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German Pages 230 [234] Year 2019
Integration und Desintegration Europas Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge Herausgegeben von Günther Schulz und Mark Spoerer
Geschichte Franz Steiner Verlag
VSWG – Beiheft 244
Günther Schulz / Mark Spoerer (Hg.) Integration und Desintegration Europas
vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Mark Spoerer, Jörg Baten, Markus A. Denzel, Thomas Ertl, Gerhard Fouquet und Günther Schulz
band 244
Integration und Desintegration Europas Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge Herausgegeben von Günther Schulz und Mark Spoerer
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: „Diensteifer“ (am Mauttor), Karikatur (1843) aus: „Fliegende Blätter“, München 1843 © bpk, Bild-Nr.: 30029289 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12350-1 (Print) ISBN 978-3-515-12352-5 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Günther Schulz / Mark Spoerer Integration und Desintegration Europas. Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge – Zur Einführung…………………………………..7 Philipp Robinson Rössner Economic Governance and the Rise of European Capitalism, 1350–2000………………………………………………………13 Yiannis Kokkinakis The Monetary System as a Force for Integration/Disintegration: The Case of Autonomous Crete in the wider monetary Context between 1898 and 1913……………………………………………………....49 Christian Henrich-Franke / Cornelius Neutsch / Laura Elsner / Guido Thiemeyer Infrastrukturelle Grundlagen des europäischen Wirtschaftsraums: Akteure der Integration – Akteure der Desintegration………………………..73 Uwe Müller Verkehrspolitik im RGW zwischen Integration und Desintegration…………99 Heike Knortz Zahlungsbilanzungleichgewichte, „Gastarbeiter“ und die wirtschaftliche Rekonstruktion Europas 1945–1958………………………………………..125 Christian Marx Europa als Rollfeld für Multis? Zum Verhältnis von europäischer Integration und multinationaler Unternehmenskooperation am Beispiel westeuropäischer Chemieunternehmen (1958–1995)……………..153 Richard Vahrenkamp Warenströme in Mitteleuropa – Die Integrationsleistung der Logistik im 20. Jahrhundert………………………………………………...185 Hans-Peter Ullmann Unterschiedliche Schuldenkulturen als Bürde für „Maastricht“?...................215 Autorinnen und Autoren…………………………………...……………………229
INTEGRATION UND DESINTEGRATION EUROPAS WIRTSCHAFTS- UND SOZIALHISTORISCHE BEITRÄGE _ ZUR EINFÜHRUNG Günther Schulz, Bonn / Mark Spoerer, Regensburg
Die 27. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG) fand vom 19. bis zum 21. April 2017 in Bonn statt, zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Wirtschaftshistorischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik. Aus der großen Zahl der aufgrund der Ausschreibung eingereichten Beiträge wählte das Organisationskomitee 65 für die Tagung aus, gruppiert in 21 Sektionen. Ein Teil der Vorträge war – entsprechend der Tradition der GSWG – auf ein gemeinsames Thema ausgerichtet: „Integration und Desintegration Europas“. Zusätzlich umfasste die Tagung – entsprechend der Tradition des Wirtschaftshistorischen Ausschusses – einen offenen Teil ohne thematische Bindung. Auf der Grundlage der themenbezogenen Beiträge entstand der vorliegende Band in der herausgeberischen Kooperation des scheidenden und des neugewählten Vorsitzenden der GSWG, Günther Schulz und Mark Spoerer. Zusätzlich wurde ein thematisch sehr gut passender Beitrag von Richard Vahrenkamp über die Integrationsleistungen der Logistik aufgenommen. Das Kernthema ist von großer historischer wie aktueller Bedeutung – heute vielleicht größer als je zuvor. Viele gegenwärtige politische Diskussionen und Konflikte betreffen nicht nur Einzelthemen wie die Staatsverschuldung und die Finanzpolitik, den Brexit und Migrationsfragen, sondern sie rühren zunehmend an die Wurzel des auf nachhaltigen Frieden und Wohlstand angelegten Projekts der Europäischen Integration. Die Diskussionen thematisieren nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen der Angleichung und Weiterentwicklung auf einzelnen europäischen Politikfeldern, der Einschätzung der zentrifugalen und zentripetalen Kräfte, der Motive, Ziele und kulturellen Situierung der Akteure, sondern – und gegenwärtig zunehmend – auch die Revision von bisherigen Weichenstellungen, eingeschlagenen Wegen und getroffenen Maßnahmen. Unserer Auffassung nach sind die Handlungsspielräume, die „Pros und Cons“ ohne Kenntnis der jeweiligen historischen Wurzeln und Prägungen kaum zu verstehen und nicht angemessen zu analysieren. Mit der Ausschreibung der Tagung zum Thema „Integration und Desintegration Europas“ wollten die Veranstalter zum einen zum vertieften Verständnis dieser Thematik außerhalb der engeren Grenzen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte beitragen und zum anderen im Fach selbst die Forschung zu diesem Themenfeld weiter anregen. Die hier abgedruckten Beiträge sind die Ergebnisse dieser Bemühungen. Arbeitsteilige Organisation der Produktion in einem nationalstaatlich strukturierten Wirtschaftsraum kennzeichnet seit langem die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Europas. In der Gegenwart hat sie sich zu einem der komparativen Vorteile des europäischen Wirtschaftsraums entwickelt, und sie war eine Triebfeder für die
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politische Integration. Die langfristige historische Perspektive rückt insbesondere wirtschaftliche und soziale Kohäsions- und Adhäsionskräfte in das Blickfeld. Die Autoren waren gebeten, vor allem danach zu fragen, welche Akteure und Institutionen, welche Ereignisse und Entwicklungen die sozioökonomische Integration und Desintegration in Europa sowie Europas in und mit der Welt beeinflussten, beförderten bzw. bremsten. Entsprechend der thematischen und zeitlichen Weite des Faches wurden Beiträge im Zeitraum vom Mittelalter bis zur jüngsten Vergangenheit erbeten, die die angesprochene Fragestellung aus der Perspektive von Individuen, Unternehmen, Gruppen bzw. Staaten untersuchen. Fallstudien waren ebenso willkommen wie vergleichende Beiträge. Die acht Beiträge des vorliegenden Bandes gehen die Frage nach Integration und Desintegration Europas aus unterschiedlichen Perspektiven an, mit unterschiedlichen Fragestellungen und in unterschiedlichen thematischen Kontexten und ergänzen einander auf diese Weise. Ihre Themen sind Fragen der Politik und Entwicklung auf den Feldern der Finanz- und Geldwirtschaft, Infrastruktur – insbesondere des Verkehrs –, der Arbeitskräftemigration sowie der Unternehmenskooperation. Ihre Fragestellungen richten sich auf die Ziele, politischen Handlungsspielräume, die gesellschaftlich-kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen und die Effekte, beispielsweise die Senkung von Transaktionskosten als eines Motors für die Entwicklung zu und in Europa. Eine weite Perspektive nimmt Philipp Robinson Rössner mit seinem Beitrag „Economic Governance and the Rise of European Capitalism, 1350–2000“ ein, in dem er die großen Linien staatlicher Wirtschafts- und Ordnungspolitik in den europäischen Staaten herausarbeitet. Nach einer grundsätzlichen Diskussion des Begriffs des (wirtschaftspolitischen) Staatsinterventionismus zeigt er, dass die Staaten Europas mindestens seit dem ausgehenden Mittelalter eine Fülle von Lehren und Instrumenten entwickelten, um wirtschaftliche Prozesse aktiv zu gestalten. In vergleichender Perspektive und teils mit Fallbeispielen aus der urbanen Entwicklung stellt er heraus, dass das Instrumentarium zunehmend elaborierter wurde, bis schließlich ein sehr großes „menu of choices and options“ (Rössner) zur Verfügung stand. Viele der gegenwärtigen wirtschaftsinterventionistischen Anschauungen und Instrumente entstanden keineswegs erst im 19. Jahrhundert oder sind ein Kind des Keynesianismus, so argumentiert er. Vielmehr reichten die Interventionen und reicht deren Reflektion meist weit zurück – neu hinzugekommen sei im 19. Jahrhundert im Wesentlichen die durchdringende Bürokratisierung. In seinem Beitrag „ The Monetary System as a Force for Integration/Disintegration: The Case of Autonomous Crete in the wider monetary Context between 1898 and 1913 “ untersucht Yiannis Kokkinakis, welche politische und wirtschaftliche Bedeutung der Geldpolitik bei den Diskussionen über einen Kretischen Staat nicht nur in Bezug auf Griechenland, sondern auch im internationalen Kontext zukam. In Kreta sah man die Autonomie nur als Vorstufe für eine Wiedervereinigung mit Griechenland, doch entsprachen nicht nur die Verfassung von 1899, sondern auch die zu diesem Zeitpunkt geschaffenen währungspolitischen Institutionen nicht denjenigen Griechenlands.
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Einen noch stärkeren akteursspezifischen Zugriff wählen Christian HenrichFranke, Cornelius Neutsch, Laura Elsner und Guido Thiemeyer in ihrem Beitrag über „Infrastrukturelle Grundlagen des europäischen Wirtschaftsraums“. Am Beispiel von Wilhelm von Humboldt, Heinrich von Stephan, Lambert Schaus und Theodor Irmer arbeiten sie für unterschiedliche Zeiträume – vom frühen 19. Jahrhundert bis zur jüngsten Zeitgeschichte – heraus, dass Akteure zwar nicht allein entscheidend sind, aber eine sehr wichtige Funktion für die Richtung und Intensität der Entwicklung hin zu „Europa“ hatten (und offenkundig weiterhin haben): Wilhelm von Humboldt förderte indirekt die industrielle Entwicklung entlang des Rheins und Heinrich von Stephan die erste Globalisierungsphase durch Erleichterung des weltweiten Austauschs von Wirtschaftsnachrichten. Lambert Schaus, der erste EWG-Kommissar für Verkehr, scheiterte hingegen 1967 auf einem Politikfeld, das im EWG-Vertrag zu einem zentralen Politikbereich der Gemeinschaft gemacht worden war. Theodor Irmer trug, indem er die Ausbreitung von ISDN und des Internets in Unternehmen in den 1990er Jahren ermöglichte bzw. ihr den Weg bereitete, dazu bei, dass sich interne wie externe Arbeitsprozeduren und die Arbeitsteiligkeit radikal änderten. Auch im östlichen Teil Europas tat man sich schwer mit der verkehrspolitischen Integration. Uwe Müller untersucht die „Verkehrspolitik im RGW zwischen Integration und Desintegration“. Er konzentriert sich insbesondere auf die Eisenbahn und hier auf die Frage, inwieweit die Verkehrspolitik im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) integrierend wirkte, immer auch mit einem vergleichenden Blick auf die EWG/EG. Sowohl in West als auch in Ost waren die Interessen recht stark entlang der Frage verortet, ob es sich jeweils um Transitländer handelte. Darüber hinaus führte in beiden Teilen Europas die Existenz des Systems der Staatseisenbahn dazu, dass die nationale Perspektive dominierte und die Durchsetzung einer europäischen Verkehrspolitik kaum oder wenig vorankam. Die Teilung Europas forcierte auch die Entwicklung separater binnenorientierter Infrastrukturen. Hier gibt es enge Parallelen zu dem oben angesprochenen Scheitern von Lambert Schaus als EWG-Kommissar für Verkehr. Freilich gibt es auch markante Unterschiede: Die marxistische Politische Ökonomie stufte die Verkehrspolitik als Teil der Distribution ein und damit als weniger wichtig als die Produktion (materieller Güter). Dies ist offensichtlich einer der Faktoren, die erklären, warum die Spielräume der Nationalstaaten in der Wirtschafts- und Verkehrspolitik größer waren, so Müller, als man es im sowjetisch dominierten Ostblock erwarten würde. Heike Knortz unternimmt in ihrem Beitrag über „Zahlungsbilanzungleichgewichte, ‚Gastarbeiter‘ und die wirtschaftliche Rekonstruktion Europas 1945–1958“ eine Neubewertung der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg, die anfangs vornehmlich von italienischen Arbeitskräften geprägt war. Sie unterstreicht die außenwirtschaftspolitische Bedeutung der italienischen Gastarbeiter, zunächst in Frankreich und dann in Westdeutschland. Deren Rücküberweisungen in die Heimat halfen, die italienischen Handelsbilanzdefizite mit diesen beiden Ländern zu verringern. In Hinblick auf die westdeutsche Wirtschaft argumentiert sie, dass der Einsatz (italienischer) Gastarbeiter den technologischen Wandel in Westdeutschland tendenziell verzögert habe. Die Anwerbung vornehmlich
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Ungelernter habe wenig konkurrenzfähige Branchen stabilisiert und damit strukturkonservierend gewirkt. Nicht nur die westeuropäischen Arbeits-, sondern auch die Kapitalmärkte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter verflochten. Christian Marx analysiert in seinem Beitrag „Europa als Rollfeld für Multis? Zum Verhältnis von europäischer Integration und multinationaler Unternehmenskooperation am Beispiel westeuropäischer Chemieunternehmen (1958–1995)“, inwieweit die europäische Integration in der chemischen Industrie die Unternehmenskooperation über die nationalen Grenzen hinweg förderte, etwa durch Reduktion der Transaktionskosten. Er argumentiert, dass sich das Auslandsengagement der Chemieunternehmen in Europa eher als Teil der Europäisierung denn der Globalisierung erklären lasse. Allerdings hätten die Gründung und Entwicklung der EWG/EU nicht zur Schaffung eines homogenen Marktes geführt. Im Ergebnis hätten die Chemieunternehmen zur Festigung Europas sowohl beigetragen als auch davon profitiert. Eine empirische Analyse auf dem Feld der Distribution in der Massengesellschaft legt Richard Vahrenkamp in seinem Aufsatz „Warenströme in Mitteleuropa – Die Integrationsleistung der Logistik im 20. Jahrhundert“ vor. Er stellt den Beitrag der Verkehrsträger Schiff, Eisenbahn, Lastkraftwagen und Flugzeug dar und arbeitet die große Bedeutung des Massengüterverkehrs heraus, insbesondere auf der Schiene und dem Wasser (Rheinschiene, Probleme Deutschland-Frankreich, Bedeutung der „Speicherstadt“ in Hamburg). Neben den Massengütertransport trat Ende des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße der Stückgütertransport, der durch den beginnenden Versandhandel enormen Auftrieb bekam. Vahrenkamp zeigt, welche gewaltigen Probleme das „lawinenartige Wachstum von Stückgütern“ bereitete und wie es die herkömmlichen Gewichtungen bis zur Gegenwart verändert hat. Besonderes Augenmerk richtet er auf das Auftreten der neuen privaten Paketdienste und auf den „in der Logistik einmaligen Ansatz der Standardisierung“ (Vahrenkamp). Neben die zunehmende europäische Verflechtung in den klassischen wirtschafts- und handelspolitischen Bereichen trat gegen Ende des 20. Jahrhunderts die währungs- und finanzpolitische Integration. Hans-Peter Ullmann fragte in seiner Keynote Lecture der Tagung, „Unterschiedliche Schuldenkulturen als Bürde für ‚Maastricht‘?“, danach, ob sich die evidenten Unterschiede der Finanz- und insbesondere Schuldenpolitik in den europäischen Staaten durch unterschiedliche spezifische „Schuldenkulturen“ erklären lassen. Er erörtert den Begriff und prüft die Möglichkeiten seiner empirischen Anwendung. Im Kontext einer „begrifflichen Kosten-/Nutzen-Analyse“ warnt er vor vorschnellen „Verallgemeinerungen über historische Epochen hinweg“ und vor Stereotypisierungen. Zur Substantiierung der Diskussionen plädiert er für eine historische Analyse der Aushandlungsprozesse zwischen den europäischen Staaten sowie zwischen den Institutionen der Europäischen Union.
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Wir danken allen, die zu der vorliegenden Publikation beigetragen haben. Dazu gehört das Organisationskomitee der 27. Arbeitstagung der GSWG / II. Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Es bestand neben den beiden Herausgebern des vorliegenden Bandes aus Carsten Burhop, Gerhard Fouquet und Jan-Otmar Hesse. Ferner danken wir Tobias A. Jopp, der in Regensburg die Arbeit des Komitees und die Auswahl der Beiträge vorbereitete und unterstützte. Sodann gilt unser Dank Maria Seigner, Jana Vinga Martins und Paul Vickers, die mit viel Sorgfalt und Engagement die Gestaltung der Texte einschließlich der Abstracts übernahmen.
ECONOMIC GOVERNANCE AND THE RISE OF EUROPEAN CAPITALISM, 1350–2000 Philipp Robinson Rössner, Manchester
ABSTRACT: Over the last five to six hundred years most European governments (kings, princes, councils, states) were actively involved in shaping the economic process, promoting capitalism and even actively supporting and encouraging economic growth and development. My paper will provide a short comparative synopsis of the main aspects of pre-industrial state intervention and then offer some new interpretations. A first section discusses methodological problems in our assessment of state intervention and the question in which ways states could make a positive contribution to the economic process at all. A second section looks at urbanisation and cities as foundational metric for economic development in historical perspective. The third section discusses the main menu of choices of economic intervention in the age of capitalism’s ascendancy, 1300s-1850s. A fourth section provides a short global comparison and conclusion. I argue that, since the Renaissance the menu of state intervention was richer than usually acknowledged and that, by a long history of trial-and-error since the last six or seven centuries the European states and states-in-the-making got increasingly better at governing the economy, laying the foundations for modern capitalist development and modern economic growth. Keywords: Economic Development, Economic Gouverning, Europe, Capitalism, Early Modern Period, Modern Period
Over the last five hundred years or so most European states were actively involved in shaping the economic process, promoting capitalism, even actively supporting and encouraging economic growth and development. Peer Vries has argued that the Chinese state was significantly weaker in terms of resource extraction and the promotion of domestic economic growth than England’s fiscalmilitary state.1 Albeit Vries’s argument has not gone unchallenged2, this may in the end help explain why England experienced faster economic growth triggering the process known as industrialisation and the Great Divergence. Hoffman, Tilly and others have made similar claims as to European states’ competitive edge in military and state power, albeit Rosenthal and Bin Wong highlight the different 1 2
Peer Vries: State, Economy and the Great Divergence. Great Britain and China, 1650s–1850s. London 2015. Roy Bin Wong: Divergence Displaced. Patterns of Economic and Political Change in Early Modern and Modern Global History, in: COMPARATIV/Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung (3:2016), pp. 71–100. Jean-Laurent Rosenthal / Roy Bin Wong: Before and Beyond Divergence. The Politics of Economic Change in China and Europe. Harvard 2011.
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nature of state involvement in the Chinese economy. Compared to the European case, the Chinese state acted on different levels, sometimes with a remarkably laissez-faire or hands-off approach, but prima facie may have been no less effective in governing the economy than European fiscal-military states.3 Parthasarathi’s argument on the role of the English fiscal-military state and the pricing-out of Indian cottons out of the world market has staked similar claims4, emphasising the proactive-aggressive nature of the English state, in particular by protecting the domestic cotton industry by a series of tariffs and prohibitions which by and large corresponded to what twentieth-century development economics knew as “infant industry protection.” A growing number of studies has emphasised similar rationales for European states.5 Discussions on the role of the state in the economic process have sometimes switched to property rights, inclusive vs. exclusive institutions, regulatory competition (“institutional arbitrage”), law enforcement and state capacity, as measured 3 4 5
Roy Bin Wong: China Transformed. Historical Change and the Limits of European Experience. Ithaca / London 1997. Prasannan Parthasarathi: Why Europe Grew Rich and Asia Did Not. Global Economic Divergence, 1600–1850. Cambridge 2011. On Germany in the early modern period, see, e.g., Fritz Blaich: Die Wirtschaftspolitik des Reichstags im Heiligen Römischen Reich. Ein Beitrag zur Problemgeschichte wirtschaftlichen Gestaltens. Stuttgart 1970; id.: Die Bedeutung der Reichstage auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzen im Spannungsfeld zwischen Kaiser, Territorialstaaten und Reichsstädten (1495–1679), in: Aldo De Maddalena / Hermann Kellenbenz (eds.): Finanzen und Staatsräson in Italien und Deutschland. Berlin 1992, pp. 79–112, esp. at pp. 111–112; and Fritz Blaich: Die Epoche des Merkantilismus. Wiesbaden 1973. An interesting case study for Württemberg around 1500 is Karl Weidner: Die Anfänge einer staatlichen Wirtschaftspolitik in Württemberg. Stuttgart 1931; for early modern Britain, see Julian Hoppit: Britain’s Political Economies: Parliament and Economic Life, 1660–1800. Cambridge 2017; William J. Ashworth, Customs and Excise: Trade, Production, and Consumption in England, 1640–1845. Oxford / New York 2003; Julian Hoppit: Bounties, the Economy and the State in Britain, 1689–1800, in: Perry Gauci (ed.): Regulating the British Economy, 1660–1850. Farnham (Surrey) / Burlington, VT 2011; Julian Hoppit: The Nation, the State and the First Industrial Revolution, The Journal of British Studies, 50/2 (2011), pp. 307–331; Raymond L. Sickinger: Regulation or Ruination. Parliament’s Consistent Pattern of Mercantilist Regulation of the English Textile Trade, 1660–1800, in: Parliamentary History, 19/2 (2000), pp. 211–232; Anna Gambles: Free Trade and State Formation. The Political Economy of Fisheries Policy in Britain and the United Kingdom, circa 1780–1850, in: Journal of British Studies 39/3 (2000), pp. 288–316; and C. Dudley: Party Politics, Political Economy and Economic Development in Early Eighteenth-Century Britain, Economic History Review, Second Series, 66:4 (2013), pp. 1084– 1100. In a wider context, see Erik S. Reinert: How Rich Countries Got Rich and Why Poor Countries Stay Poor. London 2008; or Peer Vries: Governing Growth. A Comparative Analysis of the Role of the State in the Rise of the West, Journal of World History, 13 (2002), pp. 67–193. On states and property rights in terms of general models, see, e.g., Douglass C. North / Robert Paul Thomas: The Rise of the Western World. A New Economic History. Cambridge 1973; Daron Acemoglu / James Robinson: Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity and Poverty. London / New York 2011; Oscar C. Gelderblom: Cities of Commerce. The Institutional Foundations of International Trade in the Low Countries, 1250–1650. Princeton 2013; or David Stasavage: States of Credit. Size, Power, and the Development of European Polities. Princeton 2011.
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by per capita taxation. More recently, historians have underlined the early modern state’s capacity of waging of war as a crucial factor for economic development.6 The latter argument, however, somewhat flies in the face of most Ancien régime European history and political or reason of state theory of the past six or seven centuries, which always stressed that good rulers should refrain from war wherever they could. Instead they should strive to promote the domestic common weal (German: der Gemeine Nutzen) using benevolent means. Kings, princes, councils and other temporal authority (“governments”) could do so by a wide range of strategies, including a sound and stable currency, good government, fair lawmaking and impartial judgement, good market governance, the upholding of good Sunday sermons in the churches and a generally well-spirited Christian common weal, supervision and safe-conduct on public roads, the avoidance of winter wars, but also proactive support of domestic industry and manufacturing with potential for development. These are less familiar in the current economic-historical literature. In fact, it has been recently argued, with regard to industry promotion and in perfect unison with the neoliberal worldview, that “Contrary to the claims of heterodox development economists like Chang there are few clear-cut examples of successful state-led ‘industrial policy’ in this period”.7 This argument is, overall, worth revisiting. This is because the historical record provides ample evidence to the contrary. Since the sixteenth century, sometimes even earlier, temporal authority and states began to actively support domestic industry with the mix of strategies and tools that has become known from 20th century development theory. Not all of them were successful; much of it was trialand-error, i.e. a learning process; moreover, we still lack an uncontested bulletproof definition or measuring concept of “state success” when it comes to promoting capitalism and economic development. The last comprehensive studies were Heckscher (on mercantilism) and Sombart’s Der moderne Kapitalismus (final version 1927), which provide ample and incontrovertible evidence of the positive contribution of the early modern European fiscal-military state (a term coined much later but, essentially, covering what Sombart had in mind) to European economic development. Concerning industrial policy the argument is worth restating, particularly in the light of recent studies for early modern England.8 Just because – to take but one example – some state-run manufactories (for uniforms and arms) in eighteenth-century Prussia or Austria (note the Zeughaus) in some years had low or no profits does not mean they did not make a long-term positive contribution to economic growth and development. Lateral, forward and backward linkages of state investment in the economic process could be manifold, various and – 6
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Rosenthal/Bin Wong: Before and Beyond Divergence; Philip Hoffman: Why Did Europe Conquer the World? Princeton 2015. Werner Sombart, Krieg und Kapitalismus. München 1913. Noel D. Johnson / Mark Koyama: States and economic growth. Capacity and constraints, Explorations in Economic History 64 (2017), pp. 1–20, at p. 3. The explicit reference is to Ha-Joon Chang: Kicking Away The Ladder: Development Strategy In Historical Perspective. London / New York 2002. Parthasarathi: Why Europe Grew Rich; Ashworth: Customs and Excise.
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especially with lateral linkages (“spill-overs”) essentially unquantifiable. In fullfledged form, these instruments can be found, as an applied policy as well as paradigm, in mid-eighteenth century Scotland, Flanders and certainly elsewhere. Industrial policy, infant industry protection and import substitution were no nineteenth- or twentieth-century inventions.9 Secondly, state intervention went far beyond industrial policy narrowly framed, today as well as in the six centuries of European capitalism in its ascendancy, 1250s–1850. If we limit historical discussions of the state and its role in the economic process to industrial policy, we miss out on a much broader picture. A longue-durée historical argument on “Bringing the state back in”10 should therefore rest on much more than industrial policy and economic growth as narrowly defined in the modern economist’s literature, and it certainly was much more than coincidentally brought out as a by-product of war-faring states, by good institutions, commitment of rulers to safeguarding property rights and bolstering fiscal capacity by commitment to creditworthiness. My paper will provide a short comparative synopsis of the main aspects of pre-industrial state intervention and then provide some new interpretations. A first section discusses methodological problems in our assessment of state intervention and the question whether states could make a positive contribution to the economic process at all. A second section looks at urbanisation and cities as foundational for economic development in historical perspective. The third section discusses the main menu of choices of economic intervention in the age of capitalism’s ascendancy, 1300s–1850s. A fourth section provides a short global comparison and conclusion. I would like to argue that the menu of state intervention was richer than usually acknowledged and that, by a long history of trial-and-error since the last six or seven centuries the European states and states-in-the-making got increasingly better at governing the economy, laying the foundations for modern capitalist development and modern economic growth.
I. Any historical discussion on the role of the state in the process of economic development, especially when covering a larger time span and the pre-industrial period, hinges on problems. To name just the most obvious ones: (1) The modern state as we know it was only in the making during the Renaissance and early modern period. Even in the nineteenth century age of industrialisation and globalisation it looked very different from the twentieth- and twenty-
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See Ann Coenen’s chapter on eighteenth-century Flanders in Philipp R. Rössner (ed.): Economic Growth and the Origins of Modern Political Economy. Economic Reasons of State. London / New York 2016. 10 Peter B. Evans / Dietrich Rueschemeyer / Theda Skocpol (eds.): Bringing the State Back In. Cambridge 1985.
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first century one. During the centuries of modern capitalism’s ascendancy since the late medieval age and early modernity some features existed, or began to develop, that were – or became increasingly –similar to what modern states are and what modern states do. However, some historians would even deny that such thing as a “state” existed in medieval and early modern Europe. The older German literature often applies the word “state” to the late middle ages and early modern period quite uncritically, speaking of “Staat” when actually referring to what Kings and princes did, and what was captured under royal or princely prerogatives that usually only covered a very limited band of social and juridical influence (such as the regalian rights to minting and mining, right to call parliament, infrequent and irregular taxation, law-making and high justice). The more recent literature has stressed the fluidity of pre-modern states, state-hood and statecraft.11 In the middle ages and early modern period the legislative, executive and judicative powers of rulers were limited. States and jurisdictions were fragmented or contested between kings or rulers and their native nobility.12 Notions of “private” vs. “public” – as in authority or property rights, the former becoming an increasingly characteristic notion of the modern state – were only in the making.13 Linear concepts of borders and modern definitions of state, citizenship and state denizenship either did not exist or were in the making during the early modern period. Often “state-like” authority was enacted on the local or regional level (English justices of the peace), by networks of actors rather than impersonal and centralized decision making processes that have become known as central features of “state” as defined in modern legal theory and sociology following Max Weber and others. (2) Secondly, states, and what was the state, changed and varied considerably over time and space. There certainly never was a linear, unidirectional or exclusive trajectory towards the modern state. Therefore, in order to assess the state’s role in the economic process, we first need to define what the state actually was, and for medieval and early modern Europe, this often means to define “who” the state was, by identifying the main individual actors, carriers and “containers” of statecraft and statehood. Clearly, this can only be done by means of regional or specific case studies, but never in a comprehensive or general survey, lest the discussion and its result become tautological. Therefore, the following discussions will limit itself to selected features or “possibilities” of statecraft and the promotion of capitalism and modern economic development, without claiming completeness. (3) Third, it is not clear, and probably impossible to accurately quantify what the role of the state in the capitalist process was, or measure its contribution, posi11 Michael Braddick: State Formation in Early Modern England c. 1550–1700. Cambridge 2000; Martin van Creveld: The Rise and Decline of the State. Cambridge 2009; Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Munich 2002. 12 Stephan R. Epstein: Freedom and Growth. Markets and States in pre-modern Europe. London / New York 2000. 13 Rafe Blaufarb: The Great Demarcation. The French Revolution and the Invention of Modern Property. Oxford 2016.
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tive as well as negative, to economic development. Estimates of GDP per capita – one of the traditional mainstays of historical economic analysis, are shaky and very unreliable for most countries, apart from England, before 1850.14 Moreover, economic growth, when commonly defined as the change in real per capita gross domestic product, is not an ideal measure of societal well-being – which would be one of the obvious metrics of state efficiency in influencing the economic process. States did more, or wanted to do more – if states, in an abstract way, actually “want” to do something – than simply promoting economic growth, which is broadly true for today as well as back then. We may, for instance, want to capture income distribution (social inequality), which may be more skewed in some countries than others whilst still resulting in broadly similar values for per capita income or increases in per capita GDP. It does not account for capability, denoting access to economic, social and political resources, such as basic political and individual legal rights, healthcare, sanitary facilities and a general increase in life expectancy. Economic growth as commonly defined is different from total factor productivity – which could be an alternative metric for assessing the role of the state played in the economic process; since the Renaissance promoting technology, useful knowledge and efficiency were explicit goals of temporal authority or state policy.15 We know from the contemporary literature on manufacturing that since the sixteenth century rulers, princes and “states” were increasingly keen on promoting domestic productivity – from Giovanni Botero’s Ragion di Stato and his treatise on cities (1588/9), to the seventeenth and eighteenth-century economic literature ranging from Antonio Serra’s Breve Trattato (1613)16, Philipp Wilhelm von Hörnigk’s Oesterreich über alles, wann es nur will (Austria Supreme if Only It Wills So, 1684)17, to Johann Heinrich Justi’s many works on Cameralism, economics and manufactures.18 In contemporary nations, this is one of the primary worries of governments, but historically speaking, both today as well as in the six or seven centuries before us, state goals have always included more. Fiscal data (on tax yields or related metrics) can be quite shaky for most periods before the Glorious Revolution, albeit they have been widely used for even global compari-
14 Stephen Broadberry et al: British Economic Growth, 1270–1870. Cambridge 2015. 15 Erik Reinert: Role of the State in Economic Growth, Journal of Economic Studies 26 (1999), pp. 268–326. 16 Sophus Reinert (ed.): A ‘Short Treatise’ on the Wealth and Poverty of Nations (1613). London / New York 2012. 17 Philipp Robinson Rössner (ed.): Philipp Wilhelm von Hörnigk. Austria Supreme (if it so Wishes) (1684): A Strategy for European Economic Supremacy. London / New York 2018. 18 Jürgen Backhaus (ed.): The Beginnings of Political Economy. Johann Heinrich Gottlob von Justi. New York 2009.
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son19, which makes quantifications of state activity in the economic process difficult. Nor were most pre-1900 European economies, except for England, possibly the Netherlands, so integrated and differentiated and aligned to monetary-based market exchange in the way most twentieth century economies were. If we assume that money, markets and monetary transactions were equally important in every European or world region, we face an inherently questionable proposition. This lies in the assumption of the market being the main or even major clearing agent for transactions, demand and supply of productive factors and other resources, i.e. goods, services, capital, labour etc. Recent studies in the history of European development, as well as general work relating to modern developing or “less developed countries” (LDCs), however, demonstrate that this is too simplistic. The non-marketed and non-monetized (there is a difference between the two) sectors of the economy may be significant in terms of their contribution to overall economic activity but remain inherently unquantifiable using monetary values when the inputs in the productive system were sourced outside the market. This applies to redistributive, extractive and other means of (dis)appropriation, as documented widely for many pre-industrial enterprises in the feudal and demesne systems, particularly but not exclusively east of the River Elbe.20 (4) Then, political economy enters the game. Even in the post-1648 age of princes, formerly called “Age of Absolutism” – a concept now given up by most historians – rulers were never fully sovereign (as much as some claimed they were, as the example and Age of the French Sun King Louis XIV has shown). Power was always divided between king and nobility, cities and other intermediaries, between rulers and their agents, who acted in the king’s (or prince’s) stead, but often on their own account and so on. Some state policies, e.g. levying import taxes upon imported English cloth, harmed other producers, such as the French wine growers of the outer provinces of the French kingdom, who vehemently opposed such measures of protectionism that were suggested by merchants and officials of the manufacturing areas within the inland provinces. They thus lobbied for “free trade” around 1700, but not because of common sense, but in order to keep the English market open for their wine exports 19 But see the excellent survey and data in Mark Spoerer: The Revenue Structures of Brandenburg-Prussia, Saxony and Bavaria (Fifteenth to Nineteenth Centuries): Are They Compatible with the Bonney-Ormrod Model?, in: Simonetta Cavaciocchi (ed.): La fiscalità nell’economia europea secc XIII–XVIII: atti della “Trentanovesima Settimana di Studi”, 22–26 aprile 2007; vol. 2 = Fiscal systems in the European economy from the 13th to the 18th centuries; vol. 2. Fond. Ist. Internazionale di Storia Economica “F. Datini”, Prato: S. 2, Atti delle settimane di studi e altri convegni, 39, 2. Firenze University Press, Florence, pp. 781–791, the global survey in: Bartolomé Yun-Casalilla / Patrick K. O’Brien (eds.), The Rise of Fiscal States: A Global History, 1500–1914. Cambridge 2012; or K. Kivanç Karaman / Şevket Pamuk: Different Paths to the Modern State in Europe. The Interaction between Warfare, Economic Structure and Political Regime, in: American Political Science Review, vol. 107(3), pp. 603– 626. 20 Witold Kula: An Economic Theory of the Feudal System. London 1976. An excellent recent survey is Markus Cerman: Villagers and lords in Eastern Europe, 1300–1800. Basingstoke 2012.
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(5) Whilst every state has some sort of economic policy, nolens et volens, as Noble Laureat Joseph Stiglitz has recently mused21, it is rather difficult to formulate causal arguments and quantitatively testable models of state policy and economic development, especially when seen in a deep-historical perspective. To what extent is one particular economic policy successful or not, and how do we prove or measure this? (6) There may be a lack of sources and documents, which precludes us from accessing, in precise terms, everything the state, or ruler or government did, including the possible outcomes of such policy across the whole spectrum of economy and society. Historians are aware that what has been left in archives only represents a snapshot of what happened in reality; we can never be sure about this snapshot’s representativeness for the whole.22 Often the state or public authorities only recorded in writing – by means of acts, deeds, edicts and proceeds – when things went wrong. Good times and normal conditions were not recorded in the same density and with the same degree of coverage and hardly made it into the archives. Moreover, poststructuralist theory has stressed the nature and origin of the archive as a human-discursive process and pre-selection of data, adducing a fundamental bias to any historical narrative that is based on written relics. (7) In the same way, we cannot always know whether those historical subjects who made such decisions and policy considered in the same way what we consider as economic or economic policy.23 The separation of the “economic” from the “political” and “social” is a brainchild of the European enlightenment and represents a massive historical fiction.24 (8) Moreover, there may be an asymmetry between the state’s intentions regarding a particular economic policy or measure of policy and the actual or documented outcomes. Many of these outcomes could be unintended, and thus fail to be accurately covered in the historian’s archival record.25 They may be much weaker and less pronounced than originally anticipated by government. Years may pass between a peculiar policy or strategy and the time when this policy began to make itself felt within the market process, i.e. to pay off. There is always a degree of time-indeterminacy in the process. The costs of a particular policy may outweigh the recorded, observed or imputed benefits. (9) Lastly, there may be spillovers and lateral linkages into sectors other than those originally targeted by the government or temporal authority, which are hard to measure or even comprehensively detect. This may compound the problem of determining the “success” of a particular economic policy, then or now.
21 See, e.g. Joseph E. Stiglitz / Justin Lin Yifu (eds.): The Industrial Policy Revolution I: The Role of Government Beyond Ideology. Basingstoke 2013. 22 Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. München 2013. 23 One of the most recent discussions of this can be found in Julian Hoppit: Britain’s Political Economies. Parliament And Economic Life, 1660–1800. Cambridge 2017. 24 Pankaj Mishra: Age of Anger. A History of the Present. London 2018. 25 Lars Magnusson: Nation, State and the Industrial Revolution. London / New York 2009, esp. chs. 1, 2. Rosenthal/Bin Wong: Before and Beyond Divergence, ch. 1.
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Political economy, mentioned above, has always been a tricky game, not only in modern societies. Dictatorship and democracy alike have been open to factions, lobbying and rentseeking, albeit fragmented states and autocratic regimes certainly provide more scope for any of these welfare distortions.26 The post-1688 English state, which counts amongst many historians as amongst the first “modern” states27, remained profoundly corrupt, exclusive and non-democratic until late.28 Scotland, one of the fastest-growing modernising countries after 1740 was ruled by a class of aristocrats and their voice and headmaster, the Scottish “viceroy” and Duke of Argyll, who governed Scotland by direct correspondence with the English First Minister Sir Robert Walpole, with only a handful of Acts of Parliament passed after 1707 that directly related to Scottish affairs.29 Many aspects of English, and after 1707 British politics and policy cannot reasonably classify as anything else than rent seeking, factionism, cronyism and a closed-shop game. Even though Parliament (mainly the House of Commons) attained an increasing significance in discussing, shaping and configuring economic policy between 1650s and 1850s, and a lot of economic measures and initiatives initially tied to particular interest or pressure groups began to generate positive spill-over effects for the British economy at large.30 One could argue that regulation and economic intervention should follow “defensible reasons of economic or social policy” (McLean). Nevertheless, quite obviously, no regulative policy, however well defensible in the interest of the common weal has ever passed, nor ever will, the litmus test of complete impartiality. This applies to modern democracies in the West, in the same way as to less inclusive societies elsewhere, present and past; it is the forms, which the negotiation of the political process takes, and the degree of involving the governed and enfranchisement of the ruled that determines about the degree of “inclusiveness” of the politico-economic process. To briefly elaborate, as a pars pro toto, a point made below: The history of tariff legislation in France around 1700 shows this nicely: what the chambers of the manufacturing inland provinces demanded, arguing in favour of a tariff on imported English manufactures, would be common sense to any modern development economist. So would, in the ear of the modern Ricardian “free trader”, the argument proposed by the agrarian provinces of France at the same time, which ran contrary to the discourse propagated by the French inland provinces. The representatives of the French agrarian provinces, heavily depending upon viniculture and wine exports, called for free trade, or an abolition on 26 Daron Acemoglu: Economic Origins of Dictatorship and Democracy. Cambridge 2009; Acemoglu/Robinson: Why Nations Fail. 27 Acemoglu/Robinson: Why Nations Fail. 28 On economic administration in eighteenth-century England, see, e.g. Ashworth: Customs and Excise; Julian Hoppit: A land of liberty? England 1689–1727. Oxford 2003; Hoppit: Britain’s Political Economies. 29 Bruce P. Lenman: Enlightenment and Change. Scotland 1746–1832. Edinburgh 2009; Alexander Murdoch: “The people above”. Politics and administration in mid-eighteenth-century Scotland. Edinburgh 1980. 30 Hoppit: Britain’s Political Economies.
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import duties on English cloth, to promote wine exports free of customs duties to England.31 Here the free trade argument was purely ideologically motivated. The Council of Commerce under Jean Baptiste Colbert would always reflect some vested interests, by private persons, merchants, manufacturers and entrepreneurs, even though the factual results of policy decisions were usually portrayed as something that advanced the common weal, regardless which side – free traders or protectionists – won the case in each instance. That means that particularly in early modern Europe behind many a piece of major economic and commercial legislation in the early modern period there stood a powerful agent or interest group. Throughout Europe since the Renaissance, merchants were called for advice, as in most countries in early modern Europe. Often, when it came to implementing economic regulation relating to coinage and currency, markets and manufacturing, merchants had the best insights into the workings of the contemporary market economy. This does not necessarily make some of their ideas better, or less driven by self-interest than others. It is important rather to understand some of the tools in the box of policy and market intervention since the Renaissance and to see them as fundamentally embedded into wider, and often strictly non-economic, contexts of society, culture, and political economy. The latter may well include politics, finance and war; as is well known, late medieval and early modern states were bellicose, and they developed an increasingly sophisticated taxation apparatus, political process and fiscal infrastructure to finance a growing demand for armed militia and military materiel. Werner Sombart was amongst the first to highlight the strong, almost intrinsic connex between the merchant as military entrepreneur, running state-privileged cloth (uniforms) and arms manufactories and iron works privileged by the respective rulers of the age, as was the case in seventeenth- and eighteenth-century Prussia, Habsburg-Austria, DenmarkNorway, Sweden – where a lot of the ironworks were run not by native Swedes, but immigrant Scotsmen.32 This also underlies the increasing international dimension and international networks of what has become known as “fiscal-military state.” In early modern England, as well as many other developing fiscal-military states, policies of taxation or promoting certain parts of economy, industry and technology may purely follow a military expenditure rationale, and Charles Til-
31 Moritz Isenmann: From Privilege to Economic Law. Vested Interests and the Origins of Free Trade Theory in France (1687–1701), in: Philipp R. Rössner (ed.): Economic Growth and the Origins of Modern Political Economy. Economic Reasons of State. London / New York 2016, pp. 105–121. 32 Steve Murdoch: Network North: Scottish Kin, Commercial and Covert Associations in Northern Europe, 1603–1746. Leiden 2006.
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ly’s dictum that “states made war and war made states”, whilst being a pun, is fundamentally true.33
II. Historical economists nowadays often use comparative urbanization levels to approximate historical economic growth in long-run and cross-sectional perspective34 (avoiding speculative per capita GDP figures which are artificial before 1850), even though here is a variety of measuring biases as well. There are two rationales, methodologically as well as historically, why urbanization figures tell us a lot about a society’s capacity to raise well-being and nourishment amongst its population, and why this matters for the overall test on the role of the state in the economic process. The first is about productivity and the capacity to nourish people. In pre-modern pre-industrial economy, urban, i.e. non-agrarian populations only grew over time when the remaining agrarian population became more productive than previously. Thus, wherever we find urban growth this must mean by default – disallowing for trade (imports, exports) – that some transformation in productivity, division of labour, market integration and income growth in the surrounding agrarian regimes would have been the likely cause and effect at the same time.35 Indeed, since the Renaissance there was growth in European urbanisation, literally everywhere, humble and less pronounced in Poland, Scandinavia and the Holy Roman Empire, and more dynamic in early modern England and the Netherlands, which matches the record of agrarian productivity change particularly in the agrarian hinterlands of the big cities. Scotland and England exhibited most dynamically growing urbanisation rations, 1600–1850.36 Depending upon the threshold or benchmark figure chosen for defining what a big “city” was, urbani33 Charles Tilly: Coercion, Capital, and European States. AD 990–1992. Cambridge MA 1992; Patrick O’Brien: The Nature and Historical Evolution of an Exceptional Fiscal State and its Possible Significance for the Precocious Commercialization and Industrialization of the British Economy from Cromwell to Nelson. Economic History Review, Second Series 64:2 (2011), pp. 408–446; William J. Ashworth: The Demise of Regulation and Rise of Political Economy. Taxation, Industry and Fiscal Pressure in Britain 1763–1815, in: Philipp R. Rössner (ed.): Economic Growth and the Origins of Modern Political Economy. Economic Reasons of State, 1500–2000. London / New York 2016, pp. 122–136. 34 See, e.g. Daron Acemoglu / Simon Johnson / James Robinson: The Rise of Europe. Atlantic Trade, Institutional Change, and Economic Growth. American Economic Review 95:3 (2005), pp. 546–579; or Daron Acemoglu / Davide Cantoni / Simon Johnson / James A. Robinson: The Consequences of Radical Reform. The French Revolution, American Economic Review, Vol. 101, N. 7 (2011), pp. 3286–3307; Davide Cantoni: Adopting a New Religion. The Case of Protestantism in 16th Century Germany, Economic Journal, Vol. 122, N. 560 (2012), pp. 502–531. 35 E. A. Wrigley: A Simple Model of London's Importance in Changing English Society and Economy 1650–1750, Past & Present 37 (1967), pp. 44–70. 36 Thomas M. Devine: Urbanisation, in: Id. / Rosalind Mitchison (eds.): People and Society in Scotland, Vol. I: 1760–1830. Edinburgh 1988, pp. 27–52.
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sation and economic performance improved considerably over time, most impressively in the cases of those countries which have identified as “first modern”, i.e. England and the Netherlands, and which also exhibited, since the middle ages, fairly well-founded, even centralised, forms of government or “strong” states.37 The second reason why urbanization was essentially important for economic development was laid out by Giovanni Botero, who wrote, in Book Eight of his Ragione di Stato, originally part of his other opus magnum Delle cause della grandezza delle città (Rome, Martinelli, 1588) but since 1589 included in the Reason of State: Nothing is of greater importance for increasing the power of a state and gaining for it more inhabitants and wealth of every kind than the industry of its people and the number of crafts they exercise. (…) These crafts cause a conflux of money and of people, some of whom work, some trade in the finished products, some provide raw materials and others buy, sell and transport from one place to another the fruits of man’s ingenuity and skill. (...) Since art is the rival of nature I must consider which is of more importance to make a state great and populous, the fertility of the soil or the industry of man. Without hesitation I shall say industry. Firstly, the products of the manual skill of man are more in number and of greater worth than the produce of nature, for nature provides the material and the object but the infinite variations of form are the result of the ingenuity and skill of man. (…) And how many people depend for their livelihood upon their skills rather than directly upon nature. Such is the power of industry that no mine of silver or gold in New Spain or in Peru can compare with it, and the duties from the merchandise of Milan are worth more to the Catholic King than the mines of Zacatecas or Jalisco. (...) A prince, therefore, who wishes to make his cities populous must introduce every kind of industry and craft by attracting good workmen from other countries and providing them with accommodation and everything convenient for their craft, by encouraging new techniques and singular and rare works, and rewarding perfection and excellence.38
It was in cities, Botero argued, where we would be most likely to find manufacturing. Manufacturing meant transforming physical matter, say iron ore, into something that would be worth more in the end than the total sum expended on acquiring all the initial ingredients – say, by smelting the iron into bar iron, using ovens and hearths, charcoal (or mineral coal) as well as a certain number of workers necessary for the process. This entailed capital layouts, for machines, tools, ovens, implements, or houses in which manufactures were made and workers were assembled. But most importantly it was the ingenuity of the smelter and the men who had designed and created smelting ovens, and who had worked out the technique of reliably smelting high-quality bar iron, something which early modern
37 Jan de Vries: European Urbanisation 1500–1800. London 1984; Jan de Vries / Ad van der Woude: The First Modern Economy. Success, Failure, and Perseverance of the Dutch Economy, 1500–1815. Cambridge 1997; Maarten Prak: The Dutch Republic in the Seventeenth Century. The Golden Age. Cambridge 2005; Paul M. Hohenberg / Lynn Hollen Lees: The Making of Urban Europe, 1000–1994. Cambridge, Mass. 1995. 38 Giovanni Botero: The Reason of State / Della ragione di stato, transl. P. J. and D. P. Waley, with an introduction by D. P. Waley & The Greatness of Cities, translated by Robert Peterson 1606. New Haven 1956, pp. 150–153.
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Swedish iron makers and iron works were proverbial for.39 Moreover, the income elasticity of demand for non-essentials such as manufactures is higher than for foodstuffs and other essential goods such as grain. This means that demand for manufactures can grow more dynamically over time than demand for foodstuffs and other primary goods. Botero’s text bears out a sense of appreciation of this simple causal mechanism. He disregarded the rural manufacturing activities that spread across late medieval and early modern Europe, known to scholars by names such as “Proto-industrialization” and the rise of “domestic” or Verlag industry” and emphasised the locational-agglomerative advantage provided by cities.40 Later, eighteenth-century German Cameralist writers from lesser-known characters such as Johann Daniel Crafft (1683) to the proverbial Arch-cameralist Johann Heinrich von Justi (1717–1771) habitually emphasised that manufacturing must be located in cities, not the countryside, to achieve an even process of social and economic development.41 It was cities where manufacturing was considered to be most dynamic; and since the Renaissance manufacturing accordingly stood at the heart of development theory.
III What arguments can be constructed historically on the role of the state and economic development? The most obvious one seems a story that connects the rise of the modern state, often depicted as the “fiscal-military state” to the rising demands on states due to an increase in warfare and warlike conflicts, or else the need to raise the opportunity costs of warfare by a competitive arms race. Kennedy most elegantly told the story42, but many other historians studying the virtues and vices of the early modern European “fiscal-military state” have adopted the
39 Chris Evans / Göran Rydén: Baltic Iron in the Atlantic World in the Eighteenth Century: Atlantic World. Europe, Africa and the Americas, 1500–1830. Leiden 2007. 40 The literature on the putting-out or Verlag system, as well as the concept of proto-industry and proto-industrialisation is certainly vast; see the good surveys in: Sheilagh C. Ogilvie / Markus Cerman: European Proto-industrialization. An Introductory Handbook. Cambridge / New York 1996; on (mainly) urban craft guilds, see Stephan R. Epstein / Maarten Roy Prak (eds.): Guilds, Innovation, and the European Economy, 1400–1800. Cambridge 2010. The classic study on proto-industrialisation is Peter Kriedte / Hans Medick / Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode d. Kapitalismus. Göttingen 1977. On Botero, from the viewpoint of his ‘demographics’, see the recent study by Justus Nipperdey: Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012, pp. 65–98, with references to literature on Botero on pp. 65–66. 41 Marcus Sandl: Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert. Köln 1999. 42 Paul M. Kennedy: The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000. New York 1987.
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narrative.43 Throughout the early modern period, European powers spent an increasing amount of state revenue, and thus their subjects’ economic stealth and wealth, on raising armies and navies, constituting what Roberts and Parker have termed, with varying emphasis on particular aspects, an early modern “military Revolution.”44 A recent contribution has posited this competition even as crucial for the European comparative advantage in military prowess, even global supremacy.45 In some states, the fiscal-military state logic worked quite well, mainly in England, the Dutch Republic and to an extent, France and Spain, and since the later eighteenth century apparently also Prussia.46 In others, such as Russia, the Ottoman Empire, or Sweden the state was much less successful in collecting taxes and effecting economic development. In Gatrell’s words: “With some intermission – notably the periods of rapid growth in the early eighteenth century and during the last two decades of the nineteenth century – Romanov Russia survived rather than thrived.”47 Without doubt, war was important for European political and economic development. However, it certainly was not the causal or key factor. Since the Renaissance, a host of contemporary political economy writings emphasised exactly the opposite rationale, highlighting inter alia the state’s – or governing ruler’s – duty to raise the people’s welfare by peaceful, and increasingly bureaucratic means. Since the medieval Fürstenspiegel (Princes’ Mirrors) keeping inner and outer peace was regarded one of the central commands for any good Christian king or “allerchristlichste Majestät”. Likewise, we find a manifestly large and growing number of government-produced documents – acts, deeds, laws, edicts and related official correspondences produced by Europe’s numerous boards of commerce, trade and privy councils – that dealt specifically with economic matters and which transcended the drive to collect taxes and improve the capacity of waging war. Following Reinert48, a list of state action points in the market process comprised since the Renaissance the following items: 1. providing good institutions; 2. a fair income distribution; 3. and promoting economic growth. To achieve these aims, the economic literature since the Renaissance stressed the following strategies as important:
43 To name but some of the most recent studies: Philip T. Hoffman: Why Did Europe Conquer the World? Princeton, NJ 2015; and Rosenthal/Bin Wong: Before and Beyond Divergence. 44 Geoffrey Parker: Military Revolution; Frank Jacob / Gilmar Visoni-Alonzo: The Military Revolution in Early Modern Europe: A Revision. London 2016. 45 Hoffman: Why Did Europe Conquer the World? 46 See the edited vol. by Yun-Casalilla / O’Brien cited above. 47 See Peter Gatrell’s chapter in ibid., p. 191. 48 Reinert: Role of the State, pp. 279–284.
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1st “Getting the nation into the right business” by creating a national comparative advantage (usually in some manufacturing); 2nd promoting the generation and spreading of useful knowledge and technology transfer (by the erection of public schools, the acquisition of new or better technology, the hiring of foreign experts); 3rd providing infrastructure (public overheads: roads, canals, transport safety); 4th setting standards (weights and measures, currency); 5th creating public demand, especially for high-quality goods, and especially in times and sectors of the economy, where private demand and entrepreneurship fails (this gave rise to the argument later known as “infant industry protection” and “import substitution”); 6th raise the general wage level across the economy (which corresponds to the previous goal); 7th promoting a safe and stable legal system; and to 8th act as an “entrepreneur of last resort.”49 We may add other aspects; Veit Ludwig von Seckendorff, in his Teutscher Fürsten-Stat (The Princely State) as well as other writings (such as his other magnum opus Der Christenstaat, 1685) emphasised the role of a well-spirited Christian common weal, good church governance, good Sunday sermons delivered by good pastors, a discourse that found its way via means direct as well as indirect into later Cameralist writings under the frame of “Public Happiness” or Glückseligkeit. Public Happiness was a discursive model known from works such as Justi’s Staatswirtschaft or Grundfeste to Swedish Cameralist Anders Berch and his Inledning til almänna hushålningen (1747)50; historians under the Eudaimonia label who have drawn attention to its precedents in classical Greek philosophy and its survival into eighteenth-century German-Kantian philosophy have taken note of it, but certainly not under an economic perspective.51 We should not forget that Public Happiness and Euidaimonia, discourses that attained an increasing popularity since the later seventeenth century in German, Italian and other debates, had a manifestly economic undertone. Happiness could be managed. It was to be managed by the ruler and state, and it included nearly all instruments known from the modern economist’s tool box, including the promotion of industry, import substitution, infant industry protection, of monetary velocity or “vivacity” of circulation and everything that was bound and apt to raise general welfare and happiness of the common people. 49 Ibid. The last point was made by Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, 4th ed. Vols. I and II. Munich / Leipzig 1927. On war and economic development see also Sombart’s shorter books, e.g. Krieg und Kapitalismus. 50 Translated into German by the Leipzig professor for Cameralist sciences Daniel Gottfried Schreber: Anleitung zur allgemeinen Haushaltung in sich fassend die Grundsätze der Policey-, Oeconomie-, und Cameralwissenschaften, transl. J. G. Schreber. Halle 1763. 51 Ulrich Engelhardt: Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J. H. G. v. Justi), Zeitschrift für Historische Forschung Vol. 8, No. 1 (1981), pp. 37–79.
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However, there were many ambiguities and variations of what “the state” was. In the case of the Holy Roman Empire, the German confederation of states that existed over the early modern period (c. 1495–1806) there were several hundred proper territorial entities we may, with a slight hint of anachronism, call “states.” Often, these entities were fragmented themselves, with a lot of enclaves and exclaves. Moreover, as Epstein has highlighted, claims to authority and social and economic powers were likewise fragmented and shared, not usually amicably or evenly, between the state(s) and native aristocracies of early modern Europe.52 These entities would claim, certainly in the eyes of Max Weber, “statehood”. They did so in theory – with the works by Jean Bodin, Niccolo Macchiavelli and Thomas Hobbes sound theories of state and statecraft were developed in early modern Europe that remained utopian in most instances. Most scholars would nowadays agree that in crucial aspects of detail – especially what regarded the monopoly on violence and legislative – such temporal authorities lacked all the crucial attributes we would nowadays associate with the state. The German empire – according to Voltaire, neither holy, nor Roman nor an empire – was only one of the more prominent examples of the many levels and layers these states “failed” from the modern viewpoint.53 Those political units or entities that come closest, and which have a much longer and global prehistory are, of course, the empires in world history.54 Some historians and political scientists have suggested a different nomenclature, replacing the ill-suited “state” with “political system”. Braddick, an historian, has put forth the idea that rather than focusing on Weberian structures of governance, monopoly and exclusion of others we should rather conceive of the “state” as a network of actors wielding political powers of the nature described above, fluid and malleable, and often on a regional level and through local channels and structures of power.55 Before the French Revolution and under the “feudal” mode of production that prevailed in most areas of Europe bar the Netherlands and England what we would call private property in land was unknown. Ownership in land, the most important factor of production in pre-industrial Europe, was shared between lords and tenants. In the same way, the concept of “public authority” was in the making. Whilst known in theory – it had emerged with the early-modern Reason of State Literature. On the other hand, until the end of the Ancien régime public offices and thus social power, including powers of justice, could be bought and sold, which constitutes a form of private property, if entirely alien our the modern conceptions of it.56 Only the nineteenth century brought modern concepts of state and state power, including the notion of separation of the legislative, judicative and executive, later on franchise and early forms of “democracy”, and the idea that 52 Epstein: Freedom and Growth. 53 Acemoglu/Robinson: Why Nations Fail. 54 E.g. Frederick Burbank / Jane Cooper: Empires in World History. Power and the Politics of Difference. Princeton NJ 2011. The literature on empire in the modern historical and political sciences is near endless. 55 Braddick: State Formation. 56 Blaufarb: Great Demarcation, introduction.
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political power not be saleable on markets. It also brought imperialism, globalisation, rapid population growth and new waves of technological inventions, which also helped shaping, re-shape and reconfigure what would become the modern state. Temporal authorities have existed for thousands of years, manifested in rulers, kings and their administrators, but also city councils, empires and senates of urban-oligarchic “republics” such as Venice that would form imperial rule outside European shores.57 There is no single, let alone teleological rationale to and history of the modern state, and whether the modern state was “European” in origin and the making58 is still open to debate. We may or may not call such manifestations “states” for the more recent centuries without succumbing to anachronism entirely. And, since the last six hundred years (and in some cases earlier) such states increasingly adopted the characteristics and functions usually associated with the modern state, be that the Mughal and Chinese Empire, post-1660 Restoration England down to the medium-sized B- and C-class powers in early modern Europe such as Prussia, the Kingdom of Saxony, or the mini-states such as the County of Henneberg-Schleusingen, or Henneberg-Römhild, mini-duchies such as Hesse-Homburg, or the Imperial Abbey of Ochsenhausen etc., all of which mark the patchwork rug otherwise known as The Holy Roman Empire, and all of which belong in the history of the modern state, nolens ac volens. They – or their rulers – all fulfilled or held, at some stage or another over the past six hundred years, sometimes partially, sometimes more complete, key criteria and prerogatives that would mark them out as “states”. They – or their rulers and councillors – tried, and usually failed to monopolize violence, but usually managed to attain a comparative advantage in violence, which is also one of the centre parts of the story of the modern state. They collected taxes and did something we have increasingly refrained from in more recent centuries: dictating and enforcing which faith its denizens should adhere to by monopolizing, in the wake of the 1555 Augsburg religious settlement, religion. As a source of social power, social discipline and thus practice of statecraft, religion was a crucial element in early modern state policy, as it was, alongside market activity and monetary regulation, one tool to knit communities and society together. Since about the fourteenth century, we can see how efforts of the European states of interfering with their economies intensified, and often improved. During the early modern period, it was during phases of stronger state intervention associated with state formation that went hand in hand either with phases of economic efflorescence. Examples include sixteenth-century Spain (which faced a subsequent economic downturn and development into underdevelopment), or France under Jean Baptiste Colbert (1619–1683), post-1642 Civil War England59, or England after the Restoration in 1660 and the Glorious Revolution 1688. During the later sixteenth and seventeenth century, some European economies caught mo57 Christ: Trading Empires. 58 Reinhardt: Geschichte der Staatsgewalt. 59 Braddick: State Formation.
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mentum, especially the Netherlands, whose government has been proven to be as protectionist and interventionist as anywhere else.60 Surely, in the case of the German and many continental land-locked economies this catching of momentum was merely an attempt at re-establishing conditions prior to the catastrophic war (1618–1648) that had hid the central European economies, especially Central Germany, particularly badly. The mid-seventeenth century also was an age of crisis, even on a global scale; bad climate, sunspots and war certainly reduced chances of growth in many parts of the continent.61 But the return to growth was made possible, to a considerable extent, because governments devised increasingly refined means and strategies of intervention in the wake of the big catastrophe – in many ways akin to the post-1945 period.62 Lessons from ancient theories were applied, and Giovanni Botero’s Ragion di Stato (1589) is known to have influenced Veit Ludwig von Seckendorff, the “Adam Smith of Cameralism” (Albion Small), whose Teutscher Fürsten Stat (1655) and the Additiones to this work, published first in the 1660s, contained a full chapter on economic policy, and seems to have served as a template for inspiration for later economic writers until the nineteenth century.63 What Botero had formulated as a general model of urbanization and manufacturing was turned into a full-fledged economic theory of development in Austria Supreme if Only it So Wills by Catholic Austro-German diplomat Philipp Wilhelm von Hörnigk (1660–1714), Wilhelm von Schröder (Fürstliche Rentkammer, 1686) and many more to come. Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), Germany’s most prolific economist of his age even managed to get his works translated into eight other European languages, including Russian and English. He would classify as the Arch Cameralist or “Adam Smith of Cameralism”64 and developed Boterian and Seckendorffian economic reason of state theory into a full-fledged theory of market economy and economic development as initiated and supported by the state. During the nineteenth-century, many states such as Sweden, several Germanies and Italies (no unified German state existed between 1806 and 1871; similar case in Italy), Austria and Belgium underwent their catch-up industrialization under the auspices of an increased degree of state intervention in the economy, emulating the Cameralist economic programme developed two hundred years earlier. The story was not much different after the
60 Arthur Weststeijn / Jan Hartman: An Empire of Trade. Commercial Reason of State in Seventeenth-Century Holland, in: Sophus Reinert / Pernille Røge (eds.): The Political Economy of Empire in the Early Modern World. London 2013, pp. 11–31; Oscar Gelderblom: Cities of Commerce. 61 Geoffrey Parker: Global Crisis: War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century. New Haven 2013. 62 Andreas Schwennicke: “Ohne Steuer kein Staat”: zur politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (1500–1800). Frankfurt a. M. 1996. I am indebted to Urich Pfister for drawing my attention to this book. 63 Sophus A. Reinert: Cameralism and Commercial Rivalry. Nationbuilding Through Economic Autarky in Seckendorff’s 1665 Additiones, European Journal of Law and Economics 19, no. 3 (2005), pp. 271–286. Carpenter & Reinert in Rössner (ed.), Economic Reasons of State. 64 Albion Small: The Cameralists, the pioneers of German social polity. New York 1909.
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Second World War. The European miracle or “Golden Age of Capitalism” of the 1950s and 1960s were likewise accompanied by an unprecedented level of state interference with the market process, less so in terms of general restrictions on what could and could not be done in the market – that had been a marker of the pre-1850 societies and states, but rather a massive increase in legislation and regulation relating to how behaviour on the market should be structured. German and British energy policy after 1945 is a good example of it, including wide measures of nationalisation; and post-1940 Ordo-liberalism remains a prime example of how twentieth-century liberalism overcame earlier notions of liberalism, which had put less emphasis on rules and regulation in constituting a competitive market economy.65 We should not forget, however, that this increase in state intervention during the Age of High Capitalism in post-War (Western) Europe came with a whole array of new freedoms to choose – choice in one’s economic strategy and occupation, of consumption, leisure, faith, sexuality and belief. But it also came with a new array of punishments if the “laws of the free market” governing this new regime of choice were violated.66 Since the early 1600s, some Swedish, German and English writers would also develop the idea that infinite growth was a possibility, if only the right strategies of harnessing the cornucopious fountains of riches provided by Mother Nature were chosen.67 This line of reasoning has been replicated in modern studies on economic growth. Theories of economic interventionism, less growth-faced though, had been known in Mughal India or China since the twelfth century.68 The focus on economic expansion and growth may, however have been a European phenomenon.69 Without doubt it was related to the Baroque way of thinking, building (and poetry!), and partly a consequence of the destructions of the Thirty Years War and the Treaty of Westphalia. It also marks early origins of modern liberal thinking. When the dust had settled after the Reformation (1517) and the struggles of the Confessional Age (post-1555) had been fought, Europe became increasingly marked by states headed by monarchic rulers (usually “kings”), which left behind the medieval-feudal legacy of personal ties or bound between lord and vassal, mediated through the agrarian possession of the fief upon which military power was based that was provided by the vassal to the king.70 These rulers, especially as the period wore on, implicitly or outspokenly claimed to be 65 Erik S. Reinert / Philipp Robinson Rössner: Cameralism and the German Tradition of Development Economics, in: Erik S. Reinert / Jayati Ghosh / Rainer Kattel (eds.): Elgar Handbook of Alternative Theories of Economic Development. Cheltenham / Northampton 2016, pp. 63– 86. 66 Bernard Harcourt: The Illusion of Free Markets: Punishment and the Myth of Natural Order. Boston Ms 2011. 67 Carl Wennerlind: The Political Economy of Sweden’s Age of Greatness. Johan Risingh and the Hartlib Circle, in Rössner (ed.): Economic Reasons of State, pp. 156–186. 68 Up to the point that one scholar has ventured to speak of Chinese mercantilism in the twelfth century, see Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt. Frankfurt a. M. 2015. 69 I am developing this possibility in a larger research project. 70 François Louis Ganshof: Feudalism, 3rd ed. Toronto 1996.
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“absolute,” certainly after the Peace and Treaty of Westphalia (1648) which demarcated new lines of sovereignty, not only for the independent Netherlands but also for the other principalities that comprised the Holy Roman Empire. From now on their rulers considered themselves vested with infinite powers of controlling their subjects’ political, social and economic resources. Even mediocre princes such as the Dukes of Nassau-Weilburg would build castles and residences and maintain court rituals and cultural praxeologies mimicking the daily practices at the spectacular court of Versailles. Partly this interpretation rests upon the selfconfessed nature as borne out by the political and legal texts of the period, many of which indeed actively promulgated and professed a culture of absolutism. The ultimate manifestation of this aspiration was, of course, the Sun King Louis XIV of France (1638–1715) with his congenial minister of finance Jean Baptiste Colbert. Louis XIV claimed to be the archetypically absolutist ruler, not least by praxeological and architectural aspiration; sober historian’s studies show us that most of this remained a somewhat utopian claim.71 The court ritual re-enacted daily at the Palace of Versailles represented the ultimate visual, haptic and sensual expression of this paradigm. The rule of the king should know no boundaries, neither physical-geographical nor in terms of political grip onto the subjects’ blood and wealth. This principle was re-enacted day after day; it had to because otherwise no one would possibly have believed it. That gives us a clue to the economic ramifications of this. Colbert lent his name to the peculiar French version of mercantilism (Colbertism) which, if we follow the common but ill-founded interpretation, also laid the basis for an absolutist economy, i.e. a command economy structured according to dirigiste rules, ridden by monopolies and tax exemptions enjoyed by private individuals (often noblemen), lamed by government edicts and prohibitions on the denizen’s economic stamina and entrepreneurial drive. This economy functioned entirely at the will of the Sun King, his first minister, the state departments concerned with economic matters and the various councils of commerce. The contrary was true. Historians have given up on “Absolutism” as a meaningful model to describe early modern (post-1648) forms of governance and politics. In the same way, economic historians should give up the idea of mercantilism (or Cameralism) as “dirigiste” or regulated economies before 1800, or – worse – Cameralism-mercantilism as the economic theory vindicating political Absolutism. In fact, both Cameralism and mercantilism contained significantly enough chunks of laissez-faire market philosophy to serve as one of the intellectual origin points of modern economic liberalism.72 This is the point, which Heckscher, in his still unsurpassed magnum opus on mercantilism, failed to grasp, by drawing an intellectual boundary between mercantilism and liberalism, which never really
71 Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993. 72 Bruce Elmslie: Early English Mercantilists and the Support of Liberal Institutions, History of Political Economy 47:3 (2015), pp. 419–448; W.D. Grampp: The Liberal Elements in English Mercantilism, The Quarterly Journal of Economics 66:4 (1952), pp. 465–501.
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existed.73 In post-1648 Europe’s governments and states paid closer attention to managing the market process, be that Austria-Habsburg (the Hereditary Lands), Saxony or Prussia, or England, where the House of Commons as the political sovereign after 1688 devised an increasingly dense net of economic regulation.74 Even the Netherlands, acknowledged to have been the richest economy of her age and the “first modern economy”, were a mercantilist country that used standard measures of economic regulation, tariffs on foreign manufactures and other forms of economic intervention in those areas of economy that were conceived to be in need of such measures.75 In Austria, under Emperor Charles VI Kommerzräte were founded for several countries; a Hauptkommerzkollegium was established in Vienna in 1717/18, after a similar institution had been in place for the Bohemian lands since 1710/14.76 In Prussia, a chamber or state department of commerce was established in 1723 under the pervert and authoritarian father of Frederick the Great, Frederick William I. In Scotland, the Board of Trustees for the Fisheries and Manufactures was established in 1727. Its main point of attention would be the Scottish linen manufactures, which eventually managed a quite successful transition towards industrialization in the nascent cotton manufacture. Around the same time, 1723–1727, in the ascendancy of first minister Sir Robert Walpole, measures of similar intent and effect were implemented in England, ranging from the abolition of export duties on most domestic manufactures in the customs reforms of 1723/4 to the introduction of full draw-backs on import duties on reexported tobacco and the introduction of a warehouse scheme for such re-exports that generated export revenue and invisible earnings (tobacco).77 Since the 1660s, every major aspiring ruler, petite or large, in contemporary Europe would have at least established one such type of government body or board of commissioners that dealt with matters of economy, customs and manufacturing. In addition, even in countries without either native ruler or parliament – as Scotland after 1707 – the native noblesse would make sure that “the state”, in whatever chameleonic shapes it appeared turned into a protagonist in the game of economic development. This was an intrinsic part of the parcel colloquially known as “Enlightenment”; but one must acknowledge its roots in Renaissance theory and practice of advancement, competitive spirit and the emerging Ragion di Stato theory manifested by the works of Macchiavelli, Bodin and Botero. The Enlightenment brought us a fresh wave of economic liberalism and doux commerce discourse, as well as – per the writings of Montesquieu and many others – the ideas of an increasingly interconnected world and human-global community linked by the golden chain of trade and commercial intercourse. However, as the liberal vision of the Cameralist-mercantilist body of theory also shows, the Enlightenment also
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Eli Heckscher: Der Merkantilismus. Jena 1932 Hoppit: Britain’s Political Economies. Weststeijn/Hartman: An Empire of Trade. Rössner (ed.): Austria Supreme, introduction. Philipp Robinson Rössner: Scottish Trade in the Wake of Union 1700–1760. The Rise of a Warehouse Economy. Stuttgart 2008.
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set the tone for later capitalist theory that saw laissez-faire capitalism and a competitive market economy as principally good and desirable but was very clear about the possibilities of creating such an economy: it could not happen without direct, proactive interventionism of the state. Homo economicus was, as yet, homo imperfectabilis; the modern market man had to be made, and it was often made by the state.78 At least this is true for markets crucial to economic development in medieval and early modern Europe, such as grain79 for provision, cloth and textiles for industrial development.80 It has been one of the biggest cognitive distortion of the modern neoliberal mind to believe that competitive market processes emerge spontaneously by “cooperation with no-one in charge”81, and that the history of European capitalism and market economy followed a somewhat sequential or stage-like process of mercantilism being surpassed and transcended by economic liberalism sometime around 1750 and thereafter.82 The “cooperation with no one in charge” argument perhaps applies best to long-distance trade and trade routes that crossed multiple political borders and spawned several rulers’ territories, even empires, such as the global spice trades that were built upon long commodity and transaction chains between the Pacific, the Indian Ocean, the Red Sea and the Mediterranean and finally the Atlantic. Such commodity chains obviously could not be regulated under one central authority or regulative paradigm. Nevertheless, ideas about markets – and the creation of competitive markets – were shaping up and became increasingly differentiated. Seventeenth and eighteenth century economic discourse began to form discursive strategies and models that came increasingly close to what the Germans call Volkswirtschaftslehre. It is striking that the modern English equivalent for the German term Volkswirtschaft and Volkswirtschaftslehre derives from the classical-Greek and early modern œconomy, by and large denoting household and estate management. Chambers’ 78 R. C. Bowler: Menschenbild und Wirtschaftsordnung. Der Menschenbegriff im Kameralismus und in der Nationalökonomie, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 25/4 (2002), pp. 283–299. Birger P. Priddat: Kameralismus als paradoxe Konzeption der gleichzeitigen Stärkung von Markt und Staat. Komplexe Theorielagen im deutschen 18. Jahrhundert, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31 (2008), pp. 249–263; the relevant sections in Johannes Burkhardt / Birger Priddat (eds.): Geschichte der Ökonomie. Frankfurt a. M. 2009. See also Keith Tribe: Strategies of Economic Order. German Economic Discourse, 1750–1950. Cambridge 1995, ch. 1; Bertram Schefold: Glückseligkeit und Wirtschaftspolitik. Zu Justis “Grundsätze der Policey-Wissenschaft”, in: id. (ed.): Vademecum zu einem Klassiker des Kameralismus. Johann Heinrich Gottlob von Justi, Grundsätze der Policey-Wissenschaft. Düsseldorf 1993; Ingomar Bog: Ist die Kameralistik eine untergegangene Wissenschaft? Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 4 (1981), pp. 61–72; Lars Magnusson: Mercantilism. The Shaping of an Economic Language. London 1994; id. (ed.): Mercantilist Economics; and more recently, id.: The Political Economy of Mercantilism. London / New York 2015. 79 Steven L. Kaplan: Bread, Politics and Political Economy in the Reign of Louis XV. The Hague 1976, new ed. London / New York 2015; id.: The Stakes of Regulation. Perspectives on “Bread, Politics and Political Economy” Forty Years Later. London / New York 2015. 80 Rössner (ed.): Austria Supreme. 81 Paul Seabright: The Company of Strangers. A Natural History of Economic Life. Princeton NJ 2010. 82 Even most clever accounts still succumb to this popular myth, such as Mishra: Age of Anger.
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two-volume economic dictionary Cyclopædia, or an Universal Dictionary of Arts and Sciences (1728) still featured the mainstream definition of the term it had had for millennia83, defining “Oeconomics (as) that Part of Moral Philosophy that teaches how to manage the Affairs of a Family, or Community,” and “Oeconomy, the prudent Conduct, or discrete, frugal Management of a Man’s estate, or of another.”84 An economist, or Oeconomus, according to this was, as late as the 1730s, “a Person appointed to direct, and manage a vacant Church Revenue, or that of an Hospital or Community. Oeconomus was also anciently used for a Protector, or Advocate, who defended the Rights and Effects, of Churches, Monasteries &c. (…) The Name was also given to a Church-Officer who took Care of the Buildings and Repairs of the Church, and received and distributed Alms according to the Directions of the Bishop. In this sense, the sixth Council85 appoints that every Church have its oeconomus.”86 In early Christian texts of the second and third century, God himself was sometimes called the supreme or ultimate oikonomos.87 James Steuart, in his Principles of Political Oeconomy (1767) was amongst the first economists to apply the concept to the management of the state or macroeconomics, and Cameralism, as is well known, developed around the triad of Policey, Oeconomie and Cameralwissenschaften, which combined in a wholistic approach what we would call today public administration, macroeconomics, public economics and fiscal sociology.88 In the new models presented by Johann Joachim Becher’s Politischer Discurs: Von den eigentlichen Ursachen deß Auf- und Ablebens der Städt, Länder und Republicken (1668), or Philipp Wilhelm von Hörnigk’s massively successful Austria Supreme if Only It Wills So, 1684) we find prime manifestations of a new defintion of both economics as a science, as well as a new framework of state or “national” economics, and the proactive role of the ruler and state in the economic and market process. City economics and territorial economics, i.e. concepts of oeconomy dealing with the common weal as spatially framed89, had been known since the middle ages.90 However, it was 83 Dotan Leshem: The Origins of Neoliberalism. Modeling the Economy from Jesus to Foucault. New York 2016. 84 Ephraim Chambers: Cyclopædia, or an Universal Dictionary of Arts and Sciences, vol. II. London 1728, p. 655. 85 Lateran Council. 86 Chambers: Cyclopædia, p. 655. 87 Leshem: Origins of Neoliberalism. 88 Jürgen G. Backhaus: From Wolff to Justi, in: id. (ed.): The Beginnings of Political Economy. Johann Heinrich Gottlob von Justi. Boston, MA 2009, pp. 1–18; Jürgen G. Backhaus: The German Economic Tradition: From Cameralism to the Verein für Sozialpolitik, in: Manuela Albertone / Alberto Masoero, (eds.): Political Economy and National Realities. Papers presented at the Conference held at the Luigi Einaudi Foundation, Palazzo d’Azeglio, Turin, September 10–12, 1992. Turin 1994, pp. 329–356; Richard E. Wagner: The Cameralists: Fertile Source for a New Science of Public Finance, in: Jürgen Georg Backhaus (ed.): Handbook of the History of Economic Thought. Insights on the Founders of Modern Economics. Frankfurt et al. 2012, pp. 123–136. 89 Reinert: Role of the State 1999. 90 Heckscher: Merkantilismus.
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mostly from the seventeenth century onwards that writers began, if tentatively still, to reframe “the economy” or the bonum commune in territorial terms recognizable in shape to the modern eye as the economy, nationally or territorially framed by the borders delineating the spatial extent and limitations of the state. The end of the Thirty Years War and the Treaty of Westphalia may have played a role in this, as states now increasingly began to claim sovereignty and territorial integrity demarcated by discrete borders rather than overlapping prerogatives and freedoms enjoyed by individuals or social groups (such as the nobility as an “estate”) as important in political discourse and theory. A fundamental step towards a national income accounting frame had thus been made, even though macroeconomic analysis was, as yet, far away from the national income accounting framework known from post-1930 development.91 With a pinch of salt one could say that post-1800 Ricardian Anglo-Saxon economics became focused on catallactic, even chrematistic, visions of economy and an idea of a state-less economy manifested as a bargaining process between individuals, globally-active but decontextualized from cultural, moral and regional contexts who traded and exchanged under equal terms but without consideration of regional, cultural, political and social context within which economic activity was necessarily embedded. Continental theory, manifested by scholars such as Friedrich List, Wilhelm Roscher, Gustav Schmoller, Karl Bücher or Werner Sombart (and Alexander Hamilton in the US) sometimes took a different turn.92 And as language is a powerful mirror of custom and culture this also gives away some of the deeper epistemic rifts93 within the modern social sciences. It is always the economy and nothing else in the modern conception, in other words: the “economy” becomes a time- and space-less entity. Pre-industrial economic sciences, in particular Cameralism and mercantilism knew no meaningful distinction between “state” and “economy” – both were part of same thing (we would nowadays better say they were entangled with one another). The centre of this conception was the good and benevolent Hausvater – the pater familias, later on statesman or prince who managed means and expenses of the household, later on the state and macroeconomy economically and to the benefit of his Ganzes Haus or domus, later on state and its subjects, for whose economic and spiritual well-being the good Christian Hausvater or king was personally responsible. We find here elements, if not roots, both of modern business economics (through the idea of economizing on available resources); but the conception of the territorial, later national economy, as we see it in the emerging Cameralist and mercantilist conception post-1650 was 91 Dirk Philipsen: Little Big Number – How GDP Came to Rule the World and What to do About It. Princeton (New Jersey) 2016; Matthias Schmelzer: The Hegemony of Growth the OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm. Cambridge 2017. 92 Bertram Schefold: Der Nachklang der historischen Schule in Deutschland zwischen dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem Anfang der sechziger Jahre, in: Karl Acham / Knut Wolfgang Nörr / Bertram Schefold (eds.): Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren. Stuttgart 1998, pp. 31–70. 93 Keith Tribe: Economy of the Word. Language, History, and Economics. New York 2015.
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somewhat fundamentally different, marking a decisive break with the economic past some time during the fifteenth and sixteenth centuries, by a new horizon and frame of economic analysis that may be termed, with a pinch of salt, “macroeconomic.” The striking thing is that this coevolution of an increasingly focused view of “seeing like a state”, coupled with the rise of macro-economic analysis in European economic discourse took place in a time and under a framework when national states were all but existent and the reaches and power of the state were not even nearly as strong or clearly defined as much of the contemporary writings would have it. Schmoller was amongst the earliest historians to suggest that the parallel development of the modern state and what we may call modern macro-economic analysis represented a process of co-production: of the modern state as well as the modern market economy. One determined the other and vice versa.94 This process clearly pre-dated the Enlightenment which has been suggested by some to represent the beginnings of modern economy and modern economic analysis.95 Still, a lot of early modern “macro-economic” writings and conceptualisations of strong states managing the economy remained purely Utopian. France under Colbert and the Sun King was still fragmented, in legal, geographical and institutional terms. It was an economy of separate regions, personal exemptions and distinct provinces. Each had their own and quite individual systems of taxation, law and customs with specific economic rules applying, especially when it came to taxing manufactured imports. Often these were region- or territory-specific, derived from ancient local privileges. No integrated national French economy existed yet. The sea bound French provinces for instance – the provinces reputées étrangères (Brittany, the Guyenne, Flanders, etc.) not only paid different taxes than the cinq grosses fermes in the political and economic heartland of France, where much of manufacturing strength was located. Large shares of the native aristocracy were exempt from certain taxes or paid lower rates. In England on the other hand, where parliament had abolished personal privileges and prerogatives by the 1660s and the practice of farming out the customs duties to private entrepreneurs who would, in return for a lump sum fee to the Crown, be entitled to collect the national customs duties (pretty much on their own discretion, as they would not have to disclose their accounts), had ceased. Was this a marker of economic modernity? In the wake of the Glorious Revolution 1688, equal rates of excise and customs taxation applied to every single English (and after 1707 British) citizen and most tax exemptions tied to personal privileges were abolished.96 This turned England into one of the most transparent, accountable and credible states in Europe. It enabled a massive expansion of public debt at progressively lowered interest rates,
94 Gustav (von) Schmoller: The Mercantile System and its Historical Significance [1884]. New York 1897. 95 Joel Mokyr: The Enlightened Economy. An Economic History of Britain 1700–1850. New Haven (Connecticut) 2012, particularly ch. 4. 96 This was not the case in Scotland; as per the Treaty of Union 1707 a handful of the hereditary nobility retained the privilege to import foreign wines free of customs duties.
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coupled with a record value of per capita taxation. The British fiscal-military state turned out to be the most powerful one of its age, facilitating Britain’s transition to industrialization and the surpassing of the first modern economy – the Netherlands – in terms of productivity and per capita national wealth after 1800. In most parts of the continent, the Netherlands and some Italian cities excepted, things were different. The grip of the state (ruler, prince, king) was much less firm, property rights less secure, rulers and states had a comparative advantage on violence and jurisdiction but no monopoly on it, the nobility held many hereditary jurisdictions, and native entrepreneurial drive could accordingly be stunted. Eighteenth-century Cameralist texts abound with recipes of how to stimulate domestic entrepreneurship by beneficial measures such as modest taxation, bounties and other forms of financial encouragement. They often came to naught because rulers, who would often be identified as sources or origin of economic reforms towards more liberal economies, had to constantly fight back their native aristocracies who possessed large swathes of land, enjoying considerable judicial powers (the niedere Gerichtsbarkeit in German) but also numerous privileges and tax exemptions. Eighteenth-century economics texts also stressed how important a strong and impartial prince or king was in the economic and market process, so as to guarantee the framework of transparency, equal access, absence of rent seeking, property rights security and base level of fairness we nowadays associate with competitive or free markets. And whilst the East-of-Elbe vs. West-of-Elbe property rights dichotomy leading to economic bifurcation with countries facing the Atlantic enjoying higher long-term economic growth rates than landlocked economies further east97 can be debunked as mythical98, there clearly was a lot of personal and economic unfreedom in the European economies until the 1800s. In Ancien Régime France the power of local magnates was sound enough to make the grip of the central court at Versailles look decidedly weak. This was not radically different elsewhere. Throughout his time as Prussian regent and king, Frederick II “the Great” never managed, however hard he would try, to abolish the legal and economic freedoms99 (prerogatives and privileges) enjoyed by the local nobility in the Prussian heart lands around Berlin and the Kurmark. It was exactly these “freedoms” that drove German economist Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771) mad. It would prevent the Prussian state from taking its modern form in the way aspired by Frederick (who in many ways built his framework of power upon the Nobility) and sketched in the grand narratives in modern sociology and politics. And it was exactly that situation that led the German economists of the age to constantly argue for a “strong” Prince in their models. But far from advocating the absolutist ruler or “enlightened despotism”, as a very naïve interpretation of these theories sometimes still does, the Cameralists had something else in mind. Homo was homo imperfectabilis, with her often conflicting, antagonistic and childish desires and neither an understanding nor care for the needs of 97 Acemoglu et al.: Rise of Europe; Acemoglu/Robinson: Why Nations Fail. 98 Cerman: Villagers and Lords. 99 On this see Epstein: Freedom and Growth.
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the developmental state.100 Markets clearing spontaneously to the best outcome for everyone were unknown, as was the idea of an economy that would have functioned independently from the state and as a mechanism that was governed by its own laws of demand and supply. One important conclusion derived from this was: Competitive markets as we know them, and as pre-classical thinkers had known them, had to be created. They could not (as Adam Smith and many authors of the Anglo-Scottish enlightenment spectrum often assumed, if tacitly) be taken as a given.101 Eighteenth-century Anglo-Saxon “enlightenment economics” – usually referring to Adam Smith and David Hume had remarkably little to say on how competitive markets emerged and how such markets were to be governed. They were simply assumed as a given (which also testifies, if indirectly, to the high level of commercialisation, monetisation and market integration which the English economy had experienced since the middle ages).
IV. Whilst theories of good market governance were around since the Renaissance, it is only after 1800 that states found means of effective implementation good theory as good practice. To an extent “Governing the Economy”, or the idea that a market economy can be managed is an old hat, but as a practical feature it was a post1800 phenomenon.102 But as we have seen above, modern forms of economic governance were in the making, as the rise of the English and British fiscalmilitary state, as well as the blossoming of political economy since Giovanni Botero’s Ragion di Stato and Treatise on Cities (1588/9) since the late sixteenth century shows. This was a learning process that had been set in motion since the Renaissance. But on their way rulers, government and states had to adjust their highflying goals to the modest circumstances and means characteristic of their time and age. One of the earliest forms of economic intervention relates to market regulation. All over Europe, the late medieval and early modern textual record abounds with market ordinances, price edicts and similar forms of regulative intervention. Sometimes these were addressed at price fixing, that is to set minimum or maximum prices for some commodities traded in the urban market, usually grain. But such ordinances could also extend to other types of goods considered essential or vital for the common good, such as meat, fish and fowl, firewood, textiles, or raw material inputs for those textile industries that were native and vital at the respective place. Some ordinances, particularly during the early modern age, would de-
100 Richard Bowler: Menschenbild und Wirtschaftsordnung. Der Menschenbegriff im Kameralismus und in der Nationalökonomie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 25:4 (2002), pp. 283–299. 101 Priddat: Kameralismus als paradoxe Konzeption. 102 Peter A. Hall: Governing the Economy. The Politics of State Intervention in Britain and France. New York 1986.
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tail the spatial layout of urban markets, the division of flesh, fowl and fruit markets across the city, as well as the arrangement of market stalls on the market place, as well as different times and conditions of market access for domestic sellers and buyers (i.e. those considered native to the respective town or city). Such regulation especially extended to the role and place of intermediaries, such as brokers and wholesalers. These strategies often focused on the notion of order in the market, a place conceived both spatially as well as in dimensionless terms (similar in many ways but far from identical to the more modern sense: the intersection between demand and supply). Without order in the market place no market is ever likely to perform well or an economy even to grow. Not all markets were regulated by the state or government; informal and “black” market abounded, as did tax and customs evasion; prior to the industrial revolution market regulation usually covered essentials such as food, cloth, textile inputs, or products considered important for the health of the common weal. The early modern mercantilist and cameralist literature abounds with attempts at regulating imports and exports of particularly specified manufactures but paid much less attention to more mundane tradeable of day-to-day life. Village life and economy usually evaded both official regulation (and thus also tax and statistical coverage) and more around a “moral economy” and informal private order enforcement mechanisms, which was similar in certain fields of long-distance trades that lacked a central supervising authority. Contemporary markets tend to me more comprehensively regulated, which not only applies to highly formalised trading places such as stock exchanges, but also the DIN- and other technological or industrial norms, quality controls or recording of transactions through means of VAT (a twentieth-century invention). In the nineteenth century Chambers of Commerce became increasingly crucial intermediaries and agents of regulation; before that, buying, selling and making things often completely evaded official regulation or statistical capture (this is one reason why historians should, finally, give up the idea of over-regulated or “dirigiste” economies in the age of mercantilism before 1800 which comes, partly, from a misinterpretation of the political theory and literature of the Age of Absolutism, as well as a misreading of pre1800 normative sources. Drawing upon a rich socio-economic literature since the 1400s that has come to be known to us by the slightly ambiguous term Policey (an untranslatable term far away from modern notions of police but less so policing) two things can be emphasised. First, by a quantitative analysis of relevant regulations regarding certain forms of incriminatory economic behaviour and rentseeking (such as cornering the market or forestalling) it can be shown that far from being directed at “social disciplining” (Oestreich) and “social norming”, early modern Policey was directed at stabilizing the market process, to increase market efficiency, facilitate market integration and thus to improve the common weal. Regulation did indeed increase over time, and it may have done something to the economic system: As new research by Pfister has shown, the second half of the seventeenth century saw a rise in total factor productivity and living standards in many cities in the German lands that, until the 1720s, compared quite well with the northern European average figures, even places in England and the Nether-
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lands.103 At the same time legal historians have seen a trend-break in the pattern of Policey and market regulation; Härter’s work for instance sees a marked and secular increase in the numbers of edicts and ordinances in the German lands specifically dealing with some form of market regulation after the Thirty Years War.104 This may have had a positive impact on market performance and market integration after 1650. Future quantitative studies should pay closer attention to this. Later traditions in modern liberalism such as post-1945 Ordoliberalism and Neo-Institutionalism had roots in earlier models of market governance, some of which went back to Scholasticism. Hayek and other Ordo-/neoliberal thinkers would refer to Martin Luther and protestant market theory, and some of the Ordoliberal models and discourses also drew on earlier (medieval) Scholastic architectures of market regulation.105 Another aspect of economic policy that has received only cursory attention by historians, especially when it comes to discussing economic intervention or “governing the economy”106 in deep-historical perspective, is monetary policy and regulation. Monetary policies for a long time represented the only meaningful and perhaps only truly effective approach which temporal authority, later called “government” or “states”, could use to effectively govern, and even manage, the common weal. They usually did so by taking a free-market approach, by letting the public decide about the amount of money held (and thus money that was in circulation), whilst limiting government control to the price of money or mint ratio (Ger. Münzfuß), i.e. the amount of gold and silver embodied in new coins after bullion had been delivered to the mint. Very indirectly medieval and early modern states had some sort of control on the composition of money supply, if seen in a process-dynamic view. They could mildly influence the composition of monetary stock and monetary denominations over time, i.e. seen over a series of years or mint runs. This extended to the ratio of high-value to low-value coins in circulation. This ratio could, when unfavourable or not managed well, cause social unrest. In late medieval and early modern Germany complaints about a lack of good small change coin were ubiquitous. This does not mean that small change currency was necessarily or always lacking; what lacked were small change coins that were stable and reliable in terms of value and purchasing power.107 Martin Luther said so himself, in a side remark at the end of a letter to his wife Katharina in 1540:
103 Ulrich Pfister: The Timing and Pattern of Real Wage Divergence in Pre‐industrial Europe. Evidence from Germany, c. 1500–1850, Economic History Review, Second Series (2017), pp. 701–729. 104 Karl Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat. Frankfurt a. M. 2005. 105 Philip Manow: Ordoliberalismus als ökonomische Ordnungstheologie, Leviathan, Vol. 29, No. 2 (2001), pp. 179–198. 106 Hall: Governing the Economy. 107 Philipp Robinson Rössner: Deflation – Devaluation – Rebellion. Geld im Zeitalter der Reformation. Stuttgart 2012.
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Philipp Robinson Rössner We have here not a single penny and hardly any small change, possibly as little as you have at Wittenberg. (…) People should refrain from using Märkische groats and the Schottenheller, as these considerably harm these lands and their people, being worth less than five hellers each.108
By setting the mint ratio correctly, i.e. the grams of precious metal (gold and silver) which every circulating coin should contain, temporal authority (“the state”) set another basic parameter or framework of order in the market place. Very often they failed, in reality, to keep coin values stable; they certainly did so in a longterm perspective, as the work by Schremmer and Streb, or Sargent and Velde suggests.109 Between the 1400s and the 1900s the southern German penny currencies lost 90 per cent of their intrinsic value (silver weight).110 But coins even could, as the textual record reminds us, by means of devaluation be turned into a stimulus for domestic manufacturing and exports. We find here early versions of a very successful programme of stimulating domestic exports by currency devaluation, a strategy laid out clearly in a pamphlet from the Saxon lands in 1530. In the socalled Saxon Currency Dispute (Münzstreit) the anonymous “Ernestine” pamphleteer, in his 1530 reply to the so-called “Albertine” or conservative voice suggested that Saxon coins be debased and adjusted downward in terms of silver content, to prevent coin export and further appreciation of the good Saxon money, which would have progressively increased the price for Saxon manufacturing exports.111 This way it can be shown that such policies, rather than being limited to notions and concepts of order, also had the effect of promoting some growth and manufacturing when applied wisely and with care. Nevertheless, complaints about the lack of quality and lack of good, i.e. reliable and stable coins, prevailed, in all German states, from the middle ages until the early modern period. Neither attempts at creating an imperial currency112, nor coordinating monetary policy on the Reichskreis (Imperial Circle) level were met with sustained success.113 But far from being considered “failure” throughout, we should positively acknowledge the shaping of a market language that went ahead with such repeated attempts at streamlining and optimising monetary policy. The political economy of early modern money is a field that is still understudied114, but in tandem with discourses on good money and good policy, a fuller analytical understanding of the market
108 Letter to Katharina 1540, quoted in Rössner: Deflation, ch. 1. 109 T. Sargent / F. Velde: Big Problem of Small Change. Princeton NJ 2003; Philipp Robinson Rössner: Monetary Instability, Lack of Integration and the Curse of a Commodity Money Standard. The German Lands, c. 1400–1900 A.D., Credit and Capital Markets, 47/2 (2014), pp. 297–340. 110 Rössner: Monetary Instability. 111 Bertram Schefold (ed.): Vademecum zu drei klassischen Schriften frühneuzeitlicher Münzpolitik. Düsseldorf 2000; id.: Wirtschaft und Geld im Zeitalter der Reformation, in: id. (ed.): Vademecum zu drei klassischen Schriften frühneuzeitlicher Münzpolitik, pp. 5–58. 112 Volckart 2017. 113 Gerhard. 114 But see Oliver Volckart: Eine Währung für das Reich. Die Akten der Münztage zu Speyer 1549 und 1557. Stuttgart 2017, as well as remarks in Rössner: Deflation, ch. 3.
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process also evolved that can be traced through the thousands of documents, edicts, ordinances and protocols that have survived for the German states, minting and monetary policy since the middle ages. In many ways, medieval or “Scholastic” monetary theory continued, in its broad outlines, to dominate discourses on coins and monetary policy into the early modern period. Some important parameters of monetary policy and paradigm were changed over time, though.115 Since the textual record of medieval Scholasticism, such as Nicholas Oresme’s Treatise on Money (c.1355) and through to the mercantilist and Cameralist genre of the seventeenth to early nineteenth century, economic writers connected ideas of currency regulation with wider aims of societal well-being, the common weal, even economic growth. The stock-in-trade instruments known from modern development economics are commonly known as “Listian”, because Friedrich List turned out, by his connections with Alexander Hamilton and US trade policy, to attain some prominence and considerable posthumous fame. List, in particular in his Das Nationale System der Politischen Ökonomie, could hardly have been a less original writer. He drew, without explicitly mentioning, on a menu of choices, recipes and theories that had long before been known, not only in Renaissance Europe but other parts of the world as well, including Song China and early modern India. As we have seen in the previous section, since mid-seventeenth century more direct ways of interfering with the economy were developed in European political economy discourse and became increasingly applied in practice. We find policies and strategies of “mercantilism” (a misnomer) all over the place, be that in the German lands, Sweden and Italy (“Cameralism”), in France (“Colbertism”), in England and Scotland (“mercantilism”). A growing number of voices developed increasingly refined strategies of promoting domestic manufacturing and exports. As we have seen above, manufacturing mattered – manufacturing is apt to yield increasing returns to scale, as opposed to agriculture and any other primary activity – was known since the days of Italian Jesuit Giovanni Botero (Ragion di Stato, 1589). This could be done using taxes and customs, protective, fiscal as well as prohibitive. Quality controls by chosen experts, usually masters, linen weavers and former craftsmen active in the industry appointed by government, became also increasingly popular since the seventeenth century. Many governments and rulers encouraged the immigration of skilled foreign master weavers and other experts, spent public money on bleaching fields and other capital outlets where private funds failed. But the task could also be achieved using economic incentives such as premiums and bounties on select pieces of manufacturing, especially when goods were produced for foreign markets. By this it was intended to reduce competitive disadvantages, which many economies on the continent suffered from. The entire spectrum known from modern import substitution and infant industry theory unfolded and was known in very clear terms since the sixteenth century at latest. 115 Philipp R. Rössner: Monetary Theory and Cameralist Economic Management, c. 1500–1900 A.D., Journal for the History of Economic Thought 40:1 (2018), pp. 99–134.
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We find such “protectionist” voices and legislations addressing problems of domestic competitiveness since the days of Martin Luther (1483–1546). The economic debates on the German imperial diets since the 1530s addressed the problem of nurturing the domestic German manufacturing industries, especially cloth production, by protecting them from foreign competition. At that time, the English cloth industry was on the rise and English cloth exports made themselves felt on the continent. German voices and discourses from the later sixteenth century habitually lamented the presence of English cloths, something which several imperial ordinances (Reichspoliceyordnungen) of the 1530s tried to deal with on an empire-wide basis.116 Attempts at coordinating such measures on the imperial level continuously failed during the sixteenth and seventeenth century. Rulers and states were weak, as were their grips on market; the extent of informal markets, or transactions and economic activity bypassing the channels of formal or institutionalised markets (such as town markets or quarterly fairs) was large.117 But as the history of the imperial currency ordinances shows118, the spirit of imperial regulation was in the air and sharpened the economic conscience of public authority in a way later generations could draw upon. Economic policy and governing the economy was an evolutionary learning process. In many ways it remained limited to a discourse, an attempted normative order. But just because an order or structure could not be comprehensively enforced this does not mean that such normative order, by its very existence as a discursive tool and reference framework for and between political actors of the time and age, was not effective in its own right. It structured economic reality by informing individual actors’ choices, mentality and discursive strategies. But often such developments unfolded to surprising success when seen upon hindsight. In seventeenth-century Austria and France, eighteenth-century England, Prussia and Scotland whole state departments were founded specifically during the second half of the seventeenth century, after the Thirty Years War, as well as after the Seven Years War had ended in 1763; they were endowed with funds directed at promoting those branches of industry that were identified as most likely to provide chances for economic expansion and boosting international competitiveness. In Scotland and Ireland, it was linen; in Prussia as well as many parts of Austria, apart from linen also woollen goods, sometimes silk.119 Such strategies have become known in the twentieth-century literature as “infant industry protection/industrialization” (ISI). And whilst some scholars have constantly denied their existence and thus the applicability of the infamous ISI-term for any period prior to 1900, recent research has shown that ISI as a philosophy was in place in the Habsburg Netherlands in the 1740s and 1750s120, or Scotland, where at the 116 Blaich: Die Wirtschaftspolitik des Reichstags. 117 On monetary policy, see Volckart: Eine Währung; Rössner: Deflation; on imperial mercantilism, Ingomar Bog: Der Reichsmerkantilismus. Studien zur Wirtschaftspolitik des Heiligen Römischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert. Stuttgart 1959. 118 Volckart: Eine Währung. 119 Hörnigk: Oesterreich über alles wann es nur will (1684). 120 Coenen’s chapter in Rössner (ed.): Economic Reasons of State.
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same time the written documents indeed literally and verbatim speak of the nurturing and protection of “infant industry”, when implementing exactly those same measures of industrial policy usually associated with the modern ISI model.121 Basic parameters we find, once again, in the European textual record since the sixteenth century. Once again this is a fine example how ideas can exist first long before being translated into practical application. Modern discussions on state intervention have, particularly in the wake of the Keynesian revolution in economic analysis and the crisis conditions of the 1930s, referred to state demand, demand management and state enterprise as key features of economic interventionism. Post-war Britain and Germany in the 1960s and 1970s provide good but by no means first examples of government taking over the ownership and management of the means of production. Luther himself was called upon as an expert repeatedly after 1536 when the Mansfeld Saiger works were transferred from private ownership and management into the hands of the Counts of Mansfeld.122 And whilst not necessarily or ultimately successful in profit-accounting terms (some manufactories of the Ancien Régime made losses for the period for which we have sources), there were different economic rationales of such strategy. Again, we do not have to look far to find similar strategies at work, be that the Prussian Zeughaus run in the 1740s and 1750s and beyond by the Prussian government, not only to provide sufficient uniforms and other materiel for the army, but also to generate the sort of spill-overs in technological knowledge, inventive verve and entrepreneurial drive that was lacking in eighteenth-century Prussian society. Gunnar Lind has found a similar rationale at work in eighteenth-century Denmark-Norway.123 Werner Sombart’s Der moderne Kapitalismus (4th ed. 1927) provided a comprehensive survey on early modern European states running arms, iron and textile manufactories. Similar measures were adopted in the Austrian lands, or Saxony after the Seven Years War. Often the state acted as an entrepreneur of last resort, after private initiative had run into troubles. The production of cotton cloth only began to pick up towards the end of the eighteenth century. The flagship project of the industry was the k.k. priv. Wollenzeugfabrik in Linz, founded in 1672 under privilege, including a monopoly for thirty years on specific types of cloth, including their marketing and sale. This was meant to cover what is known in modern development theory as a Listian “learning period”124, intended to break the old monopolies of the guilds and thus create a more powerful industrial productive landscape. After experiencing eco121 Philipp Robinson Rössner: Merchants, Mercantilism, and Economic Development. The Scottish Way, c. 1700–1815, Annales Mercaturae, 1/1 (2015), pp. 97–126. 122 Ekkehard Westermann: Das Eislebener Garkupfer und seine Bedeutung für den europäischen Kupfermarkt, 1460–1560. Cologne / Vienna 1971; id.: Der wirtschaftliche Konzentrationsprozeß im Mansfelder Revier und seine Auswirkungen auf Martin Luther, seine Verwandte und Freunde, in: Rosemarie Knape (ed.): Martin Luther und der Bergbau im Mansfelder Land. Lutherstadt Eisleben 2000, pp. 63–92. 123 Gunnar Lind: Early Military Industry in Denmark-Norway, 1500–1814, Scandinavian Journal of History 38:4 (2013), pp. 405–421. 124 Friedrich List: Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841.
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nomic problems, the manufactory was sold to the Empress for 926,000 Thalers in 1764. It is said to have been a mixed success for the best part of hundred years, a fate shared with many a manufactory across the Empire. Manufactories often lacked sufficient capital. Native entrepreneurs shied away from investing. Initial years could well see negative profits and bleak expectations. At the time of sale, the manufactory would have been the biggest state-run enterprise in the Austrian lands. In 1771, the workforce of the Linzer Wollenzeugfabrik numbered more than 26,000. This as well as other examples of manufactories show the interest of the government to promote useful knowledge, innovation and technical drive and incense otherwise lazy – or hazy – native entrepreneurs to try out new means and processes of production. Even in the Western world, this is still standard practice.125 Governments continued to act in this way, particularly during the twentieth century, and not always or exclusively during periods of war.
V. The full menu of state interventionism only became available in the wake of the Keynesian revolution in economic analysis during the twentieth century, the rise of modern national income and growth accounting, as well as the rise of modern industry and the modern power state. And yet, there is a pre-history that should not be left unattended. Eighteenth-century Cameralist texts were full of whole sections and chapters discussion money’s velocity and how “circulation” in the economy, something that went beyond velocity, could be stimulated, and how manufactories and domestic industry should be promoted. Early modern authors also advocated states to take an active role in the economy either by public spending – if enough taxes were available, or else by chipping in something from the rulers’ own chests – the Privatschatulle. Since the Glorious Revolution we find, particularly in England, a state that – whilst not yet controlling interest rates and money supply in the way modern states or their extended arm the central banks try to do – nevertheless by the sheer weight of government spending and government debt began to play a manifest role in the economic and market process. The road to Keynes was not that short as is usually assumed. As Keynes himself admitted in chapter 23 of his General Theory (1936), in which he expressed some admiration for early modern mercantilists, the mercantilists had had a point. Hjalmar Schacht, president of the Reichsbank and then minister of economics (1934–1937) had written a doctoral dissertation on Cameralism and confessed that some of his intellectual inspiration for his policy came from borrowing from the early modern Cameralists. Controlling the balance of payment and by making sure that there was a constant positive influx of precious metal into the domestic economy was considered by early modern Cameralists and mercantilists the only effective means available that would keep interest rates low – one of the standard tool of 125 Mariana Mazzucato: The Entrepreneurial State. Debunking Public vs. Private Sector Myths. London / New York 2015.
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Keynesian philosophy, albeit Keynes’ reading of the mercantilists deserves to be called anachronistic. Schemes were also developed in the eighteenth century with similar intent, by developing public banks that should extend credit to domestic producers and at the same time stabilize exchange rates, keep monetary supply at a sufficient level, to keep interest rates low and stimulate the economy by an increase in money’s velocity.126 Many of these have found their way into modern twentieth-century theories of economic interventionism. They should neither be forgotten nor mistaken for a sudden and rather recent phenomenon in history. Plus-ça-change? That would be too easy. If there is still room for a Hegelian Weltgeist it can be found in some writings still127, but by and large historians have given up on causality, continuity and the longue-durée as historical actors. This is a pity, as longue durée perspectives, when not falling into the trap of looking for either causation or historical continuity, can considerably enhance our understanding the history of markets and the dynamics of capitalism. Nevertheless, key features of what have been described as “modern”, i.e. late nineteenth- or twentiethcentury strategies of economic intervention and “governing the economy” have a prehistory which in most cases dates back into the European Renaissance.128 This tells us something about ideas and innovation in economic and historical analysis. By no means was the menu of choices described so far entirely characteristic of or limited to what “Europeans” did. Similar ideas, theories and practices, especially relating to the promotion of domestic manufacturing and economy, can be found in seventeenth and eighteenth-century Mughal India, even before 1526 under the Sultanate. Twelfth-century China knew measures of state policy and economic governance that may or may not classify as “mercantilist”. During the early modern period, Chinese economic discourse focused on agrarian activities and a harmonized distribution of food resources, stabilizing the common weal without altering it by achieving economic growth.129 Merchants were often seen critically, in a similar way as in the European middle ages, where merchants had been identified as main culprits for market failures, usury, forestalling and rent seeking. In the early modern European states on the other hand we observe an emerging coalition between capital (merchants) and coercion (rulers and states), which eventually led to the build-up of the fiscal-military states and European economic and political expansion since 1492, culminating during the nineteenth century when simultaneous processes of industrialization, colonialization and globalization gained full swing. As a result, and almost ironically, the early modern Chinese state seems much less-interventionist and much nearer towards the later liberal paradigm of “laissez-faire” than any of the early modern and nineteenth century European states ever were. Mughal India and the Ottoman Empire on the other hand knew concepts and strategies of active intervention in the economy, as there were notable similarities in formulated goals, economic discourse, as well as practical 126 127 128 129
See survey in: Rössner: Monetary Theory and Economic Management. E.g. Acemoglu/Robinson: Why Nations Fail. E. Reinert: Role of the State. See the chapter by Peer Vries in Rössner (ed.): Economic Reasons of State.
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policies implemented in the Mughal and the Ottoman Empires during the early modern period, which sometimes resemble the European Cameralist and mercantilist world and model. By the later thirteenth and fourteenth century cities such as Delhi counted amongst the biggest urban conglomerates within the Muslim world. The Sultanate was a sophisticated market economy, and levels of taxation extracted from the native peasantry were large enough to keep a prodigious quantity of coin in circulation to make commerce flourish – both regionally, as well as in terms of this region’s integration into international trade circuits. Whilst Muslim attitudes to commerce and economy are said to have been more relaxed in many ways than western Scholasticism, the same probably applies to Buddhism, which may in fact have taken a far more positive attitude towards business and economic behaviour than is usually acknowledged. Clearly this was a different political economy and different cultural perception of the economy, compared to post-1400 “mercantilist” Europe and the European fiscal-military state emerging after the Renaissance. But was it, really? Ancient Indian thought often highlighted the duty of the rulers to promote the well-being of their common wealth through some active interference, but mostly through moderate and fair levels of taxation. Confucian economic thought evolved along similar lines: the lower the tax rate the higher potential total tax yields; a supply-side economics not far away, in spirit, from the “Laffer Curve” rationale. Very few German Cameralists of the sixteenth to eighteenth century would have taken issue with any of these propositions. In this way, the six or seven centuries of European history of capitalism serve as a good example of how states proactively interfered with the economy. States developed an increasingly varied and versatile menu of choices and options. Many of these are still common in modern policies of regulation and economic intervention, and if there is one lesson that the longue-durée provides it is that industrial policy and economic interventionism were no invention of the nineteenth or twentieth centuries. It is only the changed shape and powers of the modern bureaucratic-technocratic state past-1800 which enabled some of the policies which had been known for centuries, to be implemented ever more efficiently.
THE MONETARY SYSTEM AS A FORCE FOR INTEGRATION/DISINTEGRATION: THE CASE OF AUTONOMOUS CRETE IN THE WIDER MONETARY CONTEXT BETWEEN 1898 AND 1913* Yiannis Kokkinakis, Crete
ABSTRACT: This paper attempts to determine how the forces of integration/disintegration shaped the decisions taken by the early governments of the Autonomous Cretan State (1898-1913) in relation to the island’s monetary system. For the Christian population, autonomy was regarded as a prelude to the permanent resolution of the Cretan question, i.e. unification with Greece. But just as the Cretan constitution (1899) had introduced provisions unfamiliar in Greek constitutional tradition, so the newly created Cretan monetary system was to feature several divergences from Greek financial law. This paper examines both the political and economic consequences of those divergences seeking to place the monetary system of the Cretan State within the international currency framework of the time. The aim is to trace the influences, coercions and potentialities to which Cretan governments were exposed when formulating their economic policies. Keywords: Cretan State, Monetary Policy, Bimetallism, Gold Standard, Colonial Currency
HISTORICAL BACKGROUND AND INTRODUCTION Crete became a part of Ottoman Empire in 1669, when the last Venetian fortress, Handax [Heraklion], fell to the Ottomans after four and a half centuries of Venetian rule. In 1830, the Sultan granted Crete to the Vice Regent of Egypt, Muhammad Ali, inaugurating a ten-year period of significant changes in the relations between the Christian majority and the Muslim minority of the island. In 1840, following Egypt’s defeat in the Turco-Egyptian War, the island returned to the Porte, *
This is a revised version of a chapter published in Socrates Petmezas / Lena TzedakiApostolaki (ed.): Sovereignties and Allegiances in the Eastern Mediterranean, 1880–1920. Heraklion 2014 pp. 245–284 (in Greek). The author is grateful to the editors and publishers for permission to use relevant material from that piece. The support of librarians and archivists (in particular, the Historical Archive of Crete, the Historical Archive of Bank of Greece, and the Microform Service on c-floor in Firestone Library at Princeton) is gratefully acknowledged.
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and remained under Ottoman control until 1898. In the aftermath of the Revolution of 1866-1869, Crete acquired its first “Organic Law”, which gave the Christians fairer representation, an indirectly elected General Assembly, tax exemptions, direct elections of judges and elders, and a sense of administrative decentralization. The uprisings in the Balkans after 1875, the signing of the Treaties of San Stefano and Berlin – which recognized the full independence of Romania, Serbia and Montenegro and autonomy for Bosnia-Herzegovina – gave the Christians of Crete some hope of winning radical amendments to the Organic Law, if not full autonomy. In October 1878, the Porte signed the Halepa Pact under which the sultan agreed to introduce further liberal reforms, to appoint Christian Governors and to transfer administrative offices from the Porte to the Cretan population. Governor rule was balanced by a local, predominantly Christian General Assembly and a General Administrative Board with consulting duties elected by the Assembly. Other provisions aimed to protect the Muslim minority (e.g. modifying any fundamental law required a two-thirds majority in the Assembly). The Christian majority rapidly engaged in party-political competition for influence and preponderance in the new power system inaugurated by the Halepa Pact. The roots of the 1889 insurrection lay not only in adverse economic conditions and the inability of the Porte to alleviate them, but also in the accentuation of the divide between a newly elected liberal majority in the assembly and a conservative minority struggling to remain in power. This led to military suppression and the issuing of a firman [Imperial Decree] in November 1889, which overturned all the earlier reforms. Crete eventually gained full autonomy from the Ottoman state in 1898, after three years of revolutionary fever, which triggered a spiral of violence, a war between Greece and the Ottoman Empire, and the intervention of the Great Powers acting as guarantors of the new regime.1 In the first part of this paper, I present the varying perceptions on the future monetary policy of the autonomous state, based on the proposals considered by the first Cretan government. In the second part, I shall attempt to place those proposals within the specific international monetary context of the era. Taking into consideration the broader framework and the effects of specific monetary arrangements on the Cretan economy and finance, the paper concludes by casting doubt on the smooth functioning of the pre-war gold standard.2 Moreover, taking into account the stifling framework of the Cretan State gold standard and the dif1
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Manos Perakis: Return to Ottoman sovereignty and de-Ottomanization of Christans on Crete (1889–1895), in Cretica Chronica 36, (2016), pp. 93–118, passim. M. Perakis: An ineffective attempt at implementing Tanzimat in the Ottoman Empire. Ethno-religious and socio-political dispute in Crete during the Chalepa era (1878–1889), in: Maria Baramova / Plamen Mitev / Ivan Parvev / Vania Racheva (ed.): Power and Influence in South-eastern Europe, 16th-19th century. Berlin 2013, pp. 119–129, here 121–123. Kallia Kalliataki-Mertikopoulou: Internal situation in Crete 1868–1877 (doctoral dissertation, University of Athens). Athens 1984, pp. 126–129. Of course, I am not claiming originality in this respect. See for example the now classic collection of essays in Barry Eichengreen: The Gold Standard in Theory and History. New York and London 1985.
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ficulties of introducing a gold currency in various parts of the globe – such as Far Eastern countries –, it can be legitimately argued that it was not gold which unified markets and international transactions in the last third of the 19th century. Instead of WWI leading to the demise of a functional and unifying monetary standard, we should regard the fact that many countries joined the gold standard in the late 19th and early 20th century as one of the causes that aggravated a delicate economic and monetary world system that was unsustainable in the long run.
THE ESTABLISHMENT OF THE CRETAN DRACHMA The first Cretan constitution granted Prince George – second son of the King of Greece and High Commissioner of Crete – the right to negotiate the creation of a Cretan Bank with exclusive privilege of issue, yet without the right to introduce an inconvertible paper currency. This aversion to fiat money was a by-product of the disdain felt by leading Cretan politicians for Greek monetary arrangements: inconvertible paper currency, deficit finance and parliamentary governance were deemed to have lain at the heart of Greece’s road to bankruptcy in 1893. If the mother country’s political and economic traditions were thought of as something to be avoided, introduction of a monetary unit with the same name (“drachma”), title and weight as that of the kingdom of Greece sent a clear signal that autonomy was provisional and that unification with Greece was underway.3 According to a Cretan executive decree drafted in August 1899, silver coins were to enjoy full legal tender status in all public payments, but not in private transactions exceeding 50 drachmas. The decree authorized minting of the five silver drachma piece at the reduced fineness of 835/1000. It is quite clear that by limiting the monetary role of silver, these provisions were the precursor to the adoption of a monometallic gold standard in autonomous Crete. Eleftherios Venizelos – Minister of Justice in the first Cretan government – argued that the issue in question was not the espousal of a monometallic or bimetallic standard, but the establishment of a “genuine and true” monetary standard based on gold or a false and fraudulent one based on the old bimetallic ratio of 15.5 to one. Venizelos observed that when the countries in the Latin Monetary Union decided to fix the parity between gold and silver at that rate, they had not done so with an eye on short-term profits from the circulation of nominally overvalued silver coins. However, when the supporters of bimetallism argued for a five silver drachma weighing 25 grams with a fineness of 900/1000 at the old bimetallic ratio, they intended to speculate with a “semi-fraudulent coinage”. According to Venizelos, a sound and honest monometallic gold standard was a precondition for attracting foreign capital to the island. International investors would hesitate to form any association
3
Yiannis Kokkinakis: Money and society in Crete (1899–1906), in: Historika 13 (1999b), pp. 83–124, here 83–85 [in Greek].
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with Crete if “they suspect that while they invested in gold they will take their profits out of the country in the form of a debased money”.4 On the other hand, Etienne de Blonay – the Swiss “organisateur” of Cretan finance – worried that if the five drachma piece were to be minted at the reduced fineness of 835/1000 and its legal tender status were to be limited to 50 drachmas in private transactions, the inevitable outcome would be monetary scarcity on the island. De Blonay also noted that if gold were to appreciate on Crete – as was likely – the Bank of Crete (BoC) would have to eliminate its paper circulation to protect its gold reserves and avoid mass redemption of banknotes. The new system should prevent that possibility not only by reason of the deflationary effects from the abandonment of silver as a standard money, but also due to the currency drain provoked by the exodus of Cretan Muslims following the establishment of the autonomous Cretan State.5 Ioannis Skaltsounis – the Judicial Councilor – was also opposed to the prospect of a monometallic gold standard regime in Crete. He argued that over time, the experiences of those industrialized nations with extensive resources and global commercial aspirations that had adopted the gold standard did not point to a smooth running economy, but to frequent monetary contractions and the depletion of metallic reserves in times of financial crisis. If analogous events were to occur in Crete, Skaltsounis wondered how it would be possible for the island to replace its gold reserves without major monetary and economic disturbances. The introduction of a bimetallic standard and recognition of an extended legal tender status for silver would better enable the Cretan economy to address such harsh economic conditions.6 The fact that neither de Blonay nor Skaltsounis suggested free minting of the five drachma silver coin or unlimited legal tender status for it in private transactions, is indicative of just how firmly established gold standard ideology was on Crete. On the other hand, Konstantinos Foumis – the Finance Minister, who held views similar to those of Venizelos – proposed a legal tender limit of 100 drachmas for the five drachma pieces. He also commented that a gold coinage would be an “impermissible luxury” for Crete’s budget. In contrast, Nikolaos Stavrakis – Director of the Cretan Customs Houses and Bank of Crete [BoC] board member – argued that “the preference for gold and the avoidance of silver should be pursued to the furthest possible extent, i.e. gold pieces of five should be minted, and silver coins of the same denomination avoided entirely.”7 Neither the most silver friendly propositions made by de Blonay and Skaltsounis nor the more moderate ones by Foumis were adopted in the final decree “On the Monetary System”. Silver coins were recognized as unlimited legal tender for all public dues, but in private transactions, their legal tender status was 4 5 6 7
Senior Directorate of Finance [SDR]: Documents Concerning the Coinage of Crete. Chania 1901, pp. 13–17, 22–32 [in Greek]; SDR: Documents (see note 4), pp. 5–6. SDR: Documents (see note 4), pp. 18–20. SDR: Documents (see note 4), p. 21, 31.
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limited to 50 dr. Although Foumis had suggested that unlimited amounts of nickel coins should be accepted in public transactions, in the event they were only accorded tender status for amounts of up to seven dr. Finally, the obligation to receive copper was limited to the amount of one dr. per private or public transaction.8
THE BANK OF CRETE, THE DEVELOPMENTAL DEFICIT AND THE ISSUE OF SMALL DENOMINATION NOTES The differences of opinion that emerged in formulating the Cretan State’s monetary system were linked to prevailing views on the future of Crete in the international environment surrounding and – to some extent – determining it. In the autumn of 1904, when Prince George insistently called on Europe to make changes to the autonomous regime so as to bring Crete closer to Greece, the British Foreign Secretary Lord Lansdowne stressed that the “judicious management” of Crete’s resources could “alleviate the political situation” and possibly “weaken demands for annexation to Greece”. The British politician pinpointed the reasons for Crete’s economic “predicament” in “the great lack of movable money” and in the fact that “the government has no credit whatsoever, while the income at its disposal does not suffice to allow for expenses on useful and beneficial public works”.9 Had Crete been a country with a silver standard or a fiat paper currency, the lack of “money” and capital might well have been attributed to the side-effects of such imprudent monetary arrangements. The Charitable Fund [CF] and the BoC were the island’s two major banking institutions in the first decade of the 20th century. The CF was created in 1869 to repair the considerable damage caused by the 1866-69 revolution, via a loan contracted between the provincial administration of the island and the Ottoman Bank. Many of the Fund’s problems were exacerbated by the 1896-1898 revolution. Not only did the economic situation worsen, but the destruction of debtors’ deeds and titles held in the branch offices at Chania and Sfakia generated endless litigation, saddling both parties (the Fund’s administration and the debtors) with huge expenses. The debtors claimed that owing to the loss of receipts, they were compelled to pay loans they had already paid off, while the institution argued that after the destruction of promissory notes and mortgages no one recognized its claims.10 On the other hand, the BoC – which had the exclusive privilege of issuing paper money on the island – was established in 1898 with the National Bank of Greece [NBG] as its main shareholder. With the creation of branches or affiliated banks in the Ottoman Empire, the NBG expected to negotiate the monetary and 8 SDR: Documents (see note 4), pp. 36–38. 9 Idi [newspaper]: Heraklion, 30 May 1908 [in Greek]. 10 Yiannis Kokkinakis: Agricultural Credit, Social Tension and Foreign Immigration in Western Crete (1906–1912), in: Kritiki Estia 9 (2002), pp. 123–155, here 135–136 [in Greek].
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banking assimilation of these areas from a position of strength.11 Moreover, coupled with the introduction of the drachma as a monetary standard, the concession of issuing privilege to the banking institution that was responsible for the issue and circulation of the paper drachma in Greece, facilitated the monetary and economic integration of Crete with the mother country and commercial relations between the two. The conditions governing the credit extended by the BoC to its customers were the outcome of tough negotiations between the NBG and the first Cretan government. According to the founding convention of 10.5.1899, the discount rate was fixed at six percent, the rate for simple and mortgaged loans at seven percent and loans for peasants and farmers at 8 percent. However, in September 1899 when the Bank charter was submitted for approval, the government judged the clauses inadmissible. Finally, NBG Governor Stephanos Streit reduced the interest on simple and mortgage loans to 6.5 percent and on agricultural loans to seven percent. After some further modifications, objections to the new institution were shelved. Friction between the Bank and Cretan governments was to continue nonetheless.12 The question of capital increase for the two credit institutions was a major issue over the following years for both their directors and successive Cretan governments. However, both parties considered growth could be best achieved by issuing small notes rather than via any increase in capital. The BoC, which had the issuing privilege, was not allowed to issue notes worth less than 25 drachmas. This limitation restrained the growth of the money supply and the widespread use of banknotes for small transactions. In discussing 19th century experiences with small denomination banknotes, Richard Timberlake explains why issuing banks showed a distinct preference for issuing notes in small denominations. Under a metallic standard, such notes were more likely to continue circulating in a given area than an equal value of larger ones. Not only were they more useful as hand-to hand currency, but if ordinary business purposes led an individual or a firm to demand specie for bank notes, a few of the larger denominations were less costly in time and trouble to convert to specie than a mass of small notes. Thus they were regarded as an economizing medium [...] for small denominational coins. And for this reason they were less likely to come back for redemption in specie.13
Moreover, the shortage of small denominations as a medium of exchange was accentuated by the fact that silver coinage in Crete was confined to six dr. per head, with its legal tender status restricted to sums of 50 dr. or less. Over the following years, attempts were made to solve the problems created by the arrangement of the Cretan State monetary system. One solution involved 11 National Bank of Greece Historical Archive (NBGHA): Series I, Bank of Crete, File 2 (1898– 1900), Microfilm no. 2064 [in Greek]. 12 NBGHA (see note 11): Series I, Bank of Crete; Proceedings of Cretan Parliament of 1901: Period A, Session 17th, 6.6.1901, p. 233 [in Greek]. 13 Richard H. Timberlake: Denominational factors in nineteenth-century currency experience, in: Journal of Economic History 31, (1971), pp. 835–850, here 836–837.
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fluidity injections from the BoC and the CF. Another one was to negotiate an external loan guaranteed by the Powers, which would be capable of bringing sufficient capital to the island. In addition to a four million drachma loan from the Great Powers14 to cover the costs of the first administration, in 1901 parliament had authorized the BoC to borrow up to ten million drachmas to grant in mortgaged loans. The law set an interest rate ceiling of seven percent, allowing for a two percent margin between the rate at which the Bank borrowed and that charged to the public. The loan foundered as the Bank judged it could not secure favorable terms for external borrowing at five percent. In 1903, under a new agreement between the state and the BoC, the latter was authorized to bring “capital” to the island via a loan, so as to grant it in farm credit. On that occasion parliament did not set an interest ceiling and gave the Bank the right to issue 500,000 drachmas in ten drachma bills. In the end, failure to secure the loan resulted in circulation of the bills being cancelled.15 It was the BoC’s fervent desire to issue small denomination bills; this was not entirely unrelated to the fact that Venizelos and Stavrakis wished to limit the monetary role of the silver five drachma. Besides, the bank’s conservative policy on the growth of its discounting may have been due to the wish to bring pressure to bear on the government over the matter. Indeed, by 1901 it had already exceeded its (low) charter ceiling (500,000) in agricultural loans – just one indication of the farming population’s immense pressure for an increase in such credit (see figure 1). The Bank was particularly conservative as regards the growth of discounting and in 1902 held 600,000 drs. in unused loans in its “commercial credit” fund. Officially, the Bank justified this “circumspection” by arguing that the “promotion of commercial credit” beyond the amount corresponding to the “country’s progressive productive growth […] would be something premature and detrimental”. Be that as it may, the governor's concern to stress that the “amount of 25 drachmas represented on bills” had proven “large in relation to the country’s internal monetary flow” indicates that at the time the NBG linked its intervention in securing an external loan to analogous quid pro quos. Indeed, the governor had also criticized parliament’s refusal to allow the issue of ten drachma banknotes, with which “the country’s monetary transactions will be greatly facilitated”.16 The demand for the circulation of small denomination banknotes should come as no surprise: most countries that limited the free minting of silver turned to such solutions, as the circulation of low value gold coins was a fiscal luxury that state budgets could ill afford. Characteristic of this is the fact that in 1908 – by which 14 According to the 1st Article of the Cretan Constitution of 1899, “The Island of Crete with the neighbouring islands form a completely autonomous state in accordance with the terms which have been decided by the four Great Powers [England, France, Russia and Italy].” Constitution of the Cretan State: Chania 1899, p. 3 [in Greek]. The Great Powers and guarantors of the newborn state also provided four million francs in the form of advance payments to cover the deficits of the first Cretan budgets, as well as administration expenses associated with the creation of new governance structures. 15 Yiannis Kokkinakis: Agricultural credit (see note 10), p. 141. 16 Bank of Crete: Report of the council for the year 1902. Athens 1903, pp. 3–10 [in Greek].
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time average circulation had increased fivefold in comparison to 1901 – the BoC remained incapable of exploiting its issue privilege. This is indicated by a glut of 281,925 drachmas in unused banknotes lying in its tills in December, precisely when circulation reached its annual high because of the olive harvest (1,116,300). Indeed, taking into account the level of the bank’s metal reserve (2,588,925 drachmas), which exceeded its paper circulation, one can understand the concerns over the inability to mobilize its gold reserve. BoC paper circulation fell short of the expectations cultivated by executives in the mother company, as is evident from an unsigned document held in the NBG archive. Following comparison of Crete’s population and trade with that of Greece, it was judged that “necessary capital [for the BoC] should be estimated in the amount of not less than 10 million, approximately half of which in banknotes payable on demand”. The BoC was to approach that amount sixteen years after its foundation, in the special circumstances created by World War I [see figure 1]. A “stagnant” metal reserve had only ever been seen in two years throughout the entire 19th century history of the free convertibility of NBG banknotes, during the 1854-1855 recession; but it was a permanent feature for the BoC up until 1912.17
8.000.000 7.000.000 6.000.000 5.000.000 4.000.000 3.000.000 2.000.000 1.000.000 0
Bank notes circulation loans on securities, commodity loans mortgage loans, municipal loans
discounts of commercial paper agricultural loans
Figure 1: Bank of Crete, 1900–1917: Banknote circulation, discounts of commercial papers, loans on security and commodity loans, agricultural loans, mortgage loans and municipal loans (million dr.); Source: National Bank of Greece Historical Archive (NBGHA) (Athens): Series ΧΧΙΙ, Subseries Ι, file 47, sub-files 1–7 (microfilm no. 2075).
17 NBGHA: Series XXII, sub-series I, file 46; Y. Kokkinakis: Money and Politics in Greece 1830–1910. Athens 1999, p. 98, 104 [in Greek].
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In September 1907, the Cretan government introduced a parliamentary bill merging the BoC with the NBG. The ongoing public debate on the merger took into consideration the BoC's inability to satisfy society’s needs, as borne out among other things by its banknote circulation. BoC management intervened in the debate in March 1908, asserting that the banknotes in circulation constituted “the sole advantage it gains from the privilege granted to it”, that 303,400 of them remained “without yield” in its tills and that, ultimately, the privilege was injurious to the bank, as it would earn more simply by lending “its capital” at eight percent.18 Though the bank’s argumentation is not always convincing, as for example when claiming that it did not benefit from interest-bearing or interest-free deposits, which then exceeded half of its deposited capital (2.8 million drachmas), concern over the inability to exploit its privilege is nonetheless clear. This was why in the 1908 annual report, board member V. Doukas repeated that the issuing of “banknotes of less than 25 drachmas” was “desirable” so as to achieve “the secure growth of circulation to the greatest possible extent, to the common benefit of both commercial activity and the Bank”.19 The planned BoC-NBG merger did not go ahead in 1907, though the pressure brought to bear on the former and indirectly on the latter was to bear fruit, as evidenced by the fact that the NBG gave an additional million drachmas to the BoC for mortgage credit, to be used “should the need arise”.20 The merger was imposed de facto following the agreement of 6th December 1914 between the BoC and the Greek state, after the unification of Crete with Greece. In any event, the practicalities involved proved much more difficult than the NBG had anticipated, creating a headache for Venizelos in the hour of his greatest triumph, when Greek troops occupied Smyrna.21
MONETARY REFORM FROM A COMPARATIVE PERSPECTIVE: PROBLEMS AND PRECONDITIONS OF MONETARY INTERVENTION IN THE FAR EAST Integrating the Cretan State’s monetary system into the currency framework of the time, will enable us to better trace out the influences, coercions and potentialities open to Cretan governments in formulating their economic policy. Comparisons should not be restricted to the Kingdom of Greece or the Ottoman Empire, but should extend with other areas of the globe where the powers of the time were striving to put their monetary affairs in order. When the Kingdom of Greece was deliberating over joining the Latin Monetary Union in the 1860s, few people had proposed the introduction of a monometallic gold system as an alternative. How18 19 20 21
Nea Erevna (newspaper): Chania, 7.3.1908. Bank of Crete: Council Report for the Year 1908. Athens 1909, pp. 4–5 [in Greek]. Bank of Crete: Report (see note 19), p. 8. NBGHA (see note 11): Series ΧΧΙΙ, Ι, file 49, Drosopoulos to Venizelos, May 1919 [in Greek].
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ever, in the late 19th century, Eleftherios Venizelos and leading figures within the first Cretan government decided on “the acceptance of gold alone as the monetary standard”.22 Between the late 1860s and the end of the 19th century, significant changes had occurred not only in the production and consumption of precious metals – which was always a key factor influencing the decisions of monetary authorities under commodity monetary standards – but also in the balance of power between the major industrialized nations and in the geo-political world. Europe’s colonial expansion was in full swing. Around the same time that the Cretan State established its monetary system, the Great Powers were actively engaged in reforming the monetary system of their colonies – and of the independent state – of Southeastern Asia. With its 270,000 inhabitants, Crete was of course a small-scale player when compared, e.g. to the British, French or American colonies in Southeast Asia that were setting up their monetary systems at the same time. These included the Philippines (7.6 million inhabitants), French Indochina (17.2 million), and the British Straits Settlements colony (550,000). Differences also emerge when comparing Crete’s external trade to that of the Straits Settlements, which had a comparable population. The total value of Cretan exports from 1901 to 1912 fluctuated from 20 to 40.9 million drachmas. The value of Straits Settlements trade in the early 20th century was on average tenfold that of Crete, amounting to 290 million dollars. The differences were not only numeric. At the time, Crete had a trade balance deficit, which in some years – such as 1901 – exceeded 25 percent of its total trade [Figure 2], whereas the Straits Settlements enjoyed a foreign trade surplus. Be that as it may, comparative analysis enables us to discern some common ground typifying attempts at monetary reform in a period that was – in schematic terms – determined on the one hand by gradual limitations on the free minting of silver from the early 1870s onwards, culminating in the process of abandoning free minting in India (1893), and on the other by the collapse of the gold standard following the outbreak of World War I.23
22 SDR: Documents, pp. 5–6, 30–31. 23 Charles Hirschman: Population and Society in Southeast Asia: A Historical Perspective, in: Journal of Southeast Asian Studies, 25, 2 (1994), pp. 381–416, here 393; August Huttenbach: Memorandum on the Straits Settlements Currency System, Penang, 1903, pp. 1–10, here 2, available in http://archive.org/details/cu31924023541885.
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By the beginning of the 20th century, Germany, France and the United States had already joined the gold standard or had replaced their bimetallic systems with de facto gold standard systems. Over the same period, western industrialized countries gradually increased their influence not only in the Near East, where the Ottoman Empire had been in a long process of disintegration, but over the Far East as well. In the wake of the Spanish-American War (1898), the United States dominated the Philippines for about half a century. France gained control of presentday north Vietnam after its victory over China in the 1884-1885 war, while following the defeat of Siam in 1893, its colonial empire in Southeast Asia (French Indochina) incorporated present-day Cambodia and Laos, as well as Annam (central Vietnam), Tonkin (north Vietnam) and Cochinchina (south Vietnam). Lastly, the Straits Settlements were formed in 1826, two years after the Anglo-Dutch Treaty parcelling out the Malay Archipelago, and in 1867 evolved into a sovereign British colony including regional trade hubs controlled by the British East India Company prior to 1826, such as Penang, Singapore and Malacca.24 Import
Export
trade deficit
25.000.000
20.000.000
15.000.000
10.000.000
5.000.000
0 1901 1902 1903 1904 1905 1906
1907 1908 1909 1910 1911 1912
Figure 2: Imports-Exports and trade deficit of the Cretan State 1901 – 1912 (million dr.); Source: Ministry of Finance. General Accounts Office. Athens 1914, p. 7.
The imposition of new circulating mediums in the European Power’s Far Eastern colonies was the result of a protracted process linked to their interest in creating new means of international payments over which they had control, and in promoting their trade in one of the world’s most populous regions. Moreover, the profit 24 W. G. Huff: Monetization and Financial Development in Southeast Asia Before the Second World War, in: The Economic History Review 56, 2 (2003), pp. 300–345, here 303–304; Antony Webster: The Development of British Commercial and Political Networks in the Straits Settlements 1800 to 1868: The Rise of a Colonial and Regional Economic Identity? In: Modern Asia Studies 45, 4 (2010), pp. 899–929, passim.
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from minting such coins was able to cover part of the costs involved in administering and defending the areas in question. The French-Italian economist and supporter of bimetallism Ηenry Gernuschi stressed that possession of a large silver reserve did not constitute a serious obstacle to France, given that “via Algeria she holds Africa, via Cochinchina Cambodia and via Tonkin the Far East, enormous areas where for some time to come silver will not be subject to the devaluation to which it is subject in our country”.25 Indeed, the proceeds yielded by minting silver in the late 19th century lent the process of monetization in the East a far from negligible material inducement. When Japan adopted a gold standard (1897), part of her silver yen “were transformed into subsidiary coins, and the rest sent to Formosa, Korea, etc., without any loss on the whole”, as readers of the Economic Journal were informed by a fervent supporter of the gold standard’s introduction in Japan.26 In 1906, the profit made by the American administration in the Philippines from reminting silver pesos as new pesos of lower precious metal content was put at six million pesos.27 From 1866 to 1911, the British West African colonies (Gambia, Sierra Leone, the Ivory Coast and Nigeria) were the recipients of over 2.2 million pounds in silver coin minted in the mother country. In 1899, when the colonies demanded a share in the profits from minting, they received the cynical reply that the imperial government “would feel precluded from recognizing any ground of justice for the present claim, even if it could be admitted that the difference between the coined and the metallic value of silver was a clear profit to the issuing mint”.28 Arguing against a “tangible gold currency” in India, John Maynard Keynes invoked among other things the substantial profits yielded from minting the silver rupee, which amounted to £21 million over the period 1900– 1912. Finally, the nominal value of the Cretan silver coins issued by the Monnaie de Paris in 1901 was 1.9 million drachmas, while the value of the silver contained in them was only 883,229 drs. and the profit from coinage, if we deduct the cost of minting, freight, insurance and other charges, was 926,385 drs., that is more than 50 percent of the nominal value of the issues.29 The new silver coinage secured by France at the Latin Monetary Union conferences permitted her to mint 44 million francs in trade dollars or “piastres de
25 Henri Gernuschi: Le Monométallisme Bossu, Faisant Suite aux Assignats Métalliques. Paris 1885, pp. 5–8. 26 Jiuchi Soyeda: Japanese Finance and Economy, in: The Economic Journal 11, 43 (1901), pp. 435–46. 27 H. C. Ide: Banking, Currency and Finance in the Philippine Island, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 30 (1907), pp. 27–37, here 35–36. 28 G. L. M. Clauson: The British Colonial Currency System, in: The Economic Journal 54, 213, (1944), pp. 1–25, here 4–5; Records of Royal Mint: [The National Archives Kew Gardens, London]. Mint 7/91, Under Secretary of State, 6 July 1899. 29 John Maynard Keynes: Indian Currency and Finance. London 1913, p. 73, pp. 89–90; Yiannis Kokkinakis: Money and society in Crete (see note 3), pp. 111–112.
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commerce” over the period 1895-1903 for trade needs in the East.30 Attempts by French governments to promote their coins in Indochina only bore fruit when – following British, American and Japanese practice – they minted a special silver coin for Indochina, in imitation of the Mexican dollar then popular in the region.31 Between 1873 and 1888, the USA had promoted its own “trade dollar” in Chinese markets to replace the Mexican dollar used by San Francisco bankers and merchants in their transactions with the East. By minting trade dollars, US governments aimed to contest the supremacy of the Mexican dollar, while also providing relief for silver producers in the western states, who sought markets for the increasing output from their mines.32 Controlling the process of monetization in the colonies of the Orient called for the replacement of the abundant “good” Spanish and Mexican dollars that had dominated the Far East since the early eighteenth century. The fact that it took the colonial powers over half a century to impose a new circulating medium in the Far East shows the scale of the problems they faced. Some of these were objective: up until the mid-19th century, the greatest quantities of silver were produced in the countries with mints supplying the markets of the East, i.e. Mexico and Latin America. Abundance of the raw material allowed for greater control over the cost of Spanish and Latin American coins, while the quality of them facilitated penetration into the demanding Far Eastern markets.33 On the other hand, once production conditions for the coins were in a state of flux, and price fluctuations destabilized transactions, as was the case following Latin American independence in the early 19th century, the merchant classes became insistent proponents of monetary reform, i.e. the creation of more stable currencies. However, this was a task that the colonial powers found far from easy, at least until the “battle of the standards” had come to an end in their internal markets.
30 A. Platt Andrew: Indian Currency Problems of the Last Decade, in: The Quarterly Journal of Economic 15, 4 (1901), pp. 483–516, here 483–484. CIS 4770, pp. 483–484); Serial Set Collection. Firestone Library, Princeton, USA (in microfilm). Congressional Information Service (CIS) no: 4770, [from now on FL, CIS] 58th Congress. 3rd Session. Senate Document No. 128. Gold standard in International Trade. Report on the Introduction of the Gold-Exchange Standard Into China, the Philippine Islands, Panama, and Other Silver-Using Countries and on the Stability of Exchange. Submitted to the Secretary of State, October 22, 1904, by the Commission on International exchange Hugh H. Hanna, Charles A. Conant, Jeremiah W. Jenks, Commissioners, Washington 1904, pp. 483–484. 31 W. Wolters: Flooded with Foreign Coins. Spanish and American Administrators Dealing with Currency Problems in the Philippines, 1890–1905, in: The Philippines Historical and Social Studies 157, 3 (2001), pp. 511–538, here 513. 32 Andrew: Indian Currency Problems (see note 30), p. 356; Porter Garnett: The history of Trade Dollar, in: The American Economic Review 7, 1, (1917), pp. 91–97, here 91–92. 33 Alejandra Irigoin: The End of a Silver Era. The Consequences of the Breakdown of the Spanish Peso Standard in China and the United States, 1750–1850, in: Journal of World History 20, 2 (2009), pp. 207–244, here 224–225, 230–237.
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SILVER DEPRECIATION AND INTERNATIONAL COMPETITION The introduction of gold standards in the periphery was linked to the need felt by developed countries to improve their trading terms in Eastern, Latin American, Chinese and Russian markets. This is evident, for example, in the findings of the parliamentary committees set up in several countries to investigate the sharp drop in farm produce prices after 1875.34 The concern and genuine admiration expressed in reports compiled by western trade and diplomatic representatives on the industrial might of countries in the East fueled attempts at monetizing their societies with a far from negligible material base. A report by George Jamieson – British Consul in Shanghai (1891–97) – reveals the fears that the industrial development of China inspired in the greatest imperial power of the times. Jamieson’s concern was that the divergence of value between gold and silver will inevitably lead to a gradual transfer of the seat of all the great manufactures from gold-using to silver-using countries […]. In other words, the old equilibrium will not be restored until the standard of living and comfort among the working classes in England has greatly fallen, or till the standard in silver-using countries has greatly risen.35
Meanwhile, Klobukowski – the French consul in Yokohama – observed that there is no country in the extreme East which will not be invaded by goods made in Japan in imitation of European wares. Some of them are still inferior in quality; the greater number, thanks to modern machinery, are quite equal to ours […] Finally, the depreciation in other countries of their silver money gives Japanese and Asiatics generally an enormous advantage […] For these reasons […] foreign competition in Japan will have before it a very heavy task, we will not say to keep itself alive, but to escape annihilation.36
One of the most systematic analysts of the repercussions Asian competition had for the USA West Coast economy was Nevada congressional representative Francis G. Newlands. His speeches in the House and depositions at congressional committees not only pointed out the close relationship between the question of silver minting in the USA and the prosperity of the mining belt he represented, but also stressed the repercussions for the industrial interests of the East Coast, which he saw as the next victim of the de-monetization of silver. In the spring of 1896, Newlands was to observe that up until the 1880s, American industry had contented itself with satisfying the needs of its large internal market. However, its productive potential could not remain trapped there, while the tariff increase did not sufficiently protect its products. With regard to competitive advantage, he noted that “by striking down silver we have given silver standard countries the ad-
34 Royal Commission on Agriculture: Final Report of her Majesty’s commissioners appointed to inquire into the subject of agricultural depression. London 1898, pp. 44–46. 35 George Jamieson: The Silver Question. Injury to British Trade and Manufactures. London 1895, pp. 13–14. 36 Congressional Record-Senate, 13.2.1896, P. 1695, available in: https://www.gpo.gov/fdsys/ pkg/GPO-CRECB-1896-pt2-v28/pdf/GPO-CRECB-1896-pt2-v28-16.pdf.
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vantage of cheaper production, which has already disastrously affected our farm products and is about to affect our manufactured products”.37 When pointing out the above, Newlands could not have predicted that the very same Far Eastern country that had taken advantage of its silver standard to double its exports to gold countries within a decade (1883–1893), flooding the markets of China, Korea and the Straits Settlements with industrial goods, was to adopt a gold standard in 1897. Of course, in doing so, Japan had the good fortune not to borrow the gold backing the convertibility of its central bank’s notes: that purpose was served by the war reparations in gold paid after its victorious war against China (1894–1895). From that standpoint, the country placed the entire undertaking on a more realistic footing than that chosen by the Kingdom of Greece or Italy in the mid-1880s. Japan was also prudent enough to mint new yen half the weight of older ones, with the aim of “avoiding any disturbance of the existing relations of creditor and debtor” and to grant holders of old silver yen a five-year period to convert them into new ones. Furthermore, Japanese governments had seen the importance of having a domestic minting capacity – which Greek governments had almost ignored in the 19th century – and had bought the machinery from the Hong Kong mint for the purpose.38 The adoption of a gold standard at the very moment when the silver yen was dominating the Far East cannot simply be accounted for in terms of the deus ex machina reparations from the Sino-Japanese War. Japan could have accepted payments in silver, the metal that guaranteed the convertibility of its central bank’s notes after 1888, rather than in pounds sterling in London. Analyses by Japanese specialists in favor of currency reform highlighted the stability of “gold prices”, the obviation of trade fluctuations with gold countries, a reduction in the cost of the machinery and raw materials necessary for industrialization. The attraction that gold-backed Japanese bonds would hold for investors and, lastly, the classic argument made by contemporary reformers, summed up in the following rhetorical question: “Japan has been trying hard since 1868 to assimilate herself to the civilized world […] Why, then, should the monetary standard, which has an international character, have been made an exception to this general tendency?”39 For all the actual or imaginary advantages attributed to a gold standard, it is noteworthy that the change took place at the very time when the silver yen had displaced Mexican counterparts from Japanese external trade ports, and to some extent from China, Indochina and the Straits Settlements, thus creating a competitor
37 Francis G. Newlands: Japanese Competition. 54th Congress, 1st Session. Remarks of Hon. Francis G. Newlands, of Nevada, Before the Committee on Ways and Means. Washington 1896, p. 13 [898 F425 Firestone Library]. 38 Jiuchi Soyeda: The Adoption of Gold Monometallism by Japan, in: Political Science Quarterly 13, 1 (1898), pp. 60–90; Andrew: Indian Currency Problems (see note 31), pp. 10–18. Frederick R. Dickinson: The Lever of Empire: The International Gold Standard and the Crisis of Liberalism in Prewar Japan (review), in: The Journal of Japanese Studies 33, 2 (2007), pp. 540–545. 39 Soyeda: The Adoption of Gold (see note 38), pp. 71–79.
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currency to the Mexican dollar throughout the Far East. This offered significant advantages to the country’s trade and minting profits to its governments. European and American politicians kept a close eye on monetary reforms in the countries of the Far East. It is no coincidence that in the summer of 1897, the law establishing the gold standard in Japan was translated for the American Senate.40 Early the following year, senators were alerted to a short paper by Garrett Droppers – a professor of political economy at Tokyo University – on Effects of the Adoption of the Gold Standard upon the Industries of Japan. Droppers was pessimistic on the reform’s outcome. He stressed that “when silver was still the standard and gold not yet dreamed of as a possible standard, all the industries of Japan were in a flourishing condition”; yet following the introduction of gold, “the cotton spinning industry is almost paralyzed”. He put this change of climate down to the fact that Japanese industries were displacing the English, America and India cottons there [in China and Korea], and they were competing fairly with the Chinese producers. Since, however, the introduction of the gold standard, they cannot get the same price for their cotton yarns as before […] Japan has now shackled herself with the same chains that retard the growth of industry in Europe and America.41
Although Droppers was certain that “the gold standard is a disadvantage”, he added that “Japan is an energetic country, and by her energy may neutralize the effect of gold monometallism to a greater or less extent”42. Japan was indeed “an energetic country”. The victorious Sino-Japanese War not only secured the country her first colony, Formosa, but also the potential for her subjects to found industries at any of the Chinese ports open to external trade (under the Treaty of Shimonoseki, 17-4-1895). Not long afterwards, Japan imposed a gold standard currency on Korea, in an attempt to create a “yen zone” along the lines of the “sterling zone”. Just as the Bank of Japan’s metal reserve was deposited in pounds sterling in London, so the gold reserve backing the Korean currency’s convertibility was in Tokyo, with the Bank of Japan’s gold currency held in London as its final guarantor.43 Over the ensuing years, Japan monopolized the Korean market, and by 1924, the share of foreign, non-Japanese cotton textile manufacturers was reduced to 6.4 percent. At the same time, Korean agricultural output was adapted to the imperial economy’s needs, with the local population paying a heavy price to cover the rice shortage in the Japanese economy.44
40 FL, CIS (see note 30) no: 3563. 55th Congress. 1st Session. Senate. Document no. 176, 7.7.1897: Japan and the Gold Standard, pp. 1–30. 41 FL, CIS (see note 30) no: 3600. 55th Congress. 2nd Session. Senate Document no. 139, 16.2.1898: The Gold Standard in Japan, pp. 1–3. 42 The Gold Standard in Japan (see note 41). 43 Soyeda: The Adoption of Gold (see note 38); Dickinson: The Lever of Empire (see note 34). 44 Mitsuhiko Kimura: The Economics of Japanese Imperialism in Korea, 1910–1939, in: The Economic History Review 48, 3 (1995), pp. 554–574, here 557.
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MONETARY REFORM AND IMPERIALIST ASPIRATIONS The silver question continued to preoccupy US political and business circles even after the official adoption of a gold standard in 1900. In February 1903, the American Economic Association published the proceedings of a broad-ranging debate entitled “Currency Problems in the Orient-Discussion”, itself a sign of the interest in the possibility of American output penetrating that developing side of the globe. One participant in the meeting was Charles Conant, a member of the Commission on International Exchange and the leading expert on issues of monetary policy in regions the USA wished to embrace in her sphere of influence. Just like Venizelos in 1901, Conant was convinced in 1903 that bimetallism was “a delusion of the past”, a theory resting on fallacies, mainly “because it is not in the power of law to establish rigid relations of value between two different things”. In any case, he was insistent on two things customarily rejected by gold monometallists and not seriously considered by the majority of the first Cretan cabinet: first, that “control of the quantity of the currency by the government is the only means of separating it from the fluctuations of the bullion market and of giving it a definite value in gold”. And second, that the adoption of a global currency was not a viable solution, particularly for periphery countries, since “their scale of wages and prices is too low to make gold coins convenient in daily transactions, and their wealth in most cases is insufficient to justify them in entering upon a rivalry with the rich nations for the world’s stock of gold”. Conant regarded any proposal on the reintroduction of the old bimetallic ratio of 1:16 or 1:15.5 as unworkable. Adoption of the market exchange rate between the two metals would head off strong deflationary pressures; on the other hand, careful control of the silver coin supply coupled with a regime of limited acceptance by public offices would contribute to stabilizing its domestic value.45 Following the didactic experiences of deflation and recession caused by attempts to “eradicate” the exchange difference between a paper or silver currency and global money, i.e. gold, Conant argued that one of the principles of monetary science which has been well established by recent experience is that resumption of gold payments should take place at or near the gold value of the local currency at the time of resumption and should not undertake to raise the local currency to a gold value long discarded in actual experience simply because such value may represent that of the monetary unit under some former condition.46
Charles Conant’s career and life were to end abruptly in the summer of 1915. News of his death came from Cuba, where he had been advising the government on monetary issues. As “father of the Philippine currency”, who “enjoyed an international reputation as an authority on banking and government finance”, he had been the type of economic advisor that John Maynard Keynes was to become 45 Charles Conant: Currency Problems in the Orient-Discussion, in: Publications of the American Economic Association 4, 1 (1903), pp. 280–295, here 280–285. 46 Charles Conant: The Correct Method of Monetary Reform in Latin America. New York 1909, pp. 4–7.
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from the 1920s to the 1940s – one who was to try and bring order to the complex new world created by early 20th century industrial capitalism, making the strict, regulatory framework of the contemporary gold standard functional. In addition to being a member of federal committees, Conant had served as a private company executive, “Director of the Manila Railroad, the National Bank of Nicaragua, and the Credit Clearing House” and “in 1902 was elected Treasurer of the Morton Trust Company [of New York]”.47 Conant's involvement in trust companies was no coincidence. He linked their exponential growth to the incapacity to make profitable use of the surpluses generated by modern industrial production. His analysis of trust company growth was related to the ongoing debate in the United States on the conquest of the Philippines, and secondarily on competition between imperial powers in the Chinese market. Within the framework of that discussion, in 1900 he published a paper in the North American Review characteristically entitled “The economic basis of ‘Imperialism’”. In it, he stressed that the economic situation at the close of the century was unique in human history because, “there has never been a time before when the proportion of capital to be absorbed was so great in proportion to possible new demands”. As indicators of the impasse faced by modern societies, he cited “the duplication of needless plant, the multiplication of unprofitable enterprises […] [the] glut of goods which has destroyed profits”. The onus lay on capitalist countries to undertake “the equipment of new countries with the means of production and exchange”. Conant regarded it as a matter of detail whether the United States shall actually acquire territorial possessions, shall set up captain generalships and garrisons, whether they shall adopt the middle ground of protecting sovereignties nominally independent, or whether they shall content themselves with naval stations and diplomatic representations as the basis for asserting their rights to the free commerce of the East.48
Against Conant's better advice, a decade after his demise western societies attempted to return to the gold standard that had ended with the onset of the First World War. He did, however, live long enough to see the USA use the whole gamut of alternative policies he had suggested in 1898, within the terms of rendering the USA a leading “imperial” power of the time. Following the gory clashes with rebels in the Philippines in 1898, President Taft “promised United States voters that he would foster stability in critical areas of the globe by substituting ‘dollars for bullets’, by sending bankers with loans rather than battleships with marines”.49 As Assistant Secretary of the Navy and a vice-presidential candidate, his predecessor Theodore Roosevelt had once been a firm supporter not only of the war against Spain and the conquest of the Philip47 The New York Times, 7.7.1915. 48 Charles Conant: The Economic Basis of Imperialism, in: The North American Review 67, 502 (1898), pp. 326–340, here 330–340. 49 Emily S. Rosenberg/Norman L. Rosenberg: From Colonialism to Professionalism: The Public-Private Dynamic in United States Foreign Financial Advising, 1898–1929, in: The Journal of American History, 74, 1 (1987), pp. 59–82, here 64.
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pines, but also of the annexation of Canada;50 however, in October 1904 he declared that: “Enlightened public opinion and modern civilization alike demand that differences between nations should be adjudicated and settled in the same manner as disputes between individuals are adjudicated, namely, by arbitrament of courts in accordance with recognized principles of law”.51 There were in any case successful examples of bloodless intervention, perhaps the best known being the international financial control of Greece following its 1897 defeat in the war against the Ottoman Empire. One of the classic examples of implementing the above policy on the American continent was the case of Santo Domingo. A heavily indebted “republic”, it had the fortune – or misfortune – to be linked to a Wall Street business group, the Santo Domingo Improvement Company, which bought the country’s foreign debt from European bondholders. The company undertook construction of a railway to exploit its export commodities (sugar, coffee, cocoa, tobacco etc.), funded the National Bank of Santo Domingo and hired James Laurence Laughlin – Professor of Political Economy at the University of Chicago – to campaign for a gold standard. In 1894, Laughlin did indeed praise “this courageous government [of Santo Domingo which] has intelligently grappled with the difficulty, and made for itself a stable currency, and a stable basis of exchange with Europe and the United States”.52 Abolishing the free minting of silver and bringing in US consultants did not succeed in saving Santo Domingo from bankruptcy. Following the assassination of President Ulises Heureaux in 1899, in a hostile international environment exacerbated by the protests of European bondholders, the new Santo Domingo government attempted to officially establish a gold standard based on the US dollar. On the pretext of preventing a potential European intervention in the country, Theodore Roosevelt placed Santo Domingo under US protection. At the same time, the US hired yet another technocrat – Jacob Hollander, Professor of Economics at Johns Hopkins University – to draft a rescue plan for the republic’s economy.53 Investment bank Kuhn, Loeb and Co. offered a 20 million dollar loan to settle earlier Santo Domingo debts; the well-known Morton Trust Company, where Conant had worked, stepped in as manager of the said loan and “fiscal agent” of the Santo Domingo government. The agreement approved by the US Senate in 1907 did not ultimately prevent overt military intervention and the an-
50 Harold U. Faulkner: Politics, Reform and Expansion 1890–1900. New York and London 1963, p. 216. 51 Klaus Schlichtmann: Japan, Germany and the Idea of the Hague Peace Conferences, in: Journal of Peace Research 40, 4, Special Issue on Peace History (2003), pp. 377–394, here 385– 386. 52 James Laurence Laughlin: Monetary Reform in Santo Doming, in: The Atlantic Monthly 74, 441 (1894a), pp. 107–113, here 107. 53 Jacob H. Hollander: The Financial Difficulties of San Domingo, in: Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 30, American Colonial Policy and Administration (1907), pp. 93–103, passim.
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nexation of Santo Domingo by the regional superpower in 1916, opening a new chapter in US presence on the American continent.54 Monetary reform was a sine qua non condition following direct or indirect intervention of imperialist powers over the two decades preceding World War I. Crete, which gained autonomy after a Christian uprising that provoked a war between Greece and the Ottoman Empire, was not a typical example of such intervention. Autonomy was gained after concerted action by the Great Powers, the fleet of which occupied the island’s major port towns, before handing over it to its newly appointed “Hegemon”, Prince George of Greece. The European Powers legitimized their intervention by invoking their role as “protectors of their coreligionists” and guarantors of peace and order.55 In establishing the autonomous state, they ensured that the commercial and tax privileges of their subjects were carefully protected. The fact that autonomous Crete remained under Ottoman suzerainty was indeed a convenient solution: among other things, capitulation agreements deprived the new state of the right to raise import duties and implement a protectionist economic policy, especially in agricultural processing activities, as well as of the right to conclude trade agreements and increase tariff revenues.56 Acting as a buffer against debt and money creation in Autonomous Crete was the fact that Greece had been forced to accept a regime of strict foreign financial supervision after the defeat in the war of 1897, and that the Ottoman empire had been placed under a regime of international financial control from the 1880s onwards, in such a way that both regimes guaranteed anti-inflationary policies.
THE GOLD STANDARD AND THE SISYPHEAN TASK OF BUILDING GOLD RESERVES In 1898 – one year before the creation of the Cretan monetary system – Russia had attempted to reform its own system by reintroducing the convertibility of imperial bank bills to metal. “The achievement of a permanent parity for the credit rouble [with gold] will lead to disaster,” the French ambassador in Saint Petersburg estimated in 1896, referring to the prospect of reintroducing the former gold parity between the paper and gold rouble. “As the price of the paper rouble approaches parity,” he explained, “export products will find ever fewer markets”, because “with the rouble at 2.7 francs and agricultural produce mounting in imperial warehouses without finding markets abroad, what will happen if the rouble 54 Emily S. Rosenberg: Financial Missionaries to the World. The Politics and Culture of Dollar Diplomacy, 1900-1930. Cambridge, Mass. / London 1999, pp. 31–60. 55 Pinar Şenışık: The Transformation of Ottoman Crete. Revolt, Politics and Identity in the Late Nineteenth Century. New York/London 2011, pp. 240–242; 56 K. M. Foumis: Indications Referring to the Fiscal, Economic and Administrative Situation of Crete. Chania 1906, p. 13 [in Greek]. For the consequences of capitulations in Ottoman trade and finance see: Murat Birdal: The Political Economy of Ottoman Public Debt. Insolvency and European Financial Control in the Late Nineteenth Century. London/New York 2010, pp. 19–23.
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goes up to 4 francs?”57 The lifting of forced circulation in Russia was ultimately combined with recognition of the “status quo” regarding devaluation of the paper rouble when calculating the country’s new gold parity. This solution, which differed from the one chosen by Greece and Italy in the 1880s, was the one preferred by Austria-Hungary in its transition from an inconvertible paper currency to a gold standard in 1892. Nevertheless, even under such circumstances the creation of a gold reserve was only made possible via a significant increase in taxation and public debt.58 Just as Russia evolved into the golden child of the French money market in the 1890s, so Japan became the privileged creditor of the City of London over the following decade. In any case, both countries’ experiences of their dynamic entry into the global financial arena were traumatic. Between 1893 and 1914, Japan had an almost permanent trade balance deficit, as the legacy of military expenditure and the “strong” post-1897 yen. Maintaining the gold standard once reparations from the Sino-Japanese War ran out called for constant recourse to foreign borrowing. Taking into account the peculiarities of the Japanese gold exchange standard, in the early 20th century a local official stressed that “even though England lent gold to Japan, not one ounce of gold went from England to Japan”. Indeed, in that country just as in Crete, attracting foreign non-debt capital turned out to be an imaginary advantage touted by gold supporters when the country’s silver standard was converted into a gold standard. Victorious in two wars and enjoying a special relationship with the British money market, Japan did of course have better luck than Crete, Greece or the Ottoman empire when negotiating loans. However, maintaining a gold reserve proved to be a Sisyphean task, as was evident from the speed with which the enormous reserve amassed in the Bank of Japan from bond issues during the Russo-Japanese War vanished once hostilities came to an end.59
COMPARISONS AND CONCLUSIONS Money arrangements and monetary systems are anything but neutral factors in the evolution of societies. In the modern period, when markets have expanded on an unprecedented scale, monetary policies have contributed to an increase or slowdown in economic growth, to removing or adding barriers to trade, and to widening or narrowing the gap between rich and poor. Nineteenth century decisions concerning the metallic base of the standard, coinage laws, paper money and 57 Centre des Archives Economiques et Financières (CAEF) (Savigny-le-Temple, France). B. 31.253, Russia: M. Verstraete to Foreign Affairs Minister, 9.3.1896 and M. Verstraete: Formation de l’ encaisse or et Balance Économique de la Russie. St. Petersburg, 31.3.1898. 58 CAEF (see note 57): B.31.253; Olga Crisp: Russian financial policy and the gold standard at the end of the nineteenth century, in: The Economic History Review 6, 2 (1953), pp. 156– 172, here 166. 59 Mark Meltzer: The Lever of Empire: The International Gold Standard and the Crisis of Liberalism in Prewar Japan. Berkeley 2006, pp. 68–71.
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banking not only constituted special arrangements governing monetary circulation, but also strategic choices affecting internal social relations and affairs with neighboring countries. For a significant segment of the new Cretan leadership, the Ottoman silver kuruş was, like the silver drachma, the remnant of an experience from which it wished to distance itself. Documents exchanged over the minting of the Cretan drachma did not include a study on the circulation of silver coins on Crete, particularly with regard to Turkish coins. I am unaware whether this resulted from a lack of sufficient information and data, from prejudice against the economic practices of the Ottoman Porte or from blind trust in the efficiency of a gold standard. The prejudice against silver did not favor solutions that would have lent the Cretan monetary system greater flexibility. The objections individually expressed by de Blonay and Skaltsounis reveal that there were alternative courses: for instance, the monetary standard could have been represented not just by a theoretical gold coin, but also by a silver one with full legal tender status. The fact that the lion’s share of the BoC gold reserve consisted of gold coins – constituting 89.2 percent of the Bank’s cache in 1902, with silver drachmas or foreign silver coins at just 12.9 percent (see figure 3) – did act as a guarantee for maintaining the parity of bank notes in circulation, but dramatically limited the elasticity of the circulating medium. The Cretan State maintained an adequate gold reserve without a native circulation of the metal; gold drachmas were not included in the new Cretan coinage – a wise decision considering the island’s fiscal and commercial deficits and the Muslim exodus, which resulted in a severe gold drain from Crete. However, gold standard adherence and the “thin film of gold” at the BoC vaults proved an insufficient “credible commitment mechanism” for ensuring access to foreign money markets.60 The case of Crete confirms Flandreau and Zummer’s (2004) findings that in the pre-1914 period the exchange rate regime (adherence to the gold standard) was not a factor facilitating inward capital flows.61 When the USA introduced a gold standard in the Philippines, the governmentmaintained Gold Exchange Fund only guaranteed the currency medium’s gold value in its overseas transactions. The gold peso was a theoretical currency unit equal to half that of the dollar; the silver peso, with a precious metal content equal to the popular Mexican dollar, remained the island’s actual circulation medium. The American administration replaced the banknote issued by the private Banco Espanol-Filipino with state bills (“silver certificates”) issued against an equal value of silver metal reserve.62 Despite the problems in trade with China created by banning the Mexican dollar, these arrangements were less inflexible than those 60 Niall Ferguson / Moritz Schularick: The “Thin Film of Gold”: Monetary Rules and Policy Credibility, in: European Review of Economic History 16, pp. 384–407. 61 Mark Flandreau / Frédéric Zumer: The Making of Global Finance 1880–1913. Paris 2004, pp. 1–128, here 56, in http://piketty.pse.ens.fr/files/FlandreauZummer2004.pdf. 62 E. W. Kemmerer: The Establishment of the Gold Exchange Standard in the Philippines, in: The Quarterly Journal of Economics 19, 4, 1905, pp. 585–609, passim; W. Wolters: Flooded with Foreign Coins (see note 31), pp. 531–532.
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introduced by the Cretan State. Indeed, although the difficulties of achieving gold circulation on Crete were acknowledged, no leeway was granted for the BoC’s silver or banknotes to make up the shortfall. The bankers foresaw the problems that would be created by such halfway-house solutions and believed from experience that sooner or later they could impose the solution of issuing small denomination bills, which was to their benefit. In any case, there was no guarantee that any potential for the BoC to exploit its issuing privilege would translate into beneficial terms for the public regarding the distribution of money capital. The upshot of the tug-of-war between the Bank and the Cretan government was a growth deficit, which contributed to the disintegration of Prince’s George regime in Crete.
foreign silver cretan nickel &copper
cretan silver
gold
Figure 3: Bank of Crete metallic reserves 1902; Source: Bank of Crete: Report of the council for the year 1902. Athens 1903, p. 14 (in Greek).
In the early 20th century, the “scientific nature” of the gold standard was selfevident and any other appraisal was seen either as the result of “ignorance” or as the attempt of a selfish minority to speculate at the cost of the many. Once silver had lost out in France, the USA, India, the Philippines, Japan and Russia – and in small Crete, though not yet in vast China – what remained to be settled was paper circulation or bank money, since according to the majority of contemporary views, gold automatically regulated transactions and price levels. This need had emerged in the USA long before the “Panic of 1907” as well as in Crete, where the demand for greater liquidity prevailed both before and after the Therisos revolt
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(1905-1906). The history of Mexican dollar circulation in the Far East attests that markets in the area were relatively unified via currencies that permitted global trade to take place without the stringent arrangements imposed by the gold standard. The latter unified transactions around a new regulatory framework, limiting the fiscal policy of states that adopted it and effectively subsidizing those who stockpiled and controlled the production of gold. The public debts of most states were converted into debts in gold or banknotes convertible into gold – to the satisfaction of the major banking institutions, which fervently desired to have interest and repayments made in a hard, “healthy” deflationary currency. As the gold standard spread in the late 19th century, yet another strategic raw material was added to those in commerce and industry, for which the central banks in imperialist countries competed.63 The notion that the gold standard created the fantastical world described by its advocates, where travelers could go around the world with nothing but gold coins in their pocket, and that the paradise of free trade was demolished by the First World War, is problematic to say the least. In combination with the myopic entrenchment of the moneymen behind the security that a deflationary currency offered them, gold’s inability to unify the global economy and offer viable metal and paper circulation systems exacerbated the inequalities between the richest and poorest countries. At the same time, the gold standard sowed the seeds of its own destruction by accelerating military intervention and market fragmentation, which rendered the ultimately illogical solution of colonial expansion even more attractive.
63 R. Ally: War and Gold – The Bank of England, the London Gold Market and South Africa’s Gold, 1914–19, in: Journal of Southern African Studies 17, 2 (1991), pp. 221–238.
INFRASTRUKTURELLE GRUNDLAGEN DES EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTSRAUMS: AKTEURE DER INTEGRATION – AKTEURE DER DESINTEGRATION Christian Henrich-Franke / Cornelius Neutsch / Laura Elsner / Guido Thiemeyer
THE INFRASTRUCTURAL FOUNDATIONS OF THE EUROPEAN ECONOMIC AREA: ACTORS OF INTEGRATION – ACTORS OF DISINTEGRATION
ABSTRACT: Economic integration and disintegration in Europe largely depends on infrastructures. Networks for transport and communication are crucial elements in the exchange of people, goods and services across national borders. International organisations such as the Central Commission for Navigation on the Rhine, the Universal Postal Union, the International Telecommunication Union and the European Economic Community have standardised technologies, negotiated regulations and formulated policies to connect national infrastructure networks since the 19th century. Historical research has shown the enormous importance of these organisations’ activities for transnational infrastructure building. This paper focuses on the role of individual actors, including politicians, diplomats, engineers and administrative experts. It demonstrates their crucial role for the integration and disintegration of the European Economic Area, as well as how they themselves are impacted and bound by the institutional arrangements surrounding them. Individual convictions, objectives and negotiation skills have often proved decisive in shaping the infrastructural foundations of the exchange of people, goods and services. Keywords: European Economic Area, Economic Integration, Infrastructure, Actors
I. EINLEITUNG Die wirtschaftliche Integration wie Desintegration Europas hängt wesentlich von den infrastrukturellen Grundlagen ab. Schon die Merkantilisten des 17. und 18. Jahrhunderts hatten die Bedeutung der Infrastruktur für die wirtschaftliche Entwicklung erkannt und dementsprechend gefördert. Netze des Verkehrs und der Kommunikation sind elementare Notwendigkeiten des Austauschs von Menschen, Gütern und Dienstleistungen innerhalb wie über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Nicht von ungefähr gehörte die gemeinsame Verkehrspolitik in den 1950er Jahren zu den Kernanliegen des EWG-Vertrags und auch der EU-Binnenmarkt soll
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durch die interoperablen Trans-Europäischen-Netze (TEN) gefördert und gestaltet werden. Derartige Überlegungen sind freilich keine Erfindungen der Europäischen Union und ihrer Vorgängerorganisationen. Seit dem 19. Jahrhundert wurden zahlreiche internationale Organisationen wie die Zentralkommission für die Rheinschiffahrt, der Internationale Eisenbahnverband, die Internationale Telekommunikationsunion und der Weltpostverein gegründet, um die infrastrukturellen Grundlagen Europas und der Welt auszuhandeln. Sie schufen integrierte (interoperable), semiintegrierte (interkonnektive) sowie desintegrierte (separierte) Netze. In der wirtschafts-, technik- und politikhistorischen Forschung sind die internationalen Organisationen im Bereich der Infrastrukturen in den letzten Jahren intensiv beleuchtet und ihr Beitrag für die ‚Infrastrukturierung‘ des europäischen Kontinents diskutiert worden.1 Ein Aspekt aber blieb in den auf politische Inhalte und Entscheidungsstrukturen ausgerichteten Arbeiten eher unterbelichtet: der individuelle Akteur – sei er Politiker, Diplomat, Ingenieur, Verwaltungsexperte oder Unternehmer. Zwar haben einzelne Beiträge nach der Bedeutung der sogenannten ‚system-builders‘ gefragt,2 doch liegen kaum Studien vor, die mehrere Typen von Akteuren systematisch betrachten und vergleichen. Dies erstaunt, sind es letztlich doch die Akteure, die individuell oder als Kollektiv die infrastrukturellen Grundlagen aushandeln, indem sie Standards setzen, Netzplanungen beschließen oder Transportmodalitäten erleichtern. Freilich agieren sie dabei innerhalb strukturell wie institutionell vorgegebener Regelungssysteme, die sie durch ihr Handeln mit Leben füllen. In diesem Beitrag wird ein erster Schritt unternommen, um in diese Lücke vorzustoßen. Es werden folgenden Leitfragen aufgeworfen: Welche Rolle spielten einzelne Akteure im Bereich der Infrastrukturen für die Integration und/oder Desintegration Europas? Warum integrierten oder desintegrierten sie Europa? Wie blickten die Akteure zum einen auf die Integration innerhalb Europas und zum anderen auf die Stellung Europas in der Welt? Was bedeutet Integration und Desintegration für einzelne Akteure in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten? Darauf aufbauend lässt sich kontrastiv diskutieren, ob es Unterschiede zwischen Akteuren aus den unterschiedlichen Sektoren der Infrastrukturen gibt. Dieser Beitrag kann freilich nur einen ersten Einblick in die Thematik bieten. Für generalisierende Aussagen oder gar eine Typisierung von Akteuren müsste die Zahl der betrachteten Akteure deutlich vergrößert werden.
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Kiran Patel / Johan Schot: Twisted Paths to European Integration: Comparing Agriculture and Transport in a Transnational Perspective, in: Contemporary European History 20 (2011), S. 383–403; Gerold Ambrosius / Christian Henrich-Franke: Integration of Infrastructures in Europe in Comparison. Berlin 2015; Wolfram Kaiser/Johan Schot: Writing the Rules for Europe: Experts, Cartels, and International Organisations. Basingstoke 2014. Per Högselius / Arne Kaijser / Erik Van der Vleuten: Europe’s Infrastructure Transition. Economy, War, Nature. Basingstoke 2016; Frank Schipper / Johan Schot: Experts and European Transport Integration, in: Journal of European Public Policy 18 (2011), S. 274–293; Christian Henrich-Franke: Mobility and European Integration. Politicians, Professionals and the Founding of ECMT, in: Journal of Transport History 29 (2008), S. 69–92.
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Nachfolgend werden vier Personen näher beleuchtet, die eine ganze Bandbreite von Akteuren der Integration und der Desintegration der infrastrukturellen Grundlagen Europas repräsentieren. Diese vier stehen exemplarisch für die Veränderung der internationalen Zusammenarbeit bei der Integration Europas, die im 19. Jahrhundert auf dem Wiener Kongress begann, Mitte des 19. Jahrhunderts von zentralen politischen Persönlichkeiten in internationalen Verwaltungsunionen fest verankert wurde und sich danach weiter ausdifferenzierte. Erfolgte die Zusammenarbeit im 19. Jahrhundert eher separat für einzelne Verkehrs- und Kommunikationsarten sowie beschränkt auf einzelne Aspekte des Betriebs, der Technik oder der Tarife, so wurde sie im 20. Jahrhundert inhaltlich breiter und institutionell komplexer. Dabei wurden auch neue Typen von Akteuren, u.a. technische Experten, in die Aushandlungsprozesse eingebunden. Einerseits bemühten sich die Europäische Union und ihre Vorgänger um gemeinsame europäische Infrastrukturpolitiken im Rahmen von EWG/EG/EU, die übergeordnete Planungen und ordnungspolitische Konzeptionen umfassen sollte, welche die Verkehrs- und Kommunikationsvarianten gleichermaßen betreffen sollten. Andererseits verlagerte sich die internationale Standardisierungs- und Harmonisierungsarbeit in anonyme Spezialkommissionen von Experten. Diese leisteten zwar einen nicht unerheblichen Beitrag zur europäischen Integration von Märkten und Gesellschaften, indem sie die fundamentalen Funktionsbedingungen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft definierten. Sie wurden von der Öffentlichkeit in ihrer Tätigkeit aber selten wahrgenommen. Hier stehen im Vordergrund: (1) Wilhelm von Humboldt (1767–1835) diskutierte als preußischer Delegierter bereits auf dem Wiener Kongress im Kontext der Debatten um die Rheinschifffahrt erstmals die politischen Grundsätze von Integration. Sollte diese supranational oder intergouvernemental konzipiert werden? (2) Heinrich von Stephan (1831–1897) stellt einen Mythos der Postgeschichte dar, der als gleichermaßen erfolgreicher Gestalter des Weltpostvereins wie der Reichspost gilt. (3) Lambert Schaus (1908–1976) war als erster EWG-Kommissar für Verkehr mit einem Politikfeld vertraut, das im EWG-Vertrag zu einem zentralen Politikbereich der Gemeinschaft gemacht worden war. Dennoch musste Schaus bei seinem Rücktritt 1967 ein komplettes Scheitern seiner Bemühungen konstatieren. (4) Theodor Irmer (1932–2014) gilt als ‚Vater‘ des in den 1980er Jahren ausgehandelten Integrated Services Digital Network (ISDN) und war einer der Experten, die einen zentralen technischen Standard auf dem Weg in ein digitales Europa vereinbarten. Im Folgenden werden die vier Akteure bezüglich ihrer Bedeutung für die Integration und Desintegration Europas chronologisch nacheinander betrachtet, bevor kontrastiv nach den jeweiligen Spezifika und Gemeinsamkeiten gefragt wird. Abschließend wird die Rolle einzelner Akteure für Prozesse der politischen und wirtschaftlichen Integration und Desintegration thematisiert. Integration wird dabei als Verbindung infrastruktureller Netze an den Außengrenzen wie auch als deren Verschmelzung über nationalstaatliche Grenzen hinweg verstanden. Sie kann durch Standardisierung ebenso wie durch eine gemeinsame
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Ordnungspolitik erreicht werden. Desintegration wiederum bezeichnet den Rückbau von Verbindungen oder den Rückgang von Verschmelzung. Beides sind allerdings keine exklusiven Prozesse, da Integration und Desintegration gleichzeitig ablaufen können.
II. VIER AKTEURE a) Wilhelm von Humboldt (1767–1835) Wilhelm von Humboldt war eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der preußischen Politik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Als Kultur- und Bildungspolitiker und als Diplomat beeinflusste er die deutschsprachigen Gesellschaften im 19. Jahrhundert maßgeblich. Während seine sprachwissenschaftlichen Untersuchungen und seine bildungspolitischen Ambitionen weithin bekannt sind, blieben seine diplomatischen Aktivitäten eher im Verborgenen. Von Humboldt vertrat Preußen als Diplomat in Wien und London, er wirkte beim Frankfurter Bundestag und war einer der preußischen Gesandten beim Wiener Kongress.3 Als Diplomat wird er oft, und gewiss zu Recht, als pflichtbewusster Preuße dargestellt, der zwar eigene politische Gedanken entwickelte, diese aber angesichts der Dominanz von Karl August von Hardenberg innerhalb der preußischen Führung nicht durchsetzen konnte.4 Diese Einschätzung bleibt in Bezug auf die damals so genannte „Große Politik“ gewiss richtig, trifft aber nicht auf alle Details zu. Insbesondere auf dem Wiener Kongress spielte von Humboldt in Fragen, die für die verhandelnden Großmächte und das Staatensystem nicht im Mittelpunkt standen, eine durchaus wichtige Rolle. Die Artikel CVIII–CXVII der Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 legten fest, dass schiffbare internationale Ströme in Europa einer gemeinsamen Regulierung unterworfen werden sollten.5 Dies betraf zu diesem Zeitpunkt vor allem den Rhein und die Schelde. Schon im Dezember 1814 war vom Kongress eine Kommission zur Regulierung der Ströme eingesetzt worden, die ab dem 2. Februar 1815 tagte und in der die Vertreter der Anrainerstaaten des Rheins zusammenkamen, um eine gemeinsame Regulierung der Rheinschifffahrt vorzunehmen. Die preußische Regierung hatte Wilhelm von Humboldt in diese Kommission delegiert, in der er bald eine führende Rolle einnehmen sollte. Die Arbeitsgrundlage der Kommission waren Denkschriften, die die Mitglieder für die jeweiligen Sitzungen vorbereiteten.6
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Siegfried August Kaehler: Wilhelm von Humboldt und der Staat. München. Berlin 1927. Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt. Berlin 2011, S. 227f. Jean Marie Woerling / Sylvain Schirmann/Martial Libera (Hg.): 200 Jahre Geschichte. Zentralkommission für die Rheinschifffahrt. Straßburg 2015, S. 23–46. Guido Thiemeyer / Isabel Tölle: Supranationalität im 19. Jahrhundert? Die Beispiele der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt und des Octroivertrages 1804–1832. in: Journal of European Integration History 17 (2011), S. 177–196.
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Unter dem Datum vom 3. Februar 1815 formulierte von Humboldt die für die Verhandlungen entscheidenden Fragen7: Einerseits seien sich die Regierungen einig, dass die Schifffahrt im Interesse des Handels frei sein solle. Um diese Freiheit dauerhaft zu garantieren, so von Humboldt, bedürfe es einer Konvention, die nur unter Zustimmung aller Beteiligten geändert werden könne. Andererseits dürfe keine der beteiligten Regierungen in ihren Souveränitätsrechten beeinträchtigt werden. Zudem sollten gemeinsame tarifliche und rechtliche Standards für die Nutzung der Flüsse als Wasserstraßen geschaffen werden. Damit formulierte von Humboldt im Frühjahr 1815 jene Grundfragen, die für die Integration von grenzüberschreitenden Infrastrukturen bis heute relevant sind. Einerseits gibt es vor allem aus wirtschaftlichen Gründen ein Interesse daran, dass der Zugang zu den Infrastrukturen des Verkehrs frei ist und diese nicht willkürlich blockiert werden können. Dies galt damals vor allem für die Binnenschifffahrt, später aber auch für die Seeschifffahrt, die Eisenbahnnetze und den Luftraum. Die Verkehrs-Infrastrukturen funktionieren im Sinne aller Beteiligten am besten, wenn die Regeln der Benutzer einheitlich festgelegt und kontrolliert werden. Andererseits verlaufen die Verkehrswege über das Territorium von Nationalstaaten. Eine Verpflichtung der Nationalstaaten, die Verkehrswege für alle Benutzer frei zu halten, bedeutet eine Einschränkung ihrer Souveränität. Damit standen zwei für Wilhelm von Humboldt und seine Zeitgenossen grundlegende Prinzipien im Widerstreit: die Freiheit des Verkehrs und die Souveränität des Nationalstaates. Es war kein Zufall, dass das Problem just zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftauchte. Die industrielle Revolution, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien begonnen hatte, setzte nun auch auf dem Kontinent ein. Eng mit ihr verbunden war die Veränderung nicht nur der Produktion, sondern auch des Transports. Die entstehende Industrie stellte Massenprodukte her, die nicht mehr allein für regionale Märkte relevant, sondern auf die Existenz großräumiger Absatzmärkte angewiesen waren. Damit erlangte der Transport eine Schlüsselposition im Wirtschaftssystem. Gleichzeitig benötigten die Fabriken Rohstoffe in großen Mengen, die ebenfalls aus der Ferne angeliefert werden mussten. Eng mit der Mechanisierung der Produktion war daher auch ein rasantes Anwachsen des Verkehrs verbunden. Dieser Prozess beschleunigte sich noch einmal dadurch, dass sich ab den 1830er Jahren ein Eisenbahnnetz in Europa entwickelte und gleichzeitig die Dampfschifffahrt etablierte. Hierdurch entstand ein zunehmend interdependentes Netz von Produktion und Konsum, für das politische Grenzen hinderlich waren. Gleichzeitig aber entstand die moderne Vorstellung von der Nation. Diese war nach den durch die Französische Revolution geprägten Ideen nach innen und außen souverän. Das bedeutete, dass der Nationalstaat grundsätzlich unabhängig von anderen Staaten sein sollte (Souveränität nach außen) bzw. in der Gestaltung seiner inneren Verhältnisse frei sei (Souveränität nach innen). 7
Mémoire préparatoire sur le travail de Commission de navigation. In: Rheinurkunden. Sammlung zwischenstaatlicher Vereinbarungen, landesrechtlicher Ausführungsverordnungen und sonstiger wichtiger Urkunden über die Rheinschifffahrt seit 1803. Den Haag / München / Leipzig 1918, S. 61.
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Beide Prinzipien, die Freiheit der Wirtschaft und des Verkehrs und die Souveränität der Nation, widersprachen einander. Eben diesen Gegensatz hatte von Humboldt in seiner ersten Denkschrift für die Flusskommission des Wiener Kongresses herausgearbeitet. Es galt also nun, in der Kommission einen völkerrechtlichen Rahmen zu finden, in dem beide Prinzipien, jenes von der Souveränität des Nationalstaates und jenes der Freiheit der Wirtschaft, miteinander vereinbart werden könnten. In einer weiteren Vorlage für die Kommission („Proposition“) schlug von Humboldt vor, dieses Problem durch eine neue Institution zu lösen. Es solle eine „Centralité quelconque“ geschaffen werden, um die verschiedenen Interessen der Staaten einerseits und der Wirtschaft andererseits zusammenzuführen.8 Diese Institution könne zwei mögliche Formen annehmen: Entweder eine „réunion des commissaires“, eine Versammlung von Vertretern der Rhein-Anliegerstaaten, die in regelmäßigen Abständen über anstehende Probleme beraten und ihre Beschlüsse einstimmig fassen. So könne eine Kooperation gewährleistet werden, ohne dass die nationale Souveränität der betroffenen Staaten eingeschränkt würde. Eine Mehrheit könne hier niemals eine Minderheit dominieren, es gelte das Veto-Recht. Oder, so von Humboldt, man würde eine „véritable autorité centrale“ schaffen, eine Organisation, in der die Mitgliedstaaten mit einfacher Mehrheit entscheiden. Auf diese Weise, so von Humboldt, würde die Unabhängigkeit eines einzelnen Uferstaates der „volonté générale“, dem Allgemeinwohl, unterworfen. Damit wurde auf dem Wiener Kongress im Februar 1815 erstmals jene Diskussion geführt, die bis heute zentral für das Selbstverständnis internationaler Organisationen ist. Es ging damals um die Frage, ob die dann gegründete Zentralkommission für die Rheinschifffahrt eine intergouvernementale oder eine supranationale Organisation werden sollte. Von Humboldt übertrug den Rousseauschen Begriff der „Volonté Générale“, die nach republikanischem Verfassungsverständnis als Gemeinwille die Grundlage staatlicher Souveränität ist, auf die Beziehung zwischen den Einzelstaaten und den über diesen stehenden allgemeinen Wirtschaftsinteressen.9 Im Kern wendete er also die von Rousseau konstruierte Beziehung zwischen dem Individuum und dem Staat an auf die Beziehung des Einzelstaates zu den die politischen Grenzen überschreitenden Wirtschaftsbeziehungen. Um dieser besonderen Beziehung gerecht zu werden, schlug der preußische Delegierte auf dem Wiener Kongress eine Organisationsform vor, in der beide Prinzipien berücksichtigt wurden. Während bei Rousseau der Staat die Beziehung zwischen Individuum und der über diesen stehenden „Volonté Générale“ regelt, wird die Beziehung zwischen Staaten und der über diesen stehenden „Volonté Générale“ durch die „véritable autorité centrale“ strukturiert. Diese Konstruktion sollte im frühen 19. Jahrhundert die Souveränität der Einzelstaaten und die Interessen der grenzüberschreitenden Wirtschaft in Einklang bringen. 8 9
Propositions de M. le baron de Humboldt, plénipotentiaire de la Prusse. In: Ebd. S. 92f. Guido Thiemeyer: Die „Volonté Générale“, das europäische Staatensystem und die Genese supranationaler internationaler Organisationen vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. in: Journal of European Integration History 22 (2016), S. 229–248.
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Welche Rolle spielte Wilhelm von Humboldt für den Prozess der Europäischen Integration? Er ist ein bedeutsamer Akteur von Integration, weil er, auch wenn ihm der Begriff „Europäische Integration“ nicht bekannt war, erstmals die zentralen Kategorien formulierte, die im 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Diskussionen rücken sollten. Zudem wirkte er an der Schaffung der ersten internationalen Organisation im modernen Sinne mit, der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, in der wichtige Elemente des später so genannten Prinzips der Supranationalität erstmals umgesetzt wurden. Aus diesem Grunde ist die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt einer der Vorläufer der Europäischen Integration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Überlegungen entstanden durch den von ihm beobachteten und erstmals theoretisch beschriebenen Widerspruch zwischen wirtschaftlichem Internationalismus einerseits und politischer Souveränität der Nationalstaaten andererseits. Er selbst dachte in wirtschaftspolitischer Hinsicht liberal, war aber auch ein Verfechter der auf der Sprache beruhenden Kulturnation. Beides miteinander in Einklang zu bringen, war sein Ziel. Im Gegensatz zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte eine politische Integration Europas, sei es im Rahmen eines Bundesstaates oder eines Staatenbundes, für von Humboldt keine Rolle. Anders formuliert: Integration war für ihn kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur Überwindung konkreter politischer und wirtschaftlicher Probleme. „Europa“ war daher für von Humboldt zweierlei: Einerseits ein Wirtschaftsraum, in dem der Handel möglichst ungehindert von politischen und wirtschaftlichen Hemmnissen betrieben werden konnte. „Europa“ war für ihn aber auch ein Raum von Nationen, die sich vor allem kulturell über die Sprache und eine gemeinsame Geschichte definierten, und deren politische Souveränität nicht eingeschränkt werden sollte. Beide Prinzipien, die Wirtschaftsfreiheit und die politische Souveränität der Nationalstaaten, galt es miteinander zu verbinden. In der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt drückte sich dieses Spannungsfeld darin aus, dass die Schifffahrt grundsätzlich frei wurde, die Kommission bzw. deren sieben die Mitgliedsstaaten vertretenden Delegierten, mit einfacher Mehrheit entschied, allerdings die Beschlüsse nur für solche Staaten bindend waren, die ihnen auch zugestimmt hatten. Insgesamt kann das frühe 19. Jahrhundert als Phase der Entstehung der modernen Integration verstanden werden: Mit der Entwicklung des modernen Nationalstaats sowie der technischen und industriellen Revolution entstanden jene Strukturen, die bis heute europäische Geschichte prägen. Die Europäische Integration war und ist seither ein Instrument, um diese in Teilen gegenläufigen Entwicklungen, die Wilhelm von Humboldt hellsichtig analysiert hatte, in Einklang zu bringen.
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b) Heinrich von Stephan: „Der ideenreichste Postfachmann, den die Welt je gekannt hat?“ Heinrich von Stephan gehörte zu den herausragenden deutschen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Eine bereits im Jahr 1969 von Alfred Koch verfasste Bibliographie mit Arbeiten von und über Stephan umfasst 20 Seiten.10 Hinzu kommt die allgemeine post- und telekommunikationsgeschichtliche Literatur, in der immer wieder umfängliche Passagen zu Stephans Wirken zu finden sind. Das Museum für Kommunikation in Frankfurt/Main widmete ihm anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 1997 die bislang letzte große Ausstellung mit einem dazugehörigen Katalog von über 300 Seiten.11 Blickt man zusammenfassend auf die vorhandenen wissenschaftlichen und populären Publikationen, so wird darin überwiegend ein verklärendes Bild dieser Person gezeichnet. Unter anderem als „Weltpostmeister“ oder „Bismarck der Post“ charakterisiert, entstand um den deutschen Generalpostmeister ein lang anhaltender Mythos. Auch wenn man ihn entmystifiziert, lässt er sich jedoch als ein Paradigma für einen bedeutenden Akteur auf dem für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration des 19. Jahrhunderts so wichtigen Sektor der nationalen und internationalen Kommunikation heranziehen. Waren es jedoch tatsächlich die eigenen Ideen, die er umsetzte? Zunächst ist zu klären, welchen Anteil er als Person an integrativen Maßnahmen im Kommunikationssektor hatte, wobei die folgenden Ausführungen auf seine Rolle bei der Entstehung des Weltpostvereins fokussiert werden sollen. In diesem Kontext ist danach zu fragen, inwieweit dieser genuin auf seinen eigenen Ideen basierte. Stephan wurde 1831 als Sohn eines Handwerksmeisters geboren und trat 1848 als Schreiber in den preußischen Postdienst ein; er verstarb 1897 als amtierender Staatssekretär des Reichspostamts – für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine mehr als außergewöhnliche Karriere. Er agierte in einer Zeit der Entwicklung globaler Kommunikationssysteme, die wesentlich von den europäischen Industrienationen getragen wurden, eine Zeit, die von der historischen Forschung bisweilen mit dem Begriff ‚Kommunikationsrevolution‘ charakterisiert wird. Das Europa und die Welt umspannende Postnetz war zentraler Bestandteil dieser Kommunikationsnetze,12 was angesichts der Konzentration der Forschung auf die modernen Medien des 19. Jahrhunderts weniger thematisiert wird. Der 1874 in Bern gegründete Weltpostverein hat eine lange Vorgeschichte. Idee und praktische Ausgestaltung des Vereins sind über Jahrzehnte gewachsen. Wichtige Impulse hierfür kamen aus Deutschland, was mit der besonderen Struktur 10 Heinrich von Stephan-Bibliographie, Sonderdruck aus Schrifttum über das Deutsche Postwesen, Nachtrag 2500–1964, zusammengestellt und bearbeitet von Alfred Koch. Hamburg 1969. 11 Klaus Beyrer (Hg.): Kommunikation im Kaiserreich. Der Generalpostmeister Heinrich von Stephan. Heidelberg 1997. 12 Cornelius Neutsch: Briefverkehr als Medium internationaler Kommunikation im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Michael North (Hg.): Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts. Köln 1995, S. 131–155.
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der dortigen postalischen Verhältnisse zusammenhing. Im Kontext des Deutschen Bundes von 1815 war die Schaffung eines einheitlichen Postwesens ebenso wenig gelungen wie im Rahmen des Deutschen Zollvereins nach 1833. Noch im Jahr 1850 existierten auf dem Gebiet des Deutschen Bundes 17 voneinander unabhängige Postverwaltungen. Im Zuge der beginnenden Industrialisierung wurde diese postalische Zersplitterung zunehmend als Hindernis empfunden. Mit Blick auf mögliche Ideengeber einer postalischen Integration ist zunächst der 1784 in Hildesheim geborene Johann von Herrfeldt zu nennen. Ursprünglich in Diensten der Thurn und Taxisschen Post, wurde er später als Autor postalischer Fachpublikationen bekannt. Unter dem Titel: „Grundlagen für einen Welt-Postverein“ veröffentlichte er bereits 1841 im „Archiv für das Postwesen“ einen Aufsatz, worin er einen ersten konstruktiven Plan für eine stabile Neuordnung der zwischenstaatlichen Postbeziehungen vorlegte. Hierzu zählten u.a. das alle drei Jahre stattfindende Zusammenkommen in einem „allgemeinen Postkongress aller Staaten“, ein Einheitsvertrag für die Regelung des zwischenstaatlichen Postverkehrs, mit zunehmendem Gewicht aufsteigende Briefgebühren mit drei Entfernungsstufen, Verbleiben des Portos im Aufgabeland sowie der freie und mit gewissen Einschränkungen unentgeltliche Transit13 – Elemente, die für den späteren Weltpostverein konstitutiv wurden. Ein Jahr später ergänzte er seine Ausführungen in einem weiteren Aufsatz im „Allgemeinen Archiv für das Post- und Transportwesen“, wie die Zeitschrift jetzt hieß, unter dem Titel: „Die Postverhältnisse bei dem System eines einzigen Taxsatzes in Beziehung auf das Ausland.“ Es ist zwar nicht zweifelsfrei nachzuweisen, dass Heinrich von Stephan die Publikationen von Herrfeldts rezipiert hat – er hat hierauf niemals explizit Bezug genommen. Angesichts seines intensiven Literaturstudiums und der Tatsache, dass er selbst als Autor mehrerer postalischer Abhandlungen hervortrat, ist dies jedoch sehr wahrscheinlich.14 Eine erste praktische Umsetzung der Ideen von Herrfeldts gelang im „DeutschÖsterreichischen Postverein“ (DÖPV) von 1850, dem bis zum Jahreswechsel 1851/52 alle deutschen Postverwaltungen beitraten. Er ist als wichtiger Vorläufer des Weltpostvereins anzusehen. Die Parallelen sind auffällig: 1. Mit dem DÖPV wurde der Verein erstmals als Rechtsform in diesem Bereich gewählt. 2. Der DÖPV regelte ausschließlich die zwischenstaatlichen Postbeziehungen; hinsichtlich der innerstaatlichen Verhältnisse blieben die Mitgliedsstaaten souverän, wenngleich die Bestimmungen des DÖPV eine standardisierende Wirkung auf ihren inneren Postverkehr ausübten. 3. Alle am DÖPV beteiligten Postverwaltungen waren berechtigt, jederzeit diejenigen Routen zu benutzen, die eine schnellstmögliche Beförderung der Korrespondenz gewährleisteten. Wechselseitig sicherte man sich unverzügliche und 13 Herrfeldt, Johann von: Grundlagen zu einem Weltpostverein, in: Archiv für das Postwesen 13 (1841), 20 Sp. 319. 14 Walter Ehrenfried: Deutsche Einflüsse auf die Gründung des Weltpostvereins, in: Archiv für deutsche Postgeschichte, Sonderheft 1984, S. 77f.
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schnellstmögliche Weiterleitung der zugeführten Postsendungen unter Benutzung der jeweils günstigsten Verkehrsmittel zu. 4. Die eingenommenen Porti verblieben bei derjenigen Postverwaltung, bei der die Sendung aufgegeben worden war, da man davon ausging, dass sich das Postaufkommen zwischen zwei Staaten die Waage hielt. Vergütungen für Transitleistungen weiterer Verwaltungen wurden zwar nicht völlig abgeschafft, jedoch durch die Aufgabeverwaltungen nach vereinbarten einheitlichen Grundsätzen abgerechnet. 5. Zunächst bildete das Gebiet des DÖPV nur hinsichtlich der Briefpost15 ein einheitliches Postgebiet. Andere Postsendungsarten traten erst nach späteren Vereinskonferenzen hinzu. Die genannten Punkte lassen sich auf den Weltpostverein übertragen, d.h. die im DÖPV gemachten Erfahrungen dienten in vielfacher Hinsicht als Vorbild für die im Weltpostverein gefassten Beschlüsse.16 Heinrich von Stephan hatte im Jahr der Gründung des DÖPV nach zwei Jahren Postdienst gerade einmal die Prüfung zum Postassistenten (mit Auszeichnung) abgelegt. In die Beschlüsse des Vereins war er erstmals 1856 als entscheidender Akteur involviert. Im Auftrag seines Förderers, des preußischen Generalpostmeister Schmückert, arbeitete er 1856 für den DÖPV einen Fahrposttarif17 aus, der im Rahmen der Münchener Konferenz des Vereins 1857 verabschiedet wurde.18 Blickt man auf die letzten Jahre vor Gründung des Weltpostvereins, ist es zunächst der amerikanische Generalpostmeister Montgomery Blair, dessen Aktivitäten in Richtung des späteren Vereins führten, wenngleich seine Ziele sehr viel bescheidener waren. Zwar ging es auch ihm um eine Vereinheitlichung des internationalen Postaustauschs, er hatte – anders als Stephan – jedoch keine dauerhafte internationale Organisation im Blick, für die es in jener Zeit kaum Vorbilder gab, mit Ausnahme des DÖPV. Als Folge von Blairs Aktivitäten versammelten sich am 11. Mai 1863 in Paris Delegierte aus zahlreichen Nationen mit einer Gesamtbevölkerung von ca. 400 Millionen Menschen. Der Anteil der vertretenen Staaten an der Weltkorrespondenz betrug etwa 95 Prozent. Die Delegierten einigten sich auf 31 Artikel, die in den folgenden zehn Jahren zumindest standardisierend auf neu abgeschlossene bilaterale Postverträge wirkten, da sie in diese Verträge eingingen. In der Konferenz ging es hauptsächlich um Gebührensenkungen, die mangelnde Einheitlichkeit des Postwesens und die komplizierten Abrechnungsverfahren traten dahinter zurück. Blair wollte den Meinungsaustausch zwischen den Fachleuten anregen, um so langsam eine Besserung herbeizuführen. Die Umsetzung der in Paris verabschiedeten Artikel blieb im Ermessen der einzelstaatlichen Postverwaltungen. 15 Hierzu zählten Briefe, Drucksachen, Warenproben, rekommandierte Briefe und Zeitungen. 16 Cornelius Neutsch: Der Beitrag der Post zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration in Deutschland während der Zeit des Deutschen Bundes, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschaftliche und soziale Integration in historischer Sicht. Stuttgart 1996, S. 140ff. 17 Hierzu zählten Pakete mit und ohne Wertangabe, mit den dazu gehörenden Begleitbriefen, Geld- und Wertbriefe, Postvorschusssendungen und Briefe mit baren Einzahlungen. 18 Herman von Petersdorff: Stephan: Ernst Heinrich Wilhelm (v.), in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 54, 1908, Neudruck: Berlin 1971, S. 477–501, hier S. 480.
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Auch wurde in Paris nicht darüber diskutiert, wie denn die einmal begonnene Zusammenarbeit fortgesetzt werden könne, wahrscheinlich das größte Defizit der Konferenz, die für die späteren Vorschläge Stephans jedoch einen fruchtbaren Boden schuf.19 Als dieser 1868 seine für den späteren Weltpostverein wegweisende „Denkschrift über die Gründung eines Allgemeinen Postkongresses“20 verfasste, konnte er somit auf bereits formulierte Ideen (von Herrfeldt), vorangegangene gut funktionierende Institutionen (DÖPV) und Initiativen der jüngsten Vergangenheit (Pariser Postkongress) zurückgreifen. Stephan selbst hat die herausragende Bedeutung des DÖPV für den Weltpostverein betont: „Die Tatsache, daß zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn seit einer Reihe von Jahren bereits ein Postverein bestand, der die Möglichkeit und große Zweckmäßigkeit solcher Einrichtungen in ausgezeichneter Weise dargetan hatte, ist bei den Verhandlungen von besonderem Wert gewesen. Wir haben uns oft in der Lage befunden, darauf hinweisen zu können, wenn sich in Bern Schwierigkeiten ergaben.“21 Seine Rolle bei der Gründung des Vereins hat er selbst später wie folgt zusammengefasst: „Die Ideen sind nicht das Eigentum eines sterblichen Menschen. […] Der Gedanke der Vereinigung entspricht dem Streben unseres Jahrhunderts, er beherrscht viele Gebiete der Tätigkeit des heutigen Menschengeschlechts und bildet eine wahrhafte Triebkraft der modernen Zivilisation.“22 Der Weltpostverein war jedoch kein ‚Selbstläufer‘. Dies hatte bereits die Pariser Konferenz gezeigt. Die Fiskalinteressen einzelner Staaten, insbesondere Frankreichs, standen einer schnellen und großzügigen Einigung im Weg. Um das Unternehmen zum Erfolg zu führen, bedurfte es einer in Fachkreisen allgemein anerkannten Persönlichkeit mit diplomatischem Geschick. Ein kurzer Blick auf Stephans Fähigkeiten und einige Stationen seiner postalischen Laufbahn genügt, um festzustellen, dass es sich bei ihm um einen Ressortfachmann handelt, der nahezu prädestiniert war, um als entscheidender Akteur am Zustandekommen des Weltpostvereins mitzuwirken. Von zentraler Bedeutung war hierbei zunächst seine Zeit in Köln, wo er zwischen 1851 bis 1855 nicht nur am Stadtpostamt, sondern auch auf der einen Großteil der deutschen Auslandspost abwickelnden Bahnpost Köln-Verviers und bei der Oberpostdirektion Köln beschäftigt war. Hier lernte er alle Zweige eines großen Postbetriebs kennen, vor allem den komplizierten Auslandsverkehr mit seinen verwickelten Portoberechnungen sowie von Land zu Land unterschiedlichen und mitunter kleinlichen Vorschriften.23 Stephan hat einmal die Kölner Jahre als „seine Hochschule“ bezeichnet, denn eine Hochschule hatte er nie besucht. Sein Abschluss 19 Otfried Brauns-Packenius: Montgomery Blair – Wegbereiter Stephans zum Weltpostverein, in Archiv für deutsche Postgeschichte, Sonderheft 1984, S. 81–105, hier 94f., 103f. 20 Denkschrift, betreffend den allgemeinen Postkongreß, in: Amtsblatt der Reichspostverwaltung, Berlin 1871, S. 154ff. 21 Zit. nach Ehrenfried: Deutsche Einflüsse (wie Anm. 14), S, 73f. 22 Ebd., S. 80. 23 Petersdorff: Stephan (wie Anm. 18), S. 479f.
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an der Stolper Ratsschule, eine Art Progymnasium, berechtigte ihn nicht zum Universitätsstudium. Sein diplomatisches Geschick entwickelte er vor allem nach seiner Berufung in das preußische Generalpostamt im Jahr 1859, wo er hauptsächlich mit Fragen des Auslandspostverkehrs betraut war. Zur Verbesserung und Neuregelung der zwischenstaatlichen Postbeziehungen unternahm er beispielsweise Dienstreisen nach Belgien und in die Niederlande (1862/63), nach Spanien und Portugal (1864), Dänemark (1864), Russland (1865) und Rom (1869) zwecks vertraglicher Regelung der Postbeziehungen mit dem Kirchenstaat.24 Dass er auf der diplomatischen Bühne erfolgreich agieren konnte, lag auch an seinen vielfältigen Fremdsprachenkenntnissen. In der Schule hatte er Latein und Französisch, in Privatstunden Englisch und Italienisch gelernt. Später kamen Spanisch und Ungarisch hinzu. Kenntnisse besaß er ferner im Portugiesischen, Russischen und in den skandinavischen Sprachen. Seine Erfolge bei internationalen Verhandlungen waren nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass er viele Verhandlungspartner in deren Muttersprache ansprechen konnte.25 Weiterhin hatte er bei den Berner Verhandlungen bereits eine exponierte Stellung inne. 1870 war er zum Generalpostdirektor der Postverwaltung des Norddeutschen Bundes ernannt worden, nach Gründung des Deutschen Reiches stand er der Reichspostverwaltung vor. Spätestens mit dem Weltpostverein entstand der ‚Mythos Stephan‘. Beispielhaft für sein hohes Ansehen mögen Äußerungen Kaiser Wilhelms II. stehen, der in seinen Erinnerungen über ihn schrieb: Von eiserner Energie, nie erlahmender Arbeitskraft und -freudigkeit, dabei immer voll frischen Humors, mit raschem Blick für neue Möglichkeiten, um Auskunftsmittel nie verlegen, sehr gut auf den Gebieten der Politik und Technik beschlagen, war er wie geboren zu schöpferischer Mitarbeit. Ich hatte unbedingtes Vertrauen zu ihm, das niemals getäuscht worden ist, und habe viel durch den Verkehr mit dem anregenden, klugen Ratgeber gelernt. Das Postwesen kam auf eine ungeahnte Höhe und erregte die Bewunderung der ganzen Welt.26
Stephan erntete jedoch auch Kritik. Bismarck, der ihn als Fachmann schätzte, nannte ihn eitel. Die Reformen, die unter seiner Ägide durchgeführt wurden, z.B. Einführung der Postkarte (1870), Einheitstarif für Pakete (1873), Rohrpostlinien (1876), Verlegung unterirdischer Telegraphenlinien (ab 1876), Einführung des Telephons (1877/1881), Einrichtung von Postagenturen (1871) und Posthilfsstellen (1881), Einrichtung von Postdampferlinien (1885/1890) modernisierten und erweiterten die Kommunikationsmöglichkeiten erheblich, genuin neu waren sie jedoch nicht. August Bebel brachte dies während einer Reichstagsrede im Jahr 1893 auf den Punkt:
24 Friedrich Adolf Risch: Heinrich von Stephan, Die Idee der Weltpost. Hamburg 1948, S. 37ff. 25 Herbert Leclerc: Bewundert viel und viel gescholten. Heinrich von Stephan – einmal kritisch gesehen, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1 (1981), S. 62–80, hier 63. 26 Kaiser Wilhelm II. Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918, Berlin 1922, S. 143.
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Ich bin freilich der Meinung, daß alle die großen Reformen […] wohl alle Anerkennung verdienen; aber wenn wir sie näher unter die Lupe nehmen, so ist nicht eine Maßregel darunter, die in dem einen oder anderen Land nicht bereits vorhanden war. 27
Bereits Stephans erster Biograph, Herman von Petersdoff, urteilte, dass er „durch die Zeit emporgetragen wurde“, charakterisiert ihn allerdings trotzdem mit dem Begriff „der geniale Generalpostmeister Wilhelm’s I.“.28 Genial in dem Sinne, dass es vornehmlich seine Ideen waren, die er umsetzte, war er sicherlich nicht, allerdings ein Akteur, der es geschickt verstand, die sich ihm bietenden Möglichkeiten effektiv wahrzunehmen. Mit den unter seiner Ägide durchgeführten Reformen, auch wenn sie nicht genuin auf seinen Ideen basierten, leistete er einen entscheidenden Beitrag zur voranschreitenden Integration der nationalen PTT-Verwaltungen. c) Lambert Schaus: Glückloser Gestalter der EWG-Verkehrspolitik Die Verkehrspolitik gehörte zu den Kernanliegen des EWG-Vertrags von 1957. So legte der Artikel 8 des Vertrags fest, dass diese mit der Errichtung des Gemeinsamen Markts Schritt zu halten habe. Gleichzeitig wurde die materielle Ausgestaltung der in Artikel 74 verpflichtend vorgeschriebenen Gemeinsamen Verkehrspolitik weitgehend den Organen der Gemeinschaft überlassen.29 Dass diese Aufgabe keine einfache werden würde, hatten schon die Verhandlungen über den EWG-Vertrag gezeigt, gehörte doch der Verkehr bis Februar 1957, d.h. bis kurz vor Unterzeichnung der Römischen Verträge, zu den am kontroversesten diskutierten Vertragsinhalten, was Walter Hallstein zu dem Kommentar veranlasste, er habe „den Eindruck, eher einem pseudokirchlichen Konzil als einer wirtschaftspolitischen Verhandlung beigewohnt zu haben.“30 Das wenig begehrte Amt des Verkehrskommissars in der ersten EWG-Kommission fiel an den luxemburgischen Botschafter Lambert Schaus, der 1967 nach dem kompletten Scheitern der ersten Phase der EWG-Verkehrspolitik von seinem Amt zurücktrat. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Leitfragen dieses Beitrags auf die Person Lambert Schaus’ hin konkretisieren: Welche Rolle spielte Schaus für das Scheitern der EWG-Verkehrspolitik? Welche Vorstellung von europäischer Verkehrsintegration brachte er in sein Amt mit? Was war für Schaus Integration und Desintegration von Verkehr im EWG-Raum? Wie versuchte er seine Positionen mit denen anderer Akteure, v.a. den nationalen Vertretern, abzugleichen? Wer aber war Lambert Schaus? Drei persönliche Eigenschaften und Überzeugungen des am 18. Januar 1908 geborenen Luxemburgers lassen sich besonders hervorheben: Erstens, Schaus war Jurist durch und durch. Er studierte von 1927 bis 1932 Rechtswissenschaften, u.a. in Paris und Bonn, und arbeitete danach als 27 Leclerc: Stephan (wie Anm. 25), S. 66. 28 Petersdorff: Stephan (wie Anm. 18), S. 500. 29 Christian Henrich-Franke: Gescheiterte Integration im Vergleich: Der Verkehr – ein Problemsektor gemeinsamer Rechtsetzung im Deutschen Reich (1871–1879) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958–1972). Stuttgart 2012. 30 Walter Hallstein: Der unvollendete Bundesstaat. Düsseldorf 1972, S. 222.
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Rechtsanwalt und später Richter. Zeitlebens sollte er juristisch denken und Recht als Leitlinie menschlichen Handels begreifen. Zweitens, Schaus war auch ein erfahrener Politiker. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg engagierte er sich auf kommunaler Ebene. Nach Kriegsende begann seine politische Karriere in der ‚Chrestlich Soziale Vollekspartei‘ (CSV), die ihn schnell in verantwortliche Positionen führte. 1946 wurde Schaus luxemburgischer Minister für Ernährung, Handel und Armee, 1948 Mitglied des Staatsrats und 1953 schließlich diplomatischer Vertreter in Brüssel. Drittens, Schaus war überzeugter Europäer. Bereits in den 1930er Jahren hatte er Kontakt zur Europabewegung und setzte sich für das europäische Projekt ein. Besonders prägend waren aber seine Kriegserfahrungen. Dies gilt nicht nur, weil Schaus als Zwangsarbeiter 1941 praktische Erfahrungen im Autobahnbau sammeln musste, sondern v.a. weil er ein vereintes Europa als Schutz für Minderheiten und kleine Staaten erkannte.31 Diese drei Eigenschaften ließen Schaus zu einem europäischen Politiker werden, der eine klare Vorstellung davon besaß, wie der Weg in ein integriertes Europa beschritten werden sollte: über eine Rechtsgemeinschaft. Europäisches Recht sah Schaus als notwendige Basis an, auf der alle weiteren Schritte Europäischer Integration aufbauen würden. Aus dem Recht – so seine Überzeugung – würden sich die einzelnen Maßnahmen europäischer Politik präzise ableiten lassen. Mit dieser Überzeugung war er auch in die Verhandlungen über die Römischen Verträge eingetreten. Als Leiter der Luxemburgischen Delegation hatte er die Verträge maßgeblich mitgestaltet und wusste sehr genau, wie die einzelnen Artikel zustande gekommen waren. Er wusste also ebenso genau, auf was er sich 1958 einließ, als er das nicht sehr begehrte Amt des Verkehrskommissars übernahm. Wie ging er seine Aufgabe an? Die zentralen Richtungsentscheidungen für den Erfolg oder Misserfolg der EWG-Verkehrspolitik fielen in den Jahren 1958 bis 1961. Schon mit der Besetzung des Kabinettspostens durch Lucien Kraus, einen ehemaligen luxemburgischen Staatsanwalt, und der Strukturierung der Generaldirektion nach funktionalen Arbeitsbereichen, die sich aus den EWG-Vertragsartikeln ergaben, deutete Schaus noch vor der Formulierung erster inhaltlicher Konzepte an, dass er die EWG-Verkehrspolitik weder mit den etablierten Verkehrsexperten der Mitgliedsstaaten noch auf der Basis der bestehenden modalen Trennung nach Verkehrsträgern realisieren wollte. Er versuchte zu demonstrieren, dass die EWG für eine neue Herangehensweise an die Probleme des innereuropäischen Verkehrs stehen würde. Er wollte die modale Trennung bei der Behandlung grenzüberschreitender Verkehrsfragen ebenso überwinden wie die Fixierung auf die betrieblichen, technischen und tarifären Standardisierungs- und Harmonisierungsfragen. Dass ein solcher Ansatz dringend notwendig war, hatte sich für Schaus nicht nur aus den schwierigen Vertragsverhandlungen ergeben, sondern auch aufgrund der Tatsachen, dass es eine europäische Verkehrspolitik noch nicht gab, die meisten Eisenbahnen defizitär waren, der 31 Theo Loch: Die Neun von Brüssel. Köln 1963, S. 89–100; Camille Becker: Lambert Schaus: Luxembourg, Belgique, Europe. Luxemburg 1977.
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Straßengütertransport unter nationalen Kontingentierungen litt und die Binnenschifffahrt vielerorts in einer Krise steckte.32 Im Zuge der inhaltlichen Konzeption der Verkehrspolitik folgte die Kommission dann zwei Leitlinien: Erstens richteten die Mitglieder der Kommission und ihrer Generaldirektion von Beginn ihr Handeln am Selbstbild eines unabhängigen Initiativorgans aus und versuchten deshalb zunächst abgeschottet von externen Einflüssen die anstehenden Aufgaben zu erörtern. Schaus sah in der Kommission ein Organ, dass die Leitlinien der EWG-Politik vorgeben sollte. Für ihn – wie für die gesamte Kommission unter Hallstein – ging es auch darum, die Kommission zu einer Art europäischer Regierung auszubauen. Sogar im Umgang mit dem 1961 eingesetzten Ausschuss der Regierungsvertreter, der die Zusammenarbeit zwischen der EWG-Kommission und den nationalen Verkehrsministerien verbessern sollte, achtete Schaus sehr darauf, dass die Kommission die Richtlinienfunktion innehatte. So setzte sie ihr Initiativmonopol konsequent durch, sie bereitete die Arbeitsdokumente vor und leitete die Sitzungen. Zweitens, was die konkrete Politik betraf, sollten die Vertragsartikel und der ‚Geist des Vertrags‘ die Inhalte der Politik bestimmen. Dies kündigte Schaus in den Jahren 1958/59 auch in den einschlägigen verkehrswissenschaftlichen Zeitschriften an. So konnte man dort lesen: „Nur aus dem Vertragstext selbst kann die Aufgabe der Kommission ersehen, abgelesen und definiert werden.“33 Dementsprechend schrieb Theo Loch bereits 1963, dass Schaus „seine stärksten Argumente immer wieder aus den Paragraphen der europäischen Verträge heraus“34 formulierte. Für den Verkehrskommissar waren die Römischen Verträge eine rechtliche Grundlage und ein politisches Instrument der Einigung Europas zugleich. Damit unterschied er sich von den Gepflogenheiten der internationalen Verkehrszusammenarbeit, bei der von konkreten inhaltlichen Problemlagen ausgehend nach gemeinsamen Regeln gesucht wurde. Recht war also immer eher das Produkt bzw. eine die Entscheidungsprozesse legitimierende Größe gewesen, nicht aber eine Leitlinie oder Ursprung von Verhandlungen. Im April 1961 legte die Kommission mit dem ‚Schaus-Memorandum‘ schließlich in einer Denkschrift ihr verkehrspolitisches Konzept vor. Diesem lag eine sehr extensive Auslegung der Vertragsartikel zugrunde, die mit den Vorgaben des Artikels 2 EWG-Vertrag legitimiert wurde, der die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitiken festschrieb. Die Kommission sollte sich nicht mit einem Minimum von Maßnahmen zum Abbau der Beeinträchtigungen und Verzerrungen im Warenverkehr beschränken. Vielmehr plante Schaus einen ambitionierten Mix aus Tarif-, Kapazitäts-, Wettbewerbs- und Infrastrukturpolitik als Basis einer umfassenden Verkehrspolitik. Einmal mehr hatte er der Generaldirektion Verkehr klar die
32 Volker Ebert / Philip Harter: Europa ohne Fahrplan? Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957–1985). Stuttgart 2010. 33 Lambert Schaus: Die Aufgaben der Kommission der EWG auf dem Gebiet des Verkehrs, in: Europa-Verkehr 1 (1959), S. 3–5. 34 Loch: Die Neun (wie Anm. 31), S. 92.
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Marschroute vorgegeben: Die EWG-Verkehrspolitik hatte sich aus den Vertragsartikeln abzuleiten. Diese Haltung wandte die Kommission dann auch bei der Überprüfung von Unterstützungstarifen nach Art. 80 des EWG-Vertrags an, gehörte es doch auch zu ihrer Aufgabe, Unterstützungstarife von Transportunternehmen unter regional- und strukturpolitischen Erwägungen zu überprüfen. In konkreten Prüfungsfällen flammten immer wieder Streitigkeiten über die Inhalte des Artikels 80 auf. Die Kommission pochte permanent auf eine juristisch exakte Auslegung des EWG-Vertrags, womit sie gegen die Gepflogenheit der traditionellen Zusammenarbeit im Verkehrssektor verstieß. Wiederholt zog sie ihren juristischen Dienst zur Klärung heran, was in Kreisen der Experten nationaler Verkehrsministerien oder der bestehenden internationalen Verkehrsorganisationen Irritation und Ablehnung hervorrief. So notierte etwa der Leiter der Abteilung A im Bundesverkehrsministerium Ter-Nedden gereizt, dass „wir nur ein einfaches aber bestimmtes Zeichen wollten, dass die Tarife nicht vertragskonform sind. … Jetzt müssen wir jedoch den gesamten Urtext lesen, da es hierbei auf die Bedeutung jeden Wortes ankommt“.35 Die Verkehrsministerien wiederum beantworteten dies, indem sie die Zusammenarbeit mit der Kommission verweigerten und erst gar keine neuen Prüfungsanträge stellten, woraufhin Schaus am 13. November 1961, völlig irritiert feststellte, dass sich keine Regierung direkt bei der Kommission über Unterstützungstarife anderer Staaten beklagt hatte. Dass die Verkehrsministerien vertragliche Vorgaben nicht umsetzten und auch gegenseitig vertragliche Möglichkeiten nicht ausschöpften, war für ihn nicht nachvollziehbar. In den Jahren 1963/64 spürten Schaus und die Generaldirektion Verkehr, dass rechtliche Auslegungen des Vertragstexts alleine nicht ausreichten, um die Zustimmung der Verkehrsminister im Rat zu ihren verkehrspolitischen Maßnahmen und Konzepten zu erhalten. Im Herbst 1962 war es deshalb bereits zu Spannungen zwischen Schaus und Wettbewerbskommissar von der Groeben gekommen. Wollte von der Groeben die Kartellverordnung der EWG mit dem Argument der rechtlichen Konformität mit dem EWG-Vertrag auf den Verkehr übertragen, so mahnte Schaus eine Kartellverordnung an, die an die Spezifika der Verkehrsmärkte angepasst war, v.a. im Bereich der staatlichen Eisenbahnunternehmen. Da von der Groeben von seiner Position nicht abrückte, kam es zu einem Kräftemessen zwischen der Kommission (vertreten durch von der Groeben) und dem Rat (der Verkehrsminister), den die Kommission verlor. Der Rat und seine Mitglieder weigerten sich, über die exakte Auslegung der Artikel des EWG-Vertrags und der Kartellverordnung 11 zu streiten, und verabschiedeten die Verordnung 141, welche die Kartellregeln an die Entwicklung der EWG-Verkehrspolitik band.36
35 Schriftliche Anmerkung des Abteilungsleiter A im Bundesverkehrsministerium Ter-Nedden auf einem Bericht der Ständigen Vertretung über den Fortgang der Beratungen von Ausnahmetarifen, 20. 12.1962, B108/13105, Bundesarchiv, Koblenz. 36 Henrich-Franke: Gescheiterte Integration (wie Anm. 29), S. 335–348.
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Zwar kamen Kommission und Rat in den Jahren 1963 und 1965 durchaus miteinander ins Gespräch über die Verkehrspolitik und diskutierten die von der Kommission eingebrachten Verordnungsentwürfe, letztlich aber waren auf der einen Seite die Minister im Rat mehrheitlich nicht bereit, einer liberalen Politik für alle Verkehrsträger zuzustimmen, und auf der anderen Seite waren Verkehrskommissar Schaus und seine Generaldirektion nicht bereit, einer Tarifpolitik zuzustimmen, die ihrer Meinung nach nicht mit den Artikeln des EWG-Vertrags vereinbar war und erst Recht nicht deren liberalem ‚Geist‘ entsprach. Im Kontext der kontroversen Diskussionen offenbarten sich sogar desintegrative Auswirkungen, als etwa die Bundesrepublik vorübergehend die Grenze für niederländische LKWs schloss, die die vereinbarten Transportkontingente überschritten, oder als bereits vereinbarte Abkommen anderer internationaler Organisationen wie der Europäischen Verkehrsministerkonferenz wieder auf Eis gelegt wurden. Im Strudel der ‚Krise des leeren Stuhls‘, während der in der zweiten Jahreshälfte 1965 die französische Regierung ihren Sitz im Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht wahrnahm und somit jegliche Entscheidung blockierte, ging die Verkehrspolitik dann völlig unter, so dass Schaus und die Kommission im Winter 1966/67 einen neuen Anlauf nehmen mussten. Schaus selber war daran aber nur noch halbherzig beteiligt, da seine Amtszeit 1967 endete. Lambert Schaus gab als Verkehrskommissar klar die Richtlinien der EWGVerkehrspolitik vor – sowohl was die inhaltliche Konzeption als auch was die institutionelle Struktur betraf. Für ihn galt das Primat des Rechts, aus dem heraus er die Verkehrspolitik konzipieren, einen einheitlichen Markt schaffen und letztlich Europa integrieren wollte. Die Integration von Infrastrukturen über die Interpretation und Implementation von Recht ohne die vielfältigen Akteure im Bereich des Verkehrs in ihren bestehenden Verhandlungsroutinen und Denktraditionen mitzunehmen, war ein mutiger Ansatz, dessen Verfolgung angesichts der objektiven Situation gegen Ende der Vertragsverhandlungen im Februar 1957 ein gewagtes Unterfangen darstellte. Dass die Verkehrsminister ihn im Rat ausbremsen würden, war ein Risiko, dessen sich Schaus hätte bewusst sein müssen, war er doch als luxemburgischer Delegationsleiter an den Vertragsverhandlungen beteiligt gewesen. Ob ein anderer Weg zur Verkehrsintegration als der über das Recht, etwa im eher traditionellen Sinne vom inhaltlichen Problemkomplex ausgehend, erfolgreicher gewesen wäre, um das Schicksal eines ‚glücklosen Gestalters der EWG-Verkehrspolitik‘ abzuwenden, lässt sich freilich nicht klären. d) Theodor Irmer (1932–2014) Die in den 1980er Jahren erfolgte Einführung des Integrated Services Digital Network (ISDN) kann maßgebend für die Integration verschiedener Telekommunikationsdienste in ein digitalisiertes Netz Europas gelten. Die im Zuge der Digitalisierung des Telefonnetzes in den 1970er Jahren entstandene digitale Informationsstruktur war kein einheitliches Netz, sondern bestand aus einer Vielzahl von Komponenten und Übertragungswegen. Dienste wie Telex, Teletext, Datex und die
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Telefonie konnten erst im Zuge der Einführung des ISDN europaweit, wie auch weltweit, integriert übertragen und vermittelt werden.37 Für eine erfolgreiche Dienstintegration war es im Vorfeld notwendig, internationale technische Standards auszuarbeiten, die unter anderem den unterschiedlichen technischen Fortschritt in einzelnen Staaten mitberücksichtigen mussten. Theodor Irmer, der als Standardisierungsvisionär und „Vater des ISDN“38 bekannt ist, gilt als die wegweisende Persönlichkeit der Internationalen Telekommunikationsunion (ITU) bei der Standardisierung des ISDN in den 1980er Jahren. Doch was genau lässt ihn in seiner Rolle als ITU-Akteur für die vorliegende Betrachtung relevant werden? Die ITU ist in ihrer Funktion unter anderem dafür zuständig, weltweit Empfehlungen für die Kommunikationstechnik aller bestehenden und künftig denkbaren Fernmeldedienste auszuarbeiten. Diese Empfehlungen dienen dann, unter anderem, als Grundlage für die Ausarbeitung von europäischen Standards und sind damit ein wichtiger Bestandteil der europäischen Integration. Im Folgenden soll am Beispiel der ISDN-Standardisierung in der ITU herausgearbeitet werden, inwiefern Irmer als Akteur der europäischen Integration gelten kann. Doch wer war Theodor Irmer? Der im Jahr 1932 in Deutschland geborene Irmer studierte Nachrichtentechnik an den Technischen Universitäten Stuttgart und Karlsruhe. Nach einer kurzen Laufbahn in der Telekommunikationsindustrie arbeitete er ab 1964 im Fernmeldetechnischen Zentralamt (FTZ) der Deutschen Bundespost (DBP) in Darmstadt, wo er von 1966 bis 1984 an der Entwicklung und Einführung digitaler Vermittlungs- und Übertragungstechnik maßgebend beteiligt war.39 Das FTZ arbeitete in mehreren nationalen und internationalen Fachgremien mit, in denen Mitarbeiter die Vertretung der DBP hinsichtlich technischer und betrieblicher Fernmeldebelange wahrnahmen. Sie waren z.B. in den Studienkommissionen und Arbeitsgruppen des Internationalen Beratenden Ausschusses für den Telegrafen- und Fernsprechdienst (CCITT) der ITU und der Europäischen Konferenz der Verwaltung für das Post- und Fernmeldewesen (CEPT) tätig. Das FTZ wirkte auf diese Weise an der Lösung internationaler technischer und betrieblicher Fernmeldeprobleme mit.40 Auch Irmer war seit 1968 aktiver Vertreter der DBP im CCITT. 1972 wurde er zum Vorsitzenden der Studienkommission D und ab 1977 zum Studiengruppenlei-
37 Theodor Irmer: ISDN aus internationaler Sicht. Stand und Tendenzen, in: Office Management 6 (1988), S. 28–31, hier 28. 38 1987 wurde er von der Technischen Universität Kaiserslautern für seine hervorragenden Beiträge zur Entwicklung digitaler Netze mit einem Ehrenddoktor ausgezeichnet. In diesem Zusammenhang findet er Erwähnung als ‚Vater des ISDN‘. 39 Theodor Irmer: ISDN-Standardisierung im CCITT (Kurzbiografie des Autors), in: Franz Arnold (Hg.): ISDN: Viele Kommunikationsdienste in einem System. Köln 1987, S. 60; Irmer: ISDN aus internationaler Sicht (wie Anm. 37), S. 28; Theodor Irmer: Vom Fernsprechnetz zum ISDN, in: Elektronik 11 (1983), S. 121–124, hier 123. 40 Jürgen Eck / Michael Reuter: Die organisatorische und personelle Entwicklung des FTZ, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1 (1989), S. 20.
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ter der Studienkommission XVIII gewählt, die beide als die für die Standardisierung des ISDN maßgeblichen Studienkommissionen gelten können. Diese Position hatte er bis zu seiner Wahl zum Direktor des CCITT im Oktober 1984 inne.41 Doch welche Bedeutung hatte seine Arbeit im CCITT? Der Internationale Telegraphenverein, aus dem die heutige ITU hervorging, wurde bereits 1865 gegründet. Mitte der 1980er Jahre waren bereits162 Staaten beigetreten, die überwiegend durch ihre Fernmeldeverwaltungen vertreten waren. Die eigentliche Standardisierungsarbeit im Bereich der Telekommunikation innerhalb der ITU führten die Studienkommissionen eines beratenden Ausschusses, dem CCITT, durch. Die im Ausschuss erarbeiteten Ergebnisse wurden in Empfehlungen zusammengefasst, die zu einem großen Teil den Charakter von Standards hatten. Wenn ein Staat am internationalen Nachrichtenverkehr teilnehmen wollte, waren die CCITT-Empfehlungen für Ihn verbindlich. Die Empfehlungen konnten jedoch mehrere Optionen für einen Gegenstand enthalten, die in den einzelnen Regionen unterschiedlich nach Bedarf angewendet werden konnten. Darüber hinaus waren die Staaten nicht verpflichtet, die Empfehlungen in ihrer ursprünglichen Form anzuwenden und konnten Änderungen auf nationaler Ebene vornehmen.42 Im CCITT war eine Vielzahl von Akteuren an den einzelnen Standardisierungsprozessen beteiligt. Es gilt also herauszuarbeiten, welche herausragende Rolle Irmer sich innerhalb der Studienkommissionenstruktur erarbeitete. Während der Studienperiode 1968 bis 1972 kamen Repräsentanten mehrerer Studienkommissionen43, unter ihnen auch Irmer als Mitglied der Studienkommission D, am 28. November 1972 zum ersten Mal zusammen, um sich intensiv mit Überlegungen zu einem Integrated Services Digital Network zu beschäftigen. Das Fazit des Treffens lautete: „The Joint Meeting noted a general consensus that an Integrated Services Digital Network (hereafter quoted as ‚ISDN Network’) might be the ideal global communication network for the future.“ Für die folgende Studienperiode 1973 bis 1976 nahmen sich die beteiligten Studienkommissionen daraufhin vor zu überprüfen, inwiefern Telekommunikationsdienste wie Telefonie, Telex oder auch Datex in ein zukünftiges globales ISDN-Netzwerk integriert werden könnten. In diesem Zusammenhang wurde auch das erste Mal vorgeschlagen, dass die spezielle Studienkommission D primär die Durchführbarkeit einer Integration von Diensten in ein digitales Netzwerk in ihre Studienfragen aufnehmen sollte.44 Zu diesem Zeitpunkt, als das CCITT begann sich mit der Idee eines ISDNNetzes zu beschäftigen, wurde Irmer zum Vorsitzenden der Studienkommission D
41 Irmer: ISDN-Standardisierung im CCITT (wie Anm. 39), S. 60. 42 Theodor Irmer: Shaping Future Telecommunications: The Challenge of Global Standardization, in: IEEE Communications Magazine 1 (1994), S. 20–28, hier 22; Horst-Edgar Martin: Kommunikation mit ISDN. Komponenten – Standardisierung – Einsatzmöglichkeiten – Nutzen und Kritik, Haar bei München 1988, S. 81. 43 Anwesend waren die Studienkommission X und XI, die speziellen Studienkommissionen A und D, wie auch die gemeinsame Arbeitsgruppe NRD. 44 B/257/15348, Bundesarchiv, Koblenz.
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gewählt, wodurch er gleich zu Anfang eine wichtige koordinierende Position einnahm.45 Mit der voranschreitenden Digitalisierung des Fernsprechnetzes wurden die Vorstellungen von einem dienstintegrierten Netz immer greifbarer.46 Nachdem in der ersten Hälfte der 70er Jahre erste generelle Überlegungen angestellt wurden, diente die Studienperiode von 1976 bis 1980 dazu, explizite Vorarbeiten für eine künftige ISDN-Standardisierung zu tätigen. Die Koordinierung aller themenbezogenen Aktivitäten wurde der neuen Studienkommission XVIII übertragen, die aus der Studienkommission D hervorging und auch in der darauffolgenden Studienperiode 1980 bis 1984, in der die eigentliche Standardisierungsarbeit begann, die koordinierende Rolle übernahm.47 Auch hier, während dieser beiden für die Entwicklung eines ISDN-Netzes immens wichtigen Perioden, hatte Irmer den Vorsitz der Studienkommission XVIII inne.48 1980 begann eine zunächst sehr kleine Arbeitsgruppe von etwa 15 Experten unter dem Vorsitz Irmers damit, die Grundlagen für ISDN-Empfehlungen auszuarbeiten. Dies geschah zu einer Zeit, in der, abgesehen von allgemeinen technischen Bedenken, vor allem auch immer wieder generelle Zweifel an der Möglichkeit einer weltweiten oder auch nur europaweiten Standardisierung eines ISDN geäußert wurden.49 Jene Bedenken sind unter anderem damit zu erklären, dass die technologische und wirtschaftliche Realisierbarkeit eines solchen Netzes zu diesem Zeitpunkt in manchen Bereichen noch unzureichend abgesichert war. Irmer, dem das Projekt nach eigener Aussage sehr am Herzen lag,50 arbeitete jedoch mit den anderen Mitgliedern der Studienkommission XVIII intensiv weiter an der gemeinsamen Vision. Am Ende der Studienperiode, im Oktober 1984, konnte eine beachtliche Anzahl von ISDN-Empfehlungen von der CCITT-Vollversammlung in Malaga einstimmig verabschiedet werden. Die Empfehlungen gaben u. a. eine Rahmenvorstellung für die Entwicklung eines weltweiten ISDN.51 Mit der Verabschiedung dieser ersten Empfehlungen war es nunmehr möglich, ISDN-Kommunikationssysteme für den Einsatz in öffentlichen und privaten Netzen auf der Basis einheitlicher Empfehlungen europaweit und weltweit zu entwickeln, in Feldversuchen wie auch Pilotprojekten zu erproben und darauf aufbauend
45 Irmer: ISDN-Standardisierung im CCITT (wie Anm. 39), S. 60. 46 Theodor Irmer: Weltweite Standards sichern Kommunikation, in: Siemens Magazin COM 2 (1985), S. 17ff, hier 18. 47 Tolan Zar: CCITT. VIIth Plenary Assembly, in: Telecommunication Journal 2 (1981), S. 175– 188, hier 178. 48 R. J. Raggett: International Harmony at Seventh CCITT Plenary Assembly, in: TELEPHONY Dezember 22 (1980), S. 60ff, hier 62; Hans Jürgen Michalski: Der Telekommunikationskomplex. Politische Ökonomie der Technik- und Infrastrukturentwicklung in der Telekommunikation, Marburg 1997, S. 274; CCITT AP VII 1977-80 Doc 101. 49 Irmer: ISDN-Standardisierung im CCITT (wie Anm. 39), S. 61. 50 Wie sehr Irmer ISDN am Herzen lag, erwähnte er in einem Interview eines früheren ITU Newsletter (Issue No. 3, 1955). 51 Joachim Claus / Heinz A. Paul: ISDN-Standardisierung bei CCITT und CEPT, in: Wege zum integrierten Kommunikationsnetz (Vorträge d. NTG-Fachtagung vom 25.–27. März 1985 in Berlin), Berlin / Offenbach 1985, S. 105–111, hier 107.
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den Regeleinsatz einzuleiten.52 Irmer war es also trotz vieler Bedenken außerhalb der eigenen Studienkommission gelungen, die ISDN-Standardisierungsarbeit erfolgreich zu koordinieren und voranzutreiben. Im Oktober 1984 wurde Irmer zum Direktor des CCITT gewählt.53. In seiner neuen Position setzte er sich weiterhin für eine intensivere Erarbeitung von ISDNStandards ein. Er vertrat die Überzeugung, dass ohne umfassende Standards schon zum Zeitpunkt der Einführung neuer Nachrichtenübermittlungssysteme und neuer Fernmeldedienste das Ziel einer weltweiten Kommunikation und deren weltweiter einheitlicher Handhabung nicht erreicht werden könne.54 Interessant ist hier, dass er das Ziel einer europaweiten standardisierten Kommunikation in seinen Ausführungen nicht erwähnt. Kurz nach der Wahl Irmers zum Direktor wurden in der Studienperiode 1985 bis 1988 die ISDN-Standardisierungsarbeiten mit Nachdruck weiter vorangetrieben. Eine neue Entwicklung war, dass fast jede der eingesetzten Studienkommissionen mit ISDN-Standardisierung in der einen oder anderen Weise befasst war. Hauptanliegen der Studienperiode waren die Ergänzung und Erweiterung der bereits bestehenden Standards, die Standardisierung von Diensten, Schnittstellen zwischen Netzen und der Betrieb wie auch die Unterhaltung von ISDN.55 Zeitgleich mit der Wahl Irmers zum Direktor, wurde also die ISDN-Standardisierungsarbeit im CCITT in den Vordergrund gerückt. Bis zur flächendeckenden europaweiten Inbetriebnahme eines ISDN-Netzes war es jedoch noch ein längerer Weg. Auf Grundlage der im CCITT erarbeiteten Standards wurde am 8. März 1989 die Inbetriebnahme des ISDN-Erstausbaus in Deutschland offiziell vollzogen.56 Im Dezember 1993 folgte dann die Einführung des Euro-ISDN.57 Die im CCITT erarbeiteten internationalen ISDN-Standards können zusammenfassend als Grundlage und Ausgangspunkt für ein europaweit dienstintegriertes digitales Netz angesehen werden. Theodor Irmer spielte als Akteur bei der ISDNStandardisierung eine besondere Rolle, da er von Beginn an den Vorsitz der maßgebenden Studienkommission innehatte, die für die Koordination von ISDN-relevanten Fragen bestimmt wurde und in der die zentralen Studienfragen in Hinblick auf ein dienstintegrierendes digitales Netz zur Bearbeitung vorlagen. Er selbst merkte später im Jahr 1987 in einem Interview mit der Funkschau an, dass der Vorsitz der Studienkommission XVIII erhebliche Vorteile mit sich gebracht habe, da man die Möglichkeit hatte, die verschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen, 52 53 54 55 56
Irmer: ISDN-Standardisierung im CCITT (wie Anm. 39), S. 61. Michalski: Der Telekommunikationskomplex (wie Anm. 12), S. 276. Irmer: Weltweite Standards sichern Kommunikation (wie Anm. 46), S. 17. Irmer: ISDN-Standardisierung im CCITT (wie Anm. 39), S. 69. Franz Xaver Straßburger: ISDN – Chancen und Risiken eines integrierten Telekommunikationskonzeptes aus betriebswirtschaftlicher Sicht (Unternehmensentwicklung 7), München 1990, S. 22. 57 Siegfried Ziehr: Euro-ISDN. Leistungsmerkmale und Strategien, in: DATACOM 1 (1995), S. 120–123, hier 120; Kurt König: ISDN – Eine Strategie für Europa, in: ISDN-Forschungskommission des Landes Nordrhein-Westfalen. Materialien und Berichte 25 (1996). S. 159– 178, hier 165f.
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wenn die Verhandlungen stockten.58 Diese koordinierende Tätigkeit übte er erfolgreich aus und ebnete den Weg des ISDN hin zum Hauptanliegen des CCITT ab 1985. Ohne die von ihm koordinierten Arbeiten im CCITT hätte es keine weltweiten ISDN-Empfehlungen geben, die als Grundlage für das Euro-ISDN herangezogen wurden. Ob, wie und wann es ohne die ITU-Empfehlungen zu der Ausarbeitung eines europaweiten ISDN-Netzes gekommen wäre, kann hier nur als offene Frage stehen bleiben. In seinen Funktionen als Mitarbeiter der Deutschen Bundespost, Vorsitzender der Studienkommission XVIII und als Direktor des CCITT verfolgte er ein klares Ziel, nach dem er versuchte die Struktur des CCITT zu gestalten. Für ihn war nicht die Integration innerhalb Europas von Bedeutung, sondern er verfolgte das Ziel einer weltweiten standardisierten Kommunikation, wobei ihm das ISDN-Projekt besonders am Herzen lag. Das Wort ‚Integration‘ hat bei ihm jedoch eine andere Bedeutung als bei den bisher betrachteten Akteuren. Es geht ihm um eine rein technische Integration, im genaueren um die Integration von unterschiedlichen Telekommunikationsdiensten im ISDN. Ob Irmer als Standardisierungsvisionär und ‚Vater des ISDN‘ tituliert werden kann, muss sehr differenziert betrachtet werden. Die Realisierung eines internationalen ISDN-Netzes erforderte umfangreiche Standardisierungsarbeiten, die zwischen Nationen in den dafür zuständigen Gremien, auf internationaler Ebene kollektiv im CCITT, verhandelt und ausgearbeitet werden mussten. Schon die ersten Überlegungen zu Empfehlungen innerhalb der Studienkommission D des CCITT konnten nicht von einer einzigen Person entworfen werden. Es mussten Interessen mehrerer Staaten berücksichtig werden, die später in Standards zusammengeführt werden konnten. Irmer war als individueller Akteur institutionell an Vorgaben und Strukturen gebunden, hatte aber durch seine koordinierende Vorstandsrolle die Möglichkeit, Arbeitsprozesse in der Entstehungsphase des ISDN-Netzes aktiv zu beeinflussen und zu leiten. Er verfolgte während seiner gesamten Laufbahn im CCITT und besonders während seiner Zeit als dessen Direktor das Ziel einer weltweit standardisierten Kommunikation, was ihn als Standardisierungsvisionär in den Vordergrund rückt.
III. FAZIT Fasst man die Rollen einzelner Akteure für den Prozess der Integration zusammen, dann wird ersichtlich, dass zentrale Persönlichkeiten mit ihren individuellen Überzeugungen und Zielen jeweils wichtige Funktionen für die Integration oder Desintegration der infrastrukturellen Grundlagen Europas zufielen. Dies gilt sowohl bei den erfolgreichen Prozessen der Errichtung neuer Organisationen und Institutionen wie der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt oder dem Weltpostverein als
58 Interview mit Theodor Irmer „Im Grunde eine Jahrhundertaufgabe“, in: Funkschau 21 (1987), S. 29f, hier 30.
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auch bei der Aushandlung technischer Standards im 20. Jahrhundert wie ISDN. Dabei konnten die Einzelakteure aber immer nur dann erfolgreich sein, wenn sie die Gepflogenheiten der Zeit oder die bestehenden Regeln der Zusammenarbeit beachteten. Der Fall Lambert Schaus hat gezeigt, dass selbst potentiell mächtige Akteure desintegrative Tendenzen hervorrufen oder an Integrationsschritten scheitern können, wenn sie sich nicht an die etablierten Spielregeln halten. Der Versuch jedenfalls, Recht und internationale Abkommen als Ausgangspunkt und Legitimation für die Aushandlung von Regulierungen oder Standards zu nehmen, scheiterte. Auffällig ist auch, dass unabhängig vom Zeitkontext und dem institutionellen Umfeld diplomatisch-vermittelnde Fähigkeiten wichtig waren. Dies galt sowohl im Rahmen von Regierungsverhandlungen auf dem Wiener Kongress als auch einem Gremium aus Fernmeldeingenieuren wie dem CCITT, das eben nicht nur auf der Suche nach der technisch effizientesten Lösung war. Im Bereich der Infrastrukturen verfolgten die Akteure zu allen Zeitpunkten wirtschaftliche Ziele. Es ging darum, die Transaktionen im gemeinsamen Wirtschaftsraum Europa zu vereinfachen. Gleichwohl befanden sich wirtschaftliche Beweggründe zumeist in Kombination mit anderen Motiven. Insbesondere die Vertreter der Post- und Fernmeldeverwaltungen hofften den Dienstbetrieb zu verbessern und ein potentielles technisches Optimum aus großtechnischen Systemen wie etwa dem Post- oder Telefonnetz herauszuholen. Theodor Irmer, der aufgrund seines ingenieurwissenschaftlichen Hintergrunds einem diplomatisch-außenpolitischen Denken am weitesten entfernt war, wurde klar von einer technisch-wissenschaftlichen Logik des Handelns geprägt. Der Fall Lambert Schaus zeigt aber auch, dass nach den Erfahrungen zweier Weltkriege die wirtschaftliche Integration Europas – anders als im 19. Jahrhundert – nicht mehr ohne die Frage der Friedenssicherung durch wirtschaftliche Verflechtung zu denken war, die insbesondere in der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeprägt war. Nationale Souveränität, die noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als selbstverständlicher Grundbaustein galt, verlor zunehmend als nicht-hinterfragbares Element an Bedeutung. Dabei muss betont werden, dass ‚Integration‘ kein Konzept oder Begriff war, den alle Akteure gleichermaßen im Hinterkopf hatten. Im Gegenteil, die Gegenüberstellung der Akteure zeigt, dass Integration bei von Humboldt eher ein Mittel zum Zweck der wirtschaftlichen Verflechtung und bei Schaus ein klarer, auch für sich selber genommen, erstrebenswerter Zweck war, während Irmer aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Begriff wenig anfangen konnte – wenn man einmal davon absieht, dass ‚Integration‘ bei ihm für die Integration unterschiedlicher Telekommunikationsdienste im ISDN stand. Die Integration des europäischen Wirtschaftsraums war eben auch ein nicht-intendiertes Nebenprodukt anderweitiger Ziele. In den Europabildern der Akteure spiegelt sich der jeweilige politische und wirtschaftliche Status Quo Europas wider. Zu von Humboldts Zeit, d.h. am Anfang der Industrialisierung, ging es um ein Europa, das nach Innen die Kontaktintensität der nationalen Wirtschaften über Infrastrukturen erhöhte, bevor Europa Mitte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum der Welt wurde und dementsprechend von Heinrich
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von Stephan gedacht wurde. Der von ihm installierte Weltpostverein entsprach einer eurozentrischen Weltarchitektur, in der die Nationalstaaten Europas auf freiwilliger Basis für die ganze Welt die infrastrukturellen Grundlagen sich vernetzender globaler Märkte schufen. Schaus wiederum dachte Europa nach dem Ende der eurozentrischen Phase anders. Für ihn war Europa ein Schutzraum nach innen wie außen, was einerseits dem Zeitgeist der frühen Marktintegration im Rahmen der EWG entsprach, andererseits aber auch der Tatsache geschuldet war, dass die EWG-Kommission versuchte, einen Schwerpunkt auf den Binnenverkehr zu legen, der noch stark in nationale Infrastruktursysteme zerfiel. Für Theodor Irmer war Europa nur bedingt relevant, da es ihm in erster Linie darum ging, globale Standards zu verhandeln, um das Größtmögliche aus einem großtechnischen System herauszuholen. Auch er steht damit symptomatisch für eine Zeit, in der globale Datennetze, globale Satellitensysteme sowie die Vorstellung neuer Weltwirtschafts- und Kommunikationsordnungen nach dem Ende des Kolonialismus das Denken bestimmten und Europa als zu kleinräumig für infrastrukturelle Weltnetze erscheinen ließ. Ein entscheidender Unterschied zwischen den einzelnen Akteuren bestand in dem sich immer stärker ausdifferenzierenden internationalen System, in das sich die Organisationen und Gremien zur Aushandlung der infrastrukturellen Grundlagen europäischer Märkte einbetteten. Zum einen agierten von Humboldt und Stephan in einem internationalen System mit einer deutlich geringeren Dichte an Institutionen und Regelungen, was ihnen viel größere Handlungsspielräume eröffnete. Schaus und Irmer waren im 20. Jahrhundert an klare Entscheidungsprozeduren innerhalb etablierter internationaler Organisationen gebunden, so dass die infrastrukturellen Grundlagen europäischer Märkte in vorgegebenen Bahnen ausgehandelt wurden, die gleichzeitig immer spezialisierter wurden und immer stärker jenseits öffentlicher Wahrnehmung standen. Zum anderen erfolgte eine Ausdifferenzierung der international tätigen Akteure, so dass immer mehr Spezialisten wie der Fernmeldeingenieur Theodor Irmer, die keinerlei diplomatische Ausbildung oder Hintergrund besaßen, permanent und implizit an der Europäischen Integration bauten. Irmer ist ein Paradebeispiel für eine Vielzahl anonymer Einzelpersonen, deren individueller Einfluss ebenso wie ihr internationaler Bekanntheitsgrad eher gering ist, die aber wichtige Bausteine europäischer Märkte gestalteten. Selbst wenn man darüber streiten kann, ob Irmer die Bezeichnung ‚Vater des ISDN‘ verdient hat, so war er doch federführend an der Konzeption einer Brückentechnologie in die digitale Gegenwart beteiligt, die kurz-, mittel- und langfristig erhebliche Auswirkungen auf die Funktionsweise europäischer Märkte hatte. Der Beitrag von einzelnen Akteuren wie Wilhelm von Humboldt, Heinrich von Stephan, Lambert Schaus und Theodor Irmer zur wirtschaftlichen Integration oder Desintegration Europas lässt sich weder in Zahlen oder Daten erfassen noch konkret einzelnen Personen zuweisen, da einzelne (nationale) Akteure immer im Wechselspiel miteinander standen. Dennoch hat sich gezeigt, dass Akteure ein wichtiges Puzzlestück der Erklärung von infrastruktureller Integration und ein Motor der Marktintegration sind. Sicherlich sind sie nicht das allein entscheidende Element, aber ihnen kann doch eine zentrale Funktion zugesprochen werden. Die von ihnen
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errichteten Infrastrukturen bestimmten immerhin die Effektivität der Distribution von Gütern und Personen auf europäischen Märkten. Sie entscheiden und verhandeln, selbst wenn strukturelle Zwänge zur Integration vorliegen und sie geben die Richtung der Integration vor, u.a. durch die Wahl der Integrationsinhalte und -methoden. So sehr Wilhelm von Humboldt indirekt die industrielle Entwicklung entlang des Rheins gefördert hat, so sehr hat Heinrich von Stephan die erste Globalisierungsphase befördert, indem er den weltweiten Austausch von Wirtschaftsnachrichten erleichtert hat. Theodor Irmer hat schließlich wesentlich dazu beigetragen, dass in den 1990er Jahren aufgrund der Ausbreitung von ISDN Faxgeräte oder das Internet in Unternehmen Einzug gehalten und sich interne wie externe Arbeitsprozeduren und Arbeitsteiligkeiten radikal verändert haben. Die ‚system-builder‘ europäischer Infrastrukturnetze verdienen folglich mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit, wenn es darum gehen soll, die Integration und Desintegration der europäischen Wirtschaft zu erklären. Dabei wird es freilich notwendig sein, eine differenzierte Betrachtung größerer Akteursgruppen und einer größeren Anzahl von Einzelakteuren vorzunehmen, um generalisierende Aussagen treffen zu können.
VERKEHRSPOLITIK IM RGW ZWISCHEN INTEGRATION UND DESINTEGRATION Uwe Müller, Leipzig
TRANSPORT POLICY IN THE COMECON BETWEEN INTEGRATION AND DISINTEGRATION ABSTRACT: This article asks to what extent was (Eastern) European integration an objective of the Council for Mutual Economic Assistance (Comecon/CMEA). The focus here is on the transport sector, since this case enables comparisons between the EEC and CMEA. An analysis of the modal split in CMEA transport shows that railways played an exceptionally large role, especially in international freight transport. Railway policy was determined both by the Standing Transport Commission of the CMEA and by the Organization for Co-operation between Railways (OSJD). Both institutions dealt with the legal framework for transit traffic and the structure of transit tariffs. Within the CMEA there were considerable differences between transit countries such as Poland, Czechoslovakia and Hungary on the one hand, and the USSR and GDR on the other. Cross-border transport infrastructures within the CMEA were neglected, with the exception of new railway ferries and pipelines. Cross-border services to Western Europe underwent improvements and expansion with the goal of competing for increasing transit traffic. This was facilitated by the fact that the East Central European countries had continued to maintain contacts or even memberships in international transport organizations during the Cold War. Keywords: Eastern European Integration, Council for Mutual Economic Assistance, Transport History, Railway Policy, Transit Tariffs
1. DER RGW UND DIE (OST-)EUROPÄISCHE WIRTSCHAFTSINTEGRATION WÄHREND DES KALTEN KRIEGES Der im Januar 1949 in Moskau gegründete Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gilt mit einer gewissen Berechtigung als östliches Pendant zunächst zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) und später zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bzw. Europäischen Gemeinschaft (EG). Seine Gründungsmitglieder waren neben der Sowjetunion Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, also fünf ostmittel- bzw. südosteuropäische Staaten. Wenige Wochen später trat Albanien bei, ließ dann aber seit
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1962 die Mitgliedschaft de facto ruhen. 1950 kam die DDR hinzu.1 Der RGW war ein Produkt des Kalten Krieges und wurde nach dessen Ende im Jahre 1991 aufgelöst. Seine Geschichte kann, ebenso wie die der EWG, nur unter Beachtung dieser globalhistorischen Rahmenbedingungen verstanden werden. Es stellt sich somit die Frage, ob es sich hier um ein anderes, eventuell sogar „alternatives“ Projekt einer (ost-)europäischen Wirtschaftsintegration handelte.2 Diese Frage ist bisher nur selten gestellt und zumeist rasch verneint worden.3 Anders als bei der kaum noch zu überschauenden Fülle von Arbeiten zur (Vor-)Geschichte der Europäischen Union4 galt schon Ende der 1990er Jahre die Entwicklung des RGW als „abgeschlossene Geschichte, für die sich zudem heute kaum jemand interessiert“.5 Und 2010 wurde zu Recht konstatiert: „Vor zehn Jahren verstrich der 50. Jahrestag der Gründung des RGW, ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte, und mit ihrem 60. Jahrestag verhielt es sich nicht anders.“6 Tatsächlich erschienen in den 1990er Jahren nur einige wenige historische Untersuchungen zum RGW.7 Nach 2000 wurden die Forschungen zum Thema fast völlig
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Im Folgenden werden die europäischen RGW-Staaten, incl. UdSSR, als „östliches Europa“, die europäischen Staaten ohne Sowjetunion als „RGW-6-Staaten“ bezeichnet. Mitunter werden auch „ostmitteleuropäische RGW-Staaten“ zusammengefasst. Dazu gehören die DDR, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn. Vgl. aus vorrangig politikhistorischer Perspektive Gregor Thum: „Europa im Ostblock“. Weiße Flecken in der Geschichte der europäischen Integration, in: Zeithistorische Forschungen, 2004, H. 3 (Online-Ausgabe); Kim Christiaens / James Mark / José M. Faraldo: Entangled Transitions. Eastern and Southern European Convergence or Alternative Europes? 1960s–2000s, in: Contemporary European History 26, 2017, H. 4, S. 577–599. Werner Plumpe / André Steiner: Dimensionen wirtschaftlicher Integrationsprozesse in Westund Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2008, H. 2, S. 21–38. Vgl. für eine Zwischenbilanz Klaus Kiran Patel: Europäische Integrationsgeschichte auf dem Weg zur doppelten Neuorientierung. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 50, 2010, S. 595–642. Frank Golczewski: Der RGW – eine europäische Einigungsorganisation? Die Beziehungen zwischen dem RGW und den EG, in: Gabriele Clemens (Hg.): Die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union. Hamburg 1999, S. 36. Martin Dangerfield: Sozialistische Ökonomische Integration. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Claudia Weber (Hg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Hamburg 2010, S. 369. Charles Gati: The Bloc That Failed. Soviet-East European Relations in Transition. Indiana 1990, S. 104–135; Gerd Neumann: Probleme der osteuropäischen Wirtschaftsintegration in vier Jahrzehnten RGW-Entwicklung, in: Josef Wysocki (Hg.): Wirtschaftliche Integration und Wandel von Raumstrukturen im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 1994, S. 159–187; Randall W. Stone: Satellites and Commissars. Strategy and Conflict in the Politics of Soviet-Bloc Trade. Princeton 1996; Lee Kendall Metcalf: The Council of Mutual Economic Assistance. The Failure of Reform. Boulder 1997.
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eingestellt8 und erst in jüngster Zeit lässt sich eine gewisse Wiederbelebung des Interesses an der RGW-Geschichte feststellen.9 Für die weitgehende Nichtberücksichtigung des RGW in Studien zur europäischen Wirtschaftsintegration gibt es eine Reihe von guten Gründen. Zunächst ist zu beachten, dass der RGW zwischen 1962 und 1978 mit der Mongolei, Kuba und Vietnam auch drei außereuropäische Staaten aufgenommen hat. Hinzu kam eine ganze Reihe von nichteuropäischen Staaten mit Beobachterstatus.10 Das Ziel des RGW war also nicht in erster Linie die (ost-)europäische Integration, sondern die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Staaten mit einem gemeinsamen, nämlich sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Allerdings wurde dieses Ziel, vor allem aufgrund der politisch-ideologischen Differenzen zwischen der Sowjetunion sowie Jugoslawien und Albanien und schließlich vor allem auch China in den 1950er und 1960er Jahren nicht erreicht. Die genannten Staaten waren im RGW nur noch teilassoziiert, ließen ihre Mitgliedschaft ruhen oder kündigten sogar ihren Beobachterstatus. In diesen Fällen wirkten sich das Scheitern der sowjetischen Hegemonieansprüche und der allmähliche Aufstieg Chinas zu einer zweiten kommunistischen Großmacht negativ auf die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen aus, die allerdings nie völlig abgebrochen wurden.11 In den frühen 1980er Jahren bestand bereits eine andere Konstellation: Ein Antrag Mosambiks zur Aufnahme in den RGW wurde von der Sowjetunion und auch von der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedsstaaten abgelehnt, da sich diese aufgrund eigener wirtschaftlicher Probleme mit der Aufnahme eines stark unterentwickelten und durch einen Bürgerkrieg gezeichneten afrikanischen Landes überfordert sahen. Auch andere potenzielle Beitrittskandidaten wie Angola, Äthiopien und Südjemen waren nicht willkommen. In dieser Zeit wirkten ökonomische Rationalitäten bereits stärker als das geostrategisch und ideologisch motivierte Streben nach Erweiterung des sozialistischen Lagers.12 Offenbar sprachen auch die Erfahrungen mit verschiedenen Projekten in Entwicklungsländern sowie mit dem Agieren vor allem Kubas im RGW gegen eine Aufnahme afrikanischer Staaten und für die Erhaltung des immer noch europäischen Charakters der Organisation. Wenn man sich nämlich die Tätigkeiten im Exekutivkomitee und vor allem in den Ständigen Kommissionen näher anschaut, wird klar, dass die außereuropäischen Mitgliedsstaaten nur in den Bereichen aktiv waren, die sie unmittelbar betrafen. In dieser Hinsicht
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Plumpe/Steiner, Dimensionen (wie Anm. 3). Vgl. aber Karel Kaplan: Rada vzájemné hospodárské pomoci a Ceskoslovensko 1957–1967. Prag 2002. 9 Uwe Müller / Dagmara Jajeśniak-Quast (Hg.): Comecon revisited. Integration in the Eastern Bloc and Entanglements with the Global Economy (Comparativ 2017, H. 5–6). 10 Heinrich Machowski: Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Ziele, Formen und Probleme der Zusammenarbeit, in: Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Strukturen und Probleme. Bonn 1987, S. 15–17. 11 Jan Zofka / Péter Vámos / Sören Urbansky: Beyond the Kremlin’s reach? Eastern Europe and China in the Cold War era (Cold War History 18, 2018, H. 3). 12 Hans-Joachim Döring: Es geht um unsere Existenz. Die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien. Berlin 2000, S. 173.
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war die Erweiterung des RGW in die Dritte Welt tatsächlich nur „symbolisch“.13 Die Tatsache der geographischen Erweiterung des RGW über Europa hinaus reicht also nicht, um diesem eine Bedeutung für den europäischen Integrationsprozess abzusprechen. Schwerer wiegt, dass die zeitgenössische und historiographische Literatur – im Grunde einmütig – den RGW als eine in mehrfacher Hinsicht gescheiterte Institution kennzeichnet. Der RGW gilt dabei nicht nur als weiterer Beleg für die systemische Unterlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft gegenüber einem marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystem. Er habe außerdem – so der ex- oder implizite Vorwurf – nicht einmal die im Rahmen eines sozialistischen Wirtschaftssystems vorhandenen Potenziale für eine Wachstum und Strukturwandel fördernde Integrationspolitik zur Geltung bringen können.14 Dies sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich die Sowjetunion im Bereich der Wirtschaftspolitik trotz ihrer politisch-militärischen Hegemonialstellung im Ostblock in entscheidenden Situationen nicht gegen die kleineren RGW-Mitgliedsstaaten durchsetzen konnte.15 Aus diesem Grund habe der RGW sowohl aus wirtschafts- wie auch aus politikwissenschaftlicher Sicht keinen Beitrag zu einem Integrationsprozess leisten können. Nun haben systematisch-vergleichende Analysen von Wirtschaftsordnungen gezeigt, dass sozialistische Planwirtschaften grundsätzlich dazu neigen, den Warenaustausch über die Grenzen des Planungsraumes hinweg zu minimieren. Dies resultiert zunächst aus den chronischen Informationsdefiziten planwirtschaftlicher Systeme und den im Vergleich zu binnenwirtschaftlichen Prozessen noch größeren Unsicherheiten bei der Planbarkeit derartiger Warenströme, wenn man auf marktwirtschaftliche Lenkungsmechanismen nicht zurückgreifen kann oder will. Konsequenterweise haben alle sozialistischen Planwirtschaften staatliche Außenhandelsmonopole eingeführt, was auch schon wegen der mangelnden Konvertierbarkeit der Währungen der sozialistischen Volkswirtschaften unumgänglich war. Unter diesen Bedingungen hatten jedoch die Betriebsleiter in der Regel kein Interesse an einer Produktion für den Export. Außerdem versuchten sie, sowie häufig auch die Wirtschaftsplaner auf nationaler Ebene, Abhängigkeiten von Lieferungen aus dem Ausland zu vermeiden. Importe aus dem „kapitalistischen Ausland“ waren aufgrund der chronischen Devisenknappheit schwer zu realisieren. Bei Importen aus dem
13 Plumpe/Steiner: Dimensionen (wie Anm. 3), S. 21. 14 André Steiner: The council of mutual economic assistance: An example of failed economic integration? In: Geschichte und Gesellschaft 39, 2013, S. 240–258. 15 Stone: Satellites (wie Anm. 7), S. 4-26, 61–71; Ralf Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW – Strukturen und handelspolitische Strategien 1963–1976. Köln u.a. 2000, S. 13.
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„sozialistischen Ausland“ war man häufig mit verspäteten Lieferungen und Qualitätsproblemen konfrontiert, wobei Vertragsverletzungen nur schwer geahndet werden konnten.16 Auch in der Politischen Ökonomie des Sozialismus und in der Theorie des sozialistischen Entwicklungsweges wurde der Außenwirtschaft nur eine sekundäre Rolle eingeräumt. Ihre Aufgabe bestand fast ausschließlich in einer Versorgungsfunktion. Dies bedeutete, dass Importe von Rohstoffen, die im Land nicht vorhanden waren, sowie von Gütern, die aus technologischen Gründen nicht produziert werden konnten, Priorität hatten. Exporte dienten vorrangig der Erwirtschaftung von Devisen, um eben diese Importe zu gewährleisten. Diese funktionalistische Betrachtung der Außenwirtschaft ist häufig als Autarkiestreben interpretiert, kritisiert und teilweise auch missverstanden worden. Dabei wird übersehen, dass gerade „unterentwickelte“ Länder, die sich am sozialistischen Entwicklungsmodell orientierten, immer dann an einem intensiven Außenhandel interessiert waren, wenn sich aus diesem ein Transfer moderner Technologien, v.a. zur Förderung der Industrialisierung, ergeben konnte. Jüngere Studien betonen daher, dass sowohl die Sowjetunion um 1930 als auch die RGW-Staaten um 1960 durchaus an Handelsbeziehungen zum westlichen Ausland interessiert waren. Deglobalisierend im Sinne von entflechtend und abschottend wirkten in diesen Zeiten eher der Protektionismus und die Embargopolitik des Westens gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten.17 Allerdings ist diese Auffassung nicht unumstritten.18 Außerdem bleibt festzuhalten, dass eine mit der klassischen Außenhandelstheorie korrespondierende Strategie der Exportdiversifizierung als Wachstumsmotor einer Volkswirtschaft, wie sie etwa in einigen ost- und südostasiatischen Staaten praktiziert wurde, im traditionellen sozialistischen Entwicklungsmodell nicht vorgesehen war. Eine solche Strategie ist in den staatssozialistischen Ländern erst im Kontext der Reformdebatten der 1960er diskutiert worden. Polen und Ungarn setzten dann in den 1970er Jahren auf eine Strategie des importinduzierten Wachstums, die jedoch letztlich in die Schuldenfalle führte.19 Der RGW spielte – soweit bisher bekannt – in den wirtschaftspolitischen Strategiedebatten der 1970er Jahre nur noch eine untergeordnete Rolle. Dies lag nicht
16 János Kornai: The Socialist System. The Political Economy of Communism. Princeton 1992, S. 333–355; Christoph Buchheim: Die Achillesferse der DDR – der Außenhandel, in: André Steiner (Hg.): Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte? Berlin 2006, S. 91–103; Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe (wie Anm. 15), S. 27– 40. 17 Oscar Sanchez-Sibony: Red Globalization. The Political Economy of the Soviet Cold war from Stalin to Khrushchev. Cambridge 2014. 18 Vgl. u.a. die Rezension von Mark Harrison in: Journal of Interdisciplinary History 46, Nr. 1, Summer 2015. 19 Stephen Kotkin: The East bloc goes borrowing, in: Niall Ferguson u.a. (Hg.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge 2010, S. 80–93; André Steiner: The Globalisation Process and the Eastern Bloc Countries in the 1970s and 1980s, in: European Review of History: Revue européenne d’histoire 21, 2014, H. 2, S. 165–181.
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zuletzt daran, dass zuvor ein sowjetischer Versuch, den RGW in eine Art supranationale Planungsbehörde umzuwandeln, am Widerstand Rumäniens gescheitert war.20 Die rumänische Führung befürchtete, dass eine übernationale Wirtschaftspolitik durch die Sowjetunion dominiert und industriell schwächer entwickelte Länder zu Produzenten von Agrargütern degradiert würden. Rumänien hatte aber gerade, u.a. mit Hilfe fortgeschrittener Volkswirtschaften im RGW, eine eigene Industrialisierungspolitik begonnen und verteidigte das Recht auf unabhängige Wirtschaftsplanung als Teil nationaler Souveränität.21 Diese Idee hatte ihre Wurzeln in der rumänischen Geschichte der Zwischenkriegszeit, konnte sich aber auch auf Lenins Programmatik und Stalins Wirtschaftspolitik berufen. Die Regierungen der anderen kleineren RGW-Staaten opponierten zwar nicht so offen gegen die sowjetische Dominanz, waren aber grundsätzlich auch nicht bereit, auf nationale Kompetenzen bei der planmäßigen Entwicklung ihrer Volkswirtschaften zu verzichten. So wurde zwar in den 1960er Jahre das Einstimmigkeitsprinzip für Beschlüsse im RGW ein wenig unterminiert, indem man die Möglichkeit schuf, dass ein Teil der Mitgliedsstaaten „Projekte von regionalem Interesse“ durchführte und dabei ohne die unbeteiligten Mitglieder Entscheidungen treffen konnte. Insgesamt bestätigte jedoch das Komplexprogramm von 1971 die Kompetenzverteilung zwischen den Nationalstaaten, dem Exekutivkomitee und den Ständigen Kommissionen des RGW. Letztlich stellte es eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, indem es eine stärkere Hinwendung zu Projekten von gemeinsamem Interesse förderte und Entscheidungen über andere kontrovers beurteilte Probleme vertagte.22 Eine solche Vorgehensweise war und ist auch in anderen internationalen Organisationen nicht unbekannt. Die Staaten der EWG haben sich aber immerhin im Laufe der 1960er Jahre auf eine gemeinsame Handelspolitik einigen können. Sie verzichteten damit auf einen wesentlichen Teil nationaler wirtschaftspolitischer Handlungskompetenz und gaben Macht an eine supranationale Ebene ab. Dieser Unterschied zwischen EWG und RGW stellt das wichtigste Argument für die These vom Scheitern des RGW aus der Perspektive der politikwissenschaftlichen Integrationstheorie dar. Folglich haben nicht nur die Wirtschaftshistoriker, sondern auch
20 Erik Radisch: The Struggle of the Soviet Conception of Comecon, 1953–1975, in: Müller/Jajeśniak-Quast: Comecon revisited (wie Anm. 9), S. 33–39; Simon Godard: The Council for Mutual Economic Assistance and the failed Coordination of Planning in the Socialist Bloc in the 1960s, in: Michel Christian / Sandrine Kott / Ondrej Matejka (Hg.): Planning in Cold War Europe. Competition, Cooperation, Circulation (1950s–1970s.). Berlin 2018, S. 187–209. Die Ernsthaftigkeit von Chrustschows Vorschlag wird allerdings in der älteren Literatur teilweise bezweifelt. Vgl. Stone, Satellites (wie Anm. 7), S. 34. 21 Elena Dragomir, New explanations for Romania’s detachment from Moscow at the beginning of the 1960s, in: Valahian Journal of Historical Studies 13, 2010, S. 51–82. 22 David R. Stone: CMEA’s International Investment Bank and the Crisis of Developed Socialism, in: Journal of Cold War Studies 10 (2008) 3, S. 58f. Vgl. auch Mihály Simai: A Case Study of Economic Cooperation in Eastern Europe, in: Davidson Nicol / Luis Echevarria / Aurelio Peccei (Hg.): Regionalism and the New International Economic Order. New York u.a. 1981, S. 127–130.
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Experten für die Geschichte der europäischen Integration in den letzten Jahrzehnten nur wenig Interesse für den RGW gezeigt. Unabhängig von der Tatsache, dass auch Geschichten des Scheiterns sehr lehrreich sein können, wird im Folgenden versucht, die Integrationsleistung des RGW etwas differenzierter zu beurteilen. Zunächst muss dafür die Frage beantwortet werden, um welche Form von „Integration“ es im RGW überhaupt ging. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass der Begriff der Integration in den ersten Jahren im RGW gar keine Rolle spielte. Wenn seit den 1960er Jahren grundsätzlich von „sozialistischer“ ökonomischer Integration gesprochen wurde, so war dies durchaus mehr als nur eine Propagandaphrase. Es muss also geprüft werden, welche Erklärungskraft der mitunter explizite, noch viel häufiger implizite Vergleich von westeuropäischer Wirtschaftsintegration (vor allem in der EWG) mit den Zielen und Aufgaben des RGW überhaupt besitzt. Oder anders gesagt: Führt nicht die Wahl eines Referenzprozesses, der zudem zwischen dem Vertrag von Maastricht und dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 als ausgesprochene Erfolgsgeschichte galt,23 letztlich in eine „teleologische Falle“ und damit zwangsläufig zum Fazit des Scheiterns? Im zweiten, ausführlicheren Teil des Beitrages werden Prozesse der Integration in einem wichtigen Bereich der Wirtschaft untersucht. Im Gegensatz zu den allgemeinen Darstellungen zum RGW existieren nur wenige Studien, die die Zusammenarbeit und Konkurrenz innerhalb des RGW für einzelne Branchen untersuchen. Zuletzt ist aber gerade auch im Kontext der Forschungen zur europäischen Integration auf die bislang unterschätzte Bedeutung von Expertennetzwerken hingewiesen worden, die häufig zeitlich früher, relativ unabhängig von der Politik und an Sachfragen orientiert transnationale Problemlösungen kreierten.24 Ansätze einer „hidden integration“ auf Expertenebene sind auch innerhalb des sozialistischen Lagers sowie zwischen West und Ost festgestellt worden.25 Mit der folgenden näheren Betrachtung des Verkehrssektors wird – darauf sei ausdrücklich verwiesen – kein Bereich in den Blick genommen, von dem eine hohe Repräsentativität erwartet werden kann. Dennoch bietet sich der Verkehrssektor für eine Analyse an, denn erstens werden hier Integrationsprozesse auch in prinzipiell marktwirtschaftlich strukturierten Wirtschaftssystemen in relativ großem Umfang politisch initiiert oder zumindest reguliert. Möglicherweise sind also Vergleiche zwischen West- und Osteuropa auf dieser Ebene viel sinnvoller als zwischen zwei Wirtschaftsordnungen mit sehr unterschiedlichen Lenkungssystemen und Rationalitäten. Zweitens bildet die Integration ursprünglich nationaler Verkehrsinfrastruk-
23 Plumpe/Steiner: Dimensionen (wie Anm. 3), S. 27, haben allerdings unmittelbar vor der Finanzkrise darauf hingewiesen, dass sich ein Kausalzusammenhang zwischen der erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung Westeuropas und der Integration in EWG/EU nicht belegen lässt. 24 Wolfram Kaiser / Johan Schot: Writing the Rules for Europe. Experts, Cartels, and International Organizations. London 2014. 25 Dagmara Jajeśniak-Quast: „Hidden Integration“ – RGW-Wirtschaftsexperten in europäischen Netzwerken, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2014, H. 1, S. 179–195.
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turen und -systeme in einem transnationalen Verkehrsraum eine wesentliche materielle Voraussetzung für Integrationsprozesse in praktisch allen anderen Wirtschaftsbereichen. Kenntnisse über Erfolge und Misserfolge von Verkehrsintegration können also – neben der Analyse von institutionellen Faktoren – auch Erklärungen zu materiellen Ursachen von verschiedenen Integrationsniveaus beisteuern.
2. „INTEGRATION“ À LA RGW „Integration“ ist einer der am häufigsten verwendeten, dabei aber auch sehr vielschichtigen, Begriffe sowohl in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften als auch in der Alltagssprache. Er wird oft unreflektiert meliorativ, also in einem grundsätzlich positiven Sinne verwendet. Es ist deshalb umso notwendiger, sorgfältig mit dem Integrationsbegriff umzugehen. Wirtschaftliche Integration meint in der Regel eine räumliche Erweiterung von Märkten und/oder eine Intensivierung von Marktbeziehungen in einem gegebenen Raum. In beiden Fällen ist zunehmende wirtschaftliche Integration zumeist auch mit Desintegration im Rahmen eines größeren Raumes verbunden. In der (neo-)klassischen Wirtschaftstheorie gibt es die Vorstellung von einer prinzipiell wohlstandsfördernden Wirkung eines intensiveren Handels. Darauf beruft sich im- oder explizit die ökonomische Integrationstheorie, nach der das Zusammenwachsen und die Erweiterung von Waren- und Faktormärkten eine effizientere Allokation von Ressourcen bewirken, die Nutzung von Skaleneffekten ermöglichen und durch die Verschärfung des Wettbewerbes Innovationen befördern. Integrationspolitik zielt folglich auf die Schaffung möglichst gleicher Konkurrenzbedingungen, etwa durch den Abbau von Handelsschranken, aber auch durch Prozesse der Standardisierung.26 Voraussetzung für die genannten Wachstums- und Produktivitätseffekte von Integrationsprozessen ist allerdings neben dem Freihandel, der in einem integrierten Wirtschaftsraum herrschen sollte, auch eine wettbewerbsfördernde Wirtschaftsordnung, die zu einer Produktion mit den geringsten Opportunitätskosten führt. Grundsätzlich existierte diese in Westeuropa, obwohl in der EWG zahlreiche Branchen über mitunter sehr lange Zeiträume wettbewerbsbeschränkenden Marktregulierungen unterlagen. Im RGW herrschte hingegen zu keinem Zeitpunkt ein tatsächlicher Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern.
26 Gerold Ambrosius: Wirtschaftsintegration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert – ein wirtschaftshistorisches Forschungsprogramm, in: Christian Henrich-Franke / Cornelius Neutsch / Guido Thiemeyer (Hg.): Internationalismus und Europäische Integration im Vergleich. Fallstudien zu Währungen, Landwirtschaft, Verkehrs- und Nachrichtenwesen. Baden-Baden 2007, S. 13–37. Plumpe/Steiner, Dimensionen (wie Anm. 3), S. 23–27. Vgl. auch die Einleitung zu dem Band.
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Auch in Studien über die sozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas wurde häufig davon ausgegangen, dass sich „eine erfolgreiche regionale Wirtschaftsintegration grundsätzlich in einem Anstieg des Handelsvolumens ausdrückt.“27 Daraus wird geschlossen, dass die Hauptaufgabe des RGW in der Steigerung des Handels zwischen den Mitgliedsstaaten bestand. Dies hätte jedoch entweder grundlegende Reformen der Planwirtschaften auf nationaler Ebene oder die Einführung eines transnationalen Planungsmechanismus erfordert, was – wie bereits dargelegt wurde – trotz einiger Versuche nicht gelang. Der Handel blieb bilateral organisiert. Folglich gehörte „Integration“ im Sinne einer generellen Steigerung des Außenhandels nicht zu den vorrangigen wirtschaftspolitischen Zielen der sozialistischen Länder. Die mit der Gründung des RGW ursprünglich verbundenen Intentionen werden hingegen durch die Bezeichnung „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ recht gut widergespiegelt.28 Nachdem Stalin bereits im Sommer 1947 Polen und der Tschechoslowakei die Teilnahme am European Recovery Program untersagt hatte, ging es der Sowjetunion darum, ihre gerade erst geschaffene Einflusszone auch mit wirtschaftlichen Mitteln zu konsolidieren.29 Ziel war der rasche Wiederaufbau der Volkswirtschaften nach dem Krieg sowie – vor allem in den noch stark agrarisch geprägten Staaten – eine forcierte Industrialisierung. Als wichtigstes Instrument galt dabei zunächst der kostenlose Austausch von technischen Dokumenten. Über Lieferungen von Rohstoffen und Investitionsgütern wurde hingegen weiterhin bilateral verhandelt.30 Erst zwischen 1958 und 1962 erfolgte der Aufbau der wichtigsten RGW-Institutionen, deren Zusammenwirken durch ein Statut geregelt wurde. Diese wohl dynamischste Phase der RGW-Entwicklung endete – wie schon erwähnt wurde – mit dem Scheitern des sowjetischen Versuches, eine transnationale Wirtschaftsplanbehörde zu installieren. Verabschiedet wurden jedoch immerhin „Grundprinzipien der internationalen sozialistischen Arbeitsteilung“.31 Die darauf basierenden Spezialisierungsabkommen regelten, dass beispielsweise allein Ungarn Busse für die anderen RGW-Länder herstellte, die Sowjetunion und die Tschechoslowakei größere sowie die DDR kleinere Lkw produzierten usw. Aber auch diese Arbeitsteilung
27 Dangerfield: Sozialistische (wie Anm. 6), S. 356; Ähnlich auch Suvi Kansikas: Socialist Countries Face the European Community. Soviet-Bloc Controversies over East-West Trade. Frankfurt am Main 2014, S. 24. 28 Vgl. Kommuniqué und Protokoll über die Gründung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, in: Alexander Uschakow: Integration im RGW (COMECON). Dokumente, 2. Aufl., Baden-Baden 1983, S. 18–21. Adam Zwass: Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Der dornige Weg von einer politischen zu einer wirtschaftlichen Integration 1949-1987. Wien / New York 1988, S. 12–16. 29 Robert Bideleux / Ian Jeffries: A History of Eastern Europe: Crisis and Change. London 1998, S. 534–536. 30 Jozef M. van Brabant: Economic Integration in Eastern Europe. A Handbook. New York 1989, S. 31–34, 274f. 31 Uschakow: Integration (wie Anm. 28), S. 1018–1036.
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lässt sich kaum als Form der Integration eines Wirtschaftsraumes interpretieren, weil sie nur Teile der Wirtschaft betraf und weil selbst in diesen Branchen das Niveau des intraindustriellen Handels gering blieb. Die meisten Komponenten der Busse und Lkws wurden nämlich nach wie vor durch die Hersteller selbst oder zumindest im eigenen Lande produziert. Hervorgebracht wurden also eher Monopolstrukturen als eine effizientere Ressourcenallokation. „The CMEA was never intended to maximize integration through trade, but rather to provide a protected environment within which to maximize the power, stability and economic growth of the socialist states.“32 Auch wenn also die Institution RGW seit den 1960er Jahren nicht generell, sondern nur in bestimmten Einzelfällen eine Steigerung des Handels zwischen den Mitgliedsländern beförderte, war es schon in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren in Ostmitteleuropa innerhalb kurzer Zeit zu einer außergewöhnlich radikalen Umorientierung der Handelsströme gekommen.33 Diese resultierte allerdings weniger aus einem Autarkiestreben eines wirtschaftlich eben nur mäßig integrierten „Blocks“ oder einer „Integrationspolitik“ des RGW, sondern war in erster Linie Folge des Kalten Krieges und den damit einhergehenden Boykottmaßnahmen. Gerade in Ostmitteleuropa durchtrennte der „Eiserne Vorhang“ zahlreiche traditionelle Außenhandelsbeziehungen, deren Wiederbelebung nach Kriegsende bereits in Angriff genommen worden war. Gemeinsam mit den bereits beschriebenen Logiken der sozialistischen Planwirtschaft sorgte der Kalte Krieg dafür, dass der Anteil der RGW-Länder an der Industrieproduktion circa dreimal höher als ihr Anteil am Welthandel war.34 Die natürlichen Voraussetzungen der RGW-Staaten, die Ziele der „sozialistischen Industrialisierung“, die Logiken der sozialistischen Planwirtschaft und die Prinzipien der Arbeitsteilung im RGW führten dazu, dass der Handel zwischen den RGW-Staaten einen relativ hohen und in den 1970er Jahren sogar zunehmenden Anteil von Roh- und v.a. Brennstofflieferungen aufwies.35 Diese Struktur der Außenhandelsgüter wirkte sich auch auf die Verkehrspolitik im RGW aus.
3. DER GRENZÜBERSCHREITENDE VERKEHR UND DIE VERKEHRSPOLITIK IM RGW Im Folgenden soll der Verkehrssektor im RGW genauer betrachtet werden, um zu klären, welche materiellen Voraussetzungen dieser wichtige Teil der Infrastruktur für eine stärkere Integration des RGW-Wirtschaftsraumes geboten hat. Dabei sind zunächst die wichtigsten Verkehrsträger durch die Ermittlung des Modal split zu 32 Bideleux/Jeffries: History (wie Anm. 29), S. 538. 33 Kornai: Socialist System (wie Anm. 16), S. 340 f. 34 András Inotai: Industrialisierung und Industriepolitik, in: Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (wie Anm. 10), S. 42. 35 Kornai: Socialist System (wie Anm. 16), S. 333–341.
Verkehrspolitik im RGW zwischen Integration und Desintegration
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identifizieren, wobei der Fokus auf grenzüberschreitenden Verkehrsnetzen liegt. Anschließend werden die institutionellen Grundlagen für eine transnationale Verkehrspolitik im RGW analysiert. In diesem Zusammenhang ist auch die Autarkiethese zu diskutieren, indem gefragt wird, inwieweit die Institutionen auf eine innere Integration eines RGW-Verkehrsraumes zielten und/oder der Erleichterung des Verkehrs auf europäischer oder globaler Ebene dienten. Abschließend soll anhand einiger ausgewählter Beispiele von verkehrspolitischem Handeln geprüft werden, in welchem Maße diese Institutionen in der Lage waren, eine gemeinsame Verkehrspolitik im RGW zu entwickeln und durchzusetzen. Die Ausführungen basieren auf der Auswertung der Fachliteratur und ausgewählter Quellen des Bundesarchivs Berlins, insbesondere der Bestände der Ministerien für Verkehrswesen und Außenhandel der DDR und des „Büro Mittag“ im ZK der SED, in dem von 1962 bis 1973 und vor allem von 1976 bis 1989 die wichtigsten Meldungen zu Problemen der nationalen und internationalen Wirtschaftsund Verkehrspolitik gebündelt und auch viele prozesspolitische Entscheidungen getroffen wurden.36 Eine Analyse der RGW-Verkehrspolitik, die auch Quellen aus anderen Mitgliedsstaaten sowie dem RGW-Archiv in Moskau nutzt, bildet derzeit noch ein Desiderat der Forschung.
3.1. Modal split In fast allen europäischen RGW-Staaten spielte die Eisenbahn eine außergewöhnlich wichtige Rolle im Transportwesen. Dies galt insbesondere für den Güterverkehr und sowohl für Binnen- als auch für Außenhandelstransporte.37 Die große Bedeutung der Eisenbahn in den staatssozialistischen Ländern hängt zunächst mit den historischen Voraussetzungen zusammen. Ähnlich wie im westlichen Europa und den USA hatte die Eisenbahn auch die Verkehrssysteme in Ostmitteleuropa, im Baltikum sowie in Teilen des westlichen Russischen Reiches bis zum Ersten Weltkrieg radikal verändert.38 Anders als dort war 1930 noch keine Sättigung des Eisenbahnnetzes erreicht. Polen baute in den 1970er und frühen
36 Theo Pirker u.a.: Der Plan als Befehl und Fiktion – Wirtschaftsführung in der DDR. Opladen 1995; Andreas Malycha: Die Staatliche Plankommission (SPK) und ihre Vorläufer 1945 bis 1990, in: Dierk Hoffmann (Hg.): Die zentrale Wirtschaftsverwaltung in der SBZ/DDR Akteure, Strukturen, Verwaltungspraxis (Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990, Bd. 3). Berlin 2016, S. 114. Von 1973 bis 1976 war Werner Krolikowski im Politbüro für Wirtschaftsfragen zuständig. 37 O.V.: Schlagadern der Wirtschaft. Eisenbahnen europäischer sozialistischer Länder. Berlin 1975, S. 7–10; Bogdan Mieczkowski: Transportation in Eastern Europe. Empirical Findings. Boulder 1978, S. 37–42; David Turnock: The Economy of East Central Europe, 1815–1989. Stages of transformation in a peripheral region. London/New York 2006, S. 358–366. 38 Arnulf Grübler: The Rise and Fall of Infrastructures. Dynamics of Evolution and Technological Change in Transport. Heidelberg 1990, S. 90–126.
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1980er noch 2.220 Kilometer neue Eisenbahnen (u.a. eine Hauptstrecke von Kattowitz über Warschau nach Danzig) und die Sowjetunion betrieb den Streckenneubau fast bis zu ihrer Auflösung.39 Zwar kam es nach einer Rekonstruktion der Eisenbahnstrecken in der Nachkriegszeit seit den 1960er Jahren insbesondere in der DDR, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei auch zur Stilllegung einiger Nebenstrecken, die von lokaler oder höchstens regionaler Bedeutung waren. Die Substitution der entsprechenden Verkehre durch den Lkw verlief jedoch wesentlich langsamer als in Westeuropa und wurde nach dem zweiten Ölpreisschock um 1980 vielerorts sogar gestoppt. Dies verweist auf eine weitere Ursache für die Persistenz der Eisenbahn: Die auf die Herausbildung eines konsumorientierten Wirtschaftssystems reagierende „logistische Revolution“ Westeuropas blieb im östlichen Europa weitgehend aus.40 Tabelle 1: Gütertransportmengen nach Transportarten in den europäischen RGW-Staaten (Mill. t) Bulgarien Eisenbahn
Binnenschifffahrt
Seeschifffahrt
Kraftverkehr
Luftverkehr
Erdölleitungen
Ungarn
DDR
Polen
Rumänien
UdSSR
ČSSR
1960
38
96
238
287
78
1.885
194
1973
76
123
281
431
206
3.346
261
1960
2
2
12
3
2
210
4
1973
4
3
12
10
5
419
5
1960
1
0
1
6
0
76
1
1973
17
0
12
23
5
186
1
1960
49
71
132
45
57
1.719
132
1973
151
164
180
141
302
4.627
279
1960
1
2
5
2
3
697
15
1973
14
7
20
16
15
2.206
28
1960
-
1
-
-
6
130
-
1973
-
9
24
24
13
421
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Quelle: Hans-Joachim Dubrowsky: Die Zusammenarbeit der RGW-Länder auf dem Gebiet des Transportwesens. Berlin 1975, S. 15.
39 Anthony Heywood: Back to the Future? Russia’s Railway Transport and the Collapse of the Soviet Union in Historical Perspective, in: Ralf Roth / Henry Jacolin (Hg.): Eastern European Railways in Transition. Nineteenth to Twenty-first Centuries. Farnham 2013, S. 274. 40 Richard Vahrenkamp: Die Logistische Revolution – Logistik und Güterverkehr in Europa 1950–2000, in: Ralf Roth / Karl Schlögel (Hg.): Neue Wege in ein neues Europa: Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main, 2009, S. 452–475.
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Verkehrspolitik im RGW zwischen Integration und Desintegration
Neben der historischen Vorprägung beruhte die starke Stellung der Eisenbahn im östlichen Europa auch auf natur- und wirtschaftsgeographischen Gegebenheiten. Küstenschifffahrt auf der Ostsee oder dem Schwarzen Meer war für den Binnenverkehr der sozialistischen Anrainerstaaten wenig attraktiv. Es existierten auch nur wenige schiffbare Flüsse und Kanäle.41 Schließlich entwickelten die kommunistischen Führungen der Länder auch eine politisch motivierte Präferenz für die Eisenbahn als staatlichen Monopolbetrieb, den man zentralistisch führen und – zumindest theoretisch – in den Planungsprozess der volkswirtschaftlichen Entwicklung optimal einbeziehen konnte.42 Im Falle von Güterkraftverkehr und Binnenschifffahrt erwies sich eine zentralstaatliche Lenkung von Privatunternehmen bzw. deren Verstaatlichung als wesentlich komplizierter und langwieriger als bei der Eisenbahn. Tabelle 2: Anteile der Verkehrsträger am grenzüberschreitenden Güterverkehr innerhalb des RGW 1950–1980 1950
1960
1970
1980
Eisenbahn
89,3
87,9
66,1
45,3
Seeschifffahrt
7,1
7,5
12,7
20,6
Pipeline
1,0
16,4
29,8
Binnenschifffahrt
2,6
4,5
4,6
3,1
0,1
0,2
1,2
Sonstige
Quelle: Horst Brezinski: Der internationale Verkehrsverbund im RGW, in: Infrastrukturprobleme in europäischen RGW-Staaten. Marburg 1989, S. 101.
Die Tatsache, dass auch der Außenhandelsverkehr in hohem Maße die Eisenbahn nutzte, hat neben den bereits erwähnten Gründen für die große Rolle der Eisenbahn im Binnenverkehr auch weitere geographische Ursachen: Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa bilden eine geschlossene Landmasse. Die Statistiken zeigen, dass in den 1950er Jahren fast der gesamte Handelsverkehr zwischen den RGW-Ländern mit der Eisenbahn erfolgte. Im Außenhandel der Sowjetunion, der die hier präsentierten Daten maßgeblich bestimmte, dominierte
41 Das seit dem späten 19. Jahrhundert debattierte Projekt eines Donau-Oder-Kanals, das häufig auch Elbe und Weichsel einbezog, wurde auch in der sozialistischen Periode nicht verwirklicht. Vgl. Jiří Janáč: European Coasts of Bohemia. Negotiating the Danube-Oder-Elbe Canal in a Troubled Twentieth Century. Amsterdam 2012. 42 Mieczkowski: Transportation (wie Anm. 37), S. 46–51.
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zwar seit 1961 der Seeweg. Der Warenverkehr mit den anderen RGW-Mitgliedern nutzte aber auch noch in den 1960er Jahren zu mehr als 80% die Eisenbahn.43 Eine Verkehrsintegration des RGW-Wirtschaftsraumes auf der Grundlage der Eisenbahn war mit zwei wesentlichen Problemen konfrontiert, die beide vor allem den Verkehr zwischen der Sowjetunion einerseits und den RGW-6-Staaten andererseits betrafen. Erstens hatten die sowjetischen Eisenbahnlinien eine größere Spurweite (1524 bzw. 1520 mm) als die der RGW-6-Staaten, deren Haupt- und wichtigsten Nebenstrecken durchweg die europäische Normalspur (1435 mm) nutzten. Daher mussten bei Außenhandelstransporten an der sowjetischen Westgrenze bzw. an den Ostgrenzen Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und Rumäniens Umspurungen vorgenommen werden, die entweder durch den Tausch des Laufwerkes (Umachsung) oder Veränderungen am Laufwerk erfolgten. Dies steigerte Kosten und Zeitaufwand der Eisenbahntransporte und rief Bemühungen um effizientere Umspurungen sowie Projekte zur Verlängerung von sowjetischen Breitspurbahnlinien auf das Gebiet von benachbarten RGW-Staaten hervor. Es hatte jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf den Modal split. Das zweite Problem resultierte aus der Struktur der Außenhandelsgüter. Während der sowjetische Export überwiegend aus Roh- und Brennstoffen bestand, die mit offenen Waggons (Erze) oder in Spezialwaggons (Öl) transportiert wurden, lieferten die anderen Staaten in weit höherem Maße Investitions- und Konsumgüter, für die man geschlossene oder andere Spezialwaggons benötigte. Aus der asymmetrischen Struktur der Außenhandelsgüter resultierte das Problem, dass viele Waggons ohne Ladung zurücktransportiert werden mussten. Dem sollte die Einrichtung eines gemeinsamen Güterwagenparks im Rahmen des RGW im Jahre 1963 entgegenwirken. Dadurch konnte zunächst auch der Anteil der Leerfahrten reduziert werden. Mittelfristig entsprangen aus dem gemeinsamen Güterwagenpark jedoch zahlreiche Konflikte.44 Ein anderer Ausweg bestand in der Nutzung von Transportsystemen, bei denen ein Rücktransport von Frachtraum nicht notwendig war. Tatsächlich haben die RGW-Länder in den 1960er und vor allem 1970er Jahre mehrere Projekte zum Bau von Öl- und Gaspipelines kooperativ durchgeführt.45
43 Robert N. North: Current Developments in Transport and Traffic Between the Soviet Union and Eastern Europe, in: Johannes F. Tismer / John Ambler / Leslie Symons (Hg.): Transport and Economic Development – Soviet Union and Eastern Europe. Berlin 1987, S. 270. 44 Horst Brezinski: Der internationale Verkehrsverbund im RGW, in: Infrastrukturprobleme in europäischen RGW-Staaten. Marburg 1989, S. 115–117; Falk Flade: The Role of the OSJD in International Rail Transport in Eastern Europe, Unveröffentlichtes Paper für die European Social Science History Conference in Belfast, April 2018. 45 Falk Flade: Energy Infrastructures. Poland and the Construction of Transnational Electricity, Oil, and Gas Systems. Wiesbaden 2017.
Verkehrspolitik im RGW zwischen Integration und Desintegration
113
3.2. Institutionelle Grundlagen einer gemeinsamen Verkehrspolitik im RGW Die transnationale Integration von Verkehrssystemen ist spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von internationalen Institutionen geprägt worden, wobei das Eisenbahnwesen eine Vorreiterrolle spielte.46 Ziemlich genau einhundert Jahre nach der Gründung des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen fand im Oktober 1947 in Belgrad eine Konferenz der Verkehrsminister der unter sowjetischem Einfluss stehenden Staaten Ostmittel- und Südosteuropas statt, zu denen damals auch noch Jugoslawien gehörte. „The Soviet Union proposed that East-Central Europe should leave the Western European railway regime and join the Soviet regime, including adopting its standards“.47 Bereits auf einer nächsten Konferenz in Warschau im Dezember 1948 wurden entsprechende Abkommen für den Güter- und Personenverkehr (SMGS/SMPS) geschlossen, deren Gültigkeit ab 1951 zeitlich nicht mehr limitiert war.48 Vertragspartner waren Albanien, Bulgarien, Ungarn, die DDR, Polen, Rumänien, die UdSSR und die Tschechoslowakei, also alle damaligen RGW-Mitglieder. Der RGW war als Institution jedoch in den frühen fünfziger Jahren insgesamt und auch speziell im Bereich der Verkehrspolitik noch sehr inaktiv. Im Jahre 1955 fand eine Konferenz der Vertragspartner in (Ost-)Berlin statt, bei der die Idee entwickelt wurde die Kooperation stärker zu institutionalisieren und 1956 gründete man in Sofia die „Organisation für die Zusammenarbeit der Eisenbahnen“, die nach ihrer russischsprachigen Abkürzung in der Literatur meist als „OSShD“ bezeichnet wird (teilweise auch OSJD oder OSZhD). Ihre geographische Reichweite ging über den RGW hinaus, indem sie neben den genannten acht europäischen auch vier asiatische Eisenbahnunternehmen sozialistischer Länder vereinigte. China, Nordkorea und die Mongolei waren nämlich bereits 1953, Nordvietnam 1955 dem SMGS und dem SMPS-Abkommen beigetreten. Sozialistischer Internationalismus ließ sich hier offenbar sehr konkret mit einem geostrategisch wichtigen eurasischen Projekt verbinden. Nicht zufällig fand die zweite Tagung der OSShD in Peking statt. Das mit exekutiven und koordinierenden Aufgaben befasste Büro befand sich allerdings dauerhaft in Warschau.49 Obwohl sich die OSShD als Organisation der Eisenbahnunternehmen bezeichnete, fielen die wichtigsten Entscheidungen in den Konferenzen der jeweils zuständigen Minister. Diese wurden freilich in entsprechenden ständigen Kommissionen vorbereitet, in denen die jeweiligen Experten dominierten. Im Mittelpunkt der Ar-
46 Vgl. exemplarisch Paul Véron: Railway Integration in Europe: UIC – a Key Player of EastWest Railway Integration, in: Roth/Jacolin: Eastern European Railways (wie Anm. 39), S. 243–256. 47 Kaiser/Schot: Writing the Rules (wie Anm. 24), S. 161. 48 Ebenda; Ivan Jakubec: Schlupflöcher im Eisernen Vorhang. Tschechoslowakisch-deutsche Verkehrspolitik im Kalten Krieg. Die Eisenbahn und Elbeschiffahrt 1945–1989. Stuttgart 2006, S. 91; vgl. auch die Website der bis heute existierenden Organisation: http://en.osjd.org. (zuletzt eingesehen am 15.10.2018) 49 Bundesarchiv Berlin (im Folgenden BArch), DM–1/2681.
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beit standen die Evaluierung und Fortentwicklung der SMGS und SMPS-Abkommen, ökonomische Fragen, wie die Gestaltung der Tarifpolitik und die effizientere Abwicklung des grenzüberschreitenden Verkehrs, sowie vor allem Probleme der technischen Standardisierung, wie die Vereinheitlichung der Lichtraumprofile und Eisenbahnfahrzeuge, der Sicherungsanlagen, Betriebs- und Signalvorschriften. Außerdem sollte generell die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit gestärkt werden.50 Mit dem organisatorischen Ausbau des RGW seit 1957 entstand neben ca. 22 anderen auch eine „Ständige Kommission für Transportwesen“ im RGW. Die Ständigen Kommissionen hatten die Aufgabe, die Kooperation auf dem Gebiet der Planungstätigkeit sowie die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit anzuregen und zu organisieren. Faktisch bereiteten sie die Beschlüsse des Exekutiv-Komitees sowie der in der Regel jährlich stattfindenden Rats-Tagungen des RGW vor.51 Schließlich kontrollierten sie auch die Umsetzung der Empfehlungen des RGW, ohne dabei jedoch über Exekutivfunktionen zu verfügen. Die Ständige Kommission für Transportwesen unterteilte sich bald in fünf Sektionen, die für die Koordinierung der Transportpläne, den Eisenbahnverkehr, die Schifffahrt, den Kraftverkehr und Straßen sowie den Luftverkehr zuständig war.52 Die markanteste Veränderung in den institutionellen Grundlagen für eine „RGW-Verkehrspolitik“ war die Gründung einer eigenen Ständigen Kommission für zivile Luftfahrt im Jahr 1975, die als Reaktion auf die zahlreichen rechtlichen Besonderheiten in dieser Branche sowie ihr enormes Wachstum in den 1970ern interpretiert werden kann.53 Im Vergleich zur OSShD befasste sich die RGW-Kommission deutlich stärker mit wirtschaftspolitischen Fragen, vor allem mit der Koordinierung der Investitionspläne sowie des Ausbaus von grenzüberschreitenden Infrastrukturen.54 Allerdings überschnitten sich auch zahlreiche Wirkungsbereiche, etwa im Bereich der technischen Standardisierung, der Abrechnung von Transportleistungen und der gegenseitigen Unterstützung mit Transportmitteln sowie generell bei der Tarifgestaltung. Insbesondere die finanziellen Angelegenheiten boten ein erhebliches Konfliktpotenzial, wie noch zu zeigen sein wird. Das Verhältnis zwischen RGW und OSShD, insbesondere der Umgang mit sich überschneidenden Zuständigkeitsbereichen sind bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Dies liegt möglicherweise auch daran, dass von einem starken Bedeutungsverlust der OSShD ausgegangen wird, da diese zwischen 1966 und 1984 keine Ministerkonferenzen mehr durchführte, was vor allem auf das politisch-ideologische Zerwürfnis zwischen der Sowjetunion und China zurückzuführen war. Allerdings ist jüngst darauf hingewiesen worden, dass Auseinandersetzungen zwischen den RGW-6-Staaten die Arbeit der 50 BArch, DM–1/2318, Bl. 9f. Vgl. dazu auch die seit 1958 erschienene Zeitschrift der Organisation für die Zusammenarbeit der Eisenbahnen. 51 Machowski: Der Rat (wie Anm. 10), S. 30f.; Brabant: Economic Integration (wie Anm. 30), S. 140–152. 52 Brezinski: Der internationale Verkehrsverbund (wie Anm. 44), S. 102–104. 53 Erwin Kramer: Die Entwicklung des Verkehrswesens in der DDR. Berlin 1978, S. 141. 54 Brezinski: Der internationale Verkehrsverbund (wie Anm. 44), S. 103.
Verkehrspolitik im RGW zwischen Integration und Desintegration
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OSShD bereits in den früher 1960er Jahren blockierten, also bevor China seine Mitgliedsbeiträge einseitig reduzierte und generell, wie auch Rumänien, auf dem Vorrang der nationalen Souveränität bestand.55 Bei Konflikten zwischen RGW-Staaten in der OSShD konnte das RGW-Exekutivkomitee mitunter Kompromisse vermitteln. Im Falle des geopolitisch und ideologisch motivierten Bruchs war dies nicht möglich. Allerdings wirkte sich dieser in der OSShD offenbar erst zeitverzögert aus. Außerdem funktionierten die OSShD-Strukturen auf mittlerer und unterer Ebene auch ohne Ministerkonferenzen. Letztlich hat die OSShD sogar den Zusammenbruch von Sowjetunion und RGW überlebt, sich Anfang der 1990er Jahre reformiert und widmet sich mit der Koordination des internationalen Eisenbahnverkehrs zwischen Europa und Asien einer durchaus zukunftsträchtigen Aufgabe.56 Natürlich existierte noch eine ganze Reihe von weiteren Institutionen, die sich auf bilateraler und multilateraler Ebene mit den Problemen des grenzüberschreitenden Verkehrs im östlichen Europa beschäftigten. Hervorzuheben sind hier erstens frühe, meist unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg getroffene Regelungen, die oftmals an Abkommen aus der Zwischenkriegszeit anknüpften. Dabei ging es v.a. um die Sicherung der Transitrouten für den tschechoslowakischen und ungarischen Außenhandel, also die Schaffung der materiellen und institutionellen Voraussetzungen für die Nutzung von Häfen an Ostsee und Adria. Bereits 1947 traf Polen mit der Tschechoslowakei und Ungarn entsprechende Vereinbarungen für Danzig und Stettin. Trotz des Eisernen Vorhanges war jedoch Hamburg schon Anfang der 1950er Jahre wieder – wie bereits vor 1938 – der wichtigste Umschlagplatz für den tschechoslowakischen Überseehandel.57 Zweitens fallen einige neue Projekte und Organisationen ins Auge, die meist in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren entstanden. Genannt seien hier das Budapester Abkommen über gegenseitige Zusammenarbeit im Luftverkehr von 1957 sowie das Berliner Abkommen über die Zusammenarbeit von sozialistischen Luftverkehrsunternehmen von 1965. Als Ergebnis des Letzteren entstand ein „Pool“ der Luftgesellschaften aus den RGW-6 Staaten, der auch im internationalen Vergleich sehr eng kooperierte, wenngleich der Versuch, ein gemeinsames Luftfahrtunternehmen zu gründen, scheiterte.58 Im Bereich der Seeschifffahrt sei nur auf das 1971 geschlossene Regierungsabkommen zwischen der DDR und Polen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Seeverkehrswirtschaft verwiesen, das 1974 in der Gründung der Wirtschaftsvereinigung „Interport“59 mündete. Ziel war
55 Flade: The Role of the OSJD (wie Anm. 44). 56 Véron: Railway Integration (wie Anm. 46), S. 251–255. Vgl. auch http://en.osjd.org/statico/public/en?STRUCTURE_ID=5094 (zuletzt eingesehen am 15.10.2018). 57 Jakubec: Schlupflöcher (wie Anm. 48), S. 177. 58 Kramer: Entwicklung des Verkehrswesens (wie Anm. 53), S. 140f.; Stefan Albrecht, Internationale Luftverkehrspolitik in der Zeit des Kalten Krieges von 1944 bis 1965. Das Beispiel Tschechoslowakei, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2007, S. 93; BArch, Dl–2/195, Bl. 81; BArch, DY 2023/1221, Bl. 274–278. 59 Nicht zu verwechseln mit einer gleichnamigen Koko-Firma.
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die gemeinsame Nutzung der Hafenkapazitäten, um den über Hamburg laufenden Außenhandelsverkehr nach Polen umzuleiten und so Devisen zu sparen. Allerdings waren auch für die Nutzung der polnischen Häfen Gebühren zu entrichten, die sich an „in anderen Staaten geltenden Tarifen“ orientierten. Die Umsetzung dieses Prinzips erwies sich als sehr konfliktreich. So beklagte die ostdeutsche Seite nicht nachvollziehbare und nicht rechtzeitig angekündigte Tariferhöhungen.60 Dies dürfte der wichtigste Grund dafür sein, dass die Vereinbarungen „nie effektiv umgesetzt“ wurden.61 Die genannten Beispiele deuten zumindest an, dass mit einer stärkeren Diversifizierung des Modal Split im RGW bilaterale und multilaterale Institutionen im Bereich des Luft- und Seeverkehrs entstanden, die – mit mehr oder weniger Erfolg – die Kooperation zwischen RGW-Staaten und damit häufig auch die Verkehrsintegration des Wirtschaftsraumes RGW vorantrieben. Das Ziel war dabei jedoch weniger die Binnenintegration dieses Wirtschaftsraumes, sondern es ging, v.a. seit den 1970er Jahren, um eine Bündelung der Kräfte, damit man auf gesamteuropäischen oder sogar globalen Verkehrsmärkten erfolgreicher agieren konnte. Dies stellte allerdings keine radikale Veränderung der Verkehrspolitik im RGW, sondern nur eine Verschiebung der Prioritäten dar. Bereits die im Eisenbahnsektor der 1950er Jahre tätigen Experten, insbesondere der ostmitteleuropäischen Länder, bemühten sich, die Verbindungen zu den (west-)europäischen oder globalen Institutionen zu erhalten. Die Staaten des östlichen Europas blieben bis 1950 aktive Mitglieder der UNECE (United Nations Economic Commission for Europe), die als „one of the few remaining bridges between east and west”62 galt und deren Inland Transport Committee sich um den die Blockgrenzen überschreitenden Verkehr bemühte. Unmittelbar nach dem Ende des Koreakrieges besuchte die Tschechoslowakei wieder die Meetings der UNECE und betonte, dass der internationale Eisenbahnverkehr ein Vorbild für die friedliche Koexistenz zwischen Ost und West sein könne.63 Die westeuropäischen Staaten setzten jedoch in ihrer Eisenbahnpolitik weniger auf die UNECE als auf die UIC (Union internationale des chemins de fer), die 1949 zur offiziellen UN-Organisation für Eisenbahnfragen ernannt wurde und später auf die 1953 gegründete europäische Konferenz der Verkehrsminister. Im Gegensatz zur Sowjetunion und China, die 1947 die UIC verließen, waren die Eisenbahnunternehmen Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns Mitglieder der UIC geblieben.64 Auch der Deutschen Reichsbahn (DR) gelang es relativ früh, aufgrund der Fachexpertise ihrer Vertreter einen Beobachterstatus bzw. eine De-facto60 BArch, DY 2023/1222, Bl. 212–214, 403f. 61 Günter Sieber: Zum deutsch-polnischen Verhältnis, in: Siegfried Bock / Ingrid Muth / Hermann Schwiesau (Hg.): DDR-Außenpolitik im Rückspiegel: Alternative deutsche Außenpolitik? Berlin u.a. 2006, S. 15. Vgl. jetzt auch Michael Roe: Polish Shipping Under Communism. New York 2018. 62 Kaiser/Schot: Writing the Rules (wie Anm. 24), S. 102. 63 Ebenda, S. 163f. 64 Ebenda, S. 176. Zsusza Frisnyák: The Centrally Planned Economy and Railways in Hungary, in: Roth/Jacolin: Eastern European Railways (wie Anm. 39), S. 180.
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Mitgliedschaft in der UIC zu erlangen – trotz diplomatischer Nichtanerkennung der DDR und Hallstein-Doktrin.65 1977/78 fungierte Volkmar Winkler aus der DDR als Direktor der UIC wie zuvor schon Vertreter der polnischen und ungarischen sowie in den 1980er Jahren der tschechoslowakischen und bulgarischen Staatsbahnen.66 Schließlich muss betont werden, dass die Verträge SMGS und SMPS nur für den Verkehr zwischen den unterzeichneten Staaten galten, während beim Verkehr mit Drittstaaten selbstverständlich die seit der Berner Union von 1890 entwickelten, internationalen Regeln angewandt wurden. Die Gründung der OSShD sollte – jedenfalls aus Sicht der ostmitteleuropäischen Eisenbahnen – gerade nicht zu einer Abschottung des östlichen Europas führen, sondern dessen Verhandlungsmacht zusammenführen, um die Kompatibilität östlicher und westlicher Standards zu verbessern bzw. in internationalen Institutionen eigene Interessen besser durchsetzen zu können. In Ungarn wurde 1971 sogar die Idee eines Beitritts zur Europäischen Konferenz der Verkehrsminister diskutiert.67 Davon versprach man sich vor allem einen besseren Zugang zu westlichen Technologien. Als sich nämlich in den 1970er Jahren die politischen Beziehungen zwischen Ost und West entspannten und auch die Handelsbeziehungen intensivierten, mussten sowohl die tschechoslowakischen als auch die ungarischen Staatsbahnen feststellen, dass sie ihre eigentlich günstige geographische Lage in der Mitte Europas nur unzureichend nutzen konnten, um Transitverkehr anzuziehen und entsprechende Deviseneinnahmen zu erzielen. „Technological obsolescence in comparison to Western Europe led to reduction in transit from Southeastern Europe to Western Europe through Czechoslovakia”.68
3.3. Regelungen zum Transitverkehr im RGW Die Gestaltung von Transittarifen ist einerseits ein Indikator für den Willen zur Integration eines Wirtschaftsraumes, kann aber auch andererseits zum wichtigen Streitpunkt zwischen Ländern werden, die aufgrund ihrer geographischen Lage auf Transit durch Drittstaaten zur Durchführung ihrer Außenhandelsbeziehungen angewiesen sind oder aber Transitverbindungen für die Abwicklung von Wirtschaftsbeziehungen von Drittstaaten in größerem Umfang anbieten. Die RGW-Staaten, die mindestens bis Anfang der 1970er Jahre den größten Teil ihres jeweiligen Außenhandels untereinander abwickelten, stellten für beide Phänomene ein gutes Beispiel dar.
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BArch, DM-1/2318, Bl. 3–7; BArch, DM-1/3585. Véron: Railway Integration (wie Anm. 46), S. 251. Frisnyák: The Centrally Planned Economy (wie Anm. 64), S. 180. Ivan Jakubec: Transport under Socialism. The Case of the Czechoslovak State Railways 1948– 1989, in: Roth/Jacolin: Eastern European Railways (wie Anm. 39), S. 152.
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Die 1890 vereinbarte Berner Konvention über den Eisenbahngüterverkehr (CIM) regelte neben den rechtlichen Grundsätzen des grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehrs auch die Prinzipien zur Festlegung von internationalen Eisenbahngüterverkehrstarifen. Deutschland, die Habsburger Monarchie und Russland waren daran unmittelbar beteiligt, Rumänien, Serbien und Bulgarien traten später bei.69 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das System reaktiviert bzw. rund um die 1922 in Paris gegründete UIC, der außer den europäischen Ländern, incl. der Sowjetunion auch China und Japan angehören, restrukturiert.70 Eine der ersten Maßnahmen der im Warschauer Abkommen über den Güter- und Personenverkehr von 1948 (SMGS) verbundenen osteuropäischen Eisenbahnen stellte die Erstellung eines Transittarifsystems dar. Die Sowjetunion setzte dabei das Prinzip durch, dass Transittarife grundsätzlich niedriger sein sollten als die Binnentarife in den jeweiligen Staaten.71 Dabei ging es wohl weniger um die Förderung eines generellen Integrationsprozesses als um die Erleichterung von Transporten aus den Satellitenstaaten in die Sowjetunion. Dies geschah vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden Kalten Krieges, der den raschen Abschluss der Rekonstruktion im vom Weltkrieg besonders stark betroffenen östlichen Europa (v.a. in der UdSSR selbst) sowie den Ausbau von Schwer- und Rüstungsindustrie notwendig machte. Die Einführung des einheitlichen Gütertarifsystems (SMGS) im Jahre 1951 bedeutete allerdings nicht das Ende, sondern erst den Anfang der Diskussionen über die Ausgestaltung und Konkretisierung der Tarife. Für die DDR stellte die „wissenschaftliche Begründung von Tarifen“ Ende der 1950er Jahre das „schwierigste Problem der internationalen Arbeit im Verkehrswesen“ dar.72 Tatsächlich beschäftigte man sich noch 20 Jahre mit der Umsetzung der Tarifordnung und der Organisation der finanziellen Abwicklung. In anderen RGW-Mitgliedsstaaten gab es grundsätzlichere Kritik an den Tarifen. In Ungarn wurde beklagt, dass ein transnationales Tarifsystem den Einsatz von Eisenbahntarifen als Lenkungsinstrument nationaler Wirtschaftspolitik – den man dort seit den 1870er Jahre praktizierte – zumindest erschwerte. Außerdem sahen sich neben Ungarn auch die Tschechoslowakei und Polen als wichtige Transitländer durch den Einheitlichen Transittarif von 1956 benachteiligt.73 Im Jahre 1964 konnten diese Länder eine Erhöhung um 35% durchsetzen. Im Oktober 1975 behandelte das Exekutivkomitee des RGW auf seiner 73. Sitzung die Anpassung der Transittarife und legte einen Steigerungskoeffizienten von 70% fest, der ab 1976 gelten sollte. Polen hielt dies für unzureichend und forderte – grundsätzlich unterstützt durch die Tschechoslowakei und Ungarn –
69 Kaiser/Schot: Writing the Rules (wie Anm. 24), S. 133f. 70 Véron: Railway Integration (wie Anm. 46), S. 246–248. Vgl. auch Frank Schipper u.a.: New Connections for an Old Continent: Rail, Road and Electricity in the League of Nations Organisation for Communications and Transit, in: Alexander Badenoch / Andreas Fickers (Hg.): Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe. Basingstoke 2010, S. 113–143. 71 Brezinski: Der internationale Verkehrsverbund (wie Anm. 44), S. 116. 72 BArch, DM–1/2318, Bl. 41. 73 BArch, DM–1/2318, 20; Frisnyák: The Centrally Planned Economy (wie Anm. 64), S. 179.
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ab 1.1.1977 eine Erhöhung des Koeffizienten auf 200% und kündigte vorsorglich den im RGW geltenden Transittarif. Der polnische Verkehrsminister Tadeusz Bejm, der gleichzeitig Vorsitzender der Ständigen Kommission für Transportwesen im RGW war, setzte im Dezember 1976 eine außerordentliche Sitzung der Verkehrsminister durch, in deren Ergebnis ein Kompromiss gefunden wurde, sodass Polen vorerst Mitglied des SMGS blieb. Bereits im Juni 1980 kündigte jedoch Polen – jetzt sogar gemeinsam mit Ungarn und der Tschechoslowakei – den Internationalen Eisenbahntarifvertrag erneut und außerdem auch die Vereinbarung über die Güterwagenmietsätze im PPW-System und das SMGS als Ganzes. Zwar wurde erneut unter Mithilfe des RGW-Exekutivkomitees ein Kompromiss gefunden. Die mehrfache Kündigung der Verträge als radikalstes Druckmittel war aber ein deutliches Indiz dafür, dass das Einheitliche Transittarifsystem von einigen RGW-Mitgliedern als äußerst unvorteilhaft empfunden wurde und die anderen RGW-Mitglieder ständig mit der Forderung nach höheren Gebühren konfrontiert wurden.74 Hinzu kam eine gewisse Dysfunktionalität des Systems, die mit der mangelnden Konvertibilität der Währungen in den RGW-Ländern und dem daraus resultierenden Einsatz des „Transferrubels“ zusammenhing.75 Die Regelungen zum Transitverkehr im SMGS sahen vor, dass die Frachtkosten vom Versender zunächst komplett an den Empfänger gezahlt werden, der dann die Forderungen der Transitländer entsprechend ihrer jeweiligen Anteile begleicht. Dieses prinzipiell sinnvolle Verfahren führte dazu, dass Transitverkehre nach Westeuropa in Devisen vergütet wurden, diejenigen in andere RGW-Staaten jedoch in Transferrubeln. Insbesondere in den 1970er Jahren unter den Bedingungen einer extremen Devisenknappheit resultierte daraus eine sehr unterschiedliche Behandlung gegenüber einzelnen Transporten, was den Außenhandel mitunter deutlich erschwerte.76 Für die DDR, die einen Großteil ihres Außenhandels mit der Sowjetunion abwickelte, war die Frage des Transitverkehrs durch Polen von großer Bedeutung und immer wieder ein ernsthaftes Problem. Als 1959 die gerade gegründete Ständige Kommission für Transportwesen im RGW über die Abwicklung des Verkehrs zwischen der Sowjetunion und der DDR beriet, forderte Polen eine höhere Menge an Eisenbahntransporten. Dies spricht im Übrigen eher dafür, dass zu diesem Zeitpunkt die Transitgebühren für Polen nicht nachteilig waren. In den 1960er Jahren litt der Transitverkehr über die polnischen Eisenbahnen häufig unter den Verzögerungen beim Spurwechsel an der sowjetisch-polnischen Grenze sowie unter den zu geringen Streckenkapazitäten, die immer wieder zu deren Überlastung, zum Stau 74 Ebenda; BArch, DY 2023/1221, Bl. 318–320, 349–354, 364, 370 f., 393 f.; BArch, DY 2023/1222, Bl. 45; BArch, DY 2023/1224, Bl. 177–180, 224–240, 249–259. 75 Brabant: Economic Integration (wie Anm. 30), S. 308–338, 382–387; Kornai: Socialist System, (wie Anm. 16), S. 351–355. 76 Zsusza Frisnyák: Soviet Influence in the Operation of the Hungarian Railways, Unveröffentlichtes Paper für die European Social Science History Conference in Belfast, April 2018, zeigt dies am Beispiel des Handels zwischen der UdSSR und Jugoslawien, das währungstechnisch als kapitalistisches Ausland galt, der zum großen Teil auf den Eisenbahntransit durch Ungarn oder Rumänien angewiesen war.
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von Zügen sowie schließlich zum Annahmestopp von Außenhandelstransporten führten. In anderen Fällen machte die polnische Eisenbahn die Durchführung des Transits von der Bereitstellung sogenannter Waggonhilfen abhängig.77 Bereits seit den 1960er Jahren bemühten sich daher die DDR und phasenweise auch die Sowjetunion um die Steigerung des Anteils anderer Verkehrsträger, also den Bau von Ölpipelines und den Ausbau des Seeverkehrs.78 Dennoch mussten auch noch in den 1970er Jahren immer wieder Grenzsperrungen für den Güterverkehr über mehrere Tage oder Wochen verhängt werden. Besonders häufig traten sie an den Enden der Quartale und vor allem am Jahresende auf, als die sowjetischen und ostdeutschen Betriebe versuchten, ihre Exportpläne zu erfüllen.79 Der 1980 erneut angedrohte Ausstieg Polens aus dem Einheitlichen Transittarif sowie die ständigen Forderungen nach Tariferhöhungen bildeten also nur den letzten Anstoß für den Bau einer Fährverbindung zwischen Mukran auf Rügen und Klaipeda in Litauen.80
3.4. Grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte Die am stärksten bis in die Gegenwart nachwirkenden Projekte des RGW waren grenzüberschreitende Infrastrukturen. Dazu zählen insbesondere Pipelines für den Transport von Öl und Gas sowie Netze zur Übertragung von Elektroenergie.81 In einem gewissen Sinne stellten diese Infrastrukturprojekte auch die größten Erfolge bzw. Integrationsleistungen des RGW dar.82 Zwar war die Effizienz der einzelnen Bauprojekte sicher nicht optimal. Immerhin konnte aber mit Hilfe internationaler Kooperation die Versorgungssicherheit maßgeblich verbessert werden. Der „Erfolg“ dieser Projekte beruhte also einerseits auf dem gemeinsamen und dringenden Interesse der extensiv wachsenden Industrie in den RGW-6-Staaten an einem Zugang zu Rohstoff- und Energiequellen und andererseits auf dem Interesse der Sowjetunion an einer raschen und kostengünstigen Erschließung ihrer Rohstoffquellen, um so die eigene Exportfähigkeit im RGW, aber v.a. auch auf den Weltmärkten sicherzustellen. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der Bau von Pipelines in den 1960er Jahren auch eine Reaktion auf Engpässe und Ineffizienzen beim Eisenbahntransport, etwa einer hohen Zahl von leer fahrenden Spezialtransportmitteln, war. Generell ist festzustellen, dass es im Bereich des Verkehrswesens keinen ähnlich markanten Ausbau grenzüberschreitender Infrastrukturen gegeben hat. Dies galt für 77 78 79 80
BArch, Dl–2/164, Bl. 2–4; BArch, DM 1/3585; BArch, DY 3023/1224, Bl. 43f. BArch, Dl–2, 164, 2f. BArch, DY 3023/1222; DY3023/1223; DY 3023/1224 passim. BArch, DY 3023/1224, Bl. 178–180; Flade: The Role of the OSJD (wie Anm. 44); Vgl. dazu auch Wolfgang Klietz: Ostseefähren im Kalten Krieg. Berlin 2012. 81 Flade: Energy Infrastructures (wie Anm. 45). 82 Uwe Müller: Introduction. Failed and Forgotten? New Perspectives on the History of the Council for Mutual Economic Assistance, in: Müller/Jajeśniak-Quast: Comecon revisited (wie Anm. 9), S. 23–25.
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die Straßenverkehrsinfrastruktur, deren Dichte und Qualität im Bereich des Fernverkehrs ähnlich weit hinter westlichen Standards zurücklag wie die Individualmotorisierung. Es galt auch für die Binnenschifffahrtsstraßen, deren Bedeutung gering blieb, obwohl immer wieder weitreichende Kanalbaupläne entwickelt wurden. Es war aber besonders auffällig und relevant im Bereich der Eisenbahn. Wenn sogar in einer Selbstdarstellung der sozialistischen Eisenbahnen, die ansonsten von einer Meistererzählung des permanenten Fortschritts durchdrungen war, eingeräumt wurde, dass die Verkehrswege mit den Anforderungen des Außenhandels nicht mithalten könnten und die Hauptstrecken an dessen Erfordernissen noch viel besser angepasst werden müssen, lag offenbar ein massives Problem vor.83 Die Eisenbahninfrastruktur des östlichen Europas war im Zweiten Weltkrieg, insbesondere durch die Taktik der verbrannten Erde beim Rückzug der Deutschen Wehrmacht, die in Hitlers Nero-Befehl vom 19. März 1945 gipfelte, stark zerstört worden. Hinzu kamen in der Nachkriegszeit sowjetische Demontagen von Eisenbahnanlagen, die nicht nur in der sowjetischen Besatzungszone, sondern auch in den an Polen gefallenen ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie in Ungarn erfolgten.84 Die Transportverbindungen in die Sowjetunion blieben davon natürlich gerade wegen der Demontage- und Reparationspolitik ausgenommen. Im Falle Polens kamen die Auswirkungen der Westverschiebung des Territoriums hinzu, die dazu führten, dass die innere Integration des Verkehrsnetzes zunächst Priorität genoss, wobei die „wiedergewonnenen Gebiete“ jedoch tendenziell vernachlässigt wurden.85 Andererseits war es aber gerade nicht so, dass man in den neuen Grenzgebieten auf zuvor gut integrierte Verkehrsnetze zurückgreifen konnte. So verlor Weißrussland durch den Krieg fünf der sieben Transitverbindungen nach Westen. Nach 1945 wurden diese nicht wiederaufgebaut.86 Die 440 Kilometer lange Oder-NeißeGrenze wurde noch 1936 von 20 innerdeutschen Eisenbahnlinien gequert. Ende 1945 gab es nach Kriegszerstörungen und raschem Wiederaufbau der wichtigsten Brücken immerhin sieben Grenzübergänge für den Eisenbahngüterverkehr. Danach
83 O.V.: Schlagadern der Wirtschaft (wie Anm. 37), S. 10. 84 Rainer Karlsch: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945–1953. Berlin 1993, S. 81–84; Ralph Kaschka: Auf dem falschen Gleis. Infrastrukturpolitik und -entwicklung der DDR am Beispiel der Deutschen Reichsbahn 1949–1989. Frankfurt am Main / New York 2011, S. 50-59; Zbigniew Taylor: The dismantling and removal of railway lines by Soviet Red Army troops on present-day Polish territory, 1944–1948, in: Journal of Transport Geography 16, 2008, S. 217–228; Csaba Békés u.a. (Hg.): Soviet Occupation of Romania, Hungary, and Austria 1944/45–1948/49. Budapest / New York 2015. 85 Ekkehard Buchhofer: Räumliche Aspekte der Infrastruktur-Bedienungsdichte in Polen, in: Infrastrukturprobleme (wie Anm. 44), S. 45–47; Marcin Przegiętka: 1918, 1945 and 1989: Three Turning Points in the History of Polish Railways in the Twentieth Century, in: Roth/Jacolin: Eastern European Railways (wie Anm. 39), S. 137–141. 86 Andrej Kishtymov: The Construction and Modernisation of Railways in Belorussia/Belarus in the Late Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Roth/Jacolin: Eastern European Railways (wie Anm. 39), S. 62f.
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war das Interesse an einem regen Grenzverkehr jedoch sehr gering.87 Erst 1957 wurde die Eisenbahnbrücke in Görlitz wiederhergestellt und erst 1972 im Zusammenhang mit der Einführung des visafreien Personenverkehrs zwischen der DDR und Polen wurden ernsthafte Versuche unternommen, um die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ durchlässiger zu machen.88 Deutlich kooperativer waren die Eisenbahnbeziehungen an der „alten“ Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei. Bilaterale Abkommen über den Eisenbahndurchgangsverkehr in verschiedenen Grenzabschnitten regelten seit 1956, dass die Deutsche Reichsbahn unentgeltlich Streckenabschnitte in der Tschechoslowakei nutzen konnte, die im Eigentum der ČSR verblieben, deren Unterhaltung und Erneuerung jedoch der DR oblagen. Damit wurde der lokale Verkehr über diese ebenfalls bis 1972 weitgehend undurchlässige Grenze deutlich erleichtert.89 Die tendenzielle Vernachlässigung der grenzüberschreitenden Eisenbahnverbindungen, die sich im Übrigen sogar häufig auch auf die Literatur über das Eisenbahnwesen niederschlug, korrespondiert mit der Tatsache, dass es im Grunde nur zwei Formen von kooperativ errichteten neuen transnationalen Verkehrsinfrastrukturen gegeben hat. Die 1986 fertiggestellte Eisenbahnfährverbindung zwischen Mukran und Klaipeda wurde bereits erwähnt. Sie basierte auch auf den Erfahrungen des bereits seit 1978 bestehenden Güterfährverkehrs zwischen der Sowjetunion und Bulgarien.90 Ähnlich wie im Falle der Ostsee und Polens hatte sich auch hier das Schwarze Meer angeboten, um den Transitverkehr über das Gebiet eines als unzuverlässig geltenden Verbündeten zu verringern. Neben den Eisenbahnfähren reagierten auch die Verlängerungen der Breitspurbahnen von der sowjetischen Westgrenze nach Košice (1965–1966) und nach Katowice (1977–1979) auf ein Problem.91 In beiden Fällen ging es um eine Verbesserung der Versorgung von Stahlwerken mit sowjetischen Erzen. Die Effizienz dieser Lösungen wurde offenbar skeptisch gesehen. Analoge Projekte zum Bau von Breitspurbahnen nach Miskolc und die Verlängerung der polnischen Linie bis nach Eisenhüttenstadt sind jedenfalls nicht durchgeführt worden.92
87 Sheldon Anderson: A Cold War in the Soviet Bloc. Polish-East German Relations, 1945–1962. Boulder 2001, S. 82–84. 88 Uwe Müller: Nadelöhre der sozialistischen ökonomischen Integration? Eisenbahnverbindungen über die Oder-Neiße-Grenze (1945–1972), Unveröffentlichtes Paper für den IV. Kongress Deutsche Polenforschung. Frankfurt (Oder) 2016. Heute existieren 11 Eisenbahngrenzübergänge an der deutsch-polnischen Grenze. Im Personenverkehr gibt es gute Verbindungen aus Deutschland nach Warschau, jedoch nicht nach Breslau oder Krakau. 89 BArch, DM–1/2318, Bl. 33. 90 BArch, DY–3023/1222, Bl. 30–32, 293 f.; BArch, DY–3023/1223, Bl. 20–25. 91 Turnock: The Economy (wie Anm. 37), S. 361; Milan Klubal: The Modernisation of Railways in Slovakia after 1945, in: Roth/Jacolin: Eastern European Railways (wie Anm. 39), S. 162. Es gab außerdem eine Breitspurlinie von der ukrainischen Grenze nach Iaşi in Rumänien, die bereits 1940 errichtet worden war und nach 1945 erneuert wurde. 92 Frisnyák: Soviet Influence (wie Anm. 76).
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4. ZUSAMMENFASSUNG Die Staatsbahnen der sozialistischen Länder haben insgesamt gesehen grenzüberschreitende Linien tendenziell vernachlässigt. Das gilt auch für Länder, deren Volkswirtschaften eine relativ hohe Außenhandelsquote aufwiesen wie die DDR und die Tschechoslowakei.93 Dieses Phänomen lässt sich sicherlich auf die Mechanismen der sozialistischen Planwirtschaft zurückführen, die auf die Nationalstaatsebene fokussiert blieb. Allerdings ist auch für Westeuropa festgestellt worden, dass das Staatseisenbahnsystem von den 1960er Jahren bis in die 1990er Jahre hinein die Umsetzung einer „europäischen“ Eisenbahnpolitik weitgehend blockiert hat.94 Daher sollte den Ursachen in einer vergleichenden Untersuchung noch genauer nachgegangen werden. Klar ist bisher, dass die Ständige Kommission für Transportwesen des RGW zwar ebenfalls Pläne über transnationale Verkehrsnetze entwarf, letztlich aber nur Empfehlungen aussprechen konnte. Eine Koordinierung des Verkehrsinfrastrukturausbaus konnte mit den 1962 verabschiedeten Grundprinzipien der internationalen Arbeitsteilung nicht erreicht werden und blieb auch im Komplexprogramm von 1971 gegenüber den energiewirtschaftlichen Gemeinschaftsprojekten nachrangig. Dies entsprach der traditionellen marxistischen Politischen Ökonomie, die das Verkehrswesen als Teil der Distribution und damit gegenüber der Produktion als weniger wichtig einstufte.95 In den späten 1970er Jahren erkannten zwar auch die Ökonomen im östlichen Europa zunehmend die Bedeutung von Infrastrukturen.96 Wenn nun verstärkt auf grenzüberschreitende Verkehrswege geachtet wurde, lag dies aber sicherlich vor allem an dem sprunghaft angestiegenen Bedarf nach der Liberalisierung des Reiseverkehrs im Jahre 1972. Diese Maßnahme sollte ja den Sozialismus für die eigene Bevölkerung attraktiver machen und die politischen Führungen bemühten sich daher, auch die entsprechenden Verkehrsmittel zur Verfügung zu stellen. Ein zweiter Anreiz bildete der Wettbewerb um den in den 1970er Jahren deutlich ansteigenden internationalen Transitverkehr.97 Dabei erwies es sich als sehr hilfreich, dass es speziell den ostmitteleuropäischen Staaten bereits in der Nachkriegszeit und selbst zu Hochzeiten des Kalten Krieges in den 1950er Jahren gelungen ist, die Integration in den RGW und exklusiv osteuropäische bzw. sozialistische Organisationen wie die OSShD mit der Mitgliedschaft in anderen universellen bzw. westlich dominierten Organisationen, wie der UNECE und der UIC zu verbinden.
93 Jakubec: Transport (wie Anm. 68), S. 146; Przegiętka: 1918 (wie Anm. 85), S. 138. 94 Helmut Trischler: Geteilte Welt? Verkehr in Europa im Zeichen des Kalten Krieges 1945– 1990, in: Roth/Schlögel: Neue Wege (wie Anm. 40), S. 156–174. Vgl. auch Volker Ebert / Philipp-Alexander Harter: Europa ohne Fahrplan? Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957–1985). Stuttgart 2010. 95 Brezinski: Der internationale Verkehrsverbund (wie Anm. 44), S. 115f. 96 Vgl. zum Beispiel Helmut Koziolek: Reproduktion und Infrastruktur. Berlin 1986. 97 Frisnyák: Soviet Influence (wie Anm. 76); Kramer: Entwicklung des Verkehrswesens (wie Anm. 53), S. 114 und 201.
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Insgesamt bestätigt die Analyse des Verkehrssektors den Befund, dass im RGW eine „eigentliche Integration … im Sinne eines einzigen Wirtschaftsraums“ nicht erfolgte.98 Allerdings zeigt sie auch, dass transnationale Verflechtungen im Bereich von Wirtschaft und Verkehr sowohl innerhalb des „Ostblocks“ als auch zwischen West und Ost nicht allein und in durchaus unterschiedlichem Maße durch die Institutionen des RGW bestimmt wurden, wobei es häufig gerade nicht um Autarkie ging. Sie liefern zudem einen weiteren Beleg dafür, dass die Spielräume der Nationalstaaten gerade im Bereich der Wirtschafts- und Verkehrspolitik größer waren als man dies in einem (Ost-)Block erwarten würde.
98 Plumpe/Steiner: Dimensionen (wie Anm. 3), S. 22.
ZAHLUNGSBILANZUNGLEICHGEWICHTE, „GASTARBEITER“ UND DIE WIRTSCHAFTLICHE REKONSTRUKTION EUROPAS 1945–1958 Heike Knortz, Karlsruhe
EXTERNAL DEFICITS, “GUEST WORKERS” AND EUROPEAN ECONOMIC INTEGRATION 1945–1958. ABSTRACT: As a result of document-based, economic-historical research by means of foreign trade theory, this article brings into focus the early intra-European labour migration, already in place in 1945, which at that time consisted primarily of unskilled Italian workers. As labour export appeared to be a solution for its “labour surplus” and balance-of-payments problems, Italian governments strove for recruitment agreements. Non-convertible currencies first led to coal deliveries in return for Italian manpower employed in Belgian mines. When labour migration to France dwindled owing to French currency weakness, Germany’s trade surplus required to act. In view of European Payments Union demands, its trade deficit and high unemployment, Italy proposed to the Federal Republic the deployment of workers. D-Mark remittances enabled it hence to continue trading with Germany. Supported by the European Recovery Program, this kind of labour migration was supposed to abolish macro-economic disequilibrium and to force the reconstruction of the European division of labour. Keywords: European Integration, International Division of Labour, Italian Foreign Workers, Migration Policy THEORETISCHES FUNDAMENT UND HISTORISCHER KONTEXT Es ist ein interessantes und zugleich überraschendes Phänomen, dass die Wirtschaftsgeschichte, deren ureigenes Gebiet die Arbeitsmigration nach 1945 eigentlich sein sollte, sich für diese bisher kaum interessiert hat. Dadurch konnte sich innerhalb der Geschichtswissenschaft eine historische Migrationsforschung etablieren, deren Wurzeln in der Antikapitalismuskritik der 1970er Jahre zu finden sind und die stark von der Soziologie und der Sozialgeschichte beeinflusst ist. Auch deshalb greift die historische Migrationsforschung nach wie vor gerne auf das Push-
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Pull-Modell des Soziologen Everett S. Lee zurück und betont trotz vielfältigen Theorieangebots1 weiterhin die der „Gastarbeiter“-Ära vermeintlich zu Grunde liegenden Pull-Faktoren. Dabei wird allerdings die Unzulänglichkeit dieser wirtschaftswissenschaftlich fundierten Migrationstheorie ignoriert: So erweist sich gerade das Push-Pull-Modell als nicht konsistent, da es Migrationsprozesse zwar mit vorhandenen ökonomischen Disparitäten in Herkunfts- und Zielländern zu deuten versucht, in einem weiteren Schritt aber die ökonomischen Disparitäten zwischen potentiellen Zielländern unberücksichtigt lässt.2 Vor allem aber hält der daraus gezogene, zum Allgemeingut gewordene Schluss, die nordwesteuropäischen Staaten hätten aufgrund industriellen Arbeitskräftemangels und auf Drängen der Arbeitgeber Anwerbeabkommen geschlossen,3 einer Überprüfung anhand regierungsamtlicher Akten nicht stand. Vielmehr zeichnen bereits die zwischen 1995 und 2008 erschienenen aktengestützten Analysen von Johannes-Dieter Steinert4, Karen Schönwälder5 und Heike Knortz6 einen außenpolitischen Hintergrund. Und so gingen im Fall der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich sämtliche Initiativen zur Entsendung ausländischer Arbeitskräfte von den Herkunftsländern aus. Die zuletzt infolge der üblichen Sperrfristen wesentlich verbreiterte Quellenbasis lässt zudem keinen Zweifel daran, dass die jeweiligen Bundesregierungen mit den Anwerbevereinbarungen ausschließlich außenpolitische Motive verfolgten. Damit entsprangen die Anwerbevereinbarungen von westdeutscher Seite weder arbeitsmarkt- noch wirtschaftspolitischen Erwägungen, sondern den Prinzipien klassischer Außenpolitik, in der beispielsweise die Bemühungen um die europäische Integration, einen potentiellen NATO-Partner oder um Entspannung im Ost-West-Verhältnis die entscheidende Rolle spielten. Die Arbeitskräfte abgebenden Länder verfolgten dagegen zum Teil sehr eigenwillige wirtschaftliche Interessen, wie das Beispiel Portugals zeigt, das sich bemühte, der sich bereits im Gange befindlichen Emigration
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Vgl. Marina Liakova: Migrationstheorien, in: Karl-Heinz Meier-Braun/Reinhold Weber (Hg.): Deutschland Einwanderungsland. Begriffe – Fakten – Kontroversen. Stuttgart 2013, S. 35–38. Vgl. Heinz Faßmann / Rainer Münz: Europäische Migration und die Internationalisierung des Arbeitsmarktes, in: Burkhard Strümpel / Meinolf Dierkes (Hg.): Innovation und Beharrung in der Arbeitspolitik. Stuttgart 1993, S. 11–37, hier 26. In diesem Sinn beispielsweise immer noch Jochen Oltmer: Einführung: Migrationsverhältnisse und Migrationsregime nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jochen Oltmer / Axel Kreienbrink / Carlos Sanz Díaz (Hg): Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa. München 2012, S. 9–21, hier 10 und 14. Johannes-Dieter Steinert: Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945– 1961. Osnabrück 1995. Karen Schönwälder: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. Essen 2001. Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte. „Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973. Köln/Weimar/Wien 2008.
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
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qualifizierter Arbeitskräfte durch eine „Vermittlungsvereinbarung“7 mit der Bundesrepublik gegenzusteuern. Dabei konnte sich unter Beachtung internationalen Rechts und bundesdeutscher Rechtslage auch ohne spezifische Regierungsvereinbarung die Arbeitsmigration in legaler Weise, wenngleich für die Migranten administrativ aufwendiger vollziehen. Deshalb gingen beispielsweise bereits vor Abschluss der deutsch-italienischen Vereinbarung einige wenige Italiener in der Bundesrepublik einer Beschäftigung nach und auch nach dem Abschluss der Regierungsvereinbarung reiste die Mehrheit von ihnen in die Bundesrepublik ein, ohne die mit der Anwerbevereinbarung eingerichtete, der Vermittlung dienende Deutsche Kommission in Italien in Anspruch zu nehmen. Entgegen üblichen Annahmen stellte die deutsch-italienische Regierungsvereinbarung von 1955 damit einen Push-Faktor dar, den sich westdeutsche Arbeitgeber erst einige Zeit später angesichts nun erreichter Vollbeschäftigung zunutze machten. Vor allem italienische, griechische und jugoslawische Administrationen versuchten, durch – offiziell „Anwerbevereinbarung“ genannte – Übereinkünfte mit der Bundesrepublik die Arbeitslosigkeit in ihren Ländern sowie ihre aus der westdeutschen Exportstärke resultierenden Devisenprobleme zu reduzieren.8 Dieses historische, quellenbasiert nachgewiesene Faktum hätte an sich nicht überraschen dürfen, ging doch die wirtschaftstheoretisch fundierte Forschung bis dahin schon davon aus, dass: „Labour export appeared to be a solution to many ills, particularly employment and balance-of-payments problems which […] were seen to be hampering further economic progress“.9 Sarah Collinson formulierte diese Feststellung allerdings für die Zeit nach dem Einsetzen dynamischen Wachstums und der damit verbundenen Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften in den nordwesteuropäischen Ländern, also für die Zeit ab ca. Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre, als sich die Volkswirtschaften besagter Länder der Auslastung ihres Produktionspotentials und damit der Vollbeschäftigung näherten. Entsprechende Quellenbestände in den Archiven der Außen-, Wirtschafts- und Finanzministerien in Paris, Rom, Koblenz und Berlin sowie der Organization for European Economic Cooperation (OEEC) in den Historical Archives of the European Union in Florenz zeigen,10 dass diese theoretische Annahme besonders aber auf die intraeuropäische Arbeitsmigration zur Zeit der europäischen wirtschaftlichen Rekonstruktion zutrifft – jener Migration also, die sich nicht aus Flüchtlingen und Vertriebenen speiste, vielmehr im Wesentlichen aus italienischen Arbeitern bestand, bereits 1945/46 einsetzte und sich sehr bald im europapolitischen Kontext zu entwickeln begann. 7
„Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Portugiesischen Republik über die Vermittlung von portugiesischen Arbeitnehmern nach Deutschland“ vom 17. März 1964, in: Bundesanzeiger, Nr. 104 vom 10. Juni 1964. 8 Vgl. hierzu insgesamt Knortz, Diplomatische Tauschgeschäfte (wie Anm. 6). 9 Sarah Collinson: Europe and International Migration. London/New York 1993, S. 65. 10 Die Akten in Rom werden von Agnieszka Dreeßen ausgewertet, die an einer Dissertation über „Die italienische Wirtschafts-, Europa- und Migrationspolitik nach 1945“ arbeitet, jene der OEEC von Kerstin Furrer, die über „Die USA und die italienische Migration im Prozess der europäischen wirtschaftlichen Rekonstruktion“ zu promovieren beabsichtigt.
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Der folgende Beitrag dient der Analyse dieser Verknüpfung von früher europäischer Migration mit der europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Arbeitsteilung. Er bettet damit die italienische Migration – basierend auf der Außenwirtschaftstheorie als analytischem Raster und in Anlehnung an das Konzept der Histoire croisée – in die Wirtschaftsgeschichte Europas ein. Unter ausdrücklicher Beachtung der Rolle der USA als wichtigem Akteur im frühen europäischen Integrationsprozess fokussiert der Beitrag die Umstände, die die italienischen Regierungen zum Abschluss von Anwerbeabkommen zwangen, und auf die Funktion der Heimatüberweisungen der Migranten unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Rekonstruktion Europas.11
ITALIENISCHER WIEDERAUFBAU: ARBEITSKRÄFTE- UND IMPORTÜBERSCHUSS UNTER DEN BEDINGUNGEN FEHLENDER WÄHRUNGSKONVERTIBILITÄT Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bedurfte die noch semi-agrarisch strukturierte italienische Wirtschaft dringend einer über den Wiederaufbau hinausgehenden Modernisierung. Diese setzte neben ausländischem Kapital eine Ausweitung der Importe voraus; außerdem war der italienische Binnenmarkt zu klein, um einen eigenständigen Entwicklungsprozess zum Tragen kommen zu lassen.12 Die für Wirtschaft und Politik Verantwortlichen entschieden sich in dieser Situation früh für eine möglichst weitgehende außenwirtschaftliche Öffnung. Wirtschaftliche und politische Überlegungen handelnder italienischer Politiker sowie der Einfluss der USA zeigten dabei in Richtung europäischer wirtschaftlicher Integration, was zunächst in die Teilnahme Italiens am European Recovery Program (ERP), an der die Marshall-Plan-Hilfe koordinierenden OEEC sowie an der Montanunion mündete.13 Ein hohes italienisches Außenhandelsdefizit gegenüber den USA14 in Verbindung mit einer restriktiver ausgestalteten US-Einwanderungspolitik15 führten zeitgleich
11 Der Beitrag beruht im Wesentlichen auf den Ergebnissen der umfangreichen Studie von Heike Knortz: Gastarbeiter für Europa. Die Wirtschaftsgeschichte der frühen europäischen Migration und Integration. Köln / Weimar / Wien 2016. 12 Vgl. Michele Salvati: Economia e politica in Italia dal dopoguerra a oggi. Milano 1984, S. 13– 25; Gioachino Fraenkel: Die italienische Wirtschaftspolitik zwischen Politik und Wirtschaft. Berlin 1991, S. 106. 13 Vgl. Augusto Graziani: L’economia italiana dal 1945 a oggi. Bologna 1979, S. 13–74; Ennio Di Nolfo: Das Problem der europäischen Einigung als ein Aspekt der italienischen Außenpolitik 1945–1954, in: VfZ 28 (1980), S. 145–167. 14 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/253. Statement by J. D. Zellerbach for Congressional Hearings on extension of ECA, S. 45–59, hier 55. 15 Antonio Bechelloni: Le choix de la destination française vu du côté italien, in: Marie-Claude Blanc-Chaléard (Hg.): Les Italiens en France depuis 1945. Rennes/Paris 2003, S. 29–40, hier 31.
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zu einer politisch forcierten Verlagerung der Importe aus den USA zu Importen aus europäischen Ländern („Europeanization“16). An dem dadurch nicht gelösten Problem der „Dollar-Lücke“ setzte bekanntlich der Marshall-Plan an, mit dem die USA den europäischen Ländern 13 Mrd. USDollar für den Wiederaufbau zur Verfügung stellten. Ohne dass dessen institutionelle Ausgestaltung und funktionalen Ziele weitergehend dargelegt werden sollen,17 sei hier nur darauf verwiesen, dass in das vom Marshall-Plan anvisierte System der europäischen Arbeitsteilung von Beginn an auch die Migration italienischer Arbeitskräfte einbezogen werden sollte. So erhielt etwa das Istituto nazionale di Credito per il Lavoro italiano all’Estero (ICLE), das Nationale Kreditinstitut zur Finanzierung italienischer Arbeitskräfte im Ausland, zehn Mio. US-Dollar aus den Marshall-Plan-Geldern des Jahres 1949/50, um die italienische Emigration nach und die Kolonisation durch italienische Zuwanderer in Brasilien, Chile, Peru, Ecuador, Paraguay, Bolivien und Mexiko sowie alle damit in Zusammenhang stehenden Tätigkeiten zu finanzieren.18 Vermittelt durch die OEEC empfing die italienische Regierung etwa zur gleichen Zeit weitere 1,3 Mio. US-Dollar von der Economic Cooperation Administration (ECA), der US-Behörde zur Verwaltung der Hilfsgelder aus dem Marshall-Plan, für einen technischen Hilfsfonds zu Gunsten der Emigration. Dieser Fonds konnte in Anspruch genommen werden, sollte ein Emigrationsprogramm ohne technische Vorarbeiten nicht realisierbar sein. 1950 folgte ein Programm für technische Hilfe der International Labour Organisation (ILO) über eine Mio. US-Dollar, finanziert zu 80 Prozent durch die ECA, der Rest von der OEEC.19 Wenn aber „Kernpunkt der amerikanischen Politik […] weniger die intelligente Platzierung von Ressourcen in den einzelnen Ländern als die erfolgreiche Instrumentalisierung dieser Lieferungen zur Zwangsrekonstruktion der europäischen Arbeitsteilung“20 gewesen ist, dann stellten – was die historische Forschung bislang vernachlässigt hat – italienische Arbeitskräfte und deren Heimatüberweisungen einen Teil dieser Zwangsrekonstruktion dar. Das lässt sich bevorzugt an der seit 1950
16 Karel Holbik: Italy in International Cooperation. The Achievements of her Liberal Economic Policies. Padova 1959, S. 46; vgl. auch Rolf Petri: Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder. Wirtschaftspolitik und industrieller Wandel in Italien 1935–1963. Tübingen 2001, S. 461. 17 Weiterführend hierzu vgl. Lehmann, Axel: Der Marshall-Plan und das neue Deutschland. Die Folgen amerikanischer Besatzungspolitik in den Westzonen. Münster / New York / München / Berlin 2000; grundlegend hierzu auch immer noch: Wexler, Imanuel: The Marshall Plan Revisited. The European Recovery Program in Economic Perspective. Westport, Connecticut / London 1983. 18 Archives diplomatiques, 193QO/253. Statement by J. D. Zellerbach for Congressional Hearings on extension of ECA, S. 45–59, hier 57. 19 Vgl. Archives diplomatiques, 7QO/127. Mesures Financières et d’organisation adoptées par le gouvernement Italien en faveur de l’émigration, S. 94-98, hier 95 f.; Comitato interministeriale per la ricostruzione: The Development of Italy’s Economic System within the Framework of European Recovery and Cooperation. Roma 1952, S. 337f. 20 Helge Berger / Albrecht Ritschl: Die Rekonstruktion der Arbeitsteilung in Europa, in: VfZ 43 (1995), Heft 3, S. 473–519, hier 475.
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arbeitenden Europäischen Zahlungsunion (EZU) zeigen, auf die sich die am ERP teilnehmenden Länder unter dem Druck der USA geeinigt hatten. Ein grundlegendes Problem bei der außenwirtschaftlichen Öffnung Italiens stellte nämlich die bis 1958 fehlende Konvertibilität der europäischen Währungen dar. Da den europäischen Zentralbanken zu jener Zeit für den unbegrenzten Währungsumtausch und -transfer in das Ausland noch die Devisenpolster fehlten, stellten die europäischen Währungen reine Binnenwährungen dar. Unter diesen Bedingungen musste der Zahlungsausgleich auf der Grundlage bilateraler Handelsverträge, die den Außenhandel quasi zu Naturaltausch degradierten, erfolgen. Solche unter hohem administrativem Aufwand verabredeten Handelsgeschäfte erfordern individuelle Verträge mit jedem Handelspartner und einen zwischen den jeweiligen Handelspartnern wertmäßig weitestgehend ausgeglichenen Handel.21 Mit der Europäischen Zahlungsunion erfolgte die multilaterale Verrechnung der Handelsbilanzsalden auf Dollar-Basis. Das Land, das nach dem Clearing ein Handelsbilanzdefizit aufwies, erhielt einen Kredit von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Allerdings sind die Kredite mit Auflagen verbunden worden, was im Hinblick auf den Außensaldo disziplinieren sollte: Mit jeder Kredittranche wuchs die Verpflichtung zur Rückzahlung in Gold oder US-Dollar, in liquiden Mitteln also, welche ausdrücklich durch den Export von Waren erwirtschaftet worden sein mussten. Bei den Gläubigern kam es zu gegensätzlichen Verpflichtungen, das heißt, dass die EZU auch in Ländern mit Handelsüberschuss Maßnahmen zur Überwindung der Zahlungsbilanzungleichgewichte erzwang, was später im Fall des deutsch-italienischen „Anwerbeabkommens“ relevant werden sollte. Für den Wiederaufbau Europas, die Rekonstruktion der europäischen Arbeitsteilung, musste nämlich unbedingt vermieden werden, dass ein Land ausschließlich Waren importiert, während ein anderes Land im Gegenzug ausschließlich Devisen hortet.22 Neben fehlender Konvertibilität, erhöhtem Importbedarf, Devisenmangel und chronischen Zahlungsbilanzdefiziten spätestens seit 1952 sahen sich die italienischen Regierungen schließlich auch noch mit einem rapiden Bevölkerungswachstum konfrontiert. Allein die italienische Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter wuchs nach 1945 jährlich um 300.000 Personen ausschließlich durch das natürliche Bevölkerungswachstum, hierzu kamen Rückkehrer aus ehemaligen Kolonien sowie abgetretenen Gebieten. Zeitgleich blieben traditionelle Migrationswege aus Italien blockiert.23 Erste belastbare Statistiken wiesen unter diesen Bedingungen Ende des Jahres 1946 zwei Millionen registrierte Arbeitslose aus; hinzu kam eine kaum zu beziffernde verdeckte Arbeitslosigkeit, die allein in der norditalienischen Industrie
21 Vgl. hierfür insgesamt: Volker Hentschel: Die Europäische Zahlungsunion und die deutschen Devisenkrisen 1950/51, in: VfZ 37 (1989), S. 715–758, hier 719f. 22 Vgl. hierzu insgesamt Barry Eichengreen: Reconstructing Europe’s Trade and Payments. The European Payments Union. O.O. 1993; Hentschel, Europäische Zahlungsunion (wie Anm. 21). 23 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/257. Confidential. Tripartite Meeting of Experts on European Migration. Report to Foreign Ministers, S. 81–88, hier 87. Vgl. hierzu insgesamt auch: Comitato interministeriale per la ricostruzione, Development of Italy’s Economic System (wie Anm. 19), S. 6f.
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auf mehr als eine Million Arbeitskräfte geschätzt wurde, sowie eine nicht unerhebliche Unterbeschäftigung im Bereich der Landwirtschaft, die die Arbeitslosenquote von ca. zehn Prozent durchgehend zu erhöhen drohte.24 Bereits die Zeitgenossen sprachen deshalb von einem „Bevölkerungs-“ oder präziser von einem „Arbeitskräfteüberschuss“.25 Für Italien lag also der ‚Export‘ von Arbeit nahe. Immerhin konnte mit Arbeitsmigration die Arbeitslosigkeit verringert und durch die Heimatüberweisungen der Migranten sogar noch die Leistungsbilanz entlastet werden:26 Zwischen 1946 und 1957, zur Zeit der nicht konvertiblen Lira also, konnte Italien so immerhin durchschnittlich 4,5 Prozent27 seiner Importe allein durch die offiziellen Überweisungen seiner Arbeitsmigranten bezahlen. Für Geldtransfers jenseits nachvollziehbarer Operationen – beispielsweise bar während eines Heimatbesuches oder mittels privater Kompensationsgeschäfte – veranschlagte die ILO die gleiche Größenordnung. Damit hätten die Heimatüberweisungen der Arbeitsmigranten die Einnahmen Italiens aus Frachten oder auch dem Tourismus übertroffen, vor allem stellten sie eine Quelle für die Beschaffung dringend benötigter Devisen dar.28 Da die Heimatüberweisungen der italienischen Migranten andererseits aber in der Kapitalbilanz der Aufenthaltsländer zu Buche schlugen, unter den Bedingungen nicht konvertierbarer Währungen und unzulänglichen intraeuropäischen Handels damit zugleich die Devisenbilanz resp. die Währungsreserven zu belasten drohten, entwickelte sich auf dieser Basis schnell eine umfangreiche Diplomatie. Da die Auswanderungsmöglichkeiten in verschiedene europäische Länder zunächst begrenzt waren – beispielsweise weil auch Westdeutschland durch Flüchtlinge und Vertriebene ebenso wie die Niederlande durch den Zustrom aus den Kolonien als überbevölkert galten – wurden weitreichendere intergouvernementale oder supranationale Lösungsansätze verhindert. Die italienischen Politiker waren so gezwungen, Lösungen anhaltend in bilateralen Abkommen oder zumindest durch diplomatischen Notenwechsel zu suchen. Im Ergebnis gelang es italienischen Regierungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Emigration von Arbeitskräften in möglichst viele Zielländer in nennenswertem Umfang zu ermöglichen sowie die Voraussetzungen für eine zeitnahe Abwicklung der Heimatüberweisungen durch zwischenstaatliche Abkommen zu schaffen (vgl. Tabelle 1), die diese nicht nur auf europäischer Ebene nach den Bedürfnissen ihrer Zahlungsbilanz justierten. Auch die Tatsache, dass die Grenzen zwischen Arbeitskräfteanwerbung und Einwanderung 24 Vgl. Bureau International du Travail: Les Migrations Internationales 1945–1957. Genève 1959, S. 409; Comitato interministeriale per la ricostruzione, Development of Italy’s Economic System (wie Anm. 19), S. 7. 25 Vgl. Archives diplomatiques de Paris, 7QO/127. Organisation Européenne de Coopération Économique. Comité de la main-d’œuvre. Rapport sur l’absorption des excédents de maind’œuvre, Paris le 15 décembre 1949, S. 10–19. 26 Zur diese These untermauernden Beweisführung vgl. insgesamt Knortz, Gastarbeiter für Europa (wie Anm. 11). 27 Eigene Berechnung nach Bureau International du Travail, Migrations Internationales (wie Anm. 24), S. 411. 28 Bureau International du Travail, Migrations Internationales (wie Anm. 24), S. 411.
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fließend waren, war Folge italienischer Politik, die sich, um eine möglichst große Anzahl von Abkommen schließen zu können, den Wünschen und Vorstellungen der Vertragspartner gegenüber sehr geschmeidig zeigte.29 Tabelle 1: Von Italien geschlossene erste Migrationsabkommen, 1946–1950 1946 ? 22.02. 23.06. 1947 16.01. 10.02. 21.02. 19.04. 1948 06.04. 22.06. 20.10. 1950 05.07. 1950/51
Vertragspartner Österreich*) Frankreich Belgien
Abkommen/Notenwechsel, betreffend: ? Anwerbung von Bergleuten Auswanderung italienischer Bergleute
Großbritannien Tschechoslowakei Argentinien Schweden
Anwerbung von Arbeitern für das Hüttenwesen Italienische Auswanderung Italienische Auswanderung Italienische Auswanderung
Luxemburg Schweiz Niederlande
Einwanderung italienischer Landarbeiter Einwanderung italienischer Arbeiter Einwanderung von Bergleuten
Brasilien verhandelte Italien zudem mit Australien Chile Kolumbien Mexiko Venezuela
Italienische Auswanderung
Anm.: *) Verschiedene Quellen zeigen, dass es ein sehr frühes Abkommen mit Österreich gegeben hat, ohne dass Datum des Inkrafttretens und konkreter Gegenstand bekannt wären. Die einzigen Akten, die hierüber genauere Auskunft geben könnten, sind im Archiv der Republik in Wien noch nicht verzeichnet/nutzbar. Quellen: Archives diplomatiques de Paris, 7QO/127. Accords d’émigration stipulés par l’Italie pendant cet après-guerre, S. 99-101; ebd., 193QO/257. M. Jacques Fouques Duparc, Ambassadeur de France en Italie à Monsieur le Ministre des Affaires Étrangères – Direction des Affaires Administratives et Sociales – 18 janvier 1952, S. 118; Die Wiedergesundung Europas. Schlußbericht der Pariser Wirtschaftskonferenz der sechzehn Nationen, Teil II: Technische Berichte, Heft 4: Arbeitskräfte, Regierungserklärungen über Wirtschafts- und Finanzreformen (Dokumente und Berichte des Europa-Archivs, 54). Oberursel (Taunus) 1948, S. 14.
29 Vgl. Archives diplomatiques de Paris, 7QO/127. Accords d’émigration stipulés par l’Italie pendant cet après-guerre, S. 99–105, hier 101.
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DIE FRÜHE ITALIENISCHE ARBEITSMIGRATION NACH BELGIEN UND FRANKREICH Darauf, dass italienische Regierungen eine umfangreiche Emigration als notwendigen Teil des italienischen Wiederaufbaus begriffen, wies bereits die ILO 1947 hin. Die frühe italienische Emigration setzte demnach in Folge der verschiedenen, von Italien angestoßenen Regierungsvereinbarungen ein.30 Da Italien für den Wiederaufbau seiner Industrie auf den Import von Steinkohle angewiesen war, sicherte Belgien beispielsweise mit dem am 23. Juni 1946 geschlossenen Anwerbeabkommen Italien als Gegenleistung für im Bergbau unter Tage beschäftigte 50.000 italienische Arbeitskräfte die Lieferung von drei Mio. Tonnen Kohle zu.31 So umging man die Probleme der Währungskonvertierung auch mit anderen Ländern, obwohl Italien über keine entsprechenden Fachkräfte verfügte.32 Während Belgien das erwähnte Abkommen mit Erfolg umzusetzen in der Lage war, gestalteten sich die französisch-italienischen Kompensationsgeschäfte eher leidlich. Der Grund hierfür ist zunächst in der Schwäche der französischen Wirtschaft zu suchen, die sich in Handelsbilanzdefiziten und der Notwendigkeit von Kapitalimporten ausdrückte. Im Zeichen von Dollar-Lücke und nicht konvertierbaren europäischen Währungen ließen die so von Beginn an vergleichsweise geringen Überweisungssätze, die italienischen Arbeitsmigranten für ihre Heimatüberweisungen zugestanden wurden, die Anwerbung von geplanten 20.000 Arbeitskräften für den französischen Bergbau unerreichbar werden.33 Zudem mussten die Heimatüberweisungen spätestens zu dem Zeitpunkt zu einer Belastung für die französische Devisen- und damit Zahlungsbilanz werden, als auch Frankreichs Handelsbilanz ein Defizit gegenüber Italien aufwies. Frankreich, das ohnehin stark auf US-amerikanische Kredite angewiesen war, befand sich schon sehr bald in diesem Dilemma (vgl. Tabelle 2). Der unter diesen Umständen regelmäßig zu Gunsten der französischen Devisenbilanz variierte Vorzugswechselkurs für Heimatüberweisungen der italienischen Arbeitsmigranten bei ohnehin niedrigen Löhnen und hohen Lebenshaltungskosten stellte für die Kohleförderung in Frankreich eine ernstzunehmende Bedrohung dar.
30 Vgl. International Labour Organisation: Industrial and Labour Information, in: International Labour Review 27 (1947), S. 98–156, hier 100. 31 Vgl. Industrial and Labour Information (wie Anm. 30), S. 100; Anne Morelli: L’appel à la main d’œuvre italienne pour les charbonnages et sa prise en charge à son arrivée en Belgique dans l’immédiat après-Guerre, in: Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis/Revue belge d’Histoire contemporaine XIX/1–2 (1988), S. 83–130, hier 89f. 32 Die Wiedergesundung Europas. Schlußbericht der Pariser Wirtschaftskonferenz der sechzehn Nationen. Teil II: Technische Berichte, Heft 4: Arbeitskräfte, Regierungserklärungen über Wirtschafts- und Finanzreformen. Oberursel (Taunus) 1948, S. 31. 33 Vgl. CAEF, B-0010782/1. Ministère du travail et de la sécurité sociale, Direction générale du travail et de la main-d’œuvre, au Ministre des finances, ca. 26. September 1946.
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Tabelle 2: Französischer Außenbeitrag gegenüber Italien und Heimatüberweisungen der Migranten nach Italien, 1948–1950 (in Mio. Lire)
1948 1949 1950
Außenbeitrag (Exporte - Importe) - 10.352 - 10.460 - 18.016
Heimatüberweisungen - 6.325 - 7.921 - 5.425
Quelle: Centre des Archives économiques et financières Paris (CAEF), B-0010781/2. Ambassade de France en Italie, l’Attaché financier, 15 juillet 1951. Les paiements franco-italiens en 1950, 15.07.1951.
Tatsächlich waren nämlich die französischen Kohlereviere von jeher auf größere Kontingente ausländischer Arbeitskräfte angewiesen, wobei sich deren Bedarf infolge der Kriegsverluste beachtlich erhöht hatte. Während sich die in Belgien gezahlten Löhne aber zwischen 31.000 und 90.000 Lire bewegten, beliefen sich jene in Frankreich auf nur 15.000 bis 55.000 Lire monatlich. Infolge der komfortablen Entlohnung in Belgien präferierten die nach Frankreich kommenden Migranten mindestens eine Tätigkeit außerhalb der Bergwerke; auch ließ ganz offensichtlich die Leistungsbereitschaft der nach Frankreich gereisten Bergarbeiter zu wünschen übrig.34 Eine Reduktion oder gar die Abschaffung des Vorzugswechselkurses für Heimatüberweisungen beschnitt insofern die Rekrutierungsmöglichkeiten weiter. Während Belgien zu Beginn des Jahres 1951 beispielsweise kaum Mühe hatte, 5.000 zusätzliche Bergleute anzuwerben, schienen sich für das französische Anwerbeprogramm gleichzeitig 1.000 Arbeitskräfte für Untertagearbeiten nur sehr schwer finden zu lassen. Zudem hatten nach einer Verschlechterung des administrativ festgesetzten Wechselkurses zahlreiche italienische Arbeiter ihre Arbeitsverhältnisse in Frankreich gekündigt und es stand zu befürchten, dass vor allem die 4.341 in den nördlichen Kohlebecken und den Bergwerken nahe der belgischen Grenze beschäftigten Migranten nach Belgien abwandern würden.35 Ähnliches hatte sich schon einmal im Jahr 1949 zugetragen, als die verschlechterten Bedingungen für Heimatüberweisungen einen Abgang von ungefähr 3.000 Arbeitern, d.h. knapp eines Viertels des seinerzeitigen Personalbestands bei den Charbonnages de France hervorgerufen hatten.36 Zu der so einem circulus vitiosus gleichkommenden wirtschaftlichen Schwäche gesellten sich im Fall Frankreichs starke organisierte Interessen sowie eine durch unterschiedliche Motive geprägte umfangreiche Diplomatie. Folgerichtig – aber erfolglos – war bereits am 20. November 1945 das Angebot Frankreichs an die italienische Regierung ergangen, das französisch-italienische 34 Vgl. hierzu die ausführliche Beweisführung bei Knortz, Gastarbeiter für Europa (wie Anm. 11), S. 88f. und 98f. 35 Vgl. CAEF, B-0010783/2. Le Ministre de l’Industrie et du Commerce à Monsieur le Ministre des Finances et des affaires Économiques, Direction du Budget, du 10 mars 1951. 36 Vgl. CAEF, B-0010783/2. Charbonnages de France à Monsieur de Lattre, Direction des Finances extérieures, Ministère des Finances, 16 février 1951.
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Arbeitsabkommen von 1919 provisorisch wieder in Kraft zu setzen, um möglichst schnell 20.000 Bergarbeiter rekrutieren zu können.37 Auch in der Folge waren die französischen Regierungen ausschließlich an der Gewinnung von Bergleuten, also nicht etwa an der Anwerbung von Arbeitskräften anderer Berufe interessiert.38 Allerdings enthielt das erste Anwerbeabkommen vom 22. Februar 1946, an dessen Aushandlung u.a. ein Vertreter der der Kommunistischen Partei nahestehenden Confédération Générale du Travail (CGT) beteiligt war, neben der ohnehin bestehenden illegalen Zuwanderung noch ausreichend Schlupflöcher, um einer Beschäftigung unter Tage zu entgehen.39 Der am 21. März 1947 in Kraft getretene „Accord franco-italien d’immigration“ sollte deshalb – entgegen seiner Bezeichnung als „Einwanderungsabkommen“ – die Stoßrichtung dieses Anwerbeabkommens verstärken und zugleich dessen negative Begleiterscheinungen verhindern: Ein gesondert verhandelter Teil stellte klar, dass Frankreich nach wie vor ausschließlich Arbeitskräfte für seine Kohlebergwerke zu rekrutieren beabsichtigte. Damit in Zusammenhang steht auch der Versuch, das Anwerbemonopol des Office National d’Immigration (ONI) zu stärken und die illegale Arbeitsmigration nach Frankreich zu unterbinden.40 Während französische Regierungen seit 1945 also gezielt Arbeitskräfte für die französischen Kohlereviere anzuwerben beabsichtigten, waren die italienischen Interessen einer möglichst unbegrenzten Migration von Beginn an weit über dieses Ansinnen hinausgegangen. Als beispielhaft für die italienischen Maximalforderungen mag der Plan einer bis Mitte der 1950er Jahre zu verwirklichenden Wirtschaftsunion41 zwischen Frankreich und Italien mit freiem Personen-, Waren- und Kapitalverkehr dienen, der als erster Etappe eine bis 1950 zu gründende französischitalienische Zollunion vorausgehen sollte.42 Im Zusammenhang mit der Zollunion wurde zunächst die allgemeine Komplementarität der beiden Volkswirtschaften betont und dabei besonders auf die Komplementarität von französischem Kapital und
37 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/86. Ministère des Affaires Étrangères, Direction Générale des Affaires Administratives. Note a. s. Relations franco-italiennes, 3 décembre 1945, S. 30. 38 Vgl. Bernard Auffray: Les Rapports Franco-Italiens en matière de main-d’œuvre, in: Revue française du travail 12 (1947), S. 248–256, hier 251 und 248f. 39 Vgl. Arrangement relatif au recrutement d’ouvriers italiens comme travailleurs du fond pour les mines françaises, signé à Rome le 22 février 1946, in: Recueil général des Traités de la France. 1re Série: Accords bilatéraux publiés et non publiés au Journal Officiel de la République Française 1945–1949, Paris 1982, Quatrième Volume, S. 41–43, hier 42f. 40 Vgl. Archives diplomatiques, 7QO/51. Projet de communication du Ministre du Travail au Conseil des Ministres au sujet de son voyage à Rome, S. 174–179, hier 177. 41 Vgl. hierzu insgesamt: Pierre Guillen: Le projet d’union économique entre la France, l’Italie et le Benelux, in: Raymond Poidevin (Hg.): Histoire des débuts de la construction européenne (mars 1948–mai 1950). Bruxelles/Milano/Paris/Baden-Baden, S. 143–164. 42 Vgl. CAEF, B-0010780/1. N° 7165. Assemblée Nationale. Session de 1949. Projet de Loi, autorisant le Président de la République à ratifier le traité d’Union douanière entre la France et l’Italie signé à Paris le 26 mars 1949. Vgl. hierzu insgesamt auch: Guillen, Projet d’union économique (wie Anm. 41), S. 145.
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italienischer Arbeitskraft verwiesen.43 Frankreich sollte also schon bald wieder seine traditionelle Rolle als Lieferant von Kapital, Investitionsgütern und Rohstoffen für Italien übernehmen, während Italien seinen Arbeitskräfteüberschuss in die dünn besiedelten Regionen Südfrankreichs oder in industrielle Bereiche hätte exportieren können.44 Maßgeblicher Beweggrund für die geplante französisch-italienische Zollunion war wohl der über den Marshall-Plan transportierte amerikanische Einfluss, dem zu folgen mit entsprechenden finanziellen Mitteln belohnt wurde.45 Inspiriert vom Wunsch nach politischer Rehabilitierung, hoffte Italien nicht zuletzt aber auch auf diesem Weg die Beziehungen zu Frankreich zu vertiefen, um dadurch wiederum die Verhandlungen über Einwanderungsfragen zu erleichtern.46 Auch wenn das gemeinsame Anliegen eines französisch-italienischen wirtschaftlichen Gegengewichts zu Westdeutschland hinzutrat,47 scheiterte der Plan der Zollunion nicht zuletzt am Widerstand der französischen organisierten Interessen,48 die die Gefahren für den französischen Arbeitsmarkt und Wiederaufbau angesichts mindestens zwei Millionen Arbeitsloser in Italien betonten. Indem nämlich die italienischen Verhandlungsführer von Beginn an versuchten, den freien Personenverkehr bereits mit der geplanten Zoll- und nicht erst mit der ferneren Wirtschaftsunion zu verankern, gerieten ihre französischen Partner immer stärker unter innenpolitischen Druck, so dass die Vereinbarung über die Zollunion vom 7. März 1950, die Bestimmungen über die Wanderung von Arbeitskräften enthielt, niemals ratifiziert wurde. „French labor naturally looked with distaste on the prospect of heavy immigration from Italy. The aim of the Italian government, said a representative of the Confédération Générale du Travail, was to end unemployment as an Italian problem and make it Franco-Italian“.49 Ähnliches sollte sich im Rahmen der anschließend geplanten, um die Benelux-Staaten erweiterten Wirtschaftsunion „Fritalux“ bzw. „Finebel“ ereignen. Auch hier beanspruchte die italienische Verhandlungsdelegation den freien Personenverkehr, was der französische Arbeitsminister aus Angst
43 Vgl. Francesca Fauri: Italy in International Economic Cooperation. The Franco-Italian Customs Union and the Fritalux-Finibel Negotiations, in: Journal of European Integration History, 1 (1995), Heft 2, S. 27–45, hier 29. 44 Vgl. Fauri, Italy in International Economic Cooperation (wie Anm. 43), S. 37. 45 Vgl. Fauri, Italy in International Economic Cooperation (wie Anm. 43), S. 28; Guillen, Projet d’union économique (wie Anm. 41), S. 144. Siehe hierzu sehr ausführlich auch: Gérard Bossuat: La France, l’aide américaine et la construction européenne 1944-1954. Hg. vom Ministère de l’économie et des finances. 2 Bde. Paris 1992, Bd. II, S. 708–722. 46 Vgl. Fauri, Italy in International Economic Cooperation (wie Anm. 43), S. 28. 47 Vgl. Guillen, Projet d’union économique (wie Anm. 41), S. 144. 48 Vgl. Fauri, Italy in International Economic Cooperation (wie Anm. 43), S. 38; Guillen, Projet d’union économique (wie Anm. 41), S. 150f. 49 William Diebold: Trade and Payments in Western Europe. A Study in Economic Cooperation 1947–51. New York 1952, S. 370 (Hervorhebung im Original).
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vor importierter Arbeitslosigkeit und dem zu erwartenden Druck auf die Löhne ablehnte.50 Indem die französischen Gewerkschaften die Arbeitskräfterekrutierung ausschließlich nach tatsächlichem, am Arbeitsmarkt ausgerichtetem und durch die Arbeitgeber nach Berufen definiertem Bedarf tolerierten, verhinderten diese eine ungeregelte italienische Massenmigration nach Frankreich51 und bildeten damit – neben den Devisenproblemen – ein starkes Gegengewicht zur vom französischen Außenministerium unterstützten italienischen Arbeitsmigration. Zum Teil konnte die italienische Regierung allerdings auch gar kein Interesse an einer vollständigen Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtung – der Rekrutierung der 20.000 Arbeitskräfte für den französischen Bergbau – haben, weil Frankreich im Gegenzug für die auf einem Spezialkonto aufgelaufenen Heimatüberweisungen nur die im französisch-italienischen Handelsabkommen definierten Waren zu liefern in der Lage war. Vertraglich hatte es Italien für diese Mittel jedoch gerade Lieferungen über die im Handelsabkommen fixierten Waren und Mengen zugesichert.52 Als die Einzahlungen der italienischen Migranten anschließend nicht einmal mehr der Verrechnung im bilateralen Handels- und Zahlungsverkehr dienten, sondern seit dem Accord von 1947 direkt an die in Italien verbliebenen Familien geschickt wurden, sollte Frankreich „extreme Schwierigkeiten“ bekommen, sich Lire zu verschaffen, was der Unzulänglichkeit seiner Exporte (nicht nur) nach Italien im Verhältnis zu den rapide an Umfang zunehmenden Importen aus Italien geschuldet war. Im Ergebnis hätten die Überweisungen der Migranten schon sehr bald nicht mehr ausgeführt werden können.53 Analog zu dem Vorgehen Belgiens, beabsichtigte die französische Regierung nunmehr, Italien als Gegenleistung für Arbeitskräfte unter Tage Kohle zu liefern. Da Italien für seinen Wiederaufbau auf Steinkohle angewiesen war, verbarg sich dahinter die Hoffnung, dass dieses Tauschgeschäft für die italienische Regierung Motivation genug wäre, um die französischen Bergwerke tatsächlich mit den benötigten, verlässlichen Arbeitskräften zu versorgen.54 Die sich immer problematischer gestaltende Devisenlage Frankreichs veranlasste Italien schließlich sogar dazu, pauschal und ohne Zwang 16,6 Mrd. Lire – was ungefähr 26,6 Mio. US-Dollar entsprach – als Entschädigung für
50 Vgl. Pierre Guillen: L’immigration italienne en France après 1945, enjeu dans les relations franco-italiennes, in: Michel Dumoulin (Hg.): Mouvements et politiques migratoires en Europe depuis 1945: Le cas italien. Actes du colloque de Louvain-la-Neuve des 24 et 25 mai 1989. Louvain-la-Neuve 1989, S. 37–51, hier 44. 51 Vgl. Archives diplomatiques, 20QO/309. Direction Générale des Affaires Économiques et Financières. Service de Coopération Économique. Note a. s. Immigration. 17 décembre 1954, S. 256–258, hier 256. 52 CAEF, B-0010782/1. Direction des Conventions Administratives et Sociales: Note pour la Direction des Affaires Économiques & Financières, 19 novembre 1946. 53 Vgl. CAEF, B-0010782/1. Direction générale des Affaires administratives et sociales. Note pour la Direction générale Économique, 5 octobre 1946. 54 Vgl. CAEF, B-0010782/1. Conférence de presse fait par M. le Ministre du Travail le 21 mars à Rome.
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Kriegsschäden mit der Auflage bereitzustellen, diese ausschließlich für die Heimatüberweisungen der Arbeitsmigranten zu nutzen mit dem finalen Ziel, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern im Rahmen der allgemeinen europäischen Zusammenarbeit zu stärken.55 Streng genommen entlohnte Italien also seine in Frankreich arbeitenden Landsleute selbst und sorgte damit auch dafür, dass es weiter Waren nach Frankreich exportieren konnte. Dennoch wuchs das französische Außenhandelsdefizit gegenüber Italien bei fast vollständig in Anspruch genommenen EZU-Ziehungsrechten weiter stark an.56 Als das Konto „lires réparations“ – weil hierauf letztlich doch für Warenimporte aus Italien zurückgegriffen werden musste – bereits Ende 1950 ausgeschöpft war,57 wurden deshalb zunächst die Vorzugswechselkurse für Heimatüberweisungen zugunsten von Bergleuten und Landarbeitern abgeschafft,58 bis die französische Regierung Heimatüberweisungen nach Italien Ende 1954 vollständig einstellen ließ.59 Spätestens jetzt musste die italienische Regierung im Rahmen ihrer Europapolitik nach Alternativen suchen, um überschüssige Arbeitskräfte auswandern lassen und mit deren Heimatüberweisungen die eigene Zahlungsbilanz entlasten zu können.
ARBEITSMÄRKTE, REKONSTRUKTION DER ARBEITSTEILUNG UND EUROPÄISCHE INTEGRATION Tatsächlich mögen einzelne Verantwortliche beispielsweise in der französischen Administration (die „Démographes“ im Gegensatz zu den „Économistes“)60 oder später auch der bundesdeutschen Regierung zunächst an einen Arbeitskräftemangel geglaubt haben. Mit Ausnahme einiger weniger Mangelbereiche aber war die Frage der Migration für die französischen Arbeitgeber in der Zeit zwischen 1945 und 1955 von äußerst untergeordneter Bedeutung.61 Und auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sah noch 1955 – im Jahr der Unterzeichnung des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens – keinen entsprechenden Bedarf hierfür, sie wollte eine Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte sogar erst dann akzeptieren, wenn trotz gesteigerter Rationalisierungen der Arbeitskräftebedarf aus 55 Vgl. CAEF, B-0010783/2. Ministère des Finances, Direction du Budget N° 4870. Direction des Finances Extérieures, 2 mai 1949. Note pour le Ministre. Siehe hierzu auch: CAEF, B0010783/2. Assemblée nationale, Session de 1949. Projet de Loi N° 7434; sowie zum Vorhergehenden insgesamt: Knortz, Gastarbeiter für Europa (wie Anm. 11), S. 104–107; Guillen: L’immigration italienne (wie Anm. 50), S. 37–51. 56 Vgl. CAEF, B-0010783/2. Monsieur de Lavanier, Attaché Financier auprès de l’Ambassade de France à Rome, 01.03.1950. 57 Vgl. CAEF, B-0010769/2. Note, 16 novembre 1950. 58 CAEF, B-0010783/2. Le Ministre des Finances et des Affaires Économiques à Monsieur l’Attaché Financier auprès l’Ambassade de France à Rome, 6 mars 1951. 59 Vgl. Guillen, L’immigration italienne (wie Anm. 50), S. 47. 60 Vgl. Alexis Spire: Étrangers à la carte. L’administration de l’immigration en France (1945– 1975), Paris 2005, S. 138f. 61 Vgl. Catherine Wihtol de Wenden: Les immigrés et la politique. Cent cinquante ans d’évolution. Paris 1988, S. 100.
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
139
den in der Bundesrepublik vorhandenen Arbeitslosen nicht mehr hätte befriedigt werden können.62 Wird die Beurteilung der die Gelder aus dem European Recovery Program verteilenden OEEC zugrunde gelegt, waren die Einschätzungen der Arbeitgeber jedenfalls realistischer als jene der offiziell von den Regierungen vertretenen: Wenn überhaupt, bestand Bedarf an qualifizierten Kräften besonders für den Untertagebergbau, der allerdings nicht durch grenzüberschreitende Arbeitskräftezuwanderung und schon gar nicht durch Arbeitskräfte aus Italien befriedigt werden konnte.63 War also die frühe, sich zunächst in überschaubarer Größe vollziehende Migration italienischer Arbeitskräfte im Großen und Ganzen keine Folge industrieller Nachfrage, so war die Schaffung von Instrumenten zur Initiierung größerer Wanderungsströme integraler Bestandteil der Bemühungen um die Wiederherstellung der Arbeitsteilung in Europa und die daraus folgende europäische Integration. Industrie und Landwirtschaft in den nordwesteuropäischen Ländern wurde damit zunächst auf bilateraler Ebene ein Instrumentarium bereitgestellt, durch das die Arbeitgeber zu gegebener Zeit schnell und unkompliziert auf ein umfangreiches Arbeitsangebot in Italien zurückgreifen konnten. Gerade weil es sich hierbei – technokratisch ausgedrückt – um ein Problem der Angebotsseite handelte, die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften also im hier betrachteten Zeitraum gering war, ließen die italienischen Regierungen in den Jahren 1945 bis 1957 – dem Jahr der Unterzeichnung der Römischen Verträge – aber auch darüber hinaus keine Möglichkeit ungenutzt, das Problem des italienischen Bevölkerungsüberschusses unaufhörlich auch auf internationaler Ebene vorzutragen, der internationalen Gemeinschaft Wege zum Arbeitskräfteausgleich mittels Migration aufzuzeigen und damit – neben bilateralen Verhandlungen – eine multilaterale Lösung zu suchen.64 Unterstützung kam dabei von französischer Seite, die den italienischen Bevölkerungsüberschuss selbst zu Beginn des Jahres 1953 noch als Problem von europäischem Interesse ansah.65 Auch weil Italien im Hinblick auf französische Sicherheitsinteressen gegenüber Deutschland eine wichtige Rolle spielte, konnte die Frage des europäischen Arbeitskräfteausgleichs nicht nur als nationales Anliegen der Aus- und Einwanderungsländer betrachtet werden.66 Der Grund für das französische Engagement mag aber auch darin zu suchen sein, dass die Regierung zu dieser Zeit noch anhaltend von italienischen Wünschen einer verstärkten Migration
62 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, B 149/6228. Schreiben der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände an den Bundesminister für Arbeit vom 1. Juni 1955, Aktenzeichen IV-1613/Moe. 63 Vgl. Steinert, Migration und Politik (wie Anm. 4), S. 207; Die überschüssigen Arbeitskräfte in Westeuropa, in: Europa-Archiv 4 (1949), S. 1911–1916. 64 Vgl. hierzu auch: Steinert, Migration und Politik (wie Anm. 4), S. 86–90. 65 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/222. M. Jacques Fouques Duparc Ambassadeur de France en Italie à Monsieur le Ministre des Affaires Étrangères, Direction d’Europe a. s. La France et l’Italie au début de 1953, S. 16–25, hier 23f. Kursorisch hierzu auch: Guillen, L’immigration italienne en France (wie Anm. 50), S. 46. 66 Vgl. Steinert, Migration und Politik (wie Anm. 4), S. 81.
140
Heike Knortz
nach Frankreich bedrängt wurde, denen allerdings aus den bereits genannten unterschiedlichen Motiven nicht nachgekommen werden konnte. Auch die USA sagten den italienischen Verantwortlichen zu, das Problem auf die europäische, wenn nicht sogar auf die weltpolitische Tagesordnung zu setzen,67 denn für Averell Harriman, den Vertreter der US-Regierung bei der OEEC, schloss der Wiederaufbau Europas und die darauf aufbauende wirtschaftliche Integration die Freizügigkeit der Arbeitskräfte ein.68 Demnach bedurfte die auf intraeuropäischer Arbeitsteilung beruhende europäische wirtschaftliche Integration neben dem freien Waren- und Kapitalverkehr auch der Freizügigkeit für Arbeitnehmer, was bereits in der OEEC-Gründungskonvention vom 16. April 1948 verankert worden war.69 Die Ansicht, dass eine zunehmende Liberalisierung praktisch nicht realisierbar war, wenn der freie Güteraustausch nicht mit dem der Produktionsfaktoren, unter denen wiederum der Faktor Arbeit der wichtigste schien, korrespondiere, wurde offensiv von der italienischen Regierung im – auf italienisches Betreiben70 eingerichteten – Manpower Committe der OEEC vertreten,71 über das die USA immer wieder Druck auf ihre Partner auszuüben vermochten.72 Als ein Hindernis für zunehmende Emigration wurden nämlich bereits 1949 illiberale Restriktionen auf den Arbeitsmärkten der OEEC-Mitgliedsländer identifiziert. Die fehlende Freiheit auf den nationalen Arbeitsmärkten stehe aber der Erhöhung des wirtschaftlichen Wohlstands in Europa entgegen. Deshalb – so die Mahnung – sei es sehr gut möglich, dass künftige Investitions- und Produktionsprogramme, die Europa zu seiner wirtschaftlichen Lebensfähigkeit nötig habe, an eine Zusammenarbeit im Bereich des Arbeitskräfteausgleichs gekoppelt würden.73 Analog zu den Aktivitäten Italiens im Rahmen der OEEC wurden seine Vertreter anschließend auch während der Verhandlungen über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) sowie später während der Gründungsphase der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aktiv. Im Gebiet der Montanunion wurde bekanntlich ein binnenmarktähnlicher Rahmen für Kohle und Stahl geschaffen, was den Abbau von Zöllen und nichttarifären Diskriminierungen brachte. Ebenso sollten Hemmnisse abgebaut werden, die der anvisierten Freizügigkeit der 67 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/257. M. Jacques Fouques Duparc, Ambassadeur de France en Italie à Monsieur le Ministre des Affaires Étrangères – Direction des Affaires Administratives – 5 octobre 1951, S. 106–111, hier 106. 68 Archives diplomatiques, 7QO/127. Organisation Européenne de Coopération Économique. Comité Exécutif. Rapport du Comité de la main-d’œuvre sur le programme d’action pour l’absorption des excédents de main-d’œuvre. Paris, le 6 avril 1950, S. 20–39, hier 22. 69 Vgl. Wortlaut des Abkommens über die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), in: Europa-Archiv, 3 (1948), S. 1345–1348, hier 1345f., Artikel 8. 70 Vgl. Steinert, Migration und Politik (wie Anm. 4), S. 87 71 Archives diplomatiques, 193QO/257. Le Ministre des Affaires Etrangères [italien] à S. Ex. Monsieur Jacques Fouques Duparc, Ambassadeur de France. Rome, 7 janvier 1950, S. 15–22, hier 15f. 72 Vgl. Lehmann, Marshall-Plan (wie Anm. 17), S. 55. 73 Archives diplomatiques, 7QO/127. Organisation Européenne de Coopération Économique. Comité de la main-d’œuvre. Rapport sur l’absorption des excédents de main-d’œuvre. Paris, le 15 décembre 1949, S. 10–19, hier 16.
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
141
Produktionsfaktoren entgegenstanden, darunter also auch der Kohle- und Stahlfacharbeiter. Die italienischen Vertreter hatten sich jedoch bei der Ausgestaltung des entsprechenden Artikels lange für die Verwendung des Begriffs „Arbeiter“ eingesetzt, da die Freizügigkeit von „Facharbeitern“ in einem Land wie Italien mit einem gewaltigen Überschuss an ungelernten Arbeitskräften nicht im gewünschten und notwendigen Maße zur Entspannung der Arbeitsmarktlage beigetragen hätte.74 Von den italienischen Vorstellungen einer allgemeinen Freizügigkeit mit automatischem Bleiberecht im Zielgebiet nach dem Wechsel der Arbeitsstelle blieb auch der OEEC-Ratsbeschluss vom 30. Oktober 1953, der länger als fünf Jahre in einem Mitgliedsstaat beschäftigte ausländische Arbeitnehmer schützte,75 noch weit entfernt. Die volle Freizügigkeit in Europa ist nämlich – nach wichtigen Etappen 1961 und 1964 und ständigem italienischen Insistieren – erst im Jahr 1968 verwirklicht und 1971 durch die sozialversicherungsrechtliche Gleichstellung sowie die gegenseitige Anerkennung von Versicherungszeiten für die Berechnung der Leistungsansprüche ergänzt worden.76 Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hatte zuvor in Artikel 48 ihres Gründungsvertrages die Idee der Freizügigkeit für alle Arbeitnehmer innerhalb der Mitgliedsländer mit einer zehnjährigen Übergangsfrist vorgesehen.77
74 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, B 149/5853. Der Bundesminister für Arbeit IIa 4 – 2072.3 – 725/54 – vom 15. Mai 1954, betr. Besprechung mit den zuständigen Ressorts und den beteiligten Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften über die Freizügigkeit der anerkannten Kohleund Stahlfacharbeiter gemäß Artikel 69 des Vertrages über die Montanunion am 29. April 1954 im BMA. S. 2. 75 Vgl. Ratsbeschluss des Europäischen Wirtschaftsrates (OEEC) zur Regelung der Beschäftigung von Angehörigen der Mitgliedstaaten. Bekanntmachung des BMA und des BMZ vom 27. Februar 1957 (in der Fassung der Änderungen vom 5. März 1954, vom 27. Januar 1956 und vom 7. Dezember 1956), in: Bundesarbeitsblatt. Hg. vom Bundesminister für Arbeit, Nr. 10/1957, S. 363f. 76 Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, B 85 (2. Abgabe) /1031. 412 – 425.25 an das Referat 513 vom 18. April 1973, betr. Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer, hier: Stand der gemeinsamen Politik in der EG. 77 Vgl. Hans von der Groeben / Hans von Boeckh / Jochen Thiesing: Kommentar zum EWGVertrag. Bd. 1: Artikel 1–136. Baden-Baden 21974, S. 411f.; vgl. auch Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: EG-Verträge. Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – Vertrag über die Europäische Union. Herne/Berlin 1992, S. 29–121, hier 51f.; sowie EWG-Verordnung Nr. 1612 vom 15.10.1968, Amtsblatt L 257 vom 19.10.1968 bzw. Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG). Vom 22. Juli 1969, in: BGBl. 1969/I, S. 927–930.
142
Heike Knortz
DAS DEUTSCH-ITALIENISCHE ‚ANWERBEABKOMMEN‘ – EIN AKT EUROPÄISCHER SOLIDARITÄT Gemessen an den anhaltend hohen Arbeitslosenzahlen in Italien sowie an den auf bilateralen Ebenen wie im internationalen Rahmen entfalteten politischen Initiativen hielt sich der Erfolg der italienischen Regierungen, den Arbeitskräfteüberschuss durch massenhafte Emigration zu reduzieren, bis 1953/54 in Grenzen (vgl. Tabelle 3).78 Tabelle 3: Entwicklung der italienischen Emigration (Saldo aus „dauerhafter“ Aus- und Rückwanderung), 1937–1957 Emigration Interkontinental
Immigration Kontinental
Interkontinental
Saldo Kontinental
1937
30.275
29.670
15.161
20.580
1938
27.994
71.848
12.517
24.375
62.950
1939
16.198
56.625
7.326
79.953
−14.456
24.204
1946
7.078
41.901
525
5.309
43.145
1947
55.316
114.756
9.055
23.591
137.426
1948
111.031
51.675
15.323
5.757
183.786
1949
155.058
36.404
16.319
6.448
168.695
1950
140.204
7.495
28.826
7.081
111.792
1951
135.096
13.078
28.567
12.868
106.739
1952
130.188
147.347
20.384
76.516
180.635
1953
110.209
114.462
26.751
76.287
121.633
1954
140.198
110.727
25.330
81.870
143.725
1955
145.614
174.526
28.030
113.867
178.243
1956
135.352
247.725
29.850
172.858
180.369
1957
104.013
288.438
32.542
181.453
178.456
Quelle: International Labour Office: Year Book of Labour Statistics. 12th Issue 1951–52. Geneva 1952. S. 337–1957, S. 508, und 1958, S. 600.
Auch die Handelsbilanz blieb defizitär, belastete dementsprechend fortwährend die Zahlungsbilanz (vgl. Tabelle 4) und entwickelte sich immer wieder, wie in den Jahren 1952 und 1953, zu einem akuten Problem.79
78 Vgl. auch Simone A.W. Goedings: Labor Migration in an Integrating Europe. National Migration Policies and the Free Movement of Workers, 1950–1968. Den Haag 2005, S. 77 und 123. 79 Vgl. Banco di Roma (Hg.): Review of the Economic Conditions in Italy. Ten Years of Italian Economy 1947–1956. Roma 1957, S. 187–189.
B. Laufende Übertragungen Remissen der Emigranten Private Schenkungen Reparationen Gesamt
Debet: Importe Tourismus Frachten Versicherungen Kapitaleinkünfte Öffentliche Dienste Sonstige Transaktionen Gesamt Kredit: Exporte Tourismus Frachten Versicherungen Kapitaleinkünfte Arbeitseinkünfte Öffentliche Dienste Sonstige Transaktionen Gesamt Saldo Waren und Dienste
A. Waren und Dienstleistungen
1947
1948
1949
1950
1951
1952
1953
1954
1955
45 65 — 110
465 2 28,6 — — — — 14 509,6 – 437,9 20,1 32,1 – 8,3 43,9
50,1 47 – 27,6 69,5
55,3 25,7 – 8,4 72,6
44,8 36,9 – 34,0 47,7
44,1 35,8 – 62,9 17
63,8 25,4 – 31,6 57,6
74,4 41,2 – 22,2 93,4
73,8 37,4 – 8,1 103,1
79,7 59,6 – 10,8 128,5
670 1.075,40 4.117,70 1.203,20 1.644,10 1.378,60 1.473,10 1.581,70 1.777,50 6,8 26,3 42,5 83,2 89,2 91,5 147,3 156,4 211,5 37,7 44,9 80,7 106 135,1 186,8 245,9 275,6 320,5 6,4 9,4 8,3 6,9 7,5 6,4 13,2 13,9 16,1 0,3 0,5 0,5 6,7 21,3 17,6 25,6 22,5 25,9 14 34,8 37,4 28,8 28,8 43,2 51,2 44,8 45 11,4 23,4 32,6 24,5 37,3 29,4 38,5 43,4 43,9 11,4 68,3 88,8 88,2 93,7 113,9 145 143,9 150,8 758 1.283,00 1.408,50 1.547,50 2.057,00 1.867,40 2.139,80 2.282,20 2.591,20 – 799,3 – 360,9 – 163,7 – 112,9 – 247,7 – 643,7 – 543,8 – 379,7 – 373,2
759,8 1.326,30 1.436,40 1.415,80 1.363,60 1.919,20 2.125,10 2.212,80 2.217,40 2.439,00 — 0,4 2,4 8,1 16,4 17,3 16,5 16,6 18,3 21,4 174,7 194,6 156,6 178,2 168,2 239,1 243,1 286,8 290 334,5 — 5,9 5,2 4,6 4,3 6,5 7,6 19 19,1 20,3 — 5,2 12,8 15,7 23,4 28,6 30,5 32,2 34,6 43,6 — 14,7 24,2 13,7 21,9 26,9 22,2 40,7 34,4 41,8 13 10,2 6,3 36,1 62,6 67,1 66,1 75,5 48,1 63,8 947,5 1.557,30 1.643,90 1.672,20 1.660,40 2.304,70 2.511,10 2.683,60 2.661,90 2.964,40
1946
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
Tabelle 4: Zahlungsbilanz Italiens (in Mio. US-Dollar), 1946–1955
143
C. Leistungsbilanz (A + B) D. Vermögensübertragungen Offshore Beschaffungen und Verteidigung Schenkungen Gesamt F. Kapitalbilanz Schuldendienst Ausländische Kredite (a) öffentliche (b) private Saldo ausländischer Investitionen in Italien und italienische Investitionen im Ausland Im Ausland verfügbares Kapital Gesamt G. Abweichungen zwischen Handels- und Währungsdaten (1) Nicht mit Zahlungsmitteln finanzierte Handelsbilanz-posten (2) Handelskredite [1946 in Bezug auf Clearing-Abkommen] Gesamt H. Restposten Um Auslandshilfen (D) korrigiertes „Zahlungsbilanzdefizit“ 121 76,8
245,1 365,2 – 10,8 182,7 8,3 – 29,2 55,9 206,9
187,4 – 17,2 170,2 13,1 – 378,3
479,8 553,8 12,4 54,4 42 — – 145,1 – 36,3
— – 17,7 – 17,7 – 171,9 – 381,9
– 298,4
197,8 – 29,6
– 239,8 – 204,8
11,4
54,9 15
– 46,3
312,4 328
15,6
120,1
74
– 291,4
1948
– 755,4
1947
– 327,9
1946
– 386,7
109,1 77,5
21,2
87,9
– 450,6 – 304,7
16,2
140,3 16
– 26,6
296,4 309,2
12,8
– 191,1
1949
– 188,7
– 182,8 – 57,8
– 237,0
54,2
57,5 59,3
29,5
38,2 – 13,7
– 52,2
232,6 246,5
13,9
– 65,2
1950
– 295,6
70,6 4,8
15,5
55,1
– 150,8 – 135,5
33,6
– 13,6 33
– 37,7
277,4 290,8
13,4
– 230,7
1951
– 257,4
192,2 15,8
151,8
40,4
96,2 136,5
22,3
15,3 46,8
– 44,1
199,6 241,6
42
– 586,1
1952
– 248,1
127,3 14,6
106,8
20,5
60 75
18,7
6,1 36,8
– 46,6
124,4 233,5
109,1
– 450,4
1953
– 180,5
– 4,9 – 36,2
20,6
– 25,5
– 48,9 101
54,7
76,6 56,4
– 37,8
63,3 216,7
153,4
– 276,6
1954
– 169,0
– 9,4 – 31,2
– 13,8
4,4
– 112,9 85,1
75,2
81,8 73,5
– 32,5
37,2 200,2
163
– 244,7
1955
144 Heike Knortz
Fortsetzung Tabelle 4: Zahlungsbilanz Italiens (in Mio. US-Dollar), 1946–1955
Quelle: Banco di Roma (Hg.): Review of the Economic Conditions in Italy. Ten Years of Italian Economy 1947-1956. Roma, 1957. S. 187–189.
Dabei hatte die italienische Regierung bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit diplomatische Schritte unternommen, um die europäische wirtschaftliche Integration insbesondere auch über die deutsch-italienischen Beziehungen voranzutreiben. Immerhin hatte das Deutsche Reich vor dem Zweiten Weltkrieg neben den USA zu
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
145
den wichtigsten Handelspartnern Italiens gehört und stellte insofern auch für das Italien der Nachkriegszeit einen nicht zu ersetzenden Beschaffungs- und Absatzmarkt dar. Die politisch Verantwortlichen setzten sich dementsprechend, weil sie darin den Schlüssel zum Wiederaufbau Europas sahen, für eine schnelle Lösung des ‚deutschen Problems‘ ein. Dabei ging es Italien von Beginn an aber auch um die notwendige Neuverteilung des Faktors Arbeit: So war Italien früh an der Herstellung und Instandhaltung von Güterwaggons für die Bizone interessiert und begründete einen entsprechenden Antrag mit einer besonders schwierigen Situation im Land, die auf Arbeitslosigkeit und Armut zurückzuführen sei.80 Allerdings galten auch die Westzonen Deutschlands als überbevölkert, die wirtschaftliche Entwicklung der bald gegründeten Bundesrepublik verlief zunächst instabil und deren Zahlungsbilanz entwickelte sich vor allem unter dem Einfluss der Koreakrise zunächst besorgniserregend.81 Das war ein Grund dafür gewesen, weshalb sich die italienischen Regierungen bei ihren komplexen wirtschaftspolitischen Bemühungen zunächst u.a. auf Frankreich als Zielland für italienische Emigranten sowie als Lieferanten für Devisen, Rohstoffe und Halbwaren konzentriert hatten. Als dann die italienische Arbeitsmigration nach Frankreich infolge dortiger Devisenschwäche fast bis zur Bedeutungslosigkeit zurückging (vgl. Tabelle 5), hatte sich Italien mit seiner Forderung nach allgemeiner Freizügigkeit gegenüber einer sich vergleichsweise reserviert verhaltenden internationalen Gemeinschaft noch nicht durchsetzen können. Allerdings war im Rahmen der Europäischen Zahlungsunion jetzt ohnehin die Bundesrepublik gefordert. Im Zuge des Korea-Kriegs begann die westdeutsche Wirtschaft nämlich zu boomen und generierte so Devisenzuflüsse. Jetzt standen westdeutschen Handelsbilanzüberschüssen umfangreiche Defizite in anderen europäischen Ländern, besonders in Italien, gegenüber. Die durch die Zahlungsunion zwingend notwendigen Anpassungsmaßnahmen ließen diese Zahlungsbilanzungleichgewichte seit 195282 zu einem der Hauptgegenstände der deutsch-italienischen Wirtschaftsverhandlungen werden. Trotzdem entwickelte sich die italienische Handelsbilanz gegenüber der Bundesrepublik bis Anfang 1954 dermaßen defizitär, dass die italienische Seite unter massiven Handlungsdruck geriet und „mit allen Mitteln“ nach einem Ausgleich suchte. In Anbetracht eines temporären Defizits von fast einer Mrd. US-Dollar wurden in den nun stattfindenden
80 Dies alles ergibt sich u.a. aus den Aktenbeständen Direzione Generale Affari Economici, uff. IV° 1948, 276 Vers. A 1° fascicolo, pos. E/21; E/22; E/32; E/35; E/55 sowie uff. IV° 1949, 108b Vers. B, pos. E/99; E/100; E/101; E/102; E/103; E/104 des Archivio Storico del Ministero degli Affari Esteri (ASMAE) in Rom, die Agnieszka Dreeßen bisher im Zusammenhang mit der Arbeit an ihrer Dissertation über „Die italienische Wirtschafts-, Europa- und Migrationspolitik nach 1945“ ausgewertet hat. 81 Vgl. Hentschel, Europäische Zahlungsunion (wie Anm. 21), S. 734–751. 82 Vgl. Francesco Masera: Italy’s Balance of Payments in the Post-War Period, in: Banco di Roma (Hg.): Review of the Economic Conditions in Italy. Ten Years of Italian Economy 1947–1956. Roma 1957, S. 165–202, hier 177 und 196; Yong-Il Lee: Die Ausländerbeschäftigung als ein Bestandteil des deutschen Produktionsregimes für die industrielle Wachstumsgesellschaft 1955–1973. Die offene Arbeitsmarktpolitik der BRD im Vergleich mit der geschlossenen Arbeitsmarktpolitik Japans. Berlin 2011, S. 69.
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deutsch-italienischen Verhandlungen die Fragen des Imports von Obst, Gemüse und Wein aus Italien sowie einer intensiven Steigerung des Reiseverkehrs nach Italien rasch zu untergeordneten Gesprächsgegenständen. Angesichts der zugleich anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Italien schlugen die italienischen Vertreter der deutschen Delegation vielmehr die Entsendung von italienischen Arbeitskräften vor, um mit deren D-Mark-Überweisungen das Defizit abbauen und weiter mit der Bundesrepublik Handel treiben zu können.83 Die einzige Alternative hierzu hätte für Italien in der Rückkehr zu restriktiver, der europäischen wirtschaftlichen Integration entgegenlaufender Handelspolitik bestanden.84 Nicht zuletzt die Bundesrepublik hätte damit weniger Waren exportieren, folglich weniger Wohlstand generieren können. Das sich hierin ausdrückende Argumentationsmuster „Handelsliberalisierung gegen Zuwanderung“ war von italienischer Seite bereits zuvor in einem Memorandum für eine 1950 in Paris stattfindende Expertenkonferenz entwickelt worden.85 Tabelle 5: Italienische Arbeitsmigration nach Frankreich 1946–1955 (in Tausend)
Anzahl
1946
1947
1948
1949
1950
1951
1952
1953
1954
1955
∑
28
51
28
37
6
16
28
11
9
14
228
Quelle: Tapinos, Georges: L’immigration étrangère en France 1946–1973. Gap, 1975, S. 29 und 34.
Im Gegensatz zur italienischen Arbeitsmigration nach Frankreich, die mittels (für die Heimatüberweisungen notwendige) Devisenzuteilungen maßgeblich durch das französische Finanzministerium definiert wurde, konnte in der Bundesrepublik durch den komfortablen Außenhandelsüberschuss das Auswärtige Amt zum bestimmenden Akteur werden. Dieses – zu jener Zeit in Personalunion von Bundeskanzler Konrad Adenauer geführte Haus – vertrat die Auffassung, die Frage der italienischen Arbeitsmigration habe ihre Wurzel „in der allgemeinen Problematik der deutsch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen […] und [sei] für die weitere Gestaltung dieses Verhältnisses von maßgeblicher Bedeutung“.86 Rückendeckung erhielt das Auswärtige Amt dabei aus dem Bundeswirtschaftsministerium, das die 83 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, B149/22333. Niederschrift der U.Abteilung II b mit Geschäftszeichen II b 4 – 2472 –14. April 1954. 84 Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin, B 85 (2. Abgabe) /548. Der Bundesminister für Arbeit, II b 4 - 2472, 25. Juli 1954. Vermerk über die am 2. und 9. Juli 1954 mit dem Handelsattaché der italienischen Botschaft in Bonn, Dr. Morante, stattgefundenen Besprechungen über die Durchführung der deutsch-italienischen Gastarbeitnehmervereinbarung und die Beschäftigung italienischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik Deutschland. 85 Vgl. Archives diplomatiques, 7QO/127. Memorandum italien sur le problème du surplus de main d’œuvre en Italie, S. 71–128 sowie 134–160, hier 71ff. 86 Bundesarchiv Koblenz, B 149/6228. Vermerk des RD Dr. Sicha, Abteilung II, Geschäftszeichen II b 4-2472 - 7. Januar 1955.
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
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italienischen Beschäftigungsprobleme als eng mit Fragen des Zahlungsverkehrs verknüpft sah87 und dessen Lösung als nationale und europäische Pflicht88 betrachtete. Das Bundesarbeitsministerium verhielt sich gegenüber der geplanten Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte zumindest zu dem Zeitpunkt noch ablehnend, zudem in der Bundesrepublik allgemein noch Arbeitslosigkeit herrschte und laufend Flüchtlinge aus der DDR zuwanderten. Dem Bundesminister für Arbeit hatte Wirtschaftsminister Ludwig Erhard deshalb seinen Standpunkt bereits Anfang Oktober 1954 im Zusammenhang mit der Diskussion um die Beschäftigung von Saisonarbeitskräften in der westdeutschen Landwirtschaft unmissverständlich dargelegt: „Die anhaltende defizitäre Entwicklung der italienischen Zahlungsposition innerhalb der Europäischen Zahlungsunion, die weitgehend aus dem deutsch-italienischen Verhältnis herrührt, stellt eine starke Gefährdung der gemeinsamen Bestrebungen nach einer immer engeren europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit dar. […] Echte Möglichkeiten für einen ausschlaggebenden Beitrag zur Bereinigung der italienischen Zahlungssituation sehe ich lediglich noch in der Beschäftigung italienischer Saisonarbeiter“.89 Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen wurde angesichts interministerieller Konflikte erst Ende 1955, dann aber unter erhöhtem außenwirtschaftlichem Druck unterzeichnet. Initiative und laufendes Insistieren gingen dabei von italienischer Seite aus, die anhaltend mit hoher Arbeitslosigkeit kämpfte und schwere innenpolitische Folgen bis hin zu kommunistischen Ausschreitungen befürchtete.90 Und so war die am 20. Dezember 1955 in Rom gegen unterschiedliche innenpolitische Widerstände unterzeichnete Regierungsvereinbarung „über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland“ – so die offizielle Bezeichnung – entgegen amtlicher Verlautbarungen in erster Linie europäischer Solidarität geschuldet. Zur europäischen Komponente dieser Vereinbarung zählte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zudem einen weiteren Devisentransfer: „Das Neue in dem Abkommen liegt aber vor allem in der Bestimmung über das Kindergeld. […] Für die kinderreichen italienischen Familien ist es von großer Bedeutung. Man kann es verstehen, daß von italienischer Seite besonderer Wert darauf gelegt wurde“.91
87 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, B 149/6228. Vermerk Abteilung I, Geschäftszeichen Ia 82359/54II, 19. Januar 1955. 88 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin, B 62/54. Anlage 3 zur Aufzeichnung über die Besprechung mit dem italienischen Haushaltsminister Vanoni vom 15. Dezember 1954: Aufzeichnung über die Besprechung im Bundesministerium für Arbeit mit Vertretern der italienischen Delegation am 14. Dezember 1954. 89 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin, B 62/54. V C 4 a-38 072/54, 8. Oktober 1954, Abschrift eines Schreibens Ludwig Erhards an den Bundesminister für Arbeit, Herrn Anton Storch. 90 Vgl. hierzu ausführlich Knortz, Diplomatische Tauschgeschäfte (wie Anm. 6), S. 67–83. 91 Bundesarchiv Koblenz, B 149/6228. Arbeiter aus Italien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.12.1955.
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Mit dem Hinweis auf die Kindergeldzahlungen informierte die FAZ ihre Leser über ein zum Zeitpunkt der Unterzeichnung noch nicht schriftlich fixiertes Zugeständnis, das von deutscher Seite im Hinblick auf die passive italienische Zahlungsbilanz tatsächlich als „eine ganz konkrete Form der europäischen Solidarität“ interpretiert werden konnte. Vor allem aber traf der Artikel den eigentlichen Kern, indem er die europäische Komponente der Vereinbarung hervorhob, da die Entsendung italienischer Arbeitskräfte nach Deutschland die angestrebte europäische Integration vorantreiben würde.92 Oder retrospektiv ausgedrückt: „Die Arbeitsmigration war von Anfang an ein europäisches Projekt. Bereits das erste Anwerbeabkommen mit Italien von 1955 berief sich auf den Geist europäischer Solidarität“.93 Tatsächlich ist die deutsch-italienische Vereinbarung eine unmittelbare Folge der europäischen wirtschaftlichen Integration, die von westdeutscher Seite weniger einem durchdachten außenpolitischen Kalkül als dem realwirtschaftlichen Marktgeschehen sowie den Mechanismen der bis dato bereits geschaffenen Institutionen, konkret und besonders der EZU, zu danken ist. Die Beschäftigung italienischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik konnte sich selbstredend nur entsprechend der westdeutschen wirtschaftlichen Entwicklung, das heißt von rund 6.500 im Jahr 1954 auf knapp 410.000 Personen 1973, dynamisch entwickeln (siehe Tabelle 6). Tabelle 6: Beschäftigung italienischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland, 1954– 1973 Jahr*) Anzahl Jahr*) Anzahl 1954 6.500 1964 296.900 1955 7.500 1965 372.300 1956 18.600 1966 391.300 1957 19.100 1967 266.800 1958 31.500 1968 304.000 1959 48.800 1969 349.000 1960 121.700 1970 381.800 1961 224.600 1971 408.000 1962 276.800 1972 426.400 1963 287.000 1973 409.700 Anm.: *) Stichtag 1954–1960 jeweils 31.07., 1961–1972 jeweils 30.09., 1973: 30.01. Quelle: BA Koblenz, B 139/8846. Referat IV/3 (ORR Schreiber) an den Bundeskanzler vom 19. Februar 1973, betr. Besprechung mit den Regierungschefs der Länder am 23. Februar 1973. Anlage „In der Bundesrepublik Deutschland beschäftigte ausländische Arbeitnehmer“.
92 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, B 149/6228. Arbeiter aus Italien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.12.1955; ebd., Abteilung II, Geschäftszeichen IIb 4-2472 - 18. März 1955, Bericht über die deutsch-italienischen Besprechungen für die Vorbereitung einer Vereinbarung über die Vermittlung von Arbeitskräften. Hier: dem Bericht anliegendes Protokoll. 93 Deniz Göktürk / David Gramling / Antons Kaes / Andreas Langenohl (Hg.): Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration. Eine Dokumentation. Konstanz 2011, S. 25.
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
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Verständlicherweise waren auch die akuten Handels- und Zahlungsbilanzprobleme Italiens mit der Unterzeichnung der deutsch-italienischen Regierungsvereinbarung nicht sofort gelöst. Dennoch vermochten die Heimatüberweisungen der italienischen Migranten hier aller unsteten Entwicklung zum Trotz Entlastung zu schaffen, was sich in einem zurückgehenden Außenhandelssaldo Italiens gegenüber Westdeutschland bei sich zwischen 1955 und 1973 verzehnfachten Importen aus der Bundesrepublik zeigt (vgl. Schaubild 1). Ohne die boomende westdeutsche Wirtschaft hätten also die Ziele Italiens, und nun besonders die Ziele des Vanoni-Plans, was Auswanderung und Heimatüberweisungen betrifft, damit das Ziel der europäischen wirtschaftlichen Integration nicht annähernd erreicht werden können. Außenhandelssaldo
Importe aus BRD
2500
16000
2000
14000
1500
12000
1000 10000 500 8000 0 6000 -500
Außenhandels saldo Importe BRD
4000
-1000
2000
-2000
0 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973
-1500
Jahr
Schaubild 1: Entwicklung des italienischen Außenhandelssaldos mit sowie der Importe aus der Bundesrepublik Deutschland, 1948–1973 (in Mio. DM); Quelle: Nach Daten von Brian R. Mitchell: European Historical Statistics 1750–1975. 2nd revised edition. New York / London / Basingstoke 1980, S. 560 f.
Ihre vorläufige Vollendung fand die europäische Solidarität tatsächlich nämlich im Zusammenhang mit dem nach dem italienischen Haushaltsminister Ezio Vanoni benannten Zehnjahresplan für die Zeit von 1955 bis 1964. Von Beginn an versuchte die italienische Regierung hiermit, ihre komplexen strukturellen Wirtschaftsprobleme multilateral zu lösen und dafür den Vanoni-Plan als internationales Projekt
150
Heike Knortz
zu verankern. Denn die mit dem Vanoni-Plan verfolgten Ziele sollten auch die europäische Zusammenarbeit, damit die wirtschaftliche Entwicklung in Europa forcieren und in der Folge wiederum die italienische Wirtschaft stabilisieren helfen.94 Im Kern war der Plan eine Zusammenfassung aller Wirtschaftsprojekte der italienischen Regierung mit dem Ziel, die Konkurrenzfähigkeit der italienischen Ausfuhrwirtschaft auf den internationalen Märkten zu festigen und gleichzeitig das Arbeitslosenproblem systematisch in Angriff zu nehmen.95 Mittels umfangreicher Investitionsprogramme für Landwirtschaft, öffentliche Dienste und Arbeiten sowie besonders zu stimulierende Bereiche, begleitet von einer Politik des Ausgleichs zwischen Nord und Süd, einer Exportoffensive und Verbesserung des Bildungswesens sowie der beruflichen Ausbildung, wollte Vanoni die Binnennachfrage stärken sowie Zahlungsbilanz und Beschäftigung verbessern. Konkret sollten das Volkseinkommen in den Jahren bis 1964 um etwa fünf Prozent jährlich wachsen und vier Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Dazu waren ausländische Hilfe und die massive Kapitalzufuhr aus dem Ausland unabdingbar.96 Zugleich würde Italien weiterhin stark auf die Emigration angewiesen bleiben. Um die Arbeitslosigkeit um vier Millionen Personen zu reduzieren, sah der Vanoni-Plan die Auswanderung von 800.000, also von jährlich etwa 80.000 Arbeitskräften zwischen 1955 und 1964 vor. Deren Heimatüberweisungen wurden wiederum zur Entlastung der Zahlungsbilanz einkalkuliert.97 Während sich die Heimatüberweisungen der Migranten 1954 auf 85 Mrd. Lire oder knapp 136 Mio. US-Dollar beliefen, sollten diese in zehn Jahren so um 47 Prozent auf geplante 125 Mrd. Lire oder 200 Mio. US-Dollar im Jahr 1964 gesteigert werden.98 Noch vor seiner Veröffentlichung in Italien im Januar 1955 war der Plan während einer Reise Vanonis in Washington und anschließend der OEEC, knapp sechs
94 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/254. Étude sur le développement du revenu national et de l’emploi au cours de la période 1955–1964, S. 250/3. 95 Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, B 62/54. V C 2 B, vom 8. Dezember 1954, betr. Besprechung mit dem italienischen Haushaltsminister Prof. Dr. Ezio Vanoni am 13. und 14. Dezember in Bonn. Ausführlich zum Vanoni-Plan siehe: Orlando d’Alauro: Aktuelle Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung in Italien, in: Europa-Archiv 10 (1955), S. 7439– 7448; sowie: Horst Männel: Der Vanoni-Plan. Ein Aktionsprogramm für die Arbeitsbeschaffung und wirtschaftliche Expansion Italiens für den Zeitraum 1955–1964, in: Europa-Archiv 10 (1955), S. 7553–7558. 96 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/254. Étude sur le développement du revenu national et de l’emploi au cours de la période 1955–1964, S. 250/119. 97 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/225. Centre d’étude de politique étrangère, Paris, Comité d’étude des problèmes franco-italienne. Document de travail. Le Plan Vanoni, S. 532–616, hier 538. Vgl. auch S. 322 und 340 des die Hauptlinien des Vanoni-Planes skizzierenden Artikels: Ezio Vanoni: Development of Employment and Income in Italy, in: Review of Economic Conditions in Italy 4 (1955), S. 315–343. 98 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/254. Étude sur le développement du revenu national et de l’emploi au cours de la période 1955–1964, S. 250/79.
Zahlungsbilanzungleichgewichte und wirtschaftliche Rekonstruktion
151
Wochen zuvor auch in Bonn vorgestellt worden.99 Die OEEC „has indirectly cooperated with Italy’s economic plans (especially with the Vanoni Plan) and has considered her needs in all its Payments Schemes, particularly in the E[uropean] P[ayments] U[nion]”.100 Indem schließlich Elemente des Vanoni-Plans als „Protokoll betreffend Italien“ in die Römischen Verträge eingingen, ist das italienische Arbeitsmarktproblem letztlich dann doch noch „vergemeinschaftet“ worden: Die Vertragsparteien verpflichteten sich mit diesem Protokoll nämlich ausdrücklich, „gefährliche Spannungen, namentlich in der Zahlungsbilanz oder im Beschäftigungsstand, durch welche die Anwendung dieses Vertrags in Italien in Frage gestellt werden könnte, zu vermeiden“.101
FAZIT Werden die Interessen sämtlicher italienischer Regierungen zwischen 1945 und 1958, die staatspolitische Raison Italiens als wichtigstes europäisches Herkunftsland von Arbeitsmigranten, in den Fokus einer aktengestützten Analyse genommen, ergibt sich ein völlig anderes als das bisher von der historischen Migrationsforschung über die „Gastarbeiter“-Ära skizzierte Bild. Auf dem Fundament der Außenwirtschaftstheorie kann nämlich resümierend festgehalten werden, dass sich die frühe intraeuropäische Arbeitsmigration, die bereits 1945 einsetzte und zu dieser Zeit im Wesentlichen aus italienischen Arbeitern bestand, bald im europapolitischen Kontext entwickelte. Ursächlich hierfür waren makroökonomische Ungleichgewichte, die die westeuropäischen und US-amerikanischen Akteure im Zuge der Rekonstruktion der europäischen Arbeitsteilung durch Arbeitsmigration und die sich daraus ergebenden Heimatüberweisungen zu beseitigen suchten. Grundlage für den Erfolg dieses ‚europäischen Projekts‘ war die robuste wirtschaftliche Entwicklung in Westdeutschland bis 1973. So wie bisher allerdings versäumt wurde, stärker auf die Motive der Herkunftsländer zu rekurrieren, vermeidet es die historische Migrationsforschung anhaltend, die ökonomischen Folgen der Arbeitsmigration für die Zielländer differenzierter zu betrachten. Ohne Aufwand nämlich auch hier kein Ertrag, d.h. dass für die solchermaßen durchgesetzte europäische wirtschaftliche Integration von den Zielländern natürlich auch ein Preis zu entrichten war. Für die Fehlallokationen innerhalb der bundesdeutschen Volkswirtschaft spielte dabei eine Rolle, dass sich in der Folge
99 Vgl. Archives diplomatiques, 193QO/254. M. Jacques Fouques Duparc, Ambassadeur de France en Italie, à Son Excellence Monsieur le Ministre des Affaires Étrangères, Direction des Affaires Économiques. a. s. Plan Vanoni – Exposé et critique. Rome, le 28 janvier 1955, S. 255–268, hier 255; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, B 62/54. V C 2 B, vom 8. Dezember 1954, betr. Besprechung mit dem italienischen Haushaltsminister Prof. Dr. Ezio Vanoni am 13. und 14. Dezember in Bonn. 100 Holbik, Italy in International Cooperation (wie Anm. 16), S. XIII f. 101 Vgl. Europa-Recht. Textausgabe mit ausführlichem Sachverzeichnis und einer Einführung von Ernst Steindorff. München4 1979, S. 101.
152
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weitere Länder – umgehend etwa Griechenland – bei ihrem Bestreben, Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik abzuschließen, auf ihre bestehenden Zahlungsbilanzdefizite beriefen. Der zunächst aus europa-, anschließend aus den vielfältigsten außenpolitischen Gründen unkontrolliert geöffnete Arbeitsmarkt führte dann infolge geringerer Reallohnsteigerungen zu Fehlallokationen. Indem nämlich die bundesdeutsche außenpolitische Raison ohne Berücksichtigung arbeitsmarktpolitischer Aspekte Anwerbeabkommen hervorbrachte, ließen diese die Kosten für Arbeitskräfte suchende Betriebe spätestens mit dem vollbeschäftigten Arbeitsmarkt dramatisch sinken. Damit forcierte der westdeutsche Staat die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zumindest bis 1973 in einer Größenordnung und Struktur, die einer Entscheidung gegen stärker technikinduziertes Wachstum gleichkam. Insofern ist für die außenpolitische Konsolidierung der Bundesrepublik auf höhere Wohlfahrtsgewinne pro Kopf verzichtet worden. Mittel- bis langfristig dürfte sich die Arbeitsmigration noch ungünstiger ausgewirkt haben. Überspitzt formuliert subventionierte das Auswärtige Amt mit der Möglichkeit der Anwerbung fast ausschließlich Ungelernter nämlich nicht mehr wettbewerbsfähige Branchen. Damit konservierten bundesdeutsche außenpolitische Interessen industrielle Strukturen, die spätestens seit der schweren Weltwirtschaftskrise von 1974/75 obsolet geworden waren und in struktureller Arbeitslosigkeit, vor allem auch der Migranten mündete.102
102 Vgl. hierzu das gesamte Kapitel „Primat der Außenpolitik – Entscheidung gegen technikinduziertes Wachstum?“ bei Knortz, Diplomatische Tauschgeschäfte (wie Anm. 6), S. 183–222.
EUROPA ALS ROLLFELD FÜR MULTIS?1 ZUM VERHÄLTNIS VON EUROPÄISCHER INTEGRATION UND MULTINATIONALER UNTERNEHMENSKOOPERATION AM BEISPIEL WESTEUROPÄISCHER CHEMIEUNTERNEHMEN (1958–1995) Christian Marx, Trier
EUROPE AS A TAXIWAY FOR MULTINATIONALS? ON THE RELATIONSHIP BETWEEN EUROPEAN INTEGRATION AND MULTINATIONAL COOPERATION – THE CASE OF THE CHEMICAL INDUSTRY (1958–1995) ABSTRACT: The foundation of the European Economic Community (EEC) in 1958 furthered the internationalization of European companies. While customs barriers and trade barriers are basically seen as motives for multinationalization, lower transaction costs and easier coordination within the EEC facilitated the coordination of European production sites. Multinational companies and European integration were henceforth permanently interconnected. Cross-border cooperation among companies was an expression of political and economic integration and, vice versa, it shaped the economic structures of the common market. Drawing on the empirical example of European chemical companies (AKU/Glanzstoff, Bayer/Rhône-Poulenc, Hoechst/Roussel Uclaf), this article combines European integration theory with approaches to multinational companies in order to explain the relationship between European integration and cross-border forms of business cooperation from the 1960s to the 1990s. It explores the objectives of the political decision-makers in the European integration process with regard to multinational companies, the influence of the EEC on multinationalization, and the decisions of chemical companies in the context of European integration. Keywords: Chemical Industry, European Integration, Multinational Companies Obschon die europäische Chemieindustrie traditionell international ausgerichtet war, wirkten die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958 und der Beschluss zur Realisierung eines gemeinsamen Marktes wie eine
1
Vgl. den ähnlich lautenden Titel von Wolfgang Kartte (Präsident des Bundeskartellamts): „Ein Rollfeld für Multis?“, in: Der Spiegel 23/1989, 05.06.1989, S. 142–143.
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Christian Marx
Initialzündung auf die Internationalisierung ihrer Unternehmen. Viele europäische Firmen fusionierten daraufhin in aufeinanderfolgenden Stufen mit ihren nationalen und europäischen Wettbewerbern, gründeten multinationale Joint Ventures oder vereinbarten länderübergreifende Forschungskooperationen, um auf dem wesentlich größeren europäischen Markt konkurrenzfähig zu bleiben oder möglichst schnell auf diesen vorzustoßen, und auch für viele US-Unternehmen gewann der gemeinsame europäische Markt in den 1960er Jahren an Anziehungskraft. Multinationale Unternehmen und europäische Integration standen fortan in einem dauerhaften Wechselverhältnis, denn länderübergreifende Formen der Unternehmenskooperation waren nicht alleine Ausdruck integrativer Anstrengungen auf politischer Ebene, vielmehr veränderten grenzübergreifende Kooperationen und multinationale Unternehmen über ihr Marktverhalten wiederum die bereits geschaffenen Strukturen des gemeinsamen Marktes und bildeten somit einen zentralen Bestandteil ökonomischer Integration.2 Bereits die Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (Organisation for European Economic Cooperation, OEEC) im Jahr 1948 zur Durchführung des Marshallplans hatte verdeutlicht, dass eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten für den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg unumgänglich war. Die USA drängten auf eine verstärkte europäische Kooperation und hatten dabei nicht nur die europäischen Ökonomien, sondern auch das sowjetische Expansionsstreben und ihre eigenen ökonomischen Interessen im Blick.3 Obschon die Schwerpunkte des Brüsseler Pakts (1948) und des Europarats (1949) noch auf militärischem und politischem Gebiet lagen, vereinbarten die Mitgliedsstaaten hier zugleich, ihr wirtschaftspolitisches Vorgehen stärker zu koordinieren. Wirtschaftliche und politische Integration waren somit bereits früh miteinander verkoppelt. Nicht zuletzt das Scheitern einer politischen Integration in der ersten Hälfte der 1950er Jahre bewirkte eine stärkere Verlagerung des Integrationsprozesses auf ökonomische Aspekte. Dabei gab es durchaus unterschiedliche Auffassungen, wie diese Integration auf wirtschaftlichem Gebiet zu realisieren sei. Frankreich plädierte für
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Robert Fitzgerald: The Rise of the Global Company. Multinationals and the Making of the Modern World. Cambridge 2015, S. 258–414; Christian Marx: Der Aufstieg multinationaler Konzerne. Umstrukturierungen und Standortkonkurrenz in der westeuropäischen Chemieindustrie, in: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen 2016, S. 197–216. Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart. Bonn 2011, S. 129–140, 231-256; Gabriele Clemens / Alexander Reinfeldt / Gerhard Wille: Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch. Paderborn 2008, S. 72–82, 260–274; Werner Bührer: Erzwungene oder freiwillige Liberalisierung? Die USA, die OEEC und die westdeutsche Außenhandelspolitik 1949-1952, in: Ludolf Herbst / Werner Bührer / Hanno Sowade (Hg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt. München 1990, S. 139–162.
Europa als Rollfeld für Multis?
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eine Vergemeinschaftung weiterer Wirtschaftssektoren, wohingegen die Niederlande eine umfassende Integration zu einem gemeinsamen Markt favorisierten.4 Während die Erforschung der Europa-Idee sowie Arbeiten aus diplomatieund kulturgeschichtlicher Perspektive zu den traditionellen geschichtswissenschaftlichen Forschungsgebieten über die europäische Integration zählen, blieben genuin industrie- und unternehmenshistorische Forschungen für die Zeit nach 1945 lange ein Desiderat. Untersuchungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik5, zu europäischen Infrastrukturen6 oder zur Bedeutung von Verbänden auf die Verkehrspolitik7 heben sich davon ab, decken aber bei weitem nicht das gesamte Spektrum des ökonomischen Integrationsprozesses ab.8 Im Unterschied zur älteren sozialwissenschaftlichen Literatur, die multinationale Unternehmen stärker in den Blick nahm, als deren Verbreitung in Westeuropa ab den 1960er Jahren deutlich zunahm, wurde das Thema von der historischen Forschung bisher weitgehend vernachlässigt.9 Der von John Dunning und Peter Robson herausgegebene Band „Multinationals and the European Community“ widmet sich zwar explizit diesem Gegenstand, bleibt aber in weiten Teilen auf der Makroebene von Handels- und Investitionsbeziehungen zwischen den europäischen Staaten verhaftet und bezieht
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Clemens/Reinfeldt/Wille: Integration (wie Anm. 3), S. 84–93, 260–274. Mark Spoerer: „Fortress Europe“ in Long-term Perspective: Agricultural Protection in the European Union, 1956–2003, in: Journal of European Integration History 16 (2) (2010), S. 143–155; Mark Spoerer: Agricultural Protection and Support in the European Economic Community, 1962–92: Rent-seeking or Welfare Policy?, in: European Review of Economic History 19 (2) (2015), S. 195–214; Guido Thiemeyer: Vom „Pool Vert“ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Europäische Integration, Kalter Krieg und die Anfänge der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik 1950–1957 (Studien zur Internationalen Geschichte 6). München 1999. Gerold Ambrosius / Christian Henrich-Franke: Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich. Band 1: Synopse. Baden-Baden 2013. Volker Ebert: Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel. Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957–1972) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 212). Stuttgart 2010. Vgl. als Überblickdarstellungen: Gerold Ambrosius: Wirtschaftsraum Europa. Vom Ende der Nationalökonomien. Frankfurt am Main 1996; Barry Eichengreen: The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond (The Princeton Economic History of the Western World). Princeton 2007. Heinz-Jürgen Axt: Staat, multinationale Konzerne und politische Union in Westeuropa. Ein Beitrag zur Staatstheorie und Analyse regionaler Integration. Köln 1978; Lawrence George Franko: European Multinational Enterprises in the Integration Process, in: Gerard Curzon / Victoria Curzon (Hg.): The Multinational Enterprise in a Hostile World. Proceedings of a Conference Held in Geneva under the Auspices of the Graduate Institute of International Studies. Basingstoke 1977, S. 58–67.
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die Unternehmensebene nur partiell ein.10 Lediglich für die Automobilindustrie wurde jüngst die Rolle multinationaler Unternehmen auf die Liberalisierung des Handels innerhalb der EWG näher untersucht.11 Der folgende Artikel kann diese Lücke nicht vollständig schließen, möchte hierzu aber zumindest einen Beitrag leisten, indem er unter Rückgriff auf Erklärungsansätze aus der Integrations- und Unternehmensforschung das Wechselverhältnis von europäischer Integration und multinationalen Unternehmen seit Ende der 1950er Jahre untersucht. Konkret wird der Frage nachgegangen, welche Ziele die politischen Entscheidungsträger des europäischen Integrationsprozesses im Hinblick auf multinationale Unternehmen hatten, welchen Einfluss die Gründung der EWG auf die Multinationalisierung europäischer Unternehmen und andere Formen grenzüberschreitender Kooperation – v.a. in den 1960er und 1970er Jahren – hatte und inwiefern die Entscheidung der Unternehmen, ihr europäisches Vertriebs- und Produktionsnetz auszubauen, selbst als inhärenter Teil der europäischen Integration zu verstehen ist.12 Während Zollschranken und Handelshemmnisse grundsätzlich als Motiv für Multinationalisierung angesehen werden, erleichterten die niedrigeren Transaktionskosten und die einfachere Koordination innerhalb der EWG den Aufbau europäischer Produktionsstandorte. Dennoch blieben landesspezifische Unterschiede bestehen und zumindest bis in die 1980er Jahre ließ sich die EWG noch nicht als homogener Markt begreifen. Es stellt sich daher die Frage, warum sich die Unternehmensleitungen vor diesem Hintergrund für eine verstärkte Kooperation mit ausländischen Unternehmen und die Ausweitung der Auslandsproduktion entschieden. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Erwartungen die Unternehmer gegenüber der EWG hatten und wie sie ihre Konzerne darin positio10 John H. Dunning / Peter Robson (Hg.): Multinationals and the European Community. New York 1988. Vgl. auch: Harm G. Schröter: European Integration by the German Model? Unions, Multinational Enterprise and Labour Relations since the 1950s, in: Ulf Olsson (Hg.): Business and European Integration since 1800: Regional, National and International Perspectives (Meddelanden fran Ekonomisk-Historiska Institutionen vid Göteborgs Universitet 71). Göteborg 1997, S. 85–99, sowie die Regionalstudie zu Wales von: Nicholas A. Phelps: Multinationals and European Integration. Trade, Investment and Regional Development (Regional Policy and Development 14). London 1996. 11 Sigfrido Ramírez-Pérez: Multinational Corporations and European Integration: The Case of the Automobile Industry, 1959–1965, in: Journal of European Integration History 22 (2) (2016), S. 329–354. 12 Die Frage, ob die Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Marktes auch zur Etablierung ähnlicher europäischer Unternehmensstrukturen innerhalb multinationaler Unternehmen beigetragen hat, wird im Folgenden nicht erörtert. Vgl. hierzu: Gareth P. Dyas / Heinz T. Thanheiser: The Emerging European Enterprise. Strategy and Structure in French and German Industry. London 1976; Geoffrey Jones / Peter Miskell: European Integration and Corporate Restructuring: The Strategy of Unilever c1957–c1990, in: Economic History Review 58 (1) (2005), S. 113–139; Harm G. Schröter (Hg.): The European Enterprise. Historical Investigation into a Future Species. Heidelberg 2008; Richard Whittington / Michael Mayer: The European Corporation: Strategy, Structure, and Social Science. Oxford 2002.
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nieren wollten, ist ein Zitat aus den Lebenserinnerungen von Karl Winnacker, dem langjährigen Vorstandsvorsitzenden der Hoechst AG (1952–1969), aus dem Jahr 1963 erkenntnisreich: Am 14. Januar 1963 sprach Charles de Gaulle, der große alte Mann Frankreichs, sein unerbitterliches „Non“ zum Eintritt Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. […] Ich befand mich in jenen Tagen gerade in London und fühlte an diesem Platz stärker als an jedem anderen die Tragweite und das Verhängnis einer Entscheidung, die ein Land von der politischen, zivilisatorischen und wirtschaftlichen Bedeutung Großbritanniens von dem so notwendigen europäischen Wirtschaftszusammenschluß fernzuhalten versuchte. Zunächst waren es die Briten, die sich im Vollgefühl insularer Unabhängigkeit nur schwer an den Gedanken gewöhnen konnten, ihre Wirtschaft allzu eng mit jener des Kontinents zu verflechten. […] Doch jetzt, als die Vernunft zu siegen schien und London bereit war, zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet den Weg nach Europa anzutreten, kam das Veto des Generals wie eine eiskalte Dusche. […] Jetzt, im Jahre 1963, war auch klar zu erkennen, daß innerhalb des deutschen Binnenmarktes die weiteren Expansionsmöglichkeiten zumindest begrenzt sein und hier die Bäume nicht in den Himmel wachsen würden. Wir mußten deshalb um so angestrengter nach Wegen suchen, die Auslandstätigkeit spürbarer auszuweiten. […] Wir müssen der Konsolidierung Europas Rechnung tragen. Wir müssen zusammenwachsen mit den Ländern Europas, ohne daß wir uns einbilden sollten, daß das Europa von morgen ein internationales Eintopfgericht wird.13
Damit verdeutlichte Winnacker nicht nur seine europapolitische Konzeption, die Großbritannien miteinschloss, er zeichnete damit auch den Problemaufriss für den folgenden Artikel, der nach den Wechselwirkungen zwischen europäischem Integrationsprozess und unternehmerischen Strategien fragt. Obschon man sich 1963 mitten im „Goldenen Zeitalter“14 befand und die westdeutsche Wirtschaft 1962 real noch um mehr als vier Prozent gewachsen war, zweifelte Winnacker bereits, ob der westdeutsche Binnenmarkt noch ausreichend Expansionsmöglichkeiten biete. Für einen Chemiekonzern wie Hoechst mit hohen Entwicklungskosten – sei es im Pharma-, im Chemiefaser- oder im Kunststoffbereich – wurde der westdeutsche Markt schnell zu klein. Winnackers Zitat verdeutlicht außerdem, dass die übrigen westeuropäischen Länder als Absatzregion und Produktionsstandort in der zukünftigen Unternehmensstrategie eine zentrale Rolle einnehmen sollten und Hoechst über die Ausweitung der Auslandstätigkeit nicht nur auf politisch induzierte Marktveränderungen reagierte, sondern auch aus eigenem Antrieb zur europäischen Integration beitrug. Um jene Wechselwirkungen zwischen der verstärkten länderübergreifenden Zusammenarbeit von Unternehmen in Form von Fusionen, Joint Ventures oder Forschungskooperationen und der westeuropäischen Integration methodisch zu erfassen, werden im folgenden Abschnitt zunächst einige Erklärungsansätze zu multinationalen Unternehmen sowie zur ökonomischen Integration nachgezeich13 Karl Winnacker: Nie den Mut verlieren. Erinnerungen an Schicksalsjahre der deutschen Chemie. Düsseldorf 1971, S. 363–366. Die Zitate stammen aus Kapitel X „Der Weg zum multinationalen Unternehmen“. 14 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 10. Auflage. München 2010.
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net. Anschließend werden ausgewählte wirtschaftspolitische Zielsetzungen auf europäischer Ebene behandelt, die die Förderung größerer europäischer Unternehmenseinheiten zum Ziel hatten. Im darauffolgenden Abschnitt wird auf die Handlungsebene der Unternehmen gewechselt und anhand von drei Beispielen der westeuropäischen Chemieindustrie (AKU-Glanzstoff, Bayer-Rhône-Poulenc und Hoechst-Roussel Uclaf) aufgezeigt, wo und in welcher Form sich der europäische Integrationsprozess in konkreten Unternehmenskooperationen niederschlug.
ERKLÄRUNGSANSÄTZE ZU MULTINATIONALEN UNTERNEHMEN UND ZUR ÖKONOMISCHEN INTEGRATION Um das wechselseitige Verhältnis zwischen der Herausbildung und Verbreitung multinationaler Unternehmen in Westeuropa auf der einen Seite und den vielfältigen ökonomischen Formen europäischer Integration auf der anderen Seite erfassen zu können, ist ein Blick auf zwei unterschiedliche Sets von Erklärungsansätzen erforderlich. Beide verfügen inzwischen über eine Vielzahl von Ansätzen und Publikationen – die an dieser Stelle nicht alle en détail behandelt werden können – unterscheiden sich aber in ihrer Handlungsperspektive voneinander. Es handelt sich hierbei zum einen um Theorien zu multinationalen Unternehmen, die höchst unterschiedlichen Fragen in Bezug auf die Gründe für ihre Entstehung, ihren Fortbestand oder ihre innere Organisation nachgehen und dabei das Management als handelnde Akteure mit bestimmten Zielen und Interessen ansehen. Zum anderen sind hier ökonomische Integrationstheorien zu nennen, die stärker auf der Makroebene des Außenhandels argumentierten und dessen Determinanten vor allem politisch ausgehandelt werden. Bei der Fülle der Literatur kann es hierbei in beiden Fällen nur um eine Skizzierung der Erklärungsansätze und die Suche nach Überlappungen und Verbindungslinien gehen.
ERKLÄRUNGSANSÄTZE ZU MULTINATIONALEN UNTERNEHMEN Bei der Frage, wie die Aktivitäten multinationaler Unternehmen zu erklären sind, lassen sich mit Peter Buckley und Niron Hashai zwei grundlegende Theorietraditionen unterscheiden. Während Vertreter der ökonomischen Perspektive (economic school) wie John Dunning oder Marc Casson darlegen, warum multinationale Unternehmen die Internationalisierung der Produktion über Direktinvestitionen vorantreiben, beschäftigt sich die Management-Richtung (managerial school) mit Organisations- und Managementstrukturen multinationaler Unternehmen.15 Hierbei bieten vor allem Ansätze der ökonomischen Sichtweise die Möglichkeit, einen
15 Peter J. Buckley / Niron Hashai: Firm Configuration and Internationalization. A Model, in: International Business Review 14 (2005), S. 655–675.
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Zusammenhang von multinationalen Unternehmen und regionaler Integration herzustellen. Während multinationale Unternehmen lange nur als Organisationen angesehen wurden, die Kapital von einem zu einem anderen Land verschoben, um ihre Einkünfte zu steigern, stellte Stephen Hymer 1960 fest, dass multinationale Unternehmen im Ausland über ganz spezifische Vorteile verfügen. Ausländische Direktinvestitionen bedeuteten demnach nicht nur die grenzübergreifende Verschiebung von Kapital, sondern eben auch oftmals den Transfer anderer Ressourcen wie technologisches oder organisatorisches Wissen oder Managementfähigkeiten. Hymer hob damit vor allem auf Eigentumsvorteile des Unternehmens ab.16 Nahezu zeitgleich nutzten Raymond Vernon und seine Harvard-Kollegen das mikroökonomische Konzept des Produktzyklus, um auf makroökonomischer Ebene die Auslandsaktivitäten von US-amerikanischen Unternehmen nach 1945 zu erklären. Hiernach wurde das Produkt zunächst vor allem für den Heimatmarkt hergestellt, anschließend auch exportiert, und schließlich als Standardprodukt aus Kostenvorteilen im Ausland produziert.17 Peter Buckley und Marc Casson verwiesen in den 1970er Jahren zudem auf die Vorteile infolge der Internalisierung grenzüberschreitender Produktionsstrukturen innerhalb eines Unternehmens.18 Seitdem ist die Literatur hierzu enorm angewachsen. John Dunning führte jene zahlreichen Ansätze in einem eklektischen Paradigma zusammen und machte mehrere Gründe aus, warum Unternehmen im Ausland investieren, wo sie investieren und welche organisatorische Form sie dabei wählen. Neben unternehmensspezifischen Faktoren (ownership advantages) – wie überlegenen technologischen Verfahren, einer leistungsfähigeren Organisation oder Synergieeffekten – und Internalisierungsvorteilen (internalisation advantages) werden hier Standortfaktoren am Zielort (locational advantages) aufgeführt: Hierzu zählen Marktgröße und Kaufkraft, politische Investitionsanreize, niedrigere Löhne, aber auch ein Risikoausgleich durch einen internationalen Standortmix.19 Während einige dieser Argumente für die verstärkte Präsenz von multinationalen US-Konzernen in Westeuropa seit den 1960er Jahren unmittelbar einleuchten, sind sie auf die Multinationalisierung europäischer Unternehmen innerhalb Europas nur teilweise anwendbar. Der Teil der Ursachen, der die Stärke multinationaler Unternehmen bei sich selbst sieht, ist für die Frage nach dem Verhältnis zur europäischen Integration insofern von Relevanz, als dass die Fähigkeiten der Unternehmen und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit von politischer Seite teils erheblich gefördert wurden. 16 Stephen Hymer: The International Operations of National Firms: A Study of Direct Foreign Investment”. Published posthumously. Cambridge 1960 (1976). 17 Raymond Vernon: International Investment and International Trade in the Product Cycle, in: Quarterly Journal of Economics 80 (1966), S. 190–207; Raymond Vernon: Sovereignty at Bay. The Multinational Spread of U.S. Enterprises. New York 1971; Raymond Vernon: Sovereignty at Bay Ten Years after, in: International Organization 35 (3) (1981), S. 517–529. 18 Peter J. Buckley / Mark Casson: The Future of the Multinational Enterprise. London 1976. 19 John H. Dunning / Sarianna M. Lundan: Multinational Enterprises and the Global Economy. 2. Auflage. Cheltenham 2008, besonders S. 79–115.
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Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive fällt auf, dass viele dieser Erklärungsansätze weder eine zeitliche Entwicklung beinhalten noch an die spezifischen Zeitbedingungen – also die politische, kulturelle oder soziale Geschichte – geknüpft werden. In diesem Zusammenhang haben Jan Johanson und Jan-Erik Vahlne einen entscheidenden Beitrag geleistet, indem sie ein Modell entwickelten, das eine verstärkte Auslandstätigkeit als Resultat von Organisationslernen und wachsender Auslandserfahrung voraussagte. Auch wenn jenem Stufenmodell die Gefahr des Determinismus innewohnt, verwiesen sie damit doch auf die wichtige Beobachtung, dass die meisten Unternehmen ihre Auslandstätigkeit im Laufe der Zeit tendenziell ausweiteten – zumindest solange keine neuen Marktrestriktionen oder Handelsbeschränkungen wirksam wurden. Folgt man diesem Stufenmodell, hat der Prozess der europäischen Integration die Abfolge der verschiedenen Stadien beschleunigt oder zumindest unterstützt.20 Auch die geschichtswissenschaftliche Forschung multinationaler Unternehmen lieferte einige wenige Beiträge zu ihrer theoretischen Erklärung. Hier ist für den vorliegenden Zusammenhang vor allem ein von Mira Wilkins entwickeltes Modell hervorzuheben, welches die geographische Ausbreitung multinationaler Unternehmen erklärt. Auch Wilkins betont (1) die Erfahrung, welche Unternehmen bei früheren Auslandstätigkeiten gesammelt haben, als eine von fünf Erklärungsvariablen für die geographische Expansionsrichtung multinationaler Unternehmen. Daneben gibt sie noch vier weitere Faktoren an: (2) Marktchancen, (3) politische Stabilität, (4) Vertrautheit mit dem Land (Sprache/Kultur) sowie (5) geographische Nachbarschaft.21 In anderen Theorien zur Standortwahl von (multinationalen) Unternehmen werden noch eine Vielzahl weiterer Einzelfaktoren benannt22, grundsätzlich erscheinen die von Wilkins aufgeführten, breiter gefassten Punkte aber hilfreich, um die Ausbreitung multinationaler Unternehmen im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses zu erklären.
ÖKONOMISCHE THEORIEN WIRTSCHAFTLICHER INTEGRATION Hier können ebenfalls nur diejenigen Perspektiven beleuchtet werden, die im Zusammenhang mit der Verbreitung multinationaler Unternehmen während des eu-
20 Jan Johanson / Jan-Erik Vahlne: Learning in the Internationalisation Process of Firms. A Model of Knowledge Development and Increasing Foreign Market Commitments, in: International Business Studies 8 (1) (1977), S. 23–32; Jan Johanson / Jan-Erik Vahlne: The Uppsala Internationalization Process Model Revisited: From Liability of Foreignness to Liability of Outsidership, in: Journal of International Business Studies 40 (9) (2009), S. 1411–1431. 21 Mira Wilkins: Host to Transnational Investments – A Comparative Analysis, in: Hans Pohl (Hg.): Transnational Investment from the 19th Century to the Present (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Beihefte 81). Stuttgart 1994, S. 25–69. 22 Thomas Goette: Standortpolitik internationaler Unternehmen. Wiesbaden 1994.
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ropäischen Integrationsprozesses nach 1945 relevant sind.23 Innerhalb der ökonomischen Theorien wirtschaftlicher Integration können zwei größere Themenkomplexe voneinander unterschieden werden, nämlich zum einen die ökonomische Integrationstheorie in Anlehnung an die Außenwirtschaftstheorie sowie zum anderen Überlegungen aus der (marxistischen) politischen Ökonomie. Nicht nur viele Erklärungsansätze zu multinationalen Unternehmen, auch ein großer Teil der ökonomischen Integrationstheorie ist der Außenwirtschaftstheorie entlehnt, so dass hier qua Entstehungshintergrund bereits Anknüpfungspunkte zwischen beiden Theorieblöcken zu erwarten sind. Grundsätzlich unterscheidet die ökonomische Integrationstheorie mehrere Stufen der Integration, die die Europäischen Gemeinschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen durchlaufen haben – mit Ausnahme der Vereinheitlichung der Wirtschaftspolitik. Dabei erfordert jede Stufe der wirtschaftlichen Integration auch immer einen entsprechenden politischen Minimalkonsens, der zu fortschreitender wirtschaftspolitischer Kooperation führt – etwa in Bezug auf die Handels-, Wettbewerbs- oder Zollpolitik. Aus ökonomischer Sicht ist vor allem entscheidend, ob hierdurch eine Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt erreicht werden kann, wohingegen Fragen der Einkommens- oder Besitzverteilung im Hintergrund stehen.24 Tatsächlich waren andere (politische) Ziele – wie Friedenssicherung oder Unterstützung demokratischer Strukturen – in vielen Schritten der europäischen Integration mindestens ebenso maßgebend und nicht zuletzt die politische Stabilität in Europa gilt im Vergleich zu anderen Weltregionen als bedeutsamer Investitionsfaktor weltweit tätiger Unternehmen. Während die klassische Zollunionstheorie der 1950er und 1960er Jahre Wohlfahrtswirkungen für die beteiligten Länder untersuchte, rückten ab Mitte der 1960er Jahre Wohlfahrtseffekte zu Lasten Dritter in den Mittelpunkt. Die Marktmacht einer großen Zollunion wie der EG konnte demnach den Weltmarktpreis der Importgüter drücken und damit das internationale Tauschverhältnis (terms of trade) zu Lasten von Nicht-Mitgliedern verbessern. Vor diesem Hintergrund bot eine Produktion innerhalb der Zollunion Vorteile – besonders für US-Konzerne. In den 1980er Jahren rückte die ökonomische Integrationstheorie von der Annahme vollkommener Konkurrenz zugunsten dynamischer Komponenten ab und entwickelte eine eigene Theorie des gemeinsamen Marktes. Zudem gab die Neue Außenhandelstheorie einige wenig realistische Annahmen der klassischen Außenhandelstheorie auf und verwies darauf, dass die mit der Zollunion verbundene Vergrößerung des Marktes dazu führt, dass größere Produktionseinheiten lohnend sind und diese die Vorteile der Massenproduktion (economies of scale) besser
23 Vgl. zur allgemeinen Einordnung: Hans-Jürgen Bieling / Marika Lerch: Theorien der europäischen Integration: ein Systematisierungsversuch, in: Hans-Jürgen Bieling / Marika Lerch (Hg.): Theorien der europäischen Integration. Wiesbaden 2005, S. 9–37, besonders 12–14. 24 Wim Kösters / Rainer Beckmann / Martin Hebler: Elemente der ökonomischen Integrationstheorie, in: Wilfried Loth / Wolfgang Wessels (Hg.): Theorien europäischer Integration (Grundlagen für Europa 7). Opladen 2001, S. 35–81, hier 37–39.
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ausnutzen können. Ebenso können durch einen größeren Markt Verbundeffekte realisiert werden (economies of scope), wenn in einer Produktionsstätte verschiedene Produktvarianten profitabel hergestellt werden können. Schließlich machte die Neue Außenhandelstheorie darauf aufmerksam, dass – im Falle eines Marktes mit wenigen Anbietern – eine strategische Handelspolitik auf die Umlenkung möglicher Profite von ausländischen Volkswirtschaften auf die inländische Volkswirtschaft angelegt sein kann, indem nationale bzw. europäische Großunternehmen besonders gefördert werden.25 Auch Theoretiker der marxistischen politischen Ökonomie lieferten Erklärungsansätze für den europäischen Integrationsprozess. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete Ernest Mandel, der sich mit spezifischen Tendenzen der politischen Ökonomie des Kapitalismus befasste und die EWG vor dem Hintergrund internationaler Konzentrationsprozesse im Spätkapitalismus verortete. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich das Kapital vor allem in den USA zentralisiert, weshalb US-Unternehmen tendenziell größer als westeuropäische Unternehmen gewesen seien und zudem einen technologischen Vorsprung besessen hätten. Mandel beobachtete seit den 1960er Jahren die verstärkte Tendenz zu nationalen und grenzübergreifenden Unternehmenszusammenschlüssen in Westeuropa – vor allem als Reaktion auf die Konkurrenz durch US-Unternehmen. Zwar überzeugt seine Verkürzung politischer Entscheidungen und Prozesse auf ökonomische Zusammenhänge nicht unbedingt – ebenso wenig seine Argumentation, wonach die zunehmende Verflechtung des Großkapitals die materielle Voraussetzung für den politischen Integrationsprozess gelegt habe –, doch werden der technologische Vorsprung von US-Unternehmen nach 1945 und die zunehmende Konkurrenz in Westeuropa durch US-Konzerne seit den 1960er Jahren auch in der nichtmarxistischen Literatur diskutiert.26 Während sich seine theoretischen Überlegungen somit als wenig hilfreich erweisen, ist Mandel vor allem deshalb zu erwähnen, weil er versuchte, die empirisch richtigen Beobachtungen hinsichtlich der Ausbreitung multinationaler Unternehmen und der zunehmenden US-Konkurrenz auf theoretischer Ebene mit der europäischen Integration zusammenzubringen. Führt man die vorangegangenen Theoriestränge zu multinationalen Unternehmen und zur ökonomischen Integration zusammen, dann lassen sich beide vor allem an drei Stellen miteinander verknüpfen. Erstens ist der Verweis der Neuen Außenhandelstheorie auf die Profitabilität größerer Produktionseinheiten auf dem gemeinsamen Markt durchaus mit Erklärungsansätzen zu multinationalen Unternehmen über unternehmensspezifische Vorteile und Standortvorteile kompatibel. Wenn Unternehmen aus den europäischen Staaten zukünftig auf dem gesamten europäischen Markt ihre Produkte anbieten und im Wettbewerb mit US-
25 Kösters/Beckmann/Hebler: Elemente (wie Anm. 24), hier S. 39–53. 26 Martin Beckmann: Marxistische Politische Ökonomie, in: Hans-Jürgen Bieling / Marika Lerch (Hg.): Theorien der Europäischen Integration. Wiesbaden 2005, S. 117–141, hier 125– 126, 130–134; Ernest Mandel: Die EWG und die Konkurrenz Europa-Amerika. Frankfurt am Main 1970.
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Großkonzernen bestehen wollten, mussten sie in die Märkte der anderen EWGStaaten hineinwachsen und sich tendenziell zu größeren Unternehmenseinheiten zusammenfinden. Zweitens können auch Wilkins Vorschläge in Bezug auf die geographische Ausbreitung multinationaler Unternehmen mit Theorien zur europäischen Integration verbunden werden, denn die geographische Nachbarschaft der sechs EWG-Staaten war gegeben und auch eine gewisse politische Stabilität und Vertrautheit mit den anderen Ländern konnte unterstellt werden. Drittens verweisen beide Theoriestränge auf die Möglichkeiten der gezielten politischen Förderung von Unternehmen. Derartige Hilfeleistungen konnten im Bereich der Forschung stattfinden, sich in Subventionen oder Investitionsanreizen widerspiegeln oder auch auf die Förderung größerer, international wettbewerbsfähiger Unternehmen beziehen. Gleichwohl lassen sich nicht alle Argumente der wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zu multinationalen Unternehmen auf den europäischen Integrationsprozess anwenden. So werden Zollschranken und Handelshemmnisse in der Regel als ein Motiv für die Entstehung multinationaler Unternehmen angesehen. John Dunning und Peter Robson weisen jedoch zu Recht darauf hin, dass europäische Produktionsstandorte innerhalb der EWG einfacher koordiniert werden konnten und trotz des Wegfalls von Zollschranken auf diese Weise Anreize zur Multinationalisierung gesetzt wurden.27
EUROPÄISCHE UNTERNEHMEN ALS ERGEBNIS EUROPÄISCHER INDUSTRIEPOLITIK? Obschon der westeuropäische Integrationsprozess nach 1945 vor allem ökonomische Aspekte zum Gegenstand hatte, beinhalteten weder der EGKS- noch der EWG-Vertrag explizit die Formulierung einer europäischen Industriepolitik. Grundlage der Kommissionstätigkeit war in dieser Hinsicht im Wesentlichen der freie Warenverkehr und die Einhaltung von Wettbewerbsregeln. Auf europäischer Ebene tauchte der Begriff „Industriepolitik“ zum ersten Mal 1967 auf, als Euratom, EKGS und EWG zu den Europäischen Gemeinschaften zusammengeführt wurden, ein für die Industrie zuständiger Kommissar ernannt und eine entsprechende Generaldirektion geschaffen wurde. Der zunächst nur für den Binnenmarkt und dann auch für die Industrie zuständige Kommissar war der Italiener Guido Colonna di Paliano. Auf ihn ging ein 1970 von der Kommission angenommenes Memorandum (Colonna Memorandum) für eine europäische Industriepolitik zurück, welche Unterstützung für bestimmte Industriesektoren, Forschungsmittel für europäische Unternehmen sowie nationale Programme für öf-
27 Hartmut Berghoff: Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung. Paderborn 2004, S. 127–131; John H. Dunning/Peter Robson: Multinational Corporate Integration and Regional Economic Integration, in: John H. Dunning/Peter Robson (Hg.): Multinationals and the European Community. New York 1988, S. 1–23, hier 8–9.
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fentliche Aufträge vorsah. Auf diese Weise sollten Anreize für Unternehmen geschaffen werden, sich auf europäischer Ebene zu größeren Einheiten zusammenzuschließen. Vor dem Hintergrund hoher US-Investitionen in Westeuropa in den 1960er Jahren sollten europäische Unternehmen – vor allem in den zukunftsträchtigen Branchen Atom- und Weltraumindustrie, Fahrzeugbau sowie Elektronikund Pharmaindustrie – eine kritische, international wettbewerbsfähige Größe erreichen. Industrielle Entwicklungsaufträge, die aus Gemeinschaftsressourcen finanziert wurden, sollten die angestrebten multinationalen Zusammenschlüsse fördern. Diese industriepolitische Strategie der Umstrukturierung von nationalen in europäische Unternehmen orientierte sich teilweise an der einzelstaatlichen Industriepolitik nationaler Champions.28 Bereits 1965 hatte die EG-Kommission in einem Memorandum zur Unternehmenskonzentration grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse im Interesse weiterer Integrationsfortschritte als wünschenswert bezeichnet.29 Im Endeffekt gingen keine konkreten Maßnahmen aus dem Colonna Memorandum hervor, auch das von Altiero Spinelli 1973 vorgeschlagene Aktionsprogramm führte zu keinen konkreten Ergebnissen. Diese Initiativen wiesen aber in Richtung einer gemeinsamen europäischen Industriepolitik und zeigen, dass die EG-Kommission die Entstehung europäischer multinationaler Unternehmen befürwortete, auch wenn die Förderung grenzübergreifender Unternehmensstrukturen in den 1970er Jahren zeitweise von Umwelt- und Wachstumsfragen überdeckt wurde.30 Zwar wurden in den 1970er und 1980er Jahren verschiedene industriepolitische Instrumente auf europäischer Ebene etabliert, doch erst im Vertrag von Maastricht wurde explizit ein industriepolitisches Ziel in ein europäisches Regelwerk aufgenommen.31
28 Éric Bussière: Schwierige Anfänge einer Industriepolitik, in: Michel Dumoulin (Hg.): Die Europäische Kommission 1958–1972. Geschichte und Erinnerungen einer Institution. Luxemburg 2007, S. 489–503; Laurent Warlouzet: Towards a European Industrial Policy? The European Economic Community (EEC) Debates, 1957–1975, in: Christian Grabas/Alexander Nützenadel (Hg.): Industrial Policy in Europe after 1945. Wealth, Power and Economic Development in the Cold War. Basingstoke 2014, S. 213–235; Anja Maria Weidemann: Die Bedeutung der Querschnittsklauseln für die Kompetenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Frankfurt am Main 2009, S. 158. 29 Jürgen Poeche: Multinationale Unternehmen in der Diskussion (FIW-Dokumentation 3). Köln u. a. 1977, S. 21. 30 Éric Bussière: Die Erfindung einer Strategie: Binnenmarkt und Industriepolitik, in: Éric Bussière / Vincent Dujardin / Michel Dumoulin / Piers Ludlow / Jan Willem Brouwer / Pierre Tilly (Hg.): Die Europäische Kommission 1973–1986. Geschichte und Erinnerungen einer Institution. Luxemburg 2014, S. 271–285, hier 271–272; Maria Michaelis: Governing European Communications. From Unification to Coordination. Lanham / Plymouth 2007, S. 80– 84. 31 Ulrich Brösse: Industriepolitik (Wolls Lehr- und Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften). München 1996, S. 306–309; Jürgen Simons: Industriepolitik. Theorie, Praxis, politische Kommunikation. Stuttgart 1997, S. 219–239.
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Gleichwohl betrieb die EG im Grunde schon seit ihrer Gründung Industriepolitik. Die Förderung multinationaler Unternehmen durch europäische Institutionen war vornehmlich eine Reaktion auf die wachsende internationale – besonders USamerikanische – Konkurrenz. Die Gründungsväter der EWG betrachteten die europäische Wirtschaftsintegration daher von Anfang an auch als eine Ressource gegen die ‚amerikanische Herausforderung‘.32 Der französische Publizist JeanJacques Servan-Schreiber warnte in seiner 1968 erschienenen und mehrfach übersetzten wirtschaftspolitischen Streitschrift „Le Défi américain“ vor der Eroberung zentraler europäischer Industriestrukturen durch US-Konzerne. Diskussionen über das Für und Wider amerikanischer Direktinvestitionen in Westeuropa waren nicht neu, jedoch hatte deren Bestand seit der Gründung der EWG 1958 tatsächlich stark zugenommen. In einigen Schlüsselbereichen des technisch-industriellen Fortschritts nahmen US-Firmen schon Mitte der 1960er Jahre in Westuropa eine beherrschende Stellung ein.33 Vor diesem Hintergrund erschien eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Westeuropa sinnvoll und es kann daher kaum verwundern, dass die Etablierung von European Champions zu einem zentralen Ziel europäischer Industriepolitik wurde. Im Unterschied zur Regulierung im Kohle- und Stahlsektor über die EGKS oder zu Ideen der französischen Wirtschaftspolitik, im Rahmen der planification nationale Champions über staatliche Interventionen zu etablieren, basierte die Förderung grenzübergreifender Zusammenschlüsse auf europäischer Ebene auf Anreizen und dem Prinzip der Freiwilligkeit. Die Gründung des europäischen Flugzeugbauers Airbus und des elektronischen Datenverarbeitungsunternehmens Unidata stellten in dieser Hinsicht Ausnahmen dar.34 Die Verbreitung multinationaler Unternehmen in Westeuropa kann kaum auf unmittelbare politische Eingriffe zurückgeführt werden, sondern muss über tiefergehende Beobachtungen auf der Unternehmensebene erklärt werden. Umgekehrt wäre es vermessen, die Zunahme grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit monokausal dem europäischen Integrationsprozess zuzuschreiben. Sicherlich konnten die politischen Entscheidungsträger hier Anreize setzen und die Rahmenbedingungen entsprechend gestalten, und auch der große zusammenwachsende europäische Markt besaß eine enorme Anziehungskraft. Doch letztlich mussten die Entscheidungen zum Ausbau des Europageschäfts von den Unternehmensleitungen getroffen werden und hierbei fiel den unternehmensspezifischen Fähigkeiten und den jeweiligen Finanzierungsmöglichkeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. Die Chemieindustrie war schon seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert international ausgerichtet und eignet sich daher in besonderer Weise, um jene Wechselwirkungen zwischen europäischem Integrationsprozess und grenzübergreifender Unternehmenskooperation zu verdeutlichen.
32 Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 3), S. 262. 33 Jean-Jacques Servan-Schreiber: Le Défi Américain. Paris 1968. 34 Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 3), S. 262–266.
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UNTERNEHMENSSTRATEGIEN DER EUROPÄISCHEN CHEMIEINDUSTRIE IM INTEGRATIONSPROZESS Bis Anfang der 1970er Jahre kam es in der europäischen Chemieindustrie zu mehreren großen Übernahmen und Fusionen im Rahmen nationaler Umstrukturierungen. Neben der zweiten Flurbereinigung zwischen den drei großen IG-FarbenNachfolgern BASF, Bayer und Hoechst (1969/70), in deren Folge Bayer seinen Einfluss bei den Chemischen Werken Hüls verstärken und Hoechst sich mehrheitlich an der Cassella Farbwerke Mainkur AG beteiligen konnte, können hier für den deutschen Fall exemplarisch die Übernahme der Glasurit-Werke durch die BASF (1965) oder der Kauf der Süddeutschen Chemiefaser AG (1967/68) und des Lackherstellers Dr. Kurt Herberts & Co. GmbH (1972) durch Hoechst angeführt werden.35 In Frankreich förderte insbesondere der Staat in den 1960er Jahren verschiedene Zusammenschlüsse in der französischen Chemieindustrie, um auf diese Weise wettbewerbsfähige Unternehmen europäischer Größenordnung zu etablieren. Während die beiden französischen Industriekonzerne Pechiney und Saint Gobain ihre Chemieinteressen 1959/60 in der Produits Chimiques PechineySaint-Gobain zusammenlegten, erwarb der Chemiekonzern Rhône-Poulenc 1961 die in der Chemiefaserproduktion tätige Celtex-Gruppe. Im Rahmen einer weiteren umfassenden Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie am Ende der Dekade beteiligte sich Rhône-Poulenc dann 1969 an den beiden Chemieunternehmen Progil und Pechiney-Saint-Gobain und übernahm diese wenig später vollständig. Ferner fusionierten Mitte der 1960er Jahre die Firmen Ugine und Kuhlmann (1964/66), um sich 1971 mit der Compagnie Pechiney S.A. zur Unternehmensgruppe Pechiney Ugine Kuhlmann (PUK) zusammenzuschließen, deren Unternehmensschwerpunkt in der Aluminiumproduktion lag, die aber zugleich etwa ein Viertel ihres Umsatzes mit chemischen Produkten erwirtschaftete.36
35 Werner Abelshauser: Die BASF seit der Neugründung 1952, in: Werner Abelshauser (Hg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. 3. Auflage. München 2007, S. 359–637, hier 457– 478; Ernst Bäumler: Farben, Formeln, Forscher. Hoechst und die Geschichte der industriellen Chemie in Deutschland. München 1989, S. 311–313; Bernhard Lorentz/Paul Erker: Chemie und Politik. Die Geschichte der Chemischen Werke Hüls 1938 bis 1979. Eine Studie zum Problem der Corporate Governance. München 2003, S. 155–290; Klaus-Michael Loibl: USDirektinvestitionen in der EWG. Das Beispiel der Chemieindustrie (Wirtschaftspolitische Studien 22). Göttingen 1971, S. 57–58; Walter Teltschik: Geschichte der deutschen Großchemie. Entwicklung und Einfluß in Staat und Gesellschaft. Weinheim 1992, S. 248– 251. 36 „Frankreich entdeckte die Chemie. Ein junger Industriezweig will durch Konzentration wettbewerbsfähig werden“, in: Die Zeit, 23.04.1965; Fred Aftalion: A History of the International Chemical Industry. Philadelphia 1991, S. 287; Pierre Cayez: Rhône-Poulenc 1895–1975. Contribution à l’étude d’un groupe industriel. Paris 1988, S. 219–232, 269–281; Jean-Pierre Daviet: Une multinationale à la française: histoire de Saint-Gobain 1665–1989. Paris 1989; Jean-Étienne Léger: Une grande entreprise dans la chimie française. Kuhlmann 1825–1982. Paris 1988; Loibl: US-Direktinvestitionen (wie Anm. 35), S. 58–59.
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Grenzübergreifende Fusionen waren bis Ende der 1960er Jahre hingegen eher selten. Der Zusammenschluss der Bayer-Tochtergesellschaft Agfa mit dem belgischen Unternehmen Gevaert Photoproducten N.V. Mortsel 1964 war eines der wenigen frühen Beispiele, für das auf europäischer Ebene noch kein rechtlicher Rahmen existierte und das die neue industriepolitische Ära grenzüberschreitender „Euro-Konzerne“ ankündigte.37 Auch der Zusammenschluss von Dunlop und Pirelli zum größten europäischen Gummi- und Reifenkonzern im Januar 1970 ist hierzu zu zählen.38 Gleichwohl blieb der europäische Integrationsprozess in den 1960er Jahren nicht ohne Folgen für die europäische Chemieindustrie: Zum einen errichteten die europäischen Chemieunternehmen in den 1950er und 1960er Jahren bereits eigene Niederlassungen in anderen EWG-Staaten, zum anderen nahm die Zusammenarbeit in einzelnen Sparten deutlich zu.39 In den folgenden Abschnitten werden drei Beispiele derartiger Kooperationen in der europäischen Chemieindustrie näher untersucht.
AKU-GLANZSTOFF Als sich der Glanzstoff-Vorstand im Februar 1966 für eine Neugestaltung der Zusammenarbeit mit seiner niederländischen Muttergesellschaft AKU aussprach, konnten beide Chemiefaserhersteller auf eine langjährige Kooperation zurückblicken. Die niederländische N.V. Nederlandsche Kunstzijdefabriek (Enka) und die Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG (VGF) hatten bereits 1921 eine Zusammenarbeit vereinbart, die 1929 zu einer Kapitalbeteiligung an der gemeinsamen Dachgesellschaft Algemene Kunstzijde Unie (AKU) ausgebaut worden war. Nachdem die deutschen Aktionäre infolge des Zweiten Weltkriegs enteignet worden waren, verständigten sich die deutsche und die niederländische Unternehmensleitung 1953 auf eine Neuregelung ihrer Beziehungen. Dabei wurde früheren deutschen AKU-Aktionären ein Minderheitenanteil an VGF-Aktien im
37 Silke Fengler: Entwickelt und fixiert: Zur Unternehmens- und Technikgeschichte der deutschen Fotoindustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen (1945–1995) (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 18). Essen 2009. 38 Paul Erker: Vom nationalen zum globalen Wettbewerb. Die deutsche und amerikanische Reifenindustrie im 19. und 20. Jahrhundert. Paderborn 2005, S. 646; Richard K. Shepherd: Dunlop-Pirelli Merger, in: European Community 134 (1970), S. 13–14. 39 Loibl: US-Direktinvestitionen (wie Anm. 35), S. 60–62.
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Umfang von nominal 20 Millionen DM angeboten.40 Der VGF-Leitung blieb eine paritätische Mitwirkung in den Führungsorganen der niederländischen Dachgesellschaft verwehrt, allerdings gelang es ihr, die weitgehend eigenständige Führung des deutschen Unternehmensteils – der VGF – in der Bundesrepublik fortzusetzen.41 Bei Glanzstoff erkannte man früh die ökonomische Bedeutung der Römischen Verträge, diskutierte intern schon vor Inkrafttreten der Verträge die möglichen Implikationen für Einfuhrzölle von Chemiefasern und gründete noch 1958 eine Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Markt“, welche die Auswirkungen des EWGVertrages auf die europäische Chemiefaserindustrie und die Stellung der Chemiefaserunternehmen in den einzelnen Ländern untersuchte.42 Die Arbeitsgruppe sah die Chemiefaserindustrie am „Beginn einer internationalen Zusammenarbeit. […] Die Auswirkungen einer solchen Zusammenarbeit auf die Wettbewerbslage der einzelnen Chemiefaser-Unternehmen im Gemeinsamen Markt werden einschneidender sein als die Auswirkungen des Gemeinsamen Marktes“.43 Nach Ansicht der VGF-Verantwortlichen waren Umstrukturierungen auf Unternehmensebene somit weitaus bedeutsamer als die Herabsetzung der Zölle und die Realisierung eines europäischen Marktes, auch wenn die Reorganisation der Unternehmen teilweise erst durch die Gründung der EWG angestoßen wurde. Mit Ausnahme der zunehmenden US-Konkurrenz rechnete man kaum mit Neugründungen in Westeuropa und ging von einer verstärkten Zusammenarbeit der bisherigen Großunternehmen aus. Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit sah Glanzstoff vor allem durch den Kostenvorsprung der japanischen und den Produktivitätsvorsprung der US-Industrie begründet. Diese Einschätzung bildete den Hintergrund für die Entscheidung, die Chemiefaseraktivitäten von AKU und VGF zukünftig noch enger aneinander zu binden.44
40 Ludwig Vaubel: Glanzstoff, Enka, Aku, Akzo. Unternehmensleitung im nationalen und internationalen Spannungsfeld 1929 bis 1978. Band 1. Wuppertal 1986, S. 7–25, 84–87; Ben Wubs: A Dutch Multinational‘s Miracle in Post-War Germany, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2012/1 (2012), S. 15–41. Im Jahr 1967 änderte VGF ihren Namen in Glanzstoff AG. Glanzstoff und VGF werden daher im Text synonym verwendet. Vgl. Wirtschaftsarchiv der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Universität zu Köln, Geschäftsbericht VGF 1965, Geschäftsbericht Glanzstoff AG 1966, Einladung der VGF zur Ordentlichen Hauptversammlung (05.07.1966). 41 Vaubel: Glanzstoff, Bd. 1 (wie Anm. 40), S. 111–132. 42 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA) 195-K17-0-4 Notiz für Vaubel (30.10.1957). Sowohl die Industrievereinigung Chemiefaser e.V. als auch der Gesamtverband der Textilindustrie (Gesamttextil) informierten VGF in den 1960er Jahren ständig über die Steuer- und Zollverhandlungen auf EWG-Ebene. Vgl. RWWA 195-K17-0-11 Gemeinsamer Markt (1961–1963). 43 RWWA 195-K17-0-3/5 Einige Überlegungen zur künftigen Entwicklung der ChemiefaserIndustrie im Gemeinsamen Markt (21.12.1958). 44 RWWA 195-K17-0-3/5 Notiz für Vits (01.04.1958), Einige Überlegungen zur künftigen Entwicklung der Chemiefaser-Industrie im Gemeinsamen Markt (21.12.1958).
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Unter den Bedingungen des europäischen Nachkriegsbooms trug die 1953 ausgehandelte AKU-Glanzstoff-Konstruktion, doch als die Konjunktur in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre abflaute und der internationale Konkurrenzdruck stieg, war allen Beteiligten klar, dass eine Neujustierung unumgänglich war. Vor allem das Ende des Patentschutzes für Polyesterfasern 1966 erhöhte den Wettbewerbsdruck, da mit ICI, DuPont und Kodak ausländische Chemiekonzerne den westdeutschen Kunstfasermarkt betraten, der in den vorangegangenen zwölf Jahren zwei Produkten, Trevira von Hoechst und Diolen von Glanzstoff, vorbehalten gewesen war. Der VGF-Vorstand forderte deshalb 1966 eine engere Verzahnung der westdeutschen und der niederländischen Betriebsgesellschaften in der Rohstoffversorgung, in der Produktion und im Verkauf. Während die chemischen Großkonzerne auf den Chemiefasermarkt vordrangen, hatte VGF umgekehrt auf den Weg in die Rohstofferzeugung verzichtet und wollte auch zukünftig davon absehen, da Bayer und BASF umfangreiche Anlagen für Vorprodukte der Chemiefaserproduktion errichteten und nach Ansicht des VGF-Managements mit der Herstellung von Chemiefasern größere Profite zu erzielen waren.45 Neben der nachlassenden ökonomischen Dynamik und der steigenden internationalen Konkurrenz wirkte die europäische Integration als dritte entscheidende Komponente auf die Neugestaltung der AKU/VGF-Gruppe Ende der 1960er Jahre. Die Realisierung eines einheitlichen westeuropäischen Marktes stellte die bisherige Abgrenzung der Interessengebiete entlang nationaler Grenzen in Frage. Zudem sahen sich die Unternehmensleitungen gegenüber expandierenden Großkonzernen der Chemieindustrie in der Defensive, wie in einer Stellungnahme der VGFUnternehmensführung festgehalten wurde. Durch den Wegfall der Zölle innerhalb der EWG, den Wegfall anderer Handelshemmnisse […], den Fortfall der Polyesterpatente und zunehmende Unternehmensverflechtungen unserer Abnehmer über nationale Grenzen hinweg tritt eine wachsende Verflechtung der europäischen Märkte ein. […] Das Auftreten von DuPont, ICI und Monsanto in Kontinentaleuropa sowie das Vordringen der großen Chemiegesellschaften wie Bayer, Hoechst, Rhône-Poulenc und Montedison lässt Wettbewerbsformen entstehen, die ein Überdenken der optimalen Unternehmensgrösse für den zukünftigen Wettbewerb erforderlich machen.46
Die Unternehmensleitungen von AKU und Glanzstoff – wie VGF ab 1966 hieß – wollten durch eine enge Zusammenarbeit in der Forschung, ein integriertes Marketingkonzept und die gemeinsame Erschließung neuer Geschäftsfelder vor allem Kosten sparen.47 Aus wettbewerbsrechtlicher Sicht erwartete man keine Probleme, da sich die Aktienmehrheit von Glanzstoff schon zuvor im Besitz der AKU befunden hatte. Die Generaldirektion für Wettbewerb der EWG-Kommission akzeptier45 Abelshauser: Neugründung (wie Anm. 35), hier S. 497–503; Vaubel: Glanzstoff, Bd. 1 (wie Anm. 40), S. 132–133. 46 RWWA 195-A2-32/33 Regelung zwischen AKU N.V. und Glanzstoff AG (23.05.1969); RWWA 195-A2-43 Gedanken zur möglichen Zusammenarbeit zwischen AKU und Glanzstoff (Hornef und Karus) (16.06.1967) [Zitat]. 47 RWWA 195-A2-53 Gedanken zur möglichen Zusammenarbeit zwischen AKU und Glanzstoff (16.06.1967).
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te diese Argumentation und betrachtete den Zusammenschluss als unternehmensinterne Angelegenheit ohne wettbewerbsrechtliche Bedeutung. Auch das Bundeskartellamt stimmte der Fusion zu.48 Im Rahmen der Unternehmensfusion wurde die niederländische AKU in eine reine Holding-Gesellschaft umgewandelt, die niederländischen Produktionsbetriebe wurden der neu gegründeten Enka N.V. unterstellt. Die Glanzstoff AG als deutscher Unternehmensteil blieb mit ihren Tochter- und Untergesellschaften in ihrer rechtlichen Form unverändert. Anschließend wurden die beiden Betriebsgesellschaften Enka und Glanzstoff über eine Personalunion, bei der sich der Vorstand und der Aufsichtsrat jeweils aus denselben Personen zusammensetzte, miteinander verbunden.49 Mit der vollständigen Fusion konnten Doppelstrukturen auf dem westeuropäischen Markt verhindert werden, an der einseitigen Produktausrichtung änderte dies aber wenig. Die Unternehmensleitungen waren sich dieser Problematik durchaus bewusst, nicht zuletzt aufgrund nachlassender Preise für Chemiefasern Ende der 1960er Jahre und der tiefgreifenden Probleme der westeuropäischen Textilindustrie. Während das Glanzstoff-Management eine Rückwärtsintegration in den Bereich der Vorprodukte und Rohstoffe nach wie vor ablehnte, bemühte es sich um eine stückweite Ausweitung der Produktpalette. Der Plan, die AKU/Glanzstoff-Gruppe mit der Chemiesparte des teilweise in niederländischem Staatseigentum befindlichen Chemie- und Rohstoffunternehmens De Nederlandse Staatsmijnen (DSM) zusammenzubringen, scheiterte hingegen Anfang 1969 an politischen Widerständen in den Niederlanden.50 Ebenso hatte man die in den 1960er Jahren aufgekommene Idee, die BASF mit 25 Prozent am Aktienkapital von AKU/Glanzstoff zu beteiligen, wieder verworfen. Nach Ansicht des Glanzstoff-Vorstandsvorsitzenden Ernst Hellmut Vits und des Glanzstoff-Vorstandsmitglieds Ludwig Vaubel konnten Glanzstoff und AKU aber allein kaum fortbestehen.51 Die beiden gescheiterten Kooperationspläne zeigen das Bestreben der AKU/ Glanzstoff-Leitung, die Gruppe in einen größeren Konzernkomplex zu integrieren. Die ebenfalls 1969 in Gang gesetzten Fusionspläne mit dem niederländischen Chemiekonzern Koninklijke Zout-Organon N.V. (KZO) führten denn auch zu einem erfolgreichen Ergebnis. Beide Seiten wollten hierdurch ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und versprachen sich verbesserte Zugangschancen zum Kapitalmarkt sowie eine Streuung des unternehmerischen Risikos. Die AKU-
48 RWWA 195-A2-29 Notiz für den Enka-Glanzstoff-Vorstand (19.01.1970). 49 RWWA 195-A2-29 Notiz über AKU/Glanzstoff-Besprechung (10.01.1969); Vaubel: Glanzstoff, Bd. 1 (wie Anm. 40), S. 155-156. Ab 1972 firmierten sie (jeweils unter deutschem und niederländischem Recht) einheitlich unter dem Namen „Enka Glanzstoff“, ab 1977 unter dem Namen „Enka“. Vgl. Vaubel: Glanzstoff, Bd. 1 (wie Anm. 40); RWWA 195B0-54 Umfirmierung Glanzstoff AG in Enka Glanzstoff AG (1972). 50 RWWA 195-A2-32/33 Protokoll Kommission Madrid (16.09.1968), Protokoll Kommission Madrid (26.11.1968); RWWA 195-A2-40 „BRIZE“ (1968-1969); Vaubel: Glanzstoff, Bd. 1 (wie Anm. 40), S. 167. 51 RWWA 195-A2-43, Notiz von Vits (20.07.1967); Vaubel: Glanzstoff, Bd. 1 (wie Anm. 40), S. 142.
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Holding änderte ihren Namen daraufhin in Akzo N.V. Der Zusammenschluss von AKU und Glanzstoff brachte 1969 den größten Chemiefaserhersteller Westeuropas hervor; mit der Fusion zur Akzo im gleichen Jahr fiel der Chemiefaseranteil von 85 auf 52 Prozent. Damit war der neue Akzo-Konzern gegenüber konjunkturellen Schwankungen auf dem Chemiefasermarkt weitaus weniger anfällig als die alte AKU/VGF-Gruppe. Dies konnte aber nicht verhindern, dass Akzo wegen des weiterhin hohen Chemiefaseranteils während der 1970er Jahre wesentlich tiefer in die Krise rutschte als die Chemiefaser produzierenden großen Chemiekonzerne.52 Der Entschluss zur vollständigen Fusion von AKU/Glanzstoff gründete weniger auf spezifischen unternehmensinternen Kompetenzen – wegen des langjährigen Erfahrungsaustauschs hatte weder die niederländische noch die westdeutsche Betriebsgesellschaft entscheidende Vorsprünge auf den Feldern Technologie oder Know-how. Ebenso wenig spielten Standortvorteile, Investitionsanreize oder Skaleneffekte eine ausschlaggebende Rolle. Vielmehr schufen zeitspezifische politökonomische Entwicklungen am Ende des Booms einen Kontext, der das bisherige Unternehmensmodell als fragwürdige Konstruktion erscheinen ließ. Der Versuch der Glanzstoff-Leitung, die durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Disparitäten zwischen niederländischer Unternehmenskontrolle und westdeutschem Produktionsschwerpunkt zu beseitigen und das Bestreben beider Unternehmensteile, eine unternehmensinterne Konkurrenzsituation auf dem entstehenden europäischen Markt zu verhindern, waren die maßgeblichen Motive für die Fusionsentscheidung. Der politische Entschluss, einen einheitlichen europäischen Markt aufzubauen, zog auf Unternehmensebene somit konkrete Schritte ökonomischer Integration nach sich. Die wachsende Unsicherheit hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung und der zunehmende Wettbewerbsdruck untermauerten diese Entscheidung.
BAYER – RHÔNE-POULENC Ein weiteres Beispiel für die Auswirkungen der EWG-Gründung auf länderübergreifende Kooperationsformen bietet die Farbenfabriken Bayer AG. Bereits 1959 spekulierte die Wochenzeitschrift „Die Zeit“, dass die Einführung der BayerAktie an der Pariser Börse sicherlich nicht ohne Einvernehmen mit dem größten französischen Chemiekonzern Rhône-Poulenc vonstattengegangen sei.53 Tatsächlich gab es seit November 1957 ein Abkommen zwischen beiden Unternehmen, das auf einer Zusammenarbeit vor und während des Zweiten Weltkrieges aufbaute
52 RWWA 195-A6-23 Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of AKU N.V. (26.08.1969); RWWA 195-A9-13 Eröffnungsrede von Jhr. G. Kraijenhoff HV der Akzo N.V. (09.05.1974); Jonathan Steffen (Hg.): Tomorrow’s Answers Today. The History of AkzoNobel since 1646. Amsterdam 2008, S. 35–48; Vaubel: Glanzstoff, Bd. 1 (wie Anm. 40), S. 167–175. 53 „EWG-Kapitalmarkt kommt“, in: Die Zeit, 30.01.1959.
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und aus dem sich Mitte der 1960er Jahre eine engere Forschungskooperation entwickelte.54 Neben der bilateralen Verbindung zwischen Rhône-Poulenc und Bayer, kooperierten die beiden Unternehmen auch im Rahmen europäischer Interessenvertretungen und deutsch-französischer Unternehmertreffen. Die in der EWG produzierenden Chemieunternehmen hatten nicht nur ein Verbindungsbüro in Brüssel eröffnet – das sogenannte Secrétariat International des Groupements Professionnels des Industries Chimiques des Pays de la Communauté Economique Européenne (SIIC), welches im Oktober 1972 nach der Entscheidung Großbritanniens zum EWG-Beitritt im Conseil Européen des Fédérations de l’Industrie Chimique (CEFIC) aufging, der sowohl die Länder der EWG als auch der EFTA umfasste – vielmehr hielten die Unternehmensspitzen der größten westdeutschen und französischen Chemiekonzerne (BASF, Bayer, Hoechst, Rhône-Poulenc und Pechiney Ugine Kuhlmann) seit spätestens Anfang der 1960er Jahre auch regelmäßige Treffen ab. Bei diesen besprachen sie die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa, ihr Verhältnis zu den EG-Institutionen, die Fortentwicklung der EG (Werner-Plan, Colonna-Papier), die ökonomischen Beziehungen zu den USA und Japan sowie – ab Ende der 1960er Jahre – auch Währungs-, Mitbestimmungs- und Umweltaspekte. Hauptaufgabe des neuen CEFIC war die Interessenvertretung der europäischen Chemieindustrie gegenüber der EG-Kommission.55 In Bezug auf die USA störte die europäischen Chemieunternehmen 1972 vor allem, dass die übrigen GATT-Länder den USA mehrmals eine Verlängerung des American Selling Price (ASP) gewährt hatten, obschon das ASP-System als Ergebnis der Kennedy-Runde längst hätte abgeschafft werden müssen. Nach dem 1922 zum Schutz der US-Chemieindustrie eingeführten ASP-System berechnete sich der Zolltarif nach dem Marktpreis eines vergleichbaren US-Produkts und nicht auf Grundlage des Ausfuhrpreises des Exporteurs, so dass der Export in den USA stark erschwert wurde. Erst nach der Tokio-Runde (1973–79) kamen die
54 Vgl. allgemein zu deutsch-französischen Kooperationsformen auf Unternehmensebene zwischen 1948 und 1969: Jean-François Eck: Les Entreprises Françaises Face à l’Allemagne de 1945 à la Fin des Années 1960 (Histoire Économique et Financière de la France). Paris 2003, S. 276-281. 55 Bayer AG: Corporate History & Archives, Leverkusen (BAL) 302-187 Bisherige Termine mit Repräsentanten der französischen Chemie (1962–1973), Beziehungen mit der EWG (Paris, 27.2.1972). Vgl. zur Einflussnahme multinationaler Unternehmen auf die europäische Wirtschaftspolitik auch: Ramírez-Pérez: Multinational corporations (wie Anm. 11).
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USA der Beseitigung des ASP-Systems im Jahr 1980 nach.56 Des Weiteren verständigten sich die fünf großen westdeutschen und französischen Chemiekonzerne 1972 darauf, gemeinsam der wachsenden Kritik gegenüber multinationalen Unternehmen zu begegnen. Sie registrierten mit Sorge, dass nicht nur Gewerkschaften ihre Einflusschancen im Fall grenzübergreifend tätiger Firmen gefährdet sahen, sondern sich inzwischen auch die UNO, das GATT, die OECD, die EWG, das Europäische Parlament und sogar die NATO mit der Bedeutung multinationaler Unternehmen beschäftigten. Stärker als bisher wollten die Chemieunternehmen deshalb jeder Kritik öffentlich entgegentreten. Hierzu konnten sie insbesondere auf Ergebnisse des Arbeitskreises „Multinationale Unternehmen“ des westdeutschen Verbands der Chemischen Industrie zurückgreifen, der die Auswirkungen multinationaler Unternehmen auf die nationale Währungs- und Wirtschaftspolitik, auf den Kapital- und Arbeitsmarkt sowie auf den internationalen Wettbewerb untersuchte und Empfehlungen für mögliche Initiativen ausarbeitete.57 Sowohl die Gründung des SIIC bzw. des CEFIC als auch die Spitzengespräche zwischen französischen und westdeutschen Chemiekonzernen waren unmittelbar auf den europäischen Integrationsprozess zurückzuführen. Noch intensiver als der Gedankenaustausch zwischen den größten französischen und westdeutschen Chemiekonzernen gestaltete sich die konkrete Zusammenarbeit zwischen Rhône-Poulenc und Bayer. Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge zu Beginn des Jahres 1958 unterzeichneten beide Seiten ein Abkommen, welches den Informationsaustausch über erfolgversprechende Produkte auf dem Gebiet der Humanmedizin sowie gegenseitige Optionen auf Patentlizenzen zur Produktion und Verwertung solcher Produkte in Frankreich bzw. in der Französischen Union und in Westdeutschland vorsah.58 Da sich diese Form der Kooperation auf dem zusammenwachsenden europäischen Markt als ebenso notwendig wie nützlich erwies, vertieften Bayer und Rhône-Poulenc ihre Beziehungen Mitte der 1960er Jahre und kamen überein, auf bestimmten Gebieten der pharmazeutischen Forschung gemeinsame Arbeiten durchzuführen und den In56 BAL 302-187 Beziehungen zu den USA unter GATT-Gesichtspunkten (Paris, 27.02.1972), Neue Entwicklungen der US-Handelspolitik (Hoechst, 17.03.1972); „Stiller Vorbehalt“, in: Die Zeit, 19.04.1968; Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1973. 1. Januar bis 30. April München 2004, S. 400–401; Reinhard Rasch: Die Festsetzung des Zollwertes von Chemikalien nach dem American Selling Price System. Eine kritische Analyse. Bad Soden 1970; Hermann Sautter: Zölle III: Handels- und Zollabkommen (GATT), in: Willi Albers (Hg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Band 9: Wirtschaft und Politik bis Zölle. Stuttgart et al. 1982, S. 660–666, hier 664. 57 BAL 302-187 Punkt 6. Verschiedenes: Problematik der multinationalen Unternehmen (Paris, 27.2.1972). 58 Mit der Gründung der Vierten Republik nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Frankreich 1946 die Französische Union (Union française), welche die Beziehung zwischen dem französischen Mutterland und den Kolonien nach dem Vorbild des britischen Commonwealth neu regelte. Als 1958 die Fünfte Republik gegründet wurde, wurde die Französische Union 1958 in Französische Gemeinschaft (Communauté française) umgewandelt.
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formationsfluss zu intensivieren, um parallele Untersuchungen zu vermeiden, damit Kosten zu sparen und letztlich Entwicklung wie Vertrieb zu beschleunigen. Darüber hinaus sollten zukünftig auch gegenseitig Produktionsmöglichkeiten genutzt werden. Hintergrund der Vertiefung war insbesondere die Konkurrenz durch international tätige Pharmahersteller – vor allem aus den USA –, die über Forschungs-, Herstellungs- und Vertriebsmittel verfügten, welche diejenigen von Bayer oder Rhône-Poulenc weit überstiegen.59 Obschon Bayer und Rhône-Poulenc zu diesem Zeitpunkt bereits multinationale Unternehmen mit Stützpunkten im Heimatmarkt des jeweils anderen waren, erschien ihnen eine intensive Kooperation unter den Bedingungen zunehmender internationaler Konkurrenz und europäischer Integration unumgänglich. Seit Ende der 1940er Jahre unterhielt Bayer bereits wieder verschiedene Handelsvertretungen in Frankreich: Die Société Générale des Produits Chimiques (SOGEP) für den Verkauf von Chemikalien, die Distribution des Colorants (DISTRI) für den Vertrieb von Bayer-Farben und -fasern sowie die Bayer-Phytochim im Pflanzenschutzbereich. Bayer hatte mit der SOGEP und der DISTRI zunächst nur Vertreterverträge abgeschlossen, in den folgenden Jahren aber seine Beteiligungen sukzessive aufgestockt.60 Ab 1962 firmierte die DISTRI unter dem Namen Bayer France, die SOGEP ab 1970 als Bayer Chimie. Im Pharmabereich hatte Bayer 1951 mit der Firma Produits Chimiques et Pharmaceutiques de Monaco (Dr. Paris) ein Herstellungs- und Vertriebsabkommen abgeschlossen, das zuerst auf Aspirin und Aspirin-Kombinationen in Frankreich beschränkt war, später jedoch auf weitere Produkte und die meisten Staaten der Französischen Union erweitert wurde. Im Jahr 1965 übernahm die kanadische Bayer-Beteiligungsgesellschaft Bayforin die Anteile der Firma, die fortan als Bayer Pharma S.A. firmierte.61 Während jene drei Bayer-Gesellschaften lediglich Handelsvertretungen waren, wurde mit der Progil-Bayer-Ugine (PBU) 1959 eine eigenständige Produktionsgesellschaft in Frankreich gegründet, an der Bayer über Bayforin mit 50 Prozent beteiligt war. Auch hier war die Ursache eine Mischung aus US-Konkurrenz und europäischer Integration. Als 1958 bekannt wurde, dass USChemieunternehmen Produktionsstützpunkte für Isocyanate und Polyester innerhalb der EWG – speziell in Frankreich – planten, durch die die hohen französischen Einfuhrzölle umgangen werden sollten und bald der gesamte europäische Binnenmarkt bedient werden sollte, sah Bayer einen wichtigen Absatzmarkt bedroht und schloss mit den beiden mittelgroßen französischen Chemieunternehmen Société Progil S.A. und Société d’Electro-Chimie, d’Electro-Metallurgie et des 59 BAL 324-5 Vereinbarung zwischen Farbenfabriken Bayer AG, Leverkusen und RhônePoulenc S.A., Paris (17.12.1965). 60 Patrick Kleedehn: Die Rückkehr auf den Weltmarkt. Die Internationalisierung der Bayer AG Leverkusen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1961 (Beiträge zur Unternehmensgeschichte 26). Stuttgart 2007, S. 309–330; Erik Verg/Gottfried Plumpe/Heinz Schultheis: Meilensteine. 125 Jahre Bayer. 1863–1988. Leverkusen 1988, S. 311. 61 Kleedehn: Internationalisierung (wie Anm. 60), S. 323–326; Verg/Plumpe/Schultheis: Meilensteine (wie Anm. 60), S. 312.
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Aciéries Electriques d’Ugine einen entsprechenden Kooperationsvertrag zur Herstellung von Isocyanaten, Polyester und Polyäther ab. Die großen französischen Chemieunternehmen hatten zuvor kein Interesse an einer solchen Verbindung gezeigt.62 Nicht nur der im EWG-Vertrag als Ziel festgelegte gemeinsame europäische Markt und US-Investitionen in Westeuropa spielten für das PBU-Projekt eine Rolle, auch die 1958 zusammen mit der EWG gegründete Europäische Investitionsbank (EIB) war in diesem Fall von Bedeutung, denn die drei Gründungsfirmen Progil, Bayer und Ugine erhielten von der EIB 1961 hierfür einen zinsgünstigen Kredit in Höhe von zehn Millionen Francs. Progil, Bayer und Ugine griffen somit zum einen mit der EIB bereitwillig auf eine europäische Institution zurück, deren Ziel in der wirtschaftlichen Entwicklung des Binnenmarkts lag, zum anderen trugen sie mit der PBU unmittelbar zur ökonomischen Integration Europas bei.63 Als Folge der Umstrukturierungen in der französischen Chemieindustrie gingen die PBU-Anteile der französischen Seite Anfang der 1970er Jahre an RhônePoulenc über, so dass beide Seiten zu 50 Prozent an PBU beteiligt waren. Da sich die Erwartungen bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung der PBU aus Sicht der Bayer-Unternehmensleitung jedoch auch mit dem neuen Partner nicht einstellten, verkaufte sie ihren 50-Prozent-Anteil schließlich Anfang der 1980er Jahre an Rhône-Poulenc und belieferte den französischen Markt fortan mit eigenen Polyurethan-Vorprodukten.64 US-Direktinvestitionen in die EWG waren nicht allein ursächlich für solche europäischen Gemeinschaftsprojekte, wirkten aber oftmals impulsgebend, vor allem weil die US-Chemieunternehmen Westeuropa seit Gründung der EWG als einen Gesamtmarkt betrachteten. Dies hatte zur Folge, dass sich auch die europäischen Unternehmen schneller an den gemeinsamen Markt anpassten und es zunehmend als notwendig erachteten, sich zu größeren, kapitalund forschungskräftigen Einheiten zusammenzuschließen, um im Wettbewerb mit ihren US-Konkurrenten zu bestehen.65 Im Pharmabereich setzte Bayer weiterhin auf die Forschungskooperation mit Rhône-Poulenc. Der im April 1966 abgeschlossene Vertrag wurde zunächst auf fünf Jahre befristet und sah einen zu gleichen Teilen aus Vertretern der beiden Unternehmen bestehenden Koordinierungsrat vor. Daneben entstanden eine ganze
62 Kleedehn: Internationalisierung (wie Anm. 60), S. 318–322; Verg/Plumpe/Schultheis: Meilensteine (wie Anm. 60), S. 312. 63 Historical Archives of the European Union (Florenz), Banque Européenne d’Investissement (BEI), BEI.06.A-02.03, Le projet Progil Bayer Ugine / BEI Projet FR 19617001 Progil Bayer Ugine / BEI-2017 (1959–1961), BEI-2018 (1961), BEI-2019 (1961–1970), BEI-2020 (1961– 1971); Tony Judt: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. Bonn 2006, S. 604. 64 Archives Historiques du Groupe Sanofi, Paris (AHGS): Fonds Rhône-Poulenc / RP.SA BH0082 B.B2 Comité Executif, Nr. 7, Groupe Rhône-Poulenc. Comité exécutif (30.12.1976), Note de Présentation au Comité Exécutif du Protocole d’Accord RPI/Bayer AG relatif à PBU (13.12.1976); Geschäftsbericht Bayer 1980, S. 56; Verg/Plumpe/Schultheis: Meilensteine (wie Anm. 60), S. 543. 65 Loibl: US-Direktinvestitionen (wie Anm. 35).
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Reihe von Ausschüssen, die auf bestimmte Themen zugeschnitten waren, u.a. eine Forschungskommission, die Forschungskosten berechnete und Vorschläge für neue Forschungsgebiete entwickelte, sowie eine Produktions- und Vertriebskommission, deren Aufgaben sich auf Verkaufs-, Werbungs-, Produktions- und Lizenzfragen erstreckten.66 Während die Aufteilung der Arbeitsgebiete zwischen Bayer und Rhône-Poulenc bei der Verwertung von Patenten außerhalb der USA keine Probleme bereitete, da beide Vertragspartner entsprechende Patente in gleicher Weise nutzen konnten, gestaltete sich die Situation in den USA schwieriger. Für das Gebiet der USA hatte Rhône-Poulenc nämlich 1964 mit dem USUnternehmen Ives Laboratories, einer Tochtergesellschaft des US-Konzerns American Home Products (AHP), die exklusive Verwertung seiner Lizenzen vereinbart. Im Fall eines bedeutenden gemeinschaftlich entwickelten Produkts hätte Ives davon profitiert, wenn Rhône-Poulenc die Lizenz hielt und Bayer wäre ausgleichsberechtigt gewesen; umgekehrt wäre Ives ausgleichsberechtigt gewesen, wenn Bayer über die Lizenz in den USA verfügt hätte. Daraufhin entwickelten sich langwierige Verhandlungen zwischen Bayer, Rhône-Poulenc und AHP, doch weder eine Beteiligung von Bayer an Ives noch ein Zusammenschluss von Bayer und Rhône-Poulenc auf dem Pharmagebiet oder ein Gewinnpool boten aus Antitrustgründen eine Lösung. Den Vorschlag des AHP-Chairman William F. LaPorte im Dezember 1965, Bayer enger an AHP zu binden und zeitlich begrenzte Lizenzen an AHP zu vergeben, lehnte Bayer mit Verweis auf den Wunsch, sich möglichst schnell und dauerhaft an einer US-Gesellschaft mit Markterfahrung und Vertriebsorganisation zu beteiligen, ab. Schließlich erklärte sich LaPorte mit der Bayer-Rhône-Poulenc-Vereinbarung einverstanden.67 Bis Ende der 1960er Jahre wurde der Informationsaustausch zwischen Bayer und Rhône-Poulenc auf zahlreiche weitere Gebiete – wie Chemikalien, Silikone, Pflanzenschutzmittel oder Veterinärmedizin – ausgedehnt, Kern des Abkommens
66 BAL 324-5 Protokoll über die Besprechung Rhône-Poulenc/Bayer am 8.10.1965 (11.10.1965), Vereinbarung zwischen Farbenfabriken Bayer AG, Leverkusen und RhônePoulenc S.A., Paris (17.12.1965); BAL 324-19 Zusammenarbeit Bayer-R.P. (16.10.1981); Cayez: Rhône-Poulenc (wie Anm. 36), S. 248-249. Neben der Forschungs- und Produktionskommission entstanden noch eine pharmakologische und toxikologische Kommission, eine Kommission für pharmazeutische Technologie und Analytik sowie eine Kommission für klinische Forschung; dazu kamen noch eine Unterkommission für Cancerologie, für Virologie, für Toxikologie, eine klinische Unterkommission, eine Patent-Unterkommission und eine Dokumentations-Unterkommission. Vgl. BAL 324-7 Zusammenarbeit Bayer/Rhône-Poulenc. Forschungskommission. Protokoll der Tagung in Vitry-sur-Seine am 8.6.1966 bzw. in Wuppertal am 11.12.1969 (16.06.1966 bzw. 29.12.1969). Ursprünglich sollte der Vertrag rückwirkend zum 1. Mai 1965 in Kraft treten und eine Gültigkeit von drei Jahren haben. Vgl. BAL 324-5 Notiz über eine Besprechung mit Rhône-Poulenc am 21.6.1965 in Leverkusen (23.06.1965). 67 BAL 324-4 Coopération Rhône-Poulenc/Bayer USA (08.12.1965), Bayer – Rhône-Poulenc – Ives – American Home. Besprechungen in New York vom 1. bis 3. Dezember 1965 (08.12.1965), Aktennotiz Geks (22.02.1966); BAL 324-5 Notiz über eine Besprechung mit Rhône-Poulenc am 21.6.1965 in Leverkusen (23.06.1965).
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blieb aber der Pharmabereich. Eine zunächst geplante noch engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Veterinärmedizin kam allerdings letztlich nicht zustande. Dies wurde zu einem belastenden Moment für die Beziehungen.68 Als Anfang der 1970er Jahre die Frage der Vertragsverlängerung anstand, war von der anfänglichen Euphorie nur noch wenig zu spüren. Die Verantwortlichen bei Bayer hielten das Grundkonzept des Forschungsvertrages „Gemeinsam forschen, in der Produktion kooperieren und im Vertrieb getrennt vorgehen“ nach wie vor für richtig, räumten aber Probleme ein, vor allem im Vertriebssektor. Es entstanden Konflikte, wenn nur einer der beiden Partner bereit war, ein neues Medikament auf den Markt zu bringen oder wenn das gleiche Präparat in einem Land durch zwei verschiedene Firmen vertrieben wurde. Beide Unternehmen sahen letztere Form des Doppelvertriebes vor allem aufgrund der nicht nur in Frankreich festzustellenden Tendenz der Gesundheitsbehörden, Doppelregistrierungen zurückzuweisen und Zweitanmeldungen als generische Produkte einzustufen, als problematisch an: „So richtig die Konzeption, zwei verkaufen mehr als einer, vor 4-5 Jahren war, so sehr muß man jetzt aufgrund der bereits feststellbaren und zu erwartenden sich verschärfenden Haltung der Gesundheitsbehörden daran Zweifel haben“. Da erst 1970 die ersten Präparate der gemeinsamen Forschung in den Vertrieb gingen, hielt Bayer eine abschließende Beurteilung der Forschungskooperation für verfrüht. Letztlich könne man auch noch in fünf Jahren entscheiden, die Zusammenarbeit zu beenden oder in Form einer Fusion zu vertiefen.69 Daraufhin wurde die deutsch-französische Zusammenarbeit 1971 fortgesetzt, doch blieben die strukturellen Probleme bestehen und schon 1973 stellte sich erneut die Frage, wie der Vertrag nach 1976 ausgestaltet werden sollte. Hierbei wurde sowohl erwogen die Zusammenarbeit auf risikoreiche Forschungsgebiete als auch auf rein projektbezogene Studien zu beschränken. Doch für eine dauerhafte Kooperation fehlte inzwischen die Grundlage. Im März 1975 erklärte Rhône-Poulenc, dass man die Zusammenarbeit sowohl auf dem Gebiet der Primärforschung als auch bei der Entwicklung von Präparaten aufgrund der zahlreichen Vermarktungsprobleme beenden wolle. Nach jahrelangen Verhandlungen über die Behandlung von Pipeline-Produkten wurde der Vertrag im März 1979 rückwirkend zum 30. Juni 1974 für beendet erklärt.70 Bayer versuchte nun seine eigenen Kräfte in Frankreich zu bündeln und fusionierte 1975 seine Vertriebsgesellschaften Phytochim und Bayer Chimie mit Bay-
68 BAL 324-2 Aktennotiz über eine Besprechung mit Rhône-Poulenc am 13.9.1968 (18.09.1968), Aktennotiz über eine Besprechung mit L. Gilbert, Rhône-Poulenc am 14.3.1969 (18.03.1969); BAL 324-19 Zusammenarbeit Bayer-R.P. (16.10.1981). 69 BAL 324-8 Protokoll über die Sitzung des Koordinierungsrates Rhône-Poulenc/Bayer (08.12.1970 [Zitat], 15.06.1972). 70 BAL 324-8 Protokoll über der Koordinierungsratssitzung (07.09.1973), Internes Ergebnisprotokoll der Besprechung mit RP (13.03.1975); BAL 324-19 Notiz über Besprechung mit Rhône-Poulenc (3.8.1977), Agreement between Bayer and Rhône-Poulenc (28.1.1977), Zusammenarbeit Bayer-R.P. (16.10.1981); Verg/Plumpe/Schultheis: Meilensteine (wie Anm. 60), S. 312.
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er France, das in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einem starken Rationalisierungsdruck mit umfangreichen Personaleinsparungen und einem verstärkten EDV-Einsatz ausgesetzt war.71 Doch war weder jener Zusammenschluss noch der Vertrieb über Bayer Pharma ein adäquater Ersatz für die Forschungskooperation mit Rhône-Poulenc, der immer die Option einer größeren Fusion der beiden Unternehmen innegewohnt hatte. Bayer Pharma hatte Mitte der 1960er Jahre zwar eine kleinere Chemie- und Pharmaproduktion mit knapp über 100 Beschäftigten in Sens, einer französischen Stadt im Departement Yonne, aufgebaut, die etwa 60 Prozent der Grundstoffe von Bayer aus Leverkusen bezog, im Vergleich zu den übrigen Produktionsstrukturen von Bayer und Rhône-Poulenc nahm sie sich aber bescheiden aus.72 Während die langjährigen Verbindungen zwischen AKU und Glanzstoff 1969 somit in eine vollständige Fusion zu einem multinationalen europäischen Unternehmen mündeten, die auch trotz mancher Schwierigkeiten nicht wieder aufgelöst wurde, endete die langjährige Kooperation zwischen Bayer und Rhône-Poulenc Mitte der 1970er Jahre recht ergebnislos und zeigt, dass sich die verstärkte ökonomische Verflechtung in Westeuropa auf Unternehmensebene nicht stromlinienförmig auf einen Endpunkt zubewegte. Auch Rückschläge oder Sackgassen waren möglich. Natürlich blieb Bayer auch danach auf dem französischen Markt präsent, nur eben nicht in Kooperation mit dem größten französischen Chemiekonzern. Das fortbestehende Interesse am französischen Markt zeigte sich nicht zuletzt an der Übernahme des deutsch-französischen Pflanzenschutzherstellers Aventis CropScience im Jahr 2001 – der bis dahin größten Übernahme in der Firmengeschichte Bayers.73
HOECHST – ROUSSEL UCLAF Die Rückeroberung der Auslandsmärkte stellte für Hoechst wie bei der BASF und Bayer ein zentrales Unternehmensziel nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Nachdem der Frankfurter Chemiekonzern zu Beginn der 1950er Jahre begonnen hatte, den französischen Markt über eine Handelsgesellschaft zu erschließen, folgten ab Mitte der Dekade sukzessive Akquisitionen und Gesellschaftsgründungen, die zu einer breiten Produktpalette der französischen Werke führten.74 Einen wahren Schub erfuhr das Frankreich-Geschäft mit der schrittweisen Übernahme des französischen Pharmaherstellers Roussel Uclaf ab 1968, dem zu dieser Zeit zweit-
71 BAL 009/L Bayer fusioniert Vertriebsgesellschaften in Frankreich (Mai 1975); BAL 339076, Frankreich, Bayer France (1973–1978); Verg/Plumpe/Schultheis: Meilensteine (wie Anm. 60), S. 313; Thomas Reinert: Begegnung mit Bayer. Historische Facetten eines innovativen Unternehmens. Frankfurt am Main 2014, S. 183–185. 72 BAL 009/L Recherche pour l’avenir (6/1970). 73 Bayer übernimmt Aventis CropScience, in: Stern 02.10.2001. 74 Hoechst-Archiv, Friedrichsdorf (HA) Hoe. Ausl. 138, Länderblätter A-L: Frankreich.
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größten französischen Pharmaunternehmen nach Rhône-Poulenc.75 Die Motive für die Zusammenarbeit mit Roussel Uclaf lagen vor allem in dessen Kenntnissen in der Pharmaforschung und Stellung auf dem französischen Pharmamarkt, aber auch in dem Ziel, mit einer starken deutsch-französischen Gruppe auf dem zusammenwachsenden europäischen Markt präsent zu sein. Auch in diesem Fall wirkte die europäische Integration somit impulsgebend auf die Entstehung einer grenzübergreifenden Unternehmenskooperation. Neben Zugangschancen zum westeuropäischen Markt, speziellem Wissen in der Pharmaforschung und Konkurrenz durch US-Pharmafirmen spielten zeit- und unternehmensspezifische Entwicklungen auf der Eigentumsebene des französischen Unternehmens eine entscheidende Rolle für die Kooperation. Angesichts steigender Kosten in der Pharmaforschung, welche langfristig die finanziellen Möglichkeiten eines Familienunternehmens überstiegen hätten, erschien eine Kooperation mit einem Partnerunternehmen aus Sicht von Roussel Uclaf sinnvoll. Als sich der Miteigentümer Henri Roussel Ende der 1960er Jahre dazu entschloss, seine Firmenanteile zu veräußern, fädelte sein Bruder und Firmenchef JeanClaude Roussel 1968 im Zuge einer Kooperationsvereinbarung den Verkauf von 43 Prozent der Roussel Uclaf kontrollierenden Holding Compagnie Financière Chimio an Hoechst ein. Persönliche Gespräche zwischen Jean-Claude Roussel und Hoechst-Vorstand Kurt Lanz, der für den Aufbau der Auslandsorganisation zuständig war, hatten ein Vertrauensverhältnis geschaffen, das eine zuvor erwogene Abgabe des französischen Pakets an den westdeutschen Konkurrenten Bayer verhindert hatte. Der Bayer-Vorstand bestand auf einer Beteiligung von mindestens 51 Prozent, um dirigierend in das französische Unternehmen eingreifen zu können, und verhandelte parallel mit Rhône-Poulenc über die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens bei Roussel Uclaf. Letztlich entschied sich Jean-Claude Roussel für Hoechst, da ihm der Frankfurter Chemiekonzern im Gegensatz zu Leverkusen eine weitgehende Fortsetzung der Eigenständigkeit des französischen Unternehmens zusicherte.76 Einer geheimen Nebenvereinbarung zufolge war Hoechst im Fall eines Ablebens des Roussel Uclaf-Präsidenten ein Vorkaufsrecht auf weitere Anteile eingeräumt worden. Als Jean-Claude Roussel 1972 unerwartet bei einem Hubschrauberunfall verstarb, machte Hoechst von diesem Recht Gebrauch und eignete sich bis 1974 die Aktienmehrheit an. Mit dieser bis dahin größten Einzelinvestition im Pharmabereich stieg Hoechst zum weltweit größten Pharmahersteller auf.77 75 AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-33 Signature au siège de Roussel-Uclaf (30 septembre 1968), RU-34 Revues de presse (août-octobre 1968). 76 Bäumler: Farben (wie Anm. 35), S. 297–298; Kurt Lanz: Weltreisender in Chemie. Düsseldorf/Wien 1978, S. 55–59; BAL 387-1, IX, Bayer-Vorstandssitzung (07.05.1968, 21.05.1968, 27.06.1968, 16.07.1968). 77 AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-36 Deuxièmes accords Roussel-Uclaf – Hoechst. Revues de presse (janvier–février 1974); Bäumler: Farben (wie Anm. 35), S. 297–300; Anna Elisabeth Schreier/Manuela Wex: Chronik der Hoechst Aktiengesellschaft 1863–1988 (Sonderausgabe der Dokumente aus Hoechst-Archiven). Frankfurt am Main 1990, S. 372.
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Grundsätzlich hatte sich die französische Regierung im September 1968 mit der Übernahme durch Hoechst einverstanden erklärt, doch schaltete sie sich nun unter den veränderten Bedingungen erneut ein, da sie ausländischen Kapitalmehrheiten bei französischen Unternehmen eher abneigend gegenüberstand.78 Letztlich gelang es Hoechst die französische Regierung mit dem Argument zu überzeugen, dass beide Seiten eine gleichberechtigte Kooperation vereinbart hätten, an der auch zukünftig festgehalten werden sollte und jedes Unternehmen damit seine nationale Identität behalten würde.79 Der Zusammenschluss bestehender Unternehmen war eine Form der Unternehmensexpansion, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in nahezu alle Branchen an Bedeutung gewann. Die Verbindung zwischen Hoechst und Roussel Uclaf erwies sich als „belle alliance“, da sich die beiden Pharmabereiche auf Produktebene gut zusammenfügten. In geographischer Perspektive wurde der bisherige Schwerpunkt der Hoechst-Pharmasparte in Europa durch die Übernahme von Roussel Uclaf nochmals gestärkt, da auch das französische Unternehmen hier seine Stärke hatte.80 Hoechst und Roussel Uclaf nutzten wechselseitig Patente, betrieben gemeinsame Forschungsanstrengungen und trafen Absprachen hinsichtlich der geographischen Aufteilung von Märkten. Während Hoechst in Südostasien, Ägypten und Nordeuropa für Roussel Uclaf produzierte, übernahm Roussel Uclaf die Pharma-Fabrikation in Großbritannien und Belgien.81 Obschon Hoechst und Roussel Uclaf ihre Pharmaaktivitäten für den gemeinsamen europäischen Markt bündelten, mündete diese Zusammenarbeit nicht in einer zentralen europäischen Forschungs-, Produktions- und Vertriebsabteilung. Vielmehr wurden – ähnlich wie bei Bayer und Rhône-Poulenc – vor allem die Forschungsanstrengungen zusammengeführt, während Produktion und Vertrieb entlang der bisherigen Unternehmensgrenzen organisiert blieben. Dieses Vorgehen wahrte die von Roussel Uclaf angestrebte Eigenständigkeit, es hing aber auch damit zusammen, dass die Zulassungsvoraussetzungen für pharmazeutische Produkte weiterhin nationalen Regelungen unterlagen. Im Vergleich zu anderen Sparten erwies sich die Pharmaproduktion zwar als krisenresistenter, dennoch waren auch die Pharmaaktivitäten des HoechstKonzerns nicht vor den ökonomischen Krisen der 1970er Jahre gefeit. Im Jahr
78 Lanz: Weltreisender (wie Anm. 75), S. 66. 79 HA Hoe. Ausl. 99 Frankreich, Hoechst-Pressemitteilung (13.02.1974), „Hoechst übernimmt restliche Chimio-Anteile“, in: VWD Firmen (13.02.1974); Lanz: Weltreisender (wie Anm. 75), S. 65–67. 80 Wilhelm Bartmann: Zwischen Tradition und Fortschritt: Aus der Geschichte der Pharmabereiche von Bayer, Hoechst und Schering von 1935–1975. Stuttgart 2003, S. 273–275; Bäumler: Farben (wie Anm. 35), S. 297–298. 81 AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-26, Stratégie Internationale. Hoechst-Roussel Uclaf 1968– 1988. 20 ans de coopération exemplaire. Un état d’esprit européen, in: Uclafilm – Revue du Groupe Roussel-Uclaf, Nr. 70, Novembre 1988, S. 3–5; HA Hoe. Ausl. 98b, Hoechst in Frankreich (1988); HA H0085494, Frankreich, Roussel Uclaf, Das Modell einer erfolgreichen Zusammenarbeit, in: Farbenpost 11/1988, S. 8–9.
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1975 ging der Nettogewinn von Roussel Uclaf um mehr als 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück.82 Erst mit der wirtschaftlichen Belebung in den 1980er Jahren kletterten die Erträge von Hoechst und Roussel Uclaf wieder deutlich nach oben. Im Jahr 1989 verzeichnete die westdeutsche Hoechst AG mit einem Jahresüberschuss von weit über einer Milliarde DM einen Rekordgewinn.83 In Frankreich hatte Hoechst seine zahlreichen Beteiligungen (inklusive Roussel Uclaf) während eines dreijährigen Umstrukturierungsprozesses bis 1978 unter dem Dach der neuen Landesgesellschaft Société Française Hoechst S.A. zusammengeführt. Nimmt man die Einigung zwischen Jean-Claude Roussel und Kurt Lanz 1968 als Ausgangspunkt, dann kam hier nach zehn Jahren ein gewaltiger Expansions- und Umstrukturierungsprozess von Hoechst in Frankreich an sein Ende.84 Dass die Interessenabgrenzung zwischen Hoechst und Roussel Uclaf auch durch nicht-ökonomische Faktoren beeinflusst werden konnte, zeigte sich Anfang der 1980er Jahre, als die französischen Sozialisten den Wahlsieg davontrugen und die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien ankündigten. Im Zuge der Nationalisierungspolitik musste Hoechst die Beteiligung an Roussel Uclaf leicht herabsetzen, während der französische Staat einen Anteil von 40 Prozent erwarb, der mit dem Vorschlagsrecht für den Präsidenten des Aufsichtsrats von Roussel Uclaf verbunden war. Auch wenn die Kooperation auf operativer Ebene davon weitgehend unberührt blieb, zeigte sich hier doch kurzzeitig das Machtpotenzial nationalstaatlicher Politik innerhalb der EWG. Doch es blieb bei einer kurzen Zwischenepisode. Mit der Wende in der französischen Verstaatlichungspolitik änderten sich auch bei Roussel Uclaf die Spielregeln wieder. Im Juni 1987 wurde Hoechst wieder das Recht eingeräumt, seine auf einer Beteiligung von 54,5 Prozent basierenden Mehrheitsrechte auszuüben und sieben der zwölf Aufsichtsratsmitglieder zu benennen. Drei Jahre später übernahm der verstaatlichte Chemiekonzern Rhône-Poulenc die staatlichen Anteile an Roussel Uclaf und verringerte damit die unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten des Staates. Damit hatte sich Hoechst seine Verfügungsrechte wieder weitgehend gesichert.85 Im Jahr 1993 vereinbarten Hoechst und Roussel Uclaf eine stärkere produktbezogene Arbeitsteilung, bei der sich der deutsche Konzernteil auf HerzKreislauf-Medikamente und das französische Unternehmen auf Antibiotikapro-
82 Bäumler: Farben (wie Anm. 35), S. 386–391; Geschäftsbericht Hoechst AG 1975; AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice. Comptes et Résultats Financiers 1976, S. 21. 83 Geschäftsbericht Hoechst 1989. 84 Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 55; Geschäftsbericht Hoechst 1976, S. 47; HA Hoe. Ausl. 98a, Historique (05.09.1985), Société Française Hoechst – Historique (1986), Chronologies des modifications juridiques (o.D.); Lanz: Weltreisender (wie Anm. 75), S. 69. 85 Bäumler: Farben (wie Anm. 35), S. 299; HA Hoe. Ausl. 98b, Hoechst in Frankreich (1988); Jörg Requate: Frankreich seit 1945 (Europäische Zeitgeschichte 4). Stuttgart 2011, S. 191– 195; Rhône-Poulenc an Roussel Uclaf beteiligt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.02.1990.
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dukte konzentrieren sollte. Ein einheitliches Produktions- und Logistikkonzept für Europa sollte die transnationale Arbeitsteilung stärken.86 Noch bevor jene EuropaKonzeption vollständig realisiert werden konnte, erwarb Hoechst 1995 für 7,1 Milliarden DM den amerikanischen Pharmakonzern Marion Merrell Dow (MMD). Infolgedessen mussten die gesamten Pharmaaktivitäten des HoechstKonzerns neu strukturiert werden. Neben dem Pharma-Bereich der Hoechst AG wurden auch Roussel-Uclaf in Frankreich und die Behringwerke in Marburg mit MMD zum neuen Geschäftsbereich Hoechst Marion Roussel (HMR) zusammengeführt. Die Hoechst-Pharmasparte erhielt auf diese Weise eine noch stärker international geprägte Ausrichtung.87 Während die Angliederung von Roussel Uclaf Ende der 1960er Jahre noch auf den gemeinsamen westeuropäischen Markt ausgerichtet war und damit im unmittelbaren Zusammenhang zum europäischen Integrationsprozess stand, entwickelte der große und innovative US-Pharmamarkt für europäische Unternehmen spätestens seit Mitte der 1970er Jahre eine enorme Anziehungskraft, der sich kaum einer der großen Chemie- und Pharmakonzerne entziehen konnte. Im Unterschied zu Bayer hatte die Kooperation zwischen Hoechst und Roussel Uclaf dauerhaft Bestand, auch wenn ihre Bedeutung angesichts der Expansion auf dem USMarkt und der Zunahme globaler Zielsetzungen in der Konzernpolitik langfristig nachließ.
FAZIT Sowohl die Fusion von AKU und Glanzstoff als auch die Forschungskooperation zwischen Bayer und Rhône-Poulenc gingen auf ältere Verbindungen zwischen den Unternehmen zurück. Die Intensivierung der Beziehungen in den 1960er Jahren war aber nicht einfach deren Fortentwicklung, sondern primär eine Reaktion auf die in Aussicht gestellte Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes sowie auf die zunehmende internationale Konkurrenz durch US-Unternehmen in Westeuropa. Diese Gründe trafen auch auf die Kooperation zwischen Hoechst und Roussel Uclaf zu, auch wenn die Übernahme der Aktienmehrheit hier wesentlich durch den unerwarteten Tod des Eigentümers begünstigt war. Unternehmerische Entscheidungen hingen und hängen eben auch ein Stück weit von Zufällen ab, die kaum von rationalen Erklärungsansätzen zu erfassen sind.88 Der Entschluss zur Schaffung eines westeuropäischen Wirtschaftsraums wirkte auf die Unternehmen wie eine Initialzündung, auch wenn die europäische Che-
86 Wolfgang Menz / Steffen Becker / Thomas Sablowski: Shareholder-Value gegen Belegschaftsinteressen. Der Weg der Hoechst-AG zum ‚Life-Sciences‘-Konzern. Hamburg 1999, S. 116–122. 87 Menz/Becker/Sablowski: Shareholder-Value (wie Anm. 86), S. 122–126. 88 Werner Plumpe: Wie entscheiden Unternehmen?, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 61 (2) (2016), S. 141–159, hier 158.
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mieindustrie traditionell internationaler ausgerichtet war als andere Industriezweige. Dabei waren es vor allem die ökonomischen Erwartungen, die mit einem gemeinsamen Markt verbunden waren, welche die Unternehmen schon Ende der 1950er Jahre veranlassten, ihre unternehmensstrategische Ausrichtung zu überdenken. Spätestens als sich in den 1960er Jahren herausstellte, dass sich das durch die wirtschaftliche Integration der EWG-Staaten ausgelöste ökonomische Wachstum dynamischer entwickelte als eine reine Zollpolitik, wie die EFTA sie verfolgte, wollten die Unternehmen hiervon profitieren.89 Folglich bauten sie ihre Verflechtungen ins westeuropäische Ausland über eigene Handelsniederlassungen und Produktionsstätten – insbesondere aber über Joint Ventures und Forschungskooperationen mit ausländischen Unternehmen – aus. Die wirtschaftliche Integration Westeuropas war jedoch kein einseitiger Prozess, bei dem ökonomische Akteure auf politische Entscheidungen reagierten, vielmehr waren die Unternehmen selbst inhärenter, selbstverstärkender Teil des europäischen Integrationsprozesses, denn gerade jene Verflechtungen trugen maßgeblich zur Integration unterhalb der Ebene zwischenstaatlicher Verhandlungen über Zoll-, Handels- und andere wirtschaftspolitische Fragen bei. Die politischen Entscheidungsträger setzten hierfür ökonomische Anreize, erleichterten die Koordination von Produktionsstrukturen innerhalb der EWG und förderten grenzüberschreitende Unternehmenskooperationen in Form von European Champions, die konkurrenzfähig zu ihren USMitbewerbern sein sollten, doch letztlich oblag die Entscheidung zur Ausweitung des Auslandsgeschäfts und die Form, in der dies vonstattenging, den einzelnen Unternehmensleitungen. Der staatliche Einfluss im Rahmen der französischen planification war im Vergleich hierzu deutlich tiefgreifender. Da andere europäische Staaten wie die Niederlande oder die Bundesrepublik jedoch eine liberalere Wirtschaftspolitik verfolgten, fanden entsprechende Eingriffe auf europäischer Ebene – mit wenigen Ausnahmen wie Airbus oder Unidata – nicht statt. Der Entschluss zur Fusion von AKU und Glanzstoff und die Übernahme von Roussel Uclaf durch Hoechst waren primär ökonomisch begründet. Innerhalb der wirtschaftlichen Integrationstheorien hat die Neue Außenhandelstheorie zu Recht darauf hingewiesen, dass größere Produktionseinheiten auf einem gemeinsamen Markt profitabler betrieben werden konnten. AKU/Glanzstoff und Hoechst/Roussel Uclaf wollten jeweils als starke Gruppe auf dem gemeinsamen europäischen Markt auftreten, dort eine gegenseitige Konkurrenz verhindern und durch die Zusammenführung von Forschung, teilweise auch von Vertrieb und Produktion, Kosten senken und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Trotz niedrigerer Zollschranken beschleunigte die europäische Integration daher die Ausbreitung multinationaler Unternehmen. Vor allem für Bayer/Rhône-Poulenc und Hoechst/Roussel Uclaf gilt, dass sie die hohen und weiter steigenden Kosten in der Pharmaforschung über die Kooperation verringern wollten, um mit der USKonkurrenz mithalten zu können. Neben den neuen Marktchancen, den Erfahrungen im Auslandsgeschäft und dem Ziel, die Forschungsanstrengungen zu bündeln, 89 Franko: European Multinational Enterprises (wie Anm. 9), hier S. 60–64.
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beförderte auch die geographische Nachbarschaft die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den europäischen Unternehmen. Die EWG-Staaten waren im Vergleich zu anderen Weltregionen politisch weitgehend stabil. Das Risiko, Auslandsinvestitionen infolge politischer Umbrüche zu verlieren, entsprechend gering, auch wenn das Beispiel Roussel Uclaf zeigte, dass die Eigentumsrechte im Zuge einer nationalen Verstaatlichungspolitik unerwartet eingeschränkt werden konnten. Obschon die europäischen Chemieunternehmen spätestens ab Mitte der 1970er Jahre verstärkt auf den US-Markt vordrangen, lässt sich ihr Auslandsengagement noch bis in die 1980er Jahre eher als Teil eines Europäisierungs- denn als Teil eines Globalisierungsprozesses erklären.90 Die Harmonisierungspolitik der EG-Kommission erleichterte den Aufbau eines europäischen Forschungs- und Produktionsverbunds, umgekehrt trug diese Politik jedoch auch dazu bei, dass Standorte innerhalb der EWG verstärkt in Konkurrenz zueinander traten und Betriebseinheiten an günstigere Produktionsstandorte innerhalb Europas – bald auch darüber hinaus – verlagert wurden.91 Selbst nach Festlegung einer europäischen Industriepolitik und einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion blieben landesspezifische Charakteristika – wie unterschiedliche Sprachen, Mentalitäten, Arbeitsmarktstrukturen oder Qualifikationssysteme – bestehen, mit denen multinationale Unternehmen umgehen mussten. Die EWG – und auch die EU – erweist sich daher bis heute nicht in allen Bereichen als vollkommen homogener Markt. Dem Prozess der Globalisierung konnten sich die europäischen Chemieunternehmen langfristig nicht entziehen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Unternehmen sowohl die Gründung der EWG und die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes als auch die weltweite Liberalisierung des Waren- und Kapitalverkehrs als Veränderung ihrer Umweltbedingungen wahrnahmen, auf die sie mit einer angepassten Unternehmensstrategie reagierten. Tatsächlich schufen die Staaten und Regierungen über ihre Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik seit den 1980er Jahren politisch-institutionell günstige Bedingungen für eine Ausweitung des Auslandsgeschäfts.92 Die Unternehmen übersahen hierbei oftmals ihre eigene Rolle innerhalb dieser Prozesse, denn sie selbst trieben die ökonomische Integration Europas unterhalb der Ebene staatlichen Handelns voran und gehörten über ihre zunehmenden ausländischen Direktinvestitionen und die Expansion ihres Außenhandels zu den wesentlichen Triebkräften der Globalisierung.
90 Neil Fligstein / Frederic Merand: Globalization or Europeanization? Evidence on the European Economy since 1980, in: Acta Sociologica 45 (1) (2002), S. 7–22. 91 Martin Höpner / Armin Schäfer: Grundzüge einer politökonomischen Perspektive auf die europäische Integration, in: Martin Höpner / Armin Schäfer (Hg.): Die Politische Ökonomie der europäischen Integration (Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln 61). Frankfurt am Main 2008, S. 11–45; Marx: Aufstieg (wie Anm. 2). 92 Andreas Wirsching: Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989. München 2015, S. 73–76.
WARENSTRÖME IN MITTELEUROPA – DIE INTEGRATIONSLEISTUNG DER LOGISTIK IM 20. JAHRHUNDERT Richard Vahrenkamp, Berlin
TRADE FLOWS IN CENTRAL EUROPE: LOGISTICS’ CONTRIBUTION TO INTEGRATION IN THE TWENTIETH CENTURY ABSTRACT: The article begins with an outline of the concept of logistics in the context of mass consumer society. Based on case studies of the Speicherstadt in Hamburg and the Rhenania warehouse in Mannheim, it describes warehouse management as part of logistics. The article distinguishes between bulk goods and packaged goods. The logistics of bulk goods are illustrated on the basis of Rhine shipping and railway transport services, while also outlining tensions in railway policy between France and Germany. The subsequent part of the paper deals with packaged goods, which emerged as a new category of goods in the 20th century. Their enormous expansion meant they had to be distinguished from bulk cargo, with the beginnings of handling packaged goods illustrated on the basis of Hamburg’s Speicherstadt. The exponential growth of packaged goods overtaxed the railway as a mode of transport. The article thus analyses the expansion of the transportation of packaged goods by lorry alongside the problems faced by national railway companies with cross-border transport. The rapid growth of the parcel market is likewise described as a segment of the packaged goods market. Private parcel services have been operating since the 1970s in (West) Germany alongside the postal service. The article argues that there is a strong correlation between the time series of GNP and that of parcel revenues. The paper concludes by presenting the thesis that the extent of the parcel market is an indicator of a high level of development and differentiation of mass consumer society, as is also suggested by its limited extent in the former Eastern Bloc. Keywords: Packaged Goods, Competition Truck Railway, Freight Shed, International Parcel Service, Railway Parcel Terminal
EINLEITUNG Im Folgenden soll der Begriff der Logistik umrissen werden. Die Warenströme im Europa des 20. Jahrhunderts, welche die Produktionsstandorte und Importhäfen mit den Bedarfspunkten von Industrie und Handel verbanden, liefen über ein Sys-
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tem spezieller Infrastrukturen, die Lagerhäuser, Umschlagseinrichtungen und Verkehrsträger – wie Schiff, Eisenbahn, Flugzeug und Lastkraftwagen (LKW) – umfassen. Spezielle Verkehrsunternehmen – Reedereien und Speditionen – sorgten für den Fluss der Warenströme. Die Gesamtheit der Infrastrukturen, der Verkehrsunternehmen sowie der Konzepte zur Steuerung der Warenströme soll hier mit dem Oberbegriff „Logistik“ zusammengefasst werden. Die staatlichen und zwischenstaatlichen Regulierungen des Verkehrssektors sowie dessen europaweite Standardisierung betreffen auch die Logistik.1 Beispiele sind zwischenstaatliche Luftverkehrsabkommen und das als Rheinschifffahrtsakte bezeichnete Abkommen von 1868 unter den Anliegerstaaten des Rheins für eine von Stapelpflichten, Zoll- und Mautabgaben freie Schifffahrt auf dem Rhein. Die Logistik steuert die Warenströme zur Versorgung der Massenkonsumgesellschaft, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts langsam entwickelte.2 Aus den USA kommend, stammt der Begriff vom militärischen Nachschubwesen und wurde vom US-amerikanischen Marketing zur Analyse der Versorgung von Filialketten des Handels übernommen. Es ging dabei um die Standortwahl von Zentral- und Regionallagern, die Abgrenzung von Liefergebieten und um Fragen der Lagerpolitik und Servicequalität, um den Kunden den Zugriff auf die Artikel in den Regalen der Läden mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 bis 95 Prozent garantieren zu können.3 Die Standardlexika der Jahrhundertwende 1900 kennen den Begriff der Logistik noch nicht, auch in den Eisenbahnlexika ist er nicht zu finden. Der Logistikbegriff hat sich erst seit den 1960er Jahren in den zivilen Sektoren der Warendistribution für Handelskonzerne und für Beschaffungsaktivitäten von Industrieunternehmen eingebürgert. Führend bei der Verankerung des Logistikbegriffs in der deutschen Betriebswirtschaftslehre waren Anfang der 1970er Jahre Gosta Ihde – Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim, und Wolfgang Lück, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Forschungsstelle für
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Gerold Ambrosius / Christian Henrich-Franke / Cornelius Neutsch / Guido Thiemeyer (Hg.): Standardisierung und Integration europäischer Verkehrsinfrastruktur in historischer Perspektive. Baden-Baden 2009. Zur Massenkonsumgesellschaft siehe Alfred Reckendrees (Hg.): Die bundesdeutsche Massenkonsumgesellschaft 1950–2000. Berlin 2007; zur Bekleidungsindustrie siehe das Themenheft der Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Heft 1 (Band 62), 2017; Christopher Kopper: Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert. München 2002 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 63). John Magee: The Logistics of Distribution, in: Harvard Business Review 38 (1960), Heft 4, S. 89–95; Wolfgang Lück: Logistik in der amerikanischen Managementlehre, in: derselbe (Hg.): Logistik und Materialwirtschaft. Berlin 1984, S. 81–100; Zur Geschichte des Logistikbegriffs im Militär siehe Hans Bartels: Logistik, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Band 5, herausgegeben von Willi Albers. Stuttgart 1980, S. 54f.
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Brauwirtschaft in Berlin.4 Die oben angesprochenen Bereiche Transport, Umschlag und Lagerung (TUL) bilden den Kern der Logistik. Man spricht auch von TUL–Logistik – ein Begriff, der seit den 1960er Jahren im deutschsprachigen Raum auftritt und auch in der DDR verwendet wurde. Die moderne Logistik fokussiert darüber hinaus eine intelligente Steuerung der Warenströme, die über die TUL–Logistik hinausgeht, und entstand erst in den 1980er Jahren mit den Computernetzwerken. Diese ermöglichten z.B. innerhalb eines Unternehmens mit europaweiten Lagerstandorten den aggregierten Bestand eines bestimmten Artikels an den verschiedenen Lagerstandorten europaweit abzurufen. Mit Hilfe von Barcodes und Scannern kann die moderne Logistik den Weg von Waren europaweit dokumentieren und so eine hohe Liefertreue und Schutz vor Diebstahl ermöglichen. Paketdienste machen von dieser Technologie Gebrauch. Im Folgenden unterscheide ich in der Logistik Massengütern und von Stückgütern. Vor allem bei Letzteren kommt die moderne Logistik zur Anwendung. Für die Lagerwirtschaft gehe ich später auf zwei Beispiele detaillierter ein, das Lagerhaus der Rhenania Spedition am Rhein und die Speicherstadt in Hamburg.
DIE LOGISTIK DER MASSENGÜTER Als Massengüter werden die Erzeugnisse des Bergbaus, der Grundstoffindustrie und der Landwirtschaft bezeichnet. Sie wurden in Europa auf Flüssen, Kanälen und der Eisenbahn befördert und in Häfen umgeschlagen. An den Linien siedelten sich Lagerhäuser für Lagerung und Umschlag an. Ich hebe hier den Rhein hervor. Zur Schifffahrt auf dem Rhein gibt es umfangreiche wirtschaftshistorische Forschungen.5 Hier seien nur Ausschnitte genannt. Der Rhein hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer „Fabrikstraße für Massenrohstoffe“ für die dort angesiedelte Industrie entwickelt, wie der Wirtschaftsgeograph Bruno Kuske anmerkte. Zuvor versorgte die Flößereiwirtschaft Holland mit Baumstämmen aus dem Schwarzwald. Mit ihrem durchaus lebensgefährlichen Beruf hinterließen die Flößer viele Waisenkinder; die Stadt Pforzheim richtete ein Waisen- und Arbeitshaus ein, deren Insassen die Uhren- und Schmuckindustrie in Pforzheim begründeten.6 Die 440 Kilometer lange Strecke des Rheins zwischen Wesel und Karlsruhe war gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Wassertiefe von zwei Metern be-
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Wolfgang Lück: Grundlagen der Logistik – Begriff, Inhalt, Entwicklung, Systeme, in: derselbe (Hg.): Logistik und Materialwirtschaft. Berlin 1984, S. 33–36; Gösta Ihde: Logistik. Stuttgart 1972; Herbert Kotzab: Logistik. Quo vadis?, in: Günter Prockl (Hg.): Meilensteine moderner Logistik. Wiesbaden 2004, S. 123. Guido Thiemeyer: Integration und Standardisierung in der internationalen Rheinschifffahrt nach 1945, in: Ambrosius u.a. (Hg.): Standardisierung (wie Anm. 1), S. 137–154; siehe auch die Publikationen des Transnational Rhine Networks: https://www.eur.nl/en/eshcc/research/ rhine-economy-1850-2000/publications-and-presentations. Erich Keyser (Hg.): Badisches Städtebuch. Stuttgart 1959, S. 136f.
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fahrbar, und der weitere Verlauf bis Basel war reguliert.7 Diese Stadt erhielt damit die Stellung des „Hafens der Schweiz“, welcher die Schweiz mit Rotterdam verband.8 Die chemische Industrie war zwischen Basel und Köln wie eine Perlenkette an diesem Fluss aufgereiht und besaß unter anderem mit Ludwigshafen und Frankfurt a.M. wichtige Standorte am Rhein oder nahe davon. Der Binnenhafen Duisburg versorgte mit Transportschiffen die chemische Industrie mit Kohle, unter anderem durch die Spedition Haniel, die auf eine Firmengeschichte von mehr 250 Jahren zurückblicken kann.9 Seit 1900 siedelten sich am Rhein Ölraffinerien in Karlsruhe, Mannheim, Düsseldorf und Köln an.10 Die folgende Abbildung zeigt eine Ölraffinerie von Shell in Düsseldorf–Leibholz am Rhein in den 1920er Jahren, die von Tankschiffen mit Rohöl aus Rotterdam versorgt wurde.
Abbildung 1: Die Raffinerie von Rhenania–Ossag (Shell) in Düsseldorf–Reisholz; Quelle: Curt Piorkowski: Die Benzin- und Ölversorgung durch die Rhenania–Ossag Mineralölwerke Düsseldorf (Musterbetriebe der Deutschen Wirtschaft, Band 7). Berlin 1928, S. 6.
Am Rhein befanden sich Lagerhäuser der Mühlenwirtschaft, unter anderen das 1910 errichtete Lagerhaus der Rhenania–Spedition in Mannheim. Dieses war von Beginn an mit mechanischen Aufzügen (Elevatoren) versehen, welche das Korn aus den Schiffen in die oberste Etage des Lagerhauses beförderten, von wo aus es mit Hilfe der Schwerkraft durch Röhren in die vorgesehenen Kammern strömen konnte. Die Technik der Elevatoren–Lagerhäuser war eine Innovation aus Chicago, wo seit den 1850er Jahren die Kornernten des Mittleren Westens konzentriert
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Bruno Kuske: Die Volkswirtschaft des Rheinlandes in ihrer Eigenart und Bedeutung. Essen 1925, S. 36. 8 Hans Bauer: Basel, gestern – heute – morgen. Hundert Jahre Basler Wirtschaftsgeschichte. Basel 1981. 9 Zu den Schifffahrt-Speditionen am Rhein gibt es zahlreiche Studien und Festschriften, wie Hermann Hecht: Die Entstehung des Rhenania-Konzerns – die ersten 30 Jahre. Mannheim 1983; Herbert Lehmann: Duisburgs Großhandel und Speditionen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1905. Duisburg 1958; Martin Veiden: 200 Jahre Haniel. Duisburg 1956; Andreas Kunz: The economic performance of inland navigation in Germany, 1835–1935: a reassessment of traffic flows, in: Andreas Kunz and John Armstrong (Hg.): Inland Navigation and Economic Development in Nineteenth Century Europe. Mainz 1995, S. 47–78. 10 Rainer Karlsch / Raymond Stokes: Faktor Öl – Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859– 1974. München 2003.
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wurden und die von deutschen Architekten als vorbildliche Bauweise angesehen wurden.11 Die Lagerhäuser der Mühlenindustrie hatten die Funktionen der Lagerung von Korn, der Verarbeitung von Korn zu Mehl und der Abfüllung. Abgefüllt wurde das Korn bzw. Mehl in Eisenbahnwaggons, in LKW und in 100 Kilogramm schwere Jutesäcke. Für diese Säcke gab es deutschlandweit ein Verleih- und Mietsystem.12 Mit den Säcken verknüpfte die Mühlenindustrie das Logistikgebiet des Massenguts mit dem des Stückguts. Als die Filialketten des Einzelhandels in den 1920er Jahren aufkamen, war die Anlieferung von Mehl in 100 Kilogramm Säcken nicht mehr zeitgemäß, da die zumeist weiblichen Beschäftigten der Ketten diese Säcke nicht bewältigen konnten. Dieses ist ein bisher unbeachtet gebliebener Gender-Aspekt in der Geschichte der Logistik. Als Knotenpunkte in der Lieferkette hatte die Mühlenindustrie in Deutschland offenbar eine marktbeherrschende Stellung, denn sie ließ sich nicht auf Verbesserungswünsche des Handels ein, sondern lieferte die Ware nach wie vor in 100 Kilogramm-Säcken anstelle der gewünschten kleineren Größen, sodass die Filialketten kleine Packungsgrößen selber umfüllen mussten.13 Die Förderung und Verarbeitung von Korn in großen Mengen führte zu starker Entwicklung von Staub, der gesondert aufgefangen werden musste und zu Abrechnungsproblemen wegen Gewichtsminderung führte.14
Abbildung 2: Die Sternstruktur des französischen Eisenbahnnetzes im Jahre 1860; Quelle: Allan Mitchell: The Great Race. Railways and the Franco–German Rivalry. New York 2000, S. 66.
11 Walter Gropius: Die Entwicklung moderner Industriebaukunst, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes. Jena 1913, S. 17–22; William Cronon: Nature’s Metropolis – Chicago and the Great West. New York 1991, S. 111. 12 Klaus Grass: Die Binnenschifffahrtspedition – Die Organisation und Betriebstechnik im Speditionsgroßbetrieb der Rheinschifffahrt. Dissertation Universität Frankfurt 1927, S. 99. 13 Interview mit Carl Schrader, in: 50 Jahre Selbstbedienung. Sonderausgabe der Zeitschrift „Dynamik im Handel“. Köln 1988, S. 170–179. Einzelne Mühlen boten Kleinpackungen für den Einzelhandel an, so z.B. die Mühle Bienert in Dresden, Deutscher Kalender für den Kolonialwaren- und Feinkosthandel 1927. Berlin 1926, S. 9. 14 Förster (ohne Vornamen): Der Berliner Westhafen, in: Der Güterumschlag, Tagung und Ausstellung des VDI in Düsseldorf und Köln 1925, Sonderausgabe der Zeitschrift des VDI. Berlin 1926, S. 141–148.
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Der Bau von Eisenbahnen als wichtigstem Verkehrsträger für den Transport von Massengütern war im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stark politisiert. Die deutschen Kleinstaaten bestimmten die für sie geeigneten Linien.15 Die als „Eiserner Rhein“ bezeichnete Linie von Köln über Wesel nach Antwerpen verminderte die Abhängigkeit des Ruhrgebietes von den niederländischen Häfen und brachte dem neu gegründeten Staat Belgien Verkehr zu dessen Hafenstadt Antwerpen. In Frankreich liefen die Eisenbahnlinien sternförmig auf die Hauptstadt Paris zu. Abbildung 2 verdeutlicht dieses Netz für das Jahr 1860. Deutschland war im Unterschied zu Frankreich politisch und wirtschaftlich dezentral. Dies führte zu einem dichten Eisenbahnnetz mit vielen Querverbindungen, ohne bloß sternförmig auf Berlin zuzulaufen. Deutschland und Österreich beherrschten zudem eisenbahnpolitisch Mitteleuropa mit dem Verein der Deutschen Eisenbahnverwaltungen und riefen den Argwohn von Frankreich hervor. Die Annexion von Elsass-Lothringen nach dem deutsch-französischem Krieg 1870/71 verstärkte die deutsche eisenbahnpolitische Vorherrschaft in Europa und schnitt Basel vom ostfranzösischen Eisenbahnnetz ab. Um eine neue Linie zu schaffen, wurde die Eisenbahnverbindung von Belfort über Belle nach Bern durch das Jura gebaut, worüber nun ein Teil des schweizerischen Warenverkehrs mit dem Hafen Antwerpen lief.16 Der Schweizer Warenexport erfolgte aber auch von Basel aus mit den deutschen Eisenbahnen in die norddeutschen Exporthäfen, da die deutschen Eisenbahnen kostengünstig Seehäfen-Ausnahmetarife anboten. Dies ist insofern kurios, als dass die Ausnahmetarife der deutschen Eisenbahnen eigentlich den Export der heimischen Industrie fördern sollten, aber nicht denjenigen der Schweiz.17 Der Export der Schweiz hätte auch über die näher gelegenen französischen Exporthäfen von Bordeaux und Nantes erfolgen können. Aber es existierten keine Querverbindungen von Bordeaux oder Nantes nach Bern. Um den Einfluss der Deutschen in Mitteleuropa zu mindern und auch die Westschweiz an die westfranzösischen Exporthäfen anzubinden, wurden in Frankreich seit 1900 immer wieder Eisenbahn–Querverbindungen längs des 45. Breitengrads von Bordeaux über Norditalien und Belgrad nach Bukarest diskutiert und als 45-Grad-Linie bezeichnet. Diese Linie wurde aber niemals gebaut.18
15 Dieter Ziegler: Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Stuttgart 1996, S. 26. 16 Bauer: Basel (wie Anm. 8), S. 22. 17 Zu den Seehäfen-Ausnahmetarifen siehe Kurt Wiedenfeld: Die Raumbeziehungen im Wirtschaften der Welt. Berlin 1939, S. 184. Nach Wiedenfeld waren diese Ausnahmetarife in vielen Ländern üblich. 18 Irene Anastasiadou: In Search of a Railway Europe – Transnational Railway Developments in Interwar Europe. Amsterdam 2009, S. 42.
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DIE EXPANSION DES STÜCKGUTS IM 20. JAHRHUNDERT Man kann die Logistik im 20. Jahrhundert als eine kräftige und kaum vorhergesehene Expansion des Stückgutverkehrs deuten, welcher u.a. der Versorgung von Einzelhandelsketten diente und im kleinteiligen Paket-Versand des Internethandels kulminierte (vgl. Abbildung 3). Als Stückgut bezeichnet man Güter, die in Kartons, Fässern, Säcken, Körben oder Holzkisten verpackt und umgeschlagen werden und die als einzelne Stücke einen Eisenbahnwaggon mit 15 Tonnen Ladekapazität nicht auslasten. Zumeist wiegt ein einzelnes Stückgut zwischen einem und 100 Kilogramm.
Abbildung 3: Pakete im Versandzentrum Bad Hersfeld von Amazon; Quelle: Pressefoto Amazon 2012.
Ein Beispiel für eine frühe, ausgefeilte Lagertechnik für Stückgut findet sich in der Speicherstadt Hamburg. Deren Bau erfolgte auf einem Freihafengelände, nachdem Hamburg dem Zollgebiet des Deutschen Reiches beigetreten war. Die zuvor im Stadtgebiet angesiedelten Lagerhäuser wurden nun im Freihafen konzentriert. Um zollfrei in das Deutsche Reich liefern zu können, hatte sich die Hamburger Industrie allerdings bereits vor dem Beitritt zum Zollgebiet des Deutschen Reiches außerhalb des Zollgebietes der Stadt angesiedelt, z.B. in Altona. Damit umschließt die Industrie ringförmig das alte Hamburg. Die Nichtexistenz von Industrie auf dem Gebiet der Stadt führte zum Verständnis von Hamburg als eine Handelsstadt. Die Industrie- und Handelskammer heißt daher in Hamburg bloß Handelskammer. Die Speicherstadt wurde für die in der Massenkonsumgesellschaft bedeutenden Kaffee-, Tee-, Tabak- und Schokoladeindustrien im Raum Hamburg in einem gemeinsamen Projekt als geschlossenes Ensemble in den 1880er Jahren aufgebaut, nachdem dort Altstadtviertel rigoros abgerissen worden waren. In den Speichern lagerten Kaffee- und Kakaobohnen in Jutesäcken im Auftrag der Hamburger Kaffee- und Schokoladen-Industrien, ferner Tabak und Tee (vgl. Abbildung 4).19
19 Dierk Lawrenz: Die Hamburger Speicherstadt. Freiburg 2008; Frank Hinz: Planung und Finanzierung der Speicherstadt in Hamburg. Münster 2000.
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Abbildung 4: Umschlag in der Speicherstadt: Verladung eines Tabakfasses im Jahre 1947; Quelle: Fotoarchiv des Hafens Hamburg.
Die Schokoladenindustrie war bedeutender als gemeinhin angenommen. Eine Analyse der Lieferanten des Lebensmittelhandels in Deutschland im Jahre 1926 ergab für die Schokoladenindustrie 161 Werke in Deutschland und damit die Spitze der Sparten der Lebensmittelindustrie, gefolgt von den Essigwerken mit lediglich 112 Werken.20 Auch die im Hamburger Raum bedeutsame Gummiindustrie – die Schläuche für Maschinen und Reifen für Fahrräder, später auch für Automobile, produzierte – griff auf die Speicherstadt zu und lagerte dort Ballen von Kautschuk.21 Während man seit den 1980er Jahren in der Logistik vom Outsourcing von Lageroperationen aus Industrieunternehmen spricht,22 war in der Speicherstadt das Lagergeschäft von vornherein als separate Aktivität realisiert. Im Lagergeschäft entwickelten sich auch Anfänge der beschreibenden Statistik. Dort wurde buchgeführt über Stapelplätze und die Qualität der Ware; Proben entnahm man mit Röhrchen, mit denen man in die Jutesäcke stach, und verwahrte sie in Tüten auf. In den deutschsprachigen Lehrbüchern zur Statistik spricht man deswegen noch heute von einer „Stichprobe“, die (aus Säcken) „gezogen“ wird. In der englischsprachigen Statistik heißt es bloß „sample“. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts trat die Kategorie Stückgut im Eisenbahnverkehr vermehrt auf und hatte kräftige Wachstumszahlen. Die Bahnhöfe an der Berliner Ringbahn verzeichneten einen Anstieg des Stückgutverkehrs von 1891 bis 1911 um mehr als 700 Prozent.23 Man kann daher Stückgut als neue Güterkategorie im Eisenbahnverkehr deuten, die neben den Transport von Massengütern trat und neue Umschlagseinrichtungen erforderte. Von den deutschen Eisen-
20 Daten nach Deutscher Kalender für den Kolonialwaren- und Feinkosthandel 1927. Berlin 1926; siehe auch Richard Vahrenkamp: Die logistische Revolution – Der Aufstieg der Logistik in der Massenkonsumgesellschaft. Frankfurt 2011, S. 36. 21 Dietrich Kausche: Aus der Frühzeit der Harburger Gummiindustrie: Die Anfänge der Gummifabrik der Brüder Cohen in der Wilstorfer Straße (1856–1864). Hamburg 1981. 22 Rainer Lasch: Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse. Berlin 2014. 23 Ist es mit den Interessen von Groß-Berlin vereinbar, die Güterbahnhöfe aus der Innenstadt in die Außenbezirke zu verlegen? Denkschrift, aufgestellt vom Architekten-Ausschuß GroßBerlin. Berlin-Grunewald, Burgverlag 1913, S. 5.
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bahnhistorikern ist bisher die Güterkategorie des Stückgutes kaum beachtet worden. Die Hauptgüterkategorien in der Eisenbahnstatistik betrafen ausschließlich das Massengut, während das Stückgut in der Kategorie „Sonstiges“ verdeckt wurde.24 Der Anstieg des Stückgutverkehrs führte zu einem enormen Verbrauch an Schnittholz zur Produktion von Holzkisten und -fässern (Barrel). Schätzungen für die USA im Jahre 1930 gehen von einem Verbrauch von 14 Prozent der Schnittholzproduktion allein für Holzkisten und Holzfässer aus.25 Die Deutsch– Amerikanische Petroleum Gesellschaft erzeugte in ihrer 1896 in Hamburg eröffneten Fassfabrik pro Jahr 600.000 Holzfässer, für die sie jährlich zwölf Millionen Eichenstäbe aus den USA auf jeweils zehn Ladungen von Segelschiffen importierte.26 In Russlands Erdölgebiet Baku zwang der Holzmangel bereits im 19. Jahrhundert dazu, von der Produktion von Holzfässern abzusehen und das erzeugte Petroleum in Stahlfässern zu versenden.27 Der Versand von Paketen im Deutschen Reich durch die Reichspost stieg rasant von 33 Millionen im Jahre 1872 auf 258 Millionen im Jahre 1910,28 was jedoch bloß einen Ausschnitt aus dem Wachstum des Stückgutversands ergibt. Die Ursachen für die Expansion des Stückgutverkehrs waren zahlreich. Zu nennen ist der seit Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Versandhandel für Konsumgüter, der kräftige Impulse von der Vereinfachung des Postverkehrs im Deutschen Reich seit 1871 erfuhr. Sie ermöglichte Bestellungen von Kunden in kleinen Orten und auf dem flachen Lande mit dem neu geschaffenen Medium der bloß niedrigen Portokosten unterliegenden Postkarte und beruhte auf dem Liefernetz der Post für die Zustellung von Paketen. Fabriken für Konsumgüter wie Textilien, Haushaltsartikel, Spielwaren und Möbel warben in Zeitungsanzeigen für den Postversand ihrer Artikel, ebenso wie auch kleine Anbieter von Butter und Honig.29 Die Lebhaftigkeit des damaligen Versandhandels weist überraschende Parallelen zum heutigen Paket–Versand in der Internet–Ökonomie auf. Mit der Expansion des Versandhandels kamen Kataloge als Werbemedium auf. Der 237 Seiten umfassende Katalog des Versandhändlers Stukenbrok aus Einbeck – der pro Jahr in einer Auflage von einer Million verbreitet wurde – zeigt in einem Vorwort für das Jahr 1912 die gleichmäßige Verteilung seiner mehr als 700.000 Kunden über alle Bundesstaaten des Deutschen Reiches auf, was auf eine flächendeckende Verteilung von Werbeträgern und die gleichmäßige Verteilleistung von Paketen der Post
24 Heinrich Goes: Statistik der Eisenbahnen. Dissertation 1928, Universität Frankfurt, S. 78. Goes erwähnt nicht einmal den Begriff Stückgut. 25 Albert Churella: Delivery to the Customer’s Door: Efficiency, Regulatory Policy, and Integrated Rail-Truck Operations 1900–1938, in: Enterprise and Society 10, no. 1, 2009, S. 104. 26 Esso AG (Hg.): 100 Jahre Esso. Hamburg 1990, ohne Paginierung, Jahresabschnitt 1896. 27 Berlin und seine Eisenbahnen, Band 2. Berlin 1896, Reprint Berlin 1982, S. 349. 28 Hans Rackow: Handwörterbuch des Postwesens, 2. Auflage. Frankfurt (Main) 1953, S. 469. 29 Uwe Spiekermann: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850–1914. München 1999, S. 295.
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hindeutet.30 In seinem Vorwort wies August Stukenbrok auf, dass er in seinem Unternehmen modernste Organisationskonzepte anwandte, um die zweitausend Bestellungen, die täglich eingingen, schnell und präzise abzuwickeln. Der Versandhandel trat in Europa zur gleichen Zeit wie in den USA auf. Insofern ist die Darstellung von Alfred Chandler nicht präzise, wenn er in seinem Standardwerk „The Visible Hand“ suggeriert, moderne Organisationskonzepte im Versandhandel seien eine amerikanische Erfindung.31 Zum Versandhandel trugen auch die um 1900 entstandenen Warenhausketten bei, die den Paketversand als einen eigenen Geschäftszweig entwickelten.32 Auch die zunehmende industrielle Fabrikation von fertigen Nahrungsmitteln wie Gemüsekonserven, die von den Fabriken in Kartons verpackt als Stückgut zum Versand an den Einzelhandel gelangten, trieb den Stückgutsektor an. Weitere Beispiele dafür sind Fischkonserven, ferner die Tütensuppen und Fleischextrakte der Firmen Liebig und Maggi.33 Eine weitere Ursache der Stückgutexpansion betrifft den Versand von Ersatzteilen. Ein Unternehmer der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen und stark expandierenden Maschinenbauindustrien im weiteren Sinne34 konnte seine Maschinen nur dann verkaufen, wenn er seinen Kunden einen raschen Lieferservice für Ersatzteile bot. So siedelte zum Beispiel der Kasseler LKW–Hersteller Henschel im Jahre 1938 sein zentrales Ersatzteillager für Deutschland am südlichen Autobahnring von Berlin an.35 Jede Anforderung eines Ersatzteils in einer Reparaturwerkstatt bedeutete einen Versand von Stückgut, der von der Eisenbahn oder von LKW-Speditionen erledigt werden musste. Einen 30 Illustrierter Hauptkatalog August Stukenbrok. Einbeck 1912, S. 5 (Reprint 1996, Olms Presse, Hildesheim). Stukenbroks Kunden stellten pro Bundesstaat ein bis zwei Prozent der Bevölkerung dar; Elke Heege: Fahrrad-Fabrik August Stukenbrok Einbeck. Die Geschichte eines Versandhauses (Kleine Schriften des Städtischen Museums Einbeck, Heft 4), Isensee Verlag. Oldenburg 1996. 31 Alfred Chandler: The Visible Hand. Harvard University Press 1977, S. 230. Das gleiche Argument trifft auf das Management von Eisenbahnlinien zu. 32 Zu den Warenhausketten liegen verschiedene Studien vor, siehe Spiekermann: Konsumgesellschaft (wie Anm. 32); Christopher Kopper weist auf die vertikale Integration zwischen Industrie und Warenhäusern hin, siehe Kopper: Handel und Verkehr (wie Anm. 2), S. 17; Anna Pauli gibt eine Analyse des Warenhauskonzern Schocken, siehe Anna Pauli: Das Prinzip der „Sachlichkeit in der Warenverteilung“. Zum Marketingkonzept des Schocken Konzerns in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Heft 1 (Band 62), 2017, S. 87–110, zum Schocken Konzern siehe auch Vahrenkamp: Die logistische Revolution (wie Anm. 23), S. 32; zur Statistik der Warenhäuser in der Weimarer Republik siehe Mark Spoerer: Einleitung: Produktion und Verkauf von Kleidung seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Heft 1 (Band 62), 2017, S. 1–8, hier 4. 33 Hans Jürgen Teuteberg: Hochseefischerei, Fischhandel und Fischkonservierung in der deutschen Hochindustrialisierung, 1885–1930, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 95. Bd., Heft 2, (2008), S. 135–156; Annatina Seifert (Hg.): Dosenmilch und Pulversuppen – Die Anfänge der Schweizer Lebensmittelindustrie. Vevey 2008. 34 Gemeint sind die Branchen Landmaschinen, Baumaschinen, Fahrzeugbau, Flugzeugbau, Kraftwerke, Elektrotechnik, Drucktechnik und Medizintechnik. 35 Der Henschelstern, 1939, Heft 4, S. 100.
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weiteren Impuls für das Wachstum des Stückgutverkehrs gab die Produktdifferenzierung, welche die Konsumgüter- wie auch die Investitionsgütermärkte im 20. Jahrhundert gleichermaßen kennzeichnete. Die Produktdifferenzierung führte letztlich zum Versand von kleineren Mengen bis hin zum einzelnen Stück. Die Just-in-Time-Anlieferung, die seit den 1980er Jahren die Autoproduktion prägt, führte ebenfalls zum Wachstum des Stückgutverkehrs. Der Versand von Stückgut erfolgte zunächst im Eisenbahnsystem und verlagerte sich dann in den 1920er Jahre teilweise auf den LKW-Verkehr. Dieser wurde auf der Langstrecke durch den Bau von Autobahnen seit 1933 in Deutschland erleichtert, die den LKW-gestützten Distributionssystemen zusätzliche Impulse vermittelten. Allerdings musste die LKW-gestützte Logistik gegen LKWfeindliche Regulierungen des Reichsverkehrsministeriums ankämpfen, die ab 1949 vom Verkehrsministerium der Bundesrepublik übernommen wurden. Überraschenderweise kam es zum Triumph der LKW-gestützten Logistik trotz der Hindernisse durch die Politik.36 Wegen hoher finanzieller Verluste im Stückgutverkehr gab die Eisenbahn in Deutschland den Stückgutverkehr in den 1990er Jahren auf und übertrug ihn auf Netzwerke des LKW-Verkehrs. Diese Politik unterscheidet sich von anderen Ländern in Europa wie der Schweiz, die nach wie vor Stückgutverkehre mit der Bahn ausführen.
DER STÜCKGUTVERKEHR ALS ENGPASS IN DER EISENBAHNLOGISTIK Das rapide Wachstum des Stückgutverkehrs seit 1890 verursachte andauernde Verstopfungen auf Rangierbahnhöfen und Güterschuppen, wo das Stückgut von der Schiene zur Straße umgeschlagen wurde. Zwischen 1890 und 1940 wurden die Eisenbahnanlagen für den Güterverkehr in Deutschland andauernd erweitert, um der Verstopfung zu begegnen.37 Diese Engpässe im Güterverkehr sind von den deutschen Eisenbahnhistorikern bisher kaum beachtet worden. Vielmehr behandelt zum Beispiel Heinz Kretschmann die Erweiterung des Bahnknotens Hamm in einer Weise, als sei das Verstopfungsproblem damit gelöst. Auch das Standardwerk von Lothar Gall und Manfred Pohl geht nicht auf Engpässe im Stückgutverkehr der Eisenbahn ein.38 Die Probleme im Stückgutverkehr der Eisenbahn resultierten daraus, dass der Arbeitsaufwand für den Güterumschlag sehr hoch war,
36 Richard Vahrenkamp: Lastkraftwagen und Logistik in Deutschland 1900 bis 1955, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 95, 2008, Heft 4, S. 430–455. 37 Vahrenkamp: Die logistische Revolution, Kapitel 6 (wie Anm. 23). 38 Heinz Kretschmann: Die Ausweitung des Eisenbahnnetzes im Ruhrgebiet im frühen 20. Jahrhundert, in: Wilfried Reininghaus (Hg.): Verkehr und Region im 19. und 20. Jahrhundert. Paderborn 1999, S. 295–310. Lothar Gall / Manfred Pohl (Hg.): Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999.
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zumal dieser bis 1940 (und auch später) kaum mechanisiert war und man als einziges mechanisches Hilfsmittel über Sackkarren verfügte (vgl. Abbildung 5).
Abbildung 5: Umständlicher Umschlag von Stückgut mit der Sackkarre an der Laderampe an einem Berliner Bahnhof 1938. Man beachte die Beschädigung der Rampe im Vordergrund;39 Quelle: Reichsverkehrsministerium, freigegeben von der Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt.
Eine Reportage über die auch als Güterboden bezeichnete Güterhalle von Heilbronn aus dem Jahre 1937 zeigte auf, dass ein Güterbodenarbeiter täglich 200 bis 300 Zentner mit der Sackkarre bewegte und dabei bis zu 40 Kilometer in der Umschlagshalle zurücklegte.40 Hier tut sich ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Personenverkehr und dem Güterverkehr der Bahn auf. Während Personen selbstständig die Züge wechseln und den Bahnhof betreten bzw. verlassen, ist dies beim Stückgut nicht der Fall. Vielmehr steckt das Stückgut im Eisenbahnwaggon und in der Umschlaghalle fest, benötigt einen äußerst arbeitsintensiven manuellen Umschlag und einen Transport mit Sackkarren oder Transportwagen innerhalb der Güterhalle. Kleine Orte besaßen – wenn sie überhaupt an das Eisenbahnnetz angeschlossen waren – nur einen einzigen Bahnhof,41 womit die dortige Versorgung mit Stückgut einfach war. Dagegen war die Situation in Großstädten komplex: Jede Großstadt in Deutschland hatte im Umland ein lokales Netzwerk von Ortsgüterbahnhöfen zur Versorgung der lokalen Industrie, zwischen denen und dem zentralen Rangierbahnhof einzelne Güterwagen hin und her bewegt wurden, was zu Verzögerungen und ungünstigem Aufwand einer teuren Lokomotivstunde (ein-
39 Der Schaden an der Rampe deutet auf unterbliebene Ersatzinvestitionen der Reichsbahn im Stückgutsektor hin. 40 Wir Eisenbahner. Berlin 1937, herausgegeben von der Deutschen Reichsbahn, S. 92. Die Angabe von 40 km Fußmarsch pro Tag scheint übertrieben zu sein. Die Laufwege der Order– Picker in den Amazon-Logistikhallen bewegen sich zwischen 15 und 28 Kilometer pro Tag, siehe die Reportage zur Halle in Phoenix, USA, in der FAZ vom 3.11.2015. 41 In Deutschland waren im Jahre 1930 bloß ca. ein Drittel der Gemeinden an das Eisenbahnnetz angeschlossen, was auch als eine der Rechtfertigungen für den Autobahnbau der Nationalsozialisten diente, um mehr Gemeinden an überregionale Netze anzuschließen, siehe Richard Vahrenkamp: Der Autobahnbau in Hessen bis 1943, Hessisches Wirtschaftsarchiv. Darmstadt 2007, S. 56. Der spätere Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, Fritz Todt, wies in seiner Denkschrift bereits im Jahre 1932 darauf hin.
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schließlich Leerfahrt) für die Bewegung von wenigen Güterwagen führte. Dieses lokale Netzwerk ist bislang von der deutschen Forschung nicht beachtet worden und findet eine verblüffende Analogie in lokalen Computernetzwerken von Verwaltungsgebäuden (LAN).
Abbildung 6: Lokales Netzwerk von Ortsgüterbahnhöfen um München; Quelle: Güterkursbuch 193.
Die Güterböden in den lokalen Netzwerken nahmen die Funktion der Schnittstelle zwischen den Infrastrukturen Gleis und Straße ein und trennten in den Schuppen die Lagerplätze für Versand und Empfang. Das Zu- und Abrollen der Ware von der Ladestraße der Ortsgüterbahnhöfe in die Umgebung nahmen „Bestätter“ oder Rolldienste vor, die bis etwa 1940 überwiegend mit Pferdefuhrwerken unterwegs waren. Das folgende Bild zeigt eine Szene vor einem Schuppen in Rastatt.
Abbildung 7: Mit Pferden bespannte Rolldienste auf der Ladestraße vor einem Schuppen in Rastatt 1931; Quelle: Reichsverkehrsministerium, freigegeben von der Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt.
Der Stückgutversand der Eisenbahn wies mit den Kategorien Eil- und Expressgut zwei zusätzliche Qualitätsstufen zu erhöhten Preisen auf. Während das Expressgut nur kleine und leichte Sendungen bis 30 Kilogramm umfassen durfte, die im Gepäckwagen von Personenzügen befördert wurden, konnten schwerere Stückgüter als Eilgut in einem besonderen Eilgutwagen mit Personenzügen transportiert werden. Mit den Personenzügen konnten der Versand von Eil- und von Expressgut schnelle Direktverkehre zwischen je zwei Personen-Hauptbahnhöfen ermöglichen
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und die umständlichen Abläufe des Stückgutverkehrs umgehen. Die Annahmeschalter für Eilgut und für Expressgut waren in die Personenbahnhöfe integriert. Großstädte besaßen nahe dem Hauptbahnhof besondere Eilgutterminals, wohin die angehängten Eilgutwagen gebracht und wo auch Frischeprodukte wie Milch oder Gemüse als Eilgut umgeschlagen wurden. Die folgende Abbildung zeigt die dem Lehrter Bahnhof in Berlin angegliederte Eilguthalle im Jahre 1910.
Abbildung 8: Der Lehrter Bahnhof in Berlin 1910 mit der besonderen Halle für Eilgut und Milchanlieferung; Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (02) Nr. 61-4086.
Auf Verkehrsverbindungen mit einem hohen Aufkommen an Eilgut setzte die Bahn besondere Eilgutzüge ein, die zwischen je zwei großen Personenhauptbahnhöfen verkehrten, aber nicht zwischen je zwei Güterbahnhöfen. Expressgutdienste boten die deutschen Länderbahnen seit 1885 im Wettbewerb mit der Post um das Marktsegment von Paketen mit einem attraktiven Service an. Expressgut konnte eine Übernachtlieferung ermöglichen. Die Annahmeschalter waren sogar am Sonntagvormittag geöffnet.42 Der Versand als Expressgut entwickelte sich rapide. Ralf Joseph bezeichnete im Jahre 1928 die starke Zunahme des Expressgutverkehrs seit 1900 als „unerwartet“ und konstatierte, der Weihnachtsverkehr an Expressgut im Jahre 1927 habe „alle Erwartungen übertroffen“.43 Der Expressgutumschlag an Berliner Bahnhöfen verdoppelte sich von 31.000 Tonnen im Jahre 1913 auf 67.000 Tonnen im Jahre 1926 und führte zu Überlastungen der Systeme. Dabei verschlechterte die starke Zunahme des Expressgutumschlags an den Gepäckwagen aber den Service im Reiseverkehr; die Abfahrtzeiten der Züge verzögerten sich.44 Die folgende Abbildung zeigt die Verladung von Expressgut am Berliner Anhalter Bahnhof im Jahre 1931 in einen Gepäckwagen. Erkennbar sind vier an der Verladung beteiligte Bahnbeamte, was auf den hohen Personalaufwand des Expressgutversands hindeutet. Wie der Stückgutverkehr wies auch der
42 Rinaldini (ohne Vorname): Eilgut, in: Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 3. Berlin 1912, S. 495–497; Frankl-Hochwart (ohne Vorname): Expressgut, in: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, herausgeben von Freiherr von Röll, Band 4, 2. erweiterte Auflage. Berlin 1913, S. 417–420. 43 Ralf Joseph: Expressgut, in: Zeitung des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen 1928, S. 227–230, hier 230. 44 Schreiben der Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahngesellschaft an die Reichseisenbahndirektionen vom 14.02.1929, Bundesarchiv, Akte R5/20631.
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Expressgutverkehr eine komplizierte Tarifstruktur auf und unterschied verschiedene Warengruppen. Ermäßigte Tarife galten für frische Beeren, frisches Kernund Steinobst, frisches Gemüse und frische Speisepilze – sämtlich einheimischen Ursprungs –, Frauenmilch und deren Verpackung und Rücksendungen zur Frauenmilchsammelstelle.45 Dass die Eisenbahn Frauenmilch als eine besondere Kategorie aufführte, weist auf einen bislang unbeachteten Genderaspekt in der Geschichte der Logistik hin.
Abbildung 9: Verladung von Expressgut am Anhalter Bahnhof Berlin 1931; Quelle: Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt, Iserlohn, freigegeben von der Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt.
Die Stückgutverkehre auf Fernrelationen wurden in Deutschland in einem Netzwerk von 65 riesigen, 400 Meter langen Umschlagshallen für Stückgut verknüpft. Beispielsweise wurde beim Versand von Stückgut auf der Relation von München nach Berlin in Nürnberg umgeschlagen. In den Umschlagshallen war der Umschlag ebenfalls äußerst arbeitsintensiv. Er war wenig mechanisiert, anfällig für Fehlverladungen, Diebstahl und Beschädigungen sowie zeitaufwendig. Die folgende Abbildung gibt einen Einblick in die Umschlagshalle in Stettin (heute Szczecin) im Jahre 1932.
Abbildung 10: Stückgut-Umladehalle in Stettin (heute Szczecin) 1932. Man beachte die Sackkarre im Vordergrund; Quelle: Reichsverkehrsministerium, freigegeben von der Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt.
45 Fahrplan Bundesbahn 1952, Bezirk Nürnberg, S. 8.
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Abbildung 11: Arbeitsintensiver Umschlag von Stückgut auf dem Güterbahnhof des Berliner Hauptbahnhofs in Ostberlin im Jahre 1959; Quelle: Der Verkehrspraktiker, Heft 5, 1959.
Auch in der DDR bereitete der Stückgutumschlag wegen des Arbeitskräftemangels zahlreiche Probleme, zumal der Mechanisierungsgrad beim Umschlag niedrig war und die Stückgutschuppen der Ortsgüterbahnhöfe zum Teil über 100 Jahre alt und in einem sehr schlechten Zustand waren (vgl. oben Abbildung 5 mit dem Schaden an der Rampe). Als Arbeiter auf den Güterböden beschäftigte die DDR die niedrigste soziale Schicht – so etwa entlassene Strafgefangene – zu niedrigen Löhnen, was zur Fluktuation und Demotivation beitrug und die Qualität der Arbeit verschlechterte. So stauten sich in der DDR zeitweise mehrere 100 Waggons an den Schuppen, ohne entladen zu werden. Die zentralen und regionalen Transportausschüsse der DDR riefen immer wieder zu zusätzlichen Tag- und Nachtschichten zur Entladung der Waggons auf. Ferner behinderte der Ersatzteilmangel für Gabelstapler die Mechanisierung des Stückgutumschlags in der DDR. Erhard Döhler schätzte in den frühen 1960er Jahren, dass die Entladung von 15 Tonnen Stückgut aus einem Waggon ohne Hilfsmittel 270 Minuten mit vier Männern beanspruchte.46
DER STÜCKGUTVERKEHR MIT DEM LKW Da sich der Stückgutumschlag im Eisenbahnsystem aufstaute und dort die Transportzeiten lang wurden, verlagerte sich der Stückgutverkehr in den 1920er Jahren zunehmend auf den Lastkraftwagen (LKW).47 Die Daten für den Stückgutumschlag an den Bahnhöfen der großen deutschen Städte zeigen dies deutlich an. Gegenüber dem Höchststand im Jahre 1913 waren die Umschlagsmengen z.B. in
46 Erhard Döhler: Technologische Probleme im Stückgutumschlag, in: Der Verkehrspraktiker, Band 6, 1964, Heft 1, S. 34; Richard Vahrenkamp: The dream of large-scale truck transport enterprises – early outsourcing experiments in the German Democratic Republic, 1955–1980, in: Journal of Transport History, Bd. 36, Heft 1, 2015, S. 1–21. 47 Alexander Klose: Das Containerprinzip. Hamburg 2009, S. 46.
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Frankfurt a.M., Solingen und Düsseldorf in den Jahren 1927 und 1928 geringer.48 Auch die komplizierte Tarifstruktur des Stückgutverkehrs auf der Bahn führte zur Verlagerung auf den LKW, da die Bahn verschiedene Güterarten unterschied, während LKW-Speditionen nur nach den Kategorien Entfernung und Gewicht abrechneten, ohne die Güterart zu berücksichtigen. Bei der Wahl zwischen dem Versand mit der Eisenbahn und dem LKWVersand wurde häufig der letztere gewählt. Die Gründe liegen darin, dass der Versand mit der Bahn ein spezielles eisenbahntechnisches Know-how erforderte, das in den Unternehmen seit den 1950er Jahren immer weniger gepflegt wurde. Deswegen wählte man den einfacheren Weg: per LKW. Das versandtechnische Wissen für den Eisenbahntransport ist in der hohen Komplexität des Transportangebotes der Bahn und in den gestuften Preissystemen zu sehen. Eisenbahn- und LKW-Verkehre unterscheiden sich grundlegend. Der Eisenbahnbetrieb war ein System, das mit festen technischen Normen und auf der Grundlage von umfangreichen Handbüchern der Eisenbahnbetriebsordnung operierte. Demgegenüber waren auf den Straßen LKW mit unterschiedlichen technischen Standards unterwegs, die unabhängig voneinander und ohne feste Fahrpläne jederzeit fahren konnten. Die LKW benötigen zwar wie die Eisenbahn ebenfalls eine besondere Infrastruktur – die aus Straßen, Tankstellen und Reparaturservice bestand –, sie stellten aber kein „System“ dar und konnten deshalb schnell, unabhängig voneinander und kleinteilig disponiert werden. In der Literatur werden Beispiele für die eilige Versorgung von Berlin mit Karpfen und Gänsen mit dem LKW angegeben. Die Fahrzeit zwischen Heilbronn und Köln betrug (vor dem Autobahnbau in Deutschland) in den 1930er Jahren einen Tag und zwischen Heilbronn und Leipzig zwei Tage.49 Die Schnelligkeit der Lieferung mit dem LKW wurde bereits 1906 offenbar, als im Sommer die Pariser Tageszeitungen per LKW in die Seebäder der Normandie befördert wurden. Sie trafen dort um 8 Uhr am Morgen ein, während die Eisenbahn erst um 11 Uhr dort ankam.50 In den 1920er Jahren traten viele neue LKW-Hersteller in den Markt ein, zum Beispiel die Kasseler Firma Henschel im Jahre 1925.51 Um ihren Absatz anzukurbeln, boten diese Firmen den Spediteuren LKW auf der Basis von Ratenzahlung an, was zu geringen Markteintrittsbarrieren für Spediteure führte und eine Vielzahl von kapitalschwachen Ein-Mann- und Ein-LKW-Betrieben entstehen ließ, die sich gegenseitig unterboten. Da der Lastkraftwagen-Verkehr noch nicht ge-
48 Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Frankfurt a.M., Bericht über das Jahr 1928, Teil II, Die Wirtschaftliche Lage in den einzelnen Gewerbezweigen der Kammerbezirke, S. 347; Wirtschaft und Verkehr, Zeitung der IHK Düsseldorf, Nr. 19, 1928, S. 462; Mitteilungen der IHK Solingen, 28. Jahrgang, 1929, S. 166. 49 Das Auto-Ferntransport-Gewerbe, Heft 1, 1930, S. 8f; Richard Vahrenkamp: The German Autobahn 1920–1945. Hafraba Visions and Mega Projects. Köln 2010. 50 Allgemeine Automobil Zeitung, Wien, 26. August 1906. 51 Jürgen Nautz (Hg.): Henschel und Kassel – Fallstudien zur Geschichte des Unternehmens und der Familie Henschel. Darmstadt 2012, S. 136.
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setzlich geregelt war und Haftpflichtversicherungen noch nicht obligatorisch waren, galten in den 1920er Jahren Fuhrunternehmer auch als Hasardeure, die "wilde Verkehre" durchführten. Sowohl die Industrie- und Handelskammern als auch die Speditionsverbände forderten Maßnahmen zur Fixierung von Mindeststandards an Qualität und Sicherheit. Noch heute ist die Sicherheit im europaweiten LKWVerkehr ein Problem. So wies die Schweizer Polizei im Jahr 2015 täglich fünf LKW mit schweren Mängeln an Reifen und Bremsen von der Passage durch den Gotthardtunnel zurück.52 Als 1928 der LKW mit Dieselmotor auf dem Markt erschien, sanken die Treibstoffkosten gegenüber dem Benzinmotor nach Angaben der Humboldt– Deutz–Motoren AG um 80 Prozent, was den Absatz von LKW zusätzlich beflügelte.53 Ohne den äußeren Rahmen eines festen „Systems“, den technische Normen wie bei der Eisenbahn vorgaben, brachten die Vielzahl der LKW-Hersteller und der schnelle technische Fortschritt im LKW-Sektor letztlich eine äußerst heterogene LKW-Flotte auf dem Straßennetz hervor mit einem entsprechend weit gespannten Bedarf an Ersatzteilen, der den Einsatz motorisierter Verbände im Zweiten Weltkrieg behinderte.54 Ein rascher technischer Fortschritt kennzeichnete den LKW im gesamten 20. Jahrhundert und kulminierte in einer Vielzahl elektronischer Sensoren im Fahrerhaus zur Überwachung der Aggregate und der Datenund Sprachkommunikation mit der Heimatbasis. Bemerkenswert ist, dass die kommunistischen Regime im früheren Ostblock nicht mit der Dezentralität, Flexibilität und Kleinteiligkeit des LKW-Verkehr zurechtkamen. Vergeblich versuchten sie, zentrale Organisationskonzepte, welche eine der Grundannahmen der kommunistischen Wirtschaftslehre darstellen und die sie erfolgreich in verschiedenen Gebieten der Gesellschaft anwandten und im Eisenbahnbetrieb sogar bei der Machtübernahme vorfanden, dem LKW-Verkehr überzustülpen. Erhebliche Qualitätseinbußen bei der Leistungserstellung im LKW-Verkehr waren die Folge.55
LKW-GÜTERTRANSPORTE IM EUROPÄISCHEN BINNENMARKT Die Geschichte der europäischen Verkehrspolitik ist von der Forschung bereits in verschiedenen Studien umfassend aufgearbeitet worden, so dass hier nur Aus-
52 trans aktuell vom 9.10.2015, S. 6. 53 Deutsche Speditions- und Schifffahrts-Zeitung, Nummer 3, 1931, S. 41. 54 Siehe Hans Pohl / Stephanie Habeth / Beate Brüninghaus: Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945. Stuttgart 1987, S. 90 zu den frontnahen Reparaturwerkstätten. 55 Richard Vahrenkamp: Coping with Shortage and Chaos: Truck Cargo Transport in the Eastern Bloc, 1950–1980, in: Icon – Journal of the International Committee for the History of Technology, Band 22, 2016, Heft 1, S. 126–146.
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schnitte gezeigt werden können.56 Die europäische Verkehrspolitik privilegierte den LKW-Verkehr gegenüber dem Eisenbahntransport und schuf einen europäischen Binnenmarkt für LKW-Transporte, während die nationalen Eisenbahngesellschaften fest in ihrer nationalen Tradition verankert waren und nur schwer zu einer Kooperation zu bewegen waren. Der Europäische Binnenmarkt ließ ab 1993 nur für den Gütertransport mit dem LKW die Grenzkontrollen wegfallen und verlagerte sie in die Administration der einzelnen Speditionen und Versender. Hingegen kontrollierte der Zoll die Güterwagen von Eisenbahnen zumindest stichprobenartig an der Grenze und hielt so den Zugtransport auf, während der LKW Grenzen ohne Halt durchfahren konnte. Auch die Küstenschifffahrt innerhalb der EU unterliegt nach wie vor der Zollkontrolle, so dass die von der EU geplante „Meeresautobahn“ per LKW-Fähren, z.B. von Emden nach Bilbao, nicht realisiert werden konnte. Als der Europäische Binnenmarkt zum 1. Januar 1993 geschaffen und die EWG in die Europäische Union (EU) umgewandelt wurde, bedeutete dies eine Harmonisierung von Abgaben, Steuern, Normen und Vorschriften und war besonders durch den Wegfall der Grenzformalitäten beim grenzüberschreitenden LKW-Güterverkehr gekennzeichnet. Bis dahin führte hohen Wartezeiten an den Grenzen zu langen Staus von LKW.57 Die Wartezeiten entstanden durch die Bearbeitung der erforderlichen Dokumente an der Grenze, die sich u. a. auf die unterschiedlichen Mehrwertsteuer- und Verbrauchsabgabesätze bezogen sowie auf unterschiedliche Hygiene- und Veterinärvorschriften bei Lebensmitteln. Die umfangreichen Untersuchungen der Cecchini-Kommission ergaben, dass den Unternehmen durch den internen Verwaltungsaufwand und die Wartezeiten an den Grenzen acht Milliarden Ecu an Kosten pro Jahr entstanden sind. Dieses entsprach ca. zwei Prozent des grenzüberschreitenden Warenwertes.58 Ferner zersplitterten unterschiedliche nationale technische Normen, etwa für Telefonapparate, den Markt und behinderten den freien Warenverkehr. Seit 1993 sind diese Hindernisse im Austausch von Waren und Dienstleistungen entfallen, und LKW können ohne Aufenthalt die Grenzen überwinden. Das Geschäftsfeld der Grenzabfertigung wurde für alle Speditionen ab dem 1. Januar 1993 ersatzlos gestrichen. In der Ge-
56 Johannes Frerich / Gernot Müller: Europäische Verkehrspolitik: Von den Anfängen bis zur Osterweiterung der Europäischen Union. München 2004; Volker Ebert / Phillip-Alexander Harter: Europa ohne Fahrplan? Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der EWG (1957–1985) (VSWG-Beiheft 211). Stuttgart 2010; Volker Ebert: Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel (VSWG-Beiheft 212). Stuttgart 2010. 57 Am Autobahn-Grenzübergang Kiefersfelden von Deutschland nach Österreich hielt im Jahre 1986 die Bundesregierung einen Stauraum für LKW von 1.200 m Länge für erforderlich, siehe Bundestagsdrucksache 10/5908, S. 2. 58 Paolo Cecchini: Europa 1992. Baden-Baden 1988, S. 28. Die Summe von 8 Mrd. Ecu wurde später von der Forschung als übertrieben hoch angezweifelt, siehe Engelbert Stockhammer: Wirtschaftliche Effekte des EU-Beitritts: Ein Literaturüberblick, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 31. Jahrgang (2005), Heft 3, S. 325–354.
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schäftssparte Verkehr des Stinnes Konzerns entfielen von 9,7 Milliarden DM Umsatz im Jahre 1992 allein 800 Millionen DM auf die Grenzabfertigung.59 Fragt man, wie schnell Kunden in Europa beliefert werden können, so entsteht folgendes Bild. Aus einem Zentrallager allein, ohne Regionallager, konnten die Kunden in Westeuropa innerhalb von drei Tagen mit dem LKW beliefert werden. Ein westeuropaweiter LKW-Lieferservice von zwei Tagen erforderte Regionallager in den Großräumen London, Paris, Barcelona, Mailand, Dortmund und Kopenhagen. Bei Gütern, die eine Lieferung innerhalb von 24 Stunden mit dem LKW erfordern, wie Ersatzteile, verderbliche oder leicht substituierbare Güter, sind kundennahe Regionallager erforderlich, deren Zahl westeuropaweit ca. 20 beträgt. Bei diesen Überlegungen zum Lieferservice spielen schnell und effizient abwickelbare LKW-Direktverkehre in Europa eine große Rolle, da in der Eurologistik ein Umschlag in Intermodalports, wie Häfen, Flughäfen und Güterbahnhöfen, entfällt, der die Überwindung einer Vielzahl von Schnittstellen erfordert, so zu Zeitverzögerungen führt und Risiken durch Streiks und des Verlusts durch Beschädigung und organisierter Kriminalität birgt. In den Ballungsräumen London, Paris, Brüssel und Köln leben zusammen ca. 80 Millionen Konsumenten. Ein Zentrallager in Brüssel oder in Lille kann diese Konsumenten in weniger als 24 Stunden mit einem LKW-gestützten Liefernetzwerk versorgen, so dass diese Standorte eine hohe Attraktivität für die Eurologistik besitzen.60 Durch den im Jahre 1994 eröffneten Kanaltunnel („Eurotunnel“) liegt die ehemalige Bergarbeiterstadt Lille im Zentrum der Ballungsräume.61 Ein Pendelzug baut die Verbindung Calais – Folkestone auf, der LKW wird im Huckepackverfahren durch den Tunnel transportiert. Nach London dauert die Zugfahrt von Lille durch den Eurotunnel 90 Minuten, nach Paris 60 und nach Brüssel 30 Minuten. Im Jahre 1998 transportierte der Pendelzug 704.000 LKW durch den Tunnel.62
DIE EISENBAHN IM GRENZÜBERSCHREITENDEN GÜTERVERKEHR IN EUROPA Um in Europa grenzüberschreitende Güterverkehre abzuwickeln, schlossen die europäischen Staaten im Jahre 1893 die CIM-Konvention ab.63 Sie ermöglichte einen grenzüberschreitenden Güterverkehr mit einem einzigen Frachtbrief abzuwickeln. Im Jahr 1951 schlossen die Ostblockstaaten ein eigenes Abkommen über den internationalen Eisenbahngüterverkehr (SMGS), das zur Folge hatte, dass
59 Handelsblatt vom 30.12.1993. 60 https://www.prologis.com/industrial-logistics-warehouse-space/europe/france/lille-industrialcenter-northern-france. 61 Terry Gourvish: The Official History of Britain and the Channel Tunnel. London 2006. 62 Deutsche Verkehrszeitung vom 6.2.1999. 63 CIM = Convention Internationale concernant le transport des Marchandise per chemin de fer.
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West–Ost–Verkehre nun mit zwei Frachtbriefen abgewickelt werden mussten: einem CIM-Frachtbrief bis zum Grenzbahnhof, und einem SMGS-Frachtbrief ab dem Grenzbahnhof.64 Probleme der Eisenbahn im grenzüberschreitenden Güterverkehr in Europa ergaben sich ferner daraus, dass Europa bis zum Jahr 2000 eisenbahnlogistisch im Wesentlichen ein Kartell von Gebietsmonopolisten war. An dem Erfolg der Europäischen Union, dem LKW-Verkehr einen reibungslosen Grenzübertritt zu ermöglichen, hatte die Eisenbahn nicht teil. Vielmehr blieben die Eisenbahngesellschaften nationale Organisationen, teilweise noch als Abteilung im Verkehrsministerium angebunden und mit starken Arbeitnehmervertretungen versehen, welche Änderungen der Organisation und der privilegierten Arbeitsverträge abwehrten. Damit ging der Prozess der europäischen Einigung an den Bahnen vorüber. Anstelle eines europaweiten Marktes für den Eisenbahntransport musste an jeder Grenze das Lokpersonal auf ein nationales Bordpersonal umgestellt und neue Lokomotiven vorgespannt werden. Eine europaweite Umlaufplanung von Güterwagen und Lokomotiven wurde auf Grund von unterschiedlichen maximalen Streckenlasten und abweichender Sicherheitstechnik für Lokomotiven und Zugsteuerungen nicht möglich., Das von der EU favorisierte European Train Control System (ETCS) verbreitete sich nur langsam, da es hohe Investitionen erforderte, die nicht im Interesse von nationalen Bahngesellschaften lagen, da diese ihr Hauptgeschäft im Inlandsverkehr machten. Als weiteres Problem für die Planung von grenzüberschreitenden Verkehren ergab sich, dass jede Bahn ihr Preissystem separat gestaltete. Die Nebengebühren waren intransparent und die Auffassungen über Haftung, Vertragslaufzeiten und Zahlungsbedingungen unterschiedlich. Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland besaßen jeweils eine starke eisenbahntechnische Industrie, mit der Folge, dass der Markt für Bahntechnik in Europa sehr stark in die einzelnen Länder und unwirtschaftlich kleine Fertigungslose stark zersplittert war. Europaweit gab es bis zum Jahre 2000 in der Bahntechnik 11 Stromsysteme und 15 verschiedene Betriebsleitsysteme.65 Zusätzlich zu den Problemen, die sich im grenzüberschreitenden Güterverkehr der nationalen Eisenbahngesellschaften ergeben, treten in alpenquerenden Verkehren zwischen Deutschland und Italien Koordinationsprobleme an den Grenzen auf, welche zu Verspätungen führen und den LKW-Verkehr über die Alpen begünstigen, der seit der Eröffnung der Brennerautobahn bis Verona im Jahre 1972
64 Frank Eichler: Die Entwicklung des Güterverkehrs zwischen Ost und West – aus der Sicht der Eisenbahnen, in: Uwe Petersen (Hg.): Gütertransportprobleme und Verkehrspolitik in Ost und West, Schriftenreihe der DVWG. Köln 1974, S. 58–69, hier 59. 65 Elektrische Bahnen, Heft 6, 2003, S. 262.
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möglich wurde. Diese Fragen sind von der Forschung bereits umfassend aufgearbeitet worden.66 Um die Koordinationsprobleme im grenzüberschreitenden Eisenbahngüterverkehr zu lösen, betrieb das Schweizer Unternehmen Hupac mit Sitz in Chiasso im „Kombinierten Verkehr“ in eigener Verantwortung eine Vielzahl von ShuttleZügen, beladen mit Containern oder Sattelaufliegern von LKW, zwischen Terminals am Rhein in Deutschland und Norditalien. Kombinierter Verkehr bedeutet, dass die Vor- und Nachläufe von und zu den Terminals mit dem LKW erfolgen, dort die Ladungseinheiten umgeschlagen werden, und der Hauptlauf zwischen den Terminals mit der Eisenbahn ausgeführt wird, wo Hupac eigene Umschlagsanlagen betreibt. Hupac schuf mit ihrem Shuttle-Konzept Pendelzüge mit eigenen Waggons und einer durchgehenden Verantwortung für den Wechsel von Lokomotiven und Besatzung an den Grenzen und hatte mit ihrem Shuttle-Konzept im Jahr 1989 auf der Relation Köln – Busto Arsizio (Mailand) über die Schweiz begonnen.67 Mit sechs Shuttle-Zügen pro Tag gehörte diese Relation Mitte der 1990er Jahre zu den am stärksten frequentierten Verbindungen. Auf den jeweiligen Relationen setzte die Hupac feste Wagenkombinationen mit einer gleichbleibenden Anzahl von Wagen ein. Die Züge verkehrten fahrplanmäßig mindestens fünfmal pro Woche in beiden Richtungen und pendelten immer nur zwischen denselben beiden Terminals. Das Hub–Terminal von Busto Arsizio mit über 30 Shuttlezügen pro Tag ist das Kernstück des Systems, um schnelle und regelmäßige Verbindungen zwischen den wichtigsten Wirtschaftsgebieten nördlich und südlich der Alpen herzustellen. Hupac besaß in den 1990er Jahren über 2.700 Waggons für den Transport der Ladeeinheiten und verlud pro Jahr rund 360.000 Sendungen im europäischen Kombinierten Verkehr. Gegenüber dem raschen technischen Fortschritt im LKW-Sektor fiel der Gütertransport mit der Eisenbahn technologisch vollkommen zurück. Wie vor 150 Jahren zieht eine Lokomotive Güterwagen hinter sich her, ohne eine Kommunikation und Kontrolle über den Zustand der Wagen zu haben. Die einzelnen Wagen besitzen keine GPS-Empfänger zur Ortung, keine RFID-Chips zur Identifikation, keine SIM-Karten zur Telekommunikation mit der Lokomotive und keine Sensoren, um heiß gelaufene Achsen oder eine Radunwucht festzustellen,68 was mit einer kleiner Meldebox für Güterwagen möglich wäre, die den „intelligenten“ Güterwagen ermöglicht und ihn telematische aufrüstet. Dazu brachte die Schaff-
66 Erhard Busek / Waldemar Hummer (Hg.): Alpenquerender und inneralpiner Transitverkehr: Probleme und Lösungsvorschläge. Wien 2005; Vahrenkamp: Die logistische Revolution (wie Anm. 23). 67 Firmenkommunikation HUPAC. 68 Noch im Jahre 2014 wurden Güterzüge vom Wagenmeister vor der Abfahrt mit Hammerschlägen gegen die Achsen und die Räder auf Funktionstüchtigkeit überprüft – wie vor 150 Jahren, siehe die Reportage von Sebastian Höhn vom Güterbahnhof Schwedt vom 19.11.2014 auf Spiegel Online, http://www.spiegel.de/karriere/wagenmeister-bei-der-deutschen-bahnueberprueft-sicherheit-von-waggons-a-991119.html.
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hausener Firma Savvy Telematic Systems AG im Jahre 2015 eine Box auf den Markt.69 Zur „Digitalisierung“ der Güterbahn ist aber noch der Weg lang. JensErik Galdiks von SBB Cargo schätzte 2015, dass die Schweizer Eisenbahngesellschaft (SBB) nicht vor dem Jahr 2050 intelligente Güterwagen flächendeckend einsetzten werde, was die zuweilen vorgebrachte These vom (äußerst) langsamen technischen Fortschritt in den europäischen Eisenbahngesellschaften stützt, die auch abgeleitet werden kann vom Scheitern der 100 Jahre währenden Bemühungen, in Europa eine standardisierte automatische Kupplung für Güterwagen einzuführen, während in den USA bereits seit Langem von den Vorteilen der automatischen Kupplung Gebrauch gemacht werden kann.70
DIE PAKETDIENSTE ALS BEGRÜNDER DER MODERNEN HOCHLEISTUNGSLOGISTIK Die Entwicklung der modernen Hochleistungslogistik, bei der es auf Schnelligkeit, Pünktlichkeit und Präzision ankommt, geht auf die Just-In-Time-Logistik in der Automobilindustrie und auf die Paket-Logistik zurück. Ich gehe hier nur auf Letztere ein, da zur Just-In-Time-Logistik bereits Veröffentlichungen vorliegen. Ein Segment unter den Stückgütern sind Pakete. Diese haben meist ein Gewicht zwischen 1 kg und 30 kg und eine quaderförmige Gestalt mit einem Gurtmaß von maximal 3 m. Ein Versender in Deutschland konnte im Jahre 1910 Pakete in fünf verschiedenen Kanälen versenden: mit der Eisenbahn als Stückgut, als Eilgut oder als Expressgut, mit der Reichspost oder mit einer Spedition, die das Paket entweder per Bahnfracht oder mit einem LKW befördern ließ.71 Für den Paketversand konnte die Reichspost Postwagen nutzen, die an die Personenzüge angehängt wurden.72 Das parallele Auftreten von Paket-Kanälen bei den öffentlichen Unternehmen Bahn und Post erregte im Jahre 1929 die Kritik des Sparkommissars des Reichsrechnungshofs, der Vorschläge zur Zusammenfassung im Segment über 10 kg forderte.73
69 Telematik Markt, Ausgabe II/2015, S. 12. 70 SBBCargo Blog vom 5. März 2015. Siehe auch die Tagung des Schweizer Unternehmens Wascosa in Luzern zum intelligenten Güterwagen im Jahre 2015. Kilian Elsasser: Die Einführung der automatischen Kupplung erfordert langfristige Planung. Eine Geschichte des Scheiterns der europäischen Bahnen, in: Monika Burri / Kilian Elsasser / David Gugerli (Hg.): Die Internationalität der Eisenbahn 1850–1970. Zürich 2003, S. 285–292. 71 Eine internationale Perspektive zum Paketversand nimmt Léonard Laborie ein: Global commerce in small boxes: parcel post, 1878–1913, in: Journal of Global History Volume 10, Heft 2, 2015, S. 235–258. 72 Lexikoneintrag zu „Eisenbahnpostbeförderung“ in: Otto Lueger: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3. Leipzig 1906, S. 316–317. Für die Versandoptionen im Versandhandel von 1912 siehe den Katalog Stukenbrok (wie Anm. 33), S. 5. 73 Bundesarchiv, Akte R5/20631.
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Die Post reagierte auf das stark wachsende Aufkommen von Paketen im Reichsgebiet – das von 103 Millionen im Jahre 1890 auf 258 Millionen im Jahre 1910 anstieg74 – und baute zwischen 1895 und 1925 riesige Paketsortieranlagen in Hamburg, Berlin, Leipzig, Stuttgart und Köln.75 Der neue Postbahnhof in Leipzig ging ab 1912 schrittweise in Betrieb. Acht Stahl–Glas–Hallen überspannten 29 Gleise, auf denen 90 Bahnpostwagen Platz fanden, und bildeten einen der größten Paketbahnhöfe in Europa. Die Stadt Leipzig als Quell- und Zielgebiet verzeichnete im Jahre 1911 10,4 Millionen Pakete im Ausgangs- und 4,8 Millionen im Eingangsverkehr. Sie lag inmitten der deutschen und österreichischen Postgebiete, und deren Postbahnhof war mit einem ständig wachsenden Durchgangsverkehr an Paketen konfrontiert, der sich 1912 bereits auf 36 Millionen Pakete belief. Im Jahre 1915 wurden innerhalb von 24 Stunden 300 Güter- und Bahnpostwagen im Eingangs- und Ausgangsverkehr in Leipzig be- und entladen.76 Dies erfolgte manuell, da Umschlagstechnologien fehlten. Alle Postbahnhöfe sind seit 1995 außer Betrieb und dienen heute zum Teil als Veranstaltungsorte mit Nostalgie-Touch, so der Postbahnhof am Ostbahnhof in Berlin und der Postbahnhof in Stuttgart am Park Rosenstein. Neben der Post bewegten die privaten Stückgutspeditionen in der Bundesrepublik im Jahre 1972 150 Millionen Pakete.77 Für diese Speditionen war es daher nahe liegend, für das Stückgut-Segment „Paket“ ein besonderes Distributionssystem zu entwickeln, zumal die standardisierten Eigenschaften eines Pakets sich vorzüglich eigneten, den Paketumschlag zu „industrialisieren": Von den schwer handhabbaren Gegenständen wie Fässern, Reifen, extrem langen bzw. schweren Gütern trennte man das leicht handhabbare Segment der quaderförmigen Pakete ab und entwickelte in den 1980er Jahren hochautomatisierte Technologien für die Sortierung. In den Sortierhallen wurden Pakete auf Laufbänder gesetzt und mit Kippschalen in die vorgesehenen Destinationskanäle abgeworfen. Scanner erkannten die Barcodes auf den Paketen und steuerten das Laufband. Die folgende Abbildung zeigt diese Sortiervorgänge mit einem Blick in eine Sortierhalle im Jahre 2011.
74 Hans Rackow: Handwörterbuch des Postwesens, 2. Auflage. Frankfurt (Main) 1953, S. 469. 75 Ebenda, Stichwort Postverladeanlagen. 76 Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 1912, S. 1367f; Leipziger Illustrirte Zeitung vom 5.12.1912; Wolfram Sturm: Eisenbahnzentrum Leipzig. Leipzig 2003, S. 54f; Michael Reinboth / Siegfried Marsteller: Vom Postamt Leipzig 18 zum Frachtpostzentrum Radefeld, in: Post- und Telekommunikationsgeschichte, Ausgabe Ost, Heft 1, 1997, S. 3–23, hier 5f. 77 Peter Badura: Der Paketdienst der Deutschen Bundespost, in: Jahrbuch der Deutschen Bundespost 1977, S. 120.
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Abbildung 12: Automatische Sortierung in einer Paketsortierhalle von DHL im Jahre 2011; Quelle: Pressefoto DHL.
Das ansonsten restriktive, das Monopol der Post schützende Postgesetz in der BRD ließ erstaunlicherweise eine Lücke für private Paketdienste offen. Diese nutzte United Parcel Service (UPS), ein US-Paketdienst, der 1975 in den deutschen Markt eintrat. Es folgten die beiden mittelständischen Kooperationsverbünde Deutscher Paketdienst (DPD) und German Logistics Services (GLS) 1976 und 1989, welche private Paketdienste gründeten. Diese Verbünde bestanden aus jeweils etwa 20 mittelständischen LKW-Speditionen, welche die BRD mit ihren Einzugsgebieten abdeckten, dort Sammel- und Verteilverkehre für Pakete aufbauten und den Verbund als Dachmarke für ein einheitliches Auftreten und eine einheitliche Preispolitik verstanden. Die Verbünde benutzten zentrale HubUmschlagseinrichtungen im Bereich Bad Hersfeld - Aschaffenburg als geographische Mitte der alten BRD und konnten die Lieferzeit auf unter 24 Stunden komprimieren, während im Stückgutbereich noch drei Tage üblich waren. Diese geographische Mitte wurde auch zur logistischen Mitte im wieder vereinigten Deutschland, so dass die dort angesiedelten Sortiereinrichten nahezu bruchlos in das wieder vereinigte Deutschland übernommen werden konnten. Ein wichtiger Netzwerktyp für Paket-Dienste ist das Hub-und SpokeNetzwerk. Diese Netzwerkform erinnert an ein Wagenrad mit zentraler Nabe und mehreren Speichen. Im Hubsystem werden die Sendungen aus den Regionallagerhäusern (Depot) in der Nacht in ein zentrales Umschlagdepot, das auch als Nabe oder Hub bezeichnet wird, eingeliefert, dort nach Zielen umsortiert und dann sternförmig in die regionalen Umschlagdepots (Speichen) befördert. Infolge dieser Organisation wird nur an einem zentralen Ort in nur einem Arbeitsgang sortiert. Allerdings ist diese Organisationsform nur für kleine Paketmengen pro Relation geeignet. Wenn große Aufkommen an Paketen zwischen je zwei Städten nahezu einen LKW ausfüllen, werden diese nicht im Hub sortiert, sondern im Ausgangsdepot vorsortiert und sodann mit dem LKW direkt zum Ziel gefahren. Das Hub- und Spoke-Netzwerk, das in der Passagierluftfahrt zur Bündelung von Fernflügen bereits seit Jahrzehnten praktiziert wurde, führte Frederick Smith mit seiner Firma Federal Express 1973 in die Paket-Logistik der USA ein – ein Konzept, das von zahlreichen Firmen nachgeahmt wurde. Die Stückgut-Spedition
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Schenker übernahm von den Paketdiensten das Hub- und Spoke-Konzept im Stückgut-Landverkehr mit dem LKW und errichtete 1994 in Friedewald bei Bad Hersfeld einen zentralen Hub für den Stückgutbereich.78 Der Erfolg der privaten Paketdienste in Deutschland stellte sich in langjährig hohen Wachstumsraten dar. Dafür waren auch neue Marketingkonzepte und insbesondere eine neue Preispolitik gegenüber den hergebrachten Stückgutspeditionen ausschlaggebend. Während die Letzteren für den Versand eines Stückguts dem Empfänger drei Rechnungen ausstellten, nämlich für den Sammelverkehr, den Verteilverkehr und für den Hauptlauf auf der Fernstrecke, war es bei den privaten Paketdiensten eine einzige Rechnung, die sich an einheitlichen Preistabellen orientierte, die nur nach dem Gewicht aufgebaut waren. Die privaten Paketdienste wiesen in den vergangenen 30 Jahren hohe Wachstumsraten auf. DPD und GLS erzielten im Jahr 2009 jeweils mehr als 1,3 Milliarden Euro Umsatz.79 Die Erwartung des Verfassers, dass in Europa ein einheitlicher Paketmarkt entstehen würde wie in den USA, hat sich nicht erfüllt. Vielmehr blieben die nationalen Paketmärkte voneinander unabhängig mit unterschiedlichen Laufzeiten und Angeboten. Die Lieferzeiten zwischen den Ländern der EU sind durchaus unterschiedlich. Angeregt vom früheren Bundeskanzler Helmut Kohl verlegte im Jahre 2008 der Postkonzern seinen internationalen Paketumschlag von Brüssel nach Leipzig. Der Flughafen Leipzig entwickelte sich zu einem internationalen Paketknoten für den deutschen Paketdienst DHL im Postkonzern, von wo aus Flugzeuge den Paketknoten Leipzig mit anderen Zielen in Europa und auch auf anderen Kontinenten verbinden. Der Paketknoten Leipzig wurde zu einem Herzstück der internationalen Internet-Ökonomie – „ein logistisches Zentrum von Weltformat", sagte Postchef Frank Appel auf der Pressekonferenz zur Eröffnung im Jahr 2008.80 Gestützt mit einer Beihilfe von 20 Prozent des Landes Sachsen, investierte DHL in Leipzig ca. 300 Millionen Euro in eine 400 Meter lange Sortierhalle für den Paketumschlag. Jede Nacht landen auf dem Flughafen ca. 60 Maschinen, deren Ladung um Mitternacht umgeschlagen wird. Deutschland ist mit seiner geographischen Ausdehnung besonders geeignet für die Paket-Belieferung über Nacht mit dem LKW. Die Entfernung Hamburg– München beträgt ungefähr 800 km und ist mit einem LKW bei Annahme von 80 Stundenkilometer Durchschnittsgeschwindigkeit unter Einrechnung von Pausen in elf Stunden zu bewältigen. Daher kann der Netzwerktyp Hub-und-Spoke in Deutschland betrieben werden. Anders ist die Situation in Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien, wo die Hauptachsen nicht mehr in einer Nacht durch-
78 Vogeler, Johannes: Logistische Netzwerkkonfiguration durch Hub–Systematik bei der Schenker Deutschland AG, in: Prockl, Günter: Entwicklungspfade und Meilensteine moderner Logistik: Skizzen einer Roadmap. Wiesbaden 2004, S. 158–179. 79 Richard Vahrenkamp / Herbert Kotzab: Logistik – Management und Strategien. München 2012, S. 159. 80 Richard Vahrenkamp: Globale Luftfracht-Netzwerke. Laufzeiten und Struktur. Hamburg 2014; Die Welt, 26.5.2008.
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fahren werden können. Daher kann mit bodengebundenen Transporten in diesen Ländern der Next-Day Service nicht für alle Relationen dargestellt werden. Allerdings gibt es in Italien die Konzentration der wirtschaftlichen Tätigkeit auf Norditalien, so dass ein Hub-Netzwerk die Region Turin – Mailand –Rom in einem Next Day Service mit Paketen versorgen kann. In Frankreich ist die Situation ähnlich. Einige Extremdistanzen können nicht über Nacht mit einem Hubkonzept abgedeckt werden, wie Bordeaux – Mulhouse mit 950 km und Paris Nordwest – Nizza mit 890 km. Die Stadt Orléans südwestlich von Paris hat sich zu einem Zentrum der Verteillogistik entwickelt, von wo aus beinahe alle wichtigen Wirtschaftszentren von Frankreich innerhalb einer 400 km Distanz erreicht werden können.81 Dies trifft allerdings nicht auf Marseille und Nizza zu. Die privaten Paketdienste bauten seit den 1970er Jahren eine Führungsposition in der Entwicklung der „modernen Logistik“, der Hochleistungslogistik auf. Als erste Industrie in Europa bauten sie eine vernetzte IT-Infrastruktur in ihren Niederlassungen auf und verwendeten den Barcode auf Paketen, um aus dem Güterstrom der Pakete über Scanner einen Informationsstrom zu generieren, der den Paketstrom virtuell abbildete.82 Die Bewegungen der Pakete im Distributionssystem der Paketdienste hinterließen in deren Computersystemen über die Scanner Spuren von Zeit- und Ortsmarken, wodurch Fehlverladungen, Verluste und Diebstahl leicht aufgespürt und korrigiert werden konnten. Damit konnten die Paketdienste als erste Industrie hohe Anforderungen an die Qualität der Leistungserstellung formulieren und durchsetzen. Schnelligkeit und Fehlerfreiheit waren die Merkmale dieser Logistikqualität, während die Eisenbahnlogistik lange Lieferzeiten und ein hohes Risiko der Beschädigung der Ware aufwies.83 Die Führungsrolle der Paketdienste wird daran erkennbar, dass die Autoindustrie beim Wareneingang erst in den 2000er Jahren dem Konzept der Paketdienste, den Barcode zur Überwachung des Güterstroms einzusetzen, folgte. Die internationale Luftfracht verwendet aber bis heute keine durchgehenden Barcodes, die auf Vor- und Nachlauf zum und vom Flughafen gelten und die auch im Umschlag am Flughafen angewandt werden können. Ferner werden nur vereinzelt elektronische Frachtbriefe (efreight) anstelle von Frachtbriefen in Papierform verwendet. 84 Wie ist das Nachhinken anderer Branchen beim Barcodeeinsatz und bei elektronischen Frachtbriefen zu erklären? Die Unternehmen der Paketdienste behielten die einzelnen Abschnitte im Prozess der Leistungserstellung – den Vor81 https://www.prologis.com/industrial-logistics-warehouse-space/europe/france/orleans-capitalfrances-loire-valley. 82 Von IBM entwickelte Scanner und Barcodes auf den Produkten wurden ab 1974 in den Lebensmittel-Ketten der USA an der Kasse eingesetzt, siehe Martin Campbell–Kelly / William Aspray: Computer – A History of the Information Machine. New York 1996, S. 179. 83 Beispiele für Beschädigung von Glaswaren in: Wir Eisenbahner, 1937 (wie Anm. 41), S. 31; Beschwerden bei der IHK Berlin über Bruchschäden, in: Jahresbericht der IHK Berlin 1929, Berlin 1930, S. 42; Beispiel für Glasbruch beim Transport in der DDR in: Die Handelswoche, Band 6, 1961, Nr. 5, S. 3. 84 Vahrenkamp: Luftfracht (wie Anm. 86).
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und Nachlauf, den Umschlag in den Hubs und die Langstreckenbeförderung – in einer Hand und konnten so als geschlossene Systeme einen durchgehenden Barcode einsetzen und informationstechnisch nutzen. Dagegen sind internationale Containerketten in der Seefracht und internationale Luftfrachtverkehre offene Systeme, an denen viele Beteiligte im Vor- und Nachlauf, im Umschlag in den Häfen und Flughäfen und auf der Langstrecke mitwirken und die es schwierig werden lassen, sich auf informationstechnisch Standards zu einigen. Das Problem, informationstechnische Standards in Multiplayerumgebungen zu setzen, lässt sich auch in der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitssektor beobachten. Auch in der internationalen Normungsarbeit für den Austausch elektronsicher Nachrichten im Geschäftsverkehr gelang es nicht, einen einzigen Standard EDIFACT (Electronic Data Interchange for Administration, Commerce and Transport) aufzubauen. EDIFACT wurde Mitte der 1980er Jahre von der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE) zunächst als ein europäischer Standard für die elektronische Geschäftskommunikation (EDI) entwickelt, zerfiel aber branchenspezifische Substandards.85 Die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 erforderte die Koordinierung und Modernisierung der bisher getrennten Logistikstrukturen in Ost- und Westdeutschland und brachte logistische Utopien in den öffentlichen Diskurs ein. Angetrieben von übertriebenen Konzepten der Beratungsindustrie entwickelte die Bahn einen Plan für ein deutschlandweites Netzwerk von Umschlagshallen für Stückgut, die mit Container-Bahnverkehren untereinander vernetzt werden sollten. Tatsächlich wurden für die Stückguttochter Bahntrans deutschlandweit etliche Umschlagshallen erbaut. Parallel zum Konzept der Bahntrans wollte auch die Deutsche Post den Paketumschlag neu ordnen und aus den Postbahnhöfen, welche in jeder deutschen Großstadt nahe dem Hauptbahnhof angesiedelt waren, herausziehen und am Stadtrand neue Umschlagshallen bauen, wobei sie bei Sortierung und Steuerung des Paketstroms die Technologie der privaten Paketdienste übernahm. Wie bei dem Sparkommissar in den 1920er Jahren trat wiederum Kritik an dem parallelen Umschlagshallen von Bahn und Post auf. Als skandalös empfunden wurde, dass in Bremen die Umschlagshallen beider Konzerne in Sichtentfernung im Jahre 1992 gebaut wurden.86 Während der Stückgutverkehr der Bahntrans wegen Erfolglosigkeit aufgegeben werden musste, war der Aufbau eines deutschlandweiten Netzes von Paketumschlagshallen der Deutschen Post (DHL) ein Erfolg. Der Paketzweig der privatisierten Post firmierte zunächst als „Frachtpost“ und erbaute in den 1990er Jahren 33 identische, über ganz Deutschland verteilte Paketumschlagshallen mit einem gewaltigen Investment von vier Milliarden DM vollständig neu, was die bedeutendste Logistik-Investition in Deutschland im 20. Jahrhundert darstellte.
85 Vahrenkamp/Kotzab: Logistik (wie Anm. 85), S. 63. 86 Handelsblatt vom 23.7.1992.
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Die Hallen sind jeweils in U-Form errichtet, um an der Außenfläche eine maximale Anzahl von Toren anbringen zu können, wo die Lieferfahrzeuge andocken konnten. In jeder der 33 Anlagen konnten pro Stunde ca. 24.000 Pakete bearbeitet werden. Jedem Paketzentrum sind rund 15 Zustellbasen zugeordnet, von denen aus die Pakete an die Empfänger geliefert werden. Eine optimierte Verteillogistik sorgt für weitgehend automatisierten Umschlag der Pakete in den Zentren. So hat durch das neue System ein Paket zwischen Einlieferungsstelle des Absenders und Zustellbasis des Empfängers nur noch zwei Stationen zu passieren; zum einen das Paketzentrum im Versorgungsbereich des Absenders und zum anderen das Paketzentrum im Versorgungsbereich des Empfängers. Mit dem alten System der Post hätte dasselbe Paket bis zur Auslieferung ca. sieben Stationen durchlaufen müssen. Durch das neue System betrug die durchschnittliche Laufzeit der täglich ca. 2,5 Millionen Pakete nur noch 1,3 Tage.87 Alle Paketzentren waren identisch aufgebaut und besaßen im Inneren identische Abläufe, so dass im Störungsfall der Betrieb von einem Knoten auf einen Nachbarknoten leicht umgeschaltet werden konnte. Alle Knoten lagen am Stadtrand nahe der Autobahn, nicht mehr beengt in Innenstadtnähe, wie das noch bei den alten Postbahnhöfen der Fall gewesen war. Daher musste bei der Anlage der Sortierhallen keine Rücksicht auf lokale Gegebenheiten genommen werden, sondern es konnten identische Baupläne durchgesetzt werden. Außerhalb dieses Paketnetzwerkes gab es keine Logistik-Struktur, in der alle Terminals identisch waren. Weder bei den Outletketten des Einzelhandels noch bei den Bahnhöfen der Bahn und S–Bahnen lassen sich identische Einheiten auffinden. Damit ist das Paketnetz der Post eine einzigartige Struktur der Hochleistungslogistik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Indem die Sortierhallen ausschließlich mit LKWVerkehren untereinander vernetzt wurden, vollzog die Post eine vollständige Abkehr vom Transport durch die Eisenbahn. Im Jahre 1954 hatte das Kabinett der BRD die enge Zusammenarbeit von Bahn und Post bekräftigt.88 Hingegen hält die Schweiz an der überkommenen Kooperation zwischen Bahn und Post fest und lässt täglich 52 Paketzüge von SBB Cargo fahren.89 Seit 30 Jahren wuchs die, auch als KEP–Branche bezeichnete, Paketbranche (einschließlich DHL) in Deutschland anhaltend mit einer Rate von mehr als 3,5 Prozent p.a. bei der Zahl der Sendungen. Dies war eine etwas höhere Rate als die des nominellen Bruttoinlandsprodukts.90 Untersucht man den Zusammenhang von BIP–Wachstum und Umsatz der KEP–Branche in Deutschland, so stellt man einen sehr engen Zusammenhang fest. Die Trendgerade durch die Datenpunkte der Zeitreihen von BIP und KEP–Umsatz von 2000 bis 2014 zeigt an, dass pro Milliarde an zusätzlichem BIP ein KEP–Umsatz von 9 Millionen Euro generiert wird.
87 Logistik Heute, Heft 6, 1996, S. 72f. 88 Kabinettsprotokoll der 34. Kabinettssitzung vom 1.6.1954, in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 7, 1954. München 1997, S. 247. 89 Angaben nach Nicolas Perrin, CEO von SBB Cargo, im SBBCargo Blog vom 1.11.2015. 90 Die Abkürzung KEP meint Kurier-, Express- und Paketdienste.
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Bemerkenswert ist das sehr hohe Bestimmtheitsmaß R2 von 98 Prozent, das die besonders enge Beziehung beider Zeitreihen anzeigt. So liegt die These nahe, dass man den Paketversand als Maßstab für die Differenzierung einer Volkswirtschaft deuten kann – als einen Index für Modernität und Entwicklung. Diese These wird vom internationalen Vergleich gestützt. Während in der BRD im Jahr 1980 pro Kopf 4,3 Pakete versandt wurden, betrugen diese Werte für die DDR 2,1 und für die Russische Föderation (Bestandteil der Sowjetunion) 0,9 Pakete.91 Im Jahre 2016 waren es, getrieben vom Internethandel, in Deutschland 32 Pakete pro Kopf.
FAZIT Der Beitrag erläutert zunächst verschiedene grundlegende Aspekte der Logistik, wie Transport, Umschlag und Lagerung. Beim Transport werden die drei Verkehrsträger Schiff, Eisenbahn und Lastkraftwagen vorgestellt und später die Luftfracht für den Transport von Paketen. Beim internationalen Transport werden Spannungen in der Eisenbahnpolitik zwischen Deutschland und Frankreich aufgezeigt. In seinem Hauptteil zeigt der Beitrag das lawinenartige Wachstum von Stückgütern – im Unterschied zu Massengütern – während des 20. Jahrhunderts auf, das bisher von der Wirtschaftsgeschichte unbeachtet blieb. Bei der Eisenbahn offenbarte die Stückgutlawine Engpässe in den Stückgutschuppen, und LKW– Transporte mussten einen Teil des Stückguts übernehmen. Bei der Post realisierte sich die Stückgutlawine als rapides Anwachsen der Paketmenge, und die Post reagierte mit dem Bau riesiger Postbahnhöfe. Ab den 1970er Jahren traten private Paketdienste in den Wettbewerb mit der Post auf dem Paketmarkt ein und realisierten über 30 Jahre lang durchschnittliche Wachstumsraten von 3,5 Prozent p.a. Mit einem in der Logistik einmaligen Ansatz der Standardisierung der Umschlagszentren gelang es der Post, im wiedervereinigten Deutschland mit 33 neu erbauten Zentren die Paketflut zu beherrschen.
91 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 303, sowie das russische Statistische Jahrbuch (Narodnoe Chozjasstvo SSSR) für das Jahr 1990, S. 630.
UNTERSCHIEDLICHE SCHULDENKULTUREN ALS BÜRDE FÜR „MAASTRICHT“?1 Hans-Peter Ullmann, Köln
DIFFERENT DEBT CULTURES AS A BURDEN FOR “MAASTRICHT”? ABSTRACT: With the crisis of the European Monetary Union, the term “debt culture” emerged as a new term that focused more sharply on the differences in the financial and debt policies of the EU member states. This essay asks whether these divergences can be meaningfully understood by the term “debt culture” and whether the term helps to better understand the problems of economic and monetary union. It looks in four steps for a – admittedly – provisional answer. The first part clarifies the term “debt culture”; the second part outlines some approaches with which different debt cultures in the EU can be identified; the third part argues that such divergences can be empirically investigated meaningfully on the basis of the negotiation processes around “Maastricht”; and the fourth part draws some conclusions from the preceding considerations. Keywords: Public Debt, Debt Culture, European Integration
„Merkel fordert neue Schuldenkultur“ – mit dieser Schlagzeile machte die RHEINISCHE POST im Mai des Jahres 2010 auf.2 Das Blatt berichtete über eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, in der sie mit dem immer wieder zitierten Satz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ die Euro-Krise als existenzielle Bedrohung für die Europäische Union bezeichnet hatte. Doch tauchte der Begriff „Schuldenkultur“, wie Detlef Gürtler in den TAZ.BLOGS süffisant bemerkte, in ihrer Rede überhaupt nicht auf. Merkel hatte nur von einer „neuen Stabilitätskultur“ gesprochen, die Europa dringend brauche. Eine neue Schuldenkultur, so der Blogger, „könnte zwar tatsächlich die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion retten, aber so haben es wohl weder die Rheinische Post noch Angela Merkel gemeint. Und Deutschland schon gar nicht“.3 An dieser Episode sind zwei
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Leicht überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung des Eröffnungsvortrags des Zweiten Kongresses für Wirtschafts- und Sozialgeschichte im April 2017. Rheinische Post vom 19.5.2010, siehe: http://www.rp-online.de/politik/deutschland/merkelfordert-neue-schuldenkultur-aid-1.2294526, 30.12.2016. Schuldenkultur, in: taz.blogs vom 27.5.2010, siehe: http://blogs.taz.de/wortistik/2010/05/27/ schuldenkultur/, 30.12.2016.
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Dinge wichtig: erstens das Auftauchen eines neuen Begriffs: der „Schuldenkultur“, und zweitens sein historischer Kontext: die Krise der Währungsunion. Beide, Begriff und Krise, hängen eng zusammen. Ja, man kann sagen: Die Krise hat den Begriff geboren und erst mit ihm kamen die Unterschiede in der Finanz- und Schuldenpolitik der EU-Staaten schärfer in den Blick. Ob sich diese Divergenzen mit dem Terminus „Schuldenkultur“ sinnvoll erfassen lassen und ob der Begriff hilft, Probleme der Wirtschafts- und Währungsunion besser zu verstehen, fragt dieser Aufsatz. Er sucht in vier Schritten nach einer – zugegeben – vorläufigen Antwort. Der erste Teil präzisiert den Begriff „Schuldenkultur“; der zweite skizziert einige Ansätze, mit denen sich unterschiedliche Schuldenkulturen in der EU ausmachen lassen; der dritte Teil argumentiert, dass sich solche Divergenzen empirisch sinnvoll anhand der Aushandlungsprozesse um „Maastricht“ untersuchen lassen; und der vierte Teil zieht einige Schussfolgerungen aus den vorangegangenen Überlegungen.
1. Mit dem Begriff „Schuldenkultur“ bewegt man sich auf einem unsicheren, zumindest noch kaum erschlossenen Terrain. Trotz einer wahren Inflation an Kulturbegriffen – exemplarisch seien hier nur Wirtschaftskultur, Sicherheitskultur oder Konkurrenzkultur genannt – ist „Schuldenkultur“ bislang ein Terminus der politischen Sprache geblieben.4 Verwendet wird er – erinnert sei an die Eingangszitate – als ein Kampfbegriff, der entweder Stabilität verlangt oder Solidarität einfordert. Will man den Ausdruck „Schuldenkultur“ hingegen als analytischen Terminus verwenden, muss er seiner normativen Implikationen entkleidet und präzise definiert werden. Das ist bis jetzt kaum versucht worden. So versteht etwa der Soziologe Armin Nassehi unter „Schuldenkultur“ eine Kultur, „in der wir später für das geradestehen, was uns jetzt widerfährt – und jetzt für das, was wir früher getan haben. Wir werden gewissermaßen für uns selbst haftbar gemacht“.5 Begriffserläuterungen wie diese stehen im Kontext der aktuellen, oft moralisch aufgeladenen Diskussion über den Zusammenhang von Schuld und Schulden.6 Wirklich weiter führen sie nicht. Hilfreicher ist es, an sozial- und geisteswissenschaftliche Kulturkonzepte anzuknüpfen und unter „Schuldenkultur“ fürs Erste ein kommunikativ hergestelltes Bedeutungssystem zu verstehen, also einen Komplex
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In der angloamerikanischen Forschung findet sich der Begriff „debt culture“ häufiger, allerdings zumeist bezogen auf private Schulden. Das gilt auch für die Arbeit von Christian Rollinger: Solvendi sunt nummi. Die Schuldenkultur der späten römischen Republik im Spiegel der Schriften Ciceros. Berlin 2009. Armin Nassehi: Mehr Kapitalismus wagen? Schulden als Zeitmaschine, in: aviso Nr. 2 (2013), S. 20–23, hier 22. Vgl. etwa Thomas Macho (Hg.): Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten. München 2014, oder David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart 2012.
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von Überzeugungen, Werten und Praktiken, die darüber entscheiden, wie Schulden wahrgenommen werden und wie man mit ihnen umgeht.7 Eine Schuldenkultur ist mithin das Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen einer Vielzahl von Akteuren: Politikern und Journalisten, Verbandsfunktionären und Lobbyisten, wissenschaftlichen Experten und nicht zuletzt den einzelnen Bürgern. Dabei geht es vor allem um die Legitimität von Schulden, darum, ob es sinnvoll ist, neue Schulden aufzunehmen oder besser alte zu tilgen, ob es unter dem Gesichtspunkt intergenerationeller Gerechtigkeit zulässig ist, künftige Generationen durch Schulden zu belasten, aber auch um die zweckmäßige Verwendung von Schulden und damit letztlich – so hat die Soziologin Elena Esposito argumentiert – um ein bestimmtes Zeitregime: „Diejenigen, die mit Kredit arbeiten, verwenden ihre Zukunft in der Gegenwart und beeinflussen dadurch, was sie morgen tun können bzw. nicht tun können werden“.8 Damit öffnet sich ein weites Untersuchungsfeld jenseits der finanz- oder politikwissenschaftlichen Zugriffe, mit denen Schulden bislang vornehmlich untersucht worden sind. In den Blick kommen dann etwa Perzeptionen oder Fehlperzeptionen von Schulden, kollektive Vorstellungen von „guten“ oder „schlechten“, legitimen oder ungerechtfertigten Schulden, Eigen- und Fremdbilder von Schuldner- und Gläubigerstaaten, aber auch Inflationsängste oder Vertrauen in Märkte. Allerdings hat diese kulturalistische Öffnung des Themas ihren Preis, wirft sie doch eine Reihe von Problemen auf. Da ist erstens die Frage der Aggregationsstufe. Auf welcher Ebene wäre eine Schuldenkultur zu untersuchen: auf der von Individuen, von Kommunen oder Ländern, von Staaten oder supranationalen Einheiten? Mehr noch: Soll es nur um öffentliche Schulden gehen oder auch um private? Zweitens stellt sich das Problem von Kontinuität und Wandel. Kultur wird oft als relativ statisch, allenfalls längerfristig veränderbar verstanden. Doch nimmt man lediglich Phänomene der „longue durée“ in den Blick, werden kurzfristige Wandlungsprozesse ausgeblendet, die auf interne oder externe Anstöße zurückgehen. Nun müssen beide Sichtweisen einander nicht ausschließen. Man könnte etwa an Zeitschichten denken, die sich übereinander schieben, oder an Bandbreiten, abgesteckt durch lange Traditionen, innerhalb derer kurzfristige Verschiebungen möglich sind, oder auch an Abfolgen von Aushandlungsprozessen, die sich zu Entwicklungspfaden verdichten. Schwierigkeiten bereiten drittens die sinnvolle Auswahl geeigneter Untersuchungsgegenstände aus dem weiten Themenfeld, die Wahl eines adäquaten analytischen Zugriffs und nicht zuletzt die empirische Fun-
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Die Überlegungen beruhen auf Christopher Daase: Sicherheitskultur – Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung politischen und sozialen Wandels, in: Sicherheit und Frieden 29 (2011), S. 59–65, und ders.: Sicherheitskultur als interdisziplinäres Forschungsprogramm, in: Christopher Daase u. a. (Hg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr. Frankfurt 2012, S. 23–44. Elena Esposito: Was binden Bonds? Das Eigentum an der Zukunft und die Verantwortung für die Gegenwart, in: Macho: Bonds (wie Anm. 6), S. 55–66, hier 60.
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dierung jenseits spekulativer oder idealtypischer Überlegungen.9 Angesichts solcher forschungsstrategischen Probleme spricht viel dafür, sich auf maßgebliche Aushandlungsprozesse zu konzentrieren, in denen wesentliche Aspekte von Schuldenkulturen verhandelt werden.10 So gab es – um diesen Gedanken an einem Beispiel zu verdeutlichen – in der Bundesrepublik der Sechzigerjahre eine intensive Debatte über öffentliche Armut und privaten Reichtum, die der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith mit seinem Buch „The Affluent Society“ ausgelöst hatte. Sie rief eine breite Koalition politischer Kräfte ins Leben, die ganz auf der Linie des keynesianischen Mainstream für eine schuldenfinanzierte Erweiterung der Staatstätigkeit eintrat, um die Bundesrepublik für die Zukunft zu wappnen und im Systemwettbewerb mit der DDR obsiegen zu lassen. Interessant ist, dass es auffällige Parallelen zur privaten Verschuldung gab, die ebenfalls stark zunahm. Man kann deshalb sagen, dass die Deutschen in diesen Jahren lernten, wieder Schulden zu machen. Ende der Siebzigerjahre bildete sich dagegen – mit ausgelöst durch die Schrift „Die programmierte Krise“ von Kurt Biedenkopf und Meinhard Miegel sowie vor dem Hintergrund der neoklassisch-monetaristischen Wende – in der Diskussion über Höhe und Dynamik der Verschuldung eine neue Koalition: Ihr galten Schulden als Gefahr für finanzielle Stabilität und wirtschaftliches Wachstum, und sie trat darum für eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sowie einen Abbau der Schulden ein. In beiden Aushandlungsprozessen, an denen Akteure verschiedener Ebenen – aus Wissenschaft, Öffentlichkeit, Politik – beteiligt waren, ging es etwa um das Zeitregime, also die Priorisierung von Gegenwart oder Zukunft, das Problem der Schuldenillusion,11 mithin den scheinbaren Vorteil schulden- gegenüber steuerfinanzierten Ausgaben, aber auch um die Legitimität einer Belastung künftiger Generationen oder den Zusammenhang von Schulden und Wirtschaftswachstum. Doch dürfen solche Aushandlungsprozesse nicht isoliert gesehen werden. Sie erfolgen ganz wesentlich im Vergleich mit, im Transfer von und in der Verflechtung mit anderen Schuldenkulturen.
2. Bislang fehlen tragfähige Untersuchungen, die Schuldenkulturen vergleichen, Transferprozessen nachgehen und Verflechtungen in den Blick nehmen. Auch die
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Das ist aus meiner Sicht das Kernproblem des anregenden, aber quer durch alle Zeiten und Länder argumentierenden Buches von Kenneth Dyson: States, Debt, and Power. ‚Saints‘ and ‚Sinners‘ in European History and Integration. Oxford 2014. 10 Dazu im einzelnen Hans-Peter Ullmann: Das Abgleiten in den Schuldenstaat. Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren. Göttingen 2017. 11 Hans-Peter Ullmann: La fin de l’illusion de la dette en République fédérale d’Allemagne au sortir des annés 1970, in: Histoire, Économie & Société 35 (2016), S. 93–106.
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Frage, ob und wie sich nationale Ausprägungen von Schuldenkulturen sinnvoll gruppieren lassen, harrt der Antwort. Das verführt immer wieder zu vorschnellen Verallgemeinerungen und voreiligen Schlüssen. So finden sich in der öffentlichen Diskussion Überlegungen, welche die Divergenzen in den Schuldenkulturen etwa Frankreichs und Deutschlands bis auf die Französische Revolution zurückführen. Der Staatsbankrott als Folge der Assignaten in Frankreich habe – meinte etwa der Journalist Berthold Seewald – anders als die Inflationen in Deutschland nicht eine „nationale Katastrophe“ bedeutet, sondern einen „welthistorischen Aufbruch“ gebracht. Deshalb ziehe sich der „unterschiedliche Umgang mit Schulden“ durch „die französische Geschichte“. Noch heute reiche „das Pathos dieser welthistorischen Leistung aus, um kleinliche Debatten um Etatsanierungen in Fußnoten zu verstecken“.12 Auf dieser Linie liegt auch das Buch von Thomas Morel und François Ruffin „Vive la banqueroute!“, eine Erfolgsgeschichte der französischen Staatspleiten von Philipp dem Schönen bis de Gaulle.13 Kaum weniger problematisch sind vereinfachende Gegenüberstellungen vermeintlicher Schuldenkulturen in der Europäischen Union: „Auf der einen Seite Deutschland und einige wenige nord- und mitteleuropäische EU-Partner, die mit einer Drosselung der Ausgaben die Schulden in den Griff bekommen wollen. Auf der anderen Seite stehen Frankreich und das Gros der südeuropäischen Länder, die auf einen größeren Ausstoß der Gelddruckereien und einer Sozialisierung von Ramschpapieren setzen“.14 Solchen Gedankenspielen fehlt die empirische Grundlage, mangelt es an Zeitspezifik und Kontextbezug. Seriöser sind gewiss die Überlegungen von Harold James, der mit idealtypischen historischen Modellen arbeitet. Doch auch hier wäre nach der empirischen Fundierung solcher Überlegungen zu fragen.15 Will man den Unterschieden von Schuldenkulturen genauer nachspüren, lässt sich an drei Forschungsansätze denken: an die Arbeiten zu den Varieties of Capitalism, zu verschiedenen Wirtschaftskulturen oder zur Vergleichenden Analyse politischer Systeme.
12 Berthold Seewald: Frankreich geht lieber pleite, als sich zu bewegen, in: WeltN24 vom 29.05.2014 (https://www.welt.de/geschichte/article128507599/Frankreich-geht-lieber-pleiteals-sich-zu-bewegen.html; 30.12.2016). Ähnlich auch Michaela Wiegel: Schuldenkultur in Frankreich: Es lebe der Bankrott! In: faz.net vom 20.3.2015 (http://www.faz.net/aktuell /politik/ausland/europa/viele-franzosen-wollen-griechischen-schuldenschnitt-13495902.html; 30.12.2016). 13 Thomas Morel / François Ruffin: Vive la banqueroute! Comment la France a réglé ses dettes, de Philippe le Bel au général de Gaulle. Paris 2014. 14 Seewald: Frankreich (wie Anm. 12). 15 Harold James: Growing Stronger: What Way out für Europe?, in: CESifo Forum Nr. 3, 2013, S. 35–40, oder Harold James: Die Wurzeln der lateinischen Andersartigkeit, in: Finanz und Wirtschaft vom 11.6.2013 (http://www.fuw.ch/article/die-wurzeln-der-lateinischen-anders artigkeit; 08.01.2017) sowie zur Resonanz in der Presse etwa Stephen Fidler: Was die Eurozone aus zwei Revolutionen lernen kann, in: The Wall Street Journal vom 26.5.2013 (http://www.wsj.de/nachrichten/SB10001424127887323475304578502863467544172; 08.01.2017).
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Die Studien zu den Varieties of Capitalism gingen in einem frühen Stadium bekanntlich von der Dichotomie zweier Grundmodelle, den Liberal Market Economies im anglo-amerikanischen Raum und den Coordinated Market Economies in Nord- und Westeuropa aus.16 Mittlerweile haben sich Untergruppen ausdifferenziert, an die eine Analyse von Schuldenkulturen anschließen kann.17 So führt etwa Peter A. Hall die wesentlichen Unterschiede in den politischen Ökonomien der EU-Staaten auf den Gegensatz von den Coordinated Market Economies im Norden und den Mixed Market Economies im Süden der Union zurück.18 Hatten diese beiden Market Economies vor der Währungsunion koexistieren können, seien durch deren Einführung wesentliche Ausgleichsmechanismen wie etwa Änderungen des Wechselkurses außer Kraft gesetzt worden. So profitierten die Ökonomien im Norden dank ihrer exportorientierten Wachstumsstrategie von der Währungs- und Wirtschaftsunion, während diese den Volkswirtschaften der Südländer die Chance verbaut hätte, sich im Rahmen ihres binnennachfrageorientierten Wachstumskonzepts durch eine Abwertung ihrer Währung Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Mehr noch: Deren Konkurrenzfähigkeit sei sogar gesunken, da billige Kredite nur teilweise in produktive Bereiche gelenkt worden wären und insgesamt die Inflation angeheizt hätten. Von daher wäre zu überlegen, ob die Währungsunion nicht die Koexistenz unterschiedlicher Schuldenkulturen in Europa erschwert, ja, diese erst zu einem wirklichen Problem gemacht hat.19 In diesem Zusammenhang sind auch die Forschungen zum sogenannten „Rheinischen Kapitalismus“ aufschlussreich, die wichtige Elemente einer deutschen „Stabilitätskultur“ identifiziert haben und als Ausgangspunkt für Vergleiche mit anderen Ländern dienen können.20 Sie machen vor allem darauf aufmerksam, in welchem Ausmaß die Währungs- und Wirtschaftsunion in politische und soziale, aber auch schuldenkulturelle Strukturen eingebettet ist bzw. sein müsste, um ohne gravierende Friktionen funktionieren zu können.21
16 Peter A. Hall / David Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford 2001 (ND 2010). 17 Vgl. den Forschungsbericht von Ferry de Goey: Varieties of Capitalism, in: Jan-Otmar Hesse u. a. (Hg.): Perspectives on European Economic and Social History. Baden-Baden 2014, S. 73-100. 18 Peter A. Hall: Varieties of Capitalism and the Euro Crisis, in: West European Politics 37 (2014), S. 1223–1243; vgl. auch die Überlegungen von Alison Johnston / Aidan Regan: European Integration and the Incompatibility of National Varieties of Capitalism. Köln 2014. 19 Matthias Matthijs / Mark Blyth: Introduction. The Future of the Euro and the Politics of Embedded Currency, in: Matthias Matthijs / Mark Blyth (Hg.): The Future of the Euro. Oxford 2015, S. 1–23. 20 Friederike Sattler: Rheinischer Kapitalismus. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bonner Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 687–724; zuletzt Hans Günter Hockerts / Günther Schulz: Der „Rheinische Kapitalismus“ in der Ära Adenauer. Paderborn 2016. 21 Kathleen R. McNamara: The Forgotten Problem of Embeddedness, in: Matthijs/Blyth: Future (wie Anm. 19), S. 22–45.
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Arbeiten zu Wirtschaftskulturen bieten ebenfalls hilfreiche Anknüpfungspunkte.22 In diesem Zusammenhang steht die aktuell diskutierte These von den „contrasting philosophies“, die Markus K. Brunnermeier, Harold James und JeanPierre Landau in ihrem Buch „The Euro and the Battle of Ideas“ für die unterschiedliche Auslegung des Vertrages von Maastricht sowie die konfligierenden Vorstellungen von Frankreich und Deutschland zur Bewältigung der Euro-Krise verantwortlich machen. Diese Unterschiede lassen sich durchaus als schuldenkulturelle Divergenzen interpretieren.23 Da die beiden Länder als Vormächte der Europäischen Union den Integrationsprozess maßgeblich prägen, führen ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Regelbindung und Geldwertstabilität zu einer Spaltung in zwei Ländergruppen: einer nördlichen einerseits, die für Stabilität sowie eine regelgebundene Finanz- und Schuldenpolitik eintritt, und einer südlichen andererseits, die auf Flexibilität bei der Anwendung vereinbarter Regeln und stärkere staatliche Interventionen setzt. Für eine Zweiteilung der Schuldenkulturen sprechen auch die Ergebnisse der Eurobarometer-Umfragen, die jährlich von der EU-Kommission in Auftrag gegeben werden.24 So war – greift man als Beispiel das Jahr 1997 heraus, in dem der Stabilitäts- und Wachstumspakt verabschiedet wurde – die Zustimmung zum Euro in Ländern des Südens, angeführt von Italien mit 83 Prozent, hoch, in jenen des Nordens dagegen niedrig, besonders in Finnland mit 29 Prozent und in Deutschland mit 32 Prozent.25 Einer solchen dichotomischen Deutung stehen freilich Ergebnisse anderer Studien gegenüber, die ein facettenreicheres Bild entwerfen. Richtet man nämlich mit den European Value Studies – periodischen Befragungen eines repräsentativen Bevölkerungssamples in den Ländern der Union – den Blick auf die Einstellungen von Bürgerinnen und Bürgern, drängt sich eine durch Cluster- und Diskriminanzanalyse gewonnene Gliederung in drei Ländergruppen auf: erstens eine skandinavische Gruppe mit Einschluss der Niederlande, zweitens eine süd- und westeuropäischen Gruppe, zu der auch Deutschland zu rechnen ist, sowie drittens eine Gruppe meist osteuropäischer Länder ergänzt um Portugal.26 In einer Sekundäranalyse wäre zu 22 Vgl. Rainer Klump (Hg.): Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung. Marburg 1996; Werner Abelshauser u. a.: Kultur, Wirtschaft, Kulturen der Weltwirtschaft, in: Werner Abelshauser u. a. (Hg.): Kulturen der Weltwirtschaft. Göttingen 2012, S. 9–28, und Werner Abelshauser: Ricardo neu gedacht. Komparative institutionelle Vorteile von Wirtschaftskulturen, in: Abelshauser u. a.: Kulturen, S. 29–56. 23 Markus K. Brunnermeier u. a.: The Euro and the Battle of Ideas. Princeton 2016. 24 Eine Auswertung für die Jahre der Eurokrise zwischen 2009 und 2015 liefert Wolfgang Franzen: Andere Länder – andere Sichten. Die Finanz- und Eurokrise im Urteil der Bürger aus acht europäischen Ländern. Hamburg 2016, S. 267ff. 25 Europäische Kommission: Eurobarometer. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Bericht Nr. 47. Brüssel 1997, S. 45. 26 Michael Hölscher: Wirtschaftskulturen in der erweiterten EU. Die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger im europäischen Vergleich. Wiesbaden 2006; eine Kurzfassung u.d.T. Transnationale Wirtschaftskulturen in Europa, in: Abelshauser u. a.: Kulturen (wie Anm. 22), S. 182–199.
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untersuchen, ob sich die Einstellungen zu Defiziten und Schulden ähnlich gruppieren, so dass sich Indizien für drei Schuldenkulturen finden ließen. Schließlich könnte man auf die Einteilung von Kenneth Dyson zurückgreifen, der – allerdings wenig zeit- und raumspezifisch – fünf Ausprägungen von Wirtschaftskulturen unterscheidet, die er mit verschiedenen Typen von vergangenen und gegenwärtigen Staaten in Verbindung bringt: die „culture of elite magnificence“, die „stability culture, die „consumer culture“, die „social welfare culture“ und die „welfare protection culture“.27 Einige Aufschlüsse über Schuldenkulturen hält schließlich die Vergleichende Analyse politischer Systeme bzw. der Staatstätigkeitsforschung bereit.28 Das gilt schon für Studien zu Budgetkonsolidierungen bzw. Austeritätsregimen. Je nachdem welches Konzept von Konsolidierung dabei verwendet wird, lassen sich unterschiedliche Gruppen von Staaten bilden, die ihre Haushalte konsolidiert oder sogar Budgetüberschüsse erwirtschaftet haben. Während zu den nachhaltigen Konsolidierern in den Achtziger- und Neunzigerjahren Dänemark und Schweden, aber auch Belgien und Italien, zu den nicht nachhaltigen immerhin noch die Niederlande und Österreich zu zählen sind, verzeichneten alle anderen Staaten der Europäischen Union keine Erfolge bei der Sanierung ihrer Haushalte.29 Ergeben sich unter diesem Blickwinkel drei Gruppen von Staaten, reduziert sich deren Zahl auf zwei, wenn nach dauerhaften gesamtstaatlichen Haushaltsüberschüssen gefragt wird. Denn nur vier Staaten in der Union, nämlich Schweden, Finnland, Dänemark und Irland, erwirtschafteten zwischen 1980 und 2009 ein Jahrzehnt lang Budgetüberschüsse; den anderen EU-Staaten gelang der Übergang zu einem solchen Überschussregime dagegen nicht.30 Erweitert man den Kreis der Verschuldungsindikatoren schließlich über die Kriterien Konsolidierung bzw. Überschüsse hinaus, lassen sich für die Neunzigerjahre mit Hilfe der Clusteranalyse drei Ländergruppen identifizieren: Dazu gehören erstens Staaten mit hoher Verschuldung wie Portugal, Griechenland und Italien, aber auch Irland und Belgien. Zu den Ländern mit moderater Verschuldung zählen zweitens Deutschland und Frankreich sowie Großbritannien, Finnland und Norwegen. Eine relativ große heterogene dritte Gruppe umfasst die verbleibenden EU-Staaten.31 So unterschiedlich der methodische Zugang der drei Forschungsansätze sein mag, bieten sie doch Anregungen, die sich für eine Analyse von Unterschieden zwischen Schuldenkulturen nutzen lassen. Zugleich mahnen sie jedoch in doppel27 Dyson: State (wie Anm. 9), S. 262ff. 28 Vgl. zur Einführung Manfred G. Schmidt: Vergleichende Analyse politischer Systeme, in: Herfried Münkler (Hg.): Politikwissenschaft. Ein Grundkurs. 2. Aufl., Reinbek 2006, S. 172– 207. 29 Uwe Wagschal / Georg Wenzelburger: Haushaltskonsolidierung. Wiesbaden 2008, S. 25ff. 30 Lukas Haffert: Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten? Die Politische Ökonomie von Haushaltsüberschüssen. Frankfurt 2015; vgl. auch Lukas Haffert: Die schwarze Null. Über die Schattenseiten ausgeglichener Haushalte. Berlin 2016. 31 Uwe Wagschal: Staatsverschuldung. Ursachen im internationalen Vergleich. Opladen 1996, S. 165ff.
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ter Hinsicht zur Vorsicht: Erstens ist zu bedenken, dass die Unterscheidung von Schuldenkulturen ebenso eine sinnstiftende kommunikative Konstruktion darstellt wie deren Versammlung unter bestimmte Ländergruppen. Schuldenkulturen werden nicht ständig, aber doch regelmäßig neu ausgehandelt und schließen nicht zuletzt Exklusions- wie Inklusionsvorgänge mit ein. Deshalb sind zweitens die Unterschiede der Schuldenkulturen ebenso im Fluss wie diese selbst, dürfen Zeit wie Kontexte und damit der Wandel solcher Bedeutungssysteme nicht aus den Augen verloren werden. Nur lange Linien zu ziehen verdeckt, dass sich Schuldenkulturen unter dem Einfluss interner wie externer Impulse in kürzeren Fristen verändern können.
3. Angesichts der breiten Forschung zu den Konstruktionsbedingungen und -schwächen des Vertrags von Maastricht und der von ihm auf den Weg gebrachten Währungs- und Wirtschaftsunion kann es hier nicht darum gehen, eine neue Deutung zu präsentieren. Vielmehr soll „Maastricht“ als Chiffre für einen transnationalen Aushandlungsprozess stehen, bei dem es um Chancen und Grenzen ging, unterschiedliche Schuldenkulturen in der Europäischen Union zu harmonisieren. Aufschlussreicher als die Entstehung des Vertrags von Maastricht sind für unsere Überlegungen deshalb die Verhandlungen,32 die zum Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 führten, sowie die Auseinandersetzungen um die Umsetzung des Pakts bis zur beginnenden Euro-Krise von 2007/08.33 Die Initiative zum Stabilitäts- und Wachstumspakt ging im Jahr 1995 bekanntlich von deutscher Seite aus. Sie stand unter massivem innenpolitischem Druck, da die dritte Stufe der Währungsunion anlief und gut zwei Drittel der Deutschen diese ablehnten. Viele Ängste waren dabei im Spiel: die Erinnerung an zwei Inflationen und die Sorge vor dem Verlust der D-Mark, dem Symbol für Wirtschaftsaufschwung und Stabilität.34 Ziel des Pakts sollte es deshalb sein, die Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht zu präzisieren, um deren Nach-
32 Zum Aushandlungsprozess um den Maastricht-Vertrag grundlegend Kenneth Dyson / Kevin Featherstone: The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union. Oxford 1999. 33 Die folgenden Überlegungen orientieren sich vor allem an Martin Heipertz: Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt. Institutionendesign im Selbstbindungsdilemma, Diss. Köln 2005, sowie Martin Heipertz / Amy Verdun: Ruling Europe. The Politics of the Stability and Growth Pact. Cambridge 2011; außerdem wurde herangezogen Kai Hentschelmann: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt unter besonderer Berücksichtigung der norminterpretatorischen Leitfunktion der Paktbestimmungen für das Vertragsrecht. Baden-Baden 2009. 34 Bernhard Löffler: Währungsrecht, Bundesbank und deutsche „Stabilitätskultur“ nach 1945. Überlegungen zur mentalitätsgeschichtlichen Dimension normativ-institutioneller Regelungen, in: Manfred Seifert / Winfried Helm (Hg.): Recht und Religion im Alltagsleben. Perspektiven der Kulturforschung. Passau 2005, S. 61–82.
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haltigkeit auch nach dem Eintritt in die Währungsunion sicherzustellen. Zwar stieß die deutsche Initiative bei den meisten EU-Staaten nicht gerade auf Begeisterung, aber auch nicht auf grundsätzliche Bedenken.35 Das lag außer am Drohpotential der Bundesrepublik, ohne die eine Währungsunion nicht realisierbar war, an vier weiteren Gründen: zum einen an den Konvergenzfortschritten, welche die Länder bereits gemacht hatten, ohne jedoch die Maastricht-Kriterien zu erfüllen; zum anderen an den mehrheitlich konservativen Regierungen in den EU-Staaten, die an finanzpolitischer Stabilität interessiert waren; ferner an den erwarteten Vorteilen der Währungsunion, die einen Stabilitätspakt akzeptabel erscheinen ließen; und schließlich an der fiskalpolitischen Übereinstimmung in den vorbereitenden Gremien, zumal des Währungsausschusses, die nicht auf eine keynesianische Politik, sondern auf angebotsseitige Maßnahmen und eine entsprechend nachhaltige Finanzpolitik setzten. So konzentrierten sich die Verhandlungen – abgesehen davon, dass ein Aufschnüren des Maastricht-Vertrages die „Büchse der Pandora“ geöffnet hätte und darum nur eine sekundärrechtliche Lösung in Frage kam36 – auf einen Hauptstreitpunkt: die Frage nämlich, ob Verstöße gegen die Stabilitätskriterien automatisch sanktioniert werden sollten, was die deutsche Seite forderte, oder es dazu einer politischen Entscheidung von EU-Gremien bedurfte, wofür sich die anderen Staaten einsetzten. Bereits in diesem Streit um „hard law“ oder „soft law“ spiegeln sich, wie im Detail untersucht werden müsste, unterschiedliche Schuldenkulturen wider.37 Da die deutsche Seite den geforderten Sanktionsautomatismus nicht durchsetzen konnte, beruhte der Stabilitäts- und Wachstumspakt auf dem Prinzip regelbasierter Selbstbindung. Er setzte einerseits auf eine „negative Koordination“, gab also Regeln vor, die keine stabilitätsgerechte Finanz- und Schuldenpolitik sicherstellen sollten, sondern nur eine davon abweichende Linie verhindern konnten. Dem dienten verschärfende Präzisierungen der in Maastricht vereinbarten nominalen Parameter wie der Defizitquote von drei Prozent oder des maximalen Schuldenstands von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die unter dem Stichwort „preventive arm“ auf eine stabile und nachhaltige Finanzpolitik mit dem langfristigen Ziel nahezu ausgeglichener Haushalte hinzuwirken hatten. Damit diese Regeln eingehalten wurden, installierte der Pakt unter dem Schlagwort „corrective arm“ einen mehrstufigen Mechanismus, der übermäßige Defizite zunächst durch Information und Mahnung und dann – sollten diese erfolglos bleiben –
35 Roel Beetsma / Harald Uhlig: An Analysis of the Stability and Growth Pact, in: Economic Journal 109 (1999), S. 546–571. 36 So der EU-Kommissar Yves-Thibaut de Siguy zit. nach Heipertz: Stabilitäts- und Wachstumspakt (wie Anm. 33), S. 65. Die rechtlichen Einzelheiten bei Hentschelmann: Stabilitätsund Wachstumspakt (wie Anm. 33), S. 205ff. 37 Jakob de Haan u. a.: Why has the Stability and Growth Pact Failed?, in: International Finance 7 (2004), S. 235–260.
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durch ein gestuftes Verfahren sanktionierte, über das auf Empfehlung der Kommission der Rat der Finanzminister entschied.38 Die gefundene Lösung ging mithin davon aus, dass eine Harmonisierung der Schuldenkulturen in einem längeren Angleichungsprozess erreicht werden könne und dieser sich gewissermaßen von oben durch ein Regelwerk mit schwachen Sanktionsmöglichkeiten erzwingen ließe. Der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hat den Pakt deshalb mit einer goldenen Kreditkarte verglichen, die ein reicher Mann einem armen Schlucker mit der Auflage gegeben habe, für alle Schulden, die er damit mache, selber einzustehen. Obwohl diese Absprache durch eine Anzeige in der Zeitung öffentlich gemacht worden sei, hätten die Geschäfte, in denen gekauft wurde, aber nur auf die goldene Kreditkarte gesehen und darauf vertraut, dass ihr Inhaber am Ende doch haften müsse.39 Dieses Problem, den Ökonomen als moral hazard vertraut, deutete sich bereits bei den divergierenden Interpretationen des Pakts durch französische und deutsche Politiker an. Hob Staatspräsident Jacques Chirac hervor, dass dieser „für Wachstum, Arbeitsplätze und sozialen Fortschritt“ – im Klartext also für eine lockere Fiskalpolitik – stehe, betonte Bundesfinanzminister Theo Waigel, die Vereinbarung bedeute „die endgültige und fundamentale Abkehr von einer unsoliden Finanzpolitik“.40 Auch in den öffentlichen Debatten beider Länder fanden diese Divergenzen ihren Niederschlag. Während bundesdeutsche Medien die „Stabilitätskultur“ verteidigten, machten in Frankreich zum Beispiel Linksintellektuelle in der von Pierre Bourdieu angeführten Anti-Euro-Petition gegen den deutschen „Stabilitätswahn“ Front und sahen den „Welfare State européen“ in Gefahr.41 Traten die Unterschiede in den Schuldenkulturen schon bei der Aushandlung des Pakts hervor, galt das erst recht für dessen Umsetzung. Zwar wäre das Bild zu einseitig, würde man nur diese Divergenzen betonen, denn es lässt sich durchaus ein moderater Angleichungseffekt beobachten. Vergleicht man die Jahre von 1999 bis 2007 mit der Zeit davor und danach, tendierten die Defizite der Staaten der Eurozone zu einer gewissen Stabilisierung, und deren Schuldenquote sank ebenfalls leicht.42 Auch ist unlängst auf der Grundlage einer kontrafaktischen Analyse argumentiert worden, dass die Schulden der Euro-Staaten deutlich höher lägen, hätte es die Wirtschafts- und Währungsunion samt Stabilitäts- und Wachstums-
38 EU-Council Regulation Nr. 1466/97 bzw. 1467/97. 39 Caspar Busse: Das Problem mit der goldenen Kreditkarte, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.5.2012. 40 Europe Daily Bulletin Nr. 6998 vom 19.6.1997 bzw. Rede Theo Waigel am 5.3.1998, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 13. WP, 222. Sitzung vom 5.3.1998, S. 20259. 41 Löffler: Währungsrecht (wie Anm. 34), bes. S. 79f. Vgl. auch Nicolas Jabko: The Elusive Economic Government and the Forgotten Fiscal Union, in: Mathijs/Blyth: Future (wie Anm. 19), S. 70–91. 42 Mark Hallerberg: Fiscal Government and Fiscal Outcomes under EMU bevor and after the Crisis, in: James A. Caporaso / Martin Rhodes (Hg.): The Political and Economic Dynamics of the Eurozone Crisis. Oxford 2016, S. 145–166.
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pakt nicht gegeben. Allerdings – und das verweist erneut auf unterschiedliche Schuldenkulturen – zeigten sich diese Effekte vor allem bei den Staaten, die als Geberländer in die verschiedenen EU-Fonds einzahlten, deutlich weniger dagegen bei den Nehmerländern.43 Schließlich gab es phasenweise, vor allem in Zeiten guter Konjunktur, bemerkenswerte Parallelitäten in der Haushaltspolitik von Euro-Staaten. Wichtiger als diese begrenzten Konvergenzen ist jedoch, dass bei der Umsetzung des Paktes offen zutage trat, wie weit die Schuldenkulturen der EuroStaaten auseinanderlagen und wie wenig dieser zu deren Harmonisierung beitrug. Der Pakt brachte, so ließe sich sagen, bestenfalls eine Pseudoharmonisierung, welche eine Zeit lang die Illusion von Stabilität erzeugte. Dafür gibt es deutliche Anzeichen, die sich allerdings bis zum Ausbruch der Euro-Krise 2007/08 nicht zu dem klaren Bild einer Zweiteilung der Euro-Staaten verdichten. Die Unterscheidung der sogenannten GIPSIZ-Länder – also Griechenland und Irland, Portugal und Spanien, Italien und Zypern – auf der einen und der Länder im Norden der Union auf der anderen Seite projiziert vielmehr die Entwicklungen nach der Lehman-Krise auf die Jahre davor zurück. Damit sei, hat Fritz W. Scharpf jüngst argumentiert, eine klare Schuldzuweisung an die Südstaaten verbunden, welche die gemeinsame Verantwortung aller Euro-Staaten für die Krise leugne.44 Bis zu diesem ökonomischen Schock jedenfalls war das Bild konturenreicher. Zwar nutzten von den südeuropäischen Ländern vor allem Griechenland und Portugal, aber auch Italien und Zypern das durch die Währungsunion unter fünf Prozent gesunkene Zinsniveau für zehnjährige Staatspapiere und den dadurch gewonnen budgetären Spielraum nicht, um ihre Finanzen nachhaltig zu konsolidieren. Obwohl die Zinslasten deutlich unter fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sanken, hielten sich die griechischen und portugiesischen Defizitquoten durchweg, die italienischen und zypriotischen längere Zeit über drei Prozent.45 Doch gehörten nicht nur diese Staaten, sondern auch Deutschland und Frankreich zu den frühen Sündern wider der Regeln des Paktes. So lag das deutsche Defizit bedingt auch durch die Folgen der Wiedervereinigung in fünf Jahren, nämlich von 2001 und 2005, über der drei-Prozent-Grenze, das französische vier Jahre lang von 2002 bis 2005. Problematisch war aber vor allem, dass es beiden Regierungen gelang, ein Defizitverfahren durch Mehrheitsbeschluss des Rats der Finanzminister abzuwenden, wo in der Formulierung von Kenneth Dyson „fiscal ‚sinners‘ and prospective sinners were being asked to vote on fellow sinners“.46 Als größte Staaten in der Union verstießen sie damit wenn auch nicht de jure, wohl aber de facto gegen den 43 Sebastian Koehler / Thomas König: Fiscal Government in the Eurozone: How Effectively Does the Stability and Growth Pact Limit Governmental Debt in the Euro Countries?, in: Political Science and Methods 2 (2014), S. 1–23. 44 Fritz W. Scharpf: Währungsunion und Euro-Rettungspolitik: ein Rückblick, in: Anthony B. Atkinson u. a. (Hg.): Nationalstaat und Europäische Union. Eine Bestandsaufnahme. BadenBaden 2016, S. 95–109. 45 Einzelheiten bei Hans-Werner Sinn: Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel. München 2015, S. 55ff. 46 Dyson: States (wie Anm. 9), S. 614.
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Pakt und höhlten ihn damit weiter aus. Dagegen formierte sich bei der EUKommission und einer Reihe von Staaten, voran Österreich und den Niederlanden, Spanien und Belgien, Finnland und Griechenland, massiver Widerstand.47 Anders als Frankreich und Deutschland hielten Spanien und Irland die Defizitregeln ein, und selbst Portugal schnitt bei der Maastricht-Norm von 60 Prozent besser ab als Deutschland. Es wäre einer genauen Analyse wert, jene schuldenkulturellen Divergenzen auszumachen, die sich hinter diesen quantifizierbaren Befunden verbergen. Dazu müssten – was hier nicht zu leisten ist – die auf mehreren Ebenen ablaufenden Aushandlungsprozesse über die Einleitung von Defizitverfahren vor allem im Rat der Finanzminister der Euro-Staaten, aber auch zwischen dem Economics and Financial Affairs Council, dem Ecofin-Rat, und der EU-Kommission detailliert untersucht werden. Auch wären die Verhandlungen über die Revision des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahre 2005 einzubeziehen, die zu einer als Flexibilisierung etikettierten Lockerung der Regeln des Pakts führten. Dabei lohnte es sich zu fragen, ob und inwieweit die Kommission eine eigene, die nationalen Schuldenkulturen übergreifende, also in den Grundzügen europäische Schuldenkultur formuliert hat. Zu vermuten ist jedenfalls, dass die Verhandlungen einen guten Zugang bieten, um sowohl die Unterschiede als auch den Wandel von Schuldenkulturen in der Union zu ermitteln.
4. Auch der Gebrauch wissenschaftlicher Begriffe unterliegt einem Kosten-NutzenKalkül. Abzuwägen ist zwischen dem Verschleiß von Termini einerseits, wenn sie inhaltlich erweitert, verschoben oder inflationär verwendet werden, und der Innovationskraft von Begriffen andererseits, die neue Phänomene bezeichnen oder ungewohnte Zugänge zu alten Problemen eröffnen. Ein solches Kosten-NutzenKalkül wurde hier angestellt. Es ging davon aus, dass der Begriff „Schuldenkultur“, wird dieser als kommunikativ hergestelltes sinnstiftendes Bedeutungssystem für die Wahrnehmung und den Umgang mit Schulden gefasst, ein weites und lohnendes, aber noch wenig erschlossenes Untersuchungsfeld eröffnet. Zwar deuten verschiedene Forschungsansätze darauf hin, dass sich unterschiedliche Schuldenkulturen in den Staaten der Union ausmachen lassen. Doch bedarf es einer genauen Analyse, um diese ebenso zeit- wie kontextabhängig zu ermitteln. Denn es wäre gefährlich, wenn unter dem Begriff „Schuldenkultur“ vorschnelle Verallgemeinerungen über historische Epochen hinweg vorgenommen würden oder nationale Stereotypen, etwa im Sinn von Nationalcharakteren, ins Kraut schössen. Eine empirisch fundierte Analyse könnte bei der Untersuchung maßgeblicher Aushandlungsprozesse ansetzen, etwa jener, die über den Stabilitäts- und Wachstumspakt 47 Dazu Heipertz: Stabilitäts- und Wachstumspakt (wie Anm. 33), S. 102ff., und Heipertz/Verdun: Ruling Europe (wie Anm. 33), S. 113ff.
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sowie dessen Umsetzung in den Euro-Staaten und in den Gremien der EU stattgefunden haben. Es wäre dabei die These zu überprüfen, dass bei den Aushandlungen nicht nur unterschiedliche Schuldenkulturen aufeinanderstießen, sondern sich auch die dort fixierten Instrumente als wenig tauglich erwiesen haben, um eine Harmonisierung der Schuldenkulturen auf den Weg zu bringen oder Mechanismen zu finden, die eine Koexistenz unterschiedlicher Schuldenkulturen in der Währungsunion ermöglicht hätten. Stattdessen barg die ins Werk gesetzte Pseudoharmonisierung den Keim der Krise in sich, die nach 2008 voll ausbrach. So betrachtet, gehören der Begriff „Schuldenkultur“ und sein historischer Kontext, die Euro-Krise, eng zusammen. Schuldenkulturen zu unterscheiden, ist der Versuch, angesichts der Euro-Krise zu einer plausiblen Deutung ihrer Ursachen zu gelangen, aber auch, was nicht die Aufgabe des Historikers ist, mögliche Lösungswege aufzuzeigen.
AUTORINNEN UND AUTOREN Laura Elsner Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Universität Siegen. Dr. Christian Henrich-Franke Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Siegen. Dr. phil. Heike Knortz Außerplanmäßige Professorin für Wirtschaftsgeschichte am Institut für Ökonomie und ihre Didaktik der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Yiannis Kokkinakis Juniorprofessor am Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Kreta. Dr. Christian Marx Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München. Dr. Uwe Müller Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig. Dr. Cornelius Neutsch Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Siegen. Dr. Philipp Robinson Rössner Senior Lecturer für Geschichte der Frühen Neuzeit am Institut für Geschichte der Universität Manchester. Prof. Dr. Günther Schulz Professor em. für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Mark Spoerer Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Regensburg.
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Guido Thiemeyer Professor für Neuere Geschichte am Institut für Geschichte der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Prof. Dr. Hans-Peter Ullmann Professor em. für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. Prof. Dr. Richard Vahrenkamp Professor em. für Produktionswirtschaft und Logistik am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Universität Kassel.
v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e
Herausgegeben von Mark Spoerer, Jörg Baten, Markus A. Denzel, Thomas Ertl, Gerhard Fouquet und Günther Schulz.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0846
215. Ekkehard Westermann / Markus A. Denzel Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548 2011. 526 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09899-1 216. Frank Steinbeck Das Motorrad Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft 2011. 346 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10074-8 217. Markus A. Denzel Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungs verkehr (1621–1827) 2012. 341 S. mit 24 Abb. und 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10135-6 218. Bastian Walter Informationen, Wissen und Macht Akteure und Techniken städtischer Außenpolitik: Bern, Straßburg und Basel im Kontext der Burgunderkriege (1468–1477) 2012. 352 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10132-5 219. Philipp Robinson Rössner Deflation – Devaluation – Rebellion Geld im Zeitalter der Reformation 2012. XXXIII, 751 S. mit 39 Abb. und 22 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10197-4 220. Michaela Schmölz-Häberlein Kleinstadtgesellschaft(en) Weibliche und männliche Lebenswelten im Emmendingen des 18. Jahrhunderts 2012. 405 S. mit 2 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10239-1 221. Veronika Hyden-Hanscho Reisende, Migranten, Kulturmanager Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1730 2013. 410 S. mit 20 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10367-1 222. Volker Stamm Grundbesitz in einer spätmittel
alterlichen Marktgemeinde Land und Leute in Gries bei Bozen 2013. 135 S. mit 5 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10374-9 223. Hartmut Schleiff / Peter Konecny (Hg.) Staat, Bergbau und Bergakademie Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert 2013. 382 S. mit 13 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10364-0 224. Sebastian Freudenberg Trado atque dono Die frühmittelalterliche private Grundherrschaft in Ostfranken im Spiegel der Traditionsurkunden der Klöster Lorsch und Fulda (750 bis 900) 2013. 456 S. mit 101 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10471-5 225. Tanja Junggeburth Stollwerck 1839–1932 Unternehmerfamilie und Familienunternehmen 2014. 604 S. mit 92 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10458-6 226. Yaman Kouli Wissen und nachindustrielle Produktion Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956 2014. 319 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10655-9 227. Rüdiger Gerlach Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich Das Volkswagenwerk und der VEB Sachsenring von den 1950er bis in die 1980er Jahre 2014. 457 S. mit 28 Abb. und 42 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10664-1 228. Moritz Isenmann (Hg.) Merkantilismus Wiederaufnahme einer Debatte 2014. 289 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10857-7
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236. Christopher Landes Sozialreform in transnationaler Perspektive Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914) 2016. 386 S., kt. ISBN 978-3-515-11304-5 237. Wolfgang König Das Kondom Zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis in die Gegenwart 2016. 233 S., kt. ISBN 978-3-515-11334-2 238. Janis Witowski Ehering und Eisenkette Lösegeld- und Mitgiftzahlungen im 12. und 13. Jahrhundert 2016. 340 S. mit 2 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11374-8 239. Jann Müller Die Wiederbegründung der Industrie und Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung 2017. 284 S., kt. ISBN 978-3-515-11565-0 240. Hendrik Ehrhardt Stromkonflikte Selbstverständnis und strategisches Handeln der Stromwirtschaft zwischen Politik, Industrie, Umwelt und Öffentlichkeit (1970–1989) 2017. 317 S. mit 4 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11624-4 241. Beat Fumasoli Wirtschaftserfolg zwischen Zufall und Innovativität Oberdeutsche Städte und ihre Exportwirtschaft im Vergleich (1350–1550) 2017. 580 S. mit 15 Abb. und 6 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11803-3 242. Gerhard Fouquet / Sven Rabeler (Hg.) Ökonomische Glaubensfragen Strukturen und Praktiken jüdischen und christlichen Kleinkredits im Spätmittelalter 2018. 162 S. mit 2 Abb. und 8 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12225-2 243. Günther Schulz (Hg.) Ordnung und Chaos Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2019. 262 S. mit 21 Abb. und 12 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12322-8
Arbeitsteilige Organisation der Produktion in einem nationalstaatlich strukturierten Wirtschaftsraum kennzeichnet die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Europas seit mindestens dem späten 19. Jahrhundert. Die ökonomische Integration war und ist eine Triebfeder der politischen Integration. Insofern gehen viele politische Diskussionen und Konflikte, etwa über Staatsverschuldung und Finanzpolitik, weit über die jeweiligen Einzelthemen hinaus – sie betreffen die Wurzeln des auf nachhaltigen Frieden und Wohlstand angelegten Projekts der Europäischen Integration. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes fragen nach konkreten Akteuren und
Institutionen, Ereignissen und Entwicklungen dieses Prozesses: Welche beeinflussten die sozioökonomische Integration und Desintegration Europas? Welche beförderten, welche bremsten sie? In acht Fallbeispielen greifen die Beiträge in wirtschafts- oder sozialhistorischer Perspektive unterschiedliche Aspekte heraus: von der infrastrukturellen Integration über Logistik und Geldpolitik bis hin zu nationalen Schuldenkulturen. Diese historischen Analysen leisten einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Vor- und Nachteile von Integration (oder Desintegration), der Interessen, Handlungsspielräume und Strategien der Akteure.
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ISBN 978-3-515-12350-1
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7835 1 5 1 2 350 1