichkeiten von diesen „Spezialisten“ in Bagdad vollführt wurden. In einem speziell abgelegenen Inselgefängnis in Guantanamo werden Taliban-Gefangene menschenunwürdig in Gitterkäfigen gehalten und gefoltert. Die ungeheuerliche „Begründung“ dafür ist es, dass für sie die Menschenrechtskonventionen nicht gelten, weil sie keine regulären Kriegsgefangenen sind. Auch die Israelis (von welchen man glauben müsste, dass sie durch die tragischen Eigenerfahrungen gegen die Folter immunisiert sind), lassen diese „mit gerichtlichem“ Beschluss zu.
Wieso kommt es zur Folter? 1. Jeder Krieg (je länger er dauert und je grausamer, umso mehr) erhöht die Bereitschaft des Menschen, seine dunklen Instinkte loszulassen. Jeder Kämpfer wird ja darauf konditioniert, seine zivilisatorisch anerzogenen Hemmungen zu überwinden. Dem Zivilisten und Gefangenen gegenüber sollen plötzlich diese Hemmungen wieder funktionieren. Diverse internationale Richtlinien versuchen das zu standardisieren. Aber natürlich funktioniert es speziell bei labilen Persönlichkeiten keineswegs immer. Das ist die individuelle Folterbereitschaft. 2. Es gibt „höheres Interesse“, Widerstand leistende Personen oder Menschengruppen zu demoralisieren, „zu brechen“. Einerseits als schmutzige Kampfmaßnahme, anderseits um gewisse Informationen zu bekommen. Jenes „höhere Interesse“ besteht und bestand traditionell nicht nur bei den Menschen-verachtenden Diktaturen. Vielmehr brachte der Druck des Krieges auch primär demokratisch und human ausgerichtete Nationen auf jene Linie (USA, Israel). 3. Dazu frägt man sich, welche Menschen geben sich zum aktiven Foltern her? Das (oft zitierte und einige Male unter etwas geänderten Bedingungen wiederholte) Milgram-Experiment (siehe Glossar) hat gezeigt, dass 2/3 aller Menschen bereit sind, ihr eigenes Gewissen an eine darüberstehende Institution abzugeben, wenn man sie von einem übergeordneten Wert der Grausamkeiten überzeugt (bei Milgrams Experiment war es „der wissenschaftliche Wert“).
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4. Lifton (zit. nach Richter) meint: Eine „Spaltung des Selbst“ macht es möglich, dass einer zugleich braver Bürger und Folterer sein kann. Fischer und Riedesser nennen es „Identitätsverdoppelung“ und bringen dazu das Beispiel des KZ-Arztes Mengele, der musikalisch und literarisch belesen war, stimmungsvolle Weihnachten mit seiner Familie feierte, daneben aber die bekannten grausamen Kinder-Experimente im Konzentrationslager systematisch organisierte. 5. Es gibt systematisches lerntheoretisch fundiertes Training für Folter. Von Barbara Distel wissen wir, wie die SS-Frauen als Aufseherinnen für Konzentrationslager systematisch ausgebildet wurden. • Weltanschauliche Indoktrinierung, dass sie einerseits etwas für die Gemeinschaft Wertvolles leisten, anderseits die zu folternden Menschen nicht nur verbrecherisch und schlecht sind, sondern auch einen niedrigen Menschenwert haben (Einteilung der Menschen in Klassen nenne ich es). • Eine gruppendynamische Kameradschaftsbildung mit Gleichgesinnten, wobei das grausame Vorgehen sowohl von der Gruppe als auch von der Obrigkeit gutgeheißen, mit Karrieresprüngen belohnt wird, etc. • Es erfolgt ein Dressat, dass sie ihre eigene Verantwortung an eine höhere Instanz zu einem „höheren Zweck“ völlig abgeben können.
Wie weit Analoges auch bei den heutigen professionellen Folterern erfolgt („Verhörspezialisten“?), wissen wir nicht. Aber man muss annehmen: ähnlich, wahrscheinlich noch „weiterentwickelt“ perfider und verabscheuungswürdiger. Ich scheue mich nicht zu sagen: Es ist das eine systematische Ausbildung zum Verbrecher; die bei 2/3 der Menschen durchaus auf gewisse Bereitschaften trifft. (Siehe Milgram-Experiment.) 6. Dazu kommt die einäugige Tolerierung der Folter auch bei den westlichen „Kultur“-Nationen. Es werden dort elektrische Foltergeräte erzeugt und den offiziell folternden Nationen zum Kauf angeboten. Das ist vergleichbar mit der einäugigen Heuchelei dem Genozid gegenüber. – Und Genozid ist immer auch mit Folter verbunden (das weiß man vom Todesmarsch der Armenier unter den Türken, von Hitler, vom Balkankrieg, etc.). Es wird die grausame Tötung der Amazonasindianer durch die Privatarmeen der Großgrundbesitzer (unter dem Vorwand von Aufständen) angeblich verurteilt. Velimirovic (ehemals hoher WHO-Beamter, anschließend Ordinarius für Sozialmedizin in Graz) hat dazu vor nunmehr über 10 Jahren eindrucksvoll gesagt: „Die Jagdsaison auf die Indianer ist eröffnet, es wird die letzte sein!“. Zugleich kaufen westliche Industrieunternehmen große Ländereien auf. Die katholische Kirche hat dort einerseits echte Volkspriester (Bischof Kräutler, auf den schon 2 Mordanschläge verübt wurden), die versuchen, für die Indios einzutreten; während anderseits die Amtskirche Volkspriester ablehnt und sich auf die Seite der Großgrundbesitzer mit ihren grausamen Privatarmeen stellt. (Kräutler’s Auftreten in Salzburg wurde vom dortigen Bischof verboten.) Genozid mit weitreichenden Folterungen in Tschetschenien sowie im Inneren Afrikas (das eine durch die ofiziellen Armeen, das andere mit von verschiedenen westlichen Ländern gelieferten modernen Waffen) seien abschließend traurig erwähnt.
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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Was können wir dagegen tun? 1. Alle politischen und öffentlichkeitswirksamen Möglichkeiten ausnützen, um auf das Verbrecherische daran hinzuweisen und allgemeine Ächtung jeder Unterstützung verlangen. (Vergl. A3 und H3). 2. Folgendes nach Möglichkeit zu fördern respektive Negativentwicklung nicht müde werden anzuprangern und zu bekämpfen, im Sinne von „Wehret den Anfängen!“: – Vermeidung von grausamer Vorbildwirkung. Diesbezüglich ist leider das Fernsehen ein negatives Beispiel. Es gehört auch ein anständiger Umgang mit Tieren dazu. Brutales (teilweise sadistisches) Verhalten von Führungspersönlichkeiten in Institutionen (Militär, Schule etc.) muss immer wieder bekämpft werden (womit selbstverständlich die vielen guten Lehrer und die vielen guten Ausblidungskräfte beim Militär nicht desavouiert werden sollen!). – Ethische Bildung soll lehren, dass kein Befehl einen der eigenen Gewissensentscheidung enthebt. – Jede Einteilung der Menschen in verschiedenartige Klassen, Rassismus auf allen Ebenen, ist zu verurteilen und zu bekämpfen. Da – wie gezeigt – es der 1. Schritt ist zu Genozid und Folter. Dazu gehört entsprechendes Verhalten in der eigenen Familie und im eigenen Wirkungskreis. Aber auch Nicht-Wegschauen und Nicht-Geschehenlassen, wenn sich kleine und große Verstöße gegen das human-ethische Postulat in der Umgebung ereignen.
3. Unterstützung entsprechender Organisationen wie Amnesty International, Bischof Kräutler. (Raiffeisenbank Götzis, BLZ 37429, Kto.Nr. 2421501.) Therapie des Psychotraumas mit ihren Besonderheiten nach Folter Der Psychotherapeut muss sich der mehrschichtigen Problematik bei Psychotraumen bewusst sein. Ohne natürlich alle offenen Fragen lösen zu können, soll er doch bemüht sein, reale und soziale Maßnahmen mitzukanalisieren. Dazu muss auch die Gutachtenssituation (wenn eine solche vorliegt, und das ist immer öfter der Fall) berücksichtigt werden (deshalb auch im Folgenden etwas näher darauf eingegangen). Ich glaube, dass die etwas später zitierten Aussagen einer Betroffenen überdies gut vor Augen führen, worauf es vor allem ankommt. Die folgenden Allgemeinregeln ergeben sich im Wesentlichen aus den Ausführungen aller Autoren. • Die Psychotherapie muss empathisch zugleich aber realitätsbezogen sein. • Menschliche Beziehung soll den Traumatisierten auffangen. (Auch entsprechend dem schon erwähnten Paracelsus-Zitat: „Was wirklich heilt ist die Liebe“.) Es gilt möglichst frühzeitig, längerfristig und wiederholt zur Verfügung zu stehen. Das therapeutische Gespräch muss also „akut und permanent“ sein (wie in B2 näher besprochen). • Es müssen dabei Möglichkeiten gegeben sein, Trauer auszuleben und nicht nach dem alten Rezept „reiß dich zusammen!“ alles hinunter zu schlucken. Keinesfalls darf bagatellisiert werden.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Dass sich der Therapeut nicht (willkürlich oder unwillkürlich) zum Verbündeten des Traumaverursachers machen darf (gutachtlich oder bagatellisierend) ist wohl klar. Er soll sich aber auch nicht durch überschießende Empathie zum unkritischen Verbündeten des Traumatisierten machen; damit ist diesem à la longue nicht geholfen. • Es sollen positive Faktoren als Ressourcen für das weitere Leben aktiviert werden, etwa aus dem eigenen Leben (protektive Faktoren und/oder schöne Erinnerungen an den Toten). Aber auch das Erleben der Stressoren kann zur Ressourcenmobilisierung herangezogen werden, indem man sie „positiviert“. • Lebensziele sind wichtig respektive deren Neu-Konstituierung und -findung (Sinnfindung nach Frankl); Im nachbesprochenen Beispiel: vor allem die gute Weiterbetreuung des Kindes, aber auch die neuen Erkenntnisse fürs Leben. • Die Entschädigung kann als Zeichen der Anerkennung wirken (im Gegensatz zu Ablehnung, Bagatellisierung und Gleichgültigkeit), birgt aber die Gefahr der Perpetuierung einer Begehrlichkeit in sich, die es gilt, therapeutisch hintanzuhalten. • Sinnvolle Kombination mit Medikamenten; aber nicht alles durch Tranquillizer längerfristig zudecken wollen. (Siehe auch Sigrun Rossmanith, II.)
Methodisch haben beim Psychotrauma die psychotherapeutischen Wege unterschiedliche Wertigkeit, können sogar teilweise schädigend wirken. • Kapfhammer gibt eine Reihe von Therapiemethoden an, die im Wesentlichen dem verhaltenstherapeutischen Inventar entnommen sind, warnt aber ausdrücklich davor, dass es durch das imaginative Flooding (Reizkonfrontation) zu deutlichen Verschlechterungen kommen kann. Es wirkt dann die therapeutisch gemeinte Exposition als Retraumatisierung. • Daher besteht auch nur beschränkte Anwendbarkeit der aufdeckenden und analytischen Methoden und der Gesprächstherapie wegen einerseits Gefahr der Retraumatisierung, anderseits bestehender Blockaden. • Analoges finden wir im Drees-Artikel (VII.), er führt deshalb in seiner defokussierenden Imaginationstherapie den Patienten bewusst fort vom traumatisierenden Fokus, um die durch die Retraumatisierung entstehende Blockade zu vermeiden. • Auch andere imaginative Methoden sind gut einsetzbar. Luise Reddemann sowie Sachsse haben ein spezielles Stufenprogramm dafür publiziert. In Kombination mit diversen anderen Methoden wie Eye-Movement-Desensitation, etc. Es wird auch der Wert der „spontanen Altersregression“ in der Imagination bei lang zurück liegenden und weiterhin wirksamen Psychotraumen aufgezeigt. Dieses interessante Phänomen in der imaginativen Psychotherapie scheint sich also besonders für die Behandlung von lang zurückliegenden Psychotraumen zu eignen. Es wurde ja auch von mir bei seiner Entdeckung und Erstbeschreibung an 2 solchen Fällen dargestellt (wenn auch damals das Psychotrauma noch keineswegs so en vogue war [F5]). • Ulrike Schmidt arbeitet mit Konzentrativer Bewegungstherapie zur Traumabewältigung. Unter dem Aspekt, das „Körpererinnerung“ bestehen bleiben kann, wo es keine rationale Erinnerung (mehr) gibt. Die vertiefte Körperwahrnehmung ist aber keineswegs allein therapeutisch wirksam, sondern es gehört entsprechende gesprächsweise Aufarbeitung dazu. (Vergl. F6.)
Zum speziellen Fall der Psychotherapie nach Folter betont Friedmann: Sie kann keineswegs das Trauma ungeschehen machen und soll das auch nicht anstreben. Man arbeitet hingegen daran das Trauma nachträglich in die Biographie integrierbar zu machen.
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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• Es besteht das irreal anmutende Phänomen (welches aber von vielen Seiten, die sich mit Folteropfern befasst haben, erwähnt wird), dass eine gewisse Identifizierung des Folteropfers mit dem Folterer stattgefunden hat, denn er war ja die einzige Bezugsperson. • Es besteht ein Schamgefühl für das Ausgeliefert-gewesen-sein und den Zustand der Entwürdigung, sei es sexueller Art, durch unvermeidlichen Stuhl- und Harnabgang, etc. • Es bestehen häufig Schuldgefühle. Sei es, dass der Gefolterte unter der Folter Dinge mitgeteilt hat, die sein Ich-Ideal ihm jetzt verbietet mitgeteilt zu haben; sei es, dass man ihn gezwungen hat, an der Folterung anderer teilzunehmen, er mitansehen musste, wie seine Familie seinetwegen gefoltert, dann getötet wurde, etc.
Fischer und Riedesser sprechen von einem „Pakt des Schweigens“, der sich sowohl zwischen Holocaust- und anderen Folteropfern als auch zwischen den Folterern ausbildet. Bei den Opfern geht es um obige Gründe und auch darum, dass man vielen anderen misstraut (wo haben sie vorher gestanden?). Es wurde schon gezeigt, wie die sinnvolle Therapie für jene Leute teilweise den Pakt des Schweigens auflösen kann, teilweise – ohne die ganzen Erinnerungen wieder hervorzurufen – Hilfe geben kann. Das kann auch im Rahmen der Reminiszenztherapie bei sehr alten Menschen stattfinden (wie ich aus Betreuungsarbeit in einem jüdischen Altersheim erfahren habe – F2). Die Folterer hingegen mit ihrer genannten „Identitätsverdopplung“ schlüpften ganz in die bürgerliche Identität zurück und leben völlig unauffällig. Wir wissen das von etlichen Prominenten des nationalsozialistischen Mord- und Folterregimes, die als brave Bürger dann irgendwo (meist in Südamerika) untertauchten. Einige wenige wurden viele Jahre später noch ausgeforscht. Die Frage einer Psychotherapie stellt sich hier somit nicht.
Im Rossmanith-Artikel (II) werden posttraumatische Belastungsreaktionen behandelt, die außerhalb der Folter liegen. (Diese wurde hier ausführlicher besprochen, weil sie a) zu den extremsten Formen der menschlichen Traumabelastung gehört, b) heute leider – nach ihrer seinerzeitigen Abschaffung durch die österreichische Kaiserin Maria Theresia – aktueller ist denn je.) Das im Rossmanith-Artikel über Psychopharmakamedikation Gesagte gilt auch bezüglich der Folteropfer. Hofmann und Mitarb. haben in einer 28-WochenStudie mit Sertralin (Tresleen®) gezeigt, dass die Plazebo-behandelten Patienten eine 6-fach höhere Rückfallquote zeigten. Einige Worte zu den relevanten Begutachtenspraktiken bei Psychotrauma. Die Begutachtung des Psychotraumas ist hier nicht unser Thema. Sie spiegelt aber sehr wohl die jeweilige wissenschaftliche Auffassung wider, die sich im Laufe der Zeit sehr stark verändert hat. Auch spielt die gutachtliche Wertigkeit bei jeder (Psycho-)Therapie mit eine wesentliche Rolle. Der (Psycho-)Therapeut soll daher jene Aspekte, wie schon gesagt, in seine therapeutischen Überlegungen und Methoden mit einbeziehen.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Die vernünftige Erwähnung und Mitberücksichtigung einer Entschädigung kann einerseits als „Anerkennung und Annahme“ therapeutischen Wert zur „Verdauung“ des Traumas haben; anderseits verschlechternd und perpetuierend wirken (was natürlich auch – abgesehen von den finanziellen Folgen – für den Patienten eine Verschlechterung der Lebensqualität mit sich bringt). Vergl. dazu auch meinen „Weltrekordfall“ eines Schleudertraumas mit 17 Begutachtungen in einem 21 Jahre laufenden (und dann auch nicht abgeschlossenen) Entschädigungsverfahren (G2). Eine Reihe weiterer Fälle, wo einerseits die Situation, andererseits aber auch unkritische ärztliche Äußerung zur Perpetuierung von Gutachtensansprüchen führten, habe ich dargestellt in meinem Artikel „Gutachtenssituationen als pathoplastischer Faktor“ (Barolin, Schmid und Cziudaj). Es müssen also beim (Psycho-)Therapeuten und beim Gutachter im Prinzip gleiche Erwägungen laufen, denn Gutachten und Psychotherapie können einander wechselseitig sowohl unterstützen als auch hemmen. Gutachter und Begutachteter sollen ja nicht als feindliche Positionen aufgefasst werden. Vielmehr kann und soll eine vernünftige Begutachtung zur bestmöglichen Weiterversorgung und Weiterentwicklung des Patienten beitragen. Dementsprechend bin ich auch (entgegen diversen anders lautenden Äußerungen) nicht der Meinung, dass die Rollen als Gutachter und Therapeut inkompatibel sind, nur muss man immer im Gespräch mit dem Patienten genau seine Position fixieren. Ich habe viele Patienten sowohl behandelt als auch begutachtet und betrachte also das Obgesagte nicht theoretisch, sondern aus langjähriger praktischer Erfahrung. (Näher dazu in Stellamor und Barolin.) Natürlich stellt sich auch bei Asylanten nicht selten die Frage, ob Foltertraumatisierungen wirklich vorliegen, oder nur behauptet werden. Friedmann sieht dazu aus seiner langjährigen speziellen Erfahrung kaum ein Problem, da man an dem allgemeinen Verhalten, speziell aber an den vegetativen Reaktionen deutlich den Unterschied erkennt, wenn das Gespräch auf die Folterung kommt. Diesbezüglich ist auch ein Gerät zur Pupillometrie in Erprobung, welches (nach dem Prinzip des „Lügendedektors“) deutlich ausschlägt, ohne dass eine willkürliche Beeinflussung möglich ist.
1. Ursprünglich bezog man sich nur auf die körperlichen Defekte und stellte auch für die Entschädigung gewisse Regeln auf (Gliedertaxe). Was man im organischen Befund nicht fassen konnte, wurde vielfach als „Rentenneurose“ abgetan. 2. Der nächste Schritt war die Bewertung subjektiver Traumafolgen mittels Schmerzensgeld. In der ehemaligen kommunistischen DDR allerdings (und wahrscheinlich auch in den anderen kommunistischen Ländern) gab es keine Entschädigung als Schmerzensgeld unter der „offiziellen“ Begründung: Schmerzen sind etwas derartig Gravierendes, dass sie mit Geld nicht abgeltbar sind. Bei uns ist das Schmerzensgeld (durchaus zurecht) etabliert. Der Schwierigkeit der Subjektivität entgeht man durch gewisse Erfahrungswerte (siehe ebenfalls G2 und 3). Entgegen anderen Gutachtern war ich immer der Meinung (und habe das auch in meinen Gutachten so bewertet), dass man keineswegs nur auf fassbare Organschäden abstellen dürfe, sondern es auch typische Beschwerden als Traumafolgen ohne fassbare Organschäden gäbe. Insbesondere habe ich immer auf die Schmerz-verstärkende und -verlängernde Wirkung einer posttraumatischen Depression hingewiesen. (Speziell beim Schleudertrauma, G2).
3. Es folgte ein nächster Schritt, indem man auch „seelische Schmerzen“ zu bewerten und anzuerkennen begann. Die diesbezüglichen Richtlinien wurden
A. Grundsätzliches / A3. Was ist Psychotherapie und was kann sie?
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in Österreich erstmals in einer Expertenkomission des Justizministeriums aus Nervenärzten, Gerichtsmedizinern und Psychologen erarbeitet und publiziert (Barolin, Griebnitz und andere Mitarb. 1994). Daraus: Eine Vermengung von körperlichen und seelischen Schmerzen ist sehr wohl möglich und auch oft zu beobachten. D. h. in diagnostischer Hinsicht: kein Entweder/Oder sondern ein Sowohl/Als auch, wobei eine wechselseitige Verstärkerwirkung gegeben sein kann. Es werden zwei wesentliche Arten der seelischen Schmerzen genannt: • Als nachempfindbare Depressivität über eingetretene Folgen und bestehende Behinderungen. • Als berechtigte Furcht vor zukünftigen Folgen und Behinderungen. Allgemein ist anzustreben, auf eine einmalige Entschädigung abzustellen und nicht durch Nachuntersuchungen der Perpetuierung Vorschub zu leisten (auch entsprechend Scherzers grundlegender Stellung in seinem Standardbuch über die Begutachtung. Scherzer und Krösl). Zur Befristung seelischer Schmerzen wird der Erfahrungswert herangezogen, dass solche nach maximal 2 Jahren von der Traumakausalität zur Persönlichkeitskausalität übergehen. Zur Erleichterung der gerichtlichen Begutachtung wird die übliche 3-Teilung empfohlen • Stark: totale Auslieferung und zu keiner nutzbringenden Tätigkeit fähig. • Mittelgradig: Die Fähigkeit zu irgendwelchen Aktivitäten und das Unvermögen dazu halten einander sozusagen die Waage, d. h.; deutliche Beeinträchtigung. • Leicht: Nur zwischenzeitig und nebenbei auftretend respektive bewältigbar und daher nur geringe Behinderung.
4. Nun ist man dazu übergegangen, seelische Schmerzen nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei seinen Angehörigen zu bewerten. Es darf dies nicht verwechselt werden mit Entschädigungsansprüchen einer Familie etwa bei Verlust des Familienvaters (als Ernährer). Es ist das für Österreich ein ziemliches Neuland und wurde erstmalig im „Kaprun-Prozess“ angewendet (in einer Seilbahn waren 155 Menschen verbrannt). Österreich folgt dabei einem allgemeinen Trend in der EU, wo derartige Bewertungen bereits üblich sind. Begreiflicherweise ist hier die Beurteilung noch schwieriger als in den vorbeschriebenen Fällen und wirft eine Menge neuer Fragen auf, die noch keineswegs gelöst sind: • Sind die seelischen Schmerzen bei Verlust eines Partners gleich, je nachdem ob man mit ihm gut zusammengelebt hat, oder ob man bereits vor einer Scheidung stand? • Was gilt für unverheiratete Lebenspartner (gleichgeschlechtlich oder gegengeschlechtlich), die heute mehr als üblich sind? • Wie wird der Verlust eines Kindes gegenüber dem Verlust eines Partners gewertet? • Wie kann Art und Ausmaß der seelischen Beeinträchtigung und die psychotherapeutischen Bemühungen (wie es die Judikatur verlangt) nachgewiesen werden?
Haller (einer der heute in Österreich führenden Gutachtensexperten) schlägt dazu vor, dass eine gewisse Standardisierung üblich werden sollte, um doch einigermaßen in die Nähe einer Gerechtigkeit zu kommen. Überdies fiele dadurch auch weg, dass der Geschädigte seine seelische Beeinträchtigung und seine psychotherapeutische Betreuung nachweisen muss, was ja Fragen bedingt, die üblicherweise nach so einem schweren Ereignis als taktlos aufgefasst werden müssen (siehe folgende Kasuistik).
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Interessant erscheint mir ein kürzlich im Fernsehen (2004) gebrachtes Statement einer Mutter mit Kind, die ihren Gatten in dem Gletscherbahnbrand vor 3 Jahren verloren hatte. Sie sagte, dass sie an dem Ausgang des Prozesses gar nicht interessiert ist und ihn auch nicht verfolgt. Würde sie Geld bekommen, hat sie nichts dagegen. Aber es spielt für ihr weiteres Leben keine Rolle. Für sie ist wichtig, dass sie den Verlorenen in guter Erinnerung behält, ihr Kind weiter gut aufzieht und auch selbst anhand jenes schweren Ereignisses neue Gesichtspunkte und neue Lebenseinstellung gewonnen hat. Besonders kritisiert wurde (von ihr und auch vom Kommentator) die (ja rechtlich bestehende) Verpflichtung, Art und Ausmaß der seelischen Beeinträchtigung nachzuweisen und auch anzugeben, welche therapeutische Maßnahmen sie dagegen unternommen habe. Sie erwähnte keine Therapeuten (beanspruchte sie keine oder erwähnte sie diese nur nicht?). Es sei aber für sie sehr hilfreich gewesen, befreundete Menschen gehabt zu haben, mit denen sie fallweise darüber reden und dabei auch fallweise ihren Gefühlen durch Weinen freien Lauf lassen konnte. Sie schien normal in ihrem Berufsleben (als Schilehrerin) integriert zu sein. Die Tochter schien in guter jugendlicher Weiterentwicklung zu stehen (bedingt wohl durch die optimale Haltung der Mutter). Eindrucksmäßig bei jenem Interview war sie gefasst und logisch. Es war ihre Reaktion durchaus adäquat und der Zuseher konnte nicht anders, als Hochachtung vor ihrer menschlichen Haltung zu empfinden. Es wurde dadurch eine pathologische Reaktion auf das Unfallereignis vermieden und eine physiologische (wünschenswerte und menschlich günstigste) kanalisiert.
Gesundheit Wenn hier von einer Reihe krankheitswertiger oder Leiden erzeugender Faktoren die Rede war, so drängt sich die Frage auf: Was ist Gesundheit? Diesbezüglich gibt es eine WHO-Definition, die völlig widersinnig ist (wie ja so manches einfach politisch „Verfügte“ ohne Sachkenntnis passiert [vergl. unser Psychotherapie-Gesetz A2]): Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens (zit. nach Lorenz). Warum nenne ich das „widersinnig“? Wenn jemand einen lieben Angehörigen verloren hat und dann in völligem psychischen Wohlbefinden ist, so muss man das eher für „krankhaft“ halten als für „Gesundheit“. Die physiologische Trauer gehört in unserem „gesunden“ Leben selbstverständlich mit dazu, würde aber in obiger WHO-Definition als krankhaft abgestempelt. Es ebnet das (der leider nicht unüblichen, aber ebenfalls völlig falschen) Praxis den Weg, jede Trauer medikamentös zuzudecken (näher dazu in B3). Bartl sagt zur WHO-Definition in seinem Artikel (III. A.): Sie umschreibt einen paradiesischen Zustand, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, der aber außerdem einem Generalversorgungsanspruch die Wege ebnet.“
Wollen wir eine realistische Gesundheitsdefinition geben, muss sie lauten: Zustand psychischen und körperlichen Wohlbefindens, wie es den äußeren Umständen angemessen ist, verbunden mit der Fähigkeit Krisen adäquat und ohne überschießende Krankheitssymptome zu bewältigen.
A. Grundsätzliches / A4. Wege und Ziele unterschiedlicher psychotherapeutischer Systeme
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Gleichsinnig bezeichnet Gabriele Moser als wesentlichsten Gesundheitsfaktor die Fähigkeit, pathogene Faktoren ausreichend wirksam zu kontrollieren. Die Verarbeitung von Krisen kommt schon in der Gesundheitsdefinition aus der Antike von Perikles vor. „Adäquat“ zeigt an, dass etwa eine protrahierte Trauer, welche in Depression übergeht, inadäquat also nicht als gesund zu werten ist. Es bezieht sich aber auch auf andere Symptome, die aus einer Krise entstehen können (etwa „Aktualneurose“ [siehe vorher]). Es schien mir deshalb nicht unwesentlich, dies etwas näher zu besprechen, weil sich an einem übertriebenen Gesundheitsbegriff auch die Persönlichkeitsveränderungs-Ideologie mancher übertriebener (unbescheidener) Psychotherapien und Psychotherapeuten orientiert. Wenn wir dem Patienten helfen, bestmöglich mit den Krisen seines Lebens umzugehen, so haben wir in der Psychotherapie schon viel für ihn erreicht. Es ist hingegen nicht unsere Aufgabe, ihn in einen paradiesischen Zustand zu führen.
Zusammenfassung über „Integrierte Psychotherapie“ siehe nochmals Abb. 1 in A1.
A4.
Wege und Ziele unterschiedlicher psychotherapeutischer Systeme
Schlagwort-Information Ich sehe als die zwei wesentlichen „Philosophien“ der Psychotherapie an: 1. das Angreifen an der Wurzel 2. das Angreifen am Symptom. In einer modernen Psychotherapie geht beides ineinander über. Es wird eine einfache Einteilung der zahlreichen psychotherapeutischen Schulen in 6 Gruppen vorgeschlagen. Sie sind durch die vordergründig wirksamen Faktoren charakterisiert (Abb. 5). Man kann darin eigentlich alles Gängige unterbringen. Überdies wird in einer Synopsis der unterschiedlichen Prinzipien der Psychotherapie versucht, die Gemeinsamkeiten und Gleichartigkeiten unterschiedlicher Methodik herauszuarbeiten und so zu einem besseren Verständnis mit besserer Indikationsstellung und besserer Erfolgsbeurteilung zu kommen.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Abgrenzung der vordergründigen Faktoren bei gängigen psychotherapeutischen Verfahren
Tanz, Physiotherapie Gymnastik
Alltagsgespräch
Pharmakotherapie Schule, Training
1. Verbale Kommunikation Gespräch Logotherapie Analyse Analytische Kurztherapie (Narko-Analyse, Psycholyse) 2. Soziodynamik Gruppentherapie Arbeitstherapie Familientherapie
Kunst Meditation
Beschützende Werkstätte Club, Verein Alltagsgruppierungen
Ubiquitär wirksam sind die mehrdimensional mitspielenden Grundverhaltensmuster wie: Übertragung, Gegenübertragung, Regression, Verdrängung, Identifikation, Kompensation, Projektion, Narzissmus, etc.
3. Darstellung Psychodrama Bildnerei 4. Hypnoid Hypnose Autogenes Training Imaginative Arbeit am Symbol – Katathy me Imagination – Autogene Imagination – Defokussierende Imagination 5. Üben und Lernen Verhaltens-Therapie 6. Primär über den Körper Konzentrative Bewegungs-Therapie Bioenergetik Atem-/Musik-Therapie Hippotherapie
Abb. 5 Wenn man die verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren nicht nach den einzelnen „Schulen“ einteilt, sondern nach den vordergründig wirksamen Faktoren, so ergibt sich eine Unterteilung in 6 Gruppen. Es ist darin alles derzeit an psychotherapeutische Methodik Gängige unterzubringen. Pfeile bezeichnen die Zusammenhänge mit nichtpsychotherapeutischen Aktivitäten oder medizinischen Maßnahmen sowie Übergänge zu diesen. Nochmals sei betont, dass die hier (zur schematisierenden Einteilungs- und Überblicksbildung) genannten Faktoren nur die vordergründig evidenten sind. Teilweise kommen sie „hintergründig“ bei den anderen Verfahren mit zum Tragen. • Vor allem natürlich die verbale Kommunikation bei allen Verfahren, • Wirkungen über den Körper auch beim Hypnoid, beim Üben und Lernen • etc.
A. Grundsätzliches / A4. Wege und Ziele unterschiedlicher psychotherapeutischer Systeme
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Man kennt heute etwa 300 unterschiedliche „Psychotherapie-Schulen“. Bei näherer Betrachtung sind diese aber nicht so sehr verschieden voneinander. Es geht vielmehr überall um wesentliche menschliche Grundphänomene und wesentliche Möglichkeiten des Eingreifens. Das wird nur in den Schulen verschieden gewichtet und unterschiedlich angegangen. Man findet in der Literatur vielfach die Unterteilung in 4 Arten, respektive „Traditionen“ der Psychotherapie: 1. Die tiefenpsychologische Tradition, 2. Die verhaltenstherapeutische Tradition, 3. Die systemische Tradition und 4. Die humanistische Tradition. Diese Einteilung ist offensichtlich sekundär an die vorhandenen „Schulen“ angeglichen worden. Ich kann damit aus mehreren Gründen nichts anfangen: • Es ist keineswegs alles, was wir in der Psychotherapie machen, dort unterzubringen (etwa die Hypnosetherapie?). • Warum hebt man eine „humanistische Tradition“ hervor? Beruht nicht alles, was wir in der Psychotherapie tun, auf humanistischer Tradition? Es handelt sich also um einen Pleonasmus. Erfreulicherweise wurde die Unlogik jener Vierteilung auch im neuesten Standardwerk von Möller, Laux, Kapfhammer hervorgehoben. Butollo und Mitarb. charakterisieren den Begriff der humanistischen Psychotherapie als nicht treffend, nicht abgrenzbar, sogar widersinnig und überwiegend aus berufspolitischen Interessen in die Welt gesetzt.
In Abb. 5 wird die meinerseits seit langem schon vorgeschlagene Einteilung der Psychoptherapiemethoden in 6 Gruppen wiedergegeben. Sie orientiert sich an den vordergründig dabei zum Tragen kommenden Faktoren (wobei ausdrücklich gesagt wird „vordergründig“), denn vor allem die verbale Kommunikation, die als vordergründig für die erste Gruppe fungiert, kommt weitgehend überall (auch) zum Tragen sowie einiges Andere. Und es bestehen auch sonstige Überschneidungen. Zur Übersichtsbildung scheint jedoch jenes Einteilungsprinzip gut geeignet zu sein. Es ist jedenfalls logischer als die leider in der Literatur figurierende genannte Vier-Teilung und man kann, so viel ich sehe, alle gängigen psychotherapeutischen Methoden darin unterbringen.*) Jene 6 Wirkfaktoren (die schon in Abb. 5 figurieren) sind also: 1. Die verbale Kommunikation, 2. Die Soziodynamik, 3. Die Darstellung, 4. Das Hypnoid, auch mit Arbeit am Symbol, 5. Das Üben und Lernen und 6. Die Wirkung über den Körper. Wurden mit den vordergründigen Wirkfaktoren sozusagen die Wege der Psychotherapie aufgezeigt, so soll folgend in einer kurzen Synopsis gezeigt werden, wohin diese Wege führen wollen. Es wird nachfolgend näher darauf eingegangen und erklärt. Die sechs vorgenannten vordergründigen Faktoren sind darin leicht wieder aufzufinden. *) Ich setze 100 Euro aus für den Ersten, der mir eine der gängigen Psychotherapie-Methoden nennen kann, die in dieses Schema nicht hinein passt.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Synopsis der wesentlichen Konzepte in der Psychotherapie (Was will die Psychotherapie erreichen und wie soll das geschehen?) 1. Das Gespräch hat unterschiedliche Dimensionen der Gewichtigkeit: vom beiläufigen • Geplauder über • Vertrauens- und Geborgenheitsbildung, • Aufklärungsmedium bis zur • spezifischen Gesprächs-Psychotherapie (B2). Bei dieser stellt es das psychotherapeutische Hauptinstrument dar. Darüber hinaus gibt es Psychotherapie-Methoden mit anderen vordergründigen Wirkfaktoren + Gespräch als wichtigem begleitenden Faktor. Praktisch gibt es keine Psychotherapie ohne Gespräch. 2. Das analytische Konzept geht davon aus, dass (früh-)kindliche Erlebnisse zwar aus der bewussten Erinnerung „verdrängt“ worden sind, aber vom Unbewussten her als Störfaktoren wirken. Sie sollen durch folgende Behandlungs-Prinzipien „entschärft“ werden (wie ich es nennen will, da sie ja nicht zum verschwinden gebracht, sondern nur in ihrer pathogenen Wirkung vermindert werden sollen): • Dass sie nach Bewusstmachung auf der rationalen Ebene besprochen werden. • Dass gewisse belastende Situationen wiedererlebt werden, aber in einer schützenden Beziehungssituation mit dem Therapeuten. Dazu werden eingesetzt, vor allem: • Freie Assoziationsketten, • Deutungen und Interpretationen dieser sowie unbewusster Verhaltensweisen, Träumen etc. (A4 [auf Synopsis folgend] Biebl IV).
Zu all dem gehört es, den Patienten zu verstärkter Introspektion (Innenschau) anzuregen, Einsicht, die besonders auch als „emotionale Einsicht“ – also über das Kognitive hinausgehend – wesentlich ist. Ich bin allerdings nicht allein mit meiner Ansicht, dass in manchen Psychotherapien zu viel Introspektion stimuliert und zu wenig für das reale Leben Brauchbares daraus gemacht wird. Kemper hat plakativ gesagt: „Es soll nicht vor lauter Introspektion die Kommunikation vergessen werden“. Ich glaube, es ist wichtig, dass der Patient, mit Hilfe des Therapeuten, aus seinen introspektiven Erlebnissen auch reale neue Ziele zu gewinnen versucht. Diesen Weg ebnet das folgend noch beschriebene salutogenetische Konzept. Auch die formelhafte Vorsatzbildung im Autogenen Training (D4) versucht aus introspektiven Erkenntnissen, die sich im Gruppengespräch ergeben, neue Wege zu bahnen. Substanzunterstützte Psychotherapie im analytischen Kontext wurde mehrfach angewandt: • In der „Narkoanalyse“ (Thiopental oder Valium [vergl. Fallbericht in G2]) erreichte man in einem dösigen aber Gesprächs-fähigem Zustand Hemmungswegfall und emotionale Auflockerung. • Bei der „Psycholyse“ (nach Leuner) gab man Halluzinogene (vor allem LSD) und erreichte damit parapsychotische Erscheinungen (vor allem Halluzinationen und Illusionen). Da diese immer auch durch die persönliche Psychodynamik mitgesteuert waren, konnte man sie anschließend „analytisch“ besprechen. • Alkohol als Zungenlöser (in vino veritas) ist bekannt, jedoch nicht in therapeutischem Gebrauch.
A. Grundsätzliches / A4. Wege und Ziele unterschiedlicher psychotherapeutischer Systeme
Heute glauben wir durch modernere Psychotherapiemethoden, insbesondere solche, die Bildhaftes vermitteln (siehe Punkt 11 dieser Synopsis) Gleiches erreichen zu können, ohne die beim Substanz-Gebrauch enthaltenen Risken (daher in Abb. 5 auch in Klammern).
3. Der systemische Ansatz will die Beziehungsstörungen im Rahmen einer Familie gesamthaft fokussieren und in ihrer Pathogenität entschärfen. Das stimmt eigentlich mit dem überein, was der „gute alte Hausarzt“ aus der Kenntnis der ganzen Familie und deren Mitbehandlung gemacht hat (wenn auch nur intuitiv und nicht spezifisch psychotherapeutisch ausgerichtet [vergl. Bartl III, sowie Waidhofer VI]). Einer der Pioniere der systemischen Familientherapie, Stierlin, charakterisierte sie folgendermaßen in Bezug zur einzel-analytischen Behandlung Freud´scher Prägung: „Es ist eine Kehrtwendung, die von einer wesentlich vergangenheitsbezogenen Psychoanalyse zu einer eher gegenwartsbezogenen Familientherapie führt. Alle Störungen werden sowohl für das betreffende Familienmitglied als für die ganze Familie positiv und bestätigenderweise verwertet“. Nach Freud hingegen ist „bei den psychoanalytischen Behandlungen die Dazwischenkunft der Angehörigen geradezu eine Gefahr“. So lehnen manche „fundamentalistische“ Therapeuten es auch heute noch ab, 2 Familienmitglieder gleichzeitig in Therapie zu nehmen, wie (berechtigterweise) Rechtsanwälte. Aber der Psychotherapeut ist ja kein Anwalt zweier feindlicher Parteien, sondern soll zur besseren Kommunikation helfen. Manche Therapeuten lehnen es sogar ab, bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit deren Eltern zu sprechen, was ich für besonders widersinnig halte. Es sollen ja den besorgten Eltern nicht Intimitäten aus dem Gespräch mit den Jugendlichen weitergegeben werden; aber ungefähr gesagt, was zu erwarten ist, wie man weitermachen und vielleicht an einem Strang ziehen kann.
4. Gruppentherapie verwendet die sich in jeder Gruppe entwickelnde Gruppendynamik therapeutisch. Dabei kann manches aus der persönlichen Psychodynamik stärker zum Tragen kommen, als in einer dualen Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten: neue Einsichten via Introspektion, Ratschläge, Vorbild, Abreaktion, etc. Dazu kommt das sogenannte „Probehandeln“ (D3). 5. Das salutogenetische Konzept versucht statt (wie die Analyse) auf die ungünstigen Erfahrungen und Schädigungen der Vergangenheit, auf positive Erfahrungen und Möglichkeiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu fokussieren. Der Ausdruck stammt von Antonovsky (ausführlich darüber mit entsprechenden Weiterentwicklungen und Anwendungen in der Monographie von Lorenz). Der Therapeut ersucht z. B. den Patienten, aus seiner Vergangenheit speziell die Dinge zu erzählen, bei denen er Erfolg gehabt hat, mit sich zufrieden war oder wo andere mit ihm zufrieden waren. Es soll damit die Eröffnung einer neuen Sinn-Dimension und RessourcenMobilisation gefördert werden. Durch diese Gewichtung des Positiven können Einstellung zu sich selbst, Verhalten und Haltung verbessert werden.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Das salutogenetische Prinzip ist kein eigenständiges psychotherapeutisches System, hat aber in etliche Schulkonzepte Eingang gefunden, teilweise auch schon vor Antonovsky und ohne benannt zu werden, speziell Logotherapie, Verhaltenstherapie. Grawe (ein wesentlicher Vertreter der Verhaltenstherapie) hat das mit Bezug auf diese folgendermaßen ausgesprochen: „In der Vergangenheit zu grübeln und sich darüber zu grämen oder zu empören, was einem alles Schlechtes widerfahren ist, bringt ebenso wenig, wie sich dauerhaft darüber zu grämen, dass man nicht schöner geraten ist. Wenn man sein Schicksal verbessern will, muss man es in die eigene Hand nehmen. Es ist daher neben der klärungsorientierten Psychotherapie auch wichtig, die Störungen, die aus der Gegenwart kommen mit bewusstem Handeln zu verändern.“
Es entspricht die salutogenetische Auffassung weitgehend der Meinung, die in vorliegendem Buch mehrfach zum Ausdruck kommt: Die Retrospektion (auch Introspektion) ist zum Erkennen tiefer Zusammenhänge nützlich und auch notwendig, aber nicht als Selbstzweck. Es sollen vielmehr aus jenen Erkenntnissen neue Positivstrategien entwickelt werden. Vergl. Altersrehabilitation (F2), „positive“ formelhafte Vorsatzbildungen des Autogenen Trainings (D4), Verhaltenstherapie (V), etc. 6. Frankls Logotherapie gehört zu jenen Therapiesystemen, die das salutogenetische Prinzip schon vor Antonovsky angesprochen haben (Antonovsky hat sich auch mehrfach auf Frankl berufen). Es geht darum, dem Patienten einen (unter Umständen neuen) Lebenssinn nahezubringen, so dass er ihn akzeptiert und als positive Motivation (gegen sein – von Frankl so benanntes – „existenzielles Vakuum“) internalisieren kann. B2, A5. Längle ist mit einer „personalen Existenz-Analyse“ auf dem Weg fortgeschritten. 7. Die Verhaltenstherapie beruht auf dem lerntheoretischen Ansatz, dass selbstschädigendes Verhalten auch „gelernt“ sein kann und so könnte man es auch wieder „entlernen“ (Zapotoczky V). Es kommen Prinzipien von „Verstärken“ und „Belohnen“ zum Einsatz. 8. Das Hypnoid hat unterschiedliche (neuro-)physiologische und psychische Wirkungen. Diese gilt es zu beachten und gezielt einzusetzen (C1, E2). • Wo die psychisch, vegetativ sedierende und relaxierende Komponente wesentlich ist, wirkt die vegetative Umschaltung an sich und dem Stress entgegen. Das gilt sowohl psychisch als auch körperlich (III. – Bartl; C3). Dabei ist auch die Bezeichnung Hypnose als „zudeckende Maßnahme“ stimmig. • Es gilt aber auch die anderen Wirkfaktoren des Hypnoids gezielt einzu-
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setzen. Vor allem Förderung der Introspektion und Suggestibilität (E2). Dabei wird, je nach Verfahren, entweder direkt am Symptom suggestiv angegriffen oder man verwendet die hypnotisch fazilitierte bessere Introspektion zur tiefergehenden Erkenntnis des Patienten über seine (eventuell weit zurück liegenden) Störfaktoren. Es kommt also dabei das schon vorbesprochene analytische Prinzip ebenfalls zum Tragen. Es werden auch die Ausdrücke „analytische Hypnose“, „Hypno-Analyse“, „lebensgeschichtliche Hypnose“, etc. dafür verwendet (C3). • Mehrfach kommt das Hypnoid in verschiedenen (nicht eigens als hypnotisch bezeichneten) Verfahren gezielt oder „nebenbei“ zur Wirkung: Imagination, Verhaltenstherapie, über den Körper gehende Psychotherapie, etc. 9. Bei unserem Modell der „2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenem Training“ (B) kommen mehrere therapeutische Prinzipien nebeneinander zum Tragen. Sie wirken aber nicht nur additiv, sondern wechselseitig potenzierend, nämlich • Das Hypnoid, durch die Selbsthypnose des Autogenen Trainings fördert Introspektion und Suggestibilität. (Wie oben näher besprochen.) • Selbsterkenntnisse werden auch durch „Ratschläge“, die aus der Gruppe kommen, gefördert. • Gruppendynamische Faktoren, wozu auch das Probehandeln in geschützter Atmosphäre gehört. • Anschließend werden die so erhaltenen Erkenntnisse in einer ausführlichen Gruppendiskussion (Therapeut + Gruppe) in positive formelhafte Vorsatzbildungen „verpackt“ und dem Patienten zum systematischen Selbstüben mitgegeben, damit sie aus dem Unbewussten weiter wirken können (Autosuggestion). Dieses System wurde von mir „2-stufig“ genannt, da es direktive und nondirektive Passagen verbindet. Direktiv ist der erste lehrende Anteil für das Autogene Training und der ausklingende Anteil mit der Suche nach formelhafter Vorsatzbildung. Nondirektiv wird hingegen das Gruppengespräch geführt, wobei der Gruppenleiter weder mit Interpretationen noch mit sonstigen Bemerkungen „dreinredet“ (Ausnahmen „notwendige Interventionen“ [D4]) und so der Gruppendynamik freien Lauf kanalisiert. Andere gruppentherapeutische Methoden verwenden ein stärker direktives Eingreifen des Therapeuten, so insbesondere die analytische Gruppenpsychotherapie, bei welcher der Therapeut ständig zwischenzeitig Deutungen gibt.
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Wenn aber auch bei unserem System der 2-stufigen Gruppentherapie der Therapeut nicht expressis verbis interpretiert, so bildet er sich jedoch eine hypothetische innere Interpretation (B2), daraus kommt dann sein Vorschlag für eine selbsthypnotische Formel („formelhafte Vorsatzbildung“), die aufgrund des Zusammenwirkens Gruppendynamik + (Selbst-)Suggestion + Hypnoid wirkt. Es wird also eine verbale Interpretationsphase übersprungen und gleich eine positive Strategie vorgeschlagen. Es geht immer um „positive“ Formeln respektive Vorsätze. Diese sollen jedoch keineswegs einfach „übergestülpt“ werden, sondern durch ausführliches Diskutieren mit entsprechenden Abänderungen zuletzt „maßgeschneidert“ sein. Bei dem Gruppengespräch, das der ausführlichen Durcharbeitung dient, liegt das Hauptgewicht auch wieder nicht bei einer Analyse der Situation. Vielmehr werden auch die Gruppenmitglieder dahingehend instruiert, dass sie durch Verbesserung der Formel jeweils direkt eine Positivstrategie anvisieren sollen. 10. Ratschläge vom Therapeuten haben das Ziel einer Verhaltens- und Haltungsänderung beim Patienten, sind aber – wie hier noch mehrfach ausgeführt – nur sehr mit Vorsicht anzuwenden. Denn sie werden oft nicht angenommen, wirken – wenn überhaupt – wesentlich weniger als SelbstErkanntes und Selbst-Erarbeitetes und müssen auch keineswegs immer richtig sein. Die positivere Bewertung von Ratschlägen in der Alters- und Kinderpsychotherapie wird noch entsprechend hervorgehoben werden. Die positive Wirkung von Ratschlägen, die aus der Gruppe in einer GruppenSituation kommen, wurde schon besprochen. 11. Sind Verfahren zu nennen, welche einerseits direkt auf der Primärebene bereits Wirksamkeit entfalten können (durch die Arbeit auf der Körperebene, durch die Arbeit auf der Symbolebene). Es kann auf diesen vorrationalen Ebenen vieles schon an sich wirken, vor allem durch Umgehung rationalere Hemmnisse. Anderseits kann dadurch der Weg zu einer rationalen Besprechung gebahnt werden. a) Bei der Katathymen-Imaginations-Psychotherapie (KIP – F5) regt der Therapeut in einem leichten Hypnoid das Auftreten bildhafter Imaginationen beim Patienten an, wobei dann typischerweise auch Symbolgestalten auftreten sollen (daher auch der Ausdruck „Symboldrama“). Der Therapeut bleibt auf dieser Symbolebene mit dem Patienten im ständigen empathischen Dialog (Anregung, Hilfestellung, Entängstigung, etc.).
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Die „innere Interpretation“ des Therapeuten bleibt noch „verborgen“ – im Gegensatz zur Formelgebung im AT. In der therapeutischen Nachsprechung (auch anhand von Zeichnungen) wird das symbolische Erleben ins Rationale übergeführt. b) Die defokussiernde Imagination von Drees (VII) führt bewusst fort vom pathogenen Fokus, versucht dadurch die gesunden Selbstheilungskräfte der Psyche zu stärken und blockierende Wirkungen (wie sie vor allem bei schweren Psychotraumen vorliegen: Vergewaltigung, Folterung etc.) zu umgehen. c) Bei der Autogenen Imagination (vergl. Bartl, III. – früher „Oberstufe des Autogenen Trainings“ genannt) lässt der Therapeut in der Gruppe nach gewissen therapeutischen Vorgaben imaginieren. Die Imaginationen werden dann im Gruppengespräch weiter verwertet. Jene Methode scheint mir vor allem für Gruppenimaginationen besser geeignet, als die KIP, welche mir hinwiederum für Einzel-Imaginationstherapie günstiger erscheint. d) Die Darstellungstherapie will Folgendes erreichen: • Abreaktion durch die Darstellung; • vermehrte emotionale Einsicht. In der kreativen Darstellungstherapie wird das durch freies Malen, Modellieren, etc. erreicht. Der Symbolgehalt der entstandenen Objekte kann deutungsmäßig besprochen und so zur weiteren Wirkung gebracht werden. e) Symbole und Imaginationen spielen auch bei der sogenannten Bibliound Poesie-Therapie (Petzold) mit. Der deutsch-persische Psychotherapeut Peseschkian verwendet speziell orientalische Märchen und Fabeln. Das Arbeiten mit Handpuppen haben Franzke und auch Petzold (letzterer speziell bei alten Menschen) beschrieben. 12. Das Psychodrama ist eine Form der Darstellungs-Therapie bei welcher der Patient keine Objekte („kreativ“) darstellt, sondern sich selbst. Durch das unmittelbare Erleben kann einerseits Abreaktion, anderseits emotionale Einsicht gefördert werden, verbunden mit dem sogenannten „Probehandeln“. Da das Ganze in eine Gruppentherapie eingebunden ist, kommen auch gruppendynamische Elemente zur Wirkung. Einzelne Elemente des Psychodramas werden mehrfach in anderen Verfahren mit verwertet, speziell in der Gestalt-Therapie (siehe noch später); aber auch didaktisch: GesprächsSchulung mit Rollentausch etc. Eine spezielle Form des psychodramatischen Arbeitens sind die in letzter Zeit stark in den Vordergrund gerückten „Familien-Aufstellungen“ (Hellinger [zit. nach Schneider]; Anna Schoch). Es symbolisieren dabei einzelne Gruppen-Mitglieder die Familien-Mitglieder eines anderen (dessen Probleme gerade zur Diskussion stehen). Es kann dabei zu starken
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Emotionen kommen. Diese können natürlich durch eine gute Gruppen-Leitung in positive psychotherapeutische Erkenntnisse übergeleitet werden. Wo das nicht der Fall ist, können sich daraus psychodynamische Gefahren ergeben. Derartige Fälle sind mir aus WochenendIntensiv-Seminaren und Ähnlichem zur Kenntnis gekommen. Eine Variante ist das sogenannte „Familienbrett“, wo kleine stehende Puppen mit beweglichen Köpfen und Extremitäten auf einem Brett die Familie darstellen sollen und der Patient dann die einzelnen Positionen festlegt, mit Kopf-Drehung und Extremitäten auch zeigt, wie die einzelnen Familien-Mitglieder zueinander stehen. Das ist insofern nichts ganz Neues, als es in der Kinder-Psychotherapie schon lange als der sogenannte Scenotest benützt wird. Die Einführung in die Erwachsenen-Psychotherapie hat gezeigt, dass auch dabei manches Weiterführende resultiert. Es kann der „Test“ (B4) fließend in die Therapie übergeleitet werden. Über die 3 letztgenannten Psychotherapiemöglichkeiten (d, e, 12) sind im vorliegenden Buch keine ausführlichen Darstellungen. Es kommt aber in F6 einiges darüber zur Sprache.
13. Die über den Körper gehende Psychotherapie wird dadurch zur Psychotherapie, dass neben den diversen körperlichen Wirkungen auch die unbewusste Wirkung des Körperlichen auf das Seelische besonders beachtet und weiter verwendet wird (A1, 2, 3 sowie F6). Dabei kommen hintergründig hypnoide Komponenten (mehr oder weniger gezielt angewendet) zum Tragen. Das spielt sicher bei der Wirkung wesentlich mit. 14. Das Interpretieren wurde schon mehrfach erwähnt und sei nochmals gesamthaft besprochen. a) Im Umgang mit dem Patienten und seiner Störung interpretieren wir Psychotherapeuten ja ständig innerlich. D. h. wir bilden uns Zusammenhangstheorien zwischen den Störbildern und evt. Ursachen. Diese „innere Interpretation“ kann hintergründig bleiben und in gewisse psychotherapeutische Techniken umgesetzt werden, ohne dass man sie verbalisiert. b) Im Allgemeinen bezeichnet man aber als Interpretieren das Verbalisieren, „Deuten“, jener Zusammenhänge. Es bildet einen wesentlichen Bestandteil der analytischen Konzeption, wird auch in der analytischorientierten Kurztherapie sowie in der analytischen Gruppenpsychotherapie verwendet. Dabei geht es darum, die Interpretation nicht dem Patienten „an den Kopf zu werfen“, sondern zu versuchen, ihn durch vorsichtiges Heranfragen selbst darauf hinzuführen. Man sieht durch das Feedback, ob man auf dem richtigen Weg ist und auch, ob der Patient schon reif dafür ist. Vorschnell übermittelte Interpretationen werden oft vom Patienten nicht angenommen, trotzdem oder
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gerade weil sie stimmen. Anderseits können sie sehr stark von der eigenen Psychodynamik des Therapeuten mitbestimmt sein und daher auf den Patienten nur teilweise oder gar nicht zutreffen. Allgemein kann man sagen, dass eine Interpretation – im Sinne der Mehrfachdetermination – kaum ganz richtig oder ganz falsch sein kann. Im Hinblick auf jene vielen Variablen schließe ich hier den Rat an, mit Interpretationen äußerst zurückhaltend zu sein. Es gilt das speziell für Anfänger, aber auch ich selbst halte mich weitgehend daran. Es kommen dabei – entsprechend vielfacher Erfahrungen mit der genannten 2-stufigen Gruppentherapie mit Autogenem Training – ganz andere Dinge zur Sprache als sie sich einem selbst zur Interpretation aufgedrängt hätten, die unter Umständen für die Patienten sehr bedeutsam sein können. Diese meine „Taktik“ steht im teilweisen Widerspruch zu analytischen Techniken. Es muss aber gesagt werden, dass auch diese zu vorsichtiger Interpretation und eher zum Kommenlassen der Erkenntnisse raten (Man vergleiche in Kap. F1 das über die „Böse Schwiegermutter“ Gesagte.)
15. Die genannten Therapie- und Wirkungsprinzipien werden heute vielfach gemischt und kombiniert. Diesbezüglich hat sich besonders seit etwa 50 Jahren die Gestalttherapie (von der Erkenntnis, so genannt dass mehreres zusammen eine Gestalt bilden kann, die mehr ist als die Summe des Einzelnen) als eigene Therapieform deklariert und ziemlichen Anklang gefunden. (Ausgehend von dem Ehepaar Perls). Näheres darüber in einem zusammenfassenden Buch von Hochgerner und Mitarb. Es wird im Hier und Jetzt gearbeitet, Deutungen werden vermieden, jedoch spezielle Aufmerksamkeit auf die Körperreaktionen gelenkt. Gewisse Techniken werden aus dem Psychodrama übernommen, so Rollentausch und die Technik des leeren Stuhls; aus der Imagination: die Aktivierung innerer Bilder im Zusammenhang mit Körpersensationen. Das Ganze spielt sich in Gruppen ab, wobei die Gruppe weitgehend als verstärkender „Resonanzboden“ der Interaktion zwischen Gruppenleiter und dem angesprochenen Gruppenmitglied aufgefasst wird. – Eigenerfahrungen fehlen. Gerade bei der Vielgestaltung und mehrfachen Überschneidung der heutigen psychotherapeutischen Techniken scheint es umso wichtiger, dass man sich die unterschiedlichen Grundgedanken einigermaßen differenziert (und somit auch schematisiert) vergegenwärtigt, um die gängigen Psychotherapien im Sinne der zugrunde liegenden Prinzipien klarer zu durchschauen und möglichst optimal für den Patienten einzusetzen (sei es bei eigener therapeutischer Tätigkeit, sei es durch sinnvolle Zuweisung).
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Nach dieser „Synopsis“ – die gewissermaßen auch eine Vorschau auf das gesamte Buch gibt – nun ausführlicher zu einzelnen Methoden und Verfahren. Es bleibe jedoch dem geschätzten Leser unbenommen fallweise auf jenen übersichtsweisen Vergleich der unterschiedlichen Methoden zurückzublicken, um sich die klare Einordnungsmöglichkeit wiederum vor Augen zu führen. Vorerst noch einige Worte zur Psychoanalyse Sie ist die älteste und am besten durchgearbeitete Psychotherapiemethode. Mit ihrer Begründung ist zweifelsfrei Freud der wichtigste Pionier unserer heutigen Psychotherapie (siehe auch Folgekapitel). Das Wesentlichste, grundlegend Neue und für die ganze Psychotherapie Richtungsweisende ist die Erkenntnis, dass kindliche Erlebnisse auf das gesamte spätere Leben maßgeblichen Einfluss haben. Wagner-Jauregg (Wiener psychiatrischer Nobelpreisträger der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts) hat den sarkastischen Satz geprägt: „Der Aszendent schädigt den Deszendenten a) durch die Vererbung, b) durch die Erziehung.“ Erweitert man das Wort Erziehung auf die gesamte Kindheitsentwicklung, so liegen die Auffassungen der beiden großen Wiener Psychiater, Freud und Wagner-Jauregg, gar nicht so weit auseinander (wenn auch sonst ihre Auffassungen und Wirkungsbereiche durchaus konträr waren). Natürlich ist aber der Sarkasmus Wagner-Jaureggs dahingehend zu ergänzen, dass wir in der Kindheit keineswegs nur geschädigt werden, sondern allgemein geformt, auch mit allen unseren positiven Eigenschaften. – Mir scheint in diesem Zusammenhang besonders wesentlich (mit Küstner) darauf hinzuweisen, dass man nicht hinter dem fallweise Negativen, das aus der Kindheit kommt, das von ebendort kommende Positive ganz in den Hintergrund rückt. Es ist ja doch ein Großteil der individuellen und über Generationen gehenden menschlichen Entwicklung durch das Eltern-Kind-Verhältnis geprägt, mit seiner Vorbildwirkung, Identifikationsmöglichkeit, Erziehungswirkung etc. Es ist also durchaus notwendig, in der Familienbeziehung nicht nur die Pathogenese sondern auch die Salutogenese zu sehen und in die Psychotherapie (etwa die „Ressourcenmobilisierung“) mit einzubeziehen. Diese Zwischenschaltung schien mir sehr wesentlich, bevor auf therapiebedürftige Schädigungen aus der Kindheit eingegangen wird.
Vieles Kontraproduktive und potenziell Schädigende wird in der Kindheit einfach hingenommen, hinterlässt keine Schädigung und wird vergessen (ich möchte plastisch sagen, anstandslos „verdaut“). Alles wird aber nicht so klaglos verdaut, sondern zwar nicht erinnert, aber „verdrängt“. D. h. das Engramm des Erlebnisses bleibt als potenzieller Störfaktor liegen. Dieser wird – entsprechend auch dem allgemeinen organmedizinischen Sprachgebrauch – als Fokus bezeichnet (siehe später „Fokaltherapie“ etc.). Begünstigend für eine derartige (psychisch unbewusste) „Fokalwirkung“ sind die bereits in A3 genannten Punkte für die multifaktorielle Ätiologie der Neurose, nämlich: • vital-bedrohende Früherlebnisse, • Faktoren aus der Sozialsituation, • Fehlen protektiver Faktoren, • evt. wirksam gemacht durch einen Aktualkonflikt.
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Wie schon vorausgeführt, versucht die psychoanalytische Behandlung jene pathogenen Foci zu „entschärfen“ durch Bewusstmachung und rationale Aufarbeitung. In der klassischen Analyse liegt der Patient entspannt auf einer Couch und soll verbalisieren was ihm einfällt, sich dabei möglichst der rationalen Korrektur begeben. (Freie Assoziationsketten.) In anderen Konzepten (Alfred Adler, verschiedene analytisch-orientierte Kurztherapien etc.) ist man von der liegenden Position heute zur gegenübersitzenden übergegangen, was natürlich auch den wesentlichen Unterschied macht, dass Therapeut und Patient einander im Auge haben, während der klassische Analytiker hinter dem Kopf des Patienten sitzt. Der Therapeut lässt möglichst viel frei kommen, stimuliert den Assoziationsfluss etwas und bietet dann im Gespräch Deutungen an.
Das soll im Rahmen einer sich bildenden starken Beziehung vom Patienten zum Analytiker (Übertragung) vor sich gehen, also ein neuerliches Wiedererleben, aber unter gesichertem emotionalem Rückhalt. Jene „Übertragung“ soll in der Schlussphase der Behandlung wiederum Schritt für Schritt gelöst werden. In der klassischen Analyse werden für diesen Prozess mehrere hundert Stunden veranschlagt. Allerdings muss eingefügt werden, dass diese Langzeitanalysen sich erst in den analytischen Schulen der Nachfolge Freuds entwickelt haben. Er selbst machte kürzerfristige „Kuren“ („talking cures“). In verschiedenen Fällen (und das wurde auch publiziert) ist es bis zu über Jahrzehnte dauernden Analysen gekommen. Es kann das auch als „ewige Analyse“ bezeichnet werden. Wir wissen von Menschen, denen ihr Analytiker so unentbehrlich schien, dass sie denselben Urlaubsort mit ihm aufsuchten (woraus natürlich wieder ersichtlich wird, dass es sich nur um Einzelne einer elitären Oberschicht gehandelt haben kann). Ich möchte dazu Folgendes kommentieren: • Mit ein (auch ethisches) Ziel der Psychotherapie ist es, den Menschen autonom zu machen, nicht abhängig. Es entspricht das durchaus Freuds ursprünglich formuliertem Therapieziel des arbeitsfähigen, genussfähigen und liebesfähigen Menschen (VI. C3). Auch wenn man nicht pures Gewinnstreben des Analytikers für jene (ewigen) Analysen annimmt; Hat er nicht den „Abschied von der eigenen Göttlichkeit“ (Bartl – A1) verabsäumt? Ich glaube, dass man in manchen jener Fälle auch von einer „Schädigung des Patienten“ (vergl. H1) durch falsche Selbsteinschätzung und falsche Therapiewirkung durch den Therapeuten sprechen kann. • Es gibt allerdings gewisse Fälle, wo tatsächlich eine langandauernde psychotherapeutische Begleitung zur Stützung des Patienten sinnvoll erscheint. In solchen Fällen glaube ich, soll man nicht von Psychotherapie sondern von Psychorehabilitation sprechen. Durch gewisse Konstellationen kann sich der Patient schwer verselbstständigen (etwa der Angehörige eines unheilbar Kranken, dieser selbst oder ähnliches), und der Therapeut stellt sich als ständige Krücke zur Verfügung. Diese Möglichkeiten sollten aber auch klar differenzierend angesprochen werden.
Zurück zu unserer Hauptfrage: Psychoanalyse in der Integrierten Psychotherapie? Freud selbst und Balint (der spätere Präsident der britischen psychoanalytischen Gesellschaft) haben den Wert der „reinen“ klassischen Psychoanalyse für die allgemeine Psychotherapie relativiert.
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Bei Balint und Balint wörtlich: Freud sagte im Jahr 1918 über Wege der psychoanalytischen Therapie: „wie immer diese zukünftige Psychotherapie sich gestalten möge, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiss die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind. Wir werden aber sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Psychoanalyse reichlich mit Kupfer der direkten Suggestion zu legieren und auch die hypnotischen Beeinflussungen können dort wieder eine Stelle finden.“ Balint weiter „Die Psychoanalytiker, und nicht nur diese, haben sich so verhalten, als seien jene Freud-Worte ein Adelsbrief, der ihnen, den alleinigen Besitzern des reinen Goldes, Vorrang und Vorrechte zusichert. Dadurch kam keine wahre gemeinsame Forschung zustande … Obwohl wir kein Goldkörnchen der psychoanalytischen Entdeckung verschmähen, haben wir uns überwunden, auch ihre Begrenzungen offen zuzugeben, vor allem diejenigen, die durch den Rahmen erwachsen, in welchem die psychoanalytische Behandlung stattfindet.“
Für die Ausbildung des Psychotherapeuten erscheint die Analyse von besonderem Wert. (Siehe auch die Aussagen von J. H. Schultz im nächsten Kap. sowie in H1, die möglichen Schädigungen von Patienten, die durch mangelnde Selbstreflexion von Therapeuten verursacht werden,) – Eine ordentlich analytische Selbsterfahrung sollte hier eine wesentliche Psychoprophylaxe sein (wenn sie auch keineswegs aus allen Analysanden Idealmenschen macht). Auch wird unser ganzes Verständnis von den Reaktionsweisen des Individuums maßgeblich von den Erkenntnissen der Psychoanalyse beeinflusst, auch dort, wo diese in ihrer klassischen Form nicht angewendet wird. Hingegen kommt die klassische Analyse (mit ihren mehreren hundert Stunden Erfordernis) für die integrierte Psychotherapie unserer Definition kaum in Frage, denn in Abb. 1 steht ja speziell dafür auch als ein Erfordernis die ökonomische Machbarkeit. Für besondere Arten der integrierten Psychotherapie (speziell Psychotherapie im Alter, Psychotherapie beim körperlich Kranken etc.) ist analytische Psychotherapie aber, auch abgesehen von den Kosten, nicht geeignet. Das entspricht den ursprünglichen Auffassungen Freuds, wird u. a. von Radebold und Hirsch (zwei aus der tiefenpsychologischen Tradition kommende Therapeuten) klar festgestellt und wird bei der Alterspsychotherapie (Kap. F) noch näher besprochen.
Für die Alltagspraxis hat sich ein breites Spektrum von verschieden gestalteten analytisch orientierten Kurztherapien etabliert. Es gibt eine Bekanntmachung des deutschen Ärzteblattes, dass der wissenschaftliche Beirat Psychotherapie Folgendes beschlossen hat: Es besteht keine wissenschaftliche Grundlage für eine Unterscheidung zwischen tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie als zwei getrennter Verfahren. … Es wird beschlossen, einen Oberbegriff „Psychodynamische Psychotherapie“ für beides zu verwenden. … Je nach Verfahren wird stärker im Hier und Jetzt oder im Dort und Damals gearbeitet. … Es gibt stärker aktive oder eher zurückhaltende Interventionstechniken. Ermann und Waldvogel nennen tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie eine solche, der zwar die Persönlichkeits- und Krankheitstheorie der
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Psychoanalyse zugrunde liegt, die aber zum Teil andere Methoden entwickelt hat. Ungefähr gleichsinnig auch Reimer. Innerhalb der dort genannten „eigenen Methoden“ rangieren Begrenzungen, Fokussierungen (gezieltes Bearbeiten [nur] des pathogenen Fokus) und eklektische Interventionsmöglichkeiten, je nach Notwendigkeit, aber auch je nach der Eigenintention des Therapeuten als da sind • Elemente psychologischer Beratung • Elemente supportiver Therapie (B2) • Anleihen aus anderen Therapierichtungen, bevorzugt aus der Verhaltenstherapie (Ermutigung, Verstärkung, Belohnung, Nichtbeachtung etc. [V]). • Pädagogische Elemente sowie Krisenmanagementelemente. (II. B; IV. C4) • Einiges weitere zur Kurztherapie in Kap. D3 sowie im Biebl-Artikel IV: Damit nähert sich die analytisch-orientierte Kurztherapie wieder viel mehr der Arbeit am Symptom an, als es in der klassischen Analyse Gebrauch ist. Anderseits hat sich längst herausgestellt, dass das Autogene Training keineswegs nur eine „zudeckende“ Methode ist (worunter man verstanden hat, eine nur Symptom-orientierte Therapie, welche sich um die Ursachen nicht kümmert, siehe Kap. C1). Man weiß heute, dass durch die vegetative Umschaltung zum Hypnoid eine ausgesprochene Förderung der Introspektion vor sich geht, welche auch „analytische“ Erkenntnisse auf den Weg bringen kann.
So kann man sagen, dass die beiden wesentlichen Prinzipien der Psychotherapie, nämlich einerseits das („analytische“) Angreifen an der Wurzel, anderseits das Angreifen am Symptom nicht mehr – wie fast weltanschaulich – getrennt sind. Sie rücken viel enger zusammen. Das verdanken wir den Erfahrungen, die sich im Laufe der Zeit am Patienten ergeben haben! • Die tiefenpsychologisch arbeitenden Methoden fördern Erkenntnisse aus dem Unbewussten (auf Basis der klassischen Analyse), gehen aber dazu über, mit deren Kenntnis auch im hic et nunc (Hier und Jetzt) und am Symptom anzugreifen. • Die primär am Symptom und im hic et nunc angreifenden Methoden, speziell der Hypnose und des Autogenen Trainings haben im Sinne der begleitenden Gesprächstherapie (respektive im Rahmen unserer 2-stufigen Gruppentherapie mit integriertem Autogenem Training [D]) die Möglichkeit ergriffen, auch tiefenpsychologisches Material zu fördern und zu verwenden.
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Wichtige analytische Richtungen Eines der wichtigsten Theoreme Freuds teilt das Seelische in drei Instanzen („Strukturmodell“), die Ermann und Waldvogel in ihrer Definition (kürzestmöglich) wiedergeben: • Es als Triebreservoir. • Ich als Steuerungsinstanz, • Über-Ich / Ich-Ideal als normative Größe. Johann Nestroy, der große österreichische Volksdichter hat allerdings schon den Kampf „Ich gegen Ich“ erkannt. Er lässt eine seiner Bühnenfiguren sagen: „Ich möchte mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere is: I oder I.“ Ein Patient, dem ich vom Über-Ich erzählte, sagte mir: „Dann muss es doch eigentlich auch ein Unter-Ich geben“. So kam ich durch jene Vermittlung zur Entdeckung des Unter-Ich. Ihm, wie auch dem Dichter Nestroy schien es offensichtlich einleuchtend zwei Ich-Instanzen zu erkennen. Ob das vielleicht besser ist als die Freud`sche Dreiteilung? – Ich will deshalb und damit aber keineswegs eine neue psychonalytische Schule gründen.
Adler distanziert sich von Freud’s 3-Instanzen-Schema und vertritt eine undurchbrechbare Einheit des Seelenlebens. Die vom ihm so genannte „Indivi-
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dualpsychologie“ stellt in ihr Zentrum die Annahme, dass jeder Mensch ständig in bewusster und unbewusster Weise bestrebt ist, das subjektive Erleben von Mängeln zu überwinden. Adler bezog sich einerseits auf sogenannte „Organminderwertigkeiten“. Es habe aber anderseits auch das Kind ein Minderwertigkeitsgefühl, das es durch Kompensation zu überwinden versucht. Diese kann aber auch über das Ziel schießen und dadurch zu (eventuell) kontraproduktiver Überkompensation werden. (Die Bezeichnungen: Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation und Überkompensation sind heute bereits in die Alltagssprache übergegangen.) Durch das Ausmaß des Überlegenheitsstrebens und durch die Stärke des Minderwertigkeitsgefühls wird der Grad des Gemeinschaftsgefühls eines Menschen bestimmt, das sich in den drei großen Lebensbereichen Liebe, Arbeit und Gemeinschaft beweist (Zapotoczky 2003a sowie Datler). Das klassische Beispiel einer gelungenen (Über-)Kompensation ist Demosthenes. Wegen Sprachschwierigkeiten übte er mit einem Stein im Munde und gegen den Sturm. So wurde er der größte Redner des Altertums und seine flammende Rede gegen den Makedonier-Anführer Philipp war kriegsentscheidend („Philippika“ wird daher noch jetzt eine ausdrucksstarke Rede genannt). Im Versehrtensport finden wir eine wichtige Kompensationsmöglichkeit von Defekten, die eine ganze Lebenseinstellung verändern kann (E3). Allerdings kann es dabei auch zu einer gesundheitsschädigenden Überkompensation kommen. Bei der „Persönlichkeit des Psychotherapeuten“ (A5) kann die gelungene Kompensation eigener Defizite durch Erfahrungen und Sensibilität ein Positivum für den Patienten darstellen, ihr Misslingen ist schädlich. Misslungene und schädliche Überkompensationen sehen wir bei manchen Ausländer-Abkömmlingen, die dann zu Ausländerfeinden werden. Eine positive Überkompensation sehen wir bei manchen Holocaust-Überlebenden, die dann besonders tolerant geworden sind. (Siehe A3 [Kerstin Muth über die Versteckten Kinder], A5 [Frankl nach dem Konzentrationslager].) Kompensation und Überkompensation sind also ubiquitär im menschlichen Bereich zu finden.
Weiters stellt Adler stark auf die sozialen Strukturen ab. Daher hat sich die Wirksamkeit der Individualpsychologie in der Pädagogik (neben der Medizin) stärker manifestiert. C. G. Jung entwickelte auf analytischer Basis ein System, welches analytische Psychologie genannt wird. Ein wesentlicher neuer Gedanke ist das kollektive Unbewusste. Darunter versteht Jung Steuerung durch die ganze Lebens- und Funktionsform der Ahnenreihe (Phylogenese, bis zum Tier), woraus sich eine vererbte Disposition ergibt, wieder so zu reagieren, wie immer reagiert wurde. Dadurch ergeben sich transpersonale, (zumindest potenziell) alle Menschen betreffende typische Funktionsformen. Diese Ansichten belegt Jung auch aus den Gemeinsamkeiten vieler Sagen, Mythen, Träume und Religionen. Als Archetypen werden urtümliche Bilder bezeichnet, die als Ausformungen des Seelenhintergrundes sich zeigen. Damit tritt die westliche Psychologie aus einer „personalistischen Enge“ heraus und wird transpersonal (v. Heydwolff).
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Besonders bei der Sexualität konnten wir darauf hinweisen, dass Faktoren des kollektiven Unbewussten evident sind (F3). Es ist übrigens beachtenswert, dass Freud in einer seiner Vorlesungen im Jahr 1922 Gedanken äußerte, die durchaus dem „kollektiven Unbewussten“ von Jung entsprechen, ohne diesen auch nur zu erwähnen. „Über die Triebquellen werden jedes Mal die menschlichen Urphantasien mit Inhalten geschaffen, die phylogenetischer Besitz sind. Das Individuum greift gegenüber seinem eigenen Leben hinaus, in das Leben der Vorzeit, wo sein eigenes Erleben allzu rudimentär geworden ist. Es scheint mir sehr wohl möglich, dass alles, was uns heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird … in den Urzeiten der menschlichen Familie einmal Realität war, und dass das phantasierende Kind einfach die Lücken der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt hat. Wir sind wiederholt auf den Verdacht gekommen, dass uns die Neurosen-Psychologie mehr von den Altertümern der menschlichen Entwicklung aufbewahrt hat, als alle anderen Quellen.“ Jung wurde also nicht zitiert, hingegen in denselben Vorlesungen Adler, aber nur um zu sagen, dass das und das in seinen Ansichten falsch sei. Der Schweizer C. G. Jung wurde zwar anfänglich in seiner Befassung mit der Psychoanalyse von Freud auch deswegen besonders geschätzt, weil er einer der wenigen nicht-jüdischen Analytiker war und Freud hoffte, dass die Psychoanalyse damit das Odium einer rein jüdischen Angelegenheit verlieren würde. Allerdings ergab sich dann auch zwischen Freud und Jung 1913 (ebenso wie vorher zwischen Freud und Adler 1911) eine Entfremdung resp. Gegnerschaft. Es haben sich also die Altmeister der Psychotherapie (Freud allen voran) nicht als Meister der Toleranz erwiesen. Leider hat manches aus dieser schlechten Tradition (wie in A2 und C4 gezeigt) auch Ausläufer in unsere Zeit. Hoffen wir auf eine Zukunft mit Toleranz, wechselseitiger Anerkennung, Von-einander-lernen und gemeinsamen Forschungsbemühungen!
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Wenn man die drei Gallionsfiguren der Psychoanalyse (Freud, Adler und Jung), mit ihren wesentlichen Gedanken und Prinzipien betrachtet, so erscheinen diese durchaus plausibel, und man kann auch verstehen, dass eine darauf aufbauende Psychotherapie günstige Wirkung entfaltet. Sie haben also alle Recht (das zumindest meines Erachtens). Schade nur, dass vielfach auch ein „Allein-Recht-haben“ postuliert wird. Es wurde in der Freude am Erforschten und Erkannten übersehen, dass man nur eine Facette der menschlichen Existenz (wenn auch eine wichtige) erfasst und daraus ein Modell gemacht hatte. Von jeder Seite her kann man aber gut in die Tiefe der menschlichen Persönlichkeit dringen und Gutes bewirken. – Es drängt sich die Analogie zur Ringparabel aus „Nathan der Weise“ auf (siehe evt. Glossar). Für die praktische Arbeit ist es sicherlich zweckmäßig, sich primär an einem etablierten System zu orientieren, dann aber individuell zu sehen, wo man etwa von dem schulisch Gelernten in das individuell Gestaltete abzweigen soll oder kann. Es ist das eine Gesetzmäßigkeit, die im ganzen menschlichen Leben (und nicht nur für den Psychotherapeuten) gilt: Zuerst solides Grundwissen sich aneignen, dann darüber hinaus (unter kritischer Berücksichtigung des Verantwortbaren) frei gestalten. Das bedingt erhöhte Unsicherheits- und Risikofaktoren, aber auch den persönlichen und letztlich allgemeinen Fortschritt.
Neben den Schulen von Adler und Jung sind, fußend auf der Freud’schen Grundkonzeption der Psychoanalyse, eine ganze Reihe weiterer „Nachfolge-
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Schulen“ hervorgegangen, die Teile des Freud’schen Gebäudes modifiziert und/oder weiterentwickelt haben. Eine gute Darstellung jener „NachfolgeSchulen“ ist in Freedmann und Mitarb. nachzulesen oder (populärer) bei Zundel und Zundel. Ich werde im Folgenden nur auf die mir heute bedeutungsvoll, weil zukunftsweisend erscheinenden, kurz eingehen. Balints Relativierung der klassischen Psychotherapie für die Praxis wurde schon erwähnt. Während Freud die Betonung auf (früh-)kindliche Erlebnisse legte, hat der amerikanische Psychiater Sullivan wie auch Erickson angeführt, dass zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung günstige und ungünstige Einflüsse die Persönlichkeitsausbildung beträchtlich und auch dauernd verändern können. Ich glaube, dass diese Betrachtungsweise der Realität, der wir gegenüber stehen, wesentlich näher kommt als die isolierte Betrachtung frühkindlicher Entwicklung (bei Anerkennung von all deren Wichtigkeit!). Auch die moderne Psychiatrie kennt „bleibende Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ als schwerste Form der psychischen und körperlichen Belastung (siehe Vorgesagtes über das Psychotrauma [- A3]). Sullivan ist in Amerika sehr bekannt, bei uns weniger. Für die stationäre Psychotherapie in der psychiatrischen Klinik richtet Sullivan den Schwerpunkt auf die Dynamik der gegenwärtigen Interaktion, auf die wachsende Teilnahme des gesamten Personals am Sammeln von Informationen und auf die Interpretation aller Interaktionen durch den Psychiater. Er betont, dass die Therapie nicht nur aus der einzelnen therapeutischen Sitzung besteht, sondern der Patient durch innere Befassung mit dem Erkannten außer und zwischen den Therapiesitzungen wesentlich weiter kommt. Das ist übereinstimmend mit Eigenerfahrung. Ich nenne es „Verarbeiten“ oder „Verdauen“ und habe darauf insbesondere bei unseren Gruppentherapien (D4) hingewiesen. Dementsprechend bin ich auch ablehnend gegenüber sogenannten Wochenend-Intensiv-Seminaren. Denn es kommt eben nicht nur auf die Anzahl der Therapiestunden an, sondern auch auf das zwischenzeitliche Reifen und Weiterentwickeln der Erkenntnisse. (Man kann auch nicht bei einem Tennistrainer 20 Stunden an einem Wochenende buchen und annehmen, dass man dann gut ausgebildet ist!)
Kohut hat im Unterschied zur Partialsicht der klassischen Psychoanalyse die Ganzheit des Individuums in das Zentrum der Theorie gestellt, er nennt es „das Selbst“*) und daraus hat sich eine neue Schule der „Selbstpsychologie“ entwickelt. Die Empathie hat dabei einen großen Stellenwert (Milch), betreffend sowohl die Empathie der Eltern dem Kind als auch des Analytikers dem
*) Dieser Ausdruck macht mich nicht glücklich, denn 1.) kann man sich (ich zumindest) wenig darunter vorstellen; 2.) wird er in verschiedenen Schulen mit sehr unterschiedlicher Bedeutung verwendet (Stumm und Pritz). Aber Kohut hat ihn nun einmal (zusammen mit einigen wichtigen Aussagen zur analytischen Therapie) verwendet.
A. Grundsätzliches / A4. Wege und Ziele unterschiedlicher psychotherapeutischer Systeme
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Patienten gegenüber. Wo es Störungen gibt, kommt es zur Desintegration des „Selbst“, die sich in neurotischer Entwicklung zeigen können. Kernberg (2002) ist einer der derzeit international führenden Psychoanalytiker (Jahrgang 1928, ehemaliger Vorsitzender der internationalen psychoanalytischen Vereinigung). Er hat ein spezielles Therapiekonzept bei den (schwer behandelbaren) Borderline-Störungen entwickelt (A3). Seine herbe Kritik an der psychoanalytischen Ausbildung zählt deshalb besonders. Durch „Infantilisierung der psychoanalytischen Kandidaten“ würden diese davon abgehalten, kreativ an der Entwicklung der psychoanalytischen Wissenschaften teilzunehmen. Es bestehe eine regressive Verbiegung wissenschaftlichen Arbeitens durch hierarchischen und politischen Druck seitens der psychoanalytischen Gesellschaften bzw. der psychoanalytischen Institute. Die Analyse sei kein feststehendes Dogma, er mahnt zu wissenschaftlichem Austausch und zu gegenseitiger Anerkennung.
Fürstenau, als Leiter des Instituts für angewandte Psychoanalyse in Düsseldorf, ein führender und aktiver Psychoanalytiker des deutschen Sprachraums, hat in seinem Buchtitel „Psychoanalytisch verstehen, systemisch Denken, suggestiv intervenieren“ (2001) ein klares Programm gegeben, welches deutlich von der klassisch-analytischen Linie abweicht. Er verurteilt eine „esoterische“ Psychoanalyse mit „fundamentalistischen und sektenhaften Zü-
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gen, die immer stärker regressionsfördernd und immer weniger erfolgsorientiert“ ist, stellt ihr gegenüber eine psychoanalytische Grundeinstellung, die man sehr wohl mit anderen Psychotherapiemethoden kombinieren kann und soll. Roth sagt: „Wir sehen, dass viele Kernbestandteile der Freud’schen Lehre mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften vereinbar sind. Viele der weiteren Bestandteile der Freud’schen Psychoanalyse wie die Traumdeutung, die Lehre vom Ödipuskonflikt, vom Penisneid, vom Lebens- und Todestrieb, halten einer empirischen Überprüfung kaum stand. – Sie werden von vielen heutigen Psychoanalytikern auch nicht mehr als Dogma angesehen. Wir sehen also mehrfach eine Annäherung moderner psychoanalytischer Richtungen an das, was wir für die Integrierte Psychotherapie betonen, nämlich: Weiterführung der guten älteren Ideen, aber ohne dogmatische Lasten und offen für Weiterentwicklungen, die sich aus neuerer Psychotherapie-Anwendung und -Forschung ergeben. (Vergl. das über Neurobiologie in A1 Gesagte, sowie über Pädagogik in F1).
Was also ist für die Entwicklung der Persönlichkeit*) maßgebend? Hier sei wieder eine Zusammenschau des Vorgesagten mit zusätzlichen eigenen Gedanken und Ergebnissen versucht. Ich glaube, man kann die Persönlichkeitsentwicklung nur multifaktoriell sehen. Die vorgenannten psychotherapeutischen „Schulen“ haben jeweils die Aufmerksamkeit auf bestimmte einzelne Faktoren gelenkt, was positiv zu deren verstärkter Durchleuchtung geführt hat, negativ aber teilweise zur Vernachlässigung anderer wichtiger Faktoren und dem Zusammenspiel dieser, als da sind 1. Körperlich a) Genetik b) Körperliche Primärentwicklung, insbesondere Behinderungen (auch nach späteren Unfällen), Krankheiten, etc. (Man denke an Adler’s „Organminderwertigkeit“ mit „Kompensation und Überkompensation“).
*) Vielleicht könnte man auch den Ausdruck des Selbst hier verwenden; aber ich habe vordem (bei Kohut) schon auf die Problematik dieses Begriffes hingewiesen.
A. Grundsätzliches / A4. Wege und Ziele unterschiedlicher psychotherapeutischer Systeme
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2. Kindheitsentwicklung a) Elternbeziehung. Die „Triangulierung“ Vater-Mutter-Kind stand Pate bei der älteren Psychotherapie, wie sie von Freud überkommen ist (entsprechend der bürgerlichen Familie seiner Zeit, der auch er entstammte). Heute sehen wir vielfach andere Konstellationen, etwa „PatchworkFamilie“, alleinerziehende Mütter, etc. (F3). b) Dazu kommen frühe Beziehungen, die in manchen Fällen wirksamer sein können als die Elternfunktion. In der alten bürgerlichen Familie und beim Adel: Gouvernanten, Haushofmeister. Klußmann hat das deutlich gezeigt und auch wie „schlechte Väter“ in das ganze Leben von Menschen einstrahlten (so bei Friedrich dem Großen, Mozart, Kafka). c) Geschwisterbeziehung (wird vielfach in der Psychotherapie übersehen, vergl. F1). 3. Weitere wesentliche Bezugspersonen können u. U. mehr bewirken als die leiblichen Anverwandten in einer schwachen Familie; das lange nach den Kindheitsbeziehungen und weit über diese hinausgehend (Sullivan). • Lehrer, • Vorgesetzte, • „Idole“, • etc. Das sind Menschen, die Kraft ihrer Position Macht ausüben, welche eine längerfristige Abhängigkeit bedingt. Durch starke Suggestivwirkung in einer starken positiven oder negativen Übertragung, können sie als Vorbildwirkung zur positiven Persönlichkeitswerdung beitragen. Ein Missbrauch ihrer Macht (im Sinne von enttäuschtem Vertrauen bis zu Sadismus) kann zu Psychotrauma und Neurose führen.
4. Soziale Bedingungen a) Wie wesentlich es ist, ob ein Kind in einer geordneten Familie aufwächst, in einem Heim, Kinderdorf oder gar als Straßenkind, ist wohl evident. Die frühe Schaffung von Überlebensstrategien, welche keineswegs immer mit Moral im Einklang stehen müssen, kann sich natürlich sehr wohl auf das spätere Leben auswirken, ebenso wie Misstrauen, Bindungsschwäche, etc. b) Das im Reichtum aufwachsende Kind kann durch die Reichhaltigkeit der Ressourcen (gute Schulen, gute Lehrer) in seiner Entwicklung gefördert werden. Anderseits kann die Verwöhnung zu Bequemlichkeit, Unselbstständigkeit und Ausnütz-Tendenzen führen. c) Kinder, die im armen Milieu aufwachsen, können dadurch stimuliert werden, mit viel Fleiß und Tüchtigkeit dort herauszukommen (häufig auch von den Eltern beeinflusst). Anderseits kann es zu resigniertem Absinken auf ein schlechtes Niveau bis zum Alkoholismus etc. kommen.
5. Schicksalhafte Veränderungen können auch nach der Kindheitsentwicklung bleibende Persönlichkeitsveränderungen bewirken, durch starke Wirkung von außen und/oder ver-
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stärkt in besonders lebenskritischen Phasen wie Pubertät, Erwachsenenreifung, Familiengründung oder Familienzerbrechen, Pensionierungsphase mit Übergang ins Senium, usw. (F1). a) Verlust von wesentlichen Bezugspersonen. b) Schwere Belastungen durch chronische Krankheiten, Unfälle etc. c) Als besonders krasses Beispiel ist natürlich der Holocaust zu nennen. All das kann eine völlig neue Lebenseinstellung notwendig machen und/oder verursachen, sowohl negativ als auch positiv (A3).
6. Zufälle in den menschlichen Begegnungen, der beruflichen Entwicklung etc. sollten anerkannt werden, ohne in allem eine Persönlichkeits-bedingte Determiniertheit zu suchen. Den Zufall gibt es eben! 7. Dazu kommt vielleicht noch manches, das mir hiezu nicht eingefallen ist. Daraus ergibt sich schlüssig und sicher: Monokausales Denken + exklusive Bezugnahme auf Einzelfaktoren kann keineswegs der menschlichen Persönlichkeit gerecht werden. Es gilt in einer sinnvollen integrierten Psychotherapie – auch bei Konzentration auf einen Hauptfaktor – sich der vielen möglichen anderen Faktoren bewusst und flexibel genug zu sein, deren Interaktion mit dem Hauptfaktor immer zu bedenken und zu berücksichtigen. Dementsprechend verlangt die integrierte Psychotherapie Methodenpluralität und Kenntnis der Grenzgebiete (vergl. A1).
A. Grundsätzliches / A5. Freud, Schultz und Frankl
A5.
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Freud, Schultz und Frankl*)
Schlagwort-Information Diese drei Männer haben die Psychotherapie maßgeblich beeinflusst. Es mag daher auch interessant sein, wie sie zueinander gestanden sind. Einiges im Folgekapitel ist reichlich Barolin-persönlich. Andere mögen es durchaus anders sehen.
Freud hat die Bedeutung des Unbewussten und der (Früh-)Kindheitsentwicklung für unser Bewusstsein klargemacht, Schultz hinwiederum hat die Arbeit am Symptom wieder „salonfähig“ gemacht. Nichts kann das besser illustrieren als dessen sarkastischer Ausspruch: „Man muss nicht jedes Hühnerauge bis ins Fruchtwasser der Großmutter zurück analysieren“. Das soll nicht den Anschein erwecken, dass Schultz ein simplifizierender Gegner der psychoanalytischen Erkenntnisse war. Er ironisierte nur den bei manchen Gefolgsleuten Freud’s bestehenden übertriebenen Menschenveränderungs- und Alleinvertretungsanspruch. Selbst hat er übrigens eine 3-jährige Lehranalyse (er nannte es „analytischen Selbstversuch“) gemacht. Um sein durchaus respektvolles Verhältnis zu Freud zu charakterisieren, Schultz wörtlich: „Die gesamte Entstehung der modernen und speziell medizinischen Psychologie und Neurosenlehre ist dadurch möglich geworden, dass Siegmund Freud zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin den Neurosekranken gegenüber eine rein unbefangene psychiatrisch aufnehmende und begleitende Stellung einnahm....“. Und an anderer Stelle: „… So erkennen wir als prinzipiell Wichtiges an den Entdeckungen von Freud einmal die Klärung der Triebentwicklung und ihre Zusammenhänge mit Symptom und Charakterbildung. Zweitens die Lehre vom sinnvoll verdrängten Unbewussten und die Erschließung der unbewussten tendenziösen Mechanismen in Krankheit, Leben, Phantasie und Symbolik.“ Als im Jahr 1934 unter den Nationalsozialisten die „deutsche“ Psychotherapie in einer eigenen Gesellschaft unter Vorsitz eines Herrn Göring (Neffe des späteren „Reichsmarschalls“) von „schlechtem jüdischen Einfluss gereinigt“ werden sollte, machte Schultz sich nicht gerade beliebt, als er sagte „die Psychoanalyse ist zwar nicht die einzige Psychotherapieform, aber unverzichtbar“.
Schultz’s realistische und bescheidene Einstellung als Psychotherapeut wird aus seinen Worten zum Ziel der Psychotherapie ersichtlich: „… oft wird die Arbeit unvollendet bleiben, aus inneren und äußeren Gründen. Ihr letzter Sinn, die Selbstverwirklichung kann nicht immer erreicht, darf nicht immer angestrebt werden; Endgültigkeiten des Lebens beschränken sich oft auf ein *) Mit Schultz und Frankl konnte ich fruchtbare persönliche Bekanntschaft pflegen. Über Freud habe ich – neben Gelesenem und Gehörtem – manches Persönliche von meinen ärztlichen Eltern, die seine Vorlesungen gehört hatten, erfahren.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
bescheidenes reales Ziel, etwa ausreichende Eingliederung mit Störungsresten. Die Psychotherapie ist darum aber nicht minder ernst, notwendig und schön.“ In einem Gespräch fragte ihn Freud (in der ihm eigenen provokativen Art): „Sie glauben doch nicht, dass Sie Menschen heilen können“?! Darauf Schultz: „Nein, aber wie ein guter Gärtner Hindernisse wegräumen, dass eine Pflanze besser wachsen und gedeihen kann.“ Schultz konnte sich (und die Psychotherapie) durchaus distanziert und selbstironisch betrachten und hat uns Psychotherapeuten (mich persönlich auch) dazu aufgefordert, nicht alles bitter ernst zu nehmen: „Schließlich spielen wir Psychotherapeuten doch alle irgendwie Theater“. Als ich ihn in den ersten Jahren meiner Psychotherapie-Ausbildung einmal schriftlich fragte, ob ich, bei aller eigenen Unfertigkeit, es meinen Patienten gegenüber verantworten könne, sie in Psychotherapie zu nehmen, schrieb er mir einen Zweizeiler zurück: „Lieber Barolin, fangen Sie ruhig mit Psychotherapie an. Wenn alle Psychotherapeuten bis zu ihrer eigenen Vollnormalisierung warten würden, dann gäb’s keine Psychotherapie“. Schultz unterschied zwischen der „kleinen“ Psychotherapie, das sei die Therapie am Symptom, und der „großen“ Psychotherapie, das sei die analytische Therapie, die in die Tiefe geht. – Dieser Unterscheidung kann hinwiederum ich nicht folgen und sehe darin sogar die Analyse als überbewertet an. Denn für mich ist immer diejenige Therapie die „größte“, die mir dem geringstmöglichen Aufwand den größtmöglichen Effekt erreicht. Und in diesem Sinne kann durchaus eine Therapie am Symptom „die größte“ sein. Schultz wird vielfach unter seinem Wert gehandelt, da man ihn heute weitgehend nur als den Schöpfer des Autogenen Trainings nennt. Man vergisst aber, dass er im Jahr 1918 sein Buch „Die seelische Krankenbehandlung“ geschrieben hat, die bis 1952 (6. Auflage) Generationen von Psychotherapeuten nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die „Kunst“ der Psychotherapie eingeführt hat. Vieles aus seinem Buch ist heute Selbstverständliches für die Psychotherapie geworden. Aber wenn ein Lied zum Volkslied wird, so kennt man den Komponisten eben nicht mehr! Beim Vorwort zur 1. Auflage finden wir, dass „die Zeilen anspruchslose Hilfen zu einer universellen Psychotherapie darstellen sollen, in dem Sinne, dass nicht eine Methode zum Nachteil anderer Methoden und/oder der Erkrankten, unbegründet bevorzugt oder vernachlässigt wird.“ Diese absolut undogmatische und integrative Haltung ist durchaus auch heute noch nicht ubiquitär selbstverständlich und darf um so mehr betont werden. Andererseits war Schultz aber sehr „streng“, was Veränderungen an seinem liebsten Kind, dem Autogenen Training, betraf. Dass ich diesbezüglich kein folgsames „Schultz-Kind“ bin, wird noch im Abschn. Über das Autogene Training C4 besprochen.
Ich erlaube mir, das Verhältnis zwischen den Leistungen von Schultz und Freud durch eine Metapher zu charakterisieren: Wenn Freud die Grundmauern für das Haus der Psychotherapie gebaut hat, so hat Schultz ihr die Türen geöffnet, so dass sie hinaustreten und sozial wirksam werden konnte. Einen besonderen Bezug zur sozialen Wirksamkeit der Psychotherapie hat Frankl mit seinem Begriff der Selbsttranszendenz hergestellt. Er bringt das schön in dem modifizierten Bibelspruch zum Ausdruck, den er in seiner Logotherapie (Näheres darüber B3) mitgibt:
A. Grundsätzliches / A5. Freud, Schultz und Frankl
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Wenn nicht ich, wer? Wenn nicht jetzt, wann? Wenn für mich allein, wozu? Midlarsky hat gleichsinnig ausgeführt, dass so ein „Hilfehandeln“ auch einen deutlichen positiven Effekt für den Helfenden selbst hat und eine wichtige Bewältigungsstrategie für belastende Lebensereignisse sein kann. Die Psychotherapie wird dadurch mehr als nur eine „Persönlichkeitsreparatur“. Sie wird auch zu einem Instrument der Sozialethik. Baden-Powell hat für dieses „Anderen-helfen“ dem von ihm begründeten Pfadfindertum ein ganz simples Jugend-geeignetes Rezept mitgegeben: „Täglich eine gute Tat“ (E3).
Ich möchte bei dieser Gelegenheit aber nicht versäumen, eine wesentliche Bedeutung Frankl’s in Richtung Ethik auch darin zu sehen (im Sinne einer positiven Öffentlichkeitswirksamkeit psychotherapeutischen Denkens), dass er einer großen Toleranz das Wort geredet hat. Als Jude mit vielen von den Nationalsozialisten ermordeten Mitgliedern seiner Familie sagte er zum 50. Jahrestag der Besetzung Österreichs durch die Nationalsozialisten auf dem Wiener Rathausplatz: „Ich kenne nur zwei Menschenrassen auf der Welt, die Anständigen und die Unanständigen.“ Es war damit in kürzester Form auch der „Rassenwahn des 3. Reiches“ (wie es Völkl genannt hat) ad absurdum geführt, aber auch der „Kollektiv-Schuld“ eine Absage erteilt. Dass Frankl sich damit in manchen jüdischen Kreisen nicht gerade beliebt machte, sei am Rande erwähnt.
Nach diesen mehrfachen Gegenüberstellungen von „analytischer Arbeit“ und „Arbeit am Symptom“ (bei gleichzeitigem Aufzeigen, dass beides in den modernen Auffassungen einander viel näher rückt), erlaube ich mir noch folgenden Kommentar: Ist es nicht auch ganz gut, dass manches in Vergessenheit versinkt? Es ist ja nicht gesagt, dass alles ins Unbewusste Versunkene „verdrängt“ ist und bei späteren Störungen deren Ursache sein muss. Es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen zu verändern oder ihnen neue Blickweisen zu geben für Fakten, welche sie bisher überhaupt nicht gestört haben. Darüber hinaus soll aber der zwischenmenschliche Bezug des Patienten und der zu seiner Umwelt im Auge behalten, kommunikativ verbessert, auf gar keinen Fall aber verschlechtert werden. Wie gesagt: „Es darf nicht vor lauter Introspektion das Kommunizieren verlernt werden!“
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Wenn ich trotz der großen Bedeutung der hier besonders hervorgehobenen Psychotherapeuten (und weiterer, die noch im Zusammenhang vorkommen werden) bei einigem sage: „Ich sehe das anders“, so befinde ich mich in guter Gesellschaft. Freud nämlich war absolut kein JaSager, seinen (unzweifelhaft auch bedeutenden) Zeitgenossen gegenüber. Er war ein Pionier, hat auch selbst im Laufe seines Lebens früher selbst Gesagtes relativiert und würde sich – lebte er heute – sicher nicht auf des „alten Freuds“ Meinungen als „Dogma“ stützen. Ich glaube, hier haben ihn manche akribischen Nachfolger missverstanden. Und Frankl hat einmal (sein Verhältnis zu Freud charakterisierend) gesagt: „Auch ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen steht, sieht weiter als dieser“.
Die Persönlichkeit des Psychotherapeuten Wenn vordem einiges Persönliche über wichtige Psychotherapeuten-Persönlichkeiten gesagt wurde, so drängt sich die Frage auf: Was sind das überhaupt für Menschen, die sich zur berufsmäßigen Ausübung der Psychotherapie entschließen? Mit so viel Ansätzen, Vorsätzen, Divergenzen, Intoleranzen, Konkurrenzieren etc. Sie wollen (sollen) anderen Menschen helfen und dabei wesentliche Anteile deren intimster Bereiche, nämlich die Emotionalität, ansprechen! Wer kann für so etwas überhaupt qualifiziert sein? Kernberg und Mitarb. haben darüber ein rezentes Buch geschrieben, in dem 59 Psychotherapeuten aus ihrer (Selbst-)Sicht dazu Stellung nehmen. Zwei konträre (und vielleicht doch nicht so konträre) Aussagen stehen am Anfang. 1.) Es ist kein einheitlicher Typ des Psychotherapeuten feststellbar. 2.) Die Volksmeinung: „Sie haben doch alle selbst eine Macke.“ Differenzierter betrachtet sieht man herausragende Eigenschaften, welche einerseits abträglich für die Psychotherapie sind, anderseits besonders geeignet dafür machen können. a) Es sind häufig Menschen, die aus einer persönlich psychodynamisch belastenden Situation hoch sensibel, verwundbar und auch manchmal ursprünglich verhaltensauffällig geworden sind. Sie haben dann ihre Berufswahl auch im Sinne einer Selbstheilungstendenz getroffen. Diese kann geglückt sein, dann können sie besonders gute Therapeuten sein, aus ihrer erhöhten Sensibilität und dadurch, dass Erfahrungen aus dem eigenen Leben dem Patienten zugute kommen. Die Selbsterfahrung in der Ausbildung, ständige Supervision und Selbstreflexion sollen dazu beitragen, dass es in jene positive Richtung geht. Andernfalls können unbewältigte Eigen-Probleme des Therapeuten kontraproduktiv in die Patientenbeziehung einfließen. b) Psychotherapeuten haben durch das ständige empathische Eingehen-müssen auf abnorme Entwicklungen anderer Menschen einen besonders belastenden Beruf, der mit a) zusammen Folgendes bewirken kann: Psychotherapeuten sind bevorzugte Burn-out-Opfer (B3). – Unter den Suizidanten stehen Ärzte allgemein an erster Stelle. Unter diesen aber wiederum (noch vor den Intensivmedizinern) die Psychiater (welche ja häufig zugleich Psychotherapeuten sind). c) Die Partnerschafts- und Generationensituation scheint aus jenen Gründen schwieriger als bei anderen zu sein (bindende Statistiken darüber fehlen). Es wird angeregt, in der Psychotherapie-Ausbildung generell Einheiten zum Thema Partnerschaften und Familie einzubezie-
A. Grundsätzliches / A6. Psychotherapie: basal versus berufsspezifisch
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hen. Und die berufsbegleitende Supervision sollte sich auch für die Familiensituation des Therapeuten interessieren. d) Eine besondere (leider nicht nur einzelne Psychotherapeuten betreffende) Negativ-Eigenschaft spricht Völkl folgendermaßen an: „Wahre Orgien feiert ein unreflektierter Narzissmus zuweilen in den Kontroversen zwischen unseren Berufsgruppen“ (vergl. dazu die in A3 angeführten Fakten im Kampf um’s Psychotherapie-Gesetz sowie die intolerante Haltung der frühen Analytiker untereinander [Freud, Jung, Adler mit Fortsetzung auf Frankl und dessen Ablehnung seines Nachfolgeschülers Längle – A4]).
Kann man sich diesen Menschen also anvertrauen? Man kann es! Man muss aber wissen, dass es keine Übermenschen sind, nicht alles 100%ig stimmen muss, was einem geraten wird, nicht überall alles optimal laufen kann. D. h. a) für die Therapeuten: ständige Selbstreflexion und Selbstkritik sowie (nach Bartls Ausspruch) „Abschied von der eigenen Göttlichkeit“, Supervision, Weiterbildung. b) Für den Patienten: nicht alles unreflektiert hinnehmen! Kein unbegrenztes Vertrauen! Den eigenen gesunden Menschenverstand (vergl. H) immer parallel mitbefragen.
Schließlich gilt dies aber keineswegs nur für Psychotherapeuten, sondern für die in In-Anspruchnahme sämtlicher Ärzte (sonst gäbe es ja nie Kunstfehlerprozesse!), aber auch gegenüber Rechtsanwälten (akademischen), Lehrern und eigentlich allen anderen Autoritäts- und „Vertrauens”-Personen. Nur haben die Psychotherapeuten (mit anfangs dieses Abschnitts genanntem Buch) den Schritt gewagt, jene Selbstrelativierung ihrer Verlässlichkeit auch offen und klar darzustellen. Eigentlich sind „wir“ Psychotherapeuten allen jenen vorangeführten Berufsgruppen, welche im Beziehungsaufbau ähnlichen Problemen unterliegen, damit einen Schritt voraus.
A6.
Psychotherapie: basal versus spezifisch
Schlagwort-Information Nur zusammen mit einer basalen psychotherapeutischen Ausbildung und Einstellung aller Gesundheitsberufe kann die Psychotherapie weiter kommen.
Bevor ich auf die weiteren Wirkfaktoren der Psychotherapie (aus Abb. 5) eingehe, soll noch die von mir vorgeschlagene Zweiteilung der Psychotherapie näher besprochen werden, nämlich: basale versus berufsspezifische Psychotherapie.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Unter „basaler Psychotherapie“ verstehe ich neben der in Kap. A3 und H3 genannten öffentlichen Wirksamkeit der Psychotherapie vor allem die psychotherapeutische Einwirkung, welche alle Gesundheitsberufe auf den Patienten haben sollten, ohne spezielle Methoden anzuwenden. Synonym wäre: psychotherapeutische Grundeinstellung. In der Aufschlüsselung der Kriterien für die – ja das Thema dieses Buches darstellende – „Integrierte Psychotherapie“ ist ausdrücklich auch die basale Psychotherapie durch die nicht spezifisch psychotherapeutisch tätigen Gesundheitsberufe mit enthalten (A1, Abb. 1). Die Ärzte betreffend hat es Schultz genannt: „Psychologisierung des Arztens“. Es wäre das auch in der Schulung besonders zu berücksichtigen. Denn mit jener „basal-psychotherapeutischen“ Haltung kann bereits viel Gutes getan werden. Ihr Fehlen kann viel schaden. Besonders gilt das für das Gespräch. Hier muss leider gesagt werden, dass die Ärzte diesbezüglich (zumindest in Österreich) derzeit wesentlich schlechter geschult sind, als das Pflege- und ärztliche Assistenzpersonal, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, etc. Der Arzt lernt eigentlich über die basale psychotherapeutische Grundhaltung nur, wenn er das Glück hat, gute klinische Vorbilder zu haben. Das ist aber leider auch nicht immer so (siehe B4). Der medizinische Lehrplan ist diesbezüglich weitgehend bland (vergleiche dazu vor allem den ganzen Folgeabschn. B über das Gespräch). Allerdings soll das im Jahr 2002 in Österreich implementierte „neue“ MedizinCurriculum diesem Übelstand abhelfen. Wollen wir es sehr hoffen! Jene basale Psychotherapie ist in engem Zusammenhang besonders mit der Pflege und der Sozialarbeit (F). So haben manche Menschen aus eigenem gesunden Mitfühlen (Empathie), gepaart mit großem menschlichen Einsatz und Beharrlichkeit, viele Elemente der basalen Psychotherapie intuitiv verwendet, ohne sich als Psychotherapeuten zu verstehen, ausgebildet zu sein oder einer Psychotherapie-Schule zu folgen. Ich denke an manche „street workers“ (Priester, Sozialarbeiter, auch Menschen wie Mutter Theresa in Indien, Bischof Kräutler in Brasilien, Pater Sporschill bei den rumänischen Straßenkindern etc.). Auch Sepp Wirth ist hier zu nennen, der mit dem Versehrtensport wichtige Wege in eine neue Sozialintegration für viele gewiesen hat (E3) etc. Die große Hochachtung vor solchen Extrempersonen soll uns aber nicht daran hindern zu erkennen, dass im Gesundheitsberuf basale Psychotherapie systematisch gelehrt und gelernt werden muss.
• „Spezifische Psychotherapie“ nenne ich das, was allgemein unter Psychotherapie verstanden wird, nämlich die Anwendung spezifischer psychotherapeutischer Methodik durch speziell ausgebildete Psychotherapeuten. Die basale Psychotherapie soll nicht etwa als Konkurrenz für die spezifische Psychotherapie verstanden werden. Vielmehr ebnet sie dieser erst den Weg und unterstützt sie weitgehend als begleitende Maßnahme (etwa durch ein an dem gleichen Strang ziehendes verständnisvolles Pflegepersonal). Im weiteren Sinne kann man auch die Selbsthilfegruppen zu einer derart begleitenden basalen Psychotherapie rechnen (vgl. D3).
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B1. Kommunikation im Gesundheitsberuf allgemein
B.
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Das Gespräch im Gesundheitsberuf
Schlagwort-Information Das Gespräch als wichtigstes menschliches Kommunikationsmittel ist zugleich ein wichtiges psychotherapeutisches Instrument. Das kommunikative Gespräch geht fließend in das therapeutische über. Hier werden einige (nur scheinbar selbstverständliche) Hauptwirkfaktoren angesprochen, die in einer Gesprächsschulung (eventuell im rhetorischen, unbedingt aber im psychotherapeutischen Sinne) gelehrt und bewusst gemacht werden sollten. Im regulären medizinischen Unterricht ist leider davon praktisch nichts zu finden.
B1.
Das Gespräch und die Kommunikation im Gesundheitsberuf allgemein
Das Gespräch ist das wesentliche menschliche Kommunikationsmittel (wenn daneben auch natürlich eine Menge anderer Kommunikationsschienen – bewusste und unbewusste – bestehen, wie Gebärde, Gestik, Mine, Auftreten etc.). Es hat im Gesundheitsberuf drei wesentliche Aspekte:
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• • •
den rein kommunikativen zum Beziehungsaufbau, den informativen und den im engeren Sinn psychotherapeutischen (Abb. 6a).
Hier wird vor allem vom psychotherapeutischen Aspekt die Rede sein, doch wird man mehrfach klar ersehen, wie die drei genannten unterschiedlichen Aspekte fließend ineinander übergehen respektive nebeneinander Bestand haben. Abb. 6 zeigt, dass jedes Gespräch (das Alltägliche wie auch das Arzt- und letztlich psychotherapeutische Gespräch) sich auf verschiedenen Ebenen bewegt, die einen hierarchischen Aufbau zeigen. Insofern nämlich, als die weniger bedeutsamen Ebenen immer den bedeutsameren Ebenen vorangehen (müssen oder zumindest in der Regel es tun). Dementsprechend braucht jedes Gespräch einen gewissen Zeitrahmen, um die verschiedenen Stadien durchlaufen zu können. Bei größerem Bekanntheitsgrad und/oder Fortsetzungsgesprächen können die primären (in Abb. 6 oben stehenden) Ebenen ganz kurz sein oder ausfallen. Es ist wichtig, sich das klarzumachen. Vor allem soll man das banale Anfangsgespräch („small talk“) nicht verachten oder gering schätzen. Sowohl in dem Einzelgespräch mit dem Patienten als auch in der Gruppenpsychotherapie ist es notwendig, bevor man tiefergehende und schwer wiegende Dinge besprechen kann. Denn diese können erst bei Aufbau einer Beziehung mit größerem Bekanntheitsgrad und Etablierung eines Vertrauens- und Geborgenheitsgefühl sinnvoll zur Sprache kommen. – Natürlich wird es aber dann Aufgabe einer gezielten Gesprächsführung sein, nicht auf jener Ebene des small talk stehen zu bleiben. Das passiert manchmal (siehe besonders Gruppentherapie [G4]).
Von besonderer Wichtigkeit ist das Arzt-Patienten-Gespräch. Der Arzt muss sich darüber klar sein, dass seine Worte durch Rollenfunktion und den dadurch gegebenen Niveau-Unterschied 10 x so viel Wirkung haben wie Worte außerhalb jenes Kontextes. Die Rolle erhöht wesentlich die Suggestivwirkung*) seiner Worte, und diese können somit wesentliche Heilfaktoren darstellen, aber – wenn unbedacht und ungekonnt – auch wesentliches Unheil anrichten. Gleiches gilt – mutatis mutandis – auch für die übrigen Gesundheitsberufe: Die Pflegepersonen (welche ja viel mehr Zeit mit dem Patienten verbringen als die Ärzte), Physiotherapeuten bis zum Krankentransport-Personal (welches durch ein paar freundliche und/oder scherzhafte Worte sehr viel dazu beitragen kann, dass der Patient sich nicht anonym und ängstlich durch die Krankenhausgänge gerollt fühlt).
*) Näheres über Suggestivwirkung in Kap. C2.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B1. Kommunikation im Gesundheitsberuf allgemein
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Ebenen und Bedeutungsgehalt eines Gesprächs Reden
Dialog Akzeptanz Konsens (Disssens) Konklusion Neue Ausgangsbasis
Bedeutungsgehalt
Gesprächsebenen Abb. 6
Sagen
Unser Gespräch befindet sich auf verschiedenen Ebenen des Bedeutungsgehaltes, wobei die bedeutungsvollste Ebene nur über die anderen zu erreichen ist. Daher dürfen auch scheinbar „banale“ Gespräche nicht verachtet werden.
Es muss klar, eindeutig und freundlich gesprochen werden. Ironie oder gar Zynismus müssen aus dem ärztlichen Gespräch verbannt werden. Mit Witzen muss man äußerst vorsichtig sein, weil sie aufgrund der Rollenverschiedenheit nicht oder falsch verstanden werden können. Gleiches gilt aus gleichen Gründen beim Gespräch mit Kindern. Die Freundlichkeit muss mit Respekt gepaart sein, also keine allzu joviale Anrede! Früher war auf manchen Abteilungen das Du-Wort vom Pflegepersonal dem Patienten gegenüber gebräuchlich, das ist Gott sei Dank – soweit ich es überblicke – jetzt überall von den Leitungen her abgeschafft worden. Den Patienten mit seinem Titel anzureden, ist eine einfache Sache, die man nicht versäumen sollte. Die Deutschen belächeln uns Österreicher wegen der vielen Titel und das mag im Alltagsleben durchaus berechtigt sein. Der Patient aber, in seiner Regression und in seiner an und für sich „unterlegene“ Rolle, kann manchmal über seinen Titel recht glücklich sein. Er sieht, dass er bekannt und nicht „nur eine Nummer“ ist und die „Ressourcenmobilisierung“ durch den Titel aus seiner Vergangenheit mag durchaus – speziell bei Alterspatienten – sehr positiv wirken. Bei jugendlichen Patienten scheint es mir wichtig, dass der Arzt nicht versucht, aus seiner Rolle herauszuschlüpfen und eine neue Sprache anzunehmen. „Künstliche Jugendsprache“ mit evt. Fäkalausdrücken bringt uns dem Jugendlichen nicht näher. Der Jugendliche will ja im Arzt nicht einen Kumpel haben, sondern hat gewisse Rollenerwartungen, die therapeutisch wichtig sind. Noch immer herrscht bei manchen „polternden“ Ärzten (auch leitenden!) die Vorstellung, dass der gute Kern durch die rauhe Schale durchschimmert. Das ist ein Aberglaube! Der Patient sieht nur die raue Schale und nicht den guten Kern. – Vergl. B4. So „einfach“ das Gespräch als das wesentliche menschliche Kommunikationsmittel scheinen mag, so sehr liegt es (speziell) im Gesundheitsberuf doch vielfach im Argen. Es wurde deshalb meinerseits mehrfach in ärztlichen Fortbildungsseminaren für Kommunikation versucht dem entgegen zu wirken. Übrigens finden wir schon in älteren Schriften manches über Nützlichkeit, Schädlichkeit und Art des (ärztlichen) Gesprächs.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Bei Goethe heißt es: „Was glänzt heller als Gold, das Licht. Was ist erquicklicher als das Licht, das Gespräch.“ Da in Goethes Wortschatz das Wort „Kommunikation“ noch nicht vertreten war, hat er mit jenem Ausspruch sicher nicht einfaches Wortgeklingel, sondern kommunikativ Wesentliches und vor allem auch empathisches Gespräch gemeint. Wir finden bei Goethe auch den Arzt betreffend „feinfühligen, subtilen und taktvollen Umgang mit der ärztlichen Sprache als heilsame Arznei.“ – Also die (psycho-)therapeutische Wirksamkeit des Gesprächs. Auch: „Es ist nicht der Doktor im langen Kleide, der uns vom Katheder herab belehrt, es ist der Mensch, der umher wandelt, aufmerkt, erstaunt, von Freude und Schmerz ergriffen und uns davon eine leidenschaftliche Mitteilung aufdrängt.“ – Also hier das empathische Mitschwingen. Weiters, dass sich „durch wenig gute Worte, beschwerliche Knoten lösen“, dass aber, wenn plump verfahren wird „das Wort leichter verwundet als heilt“ (also die Schwergewichtigkeit ärztlicher Worte, wie auch im folgenden Bibelzitat). „Die Zunge ist zwar ein kleines Organ, aber sie kann Beträchtliches bewirken“. Und trotz all dieser vielfachen Ermahnungen zum „guten Gespräch“ wird dieses heutzutage – auch im Alltagsleben – immer rarer. Es herrscht eine allgemeine Verlotterung des Kommunikationsverhaltens und es ist zu einer Renaissance der Gesprächs- und Kommunikationskultur aufzurufen. Das schließt das ärztliche Gespräch nicht nur mit ein. Es sollte vielmehr der Ort einer besonderen Gesprächs- und Kommunikationskultur werden.
Der Kärnter Patientenanwalt Kalbhenn hat mir kürzlich in einem Brief mitgeteilt (den er auch gestattet hat öffentlich zu verwenden), dass bei ihm anhängige Fälle von sogenannten „Kunstfehlern“ zu 70% (!) auf fehlende, ungenügende oder fehlerhafte ärztliche Kommunikation zurückgingen. Es ist vielfach das ärztliche Aufklärungsgespräch betroffen. Es nimmt in der „integrierten“ Psychotherapie einen besonders wichtigen Platz ein. Nicht zu vergessen ist, dass es – abgesehen von der heute immer mehr in den Vordergrund tretenden rechtlichen Verpflichtung dazu – von wesentlich basalpsychotherapeutischer Wirksamkeit ist. Denn es wirkt vetrauensbildend und entängstigend, sollte folgende Dimensionen enthalten: Klarheit, Eindeutigkeit und Verständlichkeit, Kompetenz, Wahrheit, „Positivieren“. Es darf kein ärztliches Herumgerede geben, weil man sich selbst nicht genau auskennt, zu bequem ist, sich mehr in die Angelegenheit zu vertiefen, nachzusehen, oder sich die Wahrheit nicht zu sagen getraut. Es darf auch keine „barmherzige Lüge“ geben (welche vielfach in früheren Zeiten bei unheilbar Kranken üblich war). Diese Forderung der Aufrichtigkeit vor allem in der Palliativtherapie (F4) darf nicht verwechselt werden mit „Aufdrängen“. Der Patient hat das Recht, selbst zu sagen, was er wissen will und was nicht. – Manche Patienten lehnen es ab, alles genau zu erfahren, und wir haben uns danach zu richten. Die Aufrichtigkeit darf auch nicht verwechselt werden mit einem brutalen unempathischen Hinsagen („HolzhammerMethode“). Jeder im Gesundheitsberuf (speziell aber der Arzt) muss auch unangenehme Wahrheiten so darstellen, dass die positiven Seiten sichtbar werden und damit auch ein Rest von Hoffnung verbleibt (wir haben das „Positivieren“ genannt; siehe noch später [B2]).
Abb. 7 zeigt aus sprachwissenschaftlicher Sicht (Eva Hartmann), dass sich Sprecher und Zuhörer nur dann verstehen können, wenn sie einen gemein-
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schaftlichen „Kode“ finden. Das ist eine Gesetzmäßigkeit, die ebenso beim allgemeinen Arzt-Patienten-Gespräch gilt, wie auch beim noch folgend besprochenen psychotherapeutischen Gespräch im engeren Sinn. Sowohl beim Sprecher wie beim Hörer ist jene Möglichkeit von mehreren Faktoren abhängig. Das klingt etwas kompliziert, wird aber viel einfacher, wenn wir es beispielhaft exemplifizieren.
Abb. 7 Bei allen Gesprächen (Anfangs-, Aufklärungs- bis analytisches Gespräch) gilt es, den gemeinsamen Code zu finden, sonst bleibt es eine Pseudo-Kommunikation (aus: Agnes Csukas und Maria Fekett-Horwath, modifiziert).
Gemeinsamer Kode
Psychodynamik Psychodynamik
– Situation – Gemeinsames Interesse – Gemeinsame Sprache (auch sozial-abhängig)
+
Dekodierung Erwartung kodierte Nachricht Vorstellung Kodierung Sprecher Intention
Das Gespräch aus linguistischer Sicht
Hörer Reaktion
Der Patient befindet sich in einer abhängigen und Angst-besetzten Rolle. Er will einer-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
seits seine persönliche Leidensgeschichte erzählen und anderseits möglichst einfach über seine Krankheit informiert sein (irgendwelche komplizierten Differenzialdiagnosen interessieren ihn überhaupt nicht), er will wissen, was für Untersuchungen ihm bevorstehen, ob sie unangenehm und/oder schmerzhaft sein werden und er möchte wissen, wie die Sache ungefähr weiter geht [Psychodynamik aus der gegenwärtigen Situation]). Außerdem ist er ein schüchterner Mensch und getraut sich kaum zu fragen, noch dazu den als „übermächtig“ empfundenen Arzt (Psychodynamik aus der bisherigen Persönlichkeitsentwicklung), und lateinische Fachausdrücke versteht er schon gar nicht. Der Arzt ist vor allem an Fakten und Symptomen interessiert, möchte gern ein Erfolgserlebnis haben, indem er hört, dass es dem Patienten besser geht. Es kann aber auch ein Erfolgserlebnis sein, wenn er eine Diagnose gefunden hat und mitteilen kann (selbst wenn es eine ungünstige ist). Außerdem ist er unter Zeitdruck und hat sich gerade über seinen Chef geärgert (alles zusammen: momentane Psychodynamik). Außerdem hat er wenig gelernt, auf andere Menschen und ihre nonverbalen Mitteilungen einzugehen und hält, das was er tut, meistens für das Richtige (Langzeitpsychodynamik). Er sagt einige lateinische Diagnosen (oder übersetzt sie in scheinbarer Fortschrittlichkeit ins Deutsche, was sie aber nicht leichter verständlich macht), und er ist zufrieden mit sich. Er hat seine gesetzliche Pflicht der Aufklärung des Patienten getan. Er erzählt diesem sogar (hält sich dabei für besonders gründlich und gewissenhaft) verschiedene Differenzialdiagnosen und Verschiedenes, was bei den wesentlichen Untersuchungen herauskommen kann. Die soziale Eingebundenheit bedingt also auch unterschiedliche Sprachen, selbst bei einer gemeinsamen Muttersprache. Resultat: Eine lange Konversation, die aber mangels Findens eines gemeinsamen Kodes nichts anderes ist, als eine Pseudokommunikation und statt dem Patienten zu helfen, ihm zusätzliche Angst macht. Ein typischer Ausfluss solch Arzt-Patienten-Missverstehens ist es, dass schon dutzende Patienten mir gesagt haben „die Ärzte wissen selber nicht, was mir fehlt“. Diese Information kommt leider tatsächlich häufig direkt von Ärzten. Aber sie meinen damit etwas ganz anderes, als der Patient es versteht. Der Arzt meint nämlich, man muss noch etliche diagnostische Erhebungen machen, um dann mit letzter Genauigkeit sagen zu können, was alles los ist. Der Patient versteht aber: Der Arzt kennt sich nicht aus. Dieser hat nicht etwa Selbstkritik und Bescheidenheit zum Ausdruck gebracht, sondern • dass er sich über die Dynamik des Arzt-Patienten-Gespräches überhaupt nicht bewusst ist, • dass er unsicher ist, • dass er nicht bereit ist, sich in die Sache zu vertiefen, • dass er nicht bereit ist, dem Patienten eine ordentliche, auf dem gegenwärtigen Stand mögliche Information zu geben.
Es muss dem Patienten kurz zusammengefasst werden, was schon ärztlich (diagnostisch und therapeutisch) erreicht werden konnte. Die positive Diagnose muss aussprechen, was bereits klar ist. Eventuell kann man zusetzen, dass noch gewisse Unsicherheitsfaktoren bestehen, welche die weitere Abklärung begründen. So soll es auch im Arztbrief stehen (das stand unter anderem in der Dienstanweisung, die jeder ersteintretende Arzt bei mir erhielt). Ärztliches Tiefstapeln kann der Arzt-Patienten-Beziehung durch Verunsicherung genauso abträglich sein wie ärztliches Hochstapeln durch Wecken falscher Hoffnungen. In diesem Sinne habe ich versucht, meinen Mitarbeitern folgende plakative Regel mit zu geben:
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Tue Gutes und sprich darüber! Die Linguistik hat also durchaus auch ihr Feld in der medizinischen Wissenschaft. Eine Studie des Wiener Universitätsinstituts für Sprachwissenschaft „Alltag in der Ambulanz“ (Johanna Lalouschek und Mitarb.) unterstreicht unsere Erfahrungen anhand von Gesprächsanalysen von Arzt und Patient (während zweier Monate über 200 Seiten). Daraus: • Der Arzt kann als Träger des medizinischen Wissens durch gezielte Verweigerung oder Gabe von Informationen auch seine Macht gegenüber dem Patienten ausspielen und somit das Gespräch und die Art der Behandlung wesentlich beeinflussen. • Zur Operation bekommt der Patient nur sehr selten ein beruhigendes oder angenehmes Wort mit auf den Weg. Gerade solche scheinbar nebensächlichen Bemerkungen wie „wird aber keine Probleme geben“ und „sonst alles in Ordnung“ üben einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Einstellung des Patienten zur Operation. Die Sprachwissenschaftler unterstreichen also ausdrücklich die von mir vorstehend gemachte Aussage, dass das Wort des Arztes 10 x so viel wiegt, wie ein anderes Wort, auch wenn es nur ganz banale Beruhigungsfloskeln sind. Leider ist das keineswegs allbekannt, wird auch keineswegs in die so einfache Tat umgesetzt. 10 Jahre später kam von den selben Autoren (Wodack und Lalouschek) ein Artikel, den sie „ärztliche Sprachlosigkeit in der Arzt-Patienten-Kommunikation“ betiteln. Es habe sich trotz einer Vielzahl von Verbesserungsvorschlägen in den letzten 15–20 Jahren kaum etwas verändert. Zeitdruck wird meist vorgeschoben (dort wo man überhaupt darüber redet, was selten ist). Manches scheitert auch am Organisatorischen, z. B. fehlendes „ungestörtes Gesprächszimmer“ (war in der von mir geleiteten Abteilung immer vorhanden).
Die Sprachwissenschaftler stimmen in ihrer Konklusion völlig mit unserer Meinung überein. • Es wird eine umfassende kommunikative Schulung im Medizinstudium, für längere Zeit begleitend, gefordert; also Sprachschulung, nicht nur Sprechschulung und Rhetorik. Dabei muss erhöhte selbstreflexive Kompetenz vermittelt werden, also verständnismäßige Durchdringung der Psychodynamik des Gesprächs. • Entsprechende administrative Rahmenbedingungen (Arbeitsplatzbeschreibung, Arbeitszeit, Gesprächszimmer, etc.). • Unseres Erachtens würde eine laufende begleitende Evaluation des ärztlichen (Gesprächs-)Verhaltens, welches auch in die allgemeine Evaluation der Arztausbildung Eingang zu finden hätte, sicherlich wesentlich motivierend und Effizienz-erhöhend wirken. Erfreulich ist – im Sinne der von uns vielfach geforderten „Renaissance der
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
ärztlichen Gesprächskultur“ – dass sich Exponenten der Standesvertretung (wenn auch vereinzelt) hinter diese Forderungen gestellt haben (Fuchs), gut geführte Krankenhäuser immer mehr Gewicht auf Basis-Gesprächs-Kultur legen und das schon in manchen Personal-Bewertungsbögen (leider bei weitem nicht in allen) zum Tragen kommt. Hoffen wir, dass es weiter und allgemeiner Platz greift. Interessant ist, dass zwei „psychotherapeutische Meister“ des Gesprächs, nämlich Rogers ebenso wie Balint, das Beruhigen und Bestärken ausdrücklich ablehnen, im Gegensatz zur positiven Bewertung aus unserer Sicht (siehe folgend). – Aber das bezieht sich wohl nicht auf das allgemein-ärztliche Gespräch, sondern auf das ausgerichtet psychotherapeutische. Diesbezüglich möchte ich teilweise zustimmen, indem ich präzisiere: Ein „nur“ Beruhigen oder Bestärken ist sicherlich zu wenig und kann nicht als Psychotherapie bezeichnet werden. Aber die Beruhigungs- und Bestärkungsdimension ist nicht nur im allgemeinen Arzt-PatientenGespräch, sondern auch in der Psychotherapie unabdingbar. Einerseits damit im Gespräch eine vertrauensvolle Geborgenheit vermittelt wird, in der vielfach erst eine Öffnung möglich ist. Anderseits ist es auch bei Beendigung einer Psychotherapie-Stunde wichtig, dass man den Patienten nicht mit bleibenden schlechten Gefühlen in den Alltag schickt (siehe dazu auch Kap. H1 über „die Beendigung“).
Psychotherapeutisch ist neben dem Arzt-Patienten-Gespräch auch ein Hinweis auf Partnergespräche wichtig, die typische Missverstehensfaktoren enthalten können. Es kann dabei der Therapeut als Dolmetsch nützlich sein, wenn er die Angelegenheiten durchschaut. Pease und Pease ebenso wie Beier und Loewit (2004) haben diesbezüglich das geschlechtsspezifisch unterschiedliche Verhalten in der Gesprächsführung und Gesprächserwartung analysiert. Das sind natürlich Tendenzen und keine starren Regeln, aber es ist beachtenswert. „Die Frau“ wünscht sich mehr und ausführliche Gespräche. Es kommt ihr darauf an, sich „auszureden“, sie wünscht sich den Gesprächspartner, der ihr das Gefühl gibt, empathisch mitzuschwingen, sie zu verstehen und mit ihr zu fühlen. „Der Mann“ missversteht das als Informationswunsch und -Frage, gibt einen Ratschlag und betrachtet damit die Angelegenheit (möglichst kurz) für beendet. Die Frau ist frustriert, dass ihre Gesprächserwartungen in keiner Weise erfüllt werden und redet weiter, unter Umständen schon mit dem Vorwurf, warum er nicht auf sie eingeht. Der Mann ist frustriert, weil man seinen „guten Ratschlag“ nicht akzeptiert und bedankt hat und weil immer weitergeredet wird, während für ihn doch die Sache erledigt ist und er etwas anderes tun möchte.
Es kann also auch in diesem Fall kein gemeinsamer Kode gefunden werden, durch unterschiedliche Intentionen und unterschiedliche Vorstellungen im Gespräch. Man redet aneinander vorbei.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B2. Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
B2.
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Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
Es wurde schon festgestellt, dass es kein Gespräch gibt, das nur psychotherapeutisch ist und auch kein Gespräch, welches ohne mögliche psychotherapeutische Wirkung ist. Schonauer und Kersting bezeichnen das supportive psychotherapeutische Gespräch als die häufigst angewandte Psychotherapiemethode. Sie sei aber eigentlich ein Bestandteil der ärztlichen Basisversorgung. Dieses supportive Gespräch grenzt sich gegen therapeutische Gespräche der analytischen Tradition (oder mit analytischen Elementen) dadurch ab, dass es vor allem die therapeutische Beziehung als reale Präsenz des Therapeuten konzipiert, ohne erweiterten Deutungsspielraum; womit ich durchaus übereinstimme. Es betrifft das aber nur das verbale Deuten respektive Interpretieren. Demgegenüber konnte ich in A4 bei der „Synopsis der Prinzipien in der Psychotherapie“ schon aufzeigen, dass in einem psychotherapeutischen Gespräch immer eine innere hintergründige Interpretation beim Therapeuten entsteht. Wir geben jenem supportiv-psychotherapeutischen Gespräch keinen speziellen Namen, da wir zeigen werden, dass es sich sehr verschieden abspielen kann (und abspielen soll, um auf die Situation jeweils optimal einzugehen). Dabei kommen außer Ausmaß, Länge und Häufigkeit des therapeutischen Gesprächs, drei wesentlichen Komponenten in Frage: Elemente der Tiefenpsychologie, Elemente der Lerntheorie, Elemente der Ressourcenmobilisierung.
Das Gespräch, das uns hier interessiert, ist nicht nur ein beiläufiger Austausch verbaler Signale, sondern eine menschliche Begegnung. Sie bietet Gelegenheit zu Suggestion, Aggression, Regression, Identifikation, Reminiszenzen etc. etc. Darin kann und soll sich eine Beziehung aufbauen, in welcher Nachholen von Nicht-Erlebtem und neuartige Erfahrungen Platz haben (siehe auch Pfeifer wenige Seiten später). Das trifft schon im einfachen Arzt-Gespräch zu, besonders aber im gezielten psychotherapeutischen Gespräch. Nicht umsonst hat Balint das sehr treffende Wort der „Droge Arzt“ eingeführt. Es soll darauf hinweisen, dass es eben keineswegs nur auf die Gesprächsinhalte ankommt, sondern auch auf die Persönlichkeit des Gesprächsführenden. Der (gute) Beginn eines Arzt-Gespräches soll vor allem die persönliche Zuwendung mit ein paar freundlichen Worten und den (auch averbalen) Signalen der persönlichen Anteilnahme sein. Dazu gehört allerdings auch Ruhe und ein bisserl Zeit. Es folgt die entsprechende Anamnese, welche auch psychotherapeutische
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
relevante Dimensionen enthält. Wir haben das „psychodynamisch orientiertes Erstanamnesegespräch“ genannt (Abb. 8). Es soll einerseits dem Arzt die notwendigen medizinischen Informationen geben, anderseits bereits eine gute Gesprächsbeziehung zwischen Arzt und Patienten einleiten. Es ist somit ein wichtiger Bestandteil einer „basalen Psychotherapie“, die neben deren Eigenwirkung auch die evt. Notwendigkeit einer „spezifischen Psychotherapie“ aufzeigen und zu deren Einleitung führen soll. Jenes spezifische Erstanamnese-Gespräch soll (so war es Dienstanweisung in der von mir geleiteten Abteilung) praktisch bei jedem Patienten (auch bei dem anscheinend „rein somatischen“) geführt werden. Es ist keine zufällige Aneinanderreihung von Gesprächsinhalten, sondern orientiert sich an der Erfahrung typischer „Kennmerkmale“ für psychodynamische Störungen und möglichst guter Vermittelbarkeit für den Patienten.
Arzt-Patient: Basisgespräch Psychodynamisch orientierte Anamnese 1. Aktualproblematik: Erkrankung, Behinderung, Beschwerde, Ereignis 2. Berufs-Situation 3. Familien-Situation 4. Wohn-Situation 5. Freizeit-Gestaltung 6. Sexual-Situation 7. Biographische Daten: Familie, ethnischer Hintergrund Psychotherapeutisch orientiertes Erst-Gespräch Ehrlichkeit + Empathie + „Positivieren“ • Ruhe und Sicherheit vermitteln (natürlich ohne übertriebene Versprechungen). • Keine kurzschlüssigen Ratschläge geben, aber eventuell Alternativen ansprechen. • Therapeutische Möglichkeiten in Aussicht stellen. • Eventuelle Suizidalität jedoch direkt ansprechen. Abb. 8 Das ärztliche Erstgespräch soll bereits psychodynamisch orientiert sein. Dazu sollte auch der nicht voll psychotherapeutisch ausgebildete, aufnehmende Arzt gewisse basal-psychotherapeutische Grundkenntnisse haben. An die Anamnese soll sich ein simples und kurzes Therapiegespräch anschließen. Denn der Patient will nicht ausschließlich „ausgefragt“ werden, sondern kommt mit Hilfserwartung zum Arzt.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B2. Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
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Die Aktualsituation (meist Grund für den Arztbesuch – sei es im Krankenhaus, sei es in der Sprechstunde) erwartet sich der Patient zu schildern. Ein Übergang auf die Berufs- und Familiensituation ist leicht. Die Wohnsituation ist oft sehr bezeichnend, denn es macht natürlich einen wesentlichen Unterschied, ob eine 5-köpfige Familie in einer 2-Zimmer-Wohnung oder in einem eigenen Haus wohnt. Die Freizeitgestaltung ist besonders für den „Gestressten“ wesentlich, denn da können wir hören „ja auf Urlaub waren wir schon 10 Jahre nicht“. Allerdings war das noch in den vorigen Jahrzehnten (bei der „Aufbaugeneration“) häufiger als jetzt. Die Sexualsituation wird man natürlich nicht an den Anfang des Gespräches stellen. Aber, wenn schon gute Kommunikation hergestellt ist, darf die Frage danach nicht fehlen und wird auch von vielen Patienten durchaus begrüßt. Schließlich gehört speziell heute in unserer multikulturellen Gesellschaft die Familiensituation im Licht des ethnischen Hintergrundes dazu. Denken wir an die Familiensitten, welchen (hier geborene) türkische Mädchen auch bei uns vielfach unterworfen sind, und die im Zusammentreffen mit unseren westlichen Traditionen nicht selten Schwierigkeiten machen.
Der zweite Teil des psychotherapeutischen Basisgespräches hat – über das Expolarative hinausgehende – therapeutische Dimensionen, soll im Anschluss an das Anamnesegespräch (respektive in dieses eingestreut) geführt werden, da der Patient nicht nur „ausgefragt“ werden will, sondern das Bedürfnis hat, von seinem Arzt auch möglichst bald etwas Therapeutisches zu empfangen. Er ist damit nicht nur der Gebende, sondern auch der Nehmende, im Sinne der erhofften ärztlichen Hilfe (wenn dabei natürlich auf spätere ausführlichere therapeutische Gespräche verwiesen wird). Es sollten die einzelnen Dimensionen des ärztlichen Gespräches fließend und nahtlos ineinander übergehen respektive auch miteinander vermischt sein (Abb. 8, 9). Die wichtige Weichenstellung zu den ersten Therapie-Schritten soll sofort nach dem Basis-Gespräch erfolgen. Leider ist das nicht selbstverständlich! Es ist vielfach bei uns üblich, erst psychotherapeutische Aktivitäten zu setzen bis „alles Organische ausgeschlossen ist“. Das ist meines Erachtens unrichtig und ich befinde mich damit in guter Gesellschaft. Balint sieht einen „wirklichen wunden Punkt“ in jener Denkungsweise. Es ist selbstverständlich, dass man den Ausschluss körperlicher Ursachen nicht vernachlässigen darf. Nichts liegt mir als (auch) klinischem Neurologen ferner als das. Aber sicherlich soll man nicht immer noch und noch suchen und die psychotherapeutischen Interventionen hintanstellen, sondern – so hat meine Therapieanweisung an die Mitarbeiter gelautet – man therapiert vom 1. Tag an auf das Wahrscheinlichste hin. Wenn also in der psychodynamischen Exploration schon gravierende Probleme herauskommen, gehören diese von Anfang an psychotherapeutisch angegangen, daneben soll weiter eine gründliche organische Diagnostik und, bei Indikation, Behandlung laufen.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Das „keine Ratschläge geben“ bezieht sich auf das Erstgespräch, natürlich mit Ausnahme solcher, die ein Fortschreiten einer körperlichen Erkrankung verhindern oder diagnostische Maßnahmen einleiten sollen. – Hier ist nur von den psychotherapeutischen Ratschlägen die Rede. Die Beurteilung des Ratschlages gilt für die weitere Psychotherapie unterschiedlich, sowohl von der Situation als auch von der Betrachtung der einzelnen Autoren aus. Balint sagt: „Rat ist ein gewöhnlich wohlgemeinter Schuss ins Blaue und fast immer nutzlos“. Rogers lehnt den Ratschlag ebenfalls ab, weil sich der Therapeut damit „über“ den Patienten stellt und so dessen Selbstentwicklung hindert. (Siehe noch später.) Dem ist insofern zuzustimmen, als in einer Therapie, die Verstehen vermitteln will, die Lösung nicht durch einen Ratschlag fertig präsentiert werden soll. Vielmehr soll der Patient durch umsichtige Gesprächstaktik des Therapeuten an die Lösung herangeführt werden, sodass er diese selbst findet. Es wird dazu das Durchsprechen von Alternativen, entsprechende Fragen etc. angewandt. In gewissen Situationen und gewissen Techniken sind aber direkte Ratschläge gefragt; so in der Alterspsychotherapie (F2). Verhaltenstherapie und Familientherapie geben nicht nur ganz dezidierte Ratschläge, sondern auch Vorschriften und Hausaufgaben (vergl. Artikel Zapotozcky [V] und Waidhofer [VI]). Teilweise sind Praktiken aus diesen anderen „Schulen“ in die praktische Gesprächstherapie eingegangen, und es geht also auch hier darum, aus den bekannten Methoden das individuell Passendste und Wirkungsvollste nach Möglichkeit auszuwählen. Abb. 9 stellt die Dimensionen des ärztlichen Gesprächs dar, mit seinem fließenden Übergang vom allgemeinen in das psychotherapeutische Gespräch. Was heißt akut und permanent? In meiner Abteilung bestand die „Dienstanweisung“, dass der erste, welcher eines Patienten ansichtig wurde (sei es Arzt, Krankenpfleger, Famulant), ihn kurz zu begrüßen und anzusprechen hat. Das will das Schlagwort „akut“ meinen, also frühestmöglich. Der Patient konnte dabei ruhig darauf vertröstet werden, dass etwa erst in einer halben Stunde (nach der Visite) eine weitere gründliche Untersuchung erfolgen würde, er aber vorher in sein Zimmer kommt usw. Der Patient fühlt sich so bereits angenommen und versorgt. Die gegenteilige (leider) „normale“ Situation charakterisierte eine Patientin folgendermaßen: „Der weiße Schwarm zieht vorüber und jeder dreht den Kopf weg.“ Der Patient fühlt sich (in seiner überdies meist ängstlich-gespannten Lage) alleingelassen und verloren. Permanent meint, dass es nicht genügt, einmal mit dem Patienten zu reden, sondern dass man immer wieder zum Gespräch bereit sein muss, da der Patient vieles vergisst, missversteht, sich immer neue Probleme ergeben, vor allem aber, die Gesprächsbereitschaft (GesprächsInitiative) menschliche Nähe und menschliche Beziehung vermittelt.
Das Telefon kann Wesentliches zur Permanenz des Gespräches beitragen, speziell bei Senioren (F1).
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B2. Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
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Dimensionen des Arzt-Patienten-Gespräches (und des Gruppengespräches)
Gezielt psychotherapeutisch a) basal b) spezifisch
allgemein
Durchgehende Grundbedingungen: Empathie + „aktives Zuhören“ (Feedback) + akut und permanent 1. Kontakt und Beziehungsaufnahme Sollen zu Vertrauen + Geborgenheitsgefühl führen
A+G
2. Informationsvermittlung • kompetent • wahr • „positivierend“
A
3. Förderung der Aussprache • kathartisch: bringt Entlastung • dialogisch: bringt neue Erkenntnisse
A+G
4. Psychotherapeutische Einflussnahme A+G • Kognitions- plus Introspektions-fördernd • suggestiv (autoritär) • analytisch (deutend) • erlebend A gilt für das Gespräch Arzt-Patient G gilt für das Gruppengespräch
Abb. 9 Das ärztliche Gespräch ist nur scheinbar selbstverständlich. Es bedarf vielmehr der intensiven Befassung damit in Schulung, Ausbildung und klinischer Praxis. Man soll sich klar darüber werden, welchen Bedeutungsgehalt das Gespräch auf verschiedenen Ebenen haben kann. „Allgemeingespräch“ und explizit „psychotherapeutisches Gespräch“ gehen fließend ineinander über. Sie schließen teilweise das „ärztliche Basisgespräch“ (Abb. 8) ein und daran an. – Das Gruppengespräch wurde hier nur vorauseilend hineingenommen. Es wird ausführlich in D3 darauf eingegangen. Förstl berichtet über eine systematische Untersuchung bei einer größeren Population älterer Menschen, wo zweimal wöchentlich spontane Telefonanrufe und Einbau eines Senders für Hilferufe die Suizidrate drastisch senkte, verglichen mit einer Kontrollgruppe, wo derartige Maßnahmen fehlten. Auch von Scholz (pers. Mitt.) weiß ich, dass er besonders dessen bedürftige (vereinsamte, depressive etc.) Menschen nicht regelmäßig, aber häufig spontan, anruft.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Ich selbst gab meinen depressiven Patienten die Anweisung mit, mich bei Bedürfnis jederzeit (auch nachts) anzurufen. Natürlich sei ich manchmal nicht zuhause anwesend oder auf Urlaub, dann sei sehr wohl auf Tonband gestellt, aber sie hätten dann einen von mir mitgeteilten zuständigen Vertreter für mich in der Ambulanz des Krankenhauses, den sie jederzeit anrufen könnten. – Es wurde das relativ selten ausgenutzt. Mir wurde aber in diversen spontanen späteren Gesprächen mehrfach unterstrichen, dass darüber die Patienten sehr froh gewesen seien und sich viel sicherer gefühlt hätten. Als positive Alternative zum frustrierenden mechanischen Anrufbeantworter bietet sich ein persönlicher Beantworterdienst an, der auch Auskünfte gibt und Nachrichten entgegen nimmt (in Wien „Ärztezentrale“).
Noch weiter zu Abb. 9, die zeigt, wie man über die (wesentliche) Kontaktund Beziehungsaufnahme und Information zum psychotherapeutischen Gespräch im engeren Sinn kommt. Da geht es darum, die Aussprache des Patienten zu fördern. D. h. ihn anzuregen etwas von sich zu erzählen und auch das mitzuteilen, was für ihn psychodynamisch wesentlich ist. Dabei kann es zur kathartischen Reaktion kommen. „Es sprudelt“ heraus, man kann auch sagen: man lässt den Patienten „abreden“. So eine emotional gesteuerte Wortflut, die der Patient monologisierend (oder durch gekonnte ärztliche Gesprächstaktik: „Na und?“, „ja wirklich?“, „aber gehen Sie!“ etc. gefördert) herauslässt, kann fallweise eine wesentliche Entlastung bringen. Wesentliche weitere psychotherapeutische Gespräche laufen in dialogischer Art. Wir fragen, der Patient antwortet, und durch gute Fragen kanalisieren wir Antworten, die den Patienten wiederum selbst zu neuen Erkenntnissen führen. Natürlich soll man dabei aus der allgemeinen Kenntnis der Psychologie des Menschen wissen, worauf es ankommt und dort evt. vorsichtig tiefer hineinfragen. Dadurch kann es schon auf der kognitiven Ebene zu neuen Erkenntnissen kommen. Aber – und das gilt besonders bei der Kombination mit dem Autogenen Training (D) – es können auch introspektiv mit der sogenannten „emotional insight“ neue Dinge erkannt werden, die der Patient vorher nicht erkannt hat. Die „Gesprächstaktik“ ist allerdings in den verschiedenen Schulen verschieden. Im analytischen Kontext wird Wert aufs Deuten gelegt. D. h. es werden gewisse unbewusste Inhalte aus Gespräch und Verhalten des Patienten diesem bewusst gemacht. Davon setzt sich die Roger’sche Gesprächstaktik ab (siehe später). In der eigenen psychotherapeutischen Tätigkeit lege auch ich mehr Wert auf das spontan Kommende (speziell in der Gruppenpsychotherapie). Beides – einerseits mehr deutendes Gesprächsverhalten und anderseits mehr nondirektives abwartendes Verhalten – hat gewisse Vor- und Nachteile. Es wird das bei der 2-stufigen Gruppenpsychotherapie (D2) noch näher ausgeführt.
Psychotherapeutisch können wir das Gespräch dann weiterhin nützen; entweder auf der kognitiven Ebene (wiederum nicht Anweisungen zu geben, son-
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dern mit dem Patienten gemeinsam rational neue Möglichkeiten aufzufinden). Wir können aber auch – wenn wir auf der hypnoiden Ebene weiterarbeiten (wir werden später vor allem auf die formelhafte Vorsatzbildung des Autogenen Trainings hinweisen) – suggestive Hilfestellung geben. Unter Umständen kann auch ohne hypnoide Einflussnahme ein Gespräch aufgrund der Autorität des Arztes suggestiv vorteilhaft verwendet werden, einerseits entängstigend, anderseits auch Einstellungs- und Verhaltensbessernd. Dass auch im therapeutischen Gruppengespräch analoge Faktoren – mutatis mutandis – zum Tragen kommen, sei hier nur am Rande erwähnt. Ausführlicher wird darauf in Kap. D3 eingegangen. Noch einige wesentliche Punkte zum Gespräch im Gesundheitsberuf (Abb. 9a). Sie sind teilweise in Vorhergehendem schon zum Ausdruck gekommen, aber hier in etwas verändertem Kontext und mit zusätzlichen Inhalten dargestellt. Wegen der Wichtigkeit seien diese teilweisen Wiederholungen gestattet. Das Gesagte gilt teilweise für das Patienten-Gespräch, teilweise für das Gespräch in der ärztlichen Arbeitsgruppe (siehe B4; hier nur in der Abbildung 9a vorweg genommen).
1.) Wir müssen einen ständigen Balanceakt zwischen der Strukturierung des Gespräches und dessen Frei-fließen-lassen vollführen. Das gilt sowohl für das explorative als auch für das therapeutische Gespräch. Denn, wenn wir es nur frei fließen lassen, erfahren wir wahrscheinlich manches nicht, das für die Diagnose und die daraus resultierende Therapie unabdingbar ist. Wenn wir es aber zu stark strukturieren, hemmen wir die Spontanität und die freie Assoziation des Patienten, die uns oft Wesentliches bringt, nach dem wir gar nicht fragen würden.
2.) Jedes Gespräch ist mehrdimensional. Hinsichtlich seiner eigenen Aussagen muss das speziell auch der Arzt bedenken. Es kann das, was er sagt, oft ganz anders aufgefasst werden, als er es meint (eben durch die spezielle Psychodynamik des Patienten) und kann daher für einen Moment betrachtet nicht immer zutreffend, sogar schädlich sein. Man sollte sich darob aber nicht all zu viele Skrupel machen, denn wenn man das Feedback entsprechend berücksichtigt (also seine „Antennen ausgefahren hat“ um wahrzunehmen, wie der Patient auf etwas Gesagtes reagiert) merkt man sehr bald, was los ist und kann es dann im weiteren Gespräch umformen.
3.) Zur Frage der Ehrlichkeit: Früher war es üblich, bei Mitteilungen einer Patienten-erschreckenden Diagnose, die barmherzige Lüge anzuwenden. So erhielt auch Freud z. B. die Mitteilung der Malignität seiner Gaumenerkrankung von seinem Hausarzt Felix Deutsch (der übrigens selbst Psychoanalytiker war) nicht und beklagte sich späterhin bitter über jene Täuschung (zit. nach Köhle). Heute vertreten wir
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unter allen Umständen dem Patienten gegenüber das Prinzip der Wahrhaftigkeit. Das hat mehrere Gründe: • Die modernen Gesetze verpflichten uns zu einer vollständigen und verständlichen Aufklärung des Patienten. Es gibt allerdings das sogenannte „therapeutische Privileg“, das besagt, wenn die Mitteilung gesundheitsschädlich ist, so darf sie unterbleiben. Es geht also wieder darum, was man glaubt, dem Patienten sagen zu können. Ich und die meisten modernen Diskutanten über das Thema nehmen jenes Privileg kaum in Anspruch. Peintinger sagt dazu aus ethisch-juridischer Sicht „Es gibt kaum ausreichend Argumente, die eine Einschränkung der Patienten-Autonomie und das Vorenthalten der Wahrheit legitimieren könnten. Es darf also das Verschweigen der Wahrheit nur als ,extreme Ausnahme‘ praktiziert werden“. Ich sehe für die Aufrichtigkeit noch folgende Argumente: • Irgendwann kommt üblicherweise doch die richtige erschreckende Diagnose heraus, der Patient hat dann das Vertrauen zu seinem Arzt verloren. Das Vertrauen, welches sehr notwendig ist für eine terminale Begleitung. • Abgesehen von der negativen Psychodynamik „Entmündigen durch Verschweigen“ kann dieses aber auch wesentliche rechtliche und praktische Konsequenzen bedingen, so dass der Patient Entscheidungen, die für ihn (oder für die Angehörigen) wichtig sind, nicht mehr treffen kann. Man denke an Heiraten im letzten Moment, wodurch eine lebenslange Pension für den Hinterbliebenen gewährt wird, an wichtige Erbverfügungen, persönliches Treffen mit zerstrittenen Familienmitgliedern usw. Wir möchten diese gebotene Ehrlichkeit aber nicht mit Taktlosigkeit oder Rücksichtslosigkeit verwechselt sehen („Holzhammermethode“).
4.) Man gibt die unangenehme Nachricht in dosi refracta (in mehreren kleinen Schritten). Man weist zuerst auf die unangenehmere Möglichkeit als Möglichkeit hin und spricht in mehreren weiteren Gesprächen dann sicherer und bestimmter darüber, wie es sich ja meistens auch mit dem fortschreitenden Gang der Diagnostik verbindet. (Siehe Permanenz des Gesprächs in Abb. 8.) 5.) Man verwendet im Gespräch das von uns so genannte „Positivieren“. Wir verstehen darunter, dass der Arzt lernen muss, auch für den Patienten unangenehme und bedrohliche Sachen so zu sagen und einzukleiden, dass dabei doch – bei verbleibender Ehrlichkeit – die positiven Seiten zum Vorschein kommen und betont werden. Das soll kein rhetorischer „Trick“ sein, sondern Ausdruck einer ärztlichen Grundhaltung. Z. B. „Wir müssen Ihnen zwar mitteilen, dass sich leider bei Ihnen diese und diese Geschwulst herausgestellt hat. Aber wir können ihnen sagen, dass bei der heutigen Medizin es ein großes Glück ist, dass wir so früh draufgekommen sind und dass sich damit für eine Folgeoperation gute Chancen ergeben.“ Oder: „Ihre Geschwulst sitzt an einem Punkt, der ein Operieren unmöglich macht, aber wir sind erfreulicherweise mit der heutigen kombinierten chemischen und Bestrahlungstherapie so weit, dass wir auch solche Geschwülste gut behandeln können.“ – etc. etc. Für die Lehre gibt es folgende plakative Geschichte für das Positivieren. Der Kalif ließ seinen Traumdeuter holen, um ihm einen Traum zu erzählen. Darauf der Traumdeuter mit Grabesstimme „Das ist tieftraurig! Dir wird deine ganze Familie sterben!“ Das tat dem Traumdeuter
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nicht gut. Denn der Kalif ließ ihn köpfen und schickte nach einem anderen Traumdeuter, den er von weit her holen ließ. Dieser sagte ihm: „Kalif, der Traum gibt dir die schönsten Aussichten, die man im Leben überhaupt haben kann: Dir ist ein langes Leben beschieden, sodass du sogar alle deine Angehörigen überleben wirst.“ Der neue Traumdeuter verließ daraufhin reich beschenkt den Kalifen. Oder kürzer demonstriert (wenn auch ohne Köpfung weniger eindrucksvoll): der idente Zustand eines Glases kann einerseits als halbvoll oder als halbleer bezeichnet werden. Übrigens vernachlässigt auch unsere medizinische Umgangssprache ziemlich gedankenlos das Positivieren. So erzählen wir einem Patienten bei der Visite: „Der Liquorbefund nach ihrer Lumbalpunktion war negativ“. Wir denken nur an die „ärztliche Enttäuschung“, dass unsere dedektivische Suche nach einem möglichst pathologischen Grund für die Nackensteifigkeit vergeblich war, vergessen dabei aber, dass für den Patienten eben dieses Ergebnis hoch-„positiv“ ist. Warum sagen wir nicht (und ich habe immer versucht das auch in meinem Mitarbeiterkreis zu propagieren): „Wir können Ihnen ein schönes positives Ergebnis der Lumbalpunktion mitteilen: Sie haben weder eine Blutung noch eine Entzündung, und es wird sich also eher um eine von den Wirbeln ausgehende Schmerzhaftigkeit handeln (und wieder positivierend!), die wir mit einfachen physikalischen Mitteln behandeln können, sodass gute Chancen bestehen, dass sie die Schmerzen bald los sind.“ – Das ist wiederum kein eigentliches therapeutisches Gespräch, sondern gehört in die allgemeine Gesprächshaltung des Gesundheitsberufes. Damit bin ich aber leider in meiner Arbeitsgruppe nicht durchgedrungen. Die „negativen Befunde“ feiern fröhliche Urständ.
6.) Man stellt die Verbindung mit den Angehörigen her und bezieht sie in die Therapie ein. Das gilt bei den hier in Frage stehenden „unangenehmen“ Mitteilungen, aber allgemeiner für die Psychotherapie, speziell im Rahmen der systemischen Familientherapie (VI), der Rehabilitationspsychotherapie (F2) und der Psychoeduktion (VIII). 7.) Was in der Abb. 9a als „einfache Benimmregeln“ bezeichnet ist, wurde schon im Sinne der „Formvollendetheit“ im Umgang mit dem Patienten angesprochen. Aber nicht nur die äußere Form soll das Gespräch bestimmen, sondern jedes ärztliche Gespräch soll auch die echte Empathie enthalten, auf welche wir als Grundbedingung für jede Psychotherapie schon in A3 hingewiesen haben. Der Patient soll erkennen, dass nicht nur ein technisch geschulter Gesprächsapparat ihm gegenübersitzt, sondern ein mitfühlender Mensch. Selbstverständlich muss sich aber ein vernünftiges Maß ausbilden zwischen Empathie und emotionaler Abgrenzung! Wichtig ist auch, dass man seine eigene Psychodynamik nicht zu stark hineinspielen lässt, so dass man dadurch zu einer falschen Stellungnahme kommt. – Dazu wird in der Psychotherapieausbildung auch ein gehöriges Maß an Selbsterfahrung verlangt, die jedem Kandidaten ein beträchtliches Maß an Einsicht in seine eigene Psychodynamik bringen soll, ohne dass man deshalb natürlich „ohne“ eigene Psychodynamik bleibt. (Vergleiche auch Schäden durch zu starkes Durchschlagen der eigenen Psychodynamik in H1).
8.) Mit der „paradoxen Intention“ haben wir eine Anleihe bei Frankls Logotherapie gemacht.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Zusammenfassung zur Kommunikation im Gesundheitsberuf P A
gilt speziell für Kommunikation -„-
mit Patienten in der Arbeitsgruppe
A
P 1.)
Humanitäre Grundeinstellung, Zuwendung, Annehmen, Freundlichkeit, etwas Zeit
A
P 2.)
Klarheit, Eindeutigkeit, Verständlichkeit, Verlässlichkeit
P 3.)
Sprechen mit Kompetenz und Methodik
A
P 4.)
„Aktives Zuhören“ Feedback registrieren, denn es gibt kein eindeutiges „Falsch“ und „Richtig“ im Gespräch. Vielmehr muss man sich jeweils der Situation und Reaktion anpassen.
5.) A
P P
A A A
P P P
Das rechte Maß zwischen • Strukturieren und Frei-Fließen-Lassen • Empathie und Abgrenzung Vor allem nicht einseitiges Partei-Ergreifen und/oder unkritisches Einfließen-lassen aus der eigenen Psychodynamik. • Toleranz und Festigkeit • Autorität und Selbstrelativierung • Nähe und Distanz
P 6.)
Wahrhaftigkeit, jedoch mit „Positivieren“ Darf nicht mit Taktlosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Aufdrängen verwechselt werden.
7.) A A
A
Takt / Respekt / „Benimm-Regeln“
P P P
• Anklopfen und mit Funktionstitel vorstellen • Freundlichkeit und Korrektheit in der Wortwahl, Haltung, Kleidung und Gestik • Klarheit, Verständlichkeit, Echtheit, Richtigkeit, Kompetenz – Cave „Herumreden“!
P 8.)
Akutbereitschaft + Permanenz
9.) P 10.)
Kooperation + Gruppenfähigkeit + Loyalität Paradoxe Intention (modifiziert nach Frankl) • Verhindert übertriebene Erwartung und Rückschläge daraus, • sowie „Bestrafungstendenzen“ gegen den Arzt, • hilft zur Verant wortungsübertragung an den „Partner-Patient“ zur Verant wortung und Kontinuität.
Abb. 9a Diese Zusammenfassung ist eine schematische Darstellung des mehrfach im Einzelnen Besprochenen. Einiges wurde schon in und bei Abb. 9 gebracht. Einiges kommt später noch (Depression, Arbeitsgruppe). Letztere wird im Bild vorauseilend hinein genommen. Gleichzeitig ist es eine Zusammenfassung des ganzen Gesprächskapitels (am Ende nochmals darauf hingewiesen).
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B2. Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
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Wenn ein Patient uns besonders lobt, weil es ihm nach unserer Behandlung „so gut geht“, könnte unsere Antwort etwa lauten: „Das ist ja sehr schön, dass sie das jetzt so empfinden. Es ist neben unserem Einsatz natürlich auch ein Hauptverdienst ihrer eigenen Bemühungen (um ihre Gesundheit etwa). Aber sie müssen wissen, dass es keineswegs so bleiben muss, es gibt auch ein wellenförmiges Auf und Ab und es kann wieder schlechter werden. Jedenfalls sehen sie: der Weg ist ein guter!“. Dadurch wird verhindert, dass der Patient bei wirklichen Rückschlägen • gleich in Verzweiflung fällt und • dass er uns auch „bestrafen“ kann, dadurch dass er angibt, es ist wieder schlechter. • Wir haben gleichzeitig auch ein gewisses Maß der Verantwortung für seine Gesundung an ihn selbst übertragen.
9.) Die Kontinuität des Gespräches („Permanenz“) bedeutet: Man darf nicht nur einmal, sondern soll auch in weiterer Folge immer wieder gesprächsbereit sein. Denn der Patient versteht nicht alles auf’s erste Mal und/oder vergisst vieles, will aber vor allem mit seinen Sorgen (alten sowie neuen) immer im Gespräch bleiben und nicht allein gelassen werden. 10.) Wie weit ist die Wirkung der Psychotherapie von der gekonnten Form der Sprache (Rhetorik) abhängig? Wiewohl für den verbalen Anteil der Psychotherapie eine gewisse Sprachgeschicklichkeit und Ausdrucksstärke wünschenswert ist, sind doch Ziele und Wege zwischen Rhetorik und Psychotherapie deutlich verschiedene (Abb. 9a). Wichtig ist, dass der Psychotherapeut in der Lage ist, Gedanken plastisch, eindrucksvoll zu fassen, möglichst bildhaft und einfach! Es ist aber die „Technik“ seiner Verbalisation weniger wichtig, als dass der Patient echtes Interesse und empathisches Eingehen merkt. Das ist die Grund- und Hauptbedingung, die zur Wirksamkeit des psychotherapeutischen Gesprächs führt, also das Entstehen einer zwischenmenschlichen Beziehung. Ich konnte das bei didaktischen Gruppen im Ausland mehrfach feststellen. Eine Ausbildungsgruppe für angehende Rehabilitationsfachärzte wurde meinerseits in Riga in Englisch gehalten, dieses aber noch Satz für Satz ins Lettische übersetzt (da die Akademiker noch aus der Zeit kamen, wo man in der Schule zwar pflichtgemäß Russisch, aber kein Englisch gelernt hatte). Ebenso wurden die Gespräche der Gruppe immer hin und her übersetzt. Es war eine sehr interessierte und emotional beteiligte Gruppe und ich musste mehrfach die Dolmetscherin daran erinnern, dass sie mir doch dolmetschen solle anstatt einfach mitzudiskutieren. Auch die Kommunikation über Dolmetsch kann also dort, wo eine gute menschliche Beziehung hergestellt wird, durch diese wirken. Drees gibt analoge Erfahrungen in der Psychotherapie mit ausländischen Folteropfern an (VII). Noch deutlicher mag das in meinem in C1 wiedergegebenen Beispiel werden, wo in einer fremden, nur mangelhaft beherrschten Sprache gute Erfolge zustande kamen, selbst in Hypnose, wo ja die Wirkung des Wortes besonders stark ist.
Man kann nicht über das Gespräch in der Psychotherapie schreiben, ohne die Roger’sche Klienten-zentrierte Gesprächstherapie zu erwähnen.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Tiefergehendes Gespräch versus Rhetorik GESPRÄCH
RHETORIK
Verbale plus nonverbale Vermittlung
bei beidem gleichermaßen wesentlich
Haupt-Zielpunkte
Konsens suchen über ebenbürtige menschl. Beziehung mit Empathie + Argumenten
Menschl. Beziehung und Empathie sind nebensächlich oder fehlend/ keine Argumentation/ dominieren
Andere Meinung
akzeptieren evt. modifizieren
ablehnen, übertönen
Bereitschaft zur eigenen Meinungsänderung
gegeben
fehlt
Sprachliche Brillanz und überzeugendes Gehabe
wünschenswert, muss aber nicht sein
Hauptsache
Abb. 9b Gespräch und Rhetorik verwenden zwar das gleiche Sprachinstrument. Im Gespräch soll aber das Ziel über die emotionale Begegnung erreicht werden, in der Rhetorik durch Dominanz.
Diese Bezeichnung erscheint zwar nicht sehr glücklich, denn eigentlich soll ja bei jedem therapeutischen Gespräch der Klient im Zentrum stehen. Aber Rogers hat ihr selbst diesen Namen gegeben, nachdem er sie anfangs „neue Psychotherapie“ genannt hatte. Diese unterscheide ich von den „älteren Psychotherapien“ dadurch, dass sie ein grundlegend anderes Ziel hat.
Rogers steht auf dem Standpunkt, dass es darauf ankommt, die Selbstheilungskräfte, die in jedem Individuum vorhanden sind, zu aktivieren. Dazu gehört vor allem ein Klima der Empathie + Wertschätzung + Echtheit. Aber
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B2. Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
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keineswegs Beratung, Interpretation, nicht einmal Stützung und Ermutigung. Denn der Therapeut stellt sich damit selbst als übermächtig dar und behindert die Selbstheilungstendenz. Unter diesem Aspekt setzt sich Rogers von verschiedenen anderen Gesprächs- und Beratungsformen in der Psychotherapie kritisch ab und nennt Folgendes: • Das Ermahnen und Belehren. Es habe sich als unwirksam bewiesen, außer mit Unterstützung durch Zwangsmaßnahmen, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft kaum Platz haben. • Das „Bearbeiten“ und Festnageln durch Abverlangen von Versprechen, etwa bei Süchtigen, habe auch weitgehend zu Rückfällen geführt. • Suggestionen durch Stützen und Ermutigen. Es sei repressiv und leugnet das vorhandene Problem ebenso wie die Einstellung des Individuums in Bezug auf dieses Problem. • Katharsis. Dieser Ansatz wird keineswegs verworfen, sondern sei weiterentwickelt und vielseitiger anwendbar geworden. • Die Verwendung von Ratschlägen. Der Beratende gibt viel zu sehr seine Ratschläge aus dem eigenen Blickwinkel ab und das eigentliche Problem des Klienten (auch ein Ausdruck, den Rogers für Patienten eingeführt hat) bleibt unberücksichtigt. • Die Anwendung der intellektualisierten Interpretation sei ein wichtiger Teil der klassischen Psychoanalyse. Als negativ daran wird angeführt, dass – gleichgültig wie zutreffend die Interpretation sein mag – sie nur in dem Maß einen Wert hat, in dem sie vom Klienten akzeptiert und assimiliert wird. Das kann aber keineswegs immer erreicht werden. Grundlegende Annahme bei allen diesen therapeutischen Ansätzen sei es, dass der Berater alles am besten weiß und auch Techniken zur Verfügung hat, die den Klienten auf wirkungsvollste Weise zu dem vom Berater gewählten Ziel gelangen lassen, und dem tritt Rogers entgegen. – Soweit die Selbstdarstellung und Begründung der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie durch Rogers.
Wir stimmen einerseits nicht allen seinen Aussagen zu. – So haben wir auf den Wert vom Stützen und Ermutigen schon hingewiesen (abweichend von Rogers und auch von Balint). Wohl überlegte suggestive Unterstützung kann unseres Erachtens dabei durchaus nützlich sein (mit und ohne gezielt hypnoide Behandlung, vergl. C2). Anderseits ist manches von Rogers Gedankengut in die allgemeine Gesprächspsychotherapie eingeflossen. Man findet es in unseren Zeilen mehrfach wieder, insbesondere die Problematik von Ratschlägen (Ausnahmen siehe Kap. A3) und die Wesentlichkeit der Empathie für jede Art der ärztlichen Tätigkeit. Finke und Teusch nennen dazu noch die wichtige Grundbedingung des bedingungsfreien (nicht wertenden) Akzeptierens. Zwei wichtige Techniken der Gesprächstherapie, die auch Langen gern verwendet hat, sind das Spiegeln und die unbestimmte Frage. Unter „Spiegeln“ versteht man Wiederholung der letzten Aussage des Patienten, weil dem Patienten durch die Wiederholung manchmal selbst erst die Bedeutsamkeit dessen klar wird, was er gesagt hat. Gleichzeitig soll dadurch (laut Eckert) dem Umstand Ausdruck gegeben werden, dass der Therapeut empathisch versteht und unbedingt wertschätzt. Unbestimmte Fragen sind das Gegenteil von solchen, welche „Ja“-„Nein“-Antworten er-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
möglichen, sondern sie sollen in der Lage sein, möglichst weiterführende Assoziationsketten zu kanalisieren. Am unbestimmtesten sind ganz kurze Gespräch-stimulierende fragende Bemerkungen wie: „na und?“ oder „und dann?“. Das einfachste und Gewöhnlichste ist „wie geht es?“ oder „was gibt es Neues?“.
Pöldinger charakterisiert den im Gesprächsverhalten „idealen Arzt“ wie folgt: • Er kennt die Grenzen seines Wissens. • Er wendet sich dem Patienten emotional zu. Er versucht in diesem Bereich dem Patienten zu helfen, Entscheidungen zu treffen, ohne ihm diese aufzuzwingen, bietet hingegen verschiedene Alternativen für den Patienten an – (füge ich hinzu). • Er vermittelt Ruhe und Sicherheit. • Er trifft klare Entscheidungen nach Besprechungen mit dem Patienten. • Er weicht keiner Frage aus. • Er sucht nach Möglichkeit zum Kontakt mit den Angehörigen und versucht auf familiäre Probleme einzugehen.
Schüssler nennt wichtige Fehler im Gespräch: • • • •
Stetige Unterbrechungen, Suggestivfragen, Kritisieren, vorschnelles Konfrontieren, Deuten und kränkende Bemerkungen, Stetiges Gespräch über Abwesende (z. B. Ehefrau spricht nur über ihren Mann), übereinstimmend mit Kernberg.
Frankls Logotherapie (ausführlich neben Frankl auch bei Kurz und Sedlak) ist eine Gesprächspsychotherapie, die das Finden eines (neuen) Sinns in das Zentrum der Bemühungen stellt. Besonders in der heutigen Zeit befänden sich viele in einem „existenziellen Vakuum“, welches neue Sinnfindung nötig erscheinen lässt. Diesbezüglich sind Frankls Gedanken weitgehend bei uns eingeflossen insbesondere in der Rehabilitations- und Alterspsychotherapie (F2). Es geht Frankl auch um die sogenannte Selbsttranszendenz, d. h. das Weitervermitteln von positiven Werten an andere (vergleiche Kap. A5). Als therapeutisches Instrument wird oft die paradoxe Intention (Symptomverschreibung) angewandt. Es wird dem Patienten aufgetragen, sein Störsymptom bewusst zu reproduzieren und es fällt dadurch die Erwartungsspannung und Auslöseangst weg. Vielfach wird das auch heute in der Sexualtherapie im Sinne von „Koitus-Verbot“ bei psychogener Impotenz angewandt.
Nochmals sei auf den Beziehungsaspekt hingewiesen, den ich schon zu Beginn dieses Kapitels als wichtige Voraussetzung für ein fruchtbares ArztPatienten-Gespräch aufgezeigt habe. Pfeiffer bringt dies plakativ auf den Punkt (weshalb ich seine Aussage folgend auch eingerahmt habe). Wir werden später noch zeigen, dass die Beziehung allgemein ein ganz wichtiger (wenn nicht der wichtigste) Faktor im menschlichen Leben ist; so im Seniorentum allgemein (F1) und in der Sexualität (F3). In der systemischen Therapie (IV) wird die menschliche Beziehung speziell angesprochen. Menschliche Beziehung wird zu einem guten Teil (nicht ausschließlich – wie noch
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B2. Vorwiegend psychotherapeutisch orientierte Gespräche
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gezeigt werden wird) durch Gespräch aufgebaut. Umso wichtiger scheint es uns darauf hinzuweisen, dass das Gespräch an sich erst durch den Beziehungsaspekt gehaltvoll wird.
Gesprächspsychotherapie ist (sagt Pfeiffer) eine Behandlung von Beziehungsstörung durch Beziehung. Das geschieht in mehrfacher Weise. 1. Vergegenwärtigung früherer Erfahrungen mit Katharsis, Symbolisierung und Neubewertung. 2. Die therapeutische Beziehung als Übungsfeld für neuartige Erfahrungen und Verhaltensweisen. 3. Ausleben, Bewusstmachen und Überwinden irrealer Beziehungsstrukturen (Übertragung, Projektion). Nachholen versäumter Erfahrungen, Korrigieren der Erlebnisse. 4. Die Realbeziehungen zwischen Patient und Therapeut.
Ein ganz wesentlicher Aspekt ist der Umgang mit den Angehörigen, speziell in der Gerontopsychotherapie, Altersrehabilitation, palliativen (Psycho-)Therapie (F1, F4). Aber auch in vielen anderen Arzt-Patienten-Beziehungen kommt es in Frage etwa • wenn (Krisen-)Paare, • wenn Mütter mit ihren Kindern kommen etc. Dafür sehe ich eine Hauptregel: Man muss jedem Patienten (speziell auch einem Kind, das mit seinen Eltern kommt) Gelegenheit geben, alleine mit dem Arzt zu sprechen, (übereinstimmend mit Kernberg 1996 – vergl. F1), dann aber dem Begleiter ebenso. Das gilt (speziell) auch dann, wenn Partner sagen: „wir haben keine Heimlichkeiten voreinander“, oder die Mutter sagt: „das Kind kann es nicht so gut erzählen“. Anschließend soll man natürlich ein Gespräch zu zweit oder zu dritt führen. Nur so gelingt es, wirklich brauchbare Auskünfte zu bekommen. Davor ist im jeweiligen Einzelgespräch zu klären: Was muss der Therapeut bei sich behalten und was darf mit dem Partner besprochen werden. Auch hier gilt also die „ärztliche Schweigepflicht“. Es ist erstaunlich: Wenn man Krisen-Paare zur Therapie hat und jeden über den anderen oder die Situation reden lässt. Man könnte manchmal glauben, es sind ganz andere Menschen, von denen da die Rede ist. – Soweit kann die subjektive Färbung des Erlebens differieren. Man darf sich also keineswegs zu stark mit einem Gesprächspartner identifizieren und dadurch unkritisch werden (wie schon bei der Besprechung der Empathie betont wurde). – Typisch ist es dabei, dass eher der wenig Gestörte in die Therapie kommt und der andere zuhause bleibt und wir häufig bei solchen Krisenpaaren daher nur einen Referenzpartner zur Behandlung haben.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Von Kindern erhält man meist viel klarere und brauchbarere Anamnesen als von Erwachsenen, wenn man durch Separierung verhindern kann, dass die Mutter ihnen jedes Wort aus dem Mund nimmt.
Allerdings wird jene – primär separierte und dann erste gemeinsame – Gesprächstaktik nicht von allen Psychotherapeuten gepflegt, manche Familientherapeuten und Systemtherapeuten machen prinzipiell nur Gespräche mit den Partnern zugleich. Für die speziellen Probleme des Gespräches zwischen den Generationen vergl. F2. Schulübergreifendes aus unserer Darstellung der Gesprächstherapie wird man auch in den folgenden noch angeführten speziellen Psychotherapiesystemen finden, insbesondere bei Zapotoczky’s Verhaltenstherapie (V), bei Waidhofer’s systemischer Therapie (VI), in der Alterspsychotherapie (F2). Noch ein Wort zum Arzt (Therapeuten) als Patient. Es haben genau die gleichen Regeln zu gelten wie mit jedem anderen Patienten. Von Exploration über Aufklärung zu Empathie sorgfältiger Sprache und weiterer Psychotherapie. Auch wir Ärzte regredieren in der Patientenrolle und setzen in den Behandler große Erwartungen, selbst wenn es – etwa bei Spitalsaufnahme – ein viel jüngerer und noch in der Spitalsausbildung stehender Kollege ist. Dazu nochmals: „Auch Bademeister, die ins Wasser fallen, werden nass“. Das wird allerdings manchmal durch fachliches Gespräch durch den Arzt-Patienten zu übertünchen versucht. Der Therapierende soll sich dadurch nicht täuschen lassen. Ein Radiologe begrüßte eine Ärztin-Patientin, die wegen Kontrolle eines operierten Karzinoms zu ihm kam mit den Worten „Was, Sie gibt’s auch noch?“. Es sollte offensichtlich eine kumpelhaft-kollegiale Pseudobegrüßung sein, traf aber die Arzt-Patientin (die ja natürlich trotz allem Professionalismus mit der ständigen Angst vor Progredienz ihrer Erkrankung lebte) schwer.
Gleiches gilt vice versa für den therapeutisch Tätigen bei seinen Problemen. Nur Münchhausen konnte sich an dem eigenen Zopf selbst aus dem Sumpf ziehen. Daher soll auch der Therapeut bei gravierenden Eigen-Problemen professionelle Hilfe suchen, bei einem Therapeuten, der ihn strikte als ArztPatienten ansieht und auch als solchen behandelt, nicht etwa beiläufig und nebenbei, weil er Fachwissen voraussetzt.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B3. Integrierte Psychotherapie bei Depression
B3.
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Integrierte Psychotherapie bei Depression
Schlagwort-Information Die Gesprächspsychotherapie bei Depression muss vor allem empathisch sein, darüber hinaus versuchen, exogene Depressions-mitunterhaltende oder -mitverursachende Faktoren zu entschärfen. Zusätzlich kommen körperliche und soziale Maßnahmen in Frage; (Selbst-)Hypnotische Maßnahmen hingegen nur bei leichten Depressionsausprägungen. Sinnvolle und gekonnte Kombination mit Medikation (Antidepressiva) ist essenziell.
Die Integrierte Psychotherapie, vor allem Gesprächstherapie, stellt eine wesentliche Komponente einer komplexen Therapie bei Depressionen dar (neben Psychopharmaka, Heil-Krampf-Behandlung, Sozialmaßnahmen etc.). Die empathische Komponente des Gesprächs soll im Gesundheitsberuf, wie mehrfach betont, immer mitlaufen. Sie ist aber besonders wesentlich bei depressiven Faktoren. Es geht nicht an, die Beschwerden des Patienten zu bagatellisieren: „...das ist ja gar nicht so arg...“ und „...ich hab das auch...“, „...beachten Sie es gar nicht...“ (wie es oft gut gemeint geschieht). Man muss zuerst dem Patienten das Gefühl geben, dass er verstanden wird und dass man für ihn Mitgefühl hat. Dann erst kann man vorsichtig versuchen, auch korrigierend einzuwirken. Die nötige Permanenz des Gespräches, die unter Umständen auch Telefonkontakt einschließen soll, wurde schon im vorigen Abschnitt erwähnt und ist bei Depressiven besonders wesentlich. Problemzentrierte psychotherapeutische Gespräche sollen versuchen exogen unterhaltende Faktoren zu entschärfen. Weiters gilt: Psychotherapie und Pharmakotherapie rationell zu kombinieren. Das ist heute allgemein akzeptiert. Dass bei Anzeichen für Depressivität (auch bei relativ „leichten“) immer die Frage der Suizidalität angesprochen werden muss, sei der Wichtigkeit wegen speziell betont. Das Fragen nach Suizidalität und Reden darüber erhöht durchaus nicht die Gefahr (wie in Laien- und nicht-fachärztlichen Kreisen noch immer fälschlich vielfach geglaubt wird), sondern gehört zur Suizid-Prophylaxe; (wenn es auch keine absolute sichere Prophylaxe gegen Suizid gibt). Grond (2004) schreibt (mit besonderem Zielpunkt der Altersrehabilitation, aber es gilt meines Erachtens überhaupt): „die Beziehung hat eine größere Bedeutung als Medikamente oder bestimmte Therapieverfahren.“ Es scheint uns damit unsere Aussage über den Wert des Gesprächs wesentlich ergänzt, denn wir meinen ja nicht nur unverbindliches
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Reden, sondern eben ein Beziehungs-aufbauendes und -förderndes Gespräch, das in erster Linie empathisch ist, in zweiter Linie versucht Ressourcen (Lebenssinn etc.) zu mobilisieren.
Kielholz hat seinerzeit eine 3-Teilung der Depression nach ihrer nosologischen Herkunft vorgeschlagen, nämlich „psychoreaktiv“, „endogen“ und „somatogen“. Heute sind aber diese Unterscheidungen der Depression „unmodern“ geworden. Weil es angeblich international so viele unterschiedliche Auffassungen über Depressionsursachen gab, ließ man diese nun ganz weg und klassifiziert nur nach dem Erscheinungsbild der Depression (schwer, mittel, leicht, monopolar, bipolar usw.). Dass daraus auch ein nomenklatorisches Manko geworden ist, drückt Katschnig in dem Titel seines 2002 erschienenen Buches aus: „Was ist aus der guten alten neurotischen Depression geworden?“ Gleichsinnig Zapotoczky (V.). Die neue Betrachtungsweise der Depression (die sich a priori nicht um die Nosologie kümmert) hat aber auch ihr Gutes. Denn es wurde vielfach (fälschlich!) daraus die Indikation gestellt für entweder Psychotherapie (für die psychoreaktive Depression) oder über den Körper gehende Therapie (für die anderen Depressionen). In meinem Arbeitskreis hat immer ein „Sowohl als auch“ gegolten. Wir haben überdies ausdrücklich die 3-Gliedrigkeit der Kielholz’schen Depressions-Nomenklatur um das Wörtchen „überwiegend“ erweitert um zu zeigen, dass auch bei der Depression immer ein multifaktorielles Gefüge anzunehmen sei, in welchem jedoch der eine oder andere nosologische Faktor überwiegt. Wenn auch – wie gesagt – Psychotherapie bei Depression auf jeden Fall angezeigt ist, gleichgültig ob diese „endogen“ oder „psychoreaktiv“ ist, so wird doch die Art der Psychotherapie und ihre Zielrichtung sich wesentlich unterscheiden. Bei der überwiegend endogenen Depression wird das Empathische zu überwiegen haben. Während wir bei einer Depression mit überwiegend psychoreaktiven Fakten auch im Gespräch auf Lösungsstrategien hinzuarbeiten versuchen werden. – Ist also auch die nosologische Unterscheidung der Depression aus der „offiziellen Nomenklatur gestrichen“, so ist sie für eine gezielte Psychotherapie doch wesentlich (übereinstimmend mit Zapotoczky [V], Katschnig, Gisela Gross u. a.).
Zum „allgemeinen“ ärztlichen Gespräch gibt Pöldinger bezüglich der depressiven Patienten einen wichtigen Hinweis: nämlich, dass diese häufig den Arzt mit scheinbar belanglosen Problemen „belästigen“, nur um ins Gespräch zu kommen, und er bringt dazu ein eindrucksvolles Beispiel. Der Oberkellner des benachbarten Kaffeehauses kam um halb zwei Uhr früh in die Unfallambulanz (wo der damals noch junge Pöldinger Dienst machte) und sagte: „Meine Herrn, ich habe gesehen, es brennt noch Licht in der Ambulanz und ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Ich leide seit 20 Jahren an Plattfüßen. Kann man dagegen etwas tun?“ Der allen bekannte freundliche Herr wurde (was kann man anderes erwarten) kurzerhand hinauskomplimentiert, er solle zu einem Orthopäden gehen oder in die unfallchirurgische Ambulanz; aber am nächsten Morgen und nicht mitten in der Nacht. Zwei Tage später war der Mann tot. Er hatte Selbstmord begangen, war – so kommentiert der inzwischen wesentlich älter gewordene Pöldinger – natürlich nicht wegen der Plattfüße um halb zwei in der Nacht ins Spital gekommen, sondern in der Hoffnung, man werde mit ihm in seiner Verzweiflung (empathisch) sprechen.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B3. Integrierte Psychotherapie bei Depression
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Begleitdepression Wir haben seinerzeit den Ausdruck der Begleitdepression eingeführt. Der Ausdruck sollte vor allem eine Erinnerungs- und Appellfunktion haben, damit wir hinter das äußere Erscheinungsbild einer Krankheit wie auch hinter das oberflächliche Bild eines Gesprächs zu blicken versuchen. (Der ebenso plastische wie tragische „Plattfuß-Oberkellner“ Pöldingers möge diesbezüglich eine Gedächtnisstütze sein). Wir haben all das mehrfach dargestellt, zuletzt 2001 mit einem Anhang-Artikel von Conca, welcher die Stellung der Begleitdepression aus der Sicht heutiger psychiatrischer Diagnostik analysiert. Kasper hat kürzlich ein von ihm veranstaltetes Symposium (2001) ganz unter den Titel der „Begleitdepression“ gestellt, deren Aktualität unterstreicht er auch im Vorwort zur Kongresspublikation: Der Begriff „Begleitdepression“ wurde erstmals von Barolin und Saurugg geprägt, die darauf hinwiesen, dass man nicht nur entweder körperlich krank oder depressiv sein kann, sondern dass sich beides häufig in einer Person zusammenfindet. Es war dabei der Verdienst der Autoren darauf hinzuweisen, dass phänomenologisch Zusammenhänge bestehen, ohne eine Ätiologie vorwegzunehmen. Patienten mit einer Begleitdepression sind primär nicht in der psychiatrischen Praxis zu finden, sondern aufgrund ihrer körperlichen Beschwerden häufig beim Hausarzt bzw. Facharzt einer anderen Fachrichtung in Behandlung. Eine fachübergreifende interdisziplinäre Zusammenarbeit gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen, dass diesen Patienten geholfen werden kann und somit das damit verbundene subjektive Leid reduziert wird. – Und dazu gehört natürlich speziell die Integrierte Psychotherapie, welche in der vorliegenden Schrift thematisiert wird (sage ich dazu). Diagnostisch gilt es also, Allgemeinärzte und Ärzte nicht-psychiatrischer Fachrichtung für die Depressions-(mit-)Diagnose zu sensibilisieren, die hinter den vorgebrachten körperlichen Beschwerden stecken kann. Wir verwenden dazu in unserem Arbeitskreis auch die Ausdrücke „depressive Faktoren“ oder „depressive Komponente“ bei oder im Rahmen einer vordergründigen Krankheit.
Das Bild der Begleitdepression (respektive einer depressiven Komponente) findet sich häufig beim „depressiv mitbedingten Kopfschmerz“ (G2), aber es ist auch sehr oft beim chronisch kranken Alters- und Rehabilitationspatienten (F2). Das wird inhaltsmäßig von Kapfhammer bestätigt ohne dass er es Begleitdepression nennt, (denn diese rangiert – wie gesagt – nicht in der derzeitigen Klassifizierung). Er sagt, dass besonders Patienten mit Erkrankungen, die das Zentralnervensystem oder das endokrine Regulationssystem direkt betreffen, zur Depressivität neigen. Außerdem besteht ein enger Zusammenhang mit Chronizität, Schwere und Prognose der Erkrankung, was durchaus mit unserer Erfahrung übereinstimmt. Abb. 10 bringt schlagwortartig die wesentlichen Punkte (die verstreut im Text vorkommen), welche die Begleitdepression betreffen, zur Übersichtsbildung. Dabei hat immer Psychotherapie gleichzeitig mit der übrigen Antidepressions-Therapie zu erfolgen, also kein Entweder/Oder, sondern Sowohl/Als auch.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
In der Rehabilitation zeigt sich die Symptomatik häufig • in allgemeiner ablehnender Haltung gegen die Rehabilitationsbemühungen, • Missmutigkeit bis Nörgelei. Wir haben es in der Rehabilitation als „Rehabilitationshospitalismus“ besonders bezeichnet (körperlich nicht erklärbarer Stillstand oder Rückschritt im Rehabilitationsprofil). Siehe F2. Die darin enthaltene Depression ist wiederum ein typisches Beispiel für multifaktorielle Ätiologie und Notwendigkeit kombinierten medikamentös-psychotherapeutischen Eingreifens: • Das überzufällige Auftreten nach Schlaganfällen weist auf hirnorganische Mitverursachung hin („somatogen“). • Zu erwartende Schwierigkeiten im zukünftigen Leben und speziell mit der Familie (Einsamkeit, Ablehnung, Kontroversen, etc.) + Berufsverlust bilden ein schweres psychoreaktiv-wirksames Paket. • Schließlich weiß man aber, dass bei Patienten, die früher schon einmal Depressionen gehabt haben, eine derartige „post-stroke-depression“ häufiger vorkommt, als bei Patienten mit blander Anamnese (endogene Prädisposition respektive Komponenten).
„Begleitdepression“ (Kriterien) • Vordergründig körperliche Erkrankung/Leiden plus „begleitende“ Depressive Faktoren • Kommt daher typischerweise zum nicht-psychiatrischen (Fach-)Arzt • „Leichte“ Ausprägung (= „Minor Depression“) • Antidepressiva-Ansprechen – rascher (3-6d) – niedrigere Dosis
als „psychiatrische“ Depression
• Nosologie (innerhalb der Kielholz-Einteilung): – somatogen – psychoreaktiv – endogen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die sich aber immer kombinieren respektive überlappen. Dementsprechend sinngemäß auch kombinierte Therapie angezeigt. Abb. 10 Wir treffen die von uns so genannte „Begleitdepression“relativ häufig im Krankengut des nicht-psychiatrischen Facharztes an. Es muss „komplex“ behandelt werden: medikamentös + psychotherapeutisch + eventuelle andere Maßnahmen, also kein Entweder/Oder, sondern ein Sowohl/Als auch.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B3. Integrierte Psychotherapie bei Depression
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Die „klassischen“ Depressionssymptome wie vor allem Traurigkeit und Angst müssen besonders bei den Begleitdepressionen nicht evident sein (weshalb diese auch typischerweise hintergründig bleiben) und nicht zum Psychiater kommen. 10b zeigt häufige Symptomkombinationen.
„Begleitdepression“ (häufige Symptome) • Öfter gehemmt als agitiert. • Entscheidungsschwäche + Konzentrationsmangel + Gefühl der körperlichen Erschöpfung machen Aktivitäten zu einer Last oder unmöglich (Inaktivität) • Stimmungstief: scheint „grantig“, führt zu Zurückweisung der Therapien (Negativismus) • Somatische Störungen innerhalb der vegetativen Sphäre: – Gestörter Nachtschlaf und vorzeitiges Erwachen (mit Tendenz zum Grübeln) + Müdigkeit und Schläfrigkeit während des Tages (Schlafumkehr) – Kopfschmerz, Schweißausbrüche, Herzattacken – Gestörte Periode bei den Frauen und gestörte Libido bei beiden Geschlechtern • Morgen-Pessimum resp. abendliche Aufhellungen • Suizidal-Tendenzen sind kaum evident, können aber trotzdem im Hintergrund stehen
Abb. 10b Die Symptome der Begleitdepression weichen von den psychiatrisch „klassischen“ Symptomen teilweise ab, besonders sind sie zu beachten beim depressiven Kopfschmerz und in der Depression des (Alters-)Rehabilitationspatienten.
Wir fügen dazu den plakativen Merkspruch an: Nicht nur wer weint und klagt ist depressiv. (Siehe vordergründige somatische Beschwerden.)
Nicht jeder, der weint und klagt ist depressiv. (Siehe Übertreibungen bei Gutachtenssituationen [G2].)
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Wenn auch die Elektrokrampfbehandlung jetzt eine gewisse Renaissance erlebt hat (Baghai und Mitarb. – wir gehen später noch einmal kurz darauf ein), so ist doch die Therapie der Depression mit Antidepressiva heute die via regia. Sie soll jedoch immer mit Psychotherapie kombiniert sein: a) vor allem empathisch, b) im Sinne eventueller Problem-Entschärfung. Entsprechend dem Allgemein-Prinzip unserer Integrierten Psychotherapie sei für den Psychotherapierenden hier auch kurz auf „das Medikamentöse“ eingegangen („kurz“, weil es über die Psychopharmaka ein großes psychiatrisches Schrifttum gibt). Das Folgende sei daher nicht als „vollständig“ missverstanden.*) Es kann ein psychotherapierender Arzt sowohl die Psychotherapie als auch die medikamentöse Therapie in einer Hand halten, aber auch ein (etwa nicht ärztlicher) Psychotherapeut die Psychotherapie parallel zur ärztlichen Therapie führen. Dann ist es umso wichtiger, dass mit guter wechselseitiger Kenntnis der Methoden gut kommuniziert wird.
„Begleitdepression“: Behandlung Immer möglichst gleichzeitig, möglichst „alles“, jedoch gezielte Polypragmasie • Medikamentös Psychopharmaka + Behandlung körperlicher Symptome • Physiotherapie Neben „klassischer“ körperliche Wirkung auch psychotrop über Stimmung / Vegetativum • Psychotherapie + Lebenshygiene – Empathie + Problementschärfung – Angehörige – somatotrope Wirkung • „Alternativ“ / Umstimmungstherapie Abb. 10c Hier wird das vorgenannte „Sowohl/Als auch“ statt „Entweder/Oder“ noch näher aufgeschlüsselt.
*) Wenn ich hier Firmennamen und Dosierung nenne, so soll das der praktischen Verwendbarkeit dienen, keinen Exklusivitäts-, sondern Beispielcharakter haben. Ich nenne speziell über längere Zeit praktisch selbst Erprobtes.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B3. Integrierte Psychotherapie bei Depression
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1. Eine Wechselbeziehung zwischen Gespräch und Antidepressiva besteht insofern als – Ein einfühlsames Gespräch manche (speziell alte) Menschen erst überzeugen muss, dass Antidepressiva sinnvoll sind. – Bei manchen Depressiven ermöglicht erst eine gewisse Öffnung durch Psychopharmaka ein weiterführendes Gespräch. – Hinsichtlich der Gesprächstherapie kombiniert mit Antidepressiva-Medikation findet sich auch unter dem verhaltenstherapeutischen Aspekt einiges Zusätzliche (V). 2. Die vorangeführte Nosologie der Depressionen (speziell „psychoreaktiv“ oder „endogen“) gibt – wie schon gesagt – keine Differenzialindikation für den Psychopharmakaeinsatz. 3. Wie soll man vorgehen? Dazu folgende Schlagwort-Richtlinien: – Solche Psychopharmaka anwenden, die man gut kennt, (nicht alle neuen ausprobieren), – Bei alten Menschen vorsichtig, prinzipiell eher initial halbdosieren, aber – Mit demselben Präparat aufdosieren bis zur Wirkung, wobei man auf diese ab der wirksamen Dosis etwa eine Woche warten muss. Nicht bei unwirksamen Minidosen stehen bleiben und Unwirksamkeit des Präparats postulieren oder gar medikamentöse Unbeeinflussbarkeit der Depression beim Patienten. 4. Was geben? – Vor allem gilt: Depression verlangt Antidepressiva, aber keineswegs Tranquilizer. – Ausnahmen: sehr ängstlich gespannte Patienten in der Anfangszeit des Antidepressivum und bis zu dessen Wirkungseintritt; schwere Trauerfälle (neben, aber nicht statt des Gesprächs) und nur in den ersten paar Tagen. In Frage kommt Alprazolam (Xanor®) in halbmilligrammiger oder milligrammiger Dosierung.
Die Antidepressiva (Synonym: Thymoleptika) sind heute in einer breiten Palette verfügbar. Hier nur einige wenige Beispiele. • Die „alten“ Antidepressiva, trizyklische etwa Amitryptilin (Amytryptylin®, Tryptizol®, Saroten®), Clomipramin (Anafranil®), Doxepin (Sinequan®), haben den Vorteil, der Wohl-Bekanntheit in Wirkung, Nebenwirkung und Unverträglichkeiten. Den Nachteil gewisser kardiotoxischer Nebenwirkung. Sie seien angeblich im Sinne der anticholinergen Eigenschaft, auch Demenz-unterhaltend (wenn nicht fördernd). Dem wird allerdings nicht allseits zugestimmt. Sie sind keineswegs schon obsolet und können durchaus noch gegeben werden. Wobei das Doxepin (Sinequan®) zu den „neueren“ der „alten“ und nebenwirkungsschwächeren gehört. • Die „neueren“ Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer – SSRI) sollen jene Nebenwirkungen nicht oder nur in wesentlich geringerem Maß haben. Es haben sich aber in letzter Zeit die Mitteilungen darüber gehäuft, dass sie beim Mann Erektions-abschwächend wirken können. Genannt sei das Sertralin (Tresleen®), welches auch nach Herzinfarkt gegeben werden kann, kaum sediert und sogar die Kognition fördern soll (Kasper 1997) durch die relativ lange Halbwertszeit kann man einmal täglich (etwa morgens 50mg) dosieren. Bei älteren Menschen braucht man keine Dosisanpassung vornehmen. Relativ rascher Wirkungseintritt. • Zu beachten ist auch die eher müdmachende oder eher antriebssteigernde Komponente der Antidepressiva, welche man individuell einsetzen kann. Je nachdem, ob die abendliche Schlafstörung oder die morgendliche Antriebsstörung überwiegt, wird man eher ein trizyklisches geben (etwa Sinequan® 50 mg abends). Bei ausgeprägter Antriebsstörung in der ersten Tageshälfte eher eines der neueren, etwa Tresleen®, morgens. • Die Dauer bis zum Wirkungseintritt wird allgemein mit einer Woche bis 10 Tage angegeben. Allerdings konnten wir klinisch (eindrucksmäßig, aber auch anhand der typischen Rating-scales) feststellen, dass man bei unseren Begleitdepressionen mit einem rascheren Wirkungsbeginn, etwa schon nach 3 Tagen, rechnen kann. Das spielt vor allem eine Rolle bei den depressiven Patienten, die uns in der Rehabilitation begegnen (vergleiche Kap. F2).
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• Ist in der Zeit bis zum Eintritt der Antidepressiva-Wirkung die Symptomatik sehr hochgradig, besonders dann, wenn sie agitiert-ängstlich ist, kann man mit Tranquillizern überbrücken (wie schon vordem gesagt). Etwa Alprazolan (Xanor®) in halbmilligrammigen oder milligrammigen Tabletten. Das Hauptproblem der Tranquillizer ist, dass sie zu einer Abususausbildung neigen. Allerdings kenne ich manche alten Menschen, die seit Jahren eine kleine Dosis eines Tranquillizers einnehmen, darauf fixiert sind und keinerlei Abusus-mäßige Steigerung aufweisen. Es ist also gerade bei alten Menschen diesbezüglich auch eine individuelle Betrachtung notwendig. Vergleiche B3.
Als drittes sind neben Pharmakotherapie, Psychotherapie (wie hier behandelt) und psychiatrischer Therapie (Elektrokrampfbehandlung, Lichttherapie, Schlafentzugstherapie, Vagusstimulation, Magnetstimulation etc. [hier nur erwähnt und nicht näher behandelt, näher ausgeführt in Kasper 2003 a]) vegetativ stimulierende und robrierende Maßnahmen wesentlich (rasch Gehen, Laufen, Schwimmen [soweit natürlich der Patient dafür geeignet ist], Ballspielen, Gymnastik, evt. Musikgymnastik, Kneipp etc.). Das soll keineswegs übertrieben werden, da sich der Depressive leicht überfordert fühlt. Anderseits gilt es aber den Depressiven anzuleiten und zu motivieren, da seine allgemeine Antriebslosigkeit es ihm schwer macht, selbst systematisch etwas zu unternehmen. Kommt man mit der Motivation durch, so sieht man, dass derartige körperliche Maßnahmen häufig einen deutlich bessernden Effekt haben. Auch im allgemeinen Tagesablauf (bei Aufstehen, Ankleiden, Waschen etc.).
Dazu gilt es auch die Angehörigen (ebenso wie die professionellen Betreuer) zu motivieren und zu unterweisen. Sie müssen die Depression als Krankheit akzeptieren. Es muss nicht Verstocktheit oder Bosheit des Patienten sein, wenn er abweisend, grantig ist, und sich zu nichts aufrafft, sondern er kann wirklich nicht. „,Er kann nicht wollen‘ im Gegensatz zum ‚Funktionellen‘ der nicht können will“. (Wie Grond es treffend formuliert hat.)
Das gilt besonders in der Altersdepression und der Depression in der Rehabilitation, diese haben ein „eigenes Gesicht“, worauf wir in F2 noch speziell eingehen, ebenso auf die pathoplastische Wirkung der Gutachtenfunktion. Wir werden dort zeigen können, dass diese sich nicht nur bei eigentlichen Gutachtensfällen, sondern auch in der Altersdepression im Rahmen des „Rehabilitationshospitalismus“ finden kann.
Während das Gespräch auch bei schweren Depressionen immer hilfreich ist (Einzel- und Gruppengespräch) sind hypnoide Maßnahmen (auch das Autogene Training) nur zum Teil indiziert. Der schwer depressive Patient kann sich kaum auf die hypnoide Versenkung konzentrieren, noch weniger sie durch
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Konzentration selbst (autohypnotisch) herbeiführen. Wohl aber ist bei „Subdepressiven“ („minor depression“, „Dysthymie“) mit ihrer fallweise auch damit verbundenen labilen Blutdrucktieflage, die dynamisierende Komponente des Autogenen Trainings gut anwendbar. (Vergleiche Kap. E2 und Abb. 17.) Für Gruppentherapie ist – wie gesagt – der Depressive sehr wohl geeignet, nur muss der Gruppenleiter speziell darauf achten, dass der Patient nicht überlastet wird (Kap. D4). Scholz (2003/4) hat „das Konzept einer mehrdimensionalen integrativen Therapie der Depressionen“ als zeitliches Stufenprogramm dargestellt. Etliches deckt sich mit dem vorstehend Wiedergegebenen. Speziell werden verhaltenstherapeutische Prinzipien eingeführt. Im Sinne der Systemisierung erscheint mir jenes Stufenprogramm bemerkenswert: • In der Initialphase wird medikamentöse Einstellung gemacht und am Aufbau einer guten Therapeuten-Patienten-Beziehung gearbeitet. • Wenn dadurch eine Verbesserung der affektiven Situation erzielt wurde, erfolgt die psychodiagnostische Erhebungsphase. • Depressionsfördernde Konditionen und Muster werden in den folgenden Wochen über Tageskalender weiterhin dokumentiert und besprochen. • Daraus folgt eine „Veränderungsphase“, wo eine schrittweise Verminderung depressionsfördernder Faktoren und Verstärkung von Schutzfaktoren unternommen wird (verhaltenstherapeutisches Prinzip – V). • In der Abschlussphase wird Bilanz gezogen, Absprache bezüglich weiterer Medikation und Verhalten im Fall von Rezidiven. • Das Konzept soll sich bei ambulanter Therapieführung über 3–6 Monate erstrecken. Im stationären Bereich wird außerdem ein konzentriertes Gruppenprogramm angeboten.
Einige Worte zur Abgrenzung von physiologischer Trauer gegenüber Depression Erst eine Trauer, die sich über das „normale“ Maß hinaus perpetuiert, kann zur Depression werden. „Normal“ ist allerdings individuell und soziokulturell verschieden, aber in den extremen Ausprägungen der Depression sehr wohl diagnostizierbar, insbesondere, wenn weitere Symptome der Depression dazu kommen. (Was natürlich nicht heißt, dass es keine Depressionen gibt, die außerhalb einer realen Trauerreaktion entstehen.) Bei der physiologischen Trauer ist das Gespräch die via regia. Psychopharmaka sollen dabei überhaupt nicht gegeben werden oder nur in den ersten paar Tagen (etwa – wie schon gesagt Tranquilizer – um einen besseren Schlaf zu ermöglichen). Ein heutiger Trend alle Emotionen mit Psychopharmaka zuzudecken ist absolut abzulehnen. Wir haben zwar soziokulturell nicht die Möglichkeit die Trauer (wie in gewissen orientalischen Ländern) durch öffentliches Schreien und Weinen abzureagieren. Aber das „Abreden“ mit einem verständnisvollen Partner, eben einem Psychotherapeuten, ist eine wesentliche Hilfe.
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Maercker definiert ein eigenständiges Syndrom der „komplizierten Trauer“ als • einerseits Übergang in Depression mit ihren typischen Symptomen und • anderseits spezifische Trauersymptome, die sich direkt auf den Verlust beziehen. Therapeutisch soll dann einerseits auf die Depressivität an sich eingegangen werden (Medikation + Gespräch), anderseits auf die protrahierten Trauersymptome im Sinne von Verabschiedung, guten Erinnerungen, etc.
Das Burn-out-Syndrom überschneidet sich weitgehend mit dem, was früher als Erschöpfungsdepression bezeichnet wurde (Pöldinger 2002), hat also Depressivität als ein Kardinalsymptom. Laut Ina Rösing ist es in den wissenschaftlichen Klas-sifikationen (ICD und DSM) kein fester Begriff. Es gibt aber die unterschiedlichsten seitenlangen Definitionsversuche und Symptomenlisten. Daraus + Eigenerfahrung extrapoliere ich die folgende Definition: Definition des Burn-out-Syndroms: Innerhalb des Kardinalsymptoms einer vorwiegend gehemmten Depression (respektive neben dieser) sind vor allem kennzeichnend: • Zynismus, erniedrigte Moral, Empathieverlust mit erhöhtem Aggressionspotenzial (bekanntlich bis zu Patienten-Morden und Selbstmorden führend). – Vgl. F4. • Psychosomatische Beschwerden. • Emotionale Ansteckungstendenz in der Arbeitsgruppe. Hauptbetroffene sind stark engagierte Menschen wie • unterrichtende Personen, • Personen im Umgang mit Ordnung und Gewalt (Polizisten etc.), • mit Leben und Tod, wie Pflegepersonal, Ärzte, Psychotherapeuten.
Wir stehen dem Burn-out-Syndrom vor allem bei Pflegepersonen, insbesondere bei Langzeitbetreuern in der Altersrehabilitation (F2), gegenüber. Gegenmaßnahmen sind • Berufswechsel oder Berufspause (Krankenhauspersonal kann auf eine andere Station rotieren), • Entlastende Aussprachen unter Supervision, • Gemeinsame Gruppenunternehmungen außerhalb des Arbeitsmilieus mit der Arbeitsgruppe, • Sinnvolle Pharmakotherapie (meint wiederum nicht zudecken mit Tranquillizern oder gar Schlafmitteln, sondern in Kombination mit dem Gespräch, die schon vordem genannten SSRI.
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Der gravierendste und tragischste Ausfluss des Burn-out-Syndroms sind Selbstmorde und Patientenmisshandlungen bis zu Patientenmorden durch das Pflegepersonal (auch ohne irgendwelchen materiellen Gewinn, im Sinne von Erbschleicherei). Wir erfahren darüber immer wieder durch Medienberichte ohne weiterer Erhellung der Hintergründe. Die Lainzer Patientenmord-Serie konnte ich durch ein Nachbarschaftsverhältnis zum betreffenden Krankenhaus näher analysieren. In einem großen Wiener Krankenhaus (des Stadtteils Lainz) fiel auf, dass bei Diensteinteilung gewisser Krankenschwestern-Gruppen jeweils die Sterbequote der Patienten datumsgerecht höher war. So kam man (erst nach vielen Monaten) darauf, dass systematisch dadurch 40-fach (!) gemordet worden war, dass die alten Pflegebedürftigen Wasser eingeflößt bekamen und dann durch Zuhalten der Nase gezwungen waren dieses einzuatmen und daran zu ersticken. Pathologisch anatomisch war es deshalb nicht aufgefallen, weil man die vermehrte Wasseransammlung in den Lungen als terminale Ödemproduktion auffasste. Typischerweise waren mehrere Faktoren mitbeteiligt • Patientenüberbelag mit erschreckender Personalunterbesetzung und Überlastung des Personals (wodurch eine sorgfältige und gezielte Befassung mit den einzelnen Patienten verunmöglicht wurde). • Aufsicht und Personal-Kontakt sowohl durch Abteilungsleiter, als auch durch Rechtsträger ungenügend (warum etwa keine unangesagten Visiten und/oder Amtsarzt-Besuche bei Nacht? – habe ich an meiner Abteilung immer wieder einmal selbst gemacht). • Fehlen aller weiteren oben genannten psychohygienischen Maßnahmen gegen das Burnout, speziell aber einer Supervision. • Die Patienten waren fast ausschließlich sehr alte und/oder unheilbar Kranke, praktisch ohne Heilungschancen, weitgehend inkontinent, kaum kommunikativ, die erst durch ihren Tod die Abteilung verließen (also man kann krass sagen: ein richtiges Sterbeghetto, welches dem Pflegepersonal kaum irgendwelche Befriedigungen und/oder Erfolgserlebnisse bescherte). Natürlich können auch die dargestellten schlechten Bedingungen verbrecherische Handlungen nicht entschuldigen. Die Fülle begünstigender Faktoren wären aber sinnvoll zu vermeiden gewesen. So habe ich aus psychohygienischen Gründen immer Mischbelegung in der von mir geleiteten Abteilung veranlasst (Alt + Jung). Natürlich gab es (von den Angehörigen etwa) Gegenstimmen: „Wie kann man so einen alten mit einem jungen Menschen zusammenlegen!?“ Petzold hat aufgezeigt, dass bis in die Gegenwart in verschiedenen Ländern und (in verschiedenen Umgebungen) immer wieder die Würde des alten Menschen schwerst verletzt wurde und wird, die Politiker überall Hinweise kaum bis gar nicht zur Kenntnis nehmen und „abwiegeln“ (vergl. F1). Ähnlich erging es bei einem Artikel über Lainz durch mich. Ich wurde in einem offiziellen Gegenartikel des Wiener Bürgermeisters als Nestbeschmutzer und politischer Feind der Stadt Wien angeprangert.
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Zusammenfassung zur integrierten Psychotherapie bei Depression Therapie bei der Depression muss immer komplex sein. Das gilt für alle Arten der Depression, sei sie (mit der alten aber Praxis-gerechten Nomenklatur) endogen, psychoreaktiv, somatogen. 1. In der Gesprächstherapie gilt es – Vor allem die empathische Komponente ins Spiel zu bringen und eine möglichste Permanenz der Gesprächsbereitschaft herzustellen. – Eingehen auf die psychoreaktiv wirkenden Beschwerden. Verschiedene Wege können je nach therapeutischer Ausrichtung des Therapeuten und nach Lage des Falls gewählt werden, evt. auch kombiniert werden. – Ressourcen-Mobilisierung: Im Gespräch dahin führen, was alles gut funktioniert (aber vorsichtig im Schatten der empathischen Inhalte, keineswegs statt dieser!): • Partnerbeziehung, • Beziehung zu den Kindern, • Erfolg der Kinder, • Hobbies, • Persönliche Fähigkeiten, • Freunde etc. Darauf hinführen, dass es gilt, die vorhandenen Ressourcen möglichst zu pflegen und in die Praxis umzusetzen. Vergleiche dazu auch das in Kap. F2 speziell bei der Rehabilitationspsychotherapie über „Sinnfindung“ Gesagte. Zur Ressourcenmobilisierung vergleiche auch Artikel V (Zapotoczky) aus verhaltens-therapeutischer Sicht und VI (Waidhofer) aus systemischer Sicht. Jene Ressourcen-Orientierung soll keineswegs als ausschließlicher Gesprächsinhalt angesehen werden. Im Gespräch herauskommende „analytische“ Erkenntnisse über wesentliche traumatisierende Situationen der Vergangenheit sollen sowohl im Sinne der Abreaktion als im Sinne des Verarbeitens sehr wohl mitbenutzt werden. Nur soll die Befassung mit frustrierenden Erlebnissen, Defiziten und/oder Fehlentwicklungen der Vergangenheit nicht zum isolierten Thema werden, sondern um positive Möglichkeiten der Zukunft ergänzt und weitergebaut.
2. Hypnoide und (auto-)suggestive Maßnahmen können eingeführt werden, allerdings gelingt das Autogene Training und auch Hypnose nur bei leichteren depressiven Komponenten, nicht bei schwerer vordergründiger Depression. 3. Sonstige psychiatrische Maßnahmen sind sinnvoll und integriert mit den psychotherapeutischen Gesprächen zu verbinden, so Elektrokrampfbehandlung, Lichtbehandlung, Schlafentzugsbehandlung etc., vor allem aber die antidepressive Medikation. 4. Lebenshygienische Maßnahmen: Versuch eine klare Zeiteinteilung einzuhalten (trotz der depressiven Hemmung). Versuch der Motivation zu
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adäquaten körperlichen Tätigkeiten (Schwimmen, Spazierengehen [möglichst rasch, nicht im „Leichenzugs-Tempo“!], Laufen, etc. – je nach Möglichkeit und Neigung). Sport allgemein mit oder ohne wettkampfmäßigen Erfolg. 5. Sozialmobilisierung: Versuch über Erkundung des sozialen Netzes Initiativen zu kanalisieren: • Freundesbesuche, • Unternehmungen mit der Familie, • Öffentliches Auftreten, • Politisches Engagement, etc. (Natürlich ist das nur möglich bei einer relativ leichten Ausprägung der Depression.) 6. Durch den Ausdruck der Begleitdepression wollen wir daran erinnern, dass Depressionen häufig nicht isoliert, sondern mit körperlichen Störungen zusammen auftreten, vor allem zählt das in der Rehabilitation und beim Kopfschmerz. Hierbei gilt es immer die körperliche und die psychische Erkrankung gleichzeitig zu behandeln, da eines das andere verstärken und unterhalten kann.
B4.
Das Gespräch in der medizinischen Arbeitsgruppe
Schlagwort-Information Ein wesentliches Problem in der medizinischen Arbeitsgruppe ist die Polarität zwischen Hierarchie und Eigenverantwortlichkeit. Gekonntes Gesprächsverhalten soll eine tragfähige Brücke zwischen diesen beiden Polen darstellen.
Das Kapitelthema findet sich auch in Abhandlungen über „Kommunikation“. (Scholz hat 1999 ein eigenes Buch über „Kommunikation im Gesundheitssystem“ geschrieben). Diese hat aber auch recht viel mit Gesprächskultur in der basalen Psychotherapie zu tun. Ich finde den Ausdruck „Arbeitsgruppe“ besser als den englischen „Team“. Denn so werden die gesamten gruppendynamischen Phänomene eingeschlossen, die zum Tragen kommen. „Team“ erinnert (vielleicht nur mich) mehr an ein Fußballspiel. Die in der Arbeitsgruppe bestehenden gruppendynamischen Phänomene zu erkennen und sie positiv zu benutzen, kann das Arbeitsklima wesentlich verbessern und hebt dadurch die Qualität der Patientenversorgung. Einiges hier Besprochene ist auch in vorstehender Abb. 9a schon enthalten.
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Eine wesentliche Dimension dabei ist, wie mit der Hierarchie umgegangen wird. Schon beim notwendigen „Abschied von der eigenen Göttlichkeit“ (Bartl) wurde das fortschrittliche Gespräch in der Arbeitsgruppe erwähnt, das ermöglichen soll, über die eigenen Erfolge und Misserfolge zu sprechen, sich die eigenen Fehler sagen zu lassen und sich selbst zur Diskussion zu stellen. Die Möglichkeit für gleichberechtigte Gespräche in der Arbeitsgruppe ist durch die Kompliziertheit der Medizin auch immer wesentlicher geworden, denn es gibt längst keinen Chef mehr, der „alles“ besser wissen kann als seine Mitarbeiter. Anderseits ist aber ein gewisses Maß an Hierarchie im Krankenhaus wesentlich, nicht nur im Sinne einer ordentlichen Betriebsführung, sondern auch psychodynamisch für den Patienten! Die Arbeitsgruppe muss mit einer Stimme sprechen, es muss gemeinsam eine klare Linie mit dem Patienten gefunden werden. Das Gegenteil erhöht bei diesem Ängste und Unsicherheit und wirkt sich damit direkt negativ für optimalen Heilungs- oder Besserungsvorgang aus. Es geht nicht an, dass der eine Arzt dem Patienten beruhigend sagt: „Es wird schon werden!“, während der andere Arzt schon begonnen hat, ihn auf eine unangenehme, vielleicht un-
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heilbare Krankheit vorzubereiten. Diskussionen über die Diagnose oder weitere Vorgangsweise am Krankenbett sind absolut kontraproduktiv. Derartige Diskussionen gehören in die isolierte Mitarbeiterbesprechung und nicht ans Krankenbett. Der Patient wünscht sich in seiner „ausgelieferten und abhängigen“ Situation (Selbstverständlich nicht rechtlich, sondern psychodynamisch betrachtet) klare Entscheidungen durch einen starken („übermächtigen“, auch die Krankheit beherrschenden) Hierarchen. (Ob im Sinne von Vaterfigur oder als Geborgenheit in der Mütterlichkeit mag durchaus von Fall zu Fall verschieden sein, spielt aber für unsere Konklusion keine Rolle.)
Schon in B1 und B2 wurde auf die Wichtigkeit des Arzt-Patienten-Gespräches hingewiesen, was auch für Gesprächsdimensionen gilt, die vielfach als „belanglos“ angesehen werden. • Das Anfangsgespräch über Banalitäten („small talk“) dient dem Kennenlernen und der Positionsfindung. • Das Anamnesegespräch gibt dem Patienten erstmals die Möglichkeit über sein Leiden zu berichten, außerdem soll es sich mit einigen basalen psychotherapeutischen Bemerkungen kombinieren. • Das Aufklärungsgespräch ist nicht nur eine rechtliche Notwendigkeit, sondern dient ganz wesentlich der Entängstigung des Patienten. Peintinger weist darauf hin, dass es daher untunlich sei, jene Anfangsgespräche vollkommen dem Hierarchie-Letzten und am wenigsten Ausgebildeten zu überlassen. Dazu ist aber zu fragen: Wie soll es gemacht werden? Der Leiter einer Abteilung muss natürlich vieles delegieren, einerseits aus organisatorischen Gründen, anderseits zu Lehrzwecken. Dazu müssen aber dem Anfänger ordentliche bindende Richtlinien initial einmal gegeben werden. Auch habe ich mir immer darüber berichten lassen, in der Krankengeschichte kurz nachgelesen und dann durch einige Worte mit dem Patienten das bereits mit ihm Besprochene wiederholt, gegebenenfalls ergänzt. So kann man Folgendes erreichen: • Es wird die Wesentlichkeit des Vorgespräches für den Lernenden und für den Patienten hervorgehoben. • Die gemeinsame Linie wird eingehalten und kommt dadurch verstärkt zum Tragen. • Informationen können ergänzt und korrigiert werden (natürlich vorsichtig und „Mitarbeiterschonend“ [näher noch etwas später beim „Unterricht am Krankenbett“]).
Knöpfel betont, dass immer eine gewisse Ausgeliefertheit des Untergebenen dem Vorgesetzten gegenüber besteht. Dieser muss jene Situation durch Vertrauenswürdigkeit und faires Verhalten erträglich und produktiv gestalten, damit die Mitarbeiter aktiv, innovativ und loyal hinter ihm stehen. Denn in einfachen Situationen lässt sich durch Zwang noch viel erreichen (dort, wo man in der Lage ist, den Zwang wirklich durchzusetzen). Vor einer differenzierten Aufgabe ist der Chef aber immer auf Zusammenarbeit angewiesen. Sonst kann es zum „Dienst nach Vorschrift“ kommen, der bekanntlich alles blockiert.
Aber auch „der Chef“ ist gewissermaßen „ausgeliefert“ und gewisse Ängste können mit ein Grund für Rückzug in autoritäre Einsamkeit sein.
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Er ist darauf angewiesen, dass Einzelne ihm ihr spezialisiertes Wissen vermitteln und dieses so in die Arbeitsgruppe einfließt. Allerdings liegt darin die Gefahr, dass die Mitarbeiter ihr Mehrwissen ausnützen, um es gegen den Chef auszuspielen. Das tritt speziell dann ein, wenn durch starke betriebsinterne Spannungen eine unfreundliche bis feindliche Atmosphäre herrscht, wie es leider vorkommt. Die Entscheidung über die Anwendung von Informationen, Investitionen etc. muss natürlich letztlich beim Chef bleiben. Wenn deshalb Vorschläge, die von Mitarbeitern kommen, relativiert oder angelehnt werden, können Spannungen entstehen. Es ist eine Sache der guten Menschenführung hier möglichst Brücken entstehen zu lassen und das richtige Mittelmaß zu finden zwischen zu viel Dirigismus und zu viel Nachgiebigkeit.
Im Eigenerfahrungsgut habe ich versucht, neben der notwendigen Hierarchie (wie oben gezeigt) auch immer entsprechende Hierarchie-freie Räume zu belassen, so vor allem bei Einleitung der Palliativ-Therapie (F4), weiters bei Besprechungen über neue Maßnahmen sowie bei Fortbildungsdiskussionen etc. Der Erfolg schien zu zeigen, dass dadurch das kreative Potenzial der Mitarbeiter entsprechend gefördert wurde. Es entstanden eine Reihe guter Publikationen und die berufliche Weiterentwicklung vieler Mitarbeiter war überdurchschnittlich. Die Personalfluktuation war unterdurchschnittlich.
Es geht aber nicht nur um den Umgang mit der Hierarchie im Gespräch, sondern auch um andere Maßnahmen zur Motivationsverbesserung. Je sinnvoller für das Mitglied einer Arbeitsgruppe seine Tätigkeit ist, umso mehr wird geleistet. Schon in einer schwedischen Automobilfirma zeigte sich, dass bei einer „Entrationalisierung + Rehumanisierung“ (wie ich es nennen möchte) das Ergebnis besser wurde. Die Leute wurden von einer sinnentleerten Fließbandarbeit weggenommen und konnten größere Werkstücke nicht nur einzeln vorbereiten, sondern auch zusammenbauen. Der „Arbeitspsychologe“ Graf hat zur (Re-)Motivierung des Mitarbeiterstandes folgende Punkte genannt: • Steigerung der Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, • Verbesserung der Wert- und Sinnzentrierung, • Förderung von Gesundheits- und Motivations-fördernden Rahmenbedingungen, • Reduzierung von psychosozialen Belastungen. Er erreichte damit in einem Mittelbetrieb eine Umsatzsteigerung je Mitarbeiter im ersten Jahr um 15 und im 2. Jahr um 19 %. Daneben zeigte sich auch eine deutliche „Klima-Verbesserung“.
Zwanglos ist das auf die Wichtigkeit der Motivation in der ärztlichen Arbeitsgruppe umzulegen, diese wirkt a) verbessernd auf das Arbeitsklima und b) dadurch indirekt auch auf die Patientenversorgung. Zu dem allgemeinen Arbeitspsychologischen möchte ich speziell aus der Eigenerfahrung anführen (auch nach Besprechung mit anderen Mitgliedern von ärztlichen Arbeitsgruppen):
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• Verstärkter Hinweis auf die Eigenverantwortlichkeit und die Möglichkeit der Leistung beim einzelnen Patienten speziell durch Stimmung und Gespräch. • Vorbildwirkung im Umgang mit dem Personal (keine Herumschreierei), dabei aber klare Bestimmtheit. • Wissenlassen und auch zeigen, dass man den Mitarbeiter als Vorgesetzter bei Schwierigkeiten nicht im Regen stehen lässt, evt. primär ihm unter 4 Augen die Meinung sagt, aber nach außen hin ihn weitgehend deckt (soweit natürlich rechtlich möglich). • Wissenlassen und zeigen, dass man gegen Intrigen immun ist und evt. Schwierigkeiten immer durch Anhören beider Teile behandelt wissen will (Anti-Mobbing-Strategie). • Bei Notwendigkeit unangenehmer Entscheidungen diese klar begründen. • Teilhabenlassen am Erfolg (namentliche Nennung bei Publikationen, in Vorträgen etc., respektive entsprechende Selbstdarstellung ermöglichen und fördern). • Klare, eindeutige Disposition bezüglich Geldgebarung – (keine unübersichtlichen Einzelverfahren). Das ist heute weitgehend durch den Rechtsträger geregelt. Ich habe längst davor ein einfaches gestaffeltes Punktesystem je nach Dienstzeit und Funktion eingeführt. • Soziale Kontakte pflegen, jedoch sind einseitig verstärkte menschliche Beziehungen (erotische, freundschaftliche) zwar menschlich immanent, aber mit Vorsicht zu genießen. Sie erwecken (natürlich) einerseits Eifersucht wegen ungerechter Behandlung in der Arbeitsgruppe, anderseits ist aber – vor allem in einem Liebesverhältnis zwischen unterschiedlichen Hierarchiestufen – die Ungleichheit (Abhängigkeit) ein zusätzliches moralisches Problem. – Analog dem bei Verhältnissen zwischen Therapeuten und Patienten Gesagten (H1). • Eine systematische Supervision sollte durch Ausräumen von psychodynamischen Spannungen Hilfe zur Brückenbildung in der Arbeitsgruppe geben. Wie wichtig das ist, zeigt Schmidbauer’s (2004) Angabe, dass bei einer Umfrage unter Krankenpflegerinnen angegeben wurde, dass die subjektive Belastung zu 60 % aus der Beziehung zu Kolleginnen stammt und nicht aus der eigentlichen Arbeit. • Auch die Leitungskräfte sollten sich regelmäßig einer Supervision respektive Schulung unterziehen. Diese hat eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten zu folgen. – Sie soll getrennt von der Supervision der hierarchisch Untergebenen sein. – Sie soll auch Besprechung der Ergebnisse (einschließlich der Misserfolge) und Schlussfolgerungen daraus enthalten („Teachers training“). – Es könnten auch richtiggehende Lehrveranstaltungen über Rhetorik, Didaktik und Verhalten darin enthalten sein.
Derartiges wird in der Industrie längst gemacht, beginnt jetzt mühsam auch in der Medizin langsam Platz zu greifen. Leider ist in den medizinischen Führungsetagen noch so manches Manko zu orten, das ich als „Antikommunikation“ rubrizieren möchte (vgl. auch B1). • Der Chef, der seine Mitarbeiter vor dem Patienten blamiert oder zurechtweist. • Ein Oberarzt, der einer Assistentin, als sie zum ersten Mal bei der Visite zum Patienten kam und sich vorstellte, das vor dem Patienten verwies. Sie sei da um ihre Arbeit zu machen und nicht um schöne Reden zu führen. • Über den polternden Chef (mit Aberglauben, dass der Patient durch die „raue Schale“ den „guten Kern“ erkennt) habe ich schon gesprochen. Dazu gehört auch, das so beliebte „zusammensch.....“ (Patientenausdruck), weil der Patient gewisse ärztliche Maßnahmen nicht befolgt hat oder neuerlich unvorsichtig war: so der Gynäkologe bei einer jungen Patientin, die zum 2. Mal ungewollt schwanger kam.
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Dass man nicht über einen anderen hinwegredet respektive in seiner Gegenwart mit anderen plaudert, ohne ihn überhaupt miteinzubeziehen, ist etwas, was man eigentlich beim allgemeinen „Gehört-sich“ in der Kinderstube gelernt haben sollte. Um so mehr gilt es natürlich gegenüber einem Patienten, der sich in ängstlich-angespannter Erwartung und einer gewissen Ausgeliefertheit befindet. Leider wird das nicht selten missachtet. • So hören wir von Schwestern, die beim Verbinden eines Patienten nach einer kleinen Operation keinerlei Versuch machen mit ihm zu kommunizieren, sondern dabei miteinander plaudern und lachen. • Gleichermaßen unbekümmertes und vergnügtes Plaudern erfolgte zwischen den Operateuren, während eine Patientin in Lokalanästhesie bei einer Augenoperation auf dem Tisch lag. Ihr Kommentar: „Die hatten sicher schon viele Augen operiert. Aber bei mir waren es die einzigen!“ • Auf (leider typische) Gesprächs-Fehler im Bereich der Alters-Psychotherapie wird in F1 noch hingewiesen. Kojer 2005 zeigt, wie schon beim einfachen Visiten-Gespräch besonders häufig „über die alten Patienten hinweg geredet“ wird. • Noch trauriger über die Ärzte macht einen der folgende Fall: Bei einer Gefäßoperation an der unteren Extremität in Lokalanästhesie spürte die Patientin starke Schmerzen beim Hautschnitt und klagte darüber. Sie wurde nicht etwa beruhigt, sondern hörte (Operateur oder Assistent weiß sie nicht) sagen: „Stell sie endlich ruhig, ich will sie nicht mehr hören!“ Darauf bekam sie ein sedierendes Medikament (weiß natürlich nicht genau, was es war). Es war die ganze Zunge eingeschlafen und sie konnte auch nichts mehr sagen, spürte aber weiterhin alles und zwar während der 2-stündigen Operation. Während sie also weiterhin starke Schmerzen hatte, hörte sie zwischendurch die beiden Operateure mehrmals „miteinander streiten“ wie man weiter bei der Operation vorgehen soll. Postoperativ lag sie geängstigt durch Herzrhythmusstörungen, mit Blick auf einen Monitor da. Es kam die ganze Nacht niemand und sie hatte auch nach der Operation keinerlei beruhigendes oder ermunterndes Wort. – Auf diese Art kann wohl wirklich eine Operation zu einem echten Psychotrauma werden (was glücklicherweise für den Regelfall nicht zutrifft [A3]).
Leider kommt die ärztliche Antikommunikation nicht nur beim Reden „über den Patienten hinweg“ ziemlich häufig zum Tragen, sondern auch indem man entweder mit ihm gar nicht redet oder wie man mit ihm redet. • Ein Vater (Akademiker) kam am Tag der Geburt seines ersten Kindes ins Krankenhaus. Er wurde vom Primarius empfangen ohne irgendeine Freundlichkeit, sondern nur mit den Worten „Sie haben Pech gehabt, es ist ein Mongoloid“, dann wurde noch kurz angefügt „aber die sind recht musikalisch“. Anschließend drehte sich der Primarius auf den Fersen um, entschwand und es erfolgten weder mit Vater noch Mutter weitere Gespräche über die Angelegenheit. Es wurde keine Wegweisung für weitere Beratung gegeben oder ähnliches. Es begann damals eine sich zunehmend verstärkende Ehekrise. Es kann natürlich nicht behauptet werden, dass diese durch das einmalige unsensible Auskunftgeben verursacht wurde. Aber sicherlich hätte eine empathische Begegnung und weitere Beratung manches an jener Krise a priori entschärfen können. • Es muss Klarheit darüber herrschen, dass man als Leitungskraft nicht alle Gespräche an Mitarbeiter delegieren kann. So hörte ich einen Ordinarius sagen: „Ich bin froh, dass ich jetzt einen Psychologen im Stellenplan habe, so muss ich nicht mehr so viel Zeit mit dem Reden verlieren und kann mich besser auf das Wesentliche konzentrieren.“
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• Eine Patientin mit fraglich multilokalisierten Beschwerden und etwas trübem Sehen wurde im Krankenhaus einschließlich Lumbalpunktion durchuntersucht. Vorher hatte man ihr schon gesagt: „Es könnte eine Multiple Sklerose sein“. Am Samstag sagte ein Arzt bei der Visite: „Es ist sicher nichts Entzündliches“; am Sonntag ein anderer: „Es ist sicher entzündlich“. Am Montag sagte der Oberarzt bei der Visite: „Das ist sicher nur psychosomatisch“. Zugleich teilte man ihr aber mit, man muss noch Befunde wiederholen. Um ihre postpunktionellen Kopfschmerzen kümmerte sich niemand. Weder erklärte man deren Harmlosigkeit noch gab man ihr etwas dagegen. In einem 4-seitigen Entlassungsbrief (der alle Befunde ausführlich enthielt) fand sich nur die Diagnose „Verdacht auf Neuritis nervi optici, postpunktionelles Syndrom“. Sie hatte (begreiflicherweise) das Vertrauen in das Krankenhaus verloren und kam zwecks einer „2. Meinung“ zu mir. Welche der divergierenden im Vorbeigehen gestellten Diagnosen letztlich die richtige war, steht hier nicht zur Diskussion, sondern nur folgendes Faktum: Man hatte ihr also schon à priori ohne irgendwelche diagnostische Sicherheit die Mitteilung einer sehr beängstigenden Diagnose, dann völlig divergierende verunsichernde weitere Mitteilungen gemacht, begleitende und aufklärende Maßnahmen unterlassen, schließlich im Arztbrief sich um eine positive Diagnose gedrückt und keinerlei Anweisungen für die Zukunft gegeben. • Eine ausgesprochene „Antikommunikation“ ist es auch, ärztliche Divergenzen ins Gespräch mit dem Patienten einfließen zu lassen. „Warum sind Sie nicht gleich zu mir gekommen?“ Solches Austragen von ärztlichen Eifersüchteleien „auf dem Rücken des Patienten“ hat es offensichtlich schon immer gegeben (Abb. 10e). Ich habe (leider) eine ganze Sammelmappe mit zahlreichen weiteren Beispielen ärztlicher Antikommunikation. • Daraus sei noch auf die beiden, im Rahmen der Palliativtherapie (F4) gemachten krassen Antikommunikationen hingewiesen: Ein Seelsorger und Leiter der Krankenhaus-EthikKommission (!) zeigte sich besonders taktlos und brutal im Gespräch mit den Angehörigen eines kurz zuvor Verstorbenen und eine Ärztin zeigte sich in völligem Missverstehen über Art und Wesen der Aufklärung bei einer Karzinom-Patientin besonders antikommunikativ. • Aus der deutschen MS-Zeitschrift „Lebensnerv“ (Amei Kadauke und Harriet Ring) seien folgende „Killersätze“ zitiert: „Ihnen geht es doch gut, Sie können ja noch laufen!“ „Mit dieser Krankheit können Sie sich das abschminken. Außer Pflege ist da nichts mehr drin.“ • Thea Borde und David (in Neises und Mitarb. 2005) zeigen auf, dass das ärztliche Gespräch mit Migranten besonders zu wünschen übrig lässt hinsichtlich Unsensibilität (Krebs-Befund am Telefon bei der Arbeit mitgeteilt) + Kommunikation und Interesse unter dem Nullpunkt + Überheblichkeit („mich lächerlich gemacht“, „mit mir geschimpft“, „nicht mit mir gesprochen“). • Der amerikanische Kardiologe und Nobelpreisträger Lown gibt einige Beispiele von typischer ärztlicher Antikommunikation: „Sie leben mit geborgter Zeit.“ „Es geht rasch mit Ihnen bergab.“ „Ihr nächster Herzschlag könnte ihr letzter sein.“ „Der Malach amoveth (Todesengel) schwebt über Ihnen.“ „Sie können jederzeit einen Herzinfarkt oder Schlimmeres erleiden.“ Er begründet das damit, dass die Ärzte den Patienten zu einer Operation (an der sie viel verdienen) überreden wollen und meint, die Medizin wäre besser in einem sozialen Gesundheitssystem, welches nicht vom Patienten leben muss. Wir müssen leider dagegen halten, dass es (siehe Großbritannien, die ehemaligen Ostblockstaaten und schließlich auch unser System) leider nicht so ist.
Es ist also der Verfall der ärztlichen (Sprach-)Kultur leider ein allgemeines, auch internationales Phänomen, dass sich durch alle Ränge zieht. Umso mehr scheint es notwendig, darauf verstärkt hinzuweisen. Nicht nur in der Psychotherapie, sondern vor allem in der allgemeinen Fortbildung und Ausbildung.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Habe ich selbst immer alles gut gemacht? Natürlich nicht! Manches habe ich erst allmählich gelernt und bei manchem haben gute Mitarbeiter mir geholfen. So kann in einer guten Arbeitsgruppe eine wechselseitige „Abrichtung“ erfolgen! Ich habe zwar Patienten nie grob oder unfreundlich angeredet, war aber aufgrund familiärer und klinischer Erziehung immer ziemlich distanziert. Schon Abteilungsleiter, sah ich bei meiner (viel jüngeren) Oberschwester (Oswald-Bauer), wie sie freundlich auf die Patienten zuging und auch das Personal entsprechend einschulte. Ich lernte das gern von ihr. Wenn ich (aus Eiligkeit oder Schlamperei) in ein Krankenzimmer trat ohne mich vorzustellen, unterbrach mich mein visitenbegleitender Oberarzt (Hodkewitsch sen.): „Das ist unser Primar, Professor Barolin“. Ich nahm eine derartig diplomatisch verpackte „Zurechtweisung“ dankbar zur Kenntnis und mich innerlich selbst bei der Nase.
Ein weiterer heikler Punkt ist der Unterricht am Krankenbett (bedside teaching). Er soll stattfinden, aber auch dabei soll natürlich nicht „über den Patienten hinweg gesprochen“ werden. Ich habe immer den Kollegen einiges erklärt und dazwischen den Patienten (natürlich nur bei „Patienten-geeigneten“ Themen) etwa folgendermaßen angeredet: „da hören Sie wenigstens jetzt einiges von dem Wesentlichen Ihrer Krankheit“ oder Ähnliches. Auch solche kleine Gesten
Abb. 10d Die Zizenhauser Figuren sind Terracotten aus der Biedermeier-Zeit, welche auch gängige Probleme handfest persiflierten. – Im „Ärztestreit“ sieht man das Austragen ärztlicher Eifersüchteleien (wie es leider auch heute noch gang und gebe ist – siehe Text) „auf dem Rücken des Patienten.“
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B4. Das Gespräch in der medizinischen Arbeitsgruppe
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der Einbeziehung des Patienten werden von diesem im Allgemeinen dankbar zur Kenntnis genommen und er fühlt sich nicht als „Krankenmaterial“ oder „Versuchskarnickel“. Das darf natürlich Einzelgespräche mit dem Patienten über bestimmte heikle Dinge nicht ersetzen. Das von mir schon angeführte „Positivieren“ soll auch im bedside teaching zum Ausdruck kommen. Evt. negative Aspekte sollte man außer Hörweite des Patienten mit der Kollegenschaft besprechen. Ganz wichtig ist es auch, bei komatösen Patienten nur das vor dem Patienten zu sprechen, was er auch hören darf (dürfte). Näher in Kap. „Palliativtherapie“ F4. Bei Therapieabänderungen soll immer so vorgegangen werden, dass der verordnende (Assistenz-)Arzt nicht desavouiert wird, etwa: „… man muss in der Medizin oft verschiedenes ausprobieren. Es ist gut, dass dieses Medikament schon versucht wurde. Jetzt versuchen wir es mit einem anderen.“ – Etwaige didaktische Korrekturen und Überlegungen sind mit dem Ausbildungskandidaten unbedingt außer Hörsphäre des Patienten zu besprechen. Besonders gilt das beim Unterricht in der Psychotherapie, respektive wie man es dabei üblicherweise nennt, bei der Supervision. Diese findet ja weitgehend in Abwesenheit des Patienten statt. Aber in der Krankenhausroutine ergibt es sich manchmal auch, dass der Chef mit Psychotherapie-Patienten seiner Mitarbeiter spricht. Prinzipiell ist hinsichtlich der Supervision nötig, dass die Patienten bei der Psychotherapie durch Mitarbeiter diesen ihr ausdrückliches Einverständnis geben, dass ihre Probleme auch mit dem Supervisor besprochen werden. Es geht bei einem Chef-Patienten-Therapeuten-Gespräch immer dann darum, die psychotherapeutischen Inhalte zu bestärken, beileibe nicht irgendetwas drein zu pfuschen. Entlassungstermine und etwaige andere administrative Maßnahmen sollen immer vorher außer Hörweite des Patienten zwischen Chef und psychotherapeutisch tätigen Assistenten besprochen werden.
In mehreren systematischen Patientenbefragungen konnten wir erheben, dass für die positive Beurteilung eines Krankenhausaufenthaltes durch den Patienten zwar an erster Stelle das Essen stand (so ist der Mensch eben!), aber schon an zweiter Stelle die allgemeine Zuwendung und der Kontakt mit dem Personal. Es ist das für uns alle sehr wichtig zu wissen, da viele von uns Ärzten im falschen Glauben befangen sind, die ärztliche Qualität sei für das Wohlbefinden des Patienten am Wichtigsten. Diese mag wohl sachlich wichtiger sein als das Essen und die Freundlichkeit. Aber für das subjektive Befinden des Patienten spielt die medizinische Leistung kaum eine Rolle. Der Patient kann sie nämlich gar nicht beurteilen, denn er hat keine Vergleiche und setzt eigentlich immer voraus, dass ihm die optimale Qualität geboten wird. In der Personalschulung gilt es immer wieder darauf hinzuweisen, und vor allem müssen auch wir Ärzte uns selbst an der Nase nehmen. – Ich habe das schon bei dem „polternden Arzt“ vorerwähnt, dass der Patient keineswegs durch die raue Schale den guten Kern sieht, sondern nur die kommunikative Unfreundlichkeit bemerkt und daran sein Urteil bildet.
Da die subjektive Befindlichkeit des Patienten mit Stimmung und Motivation zugleich auch gesundheits-, negativenfalls krankheits-erhaltend wirkt, muss man sagen, dass die Gesprächskultur und das kommunikative Verhalten einen wesentlichen Gesundheitsfaktor darstellen.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Zusammenfassung zur Kommunikation im Gesundheitsberuf wurde als Abb. 9a in B2 gegeben und darin schon die Zusammenfassung über die Kommunikation in der ärztlichen Arbeitsgruppe miteingeschlossen. Die speziellen Aspekte der Kommunikation bei Depressionen wurden in der Zusammenfassung zu B3 angeführt. Es wurde dabei schon notwendigerweise einiges Überschneidende wiederholt, und ich darf den Leser bitten (um weitere Wiederholungen zu vermeiden) auf die angeführten Zusammenfassungen in B2 und B3 zurückzugreifen.
Tests + Statistik *) bilden ein wichtiges Zusammenarbeitsfeld der psychotherapeutisch tätigen Ärzte und der Psychologen, denn letztere sind dafür – im Gegensatz zu den Ärzten – speziell ausgebildet. Diese sollten aber (im Sinne der Kenntnis der Grenzgebiete) einiges Basalwissen darüber haben, um zu wissen: Wie- WannWo- anzuwenden und was davon zu erwarten ist. In extenso sei diesbezüglich auf Psychologie-Lehrbücher verwiesen. (Diesbezüglich gut, plakativ, neu und verständlich etwa Myers 2005). Wer nicht tasten kann, der testet! Diesem plakativen Ausspruch Heyers (eines ärztlichen Psychotherapeuten der älteren Generation) ist nur teilweise zuzustimmen. Richtigerweise richtet er sich gegen unsinnige Überbewertung von Test- und Statistik-Resultaten gegenüber klinischem Eindruck, Erfahrung und teilnehmender Beobachtung. Man erinnere sich an das in A1 Gesagte, dass die ganze neue Ära der antidepressiven Medikation durch eine (gute) klinische Beobachtung an 7 Patienten (ohne jede Statistik und ohne alle Tests) durch Kuhn eingeleitet wurde. In Fortsetzung der Antidepressiva-Geschichte muss man aber zur Kenntnis nehmen, dass ihre weltweite Verbreitung und sinnvolle immer wieder verbesserte Anwendung nur durch hunderte Serien von Statistiken mit entsprechenden Tests ermöglicht wurde.
Die in Heyers Ausspruch implizierte Alternative „Testen oder Tasten“ muss somit abgelehnt werden. Denn es geht bei Tests und klinischer Beobachtung nicht um ein Entweder/Oder, sondern um ein möglichst sinnvolles Sowohl/Als auch. Nur mit Hilfe von Tests gibt es einen systematischen wissenschaftlichen Fortschritt, der auch dokumentierbar ist, und letztlich richtet sich auch die
*) Dem em. Vorstand des Wiener Psychologischen Universitäts-Institutes G. Guttmann darf für kritische Durchsicht dieser Passagen besonders gedankt werden.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B4. Das Gespräch in der medizinischen Arbeitsgruppe
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Honorierbarkeit im sozialen Rahmen an den klaren testmäßig abgesicherten Erfolgskriterien. Im Folgenden sei daher einiges Basale dazu gesagt. Die drei Hauptkriterien jedes psychologischen Tests sind Objektivität, Reliabilität und Validität. Unter Objektivität versteht man die Unabhängigkeit vom Prüfer (von dessen bewussten und unbewussten Hilfestellungen etwa). Unter Reliabilität versteht man, dass der Test „konsistente“ Daten liefert, auf die man sich verlassen kann. Das wird in der Testeichung damit erreicht, dass mit demselben Test dasselbe mehrfach geprüft wird. Validität stellt fest, ob der Test für die Fragestellung geeignet ist. Es kann z. B. bei der Besserung einer Depression auch der Blutdruck sich verbessern und den kann man unzweideutig messen. Da aber Blutdruckwerte keineswegs wirklich in ständiger Übereinstimmung mit dem Grad der Depressivität sind, ist bei aller scheinbarer Exaktheit des fiktiven Blutdruck-Tests für Depression dieser völlig ungeeignet. Er besitzt keine Validität.
Man unterscheidet harte und weiche Daten. Hart sind solche, die klar nummerisch messbar sind, weich hingegen solche, die auf einer Art von Schätzung beruhen, die man aber durch normierte Vorgaben möglichst klar eingrenzt. Der Grad einer Depression ist z. B. nicht mit harten Daten zu erfassen (wie oben gezeigt). Man verwendet hingegen dafür Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen, etwa „auf einer Skala von 1 bis 10; wie würden Sie Ihre derzeitige Stimmung ankreuzen?“ oder auch Beurteilung des Patienten-Verhaltens durch Arzt oder Pflegepersonal. Es sind also auch „weiche“ Daten – richtig und kritisch erfasst – für Tests verwendbar.
Man unterscheidet quantitative und projektive Tests. Quantitativ sind solche, die numerische Aussagen produzieren; projektive Tests sind solche, die bei vorgegebener standardisierter Fragestellung ermöglichen sollen, aus den Antworten des Patienten gewisse Schlüsse zu ziehen. Der bekannteste und älteste dieser Tests ist der Rorschach-Test, wo gewisse sinnlose Farbkleckse gezeigt werden und man erwartet, was der Patient in diese „hineinsieht“ (zu erkennen glaubt). Der thematische Apperzeptionstest (TAT) zeigt dem Patienten Bilder von Personen in gewissen Situationen und der Patient soll darüber eine Geschichte erzählen etc. Allgemein sind projektive Tests als Diagnostikum heute ziemlich außer Gebrauch. Sie werden aber von manchen Psychotherapeuten doch nicht ungern verwendet, um im Gespräch „das Eis zu brechen“, d.h. im folgenden psychotherapeutischen Gespräch das zu verwenden, was der Patient in den Test „hinein interpretiert“ hat.
Vor allem in der Kinder-Psychotherapie, jetzt aber zunehmend auch in der Erwachsenen-Psychotherapie werden „Familienaufstellungstests“ verwendet. Geeignete Puppen mit Beweglichkeit der Arme, Köpfe, etc. sollen vom Patienten so gruppiert werden, dass es seiner eigenen Familie entspricht. Es kommt dabei fallweise viel klarer zum Ausdruck, wie es dort zugeht, als aus den Erzählungen. Üblicherweise wird dann diese TestSituation fließend in die Therapie-Situation übergeführt (siehe A4).
Wesentlich größere Wertigkeit als die projektiven Tests für die Psychotherapie
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
haben die Intelligenztests. Deren gibt es eine Vielzahl, unterschiedlich nach Lebensalter, etc. Es ist dies eine wichtige Domäne der Zusammenarbeit der Ärzte mit den Psychologen. Denn es ist natürlich bei fraglichen Lernschwierigkeiten auch für die Psychotherapie äußerst wichtig: kommt dieses Kind wegen eines niederen Intelligenzquotienten nur schlecht in der Schule mit und ist daher tatsächlich überfordert, oder bestehen psychodynamische Strömungen, die es etwa trotz hoher Intelligenz irgendwie dazu bringen, in der Schule einfach nicht mitzumachen (Trotz, Bestrafungstendenz gegen die Eltern, überstarke Beschäftigung mit Anderem, etc.).
Statistische Signifikanz drückt die Wahrscheinlichkeit aus, mit der ein Ereignis auch zufällig eintreffen könnte, sagt aber nichts über die Bedeutung des Ergebnisses aus. Das muss auch klargestellt werden, da vielfach die statistische Signifikanz als modernes „medizinisches Zauberwort“ verwendet wird, welches alle Zweifel ausräumen soll. Bei 5 % Signifikanz kann man gerade noch von statistisch abgesichert sprechen. 1% gilt als „signifikant“, das was darunter liegt, als hoch oder sehr signifikant.
Viele für die menschlichen Beziehungen durchaus wichtigen Variabeln sind testmäßig überhaupt nicht zu erfassen. Dazu gehört vor allem die schon mehrfach angeführte wichtige „Empathie“, sowohl in der menschlichen Beziehung überhaupt, als auch in der Beziehung des Psychotherapeuten zum Patienten, auch des Pflegepersonals für den alten Menschen, etc. „Gefühl“, „intuitives Verständnis“, „klinische Beobachtung“ wird also durch Tests keineswegs ersetzt, kann aber durch deren entsprechende Anwendung und Kenntnis wesentlich ergänzt werden. Schließlich ist zu „Objektivität“ und „Subjektivität“ für die Bewertung unserer Psychotherapie auch klar zu stellen: Kostenträger und Wissenschaft verlangen zwar eine möglichste Objektivierbarkeit einer psychotherapeutischen Maßnahme; aber für den Patienten kommt es wesentlich mehr auf deren „Subjektivierbarkeit“ an, also darauf, was der Patient im Hinblick auf die Methode empfindet. Allerdings hat die moderne Neurobiologie uns für manches, das früher als nur „subjektiv“ aufgefasst wurde, „objektive“ Entsprechungen gezeigt. Vergl. über Neurobiologie A1 und über Suggestion, speziell „Plazebo-Therapie“ C2. Zusammenfassung zum Gespräch allgemein Die von jedem von uns allen aus der Kindheit mitgeführte Fähigkeit des Gespräches ist nur scheinbar selbstverständlich. Sie zeigt sich vielmehr als ein sehr vielseitiges und wirkungsvolles Instrument, welches der
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B4. Das Gespräch in der medizinischen Arbeitsgruppe
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sorgfältigen Schulung bedarf (die im medizinischen Unterricht leider weitgehend fehlt). Es kann viel Schaden und Nutzen anrichten, je nachdem, wie man es durchdenkt, ausbildet, übt und einsetzt. Im Gesundheitsberuf bekommt das Gespräch durch die Rollenerwartung und Rollenverteilung zwischen Therapeuten und Patienten eine besondere Spezifität. Es muss „akut“ und „permanent“ sein, hat mehrere wichtige Ebenen (die jedoch fließend ineinander übergehen). Diese reichen vom • Mittel zur Kontaktanbahnung und deren Ausbildung über • Aufklärung, • psychotherapeutisch orientiertes Gespräch bis zur systematischen • Gesprächspsychotherapie. Außerdem ist es ein wichtiges Agens zur Funktion der medizinischen • Arbeitsgruppe. Ein gezieltes Erstanamnesegespräch, enthaltend psychodynamische Indexpunkte, sollte bei jedem (auch dem scheinbar „rein“ somatischen) Patienten geführt werden, um zu entscheiden, ob weitere spezielle Psychotherapie angezeigt ist oder nicht. Die Empathie sollte in jedem Gespräch im Gesundheitsberuf präsent sein, besonders aber beim Gespräch mit dem Depressiven. Zu der unsererseits angestrebten wichtigen „Renaissance der Gesprächskultur“ sind auch die Dimensionen der nonverbalen Kommunikation zu beachten: Mimik und Gestik, sorgfältige Kleidung und gepflegtes Auftreten, das Bewegungsmuster und die Konzentration auf den Gesprächspartner. Gesprächskultur ist nicht nur eine Sache der guten Erziehung. Sie trägt zur subjektiven Befindlichkeit des Patienten bei und wird damit zu einem wesentlichen Gesundheitsfaktor. Die vorstehenden Zeilen mögen manche Anregungen in jene Richtungen gegeben haben und so das „gute Gespräch“ fördern. Bleibt der Appell: „Tun Sie es!“. Denn, wie Erich Kästner im wohl kürzesten Gedicht der Weltliteratur ausgedrückt hat: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!
Dass es ohne Gespräch keine Psychotherapie gibt, mag somit klar geworden sein. Dass Psychotherapie hingegen wesentlich mehr sein kann und mehr sein soll als „nur reden“ soll im Weiteren ausführlicher erläutert werden. Schematisch wurde es bereits in Abb. 5 (A4) dargestellt.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
C.
Hypnoid und Suggestion
C1.
Das Hypnoid *)
Schlagwort-Information Als 3. menschlicher Grundzustand (neben Wachen und Schlafen) hat das Hypnoid wesentliche (neuro-)physiologische + psychologische Charakteristika. Es wird in verschiedenen Psychotherapie-Methoden gezielt eingesetzt: Hypnose, AT, Katathyme Imaginationspsychotherapie, Respiratorisches Feedback. Daneben kommt es in weiteren Methoden der Psychotherapie hintergründig zum Tragen.
Das Hypnoid hat in der Psychotherapie ganz wesentliche Wirkungsspektren. Abb. 11a zeigt es als 3. menschlichen Grundzustand neben Wachen und Schlafen und zählt diejenigen Gegebenheiten auf, unter denen es vorkommt respektive erzeugt werden kann. Abb. 11b zeigt weiterhin, dass das Hypnoid einerseits Funktionsveränderungen des Körpers aufweist, die man auch objektiv messen und feststellen kann. Anderseits bedingt es psychische Veränderungen. Es ist eine einseitige Betrachtungsweise, das Hypnoid nur als veränderten Bewusstseinszustand zu definieren, wie es vielfach in der Literatur erscheint (altered state of consciousness). Denn in unserer integrierten Psychotherapie benutzen wir sowohl den veränderten Bewusstseinszustand als auch die körperphysiologischen Veränderungen. Es geht somit wieder darum, dass wir die psychophysische Einheit ansprechen und eine ganzheitliche psychophysische Wirkung mit unserer Psychotherapie erzielen wollen. Es sei an das in A1 / Abb. 2 Gesagte über die „biopsycho-soziale Einheit Mensch“ erinnert, wobei allerdings hier bei der Betrachtung des Hypnoids die soziale Komponente weniger ins Gewicht fällt, als eben – wie gesagt – der psychophysische Zusammenhang.
Neurophysiologie des Hypnoids Diese wurde im eigenen Arbeitskreis ausführlich untersucht. Da sie für das Verständnis des Folgenden nicht unwesentlich ist, werden die Ergebnisse hier resümiert.
*) Vielfach findet sich in der Hypnose-Literatur auch der Ausdruck „Trance“. Wir setzen das gleich mit dem, was bei uns als hypnoider Zustand bezeichnet wird.
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C. Hypnoid und Suggestion / C1. Das Hypnoid
Das Hypnoid a)
Ein dritter menschlicher Grundzustand neben Wachen und Schlafen; wird erreicht über unterschiedliche Wege: 1. Fremdhypnose: unterschiedliche Induktionstechniken 2. AT: über muskuläre Entspannung 3. RFB: über respiratorische Rückkoppelung 4. Diverse Meditationstechniken Hypnoid Wachen Schlafen
b)
Wirkkomponenten der Psychotherapie mittels Hypnoid (AT, Hypnose, RFB); Somatotrop + Psychotrop 1. Muskuläre Entspannung – Direkt-Wirkung – Schiene zum Hypnoid 2. Vegetative Umschaltung zum Hypnoid – Direkt-Wirkung – Förderung der Introspektion („emotional insight“) – Erhöhte Suggestibilität 3. Dynamisierendes Zurücknehmen 4. Gezielte Organ-Beeinflussung 5. Einbau verbal-psychotherapeutischer Inhalte, insbesondere „formelhafte Vorsatzbildung“
Abb. 11
a) Neurophysiologisches Modell des Hypnoids als 3. menschlichen Grundzustand, neben Wachen und Schlafen. (RFB bedeutet Respiratorisches Feedback. Darüber wird in einem eigenen Kapitel E1 referiert.) b) Das Autogene Training (AT) wird allgemein als „Entspannungsverfahren“ bezeichnet. Wir halten die Entspannung für eine wesentliche Komponente, aber nicht nur direkt, sondern auch als Schiene zum Hypnoid mit dessen Eigenwirksamkeit. Die unter Punkt 2 bis 5 angeführten Wirkungen sind auch für die Wirkung des integrierten Autogenen Trainings hauptverantwortlich. (D – Abb.13).
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Unseres Wissens ist es die größte bisher in der Literatur figurierende diesbezügliche Untersuchung. (Ausführlich mit Abbildungen in Barolin 1995 und Barolin „Psychotherapy in rehabilitation“ 2001.)*) An über 200 Versuchspersonen wurden systematische Versuche in hypnoiden Zuständen durchgeführt. Sie bestanden in Folgendem: • Ruhe-EEGe (normale und pathologische), • Stimulationsexperimenten im EEG, • Evozierte Potenzialen, • Nystagmographie, • Wirkung hypnotischer Suggestion, • Wirkung von Selbsthypnose des AT. Es konnte dabei im Wesentlichen Folgendes festgestellt werden: Es gibt nur einen einzigen hypnoiden Zustand, der neurophysiologisch gleich ist bei Hypnose, Selbsthypnose das AT, Respiratorischem Feedback (vergl. E1) und auch verschiedenen meditativen Verfahren. Das Hypnoid ist ein 3. menschlicher Grundzustand, der sich von Schlafen und Wachen deutlich unterscheidet (Abb. 9a). Damit ist auch die alte Pawlow’sche Interpretation der Hypnose als einem „Partialschlaf des Gehirns“ widerlegt. Es ist wesentlich, jenen Grundzustand von dem zu unterscheiden, was man in ihn „hineingibt“, (diverse Suggestionen [vergleiche C2]). Denn je nach Art der Suggestion kann sich auch das hirnelektrische Bild des hypnoiden Grundzustandes verändern (Arousal-Reaktion bei muskulären Aktionen, etwa beim Katalepsieversuch). Im Hypnoid besteht ein vegetativer Umschaltvorgang (wie schon J. H. Schultz postuliert hat) mit verschiedenen Parametern. Hirnelektrisch stellt sich der hypnoide Grundzustand durch eine Synchronisationstendenz dar. Diese kam im pathologischen EEG epileptischer Kinder besonders deutlich zum Ausdruck, ohne dass allerdings Anfälle damit provoziert wurden. (Wir machten diesbezüglich keineswegs nur Experimente, sondern die Befunde wurden als Begleiterscheinung eines therapeutisch gut wirksamen AT-Programmes für epileptische Kinder gewonnen – vergleiche C5). Die Alphablockade bei äußeren Reizen (wie z. B. typischerweise Augenöffnung) kann einerseits durch die hypnotisch induzierte Ruhetönung hintangehalten werden, anderseits bei hypnotisch induzierten Aktivitäten (z. B. Katalepsie-Versuch) auch im Trancezustand auftreten (Arousal-Reaktion) trotz bestehendem hypnoidem Zustand. Peripher gesetzte (Schmerz-)Reize finden ihren gleichen Weg zum Zentralorgan im wachen Zustand wie im hypnoiden Zustand (evozierte Potenziale bleiben gleich). Die Empfindung jener Reize kann aber durch hypnotische Suggestion in subkortikalen Strukturen affektiv verändert („moduliert“) werden. Sie werden daher im hypnoiden Zustand anders wahrgenommen als im Wachen (z. B. Schmerzausschaltung). Das wurde schon meinerseits seinerzeit anhand der Befunde postuliert und hat nun mittels Positronen Emissionstomographie (PET) neuerliche Unterstützung bekommen. Häuser berichtet nämlich, dass parallel zur hypnotischen Schmerzverminderung die Durchblutung im Gyrus zinguli zunimmt. Es wird auf Aktivierung einer schmerzhemmenden Struktur im Gyrus zinguli anterior geschlossen. Es kommt zu einer unterschiedlichen Reaktionsbereitschaft verschiedener tieferer Zentren. Das konnten wir durch unterschiedliches Nystagmusverhalten im Hypnoid nachweisen. Neben den unsererseits festgestellten neurophysiologischen Parametern, sind auch von Untersuchungen anderer Autoren Veränderungen weiterer körperlicher Parameter (vor allem den vegetativen Bereich betreffend) bekannt: Cortisolspiegel, Blutbild, Temperaturverteilung im Körper, Muskeltonus etc. (ausführlicher bei Bongartz). *) Die Untersuchungen fanden zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten statt: Neurologisches Krankenhaus der Stadt Wien Rosenhügel (Leiter Prof. Dr. H. Reisner), Psychologisches Institut der Wiener Universität (Leiter Prof. Dr. H. Rohracher), Centre Saint Paul Marseille (Leiter Prof. Dr. H. Gastaut). Sie entstanden in Zusammenarbeit mit einer Reihe anderer Wissenschaftler und wurden mehrfach separat publiziert, so Barolin und Dongieri; Beck und Barolin; Barolin, Gestring und Guttmann; Barolin und Moser.
B. Das Gespräch im Gesundheitsberuf / B4. Das Gespräch in der medizinischen Arbeitsgruppe
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Diehl (in Diehl und Miller) konnte generell erhöhte Hirndurchblutung mit Hilfe der XenonMethode aufzeigen; bei Hypnose stärker als bei AT. (Was wohl nicht als eine Unterschiedlichkeit der beiden hypnoiden Zustände zu deuten ist, sondern nur als verschiedene Tiefe.) In differenzierteren Hirndurchblutungsmessungen zeigten Henriette Walter und Mitarb.: Im Hypnosezustand eine Flussverschiebung von der Hinterhaupt- zur Stirnregion, allerdings (unerklärterweise) nur bei Frauen. Je nach Tiefe der Trance war die Flussverschiebung stärker oder geringer. Mittels PET (Positronenmissionentomographie) zeigte sich während einer hypnotischen Schmerzreduktion Aktivierung im Bereich des Gyrus zinguli. Weiters hat Walter festgestellt, dass die Endorphine dabei nicht involviert sind, da nämlich Naloxon (ein Endorphin-Antagonist) auf die Veränderung der Schmerzqualität ohne Einfluss war. Es wurden einige der schon erwähnten Veränderungen neulich bestätigt (betr. Cortisol etc.), zusätzlich konnte eine Vermehrung der T-Lymphozyten festgestellt werden.
Es erscheint also im Laufe der modernen Neurophysiologie und Neurobiologie manches bisher Erwähnte des hypnoiden Zustandes schon viel klarer. Daneben bleibt aber auch heute noch Manches offen (übereinstimmend mit Lesch).
Die bisherigen Befunde lassen folgende Annahme zu: Der periphere Reiz kommt unverändert in den Hirnstamm und wird dort entsprechend der in Hypnose gegebenen Suggestion moduliert. Aktivitätszunahme im Gyrus zinguli weist darauf hin.) Dadurch bewirkt er bei Eintreffen in der Körperfühlsphäre des Cortex zwar die unveränderte hirnelektrische Reaktion (evoziertes Potenzial). Diese wird aber aufgrund jener aktiven Modulation verändert wahrgenommen. Zusätzlich erfolgen über den Hypothalamus Funktionsänderungen mit Auswirkungen im vegetativen Nervensystem (verändertes Nystagmusverhalten, Durchblutungsänderungen), + Stoffwechselveränderungen (Cortisol, Endorphin, T-Lymphozyten).
Die Induktion des Hypnoids bedarf folgender Vorbedingungen: 1. Außenreizverarmung respektive suggestive Desaktualisierung der Außenreize, dadurch kommt eine gewisse Bewusstseinseinengung zustande und es ist leichter die in Punkt 4 angegebene Fokussierung auf einen bestimmten Reiz zu erreichen. 2. Es helfen dazu monotonisierende Reize. 3. Eine gewisse innere Bereitschaft ist notwendig. 4. Dadurch wird die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte (etwa suggestiv vorgegeben) Inhalte möglich, und sie können dann stärkere Wirkung entfalten. – Im AT erfolgt das mittels der formelhaften Vorsatzbildung (siehe D4).
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Im Folgenden werden wir zeigen, wie das Hypnoid in verschiedenen therapeutischen Verfahren verwendet wird. • Heterohypnose (C3), • AT (C4). Auch eingebaut in unsere 2-stufige Gruppenpsychotherapie (D), • RFB (E1), Katathyme Imagination (F5) und andere imaginative Verfahren (III, VII). • Defokussierende Imaginationen (VII), • In der Krisenintervention des Allgemeinarztes (III). • In der Verhaltenstherapie werden hypnoide Zustände verwendet. Nur spricht man dabei meistens von „Entspannungsmaßnahmen“ (V). Auch bei einzelnen nicht als hypnotisch oder mit dem Hypnoid vordergründig arbeitenden Psychotherapiemethoden (Abb. 5) kommt das Hypnoid hintergründig zum Tragen: • Mehrfach konnten wir erfahren, dass Schwere- und Wärmesensationen bei Psycho-Analyse auftreten. Es liegt also auch dabei eine Wirkungsverstärkung durch das Hypnoid durchaus im Bereich des Möglichen. • Gleiches gilt für Jakobson’sche Relaxation, Yoga und KBT (F6).
Es ist also wohl berechtigt, das Hypnoid mit seinen somatotropen plus psychotropen Aspekten (11b) als ein wichtiges Grundphänomen für einen Großteil psychotherapeutischer Wirkungen, aufzufassen. Wichtig ist, dass bei allen Techniken, die mit dem Hypnoid arbeiten, die Kontraindikation der floriden Schizophrenie besteht, da das Hypnoid zu Exacerbation führen kann.
C2.
Suggestion
Schlagwort-Information Suggestion ist zwar ein allgemein-menschliches Phänomen, kommt aber im Rahmen der hypnoiden Psychotherapie-Formen besonders zur Wirkung.
Suggestion und Hypnose werden oft in einem Atem genannt, respektive sogar als einziges Phänomen zusammengehörig besprochen. Ich möchte sie im Verhältnis zueinander als „Geschwister“ bezeichnen, die zwar vieles gemeinsam haben, aber eines ohne das andere auftreten können, also in einer sauberen wissenschaftlichen Durchleuchtung durchaus getrennt zu betrachten und zu behandeln sind.
C. Hypnoid und Suggestion / C2. Suggestion
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Die Hypnose ist ein Vorgang, während der hypnoide Grundzustand, wie vordem näher beschrieben, ein Zustand ist, der zwar durch hypnotische Suggestionen, aber auch durch verschiedene andere Maßnahmen induzierbar ist. Der Zustand ist hirnelektrisch nachweisbar. Dieser hirnelektrische Ausdruck kann aber durch verschiedene hypnotisch „hineingegebene“ Inhalte verändert werden (Arousal-Reaktion z. B.). Zu diesem „Hineingeben“ in den hypnoiden Zustand werden im therapeutischen Kontext Suggestionen verwendet. Die hypnotische Suggestion (eigentlich Suggestion im Hypnoid) hat deshalb in der Psychotherapie wesentliche Bedeutung gewonnen, weil eine derartige Suggestion wesentlich stärker wirksam ist, als eine im normalen Wachzustand.
Was ist also eine Suggestion? Es wird ein Vorstellungsinhalt auf eine oder mehrere andere Personen übermittelt (eventuell auch auf sich selbst [Autosuggestion]). Es wird dazu eine verstärkte emotionale Beziehung hergestellt. Durch diese (auch „affektive Resonanz“ genannt) wird der rationale Nachvollzug des Inhaltes umgangen, dieser als eigener akzeptiert (verinnerlicht) und kann aus dem Unbewussten selbsttätig weiter wirken. – Die primär von außen kommende Heterosuggestion wird zur Autosuggestion. Zusammenhänge zwischen Suggestion und Hypnose sind mehrfach gegeben. Einerseits wirken Suggestionen stärker im Zustand eines Hypnoids, anderseits wird Heterohypnose durch Suggestion vermittelt.
E. Kretschmer hat als das Kennzeichen der Suggestion die Erzeugung „blinden Gehorsams“ bezeichnet. Im psychologischen Wörterbuch Dorsch wird die Suggestionsdefinition von Stokvis und Pflanz übernommen, auch in Schultz’s seelischer Krankenbehandlung: „Beeinflussung des Denkens, Fühlens, Wollens oder Handeln eines Menschen unter Umgehung seiner rationalen Persönlichkeitsanteile auf der Grundlage eines zwischenmenschlichen Grundvollzuges, der zur affektiven Resonanz führt“. Wilke folgt dieser Suggestionsdefinition (etwas verkürzt). Langen definiert: Ein Ich-fremder Einfluss, der bei positiver emotioneller Wechselbeziehung angenommen und autosuggestiv verarbeitet wird. – Dieser Definition folgt auch Meinhold. Darin ist also auch enthalten, dass jede Suggestion gleichzeitig zu einer Autosuggestion wird respektive werden muss, um zu wirken. Doch – ergänze ich – der von außen kommende Einfluss ist zwar ein fremder Einfluss, darf aber doch nicht völlig „Ich-fremd“ sein, sondern für das Ich akzeptabel. Aus analytischer Sicht sieht man (laut Dorsch) in der Suggestion eine Wiederbelebung früher Objektbeziehungen, was eine Regression (Rückfall in frühkindliche Verhaltensmuster) voraussetzt. Es gilt das ebenso für die verschiedenen Methoden, die mit dem Hypnoid („Entspannung“) arbeiten. Vergleiche auch C4.
Wie vorher gesagt, spielen Suggestionen eine maßgebliche Rolle zur Induktion des hypnoiden Grundzustandes. Anderseits wirken im hypnoiden Grundzustand gegebene Suggestionen durch diesen stärker als im Wachzustand. Darauf beruht die Therapie mit Hypnose und auch mit Selbsthypnose des
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Autogenen Trainings. Bei letzterem werden die Auto-Suggestionen der formelhaften Vorsatzbildungen verwendet. Wesentliche Gebiete, wo Suggestion zum Tragen kommt: • Nonverbale Suggestionen können durch Schlüsselreize erfolgen, die auf eine gewisse Bereitschaft treffen, etwa erotisierende Damenwäsche-Reklame (Werbepsychologie). • Äußere Umstände können die Suggestibilität verstärken z. B. rhythmische Trommelmusik, spezielle Gerüche und bewusstseinsverändernde Getränke. Das machen sich vor allem die Sekten zu nutze (H1). Aber auch die Aufmärsche in autoritären Systemen wirken durch rhythmische Marschmusik, gemeinsame Lieder und sonstige „Regie“ zu einem Gutteil suggestiv. Dazu kommt die Zentrierung auf den „übermächtigen Führer“. • Averbale Suggestionen spielen auch in unseren normalen menschlichen Beziehungen eine große Rolle. Letzteres haben Pease u. Pease in ihrem populären Buch „Why men lie & women cry“ für Partner-Schwierigkeiten drastisch und überdies humorvoll dargestellt (vergl. B1). • Das Jahrhunderte alte Ritual der katholischen Messe hat durchaus Suggestions-fördernde Komponenten (damit soll keineswegs der spirituelle Wert der Religiosität für die Psychotherapie herabgemindert werden [A3]): halblaute rhythmische Gebete des Kirchenvolkes im Halbdunkel, darüber hell beleuchtet und im besonderen Ornat der Prediger (als supramaximaler Stimulus im Pawlow’schen Sinne), dazu Weihrauch-Duft. • Die Popszene mit überlautem Rhythmus, flackerndem Licht und weinenden Teenagern mag hier hineingehören. • Das, was gemeinhin als „Gehirnwäsche“ bezeichnet wird, hat offensichtlich sowohl mit hypnoiden als auch mit Suggestivphänomenen zu tun. Es wird (in unmenschlicher Weise) eine Extremsituation hergestellt, welche eine hypnoide und suggestive Einflussnahme erleichtert: Einsamkeit, Angst um die Zukunft und um die Familie, monotone Wiederholungen (etwa in den sogenannten „Umerziehungslagern“), Folter (zur Erzielung öffentlicher Geständnisse) etc. – Das Ganze mit entsprechend langer Dauer bei völliger Ungewissheit über das weitere Schicksal.
In der Medizin werden averbale Suggestionen systematisch bei der PlaceboTherapie eingesetzt. „Unwirksame“ Substanzen werden als Medikamente verpackt überreicht. Es wird das laufend bei den systematischen Medikamentenerprobungen verwendet, um die „tatsächliche“ Wirkung eines neuen Medikamentes festzustellen. Es ist aber das Placebo eben kein unwirksames Medikament (!), sondern ein Vehikel ärztlicher Suggestion, das auf dem hier schon mehrfach beschriebenen Weg des hypothalamischen Zusammenhanges auch körperliche Wirkungen, ja sogar unliebsame Nebenwirkungen, entfalten kann. Es wird also vielfach dem Patienten, der auf Placebo gut anspricht, unrecht getan, wenn er als „Simulant“ oder „Hypochonder“ hingestellt wird. Es ist vielmehr ein Patient, der besonderes Vertrauen in den Arzt und die von diesem verordnete Therapie hat, wodurch die Suggestivwirkung gefördert wird. Placebo-Erprobung neuer Medikamente ist durchaus notwendig. Man muss aber Obiges berücksichtigen, um keine falschen Schlüsse zu ziehen.
Suggestionen wirken aber auch ungewollt, sozusagen nebenbei in der Medizin. Das spielt vor allem beim ärztlichen Gespräch eine Rolle, wobei wir schon in Kap. B1 darauf hingewiesen haben, dass das ärztliche Wort ein besonderes Gewicht hat, auf welches zu achten ist. Hier ist ja (psychodynamisch etwas überzeichnet) der Arzt in der Rolle des Übermächtigen, auf den große
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Hoffnungen und Erwartungen gesetzt werden und der Patient in der Rolle des Ausgeliefert- und Ohnmächtigseins, was die Suggestivwirkung stark fördert. Daran ist auch der Ausspruch von Therese Miller „Sprache ist immer Suggestion“ zu relativieren. Es hängt nämlich von sehr vielen Faktoren ab, wie weit eine sprachliche Äußerung (auch) suggestiv wirksam sein kann, von der Beziehung der Sprechenden untereinander, von Betonung, Inhalten, Situation, Begleit-Gehabe etc.
Etliche psychotherapeutische Methoden sind zwar von der Konzeption her nicht suggestiv ausgelegt. Aber es kommen – quasi „nebenbei“ – suggestive Komponenten zum Tragen, fallweise fazilitiert durch ein ebenfalls auftretendes Hypnoid (siehe Schlusspassage des vorigen Kapitels). Schon einer der führenden Psychiater aus der Nachkriegszeit Kretschmer hat sarkastisch bemerkt, dass Patienten, die nach der Jung’schen Methode analysiert wurden, plötzlich in Jung’schen Symbolen zu träumen begannen und solche, die einer Freud’schen Analyse unterzogen waren, in Freud’schen Symbolen. Die Analyse ist also keineswegs suggestionsfrei. Auf die suggestive Komponente der KIP wird noch eingegangen (G3). Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch die pädagogische Anwendung „Suggestopädie“. Neffe erklärt mit einer Kurzform, dass die Autosuggestion aus der „Du-musst“-Schule die „Ich-kann“-Schule macht. Es ist das ein pädagogisch sehr wesentliches Prinzip, welches auch in unseren Gesprächen immer berücksichtigt werden sollte, indem wir nämlich Fragen und Problemstellungen schon positiv-suggestiv statt negativ-suggestiv gestalten. Der aufmerksame Leser wird deutliche Parallelen finden zu dem, was ich bei der Gesprächsführung als „Positivieren“ bezeichnet habe (B2). Ein Beispiel aus der Schülerbeurteilung statt „X konnte sich nur schwer in die Klassengemeinschaft einfügen“. – „X hat sich nun besser in die Klassengemeinschaft eingefügt.“
C3.
Die Hypnose
Schlagwort-Information Hypnose ist bei uns weniger in Schwange als in den anglo-amerikanischen und skandinavischen Ländern. Sie sollte im Sinne der akuten Einsetzbarkeit für sowohl psychische als auch somatische Wirkung nicht vergessen werden.
Am bekanntesten in Zusammenhang mit dem Hypnoid ist die (Hetero-)Hypnose, auch Fremdhypnose genannt. Es handelt sich um ein altbekanntes Verfahren, welches seine Wurzeln in Ritualen und späterhin im Messmerismus hatte (worauf hier historisch nicht näher eingegangen wird. Es wird auf die Bücher von Revenstorf und Peter so-
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wie Meinhold; weiters auf den rezenten Artikel von Bongartz verwiesen). Der Vorgang der Hypnose induziert das Hypnoid. – (Das in C1 ausführlich besprochen ist.) Es geht dann darum: • Was kann der hypnoide Zustand an sich bewirken? • Was kann man in den hypnoiden Zustand hineinsuggerieren (C1, C2)? Mit der getrennten Betrachtung dieser beiden Punkte bin ich auf einer Linie mit Agnes Kaiser Rekkas 2001, während jene beiden Faktoren der hypnoiden Therapie vielfach (auch in sonst recht kompetenten Äußerungen über Hypnose) nicht klar auseinander gehalten werden. Es gilt das für die Hypnose und auch für die folgend noch besprochene Selbsthypnose des Autogenen Trainings. Zum Durchführen der Hypnose wendet der Hypnotisator verschiedene Techniken an, welche auf die im vorigen Kapitel genannten, zur Induktion eines Hypnoids notwendigen Vorbedingungen hinarbeiten, meist: 1. Suggestive Desaktualisierung allgemeiner Außenreize mit gleichzeitiger Fokussierung auf bestimmte Reize, speziell auf die Worte des Hypnotiseurs. Dazu dient einerseits deren Inhalt, anderseits dessen monotonisierende Wiederholung. Es werden Inhalte übermittelt, wie: „nichts, was von außen kommt, kann Sie stören“, „alle Geräusche werden leiser, ganz unwichtig, verschwinden dann ganz“ etc. 2. Dazu gehört eine innere Bereitschaft des Hypnotisanden. 3. Dann folgen Schwere-Wärme-Müdigkeits-Suggestionen, dass die Augen zufallen etc. Man kann die Induktion der Hypnose durch leichtes Streichen über Arme und Beine begleiten („passes“), man kann einen imaginären Punkt auf der Mitte der Stirn anschauen lassen (wobei durch die abnorme Augenhaltung die Ermüdung der Augen fazilitiert wird) etc. In den entstehenden suggestiv stärker empfänglichen Zustand werden bei der therapeutischen Hypnose dann Inhalte eingesprochen, welche eine therapeutisch angestrebte innere Haltung, Angstlösung, Abstinenzvorsätze, etc. beinhalten. Es wird dabei immer wieder darauf hingewiesen, dass Ruhe, Annehmlichkeit und Vertrauen besteht. Eine derartige Hypnose dauert etwa 1/2 Stunde. Ich lasse davon immer etwa 10 min. den Patienten ohne sprachliche Suggestion, teile ihm aber vorher mit: „Auch wenn ich Sie jetzt alleine lasse, besteht dieser Zustand weiter und so wird die Wirkung auch über meine Hypnose hinaus bestehen“, oder ähnlich.
Sehr wichtig ist in allen Fällen anschließend eine ordentliche Desuggestion. Sie soll zweckmäßigerweise nicht ganz plötzlich kommen, sondern angekündigt und stufenweise. Man sagt etwa: „Ich zähle bis 5, bei 1 werden die Beine wieder frei und leicht, bei 2 die Arme wieder frei und leicht, bei 3 die Schultern und bei 4 der Kopf wieder frei und leicht. Evt. kann man das durch Streichen über die Extremitäten (in der Gegenrichtung wie vordem bei der Schwere-Wärme-Suggestion) unterstützen. Bei 5 lässt man dann die Augen öffnen und lässt den Patienten, noch durch energische Körperaktionen zurücknehmen (analog dem noch später beschriebenen Autogenen Training). Wie es sich ja überhaupt bewährt Hypnose und AT zu kombinieren (wenn genug Zeit dafür da ist – siehe noch später in diesem Kapitel – dann kann
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man das vom AT bekannte Schwere-Wärme-Gefühl mit in die Induktion der Hypnose nehmen). Bei der Desuggestion gibt man Wohlbefindenssuggestion. „Es gibt keinerlei unangenehme Nachwirkungen“ und die Schutzsuggestion: „Diese Hypnose geht nur hier im therapeutischen Bereich, es kann Sie niemand anderer einfach hypnotisieren“. Es gibt verschiedene Hilfstechniken, so mit Pendel, Farbkontrasttafeln, etc. Es scheint mir nicht sinnvoll, darauf näher einzugehen, da jeder, der Hypnose lernen will, dies in einer der angebotenen Psychotherapeuten-Ausbildungen tun kann. Man kann es kaum aus einem Buch allein lernen. Prinzipiell ist es nicht schwierig zu hypnotisieren und prinzipiell ist auch jeder hypnotisierbar, da jede Hypnose Selbsthypnose in sich trägt. D. h. es muss Bereitschaft beim Hypnotisanden vorliegen. Diese ist in extremen Situationen besonders groß (siehe Hypnose bei Schmerzpatienten, Hypnose zu Operationen in Kriegsgefangenenlagern etc., wovon noch gesprochen wird, auch III. C2). Einige gute kurz gefasste Anleitungsbücher, zur Ergänzung einer evt. Seminarpraxis: Schäfgen 1992; Schultz 9. Auflage bearbeitet von Krause 1994; Haring 1995. Eine eigene Form der Hypnoseinduktion hat Milton H. Erickson eingeführt. Er verwendet „Geschichten“, konfrontiert und brüskiert seine Patienten zuweilen, beobachtet dabei deren Feedback und wendet dann Wiederholungen und sprachliche Wendung an, um so in die Hypnose einzuführen („Konfusionsmethode“). – Eigenerfahrungen fehlen dafür. Aber es hat jene Methode ziemlich großes Echo gefunden, und es gibt eigene wissenschaftliche Vereinigungen, die nur jene Art der „Milton Erickson-Hypnose“ vertreten.
Ganz wichtig ist es – insbesondere im Hinblick auf die relativ leichte Möglichkeit des Hypnose-Lernens – sich der Verantwortung bewusst zu sein, welche man durch Applikation einer Hypnose auf sich nimmt. Bei labilen Persönlichkeiten kann es leicht zu psychogenen Störungen kommen (vergl. H1). Es ist daher absolut von diversen Schaubudeneffekten der Hypnose abzuraten. Auch der Anfänger in Psychotherapie (der vielleicht von den Möglichkeiten der Hypnose fasziniert ist) sollte sich hüten, diese außerhalb einer guten menschlichen Beziehung + einem therapeutischen Kontext „vorzuführen“. Weitgehend erzielen wir die therapeutische Wirkung des Hypnoids durch sprachliche Vermittlung. Ist also für solche hypnotische Beeinflussbarkeit eine besondere sprachliche Gewandtheit zu fordern? Es gilt das schon in B2 beim allgemeinen Psychotherapie-Gespräch Gesagte. Das Wesentlichste ist die Einstellung des Therapeuten und das Herstellen einer guten menschlichen Beziehung. Nur ist die verbale Kommunikation im Rahmen eines Hypnoids intensiver und tiefergehend. Kleine Nuancen und Nebenbedeutungen von Worten können eine große Rolle spielen. Der Therapeut soll bildhaft-plakativ, kurz, einfach und verständlich seine verbalen Botschaften vermitteln. Wenn er nicht abgehoben und selbstzufrieden agiert, sondern das Feedback des Patienten jeweils zur Kenntnis nimmt, so kann leicht auch jedes Missverständnis wieder korrigiert werden. Bei meinem halbjährigen Studienaufenthalt in Marseille war – speziell in der Anfangszeit –
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meine französische Sprachkenntnis recht schwächlich. Neben den Arbeiten in klinischer Neurophysiologie (wo ja die Sprache nicht so wesentlich war) arbeitete ich dort mit Kindern im Autogenen Training; mit Hypnose auch bei Erwachsenen. Die Wärme-Suggestion der 2. AT-Übung übersetzte ich mit „chaud“. Darauf sagte mir bald eines der AT-Kinder „c’est bouillant“. Der kleine Bub fühlte also den Arm unangenehm „kochend“. Ich wusste nicht, dass das Wort „chaud“ im Französischen mehr in Richtung „heiß“ geht, und der kleine Bub hatte es in bravem Gehorsam sehr heiß empfunden. – Nachdem dies durch das Feedback aufgeklärt war, fügte ich nur in der Formel das Wort „agreablement“ (angenehm) bei und die Wärmeübung funktionierte nun bei allen ohne das unangenehme Überhitzen. Als ich mit einem Patienten längere Hypnose machte und gewisse Inhalte suggerieren wollte, fehlten mit teilweise die französischen Vokabeln dafür. Ich umschrieb es und meine Unsicherheit im Ausdruck wurde deutlich. Der in Hypnose befindliche Patient half mir daraufhin mit den Worten, indem er auf Französisch sagte „das heißt so und so, …“. Er kam deswegen keineswegs aus der Hypnose heraus. Die so vermittelten Inhalte wirkten sehr gut, und es war auch ein guter therapeutischer Effekt letztlich feststellbar.
Hypnosetests Zur Erkennung der „Hypnotisierbarkeit“ von Personen sind meines Erachtens kaum wesentlich, da praktisch (bei entsprechender Motivation, Technik, etc.) fast jeder hypnotisierbar ist. Ob jemand in das Hypnoid eingetreten ist, erkennt der Erfahrenere sehr leicht an dem Erschlaffen der Gesichtszüge, dem Zugehen der Augen (wenn dies der Hypnose-Technik entspricht, etc.). Der Katalepsie-Versuch kann Patienten und Hypnotisanden zusätzliche Sicherheit über die Effektivität der Hypnose geben (siehe dazu noch folgend Schmierer bei der zahnärztlichen Hypnose). Dort werden auch unterschiedliche Trance-Tiefen unterschieden. Es scheint das für die unterschiedliche Organwirkung nicht unwichtig. Es muss aber anderseits betont werden, dass die Wirksamkeit der Hypnose keineswegs nur von ihrer „Tiefe“ abhängt. Man kann erstaunliche Wirkungen bei scheinbar sehr oberflächlicher Hypnose und (allerdings seltene) Versager auch bei Tiefenhypnose sehen. Die klinische Anwendung der Hypnose ist regional sehr unterschiedlich. Sie ist in den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern stärker verbreitet als bei uns (auch mit eigenen wissenschaftlichen Gesellschaften) –, nicht nur in der Psychotherapie, sondern speziell auch in der Zahnheilkunde. In Schweden ist (nach Schmierer & Schmierer) fast die Hälfte aller Zahnärzte in Hypnose ausgebildet (!). Aber auch in Deutschland nimmt der Hypnoseeinsatz in der Zahnmedizin stark zu. Die betreffende Gesellschaft hat über 1000 Mitglieder (Schmierer 2004). Es kommt einerseits der psychotrope, anderseits der somatotrope Wirkfaktor der Hypnose klinisch zum Tragen. (Siehe noch folgend in diesem Kapitel.) Eigenerfahrungen betreffen Hypnose bei schmerzhaften terminalen Zuständen. Schmerzgeplagte Metastasen-Patienten hatten beträchtliche Besserung, jeweils für mehrere Stunden, ein-
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hergehend mit der Einsparung von Alkaloiden. – Ich machte 2 x täglich durch eine längere Periode Hypnosen. Natürlich ist das ein großer Aufwand ärztlicher Zeit und Mühe für einen Effekt, den schließlich Alkaloide auch erreichen können. Sehr positiv ist aber, dass die Patienten die intensivierte ärztlich-menschliche Zuwendung durch die Hypnose in ihrem Terminalstadium äußerst dankbar annehmen. – Die Verbalsuggestionen waren dabei „Schmerz wird ganz unwichtig“, „Schmerz wird immer weniger, bis er fast ganz verschwindet“, „Schmerz fließt aus dem Körper ab“ und Ähnliches.
Schon eingangs bei den Grundregeln für Psychotherapie wurde auf die Notwendigkeit einer starken Motivation hingewiesen (A3). Das kann (wie in den Beispielsfällen) der Leidensdruck durch die Schmerzen sein, es kann aber auch bei einem Prüfungskandidaten der Prüfungsdruck sein. Es kann sich bei mehrfachem Versagen des Prüflings speziell bei zusätzlicher Negativ-Übertragung (wechselseitiger Antipathie) zwischen Prüfer und Prüfling sehr leicht eine „Prüfungsneurose“ herausbilden. Diese darf zurecht so bezeichnet werden, denn der Kandidat leidet beträchtlich und schneidet unter Umständen aufgrund seines psychisch etablierten selbstschädigenden Verhaltensmusters weit unterhalb seines Könnens und seiner Fähigkeiten ab. Hier ist es durchaus ethisch vertretbar, ja sogar angezeigt, ärztlich zu helfen. Natürlich muss man dem Kandidaten in der Vorbereitung sagen, dass ihm das Lernen nicht erspart wird, man nur helfen kann, dass das Vorhandene gut zur Präsentation gelangt. Die suggestiven Inhalte lauten dann etwa: „Gelerntes steigt selbsttätig auf“, „die Prüfungssituation belustigt mich und kann mich nicht stören“. Auch die bei Selbstunsicheren vielfach anwendbare Formel „ich bin ich“ kann in ein entsprechendes Wortgerüst des Hypnotiseurs gekleidet sehr Gutes tun. Wenn ein bisschen Zeit ist, kann man diese Formeln natürlich auch mit dem AT verbinden. Aber oft kommen die jungen Leute ja erst im letzten Moment, wenn Feuer am Dach ist. – In solchen Fällen kann man (wenn die Gerätschaft und Routine vorhanden ist) auch recht gut das Respiratorische Feedback (siehe E1) einsetzen.
Es sei noch daran erinnert, dass in Kriegsgefangenenlagern, wo wesentliche ärztliche Ausrüstungen fehlten, in Hypnose operiert wurde; und das funktionierte, weil eben der Leidensdruck und die Motivation sehr groß waren. Heute, unter „normalen“ Umständen, wird man so etwas kaum machen. Zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen auch (der Chirurg) Buri und (die Hypnosetherapeutin) Theres Miller, die in der Schweiz vor laufender Kamera eine nur in Hypnose durchgeführte Operation durchgeführt haben. Es herrschte dort eine besondere Beziehung zwischen Hypnotiseur und Patienten, sie waren nämlich Ehepartner. Das ist also eine Ausnahmesituation und wird von den Autoren als solche bezeichnet. Es wurde auch nur gemacht, um die Wesentlichkeit der prä- und postoperativen Hypnoseunterstützung – an jenem Extrembeispiel – zu zeigen.
Durchaus möglich und sinnvoll ist es aber, in einer psychotherapeutisch aufgeschlossenen Abteilung – wenn Zeit, Örtlichkeit und Personal dafür vorhanden sind – eine gewisse hypnotische Verstärkung der Angstlösung, Ruhe und Narkosetiefe vor Operationen zu machen. Dazu sei wiederum darauf hingewiesen (was ich schon eingangs gesagt habe): Wenn man mit einem Patienten
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Psychotherapie beginnt, dann hat man eine große Verantwortung übernommen, muss genau wissen, wie tief man geht und wie man die Beziehung zu dem Patienten wieder ordentlich beendet. Siehe Negativ-Beispiel in Kap. H1. Dort, wo Hypnose als isoliertes Psychotherapeutikum angewendet wird, werden unterschiedliche Verfahren angegeben. Peter beschreibt die hypnotisch induzierte Altersregression als therapeutisches Instrument. Es können dabei „Affektbrücken“ von den jetzigen Affekten zu den in der Altersregression erlebten hergestellt und genützt werden. Auch ist eine „bedeutungsveränderte Neukonstruktion der Vergangenheit“ möglich und kann therapeutisch wirksam sein. Meinhold nennt eine „lebensgeschichtliche Analyse in Hypnose“, die in die gleiche Richtung geht. Es werden dabei in 30–100 Sitzungen Schritt für Schritt der Alterungsprozess zurücksuggeriert, die lebensgeschichtlich wichtigen Ergebnisse rekapituliert und unter neuem (therapeutischem) Aspekt besprochen. Dem gegenüber stellt er eine „tiefenpsychologische FokalHypnose“, die in 3–20 Sitzungen auf einzelne spezielle Ereignisse eingeht. Weiters hätte die Hypnosetherapie auch kathartische und diagnostische Möglichkeiten (wenn längere Zeit zur Verfügung steht). Meinhold beschreibt auch die hypnotische Reinkarnations-Therapie. Er betont dabei selbst, dass die Realität der so „erlebten“ früheren Leben nicht realistisch und bewiesen sein muss, aber trotzdem in die Psychotherapie einbezogen werden kann. Gleiches gilt für „wiedererinnerte Erlebnisse“ bis vor die Erinnerungszeit, über die Geburtsperiode und in die vorgeburtliche Zeit. (Siehe auch anschließenden Kasten.) Kronbein bezeichnet als Hypnoanalyse alle jene hypnotherapeutischen Ansätze, deren Ziel es ist, hypnotische Techniken mit psychoanalytischen Methoden zu verbinden (gleichsinnig Oswald und etliche andere). Schäfgen hat speziell darauf hingewiesen, dass Hypnose in besonderer Weise aufdeckend wirksam und dem Verlauf der tiefenpsychologisch orientierten Gespräche nachhaltig förderlich sein kann. (Das steht in ausdrücklichem Gegensatz zu der Auffassung, dass Analyse „aufdeckend“ und hypnotische Maßnahmen „zudeckend“ seien. Es wird noch im nächsten Abschnitt beim Autogenen Training darauf eingegangen). Bei allen diesen hypnotischen Aufdeckungstechniken werden die „ideomotorischen Antworten“ verwendet. (Revenstorf, Kaiser Rekkas). Es werden dazu gewisse Körpersignale (etwa Fingerhebung oder Arm bewegt sich nach einer Seite) als Ja-Antwort oder Nein-Antwort durch hypnotische Suggestion definiert. Bei der Befragung in Hypnose „übersetzen“ dann jene Körpersignale ohne bewusstes Zutun des Hypnotisierten (!) Antworten aus dem Unbewussten.
Wie relevant sind Erinnerungen in Hypnose? • Bei manchen hypnotisch gewonnenen Erinnerungen konnte ihre Realität im Nachhinein objektiviert werden, bei anderen nicht. Letzteres gilt natürlich speziell für Erinnerungen, die vor das normale Erinnerungserleben reichen sollen (intrauterine und Geburtserlebnisse). Es können aber auch nicht objektive reale Hypnoseerinnerungen für den Patienten eine subjektive Realität respektive Bedeutung gewinnen und
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psychotherapeutisch nutzbar gemacht werden. (Analog dazu wirken ja auch die symbolhaften visuellen Imaginationen oder KIP im psychotherapeutischen Sinn ohne dass sie Realität sind oder sein müssen [vergl. Kap. F5]). • So eine „subjektive Realität“, also der sichere Eindruck des realen Erlebnisses, wird durch „Affektsprengstücke“ affektbesetzt. Sie ist aber immer (bewusst oder unbewusst) suggestiv vom Hypnotiseur mitgefärbt. Neben der möglichen Positiv-Wirksamkeit liegt darin aber auch die Gefahr des Missbrauchs.
Richtig und wichtig in diesem Zusammenhang ist es daher, dass Aussagen von Erkenntnissen, die unter Hypnose gewonnen wurden, keine rechtliche Gültigkeit haben können und dürfen. – Große Wesentlichkeit hat das bei der „Recovered memory therapy“ gewonnen, welche in Amerika eine Modeströmung war, die (glücklicherweise) auch dort wieder abgeklungen ist, bevor sie zu uns kam. Es wurden bei Patientinnen frühe Missbrauchserlebnisse hypnotisch wieder belebt und daran rechtliche Konsequenzen geknüpft. Näheres darüber im Kapitel über Schädigung durch Psychotherapie H1. Nicht ohne praktische Bedeutung ist die Tonbandhypnose. Präfabrizierte Kassetten oder heute CDs mit diversen hypnoiden Beruhigungs- und Entspannungsformeln sind mehrfach (auch von durchaus namhaften Psychotherapeuten) in den Kommerz gebracht worden. Ich halte aber davon wenig bis gar nichts. Sie können vielleicht bei einzelnen Patienten eine gewisse Wirkung entfalten, aber nie eine optimale Psychotherapie sein. Anders sehe ich es aber dort als brauchbar und vertretbar an, wo der Patient in psychotherapeutischer Behandlung ist und man etwa einmal die (schon in der individuellen Psychotherapie mehrmals vorerprobte) Hypnose gleichzeitig aufnimmt und sie ihm „als Proviant“ mitgibt. Es kommt dann zu einem ähnlichen Mechanismus wie beim Anhören einer Schallplatte mit Musik, die man schon einmal im Konzerthaus gehört hat. Es wird der ursprüngliche Vorgang über die Erinnerungssituation repetiert. Der Patient hört also durch die Erinnerungsfunktion seinen eigenen Psychotherapeuten in „seiner“ Psychotherapie mit einer „maßgeschneiderten“ Hypnose. Ich habe das bei Patienten (und auch bei Sportlern – siehe Kap. E3), die wegen Entfernung nur selten und unregelmäßig kommen konnten, gemacht und auch bei solchen, die es sich speziell gewünscht haben, da „alles besser geht, wenn der Psychotherapeut dabei ist“. Natürlich muss man sich überlegen, diese ihre Haltung in die Psychotherapie miteinzubeziehen. Die Tonbandhypnose ist eine Weiterentwicklung der von Klumbies inaugurierten Ablationshypnose (also Hypnose, die vom Hypnotherapeuten abgelöst stattfindet). Er wendete diese (noch vor der Tonbandzeit) an, indem er den Patienten in Hypnose auf bestimmte Signale konditionierte, die dieser dann selbst zum Zweck der hypnotischen Wirkung (speziell Schmerzreduktion) einsetzen konnte (Farbkontrasttafeln, eine Karte mit darauf geschriebenen Worten etc.). Bei Patienten mit Karzinomschmerzen erreichte er damit gute Wirkungen (was uns nicht wundert, denn dort liegt auch eine besonders starke Motivation vor).
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Binder beschreibt Tonbandhypnosen bei Prüfungsängsten, wobei er durch das Tonband die Möglichkeit eröffnet, ziemlich rasch (wie es ja, wie gesagt, bei Prüfungen meistens – da die jungen Leute im letzten Moment kommen – nötig ist) durch mehrmals tägliches Üben weiterzukommen. Diehl verwendet mit den Patienten vorbesprochene Hypnose-Tonbänder, die diese während der Zahnbehandlung anhören, während der Zahnarzt sich auf seine manuellen Tätigkeiten konzentrieren kann.
Damit sind wir nochmals bei dem schon eingangs erwähnten weiten Feld der Hypnoseanwendung in der Zahnheilkunde, welche vor allem in Skandinavien üblich ist, aber jetzt auch in Deutschland stärker Platz greift. Es betrifft das die Dentophobie, die ja ein ernstes Problem mit Verfall der Zähne aus Zahnarztangst etc. darstellen kann, aber auch die Routine-Zahnbehandlung, vor der ja viele Menschen, speziell Kinder, große Scheu haben (laut Schmierer 70% aller Menschen, aber auch 50% aller Zahnärzte). Die Verbindung mit dem Autogenen Training für eine Vorbereitungszeit ist möglich, häufiger wird durch eine oder mehrere vorbereitende Hypnosen konditioniert. Wir haben in etlichen Kongressen darüber sehr Überzeugendes von skandinavischen Kollegen gehört. Am günstigsten ist es (neben Tonbandvermittlung oder Durchführung durch den Arzt selbst), wenn eine eigene Hypnoseassistentin die PatientenVorbereitung auf die Hypnose und diese dann während der zahnärztlichen Behandlung macht. Es ergibt sich so eine ständige menschliche („mütterliche“) Nähe, während der Zahnarzt ungestört sich auf sein Arbeiten im Munde konzentrieren kann – natürlich muss aber auch beim Arzt entsprechende Kenntnis der Hypnose vorliegen. Es wird Folgendes hypnotisch angegangen • Analgesie, teils unterstützend, teils auch mit Hypnose als einzige Maßnahme, • Angstabbau bei verkrampften Patienten, die sonst kaum oder „nur mit einem jeweiligen Ringkampf“ zu behandeln sind, • Kiefergelenks- und andere Gesichts-Muskel-Verkrampfungen, • Blutungs- und auch Speichel-Reduktion (mit entsprechender Suggestion eines kalten Lieblingseises, das dem Unbewussten signalisiert, wie die Durchblutung reduziert wird). • Bei sonstigen bekannten psychosomatischen Beschwerden des Mund-Zahn-Kieferbereiches: Würgereiz, Zähneknirschen, Parästhesien, Prothesenunverträglichkeit, habitueller Daumenlutscher (wodurch eine Deformation des wachsenden Kiefers entstehen kann). Schmierer unterscheidet 4 Trancestufen: 1. Leichte Trance: Entspannungs- und Bewegungsunlust. 2. Mittlere Trance: Erhöhte Fantasien, Dissoziation. 3. Tiefe Trance: Amnesie und Hyperamnesie, Ideomotorik, Somnolenz. 4. „Völlig weg sein“. Er verwendet in der zahnärztlichen Praxis vor allem die mittlere Trance, benützt dabei die Katalepsie des Armes zur Kontrolle für den Arzt, dass der Patient gut in Hypnose ist, aber
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auch zu dessen eigener Bestätigung, synchronisiert seinen Atem mit dem des Patienten und legt Wert darauf, dass immer ein gewisser Körperkontakt weiter besteht (Handauflegen). Christina Bischof hat als ausgebildete Hypnoseassistentin über Jahre in einer zahnärztlichen Klinik mit mehreren Ärzten hypnotisch mitbehandelt. Ihr verdanke ich weitgehende Bestätigung des Obigen aus langjähriger Praxis. Sie macht üblicherweise eine hypnotische Vorbehandlung, bevor die eigentliche Zahnbehandlung beginnt, berichtet, dass routinemäßig Zahnextraktionen in ausschließlicher Hypnose gemacht werden, ebenso Beschleifungen. Auf eigene gute Erfahrungen mit dem Autogenen Training bei Kindern für den Zahnarzt wird im Kap. E2 noch eingegangen. Es zeigt, dass ein erfolgreich behandelter Patient suggestiv sehr positiv auf einen anderen einwirken kann (worauf auch Geyerhofer hingewiesen hat).
Mir hat es sich günstig erwiesen, bei Süchten, insbesondere Rauch-Entwöhnung, Hypnose mit Autogenem Training zu kombinieren. In einer ersten Phase von mehreren Wochen erlernen die Patienten das AT. In den begleitenden Gesprächen lernt man sie mit ihren Problemen, Motivationen und Ressourcen kennen. Auch konditioniert sie das AT für die Hypnose. Dann erfolgt Abstinenzvereinbarung, einige Hypnosen in kürzeren (2 x wöchentlich etwa) Abständen. Dabei wird neben den Abstinenzsuggestionen speziell auf Motivation und Ressourcen eingegangen und auch das Weiterwirken der Hypnose im AT gefestigt. Dass dabei lebenslang ein Ambivalenzverhalten persistieren kann, zeigt folgender Fall. Eine ältere Dame war eine süchtige Raucherin mit 60 Zigaretten täglich, kam wegen beginnender Gefäßstörungen an den unteren Extremitäten zur Entwöhnung. Als ich sie 30 Jahre später im Altersheim sah, sagte sie mir zur Begrüßung „… aber dass sie mir seinerzeit das Vergnügen des Rauchens so gründlich verleidet haben, kann ich ihnen noch immer nicht verzeihen!“
Bartl (pers. Mitt.) verzichtet auf die Kombination mit AT (teils auch aus Gründen der Zeitökonomie). Statistiken haben wir beide keine. Es werden aber ungefähr 40 % Rückfälle geschätzt, besser bei denjenigen, welche selbst gekommen, schlechter bei denen, welche zur Entwöhnung geschickt worden waren. Gabriele Fischer gibt aus der Suchtambulanz der Wiener Psychiatrischen Klinik 60–80 % längerfristige Entwöhnungsquote allgemein an. Nikotin ist aber diesbezüglich am schlechtesten mit 30%. Ob man nach dem Rückfall neuerlich eine Abstinenzkur mit dem Patienten versucht, hängt von der Motivation und der sonstigen eigenen Einstellung des Patienten, dem familiären und sozialen Umfeld, etc. ab. Über hypnotische Behandlung anderer Süchte, insbesondere Alkoholismus, gibt es einige Mitteilungen. Sie ist (analog Obigem) nie isoliert anzuwenden, sondern es geht darum, die Motivation zu fördern und evt. die Hypnose zur Unterstützung der Motivation zu verwenden, kombiniert mit der direkten Abstinenzbestärkung. (Scholz pers. Mitt. 2004, sowie Zernig). In akuten Krisensituationen wurde und wird Hypnose integriert (durch darin erfahrene Ärzte) eingesetzt. Sowohl Bartl als auch Roßmanith verwen-
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den Hypnose nach akuten Unfallsituationen. Bartl verwendet sie auch bei den (in seiner Landpraxis noch immer vorkommenden Hausgeburten (Artikel II und III). Ebell setzt in laufenden Gesprächspsychotherapien fallweise zwischendurch Hypnosen ein. Ein wichtiges Anwendungsgebiet sind Verbrennungen. Es kommt dabei sowohl die psychotrope als die somatotrope Möglichkeit der Hypnose zur Wirkung respektive das Zusammenwirken beider Komponenten verbessert die Heilungschancen beträchtlich. Evin sagt im Hinblick auf die guten Erfolge: „Es wäre nicht verwunderlich, wenn demnächst ein Zentrum zur Behandlung von Brandopfern als schlecht ausgestattet gilt, wenn es dort keine Fachkräfte für Hypnose gibt.“ Verbrennungspatienten sind sehr leicht in das Hypnoid (Trance) einzuführen (was nach dem Vorgesagten auch nicht verwundert, da eine enorme Motivation durch die Notstandssituation gegeben ist). • Primär vermittelt man ihnen Geborgenheit und nimmt ihnen die Angst. Es werden dem Patienten im Hypnoid Erklärungen gegeben, wieso die Vorstellungen, die ihm nun suggeriert werden, helfen können und man kommuniziert dabei mit ihm über ideomotorische Reaktionen. • Zugleich mit dem Auflegen von Eiswassertüchern wird auch hypnotisch Kühle suggeriert. Es wird dadurch das Schmerzempfinden deutlich gelindert (Verminderung der Schmerzmittel), aber auch über das Vegetativum der Heilungsprozess deutlich gefördert, der allgemeine Stoffwechsel positiv beeinflusst (Appetit, Harnausscheidung) und das Infektionsrisiko deutlich herabgesetzt (psycho-immunologisch zu erklären).
Gasser berichtet über die Wesentlichkeit hypnotischer Hilfe zur Entwöhnung vom Atmungsgerät bei Intensivpatienten. Diese Mitteilung kommt nicht (!) von einem Psychotherapeuten, sondern von einem Kardiologen und Intensivmediziner, suplierendem Leiter der Intensivstation an der Universität Graz. Junker hat in einer systematischen Serie von 112 ambulanten Gastroskopie-Patienten bei 25 Hypnose gemacht, bei 19 Atem-Entspannungen und 68 erhielten die übliche Sedierung mit Dormicum®. Die Hypnose-Behandlung zeigte sich als die günstigste, bezüglich Vital-Werten, Würgen, motorischer Unruhe, etc. Es wurden auch Hypnosen verwendet bei: Biopsien, Angioplastien und Coloskopien. Das rezente Buch von Ebell und Schuckall gibt eine Fallbericht-Sammlung von 41 mit medizinischer Hypnose arbeitenden Psychotherapeuten wieder. Es werden dabei unterschiedliche Techniken verwendet, eine Vielzahl von Indikationen kommt zur Besprechung. Wir sehen einerseits die Introspektions-fördernde Wirkung der Hypnose in einer tiefergehenden Psychotherapie, anderseits die „zudeckende“ beruhigende und entspannende. Agnes Kaiser Rekkas 2005 zeigt viele Möglichkeiten auf, wie die Bausteine aus anderen Therapie-Verfahren zweckdienlich in Hypnose eingebaut wer-
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den können (also nicht nur Therapie durch Hypnose, sondern auch in Hypnose): Imaginationen, systemische Prinzipen („Reframing“ [F6]), Elemente der Konzentrativen Bewegungs-Therapie. Sie gibt Fallschilderungen über Besserung organisch Gelähmter (Apoplektiker) und sagt: „Das macht die Schönheit und Verzauberung aus: Esprit, Spiritualität, Humor, Phantasie, Pragmatik, Bodenständigkeit.“ Ansprechadressen für zahnärztliche Hypnose und Hypnose in der Anästhesie: Österreichische Gesellschaft für ärztliche und zahnärztliche Hypnose p.A. Präsident Dr. Allan Krupka Nussdorferstrasse 4/5; A-1090 Wien Tel.: +43-(0)1/317 63 20 Fax: +43-(0)1/315 16 35 E-Mail: [email protected]; www.oeghz.at
Deutsche Ges. für zahnärzt. Hypnose Esslingerstraße 40; D-20182 Stuttgart Tel.: +49-(0) 711 – 236 06 18 Fax: +49-(0) 711 – 24 40 32 E-Mail: [email protected]; www.dgzh.de
Österreichische Gesellschaft für Psychologie und Psychosomatik in der Zahnmedizin p.A. Univ.-Lekt. Prim. DDr. Gerhard Kreyer Kremserstr. 9; A-3550 Langenlois; Tel.: +43 (0)72 34-2169 Medizinische Hypnose Alpe Adria Anton Wildgans Weg 8a; A-8043 Graz Tel.: +43-(0)316-384 650; Fax: +6 Mobil: +43-(0)676-585 34 02 E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung zur Hypnose Bongartz (einer der führenden deutschen Hypnoseexperten) und Mitarb., haben in einer meta-analytischen Studie zur Hypnose in der praktischen Anwendung 193 Studien berücksichtigt und Folgendes konkludiert: Die verschiedenen Studien weisen so große Unterschiedlichkeiten in der Methodik auf, dass eine allgemeine Vergleichbarkeit nicht besteht. Es ist aber die zum Teil hohe Effektstärke einzelner Studien hervorzuheben. Systemische Vergleiche zu anderen psychotherapeutischen Ansätzen sind aus obigen Gründen nicht durchführbar gewesen. Die Wirkung der Verhaltenstherapie wird durch Hypnoseeinbau verstärkt. In Zusammenschau meiner Erfahrungen mit der Literatur möchte ich diese Aussage erweitern. Nämlich: dass allgemein die Kombination von Hypnose mit anderen therapeutischen Maßnahmen wesentliche positive Potenzen hat. Das gilt bei verschiedenen Formen und Inhalten der Gesprächstherapie (z. B. Suchttherapie); bei vielfachen körperlichen Indikationen, wie: bei kritischen Akutzuständen, Operationsvorbereitung, großflächige Wundheilungen, Anästhesie-ersetzend (im zahnärztlichen
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Bereich) und Anästhesie-begleitend (im allgemein-chirurgischen Bereich); Imagination enthält eine wichtige Hypnose-Komponente, etc. Es gilt also, die noch bestehenden Mauern zwischen Allgemeinmedizin und integrierter Psychotherapie abzubauen: Hypnose hat keineswegs etwas mit Mystizismus und Zauberei zu tun (wie es im Unterbewusstsein der Bevölkerung [und wahrscheinlich mancher Ärzte] noch immer herumgeistert), sondern kann sehr Reales, auch auf körperlichem Sektor, leisten. (Vergleiche dazu auch nochmals Abb. 4 in A3.) Hier tut sich für eine junge Generation ein wesentliches Feld auf. Dazu bedarf es einerseits mehr Befassung mit der Materie durch die Psychotherapeuten und anderseits größere Offenheit dafür bei der übrigen Medizin. Es braucht aber auch Offenheit der „Logistiker“, die einen entsprechenden Stellen-, Raum- und Finanzplan ermöglichen sollen. Denn, so wie ich meine Hypnose- und AT-Gruppen vielfach außerhalb der regulären Dienstzeit und außerhalb einer ordentlichen Honorierung, quasi als Privathobby gemacht habe, mag es zwar Wege weisen, aber keineswegs breit anwendbar sein.
C4.
Das Autogene Training (AT) als hypnoides Verfahren
Schlagwort-Information Unter den hypnoiden Methoden ist das Autogene Training, zumindest im deutschsprachigen Bereich, bei weitem am verbreitetsten. Es ist wesentlich mehr als nur eine Relaxationsmethode, und es gilt in einer rationellen Psychotherapie auch die vielen anderen Möglichkeiten, die darin liegen, zu nutzen.
Das in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte – also nun über 80 Jahre alte – Autogene Training gehört neben Analyse und Hypnose zu den ältesten Psychotherapieverfahren. Es kann hochwirksam sein und hat erst die Tore für eine „soziale Psychotherapie“ geöffnet (vergleiche A5). Der Vorteil seiner relativ einfachen Lehr- und Lernbarkeit hat sich jedoch insofern auch in einen gewissen Nachteil verwandelt, als es vielfach in Kurzkursen vermittelt wird und zwar als einfache „Psychovegetativgymnastik“, ohne die große darin liegende psychotherapeutische Potenz auszuschöpfen.
C. Hypnoid und Suggestion / C4. Das Autogene Training (AT) als hypnoides Verfahren
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Als psychotherapeutische Methode wurde es im Herbst 2003 in Österreich auf Antrag einer Fachgesellschaft vom Gesundheitsministerium offiziell in „Autogene Psychotherapie“ umbenannt. Es hat das insofern eine gewisse Berechtigung, als durch das Wort „Training“, das Mechanistische daran überbetont wird. Sowohl aus sachlichen, wie aus berufspolitischen Erwägungen schien es sinnvoll das AT stärker an den therapeutischen Bereich zu binden. Allerdings scheinen mir die Gegenargumente für die Umbenennung wesentlich stärker als die Pro-Argumente: „Autogenes Training (AT)“ ist nämlich ubiquitär im internationalen wissenschaftlichen Sprachgebrauch verwurzelt. Nicht nur im Deutschen, sondern Englischen, Italienischen, Französischen, Japanischen etc. Ich glaube, man sollte im Sinne internationaler Zusammenarbeit in Forschung und Organisation – bei der international üblichen Bezeichnung bleiben, wie ich es weiterhin auch tue.
Das AT bedingt einen selbsthypnotischen Zustand, der durch eine Serie von Übungen erreicht wird. Diese beginnen mit muskulärer Entspannung (daher die simplifizierende Etikettierung des AT als „Entspannungsmethode“). Diese muskuläre Entspannung kann an sich bereits nützlich sein (etwa bei den „Verspannten“, „Überstressten“). Wir glauben aber, dass das Wesentlichste am AT die Umschaltung zum Hypnoid ist. Mit allem, was in Kap. C1 dazu aus neurophysiologischer und psychologischer Sicht gesagt wurde. (Relaxation, vegetative Umschaltung, verstärkte Introspektion und Suggestibilität). Neben J. H. Schultz’s Grundlagenbuch + seiner rezenten Kurzversion als Übungsheft in vielfachen Neuauflagen seien einige rezente Bearbeitungen erwähnt: Wallnöfer 2002; Maria und G. Krapf 2004; Kraft 2004. Im Hinblick auf den hier angesprochenen fachkundigen Leserkreis und den allgemeinen Bekanntheitsgrad des AT sollen Grundlagen und Ausführung nicht ausführlich abgehandelt werden. Soweit die (Neuro-)Physiologie betroffen ist, darf auf vorstehendes Kap. C1 verwiesen werden. Zum AT aus tiefenpsychologischer Sicht sagt Sigrun Roßmanith (Artikel II): „Es führt zur Regression im Dienste des Ich und damit zur Wiederbelebung verinnerlichter Objektbeziehungserfahrungen, die die Basis für ein integriertes Selbst bilden und Schutzfunktion innehaben. – Schwere und Wärme sind frühe narzisstisch besetzte Körperempfindungen. Sie fungieren dabei als Katalysatoren der Regression.“ – Es werden also der analytischen Grundauffassung des Hypnoids als Regression (vergl. C2) noch einige zusätzliche Wirkungsmechanismen beigefügt. Bartl (III C3) sieht darin eine korrigierende emotionale Erfahrung, welche die narzisstische Homöostase wiederherstellen hilft. Er legt besonderen Wert auf das selbsttätige Üben ohne Vorsprechen, welches er für tiefergehend erachtet, durch Eröffnung neuer therapeutischer Zugänge für Patienten mit ätiologisch sehr frühen Störungen. – Da ich im Folgenden ein Autogenes Training mit Vorsprechen darstelle, mag Gelegenheit genommen werden zu betonen, dass durchaus eine Pluralität von Meinungen in der Integrierten Psychotherapie Platz findet. Aus logotherapeutischer Sicht spricht Sedlak von der „sinnzentrierten Entspannung“, indem er die dialogische Dimension des Autogenen Trainings hervorhebt: „Wer es gelernt hat im AT vom Ich zu lassen, wird sich immer besser auf das Du einlassen. Diese Öffnung nach außen ist notwendig, um die Beziehungsdynamik zwischen Individuum und Gesellschaft voll zu gestalten, aber kann auch von der Diade zwischenmenschlicher Beziehung zur Dialektik, zum Dialog und schließlich zum Dia-Logos vorstoßen“.
Folgend möchte ich jedoch einige Einzelheiten kurz beschreiben, welche ich in der – als erfolgreich ausgewiesenen – langjährigen Erfahrung mit dem Mo-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
dell der 2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit Autogenem Training verwendet habe. (D. Abb. 12a.) Es sind darin gewisse Modifikationen enthalten. Darf man modifizieren? J. H. Schultz war bis an sein Lebensende ein strenger Verfechter der „reinen“ Linie „seiner“ Methode (übrigens etwas, das er mit Freud gemeinsam hatte). Eine solche Einstellung ist wahrscheinlich am Beginn einer neuen Methode notwendig, damit diese nicht zerflattert. Aber ebenso wie aus der klassischen Analyse schon sehr unterschiedliche Methoden der analytischorientierten Kurztherapie geworden sind, darf ich es für durchaus legitim halten, wenn im Folgenden einige Änderungen am „klassischen“ AT dargestellt werden, die sich praktisch bewährt haben. Schließlich besteht ja der Fortschritt der Wissenschaft allgemein darin, dass auf alten Unterlagen Neues aufgebaut wird, diese alten Unterlagen immer wieder neu durchleuchtet und unter Umständen auch verändert werden. Es hat das nichts mit Respektlosigkeit zu tun, denn man kann sehr wohl annehmen, dass gerade jene bedeutenden Wissenschaftler, welche die Grundlagen gelegt haben, ebenso handeln, und nicht etwa auf dem Alten ausruhen würden, wenn sie heute lebten. Ich erinnere an den schon in A5 erwähnten Ausspruch Frankls: „auch ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen steht, sieht weiter als dieser“.
Die Induktion des Autogenen Trainings bedarf der in C1 angegebenen allgemeinen Regeln für die Induktion eines Hypnoids. Außenreizverarmung kommt durch die Formel „Ich bin ganz ruhig“ zustande, die Rhythmisierung durch das innerliche Wiederholen der autogenen Formel. Außerdem wirkt aber die muskuläre Entspannung zusätzlich zur Umschaltung ins Hypnoid (welches wir auch hirnelektrisch nachweisen konnten). Der Patient erlernt 6 Grundübungen und zwar 1 x wöchentlich jeweils eine neue Übung (im ersten Teil unserer 2-stufigen Gruppenpsychotherapie). Es handelt sich dabei um „Vorstellungsübungen“. D. h. der Patient soll nichts aktiv tun, sondern sich die Inhalte der Übungen intensiv innerlich vorsagen und dadurch vorstellen. Wenn es geht, wie es soll (und das ist bei fast allen Patienten so), spürt er dann das Vorgestellte. Im Anschluss an das 1 x wöchentliche Erlernen der Übung hat er den Auftrag täglich morgens und abends selbst zu üben. Dadurch kommt es zu einer Art vegetativer Automatisierung respektive Konditionierung, die das Ineinanderfließen der Übungen in einen trophotropen Grundzustand zum Ziel hat. Das wird normalerweise in 2–3 Monaten erreicht. Die Übungsformeln: • Erster Vorsatz: Rechter Arm ganz schwer, ich bin ganz ruhig, Daraus entwickelt sich eine muskuläre Entspannung (denn wir haben ja keinen eigenen „Entspannungs-Sinn“), die im rechten Arm beginnt und von dort ausgehend sich dann im Verlaufe der weiteren Übungen in den übrigen Extremitäten und dem ganzen Körper ausbreitet. (Sogenannte „Generalisierung“. • Zweiter Vorsatz: Rechter Arm ganz warm. Das kanalisiert eine Gefäßerweiterung. • Dritter Vorsatz: Herz schlägt ruhig und kräftig, kanalisiert ein In-sich-hineinschauen. Dieses wird fortgesetzt mit den folgenden beiden Übungen
C. Hypnoid und Suggestion / C4. Das Autogene Training (AT) als hypnoides Verfahren
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• Vierter Vorsatz: Atem fließt ganz ruhig. • Fünfter Vorsatz: Sonnengeflecht strömend warm. • Sechster Vorsatz: Stirn angenehm kühl. Bringt eine neue Dimension hinein.
Im Sinne des hohen Bekanntheitsgrades hätte ich die Übungsvorsätze nicht gebracht, würde sich daran nicht einiges an Modifikationen anschließen. Bei der lehrmäßigen Vermittlung des Autogenen Trainings in der ersten Hälfte der jeweiligen Gruppenübungsstunde, spreche ich die Vorsätze laut vor, nachdem ich sie erklärt habe, einschließlich dem, was dabei passieren soll. Wie schon gesagt, gibt es Pro- und Contra-Meinungen zum Vorsprechen beim AT. Folgend meine Überlegungen, warum ich mich dafür entschlossen habe. 1. Ich sehe keinen Gegensatz zum „Autogen“, wenn man einmal etwas vorspricht, das dann eine ganze Woche 2 x täglich allein – also völlig „autogen“ – gemacht werden soll. 2. Ein Vorteil ist, dass der Vorsatz so gebracht und dann auch so gemacht wird, wie wir ihn als optimal kennen. Erfahrungsgemäß hat sich gezeigt, dass die Patienten, wenn man sie von Anfang an völlig allein üben lässt, einiges Kontraproduktives machen, dazu gehört nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Rhythmus, die Zeit, wie lang sie es machen usw. 3. Es hat sich aber auch gezeigt, dass damit eine sehr rasche und gute Realisation der tatsächlichen Vorsätze erfolgt, die Patienten also meist schon beim ersten Mal das spüren, was der Realisation des Vorsatzes entspricht. – Die Puristen wenden dagegen ein: „Das ist eben Massenhypnose“. Ich würde darauf antworten: • Ich glaube kaum, dass man es als solche bezeichnen kann, • Wenn es aber eine solche ist und sie zu einem guten Erfolg führt, warum dann nicht?! 4. In der Arbeit mit Kindern (ich gehe später noch darauf ein) muss man praktisch immer vorsprechen.
Beim Vorsprechen verwende ich sprachliche Formulierungen, welche die einzelnen Übungen miteinander verbinden. Ich glaube, das ist im Sinne des AT, damit nämlich die Patienten merken, dass es nicht darum geht, akribisch und pedantisch eine Übung nach der anderen zu machen, sondern, dass die Übungen dazu da sind, dass alles zusammenfließt in einem hypnoiden Zustand. Bei Beginn der Wärmeübung sage ich „wir spüren gleichzeitig wie fließende und strömende Wärme im rechten Arm die Schwere von vorher noch verstärkt“. Bei der Herzübung sage ich: „Wir spüren, wie mit dem rhythmisch schlagenden Herzen der Blutstrom sich im ganzen Körper verteilt und dadurch das Schwere- und Wärmegefühl intensiver wird.“ Bei Schwierigkeiten das Herz spontan zu spüren (etwa bei der Hälfte der Patienten) kann das Pulsfühlen jene Anfangsschwierigkeiten überwinden helfen. Meist stellt sich die Herzsensation folgend bald direkt ein und das Pulsfühlen wird überflüssig. Bei der Atemübung sage ich: „Wir spüren den ruhig fließenden Atem, wie er sich mit dem Rhythmus des Herzens zu einem Lebensrhythmus verbindet.“ – Das ist keine Erfindung von mir, sondern es folgt dem, was sehr viele Übende im Laufe der Zeit an und für sich spüren und es erleichtert es ihnen, wenn man das sagt, weil manchmal beim Erlernen die beiden Rhythmen einander sonst gegenseitig stören. Bei der Plexusübung sage ich: „Es breitet sich die Wärme innerhalb der Leibeshöhlen aus und trifft sich mit dem von außen kommenden Schwere- und Wärmegefühl.“ Übrigens wurde
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
seinerzeit das Wort „Plexus“ deshalb gewählt, weil das Wort „Bauch“ als unfein galt. Jetzt ist das nicht mehr so und manche Leute können sich den Bauch viel leichter vorstellen als den Plexus. Bei Kindern nimmt man überhaupt von Anfang an „Bauch“. Die Stirn-Kühle-Übung rührt ursprünglich von Schultz’s psychiatrischer Kenntnis des feuchten Lappens her, den man unruhigen Geisteskranken im warmen Beruhigungsbad auf die Stirn legte. Manche Therapeuten lassen die Übung überhaupt weg (da sie aus dem Konzept der Schwere-Wärme-Bildung herausspringt, manchmal schwer zu realisieren ist und manchmal auch den übrigen Übungsablauf stört). Mir hingegen scheint die „Inhaltserfüllte“ Stirnübung besonders wichtig und ich vermittle meine „Bedeutungsgebung“ auch in meinem Vorsprechen, etwa: „Wir spüren die klare kühle Stirn, die über dem ruhigen, Schwere- und Wärme-durchfluteten Körper steht. Das zeigt uns, dass wir uns nicht ganz versinken lassen oder von irgendwelchen Formeln gesteuert werden, sondern dass darüber das eigene Ich und unsere klare Entscheidung steht.“ Es zeigt sich, wenn man dem AT so eine etwas höherwertige Bedeutung verleiht, als sie in 6-stündigen mechanistischen Kursen vermittelt werden kann, dass es auch viel stärker angenommen und wirksamer wird. Das ist analog zu dem bei RFB Gesagten (Abb. 16b), wo auch die Sinngebung der Entspannung zur besseren Patientenmitarbeit (Compliance) führt. – Vielleicht sprechen wir mit unserer Sinngebung der Stirnformel auch ein bisschen das unterversorgte mystische Bedürfnis unserer übermechanisierten Mitmenschen an.
Das detaillierte Abfragen über die Empfindungen jedes Einzelnen (z. B. „... wo genau im Arm tritt die Wärme auf?“ etc.) ist sehr wichtig, denn es erfolgt dadurch zu Beginn einer jeden Gruppenstunde eine gute Einstimmung und eine deutlich verstärkte Wirkung der einzelnen Vorsatzformeln. Gleichzeitig erfahre ich den Fortschritt im AT beim Einzelnen: Dieser ist natürlich in der Gruppe bei den verschiedenen Leuten verschieden. Aber auch wenn manche mit dem Realisieren der Empfindung etwas zurückbleiben, macht es gar nichts, wenn sie von Woche zu Woche mit den anderen die neue Übung mitmachen. Im Gegenteil, es ist manchmal so, dass bei solchen, die es mit einer Übung schwer haben, dann bei der nächsten Übung plötzlich jene „schwierige“ Übung von selber nachträglich mitkommt u. ä.
Wenn alle Gruppenteilnehmer die 6 Grundübungen gut realisiert haben (was üblicherweise innerhalb von 6–9 Wochen der Fall ist), schlage ich ihnen eine Vertiefung der Formeln vor. D. h. ich lasse sie je zwei der Formeln zusammennehmen und es lautet dann so: Erste Vorstellungsübung: „Rechter Arm, beide Arme, ganzer Körper schwer und warm, ich bin ganz ruhig“ (dies bezieht sich darauf, dass bei den meisten schon die „Generalisierung“ [d. h. Ausbreitung der Schwere- und Wärmesensationen über den ganzen Körper] stattgefunden hat). „Dazu erläuternd: Wir spüren den ganzen Körper Schwere- und Wärme-durchflutet, und ich bin ganz ruhig.“ Zweiter Vorstellungsvorsatz: „Herz schlägt ruhig und kräftig, Atem fließt ganz ruhig“. – „wir spüren wie die rhythmischen Funktionen unseres Körpers in einen Rhythmus zusammenfließen, der das Schwere- und Wärmegefühl noch verstärkt“. Dritter Vorsatz: „Sonnengeflecht strömend warm, Stirn angenehm kühl“ – Wir stellen uns jetzt ganz auf die polaren Funktionen unseres Körpers ein. Einerseits der Körper, der innen und
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außen von Schwere und Wärme durchflutet ist, ganz ruhig und gelassen. Darüber steht klar und kühl der Kopf, was uns anzeigt, dass wir weiterhin mit unserem Willen bestimmen können und sollen.
Mir scheint die bisher beschriebene Verkürzung der 6 autogenen Vorsätze auf 3 günstig • weil sie weitgehend das nachahmt, was sich bei den meisten nach mehrmonatigem Üben an und für sich einstellt und • weil die gesamte Vorstellungsformel dadurch intensiviert wird. Auf diesem Wege glaube ich (nach vielen verschiedenen Versuchen) raschestund bestmöglich eine gesamthafte vegetative Umschaltung zu erreichen und das so gut wie für alle Patienten. (Im Gegensatz zu einer fallweise auftretenden perfektionistischen Bestrebung alle Übungen für sich „möglichst gut“ zu machen.) Jenem gewissen Perfektionismus glaube ich auch dadurch entgegenzuarbeiten, dass ich nicht – wie manche Übungsleiter es machen – der Reihe nach erst den rechten Arm, dann, bei der nächsten Gruppenstunde, den linken Arm, dann bei der nächsten Stunde wieder die Beine vorstellen lasse, sondern immer nur den rechten Arm. Dabei lasse ich aber einfließen: wenn es sich ausbreiten will, so soll man es sich ausbreiten lassen. Das ist natürlich auch eine gewisse Suggestivwirkung, aber es ermöglicht die durchaus verschiedene Ausbreitung, nämlich einmal von einer Seite auf die andere, einmal halbseitig vom rechten Arm zum rechten Bein, einmal gleich auf den ganzen Körper (wie wir es im Abfragen verschieden mitgeteilt bekommen). Hier wird also wiederum eine gewisse Autogenität oder Autonomie gefördert.
Die Übungen werden durch das dynamisierende Zurücknehmen beendet. Es werden energische willkürliche Muskelaktionen gesetzt und auch willkürlich tief durchgeatmet. Dadurch kommt man aus dem trophotropen wieder in den ergotropen Zustand. Dieses Zurücknehmen hat unseres Erachtens auch wesentlichen eigenen therapeutischen Wert als Bestandteil des AT und ist nicht nur einfach ein Beenden der Versenkung. Ich sehe in jenem Eintauchen in den trophotropen Zustand, wie es beim AT geschieht, und dem energischen Wiederzurückkehren zur Ergotropie deshalb ein wesentliches Wirkprinzip, da es ja unseren gesamten Lebensrhythmus, der sich zwischen Trophotropie und Ergotropie abspielt, auf einen kurzen Zeitraum komprimiert und stimuliert. Gerade durch das vorangegangene tiefe Eintauchen in die Trophotropie scheint es möglich zu sein, dass bei der Rückkehr zur Ergotropie starke Energien frei werden. Es ist das, was ich „Dynamisierung“ nenne. Das ist auch wieder kein Theorem, sondern die vielfache Erfahrung bei Patienten (auch bei meinen Sportlern vergl. E3). Es wird als deutlicher Effekt angegeben und auch praktisch genutzt. Hingegen ist ein in einem „Halbzustand“, zwischen den beiden Polen Dahinpendeln, kontraproduktiv. Es ist eine Müdigkeit, die aber nicht zur Ruhe führt und eine Wachheit, die nicht
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
ganz wach und energisch ist. Dieser Zustand findet sich bei sehr vielen unserer vegetativ labilen Patienten und ich glaube gerade dort hat das AT daher einen wichtigen Platz. Ich teile diese Inhalte auch jeweils (natürlich in allgemein verständlicher Form) dem Patienten etwa in der Halbzeit ihrer Therapieperiode mit, vertiefe damit ihre Einsicht, gebe dem AT einen zusätzlichen Wert. Dadurch wird auch die Motivation zur konsequenten Patientenmitarbeit (Compliance) deutlich verstärkt.
Die Dauer des Übens im AT veranschlage ich mit 5–10 min. Beim neuen Erlernen der Übungen dauert jede Einzelübung länger. Wenn dann der Patient schon zu einer rascheren Gesamt-Umschaltung kommt, soll er die restliche Zeit entweder für seine persönliche Formel oder für das Meditieren (s. noch später) verwenden. Wenn die Gruppenteilnehmer alle Übungen erlernt haben, zeige ich ihnen auch die bei Schultz schon angegebenen Kurzformel zur Teilentspannung „Schulter-Nacken-Feld strömend warm“, die sie in akuten Situationen anwenden können, wobei dann auch die internalisierte Formel aus dem Unbewussten aufsteigen soll (Prüfungssituation, Chefsituation, Sportler vor dem Wettkampf [siehe E3] etc.). Man erklärt auch die Möglichkeiten, wie AT im Alltag recht praktisch anwendbar ist: • Terminerwachen. Der Patient gibt nach den AT-Formeln ein: „um so und so viel Uhr bin ich hellwach“. • Suche verlegter Gegenstände. Es wird in die hypnoide Versenkung gegangen und dann ins Unbewusste hineingefragt: „wo ist der und der Gegenstand.“ • Erfrischung und Alertness, wenn man diese gerade braucht. Ich schließe an die oben schon beschriebene „Dynamisierung“ an mit der Formel „nach dem Zurücknehmen bin ich ganz frisch und dynamisch“. Das kann zu prophylaktischen Ruhepausen, sei es beim Autofahren, sei es bei anstrengender Tätigkeit, sehr gut verwendet werden. • Gezieltes Meditieren (siehe noch folgend). Natürlich funktioniert all das keineswegs immer, aber doch in einer Vielzahl von Fällen und trägt dazu bei, den Wert des AT für die Übenden zu erhöhen und ihre Compliance zu stärken.
Neben jenen „Alltagsanwendbarkeiten“ kann es auch zu einer Reihe von vegetativen Wirkungen kommen: • Einschlafhilfe ist eine sehr häufige Wirkung des AT (näher dazu D2). • Der gute Einfluss auf störende Bluttiefdruckbeschwerden konnte schon beim „Dynamisieren“ erwähnt werden. Es werden aber auch günstige Erfahrungen mit Bluthochdruck berichtet, ebenso bei Verdauungsbeschwerden, auch Stoffwechselbesserung bei Diabetes. • Allgemein-Hilfe bei Störungen des Lebensrhythmus. Diese zeigen sich nicht nur beim Jetlag unserer Spitzensportler (E3). Unsere moderne Zeit ist allgemein immer stärker rhythmusgestört (Schichtarbeit, etc.). So kann das AT einen allgemein wesentlichen psychohygienischen Faktor darstellen. Deshalb sollen jene Wirkungen auch systematisch in unsere Anwendungsüberlegungen einbezogen werden.
C. Hypnoid und Suggestion / C4. Das Autogene Training (AT) als hypnoides Verfahren
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Man weiß heute, dass beständige Rhythmusstörungen ein echter pathogener Faktor sind. Moser erwähnt diesbezüglich vor allem deutlich höhere Krankheitsanfälligkeit bei Piloten und Nachtarbeiterinnen und hat experimentell nachgewiesen, dass kontinuierlich rhythmusgestörte Mäuse Krebs entwickeln. Es gibt über vegetative Wirkung des AT eine Vielzahl kasuistischer Mitteilungen, (wenn auch kaum Statistiken). In den diversen Mitteilungen werden auch verschiedene Formeln diesbezüglich angegeben. Es kommt dabei neben der Eigenwirkung im Rahmen der Übungen auch schon die zweite Funktion des AT zum Tragen, nämlich als Vehikel für weiterführende Psychotherapie. (Vergl. Abb. 11b und auch die Beispiele mit verschiedenen formelhaften Vorsatzbildungen in D4. Es wird dort deren Anwendung in unserer „2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training“ gezeigt, aber sie können in Einzeltherapie gleichermaßen angewandt werden.) Dabei ist darauf zu achten, dass nicht eine Formel, die dem Therapeuten gerade richtig und günstig erscheint, apodiktisch gegeben („übergestülpt“) wird, sondern sie muss ausführlich mit dem Patienten diskutiert und entsprechend seinem Feedback modifiziert werden. Weitere Einsatzmöglichkeiten des Autogenen Trainings mit Differenzierung seiner verschiedenen Möglichkeiten werden noch in E2 und E3 beschrieben. Es ist überdies mit anderen Hypnoidmaßnahmen kombinierbar, vor allem mit der Heterohypnose; bei Dentophobie – siehe Vorkapitel –, bei Schmerztherapie (G) und bei Rauchentwöhnung (C3). Hänni berichtet von der erfolgreichen Kombination von AT und Hypnose bei hämophilen Patienten. Es ergaben sich neben Besserungen in Wohlbefinden, „Nervosität“, etc. auch Besserungen betreffend Häufigkeit und Intensität der Blutungen. Es wird zwar nur über eine sehr kleine Zahl von Patienten berichtet, die bei der Stange blieben, aber immerhin scheint der Ansatz bemerkenswert. Wallnöfer berichtet über ein fruchtbares Aufdecken durch Gestalten nach dem AT. Das stimmt mit unserer Erfahrung der Förderung von Introspektion überein. (C1).
„Autogene Imagination“ ist eine psychotherapeutische Methodik, die nur dann angewandt werden kann, wenn der Patient die Technik der Autogenen Versenkung schon innehat. Früher nannte man es Oberstufe des AT. Auch J. H. Schultz hat es so genannt. Ich glaube, es ist aber völlig zurecht, dass man jene Bezeichnung verlassen hat, denn sie suggeriert, dass es sich dabei um a) etwas Besseres und Wichtigeres als das AT selbst handelt und b) dass es dessen natürliche Fortsetzung sein sollte. Beides ist nicht der Fall. Es ist – wie gesagt – eine Methode, welche zwar die Technik des Autogenen Trainings zur Voraussetzung hat, aber eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Übrigens wurde früher auch fallweise zwischen „Unterstufe“ des Autogenen Trainings und dessen „Oberstufe“ eine „Mittelstufe“ benannt. Es wäre das die Anwendung der formelhaften Vorsatzbildungen nach der technischen Erlernung der Grundübungen. Aber diese Bezeichnung ist heute weitgehend verlassen und unaktuell. (Meines Erachtens zu recht.)
Bei der Autogenen Imagination werden dem Patienten in der autogenen Versenkung Aufträge erteilt: Zuerst soll er seine Eigenfarbe finden, und dann kann man verschiedene Motive geben. Das Geschehene wird anschließend mit dem Patienten besprochen, entweder in der Gruppe oder einzeln. Das Verfahren hat also wesentliche Ähnlichkeiten mit der Katathymen Imaginations-Psychotherapie (F5). Der wesentliche Unterschied liegt aber darin, dass man dabei den Patienten alleine in seinen Imaginationen lässt und nur im Nachhinein diese und deren Bedeutungsgehalt
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
mit ihm bespricht. Die KIP hat dagegen den Vorteil (so sehe ich es zumindest), dass bei der Imagination im Hypnoid ein ständiger Dialog zwischen Therapeuten und Patienten stattfindet. Ich glaube, dass das wesentlich weiterführen kann und schneller zielführend ist als nur statisch imaginieren zu lassen und im Nachhinein mit dem Patienten darüber zu reden. Bartl (III) und Drees (VII) verwenden „Imaginationen in der Gruppe“, ebenso Kraft. Die Ergebnisse fließen dann in das weitere Gruppengespräch ein. Für derartige Gruppen-Anwendung ist (wiederum meines Erachtens) die Autogene Imagination besser verwendbar als das KIP. (Wenn es auch mit diesem [F5] gewisse Erfahrungen in Gruppenanwendung gibt).
Ich mache manchmal eine Anleihe bei der Autogenen Imagination. Ich nenne es Autogene Meditation. (Das entspricht übrigens auch der englischen Übersetzung durch Luthe, der ebenfalls von „autogenic meditation“ spricht.) Wenn der Patient (etwa in Einzeltherapie), die Übungen für das AT schon gelernt hat und gut in das Hypnoid eintritt, gebe ich ihm die Anweisung, nach der letzten Übung an das Unbewusste etwa folgende Frage zu stellen und darüber zu meditieren; „Was könnte ich besser machen um ...?“, „warum tue ich das?“, „wo liegt des Pudels Kern?“, „wie soll es weitergehen?“, übergehend in „welche Formel könnte mir in dieser Situation helfen?“ etc. Das was dabei herauskommt, kann man in der weiteren Therapie verwenden. Ich scheue mich nicht zu sagen, dass auch mir selbst diese Art der „Meditation im Autogenen Training“ in manchen kritischen Lebenslagen hilfreich war.
C5.
Das Autogene Training bei Kindern
C. Hypnoid und Suggestion / C5. Das Autogene Training bei Kindern
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Im Folgenden werden Eigenerfahrungen geschildert, die nicht nur einiges über das Autogene Training bei Kindern aussagen, sondern darüber hinaus auch zeigen, dass es • Auch bei hirngeschädigten Kindern funktioniert, • Bis in frühes Alter, selbst dort, wo die Sprachentwicklung noch nicht voll ist, • Welche therapeutische Wirkungen man dabei erwarten darf. In einem Marseiller Zentrum für Epilepsie-geschädigte Kinder (Centre Saint Paul) konnte ich im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes ein halbes Jahr Erfahrungen sammeln. Die Kinder waren je 10 in 5 Pavillons mit einem Erzieher stationär untergebracht. Ich konnte pro Wochentag in je einem Pavillon, mit Erzieher und Kindern gemeinsam, je eine weitere Übung des Autogenen Trainings vermitteln. Dass dabei das Vorsprechen obligat war, habe ich schon erwähnt. Man versuchte auch möglichst plastische und Kindheits-adäquate bildhafte Vorstellungen zu entwickeln. So etwa bei der Sonnengeflechtsübung: „Du hast eine kleine Sonne im Bauch und die strahlt nach allen Seiten“. Die Kinder sprechen sehr gut an, denn sie sind ja Märchen- und Wunder-gläubig und haben noch nicht das rationale Zweifeln der Erwachsenen gelernt. Es zeigte sich auch, dass ganz junge Kinder, die noch gar nicht ordentlich der Sprache mächtig waren, durch das gruppenmäßige Mitmachen das Autogene Training sehr gut erlernten (was wir jeweils durch das Elektroenzephalogramm überprüfen konnten [vergl. das in C1 über die Neurophysiologie des Hypnoids Gesagte]). Die Erzieher machten das Autogene Training mit den Kindern anschließend 2 x täglich und die folgenden Bemerkungen über die Wirksamkeit stammen von den Sozialpflegern und Pflegerinnen, den Sonderschullehrernund Lehrerinnen.
• Der eindrucksvollste und am raschesten eintretende Effekt war die Hilfe zum Einschlafen. Eine Betreuerin: Vor Anwendung des AT hatte es immer Mühe gekostet, die agitierten (großteils hirngeschädigten) epileptischen Kinder zu Bett zu bringen. Es gab immer viel Geschrei und Schlägerei. Nun herrschte nach den abendlichen Übungen immer Ruhe. Die meisten Kinder glitten sofort anschließend in den Schlaf und manche, die noch länger wach blieben, lagen ruhig und störten die anderen nicht.
• Auch tagsüber zeigte sich ein wesentlich bessernder Einfluss auf das Zusammenleben in der Gruppe. Eine Sonderschullehrerin machte vormittags gegen 11 Uhr, in der Zeit, wo sich sonst die Agitiertheit derart steigerte, sodass mit den Kindern nichts mehr anzufangen war, eine kurze Pause mit AT und konnte dann mit einer beruhigten Klasse bis mittags weiterarbeiten. Eine Erzieherin berichtete: zu keiner gemeinsamen Tätigkeit kann ich sonst die Gruppe bringen, ohne dass sich einige ausschließen oder stören. Nur zum AT kommen sie alle einmütig.
• Im Einzelnen zeigte sich der stabilisierende Effekt vor allem bei agitierten und aggressiven Kindern im Sinne der Dämpfung und auch dadurch, dass sie weniger empfindlich gegenüber den Neckereien der anderen wurden.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Der schöne Traum, dass die epileptischen Anfälle davon weniger oder besser beherrschbar würden, traf nicht ein. Es zeigte sich vielmehr im EEG eine verstärkte auf Epilepsie hindeutende Aktivität, als Ausdruck der bei der Neurophysiologie beschriebenen verstärkten Synchronisationstendenz in hypnoiden Zuständen. Das blieb aber ein rein hirnelektrischer Ausdruck ohne etwa Anfallsvermehrung zu bedingen (sonst wäre natürlich die Methode unbrauchbar gewesen). • Die erstaunlich gute Wirkung beim Zahnarzt wird in Kap. E2 noch näher beschrieben. Nach unserer Erstbeschreibung des Autogenen Trainings mit hirngeschädigten Kindern hat auch Waltraud Kruse monographisch das AT bei Kindern thematisiert. Sie nützt es pragmatisch in einer komplexen Psychotherapie und kombiniert mit Zeichnen, mit Elementen des Psychodramas etc. Sie beteiligt die Eltern stark am psychotherapeutischen Programm. Von Schenk gibt es ebenfalls eine kleine Monographie darüber. Er kombiniert auch mit Elementen aus der katathymen Imaginationstherapie.
Zusammenfassung zum Autogenen Training (AT) Es schien mir besonders wichtig hervorzuheben, dass das Autogene Training mehr als eine Relaxation ist. Es stecken große, psychotherapeutisch gut verwertbare Möglichkeiten darin, die sich aus einer komplexeren Betrachtung des Autogenen Trainings ergeben. Körperlich scheint mir der Eingriff ins Vegetativum bei der hypnoiden Umschaltung das Wichtigste am Autogenen Training, zusammen mit dem „Dynamisieren“. Wir führen damit den unser ganzes Leben dirigierenden Wechsel zwischen Trophtropie und Ergotropie gezielt herbei und können schon dadurch manches erreichen, denn jener biologische Rhythmus wird durch unsere „Schöne neue Welt“ (Huxley) vermehrt gestört. Die schon beim Hypnoid allgemein genannten wesentlichen Komponenten des Autogenen Trainings (C1, Abb. 11b), die muskuläre Entspannung, die Förderung der Introspektion und die Förderung einer Empfänglichkeit für heilsame Suggestionen können wir in einer gezielten und durchdachten Weise psychotherapeutisch verwenden. Es wurden hier schon einige Möglichkeiten der praktischen Nutzanwendung besprochen; Weitere sollen noch im Kap. D2, im Rahmen unserer 2-stufigen Gruppentherapie, aufgezeigt werden.
Wir sehen somit eine doppelte Wirkung des AT: • Einerseits Psychotherapie an sich (vegetative Umschaltung von Ergo-
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D1. Methodenkombination allgemein
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tropie zu Throphotropie und wieder zurück) + muskuläre Entspannung; dadurch Stressabschirmung und Abschirmung gegen äußere Reize, • Anderseits ein Vehikel für weitergehende Psychotherapie (Förderung der emotionalen Einsicht und Anwendung formelhafter Vorsatzbildungen, gezielte Organbeeinflussung). AT ist auch bei Kindern eine (sogar sehr) gut anwendbare Psychotherapieform. Für den Ausbildungskandidaten gilt es als obligat, dass er bei mindestens 2 verschiedenen Tutoren das Autogene Training mitgemacht, damit also unterschiedliche Gesichtspunkte und unterschiedliche Methodik kennengelernt hat.
D.
2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training
Schlagwort-Information Diese Psychotherapie-„Modell“ wurde von uns eingeführt und hat sich über viele Jahre besonders bewährt. Die psychotherapeutischen Wirkungen des Autogenen Trainings einerseits und der therapeutischen Gruppe anderseits, potenzieren sich wechselseitig. Besonders günstig hat es sich in der Rehabilitations- und Senioren-Psychotherapie gezeigt. Aus Erfahrung mit langjähriger Erfolgsstatistik lässt sich jenes Konzept für die Praxis besonders empfehlen.
D1.
Methodenkombination allgemein
Unser Postulat in der integrierten Psychotherapie (Abb. 1) „Patienten-zentriert statt Schul-zentriert“ öffnet auch den Weg zur Kombination mehrerer Methoden. Derartige Kombinationen sind selbstverständlich. Kein vernünftiger Arzt wird etwa bei Ischias sagen: „man muss entweder medikamentös behandeln oder physikalisch“. Vielmehr führt oft das Zusammenwirken dieser Therapiewege erst zu einem therapeutischen Durchbruch. Auch bei
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Depressionen herrscht zunehmend die Ansicht, dass Psychotherapie und Pharmakotherapie in gleichzeitiger Anwendung einander nicht nur ergänzen, sondern auch verstärken (B3). Es gibt verschiedene Möglichkeiten sinnvoller Kombinationen mehrerer Psychotherapiemethoden miteinander. Erwähnt seien Gruppentherapie + Einzeltherapie; AT + Hypnose; Bewegungstherapie + Entspannungstherapie etc. Darüber soll aber hier nicht im Einzelnen gesprochen werden.
Wenn man aber kombiniert, ist es wichtig, sich genau Rechenschaft zu geben, was man von der einzelnen Maßnahme zu erwarten hat und was die Kombination mehrerer Maßnahmen bringen kann, nämlich: • Additiv bessere Wirkung durch Summation. • Bessere Wirkung durch Potenzierung; also zwei Methoden wirken gemeinsam besser als nur die Summe ihrer Wirkungen. Es ergibt sich eine neue gesamtheitliche positive Wirkungsqualität. • Schließlich natürlich auch Inkompatibilität. Also wechselseitige negative Beeinflussung der kombinierten Methoden.
D2.
„Unser Modell“ im Einzelnen
Wir haben das Modell der 2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training inauguriert und über Jahre erfolgreich verwendet. Es hat eine günstige Zeit-Nutzen-Relation und ist einfach anwendbar. Es könnte jedoch in der heutigen schulzentrierten Psychotherapieausbildung leicht weitgehend verloren gehen, da es zwischen zwei „Schulen“ steht, nämlich der Gruppendynamik und dem Autogenen Training. Das schiene mir wegen der einfachen Praktikabilität, hohen Effizienz bei relativer Ökonomie besonders schade. Abb. 12 gibt schlagwortartig einige Kriterien des Kombinationsmodells wieder, insbesondere auch dessen langjährige systematische Auswertung. Bemerkenswert ist die besondere Eignung für das Alters- und Rehabilitationskrankengut, welches einerseits ständig zunimmt, anderseits psychotherapeutisch relativ unterbelichtet ist. (Einzelheiten darüber noch folgend.) Als ich als junger Assistent in den 60er Jahren erstmalig an einem Klinikabend über „Gruppentherapie plus Autogenes Training“ berichtete, wurde mir von den Altgedienten entgegen gehalten: „Das geht doch nicht. Wie will man denn eine aufdeckende mit einer zudeckenden Methode
*) Jene Betrachtung von „aufdeckend“ und „zudeckend“, welche damals allgemein üblich war, stammt von Freud. Es wurde von ihm (und seinen Nachsprechern) offensichtlich nur die eine Möglichkeit der Hypnose beachtet, nämlich die der relaxierenden Sedierung, Beruhigung und suggestiven Beeinflussung von Symptomen, ohne auf deren Hintergründe einzugehen; nicht aber die andere wichtige Möglichkeit: in Hypnose durch verstärkte Introspektion und Suggestion auch wesentlich tiefer „an der Wurzel“ einzugreifen.
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D2. „Unser Modell“ im Einzelnen
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verbinden!“*) Zwar werden derartige Argumente heute kaum mehr gebraucht, aber die von mir näher definierten und dargestellten Wirkungen des AT (Abb. 9b und c) sind auch jetzt noch keineswegs voll bekannt, speziell die verstärkte Introspektion, welche durchaus auch tiefenpsychologische Erkenntnisse kanalisieren kann. Allerdings kommt es darauf an, ob man das AT nur als Relaxationsmethode („Psychovegetativ-Gymnastik“) verwendet, oder, um die darin steckenden zusätzlichen psychotherapeutischen Möglichkeiten zu verwenden, also das AT als Vehikel für weiterführende Psychotherapie. In unserem Modell werden wir zeigen, wie dazu Gruppengespräche plus darauf aufbauend formelhafte Vorsatzbildung angewendet werden (vergleiche E2 mit Abb. 17). Alle dort angeführten AT-Wirkungen kommen zum Tragen, neben der schon erwähnten verstärkten Introspektion auch die verstärkte Suggestibilität.
Methodik und Ergebnisse Wir führen über etwa 7 Monate eine Gruppentherapie, je 1 x wöchentlich etwa 2-stündig, (also 20–25 2-stündige Sitzungen). Das zeigte sich einerseits als lang genug um psychotherapeutisch Relevantes zu bewirken, anderseits als kurz genug um in einer sozialen Medizin ökonomisch machbar zu sein, schließlich auch im Sinne der allgemeinen Jahreseinteilung (Herbst bis Sommer) „physiologisch“. Darin wird 1. das AT lehrmäßig vermittelt, wie vordem schon besprochen (C4). Laut der folgend erläuterten verschiedenen Ausrichtung von Gruppentherapien kann dieser erste Teil auch als eine Art „Aktivitätsgruppe“*) zum Erlernen des Autogenen Trainings aufgefasst werden. 2. Kommt es zu einem Gruppengespräch, welches in der ersten Verlaufshälfte (also etwas über 12 Stunden) streng nondirektiv geführt wird.*) 3. Etwa nach der Hälfte der Serie von Gruppensitzungen verwenden wir die psychodynamisch wesentlichen Faktoren, welche im Gruppengespräch herausgekommen sind, zur Bildung formelhafter Vorsatzbildung.*) Diese geben wir nicht nur vor, sondern lassen sie ausführlich in der Gruppe diskutieren. Dabei muss der Gruppenleiter wieder eine etwas direktivere Rolle einnehmen. 4. Unsere Gruppen waren weitgehend inhomogen*). Die Kombination von Patienten mit psychogenen und somatogenen Störungen konnten wir mehrfach als Ausgangspunkt zu wesentlichen Lernprozessen sehen. 5. Etwa in der Halbzeit (also etwa 10. Sitzung) stellen wir den Patienten frei, die Gruppentherapie fortzusetzen oder damit aufzuhören (nähere Erklärung dazu in D3). Da sich üblicherweise die Gruppe dann halbiert, hat es sich manchmal bewährt, bei der Weiterführung 2 Gruppen zusammenzulegen.
*) Nähere Erläuterung folgt noch.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
2-stufige Gruppen-Psychotherapie mit integriertem Autogenen Training a)
Jeweils etwa 7 Monate / geschlossene Gruppe / einmal wöchentlich 2 Std. AT + Gespräch / Alternierende Führung / Psychogene + Somatogene 224 Patienten Eine 7-Jahres-Serie mit Wöllersdorfer Eine 9-Jahres-Serie mit Baghaei Yazdi 2/
gute Erfolge Besonders gutes Ansprechen: Senioren, Rehabilitations-Patienten
b)
Abb. 12
3
Diagnose
n
+
±
–
1. Kompfschmerz
24
12
6
2
2. Sonst. Schmerzsy ndrom
7
4
3
–
3. Schlafstörungen
5
5
–
–
4. Exogene Belastungs-Situation
9
6
1
2
5. Subdepressiv
14
5
7
2
6. (Alters-)Rehabilitation
31
8
2
–
Summe
90
40
20
6
a) Bei unserer „2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training“ zeigte sich an zwei unabhängig voneinander ausgewerteten Patientenkollektiven ungefähr das gleiche Ergebnis von 2/3 gutem Erfolg. Besonders zu beachten ist das günstige Ansprechen der Senioren und das günstige Ansprechen der Somatogen-Gestörten (Neuro-Rehabilitationspatienten). Näheres dazu in Kap. F2. b) Von Baghaei Yazdi erfolgte an einem beschränkten mehrjährigen Patientenkollektiv die Auswertung nach Diagnosen. + bedeutet sehr guter bis guter Erfolg, + bedeutet mäßiger bis fraglicher Erfolg, – bedeutet negativer Erfolg einschließlich Therapieabbrüchen. Nähere Besprechung im Text.
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D2. „Unser Modell“ im Einzelnen
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Bei denen es dann hauptsächlich um Aussprache ging, eventuell in autogenen Formeln ausmündend. AT wurde als jeweils zeremonieller Gruppenbeginn gemacht. Wichtig ist es, dass die beiden Gruppenteile – AT-„Lehre“ (etwa erste halbe Stunde) und selbst-wirkende Gruppendynamik (etwa die folgende Stunde) – scharf voneinander abgetrennt werden. Sonst kommt nämlich ein Durcheinander heraus, das weder eine ordentliche lehrmäßige Vermittlung des AT noch eine ordentliche Gruppendynamik zulässt, weil immer wieder der Gruppenleiter als Alpha auftritt. Wenn während der Übungszeit des AT Probleme des Patienten zur Sprache kommen (was relativ oft geschieht), bitte ich sie dann später im Gruppengespräch vorzubringen und setze meine „Lehrtätigkeit“ im Autogenen Training fort. Kommen im Gruppengespräch Fragen über AT (was wesentlich seltener vorkommt), so verweise ich den Patienten auf die nächste Stunde, wo am Beginn ja gesamthaft darüber gesprochen wird. Dadurch wird gewährleistet, dass in der folgenden Gruppenaussprache eine doch weitgehende Nondirektivität des Gruppenleiters etabliert werden kann. (Diese ändert sich in der Periode der formelhaften Vorsatzsuche neuerlich wieder. Darauf wird noch eingegangen.)
Es hat sich uns die „alternierende Gruppenleitung“ bewährt. Nicht nur, dass sie praktisch für Urlaubs- oder Krankheitsabwesenheiten ein Vorteil ist, hat sich auch gezeigt, dass durch die Unterschiedlichkeit der beiden Gruppenleiterpersönlichkeiten manche Gruppenmitglieder respektive manche Probleme leichter und besser bei dem einen Gruppenleiter zur Aussprache kommen und manche bei dem anderen. Eine überstarke Fixierung auf den Gruppenleiter, wie es bei Freud (siehe IV) als Übertragungsneurose bezeichnet wird, fällt weg. Auch ist damit eine gute Form der didaktischen Weitergabe der Gruppentherapie gegeben, die wir für wesentlich günstiger halten, als etwa die rein passive Ausbildungskandidatenteilnahme über Einwegscheiben oder als schweigender Co-Therapeut. Natürlich muss man bei alternierender Gruppenführung speziell darauf achten, dass nicht die Patienten einen Therapeuten gegen den anderen „ausspielen“: „Bei Ihnen war es viel interessanter …“. Sondern man muss derartige Gruppenreaktionen klar sehen und unter den alternierenden Gruppenleitern besprechen. Der Gruppenablauf muss gut protokolliert und vor der nächsten Gruppe besprochen werden, damit keine Unterbrechung in der Kontinuität der Gruppe entsteht. Aus dem Protokoll entsteht auch die jeweils bei Ende der Gruppentherapie (von Beginn der Sommerferien) zu erfolgende Eintragung des Verlaufes einzelner Gruppenmitglieder in deren Individualkrankengeschichte. Wenn dann der Patient nach einigen Jahren wieder in die Ordination kommt, kann man nachsehen, was sich bei ihm in der Gruppe abgespielt hat.
Das Protokollieren der Gruppensitzungen ist somit bei der alternierenden
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Gruppenführung unabdingbar, wird von mir aber auch bei Einzelgruppenführung gemacht. Ich wurde manchmal in den didaktischen Gruppen (aber nur in diesen, denn der Patient zerbricht sich nicht den Kopf über irgendwelche methodischen Fragen) gefragt, ob das die Patienten nicht stört. Ich habe davon niemals etwas bemerkt, aber es ist natürlich notwendig, dass man von vornherein erklärt: Man protokolliert nur um die Kontinuität und die Information über den Patienten festzuhalten, nicht etwa um dann aus dem Protokoll hinterher weise Ratschläge zu geben. Denn diese sollten von der Gruppe selbst und in der Gruppe selbst erfolgen. Manche Psychotherapeuten meinen, dass das Protokollieren die „freischwebende Aufmerksamkeit stört“. Ich bin nicht dieser Meinung. Auch eine exakte Aufschlüsselung und Erfolgsbeurteilung wie sie mehrfach in dem vorliegenden Artikel figuriert wäre ganz unmöglich gewesen, ohne ordentliches Protokollieren. Schließlich sind solche klaren Aufschlüsselungen mit daraus resultierenden Aussagen die Basis für Weiterentwicklung jeder Methode und last but not least auch für die Beurteilung beim Kostenträger. Ich glaube, die Psychotherapie braucht das in zunehmendem Maße, um sich im sozialen Rahmen gegenüber den anderen Medizinsparten behaupten zu können. 12b weist in jene Richtung. Überdies kann sich kein Mensch über mehrere Jahre die Einzelheiten aller Patienten merken. Wenn man aber kurz nachschauen kann, was vorher war, ist es bei späteren Konsultationen (sei es in der Gruppe oder einzeln) nicht nur hilfreich, sondern erhöht auch die Qualität der Psychotherapie. Es wird darauf hingewiesen, dass alle Patienten in unserer spezialisierten Abteilung komplett durchuntersucht und diagnostiziert waren, insbesondere erhielten sie aber auch die diversen übrigen therapeutischen Möglichkeiten, die ihrem Krankheitsbild entsprachen (im Sinne des Prinzips unserer „integrierten“ Psychotherapie), also physiotherapeutisch, medikamentös etc. Die Gruppentherapie wurde zusätzlich gegeben und auch die Bewertung bei gleich bleibender sonstiger Therapie vorgenommen, sodass es sich hier um eine begleitende (neudeutsch: „add on“) Gruppenpsychotherapie handelt. Es liegen (natürlich) zwischen den einzelnen Diagnosegruppen Übergänge und Kombinationen vor. Bei der Auswertung wurde das Vordergründige herausgezogen. Zu den Diagnosen in Abb.12b ergeben sich folgende zusätzliche Bemerkungen. ad 1. Die Kopfschmerzen werden in Kap. G2 näher besprochen. Sie müssen differenziert betrachtet werden, da verschiedene Kopfschmerzformen sehr unterschiedlich ansprechen. ad 2. Sonstige Schmerzsyndrome im Kap. G3. ad 3. Schlafanstoßung durch das AT wurde schon erwähnt. Typisch ist, dass die schlafanstossende Wirkung bei den Patienten, welche wegen Schlafstörungen kommen, meist länger bis zum Eintritt dauert, als bei Patienten, die wegen anderen Symptomen kommen und die schlafanstoßende Wirkung nebenbei bemerken. Man muss also die Patienten mit Schlafstörungen zu Geduld ermutigen, hat aber dann meist guten Erfolg. ad 4. Unter den exogenen Belastungssituationen fanden sich vor allem Krisen mit Partnern und Krisen am Arbeitsplatz (häufig knapp vor der Pensionierung). ad 5. Unter subdepressive Patienten fallen vor allem Patienten mir einer depressiven Entwicklung in der Rehabilitation und auch Senioren in den verschiedenen altersbedingten Problemsituationen, vor allem Vereinsamung. ad 6. Betrifft nur spezielle Altersrehabilitationspatienten. Eine Aufschlüsselung aller Patienten nach Altersgruppen wurde nicht vorgenommen. Jedoch wissen wir aus der allgemeinen Erfahrung, dass die in Abb. 12b ausgesprochene günstige Wirkung auf Alterspatienten vorliegt. (Kap. F1 und F2 gehen auf Seniorentum und Altersdepression näher ein.)
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D3. Gruppendynamik – Gruppentherapie
D3.
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Von der Gruppendynamik zur Gruppentherapie
Hofstätter (zit. nach Wellhöfer) sieht mehrere Möglichkeiten wie „Menschen im Plural“ zueinander stehen können: Menge, Klasse, Familie, Gruppe, Masse und Verband. Damit aus der wechselseitig anonymen Masse (Beispiel: Menschen in der Straßenbahn) eine Gruppe wird, müssen • Möglichkeiten sein, miteinander zu kommunizieren, anhand gemeinsamer Motivation. Besonders stark motiviert der „gemeinsame Feind“. Das spielt in bestimmten Therapiegruppen eine wichtige Rolle, so: • Bei Alkoholikern der Alkohol. • Bei den Weight Watchern das Übergewicht. • Bei anderen Süchtigen die Tablette oder der „Stoff“. Aber auch in der politischen Großgruppenmotivation hat der gemeinsame Feind immer eine wichtige (vielfach verheerende) Rolle gespielt. Dazu müssen die „gemeinsamen Feinde“ möglichst schwer definierbar, anonym und weit entfernt sein, damit man sich möglichst viel Böses darunter vorstellen kann: So bei Hitler das Weltjudentum; im Kapitalismus der böse Kapitalist; im Balkan-Krieg der etnisch Andere, etc.
Weitere Motivationen (oder wie ich es nennen möchte) „Gruppenkit“ sind gemeinsame Interessen (Trainingsgruppen z. B.), gemeinsamer Vorteil, gemeinsame Not, gemeinsame Aufgaben, etc. Bevor die „eisernen Vorhänge“ fielen, war es für mich auffallend, wie dort die Leute zusammenhielten und gegenseitig hilfsbereit waren. Es bestand „gemeinsame Not“. Mit dem West-Ost-Vormarsch des Wohlstandes hat dieses wechselseitige Füreinander-Einstehen drastisch abgenommen und nimmt weiter ab (als bedauerliche Nebenerscheinung des Wohlstandes). Ein weiteres (positiv bedeutsam gewordenes) Beispiel für Gruppendynamik ist die sogenannte „KZ-Kameradschaft“. In den grausamen Konzentrationslagern Hitlers waren Kommunisten, Sozialdemokraten und Christlich-Soziale zusammen inhaftiert und litten unter gemeinsamer Not und gemeinsamem Feind intensivst und hautnah. In der ersten Nachkriegszeit Österreichs saßen dann Vertreter jener 3 Parteien mit gemeinsamer KZ-Vergangenheit nebeneinander in der Regierung und konnten trotz aller politischer Differenzen ausgezeichnet miteinander umgehen. Das war mit ein Grund für den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg. Man zerfledderte sich nicht in internen Parteistreitigkeiten. Nach Aussterben jener KZ-Generation in der Regierung wird nun wieder viel munterer und rücksichtsloser miteinander gestritten! „Konsenspolitik“ ist zum Fremdwort geworden.
Gewisse gesetzmäßig auftretende Rangordnungen in einer Gruppenstruktur, die dann auch in der Therapie eine Rolle spielen, hat Schindler festgestellt und mit den griechischen Buchstaben „Alpha“, „Beta“, „Gamma“, „Omega“ bezeichnet. Alpha bezeichnet den Führungstyp, Omega den am unteren Ende der Hierarchie rangierenden, Gamma sind die Gruppenmitglieder ohne spezielle Positionen in der Hierarchie, und Beta ist
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
der Spezialist, der in irgendwelchen Spezialgebieten, die gerade zur Sprache kommen, viel weiß und dann kurzzeitig zu Alpha wird. Das Wesentliche an der menschlichen Gruppe ist, dass die Positionen je nach Verlauf der Gruppendynamik wechseln können. Im Gegensatz dazu sind sie in der Tiergruppe immer gleich bleibend. (Natürlich bis dann etwa der Rudelführer aufgrund von Alter und Schwäche hinausgebissen wird und ein anderer seine Stelle einnimmt. Aber es kann nicht von Mal zu Mal wechseln). In jener Flexibilität der Rollen in der Gruppe, glaubt Schindler auch eine therapeutische Möglichkeit zu sehen. Jene Positionierungen sind natürlich nur Modelle, ohne immer 100%-ig zu stimmen (ebenso wie ja die Reihung „Es“, „Ich“, „ÜberIch“. Auch nur ein psychoanalytisches Modell darstellt, welches aber aus der Praxis gewonnen ist und durchaus reale Bezüge hat).
Der Mensch ist von Natur aus zum Leben in der Gemeinschaft ausgestattet, ein Gemeinschaftswesen (zoon politikon). Schon die Urmenschen lebten in Horden. Die Forschung über Gruppendynamik hat diverse Gesetzmäßigkeit innerhalb der menschlichen Gruppierungen durchleuchtet. Die Gruppentherapie versucht diese Kenntnisse therapeutisch zu verwerten. Die ersten Anfänge von Heil-Behandlungen in Gruppen reichen bis ins Altertum zurück. Das was wir heute als Gruppentherapie bezeichnen, hat mit Moreno begonnen, der mit Kindergruppen in Wiener Parks Stegreif-Theater spielte. Nach Battegay hat die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und danach viel zum Einzug der Gruppentherapie in die Medizin beigetragen, weil es für größere Menschenkollektive (vor allem in den Armeen) nicht möglich war, jeden einzeln zu betreuen. Neben dem großen Vorteil der Zeitökonomie sind jedoch alle damit Befassten einig, dass die Gruppentherapie nicht nur eine Summe von Einzeltherapien ist, sondern sich spezielle therapeutisch-wirksame Kriterien aus der Gruppensituation und der Gruppendynamik ergeben. Moreno sieht das Wesentlichste in der zwischenmenschlichen Begegnung im Hier und Jetzt. Dadurch würde die Integration des Individuums gegenüber den umgebenden unkontrollierten Kräften gefördert und ebenso die Integration in die Gruppe. Die Möglichkeit des Entstehens einer Miniaturgesellschaft respektive einer Miniaturfamilie sei wichtig. Battegay war einer der wesentlichen Mitgestalter der Gruppentherapie im NachkriegsEuropa. Er sieht folgende wesentliche Verstärkerwirkungen aus der Gruppe: Durch die Reaktion der Übrigen ist es dem Einzelnen möglich, ein klareres Bild über sich selbst zu finden, oder in der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt: Eine realitätsgerechtere Selbstrepräsentanz zu entwickeln. Selbstverwirklichung kann auf dem Weg über das „Wir“ zum „Ich“ gefunden werden. Der entstehende Mikrokosmos gibt Gelegenheit zum Üben. Tschuschke hat in seinem 2001 herausgegebenen großen Überblicksbuch mehrere gängige Aufzählungen der wirksamen Faktoren für die Gruppentherapie (bis zu 13) von Gruppentherapeuten einander gegenübergestellt, von denen ich mich jedoch mit keiner ganz identifizieren kann (siehe folgend).
In unserer heutigen Zeit scheint die Gruppentherapie deshalb besonders wesentlich zu sein und noch wesentlicher zu werden (übereinstimmend mit Battegay), weil sie der Vereinsamung entgegenwirkt, die den Einzelnen in der heutigen Gesellschaft verstärkt bedroht. Denn wir leben in einer Zeit der immer mehr zunehmenden Isolation, die gegenläufig ist zu dem (wie gezeigt) seit der Urhorde programmierten Gruppenleben der Menschen.
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D3. Gruppendynamik – Gruppentherapie
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Es ersetzt beispielsweise der Einzelblechkäfig „Auto“ das Massenverkehrsmittel, in dem man streiten, aber auch Beziehungen anbahnen kann (ich kenne Ehen aus Eisenbahn-, ja sogar aus Straßenbahnbekanntschaften). Dem Fernsehen messe ich einen gewissen Wert für einsame alte Menschen zu. Im Allgemeinen ist es aber ein Kommunikationstöter in der Familie, besonders für Kinder der Eigenkreativität entgegenstehend. (Wo werden in den Familien noch Spiele gespielt? Wo etwa Bücher vorgelesen und diese besprochen?) Sogar das sicher begrüßenswerte Laufen in der Natur wird durch Musikverstöpselung der Ohren in einem isolierten Eigenraum durchgeführt, etc. etc. Das in Abb. 12 gezeigte besonders gute Ansprechen der Senioren auf Gruppentherapie betrifft eine Menschengruppe, die nach dem Ausfliegen der jungen Leute und dem Verlust der beruflichen Identität besonderer Gefahr der Einsamkeit ausgeliefert ist. (F2).
Im therapeutischen Kontext wurden und werden verschiedene Gruppenschemata („Settings“) angewandt. • Die offene Gruppe wird z. B. im Kurort oder Krankenhausbetrieb geführt. Teilnehmer sind alle Patienten, im Rahmen ihres Aufenthaltes. Diese fluktuieren also mit den Gruppeneinund Austritten. Das hat den Vorteil, dass jeder der Anwesenden bei der Gruppe mittun kann. Es hat den Nachteil, dass sich nie eine stärkere Gruppenintimität ausbilden kann. Es muss daher auch diese Gruppe stark Leiter-zentriert sein. – (Leiter-zentrierte Gruppen sind solche, wo der Gruppenleiter relativ aktiv ist, Themen vorgibt, deutet, interpretiert und das Gruppengespräch in der Art eines Diskussionsleiters führt). Demgegenüber gibt es • Nondirektive Gruppen (wo der Leiter sich möglichst wenig selbst einbringt und die Gruppe möglichst eigenständig ihre Dynamik entwickelt), hat meines Wissens Guggenbühl-Craig als erster im deutschen Sprachraum monographisch dargestellt. Langen hat in der ersten deutschsprachigen Publikation über Gruppentherapie und in seinem späteren Wirken ebenfalls die extrem nondirektive Gruppentherapie forciert. Ich halte die (auch) gebräuchliche Bezeichnung „passive Gruppenleitung“ für irreführend. Denn auch wenn der Leiter nichts sagt, kann die Gruppe nur funktionieren, wenn er sehr aufmerksam dabei ist. Blickkontakt, Mimik und Bewegungen sind sehr wesentlich. In der nondirektiven Gruppenführung kann man viel weniger falsch machen, als bei vorzeitigem oder unzutreffendem Interpretieren (das habe ich auch meinen Teilnehmern an didaktischen Gruppen immer gesagt). Keineswegs soll das aber die einzige Begründung für die nondirektive Gruppenführung sein. Es ist nämlich erstaunlich, was sich alles aus der Gruppe spontan herauskristallisiert, woran man als Gruppenleiter (wenn man etwa eine Interpretation überlegt) nie gedacht hätte und das durch eine Intervention untergegangen wäre. Nondirektive Gruppen kommen vor allem bei den sogenannten • Geschlossenen Gruppen in Frage, entsprechend „unserem Modell“. Es sind das solche, wo in einem bestimmten Zeitraum (wie bei uns: etwa 7 Monate) fixe Teilnehmer in der Gruppe sind. Nachteil: man kann nicht jeden hinein nehmen, sondern muss eine Warteliste über ein halbes Jahr führen. Vorteil: Es kommt die Gruppendynamik wesentlich stärker zur Wirkung. • Gruppen können homogen sein, d. h. nur eine Diagnosegruppe beinhalten. Diesbezüglich ist z. B. die Gruppentherapie für Süchtige zu nennen, weil das lauter Leute sind, die das gleiche Problem haben, das somit unter einem Behandlungsschema stehen kann. Sie sind typischerweise offen, stärker leiterzentriert und sie haben den gemeinsamen Feind, nämlich das Sucht-erzeugende Agens. • Die Selbsthilfegruppen kann man als „Gruppenpsychotherapie ohne Psychotherapeuten“ bezeichnen. Menschen mit gleichen Krankheiten oder Leiden finden sich regelmäßig zusammen und stützen einander gegenseitig. Parkinson-Gruppen, MS-Gruppen etc. haben diesbezüglich einige Verbreitung. Der „Patienten-Club“ (wie es sich bei unseren MS-Patienten [F2] entwickelt hat), gibt die gleichen Möglichkeiten.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Der Feldkircher Chirurg Blum hat (in intuitiv basal-psychotherapeutischer Einstellung) eine „Brustgruppe“ unter den durch ihn operierten Patientinnen organisiert, sie wirkt sich seit vielen Jahren segensreich aus. – Brustamputierte Frauen haben starke psychische Probleme, in Selbstbild und/oder Partnerschaft. Hierbei kann eine Selbsthilfegruppe, wo lauter derart betroffene Frauen zusammen sind, unter Umständen viel mehrt bewirken als EinzelPsychotherapie. Es geht dabei weniger um das Sprechen über die Krankheit als darum, dass die Patienten mit Gleichbetroffenen gesellschaftliche Aktivitäten unternehmen, dann sehen, dass es so auch geht und dass man ein vollwertiger Mensch bleibt. Ein Vorteil der inhomogenen Gruppe (wie sie bei uns im Folgenden dargestellt wird) ist die größere Buntheit des Gruppengesprächs, welches damit nicht nur für ein einziges Hauptproblem, sondern für die verschiedensten menschlichen Probleme Raum und Möglichkeiten gibt. In unserem Erfahrungsgut wirkt sich besonders die Mischung von Patienten mit somatogenen und Patienten mit psychogenen Störungen sehr günstig aus. Es kam zu mehrfachen deutlichen Lernprozessen. (Vergl. das Beispiel der Parkinsonistin in F2.) Die klassisch-analytischen Gruppen nennen sich zwar selbst gerne nondirektiv, sind meines Erachtens aber relativ stark leiterzentriert, denn durch das Interpretieren und Deuten bringt sich der Gruppenleiter automatisch in eine „Alphaposition“ (um die Schindler’sche Terminologie anzuwenden). – Das will keineswegs heißen, dass durch das Interpretieren psychodynamisch nichts erreicht werden kann. Es hat durchaus eigenen Wert. Wir verzichten aber darauf (wiewohl es wirksam sein könnte), um dafür die Gruppendynamik stärker wirken zu lassen. Aktivitätsgruppen sind solche, wo in der Gruppe bestimmte Tätigkeiten vorgenommen werden, welche die Gruppe zusätzlich zusammenhalten. Es gehören dazu Gruppen für Freizeitaktivitäten u. ä. Wir haben im Folgenden psychotherapeutischen Kontext wenig damit zu tun. Aber in der Langzeitpsychiatrie spielen sie eine größere Rolle (dass unsere Art der Gruppentherapie im Hinblick auf das gemeinsame AT-Lernen auch gewisse [aber nur teilweise und entfernte] Ähnlichkeiten mit einer Aktivitätsgruppe hat, wurde erwähnt). Auf die stark aktivierenden (encounter-)Gruppen wird noch am Ende des Kap. D4 kurz eingegangen.
Ich gebe in Abb. 13 mein Konzept der einzelnen Wirkfaktoren in der Gruppenpsychotherapie wieder (rechte Seite der Abb.) und versuche damit nicht nur aufzuzählen, sondern die Entwicklungsschritte, welche zu einem therapeutischen Endziel führen, differenziert darzustellen. Vor allem möchte ich betonen, dass es ein ständiges Geben und Nehmen im Gruppengespräch gibt (also ein Modell dessen, was sich an und für sich in jeder menschlichen Beziehung abspielen soll). Ich kann also nicht nachvollziehen, wie man von „Altruismus“ sprechen kann. (Dieser kommt nämlich in allen vier Aufstellungen von Tschuschke vor, rangiert aber bei mir nicht.) Es sei denn, man meint damit, dass „nicht nur“ ein Nehmen in Frage kommt, sondern jeder auch geben kann und soll. Auf der linken Seite der Abb. 13 wird die Zusatzrolle des AT im Gruppengeschehen dargestellt, die ja eine der Besonderheiten unseres Modells darstellt. Das „Gruppengefühl“ stellt einen wichtigen Faktor dar und ist ein Überbegriff.
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D3. Gruppendynamik – Gruppentherapie
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Der Patient merkt, dass er mit seinen Problemen nicht allein ist, „wir sind alle in demselben Boot“. Er hat mit den anderen zusammen das gemeinsame Ziel Hilfe für Probleme zu erreichen. Es ist das, was auch „corporate identity“ genannt wird und aus der Gruppe mehr macht, als nur eine Ansammlung von Einzelindividuen. Das Gruppengefühl stellt sich natürlich nicht sofort ein, sondern bedarf einiger Sitzungen der Anlaufphase. Bei stark motivierten Patienten kann es aber schon nach der ersten Sitzung da sein und funktionieren. Gruppengefühl bedingt vor allem Geborgenheit und ein gemeinsames Bemühen in gewissen Aktionen. Es können neue menschliche Beziehungen unter positivem Vorzeichen aufgebaut werden, wie sie etwa beim Patienten fehlen oder negativ gewesen sind. Dabei spielen Projektionen eine wesentliche Rolle. Das führt dann zu weiteren Gesprächen mit den in Abb. 13 im unteren Teil angegebenen Dimensionen (Abreaktion, Beratung, neue Erkenntnisse, Probehandeln, schließlich Erarbeitung formelhafter Vorsätze). Der anwesende Therapeut vermittelt zusätzlich Sicherheit. Bez. Gruppengefühl ergibt sich eine nach beiden Richtungen potenzierende Wirkung: Das gemeinsame Erlernen der Übungen führt zu einem beschleunigten Ausbilden des Gruppengefühls und das Üben in Gruppen beschleunigt und erleichtert das Erlernen des AT. Katharsis und emotionale Einsicht werden durch die allgemeine Öffnung der Persönlichkeit im Hypnoid (vergl. Abb. 11) begünstigt, und die Erarbeitung formelhafter Vorsatzbildungen im Gruppengespräch hat sich als besonders wirksam gezeigt, hinsichtlich einerseits der Gruppendynamik, anderseits hinsichtlich Wirkung der erarbeiteten Formeln auf den Einzelnen. Schließlich gibt die intensive psychodynamisch relevante Befassung mit der FormelEntwicklung auch dem AT einen wesentlich größeren Wert, der dazu beiträgt, es über eine mechanistische Psychovegetativ-Gymnastik weit hinauszuheben.
Pragmatischer betrachtet ist die Kombination von Gruppentherapie mit AT auch deswegen günstig, weil man Mehreres zugleich anbietet. Unser heutiger Allgemeinpatient ist noch nicht sehr auf Psychotherapie eingestellt. Vom AT hat er aber meistens schon gehört und spürt es auch körperlich. So kommen viele Patienten eben nur „zum AT“, ohne dass man primär den psychotherapeutischen Aspekt näher erklären muss. Wenn wir unsere Patienten nachträglich (im Sinne der Evaluation, die auch in Abb. 12 zum Ausdruck kommt) über ihren Eindruck von der Therapie befragt haben, zeigten sich zweierlei Gruppen von Antworten: • Einerseits solche, wo das AT als eine wesentliche Bereicherung in den Vordergrund gestellt wurde. • Anderseits solche, welche den Hauptgewinn in den Erkenntnissen durch das Gespräch sahen. Wir haben auf diese zweierlei möglichen Wirkungsarten unseres Modells dadurch Rücksicht genommen, dass wir zur Halbzeit der Therapie (also nach etwa 10 Stunden) gefragt haben, wer weitermachen will, da im AT nichts Neues kommt, aber das Gruppengespräch weitergeht. Dabei hat sich dann üblicherweise eine Halb- und Halbverteilung herausgestellt und sich dabei schon gezeigt, wem was am Wesentlichsten war.
Gruppenkurztherapie? Unser Gruppentherapiemodell kann mit seiner etwas über 7 Monate Dauer (3 Quartale) als „Kurzgruppe“ angesehen werden. Diese werden heute immer aktueller. Dabei spielt natürlich einerseits die ökonomische Ressourcenbegrenzung mit. Anderseits konnten und können wir zeigen, dass es darüber hinaus auch echte sachliche Argumente dafür gibt (vergl. A4).
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Therapeutische Gruppe in ihrer Interaktion mit AT
Vermittelt: • „Gruppengefühl“ • Geborgenheit und gemeinsame Aktivit.
AT
Ergibt: • Neue menschliche Beziehung(en) • (Geben und Nehmen) • mit Projektion, Identifikation etc. • Verbale Stimulation • Ratschläge (Geben und Nehmen)
AT
AT AT
in ihrer Eigenwirksamkeit
{
Das führt zu: • Katharsis • Erkennen, rational + emotionale Einsicht • Probehandeln • Erarbeitung formelhafter Vorsätze Soll führen zu: • Neuer Sicht • Haltungs- und Verhaltensänderungen • Symptomreduktion
Abb. 13 Es ist falsch, die therapeutische Gruppe nur als Zeitökonomie anzusehen (wenn diese auch besteht). Es ergeben sich daneben eine Reihe von deutlichen Wirkungen auf verschiedenen Ebenen. Sie sind hier in ihrer schrittweisen Bedingtheit bis zum therapeutischen Ziel dargestellt, sie dürfen aber nicht streng getrennt voneinander verstanden werden, sondern in fließendem Übergang respektive in Überlappung (rechte Seite der Abbildung). Auf der linken Seite der Abbildung ist schematisch dargestellt, wo das AT (als hypnoide Maßnahme) die therapeutische Wirkung der Gruppe noch steigert respektive wo nach beiden Richtungen (also AT fördert Gruppe – Gruppe fördert AT) eine bessernde Wirkung besteht. Näheres siehe Text. Für gewisse Gleichklänge zwischen Arzt-Patienten-Gespräch und Gruppen-Gespräch, vergleiche Abb. 6.
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D3. Gruppendynamik – Gruppentherapie
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Tschuschke hat der Kurzgruppentherapie 2003 eine eigene Monographie gewidmet. Er sieht darin einen eigenen Therapieansatz mit eigenen Regeln. Es werden auch Extrem-Kurzgruppen genannt mit unter 10 Sitzungen, wobei von Vornherein genau das Programm für die Sitzungen festgelegt wird. Watzlawick und Mitarb. haben schon früher Ähnliches beschrieben. Es zeigte sich, dass der Patient sich mehr bemühte, optimal von den Sitzungen zu profitieren, wenn er wusste, dass deren Zahl begrenzt war (etwa 20) – „make the best of it“! Battegay (2000; 2003) lehnte es ab, nur aus ökonomischen Gründen Kurzgruppen zu installieren, sieht aber von den didaktischen Kurzgruppen bei Kongressen oftmals seht starke emotionale Beteiligung und bleibende persönliche Erfahrung (gleichermaßen wie wir bei den didaktischen Gruppen, siehe später). Fürstenau (ein führender Analytiker des Deutschen Sprachraums; vergl. A4), stellt aus der modernen Psychotherapieforschung fest, dass ziemlich viel Veränderung in einer viel kürzeren Zeit (verglichen mit langdauernden Psychoanalysen) angeregt werden kann als früher gedacht wurde. In den meisten Fällen würden etwa 26 Sitzungen wöchentlich oder 6 Monate zu „optimalen Ergebnissen“ führen. Laut Tschuschke (2003) könnte vor dieser guten Wirkung der Kurztherapien sogar eine ethisch negative Wertung längerer Psychotherapien abgeleitet werden.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Stierlin praktizierte in Heidelberg das Modell einer „langzeitigen Kurztherapie“ (angeregt durch die Erfahrungen des Mailänder Teams unter Maria Selvini-Palazzoli). Er machte Familiensitzungen mit mehrwöchigen bis mehrmonatlichen Intervallen, die für „Hausaufgaben“ genutzt wurden. Es zeigte sich dabei, dass zwischen den Therapiesitzungen eine Menge weitergehen kann (wie auch unserseits mehrfach angeführt), im Beispielsfalle durch die Verankerung in der täglichen Lebens- und Beziehungspraxis (vergl. auch A4 mit Sullivans Auffassung).
Der von uns empirisch gefundene Zeitraum von etwa 3 Quartalen (etwa 7 Monaten) für unser Modell der „2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenem Training“ (vergl. Abb. 14 a, b) hat sich also nicht nur praktisch über viele Jahre bewährt, sondern wird nun auch mehrfach von kompetenter psychotherapeutischer Seite als günstig, wenn nicht optimal, angesehen. Das unterstreicht unsere eingangs gemachte Feststellung, dass es schade wäre, wenn die Methodik – weil zwischen zwei Schulen liegend – nicht weiter zur Anwendung käme.
Zusammenfassung: Gruppendynamik und Gruppentherapie Die Gruppendynamik ist ein überall in der menschlichen Gesellschaft (übrigens mutatis mutandis auch in der Tiergesellschaft) wirksames Phänomen. Aufgrund ihrer Durchleuchtung und des damit verbundenen besseren Verständnisses können wir sie jedoch gezielt in den Dienst der Psychotherapie stellen. Es ergeben sich dadurch positive Aspekte, welche wir in Einzeltherapie nicht erreichen können, neben sozial-verträglicher Ökonomie. Unsere Aufgabe ist es, im Sinne der Prinzipien einer integrierten Psychotherapie die optimalen Möglichkeiten für den Patienten zu finden. Wir gehen pragmatisch vor und kombinieren, wo es sinnvoll erscheint, auch Gruppentherapie mit Einzeltherapie. Wichtig ist es, sich dabei selbst immer Rechenschaft zu geben, was man tut und womit man rechnen kann.
D4.
Gruppenzusammenstellung und -ablauf
Das System einer geschlossenen Gruppentherapie einmal im Jahr (im Herbst) beginnend bedingt eine Sammel- respektive Warteliste. Ich halte es aber für unärztlich, die Patienten einfach ein halbes Jahr ohne ärztliche Hilfe warten zu lassen. Vielfach werden in solchen Fällen Tranquilizer und/oder Antidepres-
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siva gegeben. Das ist meines Erachtens eine recht zweifelhafte Praktik (wo sie nicht an und für sich indiziert sind). Uns hat sich sehr bewährt, dass die Patienten zwischendurch ins respiratorische Feedback genommen werden (E1). Das RFB führt auch einen hypnoiden Zustand herbei und kann als solches mit der dazugehörigen Dynamisierung schon einiges Gute bei den vegetativen Patienten leisten. Wir verwenden für jene Patienten natürlich das RFB ohne zusätzliche Gruppe und ohne zusätzliche längere Aussprache, um uns das für die Gruppe aufzusparen. Aber: • Wir lassen den Patienten nicht ohne sinnvolle ärztliche Hilfe. • Das RFB fazilitiert den späteren Eintritt ins AT. • Es können sich daraus schon gewisse deutliche positive Resultate ergeben. Es kann sein, dass dann unter Umständen die Patienten die Gruppentherapie absagen, weil sie schon einen sehr guten Effekt gehabt haben. Wie wir ja überhaupt nach der 1/2- bis 3/4-jährigen Wartefrist ungefähr 1/3 der Patienten weniger haben, welche dann aus irgendwelchen Gründen nicht erscheinen. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir immer mit der Einberufung für eine Therapiegruppe begonnen, wenn etwas über 20 Leute auf der Warteliste waren, weil dann gute Chancen bestanden, etwa auf eine optimale Zahl von 12 Patienten zu kommen.
Wenn viele Patienten angemeldet waren, so hat es sich als günstig erwiesen, 3 Gruppen nicht etwa nach Diagnosen, sondern nach dem Alter einzuteilen; aber nicht kalendarisch, sondern nach dem sozialen Entwicklungsalter. 1. Studenten, Lehrlinge (also beruflich Unfertige) mit ihrer exogenen Problematik und – besonders bei den Studenten – künstlich protrahierten Kindheits- und Abhängigkeitssituation. 2. Adulte mit ihrer häufigen Berufs- und Partnerproblematik. 3. Senioren mit ihrer Pensionsproblematik, wobei aber auch da sehr häufig die Partnerproblematik mit hineinspielt.
Beziehungspersonen in der Gruppe hatten wir mehrfach. Manchmal funktioniert es sehr gut und es kam eine wechselseitige Stützung zustande. In einem Fall wurde aber die Gruppe zum Ersatzschlachtfeld für die Ehe. Es war dabei aber der Ehemann ein schon beträchtlich arteriosklerotisch vorgeschädigter älterer Herr und er blieb dann von selbst weg. Gruppen nur aus Ehepaaren habe ich mehrfach versucht zusammenzustellen. Es ist aber aus organisatorischen Gründen nie gelungen. Von Schuhmann hat solche Ehepaargruppen geführt und beschrieben. Auch er gibt Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung dieser Gruppen an, respektive bei der Motivation eines nicht-betroffenen Ehepartners. Bei ihm waren es nur Gruppen mit Sexualstörungen und es kam, bei allen Schwierigkeiten, letztlich zu günstigen psychodynamischen Entwicklungen. Zwei Generationen einer Familie haben wir in der Gruppe nie gehabt. Ich glaube, es tut auch nicht gut, wegen der Konfliktpotenzialen zwischen den Generationen (siehe F1). Freunde und Bekannte in der Gruppentherapie sind durchaus akzeptabel. In der Eigenerfahrung (in einem kleinstädtischen Milieu) war es sogar die Regel, dass sich manche von der Schule oder aus der Nachbarschaft kannten. Es darf besonders betont werden, dass auch dabei das Gruppengeheimnis gegenüber Außenstehenden gut funktionierte.
Die Zahl der Patienten in einer Gruppe soll minimal 6 sein und maximal 15.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Bei Abweichungen von diesen Teilnehmerzahlen leidet die Gruppendynamik respektive kommt nicht zustande. Wenn es weniger sind, werden es Einzelgespräche und wenn es mehr sind, entwickeln sich entweder Subgruppen oder es bleiben einige in der Anonymität. Neben den eigenen Seniorengruppen hat sich aber auch durchaus bewährt, die verschiedenen Altersstufen in einer Gruppe zu vermischen, ebenso wie somatogen und psychogen Beeinträchtigte. (Abb. 8 – Näher ausgeführt ist das bei Barolin und Wöllersdorfer). Bei den „Somatogenen“ handelte es sich um M. Parkinson, Post-Insult-Pat., MS-Pat., etc. (als üblicherweise „rein somatische Krankheitsbilder“ bezeichnet); Kopfschmerzen, Kreuzschmerzen, etc. (üblicherweise als „psychosomatische Krankheitsbilder“ bezeichnet). Wobei (unter Bezug auf A1, Abb. 2) eine scharfe Abgrenzung jener beiden Begriffe nicht möglich ist.
Ausschließungsgründe von Aufnahme in die Gruppentherapie der beschriebenen Art sind • Floride Schizophrenien vor allem, weil das Hypnoid zu einer Exacerbation führen kann (wie schon für alle Methoden, die das Hypnoid verwenden, vorgesagt). Es sind hingegen ausgebrannte Defektzustände durchaus für unsere Gruppenpsychotherapie geeignet. • Tiefe Depressionen (wie schon bei der Psychotherapie der Depression gesagt). Hingegen sind subdepressive (häufig auch hypotonische) Patienten zu jener Art der Gruppentherapie geeignet. (Siehe B3.) • Explosible Psychopathen (heute wird dieser plakative und klare Ausdruck laut ICD-10 durch eine Vielzahl von Persönlichkeitsstörungen oder als Borderline-Persönlichkeit klassifiziert) oder Hirnorganiker, welche durch ihre Ungehemmtheit das Gruppengefüge stören. Patienten, die „schon AT gemacht haben“, sind keineswegs ein Ausschließungsgrund, denn in 90% handelt es sich ja um rein als PsychovegetativGymnastik verabreichte 6-Stunden-Kurse in Volkshochschulen und Ähnliches. Ich lasse die Patienten ruhig das Autogene Training wieder von Anfang an mitmachen und habe dann am Ende nicht nur einmal gehört, „das war natürlich ganz etwas Anderes“. Mehrfach wurde mir auch berichtet, dass nicht nur die Aussprache für die Patienten neu und produktiv war, sondern sie auch jetzt erst das AT „wirklich“ gelernt hätten. Gleichsinnig gehe ich vor, wenn Patienten kommen, die Joga-Vorerfahrung oder Erfahrungen mit sonstigen meditativen Techniken haben. Das, was sie im AT lernen, kombiniert sich ganz gut mit ihrer Vorerfahrung, denn die meisten dieser Techniken sind auch nichts anderes, als eine Induktion des Hypnoids auf irgendwelchen anderen Wegen, zu irgendwelchen anderen Zielen.
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Ablaufschema der 2-stufigen GruppenPsychotherapie mit integriertem AT a) 1. Sammelliste über das Jahr laufend, Somatogene + Psychogene 2. Herbst-Einladung, 3 Altersgruppen wöchentlich 2 Stunden bis Sommer 3. AT + Non-direktive Gruppengespräche (Zusatz-Einzel-Ordinationen nicht ausgeschlossen) 4. Ab Halbzeit: Formelhafte Vorsatzbildung 5. Alternierende Gruppenführung, Protokolle in Einzelkrankengeschichte 6. Etwa 7 Monate dauernd, mit Möglichkeit des Ausstiegs in der Halbzeit
b) Phasen des psychodynamisch ergiebigen Tiefganges Phase 1
Phase 2
Phase 3
Gruppenbildungsphase
Psychodynamisch ergiebige Phase
Bestärkungs- und Selbstdarstellungsphase
1.–4. Stunde
4.–20. Stunde
letzten 3 Stunden
Abb. 14 a) Ablaufschema einer 2-stufigen therapeutischen Gruppe mit integriertem Autogenem Training. b) Baghaei Yazdi hat aus den Protokollen von 9 Jahren dieses Schema des erwünschten psychodynamischen „Tiefganges“ der Gruppengespräche erhoben. Es zeigt sich darin neben der initialen und finalen Phase mit relativ banalen Gesprächen + Verflachungen Gleiches auch zwischen einzelnen Phasen des Tiefgangs. Ich sehe das als gruppendynamisch notwendige „Erholungs-“ respektive „Verdauungs-Phasen“ an, die keineswegs durch Interventionen des Gruppenleiters gestört werden sollen.
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Zum zeitlichen Rahmen Die bei uns letztlich nach etlichen Versuchen mit Gruppenlänge bis zu 3 Jahren standardisierten etwa 7 Monate (20–25 2-stündige Einzelsitzungen) zeigten sich wie schon vorgesagt (D2) optimal. Bezüglich der Dauer (einerseits 2 Stunden für die Einzelgruppe, anderseits 7 Monate für die ganze Gruppentherapie) hielt ich mich nicht genau an die Vorgaben (daher auch das Wörtchen „etwa“ in Vorstehendem). Wenn bei den einzelnen Gruppensitzungen gerade ein wichtiges Thema mitten im Gespräch war, gab ich bis zu 1/4 Stunde zu. Wenn sich 5 min. vor vorgesehenem Gruppenende gerade ein passender Abschluss eines Problemgespräches mit erfolgter Formelbildung ergab, machte ich etwas früher Schluss. Mit der Zahl der Gruppensitzungen variierte ich auch um einige auf oder ab, je nachdem ob die Themen ziemlich ausbesprochen waren oder noch große Bedürfnisse bestanden.
Wann und wo sollen die Patienten üben? Das Wünschenswerte ist morgens und abends. Es ist davor zu warnen, nur abends zu üben, wenn eine Dynamisierung tagsüber vordergründig wünschenswert ist. Wenn man nur am Abend übt, wird aber das AT als Einschlafhilfe konditioniert (vergl. den „müden Slalomläufer“ in E3). Krapf und Krapf geben auch für berufliche Dynamisierungsverwendung günstiges Üben am Arbeitsplatz, etwa nach dem Mittagessen, an. Wo kein eigenes Zimmer vorhanden ist, wird ein Rückzug auf die Toilette und Üben im Sitzen empfohlen. Es wird auch öfters nach Üben in der Sauna gefragt. Einerseits mag die Saunasituation von außen her Schwere-, Wärme- und Entspannungserleben begünstigen, anderseits ist sie aber an und für sich schon eine vegetative Leistung und es ist fraglich, ob man eine zweite seinem Körper dazu abverlangen soll. Irgendwelche nachteiligen Erfahrungen sind mir diesbezüglich allerdings nicht bekannt. Wenn also in der Sauna direkt geübt wird, dann unbedingt nur im Liegen. Sehr günstig gestaltet sich das Üben in der Ruhepause nach der Sauna. Einige Störfaktoren direkt aus dem Autogenen Training seien erwähnt. • Gewisse Organsensationen einschließlich Körperveränderungssensationen (Abkippen, Größer-werden der Hand) sind häufige Nebenerscheinungen, die erklärt werden: „… Der Körper ist diesen abnormen Zustand noch nicht gewohnt und reagiert ein bisschen abnorm. Das ist harmlos und beweist nur, dass eine hypnoide Umschaltung stattgefunden hat.“ Nicht selten wird auch statt der Schwere „Leichtigkeit“ angegeben. Das soll keineswegs als ein Störoder gar Oppositionsphänomen gedeutet werden, sondern ist durchaus eine beginnende hypnoide Umschaltung und eine daraus resultierende Körperreaktion. • Treten Schmerzsensationen in einzelnen Körpergegenden auf, so kann es einerseits nur ein harmloses Anfangssymptom sein, anderseits wird man aber bei mehrere Gruppenstunden persistierenden Schwierigkeiten evt. eine organische Durchuntersuchung einleiten, da manchmal Schmerzen ein vorhandenes pathogenes Substrat ausweisen können, welches sonst noch keinen Laut gegeben hat. • Häufig sagen die Teilnehmer, dass ihnen Gedanken dazwischen kommen. Wir antworten:
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„Das ist völlig normal, man lässt sie ruhig kommen, schiebt sie wieder weg und kehrt zurück zu den autogenen Formeln.“
Zum Gruppengespräch Banales Gerede wird in der Gruppentherapie vor allem in der Anfangsphase vorherrschen („small talk“). Wir erinnern dazu an das im Kapitel über das Gespräch (B1) Gesagte, dass derartige „belanglose Gespräche“ nur scheinbar belanglos sind, da sie der Weg sind, um über größere Bekanntschaft auch eine gewisse Vertrauensposition zu finden. Wenn aber diese Art des Gesprächs (über Urlaube, Berufe, Hobbies, Essen etc.) zur Gewohnheit zu werden droht, wird eine Intervention des Gruppenleiters folgendermaßen in Frage kommen: „Die Gruppe hat natürlich das Recht sich über alle Themen zu unterhalten, die sie interessiert. Denken sie aber daran, dass wir eigentlich zusammengekommen sind, um mehr in die Tiefe zu gehen, was jeden von uns drückt, was ihn zum Arzt führt und wie wir gemeinsam dagegen etwas machen können. Ich glaube, es ist die Zeit also besser ausgenützt, wenn wir jetzt ein bisschen mehr von uns und unseren Gedanken, Sorgen etc. erzählen.
Es ist jedoch typisch, dass nach tiefergehenden Problembesprechungen häufig wieder eine Nachphase mit banalem Gespräch kommt. So als brauche die Gruppe eine „Erholungs-„ oder nennen wir es „Verdauungsphase“ nach den schwerwiegenden Problemen. Es soll also der Gruppenleiter keineswegs a) darüber frustriert sein oder b) gar jedes Mal auf einen notwendigen Tiefgang des Gespräches hinweisen. (Vergleich Abb. 14a.) Man soll nicht Gesprächsbeteiligung „fordern“. Wir haben mehrfach gesehen, dass sich Gruppenteilnehmer praktisch gar nicht oder nur oberflächlich am Gespräch beteiligt haben und doch in der Erfolgsbeurteilung (sowohl subjektiv als objektiv) einen guten Erfolg hatten (vergleiche Kap. F2). Das Zuhören und Dabeisein ist eben schon ein Therapeutikum. Bei Beginn des Gruppengesprächs sagen wir auch den Teilnehmern: „Es darf jeder über alles, was er will, reden und jeder über alles, was er will, schweigen!“ Perioden des Gruppen-Schweigens muss der Gruppenleiter aushalten können, ohne sofort zu intervenieren. Man wird eine Maximalzeit ohne Intervention mit etwa 20 Minuten ansetzen, bei einiger Erfahrung merkt auch der Gruppenleiter, ob es ein Schweigen ist, hinter dem sich ein psychodynamischer Druck aufbaut, der dann zu intensiverem Gespräch führt, oder ob das Schweigen ein allgemeines Zurückziehen ist. Davon sollte natürlich auch die Zeit bis zur Intervention und die Art dieser mitbestimmt werden. Eine Gruppenleiterintervention bei zu langem Schweigen wäre: „Sicher können wir auch durch gemeinsames Schweigen in unseren Erkenntnissen weiterkommen, aber die menschliche Kom-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
munikation hat nun einmal ihr stärkstes Instrument in der Sprache, und es ist sicher produktiver, wenn man sich nicht aufs Schweigen zurückzieht, sondern versucht, durch Fassung in Worte die persönlichen Probleme vor Augen zu rücken und durch Besprechung in der Gruppe einer Lösung näher zu bringen.“
Es kommt immer vor, dass eine „Vorstellungsrunde“ vorgeschlagen wird. Ich selbst habe diese als Gruppenleiter nie vorgeschlagen, lasse es aber geschehen, mit oder ohne Vorstellung, wie es die Gruppe will. Übrigens sei auch eine rein praktische Hilfe erwähnt, die ich verwende. Denn, wenn man etwa ein Dutzend neuer Leute in der Gruppentherapie hat, fällt es (mir zumindest) schwer, sich die Namen aller zu merken. Ich bitte daher ein großes Blatt Papier mit einem dick geschriebenen Namen vor sich auf den Boden zu legen. Das ist vor allem dann wesentlich, wenn man ein systematisches Protokoll führen und dieses auf die richtigen Namen beziehen will.
Fragen an den Gruppenleiter sind besonders in der Anfangszeit der Gruppe die Regel, da ja die Patienten gewohnt sind, mit dem Arzt (und nicht mit Mitpatienten) zu kommunizieren. Sie sollen nach Möglichkeit an die Gruppe weitergeleitet, respektive, wenn sie „nicht gruppengeeignet sind“ (also Fragen nach Medikamentenwirksamkeit oder Ähnliches) auf ein einzelnes ArztPatienten-Gespräch verwiesen werden. Durchbrechen der nondirektiven Passivität, also Interventionen des Gruppenleiters sind, außer in den genannten Fällen (zu langes Schweigen, zu langes banales Gerede), auch unter anderen Umständen angezeigt. Bemerken des Gruppenleiters, dass ein Gruppenmitglied sich in tiefer werdender Depression immer mehr zurückzieht. Wegen der Wichtigkeit wird diese Entwicklung, welche unter Umständen gefährlich werden kann, an den Anfang gestellt. Der Gruppenleiter muss darauf besonders achten. Er hat dann die Gespräche zu bremsen, die in die eingeschlagene Richtung nur noch weiterführen und wird vor allem in evt. Einzelnachgesprächen mit dem Depressiven die Negativwirkung der Gruppentherapie zu entschärfen trachten. Manchmal berichtet ein Patient über seine Symptome und will wissen, was er dagegen tun soll. Die Gruppe ist natürlich ohne ärztliche Kenntnis außer Stande irgendwie mitzuwirken. In solchen Fällen pflege ich den Patienten zu fragen (!), ob er einverstanden ist, dass ich das Wesen seiner Störung erkläre, (wie ich es aus der Einzelbehandlung weiß) damit die Gruppe ihm auf diesem Niveau möglichst gute Ratschläge geben kann. (Ärztliche Schweigepflicht gilt auch in der Gruppe!) Das hat sich mehrfach sehr gut bewährt. Bei einer Patienten, die nach einem Unfall eine deutliche funktionelle Gangstörung entwickelt hatte, erklärte ich, dass ein Unfall zu einer Funktionsstörung ihres Beines geführt hat. Es seien die organischen Veränderungen jetzt ausgeheilt. Es sei aber eine von den Nerven ausgehende „nervöse Störung“ zurückgeblieben, die sie jetzt behindert. „Eine derartige Störung kann
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von der Organmedizin nicht weiter gebessert werden. Es kommt jetzt darauf an, dass die Patientin mit unserer Hilfe auch die nervöse Störung mitüberwindet.“ Man beachte, dass ich hier wiederum (vergleiche Parallelität zum funktionellen Kopfschmerz Kap. G2) die funktionelle Komponente sehr wohl benenne, aber in einer Art, dass die Patientin dabei nicht das Gesicht verliert und auch die anderen in der Gruppenpsychotherapie mitfühlend und helfend eingreifen können. Die „nervöse Störung“ ist ein guter Ausweg, um funktionelle Störungen zwar nicht unwahr, aber doch akzeptabel und sogar „vornehm“ zu beschreiben. In einer didaktischen Gruppe wurde mir vorgeschlagen dazu heute auch „psychologisch“ zu verwenden. • Jedenfalls kommen Ausdrücke wie „hysterisch“ oder „neurotisch“ nicht in Frage, da sie zu negativ besetzt sind.
Ein weiterer Interventionsgrund ist es, wenn ein besonders eloquenter und übermächtiger Gruppenteilnehmer immer wieder das Gespräch an sich reißt und so verhindert, dass andere Gruppenmitglieder mit ihren Problemen zu Wort kommen. Das geschieht erfahrungsgemäß auch dann häufig, wenn Patienten, die in einer teilweise analytischen Behandlung sind oder waren, in der Gruppe ihr dort bezogenes (Halb-)Wissen mit großer (Schein-)Kompetenz wiedergeben und sich so zu einer Art Oberanalytiker der Gruppe machen. Die Gruppe kann natürlich auf diesem Niveau nicht mittun und ist blockiert. Hier wird die korrigierende Intervention dahin gehen, dass es sich um fundierte Theorien der Psychotherapie handelt, die aber nicht bei jedem im Einzelnen zutreffen und dass man auch in unserem Gruppengespräch mit gesundem Menschenverstand mitdenken und mithalten kann, ohne all jenes Grundlagenwissen zu haben.
Wenn irgendwelche unsinnige und nicht vertretbare Dinge von einzelnen Gruppenmitgliedern mit großer Eloquenz und Selbstsicherheit dargebracht werden, mit denen man sich ärztlicherseits nicht einverstanden erklären kann, würde ein schweigendes Dabeisein als Arzt einen gewissen Konsens signalisieren. Das betrifft z. B. Diätanweisungen, die als einziges wesentliches Mittel gegen Krebs dargestellt werden, irgendwelche Wunderkräuter und Wunderrituale, die „statt den vielen schädlichen Medikamenten“ die einzige Hilfe geben sollen, etc. Die Korrektur wird lauten, dass manche Leute daran glauben, dass aber keinerlei wissenschaftliche Fundierung für derlei Ansichten besteht.
Die besonders bei Senioren auftretende resignative Ausdrucksweise und Haltung, welche gleichzeitig eine Ablehnung der weiteren Befassung mit den Problemen signalisiert, verlangt unbedingt eine Durchbrechung, breitet sich sonst leicht auf die ganze Gruppe aus. Ich meine damit das achselzuckende Vorbringen wie „es ist halt schwer“ oder „damit muss man sich eben abfinden“ etc. Ich pflege dagegen etwa zu sagen: „Es ist sicherlich gut und wichtig, wenn man sich mit Einigem abfindet. Aber wir sind hier in der Gruppe beisammen, nicht um uns abzufinden, sondern gemeinsam Wege zu suchen, wie man es bessern könnte“.
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Verwandt damit sind Klagen und Gespräche über Krankheiten und Arztbesuche. Die muss man abstoppen, damit sie nicht zur Gewöhnung werden. Hat man diese Attitüden aber einmal abgewehrt, kommen sie in der Gruppentherapie kaum mehr auf. (Vergl. auch Kap. F2 über die speziellen Gesprächsdimensionen im Alter).
Nicht Gruppen-geeignete Themen sind nicht etwa besonders intime Themen. Denn erfahrungsgemäß (und erstaunlicherweise für den psychotherapeutischen Anfänger in der Gruppentherapie) sind die sehrwohl gruppengeeignet, kommen auch meistens ganz spontan und ohne wesentliche Hemmungen heraus (Homosexualität, Impotenz etc.). Gemeint sind vielmehr Diskussionen über Medikamente, deren Einsatz und deren Dosierung. Intervention des Gruppenleiters: „Diese Fragen können nur aus ärztlicher Sicht kompetent behandelt werden und sind vor allem für jeden Einzelnen grundlegend unterschiedlich zu beantworten. Sie sind daher nicht sinnvoll in einer Gruppe zur Diskussion vorzuschlagen.“ Wenn aber diesbezüglich der Bedarf eines Einzelnen besteht, so empfehlen wir dafür eine einzelne Ordination. Siehe auch Abb. 11 „Zusätzliche Einzelordination möglich“. Natürlich wird dann oft vom Patienten in der Einzelordination einiges Andere angesprochen, was durchaus in die Gruppentherapie gehört. Darauf muss man achten: „Das sollten Sie doch in der Gruppe besprechen. Es interessiert sicher die anderen auch und wir brauchen es jetzt nicht zu besprechen.“
Soll sich der Gruppenleiter in die Gruppendynamik selbst einbringen? Vorwiegend in didaktischen Gruppen wird diese Frage öfters gestellt. „Wie würden Sie sich da verhalten, sagen Sie uns das auch einmal?!“ Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Haltungen von Gruppenleitern. Manche glauben, es sei zu unnatürlich, distanziert und wenig empathisch, wenn man nicht auch sich selbst in die Gruppendynamik einbringt. Ich bin (auch im Sinne der weitgehend abstinenten Gruppenleitung) „gegen eine Selbsteinbringung“. Wo sich die Frage in didaktischen Gruppen stellt, lautet meine Stellungnahme etwa so: „Natürlich hätte ich auch sehr Lust dazu, aus eigener Erfahrung und aus eigenem Erleben zu den aufgeworfenen Problemen Stellung zu nehmen. Denn auch ich habe eine Ehe, Kinder etc. mit einer Menge auftauchender Fragen. Aber ich würde Gefahr laufen, dann die Gruppe zum Exerzierfeld für meine Probleme zu machen und würde den Gruppenteilnehmern nicht nur Zeit, sondern auch Emotionen wegnehmen. Und ein ganz gleicher Gruppenteilnehmer kann ich bei aller beabsichtigten Offenheit aufgrund meiner Eigenschaft als Gruppenleiter nicht sein. Es wird also alles immer irgendwie verzerrt sein.“ In Therapiegruppen kam die Frage nur ganz selten. Meine einfachere Antwort, etwa: „Darauf kommt es ja nicht an, denn hier sind ja Ihre Erfahrungen und Meinungen das Wesentliche und sollen sich gegenseitig ergänzen.“
Die Suche nach „formelhaften Vorsatzbildungen“ im Gruppengespräch wird etwa ab der 10.–12. Gruppensitzung (wenn die Übungen schon voll realisiert sind) als Instrument in unsere Gruppentherapie mit integriertem Autogenen Training eingebracht. Sie verändert die nondirektive Haltung in eine mehr leiterzentrierte (daher auch meine Bezeichnung „2-stufige“ Gruppenpsychotherapie).
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Die formelhafte Vorsatzbildung ist ein autohypnotisch, autosuggestiv „eingepflanzter“ Vorstellungsinhalt. Dieser Inhalt soll zu einer Denkregel respektive Verhaltensregel werden, die, durch das Einpflanzen ins Hypnoid, dann im Alltagsleben aus dem Unbewussten heraus zur Wirkung kommt. Zur bestmöglichen Wirkung soll die Formel gewisse sprachliche Kriterien enthalten. Schultz hat die „Redaktion“ folgendermaßen charakterisiert (leicht eigenverändert): 1. Kurz, plakativ. 2. Persönlichkeits- und Problem-gerecht. 3. Positiv. Es muss dazu also der Gruppenleiter erklären, worum und wie es geht. Er muss eigene Formelvorschläge machen und Vorschläge der Gruppenmitglieder, welche kontraproduktiv sein könnten, vorsichtig aber doch korrigieren. Das bringt ihn automatisch in eine starke (nach Schindlers Terminologie) Alpha-Position. Dass dabei aber kein neuer massiver Dirigismus herauskommt, hat sich dadurch gezeigt, dass etwa 3/4 der Vorschläge, die in solchem Kontext von mir als Gruppenleiter gemacht wurden, nicht unverändert bestehen blieben. Es wurde über meine sowie Vorschläge aus der Gruppe meist lange diskutiert. Es wurden Gegenvorschläge und Modifizierungen von Vorschlägen gebracht, und es kam dann (oft nach etwa einstündiger Diskussion), zu einer Formel, mit der alle Gruppenmitglieder für das betreffende Gruppenmitglied „einverstanden“ waren und von welcher dann auch das Gruppenmitglied klar sagte, dass sie ihm „gefällt“. So kann eine „Gruppenformel“ zustande kommen, die den Vorteil hat: • Dass sie länger diskutiert, von allen Seiten beleuchtet wurde, und auch dadurch zusätzliche psychodynamische Erkenntnisse herauskamen. • Dadurch und durch den Gruppenkonsens bekommt die Formel für den nunmehrigen „FormelInhaber“ wesentlich mehr an Gewicht als eine Formel, die in einer ausschließlich dualen Arzt-Patienten-Beziehung gefunden worden ist. • In der Diskussion über die Formeln wird gesagt (von Gruppenleiter, aber die anderen machen es dann bald ebenso), was man mit der Formel meint, bei welchem Teil des Problems man mit der Formel angreifen will und wie.
Beim Formelvorschlag steht natürlich eine psychodynamische Hypothese des Gruppenleiters im Hintergrund. (Ich habe es in A4 „innere Interpretation“ genannt). Es wird diese aber nicht verbalisiert und etwa der Fehler („Fokus“) angesprochen. Vielmehr wird das „Deutungsstadium“ übersprungen und versucht mit der Formel sofort ein aktives Gegenmittel vorzuschlagen. Durch das Feedback des Einzelnen und der ganzen Gruppe wird diese Positivstrategie von verschiedenen Seiten beleuchtet, was natürlich auch wieder ein (hintergründig) interpretatives Geschehen ist. Es kommen also eine Reihe von psychodynamisch wertvollen Aktionen und Erkenntnisse zum Tragen. Im Gegensatz zum analytischen Deuten und Interpretieren wird das Gefundene und Erkannte jedoch direkt in eine positive Strategie umgewandelt.
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Nicht selten kann man früher oder später bei einer Formel heftige und spontane Zustimmung erleben und eine Ablehnung jeder weiteren Diskussion. Es ist das vergleichbar mit dem, was als „Aha-Erlebnis“ beschrieben wird oder auch im weiteren Sinn mit dem, was Balint als „Flash“ beschreibt. Nur wird es bei Balint im Sinne der Erkenntnis so verstanden, während bei der formelhaften Vorsatzbildung aus der Erkenntnis gleich eine brauchbare Zukunftsstrategie abgeleitet wird. Vergl. das bei B2 Gesagte. Eine gewisse Parallele ist übrigens in dieser „2-stufigen Gruppentherapie“ zur seinerzeitigen „2-gleisigen Standardmethode“, die Kretschmer allerdings als Einzeltherapie entwickelt hat, zu sehen: Durch analytisch orientierte Gespräche wurden psychisch belastende Inhalte gefördert (bei uns im Gruppengespräch). Dann wurde in hypnotischen Sitzungen gezielt auf das eingegangen (bei uns im Rahmen der Selbsthypnose des AT mittels formelhafter Vorsatzbildungen).
Vielfach wir nach Formelbeispielen gefragt, respektive nach einem „Formelverzeichnis“. Darauf muss die Antwort lauten: Es gibt keine standardisierten Formeln, sondern sie müssen „maßgeschneidert“ auf Patient und Situation zugeschnitten werden. Immerhin kann man aber einige typische Beispiele für Arten solcher Formeln geben, die in obiger Weise für unsere Gruppen gefunden wurden. • Selbstbehauptungsformeln. Diese sind für viele Selbst-Unsichere, auch für Prüfungssituationen etc. nützlich. Das „Ich bin ich“ (allein oder mit verschiedenen situationsspezifischen Zusätzen) ist eine Kurzform. In Besprechung dieser für viele relativ gut wirksamen Formel sage ich etwa: „Sie bedeutet, dass man ein stabiler Mensch ist, der den eigenen Wert kennt, der die anderen in ihrer Bedeutung nicht überbewertet“ oder ähnlich. Besteht die Gefahr eines zu großen Egoismus wird man diese Formel nicht geben oder „abgepuffert“ mit „... aber ich respektiere die andere Meinung“ oder ähnlich. Diese Formel ist auch für Prüfungsneurose gut. Dazu kann man nehmen „ich kann es und lasse mich nicht stressen“ oder ähnlich (vergleich das bei Hypnose in Kap. C3 Gesagte). Die „Fernwirkung“ einer Selbstbehauptungsformel zeigt folgender Fall: Ein End-20-Jähriger kam wegen Schwierigkeiten in der Partnerfindung in die Therapie. Er zeigte sich im Gruppengespräch als stark vom Vater abhängig, in dessen Geschäft er arbeitete, wobei er auch deutlich unterwertig beschäftigt wurde (Kohlenträger in einer Brennstoffhandlung). Dabei war er ein durchaus intelligenter junger Mann mit gutem Matura-Erfolg. Er hatte sich schon eine eigene Wohnung erwirtschaftet, aber „nie Zeit gefunden“ sie ordentlich einzurichten. Nach einigen Stunden sagte er dann klar heraus, dass er wegen seiner „Impotenz“ in die Behandlung gekommen war. Die Gruppe ging aber gar nicht näher auf diese Mitteilung ein (psychodynamisch spontan gute Funktion einer Gruppe [!]), konfrontierte ihn nur mit seiner überstarken Abhängigkeit vom Vater und seinem vernachlässigten Aussehen, da er nämlich immer im Arbeitsanzug in die Therapie kam; und man so ja keine Frau finden kann, wo er doch „eigentlich ein fescher Bursch“ sei. Ein ältere Dame, die eine Art mütterliche Beziehung in der Gruppe zu ihm aufgenommen hatte, sagte heraus: „Eigentlich wäre es ja besser, wenn Ihr Vater tot wäre!“ Das löste große Erschütterung aus, insbesondere, weil es von dieser gesitteten älteren Dame kam, der man solch Gedanken gar nicht zugetraut hätte. Der junge Mann bekam (natürlich) keine Sexual-Formel und natürlich auch keine Formel gegen den Vater, sondern nur eine allgemeine Selbstbehauptungsformel. Schon in den späteren Gruppenstunden war er viel ordentlicher an-
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gezogen in die Gruppe gekommen. Er machte dann die Gruppentherapie gar nicht bis zum Ende mit, sondern stand einmal einfach auf und sagte: „Dankeschön, jetzt weiß ich’s und werde es machen!“ und ging weg. Irgendwann nach nicht allzu langer Zeit erhielt ich dann von ihm eine Ehe- und wieder später eine Geburtsanzeige. • Formeln gegen psychodynamisch stark wirksame Störfaktoren. Etwa: „Ich lasse mich durch … nicht stören und lebe mein Leben“. • Organformeln bei Rehabilitationspatienten. Etwa bei Polakisurie: „Im Unterleib alles strömend warm“. Hingegen sind bei anderen Störungen Organformeln sehr mit Vorsicht respektive gar nicht anzuwenden. Etwa bei einem Herzneurotiker kann die verstärkte Zuwendung zum Herzen die Störungen verstärken, Analoges gilt für Potenzstörungen. Anderseits gibt Thomas auch dafür spezielle Formeln an (E2, F3). • Gut gewirkt hat im Rahmen von Darmstörungen bei Syrogymelie: „Ich bin ruhig, Ruhe stärkt den Darm, Angst geht weg“. • Bei Patienten mit leichter Restaphasie nach Insult, die er aber (überwertend) störend empfand und sich deshalb aus dem sozialen Kontext zurückzog: Reden ist gleichgültig, ich bin ich. Es trat eine erstaunliche Besserung und soziale Reintegration auf. • Bei Rehabilitationspatienten (MS, Schlaganfall) mit überstarker Müdigkeit; Interesse- und Lustlosigkeit: „Ich bin frisch und munter, lasse mich nicht unterkriegen“. • Bei gravierenden Schwierigkeiten mit den erwachsen werdenden Kindern: „Ich helfe meinem (meiner) … so gut ich kann, lebe aber auch mein eigenes Leben“. Bei einer Mutter, deren erwachsener Sohn ein hoffnungsloser Alkoholiker mit diversen Entziehungskuren usw. war, fallweise verschmutzt und übelriechend heim kam. Die Mutter war begreiflicherweise sehr deprimiert. So konnte sie sich von der hoffnungslosen Situation lösen ohne aber ihren Sohn fallen zu lassen. • Bei Schwierigkeiten mit dem Vorgesetzten und starker emotionaler Belastung dadurch: „Ich mache mein Bestes mit Konsequenz und Toleranz“. • Bei Partnerverlust, Einsamkeitsgefühl und zaghaften Anbahnungsversuchen neuer Partnerschaft: „Neubeginn, Ruhe und Konsequenz“. • Bei schwierigen exogen bedingten großen Enttäuschungen mit Familie und damit zusammenhängend großen finanziellen Einbußen: „Ich mach das Beste daraus!“ Später dann angefügt: „und gehe meinen Weg“.
Wie schon vorerwähnt sind bei der Einzelvermittlung des Autogenen Trainings die gleichen Möglichkeiten der Formelverwendung gegeben. Auch dabei kommt es darauf an, nicht einfach eine Formel „überzustülpen“, sondern mit dem Patienten eine ausführliche Diskussion über diese anzuregen und so zu einer emotional gut resonanten Lösung zu kommen. Der Beginn der folgenden Gruppensitzung (typischerweise nach einer Woche) soll keineswegs damit eingeleitet werden, dass man auf die vorige Gruppe hinweist und sagt man sollte das weiter besprechen o. ä. Es hat sich nämlich inzwischen in den Menschen einiges bewegt. Es kann sein, dass das vorige Thema abgeschlossen oder desaktualisiert ist (etwa auch im Rahmen Besprechung in einer „Nachgruppe“). Vor allem kann sich aber auch in einem anderen Gruppenteilnehmer schon ein gewisser „Druck“ aufgebaut haben, mit seiner Thematik herauszukommen, was man durch den Verweis auf die Vorgruppe („dirigistisch“) verhindern würde.
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Will die Gruppe selbst (respektive ein Gruppenmitglied) auf das Vorige zurückkommen, wird man es natürlich keineswegs blockieren. Interessant ist dabei öfters, dass sich eine erarbeitete eigene Formel innerhalb der einen Woche etwas verändert hat oder dass das Gruppenmitglied zwei der Formelvorschläge kombiniert hat. Eine Ausnahme von obiger Regel, nicht wieder mit dem alten Thema anzufangen, kann sein: Wenn man in der Vorgruppe aus zeitlichen Gründen (trotz des von mir routinemäßig eingeplanten Spielraums von etwa 1/4 Stunde für den Schluss) mit einer begonnenen Formelfindungsdiskussion nicht zum Ende gekommen ist und ein deutlich unbefriedigtes Bedürfnis da ist. Dann sage ich am Anfang der Folgegruppe: „Wir schulden dem Patienten Sowieso noch die Beantwortung seiner Frage nach einer passenden Formel und sind letztes Mal mit der Diskussion nicht fertig geworden. Wir sollten das jetzt zum Abschluss bringen und können dann in eine neue Thematik einsteigen.“ Bei uns kam es relativ häufig zu den oben schon erwähnten „Nachgruppen“. D. h. die Patienten plauderten noch vor der Tür eine Weile, im Vorraum, kommunizierten bei gemeinsamer Fahrzeugbenützung (wie sie bei meiner Tätigkeit auf dem Lande organisiert wurde), in Untergruppen. Es kam aber auch zu gemeinsamen Treffen im Kaffeehaus sowohl vor als auch nach der Gruppentherapie. Bei einzelnen Gruppen kam es zu einer Art „Patientenclub“. Einmal trafen sich die Patienten 3 Jahre lang nach Beendigung der Gruppentherapie 1 x im Monat bei einer Patientin im Haus. Wir intervenierten dabei ärztlich in keiner Weise und erfuhren nur zufällig in Gesprächen oder Beobachtungen darüber. Solche „Nachgruppen“ entstanden vor allem dort, wo die Gruppe abgesehen von dem therapeutischen Medium ein wesentlicher gesellschaftlicher Anlass (bei sonst wenig sozialem Kontakt) war. Es betraf das speziell die Seniorengruppen und die MS-Gruppe.
Ich glaube, dass in derartigen Nachgruppen sehr viel zum Bearbeiten und Weiterentwickeln (nennen wir es „verdauen“) der verschiedenen neuen Erkenntnisse und deren Einordnung ins reale Leben geschieht, übereinstimmend mit Battegay, auch übereinstimmend mit Sullivan (A4), der postuliert hat, dass das Wesentliche der Psychotherapie sich zwischen den eigentlichen Behandlungen ereignet. Das steht – ist vielleicht historisch interessant – im Gegensatz zur Ansicht der Gruppentherapeuten der Anfangszeit. Diese gaben ein Verbot für Treffen der Gruppenmitglieder außerhalb der Gruppe, worauf diese sogar ein Versprechen ablegen mussten. Man war der Meinung, es werde dadurch zu viel psychodynamischer Druck „abgelassen“, der dann für eine dynamische Weiterentwicklung der Gruppe fehlen würde. Von derlei Auffassung ist man allgemein abgekommen. Insbesondere auch von der heute schon skurril anmutenden Ansicht, dass es nicht angeht, zweigeschlechtliche Gruppen zu führen wegen der „Gefahren“, welche die „kupplerische Funktion der Gruppenatmosphäre“ mit sich bringt.
Das Beenden der Gruppentherapie soll bewusst gestaltet werden und bedarf gewisser Techniken. Vgl. auch F5 und H1. Die Einzelstunde versuche ich immer mit einem positivem Statement (positiver „Drüberstreuer“ mag als plastischer Jargonausdruck gestattet sein) zu beenden, aus folgenden Gründen: 1. Der Patient nimmt einen positiven Eindruck mit und die evt. gefährliche Wirkung negativer Emotionen (bis zur Suizidalität) wird abgeschwächt. Es
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D4. Gruppenzusammenstellung und -ablauf
189
ist auch einfach „humaner“, wenn wir dem Patienten ein Wohlfühlen im Gegensatz zu einem Schlechtfühlen vermitteln können. 2. Man soll aber auch daran denken, dass es unserem Ruf als Therapeuten nicht gerade nützlich ist, wenn alle unbefriedigt und zerrissen aus der Gruppe (aus der Einzeltherapie detto) hinausgehen. Denn schließlich erzählt ja der Patient zwar – wenn er sich an das Gruppengeheimnis hält – nicht über den Inhalt der Gruppe, aber er gibt seine Stimmungen an seine Umgebung weiter. Auch kann sich aus zu großer Frustration leicht ein Therapieabbruch entwickeln, was weder dem Patienten noch dem Therapeuten nützt und die Psychotherapie an und für sich in Misskredit bringt. Waren sehr kontroverse Meinungen, sage ich etwa „ich glaube, es war sehr wichtig für uns alle, dass wir diese unterschiedlichen Meinungen kennen und auch respektieren gelernt haben. Wir werden uns das sicher für das nächste Mal überlegen und es wird uns produktiv weiterhelfen“. War das Gruppengespräch am Ende flau und emotionsarm, pflegte ich ungefähr zu sagen „es haben sich zwar keine wesentlichen Probleme abgezeichnet, aber gerade in solchen Phasen einer gewissen Kontemplation mag sich manches im Stillen entwickeln, was uns bei der nächsten Gruppenstunde sicherlich beschäftigen und gut weiterbringen wird.“ Waren die Gruppenangehörigen aggressiv aufeinander losgegangen, pflegte ich etwa zu sagen „es waren jetzt sehr viele Emotionen mit im Spiel. Es ist gut, dass wir wissen, wir können diese in der Geborgenheit der Gruppe herauslassen. Aber wir sollen die Meinungen der anderen auch überlegen, wirken lassen und so für unsere weitere Gruppe neue Möglichkeiten finden“ etc. etc. Die Meinung mancher Therapeuten, die glauben, dass das Belassen ungelöster Probleme zur Selbstbearbeitung durch den Patienten therapeutisch günstig sei, lehne ich ab, übereinstimmend mit Reimer (H1), der diesbez. von einer „sadistischen Einflüssen ausgesetzten Therapeutenhaltung“ spricht.
Das Gesamt-Ende unserer 2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit Autogenem Training habe ich immer so gestaltet, dass ich etwa 2 Gruppenstunden vorher darauf hinwies, dass wir uns jetzt langsam auf die Ferien vorbereiten und jeder sich überlegen soll, was er noch in die Gruppe einbringen will. Erfahrungsgemäß ist es dann so, dass nur mehr wenig Neues kommt und das Gespräch aus ziemlicher emotionaler Tiefe mehr ins Oberflächliche gleitet (wovor man sich als Therapeut nicht scheuen, sondern es eher als regelhaft und als beginnenden Ablösungsprozess verstehen soll). Vergl. Abb. 14a. Die Schlussmitteilungen, dass man jederzeit erreichbar ist und dass, wer will, evt. im nächsten Jahr wieder teilnehmen oder auch in die Ordination wieder kommen kann, werden zwar zur Kenntnis genommen, aber nur von wenigen in die Realität umgesetzt.
Es hört also die Gruppe, so wie sie begonnen hat, auch wieder auf, nämlich mit relativ oberflächlichen Gesprächen (Abb. 14a). Der in der psychotherapeutischen Literatur manchmal pointiert genannte „Trennungsschmerz“, der auch zur Exazerbationen führen kann, fällt bei der beschriebenen Art der Beendigung kaum ins Gewicht.
190
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Mutatis mutandis sind die hier beschriebenen Wege der Beendigung von Psychotherapie keineswegs nur bei Gruppentherapie, sondern durchaus auch bei der Einzeltherapie gültig. Didaktische und Selbsterfahrungsgruppen Sie wurden im Vorigen schon mehrfach erwähnt und haben eine wichtige Funktion in Ausbildung und Fortbildung des Psychotherapeuten. In der „Selbsterfahrungsgruppe“ fällt das didaktische Element weg. Selbsterfahrungsgruppen können über Jahre laufen und haben Analogien zu Balint-Gruppen, respektive eins geht manchmal in das andere über. Sie können im österreichischen Curriculum für Psychotherapeutenausbildung auch im Rahmen der obligaten „Selbsterfahrung“ besucht werden. Je nach Ausrichtung des Gruppenleiters können sie mehr nondirektiv oder mehr analytisch sein. Didaktische Gruppen zur lehrmäßigen Vermittlung der in diesem Kapitel beschriebenen Methodik der „2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem AT“ wurden von mir regelmäßig im Rahmen der Badhofgasteiner Psychotherapie-Wochen und auch sonst im In- und Ausland (vgl. B2) durchgeführt. Sie dienen einerseits dem Selbsterleben von gruppendynamischen Prozessen, anderseits dem Erlernen der Methode; beides zum Zweck einer therapeutischen Eigenanwendung für die Praxis. Die Teilnehmer waren jeweils Ärzte in Psychotherapieausbildung. Jene „Doppelfunktion“ der Gruppe war wesentlich leichter kompatibel, als es beim theoretischen Betrachten scheinen mag. Es musste nur am Anfang der Gruppe genau erklärt werden und es ist Sache der Geschicklichkeit des Gruppenleiters, beides entsprechend zu verbinden. Praktisch habe ich es so gehandhabt, immer die Gruppendynamik frei laufen zu lassen und jeweils erst am Ende der einzelnen Gruppensitzung und dann am Ende der ganzen Gruppenserie (bei didaktischen Gruppen in einer Fortbildungswoche: typischerweise 7 Doppelstunden) didaktische Hinweise zu geben. So konnte es tatsächlich gelingen, dass die zwischengeschaltete „Lehrtätigkeit“ die Gruppendynamik nicht störte. Es ergaben sich nicht nur didaktische Weiterbildung, sondern auch emotionale Gruppenerlebnisse mit Diskussion echter persönlicher Probleme, entsprechender formelhafter Vorsatzbildung etc. Noch Jahre später wurde mir mehrfach von den Gruppenteilnehmern bei Begegnung spontan gesagt, dass sie davon auch in ihrer Persönlichkeits-Weiterentwicklung einiges mitgenommen hätten. Das Seminar wurde überdies auf den Hörerfragebogen laufend recht gut bewertet. Auch der erfahrene Gruppendynamiker Battegay (2003) hat mitgeteilt, dass in seinem Erfahrungsgut bei didaktischen Kurzgruppen sehr emotionale Erlebnisse mit Dauerwirkung rangieren.
Balint-Gruppen sind von der Intention des Namensgebers her eigentlich als didaktische Gruppen gemeint. Es sollen darin praktizierende Ärzte die zusätzlichen psychischen Hintergründe und Beweggründe ihrer Patienten kennenlernen.
D. 2-stufige Gruppenpsychotherapie / D4. Gruppenzusammenstellung und -ablauf
191
Es werden dazu jeweils Problempatienten aus der Praxis der einzelnen Gruppenteilnehmer referiert und dann in der Gruppe diskutiert. Die Erfahrung ergibt, dass dabei allerdings auch die eigene Psychodynamik der Gruppenteilnehmer stark herauskommt und neben dem Didaktischen auch immer ein gewissen Maß an Selbsterfahrung erfolgt. Das Ausmaß des Verhältnisses zwischen dem einen und dem anderen ist jeweils bei verschiedenen Gruppenleitern verschieden.
Gemeinsam ist den didaktischen und Selbsterfahrungsgruppen, dass es sich dabei um psychotherapeutisch „angebrütete“ Personen handelt, die aus ihrem Vorwissen schon Vorstellungen und Erwartungen in die Gruppe mitbringen. Diese sind jedoch je nach Person, Vorkenntnis und „Schule“ sehr unterschiedlich. Es kommt typischerweise zu relativ starkem emotionalen Engagement, das zu Aggression, Weinausbrüchen, etc. führen kann. Es kommt auch zu stärkerer Selbstreflexion über das Gruppengeschehen an sich, darüber wie man sich selbst dabei fühlt, etc. Derlei ist in den Patientengruppen kaum üblich, da sich der Patient viel mehr an die allgemeinen Gesellschaftsregeln hält. Der Gruppentherapeut soll daher nicht etwa aus seiner Lehrgruppenausbildung zu viel Dramatik in Gruppensitzungen erwarten oder gar stimulieren. Besonders „gesittet“ und „konventionell“ geht es in den Seniorengruppen zu, und doch konnten wir zeigen, dass gerade dabei besonders gute Resultate erzielbar waren (Abb. 12). Es ist
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
also die Dramatik in der Gruppentherapie keineswegs die Voraussetzung für deren guten Erfolg, sondern es gibt auch einen Fortschritt in der Stille und „Undramatik“. Darauf sollte der Gruppenleiter vertrauen. Noch einige Worte zu anderen Gruppenkonzepten Natürlich gibt es auch Therapieschemen, wo nur Gruppentherapie ohne AT und anderseits AT ohne Gruppenaussprache verwendet wird. Die Gesetzmäßigkeiten sind dabei die gleichen. Ploeger kombiniert Elemente des Psychodramas mit solchen der analytischen Gruppentherapie. Emotional stark agierende Gruppen (Encounter groups) werden vom Gruppenleiter so geführt, dass er die personelle Begegnung (teils auch konfrontative Begegnung) der Gruppenmitglieder untereinander katalysiert. Derlei wurde und wird auch in ununterbrochener Blockform (Wochenenden) angeboten, teils als „Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung“ bei NichtPsychotherapie-Bedürftigen. Pieringer und Pakesch haben dazu kommentiert: „Dieser Vorstoß in tiefere Schichten des Unbewussten durch emotionale Aktivierung führt in manchen Fällen bis zu hysterischen Mikropsychosen, kann frühe Erfahrungen einem Nacherleben zugänglich machen. Das kann aber bei labilen Individuen durchaus (begreiflicherweise) auch kritisch sein.“ Ich schließe mich diesen Bedenken an. Eigene Erfahrungen fehlen.
Der relativ ausführliche Besprechung unseres Gruppenmodells wollte den Leser in die Lage versetzen (vorausgesetzt, dass er bereits psychotherapeutisches Vorwissen und Selbsterfahrung hat), die Methode auch praktisch anzuwenden. Allerdings wird zur tatsächlichen optimalen Anwendung ein didaktisches Gruppenseminar mit Selbsterfahrung empfohlen, wie es im Rahmen der Bad Hofgasteiner Psychotherapie-Wochen der Akademie für psychotherapeutische Medizin innerhalb von 7 Tagen schon mehrfach seine Wirksamkeit und Praktikabilität erwiesen hat.
Zusammenfassung „unser Modell“: 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training Ich erachte dieses Therapieschema als besonders praktikabel für eine auch sozial integrierbare Psychotherapie und möchte es einer jungen Psychotherapeutengeneration empfehlen; nicht nur deshalb, weil „jeder Krämer seinen Laden lobt“, sondern weil ich die Methode durch viele Jahre sowohl in Eigenerfahrung als auch anhand der Erfahrungen von Patienten mit vielen anderen psychotherapeutischen Methoden verglichen habe. Sie scheint mir auch deshalb besonders zeitgemäß, weil in unserer technisierten Welt immer mehr Menschen sozial isoliert sind. Speziell
E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E1. Respiratorisches Feedback
193
trifft das ja auf die Senioren zu (F1), für welche ich den guten Effekt besonders aufzeigen konnte. Gegenüber einer ausschließlichen Aussprachengruppe ohne AT ist der große Vorteil, dass die Menschen etwas Handfestes haben und auch den körperlichen Erfolg von Gruppenstunde zu Gruppenstunde spüren können, was natürlich ein wesentlicher Stimulus zur intensiven Mitarbeit ist. Außerdem ist das Vermitteln von etwas Körperlichem neben den „nur“-Gesprächen etwas, das der Erwartung des Patienten an den Arzt entgegenkommt. Wir bieten durch die Kombination zweier Wirkprinzipien mehr an und haben daher die größere Chance, individuell für jeden etwas zu bieten. Die häufigen differenten Patienten-Aussagen beweisen das. Einerseits: „das Autogene Training ist eine wunderbare Sache und hat mir sehr geholfen“, anderseits „die Gespräche haben mir sehr genützt“. Der zeitliche Rahmen von 3 Semestern ist einerseits lang genug, dass psychodynamisch sich etwas bewegen kann, andererseits kurz genug um sozial tragbar zu sein und den Patienten auch nicht zu lange am Gängelband zu halten (was ja bei manchen sehr lange dauernden Psychotherapien auch geschieht, im Gegensatz zur wünschenswerten Verselbstständigung des Patienten). Es besteht gute Kombinierbarkeit mit Einzeltherapie. Das gilt für Einzelordinationen mit Gesprächstherapie, speziell auch für katathyme Imaginationspsychotherapie oder Hypnose.
E.
Das Hypnoid in weiterer methodischer Anwendung
E1.
Respiratorisches Feedback (RFB nach Leuner)
Schlagwort-Information Als apparativ-unterstützte Psychotherapie hat es manche Parallelen zum Autogenen Training, braucht jedoch keine lange Erlernphase und eignet sich wegen seiner Kurzfristigkeit besonders zum Kurbetrieb.
194
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Das Respiratorische Feedback (RFB) wurde in Vorstehendem schon mehrfach unter den „hypnoiden Methoden“ erwähnt. Hier nun einiges Nähere dazu. Es handelt sich um eine apparativ unterstützte Psychotherapie; wegen der apparativen Unterstützung also keine „reine“ Psychotherapie. Aber Inhalte und Anwendungsmöglichkeiten entsprechen der Psychotherapie. Dem Patienten werden seine eigenen Atemexkursionen über ein einfaches Sensorsystem sicht- und hörbar gemacht. Dadurch kommt er in einen psychophysischen Entspannungszustand, welcher in ein Hypnoid einmündet. Es können auch durch ein Lautsprechersystem Inhalte in das Hypnoid eingesprochen werden und so Vorstellungsinhalte (Formeln) als „Hausaufgabe“ gegeben werden. Das RFB ist (im Gegensatz zum AT) über eine aus den Atemexkursionen abgeleitete „Entspannungskurve“ auch zu objektivieren. Allerdings konnten wir in mehreren unserer Serien feststellen, dass zwar in einem größeren Teil der Fälle der positiv subjektive Effekt (hinsichtlich der Symptombesserung) und der positive objektive Effekt (in der Entspannungskurve) übereinstimmend waren. Es gab aber auch etliche Ausnahmen mit Diskrepanzen zwischen Entspannungskurven und Symptombesserung. Es mag die Atemkurve also von gewissem wissenschaftlichen Interesse sein, aber für die klinische Anwendung ist sie keineswegs obligat. Wer nähere Informationen möchte, wird verwiesen auf: Barolin: Das respiratorische Feedback (RFB) nach Leuner (2001) und in diesem Buch auf folgende Beiträge speziell: Wätzig: Die Anwendung bei Kindern und bei posttraumatischer Belastungsreaktion; Bergdorf: In der Psychoonkologie und Schmerzbehandlung; Horn: Bei multipler Sklerose. Außerdem findet sich dort auch genaue Apparat- und Anwendungsbeschreibung.
Da das RFB häufig im Zusammenhang mit AT genannt wird, auch als eine „neue Art des Autogenen Trainings“ bezeichnet wird (fälschlich, nach meiner Überzeugung!), gibt Abb. 15 die wesentlichen Gleichklänge und Unterschiede zum AT wieder. Wir haben mehrere Patientenserien gezielt mit dem RFB behandelt und systemisch evaluiert. Dabei waren Indikationen und Kontraindikationen im Wesentlichen die gleichen wie für AT. Wir behandelten also sowohl vordergründig psychogen als auch vordergründig somatogen Beeinträchtigte, insbesondere auch Rehabilitationspatienten (mit ihrer somatogenen Störung + deren psychogenen Auswirkung). In einer systemisch evaluierten Serie von Oder, Scheiderbauer und Barolin (1985) von 102 Patienten verglichen wir das EMG (Muskelentspannungs-)Feedback mit dem RFB. Über unser Gesamtkrankengut zeigte sich das RFB 1. Wirkungsvoller und 2. Hatte auch eine wesentlich bessere Patientenakzeptanz. Außerdem ergab sich beim RFB die Möglichkeit der Anwendung in Gruppen. Eine Gruppe von 72 Patienten wurde von Mehlstaub und Barolin ausgewertet und dabei zeigte
195
E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E1. Respiratorisches Feedback
Somatotrop
Vergleich und Differenzierung von Autogenem Training (AT) und Respiratorischem Feedback (RFB) Methodik Wirkung
AT
RFB
Muskelentspannung Vegetative Umschaltung
In beiden gleichermaßen wirksam
Psychotrop
Dynamisierung Einbringung Psychotherapeutischer Inhalte
Längerfristig und profunder
Als Kurzsuggestion möglich
Eigeninitiative + Motivation
Stärker gefördert und verlangt
Apparativ unterstützt
Erfolg
„Geht tiefer“
„Geht schneller“
Kombination miteinander + anderer Methodik
Gleichermaßen möglich
Abb. 15 Das Respiratorische Feedback (RFB) nach Leuner wird fallweise fälschlich dem AT gleichgesetzt. Es hat sehr wohl einige wesentliche Gleichklänge, aber auch einige wesentliche Unterschiedlichkeiten. sich ein deutlich besseres Ansprechen der Frauen. Dieses können wir nur als Faktum darstellen, ohne dafür eine spezielle Erklärung zu haben. Abb. 16a. Soweit für eine Nachuntersuchung erreichbar, konnten wir auch den Langzeiteffekt des RFB prüfen und fanden dabei fast die Hälfte mit Anhalten des guten Erfolges über Jahresfrist. Eine weitere Serie gemischtes Rehabilitations- und Schmerzkrankengut von 100 Patienten wurde von Barolin, Reiter und Meysen evaluiert. Es erfolgte auch der Vergleich von Patienten mit und ohne formelhafter Vorsatzbildung im RFB. Die formelhafte Vorsatzbildung erfolgte analog den Formeln im Autogenen Training (siehe D4), allerdings konnte anhand der großen Zahl und anhand einer kurzdauernden halboffenen Gruppe (4 Wochen des Rehabilitationsaufenthaltes) keine ausführliche Gruppenbesprechung stattfinden, sondern die Formeln wurden weitgehend im einmaligen Gespräch mit dem Therapeuten gegeben. Es zeigte sich laut Abb. 16b
196
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
deutlich, dass Patienten, welche auch eine Formel erhielten, wesentlich mehr Compliance aufwiesen. Offensichtlich war es für sie wichtig zu sehen, dass man nicht nur „entspannte“, sondern gezielt auf ihre Problematik einging. Bei jener Gruppe von 100 Patienten fand sich das beste Ergebnis in der Schmerzreduktion bei Schmerzpatienten: 51%.
Gesamthaft ergab sich also im Eigenkrankengut an mehreren systematisch evaluierten Serien das Folgende (was auch weitgehend mit den Angaben anderer Autoren übereinstimmt): • Das RFB ist generell günstiger anzuwenden als das Muskelbiofeedback. • Das RFB ist schneller und kurzfristiger einsetzbar als das Autogene Training, eignet sich also sehr für halboffe Gruppen bei stationärem Rehabilitationsaufenthalt (Kurbetrieb!). Das scheint mir besonders wesentlich, denn dabei kommt eine sinnvolle Anwendung des AT kaum in Frage. • Das RFB hat (ebenso wie das AT) seine sinnvolle Indikation bei sowohl psychogen als auch somatogen Beeinträchtigten, besonders aber bei Rehabilitationspatienten (wo ja häufig beides zusammenkommt). Unerklärtermaßen sprechen Frauen deutlich besser an als Männer. • Ungefähr die Hälfte der günstigen Effekte des RFB konnten wir nach einem Jahr noch als bestehend (besonders Schmerzpat.) feststellen. Es zeigte sich das RFB also als mehr als nur eine momentane Entspannungsübung. • Als sinnvolle Zwischenlösung haben wir es auch bei den auf Warteliste befindlichen Patienten für unsere einmal jährlich beginnende 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training eingesetzt (D3). Einerseits um den Patienten nicht ohne sinnvolle Therapie warten zu lassen. Anderseits zeigt sich die Vorarbeit im RFB auch als günstige Konditionierung für spätere systematische Anwendung des AT. Manchmal zeigte sich auch jene „Zwischenlösung“ als individuell zureichend und ersparte eine Fortsetzung mit weiterer Psychotherapie.
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E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E1. Respiratorisches Feedback
Respiratorisches Feedback Neurol. Valduna, 1 Jahr, 72 Patienten; davon systematisch auswertbar: 48
a)
RFB-Erfolg
Positiv
Indifferent
Negativ
Abbrüche
Frauen N = 28
23 (79%)
1 (3%)
3 (10%)
2 (7%)
Männer N = 19
10 (53%)
7 (37%)
1 (5%)
1 (5%)
Gesamt N = 48
33 (69%)
8 (17%)
4 (8%)
3 (6%)
RFB-Patienten b)
vor der 4. Sitzung ausgeschieden
länger als 3 Sitzungen verblieben
ohne Formel
18
2
mit Formel
6
14
Abb.16 a) Beim RFB zeigte sich eine insgesamt bessere Wirkung bei Frauen, wofür wir keine Erklärung wissen, und b) die Anwendung zusammen mit formelhafter Vorsatzbildung zeigte durch die wesentlich bessere Patientenmitarbeit (Compliance), dass der Patient selbst empfindet, es sei das wesentlicher als nur „entspannen“. Bei der Hälfte der so behandelten Patienten zeigte sich noch nach Jahresfrist eine überdauernde gute Wirkung.
Zusammenfassung zum RFB Im Sinne des Eintauchens in ein Hypnoid und Wiederauftauchen daraus mit dem dynamisierenden Zurücknehmen hat das RFB wesentliche Gleichartigkeiten mit dem Autogenen Training, also psychotherapeutische Dimensionen. Es kann als Psychotherapie mit apparativer Hilfe bezeichnet werden. Wirkungsmöglichkeiten und deren Erklärung sind daher weitgehend analog zum AT. • Es braucht weniger Eigenmotivation (durch die apparative Hilfe) und führt wesentlich rascher zum Hypnoid, vor allem zur Symptomreduktion. (Diese kann auch nachhaltig sein.)
198
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Natürlich ist das AT aber für längerfristige Anwendung zum Zweck psychotherapeutischer und psychohygienischer Begleitung geeigneter, weil dabei keine maschinellen Vorrichtungen nötig sind, und man kann annehmen, dass es durch die Förderung der Eigenaktivität und die Längerfristigkeit auch zur Persönlichkeitsbildung mehr beiträgt. Schlagwortartig kann man sagen: RFB geht schneller, AT geht tiefer. Dementsprechend scheint das RFB vor allem sehr für den Kurort-Betrieb geeignet, wo ja nicht genügend Zeit ist, um AT ordentlich anzuwenden. Wir haben es aber auch bei Psychotherapie-Patienten auf Warteliste zwischenzeitig eingesetzt. Unter Berücksichtigung dieser Kautelen glaube ich, dass RFB stärkere Verbreitung verdienen würde, insbesondere, weil es (durch die mechanische Hilfe) nicht ständig eines geschulten Psychotherapeuten bedarf, sondern zu einem Teil von medizinischem Assistenzpersonal durchgeführt werden kann. Will man allerdings die psychotropen Potenzen voll ausschöpfen, muss natürlich ein Psychotherapeut dabei sein. Überdies ist eine psychotherapeutische Supervision unabdingbar.
Aktueller Kommentar Nach Leuner’s Tod ist die wissenschaftliche Befassung mit RFB nahezu eingeschlafen, ebenso die diesbezüglich gegründete Gesellschaft; vielleicht auch deswegen, weil es dabei weniger zu forschen gibt, als dass RFB praktisch gut anwendbar ist. Einerseits setzen etliche Praktiker (mit denen ich zum Teil Kontakt gehalten habe) RFB mit gutem Erfolg in der Praxis ein. Anderseits weiß ich keine wissenschaftliche Institution (Universitätsklinik), die sich intensiv damit befasst und eine jüngere Generation entsprechend ausbildet. Mir schiene es schade, wenn die (wie gezeigt) sehr brauchbare und wirkungsvolle Methode dadurch in Vergessenheit geriete. Ich würde mir wünschen, dass ein gewisser Reaktualisierungseffekt zum Wohle vieler Patienten durch vorliegende Zeilen einsetzt. Das Gerät heißt im Handel Leunomed®, erhältlich: Deutschland und Schweiz: Hogräfe Verlag Apparatezentrum Rohnsweg 25; D-37085 Göttingen Telefon: +49 (0) 5 51 – 4 96 09-37 Fax: +49 (0) 5 51 – 4 96 09-37 88 E-Mail: [email protected]
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E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E2. Differenzierte Anwendung des Hypnoids
E2.
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Differenzierte Anwendung einzelner Komponenten des Hypnoids
Schlagwort-Information Betrachtet man den hypnoiden Zustand im Anschluss an das Vorgesagte in neurophysiologischem und psychologischem Sinn, so ergibt sich eine differenzierte Indikationsstellung und damit auch Erfolgsbeurteilung. Es ist das wesentlich sinnvoller als die hypnoiden Methoden global beurteilen zu wollen.
Im Folgenden wird die Beurteilung der Wirkungsmöglichkeiten durch die verschiedenen Komponenten des hypnoiden Zustandes differenziert betrachtet und aufgeschlüsselt (Hypnose; AT und RFB als Methoden, welche den hypnotischen Grundzustand psychotherapeutisch verwenden, wurden in vorstehenden Zeilen besprochen. Über katathyme Imaginationspsychotherapie wird noch gesprochen). Eine derartige Betrachtungsweise ist in der Literatur, wo überhaupt Wirkungen analysiert werden, bisher nicht üblich gewesen. Man hat global die Wirkung „des Autogenen Trainings“ angesprochen. Wir kommen aber auf unserem Weg zu einer differenzierteren Beurteilung. Es wurde schon vorgesagt, dass man das AT zu simpel sieht und „unter seinem Wert verkauft“, wenn man nur die muskelrelaxierende Komponente in Betracht zieht. In C1 Abb. 11b konnten wir mehrere wesentliche Komponenten aufführen, nämlich 1. Die Musklelentspannung in einerseits Eigenwirksamkeit und anderseits in ihrer Funktion als Schiene zu 2. Hypnoid, einem trophotrop „umgeschalteten“ vegetativen Zustand mit Förderung der Introspektion und Suggestibilität; 3. Die Dynamisierung durch energisches willkürliches Beenden jener hypnoiden Umschaltung und damit forcierter Rückkehr zur Ergotropie. 4. + 5. und daraus resultierend die gezielte Organbeeinflussung und/oder psychotherapeutische Wirkung im engeren Sinn mittels formelhafter Vorsatzbildung (vergleiche B4). Die Abb. 17 ordnet nun diese Komponenten des Hypnoids verschiedenen Störbildern zu. Es werden dabei langjährige Erfahrungen tabellarisch zusammengefasst. Vergleiche dazu auch das in E4 bei der Formelfindung und -Bildung Gesagte, da ja die Überlegungen zur differenzierten Anwendung des Hypnoids (natürlich) auch in die Formeln einfließen sollen.
Der stark vegetativ „Gestresste“ kann einerseits direkt von der muskulären Entspannung und der vegetativen Umschaltung profitieren. Dazu soll aber immer eine komplexe Psychotherapie laufen. Denn bekanntlich gibt es nur
200
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Differentialindikation der Wirkfaktoren in der Hypnoidtherapie
Abb. 17 Aus der Kenntnis der Neurophysiologie des Hypnoids und der Erfahrung bei psychotherapeutischem Einsatz ist hier schematisch dargestellt, welche Komponente des Hypnoids bei welchen Störungen hauptsächlich zum Tragen kommt respektive kommen soll.
sehr wenige Menschen, welche unvermeidbar in den schädigenden Stress geworfen sind. Häufig ist es hingegen, dass der Patient sich aus einer psychodynamisch bedingten Grundkonstellation heraus besonders stressenden Situationen aussetzt, oder diese ihn wesentlich mehr stören als andere. Mit Stress in Zusammenhang gebracht wird meist der Spannungskopf-
E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E2. Differenzierte Anwendung des Hypnoids
201
schmerz im engeren Sinn, meistens + Schulter-Nacken-Schmerzen. Hierbei geht es (neben der schon genannten komplexen Psychotherapie) einerseits um Allgemeinentspannung, anderseits um lokal wirksame Entspannung (Näheres in G2). Die subdepressiven, häufig + hypotonischen Patienten machen in einem Allgemeinklientel einen relativ hohen Anteil aus, und für sie ist das „Dynamisieren“ eine besonders wesentliche Maßnahme, die aber eine vorangehende vegetative Umschaltung zum Hypnoid verlangt. Diverse Organbeschwerden können zwar fallweise über die muskuläre Entspannung direkt angesprochen werden. Vor allem zählt aber dabei die Möglichkeit des Einführens psychotherapeutischer Inhalte. Der geneigte Leser mag aus unserer Abb. 17 sehen, dass die direkte Organbeeinflussung zumeist in Klammer gesetzt ist, und im Hintergrund zu stehen hat, gegenüber dem psychotherapeutischen Angriffspunkt. Denn relativ häufig sind derartige Organbeschwerden „Präsentiersymptome“ allgemeiner Verhaltensstörungen. Eine isolierte Organzuwendung ist daher in der überwiegenden Zahl der Fälle eher kontraproduktiv. Ausnahme: die psychohygienische Indikation bei der Geburt, aber auch dabei kann sich die direkte Organzuwendung (Krampflösung am Uterus) mit allgemein entängstigenden Formeln und positiven Erwartungsformeln für ein erwünschtes Kind verbinden.
Bei Sexualstörungen kann die isolierte Zuwendung zum Organ die Störung noch verstärken. Sie werden daher einerseits typischerweise in der Therapie (speziell auch mit Formeln im Autogenen Training) nicht direkt angesprochen. Thomas geht aber dabei anders vor und gibt bei seinen psychotherapierten Sexualstörungen mit direktem Ansprechen immerhin ein Drittel positiver Erfolge an. Seine Spezialität sind gereimte formelhafte Vorsatzbildungen. Ich zitiere einige seiner Beispiele: „Ich liebe mit männlichem Mut, erlebe es lange und gut!“ „Ich liebe als Mann; ganz langsam und lang, denn ich weiß, was ich kann!“ Bei Frigidität: „Leib und Becken strömend warm; die Liebe macht Freude!“
Natürlich geht es dabei um eine differenzierte Betrachtung und Behandlung welche auch körperliche Maßnahmen einschließt. Darum folgend die uns begegnenden wesentlichsten Arten der Sexualstörung mit Hinweisen auf ihre kombinierte Behandlung – siehe dazu auch Fallbeispiel des „Impotenten“ jungen Mannes in E4 sowie weitere Hinweise zur Sexualität in F3. • Ejaculatio praecox, also der vorzeitige Samenerguss, wie er häufiger bei jüngeren Männern durch starke Erregungsbildung vorkommt. Rein mechanistisch haben hier Masters und Johnson die Sqeezing-Methode empfohlen, also vor dem Höhepunkt schmerzhaftes zusammendrücken der Eichel durch die Partnerin oder durch den Mann selbst, was manchmal die Erregung zurückdrängen kann. Weiters werden anästhesierende Cremen auf die Eichel empfohlen. Die (sogar in einem amerikanischen Film vorgeführte) Studentenpraktik bei einer ersten Begegnung, die man sehr anstrebt, zuerst daheim „abzuspritzen“, da es beim 2. Mal nicht so schnell kommt, gebe ich wieder, ohne sie ärztlich zu empfehlen.
202
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Die männliche Erektionsschwäche kann sowohl psychodynamisch bedingt sein (vergleiche Beispielfall in D4) als auch organisch, etwa bei Diabetes. Im Alter wird die Erektion an und für sich schwächer und seltener (F3). Häufig besteht eine teilweise Erektionsschwäche, die aber wegen Versagensangst als circulus vitiosus wirkt und weiteren Verkehr unmöglich macht. • Die „Onanieskrupel“ sind heute, wo darüber ganz offen und (außer in streng katholischen Kreisen) wertneutral gesprochen wird, kaum mehr aktuell. • Bei der Frau haben wir es mit Orgasmus-Störungen zu tun sowie mit Schmerzhaftigkeit durch trocken werden der Scheide im Alter (F).
Auch bei den Herzneurosen kann eine verstärkte Zuwendung auf das Herz die Symptomatik verstärken. Empfehlenswert kann es sein, bei den Übungen, dem Einzelnen zu raten, die Herzübung „links liegen zu lassen“. (Das geht auch in der Gruppe), und eher auf allgemeine Ruhe und/oder auf die entsprechende psychodynamisch relevanten Inhalte hinzuarbeiten. Die sogenannten „Prüfungsneurosen“ wurden schon im Kapitel über Hypnose (C3 – dort auch Formelvorgaben respektive hypnotische Inhalte) behandelt. Typischerweise kommen die Prüflinge nicht in den langen Vorbereitungsphasen, sondern im letzten Moment, mit Bitte um Hilfe. Dementsprechend kommt dabei sinnvollerweise die Heterohypnose oder RFB zum Einsatz, denn für das AT ist dann kaum Zeit. Der Schmerz ist ein durchaus dankbares Gebiet für hypnoide Maßnahmen, vergleiche auch die Aussagen in Kap. C3 und G3. Hier wird man Formeln respektive heterohypnotische Inhalte verwenden, wie „Schmerzen sind unwichtig“ oder „Schmerz fließt ab“ etc. Ein Beispiel aus eigenem Erfahrungsgut für gute Wirksamkeit beim Zahnarzt zeigt mehrerlei: • Die gute Einsetzbarkeit hypnoider Maßnahmen auch bei Kindern (oder gerade bei Kindern!). • Das selbsttätig mögliche Wirken des AT auch ohne besondere Formel. • Die Weitergabe von Patient zu Patient sogar ohne ärztliche Mitwirkung. Ein kleiner Bub aus der Serie der in AT trainierten epileptischen Kindern in Marseille (Näheres in Kap. C4) sollte den allseits gefürchteten Weg zum Zahnarzt antreten. Ich sagte ihm (ohne viel eigene Überzeugung), er solle doch einfach beim Zahnarzt das AT machen. Da es sich um einen hirngeschädigten Buben mit geringer Aufmerksamkeit handelte, verzichtete ich auch darauf, irgendeine Formel zu geben. Der Bub machte es und ließ zum Erstaunen der begleitenden Erzieherin und des Zahnarztes (im Gegensatz zu früheren Behandlungen) die Zahnbehandlung ohne geringste Schmerz- oder nur Unruheäußerungen über sich ergehen. Heimgekommen tröstete er einen kleinen Mitpatienten, dem die gleiche gefürchtete Prozedur bevorstand: „Du brauchst dich gar nicht zu fürchten, du machst „la gymnastique“ und dann spürst du überhaupt nichts“! (NB: Den Kindern war nämlich das Zurücknehmen nach dem AT viel eindrucksvoller als das AT selbst und sie bezeichneten die Übung immer als Gymnastik.) Und es funktionierte auch bei dem nächsten Buben gut. Ich erfuhr das Ganze erst bei einer späteren Nachbesprechung und hatte mich gar nicht eingeschaltet.
Zur psychohygienischen Anwendung siehe nächstes Kapitel.
E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E3. Psychohygiene
E3.
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Psychohygiene im Allgemeinen und speziell im Sport
Schlagwort-Information Psychotherapeutische Technik kann auch in der Psychohygiene Verwendung finden. Beispielhaft wird der Einsatz bei der schmerzarmen Geburt sowie bei Künstlern und Sängern angeführt. Größere Eigen-Erfahrungen betreffen den Spitzensport. Dies ist eine menschliche Extremsituation, die eine gezielte psychohygienische Betreuung verdient. Die in unserem Erfahrungsgut erstmals in der Literatur statistisch gesicherten guten Erfolge geben auch ein wichtiges Argument für die Psychotherapie allgemein ab.
Was ist Psychohygiene? Hygiene trachtet jeweils aus einem bestehenden (physiologischen) Zustand das Bestmögliche zu machen; zum Unterschied von Therapie, deren Ziel es ist, Krankheits- oder Leidenszustände zu bessern, bestenfalls zu heilen. Die Vorsilbe „Psycho-“ bedeutet (analog dem bei Psychotherapie Gesagten in A3) nicht etwa, dass wir nur die Psyche mit unseren Maßnahmen zu erreichen versuchen, sondern dass wir psychische Mittel zur Erreichung des gesamten Menschen (somato-psycho-soziale Einheit) verwenden. Es handelt sich also bei Psychotherapie und Psychohygiene um einen unterschiedlichen Personenkreis für die Anwendung und auch um unterschiedliche Ziele. Hingegen wird für Psychotherapie und Psychohygiene die gleiche Methodik verwendet. Beide müssen daher vom psychotherapeutisch Geschulten durchgeführt werden. Deshalb figurieren sie in Abb. 17 auch zusammen mit Psychotherapie und werden hier im Kontext abgehandelt. Man wird im Folgenden sehen, dass fallweise ein fließender Übergang zwischen Psychohygiene und Psychotherapie besteht. In der Rehabilitation (welche noch ausführlicher in vorliegenden Zeilen figurieren wird [F1]) besteht eine Zwischenstellung zwischen Hygiene und Therapie. Wir haben es mit einem bestehenden krankhaften Grundzustand zu tun und versuchen das Beste daraus zu machen. Diese Differentialdefinitionen sind nur ordnungshalber an die Spitze gestellt. Wir brauchen uns darüber kaum weiter den Kopf zu zerbrechen, denn in den näheren Ausführungen wird an und für sich klar, was und für wen es gemeint ist und wie es funktioniert.
Geburt Beim psychohygienischen Einsatz des AT in der Geburtshilfe kommen einerseits die allgemein angstlösende und entspannende Wirkung zum Tragen, an-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
derseits direkte Organformeln wie etwa „Wärme geht in meine Gebärmutter und entspannt sie“ oder ähnlich. In diesem Sinn kann das AT eine sehr gute zusätzliche Begleitmaßnahme bei den Vorbereitungen auf eine schmerzarme Geburt sein, im Sinne von Beschwerdeminderung bei gleichzeitiger Wehenverstärkung. Ich habe diesbezüglich einige der Geburts-Vorbereitungsgruppen begleitet, während die geburtshilflichen Erklärungen und körperlichen Übungen von den Hebammen gemacht wurden. Späterhin haben die Hebammen dann selbst das AT übernommen. Es wurde allgemein gutes Ansprechen berichtet. Eine junge Ärztin, die schwanger an einem meiner didaktischen 7-Tages-Kurse in Bad Hofgastein teilgenommen hatte, sprach mich einige Jahre später ebendort mit einem Dank an. Sie habe inzwischen 2 Kinder bekommen und sich selbst (aus ihrer ärztlichen Kenntnis der Gebärsituation) nicht vorstellen können, dass es so leicht und schmerzarm mit dem AT gehen könnte, und man hat sich „daraufhin“ sofort zu einem zweiten Kind entschieden. Das bekräftigt übrigens die in D3 übereinstimmend mit Battegay gemachte Aussage, dass auch in gezielt und sinnvoll geführten Kurzgruppen eine Menge erreichbar ist. Hartland weist anhand eines Falles darauf hin, dass die Schmerzreduktion auch so hochgradig sein kann, dass die Schmerzen als Freund und Warner (wie wir es nennen, G1) bei einer drohenden Uterusruptur ausgeschaltet werden konnten. Doch darf das wohl im Hinblick auf allgemein gute Wirkung hypnoider Maßnahmen beim Geburtsvorgang als relativ geringe Gefahr bezeichnet werden.
Gute Ergebnisse werden auch von Hypnose bei Schwangerschaftserbrechen berichtet, wobei als Themen einerseits die Vorstellung einer angenehm entspannten Urlaubssituation verwendet wurde, anderseits die Motivation das werdende Kind gut mit Nahrungsmitteln, Vitaminen und Mineralstoffen zu versorgen, statt diese herauszubrechen (Thorem). Fuchs und Mitarb. (1980) berichtet besonders gute Erfolge von diesbezüglichen Gruppenhypnosen. Auch Wochenbettbeschwerden zeigten sich deutlich verringert bei selbsthypnotisch oder hypnotisch trainierten Patientinnen. 1990 konnten sie mittels Ultraschallaufnahmen eine deutlich vermehrte Kindesbewegung in utero feststellen, was als erhöhtes Wohlbefinden des Fötus gedeutet wird (im Gegensatz zu Tierstudien, wo bei Angstzuständen die Gebärmutteraktivität ansteigt, intrauteriner Blutfluss abnimmt. Mit einer geringeren Beweglichkeit des Fötus).
Bei Künstlern, Sängern geht es einerseits um Angstlösung und vegetative Beruhigung (Lampenfieber), fallweise auch um organspezifische Suggestionen, etwa die Stimme betreffend. Ein sozialmedizinisch und -ethisch äußerst wichtiges Gebiet ist die Psychohygiene als burn-out-Prophylaxe, näheres dazu in B3.
E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E3. Psychohygiene / Sport
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Spitzensport
(IN ZUSAMMENARBEIT
MIT
G. R I E D M A N N )
Dr. Gebhard Riedmann Kornmarktstr. 20, A-6900 Bregenz Telefon: +43/0/55 74 – 4 20 34 Fax: +43/0/55 74 – 4 20 36 E-Mail: [email protected] Dr. Gebhard Riedmann ist Neuropsychiater in eigener Praxis, Psychotherapeut (ausgebildet bei Barolin und in systemischer Therapie), ÄK-Diplom für Sportmedizin. Präsident der österr. Gesellschaft für Höhenmedizin. Teil-Zusatzausbildung für physikalische Medizin in Wien. Schriftleiter des Alpinmed. Rundbriefes seit 1996. Er ist Extrembergsteiger, Teilnehmer an Bergläufen, Radkriterien und Segelregatten; Veranstalter zweier wissenschaftlicher Camps für Höhenmedizin auf dem Piz Buin, wo psychologische und physiologische Daten systematisch erhoben und ausgewertet wurden. Mehrjährige Beteiligung an der psychohygienischen Betreuung von Spitzensportlern mit Barolin. Ebenso wie Riedmann ist auch Barolin im Leistungssport bewandert: lebenslanger Wettkampf-Teilnehmer im Alpin- und Langlaufskisport. Spitzenplätze bei internationalen akademischen, späterhin Seniorenrennen. Langstreckenlaufbewerbe einschließlich Marathon; Spitzenplätze bei Seniorenbewerben im Reiten. Jene Kenntnis des Leistungssports und Liebe dazu ist natürlich förderlich für Befassung mit der psychohygienischen Betreuung von Sportlern. Aber es waren auch einige Mitarbeiter an unseren Projekten beteiligt, die keineswegs selbst Leistungssportler waren.
Über die Sportpsychohygiene ist 1. relativ wenig Genaues und wissenschaftlich Durchgearbeitetes bekannt und 2. hat unser Arbeitskreis sich damit viele Jahre intensiv befasst. Seit 1996 wurden psychohygienische Maßnahmen im Spitzensport in verschiedenen Disziplinen durchgeführt, unter anderem bei: Alpin-Schiläufern, Schützen, Tennisspielern, Turm- und Kunstspringern, Fussballern, Bogenschützen, Wildwasserfahrern, Feuerwehrwettkämpfen. Die meisten davon waren Mitglieder offizieller Nationalmannschaften, Studentenmannschaften, Teilnehmer an olympischen Spielen, Weltmeisterschaften u. ä.
Braucht es denn psychohygienische Maßnahmen im Spitzensport? Der heutige Spitzensportler ist keineswegs der Typ des „gesunden Naturburschen“, es handelt sich vielmehr überwiegend um relativ sensible und zusätzlich sensibilisierte Persönlichkeiten in einem extremen Spannungsfeld, das aus Folgendem besteht: 1. Die direkt psychosomatisch wirksame Spannung der Wettkampfsituation. 2. Die Spannungen, welche sich aus dem Zusammentreffen der eigenen Psychodynamik mit der Umwelt ergeben; diese umso mehr, als es ja einer Extrempersönlichkeit bedarf, um in sportliche Spitzenposition zu gelangen.
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I. Barolin / Riedmann: Integrierte Psychotherapie
3. Diese Situation erstreckt sich speziell über die Jahre, welche als Erwachsenenreifungsphase eine besonders kritische und prägefähige Lebensphase darstellen. 4. Es ergeben sich aus den Resultaten des Wettkampfes sehr wesentliche soziale Konsequenzen, wie Berufschancen, Vermögensbildung, gesellschaftliche Stellung usw. Dadurch werden die Spannungsmomente im Sinne einer Los-Situation erhöht. 5. Der Spitzensport ist heute keine Privatsache des Einzelnen mehr, sondern ein wesentliches Anliegen nationalen Prestiges sowie wirtschaftlicher Interessen. Dadurch wird er neben Krieg und Technik zu einem der wesentlichsten Auseinandersetzungsmitteln zwischen den Nationen und Ideologien. Dies vergrößert die Belastung des Einzelnen wesentlich. Er wird entweder als Held glorifiziert oder als Versager mit öffentlichen Vorwürfen überhäuft. Dazwischen liegen (etwa bei unseren Schiläufern) oft nur Zehntel ja Hundertstel Sekunden. Das trifft zum Teil einfache Persönlichkeiten, die „entdeckt“, an die Spitze „herantrainiert“ und nun mit völlig ungewohnten Umweltsituationen konfrontiert werden.
Wenn man also in dieser Situation psychohygienisch hilft, so unterstützt man junge Menschen in außergewöhnlichen Schwierigkeiten und in einer wichtigen Lebensphase. Mir zumindest schien und scheint das das Wichtigste daran. Ich habe mich nie als Vollzugsorgan für die Sportorganisation, noch weniger für das nationale Prestige verstanden. Wir führten Einzel- und Gruppenbetreuungen durch, wobei sowohl das AT als auch die katathyme Imaginationspsychotherapie (KIP – siehe F5) – natürlich in Verein mit der zugehörigen Gesprächstherapie – angewendet wurden. Dort, wo gruppenmäßige Betreuung erfolgte, gingen wir nach einem modifizierten Schema unserer 2-stufigen Gruppentherapie mit Autogenem Training vor (D).
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Es wurde zuerst AT in der Gruppe vermittelt. Dann erfolgten jedoch die Aussprachen mit der entsprechenden Problemanalyse für jeden Teilnehmer einzeln. (Dies abweichend von unseren gemeinsamen Gruppenaussprachen bei Therapiegruppen.) Denn es ist doch jeder – bei aller „Kameradschaft“ – ein Konkurrent des anderen und daher kommt eine Problembesprechung in der Gruppe nicht in Frage.
In Abb. 18 stellen wir schlagwortartig unser Ablaufschema dar. Zu diesen Schlagworten seien noch einige Kommentare gegeben. Es ist sehr wichtig zuerst mit den Trainern zu arbeiten und sie zu „Verbündeten“ zu machen. Sonst kann nämlich leicht eine Konkurrenzierungssituation mit Konkurrenzierungsangst zustande kommen, die alles blockiert. Der Trainer ist für den Sportler eine sehr wichtige Bezugsperson, der teilweise Vater, oder Mutter-Funktion einnimmt, was aber bei Misserfolgen sehr rasch zu einer Aggressionshaltung führen kann. Das ist aus diversen, auf den Sportseiten der Zeitungen ausgetragenen, Beschimpfungsfehden bekannt. Weiters ist der Trainer mit seiner Karriere sehr stark abhängig vom Erfolg oder Misserfolg der von ihm betreuten Sportler. Er nimmt also einen Psychohygiene-Betreuer einerseits mit großer Hoffnung auf. Dieser soll ihm die Sportler fit machen, ihm aber auch sagen, welcher Sportler jetzt gerade gut ist (eine Gutachterfunktion, die wir immer ablehnen müssen – da damit die Vertrauensbasis zwischen Psychohygiene-Arzt und Sportler weitgehend gestört würde). Vor allem will der Trainer aber nicht von dem „Psychotherapiemenschen“ (dem „Seelendoktor“) etwa in seiner Publicity an die Wand gespielt werden. Es ist also ein sehr komplexes Panorama, auf welches man als Psychohygiene-Betreuer im Sport Rücksicht nehmen muss. In meinen Anfängen der Psychohygiene im Sport habe ich das einmal (bei einer Fußballmannschaft) nicht beachtet und die Trainer nicht entsprechend eingebunden. Das Betreuungsprogramm platzte. • Vor allem ist wichtig, den Trainern zu erklären, was wir alles machen, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass wir in ihre Tätigkeit in keiner Weise dreinreden. • Es gehört die Zusage dazu, keine Publicity zu machen. • Es muss erklärt werden, dass und warum wir keinerlei Gutachtensfunktion über Leistungszuwachs und Leistungsabfall des Sportlers ausüben und diesbezüglich auch dem Trainer keinerlei Auskünfte geben können. • Natürlich muss die absolute Verschwiegenheit gegenüber den Trainern auch dem Spitzensportler plausibel gemacht werden, denn sonst fehlt die Vertrauensbasis. Es muss bei einer derartigen psychohygienischen Tätigkeit die absolute ärztliche Schweigepflicht nach allen Seiten gelten.
Wir haben es immer so gehalten, dass der körperlich zuständige Sportarzt ein anderer war. Dann kann der Trainer vom Sportarzt die erwünschten Auskünfte über momentane Fitness des Sportlers bekommen (welche Gutachter-
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funktion wir ja – siehe oben – ablehnen müssen). Das ist eine spezifische Ausnahmesituation zu unserer allgemeinen Haltung in der integrierten Psychotherapie, da die ärztliche und die psychotherapeutische Versorgung (sonst) sehr wohl in einer Hand liegen kann. Das Keine-Auskunft-geben und Keine-Publicity-machen ist, wenn man mit einer prominenten Mannschaft arbeitet, gar nicht so einfach. Denn die Presse will natürlich unbedingt Interna speziell „vom Seelendoktor“ erfahren. Wenn man das (auch noch so höflich) verweigert, kann man sich beträchtliche Feindschaften einhandeln. So wurde ich mehrmals in diversen Kolumnen der Sportberichterstattung sehr übelwollend und rufabträglich als erfolglos abqualifiziert. Ich sei – da mich die Sportler ablehnten – „fluchtartig“ abgereist etc. etc. Wer den Umgang mit der Öffentlichkeit – auch im medizinischen Bereich – kennt, weiß, dass irgendein Dementieren gar keinen Sinn hat und man am besten derlei Dinge wortlos an sich abgleiten lässt, auch wenn sie völlig unrichtig sind. Es könnte noch von etlichen Schwierigkeiten mit Funktionären berichtet werden (die ihre partikularistischen Interessen vor das eigentliche Psychohygiene-Anliegen reihen wollten etc.).
Es ist also kein reines Vergnügen, mit Spitzensportlern zu arbeiten und dabei zwangsläufig auch ins Licht der Öffentlichkeit zu gelangen. Es soll aber hier keineswegs ein Märtyrer-Szenario gezeichnet werden. Denn es ist auch sehr schön, mit jungen ambitionierten Leuten zu arbeiten und damit in sportlich hochwertiger Gesellschaft bei dem Sport zu sein, den man selbst gern hat. Hier kann von einer Serie berichtet werden (Kaufmann, Reiter und Barolin), die (soweit uns bekannt ist) erstmals in der Weltliteratur eine statistisch signifikante Verbesserung der sportlichen Leistung durch das Psychohygiene-Programm brachte. Das ist natürlich in zweierlei Sinn von Interesse: • Es gibt der Sportorganisation einen handfesten Beweis für die Sinnhaftigkeit der doch immerhin recht aufwändigen psycho-hygienischen Betreuung. • Anderseits (und das ist für uns Psychotherapeuten von prinzipiellem Interesse), weil wir hier einen statistisch abgesicherten Beweis für die Wirksamkeit unserer Methodik haben, wie er bei unseren Patienten weitgehend fehlt. Denn bei diesen können wir uns nur an den subjektiven Angaben orientieren und haben nicht (wie hier) so schön quantifizierbare Weltcup-Punkte zur Verfügung. – Die Psychologie versucht mit ihren Tests jenes Manko wettzumachen. Aber immerhin: Weltcup-Punkt bleibt WeltcupPunkt. Wir konnten nämlich damals die gesamte Damen-Ski-Nationalmannschaft Österreichs betreuen. Aufgrund der Freiwilligkeit der Teilnahme ergab sich etwas, das man vorprogrammiert kaum so gut hingebracht hätte, nämlich: Ein Teil der Läuferinnen nahm regelmäßig an der psychohygie-
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nischen Betreuung teil, ein anderer Teil nicht. Dadurch hatten wir zwei Kontrollgruppen, eine mit, eine ohne psychohygienische Betreuung, die im Übrigen völlig gleiche Altersstrukturen, Vorbedingungen und Trainingsbedingungen aufwiesen. Es zeigten sich bei dem Vergleich der Saisonerfolge vor der Psychohygiene-Betreuung und nach der Psychohygiene-Betreuung (die Betreuung fand Sommer und Herbst, also außerhalb der Saison statt), die in Abb. 19 dargestellten Positivergebnisse bei den psychohygienisch Betreuten, jedoch nur als statistischer Wert und keineswegs beim Einzelnen garantierbar. Wir hatten in der Gruppe der Nicht-Teilnehmer auch steile Aufsteiger, und in der Gruppe der Teilnehmer auch Absteiger. Aber – wie gesagt – die Allgemeintendenz war eindeutig.
Noch einige weitere Beobachtungen und Ergebnisse aus unserer Sportler-Betreuung: Es gibt gewisse Problempunkte, die in allen Sportarten mehr oder weniger zum Tragen kommen: • Beim Ausdauersport die Mobilisation von Kraftreserven. • Beim alpinen Schilauf die Konzentration und Merkfähigkeit (Torkombinationen etc.). • Die zur rechten Zeit aus den Kraftreserven herausholbare optimale Dynamik und Kraft. • Das Problem der Startnervosität mit verkrampfenden Auswirkungen auf die Muskulatur und fallweise auch vegetativen Symptomen. Am bekanntesten ist das mehrmalige Urinieren vor dem Start. Ich erinnere mich eines im Landesrahmen an vorderer Stelle liegenden Schilangläufers, den immer vor dem Start Stuhldrang überfiel. Einmal war es besonders knapp. Er konnte sich die Hose nicht mehr zumachen, murkste verzweifelt daran herum, während ihn der Starter schon abließ. Bei den ersten Langlaufschritten, rutschte ihm die Hose hinunter, und dann kämpfte er noch einige Zeit einen verzweifelten Kampf gegen seine rutschende Hose, die er während des Laufens immer wieder heraufholen und fixieren wollte. Schließlich kapitulierte er und nahm es in Kauf stehen zu bleiben, um sich wieder anzuziehen. Es war ein bleibender Eindruck! Das Vegetativum kann also allerhand Kapriolen schlagen. Startnervosität muss sich aber nicht immer so krass ausdrücken, sondern hat viele Gesichter (analog dem Lampenfieber der Künstler). Es kann Zittrigkeit herrschen, Mundtrockenheit, und vor allem durch die allgemeinen Verspannungen, ein Gefühl plötzlicher Müdigkeit und Schlappheit. – (Wir erklären das den Läufern „du machst dich durch die eigene Kraft kaputt“.) Das kann auch verursacht sein durch ein Minderwertigkeitsgefühl, wenn sehr starke Gegner vorhanden sind, Ablenkung durch anderweitige persönliche Probleme etc.
• Es gibt etliche Sportler, die aus irgendwelchen Gründen im Training viel besser abschneiden als im Wettkampf. Sei es aus Aufregung, sei es aus dem Gefühl, dass die anderen übermächtig sind oder was immer. (Die Sportpsychologie hat dafür den Ausdruck „Trainingsweltmeister“ geprägt). • Das blitzschnelle Reagieren, wie es bei allen Sprintsporten (oder etwa bei den komplizierten Bewegungen des Turmspringers in der Luft) wesentlich ist, muss weitgehend unbewusst erfolgen. Es ist daher aus dem Unbewussten ebenso leicht störbar wie beeinflussbar.
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I. Barolin / Riedmann: Integrierte Psychotherapie
Ablaufschema „Komplexes Psychohygiene-Programm“ im Spitzensport G: in der Gruppe / E: im Einzelgespräch ● allgemeiner Ablauf G
E
1. Traineraufklärung • keine Publicity, kein Dreinreden in Sportliches • keine Gutachterrolle+ • ärztliche Schweigepflicht • freiwillige Teilnahme 2. Strukturierte Interviews • mit Sportlern: persönlichkeits- und sportspezifisch • „außenanamnestische Ergänzungen“ mit Trainern
● strukturiertes Interview zur komplexen Erfassung der Sportler-Persönlichkeit • Basisdaten • Bisherige Entspannungsmethoden • Sportliche Entwicklung • Familiensituation • Sportliche Problematik
G E
E
G + E
3. Gruppenübung AT oder Einzel-AT Einzelfälle KIP RFB 4. Laufende weitere Einzelgespräche • problemzentriert (persönlichkeits + sportspezifisch) • Formelhafte Vorsatzbildung und Adaptierung der Formeln, entsprechend dem Feedback des Sportlers • Analyse von eventuellen Störungen im AT 5. Feedback mit Trainern, ärztlicher und organisatorischer Leitung
• Wohnsituation • Beruf • Finanzielle Lage • Partnersituation • Sexualanamnese (Regel und Sport) • Probleme im Leben • Ziele (sportlich und persönlich) • Sonstiges
Abb. 18 a) Unser Ablaufschema hat sich in verschiedenen Modifikationen letztlich so als optimal gezeigt. Wichtig ist einerseits eine suffiziente Traineraufklärung, die aber anderseits die Aufklärung über notwendige Diskretion und deren Einhaltung auch den Trainern gegenüber enthält. Gruppenmäßige Betreuung und Einzelbetreuung müssen sauber auseinandergehalten werden. b) Das strukturierte Sportlerinterview hat über die Sportproblematik hinauszugehen und beinhaltet (tiefen-)psychologische Gesichtspunkte.
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E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E3. Psychohygiene / Sport
Komplexes Psychohygiene-Angebot / Schi-Nationalmannschaft
7
nicht regelmäßig (N = 3); gar nicht dabei (N = 12)
besser/gleich/ schlechter (Weltcup + Europacup; Platzierung + Punkte)
Regelmäßige Teilnahme
Gesamt-WeltcupPunkte (bis 15. Platz)
Teilnahme
Anzahl
Ergebnisse
WeltcupPlatzierungen unter ersten 3
Resultat-Änderungen Saison 1987/88 auf (➝) 1988/99
5 ➝ 10 (+100 %)
199 ➝ 315 (+58 %)
5/1/1 signifik. 5%
18 ➝ 11 (–39 %)
15
718 ➝ 615 (–14%) Mit Psy-, Hy-Programm
ohne
ohne
Gesamt-Weltcup-Punkte
Gesamt-Weltcup-Platzierungen
Mit Psy-, Hy-Programm
5/1/9
Abb. 19 In einer systematischen Vergleichsgruppenuntersuchung ergab sich (unseres Wissens erstmals in der Literatur) eine signifikante Positivwirkung des Psychohygiene-Programms als statistischer Wert, wobei natürlich Einzelpersönlichkeiten teilweise diesem Trend gegenläufig waren.
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I. Barolin / Riedmann: Integrierte Psychotherapie
Bei all dem zeigt sich, dass sportspezifische und persönlichkeitsspezifische Probleme (natürlich) ineinander spielen („Sport als Modell der Wirklichkeit“). So ist es wichtig, auch näher auf die persönlichkeitsspezifischen Probleme einzugehen und nicht nur das zu aperzipieren, was der Sportler selbst über seine „Probleme beim Sport“ erzählt. Vielmehr gilt es Einiges über seine allgemeine Psychodynamik kennen zu lernen und in dem Psychohygiene-Programm mitzuverwerten, so einige „Etagen tiefer“ (und damit auch wirkungsvoller) angreifen, als nur an der Oberfläche der sich im Sport zeigenden Symptome, wie „Verkrampfung“, „Müdigkeit“, „Nervosität“, etc. In den Persönlichkeits-spezifischen Interviews (Abb. 18b) kamen u. a. die folgenden Faktoren zur Sprache und wurden dann auch mittels passenden autogenen Formeln angesprochen: • Die fehlende Zeit für die Familie und die mangelnde Identifikation mit einem Zuhause durch das ständige „Leben aus den Koffern“. • Die unterschiedlichsten Eltern- und Partnerprobleme. Dabei geht es um Ehrgeizhaltungen, Unverständnis, eine Entweder-Oder-Problematik, im Zusammenhang mit Sport; daneben aber natürlich die allgemeinen zwischenmenschlichen Probleme, die der junge Mensch in der Erwachsenenreifungsphase mit Generationen und Partnern hat. • Finanzielle Probleme. In einem Fall kassierten die Eltern das ganze Geld und ließen dem jungen Menschen keinen Spielraum. Es geht aber auch um den sinnvollen Umgang mit dem (bei Erfolgreichen) plötzlich reichlich fließenden Geld. • Die obligaten ständigen Schwierigkeiten zwischen den Anforderungen in Beruf/Schule und der gleichzeitig „hauptberuflichen“ Sportausübung. Wenn auch etwa eine anstellende Sparkassa oder Schifirma und das Schigymnasium weitgehend auf den Sport Rücksicht nahm, so musste eben dort doch auch eine gewisse Leistung erbracht werden. • Und dann das Schlechterwerden mit zunehmenden Alter (denn über 30 ist ja ein Spitzensportler schon ein „Alter“). Es ist eine Pensionierungssituation in der Jugend. Dabei fallen manche Sportler richtiggehend in ein depressives Loch. So hat mir ein SlalomNationalklasseläufer einmal gesagt, „das Autogene Training war der letzte Rettungsanker beim Ausscheiden aus dem Sport“. • Durch das Reisen in andere Zeitzonen treten vielfache vegetative Störungen auf. Auch dagegen kann das AT manchmal helfen: Schlafstörungen, Stuhlstörungen, Menstruationsstörungen (siehe D4).
Unliebsame Nebenwirkungen erlebten wir zweimal, doch konnten sie jedes Mal im Sinne einer fehlerhaften Anwendung des AT geklärt werden. Ein Nationalklasse-Slalomläufer redete mich böse an: „Dein Autogenes Training ist ein Sch...“. Bei näherer Besprechung zeigte sich, dass er zu den „Morgen-Eiligen“ gehörte und aus diesem Grund das AT immer nur am Abend geübt hatte. Es war dadurch natürlich als Einschlafhilfe konditioniert. Und wenn er es dann (nur und direkt vor dem Rennen, um besonders gut zu sein) morgens machte, wirkte sich jene Konditionierung auch auf eine trophotrope Umschaltung aus, die man natürlich gerade beim Slalom, wo die hochgradige Ergotropie gefragt ist, nicht brau-
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chen kann. Er war schlapp und müde und es kam zu regelrechtem „autogenen Verschlafen“ des Slaloms.
Das kurzzeitig zwischengeschaltete AT wurde von einigen Sportlern auch als Lernhilfe besonders betont. Ein Schüler beklagte sich über nachmittags auftretenden Schwindel und unangenehmes Gefühl im Kopf. Bei näherer Befragung zeigte sich, dass er wegen der lernfördernden Wirkung des Autogenen Trainings (nach deren Entdeckung) seine betreffenden Arbeiten stundenlang in der autogenen Versenkung machte und auch nicht ordentlich zurücknahm. Es wurde ihm dann erklärt, dass man sehr wohl eine autogene Lernhilfe haben kann, man das aber unbedingt auf kürzere Zeit beschränkt mit ordentlichem Zurücknehmen machen muss. Die Schwierigkeiten verschwanden.
Die folgende Kasuistik ist aus einer unserer Gruppe der Ski-Nationalklasseläuferinnen und zeigt eine scheinbar rein sportspezifische Problematik, die sich dann doch als mehr persönlichkeitsspezifisch erwies und auch dementsprechend „gemischt“ angegangen wurde. Sowohl in der Beschreibung der Trainer als auch in der Eigenanamnese zeigt sich eine sehr (über-?)eifrige, trainingsfleißige Persönlichkeit mit dementsprechend hervorragenden körperlichen Konditionswerten. In Eigen- und Trainerbeurteilung erschien jedoch einerseits eine starke Startnervosität und andererseits der Eindruck einer verkrampften Fahrweise, welche im Wettbewerb wesentlich stärker herauskam als im Training. Wir konnten erfahren, dass die Läuferin im Sinne des besonders Gutmachenwollens laufend wiederholt alle verfügbaren Ärzte, Trainer und andere Sport-Spezialisten um Ratschläge befragte. Die unterschiedlichen Instruktionen erhöhten natürlich die Unsicherheit, und es ergab sich daraus ein Verstärkungsfaktor für die Startnervosität. Unsere strukturierten Gespräche bezogen sich auch auf die Freizeitgestaltung und Interessensgebiete. In diesem Zusammenhang hatten wir erfahren, dass die Läuferin sehr gerne tanzt, sich dabei frei, beschwingt und angenehm fühlt. Wir kamen dann gemeinsam zur für sie empfohlenen formelhaften Vorsatzbildung: „Ich tanze fröhlich zum Erfolg“. Es wurde von der Läuferin selbst eine wesentliche Lockerung und freudvoll erlebte Verbesserung ihrer Resultate angegeben, die sich auch in einer schlagartigen Besserung der Platzierungen niederschlug. Sie fuhr nun konstant in die Weltcuppunkteränge, was ihr in der Vorsaison nur selten gelungen war. Als Nebeneffekt ist bemerkenswert, dass auch ihre Menstruation wieder regelmäßig auftrat. Dies mag zusätzlich die enge Verknüpfung von vegetativer und psychischer Einstellung unterstreichen.
Ein weiterer Beispielsbericht betrifft eine Spitzensportlerin, die in der katathymen Imaginationspsychotherapie in Einzelbehandlung stand. Bei ihr stellte sich im KIP ganz evident heraus, dass persönlichkeitsspezifische Faktoren die prädominierenden waren. Erfreulicherweise konnten diese nach Besprechungen mit uns, von der Sportlerin selbst bereinigt werden und das Ganze hatte dann auch noch ein sportliches Happy-End.
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Eine Turmspringerin in sehr guter Spitzenposition der nationalen Rangordnung bekam plötzlich den sogenannten „Springerkomplex“. D. h.: Sie konnte nicht anders als sich beim Sprung vom 10-m-Turm plötzlich in der Luft zusammenzukrümmen. Sie tauchte dann wohl richtig ins Wasser ein, aber jede Sprung-Figur war dadurch natürlich völlig verpatzt. Da sie ihrer Sportorganisation sehr wertvoll war, wurde sie von dieser zur Behandlung geschickt. In einigen Aussprachen zeigte sich eine äußerst gespannte Familiensituation, eine ambivalente Partnerliaison und schließlich auch ein sehr banaler und massiver äußerer Konflikt, nämlich: entweder die Abschlussprüfung im Studium fertig zu machen oder sich ganz dem Training zu widmen. Es wurde das AT erlernt und dann nach der Leuner’schen Methode gebildet. (KIP siehe F5). Es kam zu massiver Widerstandssymptomatik: Unübersteigbare Mauern bauten sich auf usw. In therapeutischen Gesprächen wurden Fragen des eventuellen Ausscheidens aus dem Spitzensport und des „nachher“ ebenso wie die Familien- und Partner-Situation behandelt. Nach einigen Wochen kam sie plötzlich mit dem Entschluss, es sei sinnlos, so weiterzumachen, sie werde ihr Training abbrechen, primär einmal fertig studieren und dann werde man weitersehen. Man kann sich vorstellen, dass dies nicht gerade große Freude bei der Sportorganisation auslöste, die die Sportlerin zu mir geschickt hatte und auch für ihre Behandlung bezahlte. Doch entsprach es meiner ärztlichen Überzeugung, dass man den Klärungsprozess bei der Patientin zu fördern habe und sie keinesfalls etwa persuasiv in den Sport zurücktreiben dürfe. Die Betreffende bestand ihre Prüfungen gut und rasch, da sie – wie viele Spitzensportler – es verstand, auch den Lernstoff mit großem Ehrgeiz und mit Zielstrebigkeit rasch zu bewältigen. Sie schuf in ihren persönlichen Beziehungen Klarheit und nahm, ein halbes Jahr später wieder das Training auf. Es gelang ihr, den Rückstand aufzuholen, und sie nahm dann doch noch an dem großen internationalen Wettkampf teil, für den man sie unbedingt hatte fit machen wollen. Dort nahm sie sogar auch den guten Platz ein, den man sich von ihr erhofft hatte.
Noch eine Beispielsgeschichte von einem Schirennläufer, bei dem es sich vordergründig um eine sportspezifische Problematik (zumindest ohne fassbare persönlichkeitsspezifische) handelte. Es brauchte mehrere vergebliche Versuche, bis zum Finden einer „passenden“ Formel. Die endlich gefundene wurde aber dann affektiv gut angenommen und in weiteren Gesprächen auch als hochwirksam bezeichnet, was der Gewinn des nationalen Meistertitels eine Woche später bewies. Ein Mitglied der österreichischen alpinen Schinationalmannschaft war der Typus des „Trainingsweltmeisters“. Er zeigte im Training ausgezeichnete Konditions- und Technikwerte, gutes Körpergefühl etc. Aber beim Rennen schnitt er immer weit unter seinem Wert ab. Persönlich stellte er sich als eine grüblerische zurückhaltende Persönlichkeit dar, ohne dass spezifische Probleme bei ihm eruierbar waren. Sportspezifisch klagte er darüber, dass er bei den Torlauf- und Riesentorlaufbewerben immer erst nach dem ersten Drittel des Laufes „in Schwung“ kam und dadurch bei sonst ausgezeichneten Voraussetzungen regelmäßig weit abgeschlagen landete. Das Interview zeigte sich abgesehen von den sportlichen Problemen unergiebig. Es wurden mit ihm mehrere Formeln versucht, welche auf Elastizität und Dynamik hinarbeiteten, doch kam man nicht weiter. Im Gespräch über die häuslichen Verhältnisse kamen wir dann einmal auf den Kraftwerkbau in der Nähe seines Wohnorts, mit dem er sehr vertraut schien, zu sprechen. Ich schlug ihm dann die bildhaft einprägsame Formel „Schleusen auf beim Start“ vor. Diese wurde mit stark affektiver Beteiligung angenommen und zeigte sich auch insofern hochwirksam, als er eine Woche später den nationalen Meistertitel gewann.
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Neben den „zufällig“ nebenbei gewonnen statistischen Resultaten, die wir bereits näher dargestellt haben, war auch der allgemeine Eindruck einer positiven Akzeptanz und positiven Wirkung bei den Sportlern evident. Die Statistik stimmt also durchaus mit den außerhalb dieser kontrollierten Serie gewonnenen Eindrücken überein. Natürlich ist dazu auch die absolute Freiwilligkeit notwendig, die gegeben war. Denn diejenigen Sportler, die „nichts davon hielten“ nahmen ja an der psychotherapeutischen Betreuung nicht teil. Es ist also bei der Psychohygiene (wie später auch bei der Rehabilitation) zu sagen: Die Statistik und die „greifbaren“ Resultate sind nicht alles. Es geht nicht nur um die Objektivierung, sondern auch um die Subjektivierung. Stimmung und Optimismus konnten deutlich gebessert werden und von manchen Sportlern kam im späteren Gespräch die deutlich positive Wirkung heraus. So sagte eine olympische Goldmedaillen-Gewinnerin bei einem öffentlichen Interview: „Was hat Ihnen am meisten geholfen?“: „Das Autogene Training“. Das ist insofern sehr beachtlich, weil ja meistens der Trainer und der Arzt an allem Schlechten schuld sind und der Läufer selbst an allem Guten. Aber wie man sieht, ist auch diese Regel nicht ohne Ausnahme.
Andere Methoden der Psychohygiene-Betreuung von Sportlern? Im Prinzip geht es bei den meisten verwendeten Methoden darum, gewisse („mentale“) Haltungen in das Unbewusste einzupflanzen und von dort zur Wirksamkeit zu bringen. Dazu werden verschiedene Methoden verwendet, die meist das Hypnoid verwenden, so verschiedene Entspannungsübungen, Joga, Kombination mit Musikkassetten, die in der Einschlafphase wirken sollen, etc. Wie weit dabei nur der Sport fokussiert wird oder man auch näher auf die Persönlichkeit eingeht, entzieht sich meiner Kenntnis, ist auch von Trainer zu Trainer unterschiedlich. Mir scheint es aber nicht so sehr auf die einzelne Methodik anzukommen, sondern darauf, dass man konsequent und gekonnt neben den sportspezifischen Problemen auch auf die einzelne Persönlichkeit des Sportlers mit seinen menschlichen Problemen eingeht. Dazu erachte ich eine ordentliche psychotherapeutische Vorbildung des Verantwortlichen für essenziell und spreche meine Bedenken dagegen aus, dass einzelne Trainer oder Masseure nur gewisse Entspannungstechniken (wie etwa das Autogene Training) mechanistisch zur Anwendung bringen. Damit soll selbstverständlich nicht die Tätigkeit jener für den Sport und für den Sportler äußerst wichtigen Personengruppe desavouiert werden. Aber wir wollen auch nicht, dass der Psychotherapeut so „nebenbei“ Konditions- und Trainingsanweisungen gibt. Wir leben heute in einem Zeitalter der Spezialisten, und es geht um spezialistischen Einsatz bei guter Kooperation mit den anderen Spezialisten. Natürlich soll der entsprechende Psychotherapeut auch Kenntnisse über die Sportgesetzmäßigkeiten haben, je mehr desto besser! Umso weniger sollte er sich aber in das Arbeitsgebiet der anderen Sportspezialisten einmischen.
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Es geht meines Erachtens nicht so sehr darum, welche Methode man anwendet, sondern dass sie höchstwertig qualifiziert angeboten wird und sich vor allem dem Menschen mehr verpflichtet fühlt als irgendwelchen sportlichen Erfolgen. Jedenfalls hat sich unsere Methode, die aus der allgemeinen Psychotherapie abgeleitet ist, wissenschaftlich fundiert und kontrolliert sowie frei von diversen Mystizismen, gut bewährt und kann empfohlen werden. Versehrtensport Dieser ist heute (erfreulicherweise) eine große Sparte geworden mit Breitenund Spitzensport. Hierbei mischt sich das „Hygienische“ mit dem „Therapeutischen“. Die schweren psychischen Traumafolgen eines Organverlustes (etwa nach Unfall) oder durch Geburtsbehinderung können dadurch psychotherapeutisch ganz wesentlich beeinflusst werden. (Vergl. das über Organminderwertigkeit und Kompensation in A4 Gesagte.) Wirth war Schilehrer und Skiläufer, verlor im Krieg ein Bein, wurde ein erfolgreicher Ein-BeinKrücken-Skiläufer, gewann mehrfache Titel bei Versehrten-Weltmeisterschaften und -Olympiaden. Anschließend, als Präsident des Vorarlberger Behindertensportverbandes, widmete er sich ganz der Organisation für die anderen. (Vergl. A5, dass „Hilfehandeln“ auch dem Helfer selbst hilft). Er ging regelmäßig in die Unfallstationen des Landes und ließ sich informieren, wo Patienten mit Extremitätenverlust oder gar Querschnitt lagen. Dann besuchte er sie und erzählte ihnen: „… Das ist ja ausgezeichnet. Wir haben sowieso zu wenig ordentliche Sportler in unserer Versehrtenmannschaft und wir warten schon bis du hinaus kommst und so weit sein kannst, um mit uns das Training aufzunehmen…“ Ebenso rührig wurde dann von ihm der Versehrtenskilauf einerseits Breiten-, Familien- und Gesellschaftssport, anderseits Spitzensport organisiert. Es zeigte sich über viele Jahre (die ich Versehrtensportler betreute) Folgendes, was die psychohygienische Wirkung besonders augenfällig macht: • Behinderung und Beschwerden waren kein Thema mehr. Das Thema wurde nicht etwa ausgeschlossen, sondern es verschwand ganz von selbst. • Neben den allgemeinen gesundheitsfördernden Wirkungen des Sports bestand eine deutlich erleichterte Reintegration in Familie, Beruf, allgemeine Gesellschaft. Sepp Wirth hatte also eine ganze Organisation für „basale Psychotherapie“ (A6) aufgebaut, ohne diesen Ausdruck überhaupt zu kennen. Er hatte den empathischen*) Zugang zum Menschen und förderte speziell die Remotivation*) und Reintegration*), welche allgemein in der Rehabilitation so wichtig ist. Dabei ging er den unorthodoxeren Weg bereits die frisch Verunfallten möglichst früh anzusprechen und ihnen ihre neue Behinderung im positiven Licht darzustellen (Positivieren*), weil er ja „neue Sportler in seinem Kader braucht“. So ergab sich: Verbesserung der Lebensqualität für die Betroffenen und ein wesentlicher Beitrag zu ihrer optimalen Rehabilitation.
Der Spitzensport im Versehrtensport hat heute auch schon ganz beträchtlichen Professionalismus erreicht. Es ist aber immer noch so, dass dieser *) Rehabilitations-Fachausdrücke. Näheres dazu in F2.
E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E3. Psychohygiene / Sport
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Professionalismus zwar in der Ausrüstung und Ausbildung besteht, aber typischerweise die betreffenden Sportler nicht für den Sport bezahlt werden, sondern daneben in Berufen stehen, wobei es darauf ankommt, dass sie auch wohlwollende Arbeitgeber haben, die ihnen Zeit und Trainingsfreiheit lassen. Eine erfreuliche Besonderheit (gegenüber anderen Spitzensportlern) ist es, dass bei den Versehrten-Spitzensportlern das Konkurrenzieren, zwar natürlich auch besteht, aber nicht so extrem wie bei den Hauptberufsportlern. Es besteht ein deutlich stärkerer Gruppenzusammenhalt (vergl.: „Gemeinsames Leid + gemeinsame Aktivität“ als Gruppen-Kitt D3). Es bestanden im Wesentlichen die gleichen Problemfelder wie beim Spitzensport allgemein gezeigt. Die sportspezifische Problematik erweiterte sich um den mentalen Umgang mit der Behinderung im Sport. Die persönlichkeitsspezifische Problematik war relativ selten und geringfügig – wohl auch durch den positiven Einfluss oben beschriebener „basaler Psychotherapie“. Es zeigte sich im Wesentlichen eine recht gut ausgeglichene Menschengruppe, fast ohne die typischen Probleme, die man sonst in der Psychotherapie zu sehen und zu hören bekommt.
Auch beim Behindertenreiten bestehen im Wesentlichen obige Gesichtspunkte. Es werden spezielle Hilfsmittel eingesetzt, so etwa Halteriemen am Sattel bei Oberschenkelamputierten, Einhand-Zügel, etc. Der Dojen der deutschen Hippotherapie v. Dietze (ehemaliger Kavallerieoffizier, dann Pfarrer und jetzt Pensionist, der noch täglich seinen Morgenritt macht) gibt den Sattlern Anweisungen was zu machen ist und versucht auch selbst individuell für jeden Versehrten das Richtige zu machen. Er hat es nach jahrelanger nur mündlicher Tradierung erfreulicherweise 2005 in einem kurzen und prägnanten Manual beschrieben. Eine blinde Reiterin war soweit, dass sie in Begleitung ihres Partners (aber ohne, dass er ihr Pferd führte; sie hielt die Zügel vielmehr selbst) sogar wieder Jagden mitritt (für den nicht-reitenden Leser sei nur erklärt: Es wird bei uns nicht, wie ursprünglich, ein armer Fuchs zu Tode gehetzt, sondern es geht auf einer vorgegebenen Geländestrecke querfeldein, über Büsche und Gräben, etc., aber nicht [wie bei Rennen oder Springen] einzeln, sondern im Pulk). Ihr Partner ritt dabei neben ihr her und sagte immer kurz an „jetzt kommt der Sprung 1 2 3“. Sie hatte natürlich ihr ausgebildetes Pferd, das die Angelegenheit auch entsprechend kannte. Als sie v. Dietze das erzählte, war auch dieser etwas konsterniert und fragte „muss denn das sein!?“ (Er sagt jetzt im Nachhinein: Aus Kenntnis der Situation würde er das heute nicht mehr sagen.) Antwort: „Ja, das muss sein. Da lerne ich über die Pferdebeine die Gestalt der Erde neu sehen!“ Dass jene mitt-20-jährige blinde Frau ihren Reitpartner dann auch heiratete sei am Rande erwähnt. Ob gute Beziehung wegen Reitpartnerschaft oder Reitpartnerschaft wegen guter Beziehung bestand, ist dabei ja wohl nicht so wesentlich.
Kindersport Soll man gezielte psychohygienische Maßnahmen auch im Kindersport verwenden? In dieser Frage fühle ich mich ambivalent.
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I. Barolin / Riedmann: Integrierte Psychotherapie
Einerseits bin ich mit der heutigen Pädagogik (F1) der Meinung, man soll die Kinder in ihrem natürlichen Umfeld und ihrer natürlichen körperlichen und psychischen Reaktionsweise möglichst lange belassen und sie nicht in leistungssteigernde Maßnahmen hineintreiben. Anderseits gibt ihnen der (Spitzen-)Sport wesentliche neue soziale Möglichkeiten und Erfahrungen. Und wenn sie dort hineintendieren, soll man sie möglichst (wenn auch nicht übertrieben!) unterstützen. Wichtig ist bei Kindern und auch in der Sportpsychohygiene (das gleiche wie in der [Erwachsenen-]Psychotherapie): die entsprechende Motivation. Da dabei ja nicht der „Leidensdruck“ (wie bei der Psychotherapie) als Motivator in Frage kommt, geht es um die Freude an der Leistung, wobei man zusätzlich wissen muss, dass diese bei Kindern je nach Entwicklungsstadium sehr stark wechseln kann. Auch bei etwa der ganzen Klasse einer Schihauptschule ist kaum eine allgemein so starke Motivation vorhanden, wie für den Erfolg nötig. Denn es muss noch einmal betont werden: Das AT bräuchte zwar nur 2 x pro Tag 10 Minuten. Trotzdem gehört eine starke Motivation dazu, es wirklich konsequent zu machen. Bei Halbheiten und Misserfolgen wird dann (natürlich) die Schuld auf die Methode und/oder den Trainer geschoben und so die Psychohygiene-Methode desavouiert. Einem ambitionierten Sportlehrer, der es mit seiner normalen Schulklasse machen wollte (manchmal haben Anfangstrainierte im AT unter dem großen Eindruck gewisse missionarische Bestrebungen), riet ich aus den besagten Gründen jedenfalls absolut davon ab. Ich hoffe, er hat sich daran gehalten!
Der Spitzensport beginnt heute bereits in der Kindheit. (Turnerinnen, Schwimmerinnen, Eisläuferinnen, Schiläufer etc). Ob man das nun für gut oder schlecht hält, gehört auf ein anderes Blatt. Ich bin mehr dafür, dass Kinder vielseitigen Sport machen und auch vielseitige Gruppenerfahrungen sammeln (etwa Pfadfinder). Aber natürlich steht das dem modernen Spitzensport (mit seinen schon angeführten möglichen Auch-Vorteilen für die Persönlichkeit) entgegen. Die „Pfadfinderei“ wurde hier nicht von ungefähr erwähnt, sondern ich glaube, dass dabei tatsächlich eine besonders positive Wertigkeit für Kinder- und Jugenderziehung, also körperliche und geistige Pädagogik gegeben ist, die weit über Beschäftigungstherapie hinausgeht, vielmehr echte psychohygienische und psychoprophylaktische Potenzen enthält. • In einer sinnvoll gegliederten Gruppen-Organisation wird Sozialverhalten gelernt und geübt, welches einerseits individuelle Entfaltung fördert, anderseits jedoch vernünftige Grenzen im Sinne von Einordnung setzt. • Das steht nicht im Zeichen einer religiösen oder politischen Dogmatik und deren Indoktrination, vielmehr einer allgemeinen ethischen Grundhaltung, deren 2 Punkte mir besonders erwähnenswert erscheinen: Hilfsbereitschaft und Mitverantwortung für den Nächsten. Das wird aber nicht in theoretischen Worten ausgedrückt, sondern im Sinne einfacher, naheliegender Ziele formuliert (etwas, dass wir auch im Rahmen der Rehabilitationspsychotherapie und – Motivation als wesentlich dargestellt haben – F2). Es findet das seinen Niederschlag in Punkten eines sehr handgreiflichen und verständlichen „Pfadfindergesetzes“; daraus: • Täglich wenigstens eine gute Tat tun. Das wird durch die handgreifliche Regel unterstützt, sich morgens einen Knoten ins Halstuch zu machen, der erst nach der guten Tat geöffnet werden darf. • Ein Pfadfinder lächelt und pfeift bei allen Gelegenheiten (wieder eine handfeste Anweisung, statt etwa der Maxime „man soll sich von schlechter Laune nicht unterkriegen lassen, oder diese gar auf andere übertragen“).
E. Das Hypnoid in weiterer Anwendung / E3. Psychohygiene / Sport
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• Respekt vor der Natur und Freundschaft zu Tieren und Pflanzen. • Im Abschiedsbrief von Baden-Powell (der posthum aus seinen Papieren veröffentlicht wurde) heißt es: „Den richtigen Weg zum Glück geht der, der anderen Glück bereitet. Versucht diese Welt um Weniges besser zu hinterlassen, als ihr sie vorgefunden habt …“. • All das wird nicht im Sinne eines Moralunterrichts vermittelt, sondern so nebenbei im Rahmen einer vernünftigen, vielseitigen Freizeiterziehung in der Natur, angereichert mit vielen Fertigkeiten und Erfolgserlebnissen. Dieses Gedankengut wurde 1908 erstmals publiziert und viele politische und andere Jugendorganisationen haben dann Teile davon herausgenommen. Leider nicht alle das ethisch Wertvolle, sondern nur das Drumherum. Natürlich gab und gibt es auch bei den Pfadfindern bessere und schlechtere Jugendgruppen. Aber alles in allem darf die Pfadfinderbewegung und der Pfadfindergeist als teilweise aktueller bezeichnet werden als manches, was heute gepredigt wird. Manche Menschen konnten von dort eine persönliche Komponente für ihr ganzes Leben mitnehmen. Zu Wert und Gefahren der Jugend-Organisationen vergleiche auch F1.
Nach diesem Exkurs zur Pfadfinderei wieder zum Kindersport (der mich dazu angeregt hat). Dabei geht es darum, individuell zu entscheiden, mit Rücksicht darauf, wofür das Kind begabt ist und welche Möglichkeiten bestehen. Das Wohl und die Zukunft des Kindes haben absoluten Vorrang vor evt. Vereinsinteressen. Es muss darauf geachtet werden, dass Schule und Berufsausbildung keineswegs neben dem Sport zu kurz kommen. Denn der Spitzensport ist (ja mit gewissen Variationen) etwa im 30. Lebensjahr zu Ende. Der junge Mensch hat aber dann ein ganzes weiteres Leben vor sich. Besonders wichtig ist es, dass das Kind Freude an „seinem“ Sport“ hat und diese nicht verliert. Das ist allerdings wieder leichter gesagt als getan, denn bei jeder systematischen Sportausbildung (auch bei begabten, hoffnungsvollen und primär willigen Kindern kommt es zu Perioden von Frustration, mit Absicht „alles hinzuschmeißen“ etc.), hier ist die Aufgabe von Eltern und Trainern sehr diffizil: Gilt es nur ein momentanes Tief zu überwinden oder ist das Kind wirklich überfordert und sollte man es vom Spitzensport dispensieren? Ein allgemeines Rezept dafür gibt es nicht, nur die Regel: individuell auf das Kind eingehen und das Wohl des Kindes vor Interessen des Sports stellen. Vor allem muss man trachten, die Eltern vor übertriebenem Ehrgeiz und übertriebener Trainingsverpflichtung der Kinder etwas abzuhalten, ihnen auch den „Ausgleichssport zum Spitzensport“ zu empfehlen etc etc. Ein übles negatives Beispiel ist etwa ein 12-jähriger Schiläufer, der im Landesrahmen durch die „harten Bandagen seines Vaters“ zwar nach vorne kam, dieser jedoch im Ziel stand und, wenn der Bub zum Schluss noch ein Tor verfehlte, ihn abohrfeigte.
Das erinnert einmal mehr daran, dass leider Menschen die Eigenschaft haben, auch so gute Sachen, wie etwa den Sport zu etwas Schlechtem zu machen. (Wir sehen es ja auf anderer Ebene auch. Siehe: randalierende Fußballfans.) Jedenfalls hat der im Sport tätige Psychotherapeut auch wesentliche Aufgabenbereiche, die außerhalb des direkten Sportgeschehens liegen. Das konnte schon allgemein für den Spitzensport gezeigt werden, gilt aber besonders für den Kindersport.
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I. Barolin / Riedmann: Integrierte Psychotherapie
Zusammenfassung zu Psychohygiene speziell im Sport Psycho-Hygiene verwendet das gleiche Instrumentar wie Psychotherapie, spricht damit aber nicht Kranke, sondern Gesunde an. Hier wie dort soll kein kritikloses Verstreuen vorliegen, sondern klares Überlegen: – bei wem; – unter welchen Umständen; – zu welchem Ziele; – wie dosiert und in welchen Kombinationen. Das wichtige Einsatzgebiet bei der schmerzarmen Geburt ist ein Hauptbeispiel, weiters Psychohygiene bei Künstlern, Managern und bei vom Burn-out gefährdeten Menschen. Bei der Psychohygiene im Sport gilt: 1. Sie kann gewisse Leistungssteigerungen erbringen, doch im Gegensatz zum unphysiologischen und gesundheitsschädlichen Doping benützt sie physiologische Wege und kann zusätzlich gesundheitsfördernd sein. 2. Dabei hat aber die Gesamtpersönlichkeit des Sportlers unbedingt den Vorrang vor isoliertem Sporterfolgsdenken (ein weiterer wesentlicher Unterschied gegen Doping). Besonders verdient das beim Kindersport Beachtung. Der Kinderspitzensport ist überhaupt sehr vorsichtig und mit Reserve zu betrachten. Vor allem gilt es dabei die Eltern bei übertriebenem Ehrgeizstreben einzubremsen. 3. Unsere Kombination von gruppenmäßiger Vermittlung des AT plus persönlicher Aussprache im Sinne halbstandardisierter Interviews, hat sich gut bewährt, daneben aber auch andere Methoden, die aus der Psychotherapie bekannt sind. So vor allem Katathyme Imagination (KIP: F5).
F. Geronto- u. Rehab.-Psychotherapie / F1. Das Seniorentum
F.
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Gerontopsychotherapie und Rehabilitationspsychotherapie als Gebiete für die integrierte Psychotherapie Schlagwort-Information Es gilt die Hauptprobleme des altwerdenden Menschen zu kennen, um psychotherapeutisch gezielt darauf eingehen zu können. Es bestehen breite Überschneidungen mit Problemen der Altersrehabilitation und der Rehabilitation im jüngeren Lebensalter. Es gilt dafür auch die Möglichkeiten des sozialen Netzes zu kennen und auszunützen.
F1.
Das Seniorentum mit seinen speziellen Problemen
Schnitzler lässt eine seiner Bühnenfiguren sagen: „Das Altwerden ist allemal eine einsame Beschäftigung“.*) Die Vereinsamung im Alter ist heute in unserem Kulturkreis größer denn je. Denn gleichzeitig mit dem Älterwerden der Menschen sind die alten Familienstrukturen aufgebrochen. Die Single-Haushalte nehmen zu. Es gilt das (zumindest teilweise) als „cool“ und fortschrittlich. Doch ist dabei jeweils immer schon die Einsamkeit des Alters vorprogrammiert. Eine Partnerschaft schließt diese natürlich auch nicht ganz aus, bietet aber mehr Chancen aufs Nicht-Alleinsein.
Es muss also zum Nicht-einsam-sein menschliche Gesellschaft vorhanden, aber die menschlichen Beziehungen in dieser auch gut sein (worauf wegen der zentralen Wichtigkeit folgend näher eingegangen wird). Das Telefon kann eine Hilfsfunktion dazu darstellen, aber auch negativ wirken, im Sinne des „Besuchsersatzes“ (vergl. B2). Es kommen in der Altersentwicklung auch eine Menge anderer Probleme neben und mit der Einsamkeit zum Tragen. Psychotherapie im Alter ist jedenfalls mehr als nur eine Beschäftigungstherapie, die von ein paar ehrenamtlichen Besuchern übernommen werden kann. (Dieser Irrtum liegt auch in der Politik noch teilweise vor, wie ich leider aus öffentlichen Diskussionsbemerkungen der zuständigen Regierungsverantwortlichen erfahren musste.) Sicherlich kann aber der Einsatz ehrenamtlicher Besucher und Betreuer zu
*) Arthur Schnitzler war ein sehr feinsinniger und klarsichtiger Wiener Schriftsteller, Zeitgenosse Freud’s. Er lehnte es ab, sich bei diesem einer Psycho-Analyse zu unterziehen, da er fürchtete, damit seine Kreativität zu verlieren. (Siehe auch F3.)
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
einem Zusatzangebot in einer gezielten Alterspsychotherapie gemacht werden (wie wir es bei der Einschaltung von Laien und Kindern bewiesen haben. Siehe folgend in diesem Kapitel). Aus der 3-Generationen-Gesellschaft ist heute eine 4-Generationen-Gesellschaft geworden; das durch Demographie mit längerer Gesundheit und Aktivität, sowie sozial, durch früheres Ausscheiden aus dem Beruf. Es hat sich also zwischen die Erwachsenengeneration und die „Alten“ eine Generation der „aktiven Alten“ geschoben. Teilweise spricht die Psychologie auch bereits von „jungen Alten“ (63 bis 76), „mittleren Alten“ (75–86) und „Alten“ (ab 90 Jahre – Langmaack). Diese Einteilung wird im Folgenden nicht durchgezogen. Aber aus dem Zusammenhang ergibt sich sehr leicht, welche Gruppe der Alten damit genannt ist.
„Das Alter“ zeigt sich auch in der wissenschaftlichen Literatur mit durchaus unterschiedlichem Gesicht; laut Baltes (zit. nach Maercker) ist es die „Lebensperiode mit dem Trauerflor“. Oder ist es „die Hoffnung Alter“ (Buchtitel von Rosenmayr und Böhmer)? Das hängt von einer Menge von Faktoren ab, wie Berufssituation, familiäre Situation, soziale Situation etc., natürlich aber auch von der jeweiligen individuellen Betrachtungsweise. Der Depressive sieht alles durch eine schwarze Brille. (Das betrifft die Altersdepression, die wegen ihrer Häufigkeit im Folgenden noch besonders behandelt wird.) Das Altwerden kann eine Lebenskrise (unter Umständen die größte) sein, vergleichbar mit der Pubertätskrise, der Reifungskrise, der Partnerkrise, etc. (siehe die noch zur Besprechung kommende Situation der Altersselbstmorde). Somit ist nach ärztlichen und ethischen Überlegungen dringend Psychotherapie geboten. Dazu ist es aber nötig, sich das Wesen des Altwerdens vor Augen zu führen, um möglichst gezielt angreifen zu können. Freud hat die psychotherapeutische Behandlung im höheren Lebensalter (die er natürlich als ausschließlich psychoanalytische Behandlung sah) abgelehnt (wegen verminderter Lernfähigkeit), ebenso wie er überhaupt die (analytische) Psychotherapie von körperlich Kranken abgelehnt hat, da die Probleme dadurch zu vielschichtig würden. Die Psychotherapeuten haben sich lange an jene Freud’schen Spielregeln gehalten. Heute ist man weitgehend darüber hinaus: • Da man ja Psychoanalyse längst nicht mehr als einzigen Weg der Psychotherapie sieht, • Da man das höhere Lebensalter nicht mehr ausschließlich als Defizit-Modell auffasst, • Da die gegenwärtige Auffassung vom Menschen als somato-psycho-soziale Einheit entschieden von Freuds dualistischer Auffassung von Psyche und Soma abweicht (vergleiche Wesiack). Wir waren unter den ersten, welche sich auch der Psychotherapie alter Menschen zugewandt haben (in Barolin und Wöllersdorfer wurde erstmals ein langjähriges Krankengut publiziert). Andere frühe Befasser mit der Alterspsychotherapie waren Petzold und Elisabeth Bubolz; sowie Radebold.
F. Geronto- u. Rehab.-Psychotherapie / F1. Das Seniorentum
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Die moderne Geriatrie ist von der Betrachtung des Alters als reinem Defizitmodell abgekommen. Freilich wird vieles „schlechter“. • Reflexsituation (das erfolgt körperlich schon viel früher als geistig; deshalb ist ein Sprint-Sportler mit 30 Jahren schon „alt“). • Anfälligkeit in den verschiedenen Organbereichen. • Schnelligkeit des Lernens und damit Anpassung an neue Gegebenheiten. • Kurzzeitgedächtnis. Die letzten beiden Punkte fallen in das hinein, was Abnahme der fluiden Intelligenz genannt wird. Dem steht aber eine Zunahme der kristallinen Intelligenz entgegen. (Diese Differenzierung der Intelligenz im Alter in „fluide“ und „kristalline“ geht meines Wissens von Lehr und Thomae aus [Maercker].) Zum Zugewinn im Alter gehören: • größeres Überblickswissen, • bessere Zusammenschau verschiedener Meinungen, • Desaktualisierung mancher früher bedrohlich erscheinender Probleme, • auf Grund dessen größere Fähigkeit zum Vermitteln (wenn das auch keineswegs bei allen Alten zutrifft, denn es sind ja nicht alle Alten „abgeklärt“). Das hat auch in manchen Kulturen (bei uns weniger) das Bild des „weisen Alten“ ergeben. Der Begriff der „späten Freiheit des Alters“ wird vielfach gebraucht, allerdings gehört dazu auch Freiheit von: • materieller Not (Autonomie) • behindernder Beeinträchtigung (Gesundheit) • widrigen Umständen aus der sozialen Umgebung (Sozialintegration). Es ist wichtig all jene positiven Aspekte des Alters auch psychotherapeutisch mit zu bedenken und in die Ressourcen-Mobilisation mit einzubeziehen.
Dass man anderseits dem alten und behinderten Menschen nicht gleich sagen darf, „es ist ja doch gut“ und „es ist ja alles halb so schlimm“ wurde speziell bei der Psychotherapie der Depression (B3) schon gesagt. Auch der Altersund Rehabilitationspatient braucht primär ein empathisches Eingehen auf seine Beschwerden, Besorgnisse und Befürchtungen. Die positiven Alternativen sind dann langsam und vorsichtig anzubringen. Abb. 20a und b geben die Hauptproblemzonen des Seniorentums wieder, wie wir sie uns nicht etwa theoretisch ausgerechnet, sondern in jahrzehntelanger Psychotherapie mit Senioren und in mehrfacher Diskussion mit Altenbetreuern erfahren haben. Der Psychotherapeut, der mit alten Menschen zu tun hat, muss sich dieser wichtigen hierarchisch geordneten Zielpunkte des alten Menschen klar sein, um darauf auch stadiengerecht und zustandsgerecht eingehen zu können. Einiges, das in der Abb. figuriert, wird im Folgenden angesprochen.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Die menschliche Beziehung kann zu einem der wichtigen Lebensfaktoren des Menschen gezählt werden (wenn sie nicht überhaupt der wichtigste ist!). Sie entspricht einem menschlichen Grundbedürfnis (das wird später nochmals bei der Sexualität kommen [F3]). Im Alter hat sie aber spezielle Wertigkeit. Sie kann dabei nicht nur lebensverbessernd, sondern sogar lebensverlängernd wirken. Böhmer 2003 sowie Berberich und Mitarbeiter geben an, dass Post-Herzinfarkt-Patienten über 65 Jahre bei Fehlen einer emotionalen Unterstützung eine doppelt so hohe Sterblichkeit aufweisen, wie Patienten mit einer solchen. Bornemann (zit. nach Schmidbauer 2005; sowie Kemper) hat nachgewiesen, dass in den Altersheimen, wo (entgegen der noch immer mancherorts existierenden rigiden Regelung der Geschlechtertrennung) die Möglichkeit gegeben wurde, dass ältere Menschen zusammenziehen, der Psychopharmakaverbrauch um 1/3 sank und die Lebenserwartung beträchtlich anstieg. Ein Hauptgrund für diese große Bedeutung der menschlichen Beziehung im Alter mag in der Vereinsamung liegen. Die allgemeine Vereinsamung der Menschen aufgrund der jetzigen soziokulturellen Bedingungen wurde schon eingangs erwähnt. Es liegt aber auch eine gewisse Regression, die vom alten Menschen selbst kommt, vor. Diese schließt jedoch nicht die verbleibende respektive vermehrte Sehnsucht nach menschlicher Beziehung aus. Bei Behinderung im Alter ist überdies die Autonomie (als weiterer Faktor für die Lebensqualität des alten Menschen) auch an eine konstante persönliche Beziehung gekoppelt. Diesbezüglich ist auf die Wesentlichkeit der Beziehungsdimension in Extremsituationen hinzuweisen. Es wurde von Barbara Distl in ihrem Buch „Frauen im Holocaust“ eindrucksvoll gezeigt, wie auch dort plötzlich die menschliche Beziehung unerhörten (unter Umständen lebenserhaltenden) Wert gewinnen konnte. Durch Vereinsamung plus körperlichen Handicaps plus Verringerung der Distanz zum Tode kommt auch der alte Mensch in eine Art Extremsituation und die archaische menschliche Ur-Beziehung gewinnt an Wesentlichkeit. (Vergl. auch das über Spiritualität Gesagte in F3.)
Im Alter (und in der Rehabilitation) gehört neben der menschlichen Beziehung das Behalten einer gewissen Kompetenz und Würde zum Wesentlichen. Das liegt noch vor der Wesentlichkeit der Gesundheit (vergleiche die Untersuchung Pichotkas im nächsten Kapitel), gleich dahinter kommt das Streben nach Autonomie, respektive die Angst vor deren Verlust mit Fremdbestimmung im sozialen und medizinischen Bereich, bei fehlender Möglichkeit Bedürfnisse und Wünsche zur Wirkung zu bringen. Es soll auch ein besonderes Anliegen der Familie und eventueller anderer Pflegepersonen sein, jene Würde bis zuletzt möglichst zu erhalten und zu pflegen. Das gilt auch und gerade bei Abbau der Persönlichkeit • Man muss dem alten Menschen soweit möglich helfen auftretende Defekte zu kaschieren: Diverse körperlich bedingte Defekte bis zur Demenz. Denn auch der Demente spürt es, wenn seine Würde verletzt wird (siehe noch folgend). • Es gilt auch für die Frage des würdigen Sterbens (siehe ebenfalls noch später).
F. Geronto- u. Rehab.-Psychotherapie / F1. Das Seniorentum
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Einige weitere der in Abb. 20a angeführten Begriffe kommen auch später noch zur Besprechung. Folgendes sei jedoch hier schon angemerkt: • Die Beschwerdefreiheit bezieht sich vor allem auf die häufigen Schmerzsyndrome im Alter. Es wird darauf im Kap. F4 bei der palliativen Psychotherapie noch näher eingegangen. • Unter Sozialfähigkeit ist zu verstehen, dass der Patient in einem körperlichen und psychischen Zustand ist, der ihn Gesellschaft genießen lässt und auch gesellschaftlich genießbar macht. Psychisch kann die Depressivität ein Hindernisgrund sein. Körperlich geht es um Ausscheidungsstörungen, das starke Speicheln des Parkinsonisten etc. • Der Begriff Wärme kam in Diskussionsrunden mit Alterspflegerinnen und Alterspflegern immer wieder vor. Der alte Mensch braucht körperlich sehr viel Wärme, leidet also unter Kältegefühl. Ebenso wichtig ist aber die Wärme in der menschlichen Zuwendung. • Unter Genussfähigkeit ist zu verstehen, dass auch auf einer relativ tiefen Stufe der menschlichen Möglichkeiten doch noch erfreuliche menschliche Werte geboten und entgegengenommen werden können. Hier hat das Fernsehen (das ich durchaus nicht nur positiv sehe, insbesondere für Kinder, Familie und Partnerschaft [V]) seinen wesentlichen und positiven Platz. Die Möglichkeit Freude zu haben, wird noch bei der „Lebensqualität“ näher besprochen (F4). • Wir müssen stets darauf bedacht sein, dem alten Menschen bei der Wahrung seiner Würde behilflich zu sein. Das gilt vor allem bei stärkeren Abbauprozessen mit Selbstbeschmutzung bei ungeschicktem Essen und Tendenz zur Kleidungsvernachlässigung, auch bei unlogischen Handlungen im Sinne der Demenz. Es gilt auch die Angehörigen darauf aufmerksam zu machen, dass die notwendigen Korrekturen und Hilfestellungen nicht von abfälligen Bemerkungen begleitet sein dürfen, dass man vielmehr dem alten Menschen hilft seine Defekte (siehe noch später) zu kaschieren. Nicht etwa ihn (vielleicht auch noch vor anderen) blamiert oder zusammenschimpft: „... Jetzt hast du dich schon wieder angepatzt!“, „...Mit dir kann man ja nichts besprechen, weil du sowieso alles vergisst!“ etc. • Zur Bewahrung der Würde gehört auch würdiges Sterben. Es braucht neben menschlicher Zuwendung (darauf wird im Kap. F4 bei der Palliativtherapie noch eingegangen) auch ordentliches Raum- und Organisationsangebot. Die Zeiten, die ich als junger Assistent erlebt habe, wo sterbende Patienten mit ihrem Bett in ein Badezimmer oder Besenkammerl geschoben wurden, sollten hoffentlich endgültig vorbei sein.
Es wäre nicht zielführend, den alten Menschen zu idealisieren. Man muss auch seine negativen Eigenschaften mit den Betreuenden besprechen damit sie ihr Herz ausschütten können, auch indem man sie in der Supervision darauf hinweist, dass es physiologische und krankhafte Veränderungen des Alters sind, die einen nicht zu Aggression, sondern zum gekonnten Umgang damit bringen sollen (Abb. 20c). Den alten Menschen selbst sollte der psychotherapeutisch Denkende und Tätige vorsichtig in seinen Fehlhaltungen zu korrigieren versuchen, so weit es eben geht. Schon etliche Jahre vor der Pensionierung beginnt üblicherweise die Berufsproblematik. Ältere Menschen können mit neuen technischen Apparaten nicht so gut umgehen wie jüngere. Diese kämpfen gleichzeitig sehr oft mit äußerster Rücksichtslosigkeit gegen die Älteren, indem sie deren Schwäche speziell provozieren und nach außen darstellen. Denn der Konkurrenzkampf setzt (natürlich) an den Schwächen des „Gegners“ an, und der ältere Mensch ist eine Art „natürlicher Gegner“. Der Junge sieht, dass dieser – trotz
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
a) Hierarchie der menschlichen Werte im höheren Lebensalter und deren Förderung von außen
die intakte Gesundheit betreffend • Gesundheit
Rehabilitation (inkl. Rekreation, Motivation, RehaDienst (Psychotherapie) / Angehörigen-Arbeit / Pflege / Erhaltung der Würde / „AltersReha-Versicherung“
Alterstypische Abbauprozesse betreffend • Beschwerdefreiheit • Mobilität und Selbstversorgungsfähigkeit Dient der persönlichen Autonomie • Essen und Ausscheidung • Sozialfähigkeit • Wärme (körperlich und mitmenschlich) • Genussfähigkeit • Würdiges Sterben
b) Typische Involutions-Problematik 1. 2. 3. • • •
Berufs-Problematik Pensions-Problematik Die jüngere Generation Heranwachsend „ Ausfliegend“ = Vereinsamung Schwiegerkinder
4. Partner-Beziehung allgemein/sexuell 5. Multimorbidität Lebens- (Todes-) Angst
c) Ausgliederungsförderung durch den alten Menschen selbst • Starre, schlechte Anpassungsfähigkeit ➝ Rückzug ➝ Einengung + Rückgang der Eigeninitiative • Hemmungsminderung ➝ Aggressivität, Distanz- und Taktverlust • Eigenwilligkeit, Rücksichtslosigkeit bis „Trotz“ und „Bösartigkeit“ • Verletzlichkeit, (Über-)Empfindlichkeit, Außenprojektion eigener Defekte, speziell auch der Vergesslichkeit • Zukunftsängste ➝ Altersgeiz
Über all dem steht der Wunsch nach: Kommunikation, Selbstbestimmung, (Autonomie), Respekt, Würde
Geistige und organisatorische Unterstützung Psy-Prophylaxe, Psy-Therapie
Auf allen Ebenen wesentlich • Menschliche Beziehung • Kompetenz und Sinngehalt • Wirtschaftliche Absicherung (dient der Autonomie) • Neugierde, Weltoffenheit, Interesse
F. Geronto- u. Rehab.-Psychotherapie / F1. Das Seniorentum
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gewisser Defizite bei den neuen Errungenschaften – mehr Gehalt bezieht als er selber. „Respekt“ vor dem würdigen und weisen Alter mag vielleicht im alten China existent (gewesen) sein und in manchen Indianerstämmen. Aber in unserer Gesellschaft suchen wir ihn im Allgemeinen vergeblich. Diese „Regeln“ leite ich aus vielfachen Erfahrungen in der Gruppenpsychotherapie mit Senioren ab. In Diskussion mit Studenten wurde mir aber entgegengehalten, dass man das keinesfalls verallgemeinern sollte, sie z. B. manche „alte“ Lehrer sehr schätzen. Umso besser! Die Würde des alten Menschen (und Respekt vor diesem) wird aber auch vielfach in Angehörigen- und Ärztegesprächen und in denen von Pflegepersonen verletzt (E4, F4); speziell in Pflege-Institutionen. Das geht bis zu den Patientenmorden in Zusammenhang mit Burn-out (E3, Petzold).
Die Pensionierungsproblematik beginnt also schon mit der Vorpensionsphase, und wir haben deshalb mehrfach vorgeschlagen, systematische Pensionsvorbereitungsseminare zu machen. Dieser Vorschlag besteht weiterhin, wir werden ihn auch zukünftig propagieren. Realisiert wurde er bisher noch nicht, denn es bedarf natürlich einer Organisation über Politik, und/oder Gewerkschaft, und/oder Betriebsrat, und/oder Betriebsleitung etc. Es würde dazu auch eine systematische Pensionsvorbereitung in den Leitungsetagen gehören, indem man klarstellt, was die alten Menschen noch können, was sie besser können als die jungen (das ist aufgrund von Erfahrung und Überblickswissen einiges!) und man müsste die Betriebsleitungsetagen dazu animieren, das im Betrieb auszunützen. Aber auch das sind noch unrealisierte Vorschläge zum Besseren.
Das für viele auftretende „Pensionsloch“ hat mehrere Gründe: • Wegfall sozialer Kontakte durch die Berufsaufgabe, • Wegfall einer sinnvollen Tätigkeit, • Wegfall eines über Jahrzehnte eingefahrenen klaren Zeitablaufschemas.
Abb. 20 Die hier dargestellten Hauptzielpunkte im höheren Lebensalter sind nicht theoretisch ausgeklügelt, sondern entstammen vieljähriger Erfahrung in der Seniorentherapie und Altersrehabilitation sowie mehrfachen Diskussionen mit erfahrenen Berufskollegen. Mutatis mutandis gelten sie in der Rehabilitation auch bei Dauerinvalidisierten des jüngeren Lebensalters. a) Zeigt, dass anfangs vor allem organisatorische und psychohygienische (psychoprophylaktische) Maßnahmen in Frage kommen; bei höhergradiger Behinderung dann Psychotherapiemaßnahmen integriert in eine optimale (nicht maximale) Rehabilitation. Das ist sinnverwandt mit „aktiver Pflege“ im Deutschen System. b) Weist die Probleme des (noch) nicht behinderten Alterspatienten aus, die speziell in den von uns vorgeschlagenen „Pensionsvorbereitungsseminaren“ zur Sprache kommen sollten. c) Es ist notwendig, den alten Menschen nicht zu idealisieren (übereinstimmend mit Christine König), sondern die Realität in die Psychotherapie mit ihm selbst und mit seiner Umgebung einzubeziehen.
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Frauen haben es dabei wesentlich leichter als Männer bezüglich des Berufs. Denn bei den Frauen ist (zumindest in unserer heutigen Sozialstruktur) ständig ein zweiter Beruf, nämlich der Haushalt, daneben hergelaufen und sie können diesen „zweiten Beruf“ dann als einzigen Beruf durchaus noch gut ausfüllen und darin eine gewisse Befriedigung finden. Bei den Männern hingegen ist ein deutlicher Unterschied zwischen den Büroarbeitern und den Manuellarbeitern. Der manuelle Arbeiter hat den Ausweg des „Pfuschs“. Er kann seine handwerkliche Tätigkeit auch nach der Pensionierung weiterhin sinnvoll anwenden. Dieser „Pfusch“ ist zwar vom Finanzminister nicht gern gesehen, aber psychohygienisch äußerst wünschenswert. Es verbleibt sinnvolle Tätigkeit (Kompetenz). Der Schreibtischarbeiter (Englisch: white-collar-worker) fällt aber, wenn er sich nicht eine nachberufliche Tätigkeit sorgfältig vorbereitet hat, in das besprochene Loch. Und dieses Loch kann sehr tief und sehr ernst sein. Die allgemeinen Selbstmordstatistiken (z. B. Sonneck; Pöldinger und Stoll-Hürlimann; Haller und Lingg) spiegeln die Problematik des Alters, speziell der alten Männer, sehr deutlich und dramatisch. • Ab etwa dem Pensionsalter steigt die Selbstmordrate allgemein wesentlich an. Darin ist der Anstieg von männlichen Selbstmorden auf ein mehrfaches der weiblichen gegeben. • Haller und Lingg zeigten in der Altersselbstmordstatistik neben dem allgemeinen einen um ein vielfaches überproportionalen Anstieg in der Großstadt Wien gegenüber den ländlichen Gebieten auf, was wohl zwanglos mit dem weitaus größeren verbleibenden Familienzusammenhang in den ländlichen Gebieten zu erklären ist und den damit verbundenen vermehrten sinnvollen Tätigkeiten – im Gegensatz zum Versinken in riesige anonyme Pflegeinstitutionen in der Großstadt, welche kaum irgendeine sinnvolle Tätigkeit ermöglichen. Dass moderne Pflegeheime systematische sinnvolle Tätigkeiten zu ermöglichen versuchen, sei gerne als ein Silberstreifen am Horizont angemerkt (z. B. „Gartentherapie“ Kojer). Die „Verwendung“ des alten Mannes im Haushalt ist nicht immer ein wirklicher Ausweg, kann sogar das „Pensionsloch“ noch tiefer empfinden lassen. – Ich erinnere mich z. B. eines pensionierten Offiziers, der im kleinen Pensionsbetrieb zuhause staubsaugte und mir zähneknirschend und die Fäuste ballend zuzischte „I hate it“.
Der schöne Rat „Suchen Sie sich ein Hobby“ ist völliger Unsinn. Denn wenn man ein Hobby im Alter nicht schon hat , findet man kaum mehr eines. Dort, wo das Hobby aber schon lange (mit immer „zu wenig Zeit”) nebenher gelaufen ist, kann dann darin eine „sinnvolle“ Tätigkeit gefunden werden. Wenn der Kaninchenzüchter oder Briefmarkensammler womöglich noch in seinem Klub vielgeachteter Präsident wird, erlebt er einen zusätzlichen sozialen Aufstieg mit entsprechendem Lustgewinn. Einige „Rezepte“ von alten Menschen selbst lauten unterschiedlich, so z. B.:
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• Man muss etwas ganz anderes anfangen und machen. Das ergibt z. B. die fleißige Benützung des Seniorenstudiums bis zu einer oder mehreren neuen akademischen Graduationen. • In dem was man früher gemacht hat mit weniger zeitlichem Druck noch Vernünftiges leisten. Das ist für die akademisch Arrivierten dadurch erleichtert, dass sie ein Zimmer in ihrem alten Institut behalten und (je nach Kooperation des Nachfolgers) auch ein Sekretariat begrenzt benützen dürfen. Manche fortschrittliche Industrieunternehmen geben ihren höherrangierenden Ausscheidepensionisten „Konsulententätigkeiten“ oder ähnliches als Ehrenamt. • Nichts mehr sehen und hören von der Arbeit, mich nur um meine Familie (gemeint sind damit meistens die geliebten Enkel) kümmern und mit ihnen viel unternehmen. • Reisen machen, zu denen man früher nicht gekommen ist. Dazu gehört natürlich eine relative Gesundheit und es wird auch wesentlich gefördert durch eine gute Partnerschaft. • Für Manche ist „der Garten“ eine freudvolle Beschäftigung, zu der sie früher auch Lust gehabt hätten, aber zuwenig dazu gekommen sind (das ist eigentlich schon wieder ein Bereich des bestehenden Hobbys, das man fortführt). • Manche möchten rückschauend ihr Leben nochmals Revue passieren lassen. Das hat gewisse Parallelen zur später noch erwähnten Reminiszenztherapie (vergl. F4) und bedingt eine Vielzahl, der auf dem Markt befindlichen Biographien. (Dem schlauen Leser wird es nicht entgehen, dass vorliegendes Buch einerseits das Sinnvoll-verwenden-was-man-früher-gemacht-hat und anderseits ein bisschen „Biographie“ mitenthält.) Trotz dieser und mancher anderer „Rezepte“ bleibt aber für viele Menschen im Alter ein beträchtliches „Loch“ übrig.
Eine Reihe von Verlusten tragen zur Vereinsamung bei. Laut Anita Rieder (2003 a) sind die Hälfte aller Frauen über 65 verwitwet sowie 1/4 aller Männer (übereinstimmend mit Janig und Mitarb.). Neben diesen Verlusten durch Tod der Angehörigen steht der Verlust von Freunden, aber auch vieler sozialer Bezüge, die sich über das Berufsleben ergeben haben. Das „Pensionistenbankerl“, also die Schaffung einer Club-Atmosphäre für alte Menschen, ist sicherlich nur von sehr beschränktem Wert. Brigitte Pabst stellt demgegenüber ein Projekt des österreichischen Roten Kreuzes Aktivitätsgruppen für Senioren, wo gemeinsame sinnvolle Tätigkeiten (ehrenamtlich) organisiert werden. Sie argumentiert sehr richtig: Wenn man, bis dahin einander fremde, alte Menschen nur in Art eines Clubs zusammenbringt, haben sie kaum Kontaktpunkte, trinken Kaffee und reden nur über ihre Krankheiten. In einer gemeinsamen Aktivitätsgruppe hingegen kann Folgendes erreicht werden: • Es ist eine sinnvolle Tätigkeit (und nicht nur eine Beschäftigungstherapie). • Sie kann sogar für die Allgemeinheit etwas nützen, • Und es ergibt sich ein Thema, das in dem damit zusammenhängenden Club besprochen werden kann. Langmaack beschreibt einen „Verein für Hilfsangebote“, in dem man für zu Gunsten anderer geleistete Hilfe Bonuspunkte bekommt, die man dann selbst als Hilfeempfang einfordern kann. Neben dem unmittelbaren Ziel des Hilfeempfanges und gegenseitiger Betreuung (mit handgreiflicher „Sinnhaftigkeit“), kommt es dabei natürlich auch zu vermehrten sozialen Kontakten. Gleichsinnig betont Hummel die wünschenswerte Propagierung und Organisierung freiwilliger Tätigkeit für alte Menschen und sieht darin neben den schon genannten positiven
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Faktoren – auch die Möglichkeit einer vermehrten Interessensvertretung im Sinne einer lebendigen Demokratie. (Zur „ehrenamtlichen Tätigkeit“ siehe auch F4. Die Tendenz dazu scheint mir in Österreich noch ziemlich unterbelichtet zu sein. Gegenteiliges habe ich in England und auch in Israel gesehen.) Grond (2004) glaubt, dass in der Zukunft menschenwürdige Sterbebegleitung und bessere Lebensbegleitung nur finanzierbar wird, wenn das Ehrenamt zur Bürgerpflicht wird. Für eine derartige ehrenamtliche Begleitung in der Palliativtherapie hat Susanne Pirker eine beachtenswerte Organisation aufgebaut, über die in F4 noch ausführlich berichtet wird. Bei einer Befragung von 1650 freiwillig engagierter Senioren in Deutschland waren laut Gisela Seidel die häufigst genannten Motivationen: • Etwas tun, das mir einen sinnvollen Lebensinhalt gibt, • Etwas aktiv mitgestalten, von dem ich überzeugt bin, dass ich anderen Menschen dadurch Hilfe leiste, Dazu kommen Wünsche der Senioren für ihre Arbeit: • Selbstbestimmend tätig sein, • Keine unübersehbaren Verpflichtungen übernehmen, • Gebraucht, aber nicht ausgenutzt werden, • Mitplanen können und von Fachleuten beraten und begleitet werden. Es wird daraus konkludiert, dass man das freiwillige Engagement der Senioren einerseits nicht abgekoppelt von Rückerstattungserwartungen sehen, anderseits aber ihre Mitverantwortung für gesellschaftliche Prozesse nicht übersehen darf. Anita Rieder (2003 b) hat gleichsinnig aufgezeigt, dass aus sozial-medizinischer Sicht „gesundes Altern“ und „aktives Altern“ zwei Begriffe sind, die sich wechselseitig bedingen. Es wird die Wichtigkeit des frühzeitigen Einstieges betont, womit sicherlich unser Vorschlag der „Pensionsvorbereitungs-Seminare“ deutlich unterstützt wird.
Es gilt gleichermaßen die körperlichen und die intellektuellen Fähigkeiten „aktiv“ einzusetzen. Die Psychotherapie soll diesen Einsatz in Zusammenarbeit mit den sozialen und sozialmedizinischen Institutionen möglichst kanalisieren. Das englische „use it or loose it“ (entsprechend unserem deutschen „was rastet, das rostet“) gilt gleichermaßen für Körper und Geist. Es müssen die Beziehungen zur Nachbarschaft und zur Gesellschaft gestärkt und möglichst aktiv erhalten werden (Sozialintegration). Der Psychotherapeut kann und soll mitarbeiten, die konkreten Möglichkeiten kennen und kanalisieren. Es ist das die schon genannte Kenntnis in den „Nachbarbereichen“ der Psychotherapie und die Absicht sie zu benützen. Zu den Verlusten gehört auch der Verlust des Anwerts für die Gesellschaft. Der Pensionist kann nicht mehr „Beziehungen spielen lassen“. Es tritt also ein oft schmerzhafter Machtverlust ein, speziell wenn vorher eine gewisse gehobene Stellung gegeben war. Er kann niemandem mehr „nützlich sein“ (kann auch niemandem mehr schaden). Denn seine Altersgenossen sind auch schon alle in Pension, und zur jungen Generation hat er nicht den gleichen Zugang. Die Umwelt lässt ihn das Weniger-wert-werden deutlich merken.
Nochmals zurück zu den menschlichen Beziehungen. Diese stehen in einer gewissen natürlichen Rangordnung: 1) die Partnerbeziehung, 2) die Bezie-
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hung zur jüngeren Generation und 3) die Sozialbeziehung. Auf letztere wurde schon eingegangen, die Partnerbeziehung wird in Kap. F3 noch ausführlicher behandelt. Es wird dort auch auf die derzeitigen Umbrüche in unserer Gesellschaftsstruktur kurz eingegangen, von denen zu erwarten ist, dass sich in den nächsten Jahrzehnten eine Menge, nicht nur in der Paarbeziehung, sondern in der gesamten Familienstruktur, ändern wird. Davon wird auch manches des hier Folgenden betroffen sein, genannt seien: • Verschwinden der Groß- und Mehrkindfamilie (die ja auch Freud in seiner Ausrichtung auf die bürgerliche Familie kaum beachtet hat), • Partnerfluktuation und Rollenverteilung, • Demographisch neue Altersverteilung mit Entstehen einer „4. Generation“, • etc.
Die Beziehung zur jüngeren Generation*) Die „jüngere Generation“ haben wir schon mit ihrer Problematik als rücksichtslosen Konkurrenten für den Älterwerdenden im Berufsleben dargestellt (siehe auch Abb. 20b). Natürlich gibt es auch Probleme mit der jüngeren Generation in der Familie. Diese Probleme sind so alt, wie die Menschheit selbst. Nicht von ungefähr hat Freud den unglücklichen Ödipus aus der antiken Sage in die moderne Psychotherapie hereingeholt. Wesentliche Generationskonflikte präsentieren sich uns folgendermaßen. Vater-Sohn-Konflikt: Der Sohn konkurrenziert mit dem Vater. Es kommt zur Ambivalenz zwischen der Vorbildwirkung und der Ablehnung, typisch beim Hinüberwechseln des Sohnes in die eigene Selbstständigkeit. Vater-Sohn-Divergenzen können von beiden Seiten genährt werden. Abwertende Äußerungen des Vaters (von dem man anerkannt werden möchte) können einen Sohn besonders schmerzen. In Extremfällen kann es zu Verstoßungen, Erbbenachteiligungen etc. kommen. Umgekehrt in Richtung Sohn zum Vater geht es von Beschimpfungen über Gewalttätigkeiten bis zum Streben nach Entmündigung „des Alten“ und Versuch, ihn damit sozial auszuschalten. Beispiele aus unserer Zeit sind die Betriebsübergaben an den jungen Nachfolger, wo dann der Vater immer noch dreinredet und sich die beiden nur dann vertragen können, wenn völlig abgegrenzte Arbeitsgebiete gefunden werden. (Näheres darüber in F3.) Graf zeigt, wie diese Fragen nicht nur psychotherapeutisch, sondern durch Beziehung zu einem kompetenten „Arbeitspsychologen“ (als den er sich selbst bezeichnet) entemotionalisiert und sachlich einfach gelöst werden können.
Haller und Lingg berichten von einem Mann, der ein inoperables Magenkarzinom hatte und sich auf einem Heimaturlaub erschoss. Nicht etwa wegen seiner unheilbaren Erkrankung, sondern weil ihm tags zuvor sein einziger Sohn im Affekt erklärt hatte, er solle jetzt lieber möglichst rasch sterben, statt unnötigerweise viel von seinem mageren Erbe an die Ärzte zu vergeuden. Dieser *) Hier werden nicht nur Senioren-Probleme (entsprechend der Abschnittsüberschrift) besprochen, sondern auch allgemeine Probleme zwischen Jung und Alt, wie sie die Kindererziehung betreffen und sich aus dem Zusammenhang ergeben. Der geneigte Leser wird ersucht, das zu tolerieren.
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Beispielfall steht keineswegs ganz vereinzelt da. Nicht selten steht „das Erben“ im Zentrum eines Konflikts zwischen Alt und Jung, oder eigentlich muss man sagen: „.... wird es gestellt“. Denn es wird nur dann zum KrisenKristallisationspunkt wenn eine an und für sich gestörte Generationsbeziehung besteht. Das kann verschiedene Ursachen haben. • Es kann einfach nur archaisches Besitzstreben sein. Es ist teilweise so, dass das Besitztum älter werdender Eltern bereits von den Kindern als ihr gesichertes Eigentum betrachtet wird, welches keinerlei Betreuung der oder auch nur emotionale Zuwendung zu den Eltern involviert. Hier mag auch die moderne Schulerziehung mitspielen, welche die jungen Menschen stärker als früher auf ihre Rechte hinweist (was sicher gut ist), aber nicht auf irgendwelche Familien-Anstands- oder nur -Höflichkeitspflichten eingeht (was sicherlich schlecht ist). • Es können die Eltern lange Zeit hart und ungerecht zu ihren Kindern gewesen sein und sie bekommen dann eine derartige „Retourkutsche“. Öfter ist es wohl so, dass unverarbeitete Konflikte aus der Kindheit (auch ohne direkte „Schuld“ der Eltern) hochkommen und man es neurotisches Verhalten der jüngeren Generation nennen muss. Dieses kann natürlich noch verstärkt werden durch Einflüsse von außen, wie neue Partner bei der Eltern- und/oder Kindgeneration, streitende Scheidungseltern etc. • In der ganzen Erbproblematik kommt zusätzlich auch immer die Geschwistereifersucht dazu, die psychodynamisch vorprogrammiert sein kann, aber sich häufig an der konkreten Besitzsituation aktualisiert.
In anderen Konstellationen, unter denen das Erbe zu einem Problem wird, sind die alten Menschen selbst die Problemverursacher. Nicht selten verschenken alte Menschen ihre Besitztümer mit der Voraussetzung, dass sie dafür betreut werden („Dankbarkeit“). Das Geschenk wird zwar gerne angenommen, es fällt aber das Interesse an dem alten Menschen und damit auch seine Betreuung dann häufig weg. – Es liegt leider in der menschlichen Mentalität, dass das, was man bekommen hat, nichts mehr gilt, sozusagen vorüber ist. Der Volksmund sagt: „Bevor man sich niederlegt, zieht man sich nicht aus!“ Vorzeitige Verschenkungen können einem Alten überdies Neid und Aggressionen einhandeln („.... wieso hat der Alte so viel und arbeitet nichts mehr?“). Der Junge kann sich sogar belastet und beengt fühlen durch die Dankes-„Schuld“, gesteht sich das aber natürlich nicht ein und motiviert seine Aggressionen irgendwie anders. (Übereinstimmend mit Schmidbauer). Generell spielt die Dankbarkeitserwartung von Eltern zu Kindern, Lehrern zu Schülern, Vorgesetzten zu Untergebenen, etc. eine große Rolle für spätere Verstimmungen. Denn diese Dankbarkeit bleibt häufig Utopie. Thomas Becket war ein getreuer Vasall von Heinrich II. Als dieser seinen Kanzler aber zum Erzbischof von Canterbury ernannte, stellte er sich energisch gegen den König. Die Geschichte ist bekannt. Der König ließ ihn schließlich am Altar der Kathedrale erschlagen. Wie von jeder Regel gibt es von der Undankbarkeit der Nachwelt auch Ausnahmen. Alexander der Große räumte seinem Lehrer Aristoteles ein wichtiges Staatsamt ein. Alle gefundenen Pflanzen mussten diesem vorgelegt werden und es entstand so eine ausgedehnte Heilpflanzenkunde.
Soll man alten Menschen also raten ihre Besitztümer ängstlich bei sich zu behalten und nichts auszulassen? Keineswegs! Der Volksspruch sagt: „Das letzte Hemd hat keine Taschen“. Frankl: „.... wenn für mich allein, wozu?“ (A5). Aber man muss den alten Menschen dahingehend beraten, dass er seine
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Besitztümer nur dort verschenken soll, wo ihm die Verschenkung an sich Befriedigung schafft, aber nicht daran eine Dankeserwartung geknüpft wird (die zwar manchmal erfreulicherweise eintrifft, aber keineswegs obligat ist). Will der alte Mensch also durch vorzeitige Vergaben seine spätere Lebensqualität absichern, so gilt es, klare Abmachungen (mit Rechtsbeistand seines Vertrauens) zu treffen. Auch die Alten lassen die Jungen manchmal im Stich (nicht nur umgekehrt). Jüngere Menschen (Verwandte und andere) pflegen einen alten Menschen jahrelang ordentlich bis aufopfernd und erhalten das Versprechen einer Beteiligung aus dem Erbe. Beim Tod des alten Menschen findet sich aber keine derartige schriftliche Verfügung. Der ordentliche Betreuer schaut durch die Finger, und der Staat oder Anverwandte, welche sich nie um den Alten gekümmert haben, erben. Manche Alte entschließen sich plötzlich aus einer Verstimmung heraus, einen ordentlich Pflegenden und Aufmerksamen zu „enterben“. So geschah es im eigenen Arbeitsbereich einer Nichte (die sich um den Schwerkranken ehrlich bemühte, immer zu Besuch war etc.), als sie einen Tag einmal nicht kam. Es sollten dann die entfernten Neffen (welche sich nie gekümmert hatten) erben. – Im Sinne des schon mehrfach betonten ständigen (auch außermedizinischen) Kontaktes mit Patienten und Angehörigen konnten wir das erfahren und dem alten Herren wieder ausreden. Um derlei kurzschlüssige Enterbungen zu vermeiden wurde der Pflichtteil von Gesetzgebern eingeführt: Direkte Erben (Kinder, Ehepartner, Eltern) erhalten (außer wenn hochgradig gravierende Gegengründe vorliegen) die Hälfte des gesetzlichen Erbes auf alle Fälle. Ein komplettes „Enterben“ (wie es in Filmen und Romanen immer wieder figuriert) kommt also in den deutschsprachigen Ländern (Österreich, Deutschland, Schweiz, den direkten Erben gegenüber) nicht in Frage; auch das soll der Psychotherapeut wissen.*)
Der Psychotherapeut, der beim alten Menschen gleichzeitig Berater sein soll, muss all jene Probleme kennen und sich auch darum kümmern. Er soll auch die Scheu nehmen, vom Tod und vom Erben zu sprechen. (Manchmal heißt es: „Aber lass das doch! Das hat Zeit! Zerbrich Dir doch darüber nicht den Kopf! Du stirbst ja nicht so bald!“ und ähnlich.) Dort, wo ein deutlicher Generationskonflikt besteht, muss der Psychotherapeut sein Instrumentar und Wissen einsetzen, um vielleicht doch zu mitigieren, zu schlichten und Einverständnis herzustellen. Bei verhärteten Fronten gelingt das keineswegs immer (wie vieles in der Psychotherapie), soll aber versucht werden. Durch die Freud’sche Betonung der Ödipus-Situation ist die Vater-SohnBeziehung besonders ins Zentrum der psychotherapeutischen Beachtung gerückt, aber selbstverständlich gibt es auch zwischen anderen GenerationenMitgliedern Probleme. *) Notar Dr. Schefknecht danke ich für freundschaftliche Rechtsberatung.
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Zwischen Müttern und Töchtern sind die Probleme meistens nicht so krass wie zwischen Vätern und Söhnen. Jung hat dafür den Ausdruck „Elektrakomplex“ aus der Mythologie hergeholt. Er bezeichnet die überstarke Bindung einer Tochter an ihren Vater und dadurch eine gewisse Konkurrenz und Feindschaftssituation zur Mutter. Vom Vater zur Tochter kann es einerseits zu Aggressionshaltungen im Sinne der Ablösungskrise kommen, anderseits (und manchmal damit in Verbindung) eine gewisse Eifersucht herrschen. Es kommt zu übertriebenem Kontrollierenwollen der flügge Werdenden mit verschiedenen beziehungsstörenden Auswüchsen. Die Verliebtheit des Vaters in seine Tochter kann aber auch (klar sexualisiert) zu den – leider gar nicht so seltenen – Inzestfällen führen. Andere Inzestkonstellationen sind seltener (oder kommen nur seltener zur Kenntnis?). So Geschwister-Inzest, Mutter-Sohn-Inzest. Natürlich ist der Inzest nur ein seltener extremer Endpunkt, aber Wieck’s provokanter Buchtitel „Liebe Mutter, du tust mir gar nicht gut!“ zeigt viele Konstellationen, wie die Mutter-Sohn-Beziehung problematisch werden kann. Es ist heute allgemein selbstverständliches Hintergrundwissen, dass die Mutter-Kind-Beziehung zu den wesentlichsten positiven Entwicklungsfaktoren des Menschwerdens gehört. Daran soll natürlich gar nicht gerüttelt werden. Aber es ist psychotherapeutisch doch wichtig, zu erkennen, dass vieles Positive aus jener Beziehung auch fließend in Schädigung übergehen kann. Das Befürsorgtwerden durch die Mutter in der Frühkindheit als erste Liebes- und Geborgenheitserfahrung kann als fehlend unter Umständen lebenslang schädigend wirken (siehe das in A3 bei Neurose und Psychotrauma Gesagte). Das „Mutter-Bett“ hat eine wichtige Funktion. Es kann im Vorschulalter oder Frühschulalter ein beliebter Zufluchtsort und Ort für das „Schmusen mit der Mutter“ sein. Das ist keineswegs als abnorm zu werten, mit gewissen Grenzen durchaus wünschenswert. Es kommt dabei manchmal zur Erektion und erotischen Empfindungen bei dem kleinen Buben (natürlich ohne Ejakulation, denn diese gibt es erst ab der Pubertät). Das soll keineswegs perhorresziert werden. Es liegt an der Einfühlsamkeit und Vernunft der Mutter, dass sie einerseits den Buben nicht empört wegstoßt, anderseits aber darauf hinarbeitet, dass es vorübergehend bleibt und der Bub vom Mutter-Bett distanziert wird. – Analoges gilt natürlich für die Vater-Kind- (vor allem Vater-Tochter-)Beziehung. Schmusen ist gut, aber es dürfen von der Elternseite her keine sexuellen Verstärker einfließen. Das genaue Gegenteil von „vorsichtig und taktvoll“ bewies eine Ärztin (!) aus einer Fallgeschichte Wieck’s. Als bei Untersuchung des kleinen Buben dieser plötzlich eine Erektion bekam, schlug sie mit dem Lineal auf sein versteiftes Glied und sagte rügend „Na, was ist denn das?!“ Wir kennen genügend Beispiele einer abnormen Persönlichkeitsentwicklung, bei Fehlen der rechtzeitigen Distanzierung zwischen Mutter und Sohn („überprotektive Mütter“): Männer, die bis ins mittlere Lebensalter bei ihren Müttern wohnen („Hotel Mama“), ob mit realer erotischer Beziehung oder ohne diese, bleibt meistens unklar. Es können auch Mütter-Ersatz-Frauen diese überstarke Bemutterung übernehmen. Es gehört dazu das Schlechtermachen jeder Partnerin des Sohnes und Intrigieren gegen diese (vergl. noch später „die böse Schwiegermutter“, [und dass man diese auch aus einem anderen Blickwinkel sehen muss]). – Der Inzest wird in Kap. F3 noch näher behandelt.
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Natürlich gibt es außer Situationen von in die Irre gehender Sexualität die verschiedensten anderen Konstellationen, welche die Beziehung zwischen Alt und Jung erschweren, verunmöglichen und/oder auch für späterhin in Feindschaft verwandeln können. So etwa: Streitereien zwischen den Eltern, in welche die Kinder mit hineingezogen werden; Unbeherrschtheit und Aggressionen auf der Elternseite; Überempfindlichkeit und histronisches Abreagieren bei den Eltern; Inkonsequenz und Unverlässlichkeit; Ungerechtigkeit gegenüber den Kindern mit Bevorteilung eines Kindes gegenüber den anderen; emotionelle und/oder finanzielle Vernachlässigung der Kinder; neue Partnersituation der Eltern bis hin zu dem kriminellen Geschehen von Kindesmisshandlung, oft verbunden mit Alkohol etc. etc.
Nach Aufzählung all dieser unerfreulichen Familienszenarios möchte ich aber nochmals auf das Vorgesagte (A4) hinweisen, dass nämlich (mit Küstner) davor gewarnt werden muss, immer nur das Konfliktuöse der Generationenbeziehung zu sehen und zu suchen. Es gibt neben dem aufgezählten Negativen (das vor allem in der Therapie gestörter Menschen herauskommt), sehr viel Positives in der Familie. Die ganze soziale und persönliche Weiterentwicklung ist auch von positivem Vorbild, positiver Identifikation, vernünftiger Erziehung (siehe folgend) etc. mitbestimmt. Diese positiven Seiten und Möglichkeiten soll sich der Therapeut bemühen mitzubewerten und auch mit in sein Therapie-Konzept einbeziehen und fördern („Ressourcenmobilisierung“, „Salutogenese“ als Schlagworte). Die Großeltern-Enkel-Beziehung ist nicht direkt von Ablösungsproblematik der Jugend geprägt. Es ist häufiger so, dass ein Großelternteil (männlich oder weiblich) das Enkelkind als eine „letzte große Aufgabe“ ansieht – etwas, das wir fallweise (etwa in der Rehabilitation nach invalidisierender Erkrankung) auch zur Motivationsunterstützung benützen. (Vergleiche nächstes Kapitel.) Es kann aber auch zu Schwierigkeiten mit der mittleren, also der Eltern-Generation, führen; so mit den „verwöhnenden“ Großeltern, wo dann die Eltern die zu starke Verwöhnung ablehnen; oder: Großeltern können sich (für das Gefühl der Eltern oder realiter) zu sehr in die Erziehung einmischen, die Eltern immer bekritteln und/oder bevormunden wollen. Deshalb, oder auch als „Strafe“ im Rahmen sonstiger Zerwürfnisse mit den (Schwieger-)Eltern, kann es zum Entzug der Enkel kommen. Das stellt (in Übereinstimmung mit Haller und Lingg) eine schwer zu ertragende Frustrierung dar, die zur (Mit-)Ursache für einen Suizid werden kann.
Exkurs: Pädagogik*) Erziehung ist ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit (A4). Der „späte“ Freud (zit. nach Brigitte Sindelar) sagt 1933 dazu: „… Ich habe mich kaum je damit beschäftigt … aber die Anwendung *) Ich habe dabei qualifizierten Pädagogen für kritische Durchsicht herzlichst zu danken: Ministerialrat
DDr. F. Sedlak (Leiter der Abteilung Schulpsychologie im österr. Bildungsministerium) und zwei engagierten Lehrerinnen (Sabine Schnürer, Evelyn Kellner-Fuchs).
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der Psychoanalyse auf die Pädagogik, die Erziehung der nächsten Generation ist vielleicht das Wichtigste von allem, was die Analyse betreibt.“ Dem ist voll zuzustimmen (das Wort Psychoanalyse zeitgemäß durch Psychotherapie ersetzt). Diese Wichtigkeit ist in der Realität leider auch heute nur in Ansätzen berücksichtigt, obwohl die Individual-Psychologie (Adler – siehe folgend) sie viel stärker behandelt. Wegen des maßgeblichen Einflusses auch auf die Beziehung zwischen Alt und Jung: dieser Exkurs an dieser Stelle. Der Erziehungsberater Liebenow (aus dessen lesenswerten Buch einiges im Folgenden mitverwertet wurde) schreibt: Da wir die Kinder für eine ungewisse Zukunft erziehen, geht es nicht darum, ihnen Faktenwissen zu vermitteln, sondern die Befähigung zur vernünftigen Willensentscheidung. Leider bleibt das auch in der Medizin-Didaktik weitgehend unberücksichtigt. Trotz „neuem“ österreichischen Curriculum versuchen noch zahlreiche akademische Lehrer, ihren Studenten möglichst viel lexikalisches Wissen hinein zu stopfen, statt die Grundlagen für zukünftige Auswahl, Entscheidungen, Weiterentwicklungen zu vermitteln (das verständlich, plakativ und in mehrfachen Wiederholungen).
Der Wiener Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie Friedrich schreibt über Erziehung wörtlich (Hervorhebungen durch mich): Optimale Erziehung gibt es nicht, auch kein Rezeptbuch der perfekten Pädagogik. Erziehung ist ein Prozess, der sich den idealen Zielen nur annähern kann. Die moralische Urteilsfähigkeit gewinnt das Kind in einem durchgängigen Erziehungsprozess, der Imitationslernen, Versuch-Irrtums-Lernen und Aussetzen in kalkulierbare Gefahren umfasst. Dadurch soll das Kind lernen, die Grenzen auszuloten, soziale Risken abzuwägen und zu erfahren, dass die Grenzüberschreitung geahndet wird, daher Fehlverhalten nicht lohnt. Die soziale Antizipationsleistung (sinn- und planvoll Vorausdenkenkönnen) soll so im Elternhaus geschult und erlernt werden. Daraus soll sich das nötige Maß an Verantwortungs- und Toleranzfähigkeit als wichtiges Kriterium der Reifebildung entwickeln. Es ist notwendig, die Peer-Group, also den gleichaltrigen Umgang kennenzulernen, um Gefahren für das soziale Kindeswohl frühzeitig auszumachen. Man hört oftmals von Eltern, die unter schwierigen Beziehungen zu ihren Kindern leiden (beide Teile leiden darunter) „Was habe ich falsch gemacht?“. Ein sicheres Vermeiden der aufgezeigten Schwierigkeiten zwischen den Ge-
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nerationen gibt es ebenso wenig, wie es die „optimale Erziehung“ gibt. Es spielen dabei vielerlei Komponenten mit, die durch die Eltern nur zum Teil beeinflussbar sind (vergleiche neben A4 über Persönlichkeitsentwicklung auch A1 über Neurobiologie): • In der Schule verbringen Kinder heute vielfach wesentlich längere Zeiten als mit der Familie. Hier ist einerseits die Wichtigkeit der Lehrer zu betonen (wovon manche Verantwortliche sehr viel Gutes leisten, manche aber mit wenig Verantwortung sehr vieles vernachlässigen), weiters das neue soziale Umfeld (schon genannte „peer-group“). Übrigens erfahre ich aus Lehrerkreisen, dass diesbezüglich heute ein großer Unterschied zwischen den städtischen und ländlichen Schulen besteht: In den städtischen Schulen wird den Kindern viel mehr über ihre Rechte erzählt als über ihre Pflichten, und die Eltern stehen vermehrt in einer ständigen Kritik- und Aggressionshaltung den Lehrern gegenüber. In den ländlichen Schulen hingegen gilt noch etwas von der alten Tradition und es ist auch eine viel konstruktivere Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern zu orten. Allerdings ist anzunehmen, dass jene Unterschiede sich bald ausgleichen werden. • Umgang mit der Verführungssituation der Drogen. • Sozial unvermeidliche, aber unter Umständen belastende Faktoren, wie Übersiedlung, Migration, Tod von Angehörigen, Scheidungssituation der Eltern, Unfälle mit Körperbehinderung etc. • Jugendorganisationen können eine höhere Qualität und damit verbunden positive pädagogische Entwicklung kanalisieren. Ich sehe diesbezüglich besonderen Wert in der Pfadfinderei (E3). Dabei kann leider auch manches schief gehen, je nach Qualität der Gruppenführer: von übermäßiger Beanspruchung, deutlicher Bevorzugung und Benachteiligung, Anleitung zu gruppenmäßigem Fehlverhalten („alle hauen jetzt einen“) bis zu den immer wieder vorkommenden homosexuellen Episoden. Erfreulicherweise gehört das aber bei ordentlich geführten Jugend-Organisationen keineswegs zur Regel und die Vorteile sind deutlich größer als (eventuelle) Nachteile. Es gilt für die Eltern über guten Kontakt mit den Kindern eine gewisse Kontrollfunktion zu behalten. Ebenso wie ja Eltern es auch positiverweise mit der Schule machen. – Nebenbei: Es können ruhig auch Väter und nicht nur Mütter fallweise in die Sprechstunden gehen! • Dazu kommen auch einfach Zufälle.
Innerhalb dieser Plurikausalität gibt es aber doch einige Grundregeln über den Umgang mit Kindern. 1. Vor allem gilt es natürlich immer alle vorhandenen Kinder gleich zu behandeln und keines zu bevorzugen. Außerdem soll ständig ein gesunder Mittelweg gegangen werden zwischen einerseits unkritischem Hochloben und anderseits demotivierendem Abwerten. Beides kann auf die Dauer den Kindern ein falsches Selbstbild vermitteln und damit eine kontraproduktive Lebenseinstellung. 2. Adler hat darauf hingewiesen, dass Verhaltensschwierigkeiten und Erziehungsprobleme vielfach auf vernachlässigende oder verwöhnende elterliche Haltung zurückzuführen sind. Das betrifft Eltern, die sich für ihre Kinder zu wenig Zeit und Mühe nehmen (ich sage ausdrücklich „nehmen“, denn es ist nicht immer in Übereinstimmung mit dem „Zeit-haben“).
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In weniger begüterten Kreisen betrifft das die gleichzeitige Berufstätigkeit beider Eltern plus Freizeitinteresse ohne Einschluss der Kinder. Spiel hat aber darauf hingewiesen, dass das durchaus auch bei wohlhabenden Eltern vorkommt, die alle Sorgen und Mühen an andere (bezahltermaßen) delegieren und sich selbst („wegen anderer Obligationen“) weitgehend aus der Beziehung zu ihren Kindern heraushalten. Er hat dafür den plakativen Ausdruck „Nobelverwahrlosung“ geprägt. Diese ist nicht selten gepaart mit der genannten Verwöhnung (womit keineswegs einer drakonischen Strenge das Wort geredet werden soll [siehe später]). Das Kind lernt keine Grenzen kennen und das kann eine dauernde falsche Lebenseinstellung bewirken.
3. Das führt zur Frage der Zeit, die man für Kinder aufwendet. Dabei zählt aber Qualität vor Quantität. Gemeinsames Tun (speziell bei kleineren Kindern) und das Gespräch sind die via regia in der Beziehung zu Kindern und Jugendlichen. • Das Gespräch muss unter allen Umständen respektvoll und absolut ehrlich sein, eindeutig und „gerade“ (siehe Gleichklänge zum psychotherapeutischen Gespräch in B1). Zynismus und Ironie sind verboten! Witze nur mit äußerster Vorsicht zu verwenden. • Es soll versucht werden, über alles ins Gespräch zu kommen, was das Kind bewegt, sei es positiv oder negativ. • Das Kind soll ernst genommen werden mit seinen Problemen, ohne dass man es vorzeitig „zum Erwachsenen macht“, also es mit den Problemen überfordert. Aber das Kind soll wissen, dass man es weder im Guten noch im Schlechten mit seinen Problemen allein lässt, sich im Gegenteil freut, diese mit ihm zu teilen und gemeinsam zu erledigen. • Ganz wichtig ist das intensive Sprechen über die Drogenprobleme. Leider gibt es dazu heute auch schon förderndes Verhalten durch die Eltern, nämlich die „Pille zur Schularbeit“. Abgesehen von möglicher Kanalisierung eines Beruhigungsmittelmissbrauchs wird auch das Kind daran gehindert, seine gesunden Ressourcen für ein normales Leben kennenzulernen und zu aktivieren. Hier ist eine Parallele zum gesundheitsschädigenden Doping. Ebenso in Analogie dazu sei erwähnt, dass man stattdessen das gesundheitsfördernde + leistungsverbessernde AT vorteilhaft anwenden kann (C5). • Das Sprechen über Sexualität kann nicht früh genug erfolgen, natürlich jeweils auf der Ebene der kindlichen Verständnisbereitschaft (die aber erfahrungsgemäß von den Eltern häufig weit unterschätzt wird). Das Verweisen auf die Schule, den Biologieunterricht, den Katecheten oder den anderen Elternteil (um solchen Gesprächen auszukommen), ist sicherlich falsch. Es soll lieber mehrfach darüber gesprochen werden, als dass sich einer auf den anderen ausredet. Dass natürlich selbst eine klare Einstellung dazu und auch passende Sprachfindung (das ist in unserer Sprache gar nicht leicht) bestehen muss, sei am Rande erwähnt. Siehe Kap. F3. Der hartnäckigste Feind für gemeinsames Tun und Gespräche in der Familie ist der Fernsehkonsum. Kinder verbringen bis zu 1000 Stunden jährlich damit, die nicht nur von der Zeit für Kreativität, allgemeinen Lebenserfahrung und Kommunikation abgehen, sondern darüber hinaus die bekannten aggressiven Vorbilder liefern (man denke an die „neuronale Plastizität“ und die „Spiegelneuronen“ aus der Neurobiologie – A1). • Kinder kooperieren weniger, • werden aggressiver, • haben Konzentrations- und Lernschwächen, • Haltungsschäden, • halb soviel soziale und freundschaftliche Kontakte wie schwache Fernseher (Liebenow, sowie Myers).
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Was das gemeinsame Tun betrifft, geht es um • die Möglichkeit kreativer Gemeinsamkeiten, • die Möglichkeit gemeinsamer geistiger Aktivität: Vorlesen bei kleineren Kindern, Gelesenes besprechen bei größeren Kindern. Auch das gemeinsame Lernen gehört dazu etc. • Gemeinsame Freizeitaktivitäten: Spielen bei den Kleineren, Sport und Kultur bei den Größeren.
4. Es soll versucht werden, durch Kennenlernen (evt. auch Mitnehmen) die Kinder über den Beruf der Eltern zu informieren und sie daran teilhaben zu lassen. Leider ist das jetzt nicht einmal mehr beim Haushalt selbstverständlich, sollte aber auch die Berufe der auswärts arbeitenden Eltern betreffen. In unserem Kulturkreis gibt es ja häufig einen Vater, der morgens entschwindet und erst abends wieder auftaucht. Die Kinder sollen eine Vorstellung darüber entwickeln können, was der abwesende Elternteil macht, was ihn oder sie beschäftigt und sollen dabei auch (vielleicht) eine gewisse Hochachtung vor dem bekommen, was die Eltern leisten.
5. Es gilt die richtige Balance zu finden zwischen Toleranz und Festigkeit. Der schöne Traum von einer antiautoritären Erziehung ist längst ausgeträumt. Man weiß, dass Kinder gewisse Grenzen brauchen und immer versuchen, an diese heranzugehen. Anna Freud drückt es analytisch aus: Wo die Angst vor der elterlichen Strenge verschwindet, steigt die Gewissensangst. Wo die Strenge des Über-Ichs sich mildert, finden die Kinder sich überwältigt von der Angst vor der eigenen Triebstärke, der sie ohne den Einspruch von äußeren oder inneren Instanzen hilflos ausgesetzt bleiben.
Die Grenzen gilt es vernünftig, ohne unnötige Härte, aber konsequent zu setzen und ihre Notwendigkeit auch jeweils zu besprechen. Hier kommt die Frage nach Strafen auf. Nach Liebenow bleibt deren richtige Anwendung eine Kunst. • Sie sollen nicht grausam und existenzbedrohend wirken. • Vor allem sollen sie aber kurz limitiert sein, und kein Bösesein über Stunden oder Tage fortgezogen werden. • Sie sollen auch nicht von den Eltern in zornigem Überschwang erfolgen, sondern mit einer gewissen Bedachtsamkeit, wobei aber das Kind die emotionale Beteiligung der Eltern merken soll. • Die Strafe soll als natürliche Folge der negativen Handlung erlebt werden können und daher im Zusammenhang mit dieser stehen. Z. B. wenn Taschengeld verjuxt wurde, dann muss das Kind eben bis zur nächsten Geldausgabe warten. Unnatürlich wäre: das Geld sofort zu ersetzen, aber dafür ein Fernsehverbot zu erlassen. Evt. soll eine 2. Chance gegeben werden, indem man negative Konsequenzen ankündigt. • Ganz abzulehnen ist das Aufschieben von Strafen (etwa „Wenn der Vater nach Hause kommt, werde ich es ihm sagen; dann wirst du schon sehen“ oder ähnliches. – Wir haben das in unserer Gruppentherapie mehrfach als bleibende kindliche Traumen erfahren). Wohl aber ist es manchmal sinnvoll, im (auf beiden Seiten) hochgehenden Affekt die Entscheidung aufzuschieben, sogar falschen Forderungen des Kindes nachzugeben, aber die Angelegenheit nach einigen Stunden (etwa am Abend) in aller Ruhe wieder aufzugreifen und deutlich klarzustellen (Liebenow). • Belohnungen, Lob und ähnliches („Meritierungen“) sind allemal in der Pädagogik wirksamer als Strafen.
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6. Wenn der junge Mensch (denn es kommt ja vor allem im Pubertätsalter und nicht im Kindesalter vor) in überschießender Reaktion von sich aus die Beziehungen gefährdet oder abbricht, so ist es an den Eltern zu versuchen, einen Brückenschlag herzustellen. Es geht nicht an (wie etwa gegenüber einem Erwachsenen), das Von-selbst-einsichtig-sein und Zurückkommen zu erwarten, und bis zum ersten Schritt des Kindes (mit einer Bitte um Entschuldigung etwa) beleidigt zu sein. 7. Natürlich soll die Beziehung der Eltern untereinander eine positive Vorbildwirkung haben. Scheidungsauseinandersetzungen sollten (wo sie unvermeidbar sind) in zivilisierter Atmosphäre, möglichst außer Reichweite der Kinder und ohne sie in den „Rosenkrieg“ mit einzubeziehen stattfinden. Wenn es aber dann soweit ist, sollten die Kinder sinnvoll über das Wesen der Scheidung aufgeklärt werden, auch mit ihnen besprechen, wie es weitergeht. Ganz schlecht ist es natürlich, wenn die Kinder als „Waffen im Rosenkrieg“ verwendet werden. „… Wen hast du lieber?“ oder durch diverse Versprechungen für später auf die eine oder andere Seite gelockt werden sollen. Dadurch werden die – durch ein Scheidungsverfahren an und für sich aufkommenden – Identitäts- und Loyalitätskonflikte der Kinder noch wesentlich vergrößert. Die Eltern müssen aber auch wissen, dass es naturgegeben ist, dass ein Elternteil gegen den anderen versucht wird auszuspielen, wenn das Kind irgendetwas will. Das sollte möglichst auf eine gemeinsame Linie zurückgebracht werden. Eltern sollen sachlich prinzipiell immer mit einer Sprache sprechen. Das heißt aber nicht, dass nicht nach evt. Strafen des einen Elternteils der andere etwas verstärkt tröstend auftreten kann, denn gerade diese Zweiteilung der elterlichen Autorität kann manchmal viel helfen. Nur sollte dabei der andere Elternpartner nicht desavouiert, sondern sein Tun erklärt und bei dem Kind Verständnis geweckt werden.
8. Persönliche Zuwendung ist für jedes Kind wichtig. Das gilt für beide Elternteile. Körperliche Zärtlichkeiten erfordern allerdings ein Gespür für die Einhaltung von Grenzen und die Berücksichtigung der Form, die für das Kind adäquat ist. Im Verlauf der Entwicklung kann der eigene Körper von den Kindern mit ganz unterschiedlichen Gefühlen „besetzt“ werden. Das richtige Maßhalten der Eltern im Ausdruck von Gefühlen ist die Mitte zwischen einer kalten, abweisenden, ausdrucksleeren Atmosphäre und einer Überhitzung. Man kann also wohl sagen: Schmusen ist gut, aber mit Sensibilität für die momentane Empfängnislage des Kindes (vgl. F3).
Die Geschwister-Beziehung wurde und wird in der Psychotherapie weitgehend vernachlässigt. Sie ist aber nicht nur für die momentane Erziehungspädagogik, sondern für die spätere Persönlichkeitsausprägung durchaus relevant. Schon Adler hat auf die unterschiedliche Bedeutung für die Persönlichkeits-Entwicklung je nach der Stellung in der Geschwisterreihe hingewiesen. Vor etwa 50 Jahren hat der Wiener Psychologe Toman das wieder aufgegriffen und eine Persönlichkeitstypologie nach Geschlecht und
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Stellung in der Geschwisterreihe publiziert. Durch die so entstehenden vielfachen Möglichkeiten war das etwas kompliziert und ist (wahrscheinlich darum) in der Literatur weitgehend untergegangen. (Auch ich finde in meiner Bibliothek nichts mehr darüber). Aber einige Typologien kann ich wegen ihrer Einprägsamkeit aus dem Gedächtnis wiedergeben und habe sie in vielen Jahrzehnten Psychotherapie oft bestätigt gefunden. • Die älteste Schwester übernimmt nicht selten eine „Reserve-Mutter-Stellung“, die ihr u.U. ein Leben lang verbleibt, im Sinne von (Über-)Fürsorglichkeit. Das kann bis zum sogenannten „Helfersyndrom“ mit Vernachlässigung eigener Bedürfnisse und Beziehungen führen. • Der jüngste Sohn (speziell dann, wenn er das einzige männliche Geschwister ist) kommt fast unweigerlich in eine Verwöhnungssituation, die er natürlich auch ausnützt. Es können daraus egozentrische Männer werden mit gleichzeitig geschickter Anpassung an die jeweiligen Situationen. Durch den (als Kind schon bewährten) „Charme“ können sie überdurchschnittliche Erfolge haben. Anderseits kann durch die gewohnte Unterforderung und Übertoleranz auch Erfolglosigkeit resultieren, da ja das Leben jene speziellen Privilegien später nicht parat hat. • Als Sandwich-Kinder werden die mittleren in der Geschwisterreihe treffend bezeichnet. Sie rivalisieren typischerweise gegen die Dominanz der älteren und gegen die Bevorzugung der Jüngeren. Es werden nicht selten streitbare und misstrauische Typen, die dadurch im Leben einerseits leicht anecken, anderseits durch zähes Vertreten ihrer Rechte auch Erfolge haben können.
Von Sohni gibt es ein kleines, aber inhaltsreiches rezentes Buch über Geschwister-Beziehungen. Daraus einiges (teilweise in Überschneidung mit Obigem): Neben dem düsteren konfliktorientierten Freud’schen Bild der Geschwisterbeziehung ergeben sich die elementare Freude miteinander zu spielen sowie wesentliche Erfahrungen für die Sozialisation. Das Rivalisieren um die elterliche Gunst kann neben dem Produzieren von Streitbarkeit bis Querulanz auch ein positiver Stimulus sein. Vorschulkinder verbringen mehr Zeit miteinander, als jedes Geschwisterkind mit seinen Eltern. – In einem westafrikanischen Stamm erfolgt überhaupt die Erziehung weitgehend durch die älteren Geschwister, während die Mütter auf dem Feld arbeiten. Spezielle Geschwister-Probleme ergeben sich in Adoptivsituationen (siehe Patchwork-Familie F3). Behinderte Geschwister können zum sozialen Umgang mit Behinderten überleiten, aber – fehlgeleitet – auch zu Aggressionen führen. Bei geglückter Geschwister-Beziehung kann ein wechselseitiges Anerkennen und ein neues Gefühl von Gemeinsamkeit zustande kommen, das zu einer neuen „horizontalen Souveränität“ (wie es Sohni nennt) führt. Bei Zwillingsgeschwistern kann das besonders ausgeprägt sein, wie ich aus eigenem Erfahrungsschatz weiß. Zwei Zwillingsbrüder waren in unserem letzten Krieg zuletzt in derselben Einheit. Es erfolgte wie telepathisch bei dem anderen jeweils die richtige Reaktion (im Folgenden lebensrettend). Als der eine von Feldgendarmen mit dem Erschießen bedroht wurde, weil er (in der Endphase
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des hoffnungslosen Rückzugs) einen jugendlichen Deserteur nicht herausgeben wollte, lag der andere bereits hinter dem angeschlagenen Maschinengewehr, worauf sich die Feldgendarmerie lieber ohne Weiterungen zurückzog.
Soweit dieser Exkurs über Erziehungs- und Geschwister-Konstellationen. Sie sind auch ein wesentlicher Teil der „Beziehungen“, welche unsere Persönlichkeit nachhaltig mitbestimmen. Somit ist auch die Pädagogik ein wichtiges Grenzgebiet für eine integrierte Psychotherapie. „Die böse Schwiegermutter“ ist ein häufiger Krisenpunkt in der Beziehung zwischen Alt und Jung. Sie ist eine sprichwörtliche Witzfigur. Psychotherapeutisch muss man aber verstehen, dass sie eigentlich eine tragische Figur ist. Sie lebt in einer ständigen Angstabwehr, weil sie mit ihrem Sohn (vor allem dann, wenn es der einzige ist) sozusagen ihren letzten Liebhaber verliert. (Das ist üblicherweise nicht im sexuellen Sinn zu verstehen, wenn auch im vorigen einige negative Ausnahmen aufgezeigt wurden). Die durchschnittsböse Schwiegermutter sieht nun eine junge Frauens-Person in ihr Leben einbrechen und es kommt dann zu den verschiedenen „typischen“ Schwiegermutterreaktionen. Die hier beschriebenen „Gesetzmäßigkeiten“ (die natürlich aber nur schematisierende Interpretationen mit großer Variationsbreite sind) dienen nicht dazu, um sie der Patientin „an den Kopf zu werfen“. Der Psychotherapeut soll aus seinem Hintergrundwissen („innere Interpretation“ – A4) heraus, durch vorsichtiges und gekonntes psychotherapeutisches Gespräch, Verständnis und Eigenerkenntnis fördern. Es ist aber keineswegs notwendig, dass die Schwiegerpatientin das Problem quasi mit psychotherapeutischen Röntgenaugen durchschauen lernt; dass man also alles deutet und es dem rationalen Erkennen zugänglich macht. In unserer Gruppentherapie, wo (wie in D2 gezeigt) nicht interpretiert wird, war es für eine „typische böse Schwiegermutter“ stützend und erleichternd, in einer Gruppe von anderen Senioren zu sein, die wohlwollend waren, mit ihr mitfühlten, aber dann doch im Gespräch einzelne korrigierende Bemerkungen von „selber machen lassen“ usw. anbrachten. Das nächste Jahr hatte ich die jüngere Generation dieser Schwiegermutter in Gruppentherapie. Sie waren gekommen, weil sie einen so guten Effekt bei der Schwiegermutter gesehen hatten und sie erzählten auch in der Gruppentherapie darüber, wie sie seither viel milder und „vernünftiger“ geworden sei.
Es gibt mehrere unterschiedliche psychotherapeutische Wege (wie schon in B2 beim Gespräch kurz aufgezeigt) in Generationskonflikten und in Beziehungskonflikten überhaupt: • Der Psychotherapeut behandelt nur einen Referenzpartner und kann dadurch die Beziehung bessern (siehe vorbeschriebene böse Schwiegermutter). Bei Paarbeziehungskonflikten kommt übrigens meist der weniger Ge-
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störte in Therapie und man muss damit rechnen, den Schwierigeren nie zu Gesicht zu bekommen. • Der systemische und familientherapeutische Ansatz (IV) wendet sich prinzipiell den beziehungsgestörten Partnern gleichzeitig zu. • Man kann konsekutiv zuerst mit einem, dann mit dem anderen Partner einzeln sprechen, evt. das dann in ein Gemeinschaftsgespräch übergehen lassen. • Es kann der Übergang von Psychotherapie auf Mediation stattfinden respektive fließend sein, das heißt: auch mit Ratschlägen das Bestmögliche aus einem bestehenden Konflikt zu machen. Die im vorletzten Punkt genannte Methode des primären Einzelgespräches pflege ich üblicherweise anzuwenden (natürlich nur, wenn beide Partner den Wunsch zu einer psychotherapeutischen Intervention äußerten). Man sieht dabei oft die völlig unterschiedliche Betrachtungsweise des Problems durch beide Partner und u. a. können sich die Partner frei äußern. Dagegen ist durchaus auch ein Vorteil in der gemeinsamen Besprechung der Probleme darin gegeben, dass die Affekte etwas gebremst sind und das Gespräch in der Beziehung zugleich „geübt“ wird. Man kann also auch mit einem gemeinsamen Gespräch beginnen, um die Konfliktszene überblicksweise zu sehen und dann auf konsekutive Einzelgespräche übergehen. Es muss immer beiden Gesprächspartnern gleichsinnig klargemacht werden, dass man nur Mitteilungen dem anderen Partner weitergibt, welche „zur Mitteilung freigegeben“ wurden. Kernberg (1996) vertritt auch das getrennte Gespräch und betont, dass dort, wo es sich um Eltern und Kinder handelt, man immer zuerst mit der jüngeren Generation sprechen sollte, da sonst „auch das geringste beim Jugendlichen vorhandene paranoide Potenzial verstärkt wird“ und es schwieriger wird, ein neutrales therapeutisches Vorgehen zu etablieren. Wichtig in derlei Gesprächen ist es für den Psychotherapeuten, sich nicht parteilich vereinnahmen zu lassen. Dahinter muss die Erkenntnis stehen, dass es keinen eigentlichen „Schuldigen“ an jenen Generationskonflikten gibt, sondern, dass es sich um eine Konstellation handelt, welche fast „natürlich“ zu Schwierigkeiten führt. Nicht umsonst haben wir ja in Freud’s Beispiel die Ödipus-Sage, welche auch zeigt, dass weder der erschlagene Vater Lajos noch der dann geblendete Sohn Ödipus „schuld“ an dem Unglück waren, sondern es sich um eine unglückliche schicksalhafte Verstrickung handelt.
Zum „Brückenbau zwischen Jung und Alt“ Ein „Rezept“, welches der Wiener Soziologe Rosenmayr für die Beziehung zwischen Alt und Jung gibt, ist zu unterstreichen. Er rät zur „Intimität auf Distanz“ und präzisiert die Distanz auf etwa 1/4 Stunde Gehzeit. Das hätte den Vorteil, dass man einander leicht erreichen und etwa im Fall von Erkrankung und Hilfsbedürftigkeit leichter präsent sein kann. Anderseits kommt es zu keinem ständigen Kollidieren und gegenseitigem Aufreiben. Wir konnten ein anderes „Rezept“ zum Brückenbauen zwischen den Generationen erproben, nämlich den Einsatz von Laien in der Mitbetreuung unserer Alterspatienten. Es kamen sowohl Erwachsene wie auch Kinder zum
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Einsatz, wobei besonders ein günstiger Erfolg mit Kindern hervorhebenswert ist (Barolin und Mitarb. 1997). Es lief während eines Jahres ein evaluiertes Projekt. An einem Wochennachmittag kamen jeweils Mitglieder einer Altpfadfindergruppe und am Samstagnachmittag jeweils Schüler aus der 4. Klasse einer Versuchshauptschule zu unseren alten Patienten, führten mit diesen verschiedene Aktivitäten durch, wie Mühlespielen, Vorlesen, Singen, Erzählen oder einfach eben Reden. Außerdem wurde ein Laienmusiker und Studenten eingesetzt. Im Ergebnis zeigte sich: • Die alten Leute waren sehr angetan. • Von den Kindern sagten zwei am Ende der Versuchszeit, sie wollen Altenpfleger werden. Es ist egal, ob sie diesen Berufswunsch dann verwirklichten, zeigt aber, dass auch die Kinder die Brücke zwischen den Generationen gern benutzt hatten. • Es zeigte sich bei den erwachsenen Teilnehmern teilweise Frustration, weil die Anleitung durch das Pflegepersonal nicht optimal war. Das konnte aber dann in den Supervisionsgesprächen ausgeräumt werden.
Es ergab sich keine Einsparung an professioneller Arbeitskraft. Das soll speziell betont werden, weil solche Argumente immer in sozial-politischen Diskussionen aufkommen (siehe weiter vorne in diesem Kapitel: Aussage der zuständigen Regierungsfunktionäre). Solch eine Einsparung war auch nicht zu erwarten oder geplant gewesen. Es ergab sich vielmehr eine Zusatzbelastung des Personals, da die freiwilligen Helfer ja entsprechend eingesetzt und angeleitet werden mussten. Das waren auch etliche Hürden, die bei der Durchführung dieses Projektes zu überwinden waren. Auch die Ärzte waren mit der Zusatzaufgabe der Anleitung und Supervidierung der Laien keineswegs alle glücklich. Es ging nur so lange gut, als wir einen zusätzlichen freiwilligen Arzt hatten, der in dem ganzen Projekt aktiv mitmachte.
Wir glauben immerhin mehrlei erreicht zu haben (wenn auch keine Personalersparnis): • Ein zusätzliches kommunikativ-humanes Angebot für die Patienten. • Motivierung und Erziehungswert speziell der Jugendlichen für ihr späteres Leben den Alten gegenüber. • Damit glauben wir auch eine Prophylaxe für den (von Rosenmayr prognostizierten) kommenden „Generationskrieg“ geleistet zu haben. Unseres Erachtens würde es sich lohnen, eine derartige Laienbetreuung zu institutionalisieren. Es könnte dabei vielleicht auch ein dankbares Arbeitsgebiet für die schon vordem genannten Aktivitätsgruppen der (noch rüstigen) Senioren gegeben sein. Kürzlich ist mir ein Projekt des Bregenzer Bundesoberstufenrealgymnasiums „Gallus“ zur Kenntnis gelangt, welches in die gleiche Richtung geht. Es läuft dort seit einigen Jahren ein Projekt „Arbeit für’s Gemeinwesen (public service)“ mit Evaluation und Bewertung für die Abschlussklasse. Schüler der Oberklasse können nach freier Wahl 2 Wochenstunden in Sozialeinrichtungen oder
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bei alten Leuten soziale Aktivitäten (etwa wie wir sie beschrieben haben) machen. Sie liefern darüber Berichte und können auch mit einem Supervision-machenden Lehrer darüber sprechen. Im Laufe der Jahre hat es dem Wunsch des Elternrates entsprochen, dass das Ergebnis jenes Sozialpraktikums auch im Zeugnis vermerkt werde. Es fanden sich etliche junge Leute, bei denen gute Beziehungen mit dem Betreuten über Jahre weiterbestanden. Vielfach erfuhr ich im Gespräch mit Zivildienern, dass diese sich aufgrund ihrer neuen Erfahrungen zur Berufsausbildung in einem Sozialberuf entschlossen hätten. In der derzeit laufenden Diskussion über 12, 9 oder 6 Monate Zivildienst in Österreich sagte mir ein Zivildiener: „Ich finde die 12 Monate gar nicht schlecht. Man lernt viel Neues kennen und man hat eine ruhige Periode, um sich einiges neu zu überlegen.“ Daraus und aus etlichen gleichsinnigen Diskussionsergebnissen erlaube ich mir hiermit auch meine (der Tagespolitik entgegenstehende) Meinung wiederzugeben: Ein allgemeiner Zivil-(Sozial-)Dienst, welcher der Allgemeinheit dient, nicht nur der eigenen Berufsausbildung, kann durchaus neue Horizonte schaffen und mehr Verständnis für die Allgemeinheit bringen. Bei meiner (schon im Vorwort erwähnten) Beteiligung an der österreichischen MedizinStudienreform-Kommission brachte ich ein obligates Sozial-Semester vor Beginn des Medizinstudiums ein, wo die jungen Leute vor allem in der Pflege arbeiten könnten, aber auch im Rettungstransport, Geriatriewesen, etc. Der Vorschlag kam aber zu Fall, nicht etwa durch die Studenten- oder Professorenvertretung, sondern durch die Vertreter der Pflegeberufe, die (wahrscheinlich aus standespolitischem Machtstreben) dagegen waren, dass Mediziner etwas über die Pflege lernen, da das nur „Sache der Pflege“ sei.
Man kann also Brücken (sogar von einer gewissen Tragfähigkeit) zwischen den Generationen herstellen, muss aber beträchtlicher Hürden gewärtig sein. Das ist für den engagierten Psychotherapeuten wichtig zu wissen, denn es gehört dann zu seinen (in vorliegenden Zeilen mehrfach angemerkten) Obligationen, auf Verwirklichung möglichst hinzuarbeiten und auch die Öffentlichkeit (je nach seiner Stellung auch das politische Establishment) immer wieder zu informieren („Immer wieder, denn einmal ist keinmal“). Vergleiche H3 und Abb. 31. Wie wichtig die Pflege solcher Brücken zwischen den Generationen ist, zeigt das (eigentlich erschütternde) Ergebnis der Untersuchung von Christa Erhard und Mitarb. Sie erhielten nämlich bei Befragung von 1111 Schülern zwischen 10 und 15 Jahren zum Begriff des alten Menschen nur 2 % (!) positive Antworten, 15 % neutrale. 83 % der Befragten ordneten dem Begriff des Alters eine negative abwertende Bezeichnung zu. Es ist das sicherlich ein drastischer Rückgang gegenüber den Bewertungen früherer Generationen, wo doch die Zuneigung, etc. weit stärker im Vordergrund standen (wenn wir auch von damals keine vergleichbaren Untersuchungen in Händen halten). Rosenmayr’s mehrfach zitierter „Generationenkrieg“ zeigt sich also anhand jener Befragung wesentlich näher als viele vielleicht glauben. Umso mehr sind die hier aufgezeigten positiven Brückenaktivitäten zu betonen, denn durch das Reden allein oder gar ermahnen wird weniger erreicht!
Ein weiteres Problem, welches auch mit der jüngeren Generation zusammenhängt, ist deren „Verschwinden“ („empty nest-Syndrom“). D. h. also das Nest ist leer, die Kinder sind ausgezogen und die beiden Alten sind plötzlich alleine da.
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Kinder können eine Pufferzone gewesen sein, welche das Aufeinanderprallen konträrer ElternPartner verhindert hat. Oder die Eltern kommen darauf, dass sie sich 20 Jahre lang nichts zu sagen hatten, was sie aber während der Zeit nicht gestört hatte, weil sie mit Kindern und Beruf beschäftigt waren. Jetzt bemerken sie nichts als Leere. Anderseits können auch durch die schon apostrophierte „späte Freiheit“ und Entlastung neue positive Impulse in die PartnerBeziehung kommen.
Die Partnerbeziehung kann so unter Umständen viele neue Spannungen dazu bekommen. Plötzlich wird einem der andere zuwider, irgendwelche unangenehmen Eigenschaften, die man früher übersehen hat, stören jetzt wesentlich mehr. Hierzu habe ich in der Gruppentherapie mehrmals ältere Frauen klagen gehört (bemerkenswerterweise keine Männer): Der pensionierte Mann sitzt daheim herum und redet in Haushaltsdinge drein, um die er sich vorher nicht gekümmert hat. Schnarchen und/oder Gerüche, was alles vorher wenig Rolle gespielt hat, beginnen stärker zu stören und das führt dann zu getrennten Schlafzimmern. Diese sind wiederum ein Ausdruck von Beziehungsstörung respektive eine Verstärkung dieser. Siehe dazu auch Kap. F3 über die Sexualität im Alter.
Das Gespräch in der Alterspsychotherapie speziell in der Altersrehabilitation. Es hat besondere Dimensionen, die es vom allgemein zur Gesprächspsychotherapie Gesagten unterscheiden (B2). Es ist an sich schon ein Therapeutikum gegen die Einsamkeit des Alters mit seinen sozialen Kontaktverlusten. Inhaltlich geht es kaum darum zu interpretieren, sondern zu helfen aus dem hic et nunc – also aus der gegenwärtigen psychischen, sozialen und körper-
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lichen Situation des Patienten – das Bestmögliche zu machen, „Ressourcen identifizieren und mobilisieren“ (Anita Rieder). Dabei spielen auch konkrete Vorschläge – im Gegensatz zu deren möglichstem Vermeiden in der Psychotherapie mittleren Lebensalters – eine Rolle. Auch in der Gruppentherapie bei alten Menschen sind die Ratschläge, die aus der Gruppe kommen, sehr wesentlich. Damit der Psychotherapeut konkrete Ratschläge geben kann, muss er natürlich gewisse Kompetenzen in familiären und sozialen Gebieten haben („sozialarbeiterische“) und ein aktiver Advokat des alten Menschen sein. Er muss bereit sein, sich mit der sozialen und materiellen Umwelt, sowie dem Lebenspartner oder der Institution auseinander zu setzen, weil beim alten Menschen eine vergrößerte Hemmschwelle vorliegt, andere Beratungsinstitutionen aufzusuchen. Alte Menschen (auch schwerkranke und solche vor dem Sterben) haben oft das Bedürfnis aus ihrer eigenen Kindheit und Entwicklung vieles zu erzählen. De Zwann spricht von „Remineszenztherapie“, im Englischen „life review therapy“. Diese kann Folgendes bewirken: • Altersspezifische kathartische Abreaktion, • Ermutigung und Kraftholen aus besserer Vergangenheit, • Nachträglicher Lösungsversuch für Jahrzehnte unbewältigter Konflikte. Der Therapeut hört zu und stimuliert vorsichtig den Redefluss. Deutungen, Interpretationen und Ratschläge anbieten steht im Hintergrund, kann aber die Lösungsversuche fördern. – Wir haben ähnliche Passagen auch mehrfach bei den Senioren in der Gruppentherapie erlebt und anschließend an solche Passagen (ohne irgendwelche Formelgebung, ohne irgendwelche Ratschläge aus der Gruppe etc.) deutliche Erleichterungen und Besserungen erlebt. Maercker verwendet die von ihm sogenannte „Lebensrückblicksintervention“ speziell bei bis ins Alter überdauernden posttraumatischen Belastungsstörungen (vergl. A3). Er macht ein systematisches Therapieprogramm mit 12–14 Sitzungen, wobei die einzelnen Lebensphasen systematisch durchgegangen werden. Beim Gespräch über das Trauma wird dann versucht, kognitiv umzustrukturieren (also nach verhaltenstherapeutischen Regeln [vergl. Artikel von Zapotoczky V]). Dorothea Demmer schreibt über ihre Arbeit im Wiener jüdischen Altersheim mit durchwegs über 85-jährigen Patienten: Das Gespräch muss vor allem verlässlich kontinuierlich sein („Und Sie haben mich nicht vergessen?“ kann in freudiger Überraschung die Begrüßung sein und die Schleusen zum Leben der Patienten öffnen). Folgende grundsätzliche Fragen stehen immer im Raum und fließen ins Gespräch ein: Bin ich noch wichtig? Wer entscheidet über mich? Gehöre ich noch dazu? Was bedrückt mich noch? Gibt es noch Lichtblicke? Im Speziellen: ein Leben unter Hitler. Jüdische Menschen, die unter Hitler durch eine Hölle auf Erden gehen mussten, möchten sich dazu unterschiedlich verhalten. Das Gespräch verlangt 100%-ige Vertrauensbasis und behutsames Eingehen auf das, was der Patient vorgibt. Viel darüber sprechen und z. B. der heutigen Generation davon berichten. Sich zum Ausgleich anderen Dingen widmen (Wissenschaft, Kunst, Musik etc.). Darüber schweigen und nicht erinnert werden wollen. Auch anderes Bedrückendes kann durch solche Gespräche entschärft werden, etwa bei schweren Familienprob-
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lemen eine Versöhnung mit den eigenen Fehlern, aber auch mit den Fehlern anderer stattfinden (F4). Die Erinnerungen als Therapeutikum sind allerdings keine medizinische Neuentdeckung. Der berühmte Internist Kussmaul („Kussmaul’sche Atmung“) schrieb 1889: Musst du Gram im Herzen tragen und des Alters schwere Last, lade dir aus jungen Tagen, die Erinnerung zu Gast.
In der Vereinsamung des Alters ist oft der Psychotherapeut oder die Gruppe der einzig verbliebene Ansprechpartner und die empathische Gesprächsbereitschaft, auch mit konkreten Ratschlägen, kann daher besonders wichtig sein. Die Übertragung findet aufgrund des (meist vorhandenen großen Altersunterschiedes häufig dadurch statt, dass der Therapeut als Kind gesehen wird. Darauf muss dieser vorbereitet sein und damit umgehen können. Wichtig ist, dass der Therapierte die starke Empathie merken kann.*) Radebold und Hirsch sprechen gleichsinnig aus, dass die Therapie des Einzelnen durch die Gruppe das Wesentlichste in der Altersgruppentherapie ist, also nicht das Interpretieren und Deuten. Es ist bemerkenswert für die aus der tiefenpsychologischen Tradition kommenden Autoren, dass sie aussagen: Es hat das mögliche Ziel der charakterlichen Veränderung zurückzutreten zugunsten einer psychodynamisch-orientierten Beratung.
Die Multimorbidität, also das Geplagtsein von einer Reihe verschiedener Krankheiten „Wehwehchen“ (die aber manchmal ganz gehörige Wehwehs sind) wird in der Gruppentherapie sehr wohl manchmal besprochen, tritt aber (und wird daher auch an letzter Stelle der Abb. 20 genannt) hinter den anderen Problemen zurück. Dass im Hintergrund eine gewisse Lebensangst bei dem alten Menschen steht, ist zweifelsfrei. Sie wird aber üblicherweise überdeckt von den anderen Problemen, die ich vorher besprochen habe. Vergleiche auch entsprechende gruppentherapeutische Erfahrungen (D4). Lingg zählt einiges auf, was oft fälschlich dem Alter an sich zugeschrieben wird. Es wird dann (sowohl von Angehörigen als auch manchmal von Ärzten) nicht ernst genommen und nicht entsprechend behandelt. • Fehlende Vitalität wird dem „ruhigen“ Alter zugeschrieben, das meist gut behandelbare vital-depressive Syndrom dabei übersehen. • Suizidversuche oder gelungene Suizide alter Menschen werden meist als Bilanzierung abgetan, der jüngeren Menschen zugestandene Appellcharakter bzw. die darin enthaltene Verzweiflung werden oft übergangen.
*) Viele der hier gebrachten Erkenntnisse und Aussagen aus unserer langjährigen praktischen Tätigkeit mit Senioren stimmen weitgehend mit Förstl’s großem „Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -Psychotherapie“ (2003) überein. (Es ist dabei also die Alterspsychotherapie in die Alterspsychiatrie „integriert“, was wir als einen weiteren erfreulichen Schritt auf unserem Wege ansehen können.) Einiges wurde von dort übernommen, ebenso wie aus Hildegard Bechtler’s „Gruppenpsychotherapie mit älteren Menschen“.
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• Vertreten ältere Menschen eine Überzeugung mit Vehemenz, wird dies oft als Altersstarrsinn abgetan; Jugendlichen würde man besondere Engagiertheit attestieren. • Sexuelle Bedürfnisse älterer Menschen werden oft belächelt, behindert oder ignoriert, obgleich wir wissen, dass auch Hochbetagten noch befriedigende sexuelle Kontakte möglich sind. • Harninkontinenz wird in diesem Lebensalter zu häufig als schicksalhaft hingenommen und damit die vielfach mögliche Behandlung versäumt, ferner damit ignoriert, wie viel Scham bei Betroffenen und Ekel der Umgebung damit verbunden sein können. • Andere gesundheitliche Einschränkungen wie Gelenksversteifungen, Schwerhörigkeit oder Vergesslichkeit bedeuten auch für Hochbetagte Leid, eingeschränkte soziale Bewegungsmöglichkeit und dürfen nicht einfach nur dem Alter zugeschrieben werden. • Religiöse Übungen älterer Menschen werden mitunter belächelt oder als Flucht vor der Welt gedeutet; Übersehen wird, wie viel Kraft gerade ein älterer Mensch aus dieser Geborgenheit ziehen kann.
Die Gesundheit des Seniors geht zwangsläufig in eine „Ungesundheit“ über, sei es, dass • Eine typische Alterserkrankung dazu kommt, wie Schlaganfall, Parkinson, etc.; • Der Mensch allgemein altert und durch die zunehmende Gebrechlichkeit des Alterns vermehrt hilfebedürftig ist und – wie wir es in dem Fall zu nennen berechtigt sind: rehabilitationsbedürftig. (Damit kommen wir zum kritischen Wort „Altersrehabilitation“, über das noch im folgenden Abschnitt einiges zu sagen sein wird.) Psychotherapie nimmt dabei einen wichtigen Platz ein, der keineswegs ubiquitär wahrgenommen wird. • Neben den eigentlichen Erkrankungen gibt es „kleinere Anzeichen“, die den alten Menschen schmerzhaft an sein Älterwerden erinnern. Sie sind daher nur scheinbar klein und können wesentliche Wirkung auf die Stimmung haben. Dazu gehören: • Die rasche Ermüdbarkeit. • Die häufigen Kniebeschwerden. Als der englische Schauspieler Peter Ustinov mit 80 Jahren geadelt werden sollte, wurde bei ihm offiziell angefragt, ob er bei der Zeremonie knien könne. Er antwortete darauf: „Sehr wohl, nur kann ich leider dann nicht mehr aufstehen.“ • Es kommt zum sehr lästigen und auch stark die Würde verletzenden Beschmutzen der Wäsche, einerseits durch den imperativen Harndrang, anderseits durch eine gewisse Atonie des Schließmuskels. • Die Schwerhörigkeit, die Vergesslichkeit, • Trensen und Schmatzen, • Etc. etc. All das ist dem alten Menschen äußerst peinlich. Er spricht nicht gern darüber, versucht es zu verbergen. Der Psychotherapeut soll die Dinge diskret zur Sprache bringen, sie als Krankheitszeichen werten und versuchen an Abhilfe mitzuwirken. Vor allem aber soll er (wie schon gesagt) auf die Angehörigen einwirken, die Peinlichkeiten nicht noch peinlicher zu machen, sondern durch Diskretion und Takt dem alten Menschen zu helfen, seine Würde zu wahren.
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So wie es schon einige Fachbücher mit „Alterspsychotherapie“ im Titel gibt (Förstl; Maercker), bestehen auch standespolitische Tendenzen, die einen eigenen „Gerontopsychotherapeuten“ benennen wollen. Darüber gibt es geteilte Meinungen. Schmidtbauer 2005 sieht eine Spezialisierung auf die Psychotherapie Alternder als nicht sinnvoll an, weil diese keine psychischen Spezialprobleme haben. Dieser Ansicht kann ich mich (entsprechend Vorgesagtem) nicht anschließen, bin aber aus anderen Gründen gegenüber einer speziellen „Geronto-Psychotherapie“ ambivalent. Einerseits könnte man hoffen, dass durch solche Spezialisierung ein größeres Angebot an Psychotherapie für alte Menschen entstehen könnte. (Alle relevanten Bearbeiter der Thematik sind sich darüber einig, dass das Angebot für Alterspsychotherapie viel zu klein ist.) Anderseits ist neben den vielfachen aufgezeigten Überschneidungen mit der allgemeinen Psychotherapie (Beziehung zur jüngeren Generation, Rehabilitation etc.) die Gefahr, dass einer zum anderen überweist, keiner sich zuständig fühlt und der Patient zwischen den Spezialisten wie zwischen den sprichwörtlichen zwei Sesseln durchfällt – wir kennen das leider auch vielfach aus der übrigen Medizin im Rahmen der Über-Spezialisierung.
Es scheint also vor allem wesentlich, dass die Alterspsychotherapie von allen Psychotherapeuten stärker beachtet und wahrgenommen wird. Denn gleichgültig, ob mit neuem Berufsbild oder ohne dieses, muss angestrebt werden, die Alterspsychotherapie aus ihrem Schattendasein herauszuführen. Aber auch die allgemeine Zuwendung zum alten Menschen im Sinne einer basalen Psychotherapie (durch alle Ärzte!) bedarf einer Besinnung und Verbesserung (Svenja Sachweh in Neises und Mitarb. 2005). Eine 94-jährige Dame gab als Begründung für ihren geplanten Arzt-Wechsel an: Sie will nicht länger stereotyp als „Alte“ abklassifiziert werden, der man doch nicht helfen kann. („Hier wurde mir bloß immer mein Alter vorgeworfen. Dass ich so alt bin, weiß ich ja selbst!“)
Eine positive respektive „positivierende“ Darstellung der Alters-Beschwerden muss aber natürlich in ständiger vernünftiger Balance sein mit der vorsichtigen Relativierung unrealistischer Erwartungen an die Heilung und den Arzt. Einige Zeilen der Soziologin Simone de Beauvoir (1972 zit. nach Kernberg 1996) mögen hier zwischengeschaltet sein. Sie bringen vieles des bereits Gesagten und noch zu Sagenden über das Alter mit seinen Beziehungen auf den Punkt. Wollen wir vermeiden, dass das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird, so gibt es nur eine einzige Lösung, nämlich weiterhin Ziele verfolgen, die unserem Leben einem Sinn verleihen: Das hingebungsvolle Tätigsein für Einzelne, für Gruppen oder für eine Sache, Sozialarbeit, politische, geistige oder schöpferische Arbeit.
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Im Gegensatz zu den Empfehlungen der Moralisten muss man sich wünschen auch im hohen Alter noch starke Leidenschaften zu haben, die verhindern, dass wir uns nur mit uns selbst beschäftigen. Das Leben behält seinen Wert solange man durch Liebe, Freundschaft, Empörung oder Mitgefühl am Leben anderer teilnimmt.
F2.
Psychotherapie in der (Alters-)Rehabilitation*)
Es wird Rehabilitationspsychotherapie, Altersrehabilitationspsychotherapie und Alterspsychotherapie in einem besprochen, weil hierbei vielfach gleiche Fragestellungen und Probleme bestehen. Deshalb wurden auch die Entwicklungstendenzen beim Älterwerden im vorigen Kap. näher besprochen, weil diese sich beim Altersrehabilitations-Patienten allgemein vorfinden, darauf aufgepfropft noch eine zusätzliche Erkrankung. Zippel gibt an, dass bei Krankenhausentlassungen 6 von 7 der über 60Jährigen rehabilitationsbedürftig sind. 90% davon können durch gezielte geriatrische Rehabilitation wieder in die gewohnte Umgebung entlassen werden. Das ganze Buch von Zippel und Sibylle Kraus (2003) unterstreicht den engen Zusammenhang von (Alters-)Rehabilitation mit Psychotherapie und Sozialarbeit. Wir sprechen hier über Rehabilitationspatienten, welche in einem dauernden Behinderungszustand verbleiben (nicht etwa von kurzfristig Rehabilitationsbedürftigen in postoperativer, Unfall-Rehabilitation etc.). Unsere Erfahrungen beziehen sich vor allem auf Schlaganfall, Parkinson, Multiple Sklerose (um die häufigsten zu nennen), aber auch auf hohes Lebensalter mit daraus resultierender Verunselbstständigung auch ohne zusätzliche Erkrankung.
Rehabilitation und Psychotherapie haben Wesentliches gemeinsam. 1. Sie können beide nur im Rahmen einer Wohlstandsgesellschaft gedeihen. (In unterentwickelten Ländern gibt es andere Prioritäten aus der Akutmedizin.) Zugleich ist ihre Pflege ein Gradmesser für die Rückbesinnung der Wohlstandsgesellschaft auf wesentliche ethische und humanitäre Werte.
*) Als einerseits Psychotherapeut, anderseits Begründer und Leiter des ersten in Österreich existierenden Ludwig Boltzmann-Instituts für Neuro-Rehabilitation und -Prophylaxe konnte ich jahrelang die integrierte Psychotherapie speziell in der Rehabilitation praktizieren, die großen Überschneidungen der beiden Disziplinen praktisch erfahren und auch zum Wohle der Patienten ausnützen (letztlich dann – wie in A2 schon erwähnt – leider auch mit Schlaganfall eine Menge aus der Patientenperspektive dazu lernen).
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2. Sie sind „Hilfe zur Selbsthilfe“, werden dem Patienten also nicht ohne sein Zutun „übergestülpt“, wie etwa Operationen. 3. Bei der Erfolgsbeurteilung geht es in beiden Disziplinen zumindest ebenso sehr um die Subjektivierung wie um die Objektivierung. 4. Es gilt prinzipiell bei Rehabilitation immer an Psychotherapie zu denken (was keineswegs Allgemeingut ist), dann aber gezielt und koordiniert vorzugehen. Dass es dabei keineswegs nur um „spezifische Psychotherapie“ geht, sondern die „basale Psychotherapie“ zum Tragen kommen soll, wurde schon eingangs gesagt. 5. Bei beiden gilt die Regel: Nicht maximal, sondern optimal. Es ist sinnlos, sogar kontraproduktiv, den Patienten mit einer ungezielten Vielfalt von Maßnahmen zu überschütten, sondern diese sollen aufeinander abgestimmt und individuell angepasst sein. Psychotherapie, Physiotherapie, medikamentöse Therapie, etc. müssen wohl koordiniert sein. 6. Bereitschaft zur Evaluation und zu Konsequenzen daraus sind nötig, a) um wissenschaftlich weiterzukommen, b) um ökonomisch in einer sozialen Medizin mithalten zu können. Trotz der offensichtlichen Affinität haben die beiden Fächer Psychotherapie und Rehabilitation traditionell in unserem medizinischen Establishment (noch) wenig miteinander zu tun. Warum? Die Rehabilitationsmedizin ist weitgehend organisatorisch an die physikalische Medizin gekoppelt und deren Hauptinstrumente sind: Gymnastik, Elektrizität, Wasser etc. Die Psychotherapie betrachtet traditionsgemäß Menschen mittleren Lebensalters mit Kommunikationsund Verhaltensstörungen als ihr Hauptklientel. – Sarkastisch aber leider nicht wirklichkeitsfremd nennen die Rehabilitations-Mediziner Lotz und Mitarb. „YARVIS“ als Vorbedingung für Psychotherapie: young, attractiv, rich, verbal, intelligent, social. Behinderten Personen wird bezüglich ihrer sozialen Attraktivität einer der untersten Ränge zugewiesen. Erfreulicherweise gibt es aber schon auf beiden Seiten fortschrittliche Kräfte, die jene Einengungen und kontraproduktive Abgrenzungen ihres Faches aufgehoben wissen wollen. Dabei hat speziell unser Gedanke einer integrierten Psychotherapie seinen Platz. So hat die Leiterin der Wiener Universitäts-Klinik für Rehabilitation, Veronika Fialka, den Autor mehrfach zu Vorträgen und Seminaren für die Klinik-Mitarbeiter eingeladen, und es gibt in diversen anderen Rehabilitationskliniken Fachkräfte, welche sich besonders auf die Psychotherapie in der Rehabilitation spezialisieren.
Die Dauerinvalidät bedingt für den Patienten eine wesentliche Umstellung und damit eine bedeutsame Lebenskrise. Sei es • Invalidisierende Alterserkrankung (Parkinson, Schlaganfall) • Hohes Alter ohne zusätzliche Erkrankung mit Verunselbstständigung (dem ist üblicherweise schon die Pensionskrise mit Verlust der sinnvollen Tätigkeit vorangegangen). • Invalidisierende Erkrankung im früheren Lebensalter (MS, Unfall).
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Dabei sind eine Anzahl von Kriterien die gleichen, etwa: • Betreuung gegen Autonomie • Motivation gegen Resignation • Möglichkeiten der sinnvollen Betätigung, wenn auch auf niedrigerem Niveau (Sinnfindung und Sinngebung) • Wesentlichkeit der menschlichen Beziehung etc. Diesbezüglich gelten mutatis mutandis die in Abb. 20 a dargestellten Hauptzielpunkte nicht nur für Alters- sondern auch für alle Dauerrehabilitationspatienten.
Die 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenem Training hat sich bei unseren (Alters-)Rehabilitationspatienten besonders gut bewährt (Kap. D2, Abb. 12 b). Es betrifft das einerseits die Patienten, die (noch) nicht zu stark behindert für eine ambulante Gruppentherapie waren, anderseits solche, die nach einer Rehabilitation schon wieder so weit waren, dass sie teilnehmen konnten. Ein weiterer Teil der hier abgehandelten Psychotherapie in der Rehabilitation, im Alter und in der Altersrehabilitation spielt sich im stationären Bereich ab. Folgend zwei Beispiele dafür, dass es in der Psychotherapie (ebenso wie in der Rehabilitation) keineswegs nur darum geht gute Erfolge zu „objektivieren“. Wir erreichen auch eine Menge wenn wir diese „subjektivieren“. • Unter den über der Hälfte positiv auf unser Gruppenmodell Ansprechenden waren auch einige Patienten, die an ihren körperlichen Defekten keinerlei Fortschritte feststellen konnten, so z. B. eine Parkinsonistin. Sie blieb aber bis zum Ende der Gruppentherapie dabei und gab in der Katamnese an, dass die Gemeinschaft und das Anhören der anderen ihr sehr viel gebracht hat. Sie hatte sich viele Gruppenstunden überhaupt nicht geäußert und war nur mit starrer Mimik und parkinsonistischem Zittern dabei gesessen. Es kamen in der Gruppenstunde einige Partnerprobleme und Berufsprobleme der anderen zur Sprache. Schließlich sprach sie auch ein Gruppenmitglied an, warum sie denn so viele Gruppenstunden durch gar nichts gesagt hat und wie es ihr denn geht. Sie sagte darauf, sie hätte eigentlich nichts zu sagen, denn „bei mir ist alles in schönster Ordnung“. Es war das ein Aha-Erlebnis für die Gruppe zu hören, wie eine offensichtlich schwer körperlich Kranke doch zufrieden sein konnte. Ich glaube, dass sich hier auch sehr gut die wechselseitig günstige Beeinflussung von einerseits somatogen und anderseits psychogen Gestörten in einer Gruppe gezeigt hat (wie in D3 schon erwähnt). Eben dieselbe Parkinsonistin war dann für 3 Jahre nach Ende der Gruppe der Kristallisationspunkt für eine spontane Nachgruppe („Patientenclub“). • Eine Postapoplektikerin nahm an einer Gruppe mit Respiratorischem Feedback und anschließender Gruppenaussprache teil. Sie war aber so dick, dass sie den Gürtel, der im Respiratorischem Feedback der (optischen und akustischen) Rückmeldung der Atmung dient, nicht um den Bauch brachte. Sie saß also nur so dabei und hatte die Brille des RFB ohne
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Lichtsignale auf. Sie gab aber in der Katamnese an, dass ihr die Gruppe sehr gut getan habe, sie habe sich „dadurch“ viel freier und lockerer gefühlt.
Eine weitere Aufschlüsselung über Rehabilitationspatienten in der Gruppentherapie – diesmal nicht Altersrehabilitationspatienten – sondern mittelalterliche bis jugendlichere MS-Patienten sei folgend berichtet (Mijalkovitsch, Barolin). Sie sprachen besonders gut an und waren auch in der allgemeinen Erfolgsquote noch deutlich besser als die üblichen 2/3 der Patienten. Es bleibe dahingestellt, ob das ein Kriterium der MS-Patienten ist, oder ob es sich um eine Auswirkung der großen Empathie der Frau Dr. Mijalkovitsch handelte, die ich als Supervisor der Gruppe erlebte. Neben der allgemeinen guten Wirkung auf Stimmung, Krankheits-Verarbeitung, etc. gab es auch einige organisch fassbare Besserungen. Die Patienten kamen aus einer speziellen MS-Station. Sie waren alle durchuntersucht und hatten die moderne MS-Basistherapie entsprechend dem State of the art, sowohl Immunmodulatoren wie auch Physiotherapie. Es war die Gruppenpsychotherapie also eine Zusatztherapie (neudeutsch „add on-Therapie“) bei gleich bleibender entsprechender Basistherapie. (Der Leiterin jener MS-Station Frau Prof. Maida, Wien, sei für die Möglichkeit der schönen Zusammenarbeit gedankt.) 10 von 13 MS-Patienten sprachen im Stimmungs- und Antriebsbereich gut an. Die erwähnte daneben bestehende organische Fassbarkeit bestand in Folgendem: • Ein Patient mit deutlich geringerem Auftreten der sehr störenden Pollakisurie, • Eine seit längerer Zeit an den Rollstuhl gebundene Patientin konnte bis zu 20 Schritte nun auch ohne Krücken gehen. • Eine ebenfalls schon seit längerer Zeit rollstuhlabhängige Patientin konnte im Büro die kleinen Wege und Erledigungen ohne Krücken erledigen.
Über Psychotherapie bei der MS gibt es wenig Berichte in der Literatur. Eine größere Zusammenstellung stammt von Horn. Er berichtet über eine Serie von 190 MS-Patienten (über die Jahre in einem betreffenden Zentrum), die er mit RFB behandelt hat. Das ist (siehe Kap. E1) eine apparativ unterstützte Psychotherapie-Methode, die Verwandtschaft mit dem AT hat, indem sie zu einem hypnoiden Zustand führt. Neben einigen interessanten Kasuistiken gibt Horn an: • Eine Fülle von psychischen Besserungen im Sinne von Ausgeglichenheit, Stimmung, Schlafverhalten etc. • Körperliche Symptombesserungen und zwar betreffend Schwindel, Tremor, Nystagmus, Sprache, Visus, Schluckstörungen, Stuhl- und Harnverhalten. Auch Kopfschmerzen und spastikbedingte Schmerzen an den Extremitäten wurden besser und man konnte Schmerzmittel reduzieren respektive ganz absetzen.
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Es scheint also aus obigen Ergebnissen berechtigt zu sagen, dass nicht nur die Altersrehabilitation, sondern die Rehabilitation aller langfristig chronisch Kranken ohne integrierte Psychotherapie Stückwerk ist, und man es den Patienten eigentlich schuldig ist, diese Möglichkeiten zusätzlich anzubieten. Leider sind die in den Krankenhäusern tätigen Psychotherapeuten aber (noch) kaum darauf eingestellt den körperlich Kranken psychotherapeutisch zu behandeln. Dementsprechend hoffen wir, dass die vorliegenden Zeilen einen Wegbereitungs- und Erweckungseffekt haben.
Bei allen Langzeit-Rehabilitationspatienten gilt es vor allem folgende wichtige Gesichtspunkte im Auge zu behalten: • Re-Motivation. Das ist deshalb ein Hauptproblem, weil auch bestgemeinte andauernde Rehabilitationsbemühungen mit der Zeit fad werden. • Re-Sozialisation und Re-Integration. Also den alten Menschen aus seiner Einsamkeit wieder herausführen (Gatterer und Rosenberger-Spitzy). • Ressourcenmobilisierung, also das Vorhandene möglichst gut verwenden und darauf weiter aufbauen sowie • Einbindung der Angehörigen respektive sonstiger Betreuer, damit alle an einem Strang ziehen. Es wird an mehreren Stellen dieses Buches auf diese wesentlichen Prinzipien hingewiesen, und es ist durchaus wichtig, dass das medizinische Assistenzpersonal mit den Ärzten zusammenarbeitet (wozu natürlich zuerst kommen muss, dass die Ärzte daran denken und sich darum bemühen, was leider nicht ubiquitär der Fall ist). Physiotherapeuten und Pflegepersonal müssen an jene Prinzipien denken, kleine Fortschritte loben und gute Ausblicke auf die Zukunft bieten. Es mag angefügt werden, dass die Patienten dazu lernen müssen, nicht nur ihren Pessimismus und ihre Unzufriedenheit auszuleben. Denn, wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück. Das stützende und bestärkende Gespräch, das in Kap. B2 behandelt wurde und dem wir (im Gegensatz zu Rogers und auch zu Balint) eine wichtige positive Funktion zuweisen, sollte also von beiden Seiten gepflegt werden, von der Therapeutenseite und von der Patientenseite. Nicht umsonst habe ich meinem Buch „Kopfschmerz multifaktoriell“ (2003 aktualisiert), ein Kapitel angefügt: „Wie behandle ich meinen Arzt?“. Und das gilt natürlich auch dem Pflege- und Assistenzpersonal sowie sonstigen Betreuern gegenüber. Wir haben zwar mehrfach betont, dass jedes Betreuerteam auf die Depressivität (siehe folgend) gefasst sein muss, die alles negativ sehen lässt. Aber es muss auch klargestellt werden, dass nicht jeder Grant gleich Depressivität ist und man versuchen soll, dem (alten) Rehabilitationspatienten zur positiven Sicht seiner Umgebung zuzureden und ihn zu animieren, dies auch dem Betreuenden gegenüber zu artikulieren.
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Ich habe schon vorhergesagt, dass der alte Mensch auch ohne Auftreten einer invalidisierenden Erkrankung (am häufigsten durch Schlaganfall, Parkinson, etc.) ab einem gewissen Lebensalter ein derartiges Maß an Unselbstständigkeit erreicht, dass er dann ebenfalls Rehabilitationspatient wird und habe dafür das Wort „Altersrehabilitation“ eingeführt und ausdrücklich ins Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion gebracht. Es wurde darüber viel diskutiert. Man hielt uns entgegen „Altern ist ein physiologischer Vorgang und bedarf keiner Rehabilitation“. Wir sagen darauf: Das derzeitige hohe Lebensalter ist ein Artefakt der modernen Medizin, welche das Durchschnittsalter seit der Nachkriegszeit (schon unter Ausschluss der Kriegstoten) um etwa 20 Jahre (!) verlängert hat. Es ergibt sich daraus die von Krämer plakativ so genannte „Fortschrittsfalle der Medizin“, d. h. je besser die Medizin wird, umso mehr ältere und behinderte Menschen bleiben umso länger unter uns. Die moderne Gesellschaft hat sich auf vielen Fronten damit auseinanderzusetzen; wohlbekannt die jetzt aktuelle Diskussion über die (ganz klar aus der Demographie nötige) Pensionsreform. Medizinisch trifft es aber vor allem die (Alters-)Rehabilitation in verein mit der Alterspsychotherapie. Denn es ist nicht nur unethisch, sondern einfach auch unlogisch, Menschen mit riesigen Kosten über Akutstörungen hinwegzubringen und sie dann in einem Nirvana der völligen geistigen Einsamkeit (wenn auch körperhygienisch „bestens“ versorgt) versinken zu lassen.
In der Altersrehabilitation wie auch in der allgemeinen Rehabilitation muss sich der Psychotherapeut für das Gespräch über die Zielpunkte klar sein, die in der jeweiligen Entwicklungsphase der Behinderung Wesentlichkeit haben. Sie müssen ausgesprochen werden und das „Sinnfindungskonzept“ auf die derzeit möglichen Aktivitätsphasen mit deren Beeinflussbarkeit abgestimmt (Abb. 20a). Wenn hier von „Sinnfindungsgesprächen“ die Rede ist, so ist das eine Anleihe bei Frankl’s Logotherapie, aber eine sehr wichtige. Für die genannte wichtige „Re-Motivation“ in der Rehabilitation müssen wir versuchen dem alten Menschen, ein „Wozu“ zu finden. Sei es, dass man wieder mit dem Partner etwas unternehmen oder mit dem Enkel spielen kann, sei es, dass man ein Hobby wieder ausüben kann, sei es, dass man den Kindern ein Vorbild sein kann, etc. Die Psychotherapie der Betroffenen muss jenen Zielpunkt der Re-Motivation wahrnehmen. Auch die Aktivitätsgruppen im Alter, die neben eigener Sinnfindung auch gewisse objektive sozial nützliche Auswirkungen haben können, gehören dazu (siehe Vorkapitel).
Altersdepression Diese sei wegen ihrer großen Wichtigkeit hier speziell behandelt. Einiges überschneidet sich mit dem im Depressionskapitel (B3) Gesagtem. Der kleine Sammelband „Depression im höheren Lebensalter“ von Böhmer und Zapotoczky sei besonders erwähnt. Daraus wird einiges neben anderen und Eigenerfahrungen mitverwertet.
Altersdepression ist häufig, aber besonders häufig, wenn zum höheren Lebensalter an sich belastende körperliche Erkrankungen dazu kommen. Damit
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ist das Kriterium der von uns so genannten „Begleitdepression“ (B3) gegeben. Es muss die körperliche und psychische Symptomatik gleichzeitig behandelt werden, da sie einander wechselseitig verstärken. Folgende 3 Punkte kommen in der Altersdepression besonders häufig zum Tragen: 1. Sie wird häufig nicht diagnostiziert, deshalb oft nicht behandelt, da nicht so dramatisch vordergründig. 2. Wenn diagnostiziert, häufig fehlbehandelt (Tranquilizer statt Antidepressiva) und/oder unterbehandelt. 3. Bei der Behandlung hat Psychotherapie einen wichtigen Platz, kommt aber realiter (leider) nur in sehr geringem Maße zum Tragen. Einzelangaben: Zapotoczky „in der gegenwärtigen aktuellen Klassifikation werden Altersdepressionen heute nicht als besondere nosologische Entität hervorgehoben. Dessen ungeachtet haben depressive Störungen im Alter ihren besonderen diagnostischen und therapeutischen Stellenwert“. Er gibt eine Inzidenz bis zu 55 % an. Es kommen dabei weniger genetische Faktoren (oder wie wir es [mit Kielholz] nennen, endogene Komponenten) in Frage, mehr die somatogenen und die psychoreaktiven. Gutzmann und Riccarda Praetorius geben Depression als häufigste psychische Erkrankung im Alter (neben den Demenzen) an. Im Sinne der Häufigkeit der Begleitdepressionen nach Schlaganfall wurde der Ausdruck „post stroke depression“ geprägt. Es betrifft jeden 2. bis 3. Schlaganfall-Patienten. Elsen und Müller-Thomsen haben bei Aufnahme der Schlaganfallpatienten 50 % depressiv gefunden, was sich nach 3 Wochen kombinierter physikalischer und medikamentöser Therapie (von Psychotherapie hören wir nichts) auf 33 % reduzierte. Kasper gibt bei der Wiener Population der 60–74-Jährigen eine Depressionshäufigkeit von 20% an, die sich jedoch in Alters- und Pflegeheimen verdoppelt. Er zitiert auch die Berliner Altersstudie von 2000, wo unter alten Personen die an mehreren Krankheiten litten, 37 % depressiv waren. Etwa die Hälfte war unzureichend behandelt. Meller und Fichter betonen (ohne Prozentzahlen zu nennen) den häufigen Zusammenhang der Altersdepression mit chronischer Krankheit und Behinderung. Laut Grond (2004) ist jeder vierte alte Mensch und jeder zweite Heimbewohner depressiv. Deisenhammers Erfahrung stimmt mit unserer dahingehend überein, dass ein größerer Teil der Altersdepressionen gar nicht diagnostiziert wird und somit in obigen Prozentzahlen auch kaum enthalten sein dürfte. Das heißt, man habe eher mehr als weniger Prozent anzunehmen.
Zur Psychotherapie bei Altersdepression gilt es (vergl. B3) in einer gezielten Anamnese sich (über ICD hinausgehend) ungefähr ein Bild zu machen über einerseits die endogene Komponente, anderseits die psychoreaktive (wenn auch diese ätiologische Einteilung in der heutigen Nomenklatur „offiziell“ nicht mehr figuriert). Wo die endogene Komponente im Vordergrund steht, geht es vor allem um Empathie, während man bei der psychoreaktiven Komponente versucht, belastende Faktoren zu entschärfen. Weiters gilt das in Kap. B3 allgemein Gesagte einschließlich: andere Maßnahmen insbesondere altersangepasste antidepressive Medikation.
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Als Faustregel gibt man im Alter die halbe der sonst üblichen Dosis. Das Sertralin (Tresleen®) soll allerdings keiner speziellen Altersanpassung bedürfen und überdies etwas kognitionsfördernd sein. Man soll im Alter regelhaft langsam aufdosieren und auf die Nebenwirkungen besonders achten, denn sie können im Alter plötzlich und stark störend auftreten (wie etwa Verwirrtheit).
Die Symptomatik der Altersdepression zeigt sich wie gesagt meist weniger dramatisch, sondern überwiegend durch allgemeine Hemmung, Lustlosigkeit, Verweigerung weiterer rehabilitativer Maßnahmen etc. Die Patienten können mürrisch und querulatorisch sein. Es kommt dazu Tagesmüdigkeit bis in den späten Vormittag hinein, Morgenpessimum. Eine negativistische nörglerische Art des Patienten muss also keine persönliche Unart, sondern kann auch Ausdruck einer Depression sein! Das ist ganz wichtig auch Angehörigen und Betreuern plausibel zu machen. Mit Rehabilitationshospitalismus haben wir ein Bild speziell benannt, dass vor allem in der Rehabilitation des höheren Lebensalters vorkommt. Wir bezeichnen so ein Zurückbleiben des Rehabilitationsfortschritts hinter den feststellbaren körperlichen Fähigkeiten (Abb. 21 a). Die darin als ein Hauptfaktor (neben auch anderen Faktoren) rangierende (Begleit-)Depression kann sich (wie gesagt) überwiegend oder nur durch negativistische, nörglerische Haltung und Abweisung der Rehabilitationsmaßnahmen zeigen. Unter Umständen kann man auch bei Fehlen des verbalen Kontaktes durch derartiges Verhalten auf die Depressivität schließen. Ein Schlaganfall-Patient kam mit geringer Rechtslähmung, aber hochgradiger Sprachstörung zu uns. Wir wollten dementsprechend eine logopädische Behandlung mit ihm beginnen. Er lehnte aber jeden Kontakt mit der Logopädin ab, drehte sich mürrisch nach der Gegenseite. Das war aus zwei Gründen verwunderlich: 1. Sind Sprachgestörte meistens besonders froh darüber, wenn man sich um ihre Sprachstörung kümmert und 2. war die Logopädin eine attraktive junge Dame, worauf ältere Herren erfahrungsgemäß gut ansprechen. Wir gaben daraufhin Antidepressiva. Schon 2 Tage später empfing er die Logopädin freundlich und bemühte sich sehr mit ihr zusammen die Übungen zu machen. Abgesehen von der Depressionsdiagnose ohne Gespräch unterstreicht das auch die vordem gemachte Aussage, dass „Begleitdepressionen“ eine deutlich geringere Zeit bis zum Ansprechen auf antidepressive Medikation benötigen als die übrigen Depressionen (B3, Abb. 10 a).
Außer der Depression als Hauptfaktor für den Rehabilitationshospitalismus können andere Faktoren eine Rolle spielen, und es wäre ebenso falsch und therapieabträglich, die Depressivität hinter gewissen Defiziten im höheren Lebensalter zu übersehen, wie es falsch wäre, sich ausschließlich auf „Depressivität“ „einzuschießen“ und nicht andere Faktoren, welche phänomenologisch ähnliche Bilder machen, in Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen. Unbrauchbarwerden der Hilfen des Patienten können (scheinbare oder „wirkliche“, wie man es auffasst) Depressionen verursachen. Gemeint ist damit Brille, Hörgerät, Gebiss. Diese stim-
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Rehabilitations-Hospitalismus (nach Barolin) Zurückbleiben des Rehabilitations-Fortschritts hinter den vorhandenen körperlichen Möglichkeiten Hauptgründe dafür sind: • Begleitdepression: psychoreaktiv + somatogen + endogen, mehrfach determiniert. • Zusätzliche körperliche Faktoren: Herz/Kreislauf, Schmerz, Stoffwechsel etc. • Somatische Handicaps: Brille, Hörhilfe, Zahnprothesen, Ausscheidungsstörungen, etc. • Ungünstige Umweltbedingungen: Reha-Organisation, Familie etc. • Gutachtens-Situation als pathoplastischer Faktor. Abb. 21a Der von uns sogenannte Rehabilitationshospitalismus hat die Begleitdepression (B2) als eine häufige Ursache. Aber es sind auch andere Faktoren zu erwägen und zu beachten. Die hier genannte „Gutachtenssituation als pathoplastischer Faktor“ (G2) trifft bei jüngeren Patienten besonders mit anstehenden Rentenansprüchen zu. Sie kann aber auch beim Alterspatienten eine Rolle spielen aus Angst vor Heimkehr in eine unerfreuliche Familiensituation, dem „Abgeschobenwerden“ etc. men und passen häufig nach einem Insult nicht mehr. Es kann sein, dass der Patient sich darüber nicht artikuliert (oder nicht artikulieren kann) und die Betreuer nicht daran denken. „Scheindepression“ kann „organisch“ auch dadurch entstehen, dass Herz-KreislaufSchwäche und/oder Schmerzen keine ordentliche Bewegung zulassen und der Patient sich also zurückzieht. Dabei ist daran zu denken, dass es neben der (heute in der Medizin stark beachteten) Hypertonie auch fallweise einen Bluttiefdruck bei alten Menschen gibt, der sich speziell morgens manifestiert und Schlappheit, Antriebslosigkeit bedingt. Es können schlechte oder fragliche familiäre Bedingungen hinter einer solchen Scheindepression (oder echten Depression) stecken, die den Patienten (in einer Krankenhaus- oder Pflegeinstitution) Angst vor dem Nachhausegehen machen. Es gehört das auch zu dem, was wir als „Gutachtenssituation als pathoplastischer Faktor“ bezeichnet haben. (Vergleiche das in Abschnitt G Gesagte); gilt nicht nur für das Alter, sondern auch für jüngere Rehabilitationspatienten. Dort kann anderseits der genannte pathoplastische Faktor auch mit einem Rentenbegehren zusammenhängen.
Wir sind schon im Vorkapitel auf die Wesentlichkeit der menschlichen Beziehung in der von uns aufgezeigten Zielpunkte-Hierarchie (Abb. 20a) eingegangen. Damit und daneben gilt es aber, zugleich Kompetenz, also Einbindung in eine sinnvoll empfundene Tätigkeit zu behalten (was auch mit der vorher schon angeführten „Sinnfindung“ zu tun hat). Ein nach Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselter Mann war Präsident des Brieftaubenzüchtervereines. Er konnte von seinen Angehörigen im Rollstuhl zu diversen Wettbewerben
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Pichottka (aus unserem Arbeitskreis) konnte in einer systematischen Vergleichsuntersuchung zwischen körperlicher Behinderung und Lebenszufriedenheit (wohl gleichzusetzen mit „Lebensqualität“*) feststellen, dass menschliche Beziehung zusammen mit sinnvoll empfundener Tätigkeit (Kompetenz) das Wesentlichste für die Lebensqualität sind, sogar wesentlicher als die (bei allen Neujahrswünschen an erster Stelle angeführte) „Gesundheit“ (körperliche Integrität). gebracht werden, geliebte und wichtige Funktionen ausüben. Er erlebte sich durchaus im Besitz hoher Lebensqualität. Hingegen erlebte sich eine Apoplexie-Patientin, die nur eine leichte Restaphasie hatte (mit der sie durchaus wenn auch mit Wortschwierigkeiten kommunizieren konnte), als sehr defekt und von miserabler Lebensqualität. Sie hatte keinen wesentlichen Angehörigen- und Familienkontakt. Das waren nur zwei Extremfälle aus jener Untersuchung. Es wurde dabei die körperliche Behinderung mit dem FIM (Functional independence measurement) quantifiziert und mit einer skalierten Angabe über die Lebenszufriedenheit verglichen. Es zeigte sich bei einem größeren Kollektiv die gleiche Tendenz, wie bei den berichteten beiden Extremfällen (mit – um das medizinische Zauberwort zu gebrauchen – statistischer Signifikanz): Menschliche Beziehung und Kompetenz sind für die Lebensqualität wichtiger als Gesundheit!
Besonders in Stadien der merkbaren zunehmenden Behinderung ist der alte Mensch auch zunehmend besorgt um seine wirtschaftliche Absicherung. Diese bekommt deshalb erhöhte Bedeutung für ihn. Sie gibt ihm auch ein erhöhtes Gefühl der Autonomie. Man muss das wissen und nicht gleich als „Altersgeiz“ abqualifizieren. Entsprechend der Sorgen um die Autonomie, muss man die „doppelte Botschaft“ verstehen und den Angehörigen „verdolmetschen“, die der behinderte Patient immer wieder aussendet, nämlich: 1. Hilf mir, 2. Ich kann es selbst. Das gilt für den körperlich Behinderten ebenso wie für den Dementen. Es gilt also die Hilfe so sparsam und unbemerkt wie möglich anzuwenden und nicht beleidigt zu sein, wenn sie plötzlich brüske zurückgewiesen wird.
Es werden in der allgemeinen Bevölkerung bis zu 80 % der alten Menschen von Familienangehörigen betreut. – Die österreichische Gesundheitsministerin Rauch-Kallat hat mitgeteilt, dass im Durchschnitt die Pflege eines pflegebedürftigen Angehörigen 7 Jahre dauert. Es geht also auch darum, für die Angehörigen selbst positiv zu sorgen, damit sie nicht in ein Burn-out-Syndrom durch die („ewige“) Pflege kommen. *) Definition und nähere Besprechung in F4.
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Ich bin in solchen Fällen so vorgegangen, dass ich den Patienten periodisch (etwa alle Jahre) einmal für 3 oder 4 Wochen aufnahm. In dieser Zeit wurde Physiotherapie, Gesprächstherapie, etc. gemacht, was ihm auch tatsächlich im Rehabilitationsprofil nützte. Das führte zu erstauntem Kopfschütteln über unsere Abteilung. So war eine Frau (die ihren schwerkranken Mann Tag und Nacht pflegte, dadurch keine einzige ruhige Nacht hatte) wegen Depression in meiner Ordination. Ich nahm den Mann auf und schickte sie auf Urlaub. Daraufhin machte folgende „wundersame Geschichte“ die Runde: Zum Barolin kommt eine Patientin, er behandelt aber nicht sie, sondern ihren Mann. Trotzdem ist aber sie davon gesund geworden. Später verlangte ich von den Angehörigen den schriftlichen Beweis, wo sie zur Zeit des Krankenhausaufenthaltes ihres Partners einen Urlaub gebucht hätten. Das deshalb, weil ich eine überprotektive Mutter eines im Mittelhirnsyndrom dahinliegenden Sohnes erlebt hatte, die in der Zeit – wo sie auf Urlaub hätte gehen sollen und wo ich ihr „verboten“ hatte, ihren Sohn zu besuchen – sich nicht losreißen konnte und auf einer Böschung vis-à-vis des Krankenhauses mit dem Feldstecher beim Fenster des Patienten mehrmals am Tag hereinschaute.
Es gibt Angehörigengruppen für chronische Patienten und es gibt auch die Möglichkeit von periodischen Angehörigenvisiten, so dass die Angehörigen 1 x in der Woche bei der Visite mitgenommen werden usw. Dabei geht es vor allem darum: 1. Mehr Verständnis für die Krankheit respektive Behinderung zu entwickeln, 2. Dem Angehörigen zu zeigen, dass er nicht alleine ist und dass man sowohl ihm als auch dem Patienten hilfreich zur Seite stehen will. 3. Techniken zu vermitteln, 4. Es gilt das Burn-out der Betreuer nach Möglichkeit zu konterkarrieren und sie dazu zu bringen auch für sich selbst zu sorgen. Müller hat diesbezüglich in seiner Angehörigengruppe eingeführt, dass die letzten 10 Minuten immer dem vorgegebenen Thema gewidmet sind: „was kann ich für mich selbst tun“. Ich hatte eine Patientin, die nach einem schweren Operationszwischenfall über ein apallisches Syndrom in ein Mittelhirnsyndrom kam und an den Rollstuhl gefesselt von ständiger Pflege abhing. Ihr Gatte gab seinen Beruf auf und wollte nur mehr sie pflegen (also auch nur mehr von ihrer Pension und dem Pflegegeld leben). Ich hatte ihm intensiv davon abgeraten, weil es mir unmöglich schien, dass das gut gehen könne. Er war aber ein sehr sturer Mensch und lehnte unsere Ratschläge ab. Nach einem Jahr war es soweit, dass er die Gattin zu vernachlässigen begann, Sachen verkaufte und sie schließlich doch in ein Heim gab. Aber das Geld reichte dafür natürlich hinten und vorne nicht aus, da er den Beruf aufgegeben hatte. Schlussendlich erhängte er sich.
In dem gleichzeitigen „Behandeln“ von Patienten und Angehörigen sieht Scholze bereits eine Art der „systemischen Familientherapie“. Schon im Kap. A3 wurde darauf hingewiesen, dass mit dem Begriff der „somato-psychosozialen Einheit Mensch“ eigentlich von der Psychotherapie verlangt wird, dass sie sich (neben anderen weiter entfernten Sozial-Konstellationen) speziell des nächsten sozialen Umfeldes des Patienten, der Familie, annimmt. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind Selbsthilfegruppen. Dabei kommen die Angehörigen mit ihren behinderten Pfleglingen (oder die Pfleg-
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linge allein, wenn sie dazu im Stande sind) und es kommt zur Aussprache von Behinderten zu Behinderten. Häufig werden auch Fachleute eingeladen, über bestimmte Themen Auskunft zu geben (wie Physiotherapie, Medikamente etc.). Die Aussprache der Behinderten untereinander gibt eine gewisse Entlastung und vor allem das Gefühl, nicht allein zu sein. Direkt therapeutisch kann man eine Selbsthilfegruppe nicht bezeichnen, aber sie kann eine wesentliche Unterstützungsfunktion in der Psychotherapie des Behinderten haben, die der Therapeut kennen muss und evt. nützen kann. Eine weitere Fallgeschichte zeigt, dass auch die besten ärztlichen Intentionen nichts nützen, wenn die Angehörigen nicht mitspielen. Eine Patientin mit einem linksseitigen Insult konnten wir rehabilitativ soweit bringen, dass sie wieder sitzen konnte. Sie war auch psychisch klar und ihr dringendster Wunsch war, in dem heimischen Hotelbetrieb als Sitzkassiererin arbeiten und so etwas Vernünftiges leisten zu können. Wir besprachen das mit den Angehörigen und man war auch scheinbar (wie ich leider jetzt sagen muss) einverstanden. Alles war mit der Ergotherapeutin gründlich vorbereitend erprobt, geübt worden und die Patientin war guten Mutes. Die alte Dame wurde nach Hause entlassen und wenige Tage später von den Angehörigen in ein Heim abgeschoben, da man schon lange gewartet hatte, das Hotel zu erben, und von der alten Frau nichts wissen wollte.
So lässt sich die vielschichtige Problematik des (Alters-)Rehabilitationspatienten und seiner Angehörigen noch lange fortsetzen. Es geht von übergroßer Liebe, die letztlich auch beiden Teilen schadet, bis zur Gleichgültigkeit und dem bewussten Abschieben des Patienten. Zwischen all dem stehen wir als Ärzte und Psychotherapeuten, bemühen uns, das Möglichste aus der vorhandenen Situation herauszuholen, primär für die Patienten, aber unter ständiger Mitberücksichtigung der Angehörigen. Denn wenn diese in einem Burn-out zusammenklappen, weil wir ihnen zuviel zumuten, haben wir den Patienten seiner Stütze beraubt und darüber hinaus noch andere Menschen unglücklich gemacht. Wenn sich anderseits zeigt, dass die Angehörigen gar nicht wollen (siehe obiges Beispiel), nützt auch Reden mit Engelszungen nichts, und es ist bei ärztlichem Erkennen der Situation (wozu eben auch einige ausführliche Gespräche gehören!) besser, von vorneherein auf einen ordentlichen Heimplatz als auf einen ungeliebten Familienplatz hinzuarbeiten. Erfreulicherweise ist es aber meist so, dass die Angehörigen nur verunsichert sind, sich vor den Aufgaben der Pflege fürchten etc. In diesen häufigen „Grauzonen der Ambivalenz“ können wir mit unseren Gesprächen i. S. einer Integrierten Psychotherapie einiges erreichen. Auch da geht es wieder weniger um das psychotherapeutische Gespräch im engeren Sinn, eine Beziehungsanalyse oder ähnliches, sondern um Aufklären und Motivieren. Wir müssen den Angehörigen die Ängste vor der übergroßen Pflegebedürftigkeit und vor dem übergroßen Arbeitspensum, das auf sie zu-
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kommt, nehmen. Vor allem müssen wir ihnen bei der Gelegenheit aber auch die Möglichkeiten für den Umgang mit dem Behinderten nicht nur zeigen, sondern sie es auch selbst üben lassen. Ich bin pragmatisch in den Rehabilitationsfällen vor Entlassung immer so vorgegangen, dass die Angehörigen nicht etwa beim Aufsetzen, Aufstehen, Waschen und den einfachen Übungen des Patienten zusehen mussten, wie es bestenfalls in manchen Abteilungen üblich ist (und leider in manchen nicht einmal das, wie wir aus vielfachen Berichten von Angehörigen wissen). Sie wurden vielmehr dazu angehalten, vor den Augen des kundigen Physiotherapeuten, Ergotherapeuten oder der Fachpflegekraft mehrmals mit dem Patienten alles selbst durchzumachen. Es ist ja eine allgemeine Erfahrung, dass man beim Zuschauen nur einen Bruchteil dessen (wenn überhaupt) lernt, was man beim Selbermachen profitiert. So konnten wir doch bei den Angehörigen, wo ein Wille zur Übernahme war, die Angst vermindern und in der „Grauzone der Motivation“ diese zu Gunsten des Patienten wenden. Dass es übrigens Angehörige gab, die sich dann bei der Direktion beschwerten, wieso sie das und das machen mussten, wo doch die Angestellten dafür da sind und die Krankenkasse es zahlt, ist ein pikantes Apercu am Rande, zeigt die Verwöhnung unserer Patienten und Angehörigen durch ein überstarkes Sozialsystem, aber auch das völlige Missverstehen gut gemeinter Maßnahmen; obwohl wir natürlich immer neben dem Wie, auch das Warum erklärten. Übrigens war auch eine unkonventionelle, aber nützliche Anweisung an meine Mitarbeiter im Krankenhaus: „Gehen Sie bitte doch in Ihren Anwesenheitsdiensten möglichst oft während der Besuchszeit durch, dann treffen Sie die Angehörigen so nebenbei. Sie sehen auch, bei wem überhaupt Angehörige sind, wer vielleicht ganz alleine ist“ etc. Allgemein ist es eher so, dass der Dienstarzt von der Abteilung flüchtet, wenn die Besuchszeit ist, weil er sich nicht gern mit vielen Fragen überfallen lassen will, für die er vielleicht im Moment gar keine Antwort hat. Ich habe es als junger Assistenzarzt, der noch weniger wusste, ebenso gemacht, bin aber meinem obigen „Rezept“ später so oft wie möglich selbst gefolgt und habe dabei viel über die für die Rehabilitation so wichtigen Beziehungen zwischen den Angehörigen und ihren Patienten „so nebenbei“ erfahren.
Das Konzept der ständigen Verbindung von Arzt, Patient, Angehörigen und Therapeut konnten wir auch insofern perpetuieren, als wir einen nachgehenden Rehabilitationsdienst ins Leben riefen, der seit vielen Jahren in Vorarlberg funktioniert (Barolin und Hodkewitsch jun.). Die von uns eingesetzten „Rehabilitationsassistenten“ hatten in ihrer gezielten Ausbildung durch uns auch immer Vorkenntnisse in der „basalen Psychotherapie“ (A6) erhalten. Sowohl die aus dem Krankenhaus entlassenen Patienten wie auch solche aus der Praxis, für welche der behandelnde Arzt ansucht, werden etwa 1 x wöchentlich von einem speziell ausgebildeten Rehabilitationsassistenten besucht, der zuhause mit den Angehörigen zusammen die notwendigen Übungen mit dem Patienten macht. Analog zu unserem stationären Vorgehen lässt er teilweise die Angehörigen unter seiner Supervision Übungen machen, motiviert und zeigt Neues auf dem jetzigen Stand. Die Besuche werden etwa 1/2 Jahr fortgesetzt, können aber auch verlängert werden. Dies ist zwar keine direkt psychotherapeutische Maßnahme, fördert aber – im Sinne der Aufgabe der Alterspsychotherapie in den Nachbargebieten – die laufende Motivation zwischen Angehörigen und Patienten, ist also durchaus im weiteren Sinn auch psychotherapeutisch. Im Rahmen der monatlich stattfindenden Rehabilitations-Assistenten-Besprechung an der Abteilung hatten wir überdies eine gewisse Verlaufskontrolle unserer entlassenen Patienten.
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Wo es etwa bei der Familie gar nicht klappte, konnten wir eventuell noch einen Sozialarbeiter hinschicken, eine Neuaufnahme in die Wege leiten oder Ähnliches. Weitere Einzelheiten über Organisation, Finanzierung etc. dieser Institution sind in den Originalpublikationen einzusehen.
Wir dürfen nicht verzweifeln, wenn trotz aller Mühen aufgrund der menschlichen Eigenschaften leider vieles auf diesem Gebiete misslingt. Aber wenn alle im Gesundheitsberuf daran denken und es versuchen, so ist schon viel getan. – Also nicht resignieren! Weitermachen! Sei dem psychotherapeutisch ambitionierten Leser von einem alten Psychotherapeuten psychotherapeutisch zugerufen.
Einiges Weitere über den Umgang mit Angehörigen ist auch noch im Kap. F4 bei der Palliativtherapie zu finden. Abb. 21b zeigt, wie die Integrierte Psychotherapie ein gleichwertiger und gleichgewichtiger Bestandteil in einer modernen Arbeitsgruppe für (Alters-)Rehabilitation werden sollte. Damit auch ein kurzer Ausblick in die Administration und letztlich Gesundheitspolitik. Auch dabei sollten wir zumindest den Versuch machen, meinungsbildend zu wirken (wenn es vielleicht auch noch mühsamer und frustrierender ist, als das Gespräch mit unwilligen Angehörigen!). Eine leider bei uns fehlende Altersrehabilitationsversicherung könnte auch psychotherapeutische Interventionen in fortgeschrittenen Behinderungsgraden mittragen. (Österreich-gültig.) In Deutschland gibt es den Begriff der „aktivierenden Pflege“, welche auch derartige rehabilitative Maßnahmen miteinschließt. Vergl. Konklusion H3 sowie Abb. 31. In Holland ist es auch anders als bei uns. Die Pflichtkrankenversicherung hört bei einem gewissen Einkommensniveau auf. Dann kann sich jeder versichern oder nicht versichern, wie er will. Hingegen ist dort die Altersversicherung (mit auch rehabilitativem Inhalt) für jeden Bürger obligat. Denn man steht auf dem Standpunkt, dass der alte Mensch nichts mehr verdienen und auch nichts mehr „arrangieren“ kann, daher unbedingt „gezwungen“ werden muss, für sich vorzusorgen.
Hier überschneiden sich Gerontopsychiatrie, Altersrehabilitation und GerontoPsychotherapie, worauf ich schon eingangs dieses Abschnitts hingewiesen habe. Es sollte das aber nicht dazu führen, dass jedes Fach auf das andere zeigt und sagt „die sollen es machen!“ Vielmehr sollten wir uns alle (hier sind speziell die Psychotherapeuten angesprochen) der Angelegenheit annehmen und zwar einerseits direkt am Patienten, anderseits aber auch im Sinne von Informierung und Motivierung der Meinungsbildner. Dazu sollen und müssen wir manchmal auch lästig bis zu sehr lästig werden.
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F. Geronto- u. Rehab.-Psychotherapie / F2. Rehabilitation
Gruppenaktive Zusammenarbeit: Gesundheitsberufe + Administration unter ärztlicher Federführung optimiert Indikation Kombination Koordination getragen von den Hauptsäulen der
(Neuro-/Alters-) Rehabilitation/Prophylaxe Medikation
Pflege
PhysioErgotherapie etc.
über Stoffwechsel
über vegetative Funktionen
über körperliche Vermittlung
Psychotherapie, Neuropsychologie, Seelsorge über psychische Vermittlung
Sozialarbeit, Rekreation, sinnvolle Tätigkeit in der Gesellschaft
auf solider Basis von:
Diagnose
Organisation ambulant + stationär
Angehörigen- und Personalarbeit Abb. 21b In der Arbeitsgruppe einer modernen Rehabilitation muss die Integrierte Psychotherapie eine gleich wichtige und gleich tragende „Säule“ darstellen.
So haben sich ja auch in den stürmischen 68er Jahren die Fachleute ins Administrative und Politische eingemischt, manchmal wohl überschießend. Doch hat es schließlich zu wesentlichen Reformen geführt! Ich will also die geschätzten psychotherapeutischen Leser dieses Büchleins nicht zum Revoluzzertum aufrufen, aber dazu, sich doch der allgemeinen gesundheits- und berufspolitischen Angelegenheiten – zum Wohle unserer Patienten – anzunehmen.
Zusammenfassung über Psychotherapie in der Rehabilitation und Altersrehabilitation Rehabilitation und Psychotherapie gehören zusammen. Wir plädieren für überlappendes Wahrnehmen der Grenzgebiete. Jedenfalls muss Rehabilitation ohne eine integrierte Psychotherapie Stückwerk bleiben. Wir konnten günstige Erfolge zeigen bei • Postapopleptikern, Parkinsonisten, • Patienten ohne Zusatzerkrankungen, die aber aufgrund des hohen Alters schon rehabilitationsbedürftig waren, • An einem jüngeren Rehabilitations-Krankengut von MS-Patienten.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
• Über Coronarpatienten haben wir hier nichts geschrieben, da es bereits üblich ist, sie in ähnlichen psychotherapeutischen Settings zu behandeln. Wir können eine eigene Coronargruppe mit Autogenem Training erwähnen, die mit gutem Erfolg gelaufen ist. Neben den Verhaltens-, Stimmungs- und „Coping“-Besserungen konnten wir auch bei mehreren Diagnosegruppen deutliche somatische Besserungen aufzeigen. Das Gespräch muss auf die spezifischen Probleme des Alters(-Rehabilitations-)Patienten besonders eingehen und unterscheidet sich in mancher Beziehung vom psychotherapeutischen Gespräch mit jüngeren Menschen. Es geht um das hic et nunc mit seinen Problemen: konkrete Ratschläge, Hilfestellungen, Begleiten, Motivieren. (Klassische) analytische Technik ist dafür kaum geeignet. Der Therapeut muss sich (nicht nur im Gespräch, sondern auch innerlich) von der, heute übertriebenen, Idealisiserung des Jugend-Bildes entfernen. Die 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenem Training hat sich im höheren Lebensalter und in der Rehabilitation als besonders erfolgreich erwiesen. Mit ein Grund ist die Vereinsamung des alten Menschen, in der die regelmäßigen Gruppenzusammenkünfte schon eine Therapie an sich sind. Wenn wir auch keineswegs alle Kategorien der in Frage kommenden Rehabilitationspatienten in unserem Erfahrungsgut haben, so scheint es aus der Ähnlichkeit der Probleme durchaus plausibel, integrierte Psychotherapie auch bei anderen Rehabilitationspatienten (wahrscheinlich allen) zu fordern. Wir denken speziell an die • Schädelhirntraumatiker • selteneren neurologischen invalidisierenden Erkrankungen etc. Besondere Beachtung verdient der von uns sogenannte „Rehabilitationshospitalismus“, der als häufigste (aber nicht alleinige) Ursache eine (Alters-)Depression hat. Das Einbeziehen der pflegenden Angehörigen in die systematische Rehabilitationspsychotherapie ist ein Muss. Natürlich stoßen wir dabei manchmal an unüberwindbare Grenzen. Aber es muss immer wieder versucht werden. Dass es wichtig ist, Brücken zwischen der älteren und jüngeren Generation herzustellen respektive möglichst gangbar zu halten oder zu machen, wurde schon im Vorkapitel gezeigt. Wir glauben, dass es eine Verpflichtung ist, den in Frage kommenden Patienten die positiven Möglichkeiten anzubieten. Wenn man sie mit ho-
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hen Kosten und Mühen über Akutprobleme hinweggebracht und als Behinderte zurückgelassen hat, ist es ebenso unethisch wie unlogisch sie dann in ein Nirvana der psychischen Unbetreutheit (und sei es auch bei bester Körperhygiene) zurücksinken zu lassen. Für die laufende psychotherapeutische Betreuung wird es niemals genug Fachpsychotherapeuten geben. Daher gilt es das Pflege- und Assistenzpersonal verstärkt in die „basale Psychotherapie“ (A6) einzuführen und Ehrenamtlichkeit zu forcieren, welche auch rüstigen Alten befriedigende Tätigkeit geben kann. Das neue österreichische Krankenanstalten-Gesetz sieht zwar verpflichtend vor, dass in allen Krankenanstalten den dafür Bedürftigen Psychotherapie zur Verfügung stehen muss. Leider sind aber der Großteil der dort psychotherapeutisch Tätigen noch nicht auf eine derartige integrierte Psychotherapie, die sich auch auf körperliche Probleme erstreckt, eingestellt. Es geht also auch um einen Erweckungs- und Wegbahnungseffekt. Manches des hier Gesagten trifft für die Gerontopsychotherapie allgemein zu, wird dort evt. wiederholt und ergänzt.
F3.
Sexualität und ihre spezielle Entwicklung im höheren Lebensalter
Schlagwort-Information Sexualität ist heute einerseits ein gängiges Thema, anderseits mit vielen Fehlauffassungen belastet, woraus wesentliche Störungen entstehen können. Die schematisierende Einteilung in 4 finale Dimensionen („wozu?”) und in 3 kausale („wodurch?”) hilft mehr Durchblick in die Materie zu bringen. Die Sexualität im höheren Alter ist mit einer Reihe spezieller Fragen und Problemen ausgestattet, die es nötig machen, das Grundwissen über Sexualität mit dem Grundwissen über die Probleme des Senium gemeinsam zu betrachten. Sie muss aus ihrer weitgehenden Verdrängung vom Psychotherapeuten gezielt hervorgeholt werden. Darüber hinaus braucht es (wie überall in der integrierten Psychotherapie) Kenntnisse und Kompetenzen in den Nachbargebieten.
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Sexualität allgemein Es ist das ein Thema, das einerseits sehr im Zentrum der menschlichen Beziehungen und deren Störungen steht, anderseits aber aus sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten meist sehr bruchstückhaft und vielfach falsch gesehen wird (siehe später noch bei „Aufklärung“). Auch die Therapie betreffender Störungen wird meist einseitig dargestellt. Einerseits „nur“ mechanistisch, anderseits „nur“ psychotherapeutisch. Physiologie und Psychologie der Sexualität werden dabei häufig isoliert und nicht (wie es der somato-psychosozialen Einheit Mensch entspricht) als einheitlicher Komplex gesehen. Ich versuche in Folgendem eine Darstellung der Sexualität, welche Physiologie und Psychologie in ihrem ständigen Zusammenwirken zeigt. Das mag einerseits dem Psychotherapeuten in seinem Grundwissen und Grundverständnis helfen. Anderseits mag es durchaus therapeutisch nützlich sein, Menschen, die in betreffenden Krisen stehen, direkt das Faktenwissen und den Umgang damit zu vermitteln.
Wenn etwa von einem Krisen-Ehepaar zu hören ist: „Wir haben einander nichts mehr zu sagen“ oder „Ich verspüre nichts mehr für ihn“ (sie), so mag die Mitteilung nützlich sein, dass nicht unbedingt nach „Schuld“ oder „Kindheitstrauma“ geforscht werden muss, sondern es sich um ein einfaches neuro-biologisch vorgegebenes ubiquitäres Muster handelt. Zusammen mit dem Aufzeigen anderer wesentlichen Dimensionen, kann das u. U. die Chance des Findens neuer Beziehungspunkte eröffnen (Abb. 22). Wenn ein junger Mann mit Potenzschwierigkeiten kommt, wird es nicht sinnvoll sein, kurzschlüssig „Sexualübungen“ zu verschreiben, ohne etwas näher in die Psychodynamik hinein zu schauen (vergl. D4). Organische Störungen, wie etwa bei Diabetes müssen in die Überlegungen einbezogen werden etc.
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Die speziellen Facetten der Sexualität im höheren Lebensalter können nur auf der Basis eines gemeinsamen Verständnisses von Sexualität + Seniorenproblematik verstanden werden. Die Beziehungsdimension hat bei der Sexualität in allen Altersstufen (jedoch unterschiedlichen) Stellenwert (F1). Deshalb ist Sexualtherapie heute (im Gegensatz zum rein mechanistischen Ansatz) zum großen Teil als Beziehungstherapie zu gestalten (was die einfachen praktischen Hilfen keineswegs ausschließt – siehe noch später). Auch die Freud’sche Positionierung der Sexualität im „Es“ (A4 sowie vorstehender Cartoon) wird dadurch wesentlich erweitert und reicht (wie wir zeigen werden) wesentlich in Über-Ich-Bereiche (Freud’scher Terminologie). Dementsprechend also nun der erste Abschnitt dieses Kapitels.
Schematische Aufgliederung des Komplexes: „Sexualität“ A) Finale Dimensionen („Wozu?“) 1. Fortpflanzungs-Dimension 1. Phylogenetisch vorprogrammiert zur Art-Erhaltung 1. (2 + 3 stehen auch mit im Dienste dieser 1. Dimension). 2. Lust-Dimension mit ihrer Vorstufe der Erotik a) das reine Luststreben und Lustempfinden b) dessen Kombination mit Beziehung b1) „akut“ = „Verliebtheit“ b2) längerdauernd mit erweiterten Beziehungskomponenten (übergehend in Familienstrebung). 3. Beziehungs-Dimension a) die empathische Beziehung als menschliches Ur-Bedürfnis b) die institutionalisierte Beziehung als (Familien-)Sicherungskomponente 4. Spirituelle Dimension 1. ist etwas spezifisch Menschliches ohne phylogenetische Vorläufer; B) Kausale Dimensionen („Wodurch?“) 1. (neuro-)physiologisch, 2. psycho-dynamisch, 3. sozial Abb. 22 Durch dieses Schema ist vieles leichter einorden- und verstehbar. Natürlich ist aber die Sexualität in jedem Fall eine individuell differenzierte Angelegenheit, die schematisch keineswegs voll erfasst werden kann. Überdies besteht eine weitgehende Überlappung der Dimensionen und Kausalitäten.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Mit den vorliegenden Ausführungen folge ich teilweise Lopez; Loewit 2003; 2004; sowie Beier und Loewit 2004. Es sei speziell auf große individuelle Unterschiede, Grenzunschärfen, wechselseitige Beeinflussungen und Überlappungen hingewiesen. Prof. Loewit, dem ehemaligen Leiter der 1. Österreichischen universitären Abteilung für Sexualmedizin (Innsbruck), sei überdies besonders für kritische Durchsicht und Besprechung dieses Kapitels gedankt.
Ich hoffe, nicht dahingehend missverstanden zu werden, dass ich durch eine Schematisierung alles einteilen und versachlichen möchte. Sexualität hat viel mit Emotionen, also mit Gefühlen zu tun, und es wäre ein sträflicher Gewaltakt diese in ein Einwegschema pressen zu wollen, denn jeder Einzelne hat seine ureigenen Gefühle und seine ureigene Sexualität. Aber für eine lebenslange Psychohygiene, die über momentane Gefühle hinausgeht, ist doch die Erkennung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten und die differenziertere Betrachtung sinnvoll. Sexualität wird häufig gleichbedeutend mit „Liebe“ gesehen. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Es besteht Verwandtschaft, aber keine Identität. Liebe ist ein sehr vieldeutiger Begriff, dem (in der schönen Literatur und in hunderten zuckersüßen Filmen gleichermaßen) „große Gefühle“ zugeschrieben werden: glückliches Hochgefühl bis zu Aufopferung, Verzweiflung etc. Es wird dabei meistens „Liebe“ mit „Verliebtheit“ gleichgesetzt, was nicht einmal neurobiologisch stimmt. Auch Sexualität hat (natürlich) in der Liebe ihren Platz, wird aber in diesem Zusammenhang meist verklärt und unrealistisch betrachtet, was für längerfristige Beziehungen falsche Erwartungshaltungen ergibt. Diese Fehleinschätzungen können zu mannigfachen Krisen führen, die bei einer realistischen Initialbetrachtung vermeidbar wären (siehe noch folgend). Es ist also für die Psychotherapie, die ja das Leben in verschiedenen Perioden betrifft – unter Umständen auch als eine lebenslange Begleitung – durchaus nötig, die Sexualität differenzierter zu sehen und nicht nur unter dem Aspekt der Verliebtheit.
In diesem Sinne sei nun der schematischen Einteilung von Finalität und Kausalität gefolgt (Abb. 22) und es ergibt sich Folgendes: Zu den kausalen Dimensionen: 1. „Das Körperliche“ ist a) ein seit Jahrtausenden vorgegebenes Reaktionsmuster im Neurophysiologischen; b) aber auch die Neurophysiologie kann von psychischen Faktoren beeinflusst werden; c) Unterliegt überdies den (patho-)physiologischen Veränderungen des menschlichen Körpers. 2. „Das Psychische“ ist einerseits von einer Vielzahl gegenwärtiger Faktoren abhängig, anderseits gibt es aus der Phylogenese (vergl. „kollektives Unbewusstes“ – A4) und aus der eigenen Kindheitsentwicklung stammende Grundmuster, die, ohne dass wir es wissen, in unser Verhalten einstrahlen. 3. „Das Soziale“ ist vom ständigen Wandel der menschlichen Lebensformen und der menschlichen Ansichten abhängig und in ständiger Veränderung. (Siehe noch später.)
Zu den finalen Dimensionen: Lust (und ihre Vorstufe, die Erotik) „dienen“ vor allem dazu, einerseits Reproduktion (als ein Erhaltungsprogramm der Natur), anderseits Beziehung
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(als ein menschliches Grundbedürfnis) zu sichern. Es herrscht ein neurophysiologisch klar vorgegebenes Muster. Es werden bewusste und unbewusste erotisierende Signale ausgesandt und empfangen. Loewit (2000) nennt es „Sprache der Sexualität“, welche ein ganzes Paket nonverbaler Komponenten hat (Mimik, Bewegung, vegetative Phänomene wie Erröten, Erblassen, Geruch [der im Tierreich ein größere Rolle spielt, aber auch beim Menschen nicht unwesentlich ist – wovon u. a. die Parfümerien leben] etc.). Es wird dadurch eine Neurotransmitterkaskade ausgelöst, die geradewegs bis zum Orgasmus führt. Das spielt sich weitgehend in den alten Gehirnstrukturen des limbischen Systems ab. Die Großhirnrinde kann beim Menschen gewisse Hemmungen und rationale Steuerungen bedingen. Aber das biologische Prinzip bleibt als Grundlage bestehen.
Jener erste erotische Kontakt kann sehr unterschiedliche Facetten aufweisen respektive unterschiedliche Dimensionen der Sexualität (Abb. 22) ansprechen. • Es kann die Lust auf Lust überwiegen (gemeiniglich auch „Geilheit“ genannt – wenn dieses Wort auch in der heutigen Jugendsprache etwas anders gebraucht wird). • Das Anstreben von Lust + Beziehung im Frühstadium wird gemeiniglich als „Verliebtheit“ bezeichnet. Es entsteht eine Faszination, welche manches am Partner fern von der Realität sieht oder gewisse positive Eigenschaften „in ihn hineinsieht“ (phantasiert, illusioniert). Das dauert allgemein zwischen einem halben und 11/2 Jahre. Völkl hat das sehr drastisch, aber keineswegs realitätsfern „Hormonelles Irresein“ genannt. Bemerkenswert ist, dass die „Verliebtheit“ sich auch in der neurophysiologisch nachweisbaren Hirnaktivität von anderen Sexualdimensionen klar unterscheidet. Grawe berichtet ein typisches kortikales Aktivierungsmuster, welches unterschiedlich ist von dem bei anderen positiven Emotionen, insbesondere von der sexuellen Erregung. Zugleich werden diejenigen Areale deutlich deaktiviert, welche bei Zuständen von Trauer, Depression und Angst besonders aktiv sind. Verliebtheit bedingt einerseits große Glücksgefühle, anderseits „Liebesleid“. Das kann besonders stark ausgeprägt sein, wenn das erotische Erleben einseitig ist. Die Abwesenheit des gleichschwingenden Partners hat die dichterische Fantasie noch wesentlich mehr beflügelt, als dessen körperliche Präsenz. Man denke an Schubert’s „Müllerlieder“, Heine/Schumanns „Dichterliebe“ bis hin zu Goethe. Als dieser in seinem Epos „Die Leiden des jungen Werther’s“ diesen sich wegen seiner unglücklichen Verliebtheit erschießen ließ, folgte eine ganze „Epidemie“ von Selbstmorden junger Männer in ähnlichen Situationen. Das zeigt also, dass das „Liebesleid“ bei einseitiger Verliebtheit ein durchaus verbreitetes Phänomen ist (war?). – Übrigens sprach man Goethe einmal daraufhin an, ob er kein schlechtes Gewissen wegen der vielen Selbstmorde habe, worauf „der Dichterfürst“ – in seiner privatim gängigen, egozentrischen und schnoddrigen Art – antwortete: Er habe sich seine Gefühle von der Seele geschrieben und die anderen sollen selbst sehen, was sie damit machen.
„Es ist traurig, wenn Liebe erkaltet, es ist traurig, wenn Liebe vergeht“. So beginnt ein Chanson Kreislers. Jene Vergänglichkeit der Liebe möchte ich eher „Ende der Verliebtheitsphase“ nennen. Die erotisierenden Signale werden weniger ausgesandt und perzipiert. Die Ratio kommt wiederum stärker zum Tragen.
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Wenn es gut geht, so kann die damit verbundene Verminderung der erotischen und Lustdimension mit einer Vermehrung der Beziehungsdimension einhergehen und so die Partnerschaft in ein neues positives Stadium eintreten (ich möchte es nennen: Übergang von der „Akutsexualität“ in die „Chronischsexualität“). Es kann aber auch ein neuer Partner auftauchen und es können dadurch neue erotische Signale ausgesendet und verstärkt wahrgenommen werden. Dementsprechend ist der Mensch (lt. Loewit) von Natur aus als „mild polygam“ zu bezeichnen (etwa zum Unterschied von der Promiskuität der Schimpansen). Die menschliche Beziehung wurde in F1 schon angesprochen mit ihrer Bedeutung besonders im Alter, wo sie nicht nur lebensverbessernd, sondern auch lebensverlängernd sein kann. Hier noch einige weitere Worte zur BeziehungsDimension in der Sexualität. Beziehung ist eine – stammesgeschichtlich angelegte – innere Programmierung auf Bindung, zur Erfüllung der Grundbedürfnisse nach Nähe, Wärme, Geborgenheit, Sicherheit und Akzeptanz. Ein Schimpanse, der im Käfig von einem Hund angebellt wird, zeigt deutliche Herz-KreislaufStress-Reaktionen. Wenn man ihm einen zweiten Schimpansen dazu in den Käfig setzte, kuscheln sich beide in der Gefahrensituation zusammen, und die Stress-Reaktionen bleiben aus. Auch das gesamte Herden-Verhalten der Tiere kann auf die gefahr- und stressmindernde Wirkung der Gemeinschaftsbeziehung bezogen werden.
Im Zusammenhang zwischen Geschlechtslust und Beziehung bestehen deutliche Differenzen a) zwischen den Altersstufen, b) zwischen den Geschlechtern. In jugendlichem Alter wird häufig die Lust-Dimension losgelöst von Beziehungs- und Fortpflanzungsdimension gesucht. Dazu hat die Pille stark beigetragen. Es wird das auch öffentlich propagiert (gilt als „cool“). So hören wir in vielfachen Talk-Shows von den „one-night-stands“, also von einmaligen sexuellen Kontakten ohne wesentliche sonstige menschliche Beziehungsaufnahme (etwa auch ohne Kenntnis des Namens). Häufig wird in den Medien auch „Sexualität als Leistungssport“ dargestellt. Beispiel der Titelschlagzeile eines Wochenmagazins: „Wie gut sind Österreichs Männer im Bett?“. Dass gerade durch solche Leistungsanforderungen an die Sexualität Lust und auch Vollzug beträchtlich leiden können, sei am Rande erwähnt („Prüfungssituation“). Jene Schere zwischen Lust- und Beziehungsdimension ist auch in unseren heutigen Gesellschaftsnormen mitbedingt, da die Sozialreife wesentlich später als die Geschlechtsreife eintritt und häufig die Tendenz besteht, eine Familie erst bei gesicherter Existenz (Studium, Beruf, Karriere, etc.) aufzubauen. Es verlängert das auch die Such- und Probierphase für Partner, mit bewusster Vermeidung oder „Aufschiebung“ der „dauernden“ BeziehungsDimension. Natürlich geht es bei Lust und Beziehung in der Regel keineswegs um ein „Entweder/ Oder“, sondern um ein Zwischending mit mehr oder weniger Gewichtung der einen oder der anderen Dimension. Häufig ist es jedoch so, dass der eine Partner es ganz anders wertet als der andere und es dadurch zu Kränkungen und Frustrationen kommt.
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Bei Sexualität ohne Partnerbeziehung ist vor allem die Selbstbefriedigung zu nennen, die durch erotische Signale stimuliert werden kann (Pornohefte, Peep-Shows, etc.) oder (speziell bei Jugendlichen) durch den Hormonandrang sich spontan anbietet. Dabei handelt es sich um eine (in der heutigen Medizin und Psychotherapie, im Gegensatz zu früher, als normal gewertete) Durchgangserscheinung in der Entwicklungsphase. Selbstbefriedigung hat aber auch Bedeutung bei Frauen ohne Partner, bei Behinderten, etc. Wie bei der spirituellen Dimension der Sexualität erwähnt, hat es natürlich Bedeutung, wie die Religion dazu steht. Im Gegensatz zur Neutralität anderer Religionen (soweit ich es als NichtReligionswissenschaftler übersehe) hat die katholische Kirche (der ja eine Vielzahl unserer Patienten aus dem deutschen Sprachraum angehört) dazu eine sehr apodiktische Negativhaltung eingenommen. Ich habe mehrere kompetente Kleriker (etwa Lehrstuhl für Moraltheologie in Wien, etc.) dazu befragt, wie sie denn etwa einem Jugendlichen jene Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Religion erklären. Mir wurde gesagt, dass man heute viel mehr auch auf die Umstände Rücksicht nimmt, unter denen eine Selbstbefriedigung abläuft, das eigene Gewissen als eine speziell wichtige Instanz dabei anerkennt und schließlich auch manches in der heutigen katholischen Kirche „in Bewegung“ sei. Der Wiener Kardinal König (eine international anerkannte Kapazität auf dem Gebiet des Dialoges zwischen den Religionen und auch zwischen Kirche und Politik) hat die rigorosen Auffassungen einer traditionellen katholischen Kirche als „lebensfern“ bezeichnet. Dieses Wissen mag hilfreich sein, wenn ein Psychotherapeut (mag er nun selbst religiös sein oder nicht) mit einem religiösen Patienten jenes Thema behandelt. – Gleiches gilt übrigens bezüglich der Diskrepanz zwischen der streng katholischen und der heute sozial und wissenschaftlich gängigen Auffassung zur Empfängnisverhütung und extramatrimonieller Sexualität.
Laut Siegusch hat im Laufe der letzten 30 Jahre die Selbstbefriedigung den Ersatzcharakter (Durchgangscharakter) verloren. Im Gegensatz zu früheren Erhebungen bezeichnen 4/5 der jungen Frauen und Männer sie als eine eigenständige Form der Sexualität, die teilweise auch in „festen“, „sehr guten Beziehungen“ befriedigend und ohne „schlechtes Gewissen“ praktiziert wird. Trennung der Sexuallust von menschlicher Beziehung wird bei Gruppensex und der Begegnung mit Prostituierten intendiert. Trotzdem kommt es aber fallweise zu einem „Einschleichen des Beziehungsbedürfnisses“. Bei Gruppensex-Paaren („Swingers“) kann es zu Eifersuchts-Krisen kommen, wobei natürlich zu überlegen ist, ob solche Beziehungskrisen nicht bei Menschen, die Gruppensex suchen, schon vorprogrammiert sind. Die immer wieder auftretenden Prostituiertenmorde erklärt Loewit (2004) psychodynamisch damit, dass Männer mit Beziehungshemmungen manchmal aus diesem Grund Prostituierte aufsuchen, aber doch eine unbewusste Beziehungssehnsucht haben. Wird dieses Bedürfnis dann (im Rahmen der geschäftlichen Abwicklung) nicht erfüllt, kann es bei hemmungsschwachen Individuen zu „Bestrafung“ oder „Rache“ kommen. Der Nationalsozialismus schaffte einen seiner vielen Unmenschlichkeits-Rekorde in den Konzentrationslager-Bordellen. Dort konnte nämlich menschliche Beziehung tödlich sein. Lagerinsassinnen mussten Prostitutionsdienste für Wachmannschaft, Kapos und andere Privilegierte leisten. Wo es trotz strikten Verbotes zu irgendetwas wie einer menschlichen Beziehung
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kam, erfolgten schwerste Strafen. Für die Frauen bedeutete das in der Regel: Tod in der Gaskammer (Helga Amesberger und Mitarb.).
Frauen sind stärker beziehungsorientiert als Männer. 1. In einem Versuchsprojekt hatten Studenten die Aufgabe im Universitätscampus unbekannte, andersgeschlechtliche Studenten mit folgenden Fragen anzusprechen: a) Würdest Du heute abend mit mir ausgehen? Resultat: 50 % weibliche und 50 % männliche Positiv-Antworten. b) Würdest Du mit auf mein Zimmer kommen? Resultat: 6 % weibliche, 69 % männliche Positiv-Antworten. c) Würdest Du heute Nacht mit mir schlafen? Resultat: 0 % weibliche, 75 % männliche Positiv-Antworten. 2. Neises (Leiterin der Abteilung für psychosomatische Gynäkologie in Hannover) berichtet, dass 67 % ihrer Anorgasmie-Patientinnen angeben, dadurch in ihrer Partner-Beziehung nicht gestört zu sein. 3. Heinz allerdings gibt an, dass 1/3 aller Frauen über 40 „harten Sex“ (will heißen: viel Technik und keine Beziehung) suchen. Doch ist diese Aussage von beschränkter Relevanz, da ohne nähere Grundlagenmitteilung.
Die Höherbewertung der Beziehungsdimension gegenüber der Lustdimension reicht also bei Frauen von der Jugend bis ins mittlere Leben. Hingegen wird im höheren Lebensalter die Beziehungsdimension für Männer zum Vordergründigen. Das hängt wohl mit deren (zumindest in unserem Kulturkreis gegebenen) Unselbstständigkeit im Haushalt zusammen, entgegen diesbezüglich weitgehender Autonomie der Frauen. Damit verbunden ist nicht selten eine Umkehrung alter Macht- und Entscheidungsstrukturen zugunsten der Frau, zusammen mit deren zunehmender Maskulinisierung, bei zunehmender Feminisierung des Mannes (Astrid RiehlEmde). Familiengründung berührt die Beziehungsdimension der Sexualität sowohl im Sinne des menschlichen Grundbedürfnisses als auch im Sinne der Sicherheit (einerseits für die durch die Kinderaufzucht belastete Frau, anderseits für die Nachkommenschaft) sowie die Fortpflanzungsfunktion. Der Institutionalisierung jener Sicherheitsdimension dient die Ehe. Gesetzlich erfolgt das mittels Rechtsvertrages. In früheren Zeiten unserer Gesellschaft (etwa auch bei den politischen Hochzeiten der Habsburger) wurde die Ehe losgelöst von Sexualität und Erotik von der Familie geplant, teils ohne dass die Partner einander vorher überhaupt zu Gesicht bekamen. So ist es auch jetzt noch bei vielen orientalischen Sozietäten. Es stehen dabei also Nützlichkeits- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte im Vordergrund. Sexualität und Erotik können sich nachher „von selbst“ einstellen (oder auch nicht). Bei Türken, Indern und anderen orientalischen Ethnien sind die durch die Eltern vorbestimmten Ehen heute noch der Brauch. Das führt beim Zusammenprall der Kultur von Migranten mit unserer nicht selten zu größeren Schwierigkeiten, die uns Psychotherapeuten beschäftigen können, aber auch die Justiz (damit zusammenhängende „EhrenMorde“ sind aus den Medien bekannt).
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Die Judikatur*) betreffend Ehe und Ehescheidung hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert (Anna Schoch [betreffend Deutschland]). Noch bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts • verwaltete der Mann auch das von der Frau eingebrachte Vermögen. • Sie war verpflichtet ohne Entlohnung im Betrieb des Mannes mitzuarbeiten (nicht so in Österreich). • Der Mann entschied die Fragen der Kinder-Erziehung. • Bei der Scheidung kam es für die Weiterversorgung der Frau sehr darauf an, ob schuldig oder unschuldig geschieden. Heute bekommt die Frau bei der Scheidung die Hälfte des Zugewinns (nicht nur aus gemeinsamer Tätigkeit, sondern auch aus der Tätigkeit des Mannes). Prinzipiell wird ihr meistens das Haus oder die Wohnung zugesprochen, „schuldig“ oder „unschuldig“ geschieden spielt keine Rolle für die Weiterversorgung der Frau, etc. Das erscheint einerseits durchaus richtig. Denn wenn die Frau 25 Jahre mit Kindern und Haushalt dem Mann den Rücken freigehalten hat, sodass er seinen Beruf gut aufbauen konnte, steht ihr vernünftigerweise auch ein Teil des erworbenen Vermögens zu. Anderseits hat diese Medaille auch eine Kehrseite. • Ein junger Akademiker erhielt zur Hochzeit von seinem Vater eine Wohnung finanziert. Die Ehe wurde nach 6 Wochen geschieden, die Wohnung ging an die Frau. • Manche Betriebe gehen zugrunde, wenn nach der Scheidung die Hälfte eines sehr hohen Betriebs-Vermögens an die Frau weggezahlt werden muss. Österreich trennt im Gegensatz zu Deutschland Betriebs- von Familienvermögen. • Ein junger Arzt sagte mir: „Ich heirate auf keinen Fall, denn man ist ja heutzutage der Frau völlig ausgeliefert und sie kann einen jederzeit zugrunde richten. Kinder kann ich auch ohne Verehelichung haben.“
So gibt es also heute einen wesentlichen Anti-Trend gegen die Ehe. Sicherlich ist es gut, dass Ehen nicht aus Angst vor der Zukunft und als SicherungsFunktion krampfhaft festgehalten werden. Es zeigt sich aber auch die Tendenz, bei kleinen Schwierigkeiten rasch das Handtuch zu werfen und die Scheidung anzusteuern. Der Psychotherapeut soll einen vernünftigen Mittelweg finden helfen, der einerseits die wichtige und schöne erotische Dimension berücksichtigt; anderseits wirtschaftliche und andere „praktische“ Gesichtspunkte nicht ausklammert (wozu speziell in der Verliebtheitsphase – entgegen etwa elterlichem Bedenken – tendiert wird). Das läuft allerdings hunderten literarischen und filmischen Illusions-Klischees zuwider, wo sich „die wahre Liebe“ gegen alle materiellen und elterlichen Bedenken durchsetzt und so angeblich zum großen Dauerglück wird. Auch eine andere weit verbreitete Ehe-Illusion – die immer Illusion bleibt – gilt es zu konterkarieren: – Die Frau heiratet und hofft, dass der Mann sich (mit ihrem Zutun) noch ändert. – Der Mann heiratet und glaubt, dass die Frau so bleibt, wie sie ist (Trenkle).
Sokrates hat auf die Frage, was besser sei, eine Frau zu nehmen oder keine zu nehmen, geantwortet: „Tue, was du willst. Es wird dich beides reuen“ (aus *) RA Dr. Goebel danke ich für rechtsfreundliche Beratung.
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Astrid Riehl-Emde). Das charakterisiert sehr schön die Ambivalenz, die in jeder Dauerbindung liegt (mit oder ohne Ehe). Bei der heutigen Verselbstständigung der Frauen gilt es natürlich auch umgekehrt: zum „Nehmen eines Mannes“. Es wird Freiheit verloren und menschliche Beziehung gewonnen. Es gilt das bei Beziehung allgemein Gesagte. Es muss die Balance gefunden werden zwischen beengendem Aneinanderpicken (Bedrückung bis Unterdrückung) und rücksichtslosem Individualismus (der den anderen vereinsamen lässt). Die Ehe war auch früher keineswegs immer gleichbedeutend (Herrat Schenk). So waren im Mittelalter die gesetzlichen Regelungen sogar von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Die behördliche Eheerlaubnis entwickelte sich zu einem Machtinstrument zur Klassentrennung, denn sie war an Wohlhabenheit gebunden. Ärmere Leute erhielten jene Eheerlaubnis nicht und konnten daher nicht anders als in wilder Ehe leben. Erst im späteren bürgerlichen Eheideal wurde „die Liebe“ als zusätzliches Auswahlkriterium für die Ehe allgemein. Vorher war diese überwiegend eine Sozialgemeinschaft, Zweck- und Arbeitsgemeinschaft.
Es gibt keine sicheren negativen oder positiven Prediktoren für das langfristige, bestenfalls dauernde, Bestehenbleiben einer 2er-Beziehung! • Die Verheiratung ist wie gezeigt heutzutage keinerlei Garant mehr dafür. Anderseits gibt es auch ohne Ehe langfristige gute persönliche Paarbeziehungen. • Astrid Riehl-Emde hat bei Befragung von 50 langfristig miteinander lebenden Mittelschichtspaaren keine gemeinsame Typologie gefunden. Sie fand aber auch keine obligate Koppelungen mit Verliebtheit. Bei Analyse von 600 Personen zeigte sich eine 1 bis 5 x im Leben auftretende Verliebtheit, wovon eine häufig zu einer Dauerbeziehung führte. Anderseits konnte bei 1/3 von Dauerbeziehungen festgestellt werden, dass keine Verliebtheitsphase bestanden hatte. Dazu passt auch, dass vermittelte Ehen keine schlechtere Dauerprognose haben, als sogenannte „Liebesehen”. In jenen Fällen der Paarbeziehung ohne vorherige Verliebtheit, wird offensichtlich die Beziehungsdimension (insbesondere in ihrer Sicherungsfunktion) vor die Erotik und Lustdimension gestellt (wobei diese sich nachher durchaus einstellen kann).
Gibt es aber auch keine sicheren Prädiktoren, so gibt es aber doch (etliche, ebenso einfache wie oft missachtete) Regeln für das längerfristige Bestehen von Partnerschaften: • Partner-Beziehung bedarf ständiger Pflege. Es kann einerseits die Lustdimension als das Wesentlichste betrachtet werden, mit dem Aberglauben, dass damit die Beziehungsdimension automatisch gegeben ist (eine häufige Erscheinung bei Männern). Anderseits kann die Fortpflanzungsdimension so stark überwiegen, dass sie die Beziehung verkümmern lässt. Beier und Loewit (2004) geben das Beispiel einer Frau, die wegen lang unerfüllten Kinderwunsches nur zu Zeiten ihrer höchsten Empfängnisbereitschaft, sonst aber nicht, zur Kohabitation bereit war, somit den Partner vernachlässigte. Auch Mütter (speziell alleinerziehende), die wegen übergroßer Sorge um die Kinder eine Partnerbeziehung vernachlässigen, gehören hier dazu.
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• Kinder-kriegen und -haben ist kein Psychotherapeutikum. Dem immer wieder noch auftauchenden Aberglauben „Wenn Kinder da sind, wird das schon werden“ muss psychotherapeutisch energisch entgegengetreten werden. Vielmehr ist es so, dass die schlechte Beziehung auch auf Kinder übergeht und sie darunter leiden (wie ja in vorliegenden Zeilen schon mehrfach zum Ausdruck gekommen ist). Die Kinder-Psychotherapeutin Jutta Fiegl*) hat das sehr schön ausgedrückt: „Ein Kind, dessen Hauptaufgabe es ist, Friedensstifter zu sein, wird sich später recht mühsam einen eigenen Sinn des Lebens erarbeiten müssen.“
• Der Respekt vor dem anderen sollte ständig zunehmen (nicht etwa abnehmen). Dazu gehört Pflege von Kleidung, Auftreten und Sprache zuhause besonders aber auch Respekt vor der Tätigkeit des anderen. Populistische Politiker propagieren jetzt fallweise „Vorschriften“ zur Haushaltsführung durch den Mann. Übereinstimmend mit Lazarus (einem der prominentesten Paar-Therapeuten in USA) halte ich das für Unsinn. Es muss keineswegs der Mann kochen und die Frau Bäume ausgraben. Vielmehr soll jeder das tun, was er am besten kann. Aber es gehört dazu die Hochachtung des anderen Partners vor der betreffenden Tätigkeit. Wechselseitige Hilfe dabei oder Übernahme sollte aber keineswegs ausgeschlossen sein.
• Loben Sie Ihren Partner nie! Lautet eine der paradoxen Regeln R. und Claudia Sachse aus dem Buch: „Wie ruiniere ich meine Beziehung – aber endgültig.“ Man muss wissen, dass Anerkennung wie ein Futter ist. Wenn man es konsumiert hat, braucht man immer wieder neues.
• Man muss die Privatsphäre des Partners achten und pflegen. Dazu gehören das eigene Zimmer, der Schreibtisch, die Post, das Telefon, etc. • „Wenn der Partner mich lieben würde, dann könnte er mir die Wünsche von den Augen ablesen“ ist eine verbreitete Fehl-Stereotypie. Selbst gute Partnerschaft macht niemanden zum Telepathen. Wer nichts sagt, ist selber Schuld! • Voreheliches Zusammenleben trägt keineswegs zur Konsolidierung einer späteren Ehe bei. Vielmehr ist danach die Scheidungswilligkeit größer. • Eine Ehe gehört in mehreren Bereichen abgesprochen. Die unrealistischen Phantasien der Verliebtheit, die erotische Anziehung, etc. sind zwar etwas Wunderschönes und sollen jedem herzlich vergönnt sein. Doch darauf kann man leider keine Dauer-Beziehung aufbauen (trotz hunderten gegenteiligen [Fehl-]Stereotypen in Literatur und Film). Zu einer längerfristigen (Familien-)Beziehung gehört viel mehr; u.a.: • Materielle Überlegungen und ein entsprechendes Zusammenlebens-Konzept (Wer bringt was und wer tut was). *) Es gibt also schon eigene Kinderpsychotherapeuten. Das scheint mir durchaus angezeigt (jedenfalls wesentlicher als eine eigenständige Gerontopsychotherapie – [F1]), da die Kinderpsychotherapie wirklich grundlegend anders zu sehen ist, als die Erwachsenentherapie. Natürlich verlangt aber der Familienzusammenhang auch weitgehendes Verständnis allgemeiner psychotherapeutischer Gesetzmäßigkeiten und engagierten Grenzgang in den Nachgebieten
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• Die längerfristigen Lebens-Konzepte sollten abgesprochen und zur Konkordanz gebracht werden (übereinstimmend mit Anna Schoch): welche Wertigkeit hat die „Karriere“, das Verbleiben an einem Ort gegenüber der „Mobilität“, das „Kinder-kriegen“, etc. • Wie geht man mit Krisen um? Es ist durchaus sinnvoll, diese vorauszusehen und von vorneherein gewisse Strategien zu besprechen.
• Zu den unrealistischen Illusionen speziell der Männer gehören die sogenannten Pygmalion-Phantasien (das heißt: das Sich-selbst-vorgaukeln, man könne jemand zweiten entsprechend den eigenen Wünschen „formen“. – Es kommt das natürlich dem männlichen Überlegenheits-Gefühl sehr entgegen und man ist dabei auch noch „der Gute“ [siehe Glossar]). Es zieht sich das vielfach durch die Literatur: Bernhard Shaw’s „Pygmalion“ mit dessen Musical-Version „My fair lady“, der viel gespielte, viele rührende Film „Pretty woman“, usw. Jeweils wird das „einfache Mädchen“ von einem „höherstehendem Mann“ zu sich „emporgezogen“ („aus der Gosse“). Die Phantasie-Version, dass daraus ein besonders „positiver und neuer Mensch“ entsteht mit Liebe, ewiger Dankbarkeit und einer tragfähigen Beziehung kommt jedoch kaum vor. De facto kommt es hingegen meist zu späteren Aggressionen (AblösungsProblematik analog der Kinder), Neben-Verhältnissen, etc. „Retter-Phantasien“, die Ärzte dazu bewegen, Patientinnen Hals über Kopf zu heiraten sind durchaus damit verwandt. Auch große Alters- oder ethnische Differenzen können sehr romantisch auf- und anregend wirken. Eine gute Dauerbeziehung daraus zu machen, ist aber deutlich schwieriger als bei sozialer und/oder altersmäßiger Ausgewogenheit. Sprache (was meint er [sie] damit?), Gewohnheiten, Verhaltensweisen des Partners mit weitgehend anderem Hintergrund müssen erst vorsichtig erkundet und gelernt werden. Dabei gibt es natürlich eine Menge zusätzlicher Reibungspunkte.
Sinnvoll ist es, den Patienten entsprechende Lektüre zu empfehlen. Dazu geeignet sind unter anderem die genannten ausgezeichneten populären Bändchen von Lazarus; Sachse, Sachse; Anna Schoch; sowie Alafeditsch’s „8 Frauen des Großvaters“ (insbesondere für eifersüchtige Frauen; F3). Die Problematik der Beziehung an sich wird besonders in der systemischen Therapie fokussiert (VI). Hier plakativ dazu: Beziehung heißt nicht ständiges Aneinanderpicken, sondern sie benötigt persönlichen Freiraum, individuelle Entwicklungsmöglichkeit bei gegenseitigem Respekt (auch vor der Tätigkeit des anderen). Dabei sollen aber Gemeinsamkeiten speziell gesucht und ausgenützt werden. Es geht also um die Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz. Das gilt für die sexuelle und Partnerbeziehung, aber auch für die anderen vorbesprochenen Beziehungen (zwischen den Generationen, in anderen Sozialbeziehungen, etc. – F1).
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Noch einige Konstellationen, wo die verschiedenen Dimensionen der Sexualität aus dem Unbewussten mitspielen können: Die Beziehung als Sicherheitsfaktor war wohl schon in der Urhorde gegeben, und daher wird auch heute noch der „starke Mann“ bevorzugt. Bei einigen erotisch-bedeutsamen Attributen der Frau kann man daran denken, dass archaische Einflüsterungen aus dem Unbewussten bezüglich Fortpflanzungsfähigkeit mitspielen, so Hüften, Brust und Po.*) Von der erotischen Wirkung langer Frauenbeine lebt die Stöckelschuh-Mode. Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche mit wenig Schlüssigkeit.
Die Frage der Geschlechtlichkeit an sich wurde und wird sehr unterschiedlich behandelt (Herrat Schenk). Bei den Griechen und Spartanern war man relativ freizügig. So konnten spartanische Ehefrauen einem Freund „hergeborgt“ werden. In anderen Kulturen wurde und wird der Ehebruch streng geahndet, jedoch nur bei Frauen. In den späteren Bauern-, Arbeiter- und Kleingewerbefamilien war wenig Platz und Zeit für die Befassung mit Geschlechtlichkeit. Harte durchgehende Arbeitstage mit Übermüdung, gemeinsame Schlafräume haben dagegen gewirkt. Im frühen Mittelalter war die Kirche durchaus freizügig. Priester-Konkubinate waren öffentlich und erlaubt. Dann aber wurde starker moralischer Druck ausgeübt, der mit Möglichkeit von Buße und Vergebung sich zu einem zusätzlichen Machtinstrument der Kirche entwickelte. In den Bußbüchern wurden Einzelheiten des Geschlechtsverkehrs „geregelt“ und alles, was „nur“ dem Lustgewinn dient, verboten; so „widernatürliche“ Stellungen wie der Verkehr a tergo („weil er den Menschen auf eine Stufe mit den Tieren stellt“), oder gar die Frau auf dem Mann („weil das gegen die natürliche Ordnung verstößt, in welcher die Frau dem Mann untertan zu sein hat“). Die Strafen für derartige „Widernatürlichkeiten“ waren höher als solche für Abtreibungen. Als züchtig für den Geschlechtsverkehr wurde empfohlen: schwere Nachthemden mit einer geeigneten Öffnung für den Geschlechtsverkehr, ohne dass eine sonstige Berührung von Haut zu Haut stattfinden musste. Noch vor 100 Jahren wurde „bürgerlichen Frauen“ von renommierten Psychiatern sexuelle Erlebnisfähigkeit generell abgesprochen. Dort, wo sie „dennoch“ in Erscheinung trat, wurde dies pathologisiert. Es herrschte also genau Gegenteiliges zur heutigen psychiatrischen und psychotherapeutischen Standardmeinung, wo die Hemmung sexueller Erlebnisfähigkeit als Behandlungsindikation bewertet wird (Pfäfflin). Man denke auch an den Islam mit der Institutionalisierung der Mehrfrauenehe. Alafenisch (ein deutscher Schriftsteller, der auf eine Kindheit als beduinischer Kamelhirte zurückblickt) beschreibt in dem Buch „Die 8 Frauen meines Großvaters“ (ebenso eindrucksvoll wie amüsant), wie so etwas gehen kann. Es gibt (ganz gegenteilig zu dem, was der Europäer vielleicht denken mag) strenge Regeln und Rituale. Es wird genau kontrolliert, dass keine der Frauen vom Gatten benachteiligt wird (weder sexuell noch materiell). Es gibt (gab?) dafür Stammesschiedsrichter, Scheidung etc. Im Lappenzelt lebten mehrere Generationen in einem Zelt beisammen (in sternförmiger Lagerung) und es erfolgte damit „natürlich“ der Geschlechtsverkehr auch quasi in „Öffentlichkeit“, zumindest des Familienverbandes (Alarieston).
*) Es ist ganz amüsant der Geschichte dieser heute üblichen Bezeichnung nachzugehen. Denn „Hintern“ war für die Jahrhundertwende-Gesellschaft zu unfein, und man setzte dafür die lateinische Bezeichnung „Posterior“. Daraus wurde dann die Abkürzung Popo für Kinder und letztendlich der heute in Werbung und Umgangssprache durchaus übliche Po (der auch schon in modernen deutschen Wörterbüchern [z. B. Wahrig 1997] rangiert).
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Die Lustknaben waren im alten Griechenland nicht nur erlaubt, sondern sogar ein Statussymbol. Bei einer kleinen asiatischen Population herrscht ein reiner Matriachats-Clan. Die Mädchen bleiben dort im Haus, suchen sich ihren Mann auswärts, bringen ihn über Nacht in den Clan und der Mann geht wieder. Sie bringen im Clan dann ihre Kinder zur Welt und nur zu einem späteren Zeitpunkt sondert sich evt. ein neuer Clan ab (Dregger). In einzelnen Himalaya-Völkern herrscht prinzipiell die Mehr-Männer-Ehe, wobei vor allem die Brüder des Mannes als Zusatzmänner institutionalisiert sind. Das ist natürlich auch ein gewisser Sicherungsmechanismus für die Familie, wenn der Mann früh stirbt oder verunglückt. Nach diesen Schlaglichtern auf andere Kulturen und andere Zeiten (deren Reihe lang fortgesetzt werden könnte) zurück zu „uns“ und „jetzt“.
Was ist unser Kulturkreis und unsere Zeit? Wie leben in einer akuten Umbruchsphase. Darauf wurde schon bei den menschlichen Beziehungen allgemein (F1) hingewiesen, und es gilt bei der Sexualität besonders. Manches bei den menschlichen Beziehungen – das Jahre bis Jahrhunderte grundgegeben erschien – wird radikal umgekrempelt. Das für Generationen als „normal“ angesehene Familienbild mit einem bleibenden Vater-Mutter-Führungsdual in selbstverständlicher Rollenverteilung wandelt sich. Inzwischen ist in Österreich jedes 3. Kind außerehelich, im Bundesland Kärnten (das eine alte Tradition größerer Freizügigkeit hat) jedes 2.! (Österr. Fernsehen 17. Mai 2004.) 22 % der Kinder leben mit alleinerziehenden Eltern (Egle und Mitarb.). Es wird dadurch z. B. die ganze ÖdipusProblematik relativiert (die für Generationen von Psychotherapeuten ein Zentralproblem dargestellt hat). Überhaupt hat ja Freud auf die bürgerlich-städtische Familie vom Anfang des vorigen Jahrhunderts abgestellt. So etwa sind die Probleme der Mehrgenerationen-Bauernfamilie in der psychoanalytischen Betrachtungsweise kaum aufzufinden. (Darüber hinwiederum brauchen wir uns weniger den Kopf zu zerbrechen, denn es gibt sie heute kaum mehr.) Watzlawik hat gezeigt, dass auch in scheinbar ganz nahe liegenden Kulturen durch unterschiedliche Rituale unterschiedliches Sexualverhalten respektive weitgehende Divergenzen auftreten können. Der Kuss auf den Mund bedeutet nämlich (nach seiner Angabe) Unterschiedliches in zwei sprachgleichen Ländern: In USA eine durchaus unverbindliche Abschiedsgeste; in England hingegen Beginn der Paarungsvorspiele. Als nun anlässlich der Normandie-Invasion tausende amerikanische Soldaten in England mit englischen Mädchen zusammen kamen, wurde ihnen entweder der Mundkuss brüske verweigert oder anderseits erfolgte daraufhin bereits ein Aufknöpfen der Bluse. So berichteten amerikanische Soldaten auch sehr Unterschiedliches: Die einen, dass die englischen Mädchen sehr prüde, die anderen, dass sie leicht zu haben seien.
Folgende Begriffe kennzeichnen die neuen Entwicklungen: • patchwork family, • Lebensabschnittspartner, • Single- und alleinerziehende Mutter, • berufstätige Frau, • Hausmann, • Vater-Karenz, • Selbstverwirklichung, • Scheidungswaisen, • In-vitro-Fertilisation mit daraus entstehenden
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Retortenbabies, • Leihmutter, • Homosexuellen-Ehe mit Möglichkeit der Kinderadoption. Was uns die Genmanipulation und das Klonen noch an neuen Problemen bescheren wird, bleibe dahingestellt. Jedenfalls werden keinerlei gesetzliche oder ethische Regulative eine rücksichtslos voranschreitende Wissenschaft daran hindern, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. (Ebensowenig wie die Entwicklung der Atombombe und des Kampfgiftgases an irgendwelchen ethischen Überlegungen gescheitert sind.) Es ist also von jener radikalen situativen Umkrempelung einiges Neue in menschlichem Verhalten und menschlicher Reaktion zu erwarten (Gutes und Schlechtes). Sicher bestehen bleiben wird: Neurophysiologie und kollektives Unbewusstes; das Streben nach Beziehung; Identifikationen und Aggressionen in irgendwelcher Art; Macht und Geltungsstreben. Es wird aber neue psychodynamisch wirksame Konstellationen mit neuen psychotherapeutischen Zielpunkten geben, auf die wir uns umstellen müssen. Mit diesen Einschränkungen bitte ich das Hier-Gesagte zu verstehen. Allerdings bezieht es sich auf eine Generation, die noch weitgehend in der traditionellen Bürgerlichkeit aufgewachsen ist und somit darf es für etliche Jahre Aktualität beanspruchen.
Inzest Das ist ein Gebiet, wo Beziehung und Sexual-Lust nicht zum Guten, sondern zum Schlechten zusammenwirken: Es wurde schon in F1 gezeigt, wie in verschiedenen Familienkonstellationen die Beziehungen zueinander bis zum Inzest gehen können. Die Natur hat gewisse Inzest-Hemmungen aufgebaut, die bei den Wildtieren funktionieren, allerdings bei den domestizierten Tieren nicht mehr. Bei uns (domestizierten) Menschen klappt es ebenfalls nicht von selbst. Vom Vater zur Tochter kann eine (physiologische und wünschenswerte) Liebe sich sexualisieren und zum Inzest führen. Es gibt darüber keine verlässlichen Zahlen. 1.) Man kann nur das erfassen, was in die Judikatur oder in die Psychotherapie kommt, und es gibt eine große Dunkelziffer. 2.) Weiters gibt es auch „subjektive Realität“: Es wird ein Erinnerungsgeschehen mit „Affektsprengstücken“ besetzt und dadurch in veränderter Form als real empfunden (vergl. C3). Das kann durch unverantwortliche „Psychotherapie“ auch gefördert werden (C3, H1). Fischer und Riedesser nehmen in Folge all dessen „realistisch 4 %“ an (gegenüber anderen weitaus höher lautenden Angaben). Der (häufigste) Vater-Tochter-Inzest kommt einerseits aus fehlgeleiteter Verliebtheit Vater-Tochter, anderseits aus Lust auf Lust plus Hemmungsabbau. Fischer und Riedesser nennen dementsprechend zwei Typen von missbrauchenden Vätern: die Despotischen und die (Liebes-)Bedürftigen; wobei sie den zweiten Typus als noch problematischer bezeichnen, weil es umso schwerer ist sich aus einer solchen „sanften Verstrickung“ zu befreien. Gleiches gilt natürlich auch betreffend der Missbräuche durch Onkel und Großväter. Bei despotisch brutalem Missbrauch von Vätern kommt häufig auch Alkohol ins Spiel. Freud hat den Inzest bei seiner anfänglichen Arbeit über die Hysterie als deren Hauptursache angesehen, dies aber dann „widerrufen“. Einerseits da er doch einige mit Affekt besetzte Fiktionen dahinter erkannte, anderseits (wohl) da er in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft nicht noch mehr anecken wollte.
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Hirsch hat sich (monographisch) sehr ausführlich mit dem Inzest auseinander gesetzt und dabei das komplexe Familien-Szenario mit seiner Langzeit-Entwicklung psychodynamisch durchleuchtet, daraus: • Der patriarchalisch-brutale missbrauchende Vater ist die Ausnahme gegenüber dem weichen, liebesbedürftigen, der von einer dominant-harten Partnerin selbst (im Intimbereich und allgemein) frustriert wird und so mit seinem Beziehungsbedürfnis zur Tochter ausweicht. • Die Tochter leidet ebenfalls unter der liebesarmen Mutter, wendet sich selbst dem liebenden Vater zu, entdeckt dabei aber auch ihre Verführungskraft und Macht. Diese wird nicht selten zu späterer Promiskuität sowie Prostitution weiter verwertet. Es kommen häufig Sexualstörungen insbesondere Frigidität und andere psychosomatische Störungen dazu. • Beide Eltern haben häufig eine Missbrauchs-Vorgeschichte + emotionale Deprivation in der Kindheit. • Die Familie wird relativ stabilisiert, indem die Mutter ihre Beziehungs-Aufgaben an die Tochter delegiert und mehr oder weniger bewusst das Verhältnis nach außen unauffällig erhält. Die Rolle der Mutter beim Vater-Tochter-Inzest ist also durchaus unterschiedlich: • wirkliches Nichts-wissen, • Nichts-wissen-wollen bis hin zu • Duldung und Förderung. Aus all dem ergibt sich natürlich besonders für das Kind ein furchtbares Spannungsfeld im Sinne des Widerstreits unvereinbarer positiver und negativer Gefühle, die die menschlichen Grundwerte berühren: • Angst (auch hinsichtlich der Drohungen bei Verletzung der Geheimhaltungspflicht), • Aggression, • Abscheu und Hass (vor allem bei brutalisierenden Inzesten unter Alkohol), • gewisses früherotisches Mitschwingen (besonders bei den liebesbedürftigen, zärtlichen Vätern) und/oder einfach kindhaft positives Gefühl den (auch) guten Eltern gegenüber, • Loyalitäts-Problematik (speziell bei divergenter Haltung der beiden Eltern).
Andere Inzestformen: Es ist nicht zu klären, ob sie tatsächlich seltener sind, oder eine größere Dunkelziffer haben. Über den Mutter-Sohn-Inzest gibt es von Popper-Linkeus die Geschichte einer Mutter, die niemand anderem es zutraute ihren Sohn so gut und so liebevoll in die Liebe einzuführen, wie sie es konnte. – Das Buch mit jener Geschichte wurde übrigens in Österreich wegen demoralisierender Wirkung bis 1922 auf Antrag der deutsch-nationalen Partei verboten. Währenddessen erschienen in Deutschland 20 Auflagen. Ich war Gutachter in einem Mordfall, wo ein Jugendlicher seine Mutter nach Geschlechtsverkehr erwürgte. Motive waren nicht erhebbar. Der Jugendliche leugnete bis zuletzt (was auch in seiner dörflichen Umgebung völlig einleuchtend war, da er sonst gegenüber einer vorhandenen Freundin und auch in seiner Umgebung völlig das Gesicht verloren hätte). Er wurde aufgrund von Indizien (DNA der Spermaspuren) verurteilt (3 Jahre, da er noch unter das Jugendstrafrecht fiel). Der Geschwister-Inzest wird in der Wagner-Oper „die Walküre“ verherrlicht und hat zu den Gebräuchen der Pharaonen und anderer Herrschergeschlechter in verschiedenen Kulturen gehört (Beier und Mitarb., Schelsky), ein Psychotherapiefall bei Beier und Loewit, 2004. Einige Fälle bei Ebell und Schuckall. Einer davon zeigt besonders drastisch die Verdrängungs-Tendenz der bürgerlichen Familie. Ein Mädchen wurde von ihrem um 20 Jahre älteren Bruder laufend sexuell missbraucht. Ihr Versuch, bei den Eltern Schutz zu finden, war frustrierend. Sie bekam zu hören: „Über so etwas spricht man nicht!“ Im Laufe der Zeit, war auch noch die inzwischen geheiratete Ehefrau des Bruders bei den Missbräuchen anwesend, und er missbrauchte auch eine 2. Schwester. Fischer und Riedesser beschreiben den homosexuellen Inzest zwischen gleichgeschlechtlichem Elternteil und Kind.
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Rechtlich ist die geschlechtliche Beziehung zwischen Blutsverwandten generell strafbar. Das gilt für beide Geschlechter gleich. Wesentliche Kriterien, die in einer evt. Strafbemessung berücksichtigt werden, sind vor allem: • Mündigkeit (Minderjährigkeit), • Freiwilligkeit (Verführungssituation [„Lolita“]), • Abhängigkeit. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass Inzestfälle weitgehend nur dann vor Gericht kommen, wenn dabei gravierende Begleitumstände vorliegen, die aufkommen (etwa Mord, Kindesmisshandlung oder ähnliches). Dementsprechend kommen in die Judikatur auch so gut wie ausschließlich (Groß-)Vater-Tochter-Inzeste.
Psychotherapeutisch gilt es die unterschiedlichen (deshalb näher erläuterten) Ausprägungs-Formen des Inzests zu differenzieren und auch die soziale Weiterentwicklung in die Überlegungen zur Strategie miteinzubeziehen. Im Fall mit wechselseitigen (zumindest auch) positiven Emotionen – wahrscheinlich gehört der in G2 geschilderte Fall dazu – wird man versuchen, primäre Pathologisierung zu vermeiden (wertfreies Annehmen, so schwer es auch sein mag), vorsichtig die emotionalen Verstrickungen und Störwirkungen zwischen den Familienbindungen und Geschlechtsbindungen zu entwirren und auf ein rationales Gleis zu bringen. Dort hingegen, wo Hemmungsabbau und überwiegendes Lust-Streben vorliegt, wird man versuchen, die Opferseite (im Sinne Behandlung traumatischer Belastungssituationen [F3 sowie Artikel II und Artikel VII]) aus der emotionalen Blockade zu befreien und ihr neue Ausblicke zu eröffnen. Rational geht es auch um Entängstigen bezüglich Dauerfolgen und zu erklären, dass das Verhalten des anderen (vielleicht) krankhafte Ursachen hat. Beim verurteilten Täter wird es darum gehen, ihn auf die Notwendigkeit der Strafe hinzuweisen, aber in dieser Situation nicht allein zu lassen und zu versuchen, ihn zu einem Neuanfang zu begleiten (evt. Gefängnisbesuch, Maßnahmenvollzug). Denn schließlich kommen ja auch eingesperrte Missbraucher nach einiger Zeit wieder aus dem Gefängnis heraus zu ihren Familien zurück, und es muss versucht werden, ein einigermaßen erträgliches neben- und miteinander Weiterleben zu ermöglichen. Beachtlich ist diesbezüglich die Angabe von Karin Guiterrez-Lobos und Mitarb., dass nur etwa 10 % aller haftentlassenen Sexualtäter rückfällig werden. Eine wesentlich höhere Zahl von rückfälligen Sexualstraftätern nach ihrer Verurteilung kommt von Tschan, er spricht von 60–70 %, beruft sich dabei allerdings auf eine Arbeit von 1977 über erotische Entgleisungen von Psychologen bei ihren Patienten. Also eine ganz spezielle Form des Sexualdeliktes – vergleiche H1.
Wie ist das Schmusen zwischen den Generationen nach all dem zu bewerten? Zärtliches Berühren, Streicheln, Küssen, Trösten, Sicherheit-geben sind sicherlich wünschenswerte Beziehungsäußerungen (vgl. F1 mit dem Exkurs zur Kinder-Erziehung) und auch ein gutes „Beziehungs-Training“ für später. Von Elternseite muss aber soweit Selbstreflexion und Selbstdisziplin bestehen, dass keine sexuellen Verstärker in „das Schmusen“ einfließen. Diesbezüglich kann bekanntlich auch das Küssen sehr unterschiedlich sein. Wie weit frühe Missbrauchs-Erlebnisse zu späteren Gesundheits-Folgen des Traumatisierten führen kann, wurde in letzter Zeit stark in den Vordergrund gerückt und wird u. a. von Egle und Mitarbeitern ausführlich behandelt. Es
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werden dort seitenlange Listen klinischer Bilder, vor allem des psychsomatischen Bereiches angeführt, bei denen überall kindliche oder jungendliches Sexual-Traumata in der Psychotherapie heraus gekommen waren. Zwei wesentliche Probleme der Beurteilung bestehen dabei: 1. die Glaubhaftigkeit (wie schon anfangs der Inzest-Besprechung angeführt); 2. die Kausal-Beziehung zwischen dem Trauma und der in Frage stehenden Gesundheits-Störung. Da die meisten Gesundheits-Störungen ja eine multi-faktorielle Ätiologie haben, gliedert sich diese zweite Frage weiter dahingehend auf: a) Ist das Sexual-Trauma nur „nebenbei“ in der Psychotherapie erinnert worden und hat eigentlich zur betreffenden Gesundheits-Störung wenig Bezug. b) Wenn aber die Gesundheits-Störung in Zusammenhang mit dem kindlichen Sexual-Trauma ist, welchen Anteil stellt dieses im Rahmen einer multi-faktoriellen Ätiologie dar?
Für die praktische Psychotherapie gilt: Es wäre ebenso falsch, kindliche Sexual-Traumen im Rahmen der Behandlung diverser psychosomatischer Krankheitsbilder, nicht zu bedenken und/oder zu vernachlässigen, wie es auch falsch wäre, bei einem entdeckten kindlichen Sexual-Trauma die ganzen therapeutischen Bemühungen nur in diese Richtung zu setzen und eine mögliche Reihe anderer Faktoren zu übersehen. Die Frage der Anzeige (zu der ja das Recht, aber nicht die Pflicht besteht) ist an den näheren Umständen des Inzests sehr genau zu überlegen.
Die Kriminalisierung des Inzests in Hinblick auf die dargestellten schweren psychopathologischen Folgen soll und wird sicherlich auch über die Zeiten und Gesellschaften bestehen bleiben. Hingegen ist die kirchliche Kriminalisierung der geschlechtlichen Lustdimension seinerzeit zwar in die Medizin, damit auch in Rechtssprechung und Entwicklung der Psychotherapie eingegangen. Doch betrachten wir sie heute ganz anders. Mundbefriedigung, Homosexualität, Analverkehr etc. wurden als Perversitäten und behandlungs- respektive bestrafungswürdig aufgefasst. Selbstbefriedigung wurde als Ursache späterer Krankheiten und Neurosen angesehen. Homosexualität war nicht nur im deutschen Recht verboten (wurde im Nationalsozialismus mit grausamen Konzentrationslagern bestraft). In lateinamerikanischen Ländern (Ecuador – Mitteilung von Borja) wurde sie noch bis vor wenigen Jahren mit doppelt so viel Gefängnisjahren bestraft wie der Kindesmissbrauch).
Heute betrachten das Recht und die Psychotherapie diejenigen Sexualpraktiken als „pervers“ und abzulehnen, bei denen bewusst Anderen Schmerzen
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zugefügt werden (psychisch sowie körperlich zu verstehen, „Sadismus“). Allerdings auch (noch?) den Exhibitionismus. Weiters gilt als straf- und unter Umständen behandlungswürdig auch jeder sexuelle Akt, bei dem Gewalt angewendet wird, Minderjährige und/oder Abhängige einbezogen sind. Durch die beiden Worte „Gewalt“ und „Abhängige“ wird der ganze große Komplex umschlossen, den Helga Amesberger und Mitarb. als „sexualisierte Gewalt“ (Buchtitel) beleuchtet haben. Es liegt im menschlichen Wesen, dass überall, wo Gewalt ins Spiel kommt, diese sich auch sexualisiert. Man weiß das von den Kriegen seit altersher bis in die Gegenwart, bei Folter (A3) und den Konzentrationslagern. Es scheint hier tatsächlich eine menschliche Eigenart vorzuliegen. Denn ein derart sexualisiertes Gewaltverhalten bei Tieren ist mir nirgends bekannt geworden. – Zwar fressen manche Insektenweibchen nach der Paarung ihre Männchen auf, doch ist das der umgekehrte Weg. Zur Sexualität bei Abhängigen gehört neben dem vorbesprochenen Inzest auch die geschlechtliche Beziehung von Lehrer zu Schüler, Vorgesetztem zu Untergebenen, Geistlichem zu Betreuten sowie Arzt (ebenso wie Psychotherapeut) zum Patienten. In den Gesetzen von Deutschland, Schweiz, Österreich und den Niederlanden wird das unter Strafe gestellt und die Worte „Patient“ und „psychotherapeutische Behandlung, der man sich anvertraut hat“ kommen ausdrücklich vor (Tschan). Die Grenzen sind allerdings fließend und nicht einfach zu ziehen, denn es sind ja aus solchen Beziehungen auch fallweise Ehen entstanden (die übrigens der Gesetzgeber dann auch von einer Strafverfolgung ausnimmt) – H1.
Vielleicht spiegelt sich die langjährige Tabuisierung der Sexualität auch in unserer deutschen Sprache wider. Die „offiziellen“ Ausdrücke wie „Beischlaf“, „Geschlechtsverkehr“, „Koitus“ haben einen übernüchternen Aparatschick-haften Beiklang. Die uns allen bekannten vielfachen trivialen Bezeichnungen dafür, hingegen einen abwertenden, „ordinären“. Das macht es erfahrungsgemäß auch schwierig, wenn Eltern mit Kindern darüber reden wollen (und natürlich sollen!). Vielfach wird „miteinander schlafen“ verwendet; obwohl man ja nicht dabei schläft, sondern fallweise nachher. Derzeit scheint „vögeln“, „ficken“ und „bumsen“ in die nicht-vulgäre Umgangssprache Einzug zu halten (siehe auch Medien). Mir als älterem Semester wollen die Ausdrücke noch immer nicht so recht in eine Druckversion hinein. Das Wort „sexln“ ist mir unlängst untergekommen, klingt in meinen Ohren ganz gut (ein bisschen lustig und weniger vulgär). Noch wesentlich fröhlicher klingt es bei den Eskimos, bei ihnen heißt die liebevolle Zweisamkeit (angeblich) „zusammen lachen“.
Der Wissensstand über Sexualität („Aufklärung“) ist auch in unserer heute scheinbar so liberalen und aufgeklärten Zeit bei Jugendlichen keineswegs selbstverständlich. Das stellen Bettina Weidinger und Mitarb. 2004 in ihrem Buch „Sexualität im Beratungsgespräch mit Jugendlichen“ dar. Und es betrifft keineswegs nur Jugendliche. Eltern- und Lehrergespräche sind häufig insuffizient und weitgehend persönlich einseitig (Tabu-Scheu, eigenes ungenügendes Wissen etc.). Die Information kommt meist aus den Medien, die jedoch Stereotypien vermitteln und Bilder entstehen lassen, die fern der Realität liegen (das Hirn verstopfen nennt es Lazarus drastisch). „Willst du noch etwas wissen? Du kannst mich alles fragen!“ sind typische „Killerphrasen“, die weitere „Aufklärungs-Gespräche“
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abtöten. Sinnvolle Sexualberatung muss hingegen „aufsuchend“ und nicht „annehmend“ geschehen. Die sexuellen Erfahrungen Jugendlicher sind meist wesentlich geringer als sie selbst darstellen. Mit 16 bis 17 Jahren hat 50 % der Jugendlichen „das erste Mal“ hinter sich, 50% noch vor sich.
„Liebe“ Es sei nun zu den Einleitungsgedanken dieses Kapitels zurückgekehrt, wo auf die Liebe Bezug genommen wird. Willi hat festgestellt, dass es im wissenschaftlichen Bereich keine genaue Begriffsbestimmung der „Liebe“ gibt, somit eigentlich auch keine Bearbeitung des Themas. Er hat (daraufhin?) ein Buch über „Psychologie der Liebe“ geschrieben, in welchem er aber auch keine Definition für die Liebe gibt. In zwei großen Fragebogenuntersuchungen hat er gefunden, dass das Wort „Liebe“ an der Spitze bei allen Variablen steht in Beantwortung der Frage „Was Paare zusammenhält?“, vor etwa Erotik, Sexualität etc. Das ist wissenschaftlich nicht nachvollziehbar, denn es wird der Überbegriff Liebe gegenüber einigen darin enthaltenen Unterbegriffen zur Auswahl gestellt. („Äpfel mit Birnen verglichen.“) Auch wird die Vieldeutigkeit des Begriffes Liebe – so gängig dieser in Gespräch und Literatur ist – mangels Definition auch nicht näher aufgeschlüsselt. Schließlich gibt es ja verschiedene Arten von Lieben (auch wenn man sich hier nur auf die Liebe in der Paarbeziehung beschränkt und andere Lieben weglässt). (Vaterlandsliebe, Wahrheitsliebe, Tierliebe, Kinderliebe, Liebe als Heilmittel [Paracelsus – A3] etc.)
Es wird über viel Liebe geredet und geschrieben, nur meint jeder etwas anderes damit! So in der Literatur: Von romantischer Schwärmerei in der Belletristik über wissenschaftliche Nüchternheit bis zum Zynismus, der den Partner nur als Instrument der Lust sieht (siehe auch Fried). • „Liebe ist nur ein Wort“ betitelt der Wiener Romancier Simmel eines seiner Bücher und apostrophiert damit die Vieldeutigkeit. • Völkl’s Definition von Liebe als „hormonelles Irresein“ ist schon bei der Verliebtheit erwähnt worden. Die moderne Neurobiologie gibt jener sarkastisch-psychiatrischen Definition heute substantielle Pro-Argumente. (Siehe Beginn diese Kapitels.) • Hantel-Quittmann (Psychologie-Professor) beendet sein Buch „Liebesaffairen“ folgendermaßen: „Anscheinend hilft es nicht, egal wie alt man ist, wie viele Erfahrungen man hat, wie viele Eroberungen man hinter sich hat und wie viel Lyrik man gelesen hat, die Liebe macht einen zum Trottel!“ • Die Paar-Therapeutin Astrid Riehl-Emde nennt als „dunkle Seiten der Liebe“: Drang zur Inbesitznahme auf der einen Seite und sklavische Selbstaufgabe auf der anderen. Sie plädiert auch für eine „Re-Romantisierung der Liebe“ in unserer Zeit. • Heine überschätzt romantisch das Überdauern der „Liebe“ (wie es typischerweise der „Ver-liebtheit“ entspricht): „Die Jahre kommen und gehen, Geschlechter stürzen ins Grab, doch niemals vergeht die Liebe, die ich im Herzen hab.“ Viel realistischer klingt es von Heine allerdings an anderer Stelle: „Hat man die Liebe durchgelebt, fängt man die Freundschaft an.“ • Jean Paul hat die unterschiedliche Auffassung bei Mann und Frau sehr wohl erkannt: „Die Liebe ist das Leben des Weibes, aber eine Episode im Leben des Mannes.“
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Noch einiges Poetische: • Geibl: „Liebe bleibt die goldne Leiter, darauf das Herz zum Himmel steigt.“ • Rückert: „Liebe ward der Welt von Gott verliehen, um von Gott die Seele zu erziehn.“ • Goethe unterscheidet zwischen Lust und Liebe: „Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten.“ • Kästner weist auf die Notwendigkeit der Verbindung zwischen Romantischem und Trivialem bei der Liebe in folgenden Verszeilen hin: „Auch der mutigste Mann schaut manchmal unter’s Bett, auch die schönste Frau, die wir lieben, muss manchmal aufs Klosett. „Benützung“ des Partners nur als Lust-Instrument: • „Die Liebe ist ein Zeitvertreib, man braucht dazu den Unterleib“ sowie „Loch ist Loch, alles drumherum Verzierung“. Schließlich das Volkslied, welches wieder ins Romantische geht: • „Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht“; da ich nicht mit obigen Zynismen enden wollte (wenn sie auch durchaus realistisch und vielfach verhaltensbestimmend sind). Durch die „Himmelsmacht“ zu (wichtigen und nicht selten vernachlässigten) Zusammenhang zwischen Spiritualität und Sexualität übergeleitet.
Die spirituelle Dimension der Sexualität (siehe Glossar, sowie A1) ist wohl am stärksten in der Beziehungsdimension präsent. Aber auch die Sicherheitsdimension in der Beziehung zusammen mit der Fortpflanzungsdimension lässt deutlich spirituelle („transpersonale“) Komponenten erkennen, geht es doch um die bestmögliche Versorgung einer Nachkommenschaft in ihrem körperlichen, sozialen und psychischen Bereich. Extremsituationen bringen, wie ein Mikroskop, die menschlichen spirituellen Möglichkeiten verstärkt zum Vorschein (leider auch die negativen Eigenschaften, aber davon soll hier nicht die Rede sein). Ich konnte vordem schon ausführen, dass das Alter an sich mit seiner Vereinsamung, seiner zunehmenden Behinderung und letztlich Todesnähe auch als eine Extremsituation gewertet werden kann. Beispiele für Extremsituationen, wo die Spiritualität der Liebe besonders zum Tragen kommt: • Partner, die in den grausamen Konzentrationslagern lieber mit in den sicheren Tod durch „Vergasung“ gingen, als sich von ihren Liebenden trennen zu lassen (Barbara Distel). • Alte Menschen, die ihren dementen oder anders schwerkranken Partner rührend weiter versorgen, etc., etc. Alterssexualität Die vorgehenden allgemeinen Betrachtungen zur Sexualität treffen im Alter mit wesentlich unterschiedlicher Gewichtung und zusätzlichen Akzenten zu. Dass die spirituelle Dimension hier einen wesentlichen Platz hat, wurde soeben gezeigt. Allgemein hat die Alterssexualität erst in den letzten Jahrzehnten, ja Jahren, vermehrte wissenschaftliche Beachtung erfahren. Das aus zwei Gründen:
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1. wegen der demographischen Verschiebung, welche eine neue große Menschenkategorie der „aktiven Alten“ geschaffen hat und 2. weil die Alterssexualität bis vor kurzem unter einem Tabu stand. Es ist dies ein spezielles und aktuelles Tabu, das bis in die Gegenwart reicht (anders als das vorgenannte „historische“ Tabu der Sexualität). Es zeigt sich sowohl bei den alten Menschen selbst, als auch bei der jüngeren Generation vielfach die Ansicht: Sexualität wird im Alter unwesentlich. Wo sie aber besteht, birgt sie das Odium der Unanständigkeit und Lächerlichkeit in sich. (Abb. 22). 3. Zusätzlich begünstigt in der jüngeren Generation einerseits Eifersucht, anderseits Angst vor Erbminderung (F1) die Sexualitätsablehnung bei älteren Familienmitgliedern. Folgend einige neuere wissenschaftlichen Äußerungen zur Alterssexualität. Berberich und Mitarb. sehen Begründung für die Tabuisierung der Alterssexualität im „Inzest-Tabu“, welches wahrscheinlich biologisch vorgegeben ist (vergl. F1). Nur wenig Menschen (zumindest in unserem Kulturkreis) können sich ihre Eltern beim Geschlechtsverkehr vorstellen und der alte Mensch wird immer irgendwie mit den Elternfiguren identifiziert. Bei Beier und Koll. (2001) finden wir: „Es gibt keine Alterssexualität an sich, jeder wird mit seiner Form der Sexualität alt. Aber allen „Alten“ ist uneingeschränkt gemeinsam, dass sie dieselben Grundbedürfnisse haben wie bisher. Dementsprechend ist auch in den Altenheimen für ausreichende Privatsphäre zu sorgen, ebenso wie für eine entsprechende Weiterbildung des Personals.“ Kleiberg und Koll. haben einer Gruppe von über 80-Jährigen die Frage gestellt: „Sind sie in den letzten 12 Monaten mit jemandem intim gewesen?“ Es wurde dabei ausdrücklich nicht nach einem Geschlechtsverkehr gefragt, weil man auch alle evt. Ersatzpraktiken älterer Menschen erfassen wollte. Es haben 1/4 der Frauen und 1/3 der Männer die Frage bejaht. Bucher und Koll. haben erhoben, dass der Wunsch nach Zärtlichkeit im Alltag, wie Streicheln, in den Arm nehmen oder Küssen bei der Mehrheit der Menschen bis ins hohe Alter erhalten bleibt. Rosemeier weist auf die soziologisch neuen Gegebenheiten hin: Vor einem Jahrhundert lebte die durchschnittliche Frau noch etwa 5 Jahre nachdem das jüngste Kind das Haus verlassen hatte. Heute lebt sie in der Phase der Nachelternschaft noch 30 Jahre. Daher muss die Frau heute ihre Beziehung in eine nachelterliche Gefährtenschaft überführen.
Alle betreffenden Untersuchungen zeigen, dass sich sexuelle Kontakte im Alter überwiegend in stabilen Partnerbeziehungen ergeben, weil zeitweise oder neue Partner im höheren Alter seltener in Frage kommen. Dass Partnerbeziehungen im höheren Lebensalter nicht nur die Lebensqualität erhöhen, sondern sogar lebensverlängernd sind, wurde schon in F1 näher ausgeführt. Sexualität hört im Alter nicht auf. Sowohl Libido als auch LustDimension können weiter bestehen (individuell verschieden: gleich, vermindert oder [selten] vermehrt). Das gilt auch außerhalb des Koitus und der genitalen Sphäre, ist aber enger als vordem an die Beziehungs-Dimension gekoppelt.
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Abb. 22a Die Paarbeziehung (insbesondere eine neu aufgenommene) zwischen älteren Menschen unterliegt heute weitgehend noch einem Tabu, sowohl bei den Betroffenen selbst als auch bei der jüngeren Generation. Es herrscht in der Literatur Übereinstimmung darüber (und wir haben es auch in vorliegenden Zeilen mehrfach ausgedrückt), dass der Psychotherapeut auf allen Ebenen dazu helfen sollte, dieses Tabu zu brechen. (Mit freundlicher Bewilligung der Künstlerin Franziska Becker.)
Zur Alters-Sexualität der Frau sind die Aussagen recht unterschiedlich und teilweise kontrovers: Springer: 70–90 % sexuelle Aktivität zwischen 60 und 90 Jahren in amerikanischen Studien, in deutschen nur 3 % der über 70-Jährigen. Selbstbefriedigung in den amerikanischen Studien um ein vielfaches häufiges als in europäischen. – Es besteht also offensichtlich neben großer individueller auch große kulturspezifische Differenz. Die natürlichen großen Zäsuren merken Marianne Springer-Kremser und Katharina Leitner an: Mit der Menopause des weiblichen Partners fällt der Fortpflanzungsaspekt weg. Der genitale Geschlechtsvollzug kann fortbestehen, wird aber physiologisch seltener. Mit Beendigung der Erektionsfähigkeit des männlichen Partners tritt eine weitere zusätzliche Zäsur ein. Folgendes ist wesentlich: • Koppelung von Sexualität und Reproduktion müssen als nicht gegeben akzeptiert werden. • Andere sexuelle Aktivitäten als der Koitus müssen akzeptiert werden. • Für die Selbstbefriedigung und die wechselseitige nicht-koitale Stimulierung muss insbesondere auch das Verständnis des Pflegepersonals geweckt werden.
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Kirsten von Sydow (2001) betont, dass speziell Frauen lernen müssen, „über ihre körperlichen Wünsche zu reden“. („Ich habe gehofft, dass er selbst drauf kommt“.) Das kann auch einen reziproken Effekt haben. „… Es zeigte sich dann, dass meine Wünsche seine Möglichkeiten wieder weckten“. Es können also auch bei scheinbar koital inaktiv gewordenen Partnerbeziehungen durch entsprechende Aufklärung koitale Aktivitäten wieder in Schwung kommen. Organisch kommt es bei der Frau häufig im höheren Lebensalter zu Trockenwerden der Scheide, teilweise auch mit Jucken und Berührungsschmerzhaftigkeit. Das kann natürlich zu einem Ablehnen des geschlechtlichen Zusammenseins bei der Frau führen, muss aber keineswegs noch psychotherapeutisch behandelt werden. Hier zählt die Zusammenarbeit mit dem Gynäkologen (Gleitcreme kann eine einfache Lösung sein).
Zur Erektionsfähigkeit des Mannes gibt Kockott (übereinstimmend mit anderen Sexualwissenschaftlern) ein kontinuierliches Abnehmen ab der Lebensmitte in Häufigkeit, Intensität und Dauer an. Sie kann jedoch (mit hoher individueller Variationsbreite) bis in ein hohes Alter reichen. Eine Witz-Frage zeichnet drastisch, aber durchaus realitätsnahe die stufenweise Abnahme der koitalen Aktivität: Was sind die zwei traurigsten Tage im Leben eines Mannes? Wenn er zum ersten Mal merkt, dass es beim 2. Mal nicht mehr geht, und wenn er zum 2. Mal merkt, dass es beim 1. Mal nicht mehr geht. Die folgenden Verse werden Goethe zugeschrieben und bringt die Angelegenheit auch recht realistisch auf den Punkt: Gerne der Zeiten gedenk’ ich, da alle Glieder gelenkig bis auf eins. Doch die Zeiten sind vorüber, steif geworden alle Glieder bis auf eins. • Früher sexuell sehr aktiv gewesene Männer bleiben im höheren Lebensalter am aktivsten. • Es ist Aufmerksamkeit zu richten auf die mögliche erektionshemmende Wirkung mancher Antidepressiva, Blutdruckmittel etc. (vergl. B3). • Vaskuläre Erkrankungen, Diabetes und andere können auch im früheren Lebensalter zur erektilen Dysfunktion führen.
Über die Sexualität älterer Paare lesen wir Folgendes bei Kockott, übereinstimmend mit anderen sexualmedizinischen Schriften: • Zwischen 60 und 93 haben Alleinstehende (Männer ebenso wie Frauen) 7% sexuelle Kontakte, in Partnerschaft-Lebende mehr als die Hälfte (1 x monatlich bis 3 x wöchentlich). Sexuelle Aktivität außerhalb einer aufrechten Partnerschaft ist also im höheren Lebensalter (wie schon gesagt) selten. – Das große Altersfenster in jener Aussage zeigt uns allerdings nicht wie der altersmäßige Verlauf aussieht. Als Durchschnitt kann aber die Beendigung der koitalen Aktivität zwischen 65 und 75 angesetzt werden. In Hinblick auf die schon erwähnte große Variationsbreite sind glaubwürdige Zeugungen auch im höheren Lebensalter möglich. Die Regel ist das aber nicht. • In Europa sind mehr als die Hälfte der Paare zwischen 60 und 70 Jahren sexuell aktiv. • Deutliches Nachlassen der sexuellen Aktivitäten bei den Paaren lag erst jenseits des 75. Lebensjahres. Darin ist auch die extragenitale Sexualität mitgemeint. Im gleichen Sinn wird von Schwiegler-Darms bei über 80-Jährigen noch ein Viertel mit sexueller Aktivität berichtet.
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Sigusch hat darauf hingewiesen, dass heute gegen früher die „Appetenz-Störungen“ (Libido-Störungen) wesentlich in den Vordergrund der Sexualstörungen gerückt sind. Das gilt für Mann und Frau gleichermaßen. Für das Alter mag das (ohne „Zahlen“ zu haben, aber eindrucksmäßig) in verstärktem Maße gelten, da der „Druck“ der Sexualität geringer geworden ist und die Störanfälligkeit durch die „Abgebrauchtheit“ der Ehe zunimmt. Siehe das schon vorerwähnte stärkere Gestörtwerden durch Geräusche (Schnarchen) und Gerüche, das auch häufig zu getrennten Schlafzimmern führt, die wiederum beziehungsmindernd sind. Es geht nicht an, die Sexualität nur im Sinne der männlichen Erektion und der weiblichen Bereitschaft zum Sexualverkehr zu betrachten. Im höheren Lebensalter kommen anderen Möglichkeiten der Sexualität größere Bedeutung zu. Dazu gehören einerseits die nicht-koitalen Sexualpraktiken, anderseits und vor allem der ganze Komplex aus Hautkontakt, Zärtlichkeit, dem Gefühl von Geborgenheit und Verständnis etc. Die „Beziehung“ in der Partnerschaft gewinnt in der Sexualität der älteren Menschen – wie schon gesagt – wesentlich mehr Bedeutung als die eigentliche koitale Aktivität. Das Versiegen der koitalen Aktivität hat für den Mann allgemein wesentlich größere Bedeutung als für die Frau. Daraus resultiert für die Psychotherapie des alten Menschen laut Beier und Koll. (2001) wörtlich: Männern muss insbesondere geholfen werden vom „Phallozentrismus“ loszukommen. (Will heißen, ihren Selbstwert nicht nur an der „Verkehrstüchtigkeit“ zu messen, und sich nicht wegen der altersbedingten physiologischen Veränderungen der sexuellen Reaktionen durch negatives Denken herabzusetzen.) Für beide Partner kann eine Kommunikationszentrierte Sexualberatung bzw. -therapie (Löwit 1994) die kommunikative Sinndimension eröffnen oder vertiefen. Dadurch kann auch der Gefahr vorgebeugt werden, dass mit dem Erlöschen koitaler Aktivität im Sinne eines „alles oder nichts“-Phänomens auch jede andere Form körperlich zärtlichen Austausches endet.
Es kann bei älteren (impotenten) Männern zu einer gewissen „SpontanStrategie“ der somato-psycho-sozialen Gesamtheit kommen: Seltener versiegt die Libido (also das sexuell-erotische Empfinden). Impotenz wird dann nicht als Verlust empfunden. Häufiger hingegen ist eine gewisse Dissoziation der sexuell-erotischen Gefühle. Das kann zum Voyeurismus führen, wo das Ansehen des Liebes-Spiels, des unbekleideten Körpers und Ähnliches – ohne Anstreben und ohne auch nur die Möglichkeit von Berührung oder gar Beziehung – Lust erzeugt. Den Voyeurismus gibt es auch ohne Impotenz in verschiedener Ausprägung. Es ist durchaus physiologisch, dass ältere Männer gerne junge Frauen ansehen, auch ohne den Versuch reale Beziehungen aufzunehmen (Englisch wird von einem „girl-watcher-syndrom“ gesprochen). Das ist Frauen durchaus bewusst und wird auch ausgenützt, so etwa durch Prüfungskandidatinnen bei ihren männlichen Prüfern. Es verrutschte dabei früher gerne der Rocksaum über´s Knie. Das ist bei der heutigen Mini-Mode nicht mehr aktuell. Aber die weiblichen Attribute können ja auch anders zur Geltung gebracht werden.
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In Schnitzler’s „Fräulein Else“ verspricht ein Gläubiger, dass er seinem Schuldner eine (existenzbedrohende) Schuld erlässt, wenn sich dessen Tochter ihm nackt zeigt. Nach der dramatischen Entkleidungs-Szene der Tochter zur sozialen Rettung des Vaters erfolgt ihr Selbstmord. Heute hätte sie wahrscheinlich einen Playboy-Fotographen bestellt und Honorar dafür verlangt.
Schau-Lust allgemein kann die Intimität bereichern und ist für erfüllte Sexualität durchaus wünschenswert. Die Benützung jener Schaulust für kommerzielle Zwecke reicht von Kunst über Film, Werbung bis Peep-Show und Pornographie. Die Grenzen zwischen physiologisch und pathologisch sind – wie an den verschiedenen Beispielen gezeigt – durchaus fließend. Körperliche Behandlung bei sexuellen Störungen Auch dabei gibt es (wie schon auf mehreren anderen Gebieten der Integrierten Psychotherapie ausgedrückt) kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch, natürlich aber mit differenzierender Ziel-Indikation. Näheres darüber in den sexologischen Standardwerken (Beier und Mitarb. 2001, Sigusch). • Die Sexualtherapeuten haben eine Reihe von Techniken entwickelt, welche neben Beziehungsverbesserung auch direkt neues Sexualverhalten – über das Erlernen und Üben neuer Sexualpraktiken – kanalisieren können. • Eine hintergründige Depression kann auch die Appetenz (also die Lust zur Lust) stören. Hier kann antidepressive Pharmakotherapie Hilfestellung geben. Allerdings zu beachten: Speziell die neueren Antidepressiva (SSRI) haben neben der antidepressiven auch gewisse direkte Auswirkungen auf die Sexualität. Sie können eine Ejakulationsverzögerung bedingen (therapeutisch bei der Ejakulatio praecox verwendbar). Es kann aber damit auch eine leichte Allgemein-Verminderung der sexuellen Aktion und Appetenz verbunden sein. Wenn es sich also vordergründig um Libidostörungen bei einer Depression handelt, wird man etwa eines der „älteren“ Antidepressiva (von denen solche Wirkungen nicht bekannt sind) geben. Genannt seien das Doxepin (Sinequan®) 50 mg als einmalige Abendmedikation oder Clomipramin (Anafranil®) etwa 25 mg als morgendliche Einmaldosis unter Umständen steigerbar auf 75 mg retard. (Vergl. B3.) Allerdings geben manche Autoren dafür eine leichte Kognitionsminderung an, welche Ansicht aber nicht allgemein und nicht erwiesen ist. Das Trazodon (ein eher müdmachendes Antidepressivum) hat auch die Nebenwirkung einer fallweise leichten Erektionssteigerung. Es ist als Trittico retard® zu 50 mg und 150 mg im Handel. Als eigentliche Therapie bei Erektionsschwäche gilt es jedoch nicht. Eigenerfahrung fehlt. • Unter den Aphrodisiaka (also Mitteln, die Lust auf Lust machen) wird heute vor allem das Yohimbin anerkannt. Beier und Mitarb. (2001) empfehlen nach einer einschleichenden Dosierung von 3 x 5 mg pro Tag auf eine Langzeitmedikation mit 3 x 10 mg pro Tag überzugehen. Dabei soll nicht nur die Appetenz verbessert werden, sondern auch die Erektionsfähigkeit. Als zweites wird in dieser Indikation auch Apomorphin (4–6 mg sublingual) genannt, doch hat es als häufigste Nebenwirkung leichte bis mittelgradige Übelkeit. • Hormondefizite können durch Spiegeluntersuchungen festgestellt werden, und u. U. kann eine gezielte Hormontherapie dann Besserung bringen. – Einerseits Testosteron-Defizit beim Mann in der Involution. Hier muss allerdings sehr genau kontrolliert werden, ob nicht Anfänge eines Prostata-Karzinoms vorliegen, denn dieses wird durch Testosteron gefördert. – Anderseits bei Frauen: Androgen-Mangel insbesondere bei beidseitig ovarektomierten Frauen sowie Östrogen-Mangel (der fallweise für Lubrifikations-Störungen mitverantwortlich ist).
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• Die vielen mechanischen Eingriffe am Penis bei Erektionsstörungen (Penisprothesen, Injektion in die Schwellkörper etc.) sind heute weitgehend verdrängt worden durch das Sildenaphil (Viagra®). Dieses ist ein reines Erektions-förderndes und -verlängerndes Medikament und hat keinen Einfluss auf die Libido (Appetenz). Nebenwirkungen: evt. auf die Herzkranzgefäße. Vor allem ist die Kombination mit Nitroglyzerin-Präparaten zu vermeiden. Einige neuere Medikamente sind in der gleichen Indikation heute auf dem Markt.
Noch einige Worte zur Sexualität von Behinderten In dem mir bekannten Krankengut handelt es sich hauptsächlich um den Geschlechtsverkehr im Zusammenhang mit Gehirnschlag und mit Herzschlag. In beiden Fällen ist zu sagen, dass (natürlich) im akut-dekompensierten Zustand ein Geschlechtsverkehr nicht in Frage kommt und auch kaum erwogen wird. Hingegen gilt (wiederum für beide Arten der Erkrankung), dass im konsolidierten Stadium Geschlechtsverkehr durchaus ratsam ist. Da sowohl Angehörige wie Patienten sich häufig scheuen darüber zu reden, ist es gut, die Frage vorsichtig anzusprechen. Nur schwere Herzdekompensationen geben eine relative Gegenanzeige. Birgit Delisle und Mitarb. geben einige kasuistische Beispiele, wo derartige fehlende ärztliche Hinweise zu großer unnötiger Frustration von Patienten und Angehörigen geführt haben. Ihr Buch „Schluss mit Lust und Liebe?“ berichtet ohne Tabu über verschiedene Körperbehinderungen in Bezug auf die Möglichkeit der geschlechtlichen Betätigung. So die Zusammenarbeit mit Prostituierten für beatmete Patienten, Körperkontakt-Service für behinderte Frauen etc. Es geht auf die große Problematik des betreffenden Bereiches ehrlich und verantwortungsvoll ein.
Es folgt nun ein Ergänzungsbeitrag, der manches wiederholt, was im Vorigen schon gesagt wurde, aber aus dem weiblichen Blickwinkel. Gerade bei dem hier behandelten Thema der Sexualität schien es mir besonders wesentlich, dass ein Mann und eine Frau zu Wort kommen.
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Sexualität in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe INGE FRECH Dr. Inge Frech Univ.-Frauen-Klinik im AKH Währinger Gürtel 18-20, A-1090 Wien Telefon: +43/1/310 46 04 E-Mail: [email protected] Fachärztin für Frauenheilkunde, ausgebildet in systemischer Psychotherapie. In eigener Praxis an der psychosomatischen Ambulanz der Universitäts-Frauenklinik Wien. Vorstandsmitglied der österreichischen Gesellschaft für Psychosomatik in Gynäkologie und Geburtshilfe.
Im Bereich der Frauenheilkunde und Geburtshilfe sind Körperbild und weiblicher Selbstwert und damit auch Sexualität wichtige Themen. Auch wenn es den Anschein hat, als ob Erotik und Sexualität im klinischen Alltag keinen Stellenwert hätten, so sind sie doch präsent. So manches sexuelle Problem wird erfolgreich hinter medizinischer Diagnostik versteckt und/oder versinkt in nur scheinbar „verständnisvoller“ Wortlosigkeit. Es gilt gleichermaßen, ob wir an Erhebung einer gynäkologischen Anamnese denken oder an die vaginale Untersuchung, an die Problematik der Kontrazeption, des unerfüllten Kinderwunsches, an gynäkologische Operationen und deren Folgen wie Organverlust oder sichtbare Veränderungen, wie bei der Ablatio mammae. Primär oder sekundär sind das subjektive Körpererleben der Frau und das Sexualleben immer mitbetroffen. Auch psychosexuelle Probleme im engeren Sinn, wie Dyspareunie oder Libidomangel, sind in der Praxis und im medizinischen Alltag häufig. Egal ob sie das Thema sein dürfen oder nicht, ob sie angesprochen werden oder nicht.
Gerade wenn es um Sexualität geht, ist es für den Arzt / die Ärztin wichtig, das eigene Wertesystem zu kennen. Dazu gehört, Sexualität als Teil der eigenen Persönlichkeit und der der Patienten anzunehmen, sich mit der eigenen Wort- und Sprachlosigkeit zu konfrontieren und zu wissen, wie sehr vor allem Probleme mit der Sexualität noch immer tabuisiert werden. Sexuelle Zufriedenheit ist Teil der Gesundheit und des subjektiven Wohlbefindens. Somit sind Fragen nach dem Sexualleben auch Teil eines ganzheitlichen, psychosozialen Zugangs. Es wurde immer wieder der Versuch unternommen, Sexualität zu definieren und immer wieder ist dieser Versuch gescheitert. Eine poetische Annäherung ist der französischen Schriftstellerin Nancy Houston mit folgender Beschreibung gelungen: „Sexualität ist eine weite und reiche Dimension der
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menschlichen Existenz, die komplexen, flexiblen Sprachen der Körper, in denen sich Männer und Frauen wortlos, endlos Fragen stellen und beantworten.“ Die Schwierigkeit Sexualität umfassend zu definieren rührt unter anderem daher, dass sie viele Erlebnisdimensionen hat, die sich sowohl für die Frau selbst, als auch innerhalb ihrer Partnerschaft(en) und im Laufe ihres Lebens je nach Situation verändern können.
Sexualität ist eine Möglichkeit Beziehung zu leben und zu erleben. Sie ist Ausdruck von Nähe und Emotionalität, Zärtlichkeit und Intimität im eigenen Körper-Erleben und in der Beziehung. Sie ist Kommunikation auf körperlicher Ebene oder auch „Psychosomatik einer Beziehung“.
Das Erleben der eigenen Sexualität und die sexuelle Erlebnisfähigkeit ist von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören: soziale Verhältnisse, körperliche Gesundheit, subjektives Erleben als Frau, die Qualität der Partnerschaft bzw., ob und in welcher Form partnerschaftliche Beziehung gelebt wird, sexuelle Phantasien und Träume, frühere sexuelle Erinnerungen und Erfahrungen, Lust- bzw. Unlustgefühl, u. a. Zufriedenheit mit dem eigenen Sexualleben kann somit sicherlich nicht nur an der Koitusfrequenz gemessen werden, so wie es in Studiendesigns immer wieder zu finden ist, wenn z. B. sexuelle Veränderungen als Folge gynäkologischer Operationen untersucht werden. Dies bestätigen auch Ergebnisse von Interviews, die zeigen, dass gerade für Frauen, im Gegensatz zu Männern, sexuelle Erlebnisfähigkeit wichtiger ist als sexuelle Funktionsfähigkeit. Ich möchte nachfolgend einige Beispiele aus dem Bereich der Frauenheilkunde anführen, wo im besonderen Ausmaß somatische Kompetenz und Wissen um Zusammenhänge und Wechselwirkungen mit sexuellem Erleben notwendig sind. In Phasen großer Lebensveränderungen ist auch eine Veränderung in der Sexualität sehr wahrscheinlich. Körperliche Veränderungen, wie wir sie in der Menarche, Schwangerschaft und Geburt oder der Menopause kennen, beeinflussen immer die Fertilität und gehen mit Veränderungen im sexuellen Erleben einher. Gerade die wechselseitige Beeinflussung dieser verschiedenen Bereiche hat im Leben einer Frau große Bedeutung. Die erste normative Krise im Lebenszyklus ist die Pubertät. Es ist die Zeit der Menarche und der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Erste sexuelle Regungen, eigene Bedürfnisse und Reak-
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tionen werden wahrgenommen. Kontrazeption kann Thema werden und damit Grund zum ersten Besuch beim Frauenarzt. Die Gestaltung und das Setting der gynäkologischen Beratung und Untersuchung ist immer wichtig, ganz besonders aber bei jungen Frauen und dem ersten Arztbesuch. Ist der Frauenarzt ein Mann, können väterliche Gefühle oder wechselseitig sexuelle Attraktivität die Untersuchung und das Gespräch beeinflussen. Ist es eine Ärztin, so können mütterliche Gefühle oder weibliche Rivalität ausgelöst werden. Beides beeinflusst die Gesprächsführung und ob bzw. wie sexuelle Probleme thematisiert werden, muss daher in der Arztausbildung angesprochen und der Selbstreflexion unterworfen werden.
Eine weitere Phase großer körperlicher und psychosozialer Veränderung ist die Zeit der Schwangerschaft und Geburt. Das Wochenbett und die postpartale Phase verlangt Anpassung an eine neue Lebenssituation. Es kommt zur Kollision von Rollenbildern. Die Identität als Mutter soll integriert werden. Es stellt sich die Frage, wie weit darf eine Mutter auch Frau sein und ihre eigene Sexualität leben. Aus dem Paar wird eine Familie. Es ist der Übergang der Dyade zur Triade und eine bekanntlich konfliktreiche Zeit im Lebenszyklus eines Paares. Die Wechseljahre sind, wie schon der Name sagt, eine Zeit des Wechsels. Für manche Frauen bedeutet die Menopause eine große Herausforderung in der Bewältigung körperlicher Veränderungen, oft vergesellschaftet mit Veränderung der Libido und Lubrifikationsschwierigkeiten. Ein oft tabuisiertes Thema ist die Sexualität der alten oder älteren Frau. Es ist meist schwer für Betroffene, dieses Tabu zu brechen, auf eigene sexuelle Bedürfnisse aufmerksam zu machen und Rat bei ExpertInnen zu suchen. Hier gilt es noch viel an Aufklärungsarbeit zu leisten. Oft wird das Sexualleben nicht nur durch das „Tabu des Alters“, sondern auch durch eigene oder körperliche Erkrankungen des Partners erschwert. Jede Erkrankung der weiblichen Geschlechtsorgane kann das sexuelle Erleben verändern. Jede noch so banale Infektion, jeder Pruritus beeinflusst das subjektive Wohlbefinden, damit das Sexualleben und in weitere Folge die Partnerschaft. Bei Frauen mit chronisch rezidivierenden vaginalen Infektionen kommt es primär oder sekundär zu Veränderung der Lubrifikation und Libidoverlust, häufig zu Vulvodynie und/oder Dyspareunie mit folgender Vermeidung von Geschlechtsverkehr. Weiblicher Selbstwert, Körpererleben und Sexualität werden beeinflusst und in weiterer Folge auch die Partnerschaft. Sexuelle Intimität ist eine Möglichkeit Nähe zu erfahren, aber auch Abgrenzung zum Partner auszuüben. Hier können durch körperliche Beschwerden und durch veränderte Sexualität erste Symptome für Beziehungsschwierigkeiten spürbar und sichtbar werden.
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Weiters finden wir bei jeder gynäkologischen Operation und insbesondere bei jenen, die mit Organverlust an Gebärmutter und Brust einhergehen, eine Veränderung im Selbstbild und Körpererleben. Das Ausmaß der Veränderung ist abhängig von der Diagnose, der Intensität und Dauer der Therapie. Die Veränderung im sexuellen Erleben wird zusätzlich von bisherigen Erfahrungen, von Erwartungen und Phantasien, von Lebenssituation und Partnerschaft abhängen. Historisch gesehen ist es relativ neu, dass „Frau“ unabhängig von ihrer Gebärfähigkeit Libido und Lust, eine befriedigende Sexualität erleben darf/ soll?! Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts war dies kein Thema. Die gesellschaftliche Stellung der Frau hat sich geändert und in weiterer Folge ihre weibliche Identität, ihr Körpererleben und ihre Sexualität. Heute besteht eine (über-)große Erwartungshaltung, ständig und jederzeit eine erfüllte, aufregende Sexualität zu erleben. Medien und Sekundärliteratur geben dazu reichlich Anweisungen. Nicht selten entsteht so für die Frau ein großer Druck, diese phantasierte Erwartung zu erfüllen.
Hier ist es Aufgabe der ExpertInnen Aufklärung und Information zu leisten. Wir sind in unserer fachlichen Kompetenz gefordert uns diesen gesellschaftlichen und soziokulturellen Veränderungen zu stellen. Im Rahmen eines Gesprächsangebotes in einer begleitenden Arzt-PatientInnen-Beziehung muss die Frau Gelegenheit bekommen, über ihr Sexualleben, sexuelle Probleme, Fragen oder Ängste zu reden. Dabei ist es besonders wichtig und sicherlich nicht immer einfach, auf eigene Grenzen, aber auch Kompetenzen zu achten. Bei Sexualproblemen und/oder -störungen müssen im Sinne einer interdisziplinären Zusammenarbeit SexualmedizinerInnen oder PsychotherapeutInnen hinzugezogen werden. In ganz besonderem Maße sind hier psychosoziale und kommunikative Fähigkeiten gefordert, aber auch kritische Selbstreflexion, um Komplexität, Zusammenhänge und Wechselwirkungen in der Sexualität der Frauenheilkunde erfassen zu können. Buchempfehlung: Psychosomatische Grundversorgung in der Frauenheilkunde M. Neises, S. Ditz Thieme Verlag, Stuttgart, 2000
Psychische Erkrankungen bei Frauen A. Riecher Rössler, A. Rohde Karger Verlag, Freiburg, 2001
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Zusammenfassung zur Sexualität mit ihrer speziellen Entwicklung im höheren Alter Sexualität allgemein ist ein Paradigma für die somato-psycho-sozialen Wechselwirkungen, die in vorstehenden Zeilen schon mehrfach angesprochen wurden (A1, Abb. 2 etc.). Es ergeben sich daraus für Sexualität die kausalen 3 Dimensionen: • somatisch, • psychisch, • sozial und die 4 finalen: • Fortpflanzung, • Lust, • Beziehung, • Spiritualität. Diese Dimensionen sind in verschiedenen Altersstufen unterschiedlich gewichtet. Im Alter gewinnt die Beziehungsdimension größeres Gewicht als in jungen Jahren. Zugleich wird die genitale Sexualität schrittweise, zuerst begleitet, dann ersetzt, durch evt. andere Sexualpraktiken plus Zärtlichkeit, Hautkontakt, Geborgenheit etc. Der alte Mensch ist berechtigt sexuell zu sein und Sexualität zu haben. Daran muss er sich selbst ebenso erst gewöhnen, wie die jüngere Generation. Denn das Tabu der Alterssexualität ist noch immer ein weit verbreitetes. Der Therapeut muss versuchen, die wesentlichen Störfaktoren für seine Patienten kennenzulernen und durch ordentliche Kenntnis der Nachbargebiete auch der entsprechenden Behandlung zuzuführen (soweit er nicht selbst mit psychotherapeutischen Mitteln die Behandlung führen kann). Sie können in folgenden Feldern liegen: • Somatische Veränderungen und/oder Störungen. Diese können durch Krankheiten (z. B. Diabetes) oder Pharmaka (z. B. gewisse Antidepressiva) (mit-)verursacht sein, sowie durch das höhere Lebensalter an sich • Stimmungen und Gestimmtheit, mitbestimmt von vielen äußeren Gegebenheiten, vor allem von • Berufs-, Familien-, Partnersituation. Es ist deshalb wesentlich, die Sexualität als multifaktoriellen Komplex mit vielfachen Vernetzungen zu verstehen. Erst aus diesem Verstehen können unsere praktisch-therapeutischen Maßnahmen optimal miteinander kombiniert und zielgerichtet eingesetzt werden.
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Palliative Psychotherapie
Schlagwort-Information Die Endzustände des menschlichen Lebens müssen in einer modernen und humanen Psychotherapie – statt „abgeschoben“ – speziell angesprochen werden. Die Palliativtherapie will nicht mehr die Ursachen der Krankheit bekämpfen (da „unheilbar“). Sie hat vielmehr die Bekämpfung von Schmerzen und sonstigen Akutphänomenen zum Ziel neben allen anderen Maßnahmen, die in der Lage sind, die Lebensqualität zu heben. Dabei ist das Ineinandergreifen von körperlicher Therapie und Psychotherapie essenziell, und das Kapitel der Palliativmedizin ist somit ein Paradigma für Einsatz der Integrierten Psychotherapie, speziell auch der basalen Psychotherapie.
Ich habe über das wichtige „neue“ Thema der „Psychotherapie in der Palliativmedizin“ kürzlich ausführlicher geschrieben (Barolin 2000) und möchte dazu einige weitere Hinweise geben. Wir schließen in unsere Betrachtung einerseits unheilbar Kranke, anderseits aber auch Alterspatienten in ihrer Endphase mit ein. Sie bilden nicht etwa deshalb ein eigenes neues wichtiges Arbeitsgebiet für die Psychotherapie, weil es sie früher nicht gegeben hätte, aber: • Es gibt sie heute wesentlich mehr und länger. • Der Unheilbare ja „sterbende“ Zustand ist durch die moderne Medizin heute länger protrahiert als früher und • dementsprechend hat in letzter Zeit die Psychotherapie begonnen, sich jenen Endphasen des Lebens gezielter zuzuwenden. Es handelt sich dabei vor allem um die von uns so genannte „basale Psychotherapie“ (A4), also das psychotherapeutische Grundverständnis. Diesbezüglich ist es aber äußerst wichtig, dass die dafür in Frage Kommenden jene basale Psychotherapie 1. überhaupt wahrnehmen und 2. koordiniert wahrnehmen, sodass sie mit „einer Stimme sprechen“. Es geht das folgende Berufsgruppen an: Ärzte, Pflegeberuf, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten (soweit involviert), Seelsorger, wenn möglich bis zu den Transport- und Reinigungskräften. Hier kommt es also wiederum auf eine gut funktionierende Arbeitsgruppe (B4) an. – In Einzelfällen wird sich in
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der Arbeitsgruppe ergeben, dass die Beiziehung eines berufsspezifischen Psychotherapeuten sinnvoll sein kann, aber keineswegs immer. Den engen Zusammenhang zwischen basaler Psychotherapie und Pflege zeigt Grond (2004) plakativ auf, indem er eine 3-Z-Pflege fordert (heißt: Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit). Das steht im deutlichen Gegensatz zu dem, was Uerckwitz als 3-S-Pflege als Negativvariante plakativ bezeichnet hat (Patient soll sein: satt, sauber und still). Es kommt viel mehr auf das Wie der Pflege an, als auf das Was. Zu einer solchen kontinuierlichen (basal)psychotherapeutischen Begleitung gehört das Begleiten des Patienten selbst und auch seiner Angehörigen (Betreuer). Es muss ein sinnvolles, schonungsvolles, aber wahrheitsgemäßes Aufklärungsgespräch erfolgen. Dieses muss die schon vorerwähnte Komponente des Positivierens (B3) enthalten, also aus der „schlechten“ Wahrheit respektive Situation doch das Positive herausnehmen und in den Vordergrund stellen. Eine so mitgeteilte, auch unangenehme Wahrheit mit gleichzeitiger „positivierender“ Vermittlung des weiteren Beistandes wird allemal besser empfunden, als unklare Ängste und Verdachte (vergl. B2). Das darf nicht mit Aufdrängen verwechselt werden. Stefenelli: „Der unheilbar Kranke hat nicht nur das Recht auf Wahrheit, sondern das Vorrecht, die offenbar belegbare Wahrheit so angeboten zu bekommen, dass es ihm frei steht, diese unverzüglich oder verzögert anzunehmen oder auch nicht“. Allerdings hat Zdrahal festgestellt, dass 92 % der unheilbar Kranken Genaues wissen wollen. Eindrucksmäßig möchte ich dem zustimmen. Natürlich geht es aber um (basal) psychotherapeutisch gekonnte Aufklärung, zwar wahrheitsgemäß (wie gesagt), aber vorsichtig tastend und jeweils an die Feedback-Reaktion des Patienten angepasst. Wenn die Aufklärungsphase vorüber ist und der Patient in der 3. (Akzeptanz-)Phase ist, muss man zwar bereit sein, über seinen Wunsch mit ihm auch über den Tod, evt. damit zusammenhängende Verfügungen etc. zu sprechen, anderseits aber das berücksichtigen, was Imme-Kathrin Bertheau über die Hospizarbeit gesagt hat: Mit den Worten „über Sterben und Tod wollen wir nicht reden, wir wollen leben!“ lehnte ein großer Teil ihrer Gruppe die Beschäftigung mit dem Thema ab. Eine ganz analoge Äußerung haben wir auch von dem Buben zu hören bekommen, der etwas später unter dem Titel „Sterbebegleitung durch Hippotherapie“ referiert wird. Rhomberg, Leiter der Onkologiestation in Feldkirch, ermöglichte es eine Zeit lang, dass eine Psychiaterin bei seinen Visiten mitging. Es zeigte sich aber, dass nur einer von 10 Onkologie-Patienten Willens war ein „psychiatrisches Gespräch“ zu führen. Im Gespräch stimmte mir Rhomberg zu, dass es vielleicht auch damit zusammenhängt, dass den Patienten jenes Gespräch zu brüske offeriert wurde, ohne dass der ständig behandelnde Arzt einen guten Übergang schuf. Es unterstreicht das unsere vorgemachte Aussage, dass nur eine gute „basale Psychotherapie“ integriert in die allgemeine Routine den Weg für eine spezifische Psychotherapie beim körperlich Kranken ebnen kann (A6). Bezüglich des Aufklärens der Angehörigen muss natürlich vor allem das Einverständnis des Patienten eingeholt werden, ob man seine Angehörigen informieren darf. Das ist gesetzlich klar fundiert. Allerdings wird es manchmal im klinischen Alltag „vergessen“. – Ein still-
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schweigendes Einverständnis mit der Auskunftserteilung an die Angehörigen darf man nur annehmen, wenn der Patient nicht sprechfähig ist. Manchmal wollen die Kranken „aus Schonung“ nicht, dass die Angehörigen informiert werden. Dann ist es Aufgabe eines vernünftigen ärztlichen Gespräches mit dem Patienten, ihm klarzulegen, dass er doch die letzte Zeit gemeinsam mit den Angehörigen verleben soll und dass es für alle leichter ist, wenn sie in Kenntnis sind und zusammenarbeiten. – Ich habe mehrfach dann retrospektiv gehört, dass jene Mitteilungen und daraus folgend die wechselseitige Aufklärung allseits große Erleichterungen ausgelöst haben und die Möglichkeit eines sinnvollen terminalen Kontaktes gaben. Manchmal sind aber auch alte Feindschaften zwischen den Generationen der Grund, dass keine Auskunftserteilung an die Angehörigen gewünscht wird. Das sollte man dann nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern zum Anlass psychotherapeutisch orientierter Gespräche, die versuchen, alte Brücken wieder gangbar zu machen oder neue herzustellen (vergl. F1). Denn schließlich fällt auch für den unheilbar Kranken das Abschiednehmen leichter, wenn ein befriedetes Territorium hinter ihm liegt. – Das wäre auch ein Fall zur Beiziehung eines berufsspezifischen Psychotherapeuten (vergl. auch Abschnitt B). Weiters gibt es die Angst davor, Kinder etwas von schwerer Krankheit wissen zu lassen. Das entspricht einer völlig falschen Einschätzung. Bei mir war im Krankenhaus immer ein großer Anschlag an der Wand: „Kinder jederzeit willkommen“. Denn es ist für ein Kind viel beängstigender und bedrückender zu merken, dass etwas hinter seinem Rücken vorgeht, als wenn man klar mit ihm über Leben, Tod und schwere Krankheit spricht. Ich sage den Eltern auch immer etwa: „Lassen sie das Kind nur hinein. Es ist sehr wichtig, wenn es sieht, wie lieb Sie mit dem alten Herrn (oder der Dame) umgehen; und dann haben Sie bessere Chancen, dass Ihre Kinder auch lieb zu Ihnen sind, wenn Sie in die gleiche Lage kommen sollten“. Oft blühen die alten Menschen richtig auf, wenn die Kinder zu ihnen kommen (auch nur für ein paar Minuten, denn
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man soll diese nicht überfordern!) und für die Kinder ist es ein wichtiges positiv erzieherisches Erlebnis, welches das ganze Leben nachwirken kann. Angehörigengruppen können und sollen die Angehörigen entlasten. Sie sind natürlich vor allem bei lang bestehen bleibenden unheilbaren Krankheiten respektive Behinderungszuständen besonders aktuell. „Angehörigenurlaub“ siehe F1. Wichtig ist auch die Permanenz des Gespräches (vergleiche Abb. 8 in B2), denn eine einmalige Mitteilung wird meistens nur zu einem Bruchteil verstanden und aufgenommen. Unabhängig davon hat der Patient meist das Bedürfnis mehrmals über derart schwerwiegende Dinge zu sprechen.
Das Gespräch mit dem unheilbar Kranken Patient und Angehörige gleichermaßen Typischer Phasenverlauf bei unheilbarer Erkrankung Alle Möglichkeiten gegeben von: Vermischung und Überlappung / zeitlich und inhaltlich 1. Verleugnung 2. Auseinandersetzung a) aggressiv b) regressiv (meist depressiv) 3. Akzeptanz / Inhaltsfindung / Strategie
Die Rolle des Arztes dabei: Kompetenz + Ehrlichkeit + Empathie + Methodik + „Positivieren“ + Permanenz 1. Gespräch mehrfach beginnen und beant worten nicht aufdrängen / Hoffnung relativieren a) mit Patient – Wahrheit (taktvoll) / Positives hervorheben b) mit Angehörigen: – Negativ-Auswirkung / Positiv-Strategie 2. Zur Begleitung bereit sein Abb. 23 Die Begleitung des unheilbar Kranken und Sterbenden gehört zur basalen Psychotherapie, bedarf der Kenntnis und Berücksichtigung des dabei regelhaft auftretenden phasenhaften Verlaufes. Der Gedanke zu einem derartigen Schema kam erstmals von Kübler-Ross. Es wurde aber anhand eigener Erfahrung beträchtlich modifiziert.
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Abb. 23 zeigt die typischerweise beim Patienten (aber auch bei seinen Angehörigen) auftretenden „Phasen“ in der Haltung seiner unheilbaren Erkrankung gegenüber. Diese Phasen sind natürlich nicht streng chronologisch aufzufassen, sondern sie kommen in mehrfachen Überlappungen und Rückschritten verschiedenartig zum Tragen. Für den Therapeuten ist es wichtig, derartige phasische Entwicklungen zu kennen, um etwa einmalige aggressive Reaktionen des Patienten oder der Angehörigen nicht als „Manierlosigkeit“ aufzufassen und die Behandlung deshalb abzubrechen, sondern sie als phasentypisch zu erkennen und entsprechend die Türe offen zu lassen. Jenen subjektiven Phasen in der Einstellung des Kranken selbst und seiner Angehörigen stellt Klaschik die objektiven Phasen gegenüber, welche sich aus dem Allgemeinzustand des Patienten ergeben. Auch diese müssen natürlich vom Psychotherapeuten gekannt und in der Zielsetzung der Psychotherapie berücksichtigt werden. Sie stellen sich wie folgt dar: 1. Phase der (noch) vorhandenen Mobilität, wo man zeitbegrenzte Rehabilitation einsetzt. 2. Die Terminphase während der letzten Wochen respektive Monate, wo die Aktivitäten des Patienten zunehmend eingeschränkter werden. 3. Die Finalphase ist die Sterbephase und bezieht sich auf die letzten Stunden bzw. Tage des Lebens.
Es ist also in der Palliativtherapie ein Stufenplan geboten, der sich an dem jeweiligen psychischen + körperlichen Zustand orientiert. Die Entscheidung zum Übergang auf Palliativtherapie und zur Art der Auskunftserteilung wurde in meinem Arbeitskreis immer in einem Gespräch der Arbeitsgruppe getroffen, bei welchem die Hierarchie ausgeschaltet war (Hierarchie-freier Raum vergleiche Kap. B4). In jene Gruppenbesprechung wurden sämtliche bei der Visite anwesenden Personen miteinbezogen, einschließlich Pflegepersonen und Famulanten. Denn es sollte niemand das Gefühl haben, hier wird etwas sinnvoll Lebenserhaltendes für den Patienten verabsäumt. – Derartige Gespräche waren keine Zeremonie, sondern fanden bei der Visite (natürlich außerhalb Hörweite des Patienten) jeweils kurz statt.
Wichtig ist (wie überall in der Rehabilitation – und Palliativtherapie gehört im weiteren Sinn dazu) der Kontakt und die Einbeziehung der Angehörigen, jedoch in richtiger Weise! Es geht nämlich nicht an, diese „um Erlaubnis zu fragen“, wie es fälschlich noch immer fallweise gemacht wird. 1. Handelt es sich rechtlich um eine rein ärztliche Entscheidung, welche der Arzt zu treffen hat und wozu der Angehörige gar nicht berechtigt ist, und 2. wären die Angehörigen (natürlich) emotional und sachlich weit überfordert.
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Wir vermeiden bewusst den (leider vielfach üblichen) Ausdruck „Therapieabbruch“. Denn wir brechen ja keine Therapie ab, sondern gehen auf die (noch) einzig sinnvolle über. Wir haben früher von „Übergang auf Therapia minima“ gesprochen, doch glaube ich, uns jetzt dahingehend korrigieren zu müssen, dass es ja keine „minima“ ist, sondern die größte und beste im derzeitigen Stadium mögliche Therapie. So wird es auch den Angehörigen vermittelt. In vorstehender Abb. 23 ist schon gezeigt, dass wir den Patienten in etwas anderer Weise aufklären als seine Angehörigen. Wahrhaftigkeit ist in allen Fällen geboten. Aber dem Patienten werden wir im Sinne des „Positivierens“ (B2) die positive Entwicklungsmöglichkeit betonen. Die Angehörigen sollten aber doch mehr auch mit den negativen Weiterentwicklungen vertraut sein, dass sie nicht dann plötzlich „aus allen Wolken gefallen sind“ und sich beschweren „Warum hat man uns das nicht gesagt?“. Aber auch dabei gibt es ein „Positivieren“, indem wir ihnen klar machen, in welcher Weise sie auch noch bei dem Schwerkranken nützlich sein können, ihm eine Freude machen, etc.
Der Begriff der „Lebensqualität“ Dieser kam in Vorgesagtem schon mehrfach vor. Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen und Aussagen wie folgt. In Kap. F2 bei der Rehabilitation wurde schon gezeigt, dass Lebensqualität keineswegs gleichzusetzen ist mit Gesundheit. Die menschliche Beziehung und auch die Möglichkeit zu einer sinnvollen Tätigkeit wurden als die wesentlichsten Faktoren für die Lebensqualität aufgezeigt. – Letzteres gilt natürlich nur dort, wo „Tätigkeit“ noch möglich ist. Die menschliche Beziehung bleibt aber bis ans Ende eine wesentliche, wenn nicht die wesentlichste Komponente. Keineswegs darf Lebensqualität aber in Bezug gesetzt werden zu Begriffen wie „Lebenswert“ und „Lebensunwert“. Diese entstammen der nationalsozialistischen Mordideologie und haben in einer humanen Medizin nichts zu suchen. Möse (2003) hat ein Buch mit Titel „Lebensqualität 40 plus“ geschrieben (wo er demgemäß die ältere Generation anspricht). Er definiert Lebensqualität mit „geistiges und soziales Wohlbefinden“. Hierbei ist aber wohl nur an die noch rüstigen Alten gedacht. Auch Likar und Bernatzky haben ein ganzes Buch der Lebensqualität im Alter gewidmet. Anne Maria Möller-Leimkühler verwendet die Ausdrücke „Dissonanz“ (gute objektive Bedingungen und schlechte Zufriedenheit) sowie „Adaption“ (schlechte Lebensbedingungen bei guter Zufriedenheit). Es wird also im gleichen Sinn wie nach unseren Untersuchungen (F2) festgestellt, dass objektiver körperlicher Befund und subjektive Lebensqualität sehr weit divergieren können. Die Lebensqualität des schwerkranken und sehr alten Menschen wird von den Intensivmedizinern Bernard und Kröll angesprochen (von mir etwas modifiziert): Lebensqualität ist die Fähigkeit zu einem bewussten und umweltbezogenen Leben, ohne das subjektive Wohlbefinden dauernd beeinträchtigende Begleitfaktoren (wie etwa Schmerzen). Überwiegend geht es dabei um aktive Teilnahme, doch schließt die Reduzierung auf passive Teilnahme die Lebensqualität nicht aus. Martina Schmidl beruft sich auf die Definition von Bullinger: „Die vom Patienten selbst erlebte Befindlichkeit und Funktionsfähigkeit ....“. Wichtig ist, dass die Person selbst gefragt wird! Auch für (hochgradig) Demente gebe es noch Lebensqualität. Wichtig dafür ist die Möglichkeit der Kommunikation. Diese muss also möglichst in Gang zu halten versucht werden (speziell dann, wenn es zunehmend schwieriger wird). Marina Kojer (2004) betont, dass auch der Sterbende noch Lebensqualität haben kann, wenn wir ihm helfen „die bestmögliche Lebensentfaltung in der ihm auferlegten Begrenzung
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haben zu können“. Für die Palliativmedizin folgt sie der Definition von Aulbert: Eine dem eigenen Lebensentwurf entsprechende Daseinserfüllung. Dazu gehört: • Gekonnte Schmerztherapie, • Empathische Kommunikation ohne vorgetäuschten Optimismus (auch im Gespräch mit Angehörigen), • Möglichste Erfüllung der individuellen Bedürfnisse (keine starre Krankenhausroutine) und vor allem auch, • Verfügbarsein, wenn man gewünscht und gebraucht wird (In Abschnitt B als „Permanenzprinzip des ärztlichen Gespräches“ bezeichnet). Dass das in der heutigen hektischen Spitalsroutine nicht leicht ist, wissen wir alle. Deshalb werden jetzt auch vermehrt Hospizstationen propagiert, in denen spezielles Gewicht auf jene kommunikativen Dimensionen gelegt wird, weil die diagnostische und kurrative Dimension nicht mehr zählt. Der Depressive hat schlechte Lebensqualität. Aber wir haben die Möglichkeit durch Behandlung der Depression Lebensqualität für ihn wieder herzustellen.
Damit sind die wesentlichen Faktoren, welche für die Lebensqualität maßgebend sind, aufgezeigt. Der Psychotherapeut (Arzt für Psychotherapie) in seiner – im Sinne von integriert – über das Psychotherapeutische im engeren Sinn hinausgehende Tätigkeit bei dem alten und evt. (schwer-)kranken Menschen muss an jene Faktoren denken und sie fazilitieren. Wesentlich ist es kurzfristige Ziele anzusprechen, die Freude bereiten können. Dazu gehört das aktive Organisieren von Kinderbesuchen. Es kann kurzfristige deutliche Lebensqualität geben, trotz objektiv schlechten Zustandes und auch ohne Besserungshoffnung. Ein Patient mit amyotropher Lateralsklerose, der ebenso wie seine Familie über die Unheilbarkeit voll aufgeklärt war (er gehörte zu jenen erwähnten Patienten, die darüber, ebenso wie ihre Familie, sehr erleichtert waren, da man nicht mehr voreinander Versteckenspielen musste), ersuchte um einen Rehabilitationsaufenthalt (mit Stoffwechsel-fördernden Infusionen und Physikaltherapie, die seinen Zustand immer wieder ein bisschen gebessert hatten) zu einem bestimmten Zeitpunkt. Auf die Frage „warum dann?“: „Weil einen Monat später mein Sohn heiratet und da will ich möglichst gut beisammen sein“. Er erhielt viel Familienbesuch und war dabei ausgesprochen guter Dinge. Bald nach der Hochzeit verstarb er. Wir bekamen ein großes Foto, wo er im Rollstuhl und mit freundlichem Lächeln bei einer Trachtenhochzeit dabei war, mit vielen Unterschriften und Danksagungen.
Mit den verschiedenen hier aufgezeigten Strategien ist es mir häufig gelungen, Lebensqualität bei unheilbar Kranken zu optimieren, häufig, aber keineswegs immer! Das Gespräch mit dem unheilbar Kranken muss immer berücksichtigen, dass dieser – auch wenn er voll aufgeklärt, selbst von seiner schlechten Prognose spricht – häufig daneben noch eine „zweite Wahrheit“ hat, die ihm das Gegenteil bedeutet. 1.) Die Schwester eines guten Freundes litt an einem metastasierten Mamma-Karzinom. Die Ausweglosigkeit war ihr bekannt. Aufgrund guter persönlicher Beziehungen flog ich ins Ausland, um sie noch einmal zu sehen. Im Rahmen des kurzen Aufenthaltes unterhielten wir uns
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mehrfach und lange. Wir sprachen über ihre Familie, ihre Kinder und deren Zukunft etc. Die aussichtslose Diagnose wurde nicht näher angesprochen, aber auch nicht in Frage gestellt. Sie schien gefasst, das Gespräch schien ihr wohl zu tun. – 20 Jahre später, bei einem Treffen mit dem mir befreundeten Bruder, machte er mir Vorwürfe über mein Gespräch. Sie hätte sich danach bei ihm ausgeweint und gesagt: „Muss ich denn wirklich sterben?“. Das mag die mögliche Diskrepanz von objektiven Inhalten und Gefühlen aufzeigen. 2.) Ein Freund von mir litt an einem Pankreas-Karzinom mit Lebermetastasen. Er fragte mich nie direkt nach der Prognose, gab aber zu verstehen, dass er sehr wohl von der Hoffnungslosigkeit überzeugt sei, trotz Chemotherapie etc. Wir sprachen von der Überlebenswahrscheinlichkeit. Ich weigerte mich, ihm dafür Termine anzugeben, sagte ihm aber, dass er auf jeden Fall so leben soll, dass alles gut geordnet ist und gab ihm sogar (entgegen den psychotherapeutischen „Regeln“) den dringenden Rat, seine langjährige Freundin, noch zu heiraten. Sie hatte ihn während der ganzen Zeit bestens versorgt und zeigte sich auch final bei der Pflege noch sehr fürsorglich. Er tat es nicht. Nach seinem Tod bekam die Freundin natürlich die obligaten Schwierigkeiten bei gewissen Erbanteilen, die er ihr vermacht hatte. Sie musste als Unverheiratete sehr viel Steuer zahlen und war darüber frustriert. – Hätte ich ihn noch härter aufklären sollen und ihm auch die ganzen Steuer- und Erbfolgen erklären? Ich weiß es nicht. In seinem Sinne wäre es sicherlich gewesen, dass die Freundin nicht um 30% weniger erbt.
Klassische Anti-Kommunikation (B4) hat aber eine Ärztin gemacht (offensichtlich in Verkennung von Aufklärungspflicht und mit missverstandenem „Positivieren“). Es wurde nicht der postoperative Verlauf der Krankheit positivierend dargestellt, sondern das Sterben, welches noch gar nicht zur Debatte stand. Noch dazu direkt nach einer Operation, wo natürlich Hoffnungen für die Patientin essenziell waren. Zu einer Karzinom-Patientin kam unmittelbar nach der Operation eine junge Ärztin und sagte ungefähr Folgendes (Mitteilung der Patientin – ich weiß natürlich nicht, ob es wirklich so arg war, jedenfalls angekommen ist es so): „Sie haben eine sehr schwere Krankheit und es steht ihnen allerhand Unangenehmes bevor.“ Sie schilderte dann die Beschwerden durch die kommende Chemotherapie: Übelkeit, Haarausfall. Irgendwelche Mitteilungen über die gut verlaufende Operation und die Chancen durch die Chemotherapie wurden nicht gegeben. Hingegen: „Aber es ist eine barmherzige Krankheit, man schläft daran letztlich ruhig ein!“ – Die Patientin (und das scheint verständlich) schrie die Ärztin an, sofort ihr Zimmer zu verlassen, und wolle sie nicht mehr sehen. Dass die Patientin dann in eine tiefe Depression mit völliger Ablehnung der Ärzte verfiel, war auch durch einige weitere unglückliche Erfahrungen mit Ärzten bedingt. So wurde sie ein Jahr lang fehldiagnostiziert. Verbrennungen durch die nachherigen Bestrahlungen wurden nicht behandelt. Sie wurde einfach damit weggeschickt etc. Sie wollte überhaupt mit keinem Arzt mehr etwas zu tun haben und gab sich nur mehr in die Hände von Naturheilern (die bekanntlich wenigstens ordentlich reden mit dem Patienten!). – Ich versuchte sie durch mehrfaches Zureden und Erklären aus dieser, für sie lebensgefährlichen Haltung wieder in eine vernünftige zurückzuholen. – Aber dank etlicher kontraproduktiver Vorärzte misslang das.
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Somit ist Lebensqualität kein feststehender Begriff, vielmehr von körperlichen und seelischen Faktoren des Patienten abhängig. In diese spielen äußere Faktoren wesentlich mit hinein, vor allem Beziehung, Kommunikation und Therapie. Dazu kommt möglichst lange Erhaltung einer sinnvollen Tätigkeit und Autonomie. Auch die persönliche Würde muss ein wichtiges Anliegen sein sowie die Möglichkeit Freude zu haben. Die Bewertung der Lebensqualität ist immer vom Patienten selbst respektive aus seiner Sicht zu machen. Es gibt aber Erfahrungswerte, die auch in den Versuch einer Bewertung von außen einfließen können. Die Definitionen variieren je nach den Behinderungsgruppen, die man erfassen will. Jedenfalls ist aber die Beurteilung nach einem isolierten Kriterium unzulässig (etwa die „Hoffnungslosigkeit einer unheilbaren Erkrankung“).
Die wesentlichen Kriterien der Palliativtherapie Diese sind durch Bünte gut dargestellt wie folgt (durch mich in einigen Punkten variiert und erweitert). Zu unterbleiben haben: • Diagnostik, die mit den darauf aufgebauten Eingriffen keine Erhöhung der Lebensqualität bringt. • Kardiale kreislaufstützende Medikation ebenso wie Infektionsbekämpfung (Antibiotika). • Behandlung von Organversagen (z. B. Dialyse oder Schrittmacherimplantation). Hingegen sind indiziert und besonders zu forcieren: • Schmerzbehandlung (ohne Scheu vor Opiaten in höchster Dosierung „quantum satis“), • Tranquillizer und Neuroleptika zur Angst- und Unruhedämpfung, • Verbesserung des Lebenskomforts (z. B. durch Cortisonbehandlung in kleinen Dosen), • Behandlung akuter Beschwerden (z. B. die Beseitigung eines Asthma-Anfalls, einer Angina pectoris oder eines Illeus).
Es ist festzuhalten, dass weder das oben angeführte Weglassen von Medikamenten noch eine evt. Lebensverkürzung durch Hochdosierung der indizierten Medikamente als aktive Sterbehilfe (siehe nachfolgend) klassifiziert werden kann. Opioide sind bei Schmerzen zu geben, aber nicht „irgendetwas geben“, sondern nach einem WHO-4-Stufen-Plan, der auf alle Fälle (quantum satis) bis zur Schmerzbeherrschung führt. (Bernatzky und Mitarb.) 1. 2. 3. 4.
Stufe: Nicht-Opioid-Analgetika wie Metamizol (Novalgin®, etc.) Stufe: Schwache Opioide und Nicht-Opioid-Analgetika: Tramadol (Tramal®, etc.) Stufe: Starke Opioide wie Hydromorphon (Hydal®, etc.) Stufe: Starke Opioide in rückenmarksnaher Applikation.
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Auf allen Stufen kommt eine Kombination mit Nicht-Opioid-Analgetika und Adjuvantien in Frage, auch niederpotente Neuroleptika, die stark müdmachend respektive einschläfernd wirken können, etwa Chlorprotixen (Truxal®), 1 Ampulle á 50 mg, wenn es notwendig ist mehr (quantum satis). Letzteres ist vor allem günstig auch bei ängstlicher Agitiertheit des Patienten. Die mögliche Kreislauf-depressorische Komponente hat im Sinne Obgesagtem hintanzustehen hinter der entängstigenden Hebung der (Rest-)Lebensqualität. Die Algologen betonen, dass die modernen Opioide nur eine geringe Atem-depressorische Komponente haben, somit kaum eine Lebensverkürzung in Frage kommt. Das Suchtpotenzial kann in der Palliativmedizin überhaupt vernachlässigt werden. Hydromorphon (Hydral®) ist überdies mit wesentlich weniger Nebenwirkungen behaftet (vor allem Müdigkeit, Obstipation), als die älteren Präparate. Man kann es in der Retard-Form 2 x täglich geben, in notwendiger Dosierung 2, 4, 8, 16 mg. Eine rasch (schon in etwa 1 Stunde) wirksame Form mit 1,3 und 2,6 mg ist ebenfalls bewährt (laut Mitteilungen von Kojer).
Bei 24 % der Patienten wird in der Palliativtherapie die Lebensqualität durch Schmerzen beeinträchtigt, jedoch bei 52 % durch die Fatigue (das ist allgemeine körperliche und psychische Schlappheit und Antriebslosigkeit). Almuth Sellschopp hat festgestellt, dass die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Fatigue von den Ärzten gegenüber den Schmerzen als wesentlich geringer erachtet wird, als es dem subjektiven Empfinden der Patienten entspricht. Therapeutisch geht es um ursächliche + allgemeine Maßnahmen (Hausmaninger plus eigene Ergänzungen): • • • •
Cortikosteroide Erytropoetin bei bestehender Anämie Depressionsbehandlung (F2). Hypo-Tonie-Behandlung; wird im Alter nicht selten übersehen, weil man ärztlich auf die Hyper-Tonie stark fixiert ist. Zusammen mit einer verminderten Herzleistung kann aber der hypotone Alterspatient leicht die Kriterien der Fatigue respektive Pseudodepression aufweisen.
Den Angehörigen gegenüber gehört es auch zu den psychotherapeutischen Aufgaben (die man evt. sinnvoll mit dem Seelsorger teilt und/oder wechselseitig ergänzt), ein Abschiednehmen vom sterbenden Patienten zu erleichtern. Es geht dabei um sensible empathische und zugleich fachgerechte Gespräche, auf welche in vorliegenden Zeilen ja schon vielfach hingewiesen wurde. Dass sehr wohl Kinder zu dem Schwerkranken und Sterbenden mitgenommen werden sollen, habe ich schon erwähnt. Es bezieht sich das auch aufs Abschiednehmen. Ein trauriges Beispiel hingegen von sogar „seelsorgerischer Antikommunikation“ verdanke ich Drees (2001). Es zeigt, wie wichtig es ist, auf diese scheinbar so selbstverständlichen Dinge immer wieder hinzuweisen und reiht sich unrühmlich in die Reihe der in Kap. B4 beispielhaft aufgezeigten üblen ärztlichen Gespräche ein. Während die Angehörigen bei einem schwer Traumatisierten, der nur noch über Schläuche und Leitungen „lebte“, anwesend und auch der Meinung waren, er könne sie noch verstehen, hatte
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der Seelsorger und Vertreter der Ethik-Kommission des Krankenhauses nichts Dringenderes zu tun als sie von der baldigen „Abschaltung“ des Patienten zu informieren da das Gerät bei einem anderen gebraucht würde. Auf den Einwand, dass sich der Patient ja noch bewegte, wusste er nichts Passenderes zu sagen als den Vergleich mit einem Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat, und das trotzdem noch flattert. Der Psychotherapeut konnte dann die Fortsetzung der künstlichen Lebenserhaltung entgegen dem brutalen Vorgehen des Seelsorgers (der wohl diese Berufsbezeichnung keineswegs verdient!) für weitere 3 Tage erwirken und damit ein ordentliches Abschiednehmen der Angehörigen von ihrem sterbenden Patienten ermöglichen.
Ein beachtliches Beispiel für Hippotherapie als psychotherapeutische Sterbebegleitung hat Kai gebracht. (Näheres über Hippotherapie siehe im Kap. F6). Der Berichtende ist Krankenhausseelsorger und besitzt einige Pferde für therapeutisches Voltigieren. (Es ist mir besonders willkommen, nach obigem Beispiel einer „negativen Seelsorge“ das mehrfach positive Beispiel einer über den Körper gehenden Psychotherapie in glücklicher Vereinigung mit Seelsorge geben zu können). Ein Bub mit inoperablem Hirntumor wurde einer Chemotherapie unterzogen. Er hatte starke Beschwerden, sein Aktionsradius nahm ab. Er wurde im Rollstuhl geführt. Er hasste es, wenn Menschen ihn auf seine Krankheit ansprachen und bemitleideten. Seine Aussage dazu: „Jetzt lebe ich; noch bin ich nicht tot!“ Die Beziehung zum Therapeuten begann schwierig. Erst nach einigen Besuchen, zu denen der Therapeut – wie er ehrlich sagt – sich selbst überwinden musste, konnte über Tierfotos und Gespräch über Tiere eine gewisse Beziehung etabliert werden, in der sich der Patient aber dann stärker engagierte, als er von den Tieren des Therapeuten (vor allem seinen Pferden) erfuhr. Nach Beratung mit dem Arzt wurde der Bub mittels Rollstuhl zum Hof und der Koppel gebracht, beobachtete eine Stunde lang still die Pferde, wollte dabei nicht gestört werden, sagte dann plötzlich: „Am liebsten würde ich auf einem Pferd sitzen und spazieren reiten.“ Er war höchst überrascht, dass dies jetzt gleich möglich war. Zur Überraschung des Therapeuten und der anwesenden Familie sprang er vom Rollstuhl auf, und er war begeistert, zusammen mit seiner Familie das Pferd zu putzen (hier ist einzuschieben, dass das Putzen des Pferdes vor dem Aufsitzen, intensiven Körperkontakt und Vertrautheit ergibt. Es ist also keineswegs nur eine Reinlichkeitspedanterie). Dem Buben wurde auf das Pferd geholfen immer mit dem Hinweis, dass er sofort irgendwelche unangenehmen Sensationen oder Schmerzen mitteilen sollte, da man dann pausieren würde. Es ging dann in der Art der Hippotherapie weiter. Ein Pferdeführer und einer, der sicherheitshalber neben dem Patienten herging. Aber der Bub nahm nun seine Probleme selbst in die Hand und war richtig neugierig, was man auf einem Pferd noch alles machen kann. So gelang das aufrechte Knien auf dem im Schritt gehenden Pferd, die sogenannte Mühle und auch verschiedene Ballspiele, an denen auch die Schwester teilnahm. Schließlich ritt er dann noch gemeinsam mit seiner Schwester und dann mit einem Freund am geführten Pferd ins Gelände. In wöchentlichen Abständen wurden solche therapeutischen Reitstunden mit dem Buben gemacht. Seine Stimmung war allgemein auch während den Intervallen wesentlich besser und er freute sich immer schon auf die Ausritte. Er wurde der Krankheit zufolge immer schwächer, konnte keine Übungen mehr auf dem Pferd machen und wollte nur mehr ein bisschen spazieren geführt werden. Drei Tage nach der 4. Stunde rief die Mutter an, dass der Bub friedlich eingeschlafen sei. Seine Eltern und die Schwester kommen aber auch jetzt noch regelmäßig auf Erholung zum Therapeuten und die Schwester ist eine begeisterte Voltigiererin geworden.
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Diese Kasuistik illustriert mehrlei deutlicher, als nur theoretische Erwägungen. • Die psychotherapeutische Wirkung der Hippotherapie auch in äußerst lebenskritischen Phasen wie der Sterbephase. • Der Therapeut muss über die ersten Ablehnungen des Patienten hinwegsehen können, da sie ja nicht ihm gelten, sondern ein Ausdruck der (physiologischen) aggressiven Auseinandersetzung mit der Krankheit sind (Abb. 23). Hier gilt es also nicht, dass wir nur zum Patienten kommen, wenn er uns darum bittet, sondern ihm unter Umständen sogar „nachlaufen“. • Die glückliche Einbindung der Familie in die Integrierte Psychotherapie (hier Hippotherapie als Psychotherapie), die dann auch noch nachdauerte in Erleichterung des Abschieds vom Verstorbenen. • Einen gewissen Einblick in die Psyche von hoffnungslos erkrankten Kindern, die sich als lebend fühlen, für die Bewegung und Lebendigsein eine der wichtigsten Prioritäten darstellt. Es gilt zwar eventuelle Gespräche über das Sterben nicht auszuschließen, aber nur, wenn der Patient will; und ansonsten lieber die positiven Ressourcen ins Gespräch zu bringen. Ähnliche Gedanken finden sich auch im Drees-Artikel (VIII). Und nicht nur für Kinder, sondern allgemein in der Sterbebegleitung gilt es Sinn und Freude in die Terminalphase einzubringen durch psychotherapeutisches Gespräch und evt. auch andere psychotherapeutische Maßnahmen (Musik, Tiere, etc.). Organentnahme Bei diesem heiklen Thema hat eine gelernte, aber auch entsprechend eingestellte, basale Psychotherapie ihren wichtigen Platz. Rechtlich sind wir in Österreich nicht an die „Erlaubnis“ der Angehörigen zu einer Organspende gebunden. Aber wenn das Thema von den Angehörigen aufgebracht wird, geben wir selbstverständlich wahrheitsgemäß Auskunft und wenn ein absolutes „Nein“ zur Organentnahme kommt, sehen wir von dieser ab. Im Gespräch weisen wir darauf hin, dass der Patient schon absolut tot ist, aber sein Organ ein anderes Leben retten kann. Es erfolgt also auch dabei ein situationsangemessenes „Positivieren“. Dass das Gespräch dabei feinfühlig und empathisch zu führen ist, braucht man wohl kaum zu erwähnen. Umso weniger sollte man sich aber davor drücken oder es als Leiter an andere delegieren, die sich vielleicht schwerer damit tun oder es noch nicht so gelernt haben. Im folgend berichteten Fall erfolgte das Positivieren durch die Mutter des Verstorbenen selbst in einer Art und mit einem Inhalt, wie ich es mich als Psychotherapeut nie zu sagen getraut hätte.
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Ein 17-jähriger Bursch schoss sich nach einem häuslichen Streit in den Kopf. Er verstarb auf der Intensivstation unter künstlicher Beatmung, war also ein sogenannter „idealer“ Organspender. Es erfolgte ein empathisches Gespräch mit der Mutter (die – verständlicherweise – primär strikt gegen eine Organentnahme war) im obigen Sinn, und sie sagte dann: „Ich bin froh darüber, dass das Herz meines Sohnes in einem Anderen weiterschlagen wird.“ Mir verschlug es die Rede. Ich konnte der Frau nur die Hand drücken und hatte dabei feuchte Augen.
Auch wenn der rational sprachliche Zugang zu schwer gestörten Menschen nicht (mehr) möglich ist (Demente, Komatöse), kann durch Körperkontakt, Sprechen in freundlichem Ton noch deutlich Entängstigung und dadurch auch Verhaltensbesserung erzielt werden. Das gehört in den Komplex der basalen Stimulation. Kojer sagt, dass es hierbei nicht nur um das ethische Postulat geht, den schwer geschädigten Menschen nicht fallen zu lassen, sondern, dass die Befassung mit derartigen Menschen auch für den Therapeuten eine Befriedigung, ja Bereicherung, darstellen kann. Die Technik der basalen Stimulation (im Sinne [der Krankenschwester] Christa Bienstein, siehe auch Roßmanith: II, A2) – Aufgabengebiet einer fortschrittlichen Pflege – zeigt einmal mehr, das notwendige Übergreifen integrierter Psychotherapie auf die Nachbargebiete respektive Zusammenarbeit mit diesen. Es wird die Wahrnehmung des Patienten dadurch trainiert, dass man bei verschiedenen pflegerischen Aktionen ihn über verschiedene Sinneskanäle anspricht. Etwa: raue Handtücher und Waschflecke für das Tastgefühl; in seinem Wahrnehmungsbereich angebrachte Bilder der Familie. Das kann auch begleitet werden von Musik und routinemäßig (wie bei jeder guten Pflege) von ständigem Gespräch und Erklärung (ergänzt durch Frick pers. Mitt.), entsprechend der These, dass Empfindungen, die wir aus dem Mutterleib kennen, diejenigen sind, die man auch in einem stark abgebauten Stadium noch am ehesten wahrnimmt (vor allem Gehör, Berührung, Vibration, Grenzempfindung). Berührungen müssen stark sein, aber nicht fesselnd. Es wird auch Verstärken des Atemrhythmus durch leichten Druck auf die Brust verwendet, ebenso wie verschiedene Rückenmassagen. Aufwärtsstreichen ergibt Stimulation, Abwärtsstreichen Beruhigung. Leicht kreisende Massage kann Atem-stimulierend sein. (Pirker pers. Mitt. auch in A1.)
Für das Gespräch mit dem Komatösen, oder besser bei dem Komatösen ist wesentlich auf das beim Gespräch allgemein Gesagte (B1) hinzuweisen. Es darf nichts beim Patienten gesprochen werden, das er nicht hören dürfte. Auch die bedside-teaching-Gespräche müssen alle Ausdrücke wie „hoffnungslos“ und Ähnliches vermeiden, wenn auch der Patient scheinbar nichts versteht. Es ist zu betonen, dass das eben doch fallweise nur „scheinbar“ ist, denn wir wissen von manchen aus dem Koma erwachten Patienten manches, was vor ihnen über sie gesprochen wurde. Auch wissen wir durch die moderne Technik von den Monitoren, wie auch bei scheinbar völlig bewusstlosen Patienten das Ansprechen in verschiedenem Tonfall und die freundliche Berührung ganz wesentliche Veränderungen in Herz- und Atmungsreaktion bringen können, die man nur als emotional deuten kann.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Nicht zu vergessen ist, dass auch dort, wo die kognitiven Zugangswege bereits verschüttet sind, Musiktherapie und Tanztherapie (siehe auch Kap. F6) noch deutliche Zugangswege zum kranken Menschen bilden können. Wir haben (zum eigenen Erstaunen) sehen können, wie dabei starkes emotionales Mitschwingen und Verhaltensbesserung entstehen kann. Wir machten mehrfach in einem Alterspflegeheim „Heurigen-Nachmittage“ (bei Kuchen und Fruchtsaft) mit allseits bekannten Liedern (Wienerliedern). Selbst schwer demente Patienten, die sonst weitgehend teilnahmslos herumsaßen, ihre Zimmer nicht mehr fanden, etc. wurden stark aktiviert, standen auf, sangen mit. Manche begannen spontan zu tanzen. Das anwesende Pflegepersonal machte mit und es entstand eine ausgesprochen vergnügte Stimmung. Die Nachmittage waren noch tagelang auf den Stationen ein Gesprächsthema.
Auf die Möglichkeit mit Hypnose bei inkurablen Schmerzzuständen wurde im Kap. C3 schon hingewiesen, weiters auf die Möglichkeit des respiratorischen Feedback bei onkologischen Patienten (Bergdorf – E1). Einfache Abwechslung, menschliche Zuwendung mit dem Eindruck des Verständnisses und Interesses für den einsamen alten Menschen sollen nochmals betont werden. Es wird damit neuerlich das spezielle Gebiet der Psychotherapie an sich überschritten. Die Notwendigkeit zu dieser „Grenzüberschreitung“ konnte ich in vorliegenden Zeilen schon mehrfach betonen. Dazu nochmals zur Ehrenamtlichkeit. Diese wurde in vorliegendem Buch schon mehrfach erwähnt. • In F1 konnten wir darauf hinweisen, dass eine derartige freiwillige Tätigkeit älterer Menschen für ältere Menschen auch eine wesentliche Sinnerfüllung für die Helfer selbst ergeben kann. • Wir konnten in demselben Kapitel die günstigen Erfolge des Einsatzes von erwachsenen Laien, Jugendlichen und Kindern in der Mitbetreuung alter Menschen zeigen, wobei wiederum der vorteilhafte Effekt sowohl für die Betreuer als auch für die Betreuten bestand. • Der zusätzliche Einsatz von Tieren bei einem organisierten Besuchsdienst wird folgend in F6 noch erwähnt. Susanne Pirker, pensionierte Oberärztin auf einer Geriatrie, hat nach ihrer Pensionierung einen ehrenamtlichen Besuchsdienst dort organisiert, rekrutiert neue interessierte „Ehrenamtliche“ und koordiniert laufend den Einsatz. Es sind derzeit etwa 20 Personen. Dieses scheinbar so einfache und logische System kann natürlich nur funktionieren, wenn ein ambitionierter und kompetenter Fachkoordinator vorhanden ist. Pirker schreibt über ihre Erfahrung in diesem ständig laufenden Projekt: Wer sind sie? • Es sind meist Menschen im mittleren Lebensalter stehend, die aus sozialem Engagement etwas Sinnvolles tun wollen. • Menschen, die vor einiger Zeit selbst in die Pflege alter Angehöriger eingebunden waren und jetzt ihre Erfahrungen weiter geben wollen. • Angehörige ehemaliger Patienten unseres Hauses, die Wissen und Erfahrung haben, wie hilfreich Anwesenheit ist. Sie durften viel Dankbarkeit erfahren. • Junge Menschen, die Sozialwissenschaften studieren und Erfahrungen im Umgang mit Alten und Kranken sammeln wollen.
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Was tun sie? • Sie haben „Zeit“. • Sie bringen das Leben von „außen“ mit. • Sie vermitteln Wertschätzung, verrichten kleine Handreichungen, bei Besorgungen für den Patienten. • Sie gehen mit dem Patienten spazieren im Haus oder im Garten. • Sie leisten Gesellschaft, sie sprechen oder sie schweigen, je nach Situation. Warum brauchen wir sie? • Geriatrische Patienten brauchen häufigen menschlichen Kontakt. Dieser ist bei Weitem nicht ausschließlich vom hauptamtlichen Personal (Pflegepersonal, Ärzte, Therapeuten) abzudecken. • Unsere Patienten sind meist hochbetagt und haben dadurch weniger Freunde und Angehörige, die sie auch besuchen können (nicht so häufig, wie sie es bräuchten). Auch Familienangehörige sind oft in fortgeschrittenem Alter und dadurch nicht mehr so mobil. • Unsere Patienten verweilen oft über einen längeren Zeitraum in unserer Institution. Die zeitliche und emotionale Dauerbelastung der Personen, die unsere Patienten als Familie oder Freunde besuchen, ist dadurch enorm hoch.
Wie schon gesagt, ist ehrenamtliche Tätigkeit für – aber auch durch – alte Menschen (im Gegensatz zu etwa Großbritannien und Israel) bei uns noch weitgehend unterbelichtet (wegweisende Versuche auch bei uns, s. F1). Es scheint der Ausbau derartiger Systeme ein wesentliches Zukunftsgebiet zu sein, da die alten Menschen immer mehr und immer aktiver und das Personal dafür immer knapper wird! Den Aspekt, dass sowohl Betreuten, als auch Betreuern damit Gutes getan wird, sollte man besonders im Auge behalten. Natürlich muss dazu auch eine Änderung der stark verbreiteten Einstellung erfolgen, nämlich • dass Arbeit nur Mühe ist („Arbeitsleid“ wie es in gewissen tendenziösen mündlichen und schriftlichen Äußerungen ausgedrückt wurde), • und deshalb auch nur gegen Bezahlung erfolgen soll. Wir kommen damit wieder ins „Politische“, aber das wollen und sollen wir auch! (Siehe dazu auch Abschn. I.) Sterbebegleitung (Abb. 23a) Mehrfach wurden im Vorigen schon die Begriffe „Sterbebegleitung“ und „Sterben in Würde“ verwendet. Die Begriffe „passive Sterbehilfe“ und „aktive Sterbehilfe“ werden in diesem Zusammenhang oftmals (auch teilweise polemisch) verwendet. Zunehmend wollen die alten Menschen heute selbst Einfluss nehmen auf ihre terminale ärztliche Versorgung und es ist daher nötig, dass der Psychotherapeut (der ja wie gesagt fallweise der „letzte Berater“ ist) 1.) darüber Bescheid weiß, 2.) sich selbst mit der Problematik auseinandergesetzt hat und 3.) klar mit dem Patienten darüber spricht. Es geht keineswegs um Aufdrängen, sondern um Zur-Verfügung-Stehen, wenn der Patient ein Gespräch darü-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
ber wünscht. – Wobei auch schon vorgesagt wurde, dass man möglichst sinnvoll die Angehörigen einbeziehen soll. Ausführlicher mit weiterführender Literatur in Barolin 2001a. Vorerst einige rechtliche und ethische Klarstellungen Sterbebegleitung ist auf jeden Fall etwas Wünschenswertes. Der Patient hat, so lange er sprachfähig ist, immer über den Fortgang seiner Therapie zu entscheiden und zwar in Zusammenhang mit der ihm zustehenden ärztlichen Aufklärung. Dieses elementare Grundrecht wird heute noch vielfach gerade bei Schwerkranken auch ärztlicherseits nicht wahrgenommen, darauf sei besonders hingewiesen. Ist der Kranke nicht mehr verstehens- und sprechfähig, so übernehmen diesbezüglich die Angehörigen die Entscheidungen. Es wird dann angenommen, dass diesen der Wille des Patienten bekannt ist und sie in seinem Willen handeln (Einverständnisvoraussetzung). Bei Unerreichbarkeit der Angehörigen entscheidet der Arzt. Bei Divergenzen von ärztlicher und Angehörigen-Intention, kann akut ein Gericht nach Anrufung entscheiden respektive der von diesem eingesetzte Sachverwalter. Passive Sterbehilfe bezeichnet das im Vorigen bei „Übergang auf Palliativtherapie“ näher Erläuterte. Weglassen von ärztlichen Maßnahmen, welche bei einem unheilbar Kranken nur das Sterben verlängern. Dies wurde in der älteren Judikatur noch als Tötung gewertet, gilt aber heute sowohl in der Judikatur als auch medizinisch als nicht nur rechtens, sondern auch als ethisch angezeigt. Die hochdosierte Gabe von Opioiden und Neuroleptika zur terminalen Angst- und Unruhedämpfung ist ethisch zu fordern, auch dann, wenn damit (durch Atem- und Kreislauf-depressorische Wirkung) evt. das Leben verkürzt werden könnte, das auch nach kirchlichem Recht (Enzyklika Pius XII. Principum duplicis effectus – Grundsatz bei zweierlei Wirkung eines Medikamentes). Überdies haben die modernen Opioide jene (eventuelle) lebensverkürzende Wirkung weitgehend verloren. Aktive Sterbehilfe ist die ärztliche Tötung eines Patienten auf sein Verlangen in Fällen, die unweigerlich zum Tode führen und in denen (auch palliativmedizinisch) keine Lebensqualität mehr gegeben werden kann. Das wird sowohl ethisch als auch rechtlich kontrovers betrachtet. Holland und Belgien haben dazu die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen. Absolute Gegner sind Steiner und Stellamor sowie die katholische Kirche. Anderseits gibt es in Deutschland Umfragen, die gezeigt haben, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung für die Freigabe ist. Auch in Österreich gibt es ein betreffendes Manifest. Ich gebe dazu bewusst kein persönliches „Für“ oder „Wider“ an, da ich meine, dass hie wie dort gewissenhafte Leute sich ihre Meinung darüber gebildet haben. Wesentliche Argumente gegen die aktive Sterbehilfe sind: • dass gekonnte und humane Sterbebegleitung zusammen mit suffizienter fachkundiger Palliativtherapie vielfach den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe zum Versiegen bringt, und • dass durch die Freigabe ein gewisser Druck auf den Schwerkranken ausgeübt werden kann, seine Angehörigen doch von „der Last“ zu befreien. Die Befürworter argumentieren hingegen mit der Willensfreiheit + dem würdigen Sterben. Assistierter Selbstmord bedeutet, dass man etwa einem an schmerzhaften Metastasen Leidenden ein zum Selbstmord geeignetes Schlafmittel auf seinen Wunsch übergibt und ihn dann sich selbst überlässt. Das wird in der Schweiz von einem Verein „Exit“, dem man beitreten kann, organisiert. Es ist dort straffrei. In Österreich wäre auch das strafbar. Die Pro- und Kontra-Argumente sind die gleichen wie bei aktiver Sterbehilfe.
Fragt der alte Mensch sich (unter Umständen seinen Psychotherapeuten) „Wie kann ich dafür sorgen, dass mein Sterben nach meinen Vorstellungen zu
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einem würdigen Sterben wird?“ So gibt es dazu das Instrument der Patientenverfügung (auch Patiententestament genannt). Ein solches kann bei der Familie und/oder beim Anwalt hinterlegt werden. Rechtlich ist allerdings anzumerken, dass es für den Arzt keine Verpflichtung gibt, sich daran zu halten. Er muss seinem ärztlichen Gewissen folgen. Auch ist das Papier möglicherweise im Falle eines (plötzlichen etwa) lebensbedrohlichen Zustandes nicht
Der unheilbare und terminale (Alters-)Patient Maßnahmen Durchführung
Alleiniges Entscheidungskriterium
Erlaubnis ?
Bereitschaft ?
Passive Sterbehilfe
Selbstentsch. meist unmöglich
Eventuell Gericht
Weitgehend alleinige Entscheidung
Alters-Rehabilit. („Pflege“)
Fallweise möglich
Ständiger Dialog
Wichtige neue Aufgaben
Akzeptanz
Zus.-Arbeit m. Pat., Angehör. + Hospiz-Bew., keine kompl. Delegierung
Ermöglichung
SterbeBegleitung
Angeh.
HospizBeweg.
Wchtiges Zusatzangebot, keine Alleinvertretung
Aktive Sterbehilfe
Ökonomie
Mitwirkung?
Arzt
Keine Entscheidungen, jedoch aktive Zusammenarbeit
Gesellschaft
darf kein Argument sein
Selbstbestimmung
Aktive Sterbehilfe dafür spricht
dagegen spricht
Hilfestellung zur Willensfreiheit Leidensbegrenzung Ökonomie (dürfte aber keine negative Rolle spielen)
Grenzen der Willensfreiheit ist auch medikamentös möglch Druck der Angehörigen Druck tatsächlich Druck oder so empfunden
Gesetz/Kirche/Hippokr. Eid sind als Richtlinien ungeeignet Abb. 23a Die Fragen der Alters-Betreuung bis hin zur Sterbe-Begleitung sind äußerst sensibel und werden auch kontrovers diskutiert. Wesentlich erscheinen 2 Grundsätze: 1. Soweit es irgend möglich ist, muss die Eigen-Entscheidung (oder Willens-Vermutung) respektiert werden. 2. Ökonomische Momente dürfen nur im positiven, nie aber im negativen Sinn maßgeblich sein.
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immer vorhanden. Wenn aber offene Fragen sind: „Soll man oder soll man nicht?“ So kann eine derartige Patientenverfügung eine wichtige Entscheidungshilfe für Arzt und Angehörige darstellen und wird dann auch meistens berücksichtigt. Sie könnte folgendermaßen lauten: Ich verfüge am so und so vielten, nach sorgfältiger Überlegung Folgendes (der vorletzte Punkt wäre natürlich entsprechend der religiösen und ethischen Einstellung des Patienten zu formulieren oder wegzulassen). 1. In einem Endstadium Verhinderung von sinnlosen lebensverlängernden Maßnahmen. Wenn sich eine barmherzige Lungenentzündung, Venenentzündung, Harnwegsinfekt, etc. bei voll pflegebedürftigem Dahindämmern einstellt, so soll man mich ruhig daran sterben lassen. Maßgeblich dafür ist, dass keine Chancen mehr bestehen, die geistige und körperliche Integrität wiederherzustellen. Zu unterbleiben haben insbesondere lebensverlängernde Medikation (Antibiotika, Herz-Kreislauf-Stützung, etc.), Reanimation, langdauernde Beatmung und Sondenernährung (PEG). 2. Ärztlicherseits soll dafür gesorgt sein, dass bei großer Unruhe, Angst und Schmerzen hochdosiert gedämpft wird (Morphium plus Neuroleptika), nicht etwa mit Rücksicht auf Atemund Kreislaufkomplikationen gespart wird und lieber der Schmerz-, Angst-, Unruhepegel bestehen bleibt. 3. Wenn bei mir der Entschluss zu einem vorzeitigen Scheiden aus dem Leben gefasst wird, so soll nichts unternommen werden, mich daran zu hindern. 4. Falls mein Organismus zu einer Organentnahme noch brauchbar sein sollte, befürworte ich diese.
Zusammenfassung zur Gerontopsychotherapie Diese rückt aufgrund der allgemeinen demographischen Entwicklung deutlich in den Vordergrund und wird ein neues großes Feld für eine aufstrebende junge Therapeutengeneration sein. Der Psychotherapeut muss die wesentlichen Zielpunkte im Altersleben, in der Altersrehabilitation und in den Rand- und Nachbargebieten kennen und ansprechen: Organmedizin, Sozialbereich mit Gesetzgebung, Sexologie, etc. Es gilt die konkreten Probleme aus dem Jetzt (hic et nunc) anzusprechen. Ein spezifisches Anliegen des alten Menschen ist es aber auch aus seiner Kindheit zu erzählen (Reminiszenz-Therapie). Der Therapeut sollte dabei nicht „analytisch“ weiterforschen, sondern sich als Gesprächspartner zur Verfügung stellen und eventuell Versöhnungen mit alten Traumen kanalisieren („positivieren“). Er soll (entgegen sonstigen Psychotherapie-Usancen) auch Ratschläge geben und konkrete Maßnahmen kanalisieren um mitzuhelfen, die Einsamkeit des alten Menschen zu bessern (sozialarbeiterische Kompetenz).
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Es ist zu berücksichtigen, dass die Probleme des Altwerdens schon im Kulminationspunkt des Lebens beginnen und daher gilt es auch die Probleme zwischen den Generationen in die Therapie miteinzubeziehen, nicht erst im Alter, sondern schon früher. Das bedeutet auch, dass der Psychotherapeut älterer Menschen sich möglichst intensiv und oft mit den Angehörigen kurzschließen sollte. Dort, wo diese aber zu pflegenden Angehörigen werden, sie auch mitbetreut, um ein burn-out-Syndrom zu vermeiden (das letztlich auch den Patienten durch den Ausfall seines Betreuers schwer schädigt). Er soll in den Grauzonen der Angehörigenmotivation diese möglichst zugunsten des Patienten kanalisieren (etwa Familienunterbringung statt Heimunterbringung), aber auch unter Berücksichtigung der praktischen Möglichkeiten und des Leistbaren für die Angehörigen. Für Dauerpflege-Institutionen konnten wir verschiedene Möglichkeiten der Besuchsdienste (Kinder, Ehrenamtliche, mit Tieren) aufzeigen, die natürlich nicht systematische Psychotherapie ersetzen, diese aber wertvoll ergänzen können, da das geschulte Personal für derartige Aufgaben um Dimensionen zu gering vorhanden ist und immer sein wird! Derartige Ehrenamtlichkeit wäre auch eine günstige sinngebende Tätigkeit für rüstige Senioren und harrt der systematischen Organisation. Der Tod als die „Endstation des Alters“ darf nicht „in ein Sterbekammerl abgeschoben“ werden (wörtlich und im Sinne unserer psychischen Einstellung). Wo er zu erwarten ist, hat die palliative Psychotherapie bei der Sterbebegleitung eine große, wichtige und human-unabdingbare Aufgabe. Kinder gehören dazu. Unser Modell einer 2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training eignet sich für (noch gesunde) Senioren im Sinne einer Psychoprophylaxe sowie bei Altersrehabilitationspatienten (Postinsult, Parkinson, etc.) zur psychischen und physischen Optimierung der noch möglichen Lebensqualität. In der Vereinsamung des Alters bietet überdies die regelmäßige Gruppenzusammenkunft ein Therapeutikum per se. Wir glauben daher, dass die Psychotherapie sich viel intensiver und vielseitiger mit dem Seniorentum befassen sollte. Aber eher nicht als isolierte Geronto-Psychotherapie. Vielmehr soll die Psychotherapie des alten Menschen in einer allgemeinen integrierten Psychotherapie Platz finden.
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Einiges überschneidet und ergänzt sich mit dem bei Psychotherapie in der Rehabilitation Gesagten, da wir uns ja besonders auch mit der Altersrehabilitation befasst haben. Doch glaube ich, dass – im Sinne der Wichtigkeit der Thematik – diese Wiederholungen nützlich sein können.
F5.
Katathyme Imaginationspsychotherapie (KIP)
Schlagwort-Information Diese elegante und auch in der Zeit-Erfolgs-Relation günstige Psychotherapie-Methode verwendet bildhafte Vorstellungen, die in einem Hypnoid angeregt und besprochen werden. Es kommt zu einer Problembesprechung auf der Symbolebene, die mit rationaler Nachbesprechung (aber auch ohne diese) Dauerwirkung entfalten kann.
Als Leuner die Methode in den 50er Jahren entwickelte, nannte er sie Katathymes Bilderleben (abgekürzt KB). Als Apercu am Rande: die Veterinärmediziner bezeichnen mit KB die bei ihnen übliche künstliche Befruchtung von Tieren. Das hat aber wegen der geringen Berührungsflächen von Psychotherapeuten und Veterinärmedizinern kaum zu Verwechslungen geführt. Man hat also auch nicht etwa deshalb, sondern aus standespolitischen Gründen in den internationalen Vereinigungen eine Umbenennung in Katathyme Imaginationspsychotherapie beschlossen (abgekürzt KIP). Das ist heute der allgemein gängige Name, allerdings wenig illustrativ. Ich verwende dafür im Folgenden mehrfach den Ausdruck „Katathyme Imagination“, aber zur internationalen Vergleichbarkeit auch KIP.
Es ist eine etablierte therapeutische Methode, die darin besteht, dass man den Patienten in einem leichten Hypnoid visuell imaginieren lässt und innerhalb seiner hypnoiden Imagination mit ihm in Dialog tritt. Es geht das im Allgemeinen recht leicht (da ja der Mensch ein Augentier ist). Anfangsschwierigkeiten verlieren sich meist bei konsekutiven Sitzungen. Zur besseren Einstimmung wird nicht nur nach dem Gesehenen gefragt, sondern auch nach anderen Sinnesqualitäten wie Spüren, Hören, Riechen. Die Methode kennt „Grundmotive“ (Blume, Wiese, Bach, Berg, Haus, etc. als Imaginations-Vorgaben). Damit wird der Patient mit der Methode des bildhaften Imaginierens vertraut gemacht, was üblicherweise noch mit relativ wenig emotinaler Beteiligung geschieht. Man kann aber bereits gewisse Schlüsse über die psychische Konstellation daraus ziehen, was und wie er es bringt. Dann beginnt das eigentlich psychodynamisch Relevante, man stimuliert, dass „Symbolgestalten“ in den Imaginationen auftreten und der Patient die-
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sen begegnet („Symboldrama“). Seltener sind das reale Personen aus dem Umfeld des Patienten, häufiger Tiere oder Menschen aus der Phantasie. Hinter diesen verbirgt sich aber erfahrungsgemäß eine reale Bezugsperson. Wo es sich um konfliktuöse Beziehungen handelt, treten nicht selten Angst-, Aggressions- oder ähnlich emotional stark besetzte Gefühle dabei auf. Die Aufgabe des therapeutischen Dialogs auf der Symbolebene ist es, die Begegnung mit jenen Symbolgestalten zu entängstigen, eine „Versöhnung“ mit den Symbolgestalten zu kanalisieren. Praktisch wird das meist durch das Füttern der Symbolgestalten (die häufig Tiere sind) erreicht. Es können aber auch andere (halb-)symbolhafte Handlungen und Aktivitäten von Therapeuten und Patienten gemeinsam gemacht werden: • Bei protrahierter Trauer ein Grab-Besuch mit Pflanzen von Blumen. • Bei körperlicher Behinderung (wie folgend noch ausführlicher beschrieben) Versöhnung mit dieser und Einleitung von Aktivitäten etc. Der „Augentest“ („Schauen sie ihm in die Augen! An welche Augen erinnern sie diese?“) hilft die Realperson, welche hinter der Symbolgestalt steckt, zu identifizieren. Das kann auch in die rationale Nachbesprechung übergeführt werden. Es treten sogenannte „Verhinderungsmotive“ (schwer übersteigbare Mauern etc.) auf, die gewisse Hemmungen und/oder Widerstände in der Psychodynamik ausdrücken. Auch dabei entängstigt oder hilft der Therapeut, findet Auswege, etc. Es treten spontane Alters-Regressionen auf. Das heißt, der Patient erinnert sich nicht nur irgendwelcher Erlebnisse aus der Kindheit, sondern spürt sie mit allen Sinnes-Wahrnehmungen und fühlt sich dabei selbst als im betreffenden Alter befindlich. Diese Wiederkehr der Kindheits-Erlebnisse in einer geschützten Atmosphäre mit dem stützenden Therapeuten – und, „wie gesagt“, mit allen Sinnen – scheint maßgeblich zu einem therapeutischen Erfolg beizutragen. Das Phänomen wurde 1961 im Rahmen eines Forschungs-Aufenthaltes bei Leuner in Göttingen von mir entdeckt und erstpubliziert, gehört aber heute zu den im Grundlagenwissen vermittelten und verwendeten Phänomenen der Katathymen Imagination. Das wurde 1982 in einer Zweit-Publikation von Barolin, Bartl und Krapf dargestellt, vor allem auch im Hinblick auf den deutlich günstigen prognostischen Hinweis, der darin zu sehen ist. Es begann damit, dass eine Patientin, die ich in KIP-Behandlung hatte auf meine Frage „Wie alt sind Sie da jetzt?“ ihren Kopf betastete und antwortete: „Ich habe ja Zöpfe, da bin ich also 13 Jahre alt“. Ich streute ab da routinemäßig die Frage „Wie alt sind Sie denn da jetzt?“ in meine Behandlungen ein und erhielt relativ oft eine Antwort, die das körperlich-jünger-Fühlen signalisierte. Fallweise konnte dieses Erinnern auch vor die rationale Erinnerungs-Schwelle gehen.
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– Es wurden dann alle Patienten der Abteilung – auch die bei anderen Kollegen in Therapie befindlichen plus diese selbst – befragt und es zeigte sich das Phänomen als allgemein. Bei 8 von 18 Patienten konnte ich das Auftreten von spontaner Alters-Regression im Rahmen ihrer Katathymen Imaginations-Behandlung erfragen. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass die Patienten mit spontaner Alters-Regression im KIP in deutlich positiver Korrelation mit günstigen Therapie-Ausgängen standen. Die günstige prognostische Wertigkeit hinsichtlich Therapie-Ansprechens konnte sich inzwischen in vielfachen Erfahrungen vielfacher Therapeuten verifizieren. Der Leser wird natürlich eine gewisse Parallelität zu der Regressionstherapie in Hypnose feststellen können. Nur gibt man dort die Altersperioden vor, in welche der Patient regredieren soll, während man in der KIP abwartet, welche Altersperiode sich, als emotional wesentlich, „spontan vordrängt“.
Man kann die Erlebnisse in der Katathymen Imagination vom Patienten zeichnen lassen (dabei erlebt und denkt er sie nochmals durch), anhand der Zeichnungen bei der nächsten Stunde besprechen und daran anknüpfen. In dieser Besprechung gibt es zwei Möglichkeiten. Einerseits versucht man deutend und weiter assoziierend auf die realen Situationen überzugehen, anderseits kann man aber auch im Nachgespräch (evt. plus Deutung der Patienten-Zeichnung) auf der Symbolebene bleiben. Das erste Interessante an der Methode ist, dass sich das emotional Bedeutsame bei den imaginierten Inhalten selbsttätig nach vorne drängt, also man nicht speziell einzelne Imaginationen anregen muss (in besonderen Fällen jedoch auch kann). Das zweite Interessante ist, dass die emotionalen Qualitäten, die sich im therapeutischen Dialog auf der Symbolebene ergeben (also Entängstigung, Überwindung von Widerständen, Versöhnung mit Feindbildern, etc.) sich auch im rationalen Erleben des Patienten widerspiegeln und weiter wirken. Diese symbolhaft erreichbaren Stimmungsqualitäten sind der eigentliche psychotherapeutische Succus aus jener Methode und können so zu überdauernder Positiv-Wirkung führen. Das ist nur eine ganz kurorische Darstellung der Methodik. Für nähere Informationen sei auf Leuners Grundlagenwerk verwiesen. Weiters auf die sehr prägnant kompakte und didaktisch gute Darstellung von Wilke (1996); für unsere Fragestellung aber speziell auf Erlangers Buch „Katathyme imaginative Psychotherapie mit älteren Menschen“ 1997. Für das Lernen zur Anwendung sei wie bei den verschiedenen anderen beschriebenen Methoden auf die Vermittlung in systematischen Seminaren verwiesen, wie sie die Bad-Hof-Gasteiner PsychotherapieWochen anbieten.
Erwähnt sei auch die Möglichkeit der Gruppen-KIP. Es imaginieren dabei Patienten in einer Gruppe, berichten ihre Erlebnisse und der Therapeut kommuniziert (im Gegensatz zur autogenen Imagination C4) auf der imaginativen Ebene und koordiniert auch das Zusammenfließen der Erlebnisberichte. Anschließend werden diese dann in einer Gruppendiskussion weiter besprochen.
F. Geronto- u. Rehab.-Psychotherapie / F5. Katathyme Imaginationspsychotherapie (KIP)
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Es bestehen nur beschränkte Eigenerfahrungen, und ich glaube, dass die KIP eher für Einzelanwendung als für die Gruppenanwendung geeignet ist. Für die Gruppe scheint (mir) eher die „Gruppenimagination“ geeignet zu sein (C5).
Die Katathyme Imagination zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie relativ kurzfristig (10–20 Sitzungen) schon wesentliche, auch bleibend psychotherapeutisch konsolidierende Ergebnisse bringen kann. Das scheint sie speziell für unsere „Integrierte Psychotherapie“ mit ihrer Anforderung an die Ökonomie geeignet zu machen. Erklärungen für die kurzfristige starke Wirkung mögen sein: • Den Menschen als Augentier ergreift die visuelle Imagination relativ stark. • Durch den ständigen Dialog mit dem (verbündeten) Therapeuten, der weder interpretiert noch konfrontiert, entsteht eine besondere empathische Nähe. Auch bei schreckhaften und beängstigenden Erlebnissen hilft einem der Therapeut empathisch darüber hinweg und man wird nie mit seinen Ängsten und Missgefühlen alleine gelassen. • Dass bei dieser Vorgangsweise zugrunde liegende leichte Hypnoid bedingt eine emotionale Auflockerung. • Die Arbeit auf der Symbolebene umgeht (zumindest teilweise) gewisse in der Ratio bestehende Hemmungen und Widerstände. • Die Möglichkeit des Zeichnens und dadurch Nacherlebens ist eine günstige Ergänzung. Natürlich auch das Nachbesprechen mit oder ohne Interpretation auf der rationalen Ebene.
Da unter Umständen Konfrontationen auf der Symbolebene emotional sehr stark angreifend sein können, gilt für die KIP besonders, was schon mehrfach allgemein zum Ausdruck gekommen ist. Man muss immer auf ein positives Ende der Sitzung achten. D. h. wenn ein Problem ungelöst verbleibt, so doch Hoffnung geben für später etc. Der relativ hohe Wirkungsgrad der KIP macht sie zu einem auch kritischen Instrument. Das soll der drastische Jargonausdruck illustrieren, den wir in der Lehre manchmal benutzen: „Es geht nicht an, den Patienten mit aufgerissenem Bauch auf die Straße zu schicken“. Bezüglich der Allgemeingültigkeit dieses Satzes siehe auch H1. Katathyme Imagination in der Rehabilitation Ich habe das KIP-Kapitel in den Rehabilitations-Abschnitt genommen, weil die Anwendung in der Rehabilitation kaum bekannt ist und doch – wie gezeigt – sehr nützlich sein kann. Es bestehen größere Eigen-Erfahrungen darüber. Mein Mitarbeiter Kaufmann hat darüber auch gesondert publiziert. Natürlich gehört KIP aber nicht nur in die Rehabilitation, sondern in die allgemeine Psychotherapie und auch Psycho-Hygiene, unter den verschiedenen Methoden, welche das Hypnoid verwenden (C1). Über günstige Anwendungsmöglichkeiten in der Sport-Psycho-Hygiene wurde schon in E3 berichtet. Wir konnten zeigen, dass KIP bei schwer belasteten Rehabilitationszu-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
ständen nach Schlaganfällen in mehrlei Weise eine positive Wirksamkeit entfalten kann. • Eine stärkende und entängstigende Rückversetzung des Patienten in einen Zustand vor der invalidisierenden Erkrankung im Sinn einer spontanen Altersregression. • Das imaginative Probehandeln (unserseits als „Ergotherapie in der katathymen Imagination“ bezeichnet). • Die direkte Positivbeeinflussung von hauptbehindernden körperlichen Störungen. Zu Letzterem kann das uns selbst verwundernde Schwinden einer Schluckstörung nach Basilarisinsult genannt werden. Abb. 24 gibt die Wirkungen nochmal schematisch wieder, mit dem Zusammenwirken von Therapeuten und Patienten.
KIP-Möglichkeiten in der Rehabilitaion Patient
A. Bringt Bilder 1. aus der Zeit vor der Behinderung 2. aus dem derzeitigen Behinderungszustand – allgemein – Symptomkonfrontation
B. Allgemeinwirkung
Therapeut in ständiger empathischer Begleitung
Wirkung
verstärkt
Stärke aus Vergangenheit
schrittweise Hilfestellung, Übergangsanleitung
Aussöhnung mit Behinderung, „Ergotherapie im Symboldrama“
gezielte Suggestion
direkte Organwirkung
leitet an und bestärkt
Entspannung, Dynamisierung, psychische Konsolidierung
Abb. 24 Die katathyme Imaginationstherapie hat eine fruchtbare Einsatzmöglichkeit in der Rehabilitation, wobei sich verschiedene Interaktionsfelder zwischen Patient und Therapeut zeigen.
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Zusammenfassung zur katathymen Imaginations-Psychotherapie (KIP) Die besonderen Qualitäten der Katathymen Imagination sehe ich im Folgenden. • Das psychotherapeutische Gespräch auf der Symbolebene umgeht manche Widerstände gegen das rationale Erkennen. Trotzdem können die emotionalen Qualitäten dann im weiteren Verhalten des Patienten zum Tragen kommen. Das Interpretieren des Therapeuten bleibt zunächst einmal ohne Verbalisation hintergründig, kann im Nachhinein in eine verbal interpretative Besprechung einfließen. • Die Möglichkeit des Versöhnens auf der Symbolebene ist eine Methode, wie man unbewusste Störfaktoren nicht nur aufdeckt. Vielmehr hilft der Therapeut zugleich im Dialog auf der Symbolebene zu einer Desaktualisierung (also „Positivstrategie“ [A4]). Die „innere Interpretation“ des Therapeuten kommt dabei auf der Symbolebene zum Tragen. Überdies kann man im Rahmen des bildhaften Dialogs mit dem Patienten auch sehr genau seine Reaktion auf die bildhaft eingekleideten Vorschläge des Therapeuten erkennen und in evt. günstigere Bahnen lenken. • Durch den ständigen empathischen Dialog auf der Symbolebene (ohne Konfrontation, Interpretation, Ratschlag) hingegen mit Hilfestellung, mit Alternativen etc. entwickelt sich eine stark empathische Komponente. Diese scheint ein wichtiger Faktor für die Wirkung der KIP zu sein. Die Katathyme Imagination erscheint mir heute für die Einzelbehandlung die zeitrationell effektivste Methode zu sein, daher für die integrierte Psychotherapie besonders geeignet. Ich glaube, dass damit Leuner (der diese Therapie zwar nicht erfunden, aber ausgebaut und systemisiert hat) ein ganz großer Wurf gelungen ist. Ich möchte die Methode auch als „besonders elegant und vielseitig“ bezeichnen. Als Therapeut ist man immer wieder erstaunt, in welche neuen merkwürdigen Gebiete uns der Patient entführt und dieses Staunen scheint auch die Empathie zu erhöhen, welche zur guten und raschen Wirkung der Methode beiträgt. Wenn ein angehender Psychotherapeut noch nicht weiß, welchen Methoden er sich zuwenden soll, so würde ich raten, in der Einzeltherapie der Katathymen Imagination und ansonsten der 2-stufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training. Das natürlich überall ein ordentliches Grundwissen über die psy-
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chodynamischen Gesetze beim Menschen dazugehört, welche in allen Psychotherapien mitspielen, sei (nochmals) angefügt. Denn „die Technik“ soll uns ja nur bestimmte probate Zugangswege zu jenen menschlichen Grundphänomenen bieten. – Man soll nicht nur wissen, wie man geht, sondern auch, wohin man geht!
Verwandte Verfahren • Vielfach werden heute auch in anderen Therapiesystemen Imaginationen zwischengeschaltet. So in der Therapie des Psychotraumas, in der sytemischen Therapie, etc. Es wird dabei nicht der ganze Fortgang des KIP gemacht, sondern bei Problemfeldern eines Gesprächs eine relevante Situation zu imaginieren angeregt. • Auf die Möglichkeit der Autogenen Imagination (früher „Oberstufe des Autogenen Trainings“) habe ich schon hingewiesen. Es wird dabei auch in Gruppen imaginiert, aber nicht ein Dialog in der Imagination mit dem Therapeuten aufgenommen, sondern der Therapeut bespricht anschließend mit der Gruppe die verschiedenen Imaginationen. (C5). • Die Drees’sche „defokussierende Imagination“ wird in seinem Artikel (VII) ausführlich besprochen.
In allen Fällen hat sich die visuelle Imagination in einem leichten Hypnoid wirkungsvoll gezeigt, wenn sie auch unterschiedlich in verschiedene Therapiekonzepte eingebaut ist.
F6.
Der psychotherapeutische Zugang über den Körper
Einiges aus den betreffenden psychotherapeutischen Verfahren wird hier im Rehabilitations-Abschnitt angesprochen, da wir damit bei der Rehabilitation einige Erfahrung sammeln konnten und es überdies dort weniger bekannt ist (analog Vorgesagtem bei KIP). Sie kommen aber auch außerhalb der Rehabilitation in einer allgemeinen Psychotherapie zum Tragen. Sie werden fallweise (etwas kurzschlüssig) als „averbal“ bezeichnet. Das muss relativiert werden, da das begleitende psychotherapeutische Gespräch ein unabdingbarer Bestandteil ist, der trotz und bei den vordergründigen körperlichen Faktoren nicht fehlen darf. (Vergl. A4, Abb. 5): • Musiktherapie, • Tanztherapie, • Hippotherapie, • Tiere in der Psychotherapie, • Kreativtherapie, • Konzentrative Bewegungstherapie. Alle diese Methoden haben den großen Vorteil, dass sie neben ihrer spezifischen Wirkung auch Abwechslung ins Rehabilitationsprogramm bringen und Freude machen. Das ist sehr wesentlich für die Motivation. Diese stellt ein zentrales Problem für eine längerfristige Rehabilitation dar (wie schon in F2
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näher ausgeführt) und bei Dauerbehinderung sollte die Rehabilitation ja das weitere Leben ständig begleiten. Musiktherapie wird als aktive und rezeptive angewendet. Es gibt für Musiktherapeuten eine spezielle Ausbildung an der Wiener Musikuniversität, wobei dem psychotherapeutischen Element große Bedeutung zukommt. Die Schweizer und Deutschen Verhältnisse sind anscheinend analog (das wissen wir von ausgebildeten Therapeuten, die sich bei uns beworben haben. Einzelheiten können sicherlich über die Wiener Musikuniversität erfragt werden).
Monika Glawischnig-Goschnik sagt dazu: „Die wichtige hochspezialisierte und technisierte Medizin bedarf besonders einer Ergänzung durch künstlerische Therapieansätze, um den Menschen in seinem Leiden als leibhaftiges sinnlich wahrnehmendes Subjekt zu erkennen.“ Sie unterscheidet ergotrope und trophotrope Musik (also anregend oder beruhigend) und sieht (mit Blick auf Salutogenese) die Möglichkeit persönlicher Ressourcenaktivierung, Entspannung und Erholung; ich möchte hinzufügen: verstärkte Introspektion mit Möglichkeit neuer Erkenntnisse. Das unterstreicht auch die Aussage von Bettina Rein und Hildegard Großsteiner. Sie sagen nämlich zur rezeptiven Musiktherapie: Es geht um eine Form der Zuwendung, des Da-Seins, des Gebens ohne Gegenleistung. Dies kann an eine entwicklungspsychologisch frühe Kindheitssituation anknüpfen. Freudige und schmerzvolle Erinnerungen können auftauchen. Sie können verbal mit dem Therapeuten bearbeitet werden. Zur aktiven Musiktherapie: Sie bietet ein Übungsfeld, um verschiedene Möglichkeiten des Reagierens zu erproben, dadurch können neue Strategien des Handelns entdeckt werden. Jugl und Mitarb. haben die Erfahrungen aus unserem Arbeitskreis zusammengefasst. • In der Parkinson- und Wassergymnastik ergab sich durch die Musik wesentlich verbesserter Fortschritt. • Gemeinsame Singgruppen mit Krankenhauspatienten und auch besuchsweise anwesenden Angehörigen konnten eine deutliche Stimmungsaktivierung bringen. • In der Gruppentherapie mit Musikinstrumenten konnten die Altersrehabilitationspatienten deutlich aktiviert werden und ihre Bewegungsmuster bezüglich der Behinderung verbessern. Siehe Abb. 25 a. • Die rezeptive Musikwirkung verwenden wir in Anlehnung an Schwabe, um nach Anhören bestimmter Musikstücke im Gruppengespräch die emotionale Auflockerung der Patienten sinnvoll in die Psychotherapie umzusetzen. • Bei der Auswahl der Musikstücke dürfen nicht die ästhetischen Gesichtspunkte der Therapeuten eine Rolle spielen, sondern wir richteten uns weitgehend nach den Wünschen der Patienten, die im Sinne ihres Lebensalters weitgehend bei Marschmusik und sogenannter Volksmusik lagen. • Gerade in der palliativen Psychotherapie bei stark Dementen und/oder schwerkrank liegenden Patienten kann die Musiktherapie Erstaunliches leisten, selbst wenn der kognitive Zugang zum Menschen schon verschüttet ist. (Vergl. F4.)
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Abb. 25a Aktive Psychotherapie mit Musik bringt wesentliche Auflockerung, Motivation und auch körperlichen Fortschritt bei unseren Altersrehabilitationspatienten. In der gleichen Weise wurden auch Singgruppen mit dem ambitionierten Musiklehrer und Gitarristen, den wir dafür gewinnen konnten, geführt (keine spezielle Abbildung).
• Hesse und Bernatzky (in Likar und Mitarb. [Hrsg.]) lassen Patienten beim Anhören einzelner Musikstücke körperliche Mitbewegungen und Darstellungen machen. Das wirkt kontaktfördernd, emotionalisierend und spannungsmindernd.
Hippotherapie War schon längere Zeit für hirngeschädigte Kinder bekannt, wurde meinerseits in Österreich auch für Erwachsene eingeführt. Es ergibt sich eine komplexe psychisch-somatische Wirkung mit wechselseitiger Potenzierung (im Sinne des in A1 ausgeführten wechselseitigen Zusammenhanges zwischen Soma und Psyche [Abb. 2]). Körperlich sehen wir eine günstige Wirkung auf Wirbelsäule, Beckenboden, Spastizität, Ataxie, Haut, allgemeine Kreislaufaktivierung. Psychisch ergibt sich durch die Zusammenarbeit mit dem „Rehabilitationskameraden Pferd“ neue Motivation und Freude, deren besondere Wichtigkeit in der Langzeitrehabilitation wir schon betont haben. Diese guten psychischen Effekte gibt es auch dort, wo keine körperlichen mit im Spiel sind. Das zeigt die Hippotherapie für verhaltensgestörte Kinder ohne körperliche Symptomatik („heilpädagogisches Reiten“) sowie in der Sterbebegleitung (s. Kap. F4).
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Da nicht allgemein bekannt, sei im Folgenden die Abgrenzung zwischen Reiten und Hippotherapie, auch zwischen Sport und Therapie wiedergegeben: Sie hat u. a. auch für die Krankenkassen-Verrechenbarkeit wesentliche Bedeutung, denn Sport wird (natürlich) nicht bezahlt. Therapie jedoch ist in die kassenärztliche Kostendeckung teilweise oder ganz eingeschlossen (in verschiedenen Ländern unterschiedlich), Abb. 25c2. 1. Alles was mit aktiver Einwirkung auf das Pferd einhergeht, wird als Reiten bezeichnet. Es kann vom einfachen Behindertenreiten an der Longe bis zum Behindertensport reichen. 2. Als Hippotherapie bezeichnet man hingegen die Durchführung eines Heilgymnastikprogrammes auf dem Rücken des Pferdes. Der Obensitzende (Patient) spürt zwar die Pferdebewegung, nimmt jedoch keinen bewussten Einfluss darauf. 3. Schließlich ist noch das heilpädagogische Voltigieren zu nennen. Das ist ein komplexes Gymnastikprogramm auf dem in der Longe in Kreisbewegung befindlichen Pferde. Voltigieren wird auch mit mehreren Personen auf dem Rücken des Pferdes durchgeführt, was zusätzlich ein gutes Sozialtraining bedingt. Es wird das hauptsächlich bei Kindern angewandt, für unsere neurologisch geschädigten erwachsenen Patienten nicht. Im sportlichen (nicht wie hier Behinderten-) Voltigieren wird es bis zu komplexen akrobatischen Übungen geführt.
Aus Abb. 25c ist ersichtlich, dass wir die Erwachsenenhippotherapie besonders bei MS-Patienten angewendet haben. Die Wirkung auf Ataxie und Spastizität steht körperlich im Vordergrund. Dazu kommt Lustbetonung, neue Motivation und emotionale Beteiligung als begleitende psychotrope Wirkung.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Abb. 25b Durch geschulte Therapeuten und mehrwöchig geschulte Pferde wird ein etwaiges Risiko minimiert. Routinemäßig nimmt ein Pferdeführer und ein hippotherapeutisch ausgebildeter Physiotherapeut teil. Letzterer erfüllt natürlich auch eine gewisse Sicherungsfunktion für den Patienten, korrigiert aber vor allem dessen Haltung, Sitz, etc. und leitet ihn zu bestimmten heilgymnastischen Übungen auf dem bewegten Pferde an.
Methodisch wird so vorgegangen, dass ein Pferdeführer das Pferd führt, ein Physiotherapeut nebenher geht, den Patienten soweit nötig unterstützt, und ihn heilgymnastische Übungen (die weitgehend auf dem Bobath-Konzept beruhen) machen lässt. Der Patient sitzt in der Regel (es gibt verschiedene Methoden) auf einem Schaffell und bekommt dadurch die komplexen mehr-dimensionalen Bewegungen des Pferderückens unmittelbar übertragen, spürt auch die Wärme und die Mitarbeit des „Rehabilitationskameraden Pferd“. Die wiegende Rhythmik (des Pferderückens) mit gleichzeitig vermittelter (animalischer) Wärme kann wahrscheinlich auch als Wiederholung archaischer Erlebnisse aufgefasst werden und so tief emotional angreifen. Die vordergründig psychotherapeutische Wirkung dieser Faktoren in der Sterbebegleitung kamen schon bei der Palliativtherapie (F4) ausführlich zur Darstellung. Trotz weitgehender Sicherheit ist ein limitierender Faktor für manche alten Patienten eine nicht überwindbare Angst vor dem „Reiten“. Das sind aber Ausnahmen. Allgemein wird die Hippotherapie gut angenommen. Sie ist von geschulten Therapeuten auf (in 6-wöchigen Kursen) vorausgebildeten geeigneten Pferden weitgehend risikolos. Siehe Abb 25b.
Die Formulierung von Marianne Gäng (einer Pionierin des heilpädagogischen Reitens) ist so kompakt und treffend, dass ich sie als Zusammenfassung an den Schluss stelle.
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1)
10 Jahre Hippotherapie bei Erwachsenen Valduna (N = 94), %-Diagnosen-Anteil Multiple Sklerose .................................................. Enzephalomalazie .................................................. Posttraumat. (Cerebr. + Spinal) ................................ Parkinson ............................................................ Andere Spast.-atakt. Syndrome (System, Vask., etc.) .. Cephalaea (außerh. obiger Diagn.) ..........................
52 15 12 3 14 5
Behandlungsdauer: Durchschnittlich 10–20 Std., 1 Std./Woche, teilweise periodische Wiederholungen; jeweils zumindest Verdoppelung erwünscht
2) Unterschiedliches Arbeiten auf und mit dem Pferd
Wolf 1990
Abb. 25c Allgemein sind die psychischen und körperlichen Wirkungen bei der therapeutischen Arbeit mit dem Pferd überlappend, aber ein wesentliches Gemeinsames ist das Lustund Freudvolle daran, was wichtige Motivation in eine (sonst à la longue fade) Langzeit-Rehabilitation bringen hilft. 1) Körperlich hat sich eine besonders günstige Auswirkung auf die spastisch-ataktische Komponente gezeigt. 2) • Psychotherapie, • (Heil-)Pädagogik und • (Behinderten-)Sport sind die Haupteinsatzgebiete. Es liegen dabei unterschiedliche Vorgangsweisen und unterschiedliche Zielpunkte vor.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Zusammenfassung zur Hippotherapie Das Pferd als lebendes Wesen wird zum echten Partner. Sein Körperrhythmus überträgt sich auf den Reiter. Die Bewegung und die Wärme des Pferdeleibes sprechen wohltuend auf direktem Weg den Gefühlsbereich an. Das Gleichgewichtsempfinden wird gefordert und Verkrampfungen seelischer wie auch körperlicher Art können sich lösen. Dadurch, dass das Pferd nicht nur seinen Körper anbietet, sondern zusätzlich mit allen seinen Ausdrucksformen wie Körperhaltung, Mimik und Stimmäußerung beteiligt ist, fordert es direkt zur emotionalen und verbalen Kontaktaufnahme und Auseinandersetzung heraus. Dadurch kann sich das Körperbewusstsein als eine Grundform des Selbstbewusstseins entwickeln.
Ausführlichere Darstellungen über Hippotherapie finden sich in Liselotte Ölsböck (edit) 1990, im Standardbuch von Ingrid Strauss und bei Susanne v. Dietze. Ansprechadressen für Hippotherapie: Deutschland: Schweiz: Bundesgeschäftsstelle des deutschen Schweizer Gruppe für Hippotherapie-K Kuratoriums f. therapeutisches Reiten Präsident: Hans Kaufmann Freiherr von Langen-Straße 8a Kirchstraße 60 D-48231 Warendorf 38–40 CH-4713 Matzendorf Telefon: +49 (0) 25 81-63 62-0 Telefon: +41 (0) 6-23 94 18-80 Fax: +49 (0) 25 81-6 21 44 Fax: +41 (0) 6-23 94 18 87 oder Österreich: Fr. Andrea Bossler Fr. U. Künzle Koktagasse 38; A-2231 Strasshof Böttmingerstraße 99; CH-4102 Bingen Telefon: +43 (0) 2-287 56-58 oder Telefon +41 (0) 61-4 21 90-54 Fr. Edith Engel Telefon: +43 (0) 17-13 15 18 40-09
Andere Tiere als Psychotherapie-Helfer Es wird jetzt schon an vielen Stellen das Tier in die Therapie (vor allem bei alten Menschen und Jugendlichen) miteinbezogen. Als ich einführte, dass man zu den Patienten ihre Hunde oder Katzen in der Besuchszeit mitbringen nicht nur durfte, sondern sollte, hatte ich große Widerstände im Establishment zu überwinden. Mir kam da der verwahrloste Neffe einer Patientin zu Hilfe, nach dessen Besuch sich die Schwestern immer an den Beinen kratzen mussten, weil er Flöhe mitbrachte. Das brachte mich zu dem plakativen Ausspruch: Ein gepflegtes Haustier ist immer viel hygienischer als ein ungepflegter Verwandter. Nebenbei bemerkt, gehen ja Hunde- und Katzenflöhe nur, wenn sie sehr ausgehungert sind, auf Menschen (aber das brachte ich nicht in die Diskussion!).
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Inzwischen wird darüber längst nicht mehr diskutiert. Auch die Psychiatrien und die Suchtentwöhnungsanstalten arbeiten mit Haustieren, ebenso wie die Kinderabteilungen. Eindrucksvoll erlebte ich einmal bei einer im Mittelhirnsyndrom befindlichen schwer behinderten und auch sprachlosen Patientin die ersten Worte: „Ja Peter!“, als wir ihr ihren Kater auf die Bettdecke legten. Kojer hatte ein Übereinkommen mit Besitzern gutmütiger und gut gepflegter Hunde, dass sie mit diesen auf Besuch kommen, einerseits mit den alten Leuten plaudern und anderseits diesen die Möglichkeit geben, die Hunde zu streicheln und abzutätscheln. Enkelkindern wird es bald langweilig, wenn sie bei ihren Großeltern zu Besuch sind (obwohl wir die Enkelkinderbesuche natürlich wie schon mehrfach gesagt möglichst fördern). Mit den Tieren kann man stundenlang reden und sie streicheln. Es wird Tieren nie langweilig. Es gibt fortschrittliche Tierheime, die ihre asylierten Hunde regelmäßig zum Spazierengehen „mit alten Menschen“ (meist Frauen) „herborgen“. Es kommt dabei zu einer wirklichen Beziehung, wenn die Hunde länger dort sind, warten sie schon immer auf „ihre“ SpazierFrauerln.
Tanztherapie ist heute eine eigene Diplomausbildung und kann bei psychiatrischen und neurologischen Patienten eingesetzt werden. Es geht dabei um Bewegung und Begegnung kombiniert mit Musik in einer archaischen menschlichen Ausdrucksform, die dazu benützt wird, emotionale Auflockerung zu bieten. Neben gewissen Eigenbeobachtungen an Patienten verdanke ich folgende Stellungnahme Rika Maascen (Tanztherapeutin im Langen-Institut Kerpen): Die pathogene Störung bedingt auch eine Bewegungshemmung. Vice versa
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können wir über eine Lösung der Bewegung auch verklemmte eingeschränkte Gefühle wieder mobilisieren. Dadurch kann eine Ich-Nachreifung erfolgen. Der Körper kann Gefühle und auch Verdrängtes noch viel unmittelbarer aussprechen, als die Sprache. Patienten sagen sogar manchmal, sie können in der Gruppenpsychotherapie ihre Äußerungen mit dem Verstand kontrollieren, so dass sie „nichts auszuplaudern anfangen, was sie nicht möchten“. Aber sie wissen, dass sie in dem Ausdruck des Körpers unter Umständen mehr von sich geben und es weniger kontrollieren können. Das kann sogar bis zu Angst vor der Tanztherapie führen. Natürlich muss diese dann aufgearbeitet werden; ebenso wie andere Erkenntnisse aus der Tanztherapie des psychotherapeutischen Gesprächs bedürfen. Damit ist genauer erklärt, wieso Tanztherapie tatsächlich eine Psychotherapie ist und nicht eine einfache Körperübung. Die Rolle der Tanztherapeutin ist somit auch eine vor allem psychotherapeutische Rolle. Der Patient muss das Gefühl haben, dass jemand da ist, dem man vertrauen kann, der einen dann hält, wenn aufwühlende Erkenntnisse kommen. Es muss deshalb primär an der Vertrauensbasis gearbeitet werden. Die Tanztherapie wird vor allem bei psychotischen Patienten angewandt und kann dort Einiges leisten, im Sinne von „empowerment“ (Gestaltungsmacht gegen Ohnmacht). Zusätzlich werden neue Begegnungen kanalisiert und eine gewisse Öffnung zu einem neuen freieren Leben. Bei neurotischen Patienten kommt es vor allem auf die allgemeine Lockerung und Ich-Nachreifung an. (Marianne Eberhard, Leiterin des deutschen Langen-Instituts.) Beim (Alters-)Rehabilitationspatienten haben wir schöne Fortschritte in Stimmung, Haltung und Begegnung (gegen die Einsamkeit des alten Menschen) gesehen. Das stimmt mit der Information von Libuse Selner überein, die seit vielen Jahren als Tanztherapeutin einerseits in Seniorenheimen und andererseits bei Behinderten arbeitet. Die Senioren und zwar bewegungsbehindert bis bettlägrig (die in den Übungskreis geschoben werden) machen einzelne Bewegungen (etwa mit Fingern, Armen, Füßen, Kopf, etc.) und diese werden rhythmisch mit passender Musik gemeinsam wiederholt. Es kommen auch Gemeinschaftsaktionen dazu, etwa An-den-Händen-nehmen oder Oberkörper-seitlich-wiegen (ähnlich dem Schunkeln). Die Gehfähigen gehen in verschiedenen Formationen im Kreis und versuchen einfache Schrittvariationen miteinander. Das Ganze dauert etwa eine 3/4 Stunde und wird als äußerst lustbetont von den alten Menschen aufgenommen. Es kommen dabei einerseits die Bewegung, Abwechslung und anderseits das Gemeinschaftsgefühl zum Tragen. Der Therapeut macht während der ganzen Zeit mit, es kommt aber zu keinerlei Interpretationen. Mit den (geistig plus körperlich) Behinderten werden ähnliche Bewegungsübungen gemacht, aber zusätzlich auch mehr Gemeinschaftsaktionen im Sinne von Gemeinschaftstanz etc. Es zeigt sich ebenfalls eine sehr freudvolle Akzeptanz.
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Selner verwendet eine Abzweigungsmethode aus der Tanztherapie von Rick: „motorische Bewegungsanalyse“. Es kommt dabei mehr auf Behandlung durch Bewegung an und weniger auf irgendwelche Interpretationen. Positivenfalls kann der Behinderte die auf dem Niveau der Motorik stattgehabten Lösungen von Hemmungen und Blockaden in sein Alltagsleben mitnehmen und integrieren. Das kann seinen Handlungsspielraum und dadurch sekundär auch das Selbstwertgefühl bessern. Jene Rick´sche Methode hat auch Integrationsmöglichkeiten in Physiotherapie, Pädagogik, Sozialpädagogik, Psychotherapie und Bewegungsunterricht. Ansprechadressen für Tanztherapie: Deutschland: Bundesvereinigung für Tanz- und Ausdruckstherapie Gerhard Hauptmannstraße 55 D-51379 Leverkusen Telefon: +49 (0) 2 71-73 70 27
oder: Langen Institut für Tanz- und Ausdruckstherapie c/o Rathausstraße 20–22 D-50169 Kerpen Telefon: +49 (0) 22 73-9 32 50 Fax: +49 (0) 22 73-9 32 59 E-Mail: [email protected]
Schweiz: Fr. Anneliese Zimmermann Centrum für Bewegung Spiel Kunst Neugasse 25 CH-6300 Zug Telefon: +41 (0) 79-3 42 09 78 E-Mail: [email protected] Österreich: Langen Institut Wien Studio für Tanztherapie Kaiserstraße 6/2 A-1070 Wien Telefon: +43 (0) 1-523 23 45
Kreativtherapie Dabei werden Zeichnungen, Malereien und Plastiken von den Patienten gemacht. Weitgehend sind die Ergotherapeuten darin geschult, manchmal werden auch speziell künstlerisch ambitionierte Kräfte dafür eingestellt. Unter dem salutogenetischen Aspekt sieht Lorenz drei wesentliche Faktoren darin: 1. Die innewohnenden Gestaltungskräfte zu entwickeln, leibnah zu spüren und ausdrücken zu können. 2. Im symbolischen Ausdruck können alternative Sichtweisen erkennbar werden, die sonst verborgen geblieben wären. 3. Durch Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einzelne Sinnesaktivitäten erfolgt eine Steigerung der Sensibilität. 4. Wenn man die gestalteten Dinge anschließend mit dem Patienten unter dem Aspekt bespricht, dass man auf den Symbolcharakter eingeht, ergeben sich zusätzliche psychotherapeutische Möglichkeiten. Wir haben emotionale Erschütterungen und Erkenntnisse bis zu Tränenausbrüchen erlebt. – Mit Bezug auf unsere Einteilung der Psychotherapieformen in A1 ist das ein Teil der möglichen Darstellungstherapie.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Konzentrative Bewegungstherapie Sie benützt das „Anspüren“ gewisser Körperpartien und Körpersensationen gleichzeitig mit Übertragungs- und Gruppenerlebnissen. Die KBT wird aber auch in Einzel-Therapie angewandt. Es soll dabei zu einer „Regression im Dienste des Ich“ kommen und dadurch zu einer konzentrativen Beschäftigung mit frühen Erfahrungsebenen (einfühlend und handelnd). Es werden Erinnerungen belebt, die bis in die vorverbale Zeit zurückreichen können. Verwendet wird Eigen- und Fremdberührung, Druck, Gegendruck, Loslassen, Umgang mit Gegenständen (Stab, Ball, Seil, Decken, Sandsäcke, Steine, Muscheln, Hölzer). In diesen praktischen Angeboten aus dem Alltag soll gerade das Besondere der Methode liegen (Ulrike Witt; sowie Christine Gräff). Die Jakobson’sche Relaxation Dabei wird der Probant dazu angeleitet, willkürliche Anspannungen unterschiedlicher Muskelpartien zu machen und dann wieder willkürlich zu entspannen. Durch den Kontrast soll er die Entspannung besser wahrnehmen und damit auch zu einer vollständigeren Entspannung kommen. Marx benützt die Methode (u. a.) auch zur Einleitung von Imaginationsverfahren. Persönlich hat er mir dazu gesagt, dass sehr wohl hypnoide Zustände durch die Jakobson’sche Relaxation kanalisiert werden können, wenn sie auch a priori nicht angestrebt werden. Hemmer (pers. Mitt.), ein in der Praxis befindlicher Nervenarzt, der mit Jakobson arbeitet, hat das bestätigt. Yoga hat etliche unterschiedliche Formen. Einzelne davon zumindest benützen den Atem als Eintrittspforte zur Psychodynamik. Ebenso die (speziell danach benannte) „Atemtherapie“. Auch dabei scheint es zu hypnoiden Zuständen zu kommen. Es ist also das Hypnoid sehr wohl in etlichen Methoden (nebenbei) „vorzufinden“. Wie schon in C1 besprochen, ist es ja ein 3. menschlicher Grundzustand, der nicht nur gezielt in der Psychotherapie verwendet wird.
Etliche andere, über den Körper gehende Maßnahmen haben auch („nebenbei“) psychotherapeutische Wirkungen im Sinne des bei Psychosomatik Gesagten (A1). Sie sind mehrfach in vorstehenden Zeilen vorgekommen, werden üblicherweise in gesondertem Kontext abgehandelt. Erwähnt seien: • Logopädie, • Physiotherapie (in Deutschland Krankengymnastik), • Ergotherapie, • die ganze Kur-Medizin mit Bädern, Massagen, Packungen etc. (noch näher beim Schmerz, G).
G. Psychotherapie und Schmerz / G1. Der Schmerz
G.
335
Psychotherapie und Schmerz
Schlagwort-Information Hier geht es vor allem um eine „begleitende“ Psychotherapie neben rationeller Medikation, wie sie von modernen Schmerzzentren generell zur Optimierung der Möglichkeiten gefordert wird.
G1.
Der Schmerz
In den letzten zwei Jahrzehnten ist der Schmerz zu einer eigenen medizinischen Disziplin, der Algologie, geworden. Es gibt auch schon spezielle Bücher dazu (Flöter und Zimmermann, Diener und Maier). Die betreffenden Spezialisten kommen überwiegend aus den Bereichen der Neurologie, der Anästhesie, der Anästhesiologie und der physikalischen Medizin. Umso beachtenswerter ist es, dass in den beiden genannten „Schmerz-Büchern“ der Psychotherapie große Bedeutung zugemessen wird. Flöter u. Zimmermann bezeichnen es für jedes Schmerzzentrum als Verpflichtung „Schmerz-Psychologen“ einzubinden (dass dazu allerdings nicht nur Psychologen wesentlich zu fordern sind, sondern auch die psychotherapeutische Schulung der Ärzte und deren aktive Psychotherapie würde ich hinzufügen). In dem zweitgenannten Schmerz-Buch schreiben Maier u. Baron, dass bei einem Drittel der Patienten der Bochumer Schmerzklinik intensivere psychotherapeutische Versorgung angezeigt war, und diese eine Schlüsselstellung für die Gesamttherapie einnimmt. Die physikalischen Mediziner Schöps u. Nebe bezeichnen drei therapeutische Wege als gleichermaßen hauptwichtig für die Schmerztherapie, nämlich den medikamentösen, den physiotherapeutischen und den psychologischen Weg. Es ist interdisziplinär also durchaus zeitgemäß in einem Psychotherapie-Buch auch speziell auf die Psychotherapie beim Schmerz einzugehen.
Der Schmerz hat unterschiedliche Funktionen im Rahmen der somatopsychosozialen Einheit Mensch. Abb. 26 gibt eine schematische Darstellung. Es ist notwendig, sich darüber im Klaren zu werden, weil nur bestimmte Arten von Schmerz der psychotherapeutischen Zuwendung bedürfen. ad 1.*) Der Schmerz als Freund und Warner (also als Signal für eine behebbare Organschädigung) muss zu seinem Ursprung hin verfolgt werden, um die Causa zu beseitigen. Hier wäre ein „Zudecken“ schädlich und gefährlich. Beispielhaft denke man an die durchaus bestehende Möglichkeit einen Appendizitis-Schmerz durch Hypnose zu desaktualisieren. Das wäre ebenso schädlich und schlecht wie ihn durch ein starkes Schmerzmittel zu übertönen, s. auch Beispiel der drohenden Uterus-Ruptur in E3.
* ) Nummerierung entspricht der Abb. 26.
336
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
ad 2. Beim Schmerz als Begleitphänomen unterscheiden wir zwischen: a) Kurzdauernden, rasch abklingenden Schmerzen, die keinerlei wesentlicher Beachtung bedürfen und mit einfachen Analgetika zu überdecken sind. Kopfschmerz bei Grippe oder einem Alkoholkater. Auch heftige Schmerzen, die nach einer Operation bestehen können, brauchen, wenn sie kurzdauernd sind, keine wesentliche Psychotherapie und können vorübergehend mit hohen Analgetikadosen zugedeckt werden. Wir haben aber in Kap. C3 gezeigt, dass durch begleitende Hypnose in der Anästhesie und in der Nachbehandlung sehr viel an Narkose und Schmerzmittel eingespart werden kann.
(Kopf-)Schmerz Differenzierung und Psychotherapie-Indikation Psy. – 1. (Leit-)Symptom, „Freund und Warner“ Psy. ± 2. Begleitsymptom
5. Weg zu einer (defin.) Psy. ± Krankheit / Abusus und Folgen
Klinische Relevanz
Psy. + 4. Chronifiz. Leiden
besteht
3. (Haupt-)Teil eines Syndroms Psy. + – Migräne – Schmerz in Rehabilitation
Psy. + 6. Symbolisch – Appell-Instrument – sekundärer Leidens-Gewinn Psy. 0 7. Therapeutikum
Psy. 0 9. Haupt-Instrument einer pervert. „Folter-Medizin“
Menschl. NegativVarianten
Psy. 0 8. Lustgewinn (SadoMasochismus)
besteht nicht mehr
Abb. 26 Der Schmerz hat verschiedene Funktionen im menschlichen Organismus und auch in der menschlichen Gesellschaft. In der Psychotherapie ist es wesentlich, sich dessen bewusst zu sein, um nicht nur den Schmerz als letzte Station einer Endstrecke zu sehen, sondern im Rahmen einer tiefergehenden Analyse die verschiedenen Möglichkeiten auszuloten und dadurch Ursachen näher therapeutisch angreifen zu können. Psy. bedeutet: (Mit-)Angehbarkeit durch Psychotherapie (wie im Folgenden noch näher ausgeführt wird).
G. Psychotherapie und Schmerz / G1. Der Schmerz
337
b) Schmerzen, die aus einer lang bestehen bleibenden und/oder schlechter werdenden Erkrankung entstehen. Z. B. Schmerzen bei Wirbelmetastasen, Osteoporose-Schmerzen oder Gelenksschmerzen, die bei alten Menschen eine notwendige und mögliche Physiotherapie hemmen etc. Auch der Phantomschmerz und der Thalamusschmerz gehören hier dazu. Auch dabei hat Psychotherapie einen wichtigen begleitenden Platz (wie schon in D2, Abb. 12b aufgezeigt).
ad 3. Schmerzen, die bei bestimmten Syndromen auftreten, ohne dass irgendeine behebbare Causa feststellbar ist. Hier ist besonders die Migräne zu nennen, in gewissem Sinn auch der nicht-anfallsartige Kopfschmerz. Hierbei hat Psychotherapie in Kombination mit sonst sinnvoller Therapie einen wesentlichen Platz. ad 4. Es kann sich aus Schmerzen ein chronifiziertes Leiden entwickeln, wobei sich die Schmerzen – losgelöst von ihrer sinnvollen Warnfunktion und/oder ohne dass man die Causa angehen kann – persistieren. Man vergleiche dazu insbesondere die später noch genannte „Schmerzspirale“ (auch „sich selbst unterhaltender Schmerzkreis“ genannt). Aber auch die unter 2b schon genannten Schmerzen bei Wirbelsäulenmetastasen gehören dazu, eine wichtige Indikation für Psychotherapie. ad 5. Daraus kann sich hinwiederum eine sekundäre Krankheit entwickeln mit neuen Beschwerden. Genannt sei vor allem Schmerzmittelabusus und Sekundärschäden (insbesonders Nierenschäden) durch diesen. Wenn einmal Nierenschäden eingetreten sind, können diese natürlich durch Psychotherapie nicht beeinflusst werden. Auch der Abusus gehört leider zu den psychotherapeutisch schlecht angehbaren Krankheitsbildern, aber immerhin gehört es zu unseren ethischen Aufgaben auch dort unser Möglichstes zu versuchen und dazu gehört auch Psychotherapie (siehe noch folgend bei Therapie des chronifizierten Kopfschmerzes). ad 6. Der Schmerz (respektive die Schmerzäußerung) als symbolischer Ausdruck eines psychogenen Notstandes darf (natürlich) vom Arzt mit einiger psychotherapeutischer Einfühlung nicht als „nur funktionell“ abgetan werden und vielleicht der Patient gar damit einfach konfrontiert werden, ohne die psychodynamischen Wurzeln zu ergründen und möglichst zu desaktualisieren. Hier geht es also nicht um das eigentliche Behandeln des Schmerzes, sondern dessen, was dahinter liegt. – Ich gehe bei Besprechung „funktioneller Schmerzen“ noch näher darauf ein, insbesondere auf den Zusammenhang mit dem sogenannten „sekundären Krankheitsgewinn“. ad 7. Schmerz als ärztliche Behandlung wird in der Medizin abgelehnt. Solches wurde jedoch in der offiziellen medizinischen Schule der Nachkriegszeit des 1. Weltkrieges durchaus angewandt, nämlich schmerzhaftes Elektrisieren bei den sogenannten „Kriegszitterern“, also Neurosen, die im und nach dem Krieg aufgetreten waren. Man glaubte damit die
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
funktionelle Komponente ausschalten zu können. Diese Methode hat auch einen Namen, die „Protreptik“. – Wie gesagt eine moderne Psychotherapie lehnt derlei scheinbares Heilen durch Schmerzen ab, denn es ist natürlich immer nur ein scheinbares Heilen (wenn überhaupt), abgesehen davon etwas, das wir ethisch nicht vertreten können. Es kommt schon in die Nähe dessen, was ich als nächstes nenne, nämlich:
ad 8. Eine menschliche Perversion ist der Schmerz als Lustinstrument im Sadismus und Masochismus; worüber wir uns hier nicht weiter verbreitern wollen. ad 9. Schmerz in der „Foltermedizin“ als eine besonders verabscheuungswürdige Negativausblühung unserer Wissenschaft (A4). Abb. 27 zeigt den Schmerz als multifaktorielles Geschehen, das von drei wesentlichen Komponenten abhängt: • organischer Reiz-ReaktionsAblauf, • Persönlichkeit, • Vegetativum. Diese 3 Faktoren (welche in der Abb. 27 aufscheinen und näher erklärt werden) sind durch mehrfache Vernetzung miteinander in Bezug.
Neurophysiologisch wissen wir, dass der organische Reizreaktionsablauf folgendermaßen erfolgt: Die sensorischen Nervenendungen bilden Schmerzrezeptoren, welche über peripheren Nerv, Rückenmark und Hypothalamus zur Körperfühlsphäre im Großhirn verlaufen. Dort erfolgt dann die Signalwirkung auf den motorischen Kortex, der den Bewegungsapparat entsprechend zum Reagieren bringt. Beispiel: Berühren der heißen Herdplatte führt zu Wegziehen der Hand. Dabei gibt es jedoch gewisse Zwischenstationen, nämlich: a) Reflexbogen, die zwar ohne Eintritt ins Gehirn direkt auf spinalem Niveau zu Reflexen führen, aber von zerebralen Einflüssen modifiziert werden können. b) Der Hypothalamus ist eine wichtige Umschaltstelle zwischen Psyche und körperlichen Funktionen und zwar nach beiden Richtungen. Schmerzreize können also bevor sie die Großhirnrinde erreichen, gleichzeitig Auswirkungen auf Psyche und Vegetativum haben; Diese können aber vice versa auch Einflüsse auf die Schmerzempfindung entfalten. Es darf daran erinnert werden, dass wir schon bei der Neurophysiologie des Hypnoids (C1) darauf hingewiesen haben, dass derartige „subkortikale Modifikationen“ von Reizen stattfinden. Wir konnten zeigen, dass zwar einerseits der Reiz von der Peripherie zum Kortex auch unter Hypnose stattfindet (Ankommen der evozierten Pozentiale), dass aber andererseits in Zusammenhang mit einer derartigen subkortikalen Modifikation der identische Reiz verschieden wahrgenommen wird. Hier haben wir also schon eine der Möglichkeiten, wie die Psychotherapie im Schmerzgeschehen eingreifen kann. (Praktisch wird es noch später ausgeführt.)
339
G. Psychotherapie und Schmerz / G1. Der Schmerz
Organischer Reiz-Reaktions-Ablauf
„Persönlichkeit“
▼
M u s k e l
S p a s t i k
Langzeitentwicklung
Konstitution Biografie Sozial-Umfeld
Momentansituation
Stimmung Verstimmung Akut-Situation
Reaktion Empfindung Wahrnehmung Transmission
Schmerzerlebnis
Noxe ▼
Peripherie
Vegetativum
Abb. 27 Schmerz ist mehr als eine Empfindung, vielmehr ein Erlebnis von großer Komplexität, aus drei Hauptquellen, nämlich • dem anatomischen Empfänger- und Leitungsapparat für Schmerzen, • einer Vielfalt von soziokulturellen und individuellen psychologischen Determinanten im Rahmen der Gesamtpersönlichkeit, • der vegetativen Reaktionen. Es bestehen mehrfache Wechselwirkungen im Rahmen eines psychoorganischen Regelkreises, wofür im Hypothalamus eine wesentliche Verteiler- respektive Umschaltstelle liegt. Die Psychotherapie kann und soll sich diese vielfachen Zusammenhänge zunutze machen.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Faktoren aus der Gesamtpersönlichkeit, die die (Schmerz-)Reizwahrnehmung beeinflussen. Neben den genetischen, sind es die familiär-soziokulturellen. Schließlich kommt auch die momentane Situation zur Wirkung. In einer depressiven Grundverstimmung nimmt man alles viel schwerwiegender wahr, als in einer normalen Stimmung. Gegenteilig kann in besonders emotional belastenden Traumasituationen das Schmerzempfinden ganz ausgeschaltet sein. So weiß man von Verwundungen der Frontsoldaten, dass diese manchmal den Verlust eines Beines erst dadurch merkten, dass sie beim Aufstehen hinfielen, nicht etwa durch die Schmerzen. Ich kann auch aus eigener Erfahrung ein betreffendes Ereignis beschreiben. Ich hatte einen Reitunfall mit Bruch beider Schlüsselbeine. Das ist erfahrungsgemäß (und wie ich nach-
340
I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
her auch fühlen musste) eine äußerst schmerzhafte Sache, weil jede Atemexkursion und jede Bewegung durch das Aneinanderreiben der Bruchenden starke Schmerzen verursacht. Ich fühlte aber am Boden liegend überhaupt keine Schmerzen und diese Schmerzlosigkeit dauerte etwa 10 min. an, so dass ich allein mit meinem Auto heimfahren wollte (was mir die Umstehenden vernünftigerweise ausredeten). Erst dann (wie gesagt nach etwa 10 Minuten) kamen heftigste Schmerzen auf. Als Erklärung dafür nimmt man an, dass in der akuten Notfallreaktion des Körpers neben der Adrenalinausschüttung auch eine vermehrte Ausschüttung von Opioiden (Endorphinen) erfolgt, welche jenen Schmerz-ausschaltenden Effekt haben. Darüber hinaus gibt es auch andere vegetative Reaktionen auf den Schmerz, die über den Hypothalamus laufen, wie Schweißausbruch, allgemeine Gefäßreaktion (Blässe) bis Stuhlabgang, Ohnmacht etc.
Zentrale Schmerzen entstehen ohne peripheren Rezeptor (Phantomschmerzen, Thalamusschmerzen), führen daher auch typischerweise nicht direkt zu einer motorischen Reaktion. Das Gleiche gilt für die neuropathischen und vom Rückenmark ausgehenden Schmerzen. Sie entstehen im Leitungssystem, ohne Irritation der peripheren Schmerzrezeptoren. Im Übrigen gilt Vorgesagtes, bezüglich des Zusammenhanges mit Persönlichkeit und Vegetativum. Wie schon mehrfach in vorliegendem Buch zum Ausdruck gekommen ist, besteht also auch beim Schmerz zwischen den drei wesentlichen Dimensionen der menschlichen Persönlichkeit, der somatischen, psychischen und sozialen, ein ausgeprägtes Regelkreissystem mit mehrfach wechselseitigen Beeinflussungen.
G2.
Integrierte Psychotherapie beim Kopfschmerz
Hier wird deshalb der Kopfschmerz als ein Sonderabschnitt für den Einsatz der Integrierten Psychotherapie herausgegriffen, weil er einerseits ein sehr häufiges Problem in der allgemeinen Praxis darstellt (je nach Autoren werden 3–10% der Allgemeinpopulation angegeben), anderseits ein Gebiet ist, mit dem ich mich jahrelang intensiver befasst habe, woraus auch eine umfassende Darstellung der Problematik stammt (Barolin: Kopfschmerz multifaktoriell – 2003 aktualisiert). Es ist heute eine (von USA + Skandinavien importierte) sehr komplizierte „IHS-Nomenklatur“ im Schwange (International Headache Society), welche über 500 Kopfschmerzarten (!) nennt, nämlich abgesehen vom Erscheinungsbild der Kopfschmerzen auch alle Ätiologien extra bezeichnet und überdies in den einzelnen Erscheinungsbildern noch etliche Untergruppen. Diese IHS-Nomenklatur erscheint mir (gelinde gesagt) „kaum“ brauchbar, das übrigens gemeinsam mit dem deutschen Kopfschmerzexperten Diener 2002 („wenig hilfreich im klinischen Alltag“) und etlichen anderen. Vor allem sind aber die vielfachen psychischen Dimensionen im Kopfschmerzgeschehen völlig unterbelichtet. In der vorigen Ausgabe der Kopfschmerznomenklatur gab es sie überhaupt nicht und in der jetzigen neuen gibt es nur zwei Arten von Kopfschmerzen, die auf „psychiatrische Störungen zurückzuführen sind“.
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1. Kopfschmerz durch Somatisierungsstörung. Mit einer Reihe von (nicht nachvollziehbaren!) Kriterien, nämlich: Schmerzsymptome + gastrointestinale Symptome + ein sexuelles Symptom und ein pseudo-neurologisches Symptom (?). 2. Kopfschmerzen durch eine psychotische Störung, bezieht sich vor allem auf Kopfschmerzen in Zusammenhang mit Wahn.
Aus langjähriger Erfahrung mit Kopfschmerz-Patienten kann ich sagen, dass Derartiges zu den Seltenheiten gehört und ich auch der Spezifizierung in keiner Weise folgen kann. Von depressiven Faktoren und vielfachen anderen psychischen (Mit-)Ursachen, die im Folgenden noch zur Sprache kommen, ist wie gesagt keine Rede. Das obwohl eine beträchtliche Literatur über psychogene (Mit-)Ursachen des Kopfschmerzes existiert. Man erfährt auch reichlich über psychiatrische und psychotherapeutische Wege, z.B. im mehreren 100 Seiten starken Buch C. Adler und Mitarb. „Psychiatric aspects of headache“. Weiteres diesbezüglich ist in vorliegenden Zeilen reichlich zu finden. Teilweise ist in jener Literatur wohl – auch meiner Ansicht nach – „das Psychische“ zu isoliert betrachtet und „das Somatische“ unterbelichtet. Aber deswegen die Psychogenie zu skotomisieren, wie es die IHSNomenklatur macht, ist sicher zumindest ebenso falsch.
Ich verwende daher im Folgenden die seinerzeit (unter unserer Mitwirkung) erarbeitete Klassifikation des 1. Internationalen Arbeitskreises für Kopfschmerz-Forschung im deutschen Sprachraum, setze sie aber in Bezug zur IHS-Nomenklatur, damit der geschätzte Leser sich auskennt, wenn er Hiesiges mit anderer Literatur vergleichen möchte (Abb. 28). Das Wesentliche daran ist eine 2-stufige Einteilung (im Gegensatz zur 1-stufigen der IHS – daher dort so viele Untergruppen), die einerseits die Phänomenologie, anderseits die Ätiologie berücksichtigt. Sie ist aus folgenden Gründen günstiger: 1. Einfach nachvollziehbar und Praxis-entsprechend. Dort wird ja auch zuerst einmal die Phänomenologie erfragt und dann nach der Ätiologie geforscht. 2. Man kann darin bei den ätiologischen Faktoren auch gut entsprechende Zielsymptome für die Psychotherapie bei Kopfschmerz ansprechen (was bei der IHS-Nomenklatur überhaupt unmöglich ist, denn dort fehlen ja [wie gesagt] die psychischen Kriterien weitgehend). 3. Während die IHS Nomenklatur mit ihren 500 Kopfschmerzformen mehrere dutzend Seiten füllt, kann man hier im Rahmen von 2 Seiten eine bindende und klare Diagnostik aller gängigen Kopfschmerzformen vollziehen mit gleichzeitiger diagnostischer Wegweisung. Es sind – soweit wir es überblicken konnten und können – alle bekannten Kopfschmerzen in der aufgezeigten 2-stufigen Diagnostik unterzubringen.
Unter Betrachtung dieses Schemas, sei auf die Frage eingegangen: „Gibt es einen psychogenen Kopfschmerz?“ Die Antwort lautet: „Ja / nein“. Das „Nein“ heißt: Es gibt keine typische Kopfschmerzphänomenologie, die uns signalisiert: „dieser Kopfschmerz ist rein oder überwiegend psychogen“.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
2-stufige Einteilung des internationalen Arbeitskreises für Kopfschmerzforschung im deutschen Sprachraum (ausführlich in Barolin 2003 aktualisiert) A) nach der Phänomenologie 1. Anfallsartiger Kopfschmerz für Stunden bis Tage mit kopfschmerzfreiem Intervall dazwischen, meist mit vegetativer Begleitsymptomatik (vor allem Erbrechen, aber auch Harnflut, allgemeine Abgeschlagenheit, etc.) = Migräne. 2. Nicht streng anfallsartiger Kopfschmerz (wellenförmig, episodisch oder „dauernd“) – wird laut IHS als „Spannungskopfschmerz“ bezeichnet, auch wenn keine Anzeichen einer (Ver-)Spannung muskulär oder durch Druckpunkte fassbar sind. – Früher nannten wir das Bild „Cephalea“ und kannten nur den Spannungskopfschmerz im engeren Sinn, worauf ich folgend noch eingehe. Ich bezeichne im Folgenden weiterhin jeden nicht anfallsartigen Kopfschmerz als Cephalea, ohne damit die Ätiologie zu präjudizieren. 3. Kombinations- und/oder Übergangsformen dieser beiden Kopfschmerzformen, von mir als migränoide Cephalea bezeichnet (IHS: „Kombinationskopfschmerz“). 4. Etwa 1/4 Stunden dauernde Schmerzanfälle im vorderen Kopfquadranten mit autonomer Begleitsymptomatik des geröteten Auges, Augentränen, Nasenfluss, etc.; wird heute Cluster-Kopfschmerz genannt, hieß früher Bing-Horton-Syndrom oder neuralgoide Migräne. 5. Blitzartig einschießende Schmerzen für Sekunden bis Halbminuten-Dauer in einer Gesichtshälfte sind die Neuralgien (nach neuer und nach alter Nomenklatur). B) nach Ätiologie und Pathophysiologie (multifaktoriell): Patho-physiologisches Grund-Prinzip (auch „Prädisposition“) • Heredität • Vegetativ-vasomot. • Stoffwechsel • (Endo-)Toxine • Lokale Irritat.
a) „Ursachen“ b) Auslöser c) Modifikatoren, Folgen ad a 1) „idiopathisch“ ad a 2) lokale Irritation: Narbe, Degenerat., Überbeanspr., Trauma (insbes. HWS), Entzündg., Raumford. (insb. Meningen, HNO, Zahn) ad b) Nahrung, Wetter, Menses, Wachstum ad c) Gutachtenssituation, Abusus, etc.
C) Psychische Komponenten insbes. Depression, aber auch psychodynamisch belastende Faktoren in der Ausgangslage oder als Modifikator Unterstrichen bedeutet Möglichkeit der psychotherapeutischen Einflussnahme. Abb. 28 A) Phänomenologisch werden die 5 wesentlichen Erscheinungsformen differenziert, welche klinisch eine Rolle spielen und auch wesentlich unterschiedliches Angehen verlangen. B) In Ätiologie und Pathophysiologie kommen einerseits Grundprinzipien respektive Grundstörungen zum Tragen, anderseits (Mit-)Faktoren. C) Die psychischen Komponenten können einerseits als depressive Grundverstimmung wirken, anderseits Folgen oder Ausdruck chronischer Schmerzen sein.
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Auch eine typische Migräne-Persönlichkeit und eine Verursachung durch spezielle Psychodynamik (somit „psychosomatischer“) Kopfschmerz wurde mehrfach gesucht und postuliert. Dies hat aber systematischen Untersuchungen nicht standgehalten und kann heute wissenschaftlich nicht mehr vertreten werden (ausführliche Argumentation im Kopfschmerzbuch: Barolin).
Das „Ja“ in obiger Antwort bezieht sich darauf, dass bei einer Vielzahl von Kopfschmerzpatienten psychogene Faktoren mitursächlich für die Kopfschmerzen sind. (Plausibel aus Abb. 27.) Wie kann man sich die psychogene Mitverursachung vorstellen? Selbstverständlich ist „die Psychogenität“ oder „Funktionalität“ kein giftiger Nebel, der irgendwie und irgendwo im Körper entsteht, aufsteigt und Kopfschmerzen verursacht, sondern es sind dafür gewisse Organsysteme als „psychosomatische Brücken“ anzunehmen. Abb. 29 stellt diese dar und auch bei welchen Organsystemen die psychogenen Ursachen eine stärkere und bei welchen sie eine geringere Rolle spielen. – Dabei ist festzuhalten, dass das Gehirn selbst keine Schmerzrezeptoren hat (was von neurochirurgischen Eingriffen in Lokalanästhesie bekannt ist). Der Kopfschmerz bei Hirntumoren geht nicht über Rezeptoren im Gehirn, sondern über Irritation des meningealen Gefäßbereiches.
Kopfschmerz-Verursachung Haupt-Strukturen
Haupt-Ätiologien
• Hirnhäute • Schleimhäute • Beinhäute, Muskeln, Sehnen • Nerv • Gefäß Abb. 29 Bestimmte Organsysteme – vor allem solche, welche mit Bewegungsablauf der Halswirbelsäule zusammenhängen – sind besonders geeignet, auf psychogene Faktoren so anzusprechen, dass Kopfschmerzen entstehen oder verstärkt werden. Man denke nur an das Wort „den Kopf hängen lassen“ oder die Aufforderung „Kopf hoch!“ Hingegen können andere Organsysteme auch zu Kopfschmerzen führen, sind aber kaum psychisch abhängig oder beeinflussbar.
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Es ist evident, dass eine Hirnhautentzündung, Hirnblutung oder eine eitrige Nebenhöhlenentzündung (das sind lauter Krankheitsbilder, welche Strukturen mit Schmerzrezeptoren betreffen und bei denen folglich Kopfschmerzen typischerweise vorkommen) keine wesentlichen psychogenen Mitverursacher für Kopfschmerzen braucht. Hingegen sind Muskel, Gelenksflächen und Gefäße vor allem im Halswirbelsäulenbereich sehr dafür geeignet, durch psychogene Faktoren zu Schmerz(mit-)ursachen zu werden, das gilt vor allem für die Halswirbelsäule (siehe noch später – „Spannungskopfschmerz im engeren Sinn“).
In Einzelfällen kann die Psychogenität in dem multifaktoriellen Kopfschmerzgeschehen so überwiegend sein, dass es tatsächlich genügt, an dieser einen Stelle anzugreifen, um die Kopfschmerzen auszuschalten. Wir sprechen in solchen Fällen von „funktionellen“ Kopfschmerzen. Es soll aber besonders betont werden, dass der Einsatz der Integrierten Psychotherapie nicht nur für diese „funktionellen“ Kopfschmerzen indiziert ist. Sie sollte entsprechend der Analyse des Kopfschmerzes neben und mit Physiotherapie, Pharmakotherapie und lebenshygienischen Maßnahmen, angewandt werden (diese werden hier nur kursorisch behandelt. Für eine genaue Beschreibung sei auf das genannte Kopfschmerzbuch verwiesen).
Vorerst eine Aussage darüber: Was kann unsere 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training (D2) beim Kopfschmerz? (Abb. 12b). Die Aussage erfolgt anhand einer einmalig systemisch ausgewerteten Serie. – Die übrigen langjährigen Erfahrungen gehen jedoch in die gleiche Richtung. Summarisch wurden 24 Kopfschmerzpatienten erfasst, von denen 16 eine günstige Wirkung angaben. Je nach Art des Kopfschmerzes ist jedoch die Wirkung sehr unterschiedlich. Generell gehört der Kopfschmerz zu den in der Psychotherapie weniger gut ansprechenden Leiden. Trotzdem verpflichtet uns die fallweise gute Wirkung dazu, Psychotherapie dabei nicht zu vernachlässigen.
Dem liegt eine Auswertung durch Baghaei Yazdi zugrunde. Dass die Patienten an unserer Fachabteilung entsprechend durchuntersucht und auch mit anderen indizierten Therapieangeboten versorgt waren, sei nochmals klargestellt. Die Psychotherapie lief also als Zusatztherapie („add on“), entsprechend unserem Prinzip der „Integrierten Psychotherapie“. Es liefen jeweils „inhomogene Gruppen“ (D3), es waren also keine speziellen Kopfschmerzgruppen, sondern die Kopfschmerzpatienten waren „auch“ Patienten in einem allgemeinen PsychotherapieKlientel. Die Gruppentherapie verlief entsprechend den in Abschnitt D ausführlich dargestellten Regeln. 6 von 9 Migräne-Patienten gaben nach unserer Gruppentherapie eine deutliche Besserung an, wie ich es als „Entschärfung der Auslösersituation“ bezeichne: Es kam zu größerer allge-
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meiner Gelassenheit, die Anfälle wurden weniger häufig und weniger stark. 2 davon gaben an, ihre Migräne mit dem AT meist kupieren zu können, nur „ganz schwere“ kämen manchmal durch (eine Patientin). Die zweite konnte nur die Migräneanfälle untertags kupieren, aber nichts dagegen ausrichten, wenn sie schon morgens damit erwachte. Bei den 3 weiteren Patienten war der Erfolg mäßig bis fraglich. Bei 7 von 11 Cephalea-Patienten (nicht anfallsartiger Kopfschmerz oder nach der neuen Nomenklatur Spannungskopfschmerz) kam es zu einer eindeutigen Besserung. Bei 2 blieb die Besserung fraglich und die 2 restlichen waren hinsichtlich ihrer Kopfschmerzen erfolglos. Davon brach einer die Therapie vorzeitig ab. 4 Patienten litten an dem, was in unserer vorgegebenen Einteilung als migränoide Cephalea bezeichnet wird. Davon stellte sich bei 3 eine deutliche Besserung ein. Es schien uns wesentlich, diese generellen Möglichkeiten der Psychotherapie beim Kopfschmerz darzustellen, insbesondere im Hinblick auf deren völlige Negierung durch Diener (2002, 2003) und im deutschen Konsensuspapier (s. Endpassage dieses Kapitels).
Im Folgenden nun nähere Ausführungen zu einer komplexen Kopfschmerztherapie (entsprechend unseren Prinzipien für eine Integrierte Psychotherapie) mit den wesentlichen Differenzialkriterien. 1. Migräneanfälle können also – wie gezeigt – auf fremd- oder selbsthypnotischem Weg des AT in Einzelfällen abgefangen werden. Formel: „Kopf ist leicht und frei“, „Schmerz fließt vom Kopf in die Beine ab und dort aus dem Körper hinaus“ oder ähnlich und verbinden das mit der entsprechenden Vorstellung (das waren Formeln unserer Patientinnen, die tatsächlich ihre Migräne mit AT kupieren konnten). Es gehört aber eher zu den Ausnahmen, dass es gelingt. Viel häufiger und praktisch wirkungsvoller ist es, dass man die Auslöserzonen entschärfen kann. Dazu gehören Auslöser im vegetativen und/oder psychischen Bereich. Hier geht es wiederum einerseits um eine gewisse Aufdeckung und Bewusstmachung, anderseits um eine Desaktualisierung, wozu die hypnoiden Maßnahmen insbesondere AT mit Formelbildung geeignet sind. So können wir etwa von Patienten dann hören: „Seit mich das alles nicht mehr so aufregt, habe ich auch viel weniger Migräne.“ Sicherlich am Wesentlichsten bei der Migräne ist die Pharmakotherapie und ich hielte es für praktisch untunlich zuerst ausschließliche Versuche mit Psychotherapie zu machen (Psychotherapie jedoch als Zusatztherapie). Wir unterscheiden Kupierungs- und Intervalltherapie. Es ist heute üblich, als Kupierungsmedikament erster Wahl hochdosiertes Aspirin (3 x 1500 mg = 3 Brausetabletten auf einmal) zu geben plus Antiemetika oder – wie sie auch kategorisiert werden – Darmprokinetika: wie Metoclopramid (Paspertin®) oder Domperidon (Motilium®). Außerdem sind zur Kupierung die Triptane auf den Markt gekommen. Neben dem ältesten noch immer sehr gebräuchlichen Sumatriptan 100 mg (Imigran®) ist heute vor allem Eletriptan 40 mg (Relpax®) zu nennen. Es wurde schon im deutschen Konsensuspapier 2000 an erster Stelle genannt und kürzlich in einer weiteren Monsterstudie (welche 2113 MigränePatienten umfasste) in Zusammenschau der verschiedenen Parameter gegenüber dem Sumatriptan als günstiger erwiesen (Mathew und Mitarbeiter). Das Ansprechen auf Medikation ist jedoch individuell verschieden und man muss daher mehrere Medikamente kennen, so auch die anderen neuen Triptane (vergleiche Barolin 2003 aktualisiert).
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Kommt man mit der Kupierung aber nicht durch, so gibt man Intervalltherapeutika. Dazu gibt das Konsensuspapier der Österr. Kopfschmerzgesellschaft 2002 (Wessely und Wöber) folgende drei Medikamente in erster Wahl an: • Betablocker, nämlich Propanonol (Inderal®), individuell falls nötig aufdosiert bis 2 x 240 oder Metroprolol (Beloc®) bis 200 mg pro Tag. • Kalziumblocker, wie Flunarizin (Amalium®, Sibelium®) als Einmalgabe 5–10 mg abends. • Antiepileptika, vor allem Valproat (Convulex®, Depakine®) ebenfalls individuell schon ziemlich hoch beginnend (500 mg pro Tag aufzudosieren bis 1500 mg pro Tag). Ein neueres Antiepileptikum Topiramat (Topamax® – 50, 100 und 200 mg; es wird empfohlen mit 100 mg zu beginnen) soll sich besonders gut bewährt haben; ist in der Schweiz und Österreich schon mit Indikation als Migräneprophylaxe zugelassen und soll auch in Deutschland demnächst dafür in die offizielle Zulassungsregelung für Migräne-Prophylaxe kommen. Als (für manche nicht unerfreuliche) Nebenwirkung wird leicht gewichtsreduzierende Eigenschaft beschrieben, die aber nicht ausgeprägt genug ist, um es direkt zur Gewichtsreduktion zu empfehlen. Ich habe auch von den älteren Antiepileptika fallweise guten Effekt gesehen, etwa Maliasin®, welches den Vorteil hat, nicht müde zu machen. Praktisch wichtig ist bei der Verschreibung von Antiepileptika, (da ja die Epilepsie als Indikation auf dem Beipackzettel steht), dass man dem Patienten sagt, man hält ihn deswegen nicht für einen Epileptiker, aber die Antiepileptika können auch bei Migräne gut wirken; sonst wechselt nämlich der Patient nicht nur das Medikament, sondern auch den Arzt.
2. Der Spannungskopfschmerz im engeren Sinn ist typischerweise ein Dauerkopfschmerz, der mit (Ver-)Spannungen im einerseits muskulären und andererseits psychischen Bereich zusammenhängt. Abb. 30 zeigt, wie man sich vorstellt, dass daraus ein sich selbst unterhaltender Schmerzkreis respektive eine „Schmerzspirale“ entsteht, die zu Chronifizierung neigt. Dementsprechend wird aus dem Spannungskopfschmerz nicht selten chronifizierter Kopfschmerz mit Medikamentenabusus. Hier sei aber auf den noch nicht chronifizierten Spannungskopfschmerz im engeren Sinn eingegangen. Die Muskelverspannung kommt dabei typischerweise aus der Halswirbelsäule und geht in den Schulter-Nacken-Bereich. In diesem „Schmerzkreis“ oder der Schmerzspirale soll an möglichst vielen Stellen gleichzeitig angegriffen werden. • Analgetisch-antiflogistische Infusionen (z. B. Dolpasse®). • Spasmolytika. • Psychisch konsolidierende Medikationen. Diesbezüglich ist vor allem die Depressivität zu nennen. Dabei sind Tranqillizer (wegen Abususgefahr) nur mit äußerster Vorsicht kurzfristig zu verwenden (siehe noch folgend). Vor allem geht es darum, Antidepressiva rationell einzusetzen (B3). Heute ist es modern, auch wenn keine evidente depressive Komponente festgestellt wird, Amitryptilin (Tryptizol®, Saroten®) zu geben (siehe noch später). • AT mit Formeln, die sich direkt auf den Schmerz beziehen, wie „Schmerz ganz nebensächlich“, „Schmerzen fließen von selbst ab“, „Ich brauche keine Schmerzmittel“ u. ä.
Das Gleiche gilt bei den später noch genannten anderen Schmerzsyndromen,
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wo wir natürlich auch möglichst gleichzeitig an der Ursache und am Symptom des Schmerzes angreifen. Nochmals sei – um Missverständnisse bei Vergleich mit anderer Literatur zu vermeiden – darauf hingewiesen, dass in der heutigen IHS-Nomenklatur ein viel weiterer Begriff des Spannungskopfschmerzes gebraucht wird, nämlich jener nicht-anfallsartige Kopfschmerz als Spannungskopfschmerz bezeichnet wird; daher in unserer Bezeichnung das „im engeren Sinn“ beigefügt. Die im Spannungskopfschmerz im engeren Sinn offensichtlich mitenthaltene zervikogene Komponente wird in der IHS-Nomenklatur als zervikogener Kopfschmerz „herausgegriffen“, ebenso wird die zervikogene Komponente nach Schleudertrauma (siehe noch später) als eigener „posttraumatischer Kopfschmerz“ benannt.
Schmerzkreisprozess („Schmerzspirale“)
Abb. 30 Der von uns sogenannte „Spannungskopfschmerz im engeren Sinn“ ist keine einheitliche klinische Entität, sondern bezeichnet einen autonom sich selbst unterhaltenden Schmerzkreisprozess aus Schmerz, Muskelverspannung (vor allem des Halswirbelbereiches), psychischer (Ver-)Spannung unter Einbeziehung von Gefäßkomponenten (auch Schmerzspirale genannt). Das primum movens und die faktorenmäßige Hauptgewichtung kann in jedem der genannten Felder liegen. Es ist wichtig, an möglichst vielen Punkten jener Schmerzspirale gleichzeitig anzugreifen. D. h. wiederum: Integrierte Psychotherapie gleichzeitig mit physikalischer Therapie und Pharmakotherapie.
Stress als Ursache von Kopfschmerz wird häufig angeführt, und der Stress gehört sicherlich zu den – wiederum sage ich – „Mit“-Ursachen. Wenn Stress Kopfschmerzen macht, so ist es wohl überwiegend das, was hier als „Spannungskopfschmerz im engeren Sinn“ bezeichnet ist. Vor allem sei daran erinnert, dass ein gewisses Maß an Stress für das Leben an sich notwendig ist. Selye (von dem die maßgeblichen Erkenntnisse über Stress stammen) spricht diesbezüglich
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von einem Eu-Stress. Wenn dieser aber überhandnimmt oder aus anderen Gründen schädigend wirkt, nennt er es Dys-Stress. Psychotherapeutisch geht es nicht nur darum, ein Antistresstraining zu machen (wie es die Verhaltenstherapie anbietet). Vielmehr sollten wir auch versuchen zu fragen: Warum setzt sich derjenige so viel Stress aus? Oder: Warum macht etwas, das anderen nicht Stress macht, gerade ihm so viel Stress? Es ist also dabei einerseits sowohl symptomatisch von der Entspannung her zu behandeln: anderseits zu versuchen, hinter die Dinge zu fragen, und evt. (z. B. mit autogenen Formeln) dahintersteckende Fehlhaltungen therapeutisch mitzuerfassen.
4. Der chronifizierte Kopfschmerz mit sich daraus entwickelndem Medikamentenabusus und sekundärem Medikamentenkopfschmerz kann aus lange bestehenden Migränen mit immer gesteigertem Medikamentenkonsum sowie aus nicht anfallsartigen Kopfschmerzen entstehen, speziell aus Spannungskopfschmerz im engeren Sinn. Es geht dabei um • Vollständiges Absetzen der Abusus-erzeugenden Schmerzmittel. • Man gibt meist nicht-steroidale Antirheumatika, um den Entzug erträglicher zu gestalten plus evt. andere Medikation. • Es werden energische roborierende und vegetativ stimulierende Maßnahmen zusätzlich angewendet. • Und das ist für unser hiesiges Thema wesentlich: Es muss ständige begleitende Psychotherapie stattfinden. Einerseits geht es darum, begünstigende Faktoren aus der Psychodynamik möglichst zu entschärfen (Familie, Beruf, Depressivität [dabei kommt natürlich auch die gekonnte Kombination mit Anti-Depressiva zum Tragen]), anderseits müssen die Abstinenz-Vorsätze immer wieder suggestiv „eingetrommelt“ werden. In Gruppentherapie kann die Gruppe ein wesentliches zusätzliches Therapieinstrument werden. Das Ganze geht analog den Entzugsgruppen wegen anderer Süchte (Scholz 1996). Bei den Autogenen Abstinenzformeln (die schon beim Spannungskopfschmerz im engeren Sinn erwähnt wurden) macht man übrigens eine Ausnahme von der im Kap. D4 aufgezeigten „positiven“ Formulierung der Formel. Hier kann auch hineinkommen: „Ich nehme auf keinen Fall ....“; oder: „Ich brauche absolut nicht ....“. Aber doch auch positiv formuliert: „Leben ohne Schmerzmittel ist schöner und geht besser“ usw. Praktisch ist ein derartiger Entzug am besten stationär zu machen. Man ist überwiegend der Meinung, dass man schlagartig die Kopfschmerzmedikamente absetzen soll (nur Diener spricht einem stufenweisen Absetzen das Wort zu). Anschließend werden verschiedene „Fahrpläne“ für den Entzug angegeben. • Scholz macht Tranxilium-Infusionen (Chlorazepat®) bis zur Müdigkeit, aber nicht im Sinne einer Schlafkur. • Wöber gibt 4 x 80 mg Prothipendyl (Dominal®); gibt im Rahmen einer 1-Jahres-Katamnese an: 1/ der Patienten ohne Kopfschmerz und ohne rezidivierenden Medikamentenabusus, 3 1/ der Patienten mit Kopfschmerzen, aber ohne chronischen Medikamentenabusus, 3 1/ wieder komplett rückfällig. 3 • Mehrfach wird auch Cortison über einen begrenzten Zeitraum des Entzuges dazu gegeben, um die Abstinenzerscheinungen zu mitigieren (u. a. Diener), was ich für sehr günstig halte. • In meinem Arbeitskreis verwendeten wir in solchen Fällen die neuroleptische Schlafkur. Das heißt, wir gaben soviel Neuroleptika, dass der Patient etwa 10 Tage in einem dösigen
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Zustand war, wobei er üblicherweise seine Kopfschmerzen völlig verlor. Das machte die neuroleptische Schlafkur auch zu unserer vie regia beim Status migränosus. Ergebnisse: – einen Monat überdauernde Kopfschmerz-Freiheit bei 95% – 2–6 Monate überdauernd 78 % – 1–5 Jahre überdauernd 32 %. – Bei 10 % ergab sich eine delirante Entgleisung, die jedoch unter der üblichen psychiatrischen Therapie des Delirs in wenigen Tagen rückgängig zu machen war. Wobei gerade diejenigen Patienten, die ein Delir mitgemacht hatten, zu denen mit längerfristiger Kopfschmerz-Freiheit gehören. Es wird diese Therapie aber heute kaum mehr gemacht, und ich kann sie deshalb nicht empfehlen, weil man psychiatrisch geschultes ärztliches und pflegerisches Personal haben muss, um mit allen Komplikationen umzugehen. Dazu gehört vor allem das Delir, anderseits auch eventuelle Kreislauf-Komplikationen durch den Neuroleptika-Einsatz. Allgemein ist also die Chance der Erzielung einer Dauer-Abstinenz nicht gerade sehr groß. Aber das wissen wir ja von allen Arten süchtigen Verhaltens, mit welcher Substanz auch immer. Trotzdem ist aber der systematische Versuch ethisch verpflichtend. Dazu als Beispiel einer meiner dauernd positiven Schlafkur-Patienten, bei dem mit der Kopfschmerzmittel-Abstinenz auch eine wesentliche soziale Positivierung einherging und der selbst vom „Beginn eines neuen Lebens“ sprach.
5. Als „funktionelle Kopfschmerzen“ werden gemeiniglich solche verstanden, die nicht auf ein organisches Substrat zurückgehen und hauptsächlich von psychischen Faktoren gesteuert werden. Vergleiche das (einleitend zu diesem Kapitel) über „den psychogenen Kopfschmerz“ Gesagte.
Abb. 30a Der Spannungskopfschmerz im engeren Sinn in künstlerischer Darstellung (Ludwig A. Angerer d. Ältere) aus Barolin 1982.
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Man muss drei verschiedene Möglichkeiten der Funktionalität berücksichtigen a) die bewusste Simulation, b) die vom Willen nicht voll abhängige, mehr durch psychodynamische Unterströmung gesteuerte Funktionalität („neurotisch“) und schließlich c) die Aggravation, d. h. es werden bestehende ursächliche Faktoren in ihrer Wirkung verlängert und verstärkt. Diese drei „Kategorien der Funktionalität“ sind nicht streng getrennt voneinander, sondern gehen fließend ineinander über. Kriterien sind: Abwesenheit organisch fassbarer Ursachen + positive Zeichen für Funktionalität. Letzteres wird manchmal vernachlässigt und man schließt, nur weil man „nichts Organisches findet“, bereits auf Funktionalität. Das ist abzulehnen.
Ein typisches Zeichen für Funktionalität von Kopfschmerzen ist es z. B., dass starke Schmerzinfusionen (wie sie etwa auch bei Karzinomschmerzen für einige Stunden wirken) als völlig wirkungslos angegeben werden. Wesentlich für den psychotherapeutisch Denkenden und Tätigen ist aber, dass er nicht nur wie ein Detektiv die Funktionalität dekouvriert, etwa den „überlisteten“ Patienten damit konfrontiert und wegschickt, sondern versucht, hinter die Gründe jener psychodynamischen Steuerung zu kommen und dort ansetzt. Das gilt vor allem beim Kopfschmerz in der eingangs genannten Appellfunktion (Abb. 26). Andere „positive“ Kriterien für Funktionalität sind: • wechselnde Angaben bei mehreren Explorationen, • unphysiologische Haltung und/oder Bewegungsstörung, • Schwinden von Symptomen, wenn Patient sich unbeobachtet glaubt (wichtig: Besprechungen in der Arbeitsgruppe mit den Mitarbeitern), • inadäquate Reaktion auf normale ärztliche oder pflegerische Maßnahmen, etc. Ein 17-jähriges grenzdebiles Mädchen kam wegen dauernder „schwerer Kopfschmerzen“, die nicht behandelbar waren, zur stationären Abklärung und Aufnahme. Es wurden selbstverständlich alle neurologischen Befunde und Hilfsbefunde gemacht und waren „normal“. Wir gaben ihr die in unserer Station übliche Schmerzinfusion, bestehend aus Metamizol (Novalgin®), DHE und Prokain. Diese Infusion macht nach unseren Erfahrungen auch schwer organisch Schmerzkranke (etwa bei Wirbelmetastasen) für einige Stunden schmerzfrei, wenn man sie hoch genug dosierte. Das Mädchen blickte uns aber jeweils mit traurigen Augen an und verneinte jedwede Besserung. Es folgten darauf intensivere Aussprachen, die über das primäre psychodynamisch-orientierte Anamnesegespräch hinausgingen (bei jenem Gespräch war noch gar nichts Besonderes herausgekommen) und dabei zeigte sich, dass das Mädchen zuhause eine Art „Aschenbrödel-Funktion“ hatte. Sie musste alle Hausarbeit machen, wurde gleichzeitig aber von den anderen geringgeschätzt und unterdrückt (wenn auch nicht misshandelt). Hier bestand die „Psychotherapie“ darin, dass wir einen sozialarbeiterischen Besuch in der Familie machen ließen und die weiteren Maßnahmen auch mit dieser besprachen. Natürlich wurde dabei nicht konfrontiert, sondern der Mutter gesagt: „Sie wollen doch das Beste für das Kind …, das Mädchen möchte gern einen Beruf erlernen“ etc. Die Patientin wurde daraufhin in eine Tätigkeit außerhalb der Familie vermittelt. Die Beschwerdefreiheit erfolgte (wie in solchen Fällen selbstverständlich) nicht sofort, aber sehr rasch. Weitere Therapie war überflüssig. Einige lockere Nachkontrollen gaben mehr die Möglichkeit einer therapeutischen Begleitung als der „Kontrolle“.
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Ein recht häufig „funktionelles“ Bild ist die Begehrenshaltung wegen Kopfschmerzen nach Schleudertrauma. Das sind typische Aggravationsbilder (also keine „rein psychogenen“ Kopfschmerzen). Denn es ist von Vergleichsuntersuchungen bekannt, dass Patienten ohne Entschädigungsansprüche auch unter posttraumatischen Kopfschmerzen leiden, jedoch ungefähr 1/3 so lang wie jene mit Rekompensationsanforderungen. Wir sprechen von einer „pathoplastischen“ Wirkung der Gutachtenssituation.
Unser therapeutischer Weg ist dabei wiederum nicht etwa, den Patienten mit seiner Begehrenshaltung zu konfrontieren, da er dabei das Gesicht verliert und in Opposition getrieben wird. Wir versuchen „goldene Brücken“ zu bauen, indem wir massive Physiotherapie machen lassen, ihm stereotyp sagen, das wird jetzt von Tag zu Tag besser werden usw. In der Arbeitsgruppenbesprechung werden auch die Physiotherapeuten informiert, dass es sich um einen stark funktionellen Patienten handelt und sie mit uns im Sinne der positiven Zukunftssuggestionen an einem Strang ziehen sollen. Wir sagen dabei sehr wohl dem Patienten, dass keine oder nur geringgradige organische Ursachen für seine Schmerzen vorhanden seien und bei ihm eine „nervöse Komponente“ mitspielt. Wir haben ihm dann durchaus die Wahrheit gesagt, aber die „nervöse Komponente“ ist in unserer Zeit akzeptierbar, erscheint sogar als etwas Hochstehendes. Studenten haben mich darauf hingewiesen, dass man auch die „psychologische Komponente“ statt der „nervösen“ verwenden könne. Hingegen können Worte wie „Simulation“ oder „Aggravation“ vom Patienten schwer akzeptiert werden. Sie treiben ihn – wie gesagt – nur verstärkt in Opposition. Er fühlt sich als ein „armes Opfer der übelwollenden Ärzte“ und das schließt natürlich alle weiteren Möglichkeiten aus.
Manchmal gelingt es, in jener Art die Patienten aus einer fixierten funktionellen Haltung herauszubringen, besonders dann, wenn wir noch irgendwelche Motivationsmöglichkeiten ins Gespräch einfließen lassen können (Enkelkinder, Freunde, Vergnügen, fesch sein, den anderen imponieren, weil man trotzdem …, etc.). Manchmal ist jedoch die Begehrenshaltung so fest eingefahren, dass man dagegen keine Chancen hat. Als Beispiel sei mein – wie ich glaube – „Weltrekordfall“ referiert, mit 17 Begutachtungen in einem 21 Jahre laufenden Entschädigungsverfahren wegen Schleudertrauma mit Schadenssumme von damals schon weit über 1 Million Schilling. – Die Patientin wanderte während der ganzen Zeit von einem physikalischen Institut zum anderen und klagte ihre gesamten Kosten ein. Ich führte bei der Dame eine sehr gründliche Erstuntersuchung durch, zusammen mit einem Mitarbeiter, welche über 2 Stunden dauerte (bekanntlich ist es ja so, dass gerade Patienten mit deutlichen funktionellen Komponenten eine besonders zeitaufwändige Untersuchung benötigen, um zu bindenden Schlüssen zu kommen). Nach dieser Untersuchung lehnte die Patientin allerdings die weitere Begutachtung durch mich ab. Dazu sei ausdrücklich betont, dass ich na-
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türlich keinerlei Grobheiten oder Konfrontationen anwendete, sondern mich der größten Höflichkeit befleißigte. Es kamen jedoch anhand der wiederholten Befragungen und körperlichen Untersuchungen eine Reihe von großen Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten heraus, wodurch offensichtlich die Patientin selbst erkannte, dass sie eine Reihe simulativer Tendenzen dekouviert hatte. Ein skurilles Detail am Rande: Die Dame erlitt den Unfall als Autobeifahrerin. Geklagt wurde die Versicherung des Fahrers. Dieser war inzwischen seit vielen Jahren der eheliche Gatte der Patientin geworden. Dessen ungeachtet ging der Rechtsstreit gegen die Haftpflichtversicherung des damaligen Fahrers und jetzigen Gatten weiter. Wie es weitergegangen ist, weiß ich nicht. – Entweder läuft das Verfahren immer noch, oder es hat sich (wie es häufig ist) letztlich ein Gutachter und/oder Richter gefunden, der zu allem Ja und Amen sagte, und die Patientin hat inzwischen Ihre Rente.
Mit der Begehrenshaltung „verwandt“ ist der sekundäre Krankheitsgewinn (A3). Dieser besteht natürlich besonders dann, wenn aus dem Syndrom eine finanzielle Entschädigung ansteht. Aber er ist auch außerhalb dessen zu finden. Wenn Menschen merken, dass sie bei ihrem Leiden stärker befürsorgt werden, sich Angehörige mehr um sie kümmern, sie weniger arbeiten müssen, so kann das natürlich auch ein sekundärer Krankheitsgewinn sein. Der Psychotherapeut muss daran denken, in der Exploration gezielt darauf achten und es dann möglichst sinnvoll in eine Behandlungsstrategie miteinbeziehen (also wiederum natürlich kein Konfrontieren, sondern versuchen – auch soziale – „goldene Brücken“ zu bauen). 6. Depressivität beim Kopfschmerz kommt in weit überzufälliger Häufung vor. – Wir konnten 25% bezogen auf ein allgemeines Kopfschmerzklientel feststellen. Es findet sich aber ein höherer Prozentsatz beim nicht-anfallsartigen Kopfschmerz und beim Kopfschmerz im höheren Lebensalter. Laut Abb. 28 sehen wir die Depressivität einerseits als einen (mit)ätiologischen Faktor für Kopfschmerzen. Anderseits kann sich eine Depression vordergründig auch als Kopfschmerz manifestieren (sogenannte larvierte Depression). Jedenfalls wird Kopfschmerz, der sich mit Depressivität assoziiert, länger und stärker empfunden als ohne diese. Im Konsensuspapier der Österr. Kopfschmerzgesellschaft (Wessely und Wöber 2003) wird diesbezüglich von einer „Co-Morbidität mit Depression“ gesprochen. Ich glaube aber, bei dem aufgezeigten häufigen Zusammentreffen von Kopfschmerz und Depressivität ist das Wort „CoMorbidität“ (also ein zufälliges Nebeneinander von zwei Krankheiten) weniger angezeigt als dass man einen (mit-)ätiologischen Zusammenhang annimmt. Dass die IHS-Nomenklatur Depressivität bei Kopfschmerz sehr stiefmütterlich behandelt, wurde schon vorher erwähnt. Die Häufung beim Alterskopfschmerz lässt sich mit der einerseits allgemeinen Häufung depressiver Bilder im höheren Lebensalter (ausführlicher in F2), anderseits aber mit der Zunahme degenerativer Veränderungen der Halswirbelsäule zwanglos erklären. Man findet auch sehr häufig die entsprechenden biokziptalen Druckpunkte, die auf ein Reizsyndrom der Halswirbelsäule hinweisen. (IHS-Nomenklatur sieht das wiederum ganz anders mit einem isolierten zervikogenen Kopfschmerz, der nichts mit dem Alter zu tun hat und auch nichts mit dem folgend noch erwähnten Schleudertrauma). Bei diesem kommt aber typischerweise HWS-Läsion vor.
G. Psychotherapie und Schmerz / G2. Integrierte Psychotherapie beim Kopfschmerz
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Es geht bei der Psychotherapie des depressiven Kopfschmerzes um das, was wir bei der Psychotherapie der Depression allgemein gesagt haben (B3), also empathisch auf alle Fälle + problemorientiert, wo evidente (Auslöser-)Probleme bestehen. Das Ganze soll aber eingebettet sein in • Physiotherapie, • antidepressiv-medikamentöse Therapie • Kopfschmerz-Medikation; jedoch nicht einfach bunt gestreut, sondern klar an Zielsymptomen orientiert und kombiniert. Bei den Gutachtenspatienten hingegen versuchen wir die schon genannten „goldenen Brücken“ zu bauen. Dabei werden Medikamente tunlichst reduziert und größerer Wert auf Physiotherapie gelegt.
Dabei kann sich zusätzlich (mit oder ohne Depressivität) das ausbilden, was wir in Abb. 27 die pathoplastische Wirkung der Gutachtenssituation genannt haben. An Antidepressiva wird heute beim Kopfschmerz insbesondere das alte Amitryptilin (Saroten®, Tryptizol®) mehr empfohlen als die neuen Antidepressiva, wobei die Meinung geäußert wird, es wirke nicht nur gegen die Depression, die als gravierender Faktor beim Kopfschmerz dazu kommt, sondern auch speziell gegen die Kopfschmerzen. Auch Bach hat speziell auf die analgetische Wirkung der Antidepressiva (neben ihrer antidepressiven Wirkung) hingewiesen. Da der chronifizierte Kopfschmerz an und für sich meistens eine depressive Begleitkomponente hat, scheint der Einsatz von Antidepressiva auf alle Fälle angezeigt.
Daneben macht man (das gilt bei allen Kopfschmerzformen) eine vegetativ-roborierende Physiotherapie (wie sie übrigens bei Depression an und für sich günstig ist), entsprechende lebenshygienische Umstellung, evt. auch Kuraufenthalt. Dabei wird der Patient aus dem gesamten – vielleicht auch mitmenschlich belastenden – Milieu herausgebracht. Cave allerdings: Kuraufenthalte beim Depressiven, der noch nicht antidepressiv eingestellt ist, sind eher kontraindiziert, da die Depression dort nicht selten schlechter wird.
6. Wo in der Exploration und/oder im Laufe der Behandlung stark belastende psychische Faktoren herauskommen, geht es um entsprechende Problem-orientierte (Gruppen-)Gespräche oder andere entsprechend gezielte psychotherapeutische Maßnahmen (vergl. Folgefall eines überwiegend psychisch bedingten Jugendlichen-Kopfschmerzes bei Inzest). 7. Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen wird heute häufig auf den „Schulstress“ abgestellt. Es sind aber bei den Kindern die psychogenen (Mit-)Ursachen wesentlich seltener als bei den Erwachsenen. Meistens spielt bei Kinderkopfschmerzen Folgendes eine Rolle: • Vasolabilität im Wachstumsschub,
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Abb. 31 Selbstdarstellung eines Schulbuben, der wegen Kopfschmerz zur Behandlung kam, zeigt den lang aufgeschossenen Schlankwüchsigen mit typisch schlechter SchulSitzhaltung, welche überdies für viele Stunden fixiert ist. Die alten Schrägpulte waren diesbezüglich besser. Aber sie sind wie manches gar nicht schlechte – unmodern geworden. • Falsche Sitzhaltung durch schlechte Schulbänke (Abb. 30), • Bewegungsmangel durch unphysiologisch erzwungene lange Bewegungseinschränkung in der Schule, manchmal sogar plus („vorsichtshalber“) Einschränkung des Herumlaufens in den Pausen, • „Morgeneiligkeit“: Hastiges Fortlaufen ohne Frühstück, was die Kreislauflabilität und evt. auch Hypoglykämie noch fördert.
Hierbei steht roborierende Physikotherapie und Gymnastik an erster Stelle. Außerdem machen wir zeitlich limitierte vegetativ stabilisierende und leicht blutdruckanhebende Kuren, wie DHE Tropfen, beginnend mit 2 x 5 Tropfen täglich um 2 x 1 Tropfen steigend bis 2 x 20 Tropfen 2 Wochen so bleiben und dann wieder fallend. Hingegen soll man die medikamentöse Dauereinstellung bei Kopfschmerzkindern so lang wie möglich vermeiden, da der kindliche Kopfschmerz eine sehr gute Spontanremissionsquote von über 50 % hat und auch auf Therapie meist gut anspricht. Es geht also mehr um lebenshygienische Maßnahmen, die wir einleiten sollen. Aber natürlich gibt es auch bei Kindern belastende Familienfaktoren und belastende Schulfaktoren, die mit im Hintergrund stehen können; folgend die heute immerhin schon mehr in das allgemeine Bewusstsein gekommene gar nicht so seltene Missbrauchssituation bei Mädchen (vgl. F3).
G. Psychotherapie und Schmerz / G2. Integrierte Psychotherapie beim Kopfschmerz
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Ein 14-jähriges, ziemlich fraulich entwickeltes Mädchen lag wegen Kopfschmerzen, die auf nichts ansprachen bei uns. Im Rahmen der begleitend geführten psychotherapeutischen Gespräche mit mir stellte sich nichts Wesentliches heraus. Als ich dann aber eine Narkoanalyse machte, kamen die deutlichen Inzesterinnerungen mit dem Vater heraus. – Hier sei angeführt, dass wir seinerzeit Narkoanalysen mit Thiopental gemacht haben, heutzutage kann man durch Valium Ähnliches erreichen oder aber mit dem katathymen Bilderleben – siehe F5. Es wurde dann sehr vorsichtig taktiert, nicht etwa sofort eine Anzeige gemacht. Das ist oft der Elefant im Porzellanladen. Ich lud bei „intaktem Familienleben“ den Vater (einen erfolgreich in Leben und Gesellschaft stehenden Geschäftsmann) zum Gespräch ein (natürlich nach vorheriger Strategie-Besprechung mit der Tochter), sprach vorsichtig tastend über das Gehörte, teilte ihm aber (als goldene Brücke) mit, dass junge Mädchen ja manchmal solche Dinge fantasieren können, das aber sehr unangenehm für ihn sein könne und man solle sich doch trennen. Er willigte sofort voll ein. Seine Bereitwilligkeit unter Verzicht auf jedwede Argumentation war bezeichnend. Das Mädchen kam in ein Pensionat. Von ihren Kopfschmerzen hörte ich nichts mehr, erhielt jedoch eine Zeit lang regelmäßig Ansichtskarten und nach etlichen Jahren Mitteilung über die Geburt eines Kindes. Das Ergebnis mag mir Recht geben, dass hier nicht mit der möglichen Strafanzeige und den rechtlichen Konsequenzen gearbeitet wurde, sondern versucht wurde, eine „goldene Brücke“ zu bauen. Schließlich kommt ja selbst ein abgestrafter Missbraucher wieder in die Familie zurück, und man muss weiter miteinander leben. Ich glaube, dass es besonders in solchen Fällen – wo es nicht um den brutalen, sondern um den „(liebes-)bedürftigen“ Vater (nach Fischer und Riedesser sowie Hirsch) geht – angezeigt war, den möglichst verbindlichen Weg zu gehen.
8. Cluster-Kopfschmerz und Neuralgien sind für Psychotherapie kaum zugänglich. Das entspricht der Eigenerfahrung und der neueren Literatur (Bischof und Traue). Nur in der älteren überwiegend analytisch auf Psychogenität ausgerichteten amerikanischen Literatur finden sich gewisse „Deutungen“ für den Symbolwert, aber keine therapeutischen diesbezüglichen Hinweise. Sonstige Maßnahmen beim Kopfschmerz Im Sinne unseres Prinzips der „Integrierten Psychotherapie” wollen wir natürlich auch beim Kopfschmerz möglichst vielfach angreifen. Wurden im vorigen vor allem psychotherapeutische und pharmakotherapeutische Maßnahmen besprochen, so sei noch kurz einiges aufgezählt, das entsprechend diagnostischer Zielpunkte und in sinnvoller Kombination (also nicht als kritiklose ungezielte Polypragmasie) in Frage kommt. Der Kuraufenthalt wird vielfach als Placebo verachtet. Er hat aber durchaus einerseits klimatherapeutische Möglichkeiten, anderseits kommt der Patient aus dem stressenden (familiär ebenso wie beruflich – je nachdem) Milieu heraus. Massagen und Bäder sind entspannend und vegetativ beruhigend. Überdies ist die Massage sehr wohl als eine larvierte psychotherapeutische Maßnahme anzusehen, denn es ist ein ungewohntes Erlebnis, dass ein anderer Mensch sich ganz unserem Körper zuwendet.
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
Es ist bekannt, dass der Patient sehr häufig bei Massage eine Menge zu reden beginnt, wobei durchaus psychotherapeutisch Relevantes herauskommen kann, u. U. mehr als der Arzt weiß. – Ich habe mich öfters zu Gruppenbesprechungen der Physiotherapeuten dazugesetzt und mir diesbezüglich erzählen lassen (vergl. A1).
Neben jenen vegetativen Reizen kommt gezielte Gymnastik, insbesondere bei Halswirbelsäulen-mitbedingten Kopfschmerzen in Frage (Spannungskopfschmerzen im engeren Sinne, Schleudertrauma etc.). Bei Letzterem muss natürlich besonders auf die Phase, in welcher der Patient sich nach dem Trauma befindet, Rücksicht genommen werden (nicht zu früh!), auch auf gravierende organische Ursachen. Es kommt kombinierte Traktionsmassage in Frage und, neben gezielter Wirbelsäulengymnastik, auch Selbstgymnastik der Halswirbelsäule nach Tilscher (Abb. 32). Von Manualtherapie (Chiropraktik) und Akupunktur habe ich in kontrollierten Serien manchmal gute Effekte gesehen. Hingegen konnte mich die Homöopathie beim Kopfschmerz nie überzeugen. Diätische Maßnahmen kommen beim Kopfschmerz in spezifischer Weise kaum zu tragen. Natürlich kann ein überfetteter, bewegungsarmer Mensch durch Abnehmen und Bewegung profitieren. Aber es gibt keine „Kopfschmerz-Diät“.
Abb. 32 Wegen der Häufigkeit der zervikogenen (Mit-)Verursachung von Kopfschmerzen sollte dieses einfache Selbstübungs-Programm gekannt werden. Es hat auch den Vorteil, dass der Patient sich nicht nur auf Maßnahmen von außen verlässt, sondern „selbst etwas tut“ für seine Gesundheit.
G. Psychotherapie und Schmerz / G2. Integrierte Psychotherapie beim Kopfschmerz
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Bei den Subdepressiven und vegetativ Schlaffen kommt roborierender aufbauender Sport am besten in einer anregenden Gruppenatmosphäre in Frage. Gleiches gilt beim Kopfschmerz bei Jugendlichen, wobei allerdings manchmal durch Sport der Kopfschmerz auch verstärkt werden kann. Es gilt also um langsamen Aufbau und eine Gewöhnungsphase. Mutatis mutandis kommt das hier Genannte auch bei diversen anderen Wirbelsäulen-mitbedingten Schmerzsymptomen (siehe folgend) in Frage.
Hauptwege der Kopfschmerztherapie (multimodal nach Zielsymptomen zu kombinieren) • ätiologisch • medikamentös • physiotherapeutisch inklusive manualtherapeutisch • Biofeedback; Akupunktur; veg. Umstimmungstherapie • Psychotherapie; Umwelt- und Lebenshygiene • (Schmerz-)Chirurgisch
A. vasoaktiv / erregungshemmend B. Behandlung begünstigender Basisstörungen C. antiphlog. – analgetisch D. Behandlung des Status migraenosus und des Abusus
Abb. 33 Wie überall ist es auch beim Kopfschmerz wichtig, dass die verschiedenen Möglichkeiten gekannt und gekonnt werden, besonders die Psychotherapie nicht simplistisch „irgendwie“, sondern differenziert eingesetzt wird.
Zusammenfassung zur Psychotherapie beim Kopfschmerz Eine generell therapeutische Erfolgsquote für Kopfschmerzen gibt es nicht, da unterschiedliche Kopfschmerzformen unterschiedlich ansprechen. Es geht von sehr gut beim kindlichen Kopfschmerz bis zu wenig aussichtsreich bei chronifiziertem Kopfschmerz mit Schmerzmittelabusus. In vielen Fällen handelt es sich um ein chronisches Leiden, das unter Umständen den Patienten sein ganzes Leben begleiten kann. Umso mehr scheint es aber für einen psychotherapeutisch denkenden Arzt sinnvoll ihn dabei empathisch-psychotherapeutisch zu begleiten
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
und nicht wegen Erfolgsarmut einfach fallen zu lassen. Psychotherapie kann dabei zur Psychorehabilitation werden. Es geht um eine dauernde sinnvolle und gezielte Zusammenarbeit der Psychotherapie mit allen anderen Möglichkeiten der Kopfschmerztherapie (also integriert im wahrsten Sinne des Wortes), speziell: • Pharmakotherapie, • Physikalische Therapie, • Lebenshygiene. Zu beachten ist die häufige Kombination von Kopfschmerzen mit Depression, wobei diesbezüglich die speziellen Kriterien der Psychotherapie bei Depression zum Tragen kommen (B3). Wenn wir uns aber auch nicht selten damit zufrieden geben müssen, dass wir den Kopfschmerz nicht „wegbehandeln“ können, so ist doch durch Auslöserentschärfung häufig wesentliche Besserung des Kopfschmerzgeschehens über längere Zeitabschnitte (Monate bis Jahre) zu erreichen. Unsere 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training hat sich bei einer größeren Anzahl von Kopfschmerzpatienten gut bewährt. Dabei scheint einerseits die gesprächsmäßige Entschärfung von Problemen, anderseits der Angriff im Vegetativum eine Rolle zu spielen. 1. Die Entspannungskomponente des AT ist natürlich vor allem beim Spannungskopfschmerz im engeren Sinn von Wesentlichkeit, kommt aber auch bei der Migräne fallweise zum Tragen. 2. Der direkte Angriffspunkt des AT im Vegetativum ermöglicht manchmal MigräneAttacken abzufangen. Doch sind das eher Ausnahmefälle, häufiger kommt 4) zum Tragen. 3. Die dynamisierende Komponente des AT ist insbesondere bei den subdepressiven und hypotonischen Kopfschmerz-Patienten ein wesentliches Prophylaktikum. 4. Die psychotherapeutische Wirkung im engeren Sinn mit formelhafter Vorsatzbildung kommt einerseits beim direkten Angreifen am Schmerz als Symptom in Frage, anderseits zur Entschärfung von Auslöser-Mechanismen.
Somit scheint es ein Versäumnis, wenn man sich beim Kopfschmerz nur auf körperlich angreifende Maßnahmen verlässt und die Psychotherapie ganz ausklammert; also: weder psychisch noch physisch einseitige, vielmehr sinnvoll kombinierte Therapie.
G. Psychotherapie und Schmerz / G3. Integrierte Psychotherapie in Schmerzsyndromen
G3.
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Integrierte Psychotherapie in Schmerzsyndromen außerhalb des Kopfschmerzes
Über die Schmerzlinderung und auch wesentlich bessere Heilung durch Hypnose bei Verbrennungen wurde schon in Kap. A3 gesprochen. Sehr günstige Hypnoseerfolge konnten wir bei Phantomschmerzen sehen. Wir begannen mit Heterohypnose und gingen dann zum AT über. Ein gutes Indikationsgebiet ist auch der Tumorschmerz. Ich konnte Metastase-Patienten mehrere Stunden hypnotisch schmerzfrei halten. Für Langzeit sind wir aufs AT übergegangen mit der formelhaften Vorsatzbildung „Schmerzen werden unwichtig und können mich nicht stören“; „sind weit weg“ oder ähnlich. Natürlich ist die Hypnose ein großer Zeitaufwand und man wird überlegen, ob man nicht mit Alkaloiden das Gleiche erreichen kann. Aber immerhin kann man diese durch Kombination mit hypnotischen oder selbsthypnotischen Maßnahmen einsparen. Hier ist auf das schon in Kap. C3 Gesagte hinzuweisen, dass ja derartige Patienten eine sehr starke Motivation durch Leidensdruck haben und daher sehr empfänglich für hypnotische Suggestionen sind (analog den Operationen in Hypnose in den Kriegsgefangenenlagern). Auch empfinden sie die starke menschliche Zuwendung als angenehm und sind dafür dankbar. Bergsdorf hat über ähnliche gute Erfolge mit Hilfe des Respiratorischen Feedback berichtet (F1).
Radikuläre Schmerzen haben oft eine stark funktionelle Komponente, die sich in unserer heutigen verrechtlichten Zeit häufig mit Begehrenshaltung und pathoplastischer Wirkung der Gutachtensfunktion (siehe Vorkapitel) kombiniert. Es gilt dann das Gleiche, was ich bei den Gutachtenspatienten des Kopfschmerzgebiets gesagt habe. Also • nicht konfrontieren, • „goldene Brücken“ bauen vor allem über die Physiotherapie, • versuchen zusätzliche Motivationen zu finden. Folgend sei beispielhaft ein Fall berichtet, der als ein ganz „banales radikuläres Syndrom“ (wie wir es in der Neurologie alltäglich sehen) zur Aufnahme kam und bei dem keinerlei Hinweise auf Funktionalität evident waren. Es mag einmal mehr daran erinnert werden (was ich schon beim psychodynamisch orientierten Erstgespräch in B1 gesagt habe), dass man eigentlich bei jedem auch dem scheinbar nicht funktionell tingierten Patienten ein derartiges Basisgespräch führen muss. Eine Frau mittleren Lebensalters kam mit einem schmerzhaften Ischiassyndrom hinkend und auch mit den typischen neurologischen Zeichen, d. h. herabgesetzten Archillessehnenreflex. Sie bekam die „routinemäßige Behandlung“ mit Schmerzinfusion, Physiotherapie, etc., aber es wurde (entsprechend der Dienstanweisung in meiner Abteilung) auch die psychodynamisch orientierte Erstunterredung mit ihr geführt. Und da stellte sich eine problemvolle Ehesituation
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
mit einem Macho-artigen Gatten heraus. Er was rechthaberisch, schrie sie nieder und versuchte absoluten Gehorsam zu erzwingen. Wir luden ihn zu einem Gespräch ein. Im Gegensatz zu den sonstigen Erfahrungen, dass man den komplizierteren Partner kaum zu Gesicht bekommt, kam er auch. Wie vordem in anderen Fällen schon klargestellt, konfrontierten wir ihn natürlich nicht „mit seiner Fehlhaltung“, sondern redeten vorsichtig drum herum, näherten uns aber immer mehr der Möglichkeit diverser Verhaltensänderungen. Wir bauten also wieder „goldene Brücken“. So führten wir einige wenige Gespräche mit ihm und mehrere Gespräche mit ihr, während (natürlich) auch die übrige „organische“ Therapie lief. Schon nach kurzer Zeit hinkte sie nicht mehr und gab an, die Schmerzen zwar noch zu spüren, sie seien aber kaum mehr beeinträchtigend. Radiologisch hatten sich kleine Protrusionen im entsprechenden Wirbelsegment gezeigt und auch der abgeschwächte Archillessehnenreflex war noch weiterhin feststellbar. Im Gespräch taute sie sehr auf, sagte sie hätte niemals geglaubt, dass jemand das mit ihr besprechen würde und sie sei darüber glücklich. Wir sandten sie dann anschließend noch zu einem „Kuraufenthalt“, was natürlich einerseits den therapeutischen Effekt organisch fixieren sollte, aber anderseits (und das haben Kuren wie gesagt so an sich) sie auch noch für eine Weile aus dem belastenden Milieu herausbrachte und so Distanz schaffte. Wir hatten noch mehrere Jahre losen Kontakt mit ihr und es waren weder psychotherapeutische noch organ-medizinische Interventionen mehr nötig.
Es wird hier also das schon Vorgesagte wiederholt und unterstrichen, dass wir viel seltener „rein funktionelle Syndrome“ zu behandeln haben, als Syndrome auf einer organischen Basis, die aber durch funktionelle Mechanismen deutlich verstärkt und verlängert werden.
Wenn mehr darauf geachtet wird und mehr Konsiliarärzte mit psychotherapeutischem Interesse an organischen Abteilungen sein werden, wird sich die Zahl solcher Beispiele vervielfachen lassen. In unserer Serie von 2-stufiger Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training, die mit Baghaei Yazdi (vergleiche Abb. 12) gemeinsam ausgewertet wurde, befanden sich (außer den schon erwähnten Kopfschmerzpatienten) 5 Patienten mit Schmerzsyndromen, einer mit Ulcus duodeni, 2 mit chronischer Polyneuritis. Von 4 wurde deutliche Schmerzreduktion berichtet, die auch längere Zeit anhielt. Die eine bezüglich ihres Schmerzsyndroms negativ auf Psychotherapie ansprechende Patientin hatte eine Alkoholpolyneuropathie. Sie konnte jedoch (zumindest während des Zeitraums der Gruppentherapie) mit psychotherapeutischer Hilfe ihre Abstinenzvorsätze durchhalten; man wird sie keineswegs als ganz negative Ansprecherin bezeichnen können. Es waren auch die indizierten somatischen Therapien gelaufen (Physikotherapie, medikamentöse Therapie), und zwar weitgehend vor der Teilnahme der Patienten an der Psychotherapie und sie gaben ausdrücklich an, jetzt durch die Psychotherapie eine deutliche Besserung erfahren zu haben. Die Kur-Medizin mit ihren „auch“-psychotherapeutischen Wirkungen wurde schon im Vorkapitel beim Kopfschmerz gestreift. Die wichtige Frage der Schmerztherapie in der Palliativmedizin wird in Kap. F4 behandelt.
H. Methodenübergreifende Grundprinzipien / H1. Schädigung des Patienten durch Psychotherapie
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Im Sinne von Kenntnis der Nachbargebiete sei die Schmerztherapie außerhalb Psychotherapie und Sozialbetreuung schlagwortartig wiedergegeben: • Pharmakotherapie, • Nervenblockaden, • invasive neuroablative Verfahren, • neurostimulatorische Verfahren, • physikalische Therapie (ausführlich bei Likar in Likar und Mitarb. [Hrsg.]).
Zusammenfassung zur Schmerztherapie allgemein überdeckt sich weitgehend mit der vorstehenden Zusammenfassung bei Kopfschmerztherapie.
H.
Methodenübergreifende Grundprinzipien
H1.
Schädigung des Patienten durch Psychotherapie
Schlagwort-Information Wie jede „wirksame“ Therapie, kann auch die Psychotherapie zu Schädigungen führen. Diese sind keineswegs als „nur psychisch bedingt“ von Rechtsfolgen ausgeschlossen, sondern ebenso rechtlich relevant wie direkt körperliche Schädigung. Daneben ist das „nil nocere“ ein alle Gesundheitssparten übergreifendes Postulat. Es ist wichtig, dies sowohl in Fortbildung und Ausbildung als auch in Selbstreflexion ständig zu erwägen.
Eine Schädigung durch Psychotherapie kann auch als Körperverletzung gewertet werden. Dies stellt Gabriele Wolfslast in einer ausführlichen juridischen Monographie „Psychotherapie in den Grenzen des Rechts“ fest. Es ist das dort zwar nur aus der Sicht des deutschen Rechts klargelegt, aber ich nehme an, dass es in Österreich und der Schweiz nicht anders sein mag. Überdies sollen wir ja Schädigung nicht nur aus der Angst vor dem Kadi vermeiden, sondern (selbstverständlich) auch aus eigener ethischer Verpflichtung.
Mit Eckert und Koll. führe ich die drei wesentlichen Möglichkeiten zur Schädigung des Patienten durch Psychotherapie an: 1. Suizidalität, die in einem Suizid mündet,
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
2. Eine psychotische Dekompensation, die irreversibel ist oder 3. Handlungen, die durch die Therapie induziert werden und tragende soziale Gefüge zerstören. 4. Möchte ich dem noch anfügen, dass nicht nur psychotische Dekompensation, sondern auch Fixierung einer neurotischen Fehlhaltung zu den Gefahren zu zählen ist; denn auch eine solche kann ja massiv lebensstörend wirken. Bezüglich der Suizidgefahr wurde schon im Abschnitt über Gruppentherapie darauf hingewiesen, dass man auf Stärkerwerden einer depressiven Stimmung achten und dann die prinzipiell nondirektive Haltung in der Gruppenpsychotherapie durchbrechen muss (D4). Damit ist auch das wichtige Thema des „Endes einer Psychotherapie“ nochmals angeschnitten (vgl. D4, F5). Unser Prinzip ist es, aus verschiedenen Gründen einen positiven Abschluss zu suchen. • Ethische Überlegungen, dass man den Patienten auch ein allgemeines Wohlbefinden möglichst vermitteln soll. • Vermeidung von Gefahren durch Überflutung mit Emotionen. • Das Renommee des Psychotherapeuten und der Psychotherapie allgemein, das durch Weitergabe einer frustrierten Allgemeinstimmung durch den Patienten Schaden leidet. Manche Therapeuten glauben allerdings, dass ungelöste Probleme, die verbleiben, durch Erhöhung des Leidensdruckes die therapeutische Effektivität vergrößern können und lehnen es ab, Öl über die Wogen zu gießen, ja gießen lieber noch Öl ins Feuer. Ich halte das, wie schon in D4 gesagt, nicht nur für eine gefährliche, sondern auch für eine unärztliche Praktik und befinde mich damit in guter Gesellschaft bei Reimer, der in diesem Zusammenhang von einer „sadistischen Einflüssen ausgesetzten Therapeutenhaltung“ spricht. Unsere im psychotherapeutischen Unterricht verwendete Formulierung „Man darf den Patienten nicht mit aufgerissenem Bauch auf die Straße schicken“ möchte durch ihre Drastik die Angelegenheit besonders stark im Gedächtnis verankern.
Mangelnde Selbstreflexion des Therapeuten (vergl. auch A5) kann weitere Gefahren für ein negatives oder sogar schädliches Verlaufen der Psychotherapie bilden. Reimer und Koll. bringen das Beispiel eines zu starr methodenfixierten Therapeuten, der 300 Stunden Analyse bei einem Patienten machte, bei dem dann mittels Verhaltenstherapie innerhalb kurzer Zeit die Auflösung seiner Zwangssymptomatik gelang. Die meist bestehende Fragwürdigkeit der sogenannten „ewigen Analyse“ habe ich schon in A4 besprochen. Häufig zum Tragen kommen uneingestandene narzistische Komponenten der Therapeuten mit Therapieabbruch, Beleidigtsein u. ä. Die notwendige begleitende Selbstreflexion beim Psychotherapeuten und damit Vermeidung von störenden Einflüssen aus seiner eigenen Psychodynamik soll bekanntlich
H. Methodenübergreifende Grundprinzipien / H1. Schädigung des Patienten durch Psychotherapie
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durch die längere Selbsterfahrung (welche bei uns in jeder PsychotherapieAusbildung vorgesehen ist), minimiert werden. Man hat damit administrativ das Möglichste getan, um jene Gefahren zu vermeiden. Es ist menschlich, dass dies keineswegs immer gelingt. Es wurde schon vordem auf die Problematik von Ratschlägen hingewiesen. Dazu soll Dührssen gesagt haben (zit. aus Reimer und Koll.): „Wenn man einem Patienten eine Trennung empfiehlt, muss man ihm auch einen neuen Partner besorgen“. Bestimmte Ausnahmen, insbesondere im Bereich der Gerontopsychotherapie wurden erwähnt, wo der Psychotherapeut ja als einzige und Hauptansprechperson manchmal mit seinen konkreten Ratschlägen – die aber aus entsprechender Kenntnis der Sozialsituation und der Möglichkeiten kommen müssen – gefragt ist.
Mangelnde Ausbildung respektive „Halbausbildung“ kann sehr wohl auch zu Schäden führen. In folgendem Fall hat ein an Psychotherapie interessierter Arzt sehr wohl Hypnose gelernt, aber in seinem Lernen nicht mitbekommen, dass man mit dem Beginn einer Psychotherapie (also auch einer Hypnose) eine wesentliche Verantwortung auf sich lädt und dann nicht einfach den Patienten alleine sitzen lassen darf (wie schon in Kap. A1 gesagt), sondern weiter betreuen muss, bis zu einem irgendwie vernünftig konzipiertem Ende; respektive dass man seine psychotherapeutischen Bemühungen schon primär auf die zeitlichen Gegebenheiten abstimmen muss. Ein sehr ambitionierter und Menschen-zugewandter Anästhesiearzt machte vor einer Operation bei einer Patientin einige Hypnosen und war offensichtlich selbst fasziniert von einer Fülle unbewussten Materials, das da auf ihn zukam. Er versuchte nicht etwa an der Oberfläche zu bleiben, sondern stieg interessiert und stärker in größere Tiefen. Nach der Operation wurde dann die Patientin (wie es an einer chirurgischen Abteilung ganz selbstverständlich und Routine ist) auf eine andere Abteilung verlegt, und er hatte keinerlei Kontakt mehr zu ihr. Sie fühlte sich in ihrer Problematik aber derart alleine gelassen (nach der anfänglichen starken emotionalen Öffnung in Hypnose), dass sie dann in eine schwere Depression glitt, auch eine Ablehnung gegen alle Ärzte entwickelte. Wir sahen sie später, und es bedurfte vieler Mühe, sie aus ihrem Zustand, der aus der persönlichen Frustration entstanden war, wieder herauszubringen.
Wichtig ist die schon von Freud aufgestellte Abstinenzregel, die vollinhaltlich für alle Psychotherapieformen gilt. Es muss sich der Therapeut klar sein, dass eine Reihe von Komponenten in seiner Beziehung zum Patienten einerseits erotisierende Wirkung haben, anderseits aber sich anbahnende erotische und/oder sexuelle Nähe gegenüber physiologischen Verhältnissen verzerren. Sie sind daher nicht der normalen Ratio und dem normalen Gefühl unterworfen, wie es ohne die therapeutische Beziehung der Fall wäre. Die Benützung dieser „abnormen“ Situation für eine im Übrigen durchaus „normale“ Bezie-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
hungsaufnahme muss daher als ethisch nicht vertretbar bezeichnet werden. Handelt es sich doch bei der Arzt-Patienten-Relation um ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis, das auch im sonstigen rechtlichen und ethischen Rahmen erotische Verhältnisse, wenn nicht verbietet, so doch problematisch macht (Lehrer-Schüler, Chef-Angestellte, etc. [F3]). Genannt seien folgende Faktoren, welche die normale und beidseits freiwillige duale Situation verzerren: • Die stärkere Suggestivwirkung des ärztlichen Wortes (Rates, Wunsches), wie wir sie schon bei den Suggestivwirkungen (C2) und beim Gespräch (B2) besprochen haben, • Die geänderte Rolle, in der sich sowohl der Therapeut als auch die Patientin (denn um eine solche handelt es sich in der Regel) befindet, infolge der wirksamen Mechanismen von Identifikation, Übertragung, etc. (vergl. B1), • Bartls „Abschied von der eigenen Göttlichkeit“ ist auch in diesem Sinne nötig, denn der Götter-Chef Zeus hat ja auch mit allen greifbaren Damen des Götter- und Menschenreiches Verhältnisse gehabt.
H. Methodenübergreifende Grundprinzipien / H1. Schädigung des Patienten durch Psychotherapie
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Wie brisant dieses Thema ist, zeigen die Mitteilungen von Reimer und Mitarbeitern, dass bei einer Umfrage bis zu 10 % aller befragten Therapeuten solche Missbräuche zugegeben haben. Tschan spricht von 10 % aller Therapeuten und 3 % aller Therapeutinnen. Es war kein spezifisches Problem von Anfängern. Verschiedene Rationalisierungen wurden vorgeschoben, so vor allem, dass es auch dem Patienten genützt habe, weil er an Beziehungsmangel litt. In einem Beispiel von Reimer wird ein Analytiker gezeigt, der über Jahre sexuelle Kontakte mit seiner Patientin pflegte, aber außerhalb der gemeinsamen Zeit auf der Couch eine strenge analytische Abstinenzregel einhielt, damit die Patientin und damit deren emotionale Erwartungen in eine Liebesbeziehung ständig massiv frustrierte. Dass daraus eine schwere depressive Neurose resultierte, wird niemanden verwundern. Bei 90% aller Patientinnen wurden negative Folgen in irgendeiner Form festgestellt. Manche Berufsorganisationen verlangen ein Intervall von mindestens 2 Jahren zwischen Behandlung und eventueller Aufnahme sexueller Beziehung. Man weiß aber, dass die starke, affektive Abhängigkeit vom Therapeuten auch länger dauern kann. Es gilt also allgemein Vorsicht (übereinstimmend mit Reimer). Wenn auch Freud die absolute geschlechtliche Abstinenzregel dem Patienten gegenüber zur Maxime erhoben hat, wurde diese schon im direkten Um- und Nachfolgefeld Freud’s keineswegs eingehalten, weder von männlicher noch von weiblicher Seite (Tschan erwähnt: Jung, Ferenczi, Margaret Mahler, Karin Horney und Frida Fromm).
Sicherlich bleibt die Abstinenzregel als Norm absolut zu unterstreichen; und doch muss gleichzeitig eine gewisse Relativierung Platz greifen. Haben nicht manche Psychotherapeuten ihre Patientinnen schließlich geheiratet? Dazu ist bemerkenswert, dass auch (wie schon in F3 erwähnt) das Gesetz die Aufnahme sexueller Beziehungen mit einer „anvertrauten“ Person unter Strafe stellt, sogar in manchen Texten die Psychotherapie speziell nennt, jedoch bei späterer Heirat die Einstellung der Strafverfolgung ermöglicht. Gibt es eine Erklärung oder einen Kommentar dazu? Ich möchte hier die Dimension des „gesunden Menschenverstandes“ einbringen und letztendlich darauf verweisen. Ich halte diese Dimension in der ganzen Psychotherapie für eine sehr wesentliche, auch bei der Beurteilung irgendwelcher recht ausgefallener Therapiemethoden. Hier hat das Gewissen seinen Platz (das allerdings auch durch die Sozietät geprägt ist, durch sittliche Normen, und last but not least geschult und geübt werden muss). Der Analytiker, der jahrelang mit der Patientin sexuell verkehrte, sie aber außerhalb dieses Sexualverkehrs immer streng „als Analytiker“ und ohne positive Zuwendung – man kann sagen grausam – frustrierte, steht sicherlich und fest außerhalb jener Dimension. Sie sollte in der ganzen Psychotherapie einziehen; und das ist gar nichts so Abwegiges. Denn schon der kategorische Imperativ Kants: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zum Prinzip der allgemeinen Rechtssprechung gemacht werden könnte“; beruft sich ja auf nichts Feststehendes, sondern auf die allgemeinen gesellschaftlichen Normen.
Die in Kap. C3 und A3 bei der Hypnose schon erwähnte „Recovered memory therapy“ muss unter den Schädigungsmöglichkeiten genannt werden. Durch Überschreitungen der persönlichen Selbstbescheidung des Psychothera-
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I. Barolin: Integrierte Psychotherapie
peuten kann es zu vielfachen schweren Störungen des sozialen Gefüges (entsprechend dem 3. Punkt, der von Eckert genannten Gefahren der Schädigung) kommen. Ofshe und Watters haben sich in ihrem Buch „Die missbrauchte Erinnerung – von einer Therapie, die Väter zu Tätern macht“, 1996 ausführlich damit auseinandergesetzt. Es hat sich dabei um eine ausgesprochene Modeströmung, ja Bewegung, in den USA gehandelt, mit Selbsthilfegruppen, gemeinsamen Druckschriften, etc. An einer riesigen Symptomen-Liste (die praktisch alles umfasste), wurde den Patientinnen gesagt, das könne von Missbrauchserlebnissen in ihrer Kindheit kommen, die sie verdrängt hätten und die nun weiter schädigend wirken. Daraufhin wurden in stark suggestiv gefärbten Hypnosen jene Erlebnisse ins Bewusstein gehoben. Die Psychotherapeuten führten Konfrontationen mit den seinerzeitigen Schädigern durch. Es kam zu Gerichtsverhandlungen, wo sie auch als Zeugen (leider) gehört wurden, daraufhin zu Verurteilungen mit Entschädigungsansprüchen etc. etc. Wie zweifelhaft das ist, konnte schon in Kap. C3 ausgeführt werden, da nämlich 1. die Suggestion des Hypnotisators immer stark mitspielt und 2. die fraglichen Erinnerungen durch „Affektsprengstücke“ sekundär besetzt werden können und dadurch wesentlich verändert werden können, wenn auch eine „subjektive Wirklichkeit“ entsteht.
Laut Reimer sowie Revenstorf und Peter funktioniert (glücklicherweise) das nicht mehr, da auch die amerikanischen Gerichte irgendwelche Erkenntnisse aus der Hypnose nicht mehr anerkennen (bei uns war so etwas nie üblich).
H. Methodenübergreifende Grundprinzipien / H1. Schädigung des Patienten durch Psychotherapie
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Jedenfalls zeigt es, wie weit sich die Psychotherapie vergaloppieren kann, wenn entsprechende ethische Persönlichkeitsschulung fehlt. Das „primum non nocere“, also: „alles zum Wohle des Patienten und nicht zu seinem Schaden!“, worin natürlich auch seine familiäre Integration eingeschlossen ist, bleibt leider (vor allem aus Gewinnstreben) manchmal sträflich vernachlässigt. Wenn auch jener krasse Missbrauch keinen konkreten Weg zu uns gefunden hat, muss man sich doch fragen: Stehen finanzielle Überlegungen bei uns nicht auch manchmal über den allgemein-ärztlichen? Natürlich will der Psychotherapeut von der Psychotherapie leben und hat auch das Recht dazu. Aber es gehört ständige Selbstreflexion dazu, damit es im Rahmen bleibt. Sekten sind zwar keine psychotherapeutische Institution, aber sie tarnen sich häufig als solche. Jedenfalls finden Meditations- und Suggestionsphänomene dabei Anwendung (vergleiche C1, C2 und Abb. 11). Die Möglichkeit der emotionalen Einsicht und der erhöhten Suggestibilität wird dazu verwendet, um Inhalte zu vermitteln, die keineswegs der Persönlichkeit dienen, sondern der Sekte. Durch Wirkung jener Mechanismen werden aber die „Erkenntnisse“ dann typischerweise als eigene vom Betroffenen aufgefasst. Der Psychotherapeut, der oft von Eltern um Hilfe ersucht wird, muss die Hintergründe jener bedauerlichen „Menschenveränderungen“ (hier kann man wirklich in vielen Fällen davon sprechen) kennen, um bei einer derartigen „Entwöhnungsbehandlung“ die richtige Mischung von Engagement und Abgrenzung zu finden. Es geht um die Therapie der kleinen Schritte und gelingt keineswegs immer (ausführlicher bei Stamm). Die Schaubuden-Hypnose ist gleichfalls (natürlich) nicht zu psychotherapeutischen Maßnahmen zu rechnen, wendet aber das hypnotische Inventar an. Es ist davor zu warnen, denn es kann durch den sorglosen Umgang mit dem wirksamen Instrument der Hypnose auch allerhand Unheil gestiftet werden im Sinne von emotionaler Überschwemmung, neurotischer Dekompensation etc.
Zusammenfassung zu den Gefahren der Psychotherapie Psychotherapie könnte nicht wirken, könnte sie nicht auch gefährlich sein. Das bedingt für den Psychotherapeuten eine hohe Verantwortung, die zumindest ebenso groß ist wie für den Allgemeinmediziner, wenn nicht größer. Denn er greift nicht nur in körperliche Abläufe ein (das
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kann die Psychotherapie wie gezeigt auch), sondern in die emotionalen Strukturen, die den Menschen erst zum Menschen machen. Es wurde schon eingangs meines Artikels (A3) darauf hingewiesen, dass man Psychotherapie nicht anfangen darf, wenn man nicht bereit ist, jene Verantwortung auch für längere Zeit zu übernehmen, und in diesem Kapitel wurden noch wesentliche andere Punkte angeschnitten, wo die Verantwortlichkeit des Psychotherapeuten wesentlich zum Tragen kommt, so vor allem • Gewissenhafte Ausbildung und Selbstfortbildung, • Beachtung von Gefahren, • Gewissenhafter Umgang mit der Abstinenz, • Verantwortliche und gekonnte Beendigung einer Psychotherapie. Die Ausbildung soll durch Selbsterfahrung, neben Kenntnissen und Techniken, auch Selbstbescheidung und Selbstreflexion ermöglichen, damit nicht die eigene Psychodynamik des Psychotherapeuten zum Störfaktor wird. Das gleiche Ziel hat die Supervision, die auch erfahrenere Psychotherapeuten immer begleiten sollte. Dass trotzdem die Psychotherapeuten nicht immer zu Ideal-Menschen umgebaut werden, ist menschlich. Der Patient muss das wissen und soll seinen gesunden Menschenverstand auch in der Beziehung zum Psychotherapeuten verwenden (vergl. A5). Nahe an den tiefen Schichten des Menschseins arbeiten zu dürfen, macht einen besonderen Reiz der Psychotherapie aus (zumindest sehe ich es so). Ohne die ständige Rückkoppelung zur Ethik bedingt es aber eine spezielle Gefahr.
H2.
Welche Therapie für welchen Patienten?
Hierzu gibt es kein feststehendes Rezept. Ich möchte vielmehr auf die meinerseits mehrfach strapazierte Mehrdimensionalität hinweisen, die auch hier herrscht. Folgende Faktoren erscheinen wesentlich: 1. Es gilt zu überlegen, ob der Patient von der betreffenden Art der Psychotherapie profitieren kann. Das ist natürlich ein recht weiches Unterscheidungsmerkmal, denn die Beurteilung ist sehr individuell. 2. Welche Zeit, welche ökonomischen Ressourcen stehen zur Verfügung?
H. Methodenübergreifende Grundprinzipien / H2. Welche Therapie für welchen Patienten?
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3. Wie können Therapeut und Patient sich aufeinander einstellen? 4. Rein pragmatisch: Welcher Therapeut mit welcher Methode ist überhaupt greifbar für den Patienten? Damit ist aber auch schon die Frage nach der „richtigen Methode“ teilweise unbefriedigend beantwortet, denn man wird gar nicht so viel greifbare Methoden mit ihren Therapeuten zur Auswahl haben. 5. Es gilt, immer wieder Zwischenbilanz zu ziehen und sich selbst Rechenschaft zu geben, ob die bisherigen Erfolge den bisherigen Aufwand lohnen, ohne sich absolut auf eine Methode oder auf sich selbst als Therapeuten zu versteifen. Jenes Zwischenbilanzieren soll auch jeweils versuchen, sich die Übertragungs- und Gegenübertragungssituation neu zu vergegenwärtigen. Wie schon bei der Empathie gesagt (A3) sollte es zwar keine Psychotherapie ohne diese geben, man soll sich aber immer fragen, ob nicht eine zu weit gehende aus der eigenen Psychodynamik kommende Übertragung mitspielt. Ebenso sollte man auftretende Aggressionen bei sich als Psychotherapeuten erkennen und versuchen, sie auf ihre Entstehung etwas abzuklopfen. 6. Wir sollen uns als Therapeuten aber auch nicht zu abhängig vom Erfolg machen und wenn der Patient uns nicht durch Erfolg „belohnt“, uns frustriert von ihm abwenden. Schließlich gibt es auch schwere Zustände, wo wir keinen Dauererfolg erzielen können. Trotzdem kann dabei aber unsere „begleitende Psychotherapie“ ein wesentliches Positivum für den geplagten Patienten sein. J. H. Schultz hat es „Nirvana-Therapie“ genannt. Dafür habe ich den
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Ausdruck „Psychorehabilitation“ vorgeschlagen. Ich denke speziell an manche Kopfschmerzleidende, die diese Leiden trotz vieler Mühe nicht loswerden, an Patienten in der Rehabilitation, die gleich bleiben oder sich verschlechtern (Schlaganfall, Multiple Sklerose) und denen man kontinuierlich und immer neu zu helfen versuchen soll. Es spielen also viele individuelle Variablen bei der Titelfrage mit. Aber das macht anderseits die Psychotherapie ja auch reizvoll, dass es dafür nämlich keine fixen Standards gibt und immer die Persönlichkeit des Therapeuten mit seinem ständigen Neu-Eingehen auf die jeweilige Situation gefragt ist. Dass damit kein verschwommenes, ohne Ausbildung nur irgendwie MitGefühl-Therapieren gemeint ist, glaube ich anderseits anhand vorliegender Zeilen sattsam ausgedrückt zu haben. Eckert glaubt, dass die Methode der Psychotherapie unwichtig ist, gegenüber der „Passung“ (Patient-Problem-.Therapiemethode-Therapeut), dass also alle Komponenten zusammenpassen sollen. Ob das nicht ein zu hoch gesteckter Anspruch ist? Aber sicher kann man ihn als Wunschvorstellung im Auge behalten.
Sehr pragmatisch möchte ich zum Abschluss sagen: Das Wesentlichste ist, zumindest in unseren Ländern und in unserer Situation (in den USA mag es anders sein), dass überhaupt an Psychotherapie gedacht wird und Psychotherapie gemacht wird. Das betrifft vor allem diejenigen Fälle, welche heute scheinbar außerhalb des Psychotherapiebereiches liegen, die aber doch vielfach von Psychotherapie deutlichen Nutzen ziehen können oder könnten. Die von uns vertretene „Integrierte Psychotherapie“ hat hier ihr wesentliches Feld. Dazu ist es aber nötig, den Psychotherapeuten nicht als einen isolierten und geheimnisvollen Zauberer zu betrachten, der völlig außerhalb der übrigen Medizin steht. Wir dürfen hoffen, dass sich dieses Wissen um den möglichen Additivwert von Psychotherapie zu den anderen Therapieformen immer mehr verbreitet. Die vorliegenden Zeilen wollen ein weiterer Schritt auf diesem Wege sein.
I. Konklusion zum ganzen Barolin-Artikel Es konnte gezeigt werden, dass wir mit einer „Schul-offenen“-Haltung in der Psychotherapie weiter kommen, als mit strengem Schuldogmatismus. Das soll nicht als eine Kampfansage gegen die Schulen missver-
H. Methodenübergreifende Grundprinzipien / H2. Welche Therapie für welchen Patienten?
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standen werden. Die „Schulen“ sind notwendig, um dem Ausbildungskandidaten ein didaktisches Gerüst zu liefern. In der späteren praktischen Arbeit ist es aber einer optimalen Wirkung zuträglich, wenn über schulische Grenzen hinausgesehen und -gegangen wird. Es soll beim Modifizieren und Kombinieren jedoch immer sehr genau überlegt werden, was und wie man es tut, und sachgerecht und gewissenhaft vorgegangen werden. Dies bedingt auch wechselseitiges Anerkennen, Von-einanderLernen und gemeinsam Forschen, anstelle von Schuldogmatismus. Der ständige lebendige Zusammenhang zwischen Forschung und Praxis muss stärker als bisher gewahrt werden. Wir haben daher auch versucht, die vorliegenden Zeilen einerseits möglichst praxisgerecht zu gestalten, anderseits mit klaren Resultaten der praktischen Ergebnisforschung zu begleiten. Es gilt bei der Integrierten Psychotherapie • Ihre mehrfachen Wirkungsmöglichkeiten im Auge zu behalten, nämlich einerseits somatotrop anderseits psychotrop. • Die verschiedenen Angriffspunkte um jene Ziele zu erreichen, nämlich mehr an der Wurzel oder mehr am Symptom. Jedoch sind weder Wirkungsweise noch Angriffspunkte streng getrennt voneinander zu verstehen, sondern als Schwerpunkte mit weitgehender wechselseitiger Beeinflussung im Sinne der somato-psycho-sozialen Einheit Mensch. Unsere „2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training“ hat sich als eine zeitökonomische und in der Praxis für jeden psychotherapeutisch Erfahrenen gut anzuwendende MethodenKombination erwiesen. Sie verwendet Erkenntnisse aus der HypnoidTherapie und aus der Gruppendynamik. Diese Kombination bringt eine wechselseitige Verstärkerwirkung mit sich. Jenes Therapiemodell sollte nicht wegen seiner Position „zwischen zwei Psychotherapieschulen“ (nämlich dem Autogenen Training und der Gruppenpsychotherapie) verloren gehen. In der Geronto-Psychotherapie und in der Rehabilitation konnten wir einige neuere und interessante Erfahrungen berichten. Speziell auf dem Gebiet der Altersrehabilitation ist noch vieles offen, was keineswegs nur ärztlich zu lösen ist, sondern organisatorischer Neuordnung bedarf. Das sollten wir psychotherapeutisch tätigen Ärzte maßgeblich mitstimulieren. Endständig dazu eine Liste, die auch allgemeiner für die
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Möglichkeiten des ärztlichen Eingreifens in organisatorische Strukturen gilt. Die katathyme Imaginationspsychotherapie (KIP) konnten wir als effektiv bei Integration in einer modernen Rehabilitation ausweisen. Neben dieser „neuen“ Indikation zeigt sie sich in einer allgemeinen Psychotherapie sehr günstig in ihrer Relation der aufgewandten Arztzeit zum möglichen Erfolg. Im Randgebiet der Psychohygiene im Spitzensport betonen wir besonders, dass keineswegs die Sportinteressen über alles gestellt werden dürfen. Vielmehr kann man den jungen Menschen über den Sport hinaus einiges Bleibende geben, wenn man ihre Persönlichkeit in das Zentrum unserer psychotherapeutischen Einflussnahme rückt. Die Schmerztherapie zeigt sich als ein wichtiges Gebiet für die Integrierte Psychotherapie. Die Kenntnis möglicher psychosomatischer Brücken ist für gezieltes Angreifen im multifaktoriellen Schmerzkomplex wesentlich. Es ist jedoch nötig, auch die anderen therapeutischen Zugänge zu kennen, um eine Integrierte Psychotherapie auch entsprechend „integrieren“ zu können. Gleichermaßen zeigt sich bei der Sexualität, dass die mehrdimensionale Therapie nur optimal sein kann, wenn der Psychotherapeut auch einiges von den Nachbargebieten weiß. Ärztliche Tätigkeit und Psychotherapie sind keineswegs als getrennt ja sogar einander ausschließend anzusehen, sondern beeinflussen einander wechselseitig positiv. Wir stellen uns damit gegen die Äußerungen mancher „isolationistischer“ Psychotherapeuten. Die Integrierte Psychotherapie stellt sich keine Menschenveränderungs- noch weniger Weltveränderungsaufgabe. Sie will dem Menschen helfen, mit seinen Schwierigkeiten bestmöglich zu leben. Das kann sie nur, wenn sie sich allen medizinischen Disziplinen zur Verfügung stellt und ergänzend, nicht isoliert wirkt. Wir glauben, dass noch viel Gutes getan werden kann, wenn der Gedanke der Integration von Psychotherapie in alle Sparten der Medizin, ebenso wie in die Psychotherapie selbst einstrahlt. Das Folgende bezieht sich speziell auf die Alters-Psychotherapie in ihrem Zusammenhang mit der Alters-Versorgung (denn auf diesem Gebiet besteht ein besonderes Manko). Es bedarf einer intensiven Arbeit auf mehrerlei Ebenen. 1) Popularisierung des Gedankens, damit er in die allgemeine Willensbildung vermehrt einfließt.
H. Methodenübergreifende Grundprinzipien / H2. Welche Therapie für welchen Patienten?
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2) Diese sollte politisch und administrativ Folgendes bewirken: – Umdenken in der Budget- und Arbeitsplatzbeurteilung – Durch eine Alters-(Reha)-Versicherung soll ein gesundes Fundament geschaffen werden, speziell auch für die Alters-Psychotherapie im Rahmen der Altersrehabilitation. – Darin einzuschließen sind auch die Hauspflege und Reha-Standards für Pflegeheime sowie Selbsthilfegruppen für Angehörige und Patienten. 3) Die dafür wesentliche Personengruppe muss ständig entsprechend motiviert werden. – Dazu gehört eine wesentlich stärkere Betonung der Integrierten Psychotherapie und auch Alters-Psychotherapie im akademischen Establishment. – Gleichermaßen für die ärztlichen und Gesundheitsberufe. – Zur Förderung der Motivation soll Mitgestaltungsmöglichkeit, Karriere-Wirksamkeit und psychodynamische Supervision gegeben sein. Dazu gehört außerdem Schulung (altes Wissen plus neue Wege) und finanzieller Anreiz. – Aber auch die Patienten müssen stärker motiviert werden hinsichtlich: Gesundheitsbewusstsein, Eigenverantwortung. Aufklärung mit entsprechender Transparenz gehört dazu. 4) Es geht nicht ohne Evaluation (einschließlich Kontrolle). Dazu gehören definierte Instanzen, die angesagt und unangesagt entsprechende Altersinstitutionen besuchen, ebenso wie Fragebogen bei der ambulanten Psychotherapie. Der Psychotherapeut muss sich mit diesen „lästigen“ aber notwendigen Maßnahmen solidarisieren. Jene Evaluation soll Mehreres betreffen – Ausbildungsqualität, Räume und Apparate in den Institutionen für alte Menschen (speziell im Rahmen der Alters-Psychotherapie) – Ergebnis-Qualität auch bei der ambulanten Psychotherapie 5) „Verwissenschaftlichung“ – als wesentlicher Teil der Evaluation – als wesentlicher Teil der Organisation – Es soll dadurch eine laufende Patienten-orientierte Verbesserung erreicht werden. Es wartet auf eine aufstrebende Psychotherapeuten-Generation also noch viel Arbeit, auch zur ständigen Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen, politisch, interdisziplinär und fachlich. Dabei soll sie
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aber ständig am Patienten bleiben, seine Bedürfnisse wahrnehmen und in die Planung einbeziehen; also eine große Aufgabe! Damit wird ein wesentliches human-ethisches Postulat erfüllt, welches in unserer immer mehr technisiert werdenden Medizin immer wichtiger wird.
Über den Umgang mit Psychotherapeuten Sehr geehrte, liebe Damen und Herren Patienten, während das meiste in diesem Buch sich an den Therapeuten gewandt hat (immer unter Berücksichtigung, dass der Patient es auch wissen soll, weil es ihn auch angeht), ist dieser Absatz nun direkt an Sie, hochgeschätzter Patient, gerichtet und soll dazu beitragen, Ihre Psychotherapie so fruchtbar wie möglich zu machen. Wir Psychotherapeuten (Mandel oder Weibel) sind nämlich keine Gesundheits-Automaten mit Münz-Einwurf, sondern Menschen, die vielfach überdies sehr sensibel sind (siehe Persönlichkeit des Psychotherapeuten [A5]). Auch soll sich ja im Gespräch eine menschliche Beziehung ausbilden mit Übertragung und Gegenübertragung (Sympathie und Antipathie), die sich aber in Grenzen halten müssen, um nicht überschießend kontraproduktiv zu wirken (B2). Jede Beziehung ist an zwei Partner gebunden und es hängt somit sehr viel davon ab, wie Sie als Patient uns als Psychotherapeuten entgegentreten. Die Abbildung 9a in B2 hat nicht nur vom Therapeuten zum Patienten zu gelten, sondern auch umgekehrt insbesondere Takt, Höflichkeit, Freundlichkeit. Verwenden Sie uns Therapeuten also nicht ausschließlich als Klagemauer! Lassen Sie uns an Ihren positiven Eindrücken und Fortschritten teilhaben! Letztlich gilt auch hier: Wie man in den Wald hineinruft, so kommt es wieder heraus. Damit sende ich (zusammen mit meinen engagierten Mit-Autoren, denen ich gleichzeitig im Sinne der guten Sache nochmals danke) dieses Buch endgültig auf den Weg zu ärztlichen und nicht-ärztlichen Psychotherapeuten, allen anderen Engagierten im Sozial- und Gesundheitsberuf und auch den Patienten, hoffend, dass es zu manchem Positivem mitwirkt. Ihr ergebener Autor und Buch-Koordinator
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II.
Psychiatrisch-Psychotherapeutischer Konsiliardienst einschließlich Krisenintervention im Krankenhaus
SIGRUN ROSSMANITH Dr. Sigrun Rossmanith Fuchsthallergasse 14, A-1090 Wien Telefon: +43-/0/1 – 310 46 06 Fax: +43-/0/1 – 310 46 07 20 E-Mail: [email protected] Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie in eigener Praxis. Vorher 10-jährige Tätigkeit im Institut für medizinische Psychologie der Universität Wien mit diversen psychotherapeutischen Zusatzausbildungen, dann als Ausbildnerin. Mehrjährige Konsiliartätigkeit im Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus/Wien. Derzeit, neben psychotherapeutischer und Ausbildungstätigkeit, ausgedehnte Gutachtertätigkeit.
Schlagwort-Information Der psychotherapeutische Konsiliardienst im Krankenhaus bedarf noch wesentlichen Ausbaus, wozu die folgenden Erfahrungen helfen mögen. Der Psychotherapeut muß sich vor allem auf die kurzfristige Verfügbarkeit des Patienten einstellen und daraus das Bestmögliche machen. Schwerpunkte sind Unfall-Patienten (Krisenintervention) und chronische (Alters-)Patienten.
Die Autorin Rossmanith hat dem Buchkoordinator (Barolin) zwei Artikel zu obigem Thema zur Verfügung gestellt, um sie im vorliegendem Buch zu verwenden. Bei Ihrer Verwertung wurden außerdem Eigenerfahrungen und Erfahrungen der Kollegin Gassner-Priem verwertet. Da jedoch die Aussagen von Frau Rossmanith den Hauptteil vorliegenden Artikels ausmachen, fungiert sie als Autorin.
394
II. Rossmanith: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
A.
Einleitung
A1.
18 Jahre Erfahrung im Unfallkrankenhaus
Der hohe Anteil psychotherapiebedürftiger Störungen unter den Patienten eines allgemeinen Krankenhauses wurde schon vielfach betont (zuletzt in Barolin-Artikel I. A2). Wirsching schätzt 30%. Die Novelle 1993 zum österreichischen Krankenanstaltengesetz trägt dem insofern Rechnung, als es allen Krankenanstalten zur Pflicht gemacht wird, für psychotherapiebedürftige Patienten eine psychotherapeutische Möglichkeit im Krankenhaus anzubieten (unseres Wissens in keinem anderen Land derartig reglementiert). Allerdings kommt die Verwirklichung jener rechtlichen Bestimmung keineswegs noch ubiquitär zufriedenstellend zum Tragen. Mehreres steht dem entgegen, wie folgend noch zum Ausdruck kommt.
Gerade Unfallverletzte weisen posttraumatisch erhöhte Affektlabilität und einen spürbaren Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung auf. Dies stößt in einem somatisch orientierten Fach mitunter auf Schwierigkeiten. Ist die Unfallchirurgie mit objektivierbaren, „technisch“ reparierbaren, somatischen Schäden befasst, basiert die Psychotherapie auf subjektiver Einschätzung von Krankheitskriterien und sucht mit geistig-seelischen Mitteln Heilung herbeizuführen. Die integrative Vernetzung dieser gegensätzlichen Fachgebiete bedingt erhebliche Anlaufzeiten und bedeutet Arbeit an der Grenze zweier Verständniskonzepte (Köhle, Joraschky), die nur über „Integration durch Kooperation“ gelingt (Wirsching). Die Konsiliarpsychotherapie basiert auf dem Konzept der Ganzheitsmedizin, das somatische + psychische + soziale Faktoren in Diagnose und Therapie integriert. Als „direkt-Patienten-orientierter“ Ansatz (Freyberger) ist die Beschäftigung mit dem Kranken zentral, wenngleich die beratende und supervidierende Funktion des Behandlungsteams ebenfalls eingebunden ist. Im vorliegenden Fall deckt der psychotherapeutische Konsiliardienst auch die psychiatrische Fachdisziplin ab, da die damit beauftragte Ärztin (Verfasserin) über jene Kompetenz verfügt. Somit kann auch die Verordnung psychotroper Medikamente mit der Psychotherapie in einer Hand sein (= „zwei Zügel“ der psychiatrischen Therapie). Innerhalb von acht Jahren entwickelte sich eine psychiatrisch-psychotherapeutische Konsiliar-/Liaisondienstmischform im Unfallkrankenhaus, so dass nicht nur auf Anfrage, sondern regelmäßig, bei Visiten und Patientenbesprechungen die psychotherapeutische Konsiliarfachärztin präsent ist. Erfahrungsgemäß steigert dies die Inanspruchnahmequote (Herzog und Hartmann), was auch im vorliegenden Fall eintrat (Zunahme von 0,5 % auf 1,5%).
395
A. Einleitung / A1. 18 Jahre Erfahrung im Unfallkrankenhaus
Rückblickend auf mehr als 18 Jahre Konsiliartätigkeit werden im folgenden überblicksmäßig psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen bei stationären Unfallverletzten dargestellt. Inhalte*) Unter 442 stationär psychotherapeutisch behandelten Unfall-Verletzten waren 33% Suizidpatienten (n-144). Bei 36% der Behandelten erfolgte der Erstkontakt auf der Intensivstation. Abb. 1 zeigt die diagnostische Aufschlüsselung (ICD 10) der Behandelten. Diagnosen ICD 10
Patienten (gesamt n = 442)
Prozentanteil
160
36%
Organische und symptomatische psychische Störungen
93
21%
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
70
16%
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
49
11%
Abusus (Alkohol, Medikamente, Drogen)
31
7%
Affektive Störungen
29
6%
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen
10
2%
Neurotische-, Belastungsund somatoforme Störungen (davon 104 posttraumatische Belastungs- und Anpassungsstörungen [24 %])
Abb. 1 In einem Unfall-Krankenhaus ergibt sich natürlich ein anderes Krankengut als in einem allgemeinen Krankenhaus. Dort sind, gegenüber den hier an erster Stelle genannten Störungen, chronisch Kranke und Alters-Patienten ein Hauptklientel (siehe später im Text). *) Die hier wiedergegeben Zahlen beziehen sich auf ein 12-jähriges Krankengut, das einmal systematisch erhoben und bearbeitet wurde. Die weitere Erfahrung ist entsprechend – Herrn Univ.-Prof. DDr. hc. H. Poigenfürst, dem damaligen Leiter des Unfall-Krankenhauses, sei für Verständnis und Förderung besonders gedankt.
396
A2.
II. Rossmanith: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
Besprechung anhand von Krankheitsbildern
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Den größten Anteil in dieser Diagnosekategorie stellen posttraumatische Belastungs- und Anpassungsstörungen. Diese seelischen Beschwerden stehen ursächlich mit dem Unfalltrauma und/oder den sich daraus ergebenden Konsequenzen in Verbindung und können auch bei sogenannten Gesunden auftreten, wenn die individuellen Bewältigungsmechanismen überfordert sind. Weiters zählen hypochondrische und phobische Kranke dazu, die schwer objektivierbare Beschwerden bieten, zahlreiche Untersuchungen und Operationen induzieren und beim Behandlungsteam aggressive Gegenreaktionen mit Tendenz zur Polypragmasie auslösen. Der psychotherapeutische Konsiliardienst erhält hier oft die unliebsame Funktion des Normenwächters, der diese Patienten zu Einsicht, Gehorsam und vor allem zum Beenden ihrer endlosen Klage bringen sollte. Fall 1 Einem 50-jährigen Industriellen wird nach einer komplizierten Beckenfraktur für 8 bis 12 Wochen absolute Bettruhe verordnet. Bei jeder Morgenvisite erkundigt er sich, wann er das Bett verlassen dürfe. Er bekommt „dreimal täglich einen Esslöffel Geduld“ verordnet (Originalzitat des visitierenden Stationsarztes). Durch sein uneinsichtiges Verhalten löst dieser Kranke Aggressionen beim Behandlungsteam aus, das seine Verleugnung nicht erkennen kann. Plötzlich fällt er durch nächtliche Verwirrtheit auf und wird von der Nachtdienstschwester ertappt, wie er mit der Nagelschere das Extensionsseil zu durchtrennen versucht. Rationale Ermahnungen und Drohungen bleiben ohne Gehör, psychotrope Medikation zeigt wenig Erfolg. Im tiefenpsychologischen Erstgespräch ist der bewusstseinsklare Patient bemüht, seine innere Spannung, die Unerträglichkeit seiner Situation und die daraus resultierenden Ausnahmezustände in Worte zu fassen. Psychotherapeutische Interventionen: • Regelmäßige Visiten und tiefenpsychologisch fundierte Gespräche zum Verbalisieren von „Unaussprechbarem“ im Dialog (Anbieten als Verbündete). • Entspannungshypnose mit suggestiver Beeinflussung zur Ressourcen-Findung („Wenn es unerträglich ist, stellt sich wie von selbst meine Stimme ein und begleitet sie in ein angenehmes Wohlgefühl, wo Äußeres gleichgültig und Inneres frei ist…“). • Übersetzen der Klage des Kranken in eine für das unfallchirurgische und pflegerische Behandlungsteam verständliche Form. Verlauf: Durch die psychiatrisch-psychotherapeutische Intervention wurde es dem Patienten möglich, die belastende Liegedauer von 10 Wochen Extension in einem seelisch ausreichend stabilisierten Befindenszustand durchzuhalten. Sukzessive im Rahmen der Mobilisierung wurde die begonne Medikation reduziert. Die psychotherapeutische Intervention fortgeführt, in zuletzt losen Intervallen bis zur Entlassung. Danach wurde dieser Patient in der unfallchirurgischen Nachbehandlungsambulanz nicht mehr so auffällig, dass er neuerlich vorgestellt worden wäre.
A. Einleitung / A2. Besprechung anhand von Krankheitsbildern
397
Fall 2 Eine 21-jährige Angestellte wird nach der von ihr erzwungenen Scheidung von ihrem Exmann mit einer Pumpgun niedergeschossen. Sie wird sterbend ins Unfallkrankenhaus eingeliefert und gerät wider Erwarten rasch außer Lebensgefahr. Der Täter erschießt sich beim Eintreffen der Polizei. Auf der Intensivstation traut sich niemand, die Patientin über den Vorfall zu befragen, von sich aus stellt sie keine Fragen. Anfänglich ganz mit körperlichen Beschwerden befasst, ist sie an der psychotherapeutischen Aussprache nicht interessiert. Sie amnesiert das Geschehene, weiß jedoch aus Erzählungen den Tathergang. Je besser sie sich körperlich erholt, um so mehr treten seelische Beschwerden in den Vordergrund: Schlafstörungen, Albträume, Angst, Nachhallerinnerungen, das weinende Gesicht des Exgatten vor Augen, und nach dem Besuch der zweijährigen Tochter (die dem Vaters sehr ähnlich sieht) kommt es zu Panikattacken. Die Patientin wird zunehmend depressiv, bedauert ihr Überleben, äußert Suizidideen. Aufkeimende Schuldgefühle projiziert sie auf Exekutivbeamte, die den Suizid hätten verhindern sollen. Psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen: • Tiefenpsychologische Anamnese und ärztliches Gespräch zur Verbalisierung der Gefühle, Bearbeitung von Schuldgefühlen und Trauer und zum Umgang mit der Tochter; • katathym-imaginative Psychotherapie; • medikamentöse Bedarfsmedikation; • Vermittlung weiterführender Psychotherapie nach Entlassung. Verlauf: Unter der kombiniert psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung klangen die akuten Symptome der Belastungsstörung ab. Die Patientin wird ausreichend stabilisiert, äußert von sich aus den Wunsch, nach Entlassung weiter in die nervenärztlich-psychotherapeutische Praxis der Autorin zu kommen, was sie auch tat, jedoch lediglich 2-mal. Danach hat sie einen neuen Freund kennen gelernt und gemeint, sie würde sich dadurch besser stabilisieren als durch Psychotherapie.
Organische und symptomatische psychische Störungen Hierunter werden psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einem Schädel-Hirntrauma, einer zerebralen Krankheit oder iatrogenen Beeinflussung (z.B. hoher und/oder langer Schmerz- und Beruhigungsmittelbedarf) subsummiert, die zu einer passageren oder permanenten Hirnfunktionsstörung (organisches Psychsyndrom) führen. Die Patienten bieten im akuten Zustand rasch wechselnde psychiatrische Symptome (Halluzinationen, Verworrenheit, Angst, depressive Verstimmung), fallen im chronischen Zustand durch trotzig-störrisches und frustrationsintolerantes Verhalten auf und erschweren Rehabilitationsmaßnahmen. Ihre Unberechenbarkeit und die Ungewissheit des Krankheitsverlaufs stellen für Angehörige eine erhebliche Belastung dar („Wird er/sie wieder so wie früher?“). Zur Rehabilitation dieser Kranken ist die regelmäßige verlässliche Begegnung mit Vertrauten absolut notwendig. Selbst Komatöse reagieren auf vertraute Stimuli (z.B. sichtbare Veränderung der Herzrhythmus am Monitor).
398
II. Rossmanith: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
Die Stimme (Melodik, Rhythmik, Klang), Körperkontakt und Berührung („basale Stimulation“; Bienstein) sind für den präverbalen Dialog unerlässlich (vergl. Barolin-Artikel I.F4). Dies gilt auch für unansprechbare Verwirrte oder Intubierte. Um diese wichtigen dialogischen Möglichkeiten aufzugreifen, brauchen Angehörige Ermutigung und Orientierungshilfen (systemische Ausweitung der Psychotherapie auf die Angehörigen). Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Patienten mit tiefgreifenden, den Kern der Persönlichkeit erfassenden, Störungen (narzisstische Störung, Borderline-Persönlichkeit) gelangen entweder nach Unfalltrauma oder selbst verursacht durch süchtiges Aufsuchen von Grenzen (U-Bahnsurfen, Geisterfahren als Mutprobe) nach Suizidversuchen oder Impulsivitätsdurchbrüchen in stationäre unfallchirurgische Behandlung. Fall 3 Ein 22-jähriger Lagerarbeiter fährt in selbstdestruktiver Absicht gegen eine Mauer und überlebt schwer verletzt. Er wirkt in seinem Selbstwert gekränkt, ist emotional schwer zugänglich. Weder der Patient noch die Eltern erachten eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung für notwendig, sondern konzentrieren sich auf die unfallchirurgische Wiederherstellung. Der missglückte Selbstmordversuch als Ausdruck „sprachloser“ Wut wird von allen bagatellisiert. Dies überträgt sich auf das Intensivpflegepersonal. Es wird die Illusion aufrecht erhalten, die Verletzungen würden wieder „ganz“ heilen. Die psychiatrisch-psychotherapeutische Visitation löst Befremden aus. Die versuchte Selbstdestruktion sollte ungeschehen gemacht werden. Psychotherapeutische Interventionen: • Einzel- und Familiengespräche: sensibilisierend zur Einsichtsförderung, konfrontierend über das Ausmaß der seelischen Störung wie über somatische Folgen des Unfalls (bleibende Behinderung) mit Förderung der Coping-Strategien; • Interventionen beim Pflegepersonal, um die Übernahme der Verleugnung transparent zu machen; • Vermittlung weiterführender psychotherapeutischer Behandlung nach Entlassung und Rehabilitation; • psychotrope Medikation. Verlauf: Im Rahmen der Behandlung gelang lediglich eine sehr marginale Einsichtsförderung, die ob des sehr guten weiteren Heilungsverlaufes zunehmend abnahm. Der Patient äußerte von sich aus ebenso wenig wie die Familie das Bedürfnis zu einem Gespräch. Lediglich die verordnete Medikation wurde weiter eingenommen und erlaubte eine anhaltende Stabilisierung bis in das Rehabilitationszentrum.
A. Einleitung / A2. Besprechung anhand von Krankheitsbildern
399
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen „Verrückte“ Kranke induzieren bei einem somatisch ausgerichteten Behandlungsteam Angst, Ratlosigkeit und Verunsicherung. Ihre Klagen erfahren keine gehörige Beachtung oder werden als Ausdruck der Geisteskrankheit oft fehlinterpretiert. Jene psychiatrischen Patienten werden nach Suizidversuchen oder wegen posttraumatisch psychotischer Krisen behandelt. Zum adäquaten (weder ängstlich distanzierten noch überprotektiven) Umgang benötigt das unfallchirurgische Behandlungsteam praktische Anweisung und(oder Supervision. Fall 4 Eine 20-jährige Frau, Auszeichnungsmaturantin und Mannequin, schneidet sich nach Nichtbestehen der Aufnahmeprüfung an einer Kunsthochschule die Pulsadern auf. Die Tat erfolgt in einem wahnhaften Dämmerzustand als Folge einer schizotypen Psychose. Die Wunde zeigt etwa 40 Einschnitte mit beugeseitiger Durchtrennung von Muskeln, Sehnen und Nerven. Zahlreiche zum Teil mikrochirurgisch operative Eingriffe und plastische Wiederherstellungsmaßnahmen erzwingen einen mehrwöchigen stationären Aufenthalt auf der Unfallabteilung. Trotz intensiver psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung und psychotroper Medikation kann keine anhaltende seelische Stabilität erzielt werden. Erschwerend wirkt sich die zu erwartende bleibende Behinderung des verstümmelten Armes aus. Die Patientin muss zwischenzeitlich wegen neuerlicher Suizidgefährdung in eine psychiatrisches Krankenhaus transferiert werden, wo sie den 2. Selbstmordversuch unternimmt. (Sprung aus dem Fenster und Bruch von 4 Lendenwirbelkörpern). Nach ausreichender seelischer Stabilisierung wird sie zur Weiterbehandlung wieder ins Unfallkrankenhaus überstellt, und die unfallchirurgische und psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung wird bis zur möglichen Überstellung ins Rehabilitationszentrum fortgesetzt. Psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen: • tiefenpsychologisch fundierte Einzel- und Familiengespräche, • psychtrope Medikation • Interventionen beim Behandlungsteam zum Umgang mit der Suizidgefährdung und wahnhaften Umdämmerung, • Vermittlung weiterführender psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Verlauf: Bei der Patientin zeigte sich zunehmend anhand des Längsschnittsverlaufes, dass es sich um eine chronifizierend schizophrene Psychose handelte, die vorwiegend mit Psychopharmaka behandelt wurde; die Patientin zeigte von sich aus wenig Bedürfnis zu Gesprächen. Auch in ihrem Affekt durch die Chronifizierung der seelischen Erkrankung verflachte sie insgesamt in ihrer Erscheinung. Entgegen dem perfektionistisch ausgestalteten Ersteindruck wirkte sie verwahrlost. Dem gegenüber konnte sie dank der unfallchirurgischen Interventionen ihre verstümmelte Hand vollständig bewegen.
Affektive Störungen Depressive und manische Kranke sind entweder infolge von Unfällen oder nach missglückten Suizidversuchen stationär auf der Unfallabteilung. Bei bei-
400
II. Rossmanith: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
den Krankheitsbildern stehen die exakte Einschätzung der Suizidalität und Impulsivität wie die kombiniert medikamentös-psychotherapeutische Behandlung im Vordergrund. Erschweren depressive Unfallverletzte wegen ihres reduzierten (oder seltener: agitierten) Antriebes Mobilisierungs- und Rehabilitationsmaßnahmen, so stören manische Patienten durch Selbstüberschätzung, Disziplinlosigkeit und das Erzwingen von „unvernünftigen“ Reserven (Interventionen wie beim vorigen Fall). Alkohol-, Medikamenten-, Drogenabusus Abususpatienten werden nur bei Komplikationen in der Entzugs- oder Ersatzmedikationsbehandlung vorgestellt: zur Vermittlung von Drogenberatern und zur Weiterleitung in stationäre Entwöhnungsbehandlung. Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen Diese Patienten, deren „Dunkelziffer“ hoch ist, stellen einen vergleichsweise kleinen Anteil der psychotherapeutisch behandelten Unfallverletzten dar. Ihr psychisches Beschwerdebild ist meist Zufallsbefund (z.B. Frakturen bei Anorexia nervosa). Hierher gehören – obwohl diagnostisch uneinheitlich – auch Patienten mit artefiziellen Krankheiten (heimliche Selbstbeschädigung), die septische Wundheilungen, operative Eingriffe bis zur Amputation erzwingen. Unüberlegt meisterdedektivisches Verhalten auf beiden Seiten des unfallchirurgischen und pflegerischen Behandlungsteams verstärkt bei diesen Kranken Verleugnung und dissoziierte autoaggressive Impulsivität. (Psychiatrisch-) Psychotherapeutische Interventionen: (Abb. 2) • Anbieten eines vertrauensfördernden Klimas ohne Schuldzuweisung und Vorwurf („Erfahrung des guten Objektes“), • tiefenpsychologisch fundierte Gespräche zur Verbalisierung von „Unaussprechbarem“, • psychotrope Medikation.
A. Einleitung / A2. Besprechung anhand von Krankheitsbildern
401
I. Interventionen mit Patienten: Verbale Interventionen: mit Einzelpersonen, Paaren, Familien Tiefenpsychologische Anamnese: diagnostische und differentialdiagnostische Klärung; Einschätzung der Selbst- und Fremdgefährdung; Therapievorschlag Tiefenpsychologisch orientiertes ärztliches Gespräch: supportiv zur Ich-Stärkung; konfrontierend zur Einsichtsförderung; sensibilisierend zur Motivierung für unfallchirurgische bzw. rehabilitative Maßnahmen Coping und Verlustbearbeitung (Trauerarbeit); psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Krisenintervention: Klärung des „Krisenherdes“ und Herstellung eines Zusammenhanges zwischen Ursache und Ausmaß der Krise; Einschätzung der Selbst- und Fremdgefährdung; Vermittlung von weiterführender psychiatrisch-psychotherapeutischer und/oder sozialer Betreuung; praktische soziale Interventionen (Einbinden von sozialen Hilfsdiensten) Tiefenpsychologisch fundierte, imaginative oder suggestive Psychotherapie: Gesprächspsychotherapie, Katathym-imaginative Psychotherapie; Hypnotherapie, Autogenes Training, Spieltherapie, Szenotest Nonverbale Interventionen: Körperliches Berühren („basale Stimulation“; Bienstein); „Halten“; Winnicott; präverbale Kommunikation Medikamentöse Interventionen: symptomatische Psychopharmakotherapie; Medikation als „Übergangsobjekt“ (Köhle) und „Droge Arzt“ (Balint); Plazebo
II. Interventionen mit Behandlungsteam: Interaktionsanalyse; Richtlinien für Umgang; „Übersetzung“ der „Klage“ des Patienten und seines Verhaltens Abb. 2 Es ist wesentlich, die medikamentöse Therapie mit der Psychotherapie sinnvoll zu kombinieren. Gespräche mit dem Patienten und seinen Angehörigen sowie mit dem Behandlungs-Team stehen in jedem Fall im Vordergrund. Es ist die integrierte Anpassung der Psychotherapie an die jeweilige Behandlung nötig. Dazu kommt die systematische und kombinierte Pharmakotherapie. Andere („Spezial-)Werkzeuge“ der Psychotherapie kommen, je nach Indikation, Verfügbarkeit und Zeitrahmen, in Frage.
402
A3.
II. Rossmanith: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
Therapeutische Wirkmechanismen
Das Repertoire psychiatrisch-psychotherapeutischer Wirkmechanismen fußt auf basalen Bausteinen ärztlichen Handelns: Anbieten regelmäßiger ärztlicher Präsenz, Übersetzen der Klage, Gestalten eines vertrauensfördernden Klimas, Sensibilisierung kathartischer Selbstheilungsmöglichkeiten, suggestive Förderung der Regression, je nach Indikation in (oder zum narzisstischen Auftanken vor) dem Konflikt, Verbalisierung der Beschwerden und Differenzierung der Wahrnehmung. Gleichzeitig wird der Aufbau einer Übertragungsbeziehung induziert und im therapeutischen Bündnis die Frustrationsschwelle für unfallchirurgische Eingriffe, rehabilitative und physikotherapeutische Maßnahmen gefördert. In der Funktion des Übertragungsobjektes bietet der psychotherapeutisch tätige Arzt dem Kranken ein „Hilfs-Ich“ zur Stabilisierung und Sensibilisierung von Copingstrategien an. Entspannungs- und Hypnoidtherapie sind zusätzliche therapeutische Wirkfaktoren (z.B. Schmerzreduktion). Mittels imaginativer Methoden (z.B. Katathym-imaginative Psychotherapie [I. F5]; Autogene Imagination [I. C4]) lassen sich symbolisch Konflikte darstellen, Ressourcen finden und sprachloses Erleben verbalisieren. Strukturbildende Maßnahmen, wie verlässliche Präsenz im therapeutischen Ritual, erleichtern die Integration verletzter Ganzheit. Bei Kindern finden szenisch spielerische Möglichkeiten (Spieltherapie, Szenotests) Verwendung. So können kathartisch Spannungen und Emotionen Verunfallter dargestellt werden. Damit können dramatische Unfallerfahrungen, Schmerzen, Bedrohung und Trennungserlebnisse szenisch im Spiel agiert werden. Präverbale Kommunikation (Stimme, Tonfall, Sprachrhythmus, Hautkontakt) dialogisiert bei tief regredierten Kranken (komatöse, intubierte, sedierte, demente Patienten) sprachlose Vereinsamung in High-tech-Umgebung, um so mehr, wenn vertraute Stimuli und „spürbarer“ Kontakt (z.B. Stimme und Streicheln der Mutter des verunfallten Kindes) mit nahen Angehörigen regelmäßig geboten werden. Die Psychopharmakamedikation fungiert als Notwendigkeit, um Zugang zu finden (z.B. schizophren Verunfallte) und um überschießende Reaktionen, bedrohliche Erlebnisse, Spannungs- und Unruhezustände, Verzweiflung, Angst oder Resignation auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und gleichzeitig psychotherapeutisch behandeln zu können (zweizügelige Behandlung , psychotherapeutisch und medikamentös). Das verordnete Medikament wird auch als „Übergangsobjekt“ (Wirsching) verwendet und bildet damit in seiner Wirkung das Beziehungsklima ab, das heißt, der Kranke nimmt mit jedem Medika-
A. Einleitung / A3. Therap. Wirkmechanismen / A4. Schwierigkeiten / A5. Schlussfolgerungen
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ment auch ein Stück „Droge Arzt“ (im Sinne von Balint) zu sich und kann Schutz und Stärke des behandelnden Arztes verinnerlichen.
A4.
Schwierigkeiten im psychotherapeutischen Konsiliardienst
Die Installation eines funktionierenden psychotherapeutischen Konsiliar-Liaisondienstes dauerte Jahre und bleibt störanfällig. Gefahrenmomente sind narzisstische Kränkungen, Rivalitäten oder ganz allgemein negativ getönte Vorurteile auf beiden Seiten (unfallchirurgisches Behandlungsteam und Konsilarius). Schwierig ist ferner, dass Patienten von sich aus ihre seelische Not und den Wunsch nach Psychotherapie kaum kundtun (oder nicht gehört werden). Zudem besteht auf Seiten des unfallchirurgischen Behandlungsteams Scheu, Patienten die psychotherapeutische Konsiliarvisite anzukündigen, so dass Kranke sich überrumpelt fühlen: „Ich habe zwar einen Unfall hinter mir, aber im Kopf hab’ ich es noch nicht!“ (Originalzitat eines Patienten.)
A5.
Schlussfolgerungen für den psychiatrischpsychotherapeutischen Einsatz bei unfallchirurgischen Patienten
Seelisch labile und psychiatrische Kranke sind störanfällig für „Schwachstellen“ im medizinischen System und in der ärztlichen Begegnung. Nicht selten komplizieren sie durch mangelnde Flexibilität, Egozentrizität, Wahrnehmungsverzerrung und fehlenden oder inadäquaten Realitätsbezug die Behandlung. Unfallchirurgen begegnen diesen Patienten, anfangs zumeist aus Ratlosigkeit, später oft aus Ohnmacht und Ärger, unempathisch sachlich und appellieren an ihre Vernunft. Arzt und Patient befinden sich jedoch auf unterschiedlichen „Wellenlängen“ und erreichen einander nicht, so dass oftmals Dritte, wie beispielsweise der psychiatrisch-psychotherapeutische Konsiliarius, die Klage des Patienten und die Antwort des Arztes „übersetzen“ muss, um gegenseitiges Verstehen und Verständnis zu erwirken. Die betreffenden Patienten benötigen Geduld, Transparenz und Konsequenz im Umgang. Nur in Ausnahmefällen muss die Unfallchirurgische Therapie individuell abgewandelt werden.
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II. Rossmanith / Barolin: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
Empfehlenswert – das gilt ebenso für seelisch unauffällige Kranke – wäre es, wenn während eines stationären Aufenthaltes der Verunfallte nicht von wechselnden Ärzten behandelt würde, sondern zu einem Arzt eine Vertrauensbeziehung aufbauen könnte. Dies wäre gerade bei langfristigem stationären Aufenthalt vonnöten (beispielsweise bei septischen Patienten). Ist das wegen Teamorganisation der behandelnden Ärzte nicht möglich, dann sollte innerhalb des Behandlungsteams ein Konsens über Diagnose und weiteren Behandlungsverlauf erfolgen, damit dem Patienten nicht je nach visitierendem Arzt unterschiedlich diagnostisch-therapeutische Mitteilungen gemacht werden, die erheblich zur psychosomatischen Destabilisierung beitragen. Zudem sollten dem Kranken, und dies gilt gerade für ängstliche Patienten, notwendige unfallchirurgische Eingriffe und Maßnahmen in einfachen Worten verständlich gemacht werden. So können mit wenig Zeitaufwand Entängstigung, Reduktion von postoperativen Schmerzmittelbedarf und der Komplikationsrate sowie eine deutlich erhöhte Compliance und Zunahme der Zufriedenheit auf seiten des Kranken und des Arztes erwirkt werden (Winnicott).
B.
Weitere Gesichtspunkte (von Barolin) zur Psychotherapie im (nichtpsychotherapeutischen) Krankenhaus
B1.
Einleitung
Die psychotherapeutische Versorgung in nicht-psychotherapeutischen Abteilungen der verschiedenen Fächer ist ein in der Zukunft noch weit auszubauendes Gebiet, schon aus allgemein-ärztlich-ethischen Erwägungen, um dem Patienten die bestmögliche ärztliche Versorgung zuteil werden zu lassen. Überdies hat auch das schon erwähnte österreichische Krankenanstaltengesetz nunmehr jene Möglichkeit auch als Organisationsverantwortung festgeschrieben. Dementsprechend haben schon Pritz und Dellisch unter dem Titel „Psychotherapie im Krankenhaus“ einen Sammelband herausgebracht. Pritz sagt in seinem Einleitungsreferat, dass die Aufgaben nur in einer gedeihlichen Teamarbeit wirklich bewältigbar sind, die auch geeignet sein sollen, die ange-
B. Weitere Gesichtspunkte
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spannte kommunikative Situation in den Krankenhäusern zu entlasten. Es sei dazu eine Kooperation der Gesundheitsberufe auf einer gleichen Hierarchiestufe anzustreben (?). Dem ersten Teil dieser Aussage von der gedeihlichen Teamarbeit stimme ich voll inhaltlich zu, melde aber gegen den zweiten Teil der „Kooperation der Gesundheitsberufe auf der gleichen Hierarchiestufe“ meine Bedenken an. Natürlich müssen im Team gemeinsame Entscheidungen gefasst werden. Aber es muss ein Leiter des Teams vorhanden sein, und das kann wahrscheinlich im Krankenhaus nur der leitende Arzt sein. Er hat die Aufgabe, alle Meinungen aus dem Team zu hören und zu koordinieren.
Es muss so sein, dass das ganze Team mit einer Stimme spricht (das kommt auch in den Ausführungen von Rossmanith deutlich heraus). Der Patient wünscht sich unbedingt eine eindeutige Führung durch einen starken Hierarchen (vgl. Barolin-Artikel I. B4); das entängstigt und gibt Sicherheit. Ob es sich dabei um Sehnsucht nach mütterlicher Geborgenheit oder um Vatersehnsucht handelt, mag von Mal zu Mal verschieden sein, spielt aber für den praktischen Umgang damit kaum eine Rolle. – Regression ist dabei allemal im Spiel und diese ergibt sich ja (wie in jenem Artikel gezeigt) quasi automatisch aus der Patient-Arzt-Relation. Pseudo-Demokratie am Krankenbett mit Diskussion unterschiedlicher ärztlicher Ansichten vor dem Patienten ist somit kontraproduktiv, kann sogar durch dessen Motivations-Minderung und Verunsicherung direkt gesundheitsschädlich wirken. Aus meiner Erfahrung – ich war ja in meinem ärztlichen Leben nicht nur „Hierarch“, sondern langjähriger psychotherapeutisch aktiver Konsiliarius in einem neurologisch-psychotherapeutischen Konsiliardienst – möchte ich Pritz dahingehend zustimmen, dass der psychotherapeutische Konsiliarius – wenn auch bei einer klaren ärztlichen Führung für den Patienten – als gleichrangig und gleichwertig anerkannt wird, wie etwa ein neurochirurgischer Konsiliarius oder der Befund einer Magnetresonanztomographie. Kontraproduktive Aussagen wie „jetzt haben wir alles versucht, können nichts mehr machen, da müssen wir sie eben zum psychiatrischen Konsiliarius schicken“ dürfte es weder real noch gedacht geben. In einem früheren Artikel (Barolin 1997) „Zur Psychotherapie im Krankenhaus“, ebenso wie im vorstehenden, wird es auch besonders hervorgehoben (und sei in diesem Zusammenhang nochmals betont): dass das gesamte Gesundheitspersonal eine basal-psychotherapeutische Ausbildung braucht, denn nur so kann auch der Konsiliarius • die entsprechende Zuweisung • das entsprechende Verständnis und • die entsprechende Zusammenarbeit zu Gunsten des Patienten finden.
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II. Rossmanith / Barolin: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
Wie in Barolin-Artikel I. A6 schon festgestellt, ist dafür (erfreulicherweise) das medizinische Assistenzpersonal einschließlich des Krankenpflegepersonals in den heutigen Ausbildungsgängen schon relativ gut vorgebildet, während (unerfreulicherweise) bei den Ärzten diesbezüglich ein größeres Manko besteht. Es kann gehofft werden, dass das neue Medizin-Curriculum diesem Übelstand sukzessive abhelfen wird. Zwischenzeitig wird es an uns psychotherapeutisch tätigen Ärzten liegen, auch möglichst „fortbildend“ auf unsere ärztliche Umgebung einzuwirken.
B2.
Differenzierte Interventionen je nach diagnostischen Untergruppen
Anteilmäßig stehen drei große Kategorien beim psychotherapeutischen Krankenhaus-Konsiliardient im Vordergrund. Diese Krankengut stellt sich natürlich in einem allgemeinen Krankenhaus deutlich anders dar als in einer UnfallAbteilung (auf die Rossmanith vordem Bezug genommen hat): 1. Die älteren und chronisch kranken Patienten. Dabei sind meist depressive Faktoren mit im Spiel [I. B3]. Dazu ist Folgendes anzuführen: – Sinnvolle Gesprächspsychotherapie, die sich auf das hic et nunc und die aktuellen Probleme bezieht, welche meist weniger die Krankheit als die Familie, Vereinsamung, Sorge um die Zukunft etc. betreffen. – Gleichzeitig muss der Psychotherapeut auch realistisch wissen, wie mit dem Sozialnetz umzugehen ist, respektive muss er mit dem Sozialarbeiter konstruktiv zusammenarbeiten und an einem Strang ziehen. – Der Kontakt mit den Betreuern (meist Angehörigen) soll hergestellt und eine gemeinsame Linie gefunden werden. – Sinnvolle gezielte antidepressive Therapie. – Verschiedene spezielle psychotherapeutische „Werkzeuge“ wie in Abb. 2 angeführt; neben der Differential-Indikation auch abhängig vom personellen und zeitlichen Rahmen. 2. Die parasuizidalen Patienten und die posttraumatischen Belastungsreaktionen. Bei diesen gilt das, was in der Psychotherapie als „Krisenintervention“ speziell bezeichnet wird. Kriseninterventionen sind sehr wohl (integrierte) Psychotherapie, die sich aber den speziellen Kriterien einer „Krise“ anzupassen hat, nämlich – die Akuität mit meist plötzlichem Auftreten, – rasche Veränderlichkeit des Bildes, – kurzzeitige Verfügbarkeit des Patienten. Sifneos gibt die Zielpunkte der Krisenintervention folgendermaßen an: • Auflösung der Krise.
B. Weitere Gesichtspunkte
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• Erleichterung der Symptome (wozu auch Medikamenteneinsatz gehört). In besonders gelagerten Fällen kommt Hypnose oder KIB in Frage. (Vergl. I. C3 und F5). • Dem Patienten Klarheit und positive Wegweisung für die Zukunft geben, indem man konkret aufzeigt, wohin er sich wenden kann und soll. Ich (Barolin) habe es nie so gemacht, dass der Patient einfach einen Psychotherapeuten anrufen sollte, sondern habe bereits den ersten Termin mit einem Psychotherapeuten draußen für ihn und mit ihm fixiert. • Nach Indikation und/oder Verfügbarkeit wiederum die in Abb. 2 angeführten „psychotherapeutischen Werkzeuge“. • Aber für all das genügt meistens ein Konsiliargespräch nicht, sondern man soll doch einige Tage mit dem Patienten Zeit haben. Daraus ergibt sich eine immer wieder auftretende Verständnisschwierigkeit zwischen uns psychotherapeutischen Konsiliarien und der allgemeinen Abteilung. Es kommt nämlich die typische Frage bei parasuizidalen Vergiftungen: „Können wir den Patienten nicht schon entlassen? Wir brauchen ein Bett!“ So verständlich dieser Wunsch bei dem Bettenbedarf auf Intensivstationen ist, müssen wir Psychotherapeuten uns dem meistens entgegenstellen. Es geht eben nicht an, einen „nur“ psychisch Belasteten gegenüber dem körperlich Therapiebedürftigen hintanzustellen. Ein Ausweg ist dabei die mehrtägige Verlegung von der Intensiv- auf die Normal-Krankenhausstation. Den Patienten mehrere Tage im Krankenhaus zu lassen, hat den Sinn, mit ihm einige intensive Gespräche im Rahmen der „aufgeweichten Emotionalität“ führen und dadurch manches für später entschärfen oder gradbiegen zu können, was nachher schon „eingepanzert“ ist. Es geht nicht an, den Patienten einfach auf die Straße zu schicken und zu sagen „Melden Sie sich bei einem Psychotherapeuten“ (wobei dieser vielleicht in Unkenntnis der Angelegenheit einen Termin nach Wochen gibt). Auch der „demonstrativste“ Selbstmordversuch ist ein Hilferuf eines in Not befindlichen Menschen und es entspricht der ärztlichen Ethik, auf einen solchen Hilferuf (nach besten ärztlichen Möglichkeiten) zu reagieren.
Die posttraumatischen Belastungsstörungen wurden hier mehrfach in einem Atem mit der Krisenintervention genannt. Sie gehen aber über akute Krisen hinaus, wie speziell an Vietnam-Veteranen und Holocaust-Überlebenden beobachtet und bearbeitet wurde. Man subsumiert darunter heute auch längere Zustände und dauernde Persönlichkeitsstörungen. Dieses Thema ist heute hochaktuell, weil die ständig zuströmenden Asylanten bis zu 30% mit Foltererlebnissen belastet sind. Nähere Ausführungen I. A4. 3. Die dritte große Gruppe sind organische Psychodrome, auf welche schon Rossmanith eingegangen ist. Dabei hat neben den psychotherapeutischen Interventionen für Patienten und Angehörige auch das neuropsychologische Rehabilitations-Training seinen wichtigen Platz.
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C.
II. Rossmanith / Gassner-Briem: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
Weitere Gesichtspunkte
A D E L H E I D G A S S N E R -B R I E M Dr. med. Adelheid Gassner-Briem Rappenwaldstraße 55; A-6900 Feldkirch Telefon + Fax: +43-(5522) 74067 E-Mail: [email protected] Niedergelassene Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeutin, Ärztin für psychosomatische Medizin, Lehrtherapeutin der ÖÄK in Feldkirch.
Sie berichtet als psychiatrisch-psychotherapeutische Konsiliaria aus ihren Erfahrungen in einem Allgemeinkrankenhaus, welchem auch eine Unfallabteilung angeschlossen ist. Die Erfahrungen mit den Unfallpatienten decken sich mit dem Vorgesagten. Im allgemeinen Krankengut spielen psychische Störungen im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten eine große Rolle (was auch im vorstehenden Barolin-Artikel, I. F2, als Psychotherapie in der Rehabilitation seinen Niederschlag gefunden hat). Sie weist darauf hin, dass die Intensität der Psychotherapie sehr variabel angepasst werden muss, da etwa der körperlich schwer Kranke nach 10 Minuten Gespräch schon erschöpft sein kann, während manche, die sich zum ersten Mal entlasten können, mit 50 Minuten nicht genug finden. Empathie, positive Wertschätzung und das Wahrnehmen der Interaktion sind die wichtigsten Faktoren einer derartigen LiaisonsPsychotherapie. Daneben besteht großer Supervisionsbedarf beim Personal. Sie lehnt es aber ab, diesem Bedürfnis ihrerseits zu entsprechen, da sie sich selbst zu Hierarchie-abhängig fühlt und für Supervisoren von außen plädiert. Ganz wichtig sind aber Supervision, regelmäßige Fortbildung und Erfahrungsaustausch für sie selbst und sollten ihres Erachtens auch bei länger Erfahrenen (oder gerade bei diesen) niemals fehlen. Es wird dringend eine stärkere psychotherapeutische Grundhaltung und Grundausbildung bei Ärzten, Pflegepersonal und auch Patienten gefordert (gleichlautend Barolin), damit es nicht dazu kommt: „Für das Psychische ist die Psychotherapeutin zuständig. Mich geht es nichts mehr an!“
D. Zusammenfassung zum psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliar- und Liaisonsdienst
D.
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Zusammenfassung zum psychiatrischpsychotherapeutischen Konsiliar- und Liaisonsdienst einschließlich Krisenintervention im Krankenhaus
Der hohe Bedarf an Psychotherapie im allgemeinen Krankenhaus (30%) scheint schon in der Literatur auf und wird aus den Erfahrungen dreier Konsiliarpsychotherapeuten deutlich bestätigt. In Österreich als – unseres Wissens – einzigem Land haben wir zwar ein Krankenanstaltengesetz, welches die Möglichkeit psychotherapeutischer Versorgung für jeden derer bedürftigen Patienten vorschreibt, aber weder die psychotherapeutisch Tätigen (ärztliche und nicht-ärztliche Psychotherapeuten), noch die Organisation im Krankenhaus sind derzeit dafür vorbereitet. Und so ist der Weg noch weit bis zu einer ubiquitären Implementierung jenes Gesetzes. Die vorliegenden Ausführungen wollen weitere Wegweisungen geben. Es hat sich als vorteilhaft erwiesen, wenn der psychotherapeutische Konsiliardienst im Krankenhaus durch Psychiater durchgeführt wird, die die psychotropen Medikamente entsprechend mit der Psychotherapie kombinieren können. Auch zeigte sich die, an und für sich keineswegs immer einfache, Kommunikationsbrücke vom Behandlungsteam des anderen Faches zum psychotherapeutischen Konsiliarius relativ gestützt durch das gemeinsame Arzttum. Der Konsiliarius muss sich auf die relativ kurze Verfügbarkeit des Patienten einstellen und auch sinnvolle Wegweisung für nachher geben ohne aber „nur-Zuweiser“ zu sein. Besonders gilt dies für Kriseninterventionen. Wichtig zeigt sich die möglichste Einbeziehung der Angehörigen im Sinne von • Angstbekämpfung, • Vorurteilslösung, aber auch • Kontaktverbesserung. • Planung der Weiterbetreuung, etc. Es hat sich großer Bedarf an Supervision gezeigt, der für das Behandlungsteam ebenso gilt wie für die Konsiliarien selbst. Es zeigte sich günstig, nicht nur immer auf die Zuweisung zu warten, sondern regelmäßig anwesend zu sein (bei Visiten und Stationsbespre-
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II. Rossmanith / Gassner-Briem: Psychotherapeutischer Konsiliardienst
chungen). – Natürlich bedeutet das auch eine Zeitfrage. Bei größerer Personal-Vertrautheit mit dem Konsiliardienst durch Team-Supervision steigt der Zuweisungsmodus, und die interdisziplinäre Patientenbetreuung wird dadurch merkbar besser. Das psychotherapeutische Arsenal kam in dem Maße zur Anwendung, als es die Konsiliarii in ihrem Register hatten. Besonders Flexibilität und Anpassung an die jeweiligen Notwendigkeiten ist im LiaisonsDienst nötig. Der Bedarf ist offensichtlich gegeben und ein größerer Zeitrahmen wird gewünscht. Dementsprechend ist der psychotherapeutische Konsiliardienst eine wesentlich auszubauende Aufgabe der integrierten Psychotherapie für die Zukunft.
Quellenverzeichnis Balint M (1965) Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Klett, Stuttgart Barolin GS (1997) Zur Psychotherapie im Krankenhaus. Österr. Krankenhauszeitung 38. Jg., S. 36-40, 4 Bienstein C (1991) Basale Stimulation in der Pflege. Düsselldorf, Verlag Selbstbestimmtes Leben Freyberger H (1980) Consultation Liaison (mit besonderer Berücksichtigung der Krankenversorgung). Prax Psychther Psychosom 25: 179-189 Gassner-Briem Adelheid (1994) Probleme der Installierung von Psychotherapie im Allgemeinkrankenhaus – Erfahrungsbericht. In: Pritz A, Dellisch H (Hrsg) Herzog T, Hartmann A (1990) Psychiatrische, psychosomatische und medizinpsychologische Konsiliar- und Liaisontätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Nervenarzt, 61: 281-293 Köhle K, Joraschky P (1986) Die Institutionalisierung der psychosomatischen Medizin. In Uexküll Tv (ed) Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, 423-433, München Pritz A (1994) Ein Krankenhaus – nach psychotherapeutischen Prinzipien organisiert. In: Pritz A, Dellisch H (Hrsg) Pritz A, Dellisch H (Hrsg) (1994) Psychotherapie im Krankenhaus. Erfahrungen – Modelle – Erfolge. Orac, Wien Sifneos PE (1998) Kurzpsychotherapie und Krisenintervention. In: Freedmann AM, Kaplan HI, Sadock BJ, Peters UH. Psychotherapie in Praxis und Klinik. Band 3: Neurosen. Georg Thieme, Stuttgart Winnicott DW (1975) Vom Spiel der Kreativität. Klett, Stuttgart Wirsching M (1990) Der psychosomatische Konsiliar- und Liaisondienst. Psychother Psychosom Med Psychol 4: 363-367
III. Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis GÜNTHER BARTL OMR Dr. Günther Bartl Hauptstraße 417, A-2145 Hausbrunn Telefon: +43/0/2533 – 80 13 56 Fax: +43/0/2533 80 13 56-9 E-Mail: [email protected] Praktischer Arzt in einer Landpraxis nahe Wien. Von Anfang seiner Tätigkeit an psychotherapeutisch interessiert mit entsprechenden psychotherapeutischen Ausbildungen. Bei seinerArbeit wird seit Jahrzehnten psychotherapeutische Medizin in die Allgemeinpraxis integriert. Viele Jahre Präsident der österreichischen Gesellschaft für Autogenes Training und Allgemeine Psychotherapie, Installateur der KIP (Katathymes Bilderleben) in Österreich, Lehrbeauftragter für Psychosomatik und medizinische Grundlagen für Musiktherapeuten an der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien.
Schlagwort-Information Der Hausarzt (speziell in kleineren Orten) ist gleichzeitig Familienarzt, er kennt den Patienten und sein soziales Umfeld, psychisch und somatisch. Das könnte ideal sein für die somato-psycho-soziale Erfassung, wenn nicht die Crux der chronischen Zeitnot durch unser Verrechnungssystem bestünde. Die sinnvolle Kombination verschiedener psychotherapeutischer Methodik mit somatischen Maßnahmen kann, auch im Sinne eines Stufenplanes, in jenem Dilemma beträchtlich helfen, diesem allerdings auch nicht völlig abhelfen.
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A.
III. Bartl: Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis
Einleitung
Der Begriff Krankheit ist bis jetzt von der Weltgesundheitsorganisation nicht definiert. Anstatt dessen wurde Gesundheit als Vollkommenheit in geistigseelischem, körperlichem und sozialem Wohlbefinden definiert. Damit wurde ein paradiesischer Zustand umschrieben, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Demnach wären nämlich alle Menschen krank. Und tatsächlich wuchert bei uns seit geraumer Zeit ein „Generalversorgungsanspruch“, dem eine isolierte Psychosomatik in keiner Weise gerecht werden kann.
Deshalb wäre es wünschenswert, dass Psychosomatik ihr fachspezifisches Etikett verliert und sich zu einer allgemeinen, fächerübergreifenden, diagnostisch therapeutischen Haltung des Arztes entwickelt.
Der psychosomatisch geschulte Arzt unterhält mit dem Patienten einen von positiver Wertschätzung, Echtheit und empathischen Verständnis getragenen Dialog. In einem für den Patienten angenehmen Klima wird die Verbalisierung emotionaler Inhalte, die zu Einsichten in sein individuelles Selbst (Beseelung des Körpers) führen sollte, angeregt. Wir hinterfragen die Entwicklung der Krankheit, betten das Erfahrene in seinen psychologischen Kontext und gelangen so durch Integration der Um- und Mitwelt des Kranken zu einer geschlossenen somatopsychosozialen Betrachtungsweise. Ein derartiger Zugang zum Patienten bringt ein Menschenbild, das nicht nur psychologische Ergänzung zum medizinischen Befund ist, sondern auch den Patienten als handelnden und erlebenden Teil sozialer Bezugssysteme darstellt. Vergesellschaftet mit einer gediegenen Psychotherapieausbildung, die nicht nur monoman eine Schule vertritt, sondern auch andere Schulen in ihrer Bedeutung zulässt und sich aus mehreren Schulen Bewährtes auswählt und verwendet, schlug Barolin schon vor vielen Jahren den Namen „Integrierte Psychotherapie“ vor. Wir wollen damit auch das im „PSY III Diplom der Österreichischen Ärztekammer“ angebotene Ausbildungspaket „Psychotherapeutische Medizin“ verstanden wissen. Rund um die Schulmedizin, im paramedizinischen Umfeld, wurde eine offensichtliche Lücke gestopft, indem illusionäre narzisstische Erwartungen geweckt wurden. Als gefühlvolle Reisen durch die Welt der Vergangenheit verzehren sie Zeit und Geld, entsprechen aber nur einem Wunsch – der als Gesundheit deklarierten allumfassenden Ganzheit.
Wir stehen dieser Stimmung und Situation als Versorgungs- und Rentenanspruch in unseren Praxen als Ärzte gegenüber. Dabei haben wir einen
A. Einleitung
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schweren Stand. Der psychosomatisch Kranke, als fehlgeleiteter Patient, will aus dem modernen Gesundheitswesen das Bestmögliche für sich herausholen, geht aber oft gerade darum aufgrund dessen Mehrdimensionalität umso mehr in die Irre. Dazu tragen einerseits einäugige, ausschließlich somatisch orientierte, Ärzte bei, die den Menschen nur als stoffwechselgetriebene Reflexmaschine sehen und/oder einäugige Psychotherapeuten und Heiler, die ihn nur als emotionsgefüllten Verhaltensballon sehen. Wurde er früher, zumeist erfolglos, die Verantwortung verzettelnd, von einem Arzt zum anderen geschickt, irrt er heute oft ebenso erfolglos zwischen den verschiedenen psychotherapeutischen Schulen und Auffassungen umher.
Je mehr technische Instrumente oder Zettel (Überweisungen=Verzettelungen) als Alibihandlungen aus diagnostischen oder therapeutischen Gründen zwischen Arzt und Patient geschoben werden (müssen?), umso mehr verdünnt sich die Arzt-Patient-Beziehung, und das ist im Zeitalter zunehmender Vertechnisierung der Medizin in den letzten Jahrzehnten häufig und teuer geworden. Der Kranke vereinsamt zunehmend in seinem Leiden, hat nur mehr Kontakt mit „Apparaten“ auf der einen und ideologischen (bio-, esoterisch-, ekklesiogen-, satanisch-spirituellen) „Psychosprüchen“ auf der anderen Seite. Diese erschreckende Entwicklung unserer Medizin, die lediglich durch Skandale kurzfristig in die Öffentlichkeit gelangt und Gemüter wachrüttelt, muss primär einmal erkannt und dann auch entsprechend gesundheitspolitisch umgesetzt werden. Die vorliegenden Zeilen wollen zu einer solchen Neuorientierung beitragen.
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B.
III. Bartl: Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis
Der psychosomatische Zugang
Als Hausarzt ist der Allgemeinmediziner die erste Anlaufstelle für den Kranken. Zum „Türsteher in der Medizin“ entwertet, wird vergessen, daß er für den Patienten eine zentrale Weichenstellung im diagnostisch-therapeutischen Prozess innehat. In der akuten Not, eventuell durch räumliche Gegebenheiten, auf ihn angewiesen, dient er dem Patienten als Übersetzer der Klage (Bastiaans, S. 1670). Er ist angehalten, empathische Anteilnahme mit diagnostisch-therapeutischer Reflexion zu koppeln. Dies bedingt ein stetes Oszillieren zwischen dem Sich-Einstimmen auf die Wellenlänge des Patienten und einer dennoch klar beizubehaltenden fachkompetenten Diagnostik und Arbeitshypothesenbildung.
Die Diagnose, die als „Tiefendiagnose“ stets von Arzt und Patient erstellt wird, da beide das Benennen-Können der Beschwerden intendieren, bedingt ein Annäherung des ärztlichen „iatrogenen“ an das „autogene Krankheitsbild“ des Patienten (Balint). Die Zeitökonomie spielt in der Landpraxis eine Hauptrolle. Ohne hier eine Struktur einzuführen, wird man, wie auch Berichte anderer Kollegen zeigen, ein Opfer bürokratischer Arbeit (Überweisungen zu Fachkollegen oder Ambulanzen mittels Zettelschreibereien, Abrechnungsschreibereien, etc.). Mit unnützer Medikation als unzureichendem Ersatz für Zuwendung und Beziehung gelangt der Arzt in die Schere zwischen unstillbarer Begehrlichkeit, Verteuerung und begrenzter Zeit. Die Unzufriedenheit mit dem heutigen Gesundheitssystem und in erster Linie die Klagen über die Zeitknappheit in den Praxen und die damit verbundene inhumane Umgangsweise bilden den Hintergrund für die vorliegenden Zeilen. Die genannten Unzukömmlichkeiten können dadurch wohl keineswegs völlig beseitigt werden, aber die dargestellte Ökonomisierung der Zeit, zusammen mit rationell angewandter psychotherapeutischer Methodik, eröffnet Möglichkeiten zur verbesserten menschlichen Zuwendung und damit letztlich auch bessere Therapieresultate. Allerdings fehlen für derartige Strukturbedingungen weitgehend noch die adäquaten Honorierungen. Als psychosomatisch tätiger Landarzt habe ich nunmehr im Laufe von vier Jahrzehnten mannigfach Erfahrung in der Begegnung mit Patienten gesammelt und entsprechend der Zunahme meines theoretischen Wissens und meiner psychotherapeutischen Ausbildung im Besonderen
B. Der psychosomatische Zugang
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auf die praxisgerechte Anwendung geachtet. Meine Zielvorstellung war es, eine möglichst große Ökonomie in Zeitaufwand, Medikamentenverbrauch und Verdienst zu erreichen, wie auch die finanziellen Aufwendungen direkter und indirekter Natur (Kosten und Folgekosten). Das aus diesen Überlegungen entstandene und bis heute mit Erfolg praktizierte Beziehungs- und Therapieangebot (= Psychotherapeutische Medizin) möchte ich im Folgenden schildern.
Mein therapeutisches Beziehungsangebot in der Landpraxis umfasst sowohl organmedizinische wie auch soziale und psychotherapeutische Aufgaben, da ich körperlich wie seelisch den Menschen eingebettet in ein Ganzes verstehe. „Jede Erkrankung, jedes Symptom entsteht aus einem ganzen Geflecht von Wurzeln, und es ist meine Aufgabe, die verschiedenen in ihrer Bedeutung zu erfassen“ (Siebeck, S. 418). Balint (1965) hat für das therapeutische Potential der ärztlichen Begegnung den Begriff der „Arzt als Arznei“ geprägt. Als Sohn eines Landarztes war Balint von Frühauf vertraut mit den Problemen in der Praxis und war bestrebt, praktischen Ärzten ein Grundrüstzeug zum besseren Verständnis ihrer Patienten und zum Nutzbarmachen der „Droge Arzt“ zu vermitteln. Nicht ausschließlich die Arznei, die der Arzt verordnet, zeigt Wirkung, sondern ebenso die Art und Weise, wie der Arzt diese dem Patienten verordnete; kurzum das Klima dieser Beziehung: „Therapie ereignet sich weder im Arzt noch im Patienten, sondern zwischen beiden“ (Balint 1975).
Der innerste Kern der Seele rekrutiert sich aus der frühesten Erfahrung von Wärme-Rhythmus-Konstanz in der Primärbeziehung (Bartl), die gewissermaßen den „Backofen“ der ersten psychologischen Konfiguration des Menschen darstellt. Bekanntlich zeigen gerade psychosomatisch Kranke hier ein frühes Defizit (narzisstische Störung). Wesentlich ist es, dass der Arzt seine Rolle als jemand, der Hilfe geben kann, auch wirklich wahrzunehmen weiß. Nicht nur im Tun, also im aktiven Handeln, sondern auch im Sich-Anbieten als „Hilfs-Ich“ für den Patienten, das selbstverständlich, wie seinerzeit die Mutter, eigene Bedürfnisse zurückstellt, Ruhe, Vertrauen und Sicherheit bietet, sodass eine erste Bereitschaft zur Mitarbeit im Klima der Arzt-Patient Beziehung sensibilisiert wird. Paramedizinische Kreise nützen dieses Beziehungspotential in der Behandlung wesentlich mehr als die traditionelle Schulmedizin, die dem positivistischen Krankheitsbegriff folgend sich lediglich auf die Fakten und objektivierbare Effizienz verlässt. Dabei wird der Patient sich selbst überlassen, eigentlich im Stich gelassen.
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III. Bartl: Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis
C.
Angewandte Methodik
C1.
Gruppen als Auffangräume
Von Balint (1975) habe ich den strukturierten Umgang mit der Zeit in meiner Praxis gelernt. Um als Arzt der „selbstverständlichen Verkonsumierung“ zu entgehen, ist Zeitökonomie, trotz Bereitschaft rund um die Uhr, von entscheidender Bedeutung. Diesbezüglich können Gruppen als „Auffangräume“ geschaffen werden, in denen therapeutische Beziehungsangebote bereitgestellt werden. Sie sind zeitökonomisch, bieten daneben aber auch einige andere therapeutische Dimensionen, wie in Folge noch ausgeführt wird (vergl. auch Barolin I. D3).
C. Angewandte Methodik / C3. Autogenes Training (AT)
C2.
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Hypnose
In existenzieller Bedrohung (Blutungen, Unfälle), bei starken Ängsten verwende ich als psychotherapeutische Akutmaßnahme die „Ärztliche Hypnose“. Dabei muss der Not gehorchend ge- und behandelt werden. In diesen Konfliktsituationen ist die Motivation und die Bereitschaft des Patienten groß. Es genügt die selbstverständliche Präsenz des Arztes, der die Übertragung des Patienten auf primäre Bezugspersonen zur Heilung nützt. Das Bedürfnis nach dem Urmutterschoß, nach Wärme, Rhythmus und Konstanz (Bartl 1983, 1984, 1989) wird dann erfüllt. Gerade Patienten mit unerträglicher Finalangst, z.B. mit Blutungen, bei Unfällen, bei Geburten, nehmen das heterosuggestive Angebot von Rhythmus und Monotonie sofort an, um ihre eigene Stabilität wieder zu finden. Ich erwähne die ärztliche Hypnose deshalb, weil sie sowohl beim Erlernen als auch in der Anwendung sehr zeitökonomisch ist. Sie bewährt sich auch sehr zu Beginn der Therapie mit Suchtkranken. Orale Sucht ist therapeutisch durch „Sucht nach Gefühl“ (Psychosucht) im Angebot von Empathie und Rhythmus ersetzbar.
C3.
Autogenes Training (AT)
Zu den wesentlichen „Auffangräumen“, aber andererseits mehr als das, gehört eine AT-Gruppe, die das ganze Jahr über zur selben Zeit, auf den Tag genau, für Patienten offen steht. Sie ist für jeden zugänglich, der sich einmal in meiner Sprechstunde nach eingehender Beratung und Untersuchung entschlossen hat, daran teilzunehmen. „Herr Doktor, mir fehlt etwas“, heißt für mich, der Patient sucht in einer Konfliktsituation primär halt im Ganzen. Diese „Haltlosigkeit“ kann sich bei Patienten in körperlichen Beschwerden ausdrücken. Unbewusst können auch Infektionen als Weg zur Kommunikation mit dem Arzt gewählt werden. Ausrutscher und Unfälle als deutbare Zeichen dieser Art wurden schon von Freud (1901) beobachtet. Es wurden in letzter Zeit die Stimmen von Psychoonkologen immer lauter, die eine Tumorentstehung als Bedürfnis nach Halt interpretieren.
Die AT-Gruppe vermittelt dem Einzelnen durch Ritualisierung schrittweise Begrenzung, Stabilität und Struktur. Es sucht jeder im AT seine Wärme und seinen Rhythmus selbst. Die Monotonie und der eigene Rhythmus im Urschoß der „Mutter-Gruppe“ beruhigen und geben in der schweigenden mitleidenden Gesellschaft Sicherheit und Halt. Die Grundstufe des Autogenen Trainings wird häufig unter ihrem Stellenwert, lediglich als „Seelengymnastik“ (Roßmanith u. Bartl), schulmäßig in
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III. Bartl: Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis
Kursen vermittelt und kommt nur selten eigenständig als Psychotherapiemethode oder kombiniert mit anderen psychotherapeutischen Verfahren zur Anwendung. Als „Basispsychotherapeutikum“ (Iversen) und vor allem als übende Entspannungsmethode hat sie aber ihren Platz in der ärztliche Praxis und zählt gewissermaßen zum Grundrüstzeug des praktizierenden Arztes, unabhängig seiner jeweiligen fachlichen Spezifizierung. Denn sie ermöglicht dem Arzt einen unmittelbaren Zugang zu leib-seelischen Beschwerden und ein ganzheitliches Verstehen und Erfassen des Kranken. Darüber hinaus ergeben sich jedoch bei tiefenpsychologischer Konzeptualisierung des AT und der entsprechenden psychotherapeutischen Ausbildung des Arztes weitere differenzierte Behandlungsmöglichkeiten, die in der ärztlichen Praxis zeitökonomisch und effektiv Anwendung finden. Insgesamt bedingen folgende Faktoren die therapeutische Wirksamkeit der Grundstufe des Autogenen Trainings: 1. Die narzisstische Homöostase durch den „auftankenden Dialog“ (Sandler 1977) in der Regression 2. Die Rhythmisierung als Basisstrukturierung 3. Die „Beseelung“ der Körperhülle (Schultz 1932) und die Bildung des Körperschemas 4. Die Differenzierung der Gefühlswahrnehmungen (Verknüpfung von vorsprachlichen und sprachlichen Inhalten und Koppelung von sinnlicher Anschauung mit kognitiver Begrifflichkeit). Soll das therapeutische Potential des Autogenen Trainings sinnvoll genützt werden, ist ein von den herkömmlichen AT-Kursen unterschiedenes therapeutisches Setting vonnöten, in dem die strenge Wahrung des „autogenen Prinzips“ (Schultz) vorrangig ist. Der Leiter spricht dabei die einzelnen Übungen weder vor, noch hypnotisiert er die Gruppe, sondern der Einzelne lernt das Autogene Training selbständig übend, um seine autonomen Empfindungen nach seinem Eigenrhythmus entwickeln zu können. Praktisch bedeutet dies auch, daß das Autogene Training nicht lediglich in einem „Informationskurs“ von sechs- oder siebenmal in 1,5 Übungsstunden vermittelt wird. Den Teilnehmern einer Autogenen Trainingsgruppe wird sowohl die Möglichkeit zur kontinuierlichen Auffrischung von bereits gewonnener Übungserfahrung, wie auch Korrektur und Klärung von Fehlern geboten. Erst damit ist eine Kontinuität im sukzessiven Erarbeiten der generalisierten Entspannung und Differenzierung der Introspektion möglich.
Im Rahmen einer kontinuierlichen Gruppe wird mit AT bei den Patienten ein strukturbildender Prozess sensibilisiert, der in weiterer Folge vom einzelnen durch selbständiges Üben zu Hause stabilisiert wird. Es wird das Auffüllen von narzisstischen Defiziten (inadäquates Klima, Dysrhythmie, Inkonstanz) sowie
C. Angewandte Methodik / C3. Autogenes Training (AT)
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die Differenzierung der sinnlichen Wahrnehmung intendiert. Die AT-Gruppentherapie ermöglicht es, dass im „Urmutterschoß“ (die Gruppe fungiert als tragendes mütterliches Element) die Erfahrung von Wärme, Rhythmus und konstant wachsender Verlässlichkeit als Grundpfeiler narzißtischen Erlebens (Bartl 1983, 1984, 1989) reaktiviert bzw. im gegebenen Fall korrigiert werden kann („correctiv emotional experience“; Alexander u. French). Der Arzt als ATGruppenleiter fungiert dabei – wie in jeder Psychotherapie – als Projektionsfigur für Übertragungsphänomene und auch als „steuerndes Objekt“ (König) bei unsicheren und ich-strukturell gestörten Patienten. Die konflikthafte körperliche Auseinandersetzung beim Erlernen der einzelnen Übungen, die sich bespielsweise in Nicht-Spüren, Schmerzhaftigkeit oder Missempfindungen darstellt, ermöglicht im Laufe der Gruppentherapie durch dialogische Auseinandersetzung mit dem ärztlichen Gruppenleiter eine Konfliktlösung und kathartische Entlastung. Dabei werden die klassischen psychoanalytischen Arbeitsschritte „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (Freud) realisiert. Einfälle, leib-seelische Erlebnisse, bildhafte Assoziation und Imaginationen, die während der Übungen im AT auftreten, werden eingehend besprochen, mit Deutungen angereichert sowie differenziert bearbeitet und in den lebensgeschichtlichen Kontext eingebettet. Zudem werden die Teilnehmer angeregt, sich zu Hause neuerlich an ihre Erfahrungen und Empfindungen im AT zu erinnern und diese gestaltend (Malen, Zeichnen, Modellieren, etc...) zum Ausdruck zu bringen oder zumindest schriftlich festzuhalten. Damit ist eine Intensivierung der therapeutischen Bearbeitung möglich (Wallnöfer). Die AT-Gruppe wird als offene Gruppe geführt und ist zeitlich nicht begrenzt. Der einzelne Patient wird jedoch nach sieben (acht) Übungsabenden (zu 1,5 Std.) zum selbständigen Üben und zur Vertiefung seiner in der Gruppe gewonnenen Übungserfahrungen motiviert. Die kontinuierlich weiterlaufende AT-Gruppe in der Praxis bleibt ihm jedoch als Zuflucht stets weiter offen (auch kostenlos zur Verfügung), sodass Fragen, allfällige Störungen und Missempfindungen jederzeit bearbeitet werden können. Vom Arzt werden darüber hinaus solche „Fortgeschrittene“ zur Erfahrungsvermittlung und Stützung für neue Patienten angeregt. Mit diesem Setting ist es den Patienten weitgehend möglich, sich selbständig zu stabilisieren bzw. sich im Bedarfsfall im vertrauten Gruppenmilieu wieder „aufzutanken“ und/oder allfällige Störungen zu bearbeiten. Alle Patienten sind dem Arzt, der die AT-Gruppe leitet, in ihrer leibseelischen Befindlichkeit bekannt. Aufgrund allgemeiner und spezifischer Indikationen (siehe unten) wird ihnen zur AT-Gruppentherapie geraten.
Diese AT-Gruppentherapie erfüllt somit alle Kriterien eines psychotherapeutischen Verfahrens und muss streng von den zahlreich angebotenen AT-Informationskursen zum Zwecke der Wissensvermittlung und der Psychohygiene unterschieden werden. Außerdem sehen wir darin – wie gesagt – für den praktizierenden Arzt eine nicht zu unterschätzende Zeitersparnis, vor allem auch
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III. Bartl: Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis
für sogenannte schwierige und hypochondrisch klagende Patienten. Sie ist zum basalen Bestandteil der von mir praktizierten „Psychotherapeutischen Medizin“ geworden. Redaktionelle Zwischen-Bemerkung Der aufmerksame Leser wird finden, dass im Barolin-Artikel (I. C4) Manches zum Autogenen Training anders zum Ausdruck kommt: • Es wird dort das Autogene Training mit erstmaligem Vorsprechen vermittelt. • Einzelne auftretende Körpersensationen werden nur ausnahmsweise als Zeichen für innere Konflikte gedeutet und als solche in die Besprechung einbezogen, sondern eher als häufig auftretende „Anfangsschwierigkeiten“. • Die Erklärung der Wirkfaktoren des Autogenen Trainings lauten anders. Es sind dies aber kleinere Details, die zeigen, dass in der Integrierten Psychotherapie durchaus Meinungspluralität Platz hat und es letztlich darauf ankommt, dass die Inhalte so vermittelt werden, dass der Patient sie akzeptieren kann und dass sie ihm helfen. Absoluter Gleichklang ist in der Bedeutungsgebung des Autogenen Trainings, das mehr kann und mehr zu sein hat, als eine Psychovegetativ-Gymnastik, und das zu dem Grundinstrumentar jedes Arztes gehören sollte; aber nicht um es mechanistisch zu verschleudern, sondern in seine verschiedenen psychotherapeutischen Möglichkeiten wirklich auszunützen. Diesbezüglich (und auch sonst vielfach) stimmen die beiden (befreundeten) Autoren Bartl und Barolin überein.
C4.
Kombinierte, sich ergänzende und potenzierende Psychotherapiemethoden
Dies soll exemplarisch anhand einer Kasuistik mit dazwischengeschalteten Erklärungen dargestellt werden. Ich möchte an diesem Beispiel mehrerlei zeigen: 1. Wie sich in der allgemeinmedizinischen (allerdings stark psychotherapeutisch ausgerichteten) Praxis aus der Einzeltherapie sehr bald eine Familientherapie entwickeln kann, die gerade durch den engen Raum mit naher Familienkenntnis gefördert wird. Der „Symptomwandel“ (Verschwinden des einen psychosomatischen Symptoms mit Auftauchen anderer) kann dann sehr wohl auch in der ganzen Familie zum Tragen kommen. 2. Dass es sinnvoll und nützlich ist, in einer solchen Therapie mehrere psychotherapeutische Methoden zur Verfügung zu haben und sinnvoll zu kombinieren. Bei der bewussten und gezielten Kombination kann deutlich eine Methode die andere unterstützen. 3. In einer solchen Kombination hat auch medikamentöse Therapie – hier bewusst Infusionstherapie ihren Platz.
C. Angewandte Methodik / C4. Kombinierte Psychotherapiemethoden
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Eine 38-jährige Hausfrau suchte mich nach längerer Odyssee bei verschiedenen medizinischen Instanzen in offensichtlicher Verzweiflung auf. Sie litt seit ca. fünf Jahren an unerträglichem Hautjucken auf der Basis eines generalisierten Ekzems. Ihre Familie war vor kurzer Zeit in den Ort, in dem ich praktiziere übersiedelt. Der Mann, ein begeisterter Jäger, fand hier Möglichkeiten, seinem Hobby nachzugehen. Die Frau war schon bei mehreren Ärzten in Behandlung und einmal sechs Wochen stationär auf einer internen Station aufgenommen. In der Ordination begegnete sie mir von oben bis unten mit Schüttelmixtur bedeckt, übernervös und erregt. Ich hatte eher den Eindruck einer „Alles- oder Nichts-Begegnung“ (im narzisstischen Sinne) mit dem Hintergedanken, sie könnte Hand an sich legen, wenn sie weiterhin von den Medizinern so enttäuscht werden würde. Tröstungen, wie „Es wird schon werden!“ oder „Ich schicke Sie noch ins Labor“ oder „Das soll der Spezialist begutachten“ konnte sie schon nicht mehr hören. Sie hatte immer den Eindruck, weitergeschickt zu werden und nirgends angenommen zu sein. Das Gespräch auf diesen „wunden Punkt“ gebracht, erzählte sie mir von einer Uterusexstirpation vor fünf Jahren, bei der es zu einer lebensgefährlichen Nachblutung gekommen war. Sie hatte bereits mit ihrem Leben abgeschlossen, wurde aber chirurgisch geheilt und mit diesem lästigen Jucken aus dem Krankenhaus entlassen. Auf die Frage nach ihrer ehelichen Beziehung erzählte sie mir von den Leistungen ihres „tüchtigen“ Mannes, der beruflich Karriere gemacht hatte und als Jäger, von früh bis spät neben seinem Beruf, Ansehen erlangt hatte. Er hätte für sie wegen der vielfältigen Beschäftigungen keine Zeit mehr, wäre in letzter Zeit hart und kalt sowie ungerecht geworden. Lästig wäre es ihm auch, sie überall hinführen zu müssen, weil sie selbst „zum Autofahren zu dumm“ sei. An dieser Stelle begann die Patientin zu weinen, und es verging eine geraume Zeit, bis sie hart und selbststrafend sich dafür entschuldigte, dass ihr das Wasser übergelaufen sei. Schon ihr Vater hätte das Weinen der „weichen Weiber“ nie geduldet. Ich gab ihr zu verstehen, daß sie bei mir alles ausdrücken könnte und dürfte. Sofort sah sie zur Türe und fragte, ob sie mir nicht die Zeit stehle. Es würden viele Leute im Wartezimmer warten. Eine große Verwunderung, hier angehört zu werden, stand im Vordergrund. Das ruhige, nicht gehetzte Gesprächsklima tat augenscheinlich seine Wirkung. Emphatisches Verhalten floss beruhigend, wärmend, in die primär psychologische Instanz der Patientin ein (warmes Klima). Das Angebot meinerseits, für längere Zeit wöchentlich einmal in die therapeutische AT-Gruppe zu kommen, gab ihr Hoffnung und Aussicht auf verlässliche und dadurch stabilisierende Begegnungen mit mir. Begünstigend kam noch das Üben dazu, das die Patientin zu Hause weiter fortsetzte. Nach einer halbjährigen Teilnahme fand sie Selbstsicherheit und Konstanz. Sie verlor das Jucken und setzte immer besser ihre eigenen Bedürfnisse durch. So entschloss sie sich z.B. den Führerschein zu machen und wurde deshalb von ihrem Mann bedroht. „Wenn du durchfällst und das Geld ist umsonst ausgegeben, dann wird das Folgen haben“. Die Konflikte nahmen für die Patienten unerträgliche Formen an. Der Juckreiz war zwar verschwunden, jedoch hatten sich die funktionellen Beschwerden auf eine andere Konfliktebene im System verlagert. (Mann und zwei Töchter). Der Ehemann begann mit präcardialen Schmerzen; die ältere Tochter hatte phobische Attacken und ein Würgegefühl im Hals; die jüngere Tochter reagierte mit Krämpfen im Unterleib und verstärkten Blutungen, wobei sie auch zunehmend Alkohol zu trinken begann. Im Sinne einer Familientherapie machte ich der Patientin ein Angebot für eine gemeinsame Aussprache mit Ihrem Mann und den zwei Töchtern. Es fanden drei Gespräche statt, bei denen Wert darauf gelegt wurde, den Freiraum jedes einzelnen zu entwickeln und die persönlichen Bedürfnisse artikulieren zu lassen. In weiterer Folge stimmte der Ehemann einer Fortsetzung der Therapie zu, mit seiner Frau zusammen an einer Paargruppe teilzunehmen.
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III. Bartl: Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis
Konflikte zwischen Ehepaaren, besonders in der Folge von Therapien eines Partners, bedürfen meiner Erfahrung nach eines „Auffangraumes“, den ich als Paargruppe installiert habe. In 14-tägigem Abstand treffen sich 5–6 Paare in dieser Gruppe. Hier kommen die partnerschaftlichen Konflikte zur Sprache, derart, dass vom Gruppenleiter aktuelle Themen zunächst mit Teilnehmern, die diese Schwierigkeit nicht haben, besprochen werden. Diejenigen, die Schwierigkeiten haben, werden erst allmählich zur Stellungnahme aufgefordert oder bringen sich ob der Dringlichkeit ihres Leidensdruckes ganz von selbst ein. In dieser Gruppe ist es möglich, „gesunden“ Partnern Einsehen und Verständnis für „Kranke“ zu vermitteln und sie von der Notwendigkeit einer Eigentherapie zu überzeugen. Dies geschah auch im Falle dieser Familie. Der Mann kam konsequent mit in die Therapie, weil er den Vorwurf der Gruppe, er könnte eventuell schuldig werden, wenn seine Frau wieder Hautprobleme bekäme, nicht ertragen konnte. Anfangs unzugänglich, wurde er später in seiner wichtigtuerischen Art ein wichtiger „Reibebaum“ für viele andere Gruppenmitglieder. Hinter diesem „Konfliktschirm“ entwickelte sich seine Frau weiter, weil sie sich durch die Konflikte, die ihr Mann mit anderen Gruppenmitgliedern austrug, geschützt, geschont und verstanden erlebte. Sie erwarb im Schutze der Gruppe den Führerschein und erweiterte dadurch ihre Bewegungsfreiheit. Die ältere Tochter konnte jetzt, im Einverständnis mit dem Vater, ebenfalls mit einer Therapie beginnen. Auch sie kam zuerst, nach einem ausführlichen Gespräch, in die AT-Gruppe und von dort, als ein Platz frei wurde, in eine analytische Selbsterfahrungsgruppe (2 Stunden, 14-tägig). Bei ihr handelte es sich um eine relativ späte Störung, sodass wieder aus ökonomischen Gründen mit der analytischen Gruppentherapie, ohne vorherige Einzeltherapie, das Auslangen gefunden werden konnte. In der Beziehung zu ihrem Vater war für die ältere Tochter die Mutter „störende Dritte“, die sie als Rivalin zur Auseinandersetzung um den phallischen Vater animierte. Die Angst der Patientin vor Bedrohung durch den Gatten als „allmächtigem Objekt“ wurde durch Differenzierung ihrer Wahrnehmungen in der Gruppe mehr und mehr konkretisiert und damit auch entschärft. Das größte Problem, das durch den therapeutischen Eingriff in des Familiensystem entstanden war, waren die Beschwerden der jüngeren Tochter. Sie zog sich mit Krämpfen im Unterbauch immer mehr zurück, wandte sich dem Alkoholkonsum zu, was die Familie sehr schlecht bzw. überhaupt nicht verkraften konnte. Sie musste zu allem gezwungen werden und vernachlässigte ihre Arbeit. Nach mehrmaligem Erscheinen im alkoholisierten Zustand am Arbeitsplatz wurde sie entlassen. Sie wurde dadurch zum „Schandfleck der Familie“. Es kam zum Streit zwischen den Eltern, weil der Vater nur mehr mit Härte durchgreifen wollte, aber auch damit (wenn ihm die Nerven durchgegangen waren) nichts erreichte. Nach einem vom Vater erzwungenen Gespräch der Tochter mit mir entschloss ich mich, in Anbetracht der Suizidgefahr bei der Patientin, nach diesem Gespräch eine medikamentöse Therapie zu beginnen. Während der ersten Tage gab es zwei Kontakte täglich, wobei der Patientin einmal pro Tag eine antidepressive Infusion (Maprotilin) verabreicht wurde.
Meiner Erfahrung nach muss in präsuizidalen Situationen eine sehr enge therapeutische Beziehung hergestellt werden, und dies gelingt hier nicht nur durch das Medikament, sondern auch über die Art der Zufuhr des Medikamentes, in diesem Falle als Infusion.
C. Angewandte Methodik / C4. Kombinierte Psychotherapiemethoden
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Das persönlich vom (Mutter-)Therapeuten eingetropfte Medikament wurde von der oral fixierten Patientin als symbiotische Beziehung erlebt (Herstellung der phallischen Ganzheit, nach Grunberger). Das Bedürfnis nach „rhythmischem Füttern“ in Konstanz und bedingungsloser Zuwendung (Wärme) wurde von der Patientin intendiert und auch über einige Tage zum Zwecke der Auffüllung des primären Defizits erfüllt. Sie fühlte sich dadurch aufgewertet. Da zu diesem Zeitpunkt keine passende Gruppe vorhanden war, entschloss ich mich zu einer supportiven Einzeltherapie. Ich bevorzuge als therapeutische Methode in solchen Fällen die Katathymimaginative Psychotherapie (KIP), da die Regressionstiefe von den Patienten selbst gewählt wird und die Bedürfnisse unbewusst in der Symbolik als projektiver Test während des ganzen therapeutischen Verlaufes kontrollierbar sind. Dadurch kann effektiver und ökonomischer als mit anderen Methoden gearbeitet werden. Zumal die Gegenübertragung als strukturierendes Element aktiv eingesetzt werden kann. Nach 25 Einzelsitzungen wählte die Patientin immer häufiger ödipale Themen, die ich nach Konsolidierung und Selbstfindung in der AT-Oberstufengruppe weiterbearbeiten konnte.
Der ökonomische Charakter der AT-Oberstufengruppe ist durch die Möglichkeit von Einzeltherapie in der Gruppe gegeben. Die Patientin genießt zwar den Schutz der Gruppe während der Meditation, übt aber einzeln für sich und kann auch einzeln über ihre Erlebnisse nach der Meditation mit dem Therapeuten sprechen. In der Erzählung erinnert sie sich an das Ganze noch einmal, wiederholt es und kann es neuerlich bearbeiten. Durch die Aufforderung, zu Hause zu malen, zu zeichnen, zu modellieren oder zu schreiben, wird es ein weiteres Mal wiederholt. Die angefertigten Darstellungen werden in die Gruppe mitgebracht und dem Gruppenleiter übergeben (Arbeitsübereinkunft). Dabei können wesentliche Dinge noch einmal besprochen werden. So wird ein „Nehmen“ und ein „Geben“ in einer reifen Form induziert bzw. entwickelt. In meiner Eigenschaft als Arzt für Allgemeinmedizin und Hausarzt kenne ich diese Familie nun seit vielen Jahren, denn sie kommen auch mit ihren somatischen Problemen immer zu mir. Die gezielte Psychotherapie dauerte etwa fünf Jahre mit folgenden Ergebnissen: • Die Mutter ist völlig stabilisiert und hat keine Ekzeme mehr. • Der Gatte ist weiterhin stabil und frönt seinen Hobbies. • Die ältere Tochter ist beruflich und persönlich voll konsolidiert, ist verheiratet und hat zwei Kinder. • Die jüngere Tochter ist jahrelang frei von Alkoholsucht, verheiratet und hat eine Tochter. Auch bei den Enkelkindern zeigen sich keine größeren Schwierigkeiten.
424
D.
III. Bartl: Psychotherapeutische Medizin in der ärztlichen (Land-)Praxis
Zusammenfassung zur psychotherapeutischen Medizin in der ärztlichen Praxis
Es wurden von mir psychotherapeutische Elemente aus verschiedenen Schulen als „Psychotherapeutische Medizin“ in der Praxis für Allgemeinmedizin integriert und dadurch eine größere Effizienz erzielt und zwar in den Dimensionen von • Aufgewandte Zeit im Verhältnis zur psychotherapeutischen Wirkung. • Günstiger Einsatz der Arztzeit und der ärztlichen Kenntnis. • Psychohygiene für die Therapeutenpersönlichkeit. Es handelt sich dabei um Folgendes:*) • Therapeutische Gespräche (Balint, Rogers, etc.), • Maßnahmen unter Einbeziehung des Hypnoids: medizinische Hypnose, AT (J. H. Schultz), Kathatyme Imaginative Psychotherapie (Leuner), Gruppentherapie als AT-Gruppe, Oberstufengruppe des AT, KIPGruppe, analytische Selbsterfahrungsgruppe, Paargruppe (für Paare, wo einer als Patient, der andere als sog. Gesunder in der Partnerschaft in Schwierigkeiten geriet.) • Daneben wurde im Einzelnen indizierten Fall medikamentös per Infusionem behandelt. An einer über Jahre verfolgbaren Kasuistik, die von der Störung einer einzelnen Patientin zur Therapie der einzelnen Familienmitglieder leitete, konnte die wechselseitige Symptomverschiebung innerhalb der Familie gezeigt werden. Es ist das Privileg das Hausarztes (speziell in einem kleineren Ort), so tatsächlich über Jahre hinweg eine Familie in ihrer Gesamtheit beobachten und behandeln zu können. Im vorliegenden Fall kam es dadurch letztlich zu einer befriedigenden Lösung für alle Betroffenen. *) Über die Mehrzahl der genannten Methoden kann im Barolin-Artikel (I.) Zusätzliches gefunden werden.
Quellenverzeichnis Alexander F, French Th M (1946) Psychoanalytic Therapy, Principles and Application Ronald Press, New York Balint M (1965) Der Arzt, sein Patient und die Krankheit, Klett, Stuttgart
D. Zusammenfassung zur psychotherapeutischen Medizin in der ärztlichen Praxis
425
Balint E, Norell S (Hrsg) (1975) Fünf Minuten pro Patient, Suhrkamp, Frankfurt am Main Bartl G (1983) Der Umgang mit der Grundstörung in der Allgemeinpraxis. Ärztliche Praxis und Psychotherapie 3 (3): 3-18 Bartl G (1984) Der Umgang mit der Grundstörung im Kathatymen, Bilderleben. In: Roth JW (Hrsg) Konkrete Phantasie. Neue Erfahrungen mit dem Katathymen Bilderleben, Huber, Bem Stuttgart Wien 5: 117-119 Bartl G (1989) Das therapeutische Beziehungsangebot in der Landpraxis. In: Ringel E, Roßmanith S (Hrsg) Die Arzt-Patient-Beziehung, Mandrich, Wien München Bem, S. 75-94 Bastiaans J (1971) Die Übersetzung der Klage, Zeitschr Psychother Med Psychol. 21 (5): 167-181 Freud S (1901) Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW Bd. IV Freud S (1914) Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, GW Bd. X, Fischer, Frankfurt am Main, S. 126-136 Grunberger B (1976) Von Narzißmus zum Objekt, Suhrkamp, Frankfurt am Main Iversen G (1973) Bedeutung des Autogenen Trainings zur Selbstfindung. Z Psychoth Med Psych 23: 206-209 König K (1981) Angst und Persönlichkeit: das Konzept vom steuernden Objekt und seine Anwendungen. Göttingen, Verlag für med. Psychologie im Verl. Vandenhocck u. Ruprecht Roßmanith S, Bartl G (1991) Autogenes Training (AT);: Eine tiefenpsychologisch fundierte Methode. Ärztliche Praxis und Psychotherapie 13, 1: 3-18 Schultz JH (1932) Das autogene Training. Thieme, Stuttgart, 1973, 14. unv. Aufl. Siebeck R (1949) Medizin in Bewegung, Klinische Erkenntnisse und „ärztliche Aufgabe“. Thieme, Stuttgart Wallnöfer H (1972) Aufdecken durch Gestalten vor und nach dem autogenen Training. In: Langen D (Hrsg) Hypnose und psychosomatische Medizin, Hippokrates, Stuttgart
IV.
Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
WILFRIED BIEBL Univ.-Prof. Dr. Wilfried Biebl Anichstraße 35, A-6020 Innsbruck Telefon: +43/0/512- 5 04 – 2 37 00 Fax: +43/0/512- 5 04 – 2 36 87 E-Mail: [email protected] Leiter des Departments für Psychosomatische Medizin und Psychosozialer Psychiatrie an der Universitäts-Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Innsbruck. Autor von Anorexia nervosa. Beiträge zur Pathogenese. Konsequenzen für die Therapie, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1986.
Schlagwort-Information Seit etwa 110 Jahren gibt es eine wissenschaftliche Psychotherapie von der Psychoanalyse Sigmund Freuds ausgehend. Das Unbewusste, die Abwehrmechanismen, das Über-Ich, das Ich und das Es, der Widerstand, die Regression, Die Deutung, die Übertragung und Gegenübertragung umreißen den Gegenstand der Psychoanalyse. Nicht nur die Triebtheorie, auch die Objektbeziehungstheorien und die Theorie des Selbst zeigen die lebendige Weiterentwicklung der Tiefenpsychologie. Diese Arbeit beschäftigt sich mit einem Überblick der Theorie und geht auf die „therapeutischen Grundsäulen“ ein.
428
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
SYENP IE TIEF OLOG CH
A.
Entwicklung
Ende des 19. Jh. besuchte Sigmund Freud, Charcot und Janet in Frankreich. Dort bestand eine Schule, die Untersuchungen und Therapieversuche an Patienten mit psychogen bedingten somatischen Störungen wie Lähmungen, Anfallsleiden, Ausfall von Sinnesfunktionen machte. Die Erkenntnisse dieser Forschergruppe leisten bis heute wesentliche Beiträge zum Verstehen unbewusst gewordener konflikthafter Prozesse aus erlebten Beziehungserfahrungen. – Die Arbeiten von Janet erlebten sogar in den letzten 20 Jahren eine Renaissance durch seine klare, differenzierte Beschreibung von Menschen mit posttraumatischen Stressstörungen. Zurückgekehrt nach Wien begann Freud gemeinsam mit Breuer unmittelbar aus seiner klinischen Erfahrung heraus sowohl theoretische Überlegungen anzustellen als auch mit therapeutischen Techniken zu experimentieren und die psychoanalytische Theorie zu entwickeln. Anfänglich war er der sexuellen Verführungstheorie verpflichtet, erlebte er doch bei vielen seiner Patientinnen Berichte über kindliche und pubertäre sexuelle Verführung durch Erwachsene. Sein erster Vortrag vor der Medizinischen Gesellschaft in Wien hatte den häufigen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zum Thema.
Anfänglich war die Triebtheorie im Mittelpunkt des theoretischen Interesses von Freud, welche zum Strukturmodell führte, das sich (nach der aufs Wesentlichste reduzierten Definition von Ehrmann und Waldvogel) folgendermaßen darstellt:
A. Entwicklung
429
• das Es als Triebreservoir, • das Ich als Steuerungsinstanz, • das Über-Ich/Ich-Ideal als normative Größe.
Dabei wurde der unbewusst gewordene Konflikt als Ursache späterer Symptombildung beschrieben. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstand ein intensiver, sowohl an der Theorie wie auch an der Klinik interessierter Kreis von Ärzten, aber auch Nicht-Ärzten. Von Anfang an öffnete sich die psychoanalytische Bewegung auch für andere Berufsgruppen. Es wurde die Mittwochgesellschaft etabliert, d.h. regelmäßige Treffpunkte mit Vorträgen und angeregter Diskussion. In den ersten 20 Jahren kam es zu mehreren Abspaltungen der psychoanalytischen Vereinigung wie z.B. der Schöpfung der Individualpsychologie durch Adler oder der analytischen Therapie von C. G. Jung.
Adler unterschied sich von Freud besonders durch die Betonung einer Ich-Psychologie. Er formulierte die These, dass die Sicherung bis hin zur neurotischen
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IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
Sicherung des stabilen Ichs und seiner Funktion das oberste Ziel in jedem heranwachsenden Leben sei. Nur dadurch könne die Ich-Entwicklung für die nötigen Reifungsschritte gewährleistet sein. C. G. Jung legte sein Hauptaugenmerk auf kollektiv angelegte überindividuelle unbewusste Archetypen. Es ist gut verständlich, dass gerade am Anfang einer so bahnbrechenden Entdeckung – wie der Wirksamkeit unbewusster Erlebnisinhalte – oft sehr unterschiedliche Positionen von den Begründern der verschiedenen Schulen eingenommen wurden.
Heute am Beginn des 21. Jh. zeigt sich eine forschungsintensive Aufbruchstimmung, die in den letzten 40 Jahren durch zunehmend wesentliche neue Theoreme und therapeutische Techniken auf sich aufmerksam macht. So sind die Lerntheorie, die Systemtheorie, unterschiedliche körperorientierte Therapieformen neben den suggestiven Methoden wesentliche Bereicherungen für die Erforschung auch der tiefenpsychologischen Theoreme geworden.
B.
Grundlagen für allgemeines psychotherapeutisches Verstehen
Die psychoanalytische Theorie und die anderen tiefenpsychologischen Theoreme trugen wesentlich dazu bei, dass sich eine Entwicklungspsychologie etablieren konnte, wobei bis heute angeregt Forschung betrieben wird. Sehr bald wurde deutlich, dass hinter dem Begriff der Libido nicht nur eine sexuelle, beziehungsgerichtete Kraft im engeren Sinne zu verstehen sei, sondern viel mehr eine objektgerichtete Kraft, die es ermöglicht, dass sich bereits im kleinen Kind lustvolle Zuwendung zu den primären Bezugspersonen etablieren kann. Durch die Entwicklung der Neuropsychologie mit der Möglichkeit der differenzierten Überprüfung kognitiver Funktionen wurde dem großen Feld der Teilleistungsstörungen das nötige Gewicht zuerkannt. Dabei hat auch die Lerntheorie einen wesentlichen Beitrag leisten können. Wurde doch dadurch deutlich, dass die Funktionsfähigkeit des hirnorganischen Substrats und die entstehenden Vernetzungen größte Bedeutung für ein ungestörtes Wahrnehmen, Bewerten, Durchdenken von alternativen Möglichkeiten und letztlich Handeln haben.
B. Grundlagen / C. Methodik / C1. Indikationsgebiete
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Der funktionellen Neurobilologie wurde durch die bildgebenden Verfahren wie SPECT, PET, funktionelles MRI ein völlig neuer Zugang eröffnet. Neue Untersuchungsergebnisse zeigen, dass eine enge Verbindung zwischen Funktion und enstehender und aufrecht erhaltener Struktur auf neuronaler Ebene besteht. – Vergl. I. A3. Der Stellenwert von Beziehungsangeboten und erfahrenen Beziehungen für die Ich-Entwicklung, für das Entstehen von Ich-Funktionen wie z.B. Differenzierung von Affekten, Umgang mit Affekten, Aufbau von reifen Abwehrmechanismen bekommt zunehmend objektiven Nachweis durch diese funktionellen neurobiologischen Ergebnisse.
C.
Methodik
C1.
Indikationsgebiete für die tiefenpsychologische Psychotherapie
Bis in die 50er Jahre des 20. Jh. war die psychoanalytische Theorie der Neurosen, der Persönlichkeitsstörungen und der neurotischen Belastungsreaktionen klar formuliert. Späterhin zeigte sich jedoch, dass für die Forschung (vor allem durch das Auftreten neuer Denkansätze und neuer lerntheoretischer Theoreme) die Charakterisierung ausschließlich nach dem psychoanalytischen Theorem zu einengend war. So wurden international in den letzten 40 Jahren Anstrengungen unternommen, die Krankheiten nach in erster Linie syndromatischen Gegebenheiten neu zu ordnen. Krankheitsbilder nach dem DSM-IV und dem ICD-10 fassen die ehemaligen Neurosen wie folgt zusammen: • Angststörungen, dabei sind die Zwangsstörungen inkludiert. • Somatoforme Störungen, wobei sowohl die funktionellen Störungen als auch konversionsneurotische Störungen und die Hypochondrie zusammengefasst sind. • Dissoziative Störungen: Die Dissozation spielt auch bei akuten und posttraumatischen Belastungsstörungen eine Rolle (vergl. I. A3). Sie dient – wie jeder andere Abwehrmechanismus auch – der Ich-Entlastung. Ihre Spezifität liegt im Erleben des „was mir geschieht, betrifft mich nicht“, das kann bis zum Erleben von multiplen Persönlichkeiten gehen. Angst, Schmerz, Schuld, Aggression, Ohnmacht und Hilflosigkeit können so externalisiert werden.
432
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
• Dysthymie in der Gruppe der affektiven Störungen ersetzt die ehemalige „neurotische Depression“. • Der wichtige Bereich der Persönlichkeitsstörungen, unterteilt in Cluster A. „schizophren“, Cluster B: „histrionisch-narzisstisch“ und Cluster C: „neurotisch, abhängig vermeidend“, bildet eine eigene Entität. • Die große Gruppe seelischer Belastungsreaktionen: Die Anpassungsstörungen wurden in kurzdauernde und längerdauernde unterschieden. Sie haben durch ihre eigenen gesetzmäßigen Reaktionsweisen des Auftretens aber auch der Therapie Eigenständigkeit gegenüber den vorbeschriebenen Krankheitsgruppen erlangt. • In den letzten 20 Jahren wurde neben der akuten Belastungsreaktion, die als Anpassungsstörung gewertet wird, die posttraumatische Stressstörung als eigenständige psychogen bedingte Verlaufsform seelischer und körperlicher Symptomgestaltung definiert. Damit wurden die Entdeckungen von Charcot, Janet und Freud in neuer Weise gewürdigt und als eigenständige Form der Krankheitsentwicklung definiert. Vergl. auch das in I. A3 über „Psychotrauma“ Gesagte.
C2.
Das tiefenpsychologische Theorem
Bereits bei vielen höheren Tieren, vor allem aber in der menschlichen Entwicklung, spielt die Aufnahme von Beziehungen, anfänglich erlebt als „Bindung“, für den Aufbau von Ich-Funktionen die wesentlichste Rolle für die Entwicklung des Ichs. Dabei ist entscheidend, dass von Anfang an der Interaktion, d. h. dem Wechselspiel zwischen zwei Personen, die entscheidende Bedeutung zukommt. Sowohl die primäre Bezugsperson als auch das Kind bewertet das Erlebte, ordnet es bisherigen Erfahrungen zu, sodass im Kind eine „individuelle Wirklichkeit“ der Welt gegenüber entsteht. Neben diesen wesentlichen äußeren haltgebenden Erfahrungen durch die primäre Bezugsperson gibt es einen angeborenen Schutz, der das kindliche Ich vor Überlastung bewahrt. Dies sind die Abwehrmechanismen. Es sind von selbst auftretende Entlastungsmöglichkeiten des Ichs. Sie sind nicht pathologisch, ihre Funktion ist vorübergehend. Erst durch häufige Wiederholung überfordender Einflüsse in Beziehungserfahrungen entstehen starre Abwehrformationen. Nur diese können einengende pathogene Wirkung für die weitere Entfaltung und die Flexibilität von Bewältigungsmechanismen bei den unterschiedlichen Anforderungen bewirken. Es gibt Hinweise, dass die Auswahl der Abwehrmechanismen genetisch mitbedingt sein kann. Dies ist etwa für den Abwehrmechanismus der Introversion gezeigt worden. Das flexible Auf-
C. Tiefenpsychologische Psychotherapie / C2. Das tiefenpsychologische Theorem
433
treten von Abwehrmechanismen (etwa die Identifikation, die Projektion, die Verschiebung, die Reaktionsbildung, die projektive Identifikation, die Dissoziation) dient dem Schutz vor Überforderung. Diese Überforderung besteht in zwei Richtungen: einerseits bei der kindlichen Verarbeitungskapazität im Ich, andererseits bei der Aufrechterhaltung und Entdramatisierung der Beziehung zu den wesentlichen Bezugspersonen. Diese interaktionelle Bedeutung der Abwehrmechanismen, die dem Schutz vor Störungen der wesentlichen Beziehungen dient, führt wesentlich zur Internalisierung von Beziehungserfahrungen. Das Abgewehrte sind Sichtweisen, Erlebnisse, Triebtendenzen, die inkompatibel mit dem Gewissen, dem Über-Ich, dem Ich-Ideal, dem Selbstwertgefühl sind. Im Menschen wird also nicht nur das Strukturmodell Über-Ich, Ich und Es geformt, es entsteht auch das Ich-Ideal, welches als Vektor für Aufrechterhaltung und Vermehrung der Selbstachtung dient. Genau so wesentlich ist die Entlastung der Beziehung zu den relevanten Bezugspersonen. Es wird postuliert, dass das, was abgewehrt wurde, unabhängig von der jeweiligen kausalen Ursache, zum Schutz vor Reizüberflutung des Ichs erfolgt ist. Das Abgewehrte wird nicht gelöscht, erledigt sich nicht von selbst, sondern bleibt in der dynamischen Kraft der Angst, der Schuld, der Scham, der Trauer oder anderer Affekte bestehen. Löst sich die Abwehr wieder, kommt es zur neuerlichen Überlastung von Ich-Funktionen. Daraus ist zu verstehen, dass nach dem tiefenpsychologischen Theorem nun der Widerstand gegen die neuerliche Bewusstwerdung abgewehrten konflikthaften Materials entsteht. Dieser Widerstand äußert sich auf sehr unterschiedliche Weise in der Therapie. So können Ausweichverhalten dem Setting gegenüber die Folge sein, Ablenken im Gesprächsinhalt, Auftauchen flüchtiger affektiver Zustände wie Dysphorie, Verärgerung, Irritabilität, Depressivität und anderes mehr. Die Beobachtung des Widerstandes kann sowohl für den Analysanden wie für den Analytiker zum besseren Verstehen führen, zu einer in der Therapie zugelassenen Reaktualisierung bisher abgewehrten konflikthaften Geschehens.
Aus der Erfahrung, dass das unbewusst gewordene überfordernde konflikthafte Geschehen sich auf die Wahrnehmung, auf die Bewertung, auf das Erleben und Verhalten des Individuums auswirkt, ist davon auszugehen, dass es sich auch in der Beziehungssicherheit oder Unsicherheit äußert. Daraus entstand, von Freud beschrieben, das Konzept der Übertragung und Gegenübertragung.
434
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
Freud wird zugeschrieben, dass „jeder, der sich darauf einlässt, dass im Menschen Unbewusstes wirksam ist, dass gegen das Bewusstwerden des Unbewussten Widerstand besteht, und der sich zur Übertragung und Gegenübertragung verstehend äußert, zur ,wilden Schar‘ der Psychoanalyse gehört.“
C3.
Arbeitsmodell der tiefenpsychologischen (dynamischen) Psychotherapie
Aufgrund des im Vorabschnitt aufgezeigten Grundverständnisses über menschliche Entwicklung und Reaktion wurden von unterschiedlichen analytischen Schulen unterschiedliche Schwerpunkte zur Behandlung in den Vordergrund gestellt, die folgend schlagwortartig wiedergegeben sind. Sie sind anhand unterschiedlicher Modellvorstellungen unterschiedlich gewichtet. Gemeinsam gilt für alle: • Die gemeinsame Erforschung der unbewusst bedeutsamen Zusammenhänge einer einmaligen Lebensgeschichte. • Beseitigung aktueller Leidenssymptome ist nicht das einzige therapeutische Ziel. • Die Förderung von psychischer Entwicklung, das Erfahren von Beziehung im Sinne einer Co-Evolution statt einer Kollusion. Diese beiden Begriffe wurden von Willi in die Psychoanalyse eingeführt. Als Kollusion wird beschrieben, dass viele Paarbeziehungen durch unbewusste Erwartungen und abgewehrte konfllikthafte Beziehungserfahrungen bestimmt sind. Dadurch beeinflussen sie einander gegenseitig respektive „zwingen“ dem anderen gewisse Rollen auf. Diese können zwar einerseits Beziehungs-erhaltend(-bildend) sein, andererseits auch im pathologischen Sinne den Partner hemmen, da eine abweichende persönliche Entwicklung dadurch nicht zugelassen wird. Hingegen soll die Co-Evolution (förderliche Entwicklung zweier Partner in einer Beziehung) das bewusste Zugehen und das Füreinander-da-sein enthalten. Es muss akzeptiert werden, dass jeder der beiden Partner die gleichen Rechte zur Entfaltung seiner Person hat.
Psychotherapie setzt am Neuaufbau von Bewältigungsmöglichkeiten an. So entstehen durch den Therapieprozess der aufdeckenden Deutungen neue Einsichten und neue Handlungsmöglichkeiten. Psychotherapie kann und soll individuelle Reifungsschritte ermöglichen. Dadurch soll es zu Erweiterungen des Ich und des Über-Ich kommen. Freud formulierte „Wo Es war, soll Ich werden“ und betrachtete als Ziel der Analyse den arbeitsfähigen, genussfähigen und liebesfähigen Menschen.
C. Tiefenpsychologische Psychotherapie / C4. Wege tiefenpsychologischer Psychotherapie
435
Adler betonte, die Entfaltung des „Gemeinschaftsgefühl“ sei die Folge der Überwindung neurotischer Fixierungen. Jung führte aus, dass für jeden Menschen die Auseinandersetzung mit seinem bisher „abgewehrten Schatten“ Ziel der Analyse sei. In gewisser Weise ist jeder Neuerwerb von Reifungsschritten eine Erweiterung des Ich mit nachhaltigen Veränderungen in der Persönlichkeit, etwa die Entfaltung zu einer psychosexuellen Erwachsenenidentität, zur Entfaltung von Mütterlichkeit und Väterlichkeit. Erikson beschrieb diese Veränderungen von Lebensaufgaben bis ins hohe Alter hinein. Ein gesunder Mensch kann hinzulernen, kann Erweiterungen seiner Persönlichkeit erleben, kann durch Trauerprozesse mittels der Internalisation von Beziehungserfahrungen im Persönlichkeitserleben und -wirken neue Dimensionen entwickeln.
C4.
Wege tiefenpsychologischer Psychotherapie
Die Krisenintervention: (vergl. auch II.B) Gerade dabei kommt der Beziehungsaufnahme und der Ich-Entlastung des Patienten besondere Aufmerksamkeit zu. Durch das Anbieten einer empathischeinfühlsamen Herausnahme aus der akuten Belastungssituation bekommt der Patient die Möglichkeit, wieder Zugang zu seinen Ressourcen zu finden. Dadurch entstehen wieder Verfügbarkeit und Handlungsfähigkeit der Ich-Funktionen. Das Ziel dieser Intervention ist es, dem Patienten wieder zu ermöglichen, zu seinem Selbstvertrauen, zu seiner Ich-Aktivität finden zu können. Die Kurztherapie: (vergl. auch V.B., I. D4) Darunter wird die Übereinkunft verstanden, in etwa 20 bis 50 Sitzungen Anliegen zu bearbeiten, welche wie z.B. bei einer depressiven Verstimmung immer wieder dazu führen, dass sich der Patient in Zuständen der Selbstbewertung, der Selbstbeschuldigung und der allgemeinen Insuffizienz wiederfindet. Die Arbeit mit depressiven Patienten führt auch zur Notwendigkeit, störungsspezifisches Denken im Umgang mit erkrankten Patienten zu fördern und zu focussieren. Fokaltherapie: Auch diese Therapieform ist eine Kurztherapie, wobei spezielle Themen herausgegriffen werden, wie z.B. traumatische Beziehungserfahrungen und (je-
436
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
doch nur bei ausreichender Sicherheit im Leben der Betroffenen, sonst kann es zu Retraumatisierungen kommen) ein gezieltes Wiedererinnern und Wiedererleben traumatischer Beziehungsaspekte. Das Ziel dieser therapeutischen Intervention ist der Zugewinn einer neuen Form der Bewältigung etwa im Beziehungsaspekt oder im Zulassenkönnen sexueller Empfindungen. Dies leitet über zu einem anderen wichtigen Gebiet der Fokaltherapie, etwa der Therapie sexueller Funktionsstörungen. (Vergl. I. F3.) Ich-stützende Therapie: Als Beispiel dafür soll die Begleitung körperlich Schwerkranker dienen. In dieser Arbeit sind in erster Linie die Erhaltung der Compliance, der Bewältigungsfähigkeit, der Umgang mit Angst und Schmerz das Ziel therapeutischer Intervention. (Vergl. I. F4.) Analytische Langzeittherapie: Sie geht über die Therapie von Patienten mit Symptom-Neurosen hinaus. Das Ziel ist das Wiedererlangen von Reifungsmöglichkeit, des Erlebens von Beziehungsfähigkeit, des Entdeckens des eigentlichen Selbst (dieses wird als psychische Struktur definiert, als überdauernde Konfiguration, die mit der Erfahrung des Selbstseins verbunden ist (Vergl. I. A4 Selbstpsychologie von Kohut). Sie hat die ständige Abfolge von Reflexion, das Bearbeiten von Übertragung und Gegenübertragung und das Aufspüren von Widerstand zum Inhalt. Die Arbeit dient also nicht in erster Linie der Symptomentlastung oder dem Wiedererlangen einer bestimmten Funktion, sondern dem allgemeinen Reifungsprozess. Innerhalb dieser aufgezeigten unterschiedlichen Wege und unterschiedlichen Zielgruppen können unterschiedliche Methoden Platz greifen. Paartherapie, Familientherapie (vergl. VI) sind Selbstentwicklung; Kooperation und auch bisherige Beziehungsdynamik sind gut fassbar und erfahrbar, somit auch änderbar. Ein unterschiedlicher Focus findet sich in der Gruppentherapie (vergl. I. D3), in der stationären Psychotherapie (vergl. II. – über die stationäre Psychotherapie der Psychosen wird laut I. A2 hier nicht berichtet, diesbezüglich auf psychiatrisches Schrifttum verwiesen), der Soziotherapie (Richter) oder in Teamsupervision. Neben dem persönlichen Therapieziel, der individuellen Aufarbeitung von Konflikten mit dem Ziel der Symptombeseitigung, ist der Gruppenaspekt, sei es in einer therapeutischen Kleingruppe, sei es in einer therapeutischen Großgruppe, das eigentliche Ziel des Verstehens und der Selbstentwicklung.
C. Tiefenpsychologische Psychotherapie / C4. Wege tiefenpsychologischer Psychotherapie
437
Jegliche therapeutische Richtung ist interessiert, aber auch verpflichtet, nach bestimmten Qualitätskriterien zu arbeiten. Diese hat Grawe in zahlreichen Metaanalysen von Psychotherapie und Forschungsberichten erstellt: • Ressourcenaktivierung, • Reaktualisierung: emotionale Beteiligung, • Aktive Klärungshilfe, • Klärungsperspektive. Patienten, die in der Regel von ihren Symptomen nicht nur in der Handlungsfähigkeit beeinträchtigt, sondern auch im Denken, in ihren Überlegungen, im Umgang mit ihren affektiven Bedürfnissen, sind oft eingeengt und nicht mehr in der Lage, Zugang zu ihren gesunden Ich-Funktionen zu finden. Deshalb ist Ressourcenaktivierung auch in tiefenpsychologischen Therapien besonders wichtig. Die daraus entstehende Ermutigung führt zu dem Wiedererleben von Kraft zur Bewältigungskapazität (Empowerment). Eine einseitig nur aus das Symptom gerichtete Arbeitsweise vergrößert hingegen Gefühle der Abhängigkeit, der Hilflosigkeit, des unbedingten Angewiesenseins auf wichtige Bezugspersonen, vor allem den Therapeuten. Der Patient, der wieder Zugang zu seinen Ressourcen hat, wird auch eher bereit sein, sich in Form einer therapeutischen Ich-Spaltung auf Problembereiche einzulassen. Freud verstand darunter die Fähigkeit des Patienten, sich gezielt in die analytische Beziehungssituation einzulassen, dass aber bei Sitzungsende sich wieder zurücknehmen zu können und in die jeweilige Realität zurückzugehen. Die therapeutische Ich-Spaltung ermöglicht die dosierte Regression in der analysierten Beziehung. Die dabei auftretende emotionale Beteiligung ist für den Patienten, jedoch auch für den Therapeuten, ein schwieriges Ereignis. Dagegen treten Widerstände auf, die als Übertragungs- und Gegenübertragungswiderstand bezeichnet werden.
Gerade bei störungsspezifischen Therapieansätzen wie Angststörungen, Zwangsstörungen, Essstörungen, aber auch bei selbstschädigendem und fremdaggressivem Verhalten ist oft eine aktive Bewältigungshilfe notwendig, um den Patienten die Möglichkeit zu geben, sich dem Neuen zu stellen. Dies kann ähnlich wie bei verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zur Überwindung von Vermeidungsverhalten, zum aktiven Einsatz von Entspannungstechniken oder zum Aufsuchen von Rechtsberatung führen. Wesentlich zum Neuaufbau zum Verhalten ist das Entwickeln analytischer Funktionen, die Einfälle und emotionale Strebungen, auch Durchdenken-können, geplanten Handelns, und Zulassen alternativer Lösungsansätze erlauben. Auch dabei ist der Therapeut gefordert, diese Lern- und Entscheidungsprozesse des Patienten zu unterstützen.
438
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
D.
Weitere Ergebnisse der Psychotherapieforschung
D1.
Grundprinzipien
• Der Therapeut muss Menschen mögen. • Die therapeutische Beziehung muss wertvoll und zielgerichtet erlebt werden. • Der Therapeut muss sein Therapiekonzept in einer gewissen „Reinheit“ der Methode durchführen. Dies ist kein Widerspruch zu der in I dargestellten Kombinationsmöglichkeit. Es will heißen, dass nur eine schulgerechte Ausbildung zur Kenntnis von therapeutischer Technik zur Reflexion der Gegenübertragung des Widerstandes sowie der Vorbereitung von Deutungen führt. Wird dieser „rote Faden“ beibehalten, können andere therapeutische Techniken, etwa der Verhaltenstherapie oder der systemischen Familientherapie, störungsspezifisch angewendet werden.
Die Freude am Mitmenschen, das Entwickeln von Empathie, die Bereitschaft zur Verfügung zu stehen wird umso besser gelingen, wenn sich der Therapeut auch in seiner Freizeit aktiv um sein eigenes Wohlergehen kümmert, sei es durch Ressourcenaktivierung, sei es durch Erleben von Freundschaft und Liebe, sei es im befriedigendem Umgang mit seiner Sexualität. Der Begriff der Abstinenz darf nicht dazu führen, dass sich der Therapeut aus der Arbeitsbeziehung zurückzieht und gleichsam dem Analysanden das Feld überlässt, ob etwas daraus geschieht oder nicht. D.h. die Verantwortung für den therapeutischen Prozess liegt beim Therapeuten, und der Therapeut ist eingeladen und aufgefordert, dem Patienten auch zu begründen, warum bestimmte Interventionen gesetzt werden. Trotz der Notwendigkeit, bei bestimmten Krankheitsbildern störungsspezifische Therapieansätze gezielt zu verfolgen, was ja zu einer teilweise aktiveren Haltung in der Therapie führt, sollte weitestmöglich der jeweiligen tiefenpsychologischen Ausbildung entsprechend gearbeitet werden. Nur so kann sich das Wesen der tiefenpsychologischen Therapie – mit Beachten von Übertragung und Gegenübertragung, mit Erkennen und Aufspüren des Widerstandes und mit dem Ermöglichen der therapeutischen Regression – entfalten und zum Wohle des Patienten führen.
D2.
Wirkfaktoren in der Psychoanalyse
Mertens hat 1993 den Bedeutungswandel in der Schwerpunktsetzung der therapeutischen Beziehung dargestellt: Wichtigkeit der Selbstreflexion in der
D. Weitere Ergebnisse der Psychotherapieforschung / D3. Die Gegenübertragung
439
Gegenübertragung, die aktive Haltung des Ermöglichens von Sicherheit im Patienten. Er zitiert Hildegard Adler, welche 1984 die Wirkfaktoren wie folgt zusammengefasst hat: • Introspektionsgeleitete Selbstreflexion, d.h. die zunehmende Kenntnis und Anwendung analytischer Funktionen, welche insgesamt zu einer Erweiterung gesunder Ich-Anteile führt. • Das unmittelbare Erfahren einer wohltuenden, nicht verurteilenden, die Gefühle, die in der Übertragung entstehen, annehmenden Therapeutenperson führen zu einer insgesamt positiven Übertragung wie zu einer symbolischen Elternfigur, die hilfreich, einfühlsam und auch grenzensetzend erlebt wird. • Daraus kann eine Identifizierung mit diesen Verhaltensweisen, Einstellungen und Gefühlsqualitäten entstehen, welche zu einer Stärkung und Erweiterung des Ichs mit seinen Funktionen führen. • Ganz entscheidend für den Patienten ist die Erfahrung, dass die Qualität der Beziehung mit einer einsichtsvermittelnden Deutung eng zusammenhängt. Nur durch das Verstehen und Besprechen können Beziehungsbedürfnisse im Hier und Jetzt, über die Übertragungs- und Gegenübertragungswiderstände hinweg, befriedigt werden und stets aufs Neue die Motivation und Bereitschaft, sich auf die Belastungen einer tiefenpsychologischen Therapie einlassen zu können, aktiviert werden.
D3.
Die Gegenübertragung
Tiefenpsychologische Forschung sieht seit langem die therapeutische Interaktion als das wesentliche Agens tiefenpsychologischer Prozesse. Aus diesem Grund kommt dem Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen besondere Bedeutung und Beachtung zu. Margret Little (1951) unterschied 3 Dimensionen der Gegenübertragung: 1. Die unbewusste Haltung des Analytikers dem Patienten gegenüber, der sogenannte blinde Fleck, als Restneurose des Analytikers. Daraus entsteht: 2. Die Bereitschaft des Analytikers, eigene (ungelöste) Beziehungserfahrungen auf den Analysanden zu übertragen. 3. Die nicht-neurotische Reaktion auf Übertragungsangebote des Patienten. Dies entspricht dem Containing nach Bion oder Holding function nach Winnicott. Alle drei erwähnten Gegenübertragungsmodi bestimmen die gesamte Haltung des Analytikers dem Patienten gegenüber. So ist die Gegenübertragung eine unvermeidliche Erscheinung des analytischen Prozesses, die durch zwei wesentliche Reflexionsweisen bewusst gemacht werden kann.
440
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
1. Die Fähigkeit zur Selbstanalyse, die Entwicklung der analytischen Funktion ist das wichtigste Kriterium dafür, wann eine Lehranalyse abgeschlossen werden kann. 2. Die Bereitschaft zu einer das Arbeitsleben begleitenden Teilnahme an Supervisionsgruppen ist Ausdruck dieses selbstverantwortlichen Reflexionsbestrebens.
E.
Psychoanalytische Techniken
E1.
Die Deutung
Psychoanalyse oder generell jegliche tiefenpsychologische Therapie arbeitet mit dem Instrument der Deutung. Das bedingt auch, dass der Patient belastet wird mit dem Bewusstwerden bisher abgewehrter Erlebnisinhalte. Diese können schmerzlich sein, können als peinlich erlebt werden, können mit Schuld und Scham einhergehen, können vor allem auch mit Gefühlen der Hilflosigkeit und der Verzweiflung einhergehen. Die Aufhebung von Abwehr ist daher stets eine Belastung für den Patienten in seiner Interaktion mit dem Therapeuten. Daher sind Deutungen nicht nur auf das Unbewusste des Patienten zentriert, sondern sollen stets auch auf die momentane Übertragungsbeziehung Bezug nehmen. Denn nur so kann der Patient die notwendige Unterstützung durch die sicherheitsgebende Präsenz des Therapeuten wahrnehmen. Trotz aller Subjektivität des Analytikers, die (trotz der Reflexion der Gegenübertragung) Wahrnehmung, Bewertung und Emotionalität beeinflusst, erlebt sich so der Patient getragen, geschützt und angenommen. Durch diese psychotherapeutische Grundhaltung sind das Zuhören und die Empathie des Therapeuten nicht nur ein unspezifischer Wirkfaktor, der Vertrauen und Sicherheit ermöglicht, sondern führen zur gleichen Zeit zu einer positiv getönten Übertragungsbeziehung.
E2.
Konzeptualisierungen der therapeutischen Grundhaltung
Bereits 1948 betonte Winnicott die Bedeutung der haltgebenden, Sicherheit vermittelnden Umgebung für den therapeutischen Prozess des Analysanden. In den 70er Jahren sprach Kohut von der Notwendigkeit, selbstobjekthafte Übertragungen zuzulassen. Darunter ist zu verstehen, dass der Analysand für seine Sicherheit und Geborgenheit in der analytischen Beziehung notwendigerweise erleben muss, dass er seine individuelle Form des Haltfindens in der Beziehung zum Analytiker gestalten kann. Bion sprach vom „Containing“, dem Nicht-sofort-Reagieren, et-
E. Psychoanalytische Techniken / F. Seelische Prozesse im Patienten
441
was Aushalten-Können, was der Patient darbringt, um die auftretenden Effekte in abgemildeter Form für das Erkennen gegenwärtiger Beziehungswünsche verwenden zu können.
Die oft elementare Wucht affektiver Inhalte können dem Analytiker zur spontanen Aktion verleiten. Er würde jedoch dadurch nur Ich-stützend und oft nicht im Interesse des Analysanden reagieren. Balint bezeichnete eine entsprechende Grundhaltung als „primäre Liebe“, die Searles präsente, geduldige, nicht sofort reagierende Haltung als „kontrollierte therapeutische Symbiose“. Die vorgestellten Begriffe beschreiben Grundhaltungen, die zutiefst dem Gebot der Abstinenz des Therapeuten gerecht werden. Abstinenz soll aber nicht heißen „sich vom Patienten zurückziehen“ und nicht „nicht präsent sein“. Im Gegenteil: Nur über die therapeutisch erlebte Präsenz in ihrer Neutralität wird Reifung des Analysanden ermöglicht. Dazu gehört es jedoch, nicht affektiv spontan auf der Handlungsebene zu reagieren. Durch diese haltgebende und sich dem Analysanden als Selbstobjekt zur Verfügung stellende Beziehungsform des Analytikers entsteht ein wirkliches „sich verstanden fühlen“. Dies wird im eigentlichen Sinne eine empathische Haltung genannt werden können. Dadurch kann das tiefenpsychologische Therapieziel erreicht werden, die Benennung des bisher Namenlosen, der bisher nur körperlich erfahrenen Sehnsucht (Trieb oder Angst und Hilflosigkeit).
F.
Seelische Prozesse im Patienten, welche zu positiven Ergebnissen führen können
Die vorher beschriebene psychoanalytische Grundhaltung dem Patienten gegenüber ermöglicht diesem, die nötige Sicherheit und Ermutigung immer wieder aufs Neue in der Übertragungsbeziehung zu erleben, welche Einsicht durch Selbstreflexion und Deutung in der Analyse bewirkt werden kann. Es geschieht also im interaktionellen Prozess mit dem Analytiker. Dies bedeutet aber auch, dass der Analytiker die auftauchenden Konflikte, affektiven Zustände und seelischen Belastungen erleben können muss, sich ihrer genauso bewusst werden muss und sogar für sie eine Bewältigung erreicht haben muss. Diese Forderung erklärt die Notwendigkeit einer Lehranalyse für den späteren Analytiker. Nur dadurch, dass er dies selbst erleben und erfahren durfte, kann er dem Analysanden Mut machen, sich einer Affektmobilisierung zu stellen, welche gemeinsam mit der kognitiven Re-Strukturierung zu bleibenden Veränderungen führt.
In der analytischen Beziehung entstehen für den Analysanden neben der befriedigenden Beziehung stets auch Frustration und erfahrene Dissonanzen, bedingt durch die Übertragungsbeziehung und den Deutungsprozess. Letztlich
442
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
kommt es jedoch über die Einsicht und die damit verbundene Trauer zur Internalisierung der neuen erlebten Beziehungserfahrung mit dem Analytiker. Nur dadurch können bisherige Beziehungserfahrungen bewusst werden, auch in ihren kränkenden und verletzenden Aspekten. Neue Erfahrungen sind im Erleben des Patienten nur möglich, wenn seine bisherigen wunschbestimmten Phantasien und unerreichbaren Ideale, sein biographisches Verständnis und seine Sicht von anderen Menschen gegebenenfalls revidiert werden können. So wird im therapeutischen Prozess einer tiefenpsychologischen Psychotherapie für den Analysanden immer wieder bewusst werden, dass der Analytiker nicht im Sinne der alten und gewohnten Übertragungserwartungen reagiert, sondern anders und oft wohltuend unvertraut, manchmal auch ärgerlich machend, Grenzen setzend. So sind neue Beziehungserfahrungen möglich, die zusammen mit entstehender Einsicht und Internalisierung einen synergistischen Prozess der Neustrukturierung darstellen.
G.
Das Agieren = Acting out
Ein Patient in der Alkoholambulanz war üblicherweise gespannt, latent aggressiv, psychomotorisch unruhig, litt häufig unter großer innerer Leere und war sehr belastet durch die eingehaltene Abstinenz. Einmal kommt er zur Kontrolle, gelöst, freundlich, zufrieden, mit schwungvollen Bewegungen. Er kann sich locker und entspannt hinsetzen und lächelt freundlich. Auf die Frage, womit das zusammenhängen könnte, dass er so gelöst und entspannt wirke, erzählt er, was bei der Fahrt zur Sprechstunde vorgefallen war. Vor einer Kreuzung wurde er von einem Auto überholt, das ihn schnitt, um noch vor der roten Ampel stehenbleiben zu können. Da war er erfüllt von Zorn, wollte am liebsten losstürmen und den Fahrer beschimpfen. Als die Ampel auf Grün schaltete, überholte er sofort, schnitt nun seinerseits den Fahrweg des hinter ihm kommenden Autos ab, stieg auf die Bremse und verursachte so einen Auffahrunfall des hinter ihm fahrenden Autos. Mit großer Zufriedenheit erlebte er die Situation, freute sich richtig über den verursachten Schaden und erlebte die ganze Situation Ich-synton.
Dieses Beispiel eines Acting out zeigt, dass das Wesen Agierens Handeln ist: Handlungen, impulsiver, selbstgefährdender, antisozialer, auch sexueller Art. Das Gefährliche am Agieren ist, dass den Patienten ihre Handlungen richtig erscheinen, sie erleben sie stimmig und sind erfreut über den positiven Effekt auf Stimmung, Antrieb und Gedankenwelt. So wird deutlich, dass das Agieren im Dienste der Ich-Entlastung steht, so wie es für die Abwehrmechanismen gültig ist. Agieren während einer tiefenpsychologischen Psychotherapie hat immer Bezug zur Übertragung und zum Widerspruch. Deshalb ist es ein besonders geeignetes Instrument, einen Zugang zum Unbewussten des Patienten zu entdecken. Psychoanalytiker bezeichnen das Agieren als eine Spezialform des Erinnerns und Wiederholens in der Analyse.
G. Acting out / H. Geschlechtes des Analytikers
443
Am Beispiel von Selbstschädigung oder von Handlungen im Zustand gestörter Impulskontrolle erweist sich die veränderte Bewusstseinslage des Patienten. Diese veränderte Bewusstseinslage kann psychopathologisch wie bei einer Monomanie als Zustand der Einengung bis hin zum Dämmerzustand bezeichnet werden. Das Inszenieren kann so als Handlung aus dem Unbewussten kommen, ohne Einschaltung der Reflexionsfähigkeit. Dadurch, dass die Handlung des Agierens in die Übertragungsanalyse genommen wird, kann man sie bearbeiten, und die Patienten bekommen die Möglichkeit, neues Verhalten auszuprobieren. Wird das Agieren hingegen als Ausdruck der Ich-Schwäche der Patienten akzeptiert, entstehen weitere Ich-Schwächungen und das Sich-Fortsetzen von agierenden Handlungen. Ähnlichkeiten mit dem Agieren hat auch die erotisierte Übertragung und die Sexualisierung. Blum beschreibt, dass bei Patienten mit erotisierter Übertragung und Sexualisierung regelmäßig eine Geschichte der Verführung und Verletzung in der Kindheit nachzuweisen sei. Das Wesen dieser Übertragung sei die verzweifelte Anstrengung, Liebe und Aufmerksamkeit zu erringen, ohne dass die Betroffenen selbst ein sexuelles Gefühl der Erregung und des Verlangens verspüren. Häufig empfindet der Analytiker gleichfalls trotz des sehr direkt gezeigten sexualisierten Verhaltens kein sexuelles Gefühl in seiner Gegenübertragung. Als Hauptmotiv der sexuell traumatisierten Patienten kann „Rache am Analytiker“ für gegenwärtige und vergangene Enttäuschungen eingesetzt werden. Im Hintergrund stehen die Ambivalenz und die große Not, einerseits die Analyse, die therapeutische Arbeitsbeziehung, zerstören zu wollen; anderseits jedoch die Hoffnung, dass der Analytiker die Angst und das Grauen des Patienten besser verstehen und damit umgehen könne und Nähe durch Sicherheit und Geborgenheit zulassen könne.
H.
Von der Bedeutung des Geschlechtes des Analytikers für Patienten mit bestimmten Störfeldern
Seit mehr als 60 Jahren gilt als Lehrmeinung tiefenpsychologischer Theorie, dass unabhängig vom Geschlecht des Analytikers, die Patienten je nach ihrer Dynamik Vater- und Mutter-Übertragungen aufbauen können. Je nach Thematik kann sich etwa aus einer sicheren Übertragungsbeziehung eine verwickelte Übertragungsbeziehung einstellen. Greenson, der amerikanische Psychoanalytiker, betonte, dass bei Patienten mit frühem Elternteilverlust wichtig sei, dass der Therapeut das gleiche Geschlecht wie der verlorene Elternteil hat. Dies sei vor allem deshalb günstig, weil sich die gesamte Übertragungs-
444
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
thematik in der Analyse abspielen könne und nicht in den sonst gefundenen Nebenübertragungen außerhalb der Situation.
I.
Zur Traumanalyse
War in den ersten Jahrzehnten der Psychoanalyse, aber auch anderer tiefenpsychologischer Schulen, deutlich unterschieden worden zwischen manifestem Trauminhalt und latentem Trauminhalt, so wurde in den letzten 20 Jahren diese strikte Trennung in Frage gestellt. Es entfällt heute die theoretische Notwendigkeit, die Allgemeingültigkeit einer Transformierung des latenten in den manifesten Trauminhalt anzunehmen. Die theoretische Absicht hinter dieser strikten Trennung lag darin, dass aus dem Primärprozess bekannt war, dass durch Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung der Traum generell in seiner Motivation auch in Abhängigkeit von der Übertragungsbeziehung geträumt wird. Trauminhalte sind also nicht unabhängig vom Beziehungsgeschehen in der Analyse zu beurteilen. Analysanden träumen den jeweiligen tiefenpsychologischen Theoremen entsprechend. Diese Variabilität spricht gleichfalls für die intensive Bedeutung der jeweiligen Übertragungsbeziehung zum Analytiker. Heute gilt die Sichtweise (Fosshage 1983), dass während des Traumes in einem veränderten Bewusstseinszustand ein Monitoring und eine Regulierung der am Tag ausgelösten Affekte, Vorstellungen und Gedanken stattfindet. Gerade bei Menschen mit posttraumatischen Stressstörungen finden sich oft Jahrzehnte nach den traumatisierenden Ereignissen stereotyp auftretende, sich wiederholende Trauminhalte. In akuten Belastungssituationen sind Träume, die auf diese Situation bezogen sind, häufig. Auch tagsüber treten wie von selbst – intrusiv – die belastenden Inhalte im Gedächtnis auf. Bei posttraumatischen Stressstörungen finden sich diese Phänomene aber auch noch nach Jahrzehnten. Zum Beispiel träumt ein 72-jähriger Mann wiederholt von Tötungssituationen, die er als 18-jähriger Scharfschütze erlebt hatte. Oder: Sexuelle Missbrauchserlebnisse im Kindesalter können auch noch im Erwachsenenalter plastisch und unmittelbar geträumt und als Intrusion erlebt werden, als ob die Erfahrung gerade erlebt worden wäre. (Vergl. dazu das in I. A3 über „Psychotrauma“ Gesagte).
Bei den posttraumatischen Belastungssituationen werden Träume fallweise spontan dargeboten, da sie dem Patienten auch als quälende nächtliche Erlebnisse imponieren. Es kann dann in der Therapie darauf eingegangen werden. In der klassischen Langzeitanalyse fragt der Analytiker speziell nach den Träumen und katalysiert weitere durch seine Befragung und Besprechung.
I. Zur Traumanalyse / J. Die negative therapeutische Reaktion
445
Hingegen kommen sie sonst in einer (auch tiefenpsychologisch orientierten) Kurztherapie kaum zur Sprache, denn dabei bezieht man sich mehr auf das hic et nunc.
J.
Die negative therapeutische Reaktion
Bereits Freud beschrieb detailliert die negativ-therapeutische Reaktion. Diese ist charakterisiert durch eine Symptomverschlechterung, eine Zunahme von Acting out Handlungen sowie einer massiven Depressivität mit suizidaler Einengung. Es wurde bei diesen nicht selten auftretenden Phänomenen deutlich, dass im Vorfeld der negativen therapeutischen Reaktionen häufig auf Seiten des Analytikers Zufriedenheit und positive Gefühle mit den Fortschritten des Patienten vorhanden waren. So entsteht der Eindruck, dass für den Patienten das Erlebnis des erfolgreichen therapeutischen Prozesses auch massiv angstmachende, bedrohliche Aspekte aufweist. Es wurde auch gesehen, dass Deutungen, obwohl inhaltlich richtig und empathisch zum angemessenen Zeitpunkt erfolgt, gleichfalls zu einer Verschlechterung des Zustandes des Patienten führen können. Freud hob die Bedeutung der Erkrankung hervor. Er fand, dass nicht wenige seiner neurotischen Patienten ihre Erkrankung als Strafe für Geschehenes empfinden und diese Strafe daher unbewusst gewordenes Schuldgefühl befriedige. Neben dieser Theorie betonte Freud später, dass eine negative therapeutische Reaktion auf das Wirken des Todestriebes zurückzuführen sei. Karin Horney sah die negative therapeutische Reaktion anders: Zugrunde liege eine spezielle Angst vor dem Erfolg. Dieser reaktualisiere den Zentralkonflikt vorwiegend narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, nämlich Ängste vor einer keine eigene Identität zulassenden Mutter. Beziehungen, in denen dominierende, wenig einfühlsame Eltern auf ihre Kinder einwirken, ihnen gleichsam die eigenen Vorstellungen eines Selbst aufzwingen, verhindern auf diese Art die Entwicklung des Selbstbewusstseins, der Neugierde zum Experimentieren, der Freude am Eingehen von Beziehungen. Störungen im Ich-Ideal bei Patienten mit negativer therapeutischer Reaktion seien durch verinnerlichte, sadistische Strebungen früher Bezugspersonen entstanden. Auch hier wird deutlich, wie wichtig die frühen Störungen in Abhängigkeit von erlebten Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen sind. Man kann aber sehr wohl auch annehmen, dass einfach die bevorstehende Trennung vom Therapeuten (die zwangsläufig mit dem Erfolg der Analyse gekoppelt ist) Angst macht. (Es wiederholt sich die urtümliche Trennungssituation von der Mutter.) Um die gefürchtete Trennung zu vermeiden, muss man wieder kränker werden. – Barolin erinnert an ein analoges Phänomen: Wenn nämlich Rehabilitationspatienten vor ihrer Entlassung stehen und die Rückkehr in eine (ungeliebte und abweisende) Familiensituation bevorsteht, dann können die Patienten plötzlich massive Verschlechterungen aufweisen und diese können sich durchaus auch körperlich manifestieren (im Sinne der im vorliegenden Buch vielfach aufgezeigten psychosomatischen Verbindung). Frau Crumert (1979) versteht das Auftreten einer negativen therapeutischen Situation als Chance, die gestörte Loslösung von der Mutter in der Übertragung erleben zu können. Sie sei
446
IV. Biebl: Die tiefenpsychologischen Psychotherapien
eine notwendige und für den Patienten sinnvolle Art, auf die durch die Therapie erneut ausgelösten Ablösungswünsche und Ablösungsängste einzugehen. Auf der gleichen Ebene argumentiert Reich. Dieser machte deutlich, dass häufig als eine Gegenübertragungsreaktion, aus Sorge um ein reduziertes Realitätsgefühl des Patienten, zuviel Rat und Stellungnahme abgegeben werden, statt in geduldiger Neutralität Übertragungswünsche nach Größe, Kraft und Liebreiz zuzulassen.
Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen vom Borderlinetyp und abhängigen Persönlichkeitsstörungen neigen besonders zur negativen therapeutischen Reaktion im psychotherapeutischen Prozessgeschehen.
K.
Die Beendigung der Analyse
Tiefenpsychologische Langzeitanalysen haben in der Vereinbarung kein definitives Ende wie etwa Kurztherapien. Daher ist es besonders wichtig, dass der Analytiker und sein Analysand gemeinsam bereit sind, die erreichten bzw. nicht erreichten Ziele der Analyse zu besprechen. Das Zulassen der damit verbundenen Enttäuschungsreaktionen fällt beiden schwer. Jedoch kann nur durch die Integration aggressiver Impulse in Zusammenhang mit der bevorstehenden Trennung Abschied ermöglicht werden. Traurige Gefühle im Rahmen der Beendigung einer Analyse erleben sowohl der Analysand als auch der Analytiker; und auch dieser muss sich jenen Gefühlen stellen. Gradmesser für die Richtigkeit der Beendigung der Analyse ist die Fähigkeit des Analysanden zur Selbstanalyse, die Entwicklung und Verinnerlichung der analytischen Funktionen. Zu Ende ist lediglich die reale analytische Beziehung, nicht jedoch der psychoanalytische Prozess, der in Folge der Verinnerlichung analytischer Funktionen weitergeht. In einer Umfrage fand Firestein 1982, dass postanalytische Konflikte offenbar zum analytischen Alltag gehören. Es ist daher weiterhin vom Analytiker ein verantwortlicher Umgang mit dem ehemaligen Analysanden zu fordern.
Je kürzer die Therapie vereinbart worden ist, desto früher muss das Ende der Therapie immer wieder zum Thema der Arbeit mit dem Patienten gemacht werden. Bei Kurztherapien sollte bereits ab der Hälfte der vereinbarten Zeit das Therapieende ein wiederkehrendes Thema sein.
K. Beendigung / L. Zusammenfassung zu den tiefenpsychologischen Psychotherapien
L.
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Zusammenfassung zu den tiefenpsychologischen Psychotherapien
Die Beachtung der Übertragung, fast noch wichtiger der Gegenübertragung, in der Therapie ermöglicht dem Patienten, in der konkreten therapeutischen Situation Zugang zu seinen Emotionen und Denkinhalten zu finden, welche bisher Ausdruck abgewehrter konflikthafter Erfahrungen waren. Tiefenpsychologische Therapie will dem Analysanden den Neuaufbau von Bewältigungsmöglichkeiten, die Zunahme an Selbstwertgefühl und Sicherheit sowie die Flexibilität im Durchdenken geplanten Handelns eröffnen. Der „abstinente“ Therapeut ist keine gefühllose Instanz, vielmehr ist er präsent und sicherheitsvermittelnd. Seine Haltung ist neutral, d.h. sie ermöglicht es dem Patienten, seine Gedanken und Gefühle zu erfahren, ohne sofort zu werten oder zu Entscheidungen gedrängt zu werden. So kann der Patient in der therapeutischen Begegnung Selbstwert und Selbstbewusstsein bei gestärkten Ich-Funktionen gewinnen.
Ausgewählte und weiterführende Literatur Adler A (1973) Heilen und Bilden. Fischer Taschenbuch Verlag, Stuttgart Bacl HA, Newmann KM (1944) Objektbeziehungstheorien – Brücken zur Selbstpsychologie. Friedrich Fromman Verlag. Günther Holzboog, Stuttgart – Bad Cannstatt. Problemata 132 Bowlby J (1969) Attachment and loss. Vol. I: Attachment. Basic Books, New York Breuer J, Freud S (1895) Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien Freud A (1936) Das Ich und die Abwehrmechanismen. Int Psychanal Verlag, Wien Freud S (1940) Abriß der Psychoanalyse. GW Band 17 Hinterhuber H, Fleischhacker WW (1997) Lehrbuch der Psychiatrie. Georg Thieme Verlag Stuttgart, New York Kohut H (1973) Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main Mertens W (1993) Einführung in die psychoanalytische Therapie. Band 3. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart Berlin Köln Thomä H, Kächele H (1986) Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. 1. Grundlagen. Springer Verlag Berlin Heidelberg New York Thore v. Uexküll (1996) Psychosomatische Medizin. 5. Auflag. Urban v. Schwarzenberg
V.
Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
H A N S G E O R G Z A P OTO C Z K Y Univ.-Prof. Dr. med. Hans Georg Zapotoczky Annagasse 12, A-1010 Wien Telefon:+43//1/512 10 44 Emerit. Vorstand der psychiatrischen Univ.-Klinik Graz – Individualpsychologie und Verhaltenstherapie. Schwerpunkt von Forschung und therapeutischen Interventionen: Depressive Störung, Angst, Zwang. Autor von „Psychiatrie der Lebensabschnitte. Ein Kompendium“, Springer Verlag Wien, New York, 2002, und von „Fragen antworten auf Ängste“, Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar, 1992.
Schlagwort-Information Die Verhaltenstherapie nähert sich den Beschwerden und Leiden des Menschen auf dem Weg über die Kenntnis (vereinfachend) seines „ReizReaktions-Musters“. In den letzten Jahrzehnten bezieht jedoch die „kognitive Verhaltenstherapie“ die gedanklichen Einstellungen stärker mit ein, wobei sie durch eine Reihe von unterschiedlichen Methoden versucht, den Menschen zu einer neuen Sichtweise seiner Schwierigkeiten und Leiden zu bringen, jedoch nicht durch Aufdeckung seiner Probleme, sondern durch Denkmuster, die eine Gegenstrategie zu pathologischen Mustern beinhalten. Die Kombination mit Psychopharmaka hat sich als weiterer Beitrag zur Effizienz gezeigt.
450
A.
V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
Einleitung
Vor gar nicht langer Zeit wurde eine Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie unter Berufung auf Freud abgelehnt. In der Zwischenzeit haben sich allerdings Voraussetzungen erfüllt, die einer kombinierten Behandlung nicht widersprechen, sie sogar (siehe noch ausführlicher folgend) empfehlen: 1. Die Pharmakoindustrie hat Medikamente entwickelt, die ein genaueres Wirkungsspektrum aufweisen als bloß undifferenzierte Globaleffekte. Erinnert sei an Serotoninreuptakehemmer, die kaum dämpfen, doch gezielte Wirkung zur Folge haben, z. B. Steigerung der Impulskontrolle, Reduktion von Zwangshandlungen, Angstreduktion; sowie an einzelne Neuroleptika mit antriebssteigernden Effekten, Einfluss auf kognitive Einstellungen, Zurückdrängen von irrationalen Gedanken und Wahnideen, etc.
2. Die Szene der Psychotherapie ist zwar immer noch stark schulenorientiert, doch die einzelnen in der Praxis tätigen Psychotherapeuten hängen nicht mehr an starren ideologiebestimmten Ausrichtungen, sind oft in mehreren Schulen ausgebildet und kombinieren Techniken verschiedener Provenienz. Es besteht in der Praxis viel weniger Schulenstreit sondern mehr Bemühen um den einzelnen Patienten. Diese beiden Grundvoraussetzungen haben einen anderen Zugang zum Patienten geschaffen. Es wurden auch Zielsetzungen miteinbezogen: • Psychopharmaka wird zugeschrieben, dass sie körperliche und vegetative Symptome wie Schlafstörungen, motorische Unruhe, etc., somatische Beschwerden also (Appetitlosigkeit, Muskelverspannungen, etc.) erfolgreich reduzieren können. Auch kann – im Falle einer Depression – eine Rückfallsprophylaxe durch ihre Abgabe erzielt werden. • Psychotherapie hilft bei der Bewältigung von Lebensproblemen, kann das Sozialverhalten verbessern, Suizidideen reduzieren, Schuldgefühle aufarbeiten helfen, das Selbstwertgefühl stärken.
Der Therapeut muss auf folgendes Randphänomen gefasst sein respektive diesem entgegenarbeiten: Werden Psychopharmaka und Psychotherapie auf ein und dasselbe Behandlungsziel gerichtet (z.B. Gewichtsreduktion Sozialangst), ist die Gefahr gegeben, dass der Patient jenes Mittel, das ihn mehr Anstrengung und Arbeitsaufwand kostet, weglässt – z.B. Psychotherapie. Dann wird unter Umständen nur der halbe Effekt erreicht. Woggon (1987) hat diese Sachlage hervorragend zum Ausdruck ge-
A. Einleitung
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bracht: „Symptomreduktion und Abbau von pathologischen Verhaltensweisen haben nicht automatisch den Aufbau von Problemlösungstechniken, Konfliktlösungsstrategien, etc. zur Folge, sondern sind eher eine Voraussetzung dafür.“
Dies wird z. B. beim depressiven Patienten deutlich: Er benötigt Problemlösungsstrategien gegen seine Beeinträchtigung am Arbeitsplatz, in Partnerschaft und Familie (Klerman et al., 1992; Mintz et al., 1992). Es gibt Phasenüberdauernde Symptome, bei denen nicht von vornherein klar ist, ob sie Ursachen einer depressiven Phase, deren Folge oder Trigger neuer depressiver Phasen darstellen (Keller et al., 1992). Immer wieder wird über die Häufung ungünstiger Lebensereignisse am Beginn neuer Phasen berichtet (Trennung, Scheidung, Tod), deren Bewältigung psychotherapeutischer Stützung bedarf (Hell, 1992; Pakkala et al., 1991). Es sind Beeinflussungen durch spezifische Faktoren erhoben worden: Depression als Folge massiver Angst, als Folge von Verlusten und als Folge von „energetisierten“ negativen kognitiven Schemata, die in der Vorgeschichte grundgelegt werden und durch bestimmte Auslöser wiederum zur vorherrschenden Geltung gebracht werden. Depressive Störungen können aber auch als aktives Verhalten eingesetzt werden; sie nehmen dann einen appelativen, oft feindseligen und deprivierenden Charakter an, der die partnerschaftlichen, familiären oder beruflichen Beziehungen bestimmen kann (Wolpe, 1982). Der Ätiologie von depressiven Störungen wurde in letzter Zeit wenig wissenschaftliches Interesse entgegengebracht. Weder in DSM IV noch in ICD 10 wird auf die Entstehung einer psychischen Erkrankung genauer Rücksicht genommen. Es wird nur die Ausprägungsintensität der depressiven Störung berücksichtigt. Die bei der Behandlung von depressiven Menschen notwendige Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie erfordert allerdings eine genaue Anamneseerhebung und Abklärung der Genese dieser Störung bei jedem einzelnen Patienten, um gezielt eingreifen zu können. Die Compliance kann durch die vertrauensfördernde Beziehung zu einem Psychotherapeuten gesteigert und dadurch auch eine Rückfallsprophylaxe erreicht werden.
452
B.
V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
Verhaltenstherapie und Depression
Verhaltenstherapie ist eine schlechte Übersetzung von „Behaviour Therapy“. Um zu verstehen, worum es sich bei dieser Therapieform handelt, orientiert man sich am besten an der Definition von Yates: Verhaltenstherapie besteht in dem Versuch, empirisches und theoretisches Wissen, das aus psychologischen, physiologischen und neurophysiologischen Experimenten gewonnen wurde, systematisch zur Erklärung von Entstehung und Fortdauer abnormer Verhaltensweisen anzuwenden und ebenso zu deren Behandlung und Prävention, mit Hilfe kontrollierter experimenteller Einzelfallstudien, heranzuziehen.“ (Yates 1970).
Einige wichtige Punkte an dieser Definition sind anzumerken: • Es handelt sich um einen empirischen Versuch – und keine Theorie. • Die Grundlage stellen Befunde dar, die erhoben und abgeklärt wurden. • Es kann zwischen Entstehung einer Störung und deren Fortdauer unterschieden werden – es müssen ihnen nicht die gleichen Ursachen zugrunde liegen. • Abnorme Verhaltensweisen sind solche, die der Betroffene selbst und nicht die Gesellschaft definiert. • Nicht nur Behandlung, auch Prävention ist ein Ziel der Verhaltenstherapie. • Kontrollierte Einzelfallstudien heißt, dass die Befunde, Ursachen und Ergebnisse nicht automatisch von einem Patienten auf einen anderen übergeleitet werden können. Verhaltenstherapie ist somit eine auf den einzelnen Patienten bezogene Vorgangsweise. Sie steht damit im Gegensatz zu Psychopharmakastudien, die multizentrisch durchgeführt werden und sich methodisch auf gröbere diagnostische Merkmale festlegen, die viele Patienten aufweisen. Zur Behandlung von depressiven Menschen wurden verschiedene Ansätze ausgearbeitet. Voraussetzung für eine Therapie ist eine genaue Verhaltensanalyse, die nicht nur Häufigkeit und Intensität bestimmter Merkmale, sondern die eine Störung aufrechterhaltender Faktoren aus der Umgebung, Phänomene des Modellernens, physikalische klimatische Umwelteinflüsse umfasst (Kanfner und Saslow, 1966). Sich auf Skinner und Ferster stützend hat Lewinsohn die Verstärkerverlust-Hypothese der Depression erstellt.
B. Verhaltenstherapie und Depression
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Eine zu geringe Rate von positiver Verstärkung führt zur Depression, die in verbalen Aussagen von Dysphorie, Selbstabwertung, Zurückweisung, Schuld, Belastung und Müdigkeit sowie in somatischen Symptomen wie Schlaflosigkeit, Appetitverlust und Kopfschmerzen besteht. Dadurch wird das soziale Arrangement vermindert, es tritt Vermeidung sozialer Situationen ein, wodurch erneut potenziell verstärkende Ereignisse weniger verfügbar werden; Lewinsohn kann diese verstärkenden Momente beschreiben und nach quantitativen, qualitativen Aspekten aufgliedern.
Blöschl hat die Ansätze von Lewinsohn noch erweitert. Zunächst hat Blöschl auf die Reaktionskomponenete in der Verstärkung hingewiesen; Verstärkerverlust kann auch den Wegfall von Stimuluskonstellationen bedeuten, die eine „Gelegenheit zur Ausführung einer Reaktion mit hoher Auftretenswahrscheinlichkeit darstellen.“ Auch Stimulus-Satiation (Sättigung) kann die Effizienz von Verstärkern beeinflussen. Deshalb sollte nicht nur auf Verstärkerhäufigkeiten, sondern auch auf die veränderte Verstärkervariabilität geachtet werden. Eine weitere wichtige Ergänzung Blöschls besteht in dem Hinweis, dass positive Verstärker negative emotionale und behaviourale Reaktionstendenzen auf gleichzeitig vorhandene aversive Stimuli hemmen können. Ein Wegfall der positiven Verstärker bedeutet somit auch ein Ausbleiben suppor-
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V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
tiver Faktoren. Darauf aufbauend hat man begonnen, Modifikationen der (positiven sowie negativen) Verstärker in die Therapie einzubauen. Das war sicherlich ein wichtiger Schritt, der die psychotherapeutischen Bemühungen um den depressiven Menschen vorangetrieben hat. Heute stehen kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze eher im Vordergrund (siehe noch später). Lewinsohn hat Patienten mit Depression in 12 Sitzungen solcherart eine Verringerung der depressiven Symptomatik vermitteln können (Wiederaktivieren). Von Kanfers Ansätzen der Selbstkontrolle ausgehend, die schließlich zur Selbstmanagementtherapie geführt haben, hat Rehm das Konzept der Selbstkontrolle entwickelt. Die Prozesse der Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstverstärkung seien bei depressiven Patienten verändert. Der Depressive zeigt eine verstärkte Tendenz, seine Selbstbeobachtung auf negative und nachteilige Phänomene auszurichten, die Selbstbewertung unterliegt dann Defiziten, die sich z.B. in enttäuschenden perfektionistischen Erwartungen ergeben können, die Selbstbelohnung unterbleibt zugunsten selbstbestrafender Momente. Rehm hat auch Messinstrumente entwickelt, eine Liste positiver Aktivitäten, Selfratingscales sowie eine tägliche Checkliste von Zielen und Subzielen, die bei der Erfassung der Störung und der Therapie nützlich sein können. Die obgenannten Therapieverfahren spiegeln ätiologische Überlegungen wider, welche die betreffenden Autoren entwickelt haben. Heute sind die Therapiemethoden (die schließlich über 30 Jahre entwickelt wurden) in kognitiven Therapiekonzeptionen aufgegangen.
Als verhaltenstherapeutische Strategien mit starker Betonung auf kognitive Methoden haben eine Vielzahl von Autoren therapeutische Vorgangsweisen entwickelt. Bandura (1977) hat zu hohe uneinfühlbare und unkorrigierbare Selbstbewertungsstandards bei Depressiven dafür verantwortlich gemacht, dass sie zu hohe Ansprüche an sich selbst stellen, ihre eigene Leistung zu niedrig einschätzen und trotz Einbußen von Fähigkeiten die bisherigen Leistungsstandards beibehalten. Sie geraten in eine selbstverursachte Erschöpfung, die als Erschöpfungsdepression imponiert. Es wird mit kognitiven Mitteln daran gearbeitet, jene Selbstbeurteilungsprozesse einem Korrektiv zuzuführen. Selbstbeurteilungsprozesse und Vorgänge der Selbstkontrolle wurden auch von Mahoney, Todd, Wanderer, Taylor und Marshall für das Auftreten einer depressiven Symptomatik verantwortlich gemacht. Methodisch wurden verschiedene Strategien wie systematische Desensibilisierung, Gedankenstopp (siehe Glossar), Coverant-Controll-Techniken (Kontrolle verdeckter Prozesse) angeboten. Damit wurde ein Vorgang gesteuert und verstärkt, dem folgende Überlegung zugrunde liegt: Positive Selbstaussagen, die bei depressiven Patienten nur selten sind, werden mit Verhaltensweisen, die eine hohe Auftre-
C. Kognitive Verhaltenstherapie und Psychopharmaka
455
tenswahrscheinlichkeit aufweisen, gekoppelt. Dies führt dazu, dass die erwünschten positiven Selbstaussagen häufiger werden und das Selbstwertgefühl des depressiven Menschen aufbauen helfen. Durch jene Koppelung können bisher wenig wirksame, doch erwünschte Aktionen gestärkt werden. Auch dem Training sozialer Kompetenzen wurde Bedeutung zugemessen. Depressive Menschen begegnen ihrer sozialen Umwelt in einer Weise, die es ihnen nicht ermöglicht, positive Gefühle, Aufmerksamkeit, positive Verstärkung von Seiten ihrer Umwelt hervorzurufen. Bellack et al (1980) haben mit einem Training sozialer Wahrnehmung, sozialer Kompetenzen mit praktischen Übungen, mit Selbsteinschätzung und Selbstverstärkung Ergebnisse erzielen können, die nach 12-wöchiger Therapie einer Amitriptylinbehandlung entsprochen haben. Dieser Therapieerfolg blieb nach 6 bis 8 „Booster“-Sitzungen (Intensiv-Sitzungen) weitere 6 Monate stabil. Auch andere Forschergruppen (Mc Lean und Hakistian, 1979, 1990) haben die Effektivität eines Trainings sozialer Kompetenzen bei Depressiven empirisch – im Vergleich zu Amitriptylin – nachweisen können. Die verhaltenstherapeutischen Methoden wurden Patienten mit unipolarer Depression, ohne suizidale Einengung und ohne psychotische Symptome (Wahnideen und Halluzinationen) angeboten. Die Anzahl der solcherart behandelten Patienten ist sicherlich begrenzt.
Die Ansätze der verhaltenstherapeutischen Strategien zielen auf Verstärkung des Selbstwertgefühls und auf Veränderung bisher festgefahrener Routineeinstellungen ab. Dies schaffen medikamentöse Therapieverfahren alleine nur zum Teil oder gar nicht. Das Cognitive restructuring will neue Gedankenketten und Verbalisierungen bahnen, die sich realitätsgerecht und damit problembewältigender erweisen.
C.
Kognitive Verhaltenstherapie und Psychopharmaka
Die Verhaltenstherapie geht von einem Verhaltensmodell aus, das sich in ihrem Grund auf die Reizreaktionskette stützt (S-O-R-K-C: Dabei bedeutet S = Reizstimulus, O = Organismusvariable, R = Reaktion, K = Konstante, C = Konsequenzen von R). Kognitive Verhaltenstherapie bezieht Gedanken ein wie: inadäquate unlogische selbstschädigende unrealistische Verbalisierungen (was sagt der Patient zu sich selbst, automatische Gedanken etc.). Diese Gedanken werden unter Anleitung durch ihre adäquate logische, weniger schädigende oder realistische Selbstverbalisierung ersetzt. – Einiges davon kam im Vorigen schon zum Ausdruck.
Die kognitive Therapie, die sich gegenüber depressiven Störungen als wirkungsvoll erwiesen hat, ist mit mehreren Autoren verbunden; in erster Linie mit Beck, dann mit Ellis und mit Rehm.
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V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
Merkmalsbereiche, in denen sich eine Depression manifestieren kann, liegen nach Beck im Emotionalen (Niedergeschlagenheit, Freudlosigkeit, Verlust von Zuneigung zu anderen, Verlust von Heiterkeit), im Kognitiven (geringe Selbstbewertung, negative Bewertungen, Selbstbeschuldigungen), sie betreffen das Motivationale (Vermeidens- und Fluchtverhalten, Entschlusslosigkeit, Selbstmordwünsche), sie umfassen vegetative Symptome (Appetitverlust, Ermüdbarkeit) und beziehen die Motorik ein (Retardierung, Stupor und/oder Agitiertheit).
Beck stellt die kognitive Triade in den Vordergrund, die bei Depressiven nachweisbar sei. Sie sehen das eigene Selbst, die Welt, die sie umgibt, und die Zukunft als aussichtslos und negativ an. Diese Einstellung käme in automatischen negativen Gedanken zum Ausdruck, die formalen Kriterien wie unfreiwillig, automatisch, perseverierend und plausibel erscheinend unterworfen sind. Inhaltlich kommen folgende zugrunde liegende Denkprozesse zur Geltung: 1. Es werden aus Ereignissen und Situationen Schlussfolgerungen ohne Evidenz für diese gezogen (arbiträre Inferenz). 2. Gedanken und Urteile werden auf Details gestützt, die aus dem Zusammenhang gerissen sind; andere wichtige situative Merkmale werden ignoriert (selektive Abstraktion). 3. Übergeneralisierung: Generelle Schlussfolgerungen werden ohne ausreichende Information gezogen. 4. Magnifizierung und Minimierung: Eigene Fähigkeiten werden unterschätzt, die Bedeutung von Ereignissen wird unter- oder überschätzt. 5. Ungenaues Benennen: Ereignisse werden unzutreffend dargestellt. Diese Schemata, einmal in einer beeinträchtigenden Situation entwickelt, können durch Ereignisse wiederum energetisiert werden und wirken sich dann als logische Fehler und Defizite bei der Informationsverarbeitung depressiogen aus. Beck hat ein methodisch-therapeutisches Instrument entwickelt, das in der Erstellung von Tagesprotokollen, gestuften Hausaufgaben, in vorgegebenen alternativen Gedanken zu den automatischen Gedankenimpulsen (Coping cards), im Erfassen ungünstiger Gedanken, im Festhalten der gedanklichen Folgen in einem Tagebuch und anderem besteht. Beck hat auch ein eigenes Depressionsinventar entwickelt, wodurch das Ausmaß der depressiven Beeinträchtigung und ihre mögliche Aufhellung durch Therapie objektiviert werden kann. Das ursprüngliche Ziel der kognitiven Therapie bestand darin, in einen Wettstreit mit Psychopharmakatherapie zu treten, also Alternativen zu medikamentösen Behandlungsbedingungen aufzuzeigen. Die Idee einer Kombination von kognitiver Therapie mit Antidepressiva kam erst später. So hat
C. Kognitive Verhaltenstherapie und Psychopharmaka
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man zunächst auch nur leicht bis mittelschwer beeinträchtigte, nicht psychotische und nicht suizidgefährdete Patienten einbezogen. Bei der Behandlung von akuten depressiven Patienten werden heute folgende Ergebnisse genannt: Ein Therapievergleich kognitive Therapie versus Wartelisten ergibt 57% Besserung gegenüber 17 % bei den Wartelisten. Wie wichtig es sein kann, Depressionen psychopathologisch aufzuschlüsseln, zeigt die Untersuchung von Stewart et al (1998), welche die Wirksamkeit kognitiver Therapie bei Patienten mit atypischer Depression besonders unterstrichen hat. Es ist zu fragen, welche Ergebnisse eine stärkere Berücksichtigung ätiologischer Momente bei der Entstehung depressiver Störungen nach sich ziehen konnte; gegenwärtig werden diese viel zu wenig beachtet. Man muss sich dabei immer den Ausspruch von David L. Dünner vergegenwärtigen: „Just because a patient responds during treatment it does not necesserely mean the treatment was associated with the respons.“ Lange Zeit haben sich kognitive Verhaltenstherapeuten vor der Frage gescheut, ob kognitive Therapie auch in der Rezidivprophylaxe wirksam sein könnte. Es gibt Befunde, die einander widersprechen. Follow up-Untersuchungen ein bis zwei Jahre nach Therapieende weisen darauf hin, dass Patienten, die mit kognitiver Therapie behandelt wurden, im Vergleich zu Patienten mit Routinebehandlung weniger rückfallsgefährdet erscheinen (Ross und Scott, 1985; Scott und Stradling, 1990). Die Untersuchungen, ob und in welcher Form kognitive Therapie im Hinblick auf Rezidivprophylaxe wirksam ist, können als noch nicht abgeschlossen betrachtet werden. Es gibt Studien (Blackburn et al, 1986; Blackburn und Moore, 1997), die kognitive Therapie mit Psychopharmaka im Hinblick auf Rezidivprophylaxe verglichen haben und die Ebenbürtigkeit dieser beiden Verfahren bestätigen konnten. Bei anderen Studien spielt eine Frage hinein, ob mit der Akutbehandlung tatsächlich eine vollständige Remission erzielt werden konnte oder nicht. Patienten mit unvollständiger Symptomremission der Indexperiode weisen – selbstverständlich – erhöhtes Rückfallrisiko auf. Sie sind auch selbstmordgefährdeter.
Gelingt es allerdings, im Anschluss an die Behandlung der akuten Periode, mit Psychopharmaka eine kognitive Therapie mit Zielrichtung auf die Restsymptome durchzuführen, wäre das Rückfallrisiko selbst nach Absetzen der Medikation signifikant gesenkt (Fava und Mitarbeiter, 1994, 1996, 1998). Darüber hinaus erscheint es wichtig, neurobiologische Profile depressiver Patienten genauer zu untersuchen. Patienten mit abnormen Schlafprofilen im EEG oder mit erhöhter Cortisolausschüttung (Thase et al, 1996) sprechen offenbar auf kognitive Therapie schlechter an als solche mit normalen neurobiologischen Profilen. Es ist den Vertretern der kognitiven Therapie hoch anzurechnen, Anstöße gegeben zu haben, dass die psychopathologische und neurobiologische Einheitsausrichtung von Depression aufgebrochen und Ansätze zur Differenzierung geboten wurden.
Eine ganz wichtige Aufgabe bei der Behandlung von ängstlich-depressiven Menschen ist die Stärkung des Ich, so dass sie den Anforderungen des täg-
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V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
lichen Lebens besser standhalten können. Dafür eignen sich Zusprüche, Ermunterungen, Ermutigungen bis ausgeklügelte Therapieverfahren psychotherapeutischer wie medikamentöser Provenienz. Wir wissen mehr über die Schwächung und die Zerstörung des Ich als über dessen Aufbau und Stärkung. Wir sollten uns wahrscheinlich mehr damit befassen!
D.
Verhaltenstherapie und Schizophrenie
Die Therapie von Schizophrenen bemüht sich um 3 wichtige Probleme: 1. Sie soll sich auf biologisch verankerte neuropsychologische Vulnerabilität beziehen. 2. Sie soll psychosoziale Stressoren berücksichtigen. 3. Sie soll sich an der Bewältigungskapazität des betroffenen Kranken (und seiner Familie) orientieren. Diese 3 Schwerpunkte der Behandlung können in der Akutphase, der postakuten Stabilisierungsphase wie in der Remissionsphase (Rehabilitation) angewandt werden. Die einzelnen verhaltenstherapeutischen oder kognitiv-verhaltensorientierten Methoden werden so gut wie stets mit einer neuroleptischen Medikation kombiniert. Im Einzelnen geht es um das Training sozialer Fähigkeiten, wobei insbesondere der Umgang mit Medikamenteneinnahme und mit Symptomen der Erkrankung selbst als Ziel-Symptome wichtig und therapeutisch erfolgreich waren. Außerdem fühlten sich die schizophrenen Patienten nach einem solchen Training selbstsicherer, boten weniger soziale Ängste und benötigten kürzere stationäre Aufenthalte als vorher. Es blieben jedoch noch viele Fragen, wie z. B. Möglichkeiten des Zusammenhangs zwischen Krankheitsprozess und Sozialverhalten, offen.
Schizophrene haben Denkstörungen, ihr Informationsverarbeitungsprozess ist gestört, woraus Störungen der Aufmerksamkeit, Konzentration, Wahrnehmung, der Konzeptbildung und so fort resultieren. Dadurch ist für den Kranken eine erhöhte Stressanfälligkeit gegeben. Die kognitive Remediation befasst sich mit der Behebung grundlegender kognitiver Defizite; in Übungen werden Diskriminationsfähigkeit und Problemlösen gestärkt, dadurch eine bessere Bewältigung kognitiver Aufgaben beim Schizophrenen erzielt. Auch die Behandlung von psychosomatischen Symptomen, wie Halluzinationen, Wahnvorstellungen und negative Symptome des Erkrankten wird durch verschiedene Copingstrategien, Realitätsüberprüfung, Verschiebung von Symptomen ermöglicht.
D. Schizophrenie / E. Angststörungen
459
Eine große Rolle spielt die kognitiv verhaltensorientierte Familientherapie – im Grunde geht es um die Veränderung der „high expressed emotion“ (überstarke Gefühlsbetonung), d. h. um Veränderungen von aggressiven Einstellungen, herabsetzende Bemerkungen und überprotektiven Haltungen der Familie dem Patienten gegenüber. Dazu dienen Vermittlung von Informationen über die Krankheit, Verbesserung des interpersonalen Umgangs in der Familie des Kranken, Erhöhung von Problemlösungskapazitäten und Stressbewältigung. (Siehe auch Psychoeduktion VIII.) Dadurch wurde eine Abnahme von Rezidivraten erreicht, auch eine Kostenersparnis angepeilt, allerdings stiegen die Rezidivraten im weiteren Behandlungsverlauf wieder an, was eine langfristige Behandlung nahe legt. Diese angeführten Therapien erscheinen noch immer vielversprechend.
E.
Kombinierte Therapie von Angststörungen
Angststörungen sind von Seiten der Verhaltenstherapie gut aufgeschlüsselt worden. Eine Vielfalt von verhaltenstherapeutischen Methoden steht zu ihrer Behandlung zur Verfügung; bekannt sind systematische Desensibilisierung, Flooding, kognitive Therapiemethoden, die sich besonders bei Panikstörungen bewährt haben, wie das Modell von Clark und Salkovskis; Aufmerksamkeitszuwendung an Symptome der Angst steigert ihre Intensität, wobei in einem zweiten Schritt katastrophisierende Interpretation zur Aufrechterhaltung der Störung führen. Ein Patient hat z.B. Panikattacken mit heftigen beklemmenden Schmerzen im Brustbereich, die ihm Angst vor einem Herzversagen machen. Es wird nun das Ziel der „Entkatastrophisierung“ verfolgt. Dem Patienten wird die Anatomie und Physiologie des Brustorgane erklärt und auch, dass es sich nicht um Herzsensationen handelt. Es wird ihm außerdem gezeigt, dass durch ein Umstellen von Brustatmen auf Bauchatmung die Panikattacke gestoppt werden kann. Außerdem wird auf eine stress-vermindernde??? Änderung des Lebensstils hingearbeitet.
Bei der generalisierten Angststörung wird das situationsübergreifende Stereotyp von Wahrnehmung und Interpretation therapeutisch angegangen; Katastrophenerwartungen müssen abgebaut werden. Dazu dienen alternierendes Hinlenken der Aufmerksamkeit, Veränderungen des inneren Dialogs u. a. Soziale Phobien werden schrittweise angegangen, von der Analyse automatischer Gedanken in sozialen Situationen über Veränderung kognitiver Einstellungen, Stressimpfung bis hin zur Steigerung der Selbstsicherheit.
Medikamentös werden in der Akutbehandlung Tranquillizer empfohlen, in der Langzeitbehandlung Antidepressiva, wie Imipramin oder Amitriptylin, Sero-
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V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
toninwiederaufnahmehemmer wie Sertralin oder MAO-Hemmer (Rima). Auch Neuroleptika in niedriger Dosierung (Fluspirilon, Flupentixol oder Amisulprid) verfügen über anxiolytische Eigenschaften. Zwänge, Zwangsgedanken, -impulse, -handlungen stehen den Angstsyndromen nahe; es wird von angstreduzierenden Zwängen gesprochen. Auch die angstinduzierenden Zwänge sind im Grunde angstmindernd, da sie die Ängste fokussieren und eine generelle Angstverbreitung hintanhalten. Verhaltenstherapeutisch gibt es einige Methoden, wie Gedankenstopp, Entspannungsübungen, Response-prevention, die in der Lage sind, Ängste und Zwänge zu reduzieren. Der Patient wird mit einer Situation konfrontiert, in der er bisher immer sein pathologisches Verhalten eingesetzt hat. Er wird jedoch jetzt daran gehindert, es auszuführen und zwar solange, bis die Angst des Patienten deutlich herabgemindert ist.
Ein Vergleich von Psychopharmakatherapie und Verhaltenstherapie ergab eine Ebenbürtigkeit der Therapieerfolge. Eine Kombination von Verhaltenstherapie mit medikamentöser Therapie wird als optimale Behandlungsmöglichkeit angesehen. Psychopharmakologisch haben sich zunächst Clomipramin und später verschiedene SSRI (in höheren Dosen als zur Behandlung von Depression) bewährt; der Wirkungseintritt liegt allerdings etwa bei 3 bis 6 Monaten.
F.
Posttraumatische Belastungsstörungen
Diese Störungen stehen an der Schnittstelle von Erfahrung und Substrat (vergl. I. A3). Dementsprechend sind auch Therapien ausgerichtet: Verhaltenstherapeutisch werden zur Anwendung gebracht: • Reizüberflutung (Flooding): Dies ist allerdings mit Vorsicht anzuwenden, denn bei schwer traumatisierenden Erlebnissen kann es zu einer Retraumatisierung und Verschlechterung kommen (das wurde von mehreren Seiten in letzter Zeit betont, auch an Untersuchungen von Vietnam-Heimkehrern). • Systemische Desensibilisierung: Der Patient erlernt eine Entspannungsübung. Er setzt diese ein, um Angst vor bestimmten Objekten abzubauen, die nach ihrer erlebten Bedrohung hierarchisch dargeboten werden. • Eye-Movement Desensitization: Der Patient folgt dem sich rasch hin und her bewegenden Finger des Therapeuten, spricht dabei über seine belastende Traumatisation, deren Bedeutung durch diese Art der Konditionierung abnimmt.
F. Posttraumatische Belastungsstörungen / G. Kritischer Ausblick
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Reprocessing und Angstbewältigungsstrategien. Entspannungsübungen. Stressimmunisierungsprozesse. Biofeedbackverfahren. Cognitive restructuring.
Medikamentös kommt ein ganzes Spektrum zur Geltung: Adrenerge Inhibitoren (A2-Agonisten, Betablocker), wie Propanolol, Benzodiazepine, Buspiron, Rimas, SSRI. Amitripylin, Imipramin, Lithium, Carbamazepin, Valproinsäure. Es gibt kaum Studien über eine kombinierte Anwendung medikamentöser wie verhaltenstherapeutischer oder verhaltenstherapeutischer kognitiver Therapie, wiewohl sie in der Praxis an Bedeutung gewonnen hat.
G.
Kritischer Ausblick
Bei jeder Therapieform können mehrere Schritte der Therapiewirkung unterschieden werden: Zunächst kann ein unspezifischer Wirkungseffekt erhoben werden – in der Pharmakaszene wird von Placebowirkung, in der Psychotherapieszene von unspezifischer (Aufmerksamkeits-)Zuwendung (vielleicht auch von einem suggestiven Effekt) gesprochen. Auf diese Effekte kann dann eine spezifische Wirkung von Seiten des Medikaments wie der Psychotherapie hinzukommen. Positivenfalls addieren sich all diese Wirkungsstufen, können sich sogar noch in einer Interaktion steigern. Aber auch das Gegenteil mag eintreten: Die einzelnen Wirkungskomponenten hemmen einander derart, dass die Gesamtwirkung nicht über das Niveau eines unspezifischen Wirkungsausmaßes hinauskommt. Nicht übersehen darf die Möglichkeit einer Spontanremission werden, welche Therapiewirksamkeit vortäuschen kann (nach Hollon, Shelton, Loosen; 1991). Die vorgelegten Therapieergebnisse sind ziemlich global gesehen worden. Einzelne Therapiebefunde widersprechen einander. Dafür gibt es einige Gründe, sowohl prinzipieller, struktureller als auch methodischer Natur: • Die diagnostischen Kriterien sind sehr oft unscharf: Dies betrifft vor allem depressive, aber auch schizophrene und Angststörungen. Auf die Ätiologie der depressiven Störungen wird kaum eingegangen. Dies liegt auch an den internationalen Klassifikationssystemen. • Ferner spielt die interindividuelle Vergleichbarkeit der einzelnen Behandlungsverfahren eine bisher noch ungelöste Rolle. Werden die verschiedenen Behandlungsformen – stationär versus ambulant – überhaupt näher erfasst? Wie lange ist die Behandlungsdauer und welche Schwierigkeiten ergeben sich dabei? • Diese Fragen münden in die Frage, ob es überhaupt ein Therapieverfahren für alle
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V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
Patienten geben kann, die an einer bestimmten Störung leiden? Welche intraindividuelle Anpassungsleistung ist in jedem Fall von jedem einzelnen Patienten zu leisten? Dazu ist es auch notwendig, auf Dauer, Schwere und Verlauf der psychischen Störung genauer einzugehen und individuelle Belastungssituationen zu berücksichtigen. Nebenwirkungen müssen verglichen, die Anzahl von Therapieabbrechern erhoben werden. Wie wird die Compliance kontrolliert – z. B. bei psychotherapeutischen Verfahren? Wie wird erhoben, welche Ressourcen jeder einzelne Patient aufzubringen imstande ist, um Probleme und Konfliktsituationen in seinem täglichen Leben zu bewältigen? Die niedrige Patientenzahl bei den kontrollierten Studien ist jeweils auffallend. Sie erklärt sich zum Teil aus der oft kaum reflektierten Auswahl von Patienten (welche Patienten in eine Studie eingeschlossen werden und welche nicht, unterliegt oft einer unbewusst bleibenden Auswahl) einerseits und aus der geringen Anzahl geeigneter Therapeuten, die psychopharmakologische, psychotherapeutische Kenntnisse und Fähigkeiten aufweisen, andererseits. Wie könnte dem abgeholfen werden? Es müssen genügend Ärzte einerseits psychotherapeutisch interessiert und andererseits dann spezialistisch verhaltenstherapeutisch ausgebildet werden. – Das ist wohl utopisch! Die vielfachen verhaltenstherapeutisch ausgebildeten Psychologen haben kein umfassendes Wissen über Psychopharmakatherapie, dürfen diese gesetzlich auch gar nicht anwenden. Es geht also nur mit einer konstruktiven lebendigen und intensivierten Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Psychologen, um für den Patienten Optimales zu erreichen. Dem Therapeutentraining wird bei den einzelnen Studien kaum ein Augenmerk geschenkt, dabei wäre es wohl eine wichtige Voraussetzung für einen Vergleich der beiden Verfahren Psychopharmaka versus Psychotherapie. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus den Schwierigkeiten, Therapieerfolge zu messen. Gibt es Erhebungsskalen, die auf oft feinste Kriterien wie subjektives Wohlgefühl, etc. abzielen können? Letzten Endes erhebt sich die Frage, wie die Kontrollgruppen geführt werden, wie die Placebokontrolle bei psychotherapeutischen Bemühungen gestaltet ist und wie das Studiendesign beschaffen ist. Lassen sich im Einzelnen überhaupt Vergleichsstadien und Vergleichskriterien erarbeiten? Die bisher vorliegenden Resultate lassen diesbezüglich viele Einwände zu. Den Versuch einer besseren Vergleichbarkeit machte Linden mit 6 Psychotherapieverfahren, die ihre Prozedere in Manualen niedergelegt hatten.
Bezüglich der vielfachen Unsicherheitsfaktoren in der Evaluation weist Barolin (redaktionell) auf das in I. A1 Gesagte hin: Es bringt uns und unsere Patienten nicht weiter, wenn wir überakribisch immer noch auf „größere Sicherheit“ in der Evaluation warten. Wir müssen das anwenden, was am heutigen Tag aufgrund der heutigen Erprobungen und der heutigen klinischen Erfahrungen am wahrscheinlichsten als effektvoll angesehen werden kann, sonst begehen wir nämlich Unterlassungsfehler aus Übergenauigkeit. – Nicht geschossen ist auch gefehlt!
H. Zusammenfassung zu Psychopharmaka- und Verhaltenstherapie
H.
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Zusammenfassung zu Psychopharmaka- und Verhaltenstherapie
Die Zugangsweise der Verhaltenstherapie zu den persönlichen Schwierigkeiten und Leiden geht von einem Verhaltensmodell aus, das sich im Grunde auf die Reizreaktionskette SORCK stützt. (Dabei ist S = Reiz/ Stimulus, O = Organismusvariable, R = Reaktion, C = Konsequenzen von R, K = Konstante.) Dieses Modell, dass sich letztlich auf den „konditionierten Reflex“ Pavlov’s zurückberuft, wurde aber über Jahrzehnte weiterentwickelt, verfeinert. Es wurde vor allem dazu übergegangen, kognitive Einstellungen in entsprechende Therapie einzubetten. Methodisch sind dabei eine ganze Reihe von Varianten entwickelt worden, auf welche im vorliegenden Artikel beispielhaft (keineswegs in extenso) eingegangen wird. Außerdem hat man auch gelernt, dass die günstigsten Erfahrungen dann zustande kommen, wenn man nicht bei der ausschließlichen Verhaltenstherapie stecken bleibt, sondern diese sinnvoll mit Pharmakotherapie kombiniert. Es wird etwas ausführlicher auf die (für die außerinstitutionelle Praxis vorrangige) Behandlung der Depression eingegangen, weiters auf Schizophrenie-Behandlung, auf Behandlung von Ängsten, Zwangsstörungen und posttraumatischen Belastungsreaktionen. In einer kritischen Bewertung zeigt sich, dass manches noch offen respektive der Zukunft vorbehalten ist. Anderseits ist unsere Kenntnis von der im vorliegenden Artikel beschriebenen Therapie doch soweit, dass es ein Versäumnis wäre, diese wegen Unsicherheitsfaktoren nicht anzuwenden. Die faktische Konstellation, dass einerseits für die Zahl der bedürftigen Patienten viel zu wenig Ärzte verhaltenstherapeutisch ausgebildet sind, anderseits die zahlreicheren mit Verhaltenstherapie befassten Psychologen weder die Erfahrung noch das Recht haben, Psychopharmaka zu geben, fordert einmal mehr zu einer konstruktiven ständigen Zusammenarbeit jener beiden Berufsgruppen zum Wohle der Patienten auf. Es haben sich im Vorigen auch deutliche Brücken zur allgemeinen Gesprächstherapie (Barolin-Artikel I. B), zu den Entspannungsübungen (ebendort E1) und zur systemischen Psychotherapie (Waidhofer-Artikel VI) ergeben. Es mag einmal mehr zeigen, dass wir zwar verschiedene
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V. Zapotoczky: Psychopharmako- und Verhaltenstherapie
Wege in der Psychotherapie gehen, diese Wege sich aber bei entsprechender Konzentration auf die Notwendigkeiten des Patienten einander annähern. Denn es gibt ja nur einen menschlichen Patienten mit seinen individuellen Nöten, und letztlich müssen sich unsere „Schulen“ dem Patienten anpassen, um optimal zu wirken und nicht umgekehrt. – Womit wir wiederum beim Prinzip der Integrierten Psychotherapie sind!
Weiterführende Literatur Hippius H, Klein HE, Strian F (1999) Angstsyndrome, Diagnostik und Therapie. Springer, Berlin Heidelberg Kanfer FH, Schmelzer D (2001) Wegweiser Verhaltenstherapie, Psychotherapie als Chance. Springer, Berlin Heidelberg Weitere Literatur beim Verfasser
VI.
Systemische Psychotherapie
E D UA R D W A I D H O F E R Mag. Dr. Eduard Waidhofer Erlenweg 13, A-4203 Altenberg Telefon: +43/0/72 30 – 80 45 Dienstadresse: Familientherapie-Zentrum des Landes OÖ Figulystraße 27, A-4020 Linz Telefon: +43/0/7 32 – 66 64 12 Fax: +43/0/7 32 – 66 64 12 – 22 E-Mail: [email protected] Theologe, klinischer Psychologe und Psychotherapeut. Seit 13 Jahren Leiter des Familientherapiezentrums und seit 6 Jahren auch Leiter der Männerberatung des Landes Oberösterreich. Herausgeber von „Kraftvoll und lebendig Mann sein“, Tyrolia Verlag, Innsbruck 2003.
Schlagwort-Information Es wird nicht mehr der einzelne Klient in das Zentrum der Überlegungen (dementsprechend auch der therapeutischen Strategien) gestellt, sondern das „System“, welches sich aus Klient + seinen Sozialpartnern + Therapeuten zusammensetzt. Es wird weniger versucht, auf die Ursachen des Problems zu fokussieren, als auf die Möglichkeit der Ressourcenmobilisation. Bestimmte Techniken (Familienskulpturen, positive Symptombewertung, zirkuläre lösungsorientierte Fragen) sollen jene Lösungsansätze fördern.
A.
Klassische Familientherapie
Die Schwierigkeit, psychoanalytische Konzepte auf Familien auszuweiten und anzuwenden, führte in den 50er Jahren zu einem neuen Psychotherapie-Modell der Behandlung für Familien. Erstmals standen nicht mehr das Individuum und die sogenannten „psychodynamischen“ Ursachen im Zentrum des Interesses, sondern die Beziehungen zwischen den Individuen.
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VI. Waidhofer: Systemische Psychotherapie
Was - ist ein System? Ein System wird dann erkennbar, wenn Elemente zueinander in einer besonderen wechselseitigen Beziehung stehen und so von einer Umwelt unterschieden werden können. Die Systemgrenze trennt das System von der Umwelt. Ein System wird von Mücke (1998, S. 23) definiert als „ein zusammengesetztes Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Dieses Mehr besteht in den Wechselwirkungen zwischen den Systemelementen, die so aufeinander bezogen sind, dass die Veränderung eines Elementes zur Veränderung aller anderen Elemente im System führt.“
Zu den Grundannahmen der klassischen Familientherapie gehört, dass in einem Therapie- oder Beratungsprozess möglichst alle Familienmitglieder anwesend sein sollen. Es wird ein Bild postuliert, wie eine Normalfamilie oder eine gute Familie auszusehen hat. Störungen entstehen, wenn die Voraussetzungen der „Normalfamilie“ nicht gegeben sind. Im strategischen Ansatz der direktiven Familientherapie (Haley) spielten Macht, Kontrolle und Kampf eine große Rolle. Der Therapeut verwendete Strategien und Taktiken, um die Familie zu führen. Bei diesem Konzept geht man davon aus, dass der Symptomträger mit seinem symptomatischen Verhalten in der Familie eine wichtige Funktion innehat, z.B. die Familie zusammenzuhalten oder zu stabilisieren. Die Funktion von Symptomen für das Gleichgewicht des familiären Systems wird durch das sogenannte „Homöostaseprinzip“ erklärt. Bei der klassischen Familientherapie beobachtet der Psychotherapeut quasi von außen das „Familienspiel“ und versucht, Gegenstrategien zu entwickeln. Die Familie erscheint als Objekt, das es „richtig“ zu erkennen gilt. Man spricht auch von Systemerkennung. Die strukturelle Familientherapie (Minuchin) misst der Struktur und den Grenzen große Bedeutung bei. Man geht davon aus, dass ein System ab einem bestimmten Komplexitätsgrad Subsysteme ausbildet, um funktional zu bleiben. Die Grenzen in sozialen Systemen ermöglichen die Abgrenzung gegen die Umwelt und damit die Identitätsbildung. Grenzen können starr oder durchlässig sein. Dysfunktionale Grenzen führen demnach zu einer Pathologie. Besondere Bedeutung kommt der Abgrenzung des elterlichen Subsystems zu. Eine inadäquate Rollen- oder Machtverteilung auf der Ebene der Eltern kann zu Symptomen auf der Ebene der Kinder führen. Durch explizite Regeln des Systems können die Verhaltensmöglichkeiten der Mitglieder festgelegt und eingeschränkt werden. Implizite Regeln wer-
A. Klassische Familientherapie
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den dann deutlich, wenn sie übertreten werden und dies als Problem bewertet wird. In Systemen können Verhaltensweisen von Menschen zu Mustern werden, die bestimmten Regeln unterworfen sind. Sind diese Muster erstarrt, so können sie Störfaktoren darstellen und es gilt sie in der Therapie zu erkennen und zu unterbrechen.
Grundthese: Ein pathologisches System erzeugt ein Symptom. Der identifizierte Patient wird als Indikator eines dysfunktionalen Systems bzw. einer gestörten Homöostase gesehen.
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B.
VI. Waidhofer: Systemische Psychotherapie
Systemisch-konstruktivistische Perspektive
Die neuere systemische Psychotherapie stützt sich auf die Philosophie des radikalen Konstruktivismus, der zufolge es keine objektive Wirklichkeit gibt, sondern nur subjektive Konstrukte. Die Wirklichkeit wird nicht erkannt wie sie ist, sondern von einem Beobachter „konstruiert“ und somit „geschaffen“. Jede Beschreibung eines Systems hat mit dem zu tun, der diese Beschreibung vornimmt. Oder wie Bateson sagt: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“ Die PsychtherapeutInnen sind somit nicht mehr als unbeteiligte Beobachter, sondern als MitspielerInnen zu betrachten. Es wird nicht mehr das Klientensystem analysiert, sondern die Interaktion zwischen dem Beratersystem und dem Klientensystem. Zu den Grundannahmen der systemisch-konstruktivistischen Psychotherapie gehört, dass nicht isolierte Phänomene betrachtet werden, z.B. Symptome, Defizite und Probleme, sondern Wechselbeziehungen. Dadurch „verflüssigen“ sich individuelle Eigenschaften und werden zu Elementen eines dynamischen Prozesses von sich gegenseitig beeinflussenden Wechselwirkungen. Es werden nicht mehr einseitig Ursache-Wirkungszusammenhänge im Sinne einer linearen Kausalität konstruiert, sondern Verhaltensweisen beschrieben, die sich zirkulär und rekursiv gegenseitig bedingen. Somit haben auch Schuldzuweisungen keinen Sinn. Jedes Systemmitglied ist selbst verantwortlicher Mitgestalter der Interaktion. In der Therapie werden die mit den Symptomen und den Problemen verbundenen „Spiele“ und „Muster“ sowie die kausalen Erklärungsmodi und Wirklichkeitskonstruktionen der Familienmitglieder „verstört“ (Ludewig, 1992), das heißt in Frage gestellt. Das System wird angeregt und in Eigenschwingung versetzt.
Systemisches Denken ist vernetztes Denken, welches die vielfachen Wechselwirkungen und Rückwirkungen berücksichtigt. Es gibt keine objektive Wirklichkeit, sondern nur subjektive Konstrukte.
C. Lösungsorientierte Kurztherapie
C.
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Lösungsorientierte Kurztherapie
Der Unterschied zu anderen Therapieansätzen besteht nach dem Begründer der lösungsorientierten Kurzzeittherapie de Shazer darin, dass in der Kurztherapie davon ausgegangen wird, dass eine kleine Veränderung im Verhalten einer Person zu tiefgreifender und weitreichenden Veränderungen im gesamten Familiensystem führen kann. Ein Merkmal der Kurztherapie ist, dass ähnlich wie in der Verhaltenstherapie kleine begrenzte Veränderungen angestrebt werden. Die detaillierte Problemgeschichte kann zur Konstruktion von Lösungen bzw. Interventionen zwar nützlich sein, ist aber oft nicht notwendig. Grundlegend für die lösungsorientierte Kurztherapie ist die Konzentration auf die Lösung. Statt nach den Ursachen und Wurzeln des Problems zu forschen, wird danach gefragt, was bisher gut funktioniert hat und wann Ausnahmen vom Problem vorgelegen sind – wann es also Zeiten gab, in denen das Problem nicht aufgetreten ist. Bei der Suche nach den Ressourcen des Klienten geht der Therapeut davon aus, dass der Klient selbst den Schlüssel zur Lösung hat, der gemeinsam gefunden werden soll. Dieser liegt unter anderem bei den Ausnahmen, in denen die Beschwerden nicht auftreten. Man zielt also auf die Fähigkeiten und Stärken des Klienten. Ein Hilfsmittel ist die Bildung von Skalen, um die eigenen Gefühle zu beschreiben, körperliche Beschwerden zu schildern oder Fortschritte in der Behandlung zu markieren. „Angenommen, der schlimmste Zustand wäre auf einer Skala 1 und der beste wäre 10, wie würden Sie derzeit Ihre Beschwerden bewerten?“ Die Sitzungen werden in größeren Abständen durchgeführt, da man davon ausgeht, dass die wesentlichen Veränderungen nicht in, sondern außerhalb der Therapie-Stunde geschehen. De Shazer hat unter den Klienten drei Gruppen gefunden: • Besucher, die nur ein vages Unbehagen äußern, • Beschwerdeführer, welche sich über andere Menschen oder Umstände beklagen sowie die • „Kunden“, die konkret etwas verändern möchten und die als die eigentlichen Klienten gelten.
Klienten verhalten sich oft so, als ob sie nur eine einzige Möglichkeit hätten und tun immer mehr desselben. Es ist günstig, den Klienten beschreiben zu lassen, was anders sein soll, wenn sein Problem gelöst ist. So kann die Erwartung entstehen, dass eine Veränderung möglich, vielleicht sogar unvermeidlich ist. Dazu ein Beispiel. Therapeut: „Woran merken Sie, dass Sie depressiv sind?“ Klient: „Daran, dass ich ab und zu auch gute Tage habe.“ Therapeut: „Was machen Sie an den guten Tagen anders?“ Der Therapeut könnte dann vorschlagen, abends vor dem Schlafengehen vorherzusagen, was für eine Art von Tag der nächste sein würde, oder bei einem schlechten Tag etwas zu tun, was der Klient normalerweise an einem guten Tag getan hätte. Bei der Konstruktion von Lösungen kann es hilfreich sein, festzustellen, dass es einige
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VI. Waidhofer: Systemische Psychotherapie
Dinge geben muss, welche die Familie sehr gut macht. „Darüber würde ich gerne mehr wissen. Daher möchte ich, dass Sie bis zur nächsten Sitzung beobachten, was sich in der Familie ereignet, wovon Sie möchten, dass es weiter so bleibt.“
Äußerst hilfreich kann die sogenannte Wunderfrage (nach de Shazer) sein: „Wenn eines Nachts, während Sie schlafen, ein Wunder geschähe und die Depression weg wäre, woran würden Sie das merken, und woran würde Ihr Mann es merken und Ihr Chef?“ Wesentlich sind auch die Bedeutungen, die einem Problem oder Ereignis zugemessen werden und die Ideen, die sich darum herum entwickeln (Goolishian/Anderson). Der Therapeut stellt Fragen, deren Beantwortung Anlass zu neuen Fragen gibt. Durch diesen Austausch werden neue „Geschichten“ erzählt, neue Deutungen entwickelt, und neues Verständnis kann entstehen. Symptome können auch „externalisiert“ werden, z.B. als Personen oder Wesen außerhalb des Klienten, mit denen man dann kommunizieren kann (White). So kann man bei Enuresis eines Kindes von einem Monster sprechen, das für das nasse Bett verantwortlich ist. Dieses Wesen kann man vom Kind zeichnen und mit einem Namen versehen lassen. Die Aufgabe des Kindes ist es, mit Unterstützung der Familienmitglieder das Monster zu verjagen. Dass systematische Kurztherapie auch im Einzelsetting möglich ist, haben unter anderem Weiss („Familientherapie ohne Familie“) und Boscolo und Bertrando („Systemische Einzeltherapie“) gezeigt. Nach der „Auftrags-Klärung“ (Was ist die Erwartung des Klienten oder des Überweisers an die Gespräche?) lässt sich der Therapeut das Problem differenziert in Verhaltensweisen beschreiben und versucht es nach Raum, Zeit und Intensität zu rekontextualisieren. Es wird die derzeitige Lebenssituatution erhoben, und anschließend werden Fragen zur Erklärung des Problems durch den Klienten und Fragen nach Auslöse-Situationen und bisherigen Lösungsversuchen gestellt. Der Psychotherapeut kann auch Fragen zu möglichen positiven Aspekten des Problems („Was ist gut am Problem?“) bzw. zu einer eventuellen Verschlimmerung des Problems stellen („Angenommen, Sie wollten Ihre Angst verstärken, was müssten Sie tun?“). Durch die Fokussierung auf nichtproblematische Bereiche bzw. auf eine symptomfreie Zeit in der Zukunft („Woran würden Sie erkennen, dass das Problem verschwunden ist und die Therapie erfolgreich war? Was wären wohl die ersten Anzeichen für den Beginn einer Veränderung?“) kann eine möglichst konkrete Formulierung der Therapieziele erreicht werden.
Lösungsorientierung: Es geht weniger um Probleme als um Lösungen und wie diese funktionieren. Der Klient hat selbst den Schlüssel zum Erfolg.
D. Standard-Methoden
D.
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Standard-Methoden
In der therapeutischen Praxis hat sich die Einführung einer hypothetischen Außenperspektive als hilfreich erwiesen. So können auch die Fragen nach dem Psychotherapieziel „zirkulär“ gestellt werden: „Wenn Ihr Partner jetzt anwesend wäre und ich ihn fragen würde, was wohl ein Ziel der Behandlung sein könnte, was würde er antworten? Woran würde Ihr Partner erkennen, dass Sie sich nicht mehr depressiv verhalten und keine Therapie mehr brauchen? Wer würde sich am ehesten einen Erfolg der Behandlung erwarten? Was würde sich in Ihrem Leben am meisten ändern, wenn die Behandlung erfolgreich ist? Welche Auswirkungen wird ein Behandlungserfolg auf Ihre Beziehung und Ihre Arbeit haben?“
Dieses im Mailänder Modell (Selvini-Palazzoli u.a.) eingeführte und von Tomm weiter entwickelte zirkuläre Fragen bezieht hypothetische Außenpersonen ein. Die Methode eignet sich auch für die systemische Einzeltherapie sehr gut. Dadurch werden andere Sichtweisen eingeführt, und die eigene Wahrnehmung des Klienten wird relativiert. Auch andere Fragetechniken können dazu beitragen, neue Betrachtungsweisen und Erkenntnisse zu fördern. So Fragen zu: • Auswirkung von Verhalten, • Erklärungen, • Unterschieden, • Alternativen, • hypothetische Fragen. Beispiele für Fragen zu den Auswirkungen von Verhalten sind: „Was beobachtet Ihr Partner an Ihrem Verhalten, wenn Sie sich depressiv fühlen? Wie reagiert Ihr Partner, wenn Sie morgens nicht aufstehen? Wie erklären Sie sich das? Wie erklärt sich das wohl Ihr Partner? Wie sieht das vermutlich aus der Perspektive Ihrer Tochter aus? Wer leidet an meisten unter dem Symptom? Wer kommt als nächster? Angenommen Ihr Problem ist gelöst, was ist dann anders in Ihrem Leben? Gesetzt den Fall, Sie würden mehr Zeit mit Ihrem Partner verbringen und weniger häufig Ihre Mutter besuchen, wie würde sich das auf Ihre Beschwerden auswirken?“
Symptome oder problematische Verhaltensweisen können auch als Fähigkeiten des Klienten positiv bewertet und umgedeutet werden. Bei der positiven Umdeutung handelt es sich um eine alternative Interpretation der Wirklichkeit, die allerdings wahr sein und genau so gut zutreffen muss wie die ursprüngliche Beschreibung. Damit wird der Wirklichkeit, wie sie die Familie sieht, ein neuer Bezugsrahmen gegeben. Dieses „reframing“ gibt dem Symptom oder dem problematischen Verhalten eine positive Bedeutung. Je rigider ein Familiensystem ist, umso wichtiger ist die positive Umformulierung. Barolin (I. B2) gibt im allgemeinen ärztlichen Gespräch dem „positivieren“ ein großes Gewicht, also bei erhaltener Ehrlichkeit doch die positiven Seiten eines Zustandes in den Vordergrund stellen. Es ist das also durchaus im Einklang damit, was hier reframing genannt wird, bezieht sich aber nicht nur auf die Familien-Situation, sondern sollte im allgemeinen ärztlichen Gespräch überall Platz greifen.
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VI. Waidhofer: Systemische Psychotherapie
Zum Beispiel kann verbale Aggression als starkes Kontaktbedürfnis und Wunsch, gehört zu werden, konnotiert und damit gewürdigt (nicht entschuldigt) werden. Anorexie kann als „Hungerstreik“ und damit als aktive und autonome Handlung etikettiert werden. Oder ein ständiger Ehe-Streit kann als lebendiges Ringen um die optimale Distanz gesehen werden. Auch eine Krankheit kann als Regulierung von Nähe und Distanz gesehen werden. Dazu ein Beispiel aus einer Paartherapie bei somatischer Symptomatik (Zwölffingerdarmgeschwür): Therapeut: „Sie haben ein Problem. Ihr Problem ist, dass Sie sich nicht gleichgültig sind. Als Sie sich kennenlernten, hatten Sie eine gewisse Arbeitsteilung in Bezug auf die zwischen Ihnen herzustellende Nähe und Distanz. Es gab einen Liebhaber der Distanz, Sie Herr P., und einen Liebhaber der Nähe, Sie Frau P. Dies ging eine Zeit in dieser arbeitsteiligen Weise gut. Es wurde immer schwieriger, je besser Ihre Beziehung wurde, je weniger Sie sich egal wurden, je wichtiger Ihnen der Partner und die Beziehung zu ihm wurde. So wurde es beispielsweise dem Liebhaber der Distanz immer weniger egal, was der Liebhaber der Nähe zu seiner Liebschaft mit der Distanz meint und umgekehrt. In solchen Situationen bewährt sich die Geburt oder Adoption eines weiteren Familienmitgliedes. Dieses kann dann regulierend eingreifen und erreichen, dass die Beziehung sich weiterhin so eng und positiv entwickelt, ohne dass einer der Partner seine Liebschaft zur Nähe oder Distanz aufgeben müsste. In Ihrem Fall hat die Krankheit diesen Job übernommen. Was uns skeptisch gemacht hat, ist der sehr schnelle Rausschmiss der Krankheit, über den Sie berichten... Wir können nur davor warnen, die Krankheit zu schnell aus der Pflicht zu entlassen.“ (Retzer 1988, S. 311.)
Dies ist zugleich auch ein Beispiel für eine „paradoxe Intervention“, bei der die Krankheit als „imaginärer Interaktionspartner“ eingeführt wird. Von Schlippe bringt ein Beispiel dafür, wie man mit einer zirkulären Frage zu einer wertschätzenden Konnotation (Bedeutungsgebung) kommen kann: Ein Ehepaar kam in die Therapie, nachdem die Frau ca. ein halbes Jahr zuvor entdeckt hatte, dass ihr Mann seit Jahren eine Freundin hatte. Zwischen beiden hatte sich in der Folge ein Muster aus Anklage und Rückzug... entwickelt, das sich auch in den Gesprächen fortsetzte. Beide Partner beschrieben sich gegenseitig als „immer schon schwierig“, der Mann meinte, seine Frau habe immer nur an ihm herumgenörgelt, während er sich aufgeopfert habe, um der Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Die Frau sah sich von ihm als Stütze seiner Karriere und Erzieherin seiner Kinder ausgebeutet. Es war für den Therapeuten schwer, sich dem Sog, Partei zu ergreifen, zu entziehen, die Schwere, mit der das Problem geschildert wurde, ließ eine „positive Konnotation“ nicht ohne weiteres zu. Erst durch eine Frage wurde hier eine Öffnung des „gemeinsamen Monologes“ des Paares möglich: „Was Sie erzählt haben, geht weit über Sie beide als Mann und Frau hinaus. Es berührt Fragen, wie in unserer Gesellschaft Mann und Frau definiert sind. Was ich weiß, ist, dass hier ein wenig Frieden möglich ist, wenn Mann und Frau sich gegenseitig Anerkennung vermitteln können dafür, welche Leistung sie vollbracht haben, diese zugewiesenen Rollen mit Leben zu füllen. Und ich würde daher jetzt gern jedem von Ihnen die gleiche Frage stellen: Wer denken Sie, kann von Ihnen beiden diese Leistung beim anderen besser anerkennen? Ihr Mann bei Ihnen oder Ihre Frau bei Ihnen?“ Diese Frage rief bei beiden Verblüffung hervor, und nachdem Sie sich darauf eingelassen hatten, beantworteten sie sie. Es wurde deutlich, wie wenig sie sich bislang für diese Seiten gegenseitig anerkannt hat-
D. Standard-Methoden
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ten. Dadurch konnten sie sich im nächsten Schritt auf ein Ritual einlassen, das es ihnen ermöglichte, lange ungesagten Dank auszusprechen. Die wertschätzende Konnotation lag hier in der Struktur der Frage begründet. Wie auch immer sie beantwortet wird, sie führt zu einer wertschätzenden Beschreibung des anderen, ob nun einer der beiden gesagt hätte: Ich kann meinen Partner besser anerkennen! oder: Mein Partner kann es besser! (Schlippe, S. 176 f.)
Bei Paaren mit symmetrisch eskalierender Streitdynamik benutze ich häufig folgende Intervention: „Ich bin beeindruckt, wie jeder von Ihnen bestrebt ist, die Liebe und Anerkennung des anderen zu erringen. Auch wenn dies manchmal zu Missverständnissen führt und es so aussieht, als ginge es nur darum, wer recht hat, zeugt es doch davon, wie wichtig Ihnen der andere wirklich ist. Selbst wenn von Trennung gesprochen wird, so scheint dies nur ein verzweifelter Ausdruck der Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung und der außerordentlichen Bedeutung des anderen zu sein. Streiten heißt, dass Ihnen der andere nicht egal ist, sondern dass Sie es ernst miteinander meinen. Viele Paare, die sich trennen, hatten keinen Streit miteinander, also keine lebendige Beziehung. Sie hingegen zeigen lebendiges Interesse am anderen. Wenn Sie die Beziehung testen, indem Sie es sich gegenseitig nicht einfach machen, und Sie bleiben trotzdem zusammen, dann können Sie Vertrauen in die Tiefe Ihrer Beziehung haben.“
Anerkennung und positive Symptombewertung sind auch die Prinzipien bei der sogenannten „Schlussintervention“ am Ende der Therapiesitzung. Der Abschlusskommentar kann mit „Handlungsvorschlägen“, mehr desselben zu tun, etwas zu unterlassen oder etwas Neues auszuprobieren, kombiniert werden. Dazu ein weiteres Beispiel: Drei Generationen leben auf einem früheren Bauernhof unter einem Dach. Eltern und Kinder kommen in die Familientherapie und klagen über die schrecklichen Großeltern: diese würden die Familie „ausbeuten“ sowie Eltern und Kinder „spalten“. Die zirkulären Fragen führen zu einer anderen Beschreibung der „Ausbeutung“, dass sich nämlich die Eltern (besonders der Vater, der „eingeheiratete Schwiegersohn“) unter starkem inneren Druck fühlen, „diese alten Leute nicht zu vernachlässigen“. Sie vermuten dauernd, dass die Großeltern etwas von ihnen wollen könnten, und tun dies dann schon vorausschauend, wenngleich mit großem inneren Ressentiment. Ein zweites geschildertes Problem in dieser Familie ist das Verhalten der Tochter. Seit einer psychiatrischen Episode vor einem Jahr verhält sie sich nach Meinung der Eltern noch sehr „kindlich“, erzählt der Mutter dauernd nicht nur alles Wichtige, sondern auch viel Unwichtiges. Leider plappert sie auch im Dorf alles mögliche aus der Familie aus, was der Mutter überhaupt nicht recht ist. Andererseits hängen die Eltern sehr an der Tochter und sehen deren Erwachsenwerden mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Der Schlusskommentar lautet folgendermaßen: „In Ihrer Familie gilt nach unserem Eindruck als Leitlinie: Anteilnehmen, füreinander da sein, sich übereinander den Kopf zerbrechen. Das scheint einerseits anstrengend, wenn wir an die Magenschmerzen des Vaters oder den Klinikaufenthalt der Tochter denken, ist aber auch sehr anerkennenswert. In so vielen anderen Familien gilt: Jeder schaut, dass es ihm selbst gut geht. So ohne Vorbehalte füreinander dazusein und füreinander zu denken wie bei Ihnen, ist selten. Das Problem ist aber: so oft wissen Sie trotz aller Gedanken nicht, was die Großeltern nun wirklich von Ihnen wollen. Daher machen wir Ihnen bis zum nächsten Treffen folgenden
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VI. Waidhofer: Systemische Psychotherapie
Vorschlag: Jeden Abend, wenn der Vater von der Arbeit und die Kinder aus der Ganztagsschule nach Hause kommen, setzen sich Eltern und Kinder zehn Minuten zusammen. Mutter berichtet, wie die Großeltern heute geguckt haben, welche Andeutungen oder Gesten sie machten, welche Worte sie beiläufig fallen ließen. Dann überlegen Sie alle vier gemeinsam, was die Großeltern heute gefühlt, gedacht und gewollt haben könnten, ohne es zu sagen. Das tun Sie jeden Abend zehn Minuten lang, nicht länger und nicht kürzer. Danach schlagen wir Ihnen an je einem von drei aufeinanderfolgenden Abenden ein unterschiedliches Vorgehen vor: Am Montag geht Vater in die Wohnung der Großeltern und sagt: ,Sagt uns bitte klar, was Ihr wollt!‘ Am Dienstag geht keiner rauf, und Sie lassen es sich einfach gut gehen, unabhängig von dem, was die Großeltern heute gedacht oder gewollt haben könnten. Am Mittwoch tun Sie keins von beidem, sondern Sie grübeln den ganzen Abend weiter darüber nach, was die Großeltern gedacht, gefühlt oder gewollt haben könnten, ohne es zu sagen. Nun noch ein Vorschlag an dich (zur Tochter): Wir empfehlen dir, dich vorübergehend noch etwas unselbstständiger zu verhalten, als du wohl schon bist – insbesondere der Mutter alles zu erzählen, was dir einfällt und die Mutter zu fragen, was davon du im Dorf erzählen darfst. Damit bleibst du im engen Kontakt mit der Mutter und respektierst deren Wunsch, dass du nur manches ausplauderst. Du bist ja einerseits offensichtlich auf dem Weg, selbstständig zu werden. Doch wir empfehlen: Mach langsam damit, damit die Umstellung dir und insbesondere deinen Eltern nicht zu abrupt kommt und damit zu schwer fällt!“ Abschließend wird der ganzen Familie noch eine kleine Geschichte mit nach Hause gegeben: „Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar ihm den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir aber wirklich. Und so stürmt er hinüber, der Nachbar öffnet, doch bevor er Guten Tag sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ,Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!‘ “ (Watzlawick 1983, S. 37 f.) Wie reagierte die Familie auf die Schlussintervention? Sechs Wochen später kam die Tochter, sie habe sich nicht an die Empfehlung gehalten, das käme überhaupt nicht in die Tüte (sie trotzte in der Tat schon während des Schlusskommentars). Die Eltern erzählen, schon auf der Heimfahrt sei ihnen klar geworden, dass die Großeltern sich eigentlich ganz gut selber helfen könnten und schon sagen würden, wenn sie etwas bräuchten. Deshalb habe man die Vorschläge überhaupt nicht ausgeführt, dazu sei keine Gelegenheit mehr gewesen (von Schlippe, S. 185 f).
Nicht nur in der systemischen Einzeltherapie, sondern auch in der Familientherapie hat sich das von Ludewig eingeführte „Familienbrett“, welches aus männlichen und weiblichen stilisierten Holzfiguren besteht, bestens bewährt. Auf einem Holzbrett können vom Klienten mit diesen Figuren Nähe und Distanz sowie Zuwendung oder Abwendung der Familienmitglieder symbolisch dargestellt werden. Diese „Familienaufstellung“ im Kleinen kann auch zu diagnostischen Zwecken verwendet werden, sie dient aber vor allem als Grundlage für das systemische Gespräch.
E. Zusammenfassung zur systemischen Psychotherapie
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Die erlebnisintensivere Methode der „Familienskulptur“, bei der die Beziehungen der Familienmitglieder durch Haltungen und Positionen in einer Art Skulptur symbolisch dargestellt werden, kann natürlich nur zum Einsatz kommen, wenn möglichst viele der betroffenen Mitglieder anwesend sind. Der Vorteil dieser Gestalttherapie-Technik (vergl. I. A4) gegenüber den vorgestellten verbalen Methoden liegt vor allem darin, dass die rationale Kontrolle weitgehend ausgeschaltet wird und über Verhalten und Haltung ein unmittelbarer Zugang zu den Gefühlen und den wesentlichen Familien-Themen schnell und direkt erlebbar wird. So wie in vielen anderen Therapieansätzen spielt auch in der systemischen Therapie keineswegs die Gesprächstechnik die Hauptrolle für den Therapieerfolg, sondern der Aufbau einer empathischen von Wertschätzung geprägten und „selbstkongruenten“ Beziehung (Echtheit), jedoch mit der grundsätzlichen Neutralität gegenüber den einzelnen Personen, ihren Weltanschauungen und auch bezüglich der Richtung ihrer Veränderung – was nicht immer ganz einfach ist. Intervision durch Fachkollegen oder die systemische Supervision durch einen externen Supervisor stellen heute nicht mehr wegzudenkende Unterstützungssysteme dar, die unbedingt in Anspruch genommen werden sollten, um die Qualität der Systemischen Therapie nachhaltig abzusichern.
E.
Zusammenfassung zur systemischen Psychotherapie
Im Unterschied zur klassischen Familientherapie geht die systemischkonstruktivistische Therapie nicht von einer objektiven Wirklichkeit „Familie“ aus, sondern bezieht den Therapeuten in das therapeutische System mit ein. Im Zentrum des Interesses steht nicht mehr das Klientensystem, sondern die Interaktion zwischen diesem und dem Therapeuten und Klient. Menschliches Verhalten lässt sich nicht isoliert begreifen, sondern nur im jeweiligen sozialen Kontext. In der lösungsorientierten Kurztherapie nach de Shazer sucht man nach den Fähigkeiten und Stärken des Klienten, welche die Ressourcen für die Lösung des Problems darstellen. Das therapeutische Gespräch wird auf „Ausnahmen von Problemen“ und auf eine „symptomfreie Zeit in der Zukunft“ fokussiert. Dadurch kann eine „Lösungstrance“ entstehen, welche das Erreichen des Therapieziels fördert. Zirkuläre lösungsorientierte Fragen können helfen, relevante Informationen über die Beziehungen der einzelnen Mitglieder im System zu
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VI. Waidhofer: Systemische Psychotherapie
erhalten, die eigenen Hypothesen zu überprüfen und gleichzeitig eine neutrale Haltung zu bewahren. Mit zirkulären Fragen lassen sich auch nichtanwesende Personen in den therapeutischen Prozess einbeziehen. Symptome und problematische Verhaltensweisen können als Fähigkeiten des Klienten umgedeutet werden (reframing) und damit für eine wesentliche Entlastung des Klienten durch eine neue Perspektive sorgen. Defizite können also utilisiert werden, indem sie in Kompetenzen verwandelt werden. Fundamente systemischer Beratung und Psychotherapie sind die Haltung authentischer Wertschätzung und Würdigung der Person sowie die Achtung vor der Autonomie von Systemen.
E. Zusammenfassung zur systemischen Psychotherapie
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Redaktioneller Kommentar Der aufmerksame Leser wird erkennen, dass viele der hier dargestellten Techniken verwandt sind mit dem, was über die Gesprächstherapie allgemein (Barolin-Artikel I. B) und über Verhaltenstherapie (Zapotoczky-Artikel V) gesagt wurde. Es ist das auch kein Wunder, denn so viele entscheidende Wahrheiten gibt es schließlich nicht. Aber die einzelnen Schulen betrachten eben die relevanten menschlichen Phänomene von verschiedenen Seiten und finden verschiedene Zugangswege und so ist die Pluralität in der Integrierten Psychotherapie ein positiver Faktor zur Optimierung.
Quellenverzeichnis Bateson G (1985) Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Boscolo L, Bertrando P (2000) Systemische Einzeltherapie. Carl Auer, Heidelberg Goolishian H, Anderson H (1997) Menschliche Systeme. Vor welche Probleme sie uns stellen und wie wir mit ihnen arbeiten. In: Reiter L, Brunner EJ, Reiter-Theil S (Hrsg) Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive. Springer, Berlin Haley J (1985) Direktive Familientherapie. Strategien für die Lösung von Problemen. Pfeiffer, München Ludewig K (1992) Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis. Klett-Cotta, Stuttgart Minuchin S (1997) Familie und Familientherapie. Theorie und Praxis der strukturellen Familientherapie. Lambertus, Freiburg Mücke K (1998) Systemische Beratung und Psychotherapie – ein pragmatischer Ansatz. Klaus Mücke Ökosysteme, Berlin Retzer A (1988) Systemische Therapie eines Paares mit somatischer Symptomatik. In: Familiendynamik 13 (4) Schlippe A v, Schweitzer J (1996) Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Selvini-Palazzoli M, Boscolo L, Cecchin G, Prata, G (1981) Hypothetisieren, Zirkularität, Neutralität. Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. In: Familiendynamik 6 (2): 123-129 Shazer S de (2003) Wege der erfolgreichen Kurztherapie. Klett-Cotta, Stuttgart Shazer S de (1997) Muster familientherapeutischer Kurzzeit-Therapie. Junfermann, Paderborn Tomm Karl (1994) Die Fragen des Beobachters. Carl Auer, Heidelberg Watzlawick P (1983) Anleitung zum Unglücklichsein. Piper, München Weiss T (1990) Familientherapie ohne Familie. Kurztherapie mit Einzelpatienten. Piper, München White M, Epston D(2002) Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie. Carl Auer, Heidelberg
VII. Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie ALFRED DREES Prof. Dr. med. Alfred Drees Friedrich Ebert Str. 26, D-47799 Krefeld Telefon: +49/0/21 51 – 50 39 22 Fax: +49/0/21 51 – 50 39 55 E-Mail: [email protected] Homepage: www.alfred-drees.de Ehem. Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik Duisburg. Erst nach einer Zwischenzeit als Elektriker, Bergarbeiter und Bühnenbeleuchter wandte er sich dem Medizinstudium zu. War im Entwicklungseinsatz in Nigeria und im Biafra-Krieg. Versuchte die positiven Seiten der 60er Bewegung kreativ in sein weiteres Wirken einzubauen. Der partnerschaftliche Zugangsweg zum Patienten ist und war ihm besonders wichtig. Mit seiner hier dargestellten innovativen Therapieform engagierte er sich stark in der Hospizbetreuung und der Betreuung von Folteropfern. Für Letzteres erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Über 160 wissenschaftliche Publikationen. Einige seiner Bücher sind als Literatur nach seinem Artikel angeführt. Er hält im In- und Ausland Seminare mit seiner Methodik.
Schlagwort-Information Die meisten psychotherapeutischen Gesprächsmethoden, „fokussieren“, suchen also im Gespräch das traumatisierende Ereignis auf. Manchmal (besonders bei schweren psychischen Traumata, wie Gewalt-Traumen, Vergewaltigungen, Elementar-Erlebnissen, Folter-Erlebnissen, aber auch sehr belastende menschliche Beziehungsstörungen) „weigert sich das Unterbewusste“, sich daran zu erinnern und es wieder zu erleben. Es kommt zu Blockaden. Die hier angezeigte Methode zielt primär nicht auf den pathogenen Fokus ab, sondern umgeht ihn und fördert damit die Ressourcen aus dem gesunden Erleben. Vorhandene Blockaden können umgangen und psychischer Fortschritt erzielt werden.
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A.
VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
Einleitung
Die meisten Methoden psychotherapeutischer Gespräche drehen sich um den Fokus erlebter Traumatisierungen. Psychotherapeutische Gespräche haben das Ziel, derartige traumatische Situationen • bewusst zu machen, • durch ein Gespräch in ihrer Wirkung zu entschärfen. Es zeigte sich jedoch, dass es manchmal bei derartigen Gesprächen zu einer Art Blockade kommt. Wie in einer Sackgasse kommt der Patient in seinem Gespräch immer nur bis zu einem bestimmten Punkt und nicht über diesen hinaus. Es ist dies ein typisches Phänomen vor allem bei schwer traumatisierenden Störungen, bei denen sich die Psychodynamik des Patienten – wegen der Schwere des Traumas – quasi „weigert“ sich zu erinnern und wieder-zu-erleben. Dadurch kann es auch zu einer Entschärfung des pathogenen „Fokus“, also des psychogenen Störfaktors kommen. Wir haben nun in langjähriger Erfahrung eine Methode erarbeitet, die nicht weiter auf den Fokus, also auf den pathogenen Wert des traumatisierenden Erlebnisses abstellt, sondern „defokussiert“ von jenem Fokus wegführt. Es scheint nämlich möglich, durch Umgehung des pathogenen Fokus, durch gesprächsweises Ausweichen auf andere Erlebnisbereiche des Patienten psychotherapeutisch weiterzukommen. Als Mittel verwenden wir dazu Folgendes: • Der Therapeut berichtet über seine eigenen Einfälle, welche durch das Gespräch katalysiert werden, aber außerhalb des eigentlichen pathogenen Geschehens liegen. • Es ist günstig, wenn ein oder mehrere Menschen anwesend sind (daher eignet sich diese Methode vor allem in der Gruppenarbeit) und wenn diese ebenfalls ihre spontanen Einfälle wiedergeben. • Der Therapeut lässt die mitgeteilten spontanen Einfälle bildhaft genau beschreiben. Es kommt dadurch zu einer Verdeutlichung und Erweiterung assoziativer Möglichkeiten, wie wir sie ja auch von der kathatymen Imaginationstherapie kennen (I. F5). Wenn wir auf der Bildebene arbeiten, so kommen wir den Emotionen viel näher als auf der rationalen Ebene. Denn das Bildhafte ist beim Menschen stark an die Emotionen gekoppelt, weil wir ja Augentiere sind. Im KIP ebenso wie hier in der Defokussion kann man die bildhaften Erlebnisse im Nachhinein auf der rationalen Ebene besprechen, aber auch ohne diese Maßnahme kann das Bildhafte allein schon Wirkung entfalten. Im Gegensatz zum KIP läuft es bei der defokussierenden Therapie im völligen Wachzustand und ohne Technik, die ins Hypnoid zu führen geeignet ist; wobei dahingestellt bleiben mag, ob sich nicht doch spontan so etwas wie ein Hypnoid einstellt. Die starke emotionale Beteiligung, welche damit in der Regel auftritt, ließe daran denken.
A. Einleitung
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Um diese recht theoretisch erscheinenden Überlegungen klarer zu machen, sei ein praktisches Beispiel an den Anfang gestellt.
Defokussierende Stationsvisite bei einer sterbenden Patientin Der Stationsarzt einer benachbarten Klinik hatte von mir einen Vortrag gehört und bittet mich telefonisch, mit meiner Phantasiemethode ihn einmal zu besuchen. Es ginge um eine 54-jährige krebskranke Patientin, die seit 3 Wochen nicht mehr spricht. Er hat alles versucht. Die Patientin wisse um ihre unheilbare Erkrankung. Sie habe jedoch noch mit niemanden über ihre Ängste sprechen können. Auch die Angehörigen hätten Angst vor dieser Aussprache. Der Stationsarzt versucht mich der Patientin vorzustellen. Ich suche den Blick der Patientin und frage, wie es ihr gehe, wie sie sich fühle. Die Patientin starrt mit leerem Blick wie ins Nichts. Keine Antwort. Es folgt eine bedrückende Stille. Ich äußere mein Erschrecken über die Kargheit des Zimmers. Keine Bilder, nicht einmal Blumen, es sei alles trostlos. Auch draußen ist das Wetter trostlos und traurig. Ich erkläre der Patientin, dass ich von der Schwere ihrer Krankheit erfahren habe und auch von ihrer Sprachlosigkeit und deshalb sei ich hier. Ich sähe, wie blass und grau und erstarrt ihr Gesicht sei. Ich fühlte mich davon regelrecht angesteckt. Und nach einer kurzen Pause: „Ich möchte Ihnen meine Phantasieeinfälle schildern, die durch diese Stimmung hier in mir wach geworden sind. Ich sehe in meiner Phantasie einen langen Zug von Menschen in grauen Kutten durch eine weite Ebene ziehen, vielleicht wie ein Wallfahrtszug. „Beim genauen Hinsehen sehe ich, dass sie an einem langen Stacheldrahtzaun vorbei ziehen würden. Dahinter stehen Holzkreuze, ohne Namen, grau. Eine Unzahl von Holzkreuzen, ganz ungeordnet.“ An dieser Stelle unterbricht mich die Krankenschwester. In einem fröhlichen, fast sprudelndem Ton bringt sie sich ein: Eigenartig. Bei ihr sei es am Anfang auch dunkel und grau und neblig-verhangen gewesen. Dann habe sie sich jedoch an ihren letzten Urlaub erinnert. Sie sei damals mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in ein Gewitter geraten und sie hätten Schutz hinter einem Felsvorhang gesucht. Es sei wirklich bedrohlich gewesen. Sie hätten sich aneinander gepresst. Aber nach wenigen Minuten sei das Gewitter vorbeigezogen. Sie seien nur wenig nass geworden und sie hätten dann einen herrlichen Blick ins Tal gehabt. Sie hätten … An dieser Stelle beginnt die Patientin zu sprechen. Ihr laufen die Tränen herunter und gleichzeitig lächelt sie. Sie berichtet, wie sie mit ihrem Mann jedes Jahr in die Berge gefahren sei: „Ja, damals bis vor vier Jahren …“ Auf Nachfrage erzählt sie, dass ihr Mann vor vier Jahren an einem Herzinfarkt gestorben sei. Seit dieser Zeit sei sie nicht mehr in den Bergen gewesen. Sie schildert jetzt, zunehmend lebendiger, ihre Erlebnisse in Udorf. Sie beschreibt im Einzelnen ihre gute Beziehung zur Wirtin, zu der sie seit Jahren gefahren seien. Der müsse sie endlich einmal schreiben. Noch immer laufen die Tränen über ihre Wangen. Gleichzeitig strahlt ihr Gesicht in glücklichen Erinnerungen. Dem Stationsarzt fällt vor Überraschung der Schlüsselbund auf den Boden. Daraufhin lächelt die Patientin und berichtet, wie ihr Mann bei einer Bergwanderung die Autoschlüssel in eine Schlucht habe herunterfallen lassen. Das hätte den Urlaub um zwei Tage verlängern geholfen. Die Stimmung im Krankenzimmer hat sich fühlbar entspannt. Die Patientin wirkt erschöpft, aber dankbar. Sie bittet den Stationsarzt, er könne ihr doch den Priester schicken: „Wissen Sie, den Kurzhaarigen, der immer so ein verschmitztes Lächeln im Gesicht hat.“
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VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
Der Stationsarzt berichtet später, er sei erstaunt über unsere Phantasiemethode. Er habe auf die Uhr geschaut. Es habe genau 7 Minuten gedauert, bis die Patientin zu sprechen begonnen habe. Er könne das noch immer nicht richtig verstehen. Er habe weiterhin in den nachfolgenden Gesprächen mit der Patientin den Tod ihres Mannes besprechen können. Dir dort frei werdende Trauer habe dann den Weg gebahnt für ein Gespräch über den eigenen Tod. Vor allem jedoch, das Gespräch sei in Gang gekommen. Auch die Angehörigen seien entlastet.
B.
Allgemeine Erfahrung mit der Methode
Ich habe vor etwa 20 Jahren begonnen, das defokussierende Behandlungsverfahren einzusetzen. Ausgangspunkt waren für mich schwer auflösbare Gesprächsblockaden zwischen Ärzten und Patienten in der Sterbeszene. Ich musste lernen, dass psychoanalytische Verfahren, mit ihrer Fokussierung auf die Symptome und auf Übertragungsprozesse bei sterbenden Patienten nur begrenzt möglich sind. Die Patienten wollen ihr Sterben nicht als eine Beziehungsproblematik behandelt sehen. Ich habe hierbei gelernt, dass sich die hilflos machenden Fixierungen im Sterbeprozess mit Hilfe von Imaginationen defokussieren lassen und das damit gesunde Ressourcen und Erinnerungen der Patienten wachgerufen werden, mit denen dann schrittweise Trauerarbeit ermöglicht wird.
B. Allgemeine Erfahrung mit der Methode
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Defokussierende Imaginationen, mit denen sich Wege aus der Sackgasse von Symptomfixierungen und Beziehungsproblemen finden lassen, konnten inzwischen in einer Vielzahl von therapeutischen, beratenden und supervidierenden Verfahren erprobt werden. Im Unterschied zur kathatymen Imaginationstherapie Leuners (KIP – I. F5), beschreibe ich die defokussierenden Imaginationen als „freie Phantasien“, um zu betonen, dass sie nicht als symbolischer Ausdruck der Symptomatik oder der Individualität des Patienten zu verstehen sind, sondern dass sie eine Ich- und Beziehungsübergreifende Funktion besitzen. Vor allem in der Therapie von Gewalt-traumatisierten und psychotischen Patienten ließen sich auf diesem Wege gesunde und praetraumatische Erlebensbereiche der Patienten mobilisieren und damit ihre Leidenszustände reduzieren und eingrenzen. Aber auch psychosomatische Schmerz- und Verspannungszustände ließen sich mit der defokussierenden Imaginations-Technik transformieren und damit verringern. In Institutionellen und Teamsupervisionen gelang es mit dieser Methode Patienten-Probleme längerfristig zu bearbeiten, ohne dass Gefühlsblockaden sich einstellten, wenn Mitarbeiter aus unterschiedlichen Berufsgruppen und Hierarchie-Ebenen der Institution teilnahmen. Voraussetzung hierfür war jedoch, dass gruppendynamische und Beziehungsgefühle zugunsten von Stimmungs- und Befindlichkeitsgefühlen weitgehend zurücktreten mussten. Begonnen hat diese Arbeitsorientierung in speziellen defokussierend arbeitenden Balintgruppen. Ich konnte dies für Ärzte, Psychologen und Pflegegruppen, für Sozialarbeiter und Seelsorger sowie Tanz-, Musik- und Gestaltungstherapeuten einrichten (und mehrfach beschreiben). Ich habe sie auch „prismatisch“ genannt, um mit dem Vergleich des durch ein Prisma in seine farbigen Einzelspektren zerlegten Lichtes die defokussierend gewonnenen vielfarbigen Imaginationen in der Gruppe besser vorstellbar zu machen. Daran wird auch der Unterschied zur klassischen Balintgruppe besonders klar herausgestellt, wo ja Selbsterfahrung und Problemfokussierung das Gruppengeschehen weitgehend bestimmen. Obwohl ich bereits in den 70er Jahren in Einzel- und Gruppengesprächen defokussierende Arbeitsmethoden einsetzen lernte, war es wohl die Bindung an meine psychoanalytische Heimat, die mich längere Zeit zögern ließ, jene Gesprächsform als eine eigenständige Beratungs- und Therapiemethode zu beschreiben. Ausschlaggebend wurden schließlich Erfahrungen, die ich in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken gewann. Darüber hinaus wurde in Balint- und Supervisionsgruppen ihre Akzeptanz erleichtert, wenn ich sie als defokussierendes Behandlungsverfahren vorstellte.
Ein entscheidendes Element jener defokussierenden Verfahren ist die Bereitschaft des Therapeuten, sein eigenes Erleben verstärkt in die Gespräche einzubringen. Therapeuten zeigen hierbei, wie sie ihre eigene Befindlichkeit und Gestimmtheit in deutungsfreie Imaginationen umwandeln und wie sie
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VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
ihre Gefühle und Phantasien als Erlebnisbereiche des Patienten verstehen und ins Gespräch einzubringen vermögen. Dabei lassen sich die jeweils eigenen Gefühlsmuster und sogar die körperlichen Missempfindungen und Verstimmungen, die bereits vor dem Gespräch im Therapeuten vorhanden waren (die jedoch im Gespräch mit dem Patienten verstärkt erlebt werden) ins Gespräch einbringen, ohne sie als zu persönlich abwehren zu müssen. Patienten erleben diese Schilderungen ihrer Therapeuten in der Regel als einfühlsame Resonanz. Sie können hierüber assoziativ, vergessene und abgewehrte Erlebnisbereiche in sich wachrufen. Diese sinnlich-intuitive Resonanzfunktion ermöglicht darüber hinaus eineingende und überfordernde Beziehungswünsche der Patienten zu neutralisieren und kreative Ressourcen in ihnen wachzurufen. Übertragungsfixierungen und Überforderungen der Gesprächspartner lassen sich damit reduzieren. Das Erleben und Einbringen eigener Empfindungen und Phantasien ins Gespräch und ihre Vermittlung als resonant gewonnene Erlebnisbereiche des Patienten, ist für Therapeuten wohl der schwierigste Teil defokussierender Gesprächsführung.
Therapeuten gewinnen damit eine erweiterte Kompetenz in ihrer therapeutischen, beratenden und helfenden Tätigkeit. Es zeigt sich, dass nicht wenige Teilnehmer aus Defokussionsgruppen sich anfangs schwer tun, die in der Gruppe gewonnenen Fähigkeiten in Einzelgesprächen umzusetzen. Der sachlich und rational auf ein organisches Leiden eingestellte Arzt kommt empathisch einfühlsam den Vorstellungen seiner Patienten entgegen, die möglichst klar und eindeutig ihr jeweiliges Leiden organisch begründet verstehen und verstanden wissen wollen. Eine ganzheitliche Sicht und hierbei vor allem das Ansprechen psychischer Ursachen erleben Patienten daher nicht selten als eine Infragestellung ihrer Autonomie. Auch der Arzt ist nicht selten überfordert, wenn er sich den Beziehungswünschen seiner Patienten stellt und wenn damit seine eigenen Gefühlsmuster reaktiviert werden. Um das nutzbringend in den Praxis-Alltag umzusetzen, ist Selbsterfahrung wünschenswert.
Im Vordergrund defokussierender Gespräche steht die Loslösung aus einer ursprünglich missglückten Beziehungskonstellation, die sich in den Übertragungen darstellt und die damit ähnlich fixierend in der therapeutischen Beziehung wirkt, wie die Ursprungsbeziehung. Es ist vermutlich einer der Gründe, warum Patienten immer wieder in solche Übertragungsbeziehungen drängen, denn diese Fixierungen geben ihnen Halt und Sicherheit. Es ist zwar im Sinne der psychoanalytischen Techniken möglich, in der Durcharbeitung
B. Allgemeine Erfahrung mit der Methode
485
der Übertragung letztendlich auch eine Loslösung aus der ursprünglichen Fixierung zu erlangen. Dieser Prozess dauert jedoch zumeist lange, geht nicht selten mit erheblichen Belastungen der Beteiligten einher und er ist außerhalb des psychoanalytischen Settings nur begrenzt einsetzbar. Defokussierend zu kommunizieren hingegen ermöglicht den Patienten, Räume zu betreten, die ebenfalls Sicherheit bieten und die für Therapeuten und Berater wie auch für Patienten und Klienten zugänglich sind. Sie enthalten Erlebnisformen und Gestaltungsbereiche des Menschseins, die ihren Ausdruck in der Kultur, in der Religion und der Geschichte finden, eben in all dem, was gedacht, gefühlt, gelebt und dargestellt worden ist. Diese sozio-kulturellen Räume können Halt geben für Identitäts-stiftende Bindungen, die sich außerhalb der engen Schranken einer missglückten Ursprungsbeziehung und damit auch außerhalb damit verbundener Rollenfixierung bewegen. Patienten erleben in diesen Begegnungen, wie sie in Kontakt geraten mit etwas, das über beide hinausgeht. Sie können sich dabei in neuer Weise ganzheitlich akzeptiert fühlen. Hierbei wird deutlich, dass die psychoanalytische Idee der freien Assoziation sinnvoll sein kann, dass jedoch ihre Ergebnisse nicht selten in einem eng fixierten Beziehungsrahmen zurückgedeutet werden. Unser tiefenpsychologisches Wissen erlaubt uns daher nur unzureichend, Empfindungen, Gestimmtsein und freie Phantasien als sich austauschendes Erleben außerhalb familiärer Beziehungsmuster zu verstehen. Die hilfreiche und Problem-lösende Weite spielerischer Gemeinsamkeit, die wir bei unseren Kindern noch bewundern können, haben wir Problem-rationalisierend und Übertragungs-deutend, weitgehend zurückgelassen.
Defokussierende Transformationen beinhalten, dass der Therapeut dem Patienten zu vermitteln sucht, dass seine eigenen Empfindungen, sein Gestimmtsein und seine Phantasieeinfälle als resonant gewonnene Erlebnisanteile des Patienten zu verstehen sind. Hierbei bedarf es jedoch einer einfühlsamen Vermittlungsfähigkeit, vor allem dann, wenn ein Patient z.B. in einer depressiv leidenden Gefühlslage im Therapeuten lustvoll beschwingte Empfindungen auslöst. So schilderte der Therapeut einer depressiven Patientin, die ihm von ihren sie quälenden Gedanken berichtete, seine fröhliche Stimmungslage und schildert ihr dann eine Jahrmarktszene, die er detailliert auszugestalten sucht. Reagiert denn die Patientin nicht verletzt oder empört, wenn der Therapeut eine ganz andere Gefühlslage und Phantasiewelt anspricht, als die, in der sie sich im Augenblick leidend erlebt? Erstaunlicherweise nein, wenn der Therapeut ihr zuvor seine empathische Einfühlung vermittelt hat, um ihr erst dann anschließend zu sagen, dass in ihm „erstaunlicherweise“ noch eine ganz andere Empfindung und Phantasie wachgeworden sei. Die Patientin erlebt die Transformation ihrer Problemschilderung durch den Therapeuten als entlastend, denn ihr fällt zur Jahrmarktszene des Therapeuten ein freudvolles Beispiel aus ihrer Kindheit ein.
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VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
Wenn auch die Depression der Patientin hiermit nicht aufgelöst ist, so konnten die jetzt wach gewordenen Kindheitserinnerungen der Patientin das Gespräch erweitern helfen und sie damit aus ihrer lähmenden Sackgasse depressiv getragener Wiederholungen herausführen und damit auch den Therapeuten aus der quälenden Übertragungsfixierung befreien. In Gesprächen mit psychotischen Patienten ließ sich erproben, wie sich Wahninhalte bewegen lassen, wenn an Stelle von Analysen und Deutungen Mitpatienten und Therapeuten deutungsfreie Phantasien entfalten. Die hierbei gewonnenen Einsichten, vor allem auch in die Funktion des Stimmenhörens haben uns ermöglicht, die komplexe Vernetzung und Transformierbarkeit einzelner Erlebensbereiche eines Patienten und ihre gleichzeitige Eigenständigkeit zu verstehen und damit unsere defokussierende Arbeitsweise in partnerschaftlichen Begegnungen zu verbessern.
Der Tanz zwischen fokussierenden und defokussierenden Einstellungen in therapeutischen Prozessen ist vor allem in Einzelgesprächen und in Langzeittherapien angezeigt. In der Regel reichen 5 % der jeweiligen Gesprächszeit aus, um Empfindungen, intuitive Einfälle und deutungsfreie Phantasien auszutauschen. Assoziativ kann dann, hieran anknüpfend, auf die erweiterten Erlebensbereiche der Patienten fokussiert werden, um sie in dem weitaus größeren Zeitraum zu bearbeiten. In einigen Therapien und Beratungen sind neben defokussierenden Verfahren fokussierende sozialpädagogische Reintegrationshilfen erforderlich. In allen Psychotherapien lassen sich jedoch generell diese wechselnden Gesprächseinstellungen registrieren und hieran anknüpfend lassen sich Kommunikations-Bereiche assoziativ entfalten, in denen lebensgeschichtliche, sozio-kulturelle und Sinnfragen den weitaus größeren Zeitraum ausfüllen. In der nachfolgenden Tabelle werden spezielle Elemente fokussierender und defokussierender Einstellungen in psychotherapeutischen Gesprächen miteinander verglichen.
Beachtenswerter Weise konnte ich diese Methode auch in fremdsprachigen Bereichen mit Dolmetsch erfolgreich verwenden (u. a. in Kuweit und auch bei kurdischen Folteropfern hier). Es gelang immer sehr gut, den Dolmetsch auch zum freien Assoziieren anzuregen und ihn dadurch in das therapeutische Setting miteinzubinden.
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C. Vergleichsfelder
Unterschiedliche Einstellungen im therapeutischen Prozess Schwerpunkte
fokussierend
defokussierend
Orientierung
fachlich
partnerschaftlich
Probleme
eingrenzen
bewegen
Übertragung
bearbeiten
auflösen
Symptome
analysieren
transformieren
Beziehungen
hinterfragen
anreichern
Identität
zentrieren
erweitern
Phantasien
deuten
nicht deuten
Stimmungen
deuten
ausformen
Empfindungen
deuten
vertiefen
Ziele
aufarbeiten
erweitern
Tab. 1 In der defokussierenden Imagination geht es um partnerschaftliches Akzeptieren mit Ausblendung rationaler Deutungen zugunsten des empathischen Mitschwingens.
C.
Vergleichsfelder
In zahlreichen Psychotherapien werden inzwischen Symptom-Subjekt- und Konflikt-zentrierte Verfahren erweitert durch die Hereinnahme von Beziehungsmuster-übergreifenden Funktionen des Ich. Hierüber lassen sich Begegnungs- und Gestaltungsfähigkeiten, Sinnsuche sowie die bewusste Entfaltung moralisch ethischer und religiöser Vorstellungen als Identitätserweiternd einbeziehen. Damit lässt sich unsere noch immer vorherrschende Ego-Zentrierung erweitern zugunsten von mehr Flexibilität, Mitmenschlichkeit und Toleranz. Defokussierende Imaginationen in der Therapie helfen die rational-mechanistischen Eineingungen zu überwinden. Unser Ich wird weitgehend bestimmt von miteinander vernetzten individuellen, familiären, sozialen, kulturellen und religiösen Erlebnisbereichen, die sich in der Begegnung, im partnerschaftlichem Kontakt mit den Patienten entfalten lassen. Wir müssen sie nur mobilisieren. Eine Verwandtschaft zu unserer defokussierenden Arbeitsweise finden wir deshalb vor allem in
488
VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
künstlerischen- und Gestaltungsprozessen, In Tanz- und Bewegungstherapie, in Poesieund Phantasiegruppen sowie im Bibliodrama, also in Methoden, in denen ich-zentrierte und beziehungs-orientierte Suchbewegungen zurücktreten können.
Die Verringerung psychosomatischer Beschwerden und neurotischer Fixierungen in Rahmen defokussierender Therapeutik stabilisierte schließlich unsere Neuorientierung, außerdem gaben uns Berichte aus Selbsthilfegruppen Hinweise auf vergleichbare Einstellungen. So berichten Alkoholkranke, aber auch psychosomatische- und Angstpatienten über Herzlichkeit und Wärme sowie über Anteilnahme und tröstende Umarmungen in ihren Selbsthilfegruppen, ohne dass gruppendynamische Prozesse angestoßen worden seien. Denn das läuft bei ihnen alles ohne gute Ratschläge und ohne deutendes Hinterfragen. Zentrales Arbeitsprinzip ist hier der Austausch von Erlebnisschilderungen der einzelnen Gruppenmitglieder und damit das Anreichern von unterschiedlichen Bewältigungsstrategien.
In Selbsthilfegruppen von Psychoseerfahrenen konnte ich ähnliche Einstellungen erleben. Auch in psychosozialen Diensten der Gemeinde finden sich entsprechende Akzeptanzhaltungen in der Betreuung von chronisch Kranken. Vergleichbar sind auch Berichte aus Gebetskreisen, in denen ebenfalls Ich- und Beziehungsfragen zugunsten von religiöser Sinnsuche und aktiver Hilfsbereitschaft zurücktreten. Ich habe in zahlreichen Hospizgruppen diese defokussierende Aktivierungsfunktion erleben können.
D.
Besprechung anhand von Kasuistik
Ich möchte nachfolgend einige Beispiele skizzieren, die ich folgenden Büchern entnommen habe. Drees (1995, 96, 97, 2001, 02, 03).
D1.
Die Lösung von Trauerfixierungen
Die Lösung von Trauerfixierungen bei Angehörigen, Ärzten, Pflegegruppen, Seelsorgern, Betreuern und Helfern wurde in den letzten Jahren ein besonderes Anliegen meiner defokussierenden Tätigkeit. Ich bringe als Beispiel die Lösung einer Trauerfixierung aus einer Defokussionsgruppe für Ärzte. Der Arzt einer Landarztpraxis berichtet von einer Patientin, die seit etwa zwei Jahren, seit dem Tod ihres Sohnes an Leukämie, wie gelähmt sei. Ihr Mann könne kein ordentliches Gespräch mehr mit ihr führen. Sie sei inzwischen in einer psychosomatischen Klinik gewesen und habe anschließend Psychotherapie gehabt. Es habe jedoch nichts geholfen. Der Arzt schildert, dass auch er sich noch immer irgendwie hilflos fühle.
D. Besprechung anhand von Kasuistik / D2. Psychosomatik
489
Eine Internistin schildert darauf ihre Phantasie von einer großen roten Fahne auf einem Berggipfel. Für alle überraschend berichtet jetzt tief bewegt der Arzt von einer weißen Fahne, die der kranke Sohn hergestellt habe und die er regelmäßig nach einem Krankheitsschub auf dem Hof gehisst habe, mit einem hoffnungsvollen Blick auf den nahem Berg gerichtet. Die Fahne habe man über seinen Sarg gelegt und mit ihm begraben. Die Tageszeitung habe davon ein Bild gebracht. Er schildert jetzt seine wachsende Traurigkeit. Er kann dabei seine Tränen nur mühsam zurückhalten. Er habe seit Monaten diese Trauerlähmung, wenn die Patientin vor ihm sitzen würde. Er berichtet, dass er den an Leukämie erkrankten Sohn 7 Jahre lang betreut habe, bis zu dessen Tod mit 11 Jahren. Er habe noch an seinem Sterbebett gesessen. Eine andere Gruppenteilnehmerin vermag aus ihren Trauergefühlen und ihrer Körperverspannung ein Bild von einem wild zu Tal herabstürzendem Wasserfall zu berichten und dabei kraftvoll eine bizarre Berglandschaft zu beschreiben. Der Arzt berichtet jetzt in veränderter Stimmung über den bis zum Tod sich aktiv und kreativ gebenden Patienten, der auch bis zuletzt die Mutter getröstet habe. Nach weiteren Bildern von unendlicher Weite, von wärmender Kälte, von tröstenden und von humorvollen Szenen, von Herbststimmungen und huldvoll gespendeten Früchten berichtet der Arzt, dass er jetzt wohl mit seiner Patientin freier sprechen könne. Er habe ein breiteres Gesprächsniveau gewonnen. In der nächsten Gruppensitzung schildert er dann enthusiastisch, dass das Gespräch mit der Patientin völlig entspannt verlaufen sei. Sie habe ihm dabei von ihrer neuen Arbeitsstelle berichtet. Auch mit ihrem Mann könne sie wieder lockerer sprechen.
D2.
Psychosomatik
Am nachfolgenden Beispiel aus der Kurztherapie eines Magenpatienten möchte ich eine weitere Facette dieser körperlich resonanten, intuitiv und imaginativ orientierten defokussierenden Gesprächsform aus der Psychosomatik darstellen. Ein Patient berichtet über erhebliche Magenbeschwerden, die sich erneut eingestellt hätten, nachdem seine Mutter wieder verstärkt in sein Leben eingegriffen habe. Er berichtet im Einzelnen von den häufigen Telefonaten und Besuchen der Mutter, die er doch nicht abwehren könne, da seine Mutter unter ihrer Isolierung leide. Auf meine Frage nach dem wie und wo seiner Schmerzen schildert der Patient jetzt detailliert die Qualität und den Austragungsort seiner Beschwerden. Über detailliertes Nachfragen schildert er schließlich, dass auf seinem Magen etwas liege wie ein kalter, ekeliger, grün-grauer Stein mit rauher, glitschiger Oberfläche, der unter dem Rippenbogen nach oben drücken würde. Nachdem sich auch bei mir ein unangenehmer Magendruck und erstaunlicherweise eine beruhigende, beinahe weihevolle Stimmung eingestellt hat, gewinne ich intuitiv das Bild einer Kirche. Ich forme in mir das Bild einer kleinen Wallfahrtskirche und schildere dem Patienten detailliert die Landschaft, eine kleine Anhöhe und eine breite Wiese, auf der ein Prozessionszug mit schwarz gekleideten Nonnen und einem Priester im weißen Kleid zur Kirche emporsteigt. Es sei sonnig und Herbst. Der Patient berichtet daraufhin, dass seine Magenbeschwerden schon weniger geworden seien, nachdem er seinen ekeligen Stein auf einer Wiese abgelegt habe. Er sei aber wirklich erstaunt darüber, wie ich zu meiner Phantasie gekommen sei. Er habe vor etwa 10 Jahren auch unter erheblichen Magenbeschwerden gelitten. Aber damals habe seine Mutter überhaupt keinen Anteil daran gehabt. Er wolle über die Zusammenhänge ein anderes Mal sprechen. Wichtig sei ihm, dass er damals über eine Ordensschwester zu einer kleinen Wallfahrtskirche gekommen
490
VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
sei und eine Wallfahrt mitgemacht habe. Diese Kirche, in der Nähe von Koblenz, sei so gewesen, wie ich sie geschildert hätte. Auf Nachfrage schildert er schließlich, dass er dort seine Beschwerden verloren habe. Er habe seinen Glauben in der letzten Zeit wohl auch vernachlässigt. Vielleicht solle er erneut eine Wallfahrtskirche besuchen, die hier im Rheinland von dem gleichen Orden unterhalten werde. Seine Magenprobleme seien wohl nicht nur Mutter-bedingt. In den nachfolgenden zwei Stunden ließen sich Sinnfragen, seine religiös getragene Kindheit und seine Selbstzweifel ins Gespräch bringen.
Ich bin immer wieder selbst erstaunt über die befreienden Phantasien, die sich einstellen, wenn körperlich-sinnliche Resonanz zum Patienten gewonnen werden konnte. Der Inhalt der Phantasien des Therapeuten enthält dabei nicht selten Erinnerungsmaterial eines Patienten, das bis dahin nicht angesprochen worden war. Dabei ist häufig verblüffend zu erleben, wie erstaunt und erleichtert Patienten diese intuitiven Einfälle erleben. Sie finden auf diesem Wege nicht selten wieder Zugang zu vergessenen bzw. abgewehrten Anteilen ihres Erlebens. Sie finden Zugang zu ihren moralisch-ethischen Vorstellungen, zu ihrem „in der Welt sein“. In Krisen-Interventionen können auf diesem Wege Symptome, zum Teil wie durch Zauberhand, beseitigt werden. Therapeuten, die diese Ergebnisse erstmals erlebt haben, berichten nicht selten voller Begeisterung von ihrer neu gewonnen intuitiven und defokussierenden Kompetenz.
D3.
Psychiatrische Kliniken
In psychiatrischen Kliniken lassen sich unterschiedliche Anwendungen defokussierender Gespräche erproben. In Gruppen- und in Einzelgesprächen mit Mitarbeitern aller Berufsgruppen sowie mit Patienten und Angehörigen ließen sich in Duisburg/Rheinhausen eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten erproben. Nachfolgend zwei Beispiele aus Drees (1997 und 2003): Ein 24-jähriger Wohnheimpatient kommt erneut in eine akut psychotischen Zustand mit angstvoll-autistischer Abwehr zur Aufnahme. Der aufnehmende Arzt kann im Erstkontakt den starren Blick des Patienten nur schwer aushalten. Ein Gespräch ist nicht möglich. Er versucht seine Empfindungen auf den Patienten einzustellen. Er fühlt sich dabei unsicher, wie schwimmend oder schwebend, ohne Halt. Es ist ihm dabei, als ob irgend etwas wie wild in ihm hin und her jage. Relativ rasch entsteht in ihm das Bild eines Scheibenwischers, der wie wild gegen die Regenmassen auf der Frontscheibe seines Autos ankämpft. Der Arzt öffnet dieses Bild sofort in ein Halt gebendes Gesprächsangebot an den Patienten und sagt: „Also, eigenartig, ich habe das Gefühl, wir zwei sitzen gemeinsam in einem Auto. Es regnet in Strömen. Die Scheibenwischer rasen wie wild über die Scheiben. Das Auto steht jedoch sicher. Wir sind an die Seite gefahren. Aber die aufblitzenden Lichter des Gegenverkehrs wirken weiterhin beängstigend.“ Hiernach entkrampfen sich der Blick und die Haltung des Patienten und er fragt überrascht: „Woher wissen Sie, dass ich zu Hause eine Autosammlung habe?“ Er beginnt dann stockend zu erzählen, dass er viele kleine Autos und Autobilder im Wohnheim in seinem Zimmer habe.
D. Besprechung anhand von Kasuistik / D3. Psychiatrische Kliniken
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Eigentlich habe er jedoch Angst um sein Kaninchen, dass er im Garten halte. Er wolle doch gern im Zoo oder im Zirkus Tierwärter werden, am liebsten für Löwen. Die Stimmung wurde jetzt wärmend vertrauensvoll.
Die noch immer vorherrschende Meinung in der Psychiatrie, dass bei akut erkrankten psychotischen Patienten Reizabschirmung und eine entsprechend hohe Medikamentendosis Grundvoraussetzung für eine Behandlung sei, lässt sich mit diesem Aufnahmegespräch relativieren. Voraussetzung war hier eine entsprechende Resonanzbereitschaft zum instrumentellen Einbringen der eigenen Befindlichkeit und der imaginativen Transformation. In einer Defokussionsgruppe für psychiatrische Krankenschwestern gelang es, für viele anfangs verblüffend, Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle bereits im Entstehen aufzulösen und hierüber Einblicke in Erlebensbereiche eines nicht anwesenden Patienten zu gewinnen. Noch verblüffender waren jedoch unerwartete und ungewöhnliche Ergebnisse der defokussierenden Gruppenarbeit. Hierfür ein Beispiel: Eine 54-jährige schwer depressive Patientin ist seit vier Wochen in unserer klinischen Behandlung. Sie leidet unter anderem seit mehr als zwanzig Jahren an einer ausgeprägten Aphonie. Die Patientin löste bei der sie betreuenden Schwester sehr bald Ekel und Abwehrgefühle aus. Über den Bericht der Schwester in der Gruppe konnten eine reihe differenter Stimmungsphasen durchlebt werden. Es beginnt mit körperlichen Missempfindungen im Mundbereich, Speichelfluss und Sprachstörungen bei zwei Gruppenmitgliedern, anschließend werden aggressive und distanzierte Erlebnisbilder wach. Schließlich wird nach einer lustvoll-lärmenden Stimmung eine tragend traurige Stimmungsphase erreicht und bildsprachlich ausgestaltet. Als Ergebnis dieser defokussierenden Gruppensitzung kann sich die Bezugsschwester dieser Patientin bereits am nächsten Tag ohne Ekel und Abwehr der Patientin nähern. Die übertragungsenge Beziehung ist aufgelöst. Und jetzt passiert etwas höchst Ungewöhnliches in einer Patientenrunde, die von der Bezugsschwester geleitet wird. Die Patientin spricht seit zwanzig Jahren erstmals, für alle Anwesenden überraschend, mit einer lauten, tiefen Stimme. Sie ist freudig erschreckt über ihre plötzlich wieder gewonnene Stimme und zeigt im Wechsel Stimmungen von Spannung, Freude und Trauer, welche die Schwester an die Gruppeneinfälle vom Vortag erinnert. Die Aphonie setzte zwar am Abend wieder ein, aber es gelang jetzt ein schrittweise stabilisierender Abbau der aphonischen Sprache.
Solche „wundersamen Heilungen“, die sich als Ergebnis defokussierender Imaginationen einstellen können, haben wir mit den Ergebnissen der „FlashTechnik“ Balints verglichen. Sie geben uns Hinweise auf die intuitiven Dimensionen defokussierender Kommunikation in der Behandlung von Patienten, die wir jedoch bisher nur als unzureichend nutzen gelernt haben, weil deren Ergebnisse als parapsychologische Phänomene missverstanden werden könnten.
492
D4.
VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
Gewalttraumatisierte Patienten
Mit dem nachfolgenden Beispiel möchte ich die besondere Bedeutung defokussierender Gespräche für gewalttraumatisierte Patienten aufzeigen. Ich habe umfassend in diesem Bereich berichtet in Drees: „Folter: Opfer, Täter, Therapeuten“ (1996). Eine kurdische Studentin, die 1/2 Jahr lang in der Türkei gefoltert worden war, berichtet über massive Beeinträchtigungen durch wechselnde körperliche Beschwerden. Sie beschreibt detailliert ihre Ängste, auf die Straße zu gehen, ihre nächtlichen Panikzustände und ihre Abwehr gegen sexuelle Kontakte zu ihrem Verlobten. Sie sitzt abwehrend und völlig verspannt vor mir. Sie spricht kein Wort Deutsch. Über eine Dolmetscherin, die bereit ist, sich in die Phantasiearbeit einzulassen, gelingt es, schreckliche Erlebnisschilderungen der Patientin mit einer Vielfalt unterschiedlicher Phantasie anzureichern. Verblüfft erlebe ich dabei, wie in mir, nachdem ich mich dem emphatischen Sog gemeinsamer Verzweiflung zu entziehen vermochte, Gefühle und Stimmungsbilder wach werden konnten, die der Patientin halfen, blockierte Erlebnisbereiche zu öffnen. In einer von der Patientin geschilderten, besonders grausamen Szene wurde in mir eine tragende Stimmung in einer herrlichen Gebirgslandschaft wach, mit weißen Vögeln im wolkenlosen Himmel. Die Stimmung der Patientin veränderte sich nach der Schilderung meiner Phantasie augenblicklich. Die verspannte Haltung der Patientin löste sich und sie berichtete erstaunt und beglückt von einer Gebirgswanderung mit ihrer Schwester, die viele Jahre zurücklag. Hiermit und hiernach gelang es zunehmend besser, blockierte praetraumatische Erlebnisbereiche wachzurufen und damit gesunde Ressourcen der Patientin zu mobilisieren, mit denen sich dann Foltererlebnisse entemotionalisieren und eingrenzen ließen. Ich lernte hierbei erneut, wie Halt gebende Ressourcen eines Patienten im Therapeuten wach werden können und wie damit Patienten Zugang zu ihren praetraumatischen Erlebnisfeldern zurückgewinnen.
Ich war überrascht, wie gut defokussierende Gespräche auch bei gefolterten Patienten möglich und sinnvoll sind. Traumatische Erlebnisse lassen sich dabei wachrufen, ohne quälende Retraumatisierungen und ohne die notwendige Selbststeuerung des Patienten zu gefährden. Ich selbst fühlte mich abschließend erstaunlich entspannt. Ganz anders, als bei vorher laufenden Versuchen mit vergleichbaren Patienten, bei denen ich mich empathisch in die grauenhaften Erlebnisse einzufühlen suchte. Darüber hinaus ist es für Patient und Therapeut entlastend, die defokussierende Arbeitsmethode einzubetten in die sachliche Besprechung aktueller Probleme. Als ebenfalls hilfreich und notwendig sehe ich hierbei die klare politische Stellungnahme des Therapeuten gegen Machtmissbrauch und Folter, ohne dass er sich dabei parteilich mit dem Patienten verbünden muss.
E. Zusammenfassung zur defokussierenden Imaginations-Therapie
D5.
493
Angstneurosen
Mit dem abschließenden Beispiel möchte ich den notwendigen Wechsel von defokussierenden und fokussierenden Einstellungen in prismatischen Langzeittherapien neurotischer Patienten skizzieren: Der Patient, ein Seelsorger, konnte seine Predigten nicht mehr von der Kanzel halten, da er dort von starken Schwindelgefühlen beherrscht wurde. In der zehnten Behandlungsstunde, es war in der dritten Adventswoche, beginnt der Patient das Gespräch mit kritischen Bemerkungen zum heutigen Weihnachtsrummel, bei dem es nur noch ums Geschäft ginge. Ich kann mich seiner Kritik anschließen und bitte ihn schließlich seine augenblickliche „Weihnachtsstimmung“ in ein Bild zu bringen. Der Patient, bereits gewohnt in dieser Weise Stimmungsbilder zu entfalten, schildert detailliert, wie er mit seinem nackten Hintern in einem Adventskranz sitze und zwischen leeren Dosen und anderem Abfall immer wieder gegen eine Kaimauer gespült würde. Drei Kerzen würden noch brennen, aber alles sei trostlos. Bei mir entsteht zur gleichen Zeit eine gehobene, fast heilige Stimmung. Ich phantasiere einen älteren weißhaarigen Mann, der in einer herrlichen Berglandschaft gemessenen Schrittes zu einem See geht, dort in ein Boot steigt, langsam zur Seemitte rudert, um dann in den Himmel aufzusteigen.
Diese komplementären Stimmungsbilder ermöglichten es, die ausgeprägte Ambivalenz des Seelsorgers zwischen seinem Wunsch nach einer erhabenen Haltung im Gottesdienst und seine Abwehr gegen ritualisierte Zeremonien, die seine Kindheit weitgehend beherrschten, zu thematisieren. Die Aufarbeitung dieser Probleme, bei der ich zeitweilig die Vaterübertragung zu übernehmen hatte – der Vater war übrigens auch Seelsorger – ermöglichte es ihm schließlich, seine Rolle im Gottesdienst in neuer Weise anzunehmen.
E.
Zusammenfassung zur defokussierenden Imaginations-Therapie
Defokussierende Gespräche mit deutungsfreien Imaginationen enthalten die Möglichkeit, Patienten in ihrem ganzheitlichen Erleben Symptomentlastend anzusprechen. Therapeuten, Berater und Betreuer, Seelsorger und Pädagogen sowie Patienten, Klienten und Auszubildende gewinnen hierbei neue Begegnungs- und Gestaltungs-Fähigkeiten. Im Rahmen dieser Beziehungs-übergreifenden Identitätsfindungsprozesse lassen sich Krankheitssymptome sowie familiäre und institutionelle Beziehungskonflikte verringern. Gerade in den Randgebieten der Psychotherapie – welche dieses Buch mit der Integrierten Psychotherapie ja besonders behandelt – scheint die beschriebene Methode ein weites Feld zu haben.
494
VII. Drees: Defokussierende Imaginationen in der Integrierten Psychotherapie
Quellenverzeichnis Drees A (1995) Freie Phantasien. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen Drees A (1996) Folter: Opfer, Täter, Therapeuten. Psychosozialverlag, Gießen Drees A (1997) Innovative Wege in der Psychotherapie. Psychosozialverlag, Gießen Drees A (2001) Intuition in der Sterbebegleitung. Pabst Science Publishers, Lengerich Drees A (2002) Prismatische Balintgruppen. Pabst Sciencs Publishers, Lengerich Drees A (2004) Prismatisch defokussierende Gespräche in der Psychotherapie. Pabst Science Publishers, Lengerich Drees A (2004) Prismatische Poesie. Pro Business GmbH, Berlin
VIII.
Psychoeduktion
ALBERT LINGG Prim. Dr. Albert Lingg FA für Psychiatrie und Neurologie Landes-Krankenhaus, A-6830 Rankweil Telefon: +43/0/55 22 – 4 03 – 21 00 Fax: +43/0/55 22 – 4 03 – 65 15 E-Mail: [email protected] Seit 22 Jahren Leiter einer psychiatrischen Abteilung am Landes-Krankenhaus. Vorher Ausbildung in Österreich bei Roland Kuhn (dem Entdecker des Tofranil) in Münsterlingen. Es gelang ihm, innerhalb eines über viele Jahre systematisch aufgebauten und kontrollierten Programms, etwa die Hälfte der Insassen des psychiatrischen Krankenhauses in Familien oder Wohnheimen unterzubringen. Publikationen und Forschung über Suizidprävention (zusammen mit R. Haller) und psychische Störungen bei geistig Behinderten (zusammen mit G. Theinissen).
Schlagwort-Information Psychoeduktion ist eine hervorragende Möglichkeit, auch Menschen mit schweren und langwierigen psychischen Störungen aus der Rolle des „zu Behandelnden“ zu mehr Partizipation und letztlich Selbstbemächtigung zu helfen, schließt Angehörige in konstruktiver Weise ein und verhilft den Profis nicht selten zu neuen Sichtweisen.
A.
Einleitung
Was hat dieser Beitrag über Psychoeduktion in einem Buch über „Integrierte Psychotherapie“ verloren? Einmal hält der Autor die Etablierung dieses Ansatzes in einer stationären wie nun auch verstärkt ambulanten psychiatrischen Versorgung für einen wichtigen Fortschritt der letzten Jahre. Wie noch auszuführen sein wird, verändert sich das Verhältnis zwischen Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfern dadurch in positiver Weise, in dem das gewachsene und vermittelte Wissen über die Grundlagen psychischer Störungen sowie bewährte
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VIII. Lingg: Psychoeduktion
Behandlungen nicht selten schwierige Entscheidungen leichter treffen lässt, Betroffenen und Angehörige soweit möglich einbezogen werden, was gleichzeitig auch mehr Selbstverantwortung und Selbstbemächtigung bedeutet. Meinem langjährigen und geschätzten „Nachbarn“ auf der neurologischen Abteilung, Prof. Barolin, war eben dies schon frühzeitig ein Anliegen, wie für ihn auch – und ich komme damit zum 2. Argument für diesen Beitrag – die Integration verschiedenster Denk- und Handlungsansätze in seinen Publikationen wie in seinem Tun immer hohen Stellenwert hatte. Gerade darin hat die Psychoeduktion auch eine ihrer Stärken, indem sie in verschiedenster Weise integrativ vorgeht, nämlich Betroffene, Angehörige und verschiedene Professionalitäten (Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen und Psychtherapeuten) involviert. Ferner stets versucht den erarbeiteten Erkenntnisgewinn auch direkt im Alltag umzusetzen, was übrigens einen Gutteil ihrer Wirksamkeit ausmachen dürfte. Ein drittes Argument und gleichzeitig eine Parallele zur Intention Barolins für seine „Integrierte Psychotherapie“ wäre noch, dass Psychoeduktion wie seriöse Psychotherapie zwar immer geplantes und reflektiertes Vorgehen bedeutet, also auch auf theoretischem Hintergrund basiert, gleichzeitig aber die den Betroffenen und sein Umfeld aktuell belastenden Probleme nie aus den Augen verloren werden, sich ferner über eine „gemeinsame Sprache“ Zugänge und damit Entwicklungen ergeben.
B.
Was ist „Psychoeduktion“?
Psychoeduktion (PE) ist ganz allgemein (1) der Versuch, komplizierte medizinisch-wissenschaftliche Faktoren so zu übersetzen und so zu „dolmetschen“, dass sie von den betroffenen Patienten und deren Angehörigen gut verstanden werden. Durch PE soll den betroffenen Patienten und ihren Angehörigen geholfen werden, die wichtigsten Informationen über die Erkrankung und die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen zu verstehen und zu begreifen. Das Verstehen-können der eigenen Erkrankung ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung jeder längerfristigen Erkrankung. Edukation dabei meint nicht Erziehung, vielmehr geht es um Schulung, betont wird also der informative, didaktische Aspekt der Behandlung. Näherliegend wäre die Ableitung von „Edukation“ vom lateinischen Wort „educere“, was „herausführen“ heißt. Betroffene und Angehörige sollen also aus dem Zustand der Unwissenheit und der Unerfahrenheit herausgeführt werden, wozu reine Wissensvermittlung nicht ausreicht, sondern – und hier kommen wir in die Nähe der Psychotherapie – es des Eingehens auf die Betroffenen mit all
B. Was ist „Psychoeduktion“? / C. Fließende Übergänge
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ihren Widerständen, Ängsten und Vorurteilen bedarf. Betroffene müssen in ihrer jeweiligen Situation wahr- und angenommen werden, ein psychotherapeutisches Verständnis ist also die Voraussetzung für ein Gelingen (2). PE hat sich so auch vieler Orts von der reinen Wissensvermittlung zu einer vornehmlich lerntheoretisch begründeten Vermittlung von Problemlösungsfähigkeiten weiterentwickelt. Es soll zur besseren Lösung allgemeiner Alltagsprobleme verhelfen und zur effektiveren Bewältigung von Schwierigkeien führen, die sich im Verlauf der Erkrankung und/oder im Verhalten gegenüber dem kranken Familienmitglied ergaben. Angestrebt wird aber auch ein adäquater Umgang mit überdauernden (therapierefraktären) Krankheitssymptomen (2).
C.
Fließende Übergänge
Fließende Übergänge zwischen Wissensvermittlung und Psychotherapie werden also akzeptiert, gleichzeitig wird darauf geachtet, dass die Psychoeduktion ihre ursprüngliche Intention bewahrt. Betroffene mit besonderem Bedarf an psychotherapeutischer Aufarbeitung werden sodann auch in Einzeltherapie vermittelt, da ansonsten die Gruppe überfrachtet wäre bzw. einsichtiges Dominieren einer Thematik oder eines Teilnehmers den Fortgang des psychoedukativen Programms behindern würde. Informationsvermittlung ist von jeher integraler Bestandteil vor allem bei Einleitung einer Verhaltenstherapie, die betont, dass Patient und Therapeut in ein möglichst gleichberechtigtes Behandlungsbedürfnis eintreten sollten. Eine Voraussetzung dafür ist, dass der Patient weiß, worum es sich bei der vorliegenden Störung handelt und aus welchen Schritten die Behandlung im Einzelnen bestehen wird. Bei PE ist der informationsvermittelnde Anteil als Hauptschwerpunkt der Intervention anzusehen, gleichzeitig werden im Verlauf die nach Grawe (3) im psychotherapeutischen Handeln reflektierten Perspektiven wie Transparenz, Strukturiertheit, Kompetenz und motivationale sowie z. T. interaktive Aspekte berücksichtigt (4). Betroffene und Angehörige werden durch PE aktiv in die Therapie einbezogen. Behandlung wird dadurch zunehmend zur Mitbehandlung bzw. Fremdbestimmung zur Mitbestimmung. Im Hinblick auf den Einbezug von Angehörigen in die psychoeduktiv ausgerichtete Behandlung gilt, dass PE keine Therapie der Familie oder bestimmter Familienstrukturen bedeutet. Dies bleibt speziellen Ansätzen (vor allem der systemischen Therapie) vorbehalten.
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D. • • • • • • • •
VIII. Lingg: Psychoeduktion
Allgemeiner Aufbau psychoeduktiver Interventionen
Informationsphase Gegenseitiges Vorstellen von Therapeuten und Teilnehmern Austausch über das Erleben der psychiatrischen Erkrankung Vermittlung der zentralen Wissensinhalte zur Symptomologie Austausch über subjektive Theorien zu Entstehung, Verlauf und Therapie Wissensvermittlung zur Krankheitsgenese, -verlauf, -behandlung Erarbeiten eines möglichst gemeinsamen Krankheitsmodells Therapeutische Phase
D. Interventionen / E. Setting, Ablauf, personelle Voraussetzungen
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• Vermittlung von Fähigkeiten zur Symptombewältigung bzw. Verhaltensmodifikation • Umsetzung in den Alltag und Generalisierung (2). Während PE zunächst stark an gruppenweise durchgeführte Schulungen von z.B. unter Diabetes oder koronarer Herzerkrankung leidenden Personen angelehnt war, wird in der Psychiatrie heute in der Regel neben dieser z.B. über Folien vermittelbarer Wissensvermittlung besonders dem subjektiven Krankheitserleben und den Vorerfahrungen Betroffener mit verschiedenen Bewältigungsversuchen Platz gegeben. Ausgangspunkt soll also jeweils die individuelle Erfahrung des Betroffenen mit seiner Krankheit sein, er soll in seinem subjektiven Erleben ernst genommen und von dort abgeholt werden, sein eigenes Krankheitsverständnis soll nicht gleich als zu korrigierend betrachtet, sondern die darin enthaltenen konstruktiven Ansätze sollten auch wertgeschätzt werden. Hinsichtlich Wissensvermittlung wird selbstverständlich auf den aktuell wissenschaftlich gesicherten Kenntnisstand zurückgegriffen und auf eine klare und dem Laien verständliche Sprache geachtet. Noch unklare Sachverhalte hinsichtlich Genese, vor allem aber auch Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungsansätze sind gleichfalls darzustellen, wobei gerade hier wieder auf Vorerfahrungen der Betroffenen eingegangen werden sollte (2). PE kommt so zunächst individuellem Erleben und Verständnis der Krankheit über die Darstellung der heutigen Lehrmeinung immer wieder zurück zum Einzelnen, dem zum einen verständliche Information und damit auch besseres Rüstzeug für den Umgang mit seiner häufig sein Leben immens belastenden, rezidivierenden oder primär chronisch verlaufenden Erkrankung (z.B. Schizophrenie oder Zwangsstörung) mitgegeben, gleichfalls Katharsis und Austausch wie Lernen in der Gruppe ermöglicht wird.
E.
Setting, Ablauf, personelle Voraussetzungen
PE kann in psychiatrisch-psychotherapeutische Einzelbehandlung integriert werden, wird jedoch meist in Gruppen durchgeführt. Sie wird häufig im stationären Rahmen begonnen und eventuell (bei der heute üblichen, kurzen Dauer der Hospitalisierung) nach Entlassung ambulant fortgesetzt. Die Gruppen sind in der Regel homogen zusammengesetzt, was die Krankheitsbilder betrifft. Der Beginn während der stationären Behandlung hat den Vorteil, dass die jeweiligen Themen oder Vorsätze dann im Klinikalltag reflektiert
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umgesetzt werden können, die PE also Teil der Therapie- oder Pflegeplanung wird, der Betroffene seine diesbezüglichen Fortschritte oder Schwierigkeiten mit seinem Bezugspfleger oder Therapeuten laufend besprechen kann. Gruppen für Betroffene werden in der Regel wöchentlich und über 1–2 Stunden angesetzt, der Rahmen bewegt sich zwischen 8–30 Sitzungen. Angehörige werden in der Regel parallel geführt und z.B. monatlich eingeladen. Idealerweise werden die Therapeuten sowohl in der Betroffenen- wie Angehörigengruppe eingesetzt und betreuen diese Patienten auch auf der Station. Mehrjährige klinische Erfahrung und psychotherapeutisches Basiswissen sind Voraussetzung. Ideal ist die Teilnahme mindest eines erfahrenen Psychotherapeuten an den Gruppen.
F.
Anwendungsbereiche
Erstmals wurde der Begriff Psychoeduktion in den USA in den 80er Jahren gebraucht, wo sie in der Behandlung von Patienten mit schizophrenen Störungen eingesetzt wurde. Zwischenzeitlich werden solche Gruppen auch für affektive Störungen, Angsterkrankungen und andere Störungen angeboten. Im deutschsprachigen Raum hat sich 1996 eine Arbeitsgruppe von Kliniken gebildet, welche einen Konsensus erarbeitet hat, in dem unter anderem auch die Entwicklung und Umsetzung entsprechender Verfahren für möglichst viele psychische Störungen als wünschenswert erachtet wurde. Ein- und Ausschlusskriterien: Akut erkrankte Patienten mit massiven Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie psychosomatisch stark erregte Personen eignen sich nicht bzw. sollten erst nach Abklingen dieser kognitiven oder Antriebsstörungen zu einem späteren Zeitpunkt eingeladen werden. Daneben gibt es keine Kontraindikationen. So die Gruppenleiter über entsprechende Erfahrung verfügen, können also auch Menschen mit manifestem Wahn, produktiver Symptomatik im Sinne von Halluzinationen oder maniform verstimmte Patienten einbezogen werden. Angehörige und Freunde: Sie sind durch psychische Erkrankungen besonders gefordert und häufig überfordert, leiden mit und interagieren nicht immer zum Vorteil der Betroffenen. Über die Vermittlung von Wissen und – nicht weniger wichtig – das Erleben von Verständnis für ihre Nöte können sie meist viel mehr Stabilität und Zuversicht vermitteln, anstatt durch Ablehnung, übertriebene Ängstlichkeit, Überbesorgtheit und andere Zeichen einer
F. Anwendungsbereiche / G. Eigene Erfahrungen und Ergebnisse
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sogenannten high-expressed-emotion, den Krankheitsverlauf, wie durch entsprechende Untersuchungen in den 60er Jahren belegt, zu komplizieren. Gezielte Einbeziehung der Angehörigen soll gemäß Untersuchungen (1) Rückfallraten bei schizophrenen Störungen verringern oder, wie weitere Studien zur Wirksamkeit von PE belegen (5), auch in längeren Katamnesen die stationären Wiederaufnahmeraten deutlich senken. Neben diesen messbaren Kriterien sind fraglos auch positive Auswirkungen auf die Lebensqualitäten für Umfeld und Betroffene gegeben.
G.
Eigene Erfahrungen und Ergebnisse
Aus dem Klientel soziotherapeutisch ausgerichteter Stationen unserer psychiatrischen Abteilung werden seit sieben Jahren Parallele Gruppensitzungen mit Patienten und Angehörigen abgehalten. Die Führung der Betroffenen-Gruppe obliegt einer erfahrenen Psychotherapeutin (Psychologin). Daneben nehmen verbindlich eine diplomierte Krankenschwester sowie turnusmäßig ein Assistenzarzt (auch aus Ausbildungsgründen) teil. Die Angehörigengruppe wird von einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zusammen mit einer diplomierten Pflegeperson geführt. Eine Vernetzung mit der Stationsarbeit wie auch später mit der ambulanten Behandlung ist damit meist gegeben. Die in den Gruppen besprochenen Inhalte oder hervorstechenden Probleme des einzelnen Patienten werden so auch zwischen den Gruppenterminen weiter thematisiert und in die Soziotherapie eingespeist. Dabei ist vor allem auch die wöchentliche Reflexion des Fortgangs von den Betroffenen mit ihren Bezugspflegern über Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen hilfreich. Entsprechende Diskrepanzen können dann thematisiert und hinterfragt werden. Auch wird die Compliance des Patienten im Alltag offensichtlich und damit eine realistischere Zukunftseinschätzung und -planung eher möglich, mitunter auch offensichtlich, dass der Betroffene doch nicht in Selbstständigkeit, sondern in eine betreute Umgebung entlassen werden sollte, da er mit seiner Selbstversorgung oder oralen Medikation nicht zurande kommt, seine Angehörigen einer Stütze bedürfen, eine Überversorgung vermieden werden sollte u. v. a.m. Eine wesentliche Erkenntnis ist auch, wie dringlich auf eine adäquate Sprache in diesen Gruppen geachtet werden muss – in der Regel sind wir Helfer viel zu sehr in unserem pofessionellen Slang verfangen. Mit am eindrücklichsten ist ferner, wie viel leichter Betroffene häufig voneinander Kritik, Korrekturen, andere Sichtweisen annehmen, also voneinan-
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der lernen! So kommt es immer wieder vor, dass dissimulierende oder krankheitsuneinsichtige Patienten von anderen Betroffenen auf ihre Skotome oder Verleugnungen angesprochen werden, eine andermal durch den Bericht eines Kollegen über seine für ihn offensichtlich durch Drogenkonsum ausgelösten Abstürze in psychotische Krisen viel mehr zum Nachdenken gebracht werden als durch diesbezügliche Erörterungen des Arztes. Aus jenen Gruppen heraus sind uns auch immer wieder wesentliche Entscheidungshilfen für die Indikation individueller Psychotherapie oder kognitivem Training für psychotisch Erkrankte entstanden. Eine Evaluation (6) ergab bei 52 an durchwegs schweren schizophrenen oder schizoaffektiven Psychosen Erkrankten, welche (19 davon 2 x) psychoedukative Gruppen durchlaufen hatten, eine Wiederaufnahmerate von nur 21 % (1996) und 18% (1997) innert eines Jahres, womit eine Stabilisierung erreicht wurde, wie sie sonst nur unter depot-neuroleptischer Behandlung, dann allerdings mit wesentlich mehr Begleitwirkungen, also schlechterer Lebensqualität, zu erreichen ist.
H.
Zusammenfassung zur Psychoeduktion
In der Psychoedukation geht es darum, Patienten, Angehörige und Pflegepersonen gleichermaßen Information über die Erkrankung und über erforderliche Behandlungsmaßnahmen zu geben. Es besteht dabei ein fließender Übergang zwischen Wissensvermittlung und Psychotherapie, da der informationsvermittelnde Anteil durch bessere Transparenz und Motivation an sich psychotherapeutisch wirkt, überdies die zusätzlichen psychotherapeutischen Techniken sowohl dem Patienten wie auch der Familie plausibler gemacht werden. Es werden parallele Betroffenen-Gruppen und Angehörigen-Gruppen in der Klinik gebildet, wobei spezielles Augenmerk auf klare Verständlichkeit zu legen ist. Die allgemeinen Erfahrungen der Gruppenpsychotherapie (I. D3) kommen dabei zum Tragen, dass nämlich Ratschläge, die aus der Gruppe von Betroffenen selbst kommen in der Regel leichter angenommen werden als ärztliche. Durch systematische Psychoedukation im eigenen Arbeitsbereich konnten die Familien- oder Wohnheimunterbringungsmöglichkeiten deutlich gebessert und die Wiederaufnahmerate vermindert werden. Es ergeben sich Erfolgsraten, die der Einstellung auf die Depot-Neuroleptika vergleichbar, aber mit besserer Lebensqualität verbunden sind.
H. Zusammenfassung zur Psychoeduktion
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Quellenverzeichnis (1) Bäuml J, Pitschel-Walz G, Bsan A, Kissling W (1999) Psychoedukative Gruppe bei Angehörigen von schizophrenen Patienten. In: Hartwich P, Pflug B (Hrsg) Schizophrenien – Wege der Behandlung. Wissenschaft und Praxis, Berlin (2) Hornung WP, Buchkremer G (2003) Psychoedukation und Angehörigenarbeit. In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie. Springer (3) Grawe K, Donati R, Bernauer F (1994) Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Hochgrefe, Göttingen (4) Elmer OM (1996) Psychoedukation versus Psychotherapie? Fortschr Neur Psychiatrie 64 (Sonderheft 1) (5) Pitschel-Walz G, Leucht S, Bäuml J, Kissling W, Engel RR (2001) The Effect of Family. Interventions on Relapse and Rehospitalisation in Schizophrenia. Schizophrenie Bulletin 27 (1.) (6) Palli R, Rehberger B (1997) Psychoedukation bei schizophrenen Störungen in der Praxis. Poster anlässlich 3. Schizophreniesymposiums BKH Haar
Glossar Betrifft diejenigen Fachausdrücke, die im Buch nicht näher erklärt sind (sei es direkt an der Stelle, sei es durch Verweis auf andere Stellen). Pfeile bedeuten Verweise auf andere Begriffe im Glossar. Verweise auf das Buch bezeichnen Stellen, wo der Begriff ausführlich erklärt ist.
Abstinenz: In zweierlei Bedeutungen gebraucht, die nur in losem Zusammenhang sind. 1. die sexuelle Abstinenz, die jedem Arzt und Psychotherapeuten dem Patienten gegenüber Pflicht sein muss (I.H1). 2. die therapeutische Abstinenz, die den Analytiker hindert, vorschnell und/oder zu viel zu agieren (IV.D1). Affektive Störungen: Störungen der Gestimmtheit. Alpha: Aus der Schindler’schen Terminologie: Die Führungsposition in einer Gruppe, in anderen Terminologien auch „Star“ genannt. Alpha-Wellen: elektroenzephalographischer Ausdruck des Gehirns in Ruhe (I. A1). Amyotrophe Lateralsklerose: Eine fortschreitende Nerven-Muskel-Erkrankung, die auf unserem heutigen Medizinstand zwar durch Rehabilitationsmaßnahmen kurzfristig zu bessern, aber unheilbar ist. Antidepressiva: → Psychopharmaka Arousal-Reaktion: Aktivierung, zeigt sich vor allem im EEG durch Blockierung der Alphawellen. AT: Gängige Abkürzung für Autogenes Training (I.C4). Autonomie: bedeutet im Hinblick auf den Alters- und Rehabilitationspatienten die Erhaltung seiner Selbstständigkeit, Selbstentscheidungsfähigkeit; bezieht sich neben den körperlich-geistigen Fähigkeiten auch auf eine adäquate finanzielle Absicherung (je nach dem Stadium der Behinderung in dem der Patient sich befindet, geht es jeweils um das „Bestmögliche“). Ätiologisch: Vom Ursprung respektive der Verursachung her (im Gegensatz zu → symptomatisch). Balintgruppe: Von Balint eingeführtes Fortbildungsinstrument für praktizierende Ärzte, um sie darin durch Falldarstellungen und deren Besprechung mehr auf die psychodynamischen Zusammenhänge hinzuweisen. Basale Stimulation: I.F4
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Glossar
Begleitdepression: Im Arbeitskreis von Barolin eingeführter Ausdruck für gleichzeitiges Vorliegen einer körperlichen Erkrankung (respektive eines körperlichen Leidens) plus Depressivität (I.B3). Bobath-Konzept: Ein System der heilgymnastischen Behandlung auf neurophysiologischer Basis. Es ist heute eine der Grundlagen der Physiotherapie und Rehabilitation und wird vielfach integriert mitverwendet. Borderline-Störung: Persönlichkeitsstörung, die an der Grenze (= borderline) zwischen Psychose und Neurose steht, überschneidet sich weitgehend mit dem, was nach Kurt Schneider als „Psychopathie“ klassifiziert wurde, später „Charakterneurose“: Instabilität des Selbstbildes der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Stimmung. Gilt als psychotherapeutisch schwer respektive un-behandelbar. Kernberg hat sich speziell damit befasst und versucht, spezielle therapeutische Wege dafür aufzuzeigen (A4). Botenstoffe: → Neurotransmitter Burn-out-Syndrom: Ein psychophysischer Erschöpfungszustand, der sich bei zu intensiv und zu lange Pflegenden einstellen kann, zeigt sich in Depressivität, Widerwillen gegen die pflegende Tätigkeit, psychosomatischen Beschwerden. B3 Containing: „Behälterfunktion“. Fähigkeit des Analytikers die Projektionen des Patienten aufzunehmen (ohne sie auszuagieren); um sie dem Patienten in einer „verdaulichen“ Form wiederzugeben. Criterium crucis: Hauptentscheidungsmerkmal Dissoziative Störungen: Werden unter die Abwehrmechanismen (nach Freud) gezählt. Verlust oder Unterbrechung der integrativen Funktion von Wahrnehmung, Gedächtnis und Bewusstsein gehen immer mit einer Störung der Bewusstseinsklarheit einher, z.B. psychogene Amnesie, psychogene Dämmerzustände. Aber auch → Konversionen. Vergl. I.A3; IV.C1. DSM 4 („4“ = die derzeit gültige Version): Diagnostic and statistical manual of mental disorders der American psychiatric association. Dyspareunie: Störungen der geschlechtlichen Vereinigung, die auf die unterschiedlichsten Ursachen zurückgehen können. Einerseits Errektionsschwierigkeiten beim Mann, anderseits Schmerzhaftigkeiten bei der Frau, etc. Dysphorie: Missstimmung Empathie: Einfühlung; warmherziges inneres Mitschwingen mit den Emotionen des anderen. (I.A1.). Amüsanterweise ist dieses Wort ursprünglich aus dem Deutschen „Einfühlung“ entstanden, dann mit Empathy ins Englische übersetzt worden und als Anglizismus wieder zu uns zurückgekommen (Milch). Ergotrop: → Vegetativum
Glossar
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Es: → Strukturmodell Flash back: Sowohl mnestisch als auch emotionales Wiederauftauchen früherer belastender Ereignisse. Kann bis zu → dissoziativen Störungen führen. Flash-Technik Balints: Therapeutische Interventionen, die aufgrund einer plötzlich klar werdenden Intuition vom Therapeuten gemacht werden und dann oft erstaunlich richtig und wirkungsvoll sind. Ähnlich dem in I.A4 genannten Aha-Erlebnis. Fokaltherapie: Bezieht sich nur auf den enger umschriebenen aktuell störenden Problemkreis. Funktionell: Funktionelle Störung. Störung ohne fassbaren Befund im organischen Bereich (bezüglich Schmerzen vergl. G2). Wird allerdings auch gebraucht als „funktionelle Überwertung“, d. h. ein organisches Substrat wird aus psychischen Gründen mit einer wesentlich schwereren Auswirkung empfunden als es der eigentlichen Organstörung entspricht. Gegenübertragung: → Übertragung. Hippokampale Strukturen: (genannt werden Mandelkerne, Amygdala) alte Hirnanteile, welche mit den Emotionen viel zu tun haben. Histrionische Persönlichkeitsstörung: Übermäßige Emotionalität und Geltungsstreben, weitgehend gleichsinnig mit dem, was früher hysterisch bezeichnet wurde. Holding-function: Ähnlich wie → Containing, aber mehr auf die physiologischen Gegebenheiten bezogen, wie Hautsensibilität, Berührung, etc. Diese Haltefunktion der Mutter soll durch den verbalen Kontakt wiederholt und dem Patienten gezeigt werden, dass seine tiefsten Ängste Verständnis finden. Hospiz(-Gruppen, -Organisation, -Station, -Gedanke): Die sinnvolle Befassung mit unheilbar Kranken, denen optimale → Palliativtherapie gegeben werden soll. ICD: International statistical classification of diseases and related healthproblems der Weltgesundheitsorganisation. „10“ ist die bis dato letzte Version. Ich: → Strukturmodell Identifikation: Nachahmung eines Vorbilds (Freud: „Introjektion des → Objekts in das → Ich“). Ideomotorische Antwort: Kleine Körpersignale (z. B. den Finger heben), die aus dem Unbewussten kommen und nicht willkürlich gesteuert werden, geben die Möglichkeit von einem hypnotisierten Patienten seine Empfindungen respektive Reaktionen zu erfahren. Imagination: Bildhafte Vorstellung, spielt vor allem bei der → KIP (I.F5) und
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Glossar
der defokusierenden Methode (VII) von Drees eine Rolle; weiters auch bei Weiterführung des AT (I.C4; III.C) Imaginative Transformation: Ausdruck aus der defokusierenden Psychotherapie von Drees (VII). Bedeutet, dass durch Imaginationen Stimmungsinhalte vom Therapeuten auf den Patienten weitergegeben werden können. Imperativer Harndrang: Zwanghaftes krampfartiges Wasserlassen, fallweise so plötzlich, dass keine Möglichkeit ist, es aufzuhalten. Häufig bei MS oder nach Schlaganfällen. Internalisierung: sich zu eigen machen, also eine neue Erfahrung in das Gefühls- und Vorstellungsleben voll eingliedern. Introspektion (Innenschau): Erinnerung oder Erkenntnis mit starker emotionaler Beteiligung (englisch: emotional insight) wird bei unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren angestrebt. Ihr Auftreten macht u.a. aus der Hypnose mehr als nur eine „zudeckende“ Maßnahme (als was man sie fälschlicherweise noch teilweise auffasst). Katalepsie: Steifes Verharren in einer bestimmten Körperhaltung, speziell die Armkatalepsie wird als Hypnosetest verwandt, wobei der Arm dann in der Luft verharrt und nicht nur selbsttätig nicht zurückfällt, sondern auch muskulären Widerstand gegen eine passive Lageveränderung leistet. Katharsis: Abreaktion, die in der Regel einen erleichternden und Symptombessernden Effekt hat. KIP: Katathyme Imaginationspsychotherapie (I.F5). Kollektives Unbewusstes: Entstammt der Jung’schen Terminologie, meint Empfindens- und Verhaltensmuster, die aus der Ahnenreihe herübergekommen sind und teilweise archaisch bis ins Tierreich zurückreichen. Vergl. auch I.A4. Konnotation: Bedeutungsgebung. Konversion: (nach Freud) Umsetzung eines psychischen Konflikts in somatische Symptome, z. B. Lähmungen, Schmerzen. Libido: Zentraler Begriff der Freud’schen Theorie: die auf den Lustgewinn der erogenen Zonen gerichtete sexuelle Energie. Da Freud den Libido-Begriff auch für die gesamte Entwicklung des Kindes einsetzt, haben Kritiker seine Lehre als „Pansexualismus“ abgelehnt. Jung bezeichnet hingegen als L. den allgemeinen Lebenswillen und die allgemeine Lebenskraft. Lubrifikation: Gleitfähigwerden der Scheide durch Schleimabsonderung. Mandelkerne: (siehe Hippokampale Strukturen). Menarche: Zeitpunkt der ersten Regel. Milgram-Experiment: Versuchspersonen wurden angewiesen, einem Menschen schmerzhafte elektrische Schläge zuzufügen. Das „Opfer“ wurde von
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einem Schauspieler überzeugend gespielt. Seine Schmerzäußerungen und seine Bitten doch aufzuhören, hörte und sah der Schmerzausteilende, war aber instruiert, dass es sich um ein wissenschaftliches Experiment handle, welches zeigen sollte, inwiefern Schmerz-Zufügung das Lernverhalten bessern könne. Ein Versuchsleiter gab Anweisungen, die Intensität der elektrischen Schläge (und damit deren Schmerzhaftigkeit) laufend zu steigern, unabhängig von den Schmerzäußerungen des Elektrisierten, da es wissenschaftlich wichtig sei. 2/3 aller Versuchspersonen steigerten auftragsgemäß die Intensität der Schmerzausteilung bis zum Maximum. Es herrschten nur geringe Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Amerikanern und Deutschen. Akademiker zeigten sich besonders leicht zur Grausamkeit zu animieren (wohl aus unkritischem „Glauben an die Wissenschaft“, die leider im Studium vielfach als unbestreitbares Dogma dargeboten wird, statt Entscheidungs- und Auswahlüberlegungen zu fördern). – Mehrfache Wiederholungen unter anderen Bedingungen und mit anderen Populationen ergaben im Wesentlichen das gleiche Resultat. Das Milgram-Experiment wird vielfach angeführt, um die leichte Negativ-Beeinflussbarkeit des menschlichen Gewissens durch Autorität und Umstände zu apostrophieren. MRI: Magnetresonanz-Imaging. Eine Untersuchungstechnik der modernen bildgebenden Verfahren. Narko-Analyse: Facilitation der analytischen Erkenntnisse und Behandlung durch hemmungslösende Substanzen (Thiopental, Valium); heute kaum mehr im Gebrauch (I.A4) Narrativer Ansatz: Die Aufmerksamkeit des Therapeuten wird auf die Art des Erzählens gerichtet, einschließlich der nonverbalen Begleitung, der Veränderungen bei mehrmaligem Erzählen, typischen Auslassungen etc. Durch neue Beschreibungen können neue Geschichten mit neuen Überschriften entstehen. Daraus abgeleitet, neue kognitive und emotionale Handlungsmuster. Narzissmus: Selbstgefälligkeit, Selbstverliebtheit (aus der griechischen Sage: Narziss ist ein Jüngling, der sich in sein Spiegelbild im See verliebte), daraus resultierend Unduldsamkeit gegen andere, Arroganz etc. Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Früh entwickelte Störung mit übersteigerter Vorstellung von sich selbst, „grandioses Selbstbild“. Führt zu mangelnder → Empathie, verstärkter Ausbeutung anderer. Laut Kernberg häufige Reaktion auf ein gleichgültiges kaltes Elternhaus. Neuroleptika → Psychopharmaka Neurose: Heute „offiziell“ in den neuen Nomenklaturschemata nicht mehr gebrauchter Ausdruck, jedoch nach wie vor aktuell (I.A4).
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Glossar
Neurotransmitter: Im Körper selbst entstehende Überträgersubstanzen, die an den Synapsen des Nervensystems ihre Wirkung entfalten. Man weiß derzeit von über 50 Substanzen, dass sie als Neurotransmitter fungieren. Man kann gewisse Transmittersysteme bestimmten Verhaltensmustern zuordnen. Objekt: Person (oder auch Gegenstand, siehe → Übergangsobjekt), wozu eine persönliche Beziehung aufgenommen wird (Objektbeziehung), die von Freud als → „libidinös“ bezeichnet wird. Das führt zu verschiedenen Arten der → Übertragung. Selbstobjekt: der Analytiker stellt sich selbst als Beziehungsobjekt für den Patienten „zur Verfügung“. Ödipus(-Komplex, -Situation): Gestalt aus einer griechischen Tragödie des Sophokles. König, der durch eine Verkettung von Umständen seinen Vater Lajos erschlug und dann dessen Frau, also seine Mutter, heiratete. Als er später von dem wahren verwandtschaftlichen Sachverhalt erfuhr, strafte er sich selbst durch Blendung. – Freud sieht darin ein zentrales Problem der menschlichen Entwicklung, nämlich die Liebe des männlichen Kindes zur Mutter (die er → libidinös sieht) und daraus resultierende Konkurrenz bis Feindschaft vom Sohn zum Vater. Palliativtherapie: Behandlung von unheilbar Kranken, die keine diagnostischen und/oder ätiologisch angreifende Ziele mehr hat, sondern sich auf Optimierung der Lebensqualität (Schmerzfreiheit, Entängstigung etc.) konzentriert. (Von Pallium, der umhüllende Mantel.) Baumgartner nennt es „lindernde Medizin“. Parasuizidale Handlung: Heute richtigerweise gebraucht statt dem früher üblichen „Selbstmordversuch“. Pathoplastisch: Das Bild einer an und für sich bestehenden Erkrankung verändernd; z. B. bei der „pathoplastischen Wirkung der Gutachtenssituation“: verstärkend. Peer-group: Gruppe der Gleichaltrigen. PET: Positronenemissions-Tomographie. Eine Untersuchungstechnik der modernen bildgebenden Verfahren. Phallus: männliches Glied. Phallische Phase: nach der Freud’schen Triebtheorie etwa mit 4 Jahren. Phallische Fixierung: Ist gekennzeichnet durch rücksichtslosen Durchsetzungswillen und Penetranz. In pathologischen Fällen kann ein Rückfall in diese Verhaltensweisen in der Pubertät und auch im Erwachsenenalter erfolgen. Phallozentrismus: Einseitige Bewertung der menschlichen Beziehung ausschließlich nach der sexuellen Leistungsfähigkeit.
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Placebo: Gabe eines von der Substanz her unwirksamen Scheinmedikamentes, vor allem zur Austestung der pharmakologischen Wirksamkeit neuer Medikamente verwendet. Das Placebo ist aber nur scheinbar unwirksam, vielmehr ein Vehikel ärztlicher Suggestion und kann auch körperliche Wirkungen entfalten (I.C3). Der Patient, welcher auf Placebo gut anspricht („Placebo-responder“), darf daher nicht als Simulant desavouiert werden. Simulation spielt sich meist auf andere Art ab und ist vom geschulten klinischen Blick meist leicht zu durchschauen (G2). Der Placebo-Responder ist vielmehr ein besonders kooperativer Patient, der viel Vertrauen in den Arzt und dessen Suggestion hat. Pleonasmus: Doppelbezeichnung. In einem Wort wird 2 x das Gleiche ausgesagt. Beispiel: Augenoptiker. Pollakisurie: Vermehrtes oftmaliges Wasserlassen ohne Harnvermehrung. Häufig auch kombiniert mit → imperativem Harndrang: kann zentrale Ursachen (z. B. MS, Schlaganfall) haben, oder lokale (z. B. Blasenentzündung). Positivieren: nennt Barolin es, wenn Unangenehmes, Angst Machendes (etwa Mitteilung einer unheilbaren Krankheit, eines schlechten Befundes etc.) zwar wahrheitsgemäß dem Patienten übermittelt wird, aber in einer Formulierung, welche die darin enthaltenen positiven Komponenten in den Vordergrund rückt. Beispiel: Derselbe Zustand kann bezeichnet werden als „das Glas ist halb voll“ oder „das Glas ist halb leer“. Es soll das nicht nur ein rhetorischer Trick, sondern eine ärztliche Einstellung sein (I.B2). Projektion: Es wird eine frühere menschliche Beziehung in eine neue gefühlsmäßig eingebracht, so dass in die neue Beziehung Eigenschaften einfließen, welche von der alten herkommen und für die neue nicht stimmig sind. Beispiel: Einer, der bei einer Verkehrskontrolle völlig unmotiviert und sinnlos mit einem Polizisten zu streiten anfängt, weil er in diesen seinen strengen Vater „hinein projeziert“, mit welchem unaufgearbeitete Konflikte bestehen. Psycholytische Therapie: Facilitation bildhafter Halluzinationen durch gewisse Halluzinogene und ihre Einbeziehung in ein simultanes und folgendes therapeutisches Gespräch. Heute nicht mehr aktuell (I.A4). Psychopharmaka: sollte korrekterweise psychotrope Substanzen heißen, aber der Ausdruck ist eingebürgert. Man unterscheidet dreierlei wesentliche Gruppen: a) Thymoleptika oder Antidepressiva: depressionsbessernd b) Neuroleptika: vor allem bei Psychosen im Einsatz b1) niederpotent und hochpotent sind etwas unglückliche, aber offizielle Ausdrucksweisen, welche die geringere oder höhere Wirkung bezogen auf die Milligramm-Dosis signalisieren, nicht aber eine geringe
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oder starke Wirkung des Medikamentes an sich. Die niederpotenten Neuroleptika (muss man also relativ hoch dosieren) sind gleichzeitig müdmachend und Schlaf-anstoßend, die hochpotenten Neuroleptika muss man in wesentlich geringerer Dosis verabreichen, sie sind eher antriebsfördernd. c) Tranquillizer: beruhigen nur und machen müde (Schlaf-anstoßend) haben aber keine depressionslösende oder antipsychotische Wirkung, bergen die große Gefahr des Abusus bei disponierten Persönlichkeiten. (I.B3). Psychotrop: Auf psychische Zustände und/oder Abläufe wirksam. Pygmalion-Phantasie: Ovid schildert einen einsamen griechischen Bildhauer, der eine Frau nach seinen Vorstellungen aus Elfenbein schnitzt, in die er sich schließlich verliebt und in Gebeten zu Aphrodite erreicht, dass sie zum leben erweckt wird. Bernhard Shaw lässt im gleichnamigen Theaterstück einen berühmten Linguisten wetten, dass er ein Blumen-Mädchen zu einer Dame der Gesellschaft machen kann. Sie verlässt ihn schließlich. Daraus wurde das Musical „My fair lady“, bei dem jedoch ein wechselseitig glücklicher Ausgang aufgesetzt wurde, ebenso in dem Film „Pretty women“. Die Phantasie, ein unterpriviligiertes Mädchen zu sich „emporheben“ zu können, ist für viele Männer ein geheimer Wunschtraum und führt bei Realisierung im wirklichen Leben häufiger zu Misserfolgen als zu einem glücklichen Ende. (I.F3). Reaktionsbildung: Von Freud unter den Abwehrmechanismen beschrieben, um sich gegen schädliche Impulse zu schützen, werden inakzeptable Gedanken in ihr Gegenteil im bewussten Leben verwandelt (die Eifersucht gegen ein neues Geschwisterkind wird zur Überfürsorge gemacht). Regression: Ein Zurückfallen ins Kindhafte Nicht-aktive. Nach Balint gibt es eine maligne Regression, in welcher der Patient verharrt, und eine benigne, woraus er neue Erkenntnisse schöpfen kann und mit psychischem Fortschritt wieder auftaucht. Ressourcen: (Englische Schreibweise, französisch Ressourcen geschrieben). Aus der Wirtschaft stammender Begriff von verfügbaren Hilfsquellen. Psychotherapeutisch verwendet für im Patienten liegende Fähigkeit aus früheren Erlebnissen und Erfahrungen, auch mit Kraft, Stimmung und Lebensinitiative zu neuen Ausblicken und Zukunftsplänen zu kommen. Der Pschotherapeut hilft dazu, durch Ressourcen-Identifizierung und Ressourcen-Mobilisation. Nicht identisch aber sehr verwandt mit dem → Salutogenetischen Prinzip. RFB: Respiratorisches Feedback – (I.E1). Ringparabel: Passage aus Lessings Stück „Nathan der Weise“. Dieser erzählt
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bei einem kritischem Gespräch folgende Geschichte: Ein Vater hat einen Wunderring, der großen Erfolg im Leben bringt, da er vor „Gott und Menschen angenehm macht“. Er verspricht ihn dem liebsten und besten seiner drei Söhne, aber er kann sich nicht entscheiden, welchem jene Attribute zukommen. Darum lässt er zwei völlig gleiche Kopien anfertigen. Nach seinem Tod erhält dann jeder der drei Söhne einen gleichen Ring. Nun beginnt aber natürlich der Erbstreit – welches war nun der richtige Ring? – und sie gehen damit zum Kadi. Dieser sagt: „Wahrscheinlich hatte der Vater alle gleich gerne und konnte sich nicht entscheiden. Vielleicht sind sie auch alle falsch und der echte ging verloren. Jeder der Ringe kann aber wirken, wenn man das Beste daraus macht und sich entsprechend verhält.“ – Das Ganze bezieht sich auf die verschiedenen Religionen. Meines Erachtens ist es aber sehr wohl anwendbar auf die verschiedenen analytischen Schulen, welche teilweise den Alleinvertretungsanspruch für Psychotherapie stellen und auch zum Teil im heftigen (berufspolitischen) Erbstreit miteinander liegen. Salutogenese: Hervorheben und Verstärken der gesundmachenden respektive -erhaltenden Faktoren, im Gegensatz zu einer nur pathogenetischen Betrachtungsweise (I.A4). Schizotype Störung: Nach ICD-10 wird darunter eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien der Wahrnehmung des Denkens und des Affektes verstanden, die schizophren wirkt, obwohl eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome fehlen. Schmusen: Umgangssprachlicher österreichischer Ausdruck für das Austauschen von Zärtlichkeiten. Es kann als Vorspiel in sexuelle Aktivitäten übergehen, aber auch ohne Sexualität als Ausdruck intensiver Beziehung bestehen: Schmusen der Kinder mit Eltern, Großeltern, Freundinnen, Haustieren („Schmuse-Katze“), etc. – Das deutsch-deutsche „knutschen“ ist wahrscheinlich gleich zu setzen (I. F1, F3) Selbst: (das Selbst). In verschiedenen analytischen Schulen mit unterschiedlicher Bedeutung gebrauchter, daher etwas unglücklicher Ausdruck. Vor allem bekannt aus Kohut’s „Selbst-Pschologie“ (I.A4). Selbsthilfegruppen: Regelmäßige Gruppenzusammenkünfte von Patienten mit vergleichbaren Beschwerden und/oder deren Angehörigen. Schienen der wechselseitigen Bestärkung, geben das Gefühl des Nicht-allein-seins, können auch wechselseitige praktische Ratschläge kanalisieren; laufen typischerweise ohne ärztliche Präsenz. Es können aber „Spezialisten“ eingeladen werden. Selbstobjekt: → Objektbeziehung Setting: Jener Rahmen, in dem eine Psychotherapie durchgeführt wird.
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Sexualisierung: bedeutet einen Inhalt psychischen Erlebens, der von sich aus mit Sexualität nichts zu tun hat, in sexuellem Sinn zu erleben oder zu interpretieren. Somatoforme Störung: Körperlich angegebene Störung, welche kein organisches Substrat hat, früher als „funktionell“ bezeichnet. Somatotrop: Auf körperliche Zustände und/oder Abläufe wirksam. SPECT: Single emissions computer tomography. Eine Untersuchungstechnik der modernen bildgebenden Verfahren. SRI (Serotonin reuptake inhibitors): Die derzeit übliche Generation der Antidepressiva, deren Wirkung im Namen schon erklärt ist. Sie haben weniger unerwünschte Nebenwirkungen als die ältere Generation. Strukturmodell: Freud erklärte den menschlichen-psychischen Apparat aus drei Instanzen aufgebaut (Modellvorstellung): Es = Triebreservoir; Ich = Steuerungsinstanz; Über-Ich / Ich-Ideal = Normative Größe (Kurzformulierung nach Ehrmann und Waldvogel in Möller und Mitarb.) Supervision: Hat zwei Bedeutungen. Einerseits Beaufsichtigung eines Lernenden (auch didaktische Supervision genannt), spielt vor allem bei der Ausbildung eine Rolle. Anderseits psychodynamische Supervision: Eine psychotherapeutisch ausgebildete Person, die außerhalb der Hierarchie steht, stellt sich regelmäßig (etwa alle 14 Tage) zur Verfügung, um Probleme am Arbeitsplatz mit den Tätigen zu besprechen. Es zeigt sich, dass es durch besseres Verstehen, Abreaktion etc. zu deutlicher Verbesserung des allgemeinen Personalklimas kommen kann (wesentliche Anti-burnout-Strategie! [I.B3]). Bei Psychotherapie unter Supervision besteht ein Mittelding zwischen Lehre und Aussprache der Ausbildungskandidaten. Dieser bespricht seine Patienten mit dem Supervisor einerseits um sich selbst emotional besser kennenzulernen und zu entlasten, andererseits um durch Ratschläge zu lernen und die Psychotherapie für den Patienten effizienter zu gestalten. Symptomatisch: Von der Ausprägung und der äußeren Erscheinung her (im Gegensatz zu → ätiologisch. Thymoleptika: → Psychopharmaka Tranquillizer: → Psychopharmaka Trophotrop: siehe Vegetativum Übergangsobjekt: Begriff von Winnicott aus der Kinderpsychoanalyse. Bezeichnet ein → Objekt, welches das Kind als Ersatz der körperlichen Nähe der Mutter verwendet. – Beispiel: Der Teddybär, der dazu dient, körperliche Nähe und Entängstigung beim Einschlafen zu bieten.
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Über-Ich / Ich-Ideal: → Strukturmodell Übertragung: Sich ausbildende menschliche Beziehung in unbewusster Wiederholung kindlicher Erlebnisse, wobei natürlich verschiedene Nuancen durch vielfache psychodynamische Mechanismen ins Spiel kommen (z. B. → Projektionen). Positive: Kann (vereinfacht) als Sympathie bezeichnet werden. Negative: Das Gegenteil (Antipathie). Im Freud’schen Therapiegebäude ein wesentlicher Faktor zwischen Therapeuten und Patienten. Vegetativum: = vegetatives Nervensystem. Jener Anteil des gesamten Nervensystems, der für Instandhaltung und Fortpflanzung des Organismus von ausschlaggebender Bedeutung ist. Das vegetative Nervensystem ist nicht Willens-abhängig (daher auch die Bezeichnung „Autonomes Nervensystem“), versorgt u. a. Herz, Blutgefäße, Darm, Geschlechtsorgane. Im Gegensatz dazu ist das motorische Nervensystem vor allem willentlich gesteuert (etwa Bewegung der Extremitäten). Es bestehen aber zwischen den beiden Nervensystemen vielfache Wechselwirkungen, welche vor allem über den Hypothalamus laufen. Dort ist die große Drehscheibe zwischen Motorik, Sensorik, Vegetativum und Psyche. So können auch psychische Faktoren das Vegetativum beeinflussen. Dies kommt besonders im Hypnoid zum Tragen (I.C). Man unterscheidet zwei polare Grundeinstellungen des Vegetativum: Die Trophotropie (Einstellung auf Ruhe, Erholung, Verdauung, Energiesparen). Die Ergotropie (Einstellung auf Energie, Leistung, Aggression). Verdichtung: bezeichnet in der Traumbearbeitung nach Freud das Zusammenfließen von verschiedenen (latenten) Traumgedanken und Weglassen mancher anderer. Verschiebung: Einer der Freud’schen Abwehrmechanismen. Es wird ein Affekt, den man gegen eine Person („Objekt“) hat, anderswohin umgeleitet, weil man sich die direkte Aggression nicht gestattet. Beispiel: Aggressionen gegen einen Vorgesetzten werden auf Untergebene ausgelebt oder ein Tier schlecht behandelt. Vulvodynie: Schmerzhaftigkeit an Schamlippen und Scheide. Zirkuläre Fragen: In der systemischen Psychotherapie werden hypothetische andere Personen in die Problembeleuchtung einbezogen, z. B: „Was würde ihre Tochter als Lösung vorschlagen?“ (VI.D).
Schlagwortverzeichnis Es sind hier keineswegs alle (evt. über den Computer herausholbaren) Einzelstellen angeführt, die ein Sachverzeichnis ja völlig unübersichtlich machen; vielmehr die wesentlichen und damit versucht, ein leichtes Auffinden zu ermöglichen. So ein Kompromiss kann immer nur teilweise gelingen. Wir bitten daher für etwaige Mühe beim Auffinden um milde Beurteilung. A Abstinenz IV.D1; IV.E2 Abstinenzregel I.H1 Abusus I.G1; II.A2 Abwehrmechanismen IV.C2 Administration I.A1 Aktivitätsgruppen I.F1 Aktivitätsgruppen für Senioren I.F1 Akupunktur I.G2 Alibizitieren VW Alter I.D2 Alters-Patient II. Altersrehabilitation I.F2 Altersrehabilitationsversicherung I.F2 Analyse I.A3; I.A4; IV Analytische Psychologie I.A4 Angehörige I.B2; I.F2; II.A2; VIII.C, V., VI. Angehörigengruppen I.F2; I.F4 Angehörigenurlaub I.F4 Angststörungen V.E Annäherung moderner psychoanalytischer Richtungen I.A4 Arbeitspsychologen I.F1 Arzt als Patient I.B2 Arzt für Psychotherapie I.A1 Arzt-Patienten-Beziehung VW Arzt-Patienten-Missverstehen I.B1 Ausbildung I.A3; IV.F Autogene Imagination I.C4; I.F5 Autogenes Training VW; I.C4; I.G2; II.A2, III.C3 AT-Oberstufe III.C4 Autonomie I.F1 B Balint-Gruppen I.D4; VII.B
Barmherzige Lüge I.B1; I.B2 Basale Stimulation I.F4; II.A2 Begutachtung I.A3; I.G2 Berufs-Problematik I.F1 Beziehung (menschliche) I.B2; I.F1; I.F3 Biofeedback I.E1; V.F Blockade VII.A Bobath-Konzept Glossar Borderline-Persönlichkeit I.A3; II.A2 Burn-out-Syndrom I.A3; I.B3; I.F2; I.F4 C Chiropraktik I.G2 D Darstellungstherapie I.A4 Defokusierende Imagination I.A4; I.F5; VII Depression I.B3; I.F4; I.G2; V.B Altersdepression I.F2 Deuten I.A4; IV.E1 Didaktik → Lehre sowie Unterrichten Dimension des gesunden Menschenverstandes I.H1 Dissoziativer Zustand I.A3, IV.C1 3-Instanzen-Schema I.A4 3-S-Pflege I.F4 3-Z-Pflege I.F4 Drogenprobleme I.F1 Dynamisierung I.C4; I.E2 Dysthymie → Depression IV.C1 E EEG I.C1 Ehrenamtlichkeit I.F1; I.F4 Eigenidentitätsfindung der Psychotherapie I.A1
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Eigenverantwortlichkeit I.B4 Einsamkeit I.F1 Einschlafhilfe I.C4 Emotional Insight I.C1 Empathie I.A3 Empty nest-Syndrom I.F1 Ende der Psychotherapie I.H1; IV.K; VI.D Entschärfen I.A4 Erben I.F1 Erfolg I.H2 Ergotherapie im Symboldrama I.F5 Erickson (Milton-Erickson)-Methode I.C3 Erziehung → Pädagogik Sexualerziehung I.F3 Evaluation VW; I.A1; I.B1; I.H1 Evaluationssucht I.A1 Evidence based medicine VW Evozierte Potenziale I.C1 Eye-Movement-Desensitation V.F, I.A3
Psychotrauma I.A3 Schmerz I.G H Halbausbildung I.H1 Harninkontinenz I.F1 Hierarchie I.B4; II.B1 Hilfehandeln I.A5; I.E3 Hippotherapie I.F4; I.F6 Hirndurchblutung I.C1 Homöopathie I.G2 Honorar I.; III.B Hospizstationen I.F4 Hypnoid VW; I.A4; I.C1; I.F5; Komponenten des Hypnoids I.E2 Differenzialindikation I.E2 Hypnose I.A3; I.C1; I.C3; I.F4; I.G2; II.A2; III.C2 Hypno-Analyse I.A4
F Familientherapie III.C4; VI.A Fatigue I.F4 Flash back I.A3 Fokus I.A4; IV.C4; VII. Folter I.A3 Formelhafte Vorsatzbildung I.A4; I.C1; I.D4 Funktionell I.A3; I.B3; I.G3 G Geburtshilfe I.E3 Gehirnwäsche I.C2 Generalversorgungsanspruch I.A3; III.A Generationenkrieg I.F1 Gerontopsychotherapeut I.F1 Geschlechtsspezifität VW; I.A3; I.F3; III. Im Gespräch I.B1 Gespräch I.B Erstanamnese-Gespräch I.B4 Gespräch in der Palliativtherapie I.F4 Gestalttherapie I.A4 Gesundheit I.A3 Gesundheitspolitik I.F2 Gruppe I.A4; I.D3; III.C1; IV.C4; VIII.G Gruppensex I.F3 Gutachten I.A3 Als pathoplastischer Faktor I.F2; I.G2
I Intelligenz I.F1 Interpretieren I.A4; I.D4 Intimität auf Distanz I.F1 Introspektion I.A4, I.C1 Involutionsproblematik I.F1 Inzest I.F1; I.F3; I.G J Jüngere Generation I.F1
K Kinder I.C5; I.E1; I.F4; I.G als Betreuer I.F1 Kindererziehung → Pädagogik Kindersport I.E3 KIP I.A4; I.F4; II.A2; III.C4 Kollektives Unbewusstes I.A4; I.F3 Konsiliardienst I.A2; II. Konversion I.A1 Konzentrative Bewegungstherapie I.A3, I.F6 Körperliche Störungen II.A2 Körperverletzung I.H1
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Krankenanstaltengesetz I.A1; II.A1 Kreativtherapie I.A4; I.F6 Krisenintervention II.A2; II.B2; IV.C4 Kurbetrieb I.E1 Kurzgruppentherapien I.D3 Kurztherapie I.A4; IV.C4; VI.C L Lampenfieber I.E3 Lebensqualität I.F2; I.F4 Lehre (akademische) VW; I.D4, I.F1 Lehranalyse IV.F Lehrpraxis I.A1 Leidensdruck I.A3 Lernhilfe I.E3 Lerntheorie IV.A Liebe I.A3; I.F3 Logotherapie I.A4; I.B2 M Massage I.G2 Massenaufmärsche I.C2 Medikamente I.B3; III.C4; V.A Meditation I.C1 Medizinische Arbeitsgruppe I.B4 Medizinisches Assistenzpersonal I.A6; I.E1 Menschliche Beziehungen VW Methodenkombination I.D1; III.C4 Migräne-Persönlichkeit I.G2 Milgram-Experiment I.A3 Minderwertigkeitsgefühl I.A4; I.E3 Motivation I.E1; I.F1; I.F6; I.G Multimorbidität I.F1 Multiple Sklerose I.E1; I.F2 Musiktherapie I.F4; I.F6 N Nachreifung I.A3 Nervöse Störung I.D4; I.G2 Neurobiologie I.A1; I.A3; I.F3; IV.B Neuro-Rehabilitation I.A2 Neurose I.A3; II.A2; IV.C1; VII.D5 „Nirvana-Therapie“ I.H2 Nobelverwahrlosung I.F1 Nonverbale Kommunikation I.B4 Nystagmographie I.C1
O Ödipus I.F1 Ökonomie I.A1; I.A4; I.D3 Zeitökonomie III.B Organbeeinflussung I.E2 P Paargruppe als Auffangraum III.C4 Pädagogik VW; I.A1; I.F1 Partnerbeziehung I.F1 Pensions-Problematik I.F1 Persönlichkeit I.G1, I.A4 Persönlichkeitsentwicklung I.A5 PET I.C1 Pfadfinderei I.A5; I.E3, I.F1 Pflege VW; I.A1 Pfusch I.F1 Phantomschmerzen I.A1; I.G3 Phasenverlauf bei unheilbarer Erkrankung I.F4 Placebo I.C2 Politik I.F4; I.i Posttraumatische Belastungsstörung → Psychotrauma Präsentiersymptome I.E2 Presse I.E3 Protokollieren I.D2 Prüfungsneurosen I.E2 Psychiatrie VW; I.A3; II.A1; II.A2; V.D; VII.D3; VIII. Psychoanalyse → Analyse Psychohygiene I.C4; I.E2; I.E3 Psychologie VW; I.A3 Psychoonkologie I.E1 Psychopharmaka I.B3; I.F2; II.A3 Psychorehabilitation I.A4, I.H2 Psychosomatik I.A1; I.A3; III.A; VII.D2 Psychosomatik Zugang III.B1 Psychotherapeut I.A1 Gerontopsychotherapeut I.F1 Kinderpsychotherapeut I.F3 Persönlichkeit des Psychotherapeuten I.A6 Psychotherapeutische Medizin I.A3 Psychotherapie I.A3 Ausbildung I.A3 Basale I.A6; I.F4; II.B1 Beendigung I.D4; I.H1
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berufsspezifische I.A6 Definition I.A3 Eigensprache VW Einteilung VW; I.A4 Gesetze I.A2 große versus kleine I.A5 Grundeinstellung I.A6 Kunst der Psychotherapie I.A5 Palliative Psychotherapie I.F4 Systemische VI. Tiere in der Psychotherapie I.F6 über den Körper gehend I.A4; I.F6 Psychotherapeutische Kompetenz VW; I.F1 Psychotherapeutische Medizin VW; I.A3; III.A Psychotrauma I.A3; I.E1; V.F; VII.A; VII.D4 PSY-Curriculum VW Psy-Diplome der Ärztekammer I.A1 R Rassenwahn des 3. Reiches I.A5 Rassismus I.A3 Ratschläge I.A4; I.B2; I.H1 Recht I.A3 Regression I.C2; I.F1 Rehabilitation I.A3; I.D2; I.F2; I.E3 Rehabilitationshospitalismus I.F2 Relaxation I.E1; I.E2 Religion I.A3 Remineszenztherapie I.F1 Renaissance der ärztlichen Gesprächskultur I.B1 Rentenneurose I.A3 Ressourcen I.A3, I.F1, IV.C4, V.B, VI. Ökonomische Ressourcen I.H2 Ressourcenmobilisation I.F1, I.F2 RFB I.C1; I.E1 Rituale I.C3 Rollenfunktion I.B1; I.H1 S Sadomasochismus I.G1 Salutogenese I.A1; I.A3; I.A4 Schlafstörungen I.D2 Schmerz I.E2 Schmerz und Kopfschmerz I.D2; I.G Schmerzensgeld I.A3 Seelische Schmerzen I.A3
Schmusen I.F1 Schwiegermutter I.F1 Seelsorge VW; I.F4 Sekten I.C2; I.H1 Sekundärer Krankheitsgewinn I.A3; I.G Selbstbefriedigung I.F3 Selbsterfahrung I.B2; I.H1 Selbsthilfegruppen I.A6; I.D3; I.F2 Selbstmord → Suizid Selbstpsychologie I.A4 Selbstreflexion I.H1; IV.D2 Selbsttranszendenz I.A5 Senioren I.F1; I.F2 Sexualität I.F1; I.F3 Sexualneurosen I.E2 Somato-psycho-soziale Einheit Mensch I.A1; I.A3 Sozialarbeit VW; I.A1 Soziale Isolierung → Vereinsamung Sozialethik I.A1 Sozialfähigkeit I.F1 Spiegeln I.B2 Spiritualität I.A1; I.F3 Spontane Altersregression I.A3; I.F5 Sport VW; I.A1; I.A3; I.C4; I.E3 Sportarzt I.E3 Sprachvergewaltigung VW SS-Frauen I.A3 Street worker I.A6 Sterben I.A1 Würdiges Sterben I.F1 Stress I.A1; I.E2; I.G2 Strukturmodell I.A4; IV.A Sucht III.C2 Suggestion I.C1; I.C2; IV.A Suggestivwirkung I.H1 Suggestopädie I.C2 Suizid I.B3; I.F1; II.B2 Supervision I.B3; I.B4; II.C Synchronisationstendenz I.C1 Systemische Familientherapie I.A4; I.F2; IV T Tanztherapie I.F4; I.F6 Telefon I.B2; I.F1 Terminerwachen I.C4 Toleranz I.A4
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Verschenken I.F1 4-Generationen-Gesellschaft I.F1
Trainer I.E3 Trance I.C3 Trauer I.B3 Traumanalyse IV.i
W U
Überkompensation I.A4; I.E3 Übertragung I.A4; II.A2; IV.C2; Glossar Umbruchphase I.F3 Unfallkrankenhaus II.A1 Unterrichten V Unterricht am Krankenbett I.B4; I.F4 V Vegetative Umschaltung I.C1; I.E1; I.E2 Vegetativum I.G1; Glossar Verantwortung I.A3; IV.D1 Verein für Hilfsangebote I.F1 Vereinsamung I.F1 Verhaltenstherapie I.A4; V.
Widerstand IV.C2 Wochenend-Intensiv-Seminar I.A4 Wunderfrage VI.C Würde I.F1 Z Zirkuläre Fragen VI.D Zwänge V.E 2-gleisige Standardmethode nach Kretschmer I.D4 2-stufige Gruppenpsychotherapie mit integriertem Autogenen Training I.A4; I.D; I.F2; I.G1 Zwischenbilanz I.H2