Instanzen im Schatten: Väter, Geschwister, bedeutsame Andere 3525450133, 9783525450130

In der herkömmlichen tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie gibt es eine Fülle von Literatur zur

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Instanzen im Schatten: Väter, Geschwister, bedeutsame Andere
 3525450133, 9783525450130

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Beiträge zur Individualpsychologie

Band 32: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Instanzen im Schatten

Ulrike Lehmkuhl (Hg.)

Instanzen im Schatten Väter, Geschwister, bedeutsame Andere

Mit 21 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Thea Ahrens in Dankbarkeit zum 80. Geburtstag gewidmet.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 10: 3-525-45013-3 ISBN 13: 978-3-525-45013-0

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Pit Wahl Bedeutsame Beziehungserfahrungen jenseits der Mutter-Kind-Dyade – Gedanken zum Tagungsthema . . . . . . . .

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Lisa Rauber Lebe ein besseres Leben als ich, mein Kind – Eine Analyse im Schatten von zwei Kulturen, Adoptiveltern und leiblichen Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Barbara Bittner Die Schatten- und Lichtseite leben – Ermutigung in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anneliese Schramm-Geiger und Tristan Geiger Die Stieffamilie – Verdeckte und/oder verdrängte Familienstrukturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martina Hoanzl »Ich oder du . . . und wir« – Abgrenzung und Verbundenheit als bedeutsame innere Themen im Kontext des Geschwisterlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrike Lehmkuhl und Gerd Lehmkuhl Die Bedeutung von Geschwistern in der Psychotherapie . . . . .

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Inhalt

Inge Seiffke-Krenke Instanzen im Schatten: Die enorme Bedeutung von Freunden und romantischen Partnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hartmut Radebold Die Väter der Kriegskinder: abwesend und anwesend . . . . . . .

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Rainer Schmidt Nachgedanken zur Lesung aus meinem Roman »Rückkehr mit Marek – Eine masurische Kindheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Im Zeit-Lexikon finden sich unter dem Schlagwort »Schatten« mehrere Einträge: Zum Thema der Jahrestagung 2005 scheinen mir am besten folgende zu passen: »(mehr oder weniger scharf begrenzter) im Schatten eines Körpers liegender Ausschnitt einer im Übrigen von direktem Licht beschienenen Fläche, der sich dunkel von der helleren Umgebung abhebt« bzw. »Bereich, der vom Licht der Sonne oder einer anderen Lichtquelle nicht unmittelbar erreicht wird und in dem deshalb nur gedämpfte Helligkeit, Halbdunkel [und zugleich Kühle] herrscht« oder »Figur, Gestalt oder Ähnliches, die […] nur in ihren Umrissen, nur schemenhaft als Silhouette erkennbar ist« – und unter dem Begriff »Instanz« findet sich vergleichsweise knapp: »zuständige Behörde, zuständiges Gericht«. In der herkömmlichen tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie gibt es eine Fülle von Literatur zur Bedeutung der Mutter für die Entwicklung des Kindes. Andere Familienmitglieder oder gar Freunde, Bekannte kommen deutlich seltener vor, insbesondere sind sie in ihrer Bedeutung nachgeordnet. Lediglich die Väter haben in den letzten zwei Jahrzehnten etwas Terrain wettgemacht. Diesen Mangel wollten die Organisatoren der Tagung in Mainz mit einem neuerlichen Versuch abhelfen und luden zu Vorträgen zu den »anderen Instanzen« ein, die im Schatten der Instanz »Mutter« stehen. Sie sind anders: Die Großmütter von Julio Cortázar (2000) erzählen »nur zur Stunde der Siesta Geschichten, wenn die Eltern schlafen und die Enkel auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer kommen können, wo die Großmutter sie komplizenhaft und freudig erregt erwartet, denn nie werden die Eltern einen derartigen Ungehorsam gegenüber der Pädagogik und der Tradition erahnen« (S. 33f.)1 – in Brigitte Reimanns

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Vorwort

Erzählung »Die Geschwister« (2000) schildert die Schwester von zwei älteren Brüdern, wie sie ihre Brüder erlebt und geliebt hat.2 Sie kämpft um den jüngeren der beiden, der ältere Bruder scheint vom Charakter her eher dazu prädestiniert, sich für den konsumorientierten Westen zu entscheiden. Ihn gibt sie auf. Die beiden jüngeren Geschwister verbindet eine gemeinsame ideologische Entwicklung, seit sie sich in der Nachkriegszeit von ihrer bürgerlichen Herkunft frei machen wollten . . . Wie Hänsel und Gretel fühlen sich die Geschwister von den ratlosen Eltern in der Wildnis ausgesetzt (McPherson 1998, S. 185–192).3 Die Bedeutung der Brüder für den Lebensentwurf der Schwester (Erzählerin) wird in dieser Erzählung sehr klar beschrieben. In dem vorliegenden Band wurden einige der möglichen SchattenInstanzen aus dem Schatten geholt. Leider fehlen die Beiträge von Ursula Bück und Günter Heisterkamp. Frau Bücks Text zum »Vater« wird an anderer Stelle publiziert4. Günter Heisterkamp befand seine Überlegungen zum Thema »Enkel« nach intensivem Abwägen noch nicht für publikationsreif, im Einvernehmen mit seinen Kindern und Enkeln. Heiner Sasse hat in seiner Eröffnungsansprache auch die DGIP als Instanz bezeichnet, weil »vieles wirkt, vieles geschieht, vieles ist bedeutsam und wird selten oder nie ins Licht gestellt«, was die knapp 1600 Mitglieder der DGIP in ihrem Alltag tun. Wir hoffen sehr, dass eine Instanz der DGIP sich über unsere Idee freut, ihr zu ihrem 80. Geburtstag, den sie am 22. Dezember 2005 feierte, dieses Buch zu widmen. Thea Ahrens, langjährige Vorsitzende des AAI Nord in Delmenhorst, hat 1981 erstmals zu den Delmenhorster Fortbildungstagen eingeladen und sie dann über viele Jahre organisiert, gestaltet, weiterentwickelt. Sie hat dafür gesorgt, dass die Vorträge veröffentlicht wurden, so dass die Reihe »Beiträge zur Individualpsychologie« neben der 1 Cortázar, J. (2000): Im Silvaland. Frankfurt a. M. und Leipzig. 2 Reimann, B. (2002): Die Geschwister. Berlin. 3 McPherson, K. (1998): Verlust und Verrat. Nachbemerkung in: Reimann, B. (2002): Die Geschwister. Berlin. 4 Walter, H. (Hg.) (in Vorb.): »Vater, wer bist Du« – Vaterirritation und Wege ihrer Überwindung. Bern.

Vorwort

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Zeitschrift für Individualpsychologie im deutschsprachigen Raum entstanden ist, in der die Entwicklung der Individualpsychologie nachzulesen ist. Diese alljährlich wiederkehrende Arbeit und Verantwortung hat nach ihrem Rückzug aus Alters- und Gesundheitsgründen kein anderes Mitglied der DGIP auf sich genommen: Die Last ist seither auf mehrere Schultern verteilt. Thea Ahrens hat vielen von uns Raum, Zeit und Gelegenheit gegeben, ihre Gedanken zur Individualpsychologie vorzustellen, zu diskutieren und zu publizieren. Sie gehört für viele von uns zu den Instanzen im Schatten, zu den bedeutsamen Anderen, über die das vorliegende Buch berichtet. Wir wünschen Thea Ahrens noch viele schöne Jahre. Ulrike Lehmkuhl

Pit Wahl

Bedeutsame Beziehungserfahrungen jenseits der Mutter-Kind-Dyade – Gedanken zum Tagungsthema

Significant relational experiences beyond the mother-child-dyad – thoughts on the topic of the conference This contribution intends to be an introduction to the topic of this year’s conference »Intrapsychic ›institutions‹ in the ›shadow‹ – the role of fathers, siblings, and significant others«. Starting with an analysis of these concepts (that is »psychological institutions« and »shadow«), they are related to theoretical aspects of Freud and Adler. It is argued that in traditional psychoanalytical concepts the roles of fathers, siblings, and significant others are largely neglected in favour of focussing mainly on the mother-child-relationship. For a more advanced understanding of the potential influence of other primary relationships new research questions have to be outlined that allow, for example, to look more thoroughly at the significance of fathers’ contributions to the development of their children. These arguments are backed up by an old cartoon out of the 1930ies called »father-son-stories« showing a caring and responsible father. Furthermore, the often forgotten significance of the sibling relationship is also illustrated by photographies of male and female sibling constellations. Adding more biographical information on these sibling relationships it becomes evident that a life-long perspective is advisable to catch the meaning of these relationships. In addition, another elaborated case study gives evidence via the analysis of the processes of transference of the significance of the important experience of friends, classmates, and teachers as potential alternative primary socializations agents. To conclude, psychoanalysis is well advised to take the wider perspective of life-span development in order to get closer at human development processes. At the end of this presentation another look is offered on the father-son-relationship mentioned above: thirty years later caring behaviour occurs the other way around.

Zusammenfassung Ausgehend von einer Analyse der im Titel der Tagung verwendeten Begriffe ordnet der Beitrag den Terminus der »Instanzen« in den Bezugsrahmen der

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Pit Wahl

Theorie von Freud und Adler ein. Es wird begründet, in welcher Weise und warum Väter, Geschwister und bedeutsame Andere über lange Zeit eher im Schatten des Forschungsinteresses gestanden haben, während sich die psychoanalytische Theoriebildung schwerpunktmäßig auf die Erforschung der frühen Mutter-Kind-Beziehung richtete. Es werden verschiedene Fragestellungen formuliert, wie Väter für kindliche Entwicklung von Bedeutung sein könnten. Ein Aspekt hiervon wird mit Hilfe einer Bildergeschichte beispielhaft illustriert. Anhand von Fotografien werden dann ausschnitthaft die Beziehungen zwischen vier Brüdern und fünf Schwestern dargestellt und unter dem Gesichtspunkt der Langlebigkeit geschwisterlicher Beziehungsstrukturen betrachtet. In einer Falldarstellung wird die Bedeutung von Freunden, Klassenkameraden und Lehrern in ihrem engen Zusammenwirken mit den Einflüssen und den sich in Übertragungsprozessen widerspiegelnden primären Sozialisationserfahrungen untersucht. Auf diese Weise wird das Tagungsthema auch definiert als Versuch, menschliche Entwicklung mit ihren vielfältigen Einflüssen aus psychoanalytischer Sicht als Entwicklung über die Lebensspanne zu ergründen. Abschließend wird in einer zweiten Bildergeschichte noch einmal das Thema der Vater-Kind Beziehung, diesmal im höheren Lebensalter, aufgegriffen.

»Instanzen im Schatten« – zur Begründung des Tagungsthemas und zum Begriff »Instanzen« »Instanzen im Schatten – Väter, Geschwister, bedeutsame Andere« – das Tagungsthema ist so breit gefächert, dass man nicht erwarten kann, es schnell und erschöpfend auszuloten. Bei genauerer Betrachtung des Titels stößt man zunächst auf den Begriff der Instanzen: Was sind eigentlich Instanzen? Im Brockhaus (1989) wird der Begriff wie folgt definiert: »Instanz: [vom lateinischen instare »drinstehen«, »eine Sache verfolgen«]: Bezeichnung für eine Stelle im Organisationsaufbau einer Unternehmung oder Behörde, die dem Stelleninhaber ein Anweisungsrecht gegenüber Stelleninhabern untergeordneter Stellen verleiht« (S. 541). Instanz hat also mit dem Recht, Anweisungen zu erteilen, mit Bedeutung, mit Ordnung, mit Über- und Unterordnung, mit der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen, mit Machtverhältnissen und mit Macht zu tun. Im Rahmen der freudschen Theorie wird diese Begrifflichkeit verwendet, um in einer Strukturtheorie ein Modell innerseelischer Organisation zu entwerfen. Freud sieht das Seelische in

Bedeutsame Beziehungserfahrungen

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drei Bereiche gegliedert: das Es, das Über-Ich und das Ich – die Triebe oder Triebregungen, den Bereich der Normen und Werte (oder auch die Anforderungen der Kultur) sowie das Ich als vermittelnde und integrierende Instanz. Diesen Entwurf nennt man bekanntlich die Instanzenlehre. In Freuds Theorie – und das ist wichtig, auch wenn es längst so geläufig ist, dass es meist gar nicht mehr bewusst ist – wird also eine Instanz von etwas Äußerem zu etwas Innerem. Das Beziehungsverhältnis, die »Objektbeziehung«, das Machtverhältnis wird zu einem Teil der inneren Struktur des Individuums, zu einem Teil des Selbst. Die Instanz muss – von einem bestimmten Zeitpunkt an – nicht mehr real vorhanden, persönlich präsent sein – sie existiert im Individuum und ist dort wirksam, wirkmächtig. Nach Freuds Vorstellung bildet sich das Über-Ich durch die Internalisierung von Normen und Werten der Erwachsenenwelt, besonders der Eltern, heraus. Dies geschieht in besonderem Maße, wenn das Kind (bei genauerer Betrachtung müsste man wohl eher sagen: der kleine Junge) etwa im Alter von fünf bis sechs Jahren in der Triebentwicklung an einem Punkt angelangt ist, wo es die Mutter libidinös zu begehren beginnt und sie als Liebespartnerin anstelle des Vaters besitzen will. Vätern wird in der freudschen Theorie die Aufgabe zugeschrieben, das Realitätsprinzip und das Wertesystem zu repräsentieren und der kindlichen Wunschwelt, den Allmachtsvorstellungen und den libidinös-sexuellen, ödipalen Triebwünschen die Anforderungen und die Machtverhältnisse der Wirklichkeit entgegen- und deren Akzeptanz durchzusetzen. Im historischen Kontext des Ödipuskomplexes – der für Freud ja lange Zeit Dreh- und Angelpunkt seiner entwicklungspsychologischen Vorstellungen war – ist die väterliche Instanz oder Repräsentanz eine eher (z. B. mit Kastration) drohende, strafende und zu fürchtende Instanz, die sich zudem – den traditionellen Lebensformen der damaligen Zeit entsprechend – real eher außerhalb oder am Rande des unmittelbaren Erfahrungsraumes des Kindes befand. Noch bevor Freud seine Strukturtheorie ausarbeitete, hatte Adler im Rahmen seines Theorieansatzes Wertfragen (zumindest implizit) eine grundlegende Bedeutung zugeschrieben. Dabei ging er aber weniger davon aus, dass die kulturellen Normen und Werte in einer relativ späten Phase der kindlichen Entwicklung im Rahmen eines libidi-

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nös motivierten triangulären Geschehens quasi von außen als Forderung an das Kind herangetragen werden, sondern davon, dass sich das Selbst- und das Selbstwerterleben von Geburt an über die kontinuierlich stattfindenden zwischenmenschlichen Erfahrungen herausbildet und strukturiert. Diese unterschiedliche Betrachtungsperspektive hängt damit zusammen, dass Adler sich seit etwa 1910 von der Vorstellung einer durch die Triebbedürfnisse vorprogrammierten Entwicklungsabfolge löste und das neugeborene Kind mehr und mehr als ein Wesen zu begreifen begann, das sich in der Interaktion und im Austausch mit anderen entwickelt. Dabei misst er den existenziellen Grunderfahrungen der Abhängigkeit, der Ohnmacht, der Hilflosigkeit, der Unterlegenheit und des Angewiesenseins auf die Unterstützung anderer eine bedeutende Rolle zu. Adler sieht den Menschen als ein Lebewesen, das von Beginn seines Lebens an in hohem Maße auf die Unterstützung und Förderung durch andere angewiesen ist. Das bedürftige Kleinkind ist – bei aller Kompetenz und trotz seiner kompensatorischen Fähigkeiten und seiner schöpferischen Kraft, die ihm auch zugeschrieben wird – relativ machtlos. Die Bezugsperson, auf die sich sein oft drängendes Bedürfnis nach Nahrung, Wärme, Halt, Schutz, Körperkontakt, Zärtlichkeit, Resonanz, wohlwollende Spiegelung und Ermutigung richtet, ist mächtig: Sie ist eine mächtige Instanz. Diese Instanz – also die Instanz, wie ich sie im adlerianischen Sinne verstehe – ist aber nicht primär oder gar notwendigerweise drohend, versagend, Furcht erregend und männlich, sie kann durchaus auch ein wohlwollend zugewandter, spiegelnder und begleitender Entwicklungshelfer beiderlei Geschlechts sein.

Zum Begriff »Schatten« Betrachtet man den zweiten Teil des Tagungstitels, so stellt sich die Frage, wie man die Formulierung »im Schatten« genauer verstehen kann. Im Schatten bedeutet zunächst, dass die Personengruppen, die nach dem Gedankenstrich genannt sind – die Väter, die Geschwister und die anderen »significant others«, dass diese Personengruppen in der psychoanalytischen Theoriebildung lange Zeit weit weniger im

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Licht der Aufmerksamkeit und im Fokus eines besonderen Forschungsinteresses gestanden haben als die Mütter – und insofern eine gewisse Schattenexistenz führten. Wenn ich dies betone und auch beklage, so möchte ich damit ausdrücklich nichts gegen die besondere und einzigartige Bedeutung der Mutter für die kindliche Entwicklung sagen. Solange Schwangerschaften auf natürliche Weise ausgetragen werden, solange Mütter die einzigartige Erfahrung der Schwangerschaft mit dem in ihnen heranwachsenden Kind teilen, solange sie auf vielfältige und spezifische Weise, zum Beispiel beim Stillen, körperlich und seelisch für ihre Kinder präsent sind, werden Mütter immer eine besondere Rolle und Bedeutung für die Herausbildung spezifischer innerseelischer Strukturen haben. In der Vergangenheit ist die Bedeutung der Mütter für die kindliche Entwicklung manchmal aber übertrieben und verabsolutiert worden – mitunter wurden Mütter ja sogar als allein verantwortlich oder gar als schuldig an nahezu allen Fehlentwicklungen ihrer Kinder angesehen oder dargestellt. Väter dagegen wurden in ihrer ebenfalls besonderen Bedeutung oft übersehen oder zu einseitig dargestellt. Die Frage aber, welche Rolle die Väter – und auch die »bedeutsamen Anderen« – nun genau spielen oder zumindest spielen könnten, wird durchaus kontrovers diskutiert und unterschiedlich beantwortet. Sind sie für Kinder eher in späteren Entwicklungsphasen bedeutsam als Personen, die die Aufgabe haben, die exklusive, besonders enge – oder die von manchen Analytikern postulierte und als natürlich angesehene symbiotische – Verbindung zwischen Mutter und Kind allmählich aufzulösen? Sind sie in erster Linie bedeutsam als Repräsentanten des Realitätsprinzips, der Welt außerhalb des geschützten familiären Raumes, für Leistungserwartungen und Leistungsanforderungen, repräsentieren sie hauptsächlich die Welt der Normen und Werte? Oder können sie auch als primäre Bezugspersonen in den ganz frühen Entwicklungsphasen fungieren, als Selbst-Objekte, die bei der Befriedigung der Spiegelungs- und Interaktionsbedürfnisse der Säuglinge und Kleinkinder ähnliche Aufgaben und Funktionen übernehmen können wie die Mütter?

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Zur Bedeutung der Väter Ich möchte diese Frage beispielhaft durch eine Illustration und den Rückgriff auf eine Bildergeschichte konkretisieren. Manche Menschen glauben, dass die Entdeckung der kinderzentrierten Väter – ich greife hier zunächst die Väter heraus – eine relativ neue und vielleicht sogar modische Zeiterscheinung ist. Schriftsteller und vor allem auch Karikaturisten haben sich dieses Themas aber schon seit längerem angenommen, wie etwa der Zeichner Erich Ohser, besser bekannt unter seinem Pseudonym E. O. Plauen, der zwischen 1934 und 1937 in der »Berliner Illustrierten Zeitung« die folgende Bildergeschichte aus der Serie »Vater und Sohn« veröffentlichte (hier aus Lepenies 1997, S. 96; Texte vom Verf.):

Der Vater bringt seinen Sohn zu Bett. »Schlaf schön, mein Kleiner, bleib ruhig liegen, mach die Augen zu und träum’ was Schönes!«

Tja – das ist vielleicht das Bedürfnis des Vaters – aber nicht das seines kleinen Sohnes. »Bleib hier, Papa, bleib hier und geh nicht weg! Ich will noch nicht schlafen!«

»Gut, dann spielen wir eben noch ein bisschen, wenn du noch nicht so müde bist.« Schubkarre zum Beispiel. Ja, das macht Spaß. Hat dem Vater früher auch immer Spaß gemacht, da kann er sich noch gut dran erinnern.

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So, jetzt muss es aber gut sein. »Sei schön still, morgen ist auch noch ein Tag, wenn du gut ausgeruht und ausgeschlafen bist, dann wird dir alles viel mehr Freude machen, du wirst schon sehen ...«

»Nein, Papa, nein! – Ich will noch nicht schlafen, ich bin noch nicht müde, bleib noch ein bisschen bei mir! – Dann schlafe ich nachher ganz bestimmt.«

»Ja, Papa, ja!« – Das ist ein schönes Spiel: auf den Füßen reiten, so richtig balancieren, schrecklich schön und ganz gefährlich, jederzeit kann man runterfallen, aber mit Papa – da wird schon nichts passieren, der fängt mich auf, der passt auf, dass mir nichts passiert!

»So – nun aber wirklich und zum letzten Mal: Du musst jetzt schlafen! Ich gehe jetzt und du bleibst ganz ruhig liegen und schläfst bis morgen früh.«

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Nein, Papa, nein! Nicht weggehen! Wenn du weggehst, dann kommen die bösen Träume, vor denen ich mich so fürchte. Es ist so dunkel, bleib bei mir, halt mich fest, ich will nicht allein sein! Was kann ein Vater in einer solchen Situation tun? Ein Vater, der nicht herzlos ist und der sie spürt, die Bedürftigkeit und die Not des kleinen Mannes? Erich Ohser gibt uns eine Antwort:

Quelle: Ohser, E. (E. O. Plauen): Zu Bett bringen. In: Ohser, E. (E. O. Plauen): Politische Karikaturen, Zeichnungen, Illustrationen und alle Bildgeschichten Vater und Sohn. Konstanz, 2000.1

Heute erscheint uns eine solche Auflösung der Situation wahrscheinlich nicht einmal mehr ungewöhnlich, aber in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war die Veröffentlichung einer solchen Vorstellung wahrscheinlich etwas, was die Menschen noch viel mehr als heute zum Lachen reizte. Instanzen, so habe ich darzulegen versucht, sind ursprünglich immer Personen, zu denen wir als Kinder in einem mehr oder weniger bedürftigen Abhängigkeitsverhältnis stehen und die für unsere Ent1 Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Südverlag GmbH, Konstanz.

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wicklung von identitäts- und persönlichkeitsbildender Bedeutung sind. Sie können eine eher negative, Angst machende, bedrohliche oder aber eine eher positive, Schutz und Halt gebende, tröstende oder ermutigende Rolle spielen, sie können sowohl als böse und kalte wie auch als gute und ermutigende Selbstobjekte internalisiert werden. Sie können kalte Schatten werfen oder entwicklungsförderliche Wärme ausstrahlen, sie können in allzu großer Hitze Schatten spenden oder sich selbst als bedrohlich und gefährlich inszenieren. Auf vielfältige Weise haben also Väter als die vielleicht wichtigsten Instanzen neben den Müttern Einfluss auf die Ausformung unserer seelischen Struktur. Oftmals formen sie einen wesentlichen Teil des Weltbildes des Kindes, aber auch das Grundgefühl sich selbst und anderen gegenüber. Außerdem beeinflussen und prägen sie einen wesentlichen Teil der frühen Beziehungserfahrungen, der späteren Beziehungsstile, der Partnerwahlen in Freundschaft und Liebe. Sie können insofern als relevant für die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne gelten.

Zur Bedeutung der Geschwister Doch Väter sind nicht die einzigen »sonstigen« relevanten Sozialisationsinstanzen. Wenn Kinder Geschwister haben, so gehören diese – wenn es sich nicht um sehr viel jüngere Geschwister handelt – ebenfalls zu den wichtigen und prägenden Primärbeziehungen. Die neuere Säuglingsforschung zeigt, dass Geschwisterkinder sich schon sehr früh intuitiv auf die Fähigkeiten, die Bedürfnisse und den jeweiligen Entwicklungsstand von Säuglingen und Kleinkindern einstellen können und dies in der Regel auch tun. Adler hat wie kein anderer in seiner Zeit auf die Bedeutung der sozialen Erfahrungen auf der gleichen Generationsebene, etwa auf die Bedeutung der Stellung eines Kindes in der Geschwisterreihe, aber auch auf die prägende Rolle von sozialen Erfahrungen zum Beispiel beim Spiel auf der Straße und in Gleichaltrigengruppen hingewiesen. Adler kann in diesem Sinne als der frühe Mentor der Geschwisterforschung, die heute vor allem in der empirischen Entwicklungspsychologie viele Forschungsergebnisse zusammengetragen hat, gelten. Wie prägend und langlebig Geschwisterbeziehungen sein können,

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möchte ich an zwei Beispielen kurz und auch wieder bildhaft verdeutlichen:

Abbildung 1: Die Dressel-Brüder

Dies ist ein Foto von vier Brüdern. Der Vater dieser vier Männer war Schmied. Alle vier Söhne wurden ebenfalls Schmiede. Körperkraft, Selbstdisziplin und Fitness waren in der Herkunftsfamilie der vier stets sehr hoch geschätzt worden. Wenn sie auf einem Familienfest zusammentrafen, kam unweigerlich der Zeitpunkt, an dem die Brüder den jeweils aktuellen Umfang ihrer Oberarmmuskeln maßen und miteinander verglichen. Alle Geschwister waren – auch in diesem Punkt die Familientradition fortsetzend – sportlich aktiv, selbstbewusst und kämpferisch. Auf ihre Weise waren sie innerlich sicherlich stark miteinander verbunden, doch legte jeder großen Wert darauf, ein Individuum für sich und abgetrennt von den anderen zu sein. Diese Momentaufnahme gleichgeschlechtlicher männlicher Geschwisterbeziehungen könnte durchaus typisch sein für eine Beziehungsform unter Brüdern, die sich an bestimmten Männlichkeitsnormen und -werten orientiert und über Leistung, Stärke und Konkurrenz strukturiert. Besonders bemerkenswert scheint mir in diesem Fall und im Zusammenhang mit dem Tagungsthema auch die Identifikation mit

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dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu sein, dem Vater, der ja selber Schmied war und von seinen Söhnen bewundert wurde, zu dem die Söhne aber auch in liebevoller Konkurrenz standen. Dass das Foto im mittleren Erwachsenenalter aufgenommen wurde, kann man sehen. Schließen kann man daraus, dass die frühen Identifizierungen und die im Laufe der Zeit gewachsenen Beziehungsstrukturen in diesem Fall eine beeindruckende Kohärenz und Langlebigkeit aufwiesen, dass sie also relativ überdauernd über die Lebensspanne hinweg wirksam waren.

Abbildung 2: Die Jungbluth-Schwestern

Ich stelle hier ein weiteres Beispiel für gleichgeschlechtliche, diesmal weibliche Geschwisterbeziehungen, dar. Diesmal handelt es sich um ein Foto von meiner Mutter und ihren fünf Schwestern. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter und meine Tanten bei Familienfesten oft gemeinsam im Badezimmer verschwanden. Während die eine oder andere auf der Toilette saß, saßen die Übrigen auf dem Badewannenrand und schnatterten ununterbrochen. Sie lachten viel, zogen sich aber auch gegenseitig auf und gerieten häufiger in lautstarken Streit. Waren sie nur paar- oder grüppchenweise zusammen, redeten sie manchmal schlecht über diejenigen, die gerade nicht dabei waren. In ihren Erzählungen spielten ihre Ehemänner und besonders deren Be-

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rufe eine überragende Rolle. In diesen »Diskussionen« geriet die Älteste von ihnen, die niemals geheiratet und keine Kinder hatte sowie die Zweitjüngste, deren Mann den geringsten sozialen Status hatte, regelmäßig an den Rand des Geschehens. Auch in dieser gleichgeschlechtlichen weiblichen Geschwisterbeziehung spielte Konkurrenz eine wichtige Rolle, aber auch Nähe, Zusammengehörigkeit und Intimität. Auch hier ist die Identifikation mit der eigenen Geschlechtlichkeit und der Geschlechterrolle von Bedeutung, jedoch wird diese nicht in erster Linie über den Vergleich körperlicher Eigenheiten und Merkmale vorgenommen (obwohl die Frage, wer denn nun die Schönste unter den Schwestern sei, auch immer wieder einmal wichtig war), sondern über den Status der angeheirateten Männer. Außerdem wurden Verbundenheit, Nähe, Intimität und das gemeinschaftliche Erleben stark betont. Die Mutter meiner Mutter und meiner Tanten, also meine Großmutter, war eine Frau, für die religiöse Werte, soziales Handeln, gemeinschaftliches Erleben, Spiel und Geselligkeit eine große Bedeutung hatten. Mit ihr waren beziehungsweise sind alle ihre Töchter stark identifiziert. Mein Großvater dagegen war ein von allen geachteter und bewunderter Mann, der aber in der Familie eher eine randständige Position bekleidete. Auch hier möchte ich noch einmal kurz auf die auch im klinischen

Abbildung 3: Die Jungbluth-Schwestern dreißig Jahre später

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Alltag häufig zu beobachtende Kohärenz und Langlebigkeit von Geschwisterbeziehungen eingehen. Als ich etwa 30 Jahre, nachdem dieses Foto aufgenommen wurde, auf einem Familienfest die sechs Schwestern bat, sich doch noch einmal zu einem gemeinsamen Foto aufzustellen, dauerte es keine Minute, bis mein Wunsch erfüllt wurde. Im stummen Einvernehmen miteinander stellten sie sich genau in der (altersentsprechend gestaffelten) Reihenfolge und fast genau in der Pose hin, in der sie sich 30 Jahre zuvor dem damaligen Fotografen präsentiert hatten. Die Älteste (die Berufstätige ohne Kinder) steht selbstbewusst an vorderster Stelle, die Zweitjüngste (die mit dem Mann mit dem geringsten sozialen Status) schaut etwas versteckt und verschämt hinter ihrer nächstälteren Schwester hervor. So viel zunächst zum Thema Geschwister und Geschwisterbeziehungen. Ich denke, auch diesen Instanzen sollte in der klinischen Arbeit, in Falldarstellungen und vor allem in der fortlaufenden analytischen Theoriebildung große und vielleicht größere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Zur Bedeutung von Klassenkameraden und Lehrern Ich möchte nun noch kurz auf zwei weitere wichtige Sozialisationsinstanzen eingehen, nämlich auf Klassenkameraden und Lehrer. Lehrerinnen und Lehrer sind neben Kindergarten-Erzieherinnen oft die ersten und wichtigsten mächtigen erwachsenen Instanzen oder Selbstobjekte außerhalb des geschützten familiären Raumes, also die ersten Instanzen innerhalb von öffentlichen Gemeinschaften. Ich werde versuchen, die Bedeutung dieser Instanzen im Kontext und im Wechselverhältnis zwischen verschiedenen primären und sekundären Bezugspersonen, also zwischen Mutter, Vater und Geschwistern auf der einen Seite sowie Klassenkameraden, Freunden und Lehrern auf der anderen Seite, kurz zu skizzieren. Ich will dies im Rahmen einer Falldarstellung tun, mit Hilfe derer ich erläutere, wie verflochten, wie vielschichtig und in sich widersprüchlich Übertragungsprozesse von frühen Beziehungsmustern sein können.

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Fallbeispiel: Herr K. – zu Beginn der Therapie 32 Jahre alt – sucht mich wegen anhaltender depressiver Verstimmungen und einer Selbstwertkrise auf, nachdem sich seine langjährige Freundin von ihm getrennt hatte. Obwohl die Beziehung auch nach seinem eigenen Erleben schon seit längerer Zeit durch Unlebendigkeit, Entfremdung, Unzufriedenheit und Lieblosigkeit gekennzeichnet war, traf ihn der Trennungsschritt der Freundin »bis ins Mark«. Besonders beunruhigte ihn die Einsicht, dass er selbst durch seine häufigen latenten und offenen Aggressionen zur Zersetzung und Zerstörung dieser Liebesbeziehung beigetragen hatte. Aggressionen und Autoaggressionen waren von klein auf ein bestimmendes Lebensthema von Herrn K. gewesen. Während er als kleines Kind eine sehr enge und liebevolle Beziehung zu seiner Mutter gehabt hatte (innerhalb der er eine große Sensibilität und Fähigkeit zur Einfühlung entwickelt hatte), fühlte er sich vom Vater, soweit er zurückdenken konnte, ob seiner Weichheit abgelehnt, entwertet, kritisiert und lächerlich gemacht. Der Vater, ein geschickter, handwerklich vielseitig begabter »Macher« und erfolgreicher Bauunternehmer, wollte in seinem Sohn gern den »harten Kerl« sehen, der er selbst zu sein glaubte. Für die phantasievoll-verträumten Seiten seines erstgeborenen Sohnes hatte er nur Verachtung übrig und drückte dies vor allem dadurch aus, dass er ihn beschämte und demütigte, wenn dieser seinen Verhaltens- und Rollenerwartungen nicht entsprach. Als tief verunsichertes und sozial weitgehend unerfahrenes Kind kam der Patient in der Gleichaltrigengruppe kaum zurecht und geriet in der Schule schnell in eine chronische Außenseiterstellung. Er versuchte sich zwar anzupassen und unauffällig im Hintergrund zu halten, wurde aber – auch, weil er die Spiele und Riten der Jungengruppe nicht durchschaute, beherrschte oder mitmachen wollte – oft gehänselt und drangsaliert. Wenn er sich aber einmal wehrte, kannte er dabei kein Maß. Ohne Rücksicht auf eigene Risiken und Selbstschädigungen schlug er dann zu und verletzte andere Kinder mehrfach so gefährlich, dass er zwar nicht mehr angegriffen, dafür aber aus der Gemeinschaft der Gleichaltrigen noch mehr ausgeschlossen wurde. Zum drei Jahre jüngeren Bruder hatte er ein sehr ambivalentes Verhältnis. Einerseits beneidete und hasste er ihn wegen seines nahen Verhältnisses zur Mutter, besonders, als er noch ganz klein war. Andererseits konnte er ihn oft als einzigen Spielkameraden kaum entbehren, zumal er dessen Bedürftigkeit nach Nähe und Kontakt aus der überlegenen Position des erstgeborenen Älteren ausnutzen konnte, um ihn herumzukommandieren, ihm Angst zu machen, ihn zu quälen und sich von ihm bewundern zu lassen. Auf diese Weise kopierte, reproduzierte und übertrug er das Verhältnis, das der Vater zu ihm hatte, auf den jüngeren Bruder. In der Pubertät war Herr K. von einem Gefühl permanenter Niederge-

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schlagenheit, Hoffnungslosigkeit und von Suizidgedanken besetzt. Er litt besonders darunter, keinen Kontakt zum anderen Geschlecht zu finden und sich auch in dieser Hinsicht seinen Klassenkameraden weit unterlegen zu fühlen. Als einen der wenigen Lichtblicke dieser Zeit erinnerte Herr K. das Beziehungsverhältnis zu seiner 15 Jahre jüngeren Schwester. Seit sie geboren war, machte es ihm Spaß, auf sie aufzupassen und sie liebevoll zu versorgen. Die Rolle des beschützenden älteren Bruders, der ihr seinen Wissensvorsprung kameradschaftlich und großzügig zur Verfügung stellte, gefiel ihm auch später ebenso wie die ungetrübte Bewunderung, die sie ihm entgegenbrachte. Ihr gegenüber konnte er nachsichtig und geduldig sein, einfühlsam und kooperativ. Sein Beziehungsverhältnis zu Lehrern war vor allem in der Zeit der Pubertät außerordentlich belastet. Mit seiner Klassenlehrerin in der 8. Klasse, von der er sich besonders wenig gemocht fühlte, verstrickte er sich in erbitterte Machtkämpfe. Um von seinen Mitschülern wenigstens ein bisschen Anerkennung und Aufmerksamkeit zu bekommen, versuchte sich Herr K. in der ohnehin als wild und undiszipliniert verschrienen Klassengemeinschaft dadurch hervorzutun, dass er den Unterricht immer wieder störte, indem er mit Kreidestücken warf, mit einem Blasrohr Kügelchen verschoss und Gummiringe durch die Gegend flitschte. Als er sich eines Tages eine große Zahl von Gummis deutlich sichtbar über das Handgelenk gestreift hatte, forderte die Lehrerin ihn auf, diese abzugeben. Er weigerte sich mit dem Hinweis auf sein Eigentumsrecht und darauf, dass er doch gar nichts getan habe. Es kam zu einem ungefähr zehnminütigen verbalen Machtkampf vor der Klasse, bis die Lehrerin einen Eintrag ins Klassenbuch machte: »K. flitscht mit Gummis.« Hiergegen lief mein Patient Sturm – denn das hatte er doch (noch) gar nicht getan. Schließlich änderte sie den Eintrag: »K. widersetzt sich den Anordnungen und Anweisungen des Lehrers.« Die Klasse lachte, die Lehrerin, die in ihren Klassen häufig Disziplinprobleme hatte, fühlte sich depotenziert. Am Ende des Schuljahrs bekam er von ihr auf dem Zeugnis eine 5 in Mathematik und Erdkunde und wurde nicht versetzt. Das war nicht unberechtigt, denn er hatte sich im Unterricht total verweigert und, wie er sagte, »aus Prinzip nicht gelernt«. Dennoch war er über die Notengebung empört und rächte sich an ihr, indem er, so wie er es in einem Comic gelesen hatte, einen Korken mit einem Stock tief in den Auspuff ihres Wagens drückte und so das Fahrzeug lahm legte. Während er zusah, wie das Auto abgeschleppt wurde, empfand er ein »unheimliches Triumphgefühl«. Ergänzt wurden solche Handlungen durch selbstschädigende Verhaltensweisen. Neben einer auffälligen Häufung (bewusst) unbeabsichtigter Verletzungen entwickelte er einen oft unwiderstehlichen Drang, mit der Faust gegen Stein und Beton zu schlagen, bis seine Knöchel bluteten.

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Zwanghaft brachte er sich mit Scherben oder einem Messer selber Wunden bei, ohne dabei allzu viel Schmerz zu erleben. Im stummen inneren Dialog mit dem Vater drückte er auf diese Weise die eigene Verletztheit aus, inszenierte, was er erlitten hatte, aktiv und passiv und versuchte darüber hinaus gleichzeitig, sich als der harte und gefühllose Mann zu zeigen, eben als »harter Kerl«, wie ihn der Vater gern haben wollte. Seine weichen, einfühlsamen, mitfühlenden Seiten wehrte der Patient in dieser Entwicklungsphase weitgehend ab und verleugnete sie, bis sie ein fast völlig abgespaltenes Dasein fristeten. Auch wenn das Leben des Patienten in dieser Zeit voller Gefühle und Verhaltensweisen dieser Art war, war seine Entwicklung doch nicht nur eine Serie von unmittelbaren Übertragungen oder eine reine Abfolge von Wiederholungszwängen. Denn obwohl er in hohem Maße in diesen Formen der unbewussten Reinszenierung seiner Beziehungserfahrungen mit dem Vater und in der Identifikation mit ihm gefangen war, so war er doch andererseits auch sehr um Abgrenzung und Loslösung von diesem bemüht. Hierbei half ihm, dass er, nachdem er sitzen geblieben war, auf eine Klassengemeinschaft traf, in der andere Regeln galten als in seiner alten Klasse. Zunächst konnte er kaum wahrnehmen und glauben, dass diese Gruppe offensichtlich keinen Außenseiter brauchte. Vor allem aber hatte er nun einen Klassenlehrer bekommen, der offensichtlich in der Lage war, die innere Not und Unbeholfenheit zu spüren, die hinter dem unangemessenen und unangepassten Verhalten seines neuen Schülers stand. Mithilfe dieser alternativen Vaterfigur gelang es Herrn K. allmählich, in der Gleichaltrigengruppe Fuß zu fassen und anerkannt zu werden, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen und endlich auch Kontakt zum anderen Geschlecht zu finden.

Ausblick: Anregungen für Psychoanalyse und Individualpsychologie? Ich habe bisher versucht, das Tagungsthema in den Kontext sowohl der freudschen Instanzenlehre als auch in den theoretischen Bezugsrahmen Adlers einzuordnen und die in psychoanalytischen Theorien oftmals unterschätzte reale und potenzielle Bedeutung von Vätern und anderen primären und sekundären Bezugspersonen oder Instanzen darzustellen. Dabei war mir wichtig, sowohl die mögliche positive als auch die mögliche negative Rolle dieser Personen für die frühkindli-

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che und die kindliche Entwicklung und für die Entwicklung über die Lebensspanne darzustellen. Ganz besonders möchte ich darauf hinweisen, dass hierbei sowohl Übertragungsprozesse im Sinne von Wiederholungszwängen wirksam sind, aber oft auch Chancen für neue Erfahrungen sowie für kreative und schöpferische Alternativlösungen bestehen. Abschließend möchte ich noch einmal das Thema der bereits gezeigten Bildergeschichte aufgreifen. Folgt man der Logik des Tagungsthemas, könnte man sich fragen, wie sich wohl die Beziehung zwischen dem Vater, der seinen kleinen Sohn zu Bett zu bringen versuchte, und seinem Sohn im Laufe der Zeit entwickelt haben mag. Ein Karikaturist unserer Tage (TOM, hier aus Lepenies 1997, S. 97; Texte vom Verf.) spinnt die Vater-Sohn-Geschichte folgendermaßen weiter:

Der Sohn bringt seinen alten Vater zu Bett. »Papa, das war ein langer Tag, jetzt mach die Augen zu und schlaf mal schön!«

Tja, das ist wohl das Bedürfnis des Sohnes – aber nicht das des Vaters. »Hey, wo willst du denn hin? – Du kannst mich doch nicht einfach ins Bett abschieben! Ich bin noch nicht müde!« »Gut, dann spielen wir halt noch ein bisschen.«

Reiterkämpfchen, das ist gut. Haben sie früher auch manchmal gespielt. »Lauf, Pferdchen, lauf! Hier kommt der Ritter Kunibert!«

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»So, Papa, jetzt muss es aber gut sein, jetzt wird geschlafen! Alle Ritter haben ihre Rüstungen ausgezogen, ihre Schlafgewänder angelegt und sich zur Ruhe begeben.«

»Sei nicht so hartherzig, mein Sohn! Ein bisschen Bewegung noch, ein kleines bisschen Luft. Spiel noch einmal kurz Wagenrennen mit mir!«

»Hui, das ist es! Vorwärts, Junge! Zeig ihnen, dass wir die Schnellsten sind!«

»Papa, jetzt aber wirklich zum letzten Mal: Du musst jetzt schlafen! Ich gehe jetzt und du bleibst ganz ruhig liegen und schläfst bis morgen früh.«

Nein, mein Sohn, geh nicht weg – du weißt, ich hab im Dunkeln solche Angst, halt mich fest, ich will nicht allein sein!«

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Was kann ein Sohn in einer solchen Situation tun? Ein Sohn, der nicht herzlos ist und der sich einfühlen kann in die Befindlichkeit und die Bedürftigkeit seines alten Vaters? Die Antwort liegt nahe …

Zu Bett bringen – Dreißig Jahre später (© TOM)2

Literatur Brockhaus Enzyklopädie (1989). 19. Aufl. Mannheim. Lepenies, A. (Hg.) (1997): Alt und Jung. Das Abenteuer der Generationen. Basel u. Frankfurt a. M. Ohser, E. (E. O. Plauen): Politische Karikaturen, Zeichnungen, Illustrationen und alle Bildgeschichten Vater und Sohn. Konstanz, 2000.

2 Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Tom Körner.

Lisa Rauber

Lebe ein besseres Leben als ich, mein Kind – Eine Analyse im Schatten von zwei Kulturen, Adoptiveltern und leiblichen Eltern

Live a better life than I, my child – an analysis on the background of two cultures, foster parents and blood parents

This essay presents the modified analytical treatment of a seriously traumatised young person and exhaustively describes the process in all its complexity. It takes two years until the person’s state has stabilized itself internally and externally. It is only then that he/she can face up to his/her trauma. According to Fonagy the patient experiences what is called an »earned security«. In the course of the treatment it surfaces that 220 therapy sessions are needed to assist the patient strengthen her self-esteem and become capable of forming relationships again.

Zusammenfassung

Es wird eine modifizierte analytische Behandlung einer sehr schwer traumatisierten Jugendlichen dargestellt. Der Prozess wird in seiner Komplexität ausführlich beschrieben. Gezeigt wird, dass es zwei Jahre dauert, bis eine relative innere und äußere Stabilität hergestellt ist, um dann eine Traumakonfrontation durchzuführen. Im Sinne von Fonagy kommt es zu einer »earned security« bei der Patientin. Im Lauf der Behandlung wird deutlich, dass 220 Therapiestunden für diesen Prozess erforderlich sind, der zu einer Ich-Stärkung und Bindungsfähigkeit führt.

Beginnen möchte ich mit einer Autobiographie in fünf Kapiteln von Portia Nelson.1

1 Übersetzung: Lisa Rauber.

Lebe ein besseres Leben als ich, mein Kind

Kapitel eins Ich gehe die Straße hinunter. Da ist ein tiefes Loch in der Straße. Ich falle hinein. Ich bin verloren . . . Ich bin ohne Hoffnung. Es ist nicht mein Fehler. Es dauert ewig, einen Weg hinauszufinden.

Kapitel zwei Ich gehe dieselbe Straße hinunter. Da ist ein tiefes Loch in der Straße. Ich tue so, als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein. Ich kann nicht glauben, am selben Platz zu sein. Aber es ist nicht mein Fehler. Es braucht immer noch eine lange Zeit, hinauszukommen.

Kapitel drei Ich gehe dieselbe Straße hinunter. Da ist ein tiefes Loch in der Straße. Ich sehe, es ist da. Ich falle wieder hinein . . . es ist Gewohnheit. Meine Augen sind offen. Ich weiß, wo ich bin. Es ist mein Fehler. Ich finde sofort hinaus.

Kapitel vier Ich gehe dieselbe Straße hinunter. Da ist ein tiefes Loch in der Straße. Ich gehe um es herum.

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Kapitel fünf Ich gehe eine andere Straße hinunter. Diese fünf Kapitel von Nelson erinnern an den Verlauf einer analytischen Therapie mit Traumatisierten. So wie dem Ich in den einzelnen Versen kann es auch Analytikerin und Patientin ergehen. Das erste Kapitel könnte eine Metapher für das Leben von Traumatisierten sein: immer wieder hinein in das Loch und hinaus aus dem Loch. Während der Behandlung gibt es lange Zeit keine Repräsentanz für gemachte Erfahrungen oder die Patientin hat eine Blockade dafür entwickelt. Wie von selbst fällt die Patientin immer wieder in das Loch. Sie hat kein Gefühl dafür, dass sie selbst in dieses Loch fällt, sondern glaubt, hineingestoßen zu werden. Für etwaige Schutzvorkehrungen oder Alternativen besteht kein Blick. Ohne Kompensationsmöglichkeiten erscheint ihr die Situation ausweglos. Für die Analytikerin bedeutet dies, dass sie bereit sein muss, immer wieder bei null anzufangen, um so der Patientin ganz langsam deutlich zu machen, dass: – da immer wieder ein Loch ist, in das die Patientin hineinfallen kann; – dass die Patientin selbst eine Wahl hat, hineinzufallen; – dass die Ursache an der Wahl der Straße liegen könnte und – dass es tatsächlich eine andere Straße gibt.

Vorgeschichte Ich berichte über die modifizierte analytische Behandlung einer heute 18-jährigen Jugendlichen, die im Alter von 15 Jahren begann. Zuvor war sie zwei Jahre bei einer freudianischen Kollegin in Behandlung und im Anschluss daran fünf Monate in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Therapie findet zweimal in der Woche statt und dauert bis heute an. Jennifer wurde in Indien geboren. Als sie zwei Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Der Vater hatte versucht, sich zu erhängen, wurde aber gerettet, weil Jennifer und ihre Halbschwester ihn fanden und Hilfe holten. Ihre Mutter arbeitete als Prostituierte, und Jennifer

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wuchs beim Vater und dessen neuer Lebensgefährtin auf. Sie fühlte sich von dieser nicht angenommen und wartete stets sehnsüchtig auf die Rückkehr des Vaters, der Gelegenheitsarbeiter war. Nach der Arbeit brachte er ihr häufig Süßigkeiten und Obst mit. Sie habe ihre Mutter öfters besucht, und dabei ist es zu Übergriffen seitens der Freier der Mutter gekommen. Als Jennifer sechs Jahre alt war, hat die Mutter sich mit Kerosin übergossen und verbrannt. Sie habe die sterbende Mutter im Krankenhaus gesehen, und ein Arzt habe ihr alle Verbrennungen der Mutter (auch im Genitalbereich) gezeigt. Dieses Bild verfolge sie seit Jahren flashbackartig. Sie verspüre große Sehnsucht, zu ihrer toten Mutter zu gehen: Praktisch jedes Mal, wenn die Patientin sich in dem oben beschriebenen Loch befand, äußerte sie den Wunsch zu sterben, um bei ihrer Mutter sein zu können. Nach dem Tod der Mutter gab der Vater sie in ein Heim. Weil aber Jennifer dort nicht bleiben wollte, holte er sie wieder nach Hause zurück. Während dieser Zeit kam es zu sexuellen Übergriffen seitens des Schwagers des Vaters. Als die Stiefmutter einen Sohn bekam, wurde Jennifer von ihr als Last empfunden und erneut mit siebeneinhalb Jahren in ein Kinderheim gegeben. Der Vater hoffte, dass seine Tochter durch eine Adoption bessere Chancen im Leben habe. Mit acht Jahren wurde sie von einem deutschen Ehepaar adoptiert, das Jennifer zunächst zwei Wochen lang im Kinderheim in Indien besucht hatte. Bis dahin hatten sie sieben Jahre wegen eigener Kinderlosigkeit auf eine Adoption gewartet. Jennifer selbst wollte immer nach Amerika adoptiert werden. Sie habe ihren Adoptivvater vom ersten Eindruck her nicht gemocht. Die Adoptivmutter habe sie sympathisch gefunden und schließlich doch der Adoption zugestimmt. Von Anfang an sei sie der Adoptivmutter gegenüber zutraulicher gewesen als gegenüber dem Adoptivvater. Dieser ist Lehrer und unterstützte sie in ihren schulischen Leistungen. Als Jennifer mit Beginn der Pubertät begann, sich aggressiv und provozierend gegenüber den Eltern zu verhalten, reagierten diese rigide und ähnlich unerbittlich wie Jennifer. Auf beiden Seiten schien es nur noch Schwarz oder Weiß zu geben. Die Situation eskalierte, der Vater schlug sie, sie schlug die Mutter. Nach zwei Suizidversuchen von Jennifer kam es zur stationären Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

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Die Eltern berichteten, die Schulleistungen seien abgefallen, Jennifer könne keine Kritik vertragen und versuche ständig, alle gegeneinander auszuspielen, beende Beziehungen zu Freunden sofort, wenn Forderungen an sie gestellt würden. Die Situation sei zu Hause nicht mehr beherrschbar. Jennifer schilderte einen erheblichen Leidensdruck, sie fühle sich zu Hause unter Druck gesetzt und wie ein Kleinkind behandelt. Sie bekomme oft »Ausraster«, da die Eltern immer zu zweit seien und sie sich deshalb nicht wehren könne. Sie könne die strengen Regeln nicht akzeptieren. Besonders ihr Vater verlange von ihr, dass sie ihn liebe, das könne sie aber nicht, da sie in Indien schon einen Vater habe. Sie fühle sich die meiste Zeit traurig und verlassen und denke häufig konkret daran, zu sterben. In der Klinik wünschte sie sich eine Klärung der familiären Situation und eine Bewältigung ihrer Vergangenheit. Sie wurde dort von einer traumatherapeutisch geschulten Kollegin behandelt. Im Vordergrund stand die Stabilisierung und Ich-Stärkung, die von Jennifer gewünschte »Vergangenheitsbewältigung« sollte ambulant weitergeführt werden.

Beginn der ambulanten Behandlung Es kam zu einem gemeinsamen Gespräch zwischen Jennifer, den Eltern, der Therapeutin aus der Klinik und mir. Zuvor hatte es einen Konsens gegeben, dass Jennifer und die Eltern es noch einmal miteinander versuchen wollten. Jennifer, die inzwischen schon sehr therapieerfahren war, (schließlich war ich ihre dritte Therapeutin) war freundlich, aber vorsichtig. Ich spürte, dass sie mir nicht recht traute. Ich beschränkte mich zunächst darauf, mit ihr »im Loch« zu sitzen und zu beobachten, was los ist. Ich beschrieb ihr den Druck, den ich von ihren Eltern spürte und bemerkte, dass dies wohl der gleiche Druck sei, dem sie ausgesetzt sei. Sie schilderte mir immer wieder ihre Verzweiflung, dass ihre Eltern sie nur für ihre eigenen Bedürfnisse adoptiert hätten. Solange sie das niedliche Vorzeige-Kind gewesen sei, sei alles in Ordnung gewesen, aber seit sie einen eigenen Willen habe, versuchten die Eltern sie in ihre Richtung zu zwingen.

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Die Eltern versuchten, mich in ihr rigides Kontrollsystem einzubeziehen und schrieben mir wöchentlich einen Brief. Hauptsächlich ging es darin um Jennifers schlechte Schulleistungen. Sie übten einen spürbaren Druck auf mich aus, dass die Schule auch für mich im Vordergrund stehen müsste, und sparten nicht mit Abwertungen, wenn ich darauf hinwies, dass dies nicht meine Aufgabe sei. (Die vorherige Therapeutin sei viel besser gewesen.) Sie schrieben in den Briefen, dass ich ihrer Tochter nichts über deren Inhalt berichten sollte. Sie brachten Zettel mit, auf denen Jennifer schrieb: »Ich hasse euch. Ich hasse mein Leben. Ich kann nicht mehr. Ich will sterben.« Als sie mich dann in einen Loyalitätskonflikt brachten und mir berichteten, dass sie ihre Informationen aus dem Tagebuch ihrer Tochter hätten, war es für mich an der Zeit, diesen Teufelskreis von Übergriffen, Unterstellungen und Druck zu beenden. Ich informierte die Eltern darüber, dass sie mir in Zukunft nichts mitteilen sollten, was ich nicht an ihre inzwischen 16-jährige Tochter weitergeben könne. Vorher hatte ich mich nicht so klar positioniert, weil ich auch die sehnsuchtsvolle Seite von Jennifer, die ihre Adoptiveltern lieben wollte, unterstützten wollte. Das war nun nicht mehr möglich, weil ich sonst das Band der Beziehung zu Jennifer verloren hätte. Ich stand vor der Wahl, mit den Eltern weiterzuarbeiten und damit Jennifer zu verlieren oder mit Jennifer weiterzuarbeiten und die Eltern zu verlieren. Auffallend war die Befürchtung der Eltern, Jennifer könne sexuelle Beziehungen eingehen. In meiner Anwesenheit sagte die Mutter zu Jennifer, sie werde eine Prostituierte wie ihre leibliche Mutter. Aus meiner Sicht hatte sie eine normale sexuelle Entwicklung mit relativ wenig wechselnden Partnern.

Literatur zum Fall Es gibt relativ wenig Literatur über die speziellen Probleme der psychotherapeutischen Behandlung adoptierter Kinder. Folgendes halte ich hinsichtlich des Fallbeispiels für zutreffend: »Die Vermutung des Analytikers, die Adoptivmutter stelle sich vor, ein Kind sei durch das Blut unauflöslich an die biologische Mutter gebunden, wird häufig bestätigt [ . . . ] Blutsbande werden im Allgemeinen als Kraft angesehen

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oder phantasiert, die bestimmt, dass die Liebe des Kindes vornehmlich der biologischen Mutter gilt, als Kraft, die eine Bindung an sie schafft und es motiviert, nach ihr zu suchen, wenn sie voneinander getrennt werden« (Wieder 2004, S. 50). Oelsner und Lehmkuhl (2005) weisen darauf hin, dass die leiblichen Eltern oft als Schattenfamilie fungieren. Sie seien die Vision einer besseren Alternative. Details der Alternative müssten gar nicht bekannt sein, es reiche zu wissen, dass es sie gibt. »Alle Jugendlichen, ob adoptiert oder nicht, klagen ihre Eltern an und äußern die Absicht – die aber nicht ausgeführt wird –, das Elternhaus zu verlassen. Dieses manifeste Verhalten kann als Abwehr gegen ihre heimlichen Bindungs- und Abhängigkeitswünsche angesehen werden, um deren Bezwingung sie kämpfen« (Wieder 2004, S. 53). Winnicott schreibt, dass diese Kinder Informationen brauchen, aber Information allein reiche nicht aus. Sie bräuchten einen verlässlichen Menschen in ihrem Leben, der ihnen in ihrer Suche nach der Wahrheit beistehe und begreife, dass sie das Gefühl durchleben müssten, das in ihrer realen Situation das angemessene ist. Sie bräuchten jemand außerhalb der Familie, mit dem sie ihr Zuhause aus der Entfernung anschauen, kritisieren und beurteilen können. Adoptivkinder seien in der Pubertät mehr belastet als andere Kinder und bräuchten besondere Hilfe (Winnicott 2004). Letzteres war meine Hauptaufgabe als Analytikerin während des ersten Behandlungsjahres.

Immer wieder hinein in das Loch, hinaus aus dem Loch Jennifer hatte inzwischen bemerkt, dass die Eltern ihr Tagebuch lasen, und schrieb absichtlich sexuelle Erlebnisse hinein, die sie gar nicht hatte. Während eines Treffens der indischen Heimkinder kam es zu einer Retraumatisierung, weil ein 21-jähriger indischer Junge Jennifer sexuell bedrängte. Wegen eines Flashbacks konnte sie sich zunächst nicht adäquat wehren, schaffte es aber, zu entkommen. Sowohl die Eltern als auch die frühere Heimleiterin (die inzwischen in Deutschland lebt) lasteten alles Jennifer an und meinten, sie habe ihn verführt. Jennifer war sehr beschämt und überwältigt von dem Gefühl der Hilflosigkeit, das sie in dieser Situation verspürt hatte.

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Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und Abhängigkeit wiederholte sich noch einmal, als ein Junge, mit dem sie befreundet war, begann, sich zurückzuziehen, und mit einem anderen Mädchen gesehen wurde. Sie litt sehr darunter und begann kompensatorisch von da an, die Zügel in die Hand zu nehmen, wenn sie eine Beziehung mit einem Jungen einging. Wenn nur der Anschein entstand, dass er sie hintergehen könnte, beendete sie die Beziehung sofort.

Schwierigkeiten in der Eltern-Arbeit Die gemeinsamen Therapiegespräche mit den Eltern waren sehr unversöhnlich und nach dem gewohnten Schwarz-Weiß-Schema. Jennifer saß in ihrem Loch und beschimpfte die Eltern, und die Eltern saßen in ihrem Loch, beschimpften Jennifer und forderten von mir mehr Strenge, weil Jennifer in der Schule immer schlechter wurde. Normalerweise sind solche Auseinandersetzungen kein Problem, solange das Familiensystem sie aushält und es möglich ist, sie in der nächsten Stunde neu aufzugreifen, eventuell zu relativieren und gemeinsam weiter um eine Lösung zu ringen. Aber das war hier nicht möglich, weil alle Konflikte in einem Entweder-oder endeten und es nur darum ging, das Gegenüber in die Knie zu zwingen. Die Eltern begannen heimlich nach einer Einrichtung zu suchen, wo sie ihre Tochter hinschicken könnten, und fanden schließlich eine, die ihren disziplinarischen Vorstellungen entsprach. In den Elterngesprächen wurde der unbewusste Bestrafungsaspekt der Eltern deutlich. Sie schickten mir ein Antragsformular, ich sollte eine positive Stellungnahme dazu schreiben und Jennifer gegenüber nichts erwähnen. Die Eltern waren meinen Argumenten der Retraumatisierung eines Kindes, das schon zweimal in ein Heim gebracht wurde, nicht zugänglich. Ich besprach den Antrag mit Jennifer, sie selbst wollte in eine betreute Wohngruppe in der Nähe ihres Heimatortes ziehen. In der nächsten gemeinsamen Therapiestunde kam es zur Eskalation. Jennifer sagte zu ihrem Vater: »Ich hasse dich, du Wichser«, und bevor ich etwas sagen konnte, standen beide Eltern auf und verließen das Zimmer. Nach fünf Minuten kam die Mutter wieder herein und forderte mich auf, dafür zu sorgen, dass Jennifer nicht mehr nach

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Hause komme. Auf meinen Einwand hin, dass dies nicht meine Aufgabe sei, antwortete die Mutter, das sei ihr egal, sie würden die Schlösser austauschen. Es war Dienstag 18.30 Uhr abends, und ich versuchte eine Unterkunft in einem der Mädchenhäuser zu finden, was aber unmöglich war. Schließlich erklärte sich ein Heim bereit, sie ab Samstag aufzunehmen. Ich fragte sie, ob sie eine Freundin habe, bei der sie so lange bleiben könne, und bat sie, das zuständige Jugendamt aufzusuchen. Da ich von Mittwoch bis Sonntag nicht vor Ort war, vereinbarten wir SMS-Kontakt, was zum Glück bis zu ihrer Aufnahme im Heim genügend Stabilisierung bot. Zwischenzeitlich rief der Anwalt der Eltern bei mir an und versuchte, mich zu einer Einweisung in die Psychiatrie zu überreden. Ich bat Jennifer, nur in professioneller Begleitung zu ihren Eltern zu gehen, da sich die Lage so zugespitzt hatte, dass ein Wort ausreichte, um zur Eskalation zu führen. Der Vater drohte mit Psychiatrie und Jennifer mit der Polizei, weil der Vater sie geschlagen hatte.

Aufnahme im Heim und neue Löcher Nach einem Jahr der Therapie begann die ganze Prozedur im Heim von vorn. Die Erzieher und Pädagogen waren sehr wohlwollend, hatten aber keine Ahnung von Traumatisierung und deren Folgen. Sie begegneten Jennifer pädagogisch, und sie reagierte mit Flashbacks, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, Häufung von organischen Erkrankungen, Spaltung und Depression. Sie fiel in jedes Loch, das sich bot, und wurde innerlich immer verzweifelter. »Da diese Patienten aufgrund traumabezogener Abwehrbemühungen und Verarbeitungen der Realität der traumatischen Erfahrung selbst keine Bedeutung beimessen und sinngebende Zusammenhänge verlieren, fällt es oftmals schwer zu erfassen, was mit diesen Patienten tatsächlich geschehen ist. Eigentümlicherweise kommt es auf Seiten des Therapeuten häufig zu Sinnesausblendungen, Blindheiten. Dies wird unter Umständen durch psychoanalytische Verstehensmodelle und Behandlungskonzeptionen gestützt« (Streeck-Fischer 1999, S. 14). Die Heimleitung drängte sie, mit ihren Eltern Kontakt aufzuneh-

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men. Sie wollte das nicht, denn sie hatte in der Zwischenzeit einen Freund, der erbittert von den Eltern bekämpft wurde. Sie drohten Jennifer, ihn anzuzeigen, weil sie zum Zeitpunkt des Kennenlernens noch nicht 16 Jahre alt war. Jennifer brachte den Freund einmal mit in die Therapie und fragte, ob ich ihm ihre eigenwilligen Reaktionsweisen erklären könne. Der 31-Jährige wirkte wie ein 24-Jähriger, Jennifer hatte in der Beziehung eindeutig die Hosen an. Nach etwa einem halben Jahr hatte er einen sehr schweren Motorradunfall und konnte sich monatelang nicht bewegen. Jennifer kochte für ihn und wurde in seine WG und Familie integriert. Ich nahm an einigen Hilfeplangesprächen teil, die regelmäßig so verliefen, dass der Bezugserzieher, Jennifer und ich berichteten, was sich gebessert hatte. Dies wurde dann anschließend von den Eltern zunichte gemacht. Sie kritisierten das Heim, die Analytikerin und jeden, der etwas Positives über Jennifer sagte. Es gab stundenlange zähe Verhandlungen, wann und wie oft Jennifer zu ihrem Freund durfte. Formalitäten standen im Vordergrund, konstruktive Vorschläge wurden mit dem Argument ausgehebelt, dass die Betreffenden Jennifer nicht genügend gut kannten. Dies spitzte sich um Weihnachten dermaßen zu, dass der Erzieher die Geduld mit den Eltern verlor, weil sich herausstellte, dass diese beschlossen hatten, über Weihnachten wegzufahren, aber darauf bestanden, dass Jennifer an Heiligabend um Mitternacht ins Heim zurückmüsse und nicht bei ihrem Freund und dessen Eltern bleiben dürfe. Sie musste also mitten in der Nacht mit dem Zug fahren, um das Heim zu erreichen. Jennifer war so wütend, dass sie ihre Eltern nicht mehr sehen und sprechen wollte. Daraufhin meldeten die Eltern sich monatelang nicht und begründeten dies der Heimleitung gegenüber, dass ihre Tochter es ja so wolle. Gleichzeitig begannen auch die Bezugserzieher, Jennifer als unehrlich zu bezeichnen, sie glaubten ihr nicht, dass sie bei der Rückkehr ins Heim versehentlich Zeit durch das Einsteigen in falsche Züge verlor. Die Erzieher glaubten vielmehr, dass sie das absichtlich tue, besonders deshalb, weil Jennifer ansonsten über eine hohe soziale Kompetenz verfüge, wenn es nicht um Konflikthaftes gehe. Es entstand eine Spaltung in »gute« Analytikerin und »böser« Bezugserzieher. Erneut saß Jennifer in einem bekannten Loch (gute Mut-

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ter – böser Vater). Sie schmiedete Pläne, das Heim zu verlassen. Ich schlug vor, dass wir ein gemeinsames Gespräch mit dem Erzieher führen könnten, was dann sehr konstruktiv verlief. Im Gegensatz zum Vater war der Erzieher in der Lage, hinter dem aggressiven Verhalten von Jennifer ihre innere Verzweiflung zu sehen. Wir verabredeten, dass der Erzieher und ich einmal in der Woche telefonieren würden. Dies war die wichtigste Voraussetzung, um in der Therapie endlich das zu bearbeiten, warum Jennifer ursprünglich zu mir gekommen war: die Gespenster aus der Vergangenheit. Inzwischen waren fast zwei Jahre vergangen. Die aktuelle Lebenssituation hatte zu einer Reaktivierung ihrer frühkindlichen Problematik geführt. Sie übertrug die unbewussten ambivalenten Gefühle, die sie ihren leiblichen Eltern gegenüber hatte, aber verleugnen musste, auf ihre Adoptiveltern. Das Ergebnis war, dass sie erneut in einem Heim landete.

Zum Geschehen in der Therapie Ich schildere dies so ausführlich, um ein Bild davon zu geben, was für eine Vorarbeit notwendig ist, um sich dann eines Tages um die Traumatisierung kümmern zu können. Ohne Stabilität im Innen und Außen ist eine Bearbeitung des Traumas nicht möglich. Es ging zunächst um den Aufbau einer stabilen therapeutischen Beziehung. Das war geglückt, sie hatte mich als Hilfs-Ich akzeptiert, und nachdem sie mich genügend geprüft hatte, traute sie mir auch, ohne mich zu sehr zu idealisieren. Wichtig dabei war, das Übertragungsund Gegenübertragungsgeschehen auf den verschiedenen Ebenen wahrzunehmen, nämlich die Ebene der Beziehung der Patientin zur Therapeutin und die Ebene der Beziehung der Ego-States zur Therapeutin. Die kindlichen Ansprüche wurden auf der Ebene des kindlichen Ego-States bearbeitet. Anschließend war es besonders wichtig, das aktuelle Ich mit den jüngeren Ichs in Kontakt zu bringen und eine Vernetzung zwischen allen Persönlichkeitsanteilen zu fördern. Bindungstheoretisch ging es darum, die Bindungsqualität im Sinne der »earned security« nach Fonagy (1996) zu verbessern, der in seiner Studie nachweisen konnte, dass analytische Behandlungen genau dazu beitragen können. »Das Bindungskonzept hilft auch bei der Ana-

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lyse von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen in einer laufenden Therapie. Man wird sich nicht mehr wundern, dass das Bindungssystem nicht zur Ruhe kommt – trotz enormer therapeutischer Feinfühligkeit – wenn man verstanden hat, dass dies ein elementarer Bestandteil der Bindungsbeziehungen von unsicher-ambivalent Gebundenen ist« (Seiffge-Krenke 2004, S. 92). Jennifer und ich bewegten uns jetzt zwischen Kapitel 2 und 3 hin und her, jedoch bot sich noch keine Chance, das Loch umgehen zu können. Jennifer hatte wohl unbewusst angenommen, dass der Triumph über die Eltern gleich Autonomie sei, und jetzt spürte sie, dass dem nicht so war. Sie vermisste die Mutter sehr und hatte erneut latente Suizidgedanken. Auf einem familientherapeutischen Wochenende stellte ich den Fall vor. Der leitende Professor schlug vor, die Szene zu stellen, um bei diesem komplizierten Sachverhalt ein besseres Verständnis zu finden. Jeder der teilnehmenden Dozenten, der eine Rolle übernommen hatte, konnte die bisher dargestellten widersprüchlichen Gefühle, Spaltungen und Verleugnungen spüren, und ganz allmählich konnten wir das Puzzle zusammensetzen. Ein wesentliches Ergebnis war, dass dringend versucht werden sollte, den Kontakt zur Mutter herzustellen. Ich bemühte mich gemeinsam mit dem Bezugserzieher, die Mutter zu überzeugen, aber beide Eltern lehnten kategorisch ab, da eine Therapeutin ihnen geraten hätte, dass sie sich nicht auseinander dividieren lassen sollten. Auf meinen Einwand, dass dies doch nur ein Anfang sei, gab es ein erneutes Nein. Die Eltern waren offensichtlich so persönlich getroffen, dass sie sich nur durch ihre Rigidität selbst schützen konnten.

Theoretische Überlegungen zur Behandlung Immer wieder lesen wir in Veröffentlichungen, dass eine psychoanalytische Behandlung Traumatisierten schade. Seidler, selbst Psychoanalytiker, schreibt in der Frankfurter Rundschau vom 11. 10. 2005: »Sie [die Psychoanalyse] darf hier nicht angewandt werden, weil sie Trauma-Patienten schlichtweg schadet.« Die Psychoanalyse funktio-

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niere im Prinzip so, »dass das, was sich früher einmal abgespielt hat, in der Beziehung zwischen Patient und Therapeut eine Neuauflage erlebt«. Als einzige Methoden lobt er die Verhaltenstherapie und die EMDR(Eye Movement Desensitization and Reprocessing)-Therapie. In dem gleichen Artikel wird empfohlen, »jemanden die schockierenden Gefühle, so gut es geht, ausdrücken zu lassen, dieses auf Tonband aufzuzeichnen und ihm als Hausaufgabe aufzutragen, das Band vier Wochen lang jeden Tag anzuhören, bis es seinen Schrecken verloren hat«. Wenn ich mir diese Methode bei Jennifer vorstelle, bin ich sicher, dass sie die Behandlung abgebrochen hätte. Eine Traumatherapie ohne Beziehungsarbeit kann ich persönlich mir nicht vorstellen, sie entspräche nicht meiner analytischen Grundhaltung. Es war meiner Meinung nach das Entscheidende in der Arbeit mit Jennifer, dass es gelang, das Band der Beziehung aufrechtzuerhalten, egal was draußen in der Welt geschah. Ich war eine Art Fels in der Brandung, der weder unterging noch die Übersicht verlor und mit Jennifer gemeinsam all diese Widrigkeiten überlebte. Ich stimme damit überein, dass ein klassisches Setting, welches das Trauma in der Übertragungsbeziehung durcharbeitet, nicht geeignet ist, aber Seidler schüttet das Kind mit dem Bade aus. Eine modifizierte analytische Behandlung wie sie zum Beispiel auch Rudolf mit seiner strukturbezogenen Psychotherapie entwickelt hat, ist meiner Meinung nach das adäquate Vorgehen. Sie trifft sich in vielen Punkten mit der von Reddemann entwickelten Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT). Bei einer strukturellen Störung liegt eine eingeschränkte Verfügbarkeit über jene Funktionen, die zur Regulation des Selbst und seiner Beziehungen nötig sind, vor. Die strukturellen Funktionen betreffen die Fähigkeiten – sich selbst und andere kognitiv differenzieren zu können; – sich selbst, sein Handeln, Fühlen und den Selbstwert steuern zu können; – sich selbst und die anderen emotional verstehen zu können; – zu anderen in emotionalen Kontakt zu treten; – emotional wichtige Beziehungen innerlich zu bewahren; – sich selbst im Gleichgewicht zu halten und eine Orientierung zu finden.

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– Von zentraler Bedeutung ist das Funktionieren der Affektkaskade, bei strukturellen Störungen gibt es deutliche Einschränkungen. Das Leiden resultiert aus dem Tun der anderen, das schwer zu ertragen ist. »Die Objektwelt ist für mich unerträglich; sie versetzt mich in eine Verfassung, die ich nicht aushalten kann« (Rudolf 2004, S. 51).

Strukturbezogene Psychotherapie 1. Es handelt sich um eine modifizierte analytische Therapie. 2. Die Therapie ist nicht auf bestimmte Diagnosen ausgerichtet, sondern auf spezifische Dysfunktionen. 3. Struktur meint Struktur des Selbst und ihre Beziehung zu den Objekten. 4. Ätiologie: lebensgeschichtlich frühe Beziehungserfahrungen und die Prozesse der Emotionsregulierung. 5. Spezielle Diagnostik im Sinne der OPD. 6. Vorab werden Fokusse des therapeutischen Geschehens identifiziert. 7. Therapieziel ist die Verantwortungsübernahme durch den Patienten. 8. Die Fokus- und Zielformulierung erlaubt eine Outcome-Evaluierung. 9. Verfahrensspezifische Kohärenz ist erforderlich, diese bezieht sich auf die Selbst- und Beziehungsregulierung und ätiologisch auf die Konzepte der frühen Persönlichkeitsentwicklung und Emotionsregulierung. 10.Strukturbezogenes Verfahren kann eigenständig oder als ergänzendes Verfahren verwendet werden.

Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) Theoretisch basiert PITT auf dem neurobiologischen und psychodynamischen Verständnis der Auswirkungen von traumatischem Stress, auf der Vorstellung des Unbewussten sowie der Nutzung der Wahrneh-

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mung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und der Ich-Psychologie und nicht zuletzt auf dem Konzept der Ego-States von Paul Federn. Konzeptuell orientiert sich PITT am 3-Phasen-Modell, das zuerst von Janet (1889) formuliert wurde, ohne hierbei jedoch eine Prozessorientierung aufzugeben. Das Ziel des Verfahrens ist, »dass traumatische Erinnerungen nicht mehr quälen, mit Gefühlen erinnert werden können, ohne dass man sich dadurch überwältigt fühlt, und sich dadurch der traumatische Stress zurück bilden kann«, so dass »weitere Psychotherapie möglich wird ohne dass traumabedingte Intrusionen und Beziehungsverzerrungen eine angemessene Arbeit fortwährend stören« (Reddemann 2004a, S. 19f.). PITT benutzt Ego-State-Arbeit insbesondere in der Arbeit mit dem inneren Kind und bei malignen Introjekten. Das Ich von heute ist dabei der integrierende Teil. Ressourcenorientierung steht im Vordergrund, was eine Ressourcenorientierung bei der Therapeutin voraussetzt. Das bedeutet, zum Beispiel schon bei der Anamnese nach den Ressourcen fragen. Wir sind von unserer Ausbildung her eher defizitund symptomorientiert, so dass wir diesen Aspekt häufig vergessen. Ich empfehle an dieser Stelle, das strukturelle Interview von Clarkin, Yeoman und Kernberg in »Psychotherapie der Persönlichkeit« zu lesen. Dort werden die Gedanken des Therapeuten in Klammern wiedergegeben – ein wunderbares Beispiel von Defizitorientierung und das Gegenteil von Ressourcenorientierung. Bei einer Patientin wie Jennifer ist es ganz leicht, die Ressourcen wahrzunehmen. Es geht nicht darum, das Phasenmodell als Gegensatz zu einem prozessorientierten Vorgehen zu sehen, sondern beides miteinander zu verbinden, was, glaube ich, aus der Schilderung dieses Falles deutlich hervorgeht. Wichtig ist es, der Patientin die Führung zu überlassen, weil sie meistens ziemlich genau weiß, was ihr gut tut.

Traumatherapeutischer Teil der Arbeit mit Jennifer Als Kontraindikationen für die Traumakonfrontation nennt Reddemann – Suizidalität;

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Instabile psychosoziale Situation; Mangelnde Affekttoleranz; Anhaltende schwere Dissoziationsneigung; Unkontrolliertes autoaggressives Verhalten; Mangelnde Distanzierungsfähigkeit zum traumatischen Ereignis.

Alle diese Kontraindikationen waren bis zum 17. Geburtstag von Jennifer nicht ausgeschlossen. Es ging immer wieder um die Klärung des Arbeitsbündnisses, um die äußere Sicherheit und um die Sicherheit in der Beziehung. Ich wollte ihr so viel Eigenständigkeit und Kompetenz wie möglich lassen. Es ging darum, dass sie auch ohne meine Hilfe aus dem Loch gelangen konnte, da ich ja nicht rund um die Uhr bei ihr sein konnte. Manchmal konnten wir sogar über die vertrackten Löcher lachen. Da sie immer wieder innerlich mit ihrer toten Mutter redete und auch in ihren Worten immer noch eine Sehnsucht durchschimmerte, dass sie mit der toten Mutter vereint sein möchte, besprach ich mit ihr, dass wir uns diese Situation genauer anschauen könnten, wenn sie möchte. Ich entschloss mich, die Beobachtertechnik nach Reddemann (2001) anzuwenden. In einer Traumatherapie geht es um die Zusammenführung von – Verhalten (behavior) – Gefühl (affect) – Körper-Erleben (sensation) – Gedanken (kognition) Das ist das sogenannte BASK-Modell. Dieses einfache Modell erklärt, warum Darüber-reden nicht ausreicht, ebenso wenig wie alleinige Körperarbeit, die Änderung des Verhaltens oder das Immer-wieder-Durchspielen. Jeder Teil ist für sich wichtig, aber nur wirksam, wenn alle Teile zusammengebracht werden. Die Beobachter-Technik ist nach meiner Meinung die behutsamste Form der Traumakonfrontation, weil sie bei den sogenannten »Abreaktionen« (wie es im EMDR bezeichnet wird) durch die Trennung von erlebenden und beobachtenden Persönlichkeitsteilen die Fähigkeit zur Spaltung nutzt. Sie geht davon aus, dass jeder Mensch in sich einen »inneren Beobachter« hat, der sich häufig an Einzelheiten er-

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innern kann, an die sich der Traumatisierte bewusst nicht erinnern kann. Der Fähigkeit zur Distanzierung wird ein hoher Wert beigemessen. Es geht darum, dass die »Abreaktionen« beobachtend wahrgenommen werden, anstatt sie heftigst zu durchleiden. Die hilfreichste Unterstützung dabei ist, dass die Analytikerin präsent ist und die Patientin gut vorbereitet ist. »Man darf erst Gas geben, wenn man bremsen kann« (Reddemann 2004b, S.179). Das genaue Vorgehen wird im Manual von Reddemann (2004a, S. 154–172) beschrieben. Ich erwähne hier einige wichtige Punkte: 1. Das Vorgehen wird erklärt 2. Anfang und Ende der zu bearbeitenden Szene werden festgelegt. 3. Sind noch andere Ichs von der Szene betroffen? Falls ja, können diese an den sicheren Ort eingeladen werden. 4. Auch das traumatisierte Ich wird an den sicheren Ort gebracht. 5. Längere Sitzungszeit festlegen und den Grund erklären. 6. Klären, wie die Patientin im Anschluss gut für sich sorgen kann. 7. Klären, ob der sichere Ort verfügbar ist. 8. Kann die Patientin sich selbst beobachten? 9. Ist die Tresorübung verfügbar? 10. Der erlebende Teil des heutigen Ichs wird ebenfalls an den sicheren Ort eingeladen. 11. Das BASK-Modell wird erklärt. Jennifer wählte die Situation im Krankenhaus, als der Arzt sie beiseite nahm, das Nachthemd hochhob und ihr die schlimmen Verbrennungen der Mutter zeigte. Sie fühlte sich auf irgendeine Weise schuldig und glaubte, die Mutter wolle sie bei sich haben. Beim Durcharbeiten flüsterte die Mutter ihr ins Ohr: »Lebe ein besseres Leben als ich, mein Kind.« Sie war in den Stunden danach immer wieder erstaunt darüber und konnte ganz allmählich den Auftrag der Mutter annehmen. Plötzlich ging sie gerne zur Schule, ihre Noten sind bis heute gut. Wahrscheinlich wird sie nächstes Jahr Fachabitur machen. Wie durch ein Wunder ließ die Mutter sich doch allein auf einen Kontakt mit ihr ein, und zu ihrer Firmung wurde sogar der Freund eingeladen. Sie hat inzwischen zum Vater einen zwar distanzierten, aber relativ guten

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Kontakt, inzwischen kann sie andere Straßen nehmen, was den Vater betrifft. Ich glaube, es war für die Eltern sehr wichtig, zu erkennen, dass die weitere Beziehung mit ihrer Tochter nicht zu erzwingen ist. So konnten sie in der Akzeptanz, dass eine zukünftige Beziehung nur eine freiwillige sein kann, ihrerseits eine neue Straße nehmen und erstaunt feststellen, dass etwas von Jennifer zurückkam. Für Jennifer war es wichtig, dass die Eltern sie in Ruhe ließen, denn nur so war es für sie möglich, zu spüren, dass sie ihr fehlten. Sie löste sich von dem 32-jährigen Freund, nachdem sie ihn unterstützt hatte, seinen Cannabiskonsum aufzugeben. Sie hatte die Achtung vor ihm verloren, weil er arbeitslos war und sich nicht richtig um Arbeit bemühte. Im Heim war sie zur Gruppensprecherin gewählt worden und stand vielen Kindern mit Rat und Tat zur Seite. Einige Monate nach ihrem 18. Geburtstag zog sie in eine eigene Wohnung, wo sie aber weiter betreut wurde. Es sah alles so aus, als hätte sie eine andere Straße genommen. Das Therapieziel der Verantwortungsübernahme durch die Patientin schien näher gerückt. Sie verliebte sich in einen jungen Mann aus Bayern, der wohl ein guter Partner für sie ist. Sie versuchte die Zustimmung des Jugendamtes für einen Umzug nach Bayern zu erhalten, was nicht gelang. Auffallend war ihre Frustrationstoleranz diesbezüglich. Aber andererseits macht ihr aufgrund ihrer Geschichte ein abwesendes und nicht erreichbares Objekt das Leben schwer. Sie begann Ängste zu verspüren, wenn sie allein in ihrer Wohnung sein musste und dies nicht mit Freundinnen überbrücken konnte. In einer solchen Situation kam es Anfang dieses Jahres zu einem erneuten impulsiven Suizidversuch. Ihre Mutter rief mich an, weil sie Jennifer ins Krankenhaus gebracht hatte. Diese meinte nach der Entlassung, sie habe schon gewusst, dass man sich mit fünf Paracetamol und zehn Fluoxetin nicht umbringen könne.

Weiterer Verlauf der Therapie Der Suizidversuch deutet wohl an, dass jetzt auch eine Auseinandersetzung mit mir ansteht und meine Funktion als Fels in der Brandung

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(als verlässliches, stabiles und brauchbares Objekt, das sich weder suizidierte noch zerstört werden konnte) langsam eine andere Ebene erreichen kann. Es wird außerdem um die bevorstehende Trennung und die Beendigung der Behandlung gehen müssen. Ziel der weiteren Therapie wird es sein, eine stärkere Verinnerlichung eines guten Objektes zu erreichen, so dass sie auch auf ihre positiven Ressourcen zurückgreifen kann, wenn sie mit sich allein ist. Ich habe mit Jennifer darüber gesprochen, dass ich sie und ihre Geschichte auf einer Tagung vorstellen werde. Daraufhin meinte sie spontan, sie könne ja vorbeikommen und alle könnten ihr dann Fragen stellen. Ich habe mich für ihre Großzügigkeit bedankt und sie gebeten, dies doch nicht zu tun, da sie sich gerade auf einer guten neuen Straße befände und ich noch nicht so ganz sicher sei, ob irgendeine Frage sie nicht wieder in ein Loch befördern könne.

Literatur Arbeitskreis OPD (Hg.) (2006): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Bern. Clarkin, J. F.; Yeomans, F. E.; Kernberg, O. F. (2001): Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeit. Stuttgart. Janet, P. (1889): L’Automatisme psychologique. Paris. Nelson, P. (1993): There’s a hole in my sidewalk. Hillsboro. Oelsner,W.; Lehmkuhl, G. (2005): Adoption, Sehnsüchte, Konflikte. Düsseldorf. Reddemann, L. (2001): Imagination als heilsame Kraft – Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart. Reddemann, L. (2004a): Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual. Stuttgart. Reddemann, L. (2004b): Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Freiburg. Rudolf, G. (2004): Strukturbezogene Psychotherapie. Stuttgart. Seiffge-Krenke, I.(2004): Psychotherapie und Entwicklungspsychologie. Berlin. Streeck-Fischer, A.(1999): Adoleszenz und Trauma. Göttingen. Wieder, H. (2004): Sollen Betroffene über ihre Adoption aufgeklärt werden, und wann? In: Harms, E.; Strehlow, B. (Hg.): Adoptivkind. Traumkind in der Realität. 5. Aufl. Idstein, S. 42–54. Winnicott, D. (2004): Adoptivkinder in der Adoleszenz. In: Harms, E.; Strehlow, B. (Hg.): Adoptivkind. Traumkind in der Realität. 5. Aufl. Idstein, S. 170–176.

Barbara Bittner

Die Schatten- und Lichtseite leben – Ermutigung in der Schule

Experiencing shadow and light – the force of motivation in school »No light without a shadow« – if you turn around this saying, it reads: »No shadow without light,« and one gets to the core of this essay. How important are these instances in the shadow (fathers, siblings and significant others) – these shadows, our pupils‹ daily visible or invisible companions? In order to narrow the focus, the author, a high school teacher, concentrates on the fathers only. Presupposing an image of a protective, encouraging paternal shadow, the author takes up examples from every day life at school that show how a paternal shadow can be threatening and discouraging for an adolescent’s attitudes and behaviour. She analyses how school and pedagogical actions can help encourage the pupils to become aware of these paternal shadows, to deal with them, and to show how establishing »reliable substitute ties« can provide opportunities for inner growth and maturing. It provides evidence of how this process of growing and maturing affects all who are involved in school life: pupils, parents, and teachers.

Zusammenfassung »Wo Licht ist, ist auch Schatten.« Die Umkehrung der Redewendung führt zum Kern des Beitrags: »Wo Schatten ist, ist auch Licht.« Wie zeigen sich jene »Instanzen im Schatten, die Väter, Geschwister und bedeutsamen Anderen« – Schatten, die unsere Schüler sichtbar oder unsichtbar alltäglich begleiten? Um den Fokus einzuengen, richtet die Autorin als Lehrerin an einer Hauptschule den Blick ausschließlich auf die Väter. Ausgehend vom beschützenden, ermutigenden väterlichen Schatten werden Fallbeispiele aus dem Schulalltag aufgegriffen, die erkennen lassen, wie der väterliche Schatten bedrohlich und entmutigend auf die Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen wirken kann. Die Autorin geht der Frage nach, wie Schüler durch pädagogisches Handeln ermutigt werden können, diesen väterlichen Schatten wahrzunehmen, sich mit ihm auseinander zu setzen und wie sich im Entstehen von »verlässlichen Ersatzbindungen« Chancen für inneres Wachsen und Reifen

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einstellen. Es wird deutlich, wie sich dieser Prozess des Wachsens und Reifens auf alle an Schule Beteiligten – Schüler, Eltern und Lehrer – bereichernd auswirkt.

»Vater und Sohn« – Bildergeschichten, die bewegen Haare vom Frisör mit der großen Schere schneiden lassen; still sitzen auf dem hölzernen Pferd. Er, der Sohn, mag das überhaupt nicht, und eine große Träne kullert zu Boden. Um seinen Sohn ein wenig abzulenken und aufzuheitern, macht er, der Vater, im Hintergrund so manche lustige Clownerie. Das vertreibt die Tränen im Nu. Auch der Frisör amüsiert sich köstlich und am Ende ist der Haarschnitt zum Entsetzen aller genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich sein sollte: »Vorne lang, hinten kurz!« Da lacht sogar das hölzerne Pferd. Einmal nicht in die Schule gehen zu wollen, der Wunsch, heute zu Hause zu bleiben, verwöhnt zu werden. Er, der Sohn, beherrscht die Kunst vorzutäuschen, vor Kopfschmerzen ganz elend und krank zu sein. Er, der Vater, besorgt um den Sohn, bringt heißen Tee, setzt sich ans Bett, das er im Handumdrehen in eine Schaukel verwandelt hat, und wiegt beim Vorlesen den sichtlich zufriedenen Patienten. Doch die Idylle währt nicht lange. Vom Vater in einem unerwarteten Moment plötzlich beim wilden Schaukeln ertappt, macht sich »der eingebildete Kranke«, vom ernsten Blick und der strengen Gebärde des Vaters begleitet, zerknirscht auf den Weg zur Schule. Dieser »Bilderbuch-Vater«, wie wir ihn aus den Bildergeschichten von Erich Ohser kennen, ist ein humorvoller, einfühlsamer, ein liebevoller, warmherziger Vater. Wenn es sein muss, ist er auch ein strenger, Grenzen setzender Vater, der den Simulanten unnachgiebig in die Schule schickt. Probleme löst er auf unkonventionelle Weise, so beispielsweise, wenn er nachts im Schweiße seines Angesichts mit dem Schubkarren die fehlenden Steine zur Uferpromenade schafft. Er ist auch ein mutiger Vater, der sich zur Freude und zum Stolz des Sohnes gegen rohe Gewalt zu wehren versteht, der sich im Moment der Ge-

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fahr beschützend vor den Sohn stellt und den bedrohlichen Verfolger abwehrt. Auch wütend und zornig kann er sein, wenn er sich gekränkt fühlt oder gar als schlechter Verlierer einer Schachpartie den Sohn übers Knie legt. Drei Jahre lang erschienen ab Dezember 1934 einmal wöchentlich diese Bildergeschichten unter dem Pseudonym E. O. Plauen. »Vater und Sohn«, das liebenswerte Paar, das gemeinsam die Freuden und Widrigkeiten des Alltags erlebt und Abenteuer besteht, wurde bei Jung und Alt umgehend zum Publikumserfolg – und ist es bis auf den heutigen Tag geblieben.

Menschliches Sein – ein stetes Bezogensein Die Individualpsychologie ist eine Beziehungspsychologie. »Die Beziehungen der Menschen zueinander, aber auch die Beziehungen des Menschen zu sich selbst, in Bezug auf seine Beziehungen zu anderen, das ist das Grundthema; denn das menschliche Sein ist ein stetes Bezogensein« (Sperber 1989, S. 13). Was berührt, was bewegt beim Betrachten der Bildergeschichten die Gemüter auch heute noch? Ist es das unterschwellige Gespür für eine von Liebe und gegenseitigem Respekt geprägte Vater-Kind-Beziehung? Ob aus der Sicht des Sohnes, ob aus der Sicht des Vaters, vielleicht spiegeln uns die beiden in ihrer Authentizität, in dem Aufeinander-Bezogensein gelebte oder auch nicht gelebte Anteile, Sehnsüchte, Träume als Sohn, Tochter, als Vater und ermöglichen uns so die innere Begegnung mit jenen ureigenen »Instanzen im Schatten«, die von früher Kindheit bis in die Gegenwart hinein wirken. Um das Thema der Jahrestagung einzugrenzen, richte ich aus meiner Sicht als Hauptschullehrerin und Begleiterin von Jugendlichen den Blickwinkel auf die Väter. Wie wirkt ihr Schatten? Wie kann ich die Heranwachsenden ermutigen, diesen Schatten wahrzunehmen, sich im Konflikt mit ihm auseinander zu setzen? Wo Schatten ist, ist auch Licht. Wie kann ich ermutigen, hinter der Schatten- die Lichtseite zu entdecken, als Chance für persönliches Wachsen und Reifen? Der folgende Beitrag ist ein Versuch, diesen Fragen nachzugehen.

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Väter – Vorbild oder schlimmster Feind? »Der Einfluss des Vaters auf seine Kinder ist so groß, dass manche ihr ganzes Leben lang auf ihn wie auf ein Vorbild oder aber wie auf ihren schlimmsten Feind blicken« (Adler 1999, S. 112). Der Vater – ein Vorbild oder schlimmster Feind? Den Gedanken der »Ganzheit« wahrend, werden hier die von Adler verwendeten, scheinbar polarisierenden Begriffe nicht in Schwarz-Weiß-Malerei verstanden als wertende Einteilung der Väter in gute und böse. Als gedankliche Eckpfeiler scheinen mir diese Begriffe geeignet, das Spannungsfeld abzustecken, in dem sich aus meiner Erfahrung als Hauptschullehrerin der väterliche Schatten einerseits beschützend und ermutigend, andererseits bedrohlich und entmutigend auf die Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen auswirkt. Dort, wo Entmutigung sichtbar wird, stellt sich die Frage: Welche Möglichkeiten gibt es, ihr durch pädagogisches Handeln entgegenzuwirken?

Väter: beschützende, ermutigende Schatten Fallbeispiel 1 (Lisa, dreizehn Jahre, ein älterer Bruder): Für die Schülerinnen und Schüler der siebten Klassen beginnt das Theaterprojekt »Der Zauberlehrling« nach dem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe. Etwa 45 Jugendliche sind es, die auf eigenen Wunsch an dem Projekt mitwirken wollen. Zum ersten gemeinsamen Treffen sind sie in die Turnhalle gekommen, denn heute geht es darum, die Rollen zu verteilen. Dazu liegen Papierbögen mit unterschiedlichen Aufschriften im Raum verteilt auf dem Boden. Nach einer kurzen Einführung kann sich jeder dort hinstellen, wo er seinen Platz, seine Rolle im Projekt sieht: als Zauberlehrling, Hexenmeister, Besen, Wasserträger, Chorsprecher, Licht- oder Tontechniker, Bühnenbildner. Die Gruppierung funktioniert zu meiner Überraschung erstaunlich gut, und nur an einer Stelle klemmt es mit der selbstgewählten Einteilung. Für die Rolle des Zauberlehrlings haben sich fünf Interessenten aufgestellt. Schnell wird klar, dass eine vierfache Besetzung der Rolle das Maximum ist und einer der Anwärter freiwillig zurücktreten sollte. Blicke werden gewechselt, Achselzucken, Unschlüssigkeit, Schweigen. »Na,

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gut«, sagt Lisa plötzlich, »dann gehe ich halt zum Chor«, verlässt die Gruppe der Zauberlehrlinge und reiht sich in die Sprechchorgruppe ein. Spontaner Applaus begleitet sie. Kein Wunder – typisch! Und trotzdem staune ich wieder einmal, wie Lisa, die leidenschaftliche Schauspielerin, durch Verzicht den Konflikt löst. Ob sie wie diesmal selber direkt vom Konflikt betroffen ist oder ob es um die alltäglichen Probleme des Miteinanders geht, als gewählte Klassensprecherin genießt sie das Vertrauen ihrer Mitschüler. Wir erleben sie als zugewandt, jederzeit bereit, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Begabt mit einem Gespür für emotionale Zwischentöne unter ihren Mitschülern, habe ich in ihr eine wachsame Partnerin, die mich aufmerksam macht, wenn ich diese im Trubel des Schultages schon einmal überhöre. Auffallend – und auch darin ein Vorbild für die Gemeinschaft – ist ihre Art, Freude und Begeisterung spontan mitzuteilen. Auch Angst, Ärger, Wut äußert sie in aller Deutlichkeit und ermöglicht so die Auseinandersetzung im klärenden Gespräch. Wie kommt es, dass dieses Mädchen einen so hohen »Anteil des Zieles zur Gemeinschaft in sich trägt« und somit »Konflikte im Sinne der Gemeinschaft zu lösen imstande« ist? (Adler 2001, S. 124). Erzählt sie von ihrer Familie, wird spürbar, dass sie dort in einer Atmosphäre aufwächst, in der sie »zum Mitarbeiter, zum Mitmenschen« werden kann, »der gerne hilft und sich gerne, soweit seine Kräfte nicht ausreichen, helfen lässt« (Adler 2001, S. 155 ). Welche prägende, ermutigende Vorbildrolle der Vater dabei einnimmt, lässt sich erahnen, wenn man erlebt, wie er sich mit innerer Ruhe und Gelassenheit für die Belange der Klassengemeinschaft engagiert: etwa beim Organisieren und Mitgestalten von Unterrichtsgängen oder – zusammen mit seiner Frau – bei der konstanten Mitarbeit in der Elterninitiativgruppe »Schulentwicklung«. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« – seit kurzem gehört Lisa zur Jugendgruppe der ortsansässigen freiwilligen Feuerwehr, deren aktives Mitglied der Vater seit vielen Jahren ist. Fallbeispiel 2 (Stefan, zwölf Jahre, zwei jüngere Schwestern): »Die Aufgabe des Vaters kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Er soll sich seiner Frau, seinen Kindern und der Gesellschaft ge-

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genüber als guter Kamerad erweisen. Er soll die drei großen Lebensaufgaben – Arbeit, Freundschaft und Liebe – auf befriedigende Weise lösen und mit seiner Frau bei gleichen Rechten für das Wohl und den Schutz der Familie sorgen« (Adler 1999, S. 111). Im Sinn des Zitates scheint auch Stefan seinen Vater zu erleben. Stefan wächst auf einem Bauernhof auf. Der Vater ist neben der landwirtschaftlichen Arbeit noch berufstätig. Von früher Kindheit an erlebt Stefan, dass die anfallende Arbeit nur zu bewältigen ist, wenn alle Familienmitglieder dem Alter entsprechend die Verantwortung für das alltägliche Leben teilen. Von daher ist es nur verständlich, dass er in einem ersten KennenlernGespräch aus den ihm vorgelegten Bildern eine Fotografie auswählt, die eine Gruppe von Menschen bei der Weinlese zeigt. »Das Bild erinnert mich an meine Familie«, sagt er, »wenn wir zusammen auf dem Feld arbeiten.« Die Erfahrung von häuslicher Gemeinschaft und Zusammenhalten wirkt sich, wie es bei Stefan sichtbar wird, auch auf die schulische Gemeinschaft aus, in der Stefan seine »Fähigkeiten«, die er durch »soziales Verantwortungsbewusstsein« entwickelt hat, zum Wohle der Gemeinschaft beiträgt (Adler 1999, S. 103). Fallbeispiel 3 (Carina, dreizehn Jahre, ein jüngerer Bruder): Carina lebt seit zwei Jahren von der Mutter getrennt beim Vater. »Ich will sie nicht sehen«, sagt sie entschlossen mit angstverzerrtem Gesichtsausdruck und versteckt sich in der Schultoilette, wenn sich die Mutter zur Sprechstunde angesagt hat. Erzählt Carina im vertraulichen Einzelgespräch von traumatischen Erlebnissen mit der Mutter, spricht sie im Flüsterton mit der Stimme eines Kleinkindes. Einziger familiärer Halt ist für sie der Vater. Bei ihm fühlt sie sich geborgen und unterstützt, unter anderem auch bei den noch nicht abgeschlossenen Auseinandersetzungen um das Sorgerecht. Sicherlich ist es der liebevollen, fürsorglichen Obhut des Vaters zu verdanken, dass trotz aller früheren und gegenwärtigen seelischen Belastungen eine junge Frau heranwächst, die einfühlsam und einsatzfreudig die Klassengemeinschaft bereichert.

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Väter, so nah, so fern – bedrohliche, entmutigende Schatten »Ein Vater, welch ein Luxus«, geht es mir immer wieder durch den Kopf, wenn mir jene beschützenden, ermutigenden (Bilderbuch-)Väter leibhaftig gegenübersitzen und im Gespräch Interesse an ihrem Kind, im Ausnahmefall sogar an der Klassengemeinschaft zeigen. Für viele unserer Hauptschüler – vor allem in den höheren Jahrgängen – ist die Realität »Vater« eine andere, bitter, oftmals entmutigend und bedrohlich. Verbunden mit konkreten Bildern von entmutigten, verlassenen Söhnen und Töchtern drängt sich da zwangsläufig das Schlagwort von der »vaterlosen Gesellschaft« auf. »Mein Vater – wenn der nach Hause kommt, ist er meistens besoffen, brüllt herum und schlägt brutal zu.« »Mein Vater – dem ist das doch vollkommen egal, was ich mache, der interessiert sich doch null für mich.« »Mein Vater – ich hasse ihn für das, was er meiner Mutter, meinen Geschwistern und mir angetan hat, der ist für mich gestorben.« »Mein Vater – habe ihn sieben Jahre nicht mehr gesehen, seit fünf Jahren zahlt er meiner Mutter keinen Unterhalt mehr, und außerdem hat er immer meine Schwester bevorzugt.« »Meinen Vater – kenne ich nicht, will ihn auch gar nicht kennen lernen.« Dies ist nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum der im persönlichen Gespräch anvertrauten Äußerungen. Auch wenn derartige Bemerkungen vordergründig betont cool klingen, dahinter schwingt jedes Mal doch eine ganze Portion Resignation und Trauer mit. Der bedrohliche Schatten als Chance Bewunderung und Achtung empfinde ich für die jungen Menschen, die trotz des Mangels an positiv erlebter Vater-Kind-Beziehung ihr Leben von außen betrachtet in den Griff bekommen. Aufgrund ihrer Lebenserfahrung sind sie häufig geschätzte, vertrauenswürdige Gesprächspartner und bereit, ohne jeden zwanghaften, krankhaften Ehrgeiz schulische Leistungen zu erbringen. Es hat den Anschein, als würden sie aus der Schattenseite ihres Lebens sogar Kraft schöpfen und sich selbst in der Haltung ermutigen: »Jetzt erst recht.« Fallbeispiel 4 (Lena, dreizehn Jahre, eine ältere Schwester): Dies scheint auf besondere Weise Lena zu gelingen. Vom Vater, Alkoholi-

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ker, hat sich die Mutter getrennt, als Lena fünf Jahre alt war. Seither ist jeder Kontakt zu ihm abgebrochen. Die ohnehin unregelmäßigen Unterhaltszahlungen sind seit drei Jahren endgültig eingestellt, eine finanzielle Belastung, die nur durch zusätzliche Feierabendarbeit der Mutter getragen werden kann. Und trotzdem, in ihrem Auftreten wirkt Lena gefestigt und sehr selbstbewusst. Sie ist hoch motiviert, mit Freude bei der Sache, bringt gute schulische Leistungen und zeigt sich in der Gemeinschaft sozial wie emotional kompetent. Nur etwas stimmt mich nachdenklich. In ihrem äußeren Erscheinungsbild wie Haarschnitt, Kleidung, in der Art, sich zu bewegen, gibt sich Lena auffallend männlich. Ungewöhnlich ist auch, dass sie in einer männlich besetzten Sportart (Eishockey) inzwischen bundeslandweit Spitzenerfolge erzielt und über den Sport eine Laufbahn bei der Bundeswehr anstrebt. Und im Gegensatz zur Mehrheit ihrer ständig von der Liebe ergriffenen Altersgenossinnen scheint sie sich für die Männerwelt nicht im Geringsten zu interessieren. Ist möglicherweise der Mangel an gelebter Weiblichkeit ein verschlüsselter Hinweis auf den Mangel an positiv gelebter Vater-Tochter-Beziehung? Sie daraufhin anzusprechen, erscheint mir gegenwärtig nicht angebracht. Möglicherweise gibt es zu einem späteren Zeitpunkt dazu Gelegenheit. Der bedrohliche Schatten als Last Aus der Schattenseite des Lebens Kraft schöpfen – wie am Beispiel von Lena aufgezeigt, gelingt das manchem Jugendlichen. Viele Jugendliche jedoch sind überfordert, und der Mangel an väterlicher Zuwendung lastet auf ihnen wie ein bedrohlicher Schatten, unter dem es zu ständigen Konflikten im täglichen Miteinander kommt. Fallbeispiel 5 (Fabian, vierzehn Jahre, ein älterer Halbbruder): Schuljahresanfang, 9. Klasse. Fabian lebt zusammen mit Vater und Mutter und dem zwölf Jahre älteren Halbbruder aus der ersten Ehe des Vaters. Wann immer es in der Klasse zu Streitigkeiten und Konflikten kommt, ist Fabian maßgeblich daran beteiligt und wird von allen gefürchtet als einer, der ständig provoziert, der keine Gelegenheit auslässt, seine Mitschüler durch gezielte, verletzende Bemerkungen zu kränken. Besonders Sabine, die sich gegen seine Angriffe kaum wehren kann, ist

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als geeignetes Opfer immer wieder Zielscheibe seiner bösartigen, hinterlistigen verbalen Attacken. Aggression – wozu? Alle meine Versuche, mit Fabian ins Gespräch zu kommen, prallen an ihm ab. Dabei verhärten sich seine weichen Gesichtszüge zu einem Pokerface. Auch das in den vergangenen Schuljahren von Kollegen bereits mehrfach gezogene Register von Schulstrafen und polizeilichen Anzeigen lässt ihn offensichtlich kalt. »Geben Sie mir halt wieder einen Verweis, rufen Sie halt die Polizei«, mit derart abfälligen, bissigen Bemerkungen quittiert er mein Bemühen, wendet sich ab und geht. Keine Chance zur Annäherung. Ratlosigkeit. Zum Elterngespräch erscheint die Mutter, der Vater »hat keine Zeit«. Im Gespräch wird deutlich, dass auch die Mutter immer wieder Zielscheibe der verbalen Aggressionen des Sohnes ist. Sichtlich bewegt berichtet sie, dass der Vater den Sohn aus erster Ehe bevorzugt und Fabian vom Tag seiner Geburt an immer der Unterlegene war. Alle seine wiederholten Bemühungen, die Zuneigung des Vaters zu gewinnen, waren vergeblich. »Dennoch macht die Stellung jedes Kindes in der Familie einen großen Unterschied [ . . . ] Es ist für ein menschliches Wesen unmöglich, ohne Ärger und Kränkung hinzunehmen, dass es auf eine niedrigere Stufe gestellt wird als jemand anders« (Adler 1999, S. 118). Mit dem Gespräch, in dem die Mutter die familiären Hintergründe nachvollziehbar aufdecken konnte und damit für mich die tieferen Zusammenhänge des »in einem seelischen Hungerzustand« (S. 118) aufgewachsenen jungen Menschen sichtbar wurden, war ein wichtiger Schritt in einer ausweglos erscheinenden Situation gemacht. In der Folgezeit fühle ich mich bestärkt, immer wieder wohlwollend auf Fabian zuzugehen, ihm deutlich zu machen, dass ich sein Verhalten ablehne, ihn als Mensch aber annehme. So kommt es in einer erneuten Konfliktsituation Wochen später vor der Klassenzimmertür zu dem bewegenden Ausbruch. »Für meinen Vater bin ich der letzte Scheißdreck«, bringt Fabian unter einer Tränenflut schluchzend hervor. Es dauert eine Weile bis er sich etwas beruhigt: »Mein Bruder war auf dem Gymnasium und studiert jetzt. Und ich, ich bin nur auf der Hauptschule!« Dieser Ausbruch wurde für Fabian zum Durchbruch. Er erkannte

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den Zusammenhang von erlittener Kränkung und selbst ausgelöster Kränkung. Damit war für ihn der Weg bereitet, aus freiem Entschluss in kleinen Schritten sein Verhalten aus dem Zwang von Schmerz erleiden und Schmerz zufügen zu lösen. Auch wenn die ihn belastenden Ansprüche des Vaters unverändert bestehen blieben, die Achtung und Anerkennung der Mitschüler für sein verändertes Verhalten stellte sich umgehend ein, und das neuartige Erleben, ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft zu sein, wirkte auf ihn sichtbar erlösend, gleich dem Erwachen aus einem bedrückenden Albtraum. Fallbeispiel 6 (Carola, fünfzehn Jahre, Einzelkind): Carola ist auffallend hübsch. »Wie Motten das Licht« wird sie von Jungen umschwärmt, und so wie im Lied scheint sie nach der Devise zu leben: »Und wenn sie verbrennen, ja dafür kann ich nicht!« Dejan, einer ihrer Mitschüler, ist unsterblich in sie verliebt und erträgt standhaft über Monate hinweg ihre wechselnden Launen nach Nähe und Distanz. Doch an einem Discoabend, der Abschlussfeier nach vier gemeinsam verbrachten Tagen im Schullandheim, bricht er nach dem ständigen Wechselbad der Gefühle in sich zusammen. Laut schluchzend kauert er tränenüberströmt – ein Bild des Jammers – in einer Ecke, und auch die Versuche von zwei Mitschülern, ihm Trost durch Gesten und Worte zu spenden, erreichen ihn nicht in seinem Liebesschmerz. Ein anderer Mitschüler ist inzwischen losgezogen, um die Herzensbrecherin zur Hilfe zu rufen. Wenig später erscheint Carola auf der Bildfläche, wirft über die Schulter einen flüchtigen, spöttischen Blick auf den Unglücklichen, und mit einem Achselzucken wendet sie sich ab und möchte gehen. Doch irgendwie gelingt es, sie aufzuhalten, und wenig später sitzen wir zwei uns in einem Nebenzimmer gegenüber. Und Carola beginnt zu erzählen. Ein Wort ergibt das andere, sie erzählt, dass sie den Vater, den sie nur von Fotos her kennt, auf schwierigem Weg über das Jugendamt ausfindig gemacht hat. Es gelingt ihr, Verbindung zu ihm aufzunehmen und schließlich sogar Ort und Zeit für eine erste Begegnung zu vereinbaren. Noch kurz vor dem vereinbarten Treffen schickt sie ihm in einem Brief ein kürzlich aufgenommenes Foto. Auf die Minute pünktlich ist sie am vereinbarten Ort, einem Café in einer österreichischen Kleinstadt. Doch der Vater kommt nicht. Sie wartet stundenlang, vergebens. Als sie Tage später

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den gleichen Ort noch einmal aufsucht, betritt der Vater angetrunken das Café. »Und er hat mich nicht erkannt«, bricht es in einem Tränenschwall aus ihr heraus. Hemmungslos weinen, dabei im Arm gehalten und mit Taschentüchern versorgt zu werden – so geht das eine Weile, bis sich Carola etwas beruhigt. Und jetzt traue ich mich, vorsichtig eine Vermutung auszusprechen: »Könnte es sein, dass der weinende Junge vor der Tür etwas abbekommt, was gar nicht ihm gilt?« – In diesem Moment huscht über das verweinte Gesicht ein Lächeln. Dieses Lächeln verrät, dass sich vielleicht in diesem Augenblick für sie ein Weg anbahnt, der aus dem Teufelskreis von verletzt werden und verletzen führt. Jahre später an der Kasse im Supermarkt stehen wir plötzlich nebeneinander. Nach einem herzlichen »Hallo! Wie geht’s? Was macht die Lehre? Was macht die Liebe?« sagt sie strahlend und sichtlich stolz: »Also mit dem Dejan bin ich nicht mehr zusammen, aber mit dem Mario, Sie kennen den, der war auch mal in Ihrer Klasse, mit dem bin ich jetzt schon zweieinhalb Jahre zusammen.« Fallbeispiel 7 (Timo, dreizehn Jahre, ein älterer, ein jüngerer Bruder): Freitag, dritte Stunde, es klopft an der Klassenzimmertür. Obwohl der Unterricht bereits begonnen hat, lasse ich mich vom Klopfen unterbrechen und öffne die Tür. Zu meiner Überraschung steht da mit Händen in den Hosentaschen ein stattlich aussehender, Kaugummi kauender Mann. Er gibt sich als Vater von Timo zu erkennen und besteht darauf, mich umgehend zu sprechen. Ich bin entsetzt. »Ich habe Ihnen telefonisch für nächsten Freitag einen Gesprächstermin gegeben, jetzt habe ich keine Zeit für Sie«, höre ich mich mit klopfendem Herzen entschieden sagen. »Das können Sie doch nicht machen, habe mir extra freigenommen«, den vehementen Protest des Vaters würge ich rigoros mit »Auf Wiedersehen« und dem Schließen der Tür ab. Einige Schüler sind ob meiner Unhöflichkeit entsetzt. »Sie wird schon einen Grund haben, warum sie dem Vater die Tür vor der Nase zumacht«, meint eine Schülerin. Und ob ich einen Grund habe. Seit fünf Monaten ist Timo mein Schüler. Was unsere Zusammenarbeit über die Maßen erschwert, ist die Tatsache, dass er ständig festgelegte klassen- sowie schulintern verabredete Grenzen zu überschreiten sucht und – um Ausreden nie

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verlegen – permanent Versuche unternimmt, im Großen wie im Kleinen Sonderregelungen für sich in Anspruch zu nehmen. Den eigenen Stuhl nach Unterrichtsende für den Kehrdienst auf den Tisch stellen, Hausaufgaben fristgerecht abliefern, Ordnungsdienste einhalten, pünktlich zum Unterricht erscheinen, ein Mindestmaß an Ordnung halten, sich zu Wort melden – das gilt für alle, eben nur nicht für ihn. Ermahnungen, ob von Seiten der Mitschüler oder Lehrkräfte, bestehende Regeln gefälligst zu befolgen, gleiten scheinbar spurlos an ihm ab. Was aber am meisten an meinen Nerven zehrt, ist die unerschütterliche Hartnäckigkeit, mit der Timo gegen jedes deutliche »Nein« in immer wieder neuen vehementen Anläufen anrennt. Dies zuletzt, als es um seine Teilnahme an einem Theaterprojekt ging, die er sich durch regelmäßige Unzuverlässigkeit endgültig verscherzt hatte. Nachdem er am Vormittag der Aufführung trotzdem erschien und noch dazu durch eine Lüge seine Teilnahme erzwingen wollte, war ich so verärgert, dass ich das außerhalb meiner offiziellen Sprechzeit zugestandene Elterngespräch für den nächsten Morgen spontan telefonisch absagte und um eine Woche verschob. »Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen!« Die Volksweisheit weiß um den Einfluss des elterlichen Vorbilds, sprich des väterlichen Schattens. So verärgert ich über das plötzliche Auftreten des Vaters auch war, als ich mich beruhigt hatte, war ich stolz, meine Grenze erfolgreich verteidigt zu haben, und dies noch vor Zeugen, meinen Schülern, einschließlich Timo. Dieser Vorfall und das eine Woche später im gegenseitigen Respekt geführte Elterngespräch muss wohl einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben (vielleicht sogar auch auf den Vater). In den folgenden Wochen nehme ich in Ansätzen wahr, dass Timo bemüht ist, bestehende Regeln einzuhalten, wie etwa das pünktliche Erscheinen zu Unterrichtsbeginn oder seine auffallend betont höfliche Art, Anfragen an mich zu richten und auf ein »Nein« etwas nachdenklich mit seitlicher Kopfbewegung und einem verzögerten »Ja, gut, wenn Sie meinen« zu reagieren. Und während dem Schullandheimaufenthalt gar tauchte Timo immer wieder mal neben mir auf, schaute mich treuherzig an und meinte: »Ich bin so froh, dass wir uns jetzt so gut vertragen.« Ende gut alles gut? – Eitel Sonnenschein? – Schön wär’s! In jüngs-

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ter Zeit haben sich Timos positive Ansätze, Regeln einzuhalten, wieder etwas verflüchtigt, und mein entschiedenes »Nein« ist einmal mehr gefordert. Doch weil ich mir seit unserer offenen Auseinandersetzung jetzt auch der Unterstützung von Mutter und Vater sicher bin, gelingt mir dies zumindest mit etwas weniger Kraft- und Nervenaufwand. Und darin sehe ich immerhin einen ermutigenden Fortschritt.

Die Schatten- und Lichtseite leben

Eltern ermutigen »Auf der anderen Seite ist es angesichts der engen Bindung zwischen Eltern und Kindern innerhalb der Familie für die Eltern oft schwer, die Kinder auf die Gemeinschaft hin zu erziehen. Sie neigen dazu, die Kinder gemäß ihren eigenen Vorstellungen zu erziehen, und legen damit die Grundlage für eine Tendenz, die sich mit der späteren Lebenssituation des Kindes nicht vereinbaren lässt. Die Kinder, die auf diese Weise erzogen werden, müssen später notgedrungen große Schwierigkeiten gewärtigen. Sie sehen sich solchen Schwierigkeiten bereits zu dem Zeitpunkt ausgesetzt, wenn sie in die Schule eintreten, und die Probleme, die sich ihnen stellen, werden noch bedrängender, wenn sie die Schule verlassen haben. Um eine solche Situation zum Besseren zu wenden, ist es häufig unumgänglich, die Eltern selbst zu erziehen« (Adler 1997, S. 99). Der im offenen Gedanken- und Erfahrungsaustausch gepflegte Kontakt zwischen Elternhaus und Schule ist von jeher eine tragende Säule unserer pädagogischen Bemühungen. Unumgänglich ist das Elterngespräch vor allem dann, wenn, wie im Fall von Fabian und Timo, die schulische Gemeinschaft überschattet wird von Leistungsverweigerung, übersteigertem Geltungsbedürfnis, Interesselosigkeit, versteckter oder offener Aggression, Mangel an Selbstwert- und Gemeinschaftsgefühl, Angst. Wozu braucht der Schüler dieses sich selbst und die Gemeinschaft schädigende Verhalten? Mit der individualpsychologischen Frage nach dem Ziel, dem Zweck richtet sich der Blick auf innerfamiliäre Strukturen.

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Da ist der überbehütende, verwöhnende Vater von Marco. Er vergöttert seinen Sohn geradezu, liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Für jedes Fehlverhalten hat er eine Entschuldigung parat, er finanziert trotz massivem Widerwillen seinen Drogenkonsum und stellt sich in der Gerichtsverhandlung wegen Verstoß gegen das Rauschgiftmittelgesetz schützend vor ihn. Da ist der unsicher wirkende Vater von Leo, der ganz offensichtlich den Sohn braucht, um sich gegenüber der an Borderline erkrankten Mutter zu behaupten. Da ist der selbstsicher auftretende Vater von Jan, ein Iraner, der den Sohn mit Erwartungen und Ansprüchen seiner Kultur und Religion restlos überfordert. Da ist der Adoptivvater von Martha, der vergebens um die Achtung und die Zuneigung seiner Tochter kämpft und sich von ihr so weit provozieren lässt, dass er in seiner Verzweiflung zuschlägt. Soll, kann man Mütter und Väter erziehen? Im Sinn von ermutigen – ja, gewiss, vorausgesetzt sie suchen, so wie Timos Vater, von sich aus das Gespräch oder kommen auf (mehr oder weniger eindringliche) persönliche Aufforderung. Selbst Fabians Vater folgte schließlich meiner wiederholten Einladung zum Gespräch. Bedingt durch die individuelle Persönlichkeitsstruktur des Elternteils und die daran gekoppelte familiensystemische Konstellation verlaufen diese Elterngespräche ganz unterschiedlich. Im Kern münden sie wieder in die zentrale Frage nach der »Finalität«, nach dem Ziel, dem Zweck: »Wozu braucht die Familie das symptomtragende Kind?« So wichtig es ist, mir diese Frage zu stellen, weil sie den Blick vom Symptom auf tiefer liegende innerfamiliäre Zusammenhänge lenkt, eine eindeutige, schlüssige Antwort auf diese Frage finden zu wollen, erscheint mir vermessen, da ich weder Kinder- und Jugend- noch Familientherapeutin, sondern »nur« Lehrerin bin. Bestenfalls kann ich Vermutungen anstellen, und auch dabei scheint mir Vorsicht geboten. Was können wir Lehrer im Elterngespräch erreichen? Unschätzbar viel, wenn es uns gelingt: – die elterliche Sorge wahrzunehmen, die Sorge zu teilen; – den eingestandenen Schwächen in der elterlichen Erziehung mit Wohlwollen zu begegnen; – den Eltern gegenüber Verständnis aufzubringen, anstatt sie zu bewerten, zu verurteilen, oder Erziehungsvorschriften zu machen; – sie nicht mit Appellen und Ratschlägen zu überfrachten;

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– das elterliche Bemühen wertzuschätzen, zu einer Verbesserung beitragen zu wollen; – im Sinn von »Einigkeit macht uns stark« das Wohl des Kindes als ein gemeinsames Ziel von Elternhaus und Schule herauszustellen. Auf diesem Weg entsteht eine von Vertrauen und Achtung geprägte solide Grundlage, die ermutigt, kleine wie größere Lösungsschritte gemeinsam zu entwickeln. Diese Grundlage erlebe ich gerade auch dann als tragfähig, wenn, wie jüngst bei Timo, Rückschritte in alte Verhaltensmuster eine begonnene positive Entwicklung gefährden. Eltern im Gespräch zu ermutigen und dabei erleben zu dürfen, wie sich im Wahrnehmen und im Auseinandersetzen mit der Schattenseite die Lichtseite einstellt, tut gut. Im wechselseitigen Geben und Annehmen erlebe ich mich als diejenige, die Eltern ermutigt, aber auch von Eltern ermutigt wird. Nach Gefühlen wie Hilflosigkeit und Ohnmacht ist das ist ein aufbauendes, beglückendes Gefühl. Im Einvernehmen mit den Eltern und mit ihrer Unterstützung rückt das Ziel ein Stück näher: »In der Schule jedoch können wir die Schwierigkeiten der Kinder gezielt einsetzen und sie auf diese Weise allmählich in die Lage versetzen, ihre Probleme zu lösen« (Adler 1997, S. 102). Was Timo betrifft, entspreche ich seinem Bedürfnis, eine Sonderstellung einzunehmen, indem ich ihm regelmäßig Sonderaufgaben zuteile, die er zuverlässig ausführt; dabei freut er sich sichtbar, einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu können. Langfristig hat er so die Chance, »den Sinn für das Selbstsein im Bezogensein« (Antoch 2004, S. 383) zu entwickeln.

»Verlässliche Ersatzbindungen« ermöglichen Und schließlich sind da jene fernen Väter, die, wie im Fall von Lena und Carola, auch bei mangelnder Präsenz auf die seelische Entwicklung ihrer Kinder einwirken, weil »die Möglichkeit, Vertrauen entwickeln zu können durch die Unverlässlichkeit, fehlende Kontinuität und Unvorhersagbarkeit zerstört worden ist« (Voitl-Mischik 2004, S. 143). Durch welche persönlichen, familiären, gesellschaftlichen Umstände auch immer diese Väter zu »fernen« Vätern wurden, ent-

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zieht sich unserer Kenntnis und erst recht unserem Urteil. Tatsache ist, sie sind für ihre Söhne und Töchter nicht mehr greifbar oder waren es noch nie. Nicht greifbar – auch für uns Lehrer, die wir angesichts der Seelennot ihres Kindes mit ihnen so dringend ins Gespräch kommen wollen. In »Das Drama der Vaterentbehrung« zeigt der Therapeut Horst Petri die Folgen und Auswirkungen des Vaterverlustes auf. Er fordert den grundlegenden Strukturwandel der Gesellschaft, in der »nicht nur das ökologische Gleichgewicht der Natur aus den Fugen zu geraten droht, sondern auch die Ökologie des Familiensystems« (Petri 1999, S. 209). Wie Horst Petri fordert auch die Psychoanalytikerin Christine Olivier in ihrem Buch »Die Söhne des Orest – Ein Plädoyer für Väter«: »Wir müssen über eine neue Ordnung nachdenken eine Art Familienökologie. Der Vater muss dabei ebenso an der Erziehung beteiligt sein wie die Mutter [. . . ] Wir tun unseren Kindern Unrecht, wenn wir sie zu zweit in die Welt setzen und hinterher zwingen, einen der beiden zu verleugnen. Wenn man sie zwingt, eine Hälfte ihrer selbst zu verstoßen, bereitet man ihnen eine schwierige Zukunft« (Olivier 1994, S. 186). Diese schwierige Zukunft wirft ihre dunklen Schatten im Schulalltag bereits voraus, und wir Lehrer, Begleiter, stehen mitten darin. Unsere beschränkten Möglichkeiten einschätzend, durch politisches, gewerkschaftliches Engagement auf gesellschaftliche Strukturen positiv verändernd Einfluss nehmen zu können, erleben wir, dass wir Einfluss nehmen können im Ermutigen vor Ort, in der Schule. Hier »treffen Kinder auf Gleichaltrige, entwickeln durch wechselseitige Identifikationen ein Gefühl für Gemeinschaft und bauen Freundschaften auf, kurz es entstehen Bindungen [. . . ] verlässliche Ersatzbindungen, Begegnungen mit Erwachsenen [. . . ] deren berufliches Engagement den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gilt [. . . ] Auch wenn der Verlust des Vaters nicht ersetzt werden kann, so ist er doch insoweit kompensierbar, als positive Bindungen an andere Menschen gröbere Fehlentwicklungen verhindern können« (Petri 1999, S. 206ff.).

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Jugendliche ermutigen »Ich finde die Gespräche mit meiner Lehrerin toll, denn wenn es mir mal schlecht geht, kann ich zu ihr kommen, weil ich weiß, dass sie Verständnis für mich hat und versuchen wird, mir zu helfen. Ich werde die Probleme zwar nicht los, aber hinterher geht es mir besser, weil ich weiß, wie ich mir selber weiterhelfen kann. Irgendwie ist dann wieder ein Stein weniger im Rucksack« (Leo, 14 Jahre). Leo fühlt sich durch das persönliche Gespräch erleichtert und ermutigt, sich selbst zu helfen. Ermutigen, sagt A. Schottky, ist »aktives Zuhören; Einfühlung; Mitgefühl; Respekt; Ich-Stärkung; Entwicklung einer tragenden Beziehung; Achtsamkeit; Erfassen der Fähigkeiten und Möglichkeiten; Orientierung an den Ressourcen« (Schottky 2004, S. 55). Gelingt es, heranwachsende Menschen in diesem Sinn zu ermutigen, gelingt es, sie im Vertrauen auf die eigene »schöpferische Kraft« in ihrer persönlichen »Stellungnahme« (Tymister), in ihrer »privaten Logik« (Dreikurs) zu fordern und zu fördern, haben Jugendliche wie Leo, Fabian, Carola und Timo die Chance, aus eigener Kraft Lösungswege zu entwickeln, selbst dann, wenn, wie Leo feststellt, für familiär bedingte Probleme keine Lösung in Sicht ist. An der Situation, die er als belastend erlebt – die wechselnden Launen und Aggressionen der an Borderline erkrankten Mutter und die Hilflosigkeit des Vaters – ändert sich nichts. Lena und Carola müssen mit dem Mangel an positiver Vaterbeziehung leben. Mit der Schattenseite leben und im persönlichen Wachsen und Reifen die Lichtseite entdecken: Wie kann das konkret aussehen? Leo empfindet Erleichterung, weil es ihm gelingt, sich vor den Aggressionen der Mutter zu schützen, oder er erlebt, wie befreiend es ist, sich nicht länger für die Beziehung zwischen Vater und Mutter verantwortlich zu fühlen, sondern diese den Eltern zu überlassen. Nachdem sich Fabian mit dem ihn belastenden Schatten des Vaters auseinander gesetzt hat, übernimmt er die Verantwortung für sein Fehlverhalten und ist bereit, es zu ändern. Mit Freude und Stolz erfüllt ihn die Anerkennung und Achtung der Gemeinschaft. Und Carola lernt es, sich auf eine tragfähige Beziehung einzulassen und genießt das Glück der Liebe. Jugendliche zu diesem Wachstums- und Reifungsprozess er-

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mutigen und schließlich Zeuge solcher Entwicklungsschritte sein zu dürfen, erlebe ich als ein befriedigendes, ein zutiefst beglückendes Gefühl in dem Bewusstsein, dass ich für sie ein Mensch bin, »der sich erreichen lässt, der sich ansprechen und fragen lässt, der sich auf eine Begegnung und Auseinandersetzung einzulassen vermag« (Kagerer 2004, S. 398). »Alles wirkliche Leben ist Begegnung«, sagt Martin Buber. Die Bindungen, die auf dem Weg der Begegnung entstehen, vermögen Horst Petri zufolge »heilende Kräfte« freizusetzen. Und diese heilenden Kräfte kommen allen an der Begegnung Beteiligten zugute. Und wie in der Begegnung mit den Eltern erfahre ich mich in der Begegnung mit den mir anvertrauten Jugendlichen als diejenige, die Mut anregt, genauso aber auch als diejenige, die von den jungen Menschen immer wieder aufs Neue ermutigt wird, den Schritt von der Schattenseite des Lehreralltags auf die Lichtseite zu wagen.

Literatur Adler, A. (1997): Lebenskenntnis. Frankfurt a. M. Adler, A. (1999): Wozu leben wir? 10. Aufl. Frankfurt a. M. Adler, A. (2001): Der Sinn des Lebens. 21. Aufl. Frankfurt a. M. Antoch, R. F. (2004): Zum möglichen Fortschritt der Individualpsychologie. Zeitschrift für Individualpsychologie 29 (4). Kagerer, H. (2004): »Leben entzündet sich nur an Leben« – Oder: Von der Notwendigkeit der Dritten in der Schule. Zeitschrift für Individualpsychologie 123 (3). Olivier, C. (1994): Die Söhne des Orest – Ein Plädoyer für Väter. Düsseldorf u. a. Petri, H. (1999): Das Drama der Vaterentbehrung. Chaos der Gefühle – Kräfte der Heilung. Freiburg. Schottky, A. (2004): Individualpsychologische Beraterausbildung nach Th. Schoenacker. Zeitschrift für Individualpsychologie 29 (1). Sperber, M.: Vorwort. In: Schmidt, R. (Hg.) (1989): Die Individualpsychologie Alfred Adlers. Frankfurt a. M. Tymister, H. J. (1990): Individualpsychologisch-pädagogische Beratung. Beiträge zur Individualpsychologie. Bd. 13. München.

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Die Stieffamilie – Verdeckte und/oder verdrängte Familienstrukturen?

The step-family – hidden and/or suppressed family structures? People in our society assess formally intact families by their appearance much more positively than the many step-families and parts of families that result from divorce. We present the hypothesis that the psychotherapeutic and psychoanalytical study of this issue has perpetuated this typically negative assessment without people being aware of it. Some positive approaches have emerged nonetheless. In a step-family one of the partners is a step-parent. This makes the family different from a typical family in which partners and parents are the same. It is highlighted that step-families can potentially lead a good family life. Chances are high, however, that members of the step-family as well as counsellors, when they are involved, accept the diverging family structure. The paper’s objective is to introduce structures, characteristics, problems, traps, the potential and resources of these family forms.

Zusammenfassung Schon nach ihrem Erscheinungsbild wird eine formal intakte Familie gesellschaftlich weithin höher bewertet als die zahlreich existierenden Stieffamilien und Teilfamilien, die bei der Scheidung der ursprünglich verheirateten Partner entstanden sind. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass diese landläufig negative Einschätzung sich in der psychotherapeutisch-psychoanalytischen Auseinandersetzung mit diesem Thema fortgesetzt haben könnte und dort auch noch nicht ausreichend bewusst geworden ist. Auf einige positive Ansätze in dieser Richtung wird hingewiesen. In einer Stieffamilie ist einer der Partner ein Stiefelternteil. Das unterscheidet sie von der so genannten Normal- oder Kernfamilie, in der Partner und Eltern personengleich sind. Stieffamilien haben durchaus gute Chancen, ein erfolgreiches Familienleben zu führen. Dafür bedarf es jedoch der Anerkennung der andersartigen Familienstruktur bei den Mitgliedern der Stieffamilie selbst sowie bei den professionellen Helfern, wenn sie in Anspruch genommen werden. Der Beitrag versteht sich als eine Einführung in die Strukturen, Merkmale, Probleme, Fallen, Möglichkeiten und Ressourcen dieser Familienform.

Von »Instanzen im Schatten« geht einerseits eine starke Wirkung aus, und andererseits geschieht dies aus einer eher gesellschaftlich ver-

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deckten Position heraus. Dies ist die Stelle, an der wir auf das Tagungsthema aufmerksam wurden. Ein konkreter Einstieg in das Thema kann sein, dass sich ein Kinder- und Jugendlichentherapeut während der Arbeit mit einem Kind vor einem anstehenden Elterngespräch plötzlich fragen muss: »Welchen Vater lade ich jetzt ein?« Mit dieser Frage taucht man in die aktuelle und vergangene Trennungsproblematik von geschiedenen oder getrennt lebenden Paaren mit Kindern oder Alleinerziehenden ein. Hier wirkt ein leiblicher Elternteil in eine etablierte Stieffamilie hinein, das Kind ist zum Symptomträger geworden, die Wirkung des woanders lebenden leiblichen Vaters liegt im Schatten – vielleicht. Die Wirkmächtigkeit nicht in der Stiefelternfamilie lebender leiblicher Eltern als eine Instanz aus dem Schatten ist ein eher modernes Phänomen. Zu Zeiten Freuds und Adlers und unserer Großeltern und Urgroßeltern war der Schatten, in den ein Elternteil zurücktrat, eher Dunkelheit, in der er noch weniger als heute sichtbar wurde. Zum Teil – und das war früher häufig der Fall – war der leibliche Elternteil verstorben und so quasi unwirksam geworden, auch wenn man das psychoanalytisch hinterfragen muss, was auch geschehen ist. Dies galt vor allem für die vielen im Kindbett verstorbenen Mütter. Die verbleibende und oft sehr vitale Restfamilie mit der neuen Mutter, der Stiefmutter oder dem Stiefvater ließ kaum Raum für eine bewusste Auseinandersetzung, wohl aber oft für verdeckte Trauer beim einzelnen Betroffenen. Es ist bekannt, dass der wohlhabende Frankfurter Kaufmann Brentano nach dem Tod seiner ersten Frau die Zahl seiner Kinder mit zwei weiteren Frauen noch auf 20 vergrößerte. Ein Schatten für den nicht mit dem leiblichen Kind lebenden Elternteil entstand auch dadurch, dass die Familie bis noch vor kurzer Zeit in unserer Gesellschaft das gesellschaftliche Sicherungsmittel schlechthin war. Es hat sowohl soziokulturelle als auch ökonomische Gründe, dass nicht leibliche Elternschaft auch in der Vergangenheit in einem sehr nüchtern gesehenen Lebensverbund rasch und fest integriert wurde. Stichworte sind Vielkinderfamilien, hohe Kindersterblichkeit, ältere Schwestern oder unverheiratete Tanten in Mutterrollen: Für offene Psychodynamik blieb da wenig Raum. Es ist die Frage, ob die heutige Situation der Familien mit häufigen Trennungen der Partner inklusive Erweiterung der Geschwistergrup-

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pe um Kinder des Stiefelternteils und der Möglichkeit, dass die Kinder eigenentscheidend wirksam werden, wohin sie sich orientieren wollen und ob die Vielzahl von Alleinerziehenden, meist Mütter, dazu führt, das Phänomen Stieffamilie in neuem Licht zu sehen. Auch die Statistik bezieht daraus ihre ganz eigene Problematik. Wenn wir hören, dass sieben Prozent aller Familien in der BRD Stieffamilien sind, haben wir eigentlich eine höhere Prozentzahl erwartet und müssen diskutieren, ob diese Gruppierung von Stiefeltern so bedeutsam aus dem Schatten herauswirken kann. Prozentzahlen werfen keine Schatten. Wir begegnen den Auswirkungen der faktischen Stiefelternschaft sozusagen resultierend aus den sich wieder neu bildenden Scheidungsfamilien zuzüglich der sich in Trennung befindlichen Familien, die eventuell auf dem Weg zur Bildung von Zweitfamilien sind – oder dies formell nie erreichen. Und wir erleben ebenfalls in der beratenden und therapeutischen Arbeit die familiären Probleme von Paaren, die selbst mit ihren Herkunftsfamilien aus Scheidungs- oder Stieffamilien stammen. So ertappen wir uns dabei, wie wir mit dem Begriff der Stieffamilien unbewusst eine größere Problemträchtigkeit oder Vulnerabilität verbinden, als mit dem erwähnten Prozentsatz zunächst zu verknüpfen ist. Es soll nicht das Bild entstehen, als ob therapiebedürftiges Klientel besonders häufig aus Stieffamilien stamme, denn die Praxis beweist das nicht. Aber dass im breiteren Zusammenhang mit dem Phänomen Stieffamilie eine verhältnismäßig große Schatteninstanz wirksam ist, ist nachweisbar. Das Phänomen Stieffamilie wird also nicht verdrängt, sondern sogar statistisch erfasst. In den Hintergrund gerät jedoch oft seelisches Leid, das mit dem Phänomen Stieffamilie zusammenhängt und damit auch therapeutische Möglichkeiten zu dessen Heilung. Damit beschäftigt sich unter anderem die Gruppen- bzw. Familientherapie. Die Familientherapie führte gegenüber der Einzelanalyse lange Zeit ein Schattendasein in der Psychoanalyse. Ich möchte auf den höchst kritischen Artikel von Horst Eberhard Richter (Richter 2001, S. 1155) hinweisen, in dem er eine Anwendung der psychoanalytischen Theorie auf Familien und Gruppen für notwendig hält und deutlich macht, dass Freuds Denkansatz vom naturwissenschaftlichen Modell vom innerpsychischen Konflikt ausgeht und die Außenwelt als soziokulturelle Konstante eher als zu vernachlässigen betrachtet.

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Richter erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Anna Freud noch 1957 einen Zusammenhang zwischen elterlicher und kindlicher Neurose verworfen hat (S. 1155). In diesem Artikel werden auch Heinz Hartmanns These über die Psychoanalyse als eine soziologische Naturwissenschaft und die Abkehr der Psychoanalyse von der Sozialpsychologie behandelt. Diese Abkehr der Analyse vom sozialen Umfeld sieht Richter begründet in der Enttäuschung übertriebener Hoffnungen maßgeblicher Schüler Freuds über die Wirksamkeit einer psychoanalytisch reformierten Erziehung. Es lohnt sich sehr, in diesem Artikel den persönlichen psychoanalytischen Weg Horst Eberhard Richters zu verfolgen – den einer immer deutlicher werdenden gesellschaftlichen Einmischung ins soziale Umfeld. Die familientherapeutische Entwicklung auf Seiten der individualpsychologischen Analyse hatte von Anfang an einen anderen Ansatz. Zu nennen sind hier Ansbacher und Ansbacher mit ihrem Band »Alfred Adler’s Individualpsychologie«. Dort wird einerseits sichtbar, wie klar Adler seine Psychologie als eine soziale Psychologie gesehen und wie er das Entstehen und die Entwicklung der Psyche in den Kontext der Familie gestellt hat. Andererseits geschieht dies vor dem Hintergrund des damaligen Sozialgefüges mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es uns vielleicht bis heute beinahe verstellt war, die vielen neuen quasifamiliären Formen unserer Zeit mit dem adlerianischen Ansatz zu verbinden. »Aber es wird in diesem Buch ganz deutlich geworden sein, dass die Individualpsychologie eine zwischenmenschliche, soziale Persönlichkeitstheorie ist, die sowohl gesunde Entwicklung als auch Abweichungen aus Beziehungen erklärt« (Ansbacher u. Ansbacher 1982, S. 447). Spätestens dann, wenn die Neurotizismen strukturell zu tief gehen, können und müssten eigentlich unbewusste Strukturen und Gewichtungen auch mit individualpsychologischem Instrumentarium bewusst gemacht und verstanden werden. Dennoch ist das Stichwort »Scheidungskind« und die damit verbundenen Probleme im genannten Buch nicht zu finden. Den notwendigen Schritt geht Günter Heisterkamp (Heisterkamp 1985, S. 145, S. 149) im Wörterbuch der Individualpsychologie zum Begriff Familie und Familientherapie, wenn er über die lebensstiltypischen Prägungen der Familienmitglieder hinausgehend auch die familiären Subsysteme untersucht und die Rolle des Therapeuten in der

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Dialektik des alternierenden Akzeptierens und Sichverweigerns beschreibt. Heisterkamp gelangt mit Bausteinen aus der Arbeit Thea Bauriedls zu einer ganzheitlichen familiendynamischen familientherapeutischen Einstellung. Bei der Supervision von Kinder- und Jugendlichentherapie stößt man auf eine Interaktionsform, der wir eigentlich überall zwischen Menschen begegnen können. Sie findet sich in Heisterkamps Dialektik und ist ein Phänomen des adlerianischen Gemeinschaftsgefühls. Treffend drücken dies die modernen Selbstpsychologen, die Relationalisten aus, die das Unbewusste als die rätselhafte Anwesenheit des Anderen im eigenen Inneren beschreiben. Andreas Tapken weist in seiner Auseinandersetzung mit Kohut und Edith Stein darauf hin, dass das Unbewusste hier relational strukturiert zu sehen sei (Tapken 2003, S. 114). Ohne dies hier vertiefen zu können, soll hier Therapie als Spiel zwischen Menschen verstanden werden, die sich fremd sind und sich im Augenblick dennoch verstehen. Therapeuten und Patienten kommunizieren über eine deutliche und erfahrbare Grenze hinweg auf einer letztlich gemeinsamen Ebene, die gefunden werden will und nur miteinander gefunden werden kann. Mit dieser Sichtweise lassen sich wichtige therapeutische Phänomene beschreiben oder besser annäherungsweise verstehen – wie zum Beispiel – dass im Konflikt viel Kontakt gegeben ist; – dass Informationen zurückgehalten und dennoch kommuniziert werden können; – dass intuitive Wahrnehmung kein Zufall, kein Wunder und nicht einseitig ist; – dass Abgrenzung Individualität schafft und damit Gemeinsamkeit erst möglich macht und – dass wir guten Grund haben, mit uns und dem anderen achtsam umzugehen, weil wir im Gegenüber, auch im Patienten, wie Andreas Tapken sein Buch betitelt, den notwendigen Anderen sehen.

Familie mit Tarnkappe – die Stieffamilie »Die Angehörigen von Stieffamilien sind oft sehr bemüht, ihren Status geheim zu halten. Man weiß, dass viele Stiefeltern im Gespräch

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oder beim Ausfüllen von Formularen bewusst die Unwahrheit sagen, damit nicht bekannt wird, dass sie nicht die ›richtigen‹ Eltern sind« (Visher u. Visher 1995, S. 35). Viele verstecken ihre Andersartigkeit erst einmal. Denn wer anders ist, fühlt sich schnell unterlegen. Die traditionelle Kleinfamilie, die sogenannte Kernfamilie mit Frau und Mann als Paar und in derselben Personenzusammensetzung als Vater und Mutter mit ihren leiblichen Kindern gilt als »normale Familie«. – Was ist dann eine Stieffamilie? Die einfachste Definition lautet: »Eine Stieffamilie ist eine Familie, in der zumindest einer der Partner ein Stiefelternteil ist« (Visher u. Visher 1995, S. 31). Die Begriffe Stiefmutter, Stiefvater, Stiefschwester, Stiefkind sind schon lange gebräuchlich; nicht jedoch der Begriff »Stieffamilie«. Er ist neu und ungeliebt. Es gibt vielfältige Versuche, ihn zu umgehen und andere Bezeichnungen zu finden. Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass auf diese Weise etwas verborgen werden soll? Denn die Geschichte der Stieffamilie weist schmerzliche Phasen und vor allem Abschiede auf. Das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend bezieht in »Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik« zur Stieffamilie die folgende Position: Sie kann »[ . . . ] nicht als defizitär für die Entwicklung der betroffenen Kinder bezeichnet werden. Entwicklungschancen und Wohlbefinden von Kindern in Stieffamilien sind nicht in erster Linie von der Familienform abhängig, sondern wesentlich von der Beziehungsgestaltung, den ökonomischen und sozialen Bedingungen, unter denen die Familie lebt, aber auch von der Unterstützung durch das soziale Netz und durch die Umwelt der Familie« (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 2003, S. 42). Eigene statistische Aussagen des Bundesamtes für Statistik zur Stieffamilie gibt es nicht. Der bereits erwähnte Familienspiegel hat jedoch verlässliche Quellen ausfindig gemacht, die sieben Prozent aller Familien mit Kindern als Stieffamilien ausweisen. 60 Prozent der Kinder in Stieffamilien leben bei verheirateten Eltern/Stiefeltern, 40 Prozent bei nicht verheirateten Eltern/Stiefeltern, und jede zweite eheliche Stieffamilie ist eine komplexe, das heißt, das Paar hat gemeinsame leibliche Kinder (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2003, S. 43). Einer Stieffamiliengründung geht immer die Auflösung einer

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Kern – oder Erstfamilie voran. Es ist dies die Phase des Abschieds, in der die Partnerschaft eines Mannes und einer Frau beendet wird und die nie endende Elternschaft dieses Paares gegenüber ihren Kindern in eine lebbare Form gebracht werden muss. Die darauf folgende Phase der Teilfamilie erfordert eine neue Rollen- und Aufgabenverteilung in der Teilfamilie sowie für den anderswo lebenden Elternteil. Für manche Eltern endet diese Phase nie, andere wagen eine neue Partnerschaft und die Bildung einer neuen Familie, die aber nie – und das kann nicht oft genug betont werden – die Eigenschaften der »alten« auseinander gebrochenen haben kann. Die Stieffamilie ist eine andere Familie und unter Berücksichtigung ihrer Andersartigkeit durchaus lebbar. Die vielerlei Beziehungen müssen formal wie emotional neu »geordnet« und eine neue Kultur und Identität für die Stieffamilie geschaffen werden. Die Gründung einer Stieffamilie verläuft meistens schleichend und langsam. Die Phasen dieses Prozesses stehen unter Themen, die in der Regel nicht bewusst wahrgenommen werden. In der ersten Phase werden hohe bis überhöhte Erwartungen an das neue Familiengebilde gerichtet, dem meistens ein Realitätsschock folgt und den Mitgliedern der Stieffamilie bewusst wird, dass alles ein wenig anders ist, als sie es sich vorgestellt hatten. Die zweite Phase bringt, wenn sie erfolgreich durchlaufen wird, ein Sicheinstellen auf die neuen Beziehungsgeflechte und das Einüben entsprechender Handlungen. Und in der dritten Phase entwickeln sich zunehmend zuverlässige und herzliche Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Stieffamilie (Papernow 2001, S. 94). Eine brauchbare Typologie für die Unterformen der Stieffamilie unterscheidet fünf Typen: die Stiefmutterfamilie, die Stiefvaterfamilie, die zusammengesetzte Stieffamilie, die Teilzeitstieffamilie und die Stieffamilie mit gemeinsamem Kind (Krähenbühl et al. 2001, S. 31). Stiefmutter- und Stiefvaterfamilie ähneln sich insofern, dass in einem Fall eine neue Frau zum leiblichen Vater und im anderen ein neuer Mann zur leiblichen Mutter mit ihren Kindern hinzukommt. In der zusammengesetzten Stieffamilie bringen beide Partner leibliche Kinder aus einer früheren Verbindung mit, die Mitglieder der Teilzeitstieffamilie müssen sich immer wieder auf eine vorübergehende und meistens zeitlich kurze Anwesenheit weiterer Familienmitglieder (Kinder

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des einen oder auch beider Partner aus früheren Verbindungen) einstellen, und die Stieffamilie mit gemeinsamem Kind enthält ein neues Subsystem mit den Merkmalen einer Kernfamilie. Wesentliche allgemeine Merkmale von Stieffamilien sind: – Die Stieffamilie ist ein relativ offener Familienverband. Die Zugehörigkeit wird von den einzelnen Mitgliedern unterschiedlich definiert, so dass nicht unbedingt ein Konsens darüber besteht, wer zur Familie gehört. – Die Kinder sind Mitglieder von mehr als einer Familiengemeinschaft. – Ein Elternteil lebt woanders und nur zu bestimmten Zeiten mit seinen Kindern zusammen. Das Kind pendelt zwischen zwei Familiensystemen. – Der außerhalb lebende Elternteil bleibt mitverantwortlich für die Kinder. Er tritt jedoch Einflussmöglichkeiten an den anderen Elternteil ab, der die meiste Zeit mit den Kindern zusammenlebt. – Die Eltern-Kind-Einheit bestand schon vor der neuen Partnerschaft. – Die rechtlichen Positionen des Paares in der Stieffamilie sind asymmetrisch verteilt. Der Stiefelternteil hat keine elterlichen Rechte gegenüber den Kindern des neuen Partners oder der Partnerin. Stiefgeschwister sind juristisch nicht miteinander verwandt. – Die Stiefelternrolle ist keine biologisch vorgegebene, sondern eine sogenannte Erwerbsrolle. – Nachkommenschaft ist kein primäres Ziel (Krähenbühl et al. 2001, S. 26ff.). Der Begriff der »Tarnkappe« (Visher u. Visher 1995, S. 35) in der Überschrift weist schon auf eine der häufigen Strategien in der Organisation von Stieffamilien hin: das Verbergen des Stieffamilien-Status und damit seine Tabuisierung. (»Wir sind wieder eine normale Familie«.) Eine andere mögliche Strategie zur Bewältigung der neuen Familiensituation ist das Überengagement des Stiefelternteils, wobei sich dies bei den Stiefmüttern anders auswirkt als bei den Stiefvätern. Stiefmüttern sitzt der Mythos von der bösen Stiefmutter im Nacken, und sie setzen alles daran, nicht mit einer solchen identifiziert zu werden. Aber auch die Rolle des Stiefvaters hält Fallen bereit. Der Stief-

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vater kann von seiner Partnerin in die Rolle des starken Mannes geschoben werden, der sagen soll, wo es langgeht. Oder er positioniert sich selbst so, weil seiner Auffassung nach diese Haltung zu der des Familienvorstandes gehört. Das leibliche Kind des neuen Paares droht funktionalisiert zu werden. Ihm wird die Aufgabe zugewiesen, die unterschiedlichen Subsysteme der Stieffamilie zusammenzuhalten. Die letzte hier noch zu nennende Strategie ist die Ausgrenzung oder der Rückzug eines Stieffamilienmitgliedes. Das kann so aussehen, dass das »schwierige« Kind, welches ein Symptom zeigt, aus der Familie entfernt werden soll, zum Beispiel im Rahmen einer Fremdplatzierung. Die Ausgrenzung des Stiefelternteils kann sich so auswirken, dass die ehemalige Teilfamilie des leiblichen Elternteils mit seiner Organisation de facto weiterexistiert und dieses System sich für den neu Hinzugekommenen nicht öffnet. Rückzug ist ein nicht seltenes Verhalten der Elternteile, die nicht ständig mit den Kindern zusammenleben. Diese Bewältigungsstrategien schaffen typische Problembereiche. Was bereits als untaugliche Organisationsstrategie in der neuen Familiensituation ausgeführt wurde, wird in Beratung und Therapie als behandlungsbedürftige Problematik präsentiert. »Meist signalisieren Stiefkinder durch auffälliges Verhalten, dass ein enormer Druck, große Ängste und Unsicherheit in dieser Stieffamilie herrschen« (Krähenbühl et al. 2001, S. 131). Die Kinder befinden sich in Loyalitätskonflikten, wenn sie in ein Entweder-oder geraten. (»Wenn ich Mama zu sehr liebe, fühlt sich Papa hintenangestellt. Ich liebe aber doch beide. Wie soll ich das richtig machen?«) Oder die Besuchsregelungen der Kinder bei dem Elternteil, der nicht in der Stieffamilie lebt, gelingen nicht. Die leiblichen Eltern finden zu keiner tauglichen Kooperation. Dahinter verbergen sich häufig nicht aufgearbeitete Partnerschaftskonflikte aus der »alten« Paarbeziehung, die über die Elternthemen ausagiert werden. Das Überengagement des Stiefelternteils in Unkenntnis seiner neuen Rolle kann Widerstand bei den Kindern hervorrufen. (»Du hast mir gar nichts zu sagen.«) Das gleiche Verhalten des zeitlich nur kürzer mit den Kindern zusammenlebenden Elternteils ist häufig der Versuch, eigene Schuldgefühle und Schmerz zu überdecken. Oder hinter dem Rückzug dieses Elternteils verbirgt sich seine Ablehnung und

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Anneliese Schramm-Geiger und Tristan Geiger

Verleugnung der Elternrolle, die sich aus den unterschiedlichsten Gefühlen und Motiven speist. Die Geltung des in der Kernfamilie geltenden Inzesttabus bedarf der klaren Einführung auch in der Stieffamilie, gerade wenn die Stieffamilienmitglieder nicht biologisch verwandt sind. Eine erfolgreiche Beratung und Therapie setzt die Kenntnis der Andersartigkeit der Familienform voraus. »Von Anfang an ist der Therapeut Anwalt der Stieffamilie, das heißt der spezifischen Konstellation der betroffenen Mitglieder dieser Gemeinschaft mit ihrer spezifischen Lebensgeschichte« (Krähenbühl et al. 2001, S. 186). An erster Stelle steht die Einführung der Stieffamilienrealität: Eine Stieffamilie ist »eine andere Art von Familie, die andere Rollen, andere Spielregeln, andere Beziehungsformen braucht, als man sie von der Kernfamilie her kennt« (Krähenbühl et al. 2001, S. 187). Der nicht mit in der Stieffamilie lebende Elternteil gehört mit zu dieser Familie. Die Akzeptanz der neuen Sichtweisen mag anfangs schwer sein, aber wenn sie angenommen werden können, bringen sie Entlastung und schaffen Voraussetzungen für das Ausprobieren neuer Handlungsformen. Der Verlauf der Beratung und Therapie gestaltet sich nach den jeweiligen Besonderheiten der Stieffamilie. Zentral dabei ist immer die Arbeit mit den einzelnen Subsystemen: Elternsystem, Eltern-KindSystem, Stiefeltern-Kind-System, Geschwister, Paarsystem, eventuell auch der Einbezug von Großeltern. Diese Phase wird bei Krähenbühl et al. (2001, S. 189) mit der Überschrift »Differenzierung nach innen, Autonomie nach außen« versehen. Den Abschluss bildet die Einübung und Festigung der neuen Sichtweise und der daraus folgenden Handlungskompetenz. So kompliziert das Leben den Mitgliedern von Stieffamilien phasenweise erscheinen mag, so ist es doch sehr lohnenswert, über die Chancen dieser Familienform nachzudenken: Stieffamilienbildung kann als Versuch angesehen werden, das eigene Leben in einem zweiten oder auch dritten Anlauf besser zu gestalten. Neu ist diese Familienform nicht. Ihre Ausgangslage war früher anders als heute: früher Tod eines Elternteils, meistens der Mütter, heute Scheidung. Die Stieffamilie steht für die Vielfalt von Familienformen. Und die Notwendigkeit des ständigen Verhandelns innerhalb des Stieffamiliengefüges fördert die »Ausbildung von Toleranz, Urteilsvermögen, sozialer

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Kompetenz, zwischenmenschlichem Augenmaß, Individualität und Fähigkeit zur Kooperation und Konflikt« (Unverzagt 2002, S. 189). Die Stieffamilie heute kann durchaus als »Vorreiterin neuer Lebensformen« bewertet werden. »Stieffamilien tragen bei zu einer neuen Kultur des Zusammenlebens in Familie und Gesellschaft« (Krähenbühl et al. 2000, S. 21).

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Martina Hoanzl

»Ich oder du … und wir« – Abgrenzung und Verbundenheit als bedeutsame innere Themen im Kontext des Geschwisterlichen

Me or you … and us – distance and intimacy as significant internal issues in the sibling context Ideally and idealistically we associate strong attachment but also strong feelings of rejection and jealousy with the relationship between siblings. Brothers and sisters are companions or intimate friends but also competitors or opponents. Literature gives us countless examples of this. Before turning to this conflicting moment and the ambivalence of the relationship between siblings, we need to analyse the obvious and illuminate its context and background. The »obvious« is far from self-explanatory. As inner images still govern our thinking and our actions – regardless of whether or not we are aware of them – it may be most useful to take a look at the basics from a critical point of view.

Zusammenfassung Geschwisterliches ist geprägt von idealen und ideellen Vorstellungen der Verbundenheit, aber auch von tiefen Gefühlen der Ablehnung und des Neides. Geschwister sind einerseits Gefährten oder Vertraute und andererseits Rivalen oder Widersacher. Das spiegelt sich auch in unzähligen Belegen der Weltliteratur. Doch bevor das Zwiespältige und Ambivalente des Geschwisterlichen verstärkt in den Blick genommen wird, soll zunächst das scheinbar Selbstverständliche hinterfragt und auf seine Zusammenhänge hin untersucht werden. Denn das scheinbar »Selbstverständliche« versteht sich eben nicht von selbst! Gerade weil unser Denken und Handeln immer auch von inneren Vorstellungen angeleitet wird – ob wir diese nun gegenwärtig haben oder nicht –, kann es außerordentlich lohnend sein, »Grundlegendes« differenziert zu betrachten.

Grundfragen und Grundlagen Was genau ist überhaupt das Geschwisterliche? »Mit dem Begriff Geschwister drückt das Deutsche den Sachverhalt aus, dass Bruder und Schwester leibliche Kinder der selben Eltern sind« (Kannicht 2000,

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S. 59). Doch das war nicht immer so – und es darf bezweifelt werden, dass vor dem Hintergrund von Patchworkfamilien diese scheinbare Eindeutigkeit aufrechterhalten werden kann. Deshalb zunächst ein Blick auf die historischen Kontexte: Das deutsche Wort »Geschwister« selbst leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort »geswister« beziehungsweise dem althochdeutschen Wort »giswestar« ab und bezeichnete zunächst nur Schwestern, dann auch umfassender die Brüder lediglich – und das lässt aufhorchen – in ihrer sozialen Zusammengehörigkeit. Erst im 16. Jahrhundert wurde das Wort »Geschwister« im aktuellen Bedeutungskontext hergeleitet (vgl. Duden 2001). Das heißt, der Begriff »Geschwister« hat im Gegensatz zu den Begriffen »Mutter« und »Vater« überhaupt erst verhältnismäßig spät in die deutsche Sprache Eingang gefunden. In vielen romanischen Sprachen, zum Beispiel im Französischen1 oder Italienischen2, gibt es bis heute keinen Begriff für Geschwister im Allgemeinen, sondern lediglich die Bezeichnung »Brüder und Schwestern«. Die etymologische und historische Sprachforschung verweist durch die Reflexion des geschwisterlichen griechischen Begriffes »adalphós« darauf, dass sich dieses Wort zum einen aus der Bedeutung »zugleich, zusammen« und der Bedeutung »Gebärmutter« herleiten lässt (Kannicht 2000, S. 60). Demnach entspringen Geschwister demselben Mutterleib. Der bedeutsame väterliche Aspekt ist darin aber noch gar nicht berücksichtigt, denn im aktuellen Verständnis von Geschwisterlichkeit haben Geschwister nicht nur eine gemeinsame Mutter, sondern auch einen gemeinsamen Vater. Zugleich wird aber auch deutlich, dass das Geschwisterliche andere wichtige Aspekte beinhaltet, die weit über das Biologische hinausführen. Ist zum Beispiel die emotionale Dimension der Geschwisterbeziehung hinreichend in der bisherigen Begriffsbestimmung verankert? Jeder ahnt zudem, dass beispielsweise eine juristische Definition von »Geschwistern« deutlich anders lautet als eine pädagogische. Bereits diese ersten Überlegungen verdeutlichen: »Geschwisterbeziehungen sind

1 frerès et soeurs (= Brüder und Schwestern) 2 fratelli e sorelle (= Brüder und Schwestern) Latein: frater et soro (= Brüder und Schwestern) oder nur fratres (= Brüder)

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nicht unter einem einheitlichen Begriff oder unter einer einheitlichen Definition fassbar. Je nach Betonung verwandtschaftlicher, kultureller, genetischer, sozialer oder psychodynamischer Gesichtspunkte stehen unterschiedliche Bedeutungen nebeneinander« (Sohni 2004, S.11). Wenn das Geschwisterliche vor dem dargelegten Hintergrund begrifflich nicht eindeutig ausgewiesen werden kann, soll nun gefragt werden: Worin liegt das strukturell Besondere beziehungsweise das Charakteristische der Geschwisterbeziehung? Um einer Antwort darauf näher zu kommen, werde ich zunächst in Das Besondere der Eltern-Kind-Beziehung

?

Das Besondere der Peergroup-Beziehung

Das Besondere der Geschwisterbeziehung • nicht frei wählbar • frei wählbar • unkündbar • kündbar • vertikal ausgerichtet • horizontal – d. h. d. h. vom kein GenerationenGenerationengefälle gefälle, Chance auf geprägt Ebenbürtigkeit • nicht frei wählbar • unkündbar • horizontal – d. h. kein Generationengefälle, Chance auf Ebenbürtigkeit unter dem besonderen Vorzeichen, gemeinsame Eltern zu haben, oder das Elterliche gemeinsam neu zu definieren Abbildung 1: Das Besondere der Geschwisterbeziehung

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Form einer Gegenüberstellung die Eltern-Kind-Beziehung und die Gleichaltrigen-Beziehungen strukturell beleuchten. Das strukturell Besondere der Eltern-Kind-Beziehung liegt wohl darin, dass diese Beziehung nicht frei wählbar und zugleich unkündbar ist. Das heißt, wenn sich ein Paar für die Elternschaft entscheidet, dann kann es sich zwar ein Kind wünschen. Ob es überhaupt und im Speziellen gar das gewünschte bzw. das in der Wunschvorstellung erhoffte Kind bekommt, wird sich noch zeigen. Auch das Kind kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Eltern und Kind haben einander – und das ein Leben lang. Die Beziehung bleibt unkündbar: Rückgabe- und Umtauschrecht sind ausgeschlossen. Zudem ist die Eltern-Kind-Beziehung geprägt vom Generationengefälle: Das heißt die einen, nämlich Mutter und Vater, haben prinzipiell verfügbar, was das andere, nämlich das Kind, noch braucht. In der Eltern-Kind-Beziehung spiegelt sich nicht nur das Gegensätzliche von Alt und Jung, sondern auch ein Oben und Unten und damit das Generationengefälle. »Kinder können sich nicht selbst erschaffen und ebenso wenig können sie sich notwendige Bedingungen ihres Aufwachsens selbst schaffen. Darin äußert sich die Angewiesenheit auf ›Große‹« (Winterhager-Schmid 2000, S.10). Das strukturell Besondere der Peergroup-Beziehungen liegt nun darin, dass das beschriebene Generationengefälle nicht wirksam ist. Es gibt keine immanent festgeschriebene Angewiesenheit, die sich aus einem Gefälle zwischen »alt und erfahren« einerseits und »jung und unerfahren« andererseits legitimiert, auch wenn provokant gefragt werden kann, ob die Einwirkung von Kindern durch Kinder oft nicht nachhaltiger ist als jene durch Erwachsene. Vielmehr besteht eine Chance auf Ebenbürtigkeit und Gleichrangigkeit auf der horizontalen Ebene. Anders als in der vertikalen Ausrichtung gibt es hier kein immanentes Oben und Unten, sondern ein latentes Nebeneinander auf gleicher Augenhöhe. Zudem sind Peergroup-Beziehungen frei wählbar und damit auch wieder kündbar. Erich Kästner formulierte das einmal so: »Freunde wählt man aus freien Stücken, und wenn man spürt, dass man sich ineinander geirrt hat, kann man sich trennen. Solch ein Schnitt tut weh, denn dafür gibt es keine Narkose. Doch die Operation ist möglich und die Heilung der Wunde und des Herzens auch. Mit Geschwistern ist das anders. Sie werden ins Haus geliefert. Sie treffen per

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Nachnahme ein und man darf sie nicht zurückschicken. Geschwister sendet das Schicksal nicht auf Probe« (Kästner 1957, S. 135). Geschwisterbeziehungen sind demnach – wie die Eltern-Kind-Beziehung auch – weder frei wählbar noch kündbar und bekommen dadurch eine schicksalhafte Einfärbung. Zugleich sind Geschwisterbeziehungen aber, in Anlehnung an die Peergroup-Beziehungen, geprägt von potenzieller Gleichrangigkeit, weil sie latent auf gleicher Augenhöhe angesiedelt sind. Dieser Seitwärtsgewandtheit der Geschwister haftet aber noch ein gemeinsamer »Stallgeruch« (Ley 2001, S. 71) an: Das heißt, im Unterschied zur Gruppe der Gleichaltrigen kommen Geschwister – wie Katharina Ley es formuliert – »aus dem selben Stall«. Sie haben entweder dieselben Eltern, oder sie definieren das Elterliche gemeinsam neu. Deshalb schwebt über der horizontalen Geschwisterbeziehung immer auch die vertikale Elternbeziehung. Dieser Cocktail an strukturellen Besonderheiten bestimmt die eigene Qualität der Geschwisterbeziehungen. An späterer Stelle soll deshalb die eigene Qualität der Geschwisterbeziehung ausführlich beleuchtet werden. Doch wer glaubt, damit den Rahmen des Geschwisterlichen hinreichend definiert zu haben, der irrt. So ist beispielsweise bei Adoptivgeschwistern der Punkt der »freien Wählbarkeit« immer latent vorhanden, der im Fall von leiblichen Geschwistern ausgeschlossen ist. Ein junger Student, der in einer Lehrveranstaltung überzeugend vermittelte, dass er sich im Alter von fünf Jahren innig ein Adoptivgeschwisterchen wünschte und dieses auch bekam, sagte: »Es war mir ganz egal, ob meine Schwester aus dem Bauch der Mutter oder aus dem Flugzeug kam, Hauptsache sie war da.« Doch auch die potenzielle Ebenbürtigkeit und Gleichrangigkeit kann im geschwisterlichen Raum in eine Schieflage kommen. Was, wenn der Altersabstand unter Geschwisterkindern sehr groß ist und der um 18 Jahre ältere Bruder im eigenen Erleben zum »wirklichen Vater« wird? Zudem gibt es eine große Palette an weiteren Aspekten, die das Geschwisterliche nachhaltig und entscheidend beeinflussen, so dass die Zahl der Geschwisterthemen in ihren Variationsmöglichkeiten unüberschaubar wird. Die Rede ist von der Geschwisterreihe, dem Altersabstand unter den Geschwistern, dem Geschlecht der Geschwisterkinder, der

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Geschwisterkonstellation bis hin zu Mehrlingsgeburten, von Stiefgeschwistern, Halbgeschwistern, Adoptivgeschwistern und Pflegegeschwistern, von verstorbenen, erkrankten, behinderten oder phantasierten Geschwistern, aber auch davon, dass Geschwisterbeziehungen im Kontext der Lebensspanne zu betrachten sind. So wird man zum Beispiel geschwisterliche Themen der frühen Kindheit mit denen des Erwachsenenalters nicht gleichsetzen können. Außerdem sind »Geschwister nicht denkbar ohne ihre Eltern« (Ley 1995, S. 94). Greift man nun noch die Überlegungen Fürstenaus auf, der überzeugend darlegen konnte, dass es der Erwachsene in der Begegnung mit »kleinen Menschen« immer mit zwei Kindern zu tun hat; dem Kind vor ihm und dem verdrängten Kind in ihm (vgl. Fürstenau 1969, S. 13), eröffnet sich die Frage: Welche Auswirkungen haben die Geschwistererfahrungen der Eltern auf die Geschwisterbeziehung ihrer Kinder? Vermutlich liegt also gerade in der Uferlosigkeit und unüberwindbaren Unschärfe des Geschwisterlichen ein Grund, warum dieses Themenfeld bislang in der Fachliteratur vernachlässigt wurde. Oder begründet sich diese Tatsache dadurch, dass das Geschwisterliche im kindlichen Entwicklungsprozess eben vernachlässigbar, das heißt unbedeutend, ist? Kurz: Blieben die Geschwister bislang zu Recht im Schatten?

Anmerkungen zum Schattendasein von Geschwistern – oder: Die vertikale Ebene Hält man in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen Ausschau nach der Bedeutung des Geschwisterlichen, so tut sich rasch eine »theoretische Kraterlandschaft« auf. Blitzlichter aus sozial- und geisteswissenschaftlichen Fachbereichen mögen das zumindest ausschnittweise belegen. So kann zum Beispiel ein punktueller Exkurs in die Juristerei die Randständigkeit des Geschwisterlichen belegen, da angenommen werden darf, dass sich gerade in Gesetzestexten auch ein Stück gesellschaftliche Realität widerspiegelt. Sucht man also im deutschen BGB (Familienrecht) nach dem Geschwisterlichen, so bleibt dieser Platz weitgehend leer. Außer der Festlegung, dass Geschwister in einer

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»Seitenlinie« (vgl. Grundannahme der horizontalen Ebene) miteinander verwandt sind, während Mutter – Kind und Vater – Kind oder Großmutter und Enkelkind in »direkter Linie« (vgl. Grundannahme der vertikalen Linie) miteinander verwandt sind, kommt den Geschwistern beispielsweise nicht einmal im Kontext der Unterhaltszahlungen eine weitere Bedeutung zu.3 Begründet wird dies damit, dass »ein allgemeines Bewusstsein, dass Geschwister einander beistehen müssen, nicht besteht« (Staudinger 2000).4 Besonders anschaulich wird die Bedeutungslosigkeit von Geschwistern ausgerechnet in einer Disziplin, nämlich der Pädagogik, die das Heranwachsen und das Lernen von Kindern in besonderer Weise in den Blick nimmt, reflektiert und erforscht. Bereits 1826 formulierte Schleiermacher in seiner theoriegeschichtlich höchst folgenreichen Pädagogik-Vorlesung folgende Überlegung: »Das menschliche Geschlecht besteht aus einzelnen Wesen, die einen gewissen Zyklus des Daseins auf der Erde durchlaufen und dann wieder von der selben verschwinden, und zwar so, dass alle, welche gleichzeitig einem Zyklus angehören, immer geteilt werden können in die ältere und die jüngere Generation, von denen die erste immer eher von der Erde scheidet« (Schleiermacher 1959, S. 38). Pointiert formuliert könnte das auch heißen: Generation begründet sich auch durch »Nachkommenschaft« – also durch jene, die nachkommen, wenn die ältere Generation scheidet. Daran knüpft er einen Kernsatz, der als Ausgangsfrage aller Pädagogik grundgelegt wurde. Er lautet: »Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?« (Schleiermacher 1959, S. 38). Damit wird eine Denkachse festgelegt, die ausschließlich das Vertikale widerspiegelt. Auf ihr werden die Erwachsenen »oben« und die Heranwachsenden »unten« angesiedelt. Der Dreh- und Angelpunkt pädagogischer Fragestellungen erfährt damit seine unverkennbare Ausrichtung und fragt wiederkehrend – wenn auch in oftmals gänzlich unterschiedlichen Feldern – wie die einen, nämlich die »erfahre3 Im deutschen Erbrecht sind Geschwister prinzipiell gleichgestellt. Eine Ausnahme bildet lediglich das sogenannte »Höferecht«, dass jedoch landesspezifische Unterschiede aufweist. Darin wird sichergestellt, dass bäuerliche Betriebe als nutzbare Einheit erhalten bleiben können. 4 Deutlich anders verhält sich dies zum Beispiel in Südamerika oder China.

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nen, großen Erwachsenen« auf die anderen, nämlich die »kleinen, weniger erfahrenen Kinder« einwirken wollen, können oder sollen. Doch die Umkehrung eben dieser Frage, nämlich in welcher Weise die Kinder zum Beispiel auf ihre Eltern oder Erzieher zurückwirken, bleibt dabei grundlegend ausgespart. Aber auch der horizontale Blickwinkel – und damit verbunden die Frage nach der Bedeutung der Geschwister – ist in der Pädagogik bislang nicht verankert. Das verdeutlicht Liegle anschaulich, in dem er resümiert, das sowohl bei den älteren Klassikern der Pädagogik (Pestalozzi, Herbart, Schleiermacher u. a.) als auch bei den modernen Klassikern der Pädagogik (Bernfeld, Nohl, Spranger, Flitner u. a.) das Geschwisterliche unbedeutend bleibt (vgl. Liegle 2000). Dieser Zugang ist gewiss auch nicht fremd, wenn man an die Ursprünge und theoretischen Hauptlinien der Psychoanalyse denkt. Zunächst zu Freud selbst: Sein Entwurf der Psychoanalyse ist nahezu ausschließlich und zentral auf der vertikalen Linie angesiedelt. »Für das kleine Kind sind die Eltern zunächst die einzige Autorität und Quelle allen Glaubens« (Freud 1909, S. 223). Von ihnen geht der libidinöse Strom aus, den jedes Kind für seine Entwicklung zwingend braucht. In seiner Angewiesenheit auf die elterliche Liebe und Versorgung beschreibt Freud das Kind als absolut egoistisch. »[Es] empfindet seine Bedürfnisse intensiv und strebt rücksichtslos nach ihrer Befriedigung« (Freud 1900, S. 255). Wenn das Geschwisterliche bei Freud selbst zum Thema wird, dann geschieht dies gewissermaßen auf Nebenwegen in Form von Anmerkungen, Falldarstellungen und kontextbezogenen Ergänzungen wie zum Beispiel in der Traumdeutung. In all seinen Schriften findet sich keine auch nur irgendwie geartete systematische Annäherung an dieses Thema. Geschwister stehen einander auf dieser vertikalen Denkachse ausschließlich als Rivalen um die elterliche Gunst und Fürsorge gegenüber. »Es gibt in der Kinderstube noch andere Kinder, um ganz wenige Jahre älter oder jünger, die man aus allen anderen Gründen, hauptsächlich aber darum nicht mag, weil man die Liebe der Eltern mit ihnen teilen soll, und die man darum mit der ganzen wilden Energie, die dem Gefühlsleben dieser Jahre eigen ist, von sich stößt. Ist es ein jüngeres Geschwisterchen [ . . . ], so verachtet man es, außerdem daß man es haßt, und muß doch zusehen, wie es jenen Anteil von Zärt-

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lichkeit an sich zieht, den die verblendeten Eltern jedes Mal für das Jüngste bereithalten« (Freud 1900, S. 255). Geschwister werden in Freuds Überlegungen neben diesem beschriebenen Aspekt nur noch insofern erwähnt, als auf sie Konflikte verschoben werden können, deren Austragung mit den eigentlich wichtigen Instanzen – allen voran der Mutter – als zu bedrohlich erscheinen. Aber auch die Weiterentwicklung der Psychoanalyse durch die nachfolgenden Generationen bleibt immer zentral an der Mutter bzw. am Vater orientiert. Die Mutter-Kind-Beziehung steht im Mittelpunkt. Mahler, die mit ihrem Entwurf der Objektbeziehungstheorie die Psychoanalyse um bedeutsame Kontexte erweitert hat, hält jedoch auch an der beschriebenen vertikalen Ausrichtung fest. Entwicklung wird darin als Weg von der Symbiose zur Individuation verstanden (vgl. Mahler 1979). Aber auch die Arbeiten von Bowlby (vgl. Bowlby 2005) und Ainsworth (vgl. Ainsworth u. Marvin, 1995), die zentral das Bindungsverhalten zwischen Mutter und Kind thematisieren, lassen die horizontale Ebene – und damit das Geschwisterliche – unberührt. So kann abschließend festgehalten werden: »Es gehört zum alten und festen Wissensbestand aller pädagogischen [psychoanalytischen, objekt- und bindungstheoretischen; die Verf.] Reflexion, dass menschliches Leben und menschliches Bewusstsein gerade am Anfang die Einheit mit einem Erwachsenen unverzichtbar benötigt« (Bilstein 1994, S. 652). Darin zeigt sich unbestritten die Bedeutsamkeit der vertikalen Ausrichtung im kindlichen Entwicklungsprozess. Unser kleiner zweieinhalbjähriger Sohn Max mag dies auf seine Weise auf den Punkt bringen. Als ihm seine Oma die Geschichte vom alten Bären erzählt, hält er aufmerksam inne, löst sich aus der offensichtlich behaglichen Umarmung und läuft blitzschnell durch den Raum. Dabei sagt er im Takt der schnellen Schrittfolge: »Tap, tap, tap, tap, tap.« Dann wendet er sich wieder seiner Oma zu und meint entschieden: »Oma auch.« Als er beobachtet, dass seine Oma in ihrer altersbedingten Ungelenkigkeit sich etwas schwerfällig auf ihre Beine stellt und dann unvergleichlich langsamer hinter ihm hertrottet, bleibt er verwundert stehen. Den Blick zu ihr gerichtet sagt der kleine Mann dann mit vertiefter Stimme und im extrem verlangsamten Sprachrhythmus: »Oma macht tap, tap, tap.« Etwas verlegen greift dies seine Großmutter auf und erklärt entschuldigend: »Oma kann nicht so schnell laufen.« Max wird wieder nachdenklich, senkt den Blick und scheint nun seine Zehen visuell zu sortieren. Dann atmet er durch, ringt

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nach Luft und presst seine Erklärung der Dinge aufgeregt aus sich heraus: »Omas Füße alt. Max seine Füße neu.«

Die kindliche Entdeckung liegt also auch im Erkennen und Benennen von »alt« und »jung«. Belegt nicht gerade dieser winzige und zugleich alltägliche Ausschnitt, dass Max – wie andere Kinder auch – ein »inneres Koordinatensystem« zimmert, das den vertikalen Blickwinkel gänzlich bestätigt, indem das kleine Kind auf »ganz Große« das heißt auf Erwachsene, angewiesen ist und diese Gerichtetheit intuitiv und selbsttätig sucht und auf seine Lebenswelt überträgt? Bilstein, der in seinen generativen Überlegungen, zunächst historische Aspekte beleuchtet, hinterfragt zugleich kritisch, »was denn wohl im Einzelnen – außer dem Zufall des Geburtsdatums – eine [ . . . ] Generation ausmachen mag« (Bilstein 1994, S. 645). Er kommt zu folgendem Schluss: »So strittig freilich eine Denkkategorie ›Generation‹ auch im Einzelnen sein mag, sie hat sich doch als stabil und durchaus überlebensfähig erwiesen – und das mag nicht zuletzt daran liegen, dass mit ›Generation‹ eine Grundstrukturierung von Welt benennbar wird, die schon jedes Kleinkind als eine der ersten erfährt: die Aufteilung in alt und jung. Generation5 – das ist neben Geschlecht eine der ersten Achsen der Ordnung der Welt« (Bilstein 1994, S. 647).

Zwischenbilanz Es hat den Anschein, als wären Kinder in ihrer Aneignung von Welt zentral am Maßstab »Großsein« oder »Großwerden« orientiert – kurz: als wäre eine »Hans-guck-in-die Luft-Dynamik« am Laufen, die den kindlichen Blick generell nach oben – also zur »Vertikalen« lenkt. Ha-

5 Allerdings bleibt zu fragen, ob eine abgeschwächte Form der Aufteilung zwischen »groß« bzw. »klein« und »alt« bzw. »jung« nicht immerwährend am Laufen ist und sich nicht nur auf die Denkkategorie »Generation« anwenden lässt, sondern sich auch schnell an Orten abbildet, an denen Kinder unter Kindern sind – zum Beispiel im Kindergarten und in der Schule. Doch gerade da wird wieder klar, dass selbst die »großen Kinder« ihre Zuschreibung deutlich relativieren müssen, wenn sich die »Kindergartentante« oder »die Lehrerin« in ihrer »wirklichen Funktion« zu erkennen gibt. Kurz: Das Generationengefälle hat Bestand.

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ben denn die »ähnlich Kleinen« – und damit auch die Geschwister – eine derart vernachlässigbare Bedeutung im Prozess des Heranwachsens? Tragen wir noch einmal die wesentlichen Punkte des Geschwisterlichen zusammen. Der Geschwisterbegriff ist derart vielschichtig, dass Verallgemeinerungen einerseits notwendig sind, um das latent Bedeutsame herauszufiltern, dass andererseits aber immer auch die Gefahr des Widersprüchlichen besteht. Zudem ließ sich als potenzielles Charakteristikum ausmachen, dass Geschwister »frei Haus« ohne »Probezeit«, ohne »Wahlrecht« und ohne »Rückgaberecht« »geliefert« werden. Außerdem haben Geschwister – in der Regel – den gleichen (korrekt müsste es heißen die gleichen) »Absender« und die gleiche »Lieferadresse« – sprich, sie haben die selben Eltern. Und wenn das nicht der Fall ist, dann definieren sie zusammen das »Elterliche« neu. Außerdem sind Geschwister, wie es die zuvor umrissene Kultur- und Geistesgeschichte offenbart hat, scheinbar per se den Eltern »ausgeliefert«. Selbst wenn sie mit ihren Geschwistern auf gleicher Augenhöhe stehen, werden sie – im Gegensatz zu gleichaltrigen Freunden – immer daran erinnert, dass sie aus dem »gleichen Stall« (vgl. Ley 2001) kommen.

Anmerkungen zur horizontalen Ebene Als Ausgangspunkt möchte ich an dieser Stelle nochmals an die erbrachte Beweisführung anknüpfen, dass bereits jedes Kleinkind seine Welt mit Hilfe eines »inneren Koordinatensystems« zu begreifen versucht und dabei die Dimensionen »alt« und »jung« sowie »groß« und »klein« als eine der ersten Achsen von Welt (vgl. Bilstein 1994) in sich aufnimmt und zugleich aus sich hervorbringt. Wichtig ist jedoch, dass das Kind selbst dabei das Maß aller Dinge ist. Was genau damit gemeint ist, möchte ich mit Hilfe der Erzählung »Nicht Fisch, nicht Fleisch« von Erich Fried näher bringen: »Vor vielen Jahren, als die Sprache der Delphine noch nicht zum militärischen Geheimnis der Vereinigten Staaten erhoben oder herabgewürdigt worden war, erzählte mir ein befreundeter Delphin von einer uralten Überlieferung seiner Kommune.

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Fast zweieinhalb Jahrtausende sei es her, da habe einer seiner Vorfahren mitten im Mittelmeer die letzten Worte des berühmten griechischen Sophisten Protagoras gehört, als dieser auf der Flucht von Athen nach Sizilien Schiffbruch erlitten hatte und ertrank. Wie seither aus Delphinkreisen verlautet, rief der greise Denker – er war damals etwa siebzig Jahre alt –, als er von den Wogen wie ein Stück Treibholz hin und her geworfen, zum letzten Mal lebend an die Oberfläche kam, die Worte aus: ›Das Unmaß aller Dinge!‹ Dann schlug ihm eine gischtgekrönte Woge in den Mund, und er sagte nichts mehr. Obwohl diese Worte von dem alten Philosophen und berühmten Pädagogen sicher nicht ad usum Delphini gemeint waren, konnte jener in Rufweite vorbeischwimmende Delphin, von dem die Überlieferung ursprünglich herrührt, doch offenbar nicht umhin, sie zu hören und darüber sogleich in so tiefes Nachdenken zu verfallen, dass er augenblicklich einige andere Delphine herbeirief. Die Gedanken, die von den eben gehörten Worten des alten Weisen ausgingen, ergriffen auch die neu hinzugeschwommenen Delphine und führten alsbald zu einem ebenso lebhaften wie tiefsinnigen Meinungsstreit unter ihnen. Natürlich wussten sie als Meeresbewohner der großen griechischen Gewässer alle ganz genau, dass Protagoras in Sizilien und Athen verkündet hatte, der Mensch sei das Maß aller Dinge [. . . ] ›Kann es nicht sein‹, prustete ein junger Delphin heraus, ›dass der Mensch, auf das Eindrücklichste konfrontiert von den übermächtigen Elementen, zuletzt doch noch eingesehen hat, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge sei, eine Funktion, die doch viel eher uns Delphinen zusteht?‹ Er fand aber nicht viel Zustimmung, erstens weil nach Erfahrung der Delphine Menschen, wenn sie erst einmal zu ihrer vollen Länge ausgewachsen sind, durch Erfahrung nicht mehr belehrbar seien, zweitens aber wurde dem jungen Delphin auch seine delphinozentrische Auffassung vom Maß aller Dinge verübelt. Er tue sogar dem Protagoras Unrecht, denn dieser habe nie gemeint, dass wirklich alle Dinge nach dem Maßstab des Menschen geformt seien, sondern einzig und allein, dass der Mensch sie nur nach seinem eigenen Maß begreifen könne [. . . ] Allgemeinen Beifall erntete ein Delphin, der darauf aufmerksam machte, [. . . ] jetzt doch den Protagoras selbst auf den Rücken zu nehmen und aus der Flut [. . . ] zu erretten [. . . ] Dann könne man ja ihn selber nach des Rätsels Lösung fragen. Alle stimmten zu. Als sie aber den Protagoras umschwammen, stellte sich heraus, dass dieser mittlerweile schon ertrunken war. Natürlich machten sich die Delphine schwere Vorwürfe [ . . . ] Der Ansturm der von Protagoras ausgelösten Gedanken sei es gewesen, der sie gehindert habe, ihn rechtzeitig vor dem Ansturm der durch den Meeressturm ausgelösten Fluten zu retten. Dies sei die dem Falle innewohnende Tragik, und dies sei umso leichter verständlich, als die geringe

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Widerstandskraft der Menschen gegenüber den Meeresfluten ihnen zwar bekannt, aber doch nicht so in Fleisch und Blut übergegangen sei, dass der Anblick eines im Wasser treibenden Menschen augenblicklich eine Reflexreaktion in ihnen ausgelöst hätte. Im Grunde sei ihnen eben doch nur der Delphin das Maß aller Dinge [ . . . ] Traurig stimmten alle zu und begnügten sich damit, den zwei oder drei Haifischen, die sich mittlerweile ebenfalls eingefunden hatten und nun mit blutigen Mäulern davonschwammen, ihre ernstliche Missbilligung ob ihrer pietätlosen Gefräßigkeit nachzurufen« (Fried 1982, S. 50ff.).

Es wäre keine Erzählung von Erich Fried, hätte sie nicht so viele Sinnbezüge, dass die Entscheidung, welcher Sinnlinie man zuerst folgen mag, schwer fällt. In unserem Kontext könnte man die Überlegungen noch weiterführen. Am Ende ist es auch den Haifischen nur möglich, selbst das Maß aller Dinge zu sein. Das erklärt, warum sie in Protagoras nicht mehr den greisen Denker sehen, sondern lediglich »Nahrung«. Zur Quintessenz: Diese Erzählung legt also auf ihre Weise offen, dass die Menschen – wie auch die Delphine und Haifische – die Dinge und Ereignisse der umgebenden Welt nur nach dem je eigenen Maßstab begreifen können: ein Maßstab, der sich aus den ersten Grundstrukturierungsprozessen von Welt herausbildet. Und wenn man sich nun in die Lage eines »kleinen Menschen« versetzt, so kann in diesem Kontext sehr kritisch hinterfragt werden, ob Kinder nur Bedürfnisse haben und entwickeln, die auf der vertikalen Ebene – also »großen Menschen« gegenüber – angesiedelt sind? Oder ob das Kind selbst, neben der Gerichtetheit auf Erwachsene, nicht auch zeitgleich über eine Gerichtetheit auf andere Kinder – und im Besonderen auf Geschwisterkinder – verfügt? Rauh belegt dies eindrücklich, indem er festhält: »Mit dem Aufbau einer Welt aus Objekten (Objektpermanez) differenziert auch das Kind sich selbst von seiner Umgebung: es bildet ein einfaches Bild von sich selbst, erlebt andere Kinder sich selbst als ähnlich und wendet sich ihnen daher positiv zu« (Rauh 1982, S. 191). Lewis und Brooks zeigen zudem in zahlreichen Untersuchungs- und Alltagssituationen, dass »herannahende Erwachsene eher Furcht einflößen als Kinder« (Lewis u. Brooks 1979, S. 169). Ruppelt deutet dies folgendermaßen: »Diese Beobachtungen können damit erklärt werden, dass das kleine Kind sehr früh eine Vorstellung von seiner eigenen Körper-

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größe bzw. Kleinheit entwickelt und die anderen Kinder als sich ähnlich erlebt, was zu einer positiven Reaktion anderen Kindern gegenüber beiträgt. Nach dem einfachen Verhaltensgesetz: ›Nähere dich dem, was dir ähnelt, aber behandle mit Vorsicht, was dir nicht ähnelt‹, wird der dem Kind unähnliche Erwachsene mit größerer Vorsicht behandelt. Von daher ist zu erklären, dass kleine Kinder eher bewegt und lebhaft auf andere Kinder reagieren als auf fremde Erwachsene« (Ruppelt 1985, S. 83; vgl. auch Lewis u. Brooks 1979). Demnach gibt es nicht bloß auf der vertikalen Achse angesiedelte Bedürfnisse nach Liebe und Versorgung durch Erwachsene und zudem »die Magie des kindlichen Wunsches vom Groß-Sein« (WagnerWinterhager 1990, S. 453), sondern auf der horizontalen Achse den Wunsch nach Entsprechung bzw. Ähnlichkeit und die Sehnsucht nach Ebenbürtigkeit. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit findet nun auch diese »Psycho-Logik«, nämlich dass das eine nicht ohne das andere – sprich das Vertikale nicht ohne das Horizontale – gedacht werden kann, die nötige Aufmerksamkeit. Auf diese Weise stehen das Horizontale und das Vertikale nun nicht mehr nur unverbunden nebeneinander, sondern es zeigt sich, dass es die eine Denkrichtung ohne die andere Denkrichtung gar nicht geben könnte. Wie Seiffge-Krenke und von Salisch belegen, hat sich auch die »Entwicklungspsychologie der Nachkriegszeit fast ausschließlich mit der Eltern-Kind-Beziehung beschäftigt« (von Salisch u. SeiffgeKrenke 1996, S. 85). Die Beziehung unter Gleichaltrigen, die frühen Kind-Kind-Kontakte, Freundschaften im Kindes- und Jugendalter, aber auch die Geschwister werden von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen erst seit ungefähr 25 Jahren verstärkt in den Blick genommen. Grundlegend anders verhält sich dies jedoch bei der Individualpsychologie. Alfred Adler darf wohl zu Recht als »Vater der Geschwisterforschung« gelten, denn er hat bereits in der theoretischen Grundkonzeption seiner Lehre das Geschwisterliche aus dem Schatten des Nebensächlichen befreit. So hat Adler zum Beispiel bereits 1927 in seiner Publikation »Menschenkenntnis« einen eigenen Abschnitt den »Geschwistern« gewidmet und darin zentral den Aspekt der Geschwisterkonstellation in annähernd systematischer Weise reflektiert

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(vgl. Adler 1927). »Die Beachtung der Stellung in der Geschwisterreihe wird von Adler zu den wichtigsten Hilfen für das Verständnis des individuellen Lebensstils [...] gezählt« (Heisterkamp 1995, S. 204). Im Blickfeld der Adler’schen Betrachtungen stand zunächst die Frage, was es bei einem Kind bewirkt, wenn es als einziges, ältestes, zweites, mittleres oder jüngstes in eine Familie hineingeboren wird. Dabei hat Adler nie die bloße Rangfolge für maßgeblich erachtet, »sondern die (familiäre) Situation, in die es hineingeboren wird, und die Art, in der es sie deutet« (Adler 1929, S. 110). Lehmkuhl und Lehmkuhl problematisierten allerdings »das erlahmende Interesse der Individualpsychologie am Konstrukt der Geschwisterkonstellation« (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1994, S. 196). Sie vermuten, »dass dies mit der aktuellen (individualpsychologischen) Theoriediskussion und der Rückbesinnung auf die analytischen Wurzeln zu tun hat. In dem Maße, wie sich die individualpsychologische Sichtweise wieder überwiegend auf die ganz frühen Beziehungserfahrungen bezieht und später hinzukommenden bzw. aktuellen Belastungen für die Persönlichkeitsentwicklung eine weitaus geringere Bedeutung beimisst, rückt das Interesse an der Geschwisterkonstellation in den Hintergrund« (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1994, S. 196). Ergänzend dazu zeigt Kinast-Scheiner auf, dass die »Konstellationsforschung immer mehr an Bedeutung verliert und die Beziehungsforschung (im Kontext des Geschwisterlichen) in den Vordergrund tritt« (KinastScheiner 1999, S. 152). Gewiss wäre es ein großer Zugewinn für die Geschwisterforschung, wenn das vorhandene Forschungsinteresse einen Paradigmenwechsel mit vollziehen könnte, der sich in Anlehnung an Wassily Kandinsky (vgl. Kandinsky 1927) vom »Entweder-oder« zum »und« entwickelt. Es geht demnach nicht darum, das eine gegen das andere zu stellen, sondern es könnte zentral um die Erkenntnis der Zusammenhänge gehen – konkret: um die Geschwisterkonstellationsforschung und um die Geschwisterbeziehungsforschung beziehungsweise um die vertikale und um die horizontale Ausrichtung der weiteren Forschungsintention.

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Das Spezifische der Geschwisterbeziehung Die bisherigen Ausführungen konnten zeigen, dass es eine ungleich intensivere Auseinandersetzung mit vertikalen Phänomenen gibt und die horizontale Sichtweise – dazu gehört auch das Geschwisterliche – lange Zeit zu Unrecht vernachlässigt oder gar völlig ausgeblendet wurde. Zurück zu Erich Fried und seiner Auslegung von Protagoras. Darin verdeutlicht er, dass jeder die Welt nur nach seinem Maßstab begreifen kann. Wenn man diese Idee nun mit den jüngsten Erkenntnissen verknüpft, die deutlich belegen, dass der »kleine Mensch« die Welt nicht nur in den Kategorien »groß« oder »noch nicht groß« betrachtet, ergibt sich in Anlehnung an Ruppelt (vgl. Ruppelt 1985) folgender Schlüsselsatz: Das kleine Kind entwickelt sehr früh eine Vorstellung seiner Körpergröße oder Kleinheit und hält zugleich Ausschau nach Ähnlichen. Zudem schafft das Erleben von »allem, was größer ist als ich« Vorsicht und Distanz und das Erleben von »allem, was mir ähnlich ist« latente Nähe.

»Ich oder Du …« Kinder nehmen andere Kinder als potenziell »Ähnliche« wahr. Ein entwicklungspsychologisch erforschter Umstand, der latent Nähe bereithält. Aber das trifft auch auf gleichaltrige Freunde zu. Was ist nun das spezifisch Geschwisterliche? Geschwister sind potenziell ähnlich und zugleich potenziell gegensätzlich. »Sie sind alles andere als gleich – sie unterscheiden sich in Alter, Geschlecht, Größe, Temperament, Fähigkeiten und emotionalen Reaktionen« (Ley 2001, S. 69). Während allzu große Unterschiede oder Gegensätze unter Gleichaltrigen lediglich dazu führen, dass sie »keinen gemeinsamen Faden finden«, besteht diese Option im geschwisterlichen Raum in letzter Konsequenz nicht. Auch wenn es ein brüchiger, sehr fein gesponnener oder mehrfach verknoteter Faden ist, die Geschwister sind zwangsweise damit verbunden. Denn Geschwister sind mit ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden – ob sie das wollen oder nicht – »im selben Stall zu Hause« (vgl. Ley 2001). Eine (Duft-)Note haftet der ge-

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schwisterlichen Horizontale an. Sie leben als Ähnliche und Andere unter einem gemeinsamen elterlichen Vorzeichen. Dennoch – man könnte sogar sagen: deshalb – verfallen Geschwister oft in ein gegenseitiges Vergleichen. »In der Kindheit hat die Betonung von Unterschieden zwischen Geschwistern eine wichtige entwicklungsfördernde Funktion. Unterschiede verhelfen dazu, die eigene Identität zu entwickeln und die Konkurrenz erträglich zu halten« (Ley 1995, S. 100). Geschwister suchen demnach einerseits nach Unterschieden, aber gewiss auch nach Entsprechungen. Dass dabei Reibung entsteht, verwundert nicht. Ein weiterer Aspekt lehnt sich daran an: Geschwister sind, wenn sie einmal da sind, unausweichlich. Das heißt, wenn es Streit unter Freunden gibt, besteht die Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen, doch die zerstrittenen Geschwister treffen unausweichlich spätestens beim Abendbrot wieder aufeinander. Deshalb ist die Leugnung oder Verdeckung von Konflikten auch extrem erschwert. Und weil sich im Kontext des Unausweichlichen geschwisterliche Aggressionen ihren Weg bahnen müssen, sind sie zugleich darauf angewiesen, ein ausgewogenes und einschätzbares Vergeltungssystem zu entwickeln. Dazu Weinmann-Lutz: »Vergeltung muß nicht auf derselben Ebene liegen und kann auch aufgeschoben werden. Was eine angemessene oder eine unangemessene Vergeltung ist, ist den Geschwistern normalerweise völlig klar. Sie wissen genau, wie weit sie beim anderen gehen können, wann es ›ernst‹ wird. Wenn beide Kinder sehr klein sind und die Folgen ihrer Handlung noch nicht abschätzen können, mag die Regel der Gleichgewichtigkeit der Aggression eher unabsichtlich einmal verletzt sein [ . . . ] Dieses Ärgern und Provozieren ist natürlich auch für Kinder nicht nur erfreulich, doch es bietet viel Sicherheit. Es ist ein klares System aufeinander bezogener Handlungen und damit vorhersehbar. Es verbindet die Geschwister nur miteinander; mit Eltern und Gleichaltrigen gelten andere, vielleicht weniger zuverlässigere (ich füge hinzu: weil weniger einschätzbare) Regeln. Und es ist normalerweise ein System, in dem Gegenseitigkeit hergestellt wird« (Weinmann-Lutz 1995, S. 181f.). Zu fragen bleibt, »ob, mit wem und in welchem Ausmaß Einzelkinder solche Systeme der Gegenseitigkeit von Aggression aufbauen (Weinmann-Lutz 1995, S. 181) und was geschieht, wenn dieses fein

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gesponnene System der Ausgewogenheit aus seiner Balance gerät. Sei es zum Beispiel durch die Erkrankung (vgl. Seiffge-Krenke 1996) oder Behinderung (vgl. Hackenberg 1987, 1992) eines Geschwisterkindes, wenn in der gesunden Schwester oder dem gesunden Bruder eine Art »Beißhemmung« entsteht. Oder wenn ein unverlässliches kindliches Sensorium oder eine äußere Weichenstellungen bewirkt, dass ein Geschwisterkind unverhältnismäßig zuschlägt. Ein weiterer Grund für eine rivalisierende Dynamik im Bereich des Geschwisterlichen mag darin bestehen, dass Geschwister – in Abgrenzung zu Gleichaltrigen und Eltern – oftmals unfreiwillig Intimes und Bedeutsames voneinander (im wahrsten Wortsinn) »mit-bekommen«. Sie leben auf gleicher Augenhöhe, häufig sogar im gemeinsamen Kinderzimmer, sind zwangsweise unzertrennlich – das heißt, sie können sich nicht scheiden lassen oder kündigen – und werden so zu Komplizen oder zu Gefährten. Hermann Bahr, ein österreichischer Essayist und Kritiker hat einmal gesagt: »Ein gewisses Maß an Unkenntnis voneinander ist die Voraussetzung dafür, dass zwei Menschen Freunde bleiben.« Bei Geschwistern ist dies jedoch latent anders. Zwischen ihnen besteht oftmals eine Art »Nussknackerdynamik« – kurz: sie dringen oftmals gegenseitig bis zum »Kern« ihrer selbst vor. Bank und Kahn entwickeln in ihrer Publikation über Geschwisterbindung eine Anschauung, die darauf beruht, dass es neben anderen »Schichten« der Persönlichkeit auch ein »Kernselbst« gibt, das sich sehr früh und auf komplexe Weise entwickelt und das zugleich nur wenigen Vertrauten zugänglich ist. »Wohl alle Eltern würden gerne einen Blick in das geheimste Selbst der Kinder werfen, aber wie wir alle wissen, verbergen die meisten ihre wahren Gefühle vor den Eltern. Für Geschwister ist die gegenseitige Kenntnis des Kernselbst oft leichter. Auch wenn sich Geschwister als Erwachsene meist voneinander gelöst haben und ihre eigenen Wege gehen, bleibt das Wissen um die jeweilige Kernidentität als Erbe und Erinnerung an die Kindheit, versunken, unausgesprochen und nur teilweise vergessen. Ein Treffen mit Geschwistern beschwört auch nach vielen Jahren noch die bittersüße Erinnerung an das eigene Kinderselbst, unberührt durch die seitdem vergangene Zeit« (Bank u. Kahn 1991, S. 63). Auch wenn es die Geschwisterbindung nicht gibt und die Zugänge

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unter Geschwisterkindern unterschiedliche Qualitäten haben können, zeichnet sich im potenziellen Vorhandensein dieser gegenseitigen Kenntnis ein weiteres Charakteristikum des Geschwisterlichen ab. Anders gesagt: Geschwister wissen zum Beispiel auch ganz genau, wie sie den anderen »auf die Palme« bringen können. Oftmals reicht ein bestimmter Blick, ein kaum wahrnehmbares Mienenspiel aus – noch dazu von den Eltern völlig unentdeckt –, um die »geschwisterliche Kampfansage« präzise zu justieren. Franzin Klagsbrun beschreibt beispielsweise aus schwesterlicher Sicht – in einer Episode aus der eigenen Kindheit – auf äußerst eindrückliche Weise, wie gerade Geschwisterkinder »zwischen den Zeilen lesen« und »Unausgesprochenes« deuten können (vgl. Klagsbrun 1997, S. 13ff.). Geschwister haben demnach – im Gegensatz zu Peergroup-Beziehungen – dieses »gewisse Maß an Unkenntnis voneinander« nicht, das laut Bahr notwendig ist, um miteinander befreundet zu bleiben. »Das Geschwisterliche enthält durch seine Intimität und Unausweichlichkeit eine ambivalente Mischung von Zuneigung, Zärtlichkeit und Verbundenheit [einerseits und von Aggressivität, Rivalität und Hass andererseits; die Verf.]« (Ley 2001, S. 42). So könnte das abgewandelte Zitat von Karl Kraus über die »Familienbande« in diesem Kontext neu überlegt werden. Es würde lauten: »Das Wort ›Geschwisterbande‹ hat (durchaus) einen Beigeschmack von Wahrheit.« Weniger zynisch sieht dies Verena Kast. Sie vermittelt in ihrer Schrift »Neid und Eifersucht – Die Herausforderung durch unangenehme Gefühle«, wie hilfreich und wichtig gerade Geschwisterrivalität bei Individuations- und Loslösungsprozessen sein kann. In Anlehnung an Edith Jacobson spricht sie von produktivem Neid. »Rivalität wird bei Jacobson so verstanden, dass aus dem Neid heraus der Impuls kommt, es so gut wie möglich dem Geschwister gleichzutun oder das Geschwister gar zu übertreffen. Rivalität wird also auch hier verstanden als produktiver Neid, als tätiger Neid« (Kast 1998, S. 134). Geschwisterrivalität hat aus dieser Sicht äußerst bedeutsame, konstitutive und entwicklungsfördernde Seiten. Sie »[ . . . ] wird also im Lichte der neueren Objektbeziehungstheorie zum wichtigen Entwicklungsmotor des kindlichen Reifungs-, Wandlungs- und Differenzierungsprozesses [. . . ] [Zugleich wird] sie zum Erprobungsfeld von Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit auf der einen und Abgrenzung

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auf der anderen Seite der kindlichen Entwicklung« (Hoanzl 2003, S. 114). Doch das geschwisterliche Rivalisieren kann auch die eben beschriebene entwicklungsfördernde und verhältnismäßig ausgewogene Bahn verlassen. Lehmkuhl und Lehmkuhl problematisieren in diesem Kontext die elterlichen Einflüsse auf das Geschwisterliche: »Wenn es den Eltern nicht gelingt, zu allen Geschwistern eine gleichbleibend emotional tragende Beziehung herzustellen, dann verschärfen sich die Konflikte zwischen den Geschwistern, die sich dann fragen, warum der andere von ihnen mehr geliebt, gemocht oder bevorzugt wird. Die Antworten führen dann zu der Vermutung, dass der scheinbar nicht so gemochte Geschwisterteil Mängel aufweist, die dazu führen, dass man ihn auch gar nicht so lieben kann wie den anderen. Ein negatives Selbstbild, soziale Unsicherheit und Rückzug sind die Folgen« (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1995, S. 199). Auch darin spiegelt sich das Gegensätzliche von Geschwisterbeziehungen.

»… und wir« Geschwisterkinder können sich also einander zu-, aber auch voneinander abwenden. Dadurch entsteht eine »Geschwisterdeklination« eigener Art. Sie lautet: zugewandt – abgewandt – verwandt. In allen drei Dimensionen zeigt sich eine entwicklungsbestimmende Seite des Geschwisterlichen. Während das Trennende und Rivalisierende zwischen Geschwistern in der bisherigen Fachliteratur verstärkt bearbeitet wurde, blieb das Verbindende unter den Geschwisterkindern lange Zeit völlig unreflektiert. Ein Grund dafür mag wohl auch darin liegen, dass die Entwicklung der Geschwistertheorie lange Zeit sehr »patientenorientiert« – und damit zugleich in pathologischen Ausrichtungen – verlief. Erst durch die Erforschung der frühkindlichen Sozialisation und Entwicklung außerhalb des latent pathologischen Feldes kommen aktuell die stärkenden Seiten des Geschwisterlichen in den Blick. So beruft sich Horst Petri bei der Entwicklung seiner Theorie der geschwisterlichen Liebe zentral auf eine Publikation von Yvonne Schütz, die in Form einer Langzeitstudie 16 Familien beobachtete, die zu Beginn der

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Studie ihr zweites Kind bekamen. »Die eindrucksvollen Ergebnisse zeigen, wie ausgeprägt besonders in den ersten neun Monaten das positive Verhalten des älteren Geschwisters gegenüber dem Säugling ist. Demgegenüber widerlegt der Minimalwert des negativen Verhaltens in diesem Zeitraum die geläufige Meinung über die Vorherrschaft destruktiver Gefühle ab der Geburt« (Petri 1994, S. 19f.). Petri begründet dies damit, dass Geschwisterkinder primär aufeinander bezogen sind. Die selbständige Objektbindung zwischen den Geschwisterkindern beleuchtet er aus zwei Perspektiven, indem er nach der möglichen Bedeutung der Geschwisterkinder füreinander fragt. Aus Sicht des älteren Geschwisterkindes formuliert er6: »Für ein Kind, das die ersten Sporen der Kultur aufgedrückt bekommen hat, wird das Baby zum Spiegel seiner zum Teil bereits aufgegebenen primären Natur« (Petri 1996, S. 11). Eine primäre Natur, die lustvoll nach Befriedigung aller Bedürfnisse drängt und die im Prozess des Heranwachsens sublimiert werden musste, offenbart sich nun wieder im jüngsten Geschwisterkind. Vor diesem Hintergrund wirft Petri auch die Frage auf, ob im scheinbar regressiven Verhalten, das ein älteres Geschwisterkind oftmals bei der Geburt eines nachfolgenden Kindes zeigt, nicht vielmehr Spuren einer verborgenen, geschwisterlichen Liebe liegen. Demnach wäre die Tatsache, dass das ältere Kind wieder an seinem Fläschchen nuckelt oder wieder einnässt, kein latent pathologischer Rückfall in überwundene frühkindliche Verhaltensweisen. Vielmehr könnte die Identifikation mit dem kleinen Säugling auch als ein gemeinsames geschwisterliches Verbundensein über die primäre Natur angesehen werden. Aus Sicht des kleinen Babys könnte, basierend auf Ergebnissen der jüngeren Säuglingsforschung, die das Bild eines kompetenten Säuglings zeichnet, folgende Dynamik am Laufen sein: »Der

6 Vgl. folgendes Zitat Freuds aus Totem und Tabu: »Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem anderen Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen« (Freud 1913/2000, S. 412).

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Säugling spiegelt sich nicht nur ›im Glanz des Auges der Mutter‹, sondern auch im Lächeln des Geschwisters, in seiner Umarmung, in seiner Zärtlichkeit und Fürsorge. Die narzißtische Widerspiegelung ist die notwendige Voraussetzung, um das Geschwister als Liebesobjekt in sich aufnehmen zu können« (Petri 1994, S. 25). Petri siedelt seine Theorie jedoch weiter auf einer Linie von unterschiedlichen Lebensaltern an. Der eben beschriebene – auf Gegenseitigkeit beruhende – Beginn einer geschwisterlichen Liebe wird mit den später folgenden Entwicklungs- und Lebensaufgaben beider Geschwister zunehmend komplexer und unterliegt je spezifischen Wandlungen. Was ursprünglich als narzisstische Verschmelzung begonnen hat, entwickelt sich laut Petri zu einem »Wir-Gefühl« (Petri 1994, S. 71). An dieser Stelle könnte es sehr lohnend sein, die erkenntnisanleitende Idee Alfred Adlers vom »Gemeinschaftsgefühl« aufzugreifen und danach zu fragen, welche Bedeutung gerade auch den Geschwistern bei der Entwicklung dieses Gefühls zukommt. Auch Franzin Klagsbrun kommt in ihrer qualitativen Geschwisteruntersuchung zu dem Schluss, dass Erkenntnisse aus der Objektbeziehungstheorie, aber auch aus der Bindungstheorie auf das Geschwisterliche übertragen werden können. »Starke (und verlässliche) Bindungen zwischen Geschwistern entwickeln sich dann, wenn sie sich miteinander identifizieren und aufeinander reagieren [ . . . ] Diese Bindungen sind keineswegs vollkommen, sie sind aber, wenn sie auf Emphathie und Reaktionsbereitschaft basieren (ganz im Sinne Winnicotts) ›gut genug‹, das heißt, jedes Kind hat das Gefühl, vom anderen geliebt und versorgt zu werden« (Klagsbrun 1997, S. 329). Wenn Geschwister also auch verlässliche und innige Beziehungen ausbilden können, sich im wahrsten Wortsinn zusammenschließen können, entsteht damit ein besonderer geschwisterlicher Raum – ein Bündnis. Vor dem Hintergrund der bereits ausführlich beschriebenen vertikalen Achse und der damit einhergehenden asymmetrischen Ausrichtung der kindlichen Entwicklung ergibt sich somit eine besondere Chance und Qualität der Geschwisterbeziehung, die abschließend skizziert werden soll. Zunächst soll der Aspekt der ohnmächtigen Abhängigkeit – die latent im Generationengefälle und damit in der Eltern-Kind-Beziehung selbst verankert ist – nochmals betrachtet werden: Wenn das Kind – zweifelsohne als basale Entwicklungsbedin-

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gung – Mutter und Vater zugewandt ist, so könnte diese Zuwendung »[ . . . ] neben der vertrauensvollen Hingabe an die versorgenden und liebevollen Eltern auch das Empfinden ohnmächtiger Abhängigkeit bedeuten. Mit all seiner Bedürftigkeit und Hilflosigkeit ist das Kind darauf angewiesen, alles das von Vater und Mutter zu bekommen, was es im inneren Erleben als sprichwörtlich Not-wendig erlebt. Selbst wenn das Zusammenspiel zwischen [ . . . ] Hingeben und Annehmen wesentlich gelingt, ist Entsagung und Verweigerung zwingender Bestandteil jeder kindlichen Entwicklung.« Winnicott (1971, S. 20) spricht in diesem Kontext von der »good-enough mother«. »Eine genügend gute [hinreichend gute; die Verf.] Mutter ist diejenige, die sich zunächst aktiv den Bedürfnissen des Säuglings anpasst, eine Anpassung, die sich nur schrittweise verringert, je mehr die Fähigkeit des Kindes zunimmt, sich auf ein Versagen der Anpassung einzustellen und die Folgen der Frustration zu ertragen« (Winnicott 1971, 20). Demnach ist Frustration selbst durch hinreichend gute Eltern im Prozess des Heranwachsens nicht vermeidbar, sondern lediglich derart zu dosieren, dass das einzelne Kind in seinem subjektiven Erleben diese Kränkung aushalten und überwinden kann. Geschwisterkinder haben nicht nur die gleichen Eltern, sondern auch »verwandte Kränkungen« von eben jenen Eltern erfahren. Was, wenn der geschwisterliche Zusammenschluss in dieser »verwandten Kränkung« wurzelt? Die nach innen gewendete Enttäuschung über die versagende Mutter oder die versagenden Eltern, die sich im kindlichen Erleben oftmals krisenhaft steigert, kann im geschwisterlichen Bündnis nach außen gewendet werden. Die narzisstische Kränkung des Kindes findet Entsprechungen im geschwisterlichen Raum. Geschwister sind in diesem Sinne nicht nur Gefährten, sondern auch »Leidensgefährten«, in Abgrenzung gegenüber den »elterlich-entsagenden Anderen«. »Wenn Winnicott davon spricht, dass elterliche Anpassung an die Bedürfnisse des einzelnen Kindes in dem Maße zurückzunehmen sei, in dem das Kind die damit einhergehenden Folgen der Frustration ertragen kann, bleibt zu fragen: Verändert sich die Wucht und Qualität dieser Frustration, wenn sie unter Geschwistern geteilt oder mitgeteilt wird? Man darf darauf vertrauen, dass Geschwister in ihrer je spezifischen Art, Mitteilungen zu ›inszenieren‹, äußerst kreativ und vielschichtig sind – zumal sie die Empfänger oftmals in ihrem ›Kern‹ ken-

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nen. Hier gilt der sprichwörtliche Grundsatz: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Damit mildert sich die Wucht der narzisstisch erlebten ›Einzigartigkeit der inneren Verletzung‹. Teils bewusst, teils unbewusst wird im geschwisterlichen Raum an narzisstischen Spitzen gefeilt, die durch elterliche Entsagung entstehen« (Hoanzl 2002, S. 93f.). Geschwister können durch ihren Zusammenschluss eine Art »horizontales Fangnetz« bilden, wenn es um Entsagungen und Kränkungen von »oben« geht. Zugleich entsteht aber mit einem Geschwisterbündnis eine geschwisterliche Gegenwelt zur Allgegenwart der Eltern.

Konklusion – oder: Was bleibt? Geschwisterbeziehungen sind auf Grund ihrer strukturellen Besonderheiten zwingend voller Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Ambivalenzen. Die beschriebenen Beziehungsdimensionen »ich oder du . . . und wir« sind – wie in keiner anderen Beziehung – unauflösbar mit einander verwoben. So können sich Geschwisterkinder zwar nicht suchen – im Sinne von sich gegenseitig aussuchen –, aber sie können sich finden. Und wie die Untersuchungen zur Geschwisterrivalität skizziert haben, sind Geschwisterkinder immerwährend dabei, sich auf Grund ihrer potenziellen Nähe voneinander zu distanzieren. In diesem Grundmuster des Geschwisterlichen verbirgt sich jedoch keine pathologische Ambivalenz, wie sie Eugen Bleuler zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Psychiatrie eingeführt hat (vgl. Bleuler 1916). Vielmehr zeigt sich, dass es zunehmend weniger darum gehen kann, Ambivalenzen vorschnell – zu Gunsten scheinbarer Eindeutigkeit (vgl. Kandinsky 1927) – zu lösen oder aufzulösen. Denn scheinbare Eindeutigkeit kann es nur dann geben, wenn man aufhört, das Widersprüchliche und Ambivalente wahrzunehmen. Gerade aber eine Reduktion vielschichtiger und gegensätzlicher Phänomene auf einfache Wahrheiten zerreißt und verfälscht Kontexte. »Die Ambivalenz mit ihren widersprüchlichen Inhalten spiegelt die vielgestaltige Umwelt des Menschen. Seelische Gesundheit beinhaltet die Fähigkeit, diese Spannungen und Widersprüche wahrzunehmen [. . . ], sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie auszuhalten; sie nicht nur als belastend, sondern auch als entwicklungsfördernd, als Chance, zu betrach-

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ten [.. . ] Der Mensch muß also die Fähigkeit erwerben, sich innerhalb eines Spannungsfeldes zu bewegen und fortzuschreiten« (Otscheret 1988, S. 147). In diesem Sinne geht es nicht vordergründig um Konfliktbewältigung sondern um Konfliktfähigkeit. Eine Fähigkeit, die in besonderer Weise im Geschwisterlichen angelegt ist. Ein abschließendes Beispiel – die »Dire Straits« – mag dies abermals bildlich zeigen: »Die Gruppe war getragen von den zwei Brüdern, David und Mark Knopfler, die sich nach einiger Zeit zur musikalischen Trennung entschlossen. Vorher gaben sie noch ein (Album) heraus mit dem Titel ›Brothers in arms‹, was beides heißen kann: Brüder, die sich in den Armen liegen, und: Brüder in Waffen. Das ist das Doppelgesicht von Brüderschaft und Geschwisterschaft« (Bausinger 2000, S. 29).

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The importance of siblings in psychotherapy The relationships with our siblings are the longest relationships in our lives. Groups of siblings are like parents: permanent, for life, even in cases of geographical separation. Over the last decades we have seen a growth in children without siblings. In contrast to past generations it does not come as naturally nowadays to have brothers and sisters. According to research on divorce siblings are often the last resort with regards to relationships and responsibility whenever people are upset by split-ups, recklessness and callousness in human relations. In emergency situations, at times of crises and transitions, we tend to go back to related and familiar aspects that point back to early childhood (Ley 1998).

Zusammenfassung Die Geschwisterbeziehung ist die längste in unserem Leben. Geschwistergruppen sind wie Elternpaare: unauflösbar, sie gelten ein Leben lang, auch wenn räumliche Trennungen eintreten. In den letzten Jahrzehnten nahm die Zahl der Einzelkinder zu, das heißt, Geschwister haben ist nicht mehr selbstverständlich wie in den früheren Generationen. Aus der Scheidungsforschung ist bekannt, dass Geschwister oft die letzten Garanten für Zusammengehörigkeit und Zuständigkeit sind, wenn das Erschrecken über Trennungen, Lieblosigkeit und Kälte in den menschlichen Beziehungen groß wird. In Not- und Krisensituationen und bei Lebensübergängen erfolgt ein Rückgriff auf das Verwandte, auf Vertrautheit, die in die frühe Kindheit zurückweist (Ley 1998).

Psychoanalytisch gesehen werden im (früh-)kindlichen Zusammensein Wesenszüge und Anteile der Geschwister in die eigene Person integriert und zu guten und weniger guten inneren Objekten umgebaut. Wir alle haben – ob wir es wahrnehmen oder nicht – Anteile unserer

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Geschwister in uns. Wichtige Prägungen unseres Umgangs mit Freundschaften, mit Kollegen und Kolleginnen sowie auch die Partnerwahl sind entscheidend beeinflusst von geschwisterlichen Beziehungen. Erst spät wandte sich der Blick von der vertikalen ElternKind-Achse auf die horizontale der Geschwister und Gleichaltrigen. Ein kaum beachteter Beziehungsraum, der in der Psychotherapie wenig genutzt wird, obwohl wir heute wissen, in welchem Ausmaß Geschwisterbeziehungen spätere erwachsene Beziehungen mitgestalten. Das Geschwisterthema steht im Schatten der Eltern-Kind-Beziehungen. Die spärliche Thematisierung in der Literatur gibt den Anschein, Geschwisterbeziehungen seien kein wichtiges Thema, und wenn es behandelt wird, dann erfolgt es meistens stereotyp unter dem Aspekt der Geschwisterrivalität. Nach Einschätzung von Katharina Ley (1998) fehlen die Betonung des Verbindenden, Liebevollen, Begehrlichen unter den Geschwistern auf ihrer generationellen Horizontale, die ihrerseits wiederum vertikal geschichtet ist.

Frühe individualpsychologische Konzepte Alfred Adler und seine Schüler gingen schon Anfang des 20. Jahrhunderts von der Annahme aus, dass die Stellung des einzelnen Kindes innerhalb der Geschwisterreihe mit dazu beiträgt, bestimmte Charakterzüge oder Lebensstile zu entwickeln. Hoanzl (1997) relativiert fast 100 Jahre später die Bedeutung dieser ersten Typologie: Allein der Altersabstand und weitere Mitglieder in der (Groß-)Familie können das Typische der jeweiligen Geschwisterposition aufheben. Adler maß der Familienkonstellation für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Psychodynamik eine wichtige Rolle zu. Er hielt ihren charakterbildenden Einfluss für so stark und nachhaltig, dass der geübte Psychologe auch am erwachsenen Menschen ohne große Mühe erraten könne, ob er ein einziges Kind, einen älteren Bruder, eine jüngere Schwester usw. vor sich habe (Kaus 1926). Auch wenn Adler und seine Schüler eine Typologie des ältesten, jüngsten und mittleren Kindes aufstellten, kommt der Stellung in der Geschwisterreihe keine deterministische Bedeutung zu. Kurt Seelmann formulierte in der 1929 erschienenen Monografie »Das jüngste und das älteste Kind«, dass ein

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Mensch nicht von Anbeginn seines Lebens einer Begabung oder dem Schicksal ausgeliefert sei und seine ganze Entwicklung vom »Mitgebrachten« abhänge. Martha Holub (1929) folgert ausgehend von Therapieerfahrungen, wie Charaktereigentümlichkeiten und das Verhalten zu den Geschwistern aus der Position in der Familie und in der Geschwisterreihe zu verstehen sei. Bereits 1918 äußerte Adler den Verdacht, dass bedeutsame Ereignisse der frühen Kindheit die neurotischen Dispositionen verstärken: »Man wird einem Menschen, dessen Kindheit unter Lieblosigkeit verlaufen ist, oft bis ins späteste Alter anmerken, dass er liebeleer geblieben ist« (1920, 1974, S. 308). Die Frage, wie sich frühkindliche Umweltfaktoren und Belastungen auf die psychische Struktur auswirken, rückte für Adler ins Zentrum. Zu den möglichen Komplikationen gehört nach seiner Einschätzung auch die Geschwisterkonstellation: »So besteht ein grundlegender Unterschied in der seelischen Entwicklung eines Erstgeborenen gegenüber dem Zweitgeborenen oder den letzten Kindern. Auch die Eigenart von einzigen Kindern ist leicht festzustellen. Seelisch macht es sich oft sehr geltend, wenn in einer Familie nur Knaben oder nur Mädchen oder ein Knabe unter lauter Mädchen oder ein Mädchen unter lauter Knaben aufwächst. Dies sind die gegebenen Realien und Positionen, aus denen sich die Haltung der Kindheit herleitet« (1920, 1974, S. 309). Die Familienkonstellation als Faktor der seelischen Entwicklung nimmt in Wexbergs »Individualpsychologie« (1928) ein eigenes Kapitel ein. Als der wesentliche Ausgangspunkt wird die Beziehung zwischen Mutter und Kind betrachtet. Trotz einer gewissen Typologie weist Wexberg immer wieder darauf hin, »dass wir mit Absicht extreme Fälle schildern und dass es nicht gelingen kann, die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens in Typen einzufangen« (S. 142). Er beschreibt dann die Situation des »einzigen Kindes«, das allein inmitten einer Umgebung von Erwachsenen sich seiner Hilflosigkeit umso stärker bewusst wäre, je mehr es von den Eltern unterstützt würde, als es seinem Alter entspräche. Im Folgenden werden die verschiedenen Geschwisterpositionen des ältesten, jüngsten und mittleren Kindes mit ihren jeweils besonderen psychischen Entwicklungssituationen geschildert. Generell – stellt Wexberg fest – sollte die Beziehung der Kinder untereinander nicht unterschätzt werden: »Mit der herkömmlichen, schulfibelmäßigen Auffassung von der innigen Liebe der Ge-

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schwister untereinander ist natürlich gar nichts gewonnen. Daß Geschwister einander lieben, ist gewissermaßen das Selbstverständliche, wenig Interessante, aus dem sich psychologisch keine besonderen Konsequenzen ergeben. Viel wichtiger ist die Frage, ob und inwieweit sie einander nicht lieben und dann hassen, aufeinander eifersüchtig, neidisch sind, miteinander konkurrieren, sei es in den Leistungen, sei es in der Liebe der Eltern. Die gegenseitigen Abhängigkeits-, Überund Unterordnungsverhältnisse, die durchaus nicht nur durch das Alter bestimmt sind, können das Schicksal der einzelnen Geschwister entscheidend beeinflussen« (S. 149). Forer (1977) sowie Forer und Still (1979) sprechen von so genannten Grundmustern: Die Geschwisterkonstellation stellt nur einen von vielen Umweltfaktoren dar, die für die Entwicklung und Erhaltung von Lebensräumen wichtig sind. Aus einer geburtsbedingten Position lassen sich nicht mit Sicherheit bestimmte Verarbeitungsmodi und Verhaltensweisen ableiten. Es geht aber darum, die spätere individuelle Anpassung, ausgehend von den Kindheitsbeziehungen, zu verstehen und nachzuvollziehen, wie Organisation und Einstellungen in der Familie die späteren Beziehungsmuster beeinflussen. Die durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochene Tradition der Individualpsychologie in Deutschland konnte in den USA durch Adlers Schüler Rudolf Dreikurs fortgeführt werden. Die Betonung lag auf kognitiven und pädagogischen Schwerpunkten unter Vernachlässigung tiefenpsychologischer Aspekte. Die von Dreikurs gemeinsam mit Grey, Soltz und Blumenthal (1964, 1973) sehr populär verfassten Erziehungsratgeber brachten in den 60er und 70er Jahren individualpsychologische Gedanken einem breiten Leserkreis wieder nahe. Die individuelle Verschiedenheit wird nach Dreikurs (1969) durch die entscheidende Funktion der Konkurrenz, die zwischen den Geschwistern besteht, erklärt: »Man kann im Allgemeinen sagen, dass die Entwicklung eines jeden Kindes in der Familie am stärksten durch dasjenige Familienmitglied beeinflusst wird, das von ihm am verschiedensten ist. Die Verschiedenheit der Kinder ist ein Ausdruck des Wettkampfes, der, wie gesagt, zwischen dem ersten und zweiten Kind einer Familie am stärksten ist. Die beiden beobachten sich ganz genau; wo der eine Erfolg hat, wird der andere aufgeben und wo der andere seine Schwäche zeigt, wird der eine Erfolg suchen« (Dreikurs 1969, 1971, S. 87).

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Individuelle Entwicklung wird auf einen Wettkampf um Anerkennung und Erfolg reduziert, intrapsychische Prozesse verlieren dabei an Bedeutung. Für Dreikurs lernt das Kind, dass bestimmte Handlungen bestimmte Handlungen der Eltern hervorrufen. Wenn es ältere Kinder in der Familie gibt, lernen die jüngeren, sich mit ihnen zu vergleichen und zu entscheiden, wer mehr Zuneigung durch die Eltern erfährt, das heißt, die von Adler und Wexberg (1931, 1987) vor allem für die innere Struktur wirksamen sozialen Faktoren entsprechen bei Dreikurs einem kognitiven Verstärker und Konditionierungseffekt. Neuere individualpsychologische Arbeiten versuchten nur ansatzweise, die Bedeutung der Geschwisterkonstellation wieder aufzugreifen und das Konzept weiterzuentwickeln oder es mit den Ergebnissen aktueller entwicklungspsychologischer Arbeiten in Beziehung zu bringen. Auffallend ist, dass die frühen Individualpsychologen und die nachfolgende Schülergeneration Adlers die Stellung in der Geschwisterreihe vorwiegend unter einem pathogenen Aspekt betrachteten: Es ging vorwiegend um Rivalität, Entthronung, Status, Unsicherheit und Macht. Andererseits stellte Wexberg fest, dass es keine Position gebe, die für das Kind »zwangsläufig die ungünstigste Entwicklung nach sich ziehen müsste. Mit jeder aus der Familienkonstellation erwachsenen Schwierigkeit kann das Kind unter ansonsten glücklichen Umständen fertig werden, an jeder kann es scheitern« (1928, S. 154).

Empirische Untersuchungsergebnisse Trotz offenkundiger Bedeutung sind Geschwisterbeziehungen bis heute nicht sehr häufig Gegenstand empirischer Untersuchungen gewesen. In der Entwicklungspsychologie und in der Familienforschung gibt es seit etwa zwei Dekaden Untersuchungen zu Geschwisterbeziehungen; die Gesamtzahl der Studien an Geschwistern ist recht gering. Die umfangreichste Monographie zum Thema stammt von Ernst und Angst (1983). Sie konnten zusammenfassend schlussfolgern, dass der Familienkonstellation kein bedeutsamer Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung zukommt und Faktoren wie eine unvollständige Fa-

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milie und ein unfreundlicher Erziehungsstil ein weitaus größerer Einfluss zukommt. In den neueren Forschungsansätzen wird die Geschwisterposition nicht im Sinne einer statischen Größe gesehen, sondern Geschwister sein oder ein Geschwister haben wird als ein dynamischer Prozessfaktor innerhalb eines Geflechtes inner- und außerfamiliärer Beziehungen betrachtet. Zum Beispiel werden typische Interaktionsmuster und deren altersbedingte Veränderungen untersucht. Werden den Kindern Strukturmerkmale über Unterschiede im elterlichen Verhalten oder in der Interaktion vermittelt? Bereits 1985 haben Furman und Buhrmester wichtige Determinanten der Geschwisterbeziehung zusammengestellt. Es handelt sich um Merkmale der Familie, der Kinder sowie der Eltern-Kind-Beziehung und der Geschwisterbeziehung. Als Familienmerkmale werden unter anderem die Familiengröße und -zusammensetzung angegeben. Weitere Merkmale bilden Alter, Geschlecht und Position der Geschwister. Als Charakteristika der einzelnen Kinder werden unter anderem genannt: Temperament, Alter, Geschlecht, aber auch kognitive Fähigkeiten, Sozialverhalten und andere Persönlichkeitsdimensionen. Die Geschwisterbeziehungen beschreiben die Autoren mit den Kategorien: Wärme/Nähe, relative Macht/ Status, Konflikthaftigkeit und Rivalität. Berücksichtigt werden in dem Modell von Furman und Buhrmester (1985) Merkmale der Familie der Kinder und der Eltern-Kind-Beziehungen, die auf die GeschwisterBeziehung einwirken, wie auch Effekte, die von der Geschwisterbeziehung auf das familiäre System oder den Einzelnen Einfluss nehmen und als so genannte indirekte oder Zweite-Klasse-Effekte wieder auf die Geschwisterbeziehung wirken. Geschwisterbeziehungen verändern sich mit der individuellen Entwicklung. Sie sind bis ins hohe Lebensalter von Bedeutung (Cicirelli 1985) und zeigen Veränderungen in ihrer Qualität. Papastefanou (1992) hält in diesem Zusammenhang fest: »Die ersten Jahre nach der Geburt eines zweiten Kindes lassen eine besonders dynamische Entwicklung erkennen. Die Anfangszeit stellt große Anforderungen an das ältere Kind, die es in vielen Fällen mit der Ausbildung problematischer Verhaltensmuster antworten lassen. Im Normalfall kommt es aber im weitern Verlauf zu einer gewissen Stabilisierung, wobei sich positive und negative Qualitäten im Verhalten der Ge-

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schwister zueinander langfristig die Waage halten« (Papastefanou 1992, S. 156). In den folgenden Jahren kommt es nach Kasten (1993a und b) »zu keinen wesentlichen neuen Vorgängen im Bereich der Geschwisterinteraktion« (1992a, S. 42). Geschwisterbeziehungen spielen nach dem bisherigen Forschungsstand auch eine wesentliche Rolle für die individuelle Entwicklung (Dunn 1984). Diskutiert werden längerfristige Effekte in den Bereichen Kognition, Sozialverhalten und Persönlichkeitseigenschaften. Insgesamt finden sich eher allgemein gehaltene, globale Aussagen. Dass es so wenig differenzierte und spezifische Forschungsergebnisse gibt, mag auch daran liegen, dass Geschwister weitaus mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten aufweisen, sowohl im kognitiven als auch im Persönlichkeitsbereich. Neuerdings werden die Ursachen dieser Unterschiedlichkeit zunehmend in innerfamiliären Bedingungen gesehen, die von einzelnen Kindern einer Familie unterschiedlich erlebt und verarbeitet werden. Die Bedeutung struktureller Aspekte wie der Geschwisterposition als dem klassischen Bedingungsfaktor hat sich gegenüber Prozessmerkmalen des elterlichen Verhaltens und der Mutter-Kind-Beziehung erheblich relativiert (Papastefanou 1992). Es muss berücksichtigt werden, dass Eltern – entgegen ihrer Überzeugung – ihre Kinder ungleich behandeln. Es gibt Unterschiede in der aktiven Aneignung objektiv gleicher Umweltgegebenheiten; Geschwister werden mit verschiedenen Umwelten konfrontiert. Es ist ein Unterschied, ob ein Kind bereits in eine Familie geboren wird oder ob es das erste Kind einer Familie ist.

Psychodynamische Aspekte der Geschwisterbeziehungen In der tiefenpsychologisch orientierten Literatur gibt es weder eine einheitliche Theorie der Entwicklung von Geschwisterbeziehungen noch eine allgemein anerkannte Einteilung verschiedener Arten von Geschwisterbeziehungen. Adams (1982) unterscheidet drei verschiedene Formen der Geschwisterbeziehung: – Die intensive Geschwisterliebe (»Hänsel-und-Gretel-Phänomen«),

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die nur unter ganz bestimmten familiären Konstellationen wie emotionaler/tatsächlicher Abwesenheit der Eltern entsteht. – Die Geschwisterrivalität, die konstruktiv oder destruktiv sein kann, in der Regel im Erwachsenenalter nachlässt, jedoch bis ins hohe Erwachsenenalter fortbestehen kann. – Die Geschwistersolidarität: Es ist ein Gefühl von Nähe gemeint, das auf gegenseitigem Vertrauen, Verstehen und Helfen beruht. Bei Parens (1988) findet sich eine Zusammenstellung verschiedener Funktionen von Geschwisterbeziehungen. Er beschreibt Geschwister als – Objekte libidinöser Beziehungen; – erotische Objekte (Verschiebung inzestuöser Beziehungen auf Eltern, was bei Stiefgeschwistern nicht ungewöhnlich ist); – Babyersatz (Mädchen in der ödipalen Entwicklungsphase); – Rivalen (spontaner Neid/Eifersucht als Ausgangspunkt); – Objekte der Verschiebung von Feindseligkeit und Aggression (Verschiebung aggressiver Impulse auf weniger gefährliche Objekte, wie sie jüngere und schwächere Geschwister darstellen, als wichtiger Abwehrmechanismus); – instrumentalisierte Hilfen (ältere Geschwister werden von jüngeren eingesetzt, um etwas zu erreichen, was sie selbst nicht können); – Helfer bei der Bewältigung von Sozialisationsschritten. Lange Zeit dominierten in der psychologischen Forschung über Geschwisterbeziehungen Untersuchungen der Auswirkungen der Geschwisterfolge, ausgelöst durch Adlers These (1926) von der »Entthronung« des Erstgeborenen als Trauma und Ursache für die Geschwisterrivalität. Auch die empirische Psychologie hat sich mit der Rivalität zwischen Geschwistern beschäftigt. Es wurden überwiegend »hard facts« wie Alter, Altersabstand und Geschlecht der Geschwister untersucht. Eine psychodynamische Perspektive fehlt weitgehend, und Längsschnittuntersuchungen, die den Einfluss der Geschwister auf das Familiensystem analysieren, sind selten. Kreppner (1990) hat die Veränderungen, die sich durch die Geburt des ersten und zweiten Kindes im Familiensystem ergeben, genauer untersucht und herausgefunden, dass es etwa zwei Jahre dauert, bis

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das zweite Kind integriert ist und sich ein Subsystem der Eltern und Kinder gebildet hat. Er hat die Ankunft des zweiten Geschwisters längsschnittlich untersucht und festgestellt: Unmittelbar nach der Geburt des zweiten Kindes ist die Mutter sehr stark mit dem Baby beschäftigt und hat »kaum Augen« für ihr Erstgeborenes. Das so »frei gestellte« Kind wendet sich dem Vater zu, ja klammert sich regelrecht an diesen. Etwa ein Jahr nach der Ankunft des zweiten Kindes ist die Aufmerksamkeitsverteilung der Mutter wieder ausgeglichen, sie beachtet beide Kinder etwa gleich. Im zweiten Jahr nach der Ankunft des zweiten Kindes schließlich finden wir eine Differenzierung in die Subsysteme »Eltern« und »Kinder«. Geschwisterbeziehungen sind komplex, weil sie sowohl durch vertikale Beziehungen zu beiden Eltern als auch durch horizontale Beziehungen zueinander gestaltet sind. Diese horizontale Perspektive stand bislang ganz im Schatten der vertikalen Beziehungen. Geschwister müssen in ihrem Verhältnis zueinander zu einer Balance von Verbundenheit und Individuation finden (Seiffge-Krenke 2001). Die Qualität von Geschwisterbeziehungen unterliegt über die Lebensspanne einem Wandel. Aus den Untersuchungen von Pulakos (1989) ist bekannt, dass im Jugendalter auch eine Ablösung von den Geschwistern erfolgt. Seiffge-Krenke konnte nachweisen, dass dies gesunden Jugendlichen sehr gut gelingt, während chronisch kranke Jugendliche sehr eng mit ihren Geschwistern verbunden bleiben (2000). Ab dem jungen Erwachsenenalter kommt es wieder zu einer stärkeren Annäherung (Bedford 1993). Im hohen Erwachsenenalter können sich Geschwisterbeziehungen wieder sehr intensivieren und auch wieder charakteristische Qualitäten und Funktionen annehmen. Ursache für diese Entwicklung ist häufig die Tatsache, dass andere Interaktionspartner inzwischen verstorben sind. Wellendorf (1995) wies darauf hin, dass geduldige und genaue klinische Beobachtungen und theoretische Untersuchungen noch fehlen, um der Vielfalt von Geschwisterbeziehungen einigermaßen gerecht zu werden. Er vermutet intensive Ängste, wenn verständlich werden soll, warum die Geschwisterbeziehung in der Psychoanalyse so hartnäckig mit einem Tabu belegt bleibt. Im Gegensatz zur Eltern-Kind-Beziehung handelt es sich bei der Geschwisterbeziehung um Angehörige derselben Generation. Es gibt Altersunterschiede zwischen Geschwis-

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tern, aber keinen Generationsunterschied. Dieser ist prinzipiell und qualitativ, der Altersunterschied kann von großer Bedeutung sein bei der Bevorzugung oder Benachteiligung durch die Eltern, für Vergleiche des Aussehens, der Begabungen, der Erfolge oder der Gesundheit. Geschwister sind hinsichtlich des materielle und psychischen Überlebens nicht so voneinander abhängig, wie sie es – jedes für sich – von den Eltern sind. Das Prinzip der Geschwisterbeziehung ist die Reihung. Anders als die Triade ist die Reihe offen. Es kann mehr oder weniger Elemente in jeder Reihe geben. Die Geschwister sind nicht notwendig; sie sind existenziell überflüssig. Man würde auch ohne sie existieren und eine vollständige psychische und soziale Entwicklung haben können. Das heißt aber auch: Auch ich kann in der Reihe fehlen. Geschwister stehen sich im Alter und der psychosozialen Entwicklungsstufe nach näher. Ihre Entwicklungsphasen überlappen sich mehr oder weniger. Geschwister bieten greifbare Identifikationsmodelle – und zwar sowohl für progressive als auch für regressive Identifikationen. Sie sind füreinander ein wichtiger Spiegel, oft eine Art Doppelgänger. So scheinen sich Geschwister oft schneller und treffsicherer zu verstehen, als Erwachsene Kinder verstehen können (und umgekehrt). Wellendorf (1995) weist daraufhin, dass Geschwister sich gegenseitig bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und Krisen unterstützen können. Sie bieten eine Chance zur Abgrenzung vom Primärobjekt und eröffnen einen psychosozialen Raum jenseits der ödipalen Triade. »In diesem geschwisterlichen Raum können sie einen Zugang zu Liebe und Hass finden, der weniger unter dem Zeichen existenzieller Abhängigkeit steht, und damit eine bedeutende Erweiterung ihres Ichs ermöglicht« (S. 304). Geschwister haben eine Brückenfunktion. Was ist nun das spezifisch Bedrohliche an der Geschwisterbeziehung? Die Existenz von Geschwistern wirft beunruhigende und schmerzhafte Fragen hinsichtlich der eigenen Beziehungen zu den Eltern auf. Neid und Eifersucht spielen unter Geschwistern eine große Rolle. Die Existenz von Geschwistern ist sichtbarer Beweis, dass die Eltern noch andere Bedürfnisse und Wünsche haben. Geschwister sind leibhaftige Belege, dass es die Urszene tatsächlich gibt.

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Die Existenz von Geschwistern ist nicht nur beunruhigend und bedrohlich, weil sie die psychosoziale Balance der Vater-Mutter-KindTriade ins Wanken bringt. Bedrohung geht auch von der Geschwisterbeziehung selbst aus. Geschwister können leichter Züge des eigenen Selbst repräsentieren. Die geschwisterliche Nähe und die Prozesse der Identifikation, Verschmelzung und Regression implizieren die Gefahr einer Destrukturierung und bedrohen den bereits erreichten Entwicklungsstand und die noch unsichere Identität. Die Bewältigung dieser Gefahr und die Integration der Geschwisterbeziehung in die eigene psychische Struktur erfordert eine intensive Abgrenzungsarbeit. »Die Geschwisterbeziehung ist durch eine spezifische Spannung gekennzeichnet: Auf der einen Seite bekommen Geschwister aufgrund ihrer Brückenfunktion und ihrer Zugehörigkeit zu demselben Entwicklungsraum eine große emotionale Bedeutung für die eigene Entwicklung. Auf der anderen Seite sind sie ein lebendiger, stets gegenwärtiger Beleg für die eigene Kontingenz und eine Bedrohung des Selbst« (Wellendorf 1995, S. 305). Geschwister zerstören die Illusion der »heiligen Familie« von Vater, Mutter, Kind. Dies ist eine der vielen Quellen der Angst: Diese lautet: Es könnte egal sein, ob es mich gibt. Es gibt keine unverwechselbare Position für ein Kind. Der Todeswunsch in der Geschwisterbeziehung ist auch ein Wunsch nach Erhaltung der Differenz. Es gibt keine klarere Differenz als die, dass ich lebe, während der andere tot ist.

Hinweise für die Behandlungspraxis Zum Schaden der psychoanalytischen Praxis finden GeschwisterÜbertragungen und -Gegenübertragungen oft keine systematische Beachtung, obwohl natürlich in der analytischen Beziehung auch Erfahrungen mit Geschwistern wiederbelebt werden (vgl. Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1995). Dieses Bild von Geschwistern scheint in der Analyse besonders dann verschwommen, wenn sich in der präödipalen Phase eine innige, verschmelzende Beziehung zu einem Bruder oder einer Schwester entwickelt hat: Die Ich-Grenzen zwischen den Geschwistern sind ver-

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schwommen geblieben. Es fehlen klare, abgegrenzte Objektrepäsentanzen von Bruder oder Schwester. Geschwister sind im Übertragungsgeschehen intensiv präsent. Es kann ein Gefühl von Überforderung und Ausweglosigkeit entstehen, wie es Kinder fühlen, die ihrer Verzweiflung überlassen bleiben. Beim Patienten entsteht das Gefühl, im Behandlungsraum sei niemand, der die Verantwortung übernimmt. Patient und Therapeut sind dann die zwei Geschwister, die von ihrer Verzweiflung oder ihren inzestuösen Wünschen gemeinsam überwältigt werden. Analoges gilt meines Erachtens für die Gegenübertragung. Werden die Konflikte, die die horizontale Ebene der Geschwisterbeziehung kennzeichnen, nicht gründlich in der persönlichen Analyse durchgearbeitet und fehlt eine klärende theoretische Reflexion, müssen Gegenübertragungsreaktionen, mit denen wir auf der Geschwisterübertragung reagieren, ein Analysehindernis werden und unbearbeitbar bleiben. König (1993) weist darauf hin, dass einige Therapeuten dazu neigen, Geschwisterrollen anzunehmen, ja, sie Elternrollen vorzuziehen. Diese Therapeuten sind seiner Meinung nach in der Gefahr, ihre Patienten bezüglich des Erwachsenseins zu überfordern, weil sie das Infantile im Patienten schlecht tolerieren. Dass ein Therapeut in der Beziehung zum Patienten eine Geschwisterrolle anstrebt und das Angebot einer Geschwisterrolle gern annimmt, findet sich auch im Umweg von Eltern mit ihren Kindern, die lieber Geschwister der Kinder sein wollen, als die Elternrolle auszufüllen und die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Ohne eine Analyse der Dynamik der Geschwisterbeziehung sind wir kaum in der Lage, unsere eigenen institutionellen Konflikte zu verstehen – weder jene, die wir in der Geschichte der Psychoanalyse finden, noch die, die uns heute in den psychoanalytischen Institutionen quälen. Limentani (1974) hat schon vor 30 Jahren betont, dass Geschwisterrivalitäten die Lehranalyse stark belasten. Eine Versöhnung mit Elternfiguren bleibt unvollständig, wenn die Geschwister als eigene Realität ausgeklammert werden; und geschwisterliche Versöhnung muss scheitern, wenn die ödipale Dimension verleugnet wird. Das verlorene Objekt sind nicht nur Vater und Mutter, sondern auch Bruder und Schwester, die wir mit unseren mörderischen Wünschen begleiten, während sie neben uns leben.

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»Ein Durcharbeiten der heftigen libidinösen und aggressiven Impulse und Phantasien in den Beziehungen zu den Geschwistern ist auch eine Absage an Hierarchie, ein Akzeptieren der Zugehörigkeit zur eigenen Generation und eine Einsicht in die komplizierten Strukturen von Gegenseitigkeit – auch zwischen den Geschlechtern, in denen niemand und keine soziale Einheit Macht über den anderen hat. In hierarchischen Institutionen ist Waffenstillstand, aber keine Versöhnung möglich« (Wellendorf 1995, S. 309). Wir sollten die Versöhnung anstreben.

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Instanzen im Schatten: Die enorme Bedeutung von Freunden und romantischen Partnern

Instances in the background – The central significance of friends and romantic partners So far psychotherapy has neglected the significance of resources outside the immediate family. This contribution illustrates the key role friends and romantic partners play during the development of skills to manage conflicts, develop empathy and control negative emotions. It also deals with friendships of famous adults, like that of Anna Freud and Lou Andreas-Salomé.

Zusammenfassung In der Psychotherapie hat man bislang die Bedeutung von außerfamiliären Ressourcen eher ignoriert. Dieser Beitrag verdeutlicht die enorme Bedeutung von Freunden und romantischen Partnern für die Fähigkeit zur Konfliktbewältigung, zur Einfühlung und zur Regulierung von negativen Emotionen. Dabei geht es auch um die Freundschaftsbeziehungen berühmter Erwachsener wie etwa Anna Freud und Lou Andreas-Salomé.

Einleitung Ziel dieses Beitrags ist es, entwicklungspsychologische und therapeutische Aspekte zusammenzubringen, und zwar bei zwei »Instanzen im Schatten«, nämlich Freunden und romantischen Partnern. Es ist erstaunlich, dass sich nur wenige Therapeuten konzeptuell mit Freunden beschäftigt haben. Eine Ausnahme stellt Alfred Adler (1974) dar, der in seiner Individualpsychologie Kämpfe um gemeinsame bewunderte Freunde und Freundinnen beschrieb. Auch Anna Freud (1965) zählt dazu, die eine Entwicklungslinie vom Egoismus zur Freundschaft und

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zur Teilnahme an der menschlichen Gesellschaft entwickelt hat. Sie hat insgesamt vier verschiedene Stufen unterschieden: a) narzisstische Interessen b) andere sind »leblose Gegenstände« c) Freunde helfen beim Bauen d) Teilen und Gleichberechtigung Diese Konzeption von Freundschaftsbeziehungen enthält eine gewisse Entwicklungsdynamik, ist jedoch nicht so differenziert, dass sie der neueren entwicklungspsychologischen Forschung standhalten könnte. Interessant ist, dass Anna Freud selber sehr rege Freundschaftsbeziehungen gepflegt hat, u. a. zu Lou Andreas-Salomé, mit der sie von 1919 bis 1937, also über knapp 20 Jahre, einen intensiven Briefwechsel führte (Rothe u. Weber 2004), auf den später noch genauer eingegangen wird. Ab der mittleren Kindheit sind Freundschaftsbeziehungen häufig. In einer repräsentativen Stichprobe von 4500 15- bis 24-Jährigen nannten nur zehn Prozent keinen Freund oder keine Freundin ihres eigenen Geschlechts (Fritzsche 2000). Ähnliche Ergebnisse berichten Zinnecker und Silbereisen (1996) für eine größere Stichprobe von Zehn- bis 13-Jährigen im Rahmen der Shell-Studie. Auch heftige Computernutzer sind nach der Shell-Studie (2001) nicht weniger, sondern nach eigenen Angaben sogar signifikant häufiger in Freundschaftsbeziehungen und auch Liebesbeziehungen eingebunden als die Vergleichsgruppe der Technikabstinenten.

Warum sind Freunde Entwicklungshelfer? Herausragend ist, dass Freunde eine symmetrische Beziehung zueinander haben. Ihre Beziehung ist des Weiteren reziprok, das heißt, beide an der Interaktion beteiligten Kinder haben im Prinzip die gleichen Möglichkeiten, Handlungen und Ansichten ihres Gegenübers zu beeinflussen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist dagegen komplementär angelegt, weil Erwachsene ganz eindeutig über mehr Macht und Wissen als Kinder verfügen. Aufgrund dieser symmetrischen und reziproken Struktur von Beziehungen zu Gleichalt-

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rigen gelingt es Kindern bei Gleichaltrigen besser, ihre Standpunkte miteinander zu vergleichen, zu prüfen und letztendlich gemeinsame Problemlösungen zu erarbeiten. Freunde befinden sich im Übrigen in der gleichen Entwicklungsphase und können von daher einander wichtige Entwicklungsimpulse geben. Sie teilen auch die gleichen Entwicklungsaufgaben und normativen Lebensereignisse. Dieser Umstand schafft einen Fundus von Gemeinsamkeiten, eine große Vertrautheit zueinander, der die Gleichaltrigen für die Heranwachsenden zu einer immer wichtigeren Bezugsgruppe werden lässt. Aufgrund dieser gemeinsam geteilten Erfahrungen und Entwicklungsprozesse ist das Verständnis füreinander sehr hoch. Viele Studien haben in der Vergangenheit nachgewiesen, dass Freunde eine protektive Funktion haben. Die Unterstützung, die Kinder und Jugendliche durch Freunde erfahren, steht nämlich in direkter Beziehung zum Wohlbefinden und puffert die Effekte von Stress ab (Moran u. Eckenrode 1991).

Was tun Kinder und Jugendliche, die keine Freunde haben? Aufgrund dieser großen Bedeutung von Freundschaftsbeziehungen stellt sich die Frage, wie Kinder mit einer Situation umgehen, in der sie auf Freunde verzichten müssen. Studien haben gezeigt, dass Freunde für Kinder und Jugendliche so wichtig sind, dass sie sogar Phantasiefreunde entwickeln. Neuere Forschungen (Seiffge-Krenke 2001a; Taylor 1999) verdeutlichen, dass Phantasiefreunde recht häufig sind. In verschiedenen Studien werden Vorkommenshäufigkeiten von 18 bis 30 Prozent genannt. Dabei sind alle Altersstufen von drei Jahren bis zur Adoleszenz vertreten. Phantasiefreunde sind also nicht auf eine bestimmte, zum Beispiel eine jüngere, Altersgruppe begrenzt. Die Studien zeigen außerdem, dass es keine Hinweise auf Pathologie gibt; die Entwicklung eines Phantasiefreundes ist vielmehr Zeichen einer größeren Reife. Allerdings gibt es auffällige Familienkonstellationen: Phantasiefreunde tauchen auf, wenn die Mutter mit einem neuen Kind schwanger ist oder ein Geschwister geboren wird, wenn die Mutter aufgrund von häufigen Krankenhausaufenthalten abwesend ist, wenn Vater oder Mutter oder eine andere versorgende Person stirbt, wenn sich Eltern

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scheiden lassen oder man einen Freund verliert. Man kann daraus schlussfolgern, dass Gefühle von Einsamkeit, Verlust oder Zurückweisung ein Kind dazu veranlassen, einen Phantasiefreund zu entwickeln, der ihm hilft, diese schwierige Situation zu überwinden. Dies trifft vor allem dann zu, wenn sie kaum oder keine gleichaltrigen Freunde haben. Die Frage, ob schon Babys »Freunde« haben, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Man kann häufig beobachten, dass schon sehr kleine Kinder enorm auf Gleichaltrige reagieren. Allerdings kann man hier noch nicht im eigentlichen Sinne von »Freunden« sprechen, sondern eher von Spielkameraden. Ganz allgemein ist zu beachten, dass es bestimmte Merkmale der Beziehungsentwicklung in der Kindheit gibt, dazu zählen u. a. die Veränderungen von proximalen zu distalen Kontakten, die Ausweitung auf mehrere Interaktionspartner, die Veränderungen der Funktionen und auch der emotionalen Qualität von sozialen Beziehungen und die zunehmende Integration von Beziehungserfahrungen in die eigene Identität. Spätestens ab dem Alter von drei Jahren beginnen Freunde für das Kind wichtig zu werden, aber schon vorher, im Babyalter, gibt es ein starkes Interesse an Gleichaltrigen. Wenn Babys nebeneinander spielen, häufig auch mit verschiedenen Spielsachen, und dabei vor sich hin erzählen, so ist dies noch nicht im eigentlichen Sinne als reziprokes Aufeinanderbezogensein zu werten, sondern erinnert eher an den so genannten »kollektiven Monolog«, den Wygotski (1996) beschreibt. Studien haben gezeigt, dass schon zwölf Monate alte Babys einem gleichaltrigen Baby viel häufiger Spielzeug anbieten als etwa der Mutter oder einem fremden Erwachsenen – aber reicht das Teilen und Anbieten aus, um von »Freundschaft« zu sprechen? Dennoch sind diese festen Spielbeziehungen sehr bedeutsam und werden gut erinnert. Alfred Adler (1974) nennt Erinnerungen an Freundschaftsbeziehungen im Alter von vier bis fünf Jahren. In den folgenden Ausführungen wird deutlich, dass in den einzelnen Altersabschnitten qualitativ unterschiedliche Merkmale Freundschaftsbeziehungen kennzeichnen.

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Freundschaftsbeziehungen und Egozentrismus Spielkameraden werden für das Kind also immer wichtiger, und die zunehmenden Fähigkeiten zu Empathie und Rollenübernahme führen dazu, dass Freundschaftsbeziehungen anspruchsvollere Qualitäten bekommen. Demnach gibt es in dieser Entwicklung keine stetige Progression, sondern zwei Einbrüche, auf die nun genauer eingegangen wird. Ganz allgemein nimmt die Ansprechbarkeit von kleinen Kindern auf soziale Reize immer stärker zu. Dann ist auch zu beobachten, dass sich Veränderungen im Augenkontakt zeigen. Der Augenkontakt besteht häufiger zwischen befreundeten Paaren, bereits ab dem Kindergartenalter. Ebenfalls ab dem Kindergartenalter sieht man die engere Körperbetonung bei Mädchen, die zusammen spielen. Trotz der mit den Jahren zunehmenden Fertigkeiten des Kindes, sich in andere hineinzuversetzen und deren Aktionen, Verhalten und Gefühle zu antizipieren – eine wichtige Voraussetzung für Freundschaftsbeziehungen –, gibt es in dieser positiven Entwicklung zwei Einbrüche. Bei dem ersten Einbruch von Egozentrismus handelt es sich um den typischen kindlichen Egozentrismus, der schon von Piaget (1926) beschrieben und in dem klassischen Drei-Berge-Problem verdeutlicht wurde. Kindern im Vorschul- und Grundschulalter ist es nicht möglich, den Berg aus der Sicht einer anderen Person zu beschreiben. Piaget hat als Rückgang für den frühen Egozentrismus die Altersstufe vier bis acht Jahre angegeben. Diese enorme Variation im Rückgang des Egozentrismus, der also durchaus noch bei Achtjährigen festgestellt werden kann, ist klinisch bedeutsam. In der Adoleszenz gibt es nochmals eine Phase mit einem so genannten Adoleszenten-Egozentrismus, bei dessen Auflösung Freunde ganz wesentlich beteiligt sind. Um nämlich in der Freundesgruppe mithalten zu können, muss man sich in die Bedürfnisse der gleichaltrigen Freunde einfühlen und anpassen können. Jugendliche ohne Freunde haben sehr viel stärkere Probleme, den Adoleszenten-Egozentrismus zu überwinden. Freunde sind also wichtig, um aus der jeweiligen eher egozentrischen Perspektive zur echten Empathie zu gelangen.

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Freundschaftsbeziehungen von der Kindheit zum Jugendalter: Was verändert sich entwicklungspsychologisch? Die Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen ist eine beeindruckende Stufenfolge. Sie wurde von Selman (1980) beschrieben: Auf der Stufe 0 sind enge Freundschaften gekennzeichnet durch momentane physische Interaktion. Dies trifft etwa auf die Altersstufe vier bis sechs Jahre zu. Der Aspekt der räumlichen Nähe ist von ganz großer Bedeutung, das heißt die Tatsache, ob die Kinder häufig zusammen spielen oder in unmittelbarer Nähe zueinander aufgewachsen sind. Es liegen kaum Kenntnisse über psychologische Gesichtspunkte im Sinne einer »theory of mind« vor. Körperliche Auseinandersetzungen sind eine Ursache für die Trennung von Spielkameraden. Ein guter Freund in diesem Alter ist jemand, der die Spiele mag, die man selber gerne spielt. Die Stufe 1, enge Freundschaft als Hilfestellung, betrifft etwa die Grundschule, nämlich die Sechs- bis Zehnjährigen. Diese Kinder haben bereits ein Bewusstsein von Motiven, Gedanken und Gefühlen des anderen. Die Erkenntnis der psychologischen Perspektiven des Selbst und des Anderen sind aber zunächst noch getrennt und unabhängig voneinander. Ein guter Freund auf dieser Stufe ist jemand, der weiß, was man selber gerne tut, und genau dies mit einem spielt. Konflikte werden als einseitig verursacht angesehen. In der Altersstufe zwölf bis 18 Jahre tritt ein qualitativ neues Freundschaftsverhalten auf. Es ist die Stufe 3, enge Freundschaften als intimer gegenseitiger Austausch. Die Freundschaftsbeziehung steht nun selbst im Zentrum. Es handelt sich um eine dyadische Beziehung. Themen wie Eifersucht, Ausschließlichkeit und besitzergreifende Perspektive sind wichtig. Wir beobachten hier den Versuch von guten Freunden, ihre Beziehung zu schützen. Sie haben bereits die Erkenntnis, dass Konflikte, wenn sie adäquat bearbeitet werden, die Beziehung stärken können. Der intime persönliche Austausch, und zwar wechselseitig, ist das wichtigste Kriterium von Freundschaftsbeziehungen in dieser Altersstufe. In diesen Freundschaftsbeziehungen ist die Idealisierung häufig. Sie ist in der klassischen Novelle »Tonio Kröger« von Thomas Mann beschrieben. Dabei ist auffällig, dass Jungen- und Mädchenfreundschaften anders strukturiert sind. Bei Jun-

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genfreundschaften spielen sportliche Aktivitäten und Erfahrungen mit Alkohol und Drogen eine große Rolle (Seiffge-Krenke u. Seiffge 2005). Mädchenfreundschaften zeichnen sich durch größere körperliche Nähe und mehr Intimität aus, die auch zeitlich früher erworben sind. Außerdem finden wir besonders viele Konflikte in Mädchenfreundschaften. Dies wird auch deutlich, wenn man Tagebuchaufzeichnungen von Mädchen auswertet (Seiffge-Krenke 2001a). Hier besteht ein ganz entscheidender Anteil von Freundschaftsaktivitäten in intimen und homoerotischen Aktivitäten wie etwa dem Tauschen von Kleidern, dem gegenseitigen Schminken, Händchen halten im Kino und Ähnliches (Seiffge-Krenke 2002). Weitere Aktivitäten nehmen aber auch schon das andere Geschlecht in den Blick, zum Teil auf symbolischer Ebene (Diskussion über »Frösche und Märchenprinzen«), zum Teil aber auch auf realer Ebene, wenn etwa zwei Mädchen zusammen einen Liebesbrief schreiben, der für den Freund der anderen gedacht ist. Die Stufe 4, enge Freundschaft als Autonomie und Interdependenz, gilt ab dem Erwachsenenalter. Für sie ist die Perspektive charakteristisch, dass sich Beziehungen verändern, so wie sich Personen verändern und entwickeln. Ein guter Freund ist jemand, dessen Persönlichkeit mit der eigenen kompatibel ist, was ein sehr relativer Begriff ist. Äußerungen wie »Vertrauen ist die Fähigkeit, den anderen loszulassen genau so wie ihn festzuhalten« verdeutlichen dies. Wünsche beider Freunde sowohl nach Abhängigkeit wie nach Autonomie werden angemessen berücksichtigt. Eifersucht wird aus einer gewissen Distanz betrachtet.

Freundschaftsbeziehungen von Erwachsenen: Anna und Lou, Turgenev und Flaubert Wir sind nun bei einem Punkt angelangt, den ich eingangs schon erwähnte, nämlich der sehr großen räumlichen Distanz und den sehr ähnlichen, oft lebenslangen Perspektiven, die Freunde miteinander teilen können. Kommen wir daher auf unser Anfangsbeispiel zurück, nämlich die Freundschaftsbeziehung zwischen Anna Freud und Lou Andreas-Salomé. Als Freud den Kontakt zwischen seiner Tochter

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Anna und Lou vermittelte, ist Anna 25 und Lou 48 Jahre alt. Die beiden wechseln über einen Zeitraum von fast 20 Jahren zahlreiche Briefe, die Dokumente einer geradezu zärtlichen Annäherung sind. Viele Gemeinsamkeiten und Ideen werden ausgetauscht, und man erfährt viel Wissenswertes über die psychoanalytische Bewegung, aber auch Annas starken Wunsch, die Freundin »zu bestricken«, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie strickt ein graues Wollkleid von enormer Schwere, das Lou beim ersten Mal noch mit Begeisterung empfängt. Später halten sich die Begeisterungsschreiben bei nachfolgenden Bekleidungsstücken doch deutlich in Grenzen, und sie versucht sehr vorsichtig, Annas starke Zuneigung bezüglich des Bestrickens auf andere Personen zu lenken. Gesehen haben sich die beiden Freundinnen selten, bestenfalls vier- oder fünfmal zu kurzen Besuchen (Rothe u. Weber 2004). Wenn wir Männerfreundschaften betrachten, so sind sie durch ebensolche Charakteristiken ausgezeichnet. Nehmen wir beispielsweise den Briefwechsel zwischen Turgenev und Flaubert (Urban 1989). Flaubert war 41 und Turgenev 44 Jahre alt, beide auf der Höhe ihres Ruhmes, als sie sich kennen lernten. Der Briefwechsel zieht sich über 17 Jahre hin und beginnt sehr förmlich, höflich und respektvoll und wird dann immer enger und liebevoller. Auch ihnen gelingen in diesen 17 Jahren nur ganz wenige Treffen, wobei interessant ist, dass sie wesentlich mehr Treffen planen (übrigens auch Anna und Lou), als sie realisieren. Fast scheint es, als wenn diese ideale Freundschaft nicht durch zu viel reale Nähe beeinträchtigt werden sollte (»Es ist idiotisch, sich so zu lieben, wie wir es tun, und sich so wenig zu sehen«, Rothe u. Weber 2004, S. 10). Besonders in den letzten Jahren sind die Briefe durch eine geradezu zärtliche Fürsorge um die Gesundheit des anderen und die Arbeit (»Ich schufte wieder an ›Bouvard und Pécuchet‹«) gekennzeichnet.

Emotionale Kompetenz und Umgang mit Konflikten in Freundschaftsbeziehungen Was wird in Freundschaftsbeziehungen gelernt? Ich erwähnte bereits die Funktionen für Empathie, den Rückgang von Egozentrismus.

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Freunde haben aber auch wichtige Funktionen bei der Konstruktion und Veränderung der eigenen Identität, wie besonders in der Adoleszenz deutlich wird (Seiffge-Krenke u. von Salisch 1996). Unsere Analysen von Tagebuchaufzeichnungen haben gezeigt, dass fast alle Gespräche von engen Freundinnen miteinander in der Jugendzeit um die Identität kreisen. Fast alle Aktivitäten, die junge Mädchen miteinander teilen, spielen sich am Körper der Freundin ab (Kleidung tauschen, Schminken, zusammen in der Badewanne liegen, Händchen halten im Kino) und auch die Annäherung an das andere Geschlecht geschieht, wie erwähnt, im Schutz der Freundin. Freunde sind auch ganz wichtig für das Erlernen eines angemessenen Umgangs mit Konflikten und besonders wichtig für das Erlernen der Regulierung starker negativer Affekte. In Konflikten mit Freunden lernen Kinder und Jugendliche nämlich die Bedürfnisse des Freundes zu erkennen und in adäquater Weise zu beantworten. Streit findet sehr häufig statt, wird zunehmend aber auch als gemeinsames Problem verstanden. Auffällig ist, dass selbst bei aggressiven und lautstarken Auseinandersetzungen »die Augen lächeln« (von Salisch 1999), es gibt also eindeutige positive Zeichen dafür, dass die Beziehung weiter aufrechterhalten werden soll. Der Ärgerausdruck gegenüber Freunden ist viel weniger massiv als etwa gegenüber den Eltern, was darauf hindeutet, wie wichtig Kindern und Jugendlichen diese Freundschaft ist, und wie sehr sie ihre Beziehung schützen wollen (Seiffge-Krenke 2002). Worüber gibt es Konflikte? Vor allen Dingen über Eifersucht und zu große Nähe in den engen Mädchendyaden. Wichtig ist die stärkere Bereitschaft von Mädchen, ihre Probleme und ihren Ärger mit Freunden offen zu besprechen, verglichen mit Jungen. Dies kann aber auch gesundheitsschädigende Folgen haben. Soziale Unterstützung durch Freunde kann bei Mädchen zu erhöhter Depressivität und der Zunahme von Körperbeschwerden führen.

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Idealistische Aspekte in Freundschaftsbeziehungen und das Auftauchen des romantischen Partners Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so zeigt sich Folgendes: Freundschaftsbeziehungen entwickeln sich in qualitativ unterschiedlichen Stufen. Wesentliche Lernprozesse werden in Freundschaftsbeziehungen vollzogen. Insbesondere ab dem Jugendalter und auch noch im Erwachsenenalter spielen idealistische Aspekte eine Rolle (der Freund als Ich-Ideal). Realer Kontakt ist nicht unbedingt notwendig, manchmal sogar störend. Man muss sich fragen, warum Turgenev seine Gichtanfälle immer dann bekam, wenn er Flaubert besuchen wollte (Urban 1989). Außerdem, und das ist schon im Jugendalter deutlich, wird die Interferenz durch die sich aufbauenden romantischen Beziehungen immer klarer. Nehmen wir dazu Paula Modersohn und Clara Westhoff als Beispiel. Auch hier ist uns ein Briefwechsel überliefert (Schlaffer 1994), in dem unter anderem deutlich wird, mit welcher enormen Eifersucht Paula Modersohn auf den Rückzug von Clara Westhoff reagiert, als diese sich nach der Geburt ihrer Tochter Ruth mit Rilke vollständig abschottet. Über ihre Beziehung mit Modersohn schreibt Paula Becker: »In meinem ersten Jahr der Ehe habe ich viel geweint. Mein Herz sehnt sich nach einer Seele, und die heißt Clara Westhoff. Ich glaube, wir werden uns nicht mehr ganz finden. Es ist meine Erfahrung, dass die Ehe nicht glücklich macht. Sie nimmt die Illusion, dass es eine Schwesternseele gäbe. Dies schreibe ich in mein Küchenhaushaltsbuch am Ostersonntag 1902. Sitze in meiner Küche und koche Kalbsbraten« (Bohlmann-Modersohn 2004, S. 128). Auch die frühen romantischen Beziehungen enthalten etwas Idealistisches. Die bekannten Brautbriefe Sigmund Freuds an Martha Bernais verdeutlichen diese schwärmerische, idealistische Beziehung. Die Verlobten Sigmund Freud und Martha Bernais waren während ihrer vierjährigen Verlobungszeit räumlich sehr weit voneinander getrennt, sie lebte in Hamburg, er in Wien.

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Welche Vorstellungen hat die Psychoanalyse über die Entwicklung romantischer Beziehungen? Die psychoanalytischen Konzeptionen über romantische Beziehungen sind rar. Freud hat 1915 die Wahl eines neuen, nicht inzestuösen Liebensobjektes als Mittel zur Lösung des Ödipuskomplexes hypostasiert. Jahrzehnte später hat Blos (1973) ein kurzzeitiges homoerotisches Durchgangsstadium beschrieben, bevor der Jugendliche einen heterosexuellen romantischen Partner wählt. Laufer und Laufer (1984) haben dann die Bedeutung der Integration der physisch reifen Genitalien in das Körperbild herausgearbeitet, von der alle weiteren Entwicklungsschritte abhängen. Sie haben auch die starken Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen beschrieben und die zentrale Masturbationsphantasie, die am Ende der Adoleszenz, bezogen auf die Genitalien, ein nicht inzestuöses Objekt in der Phantasie enthält. Die Konsequenzen aus der psychoanalytischen Theorie über romantische Beziehungen sind, dass Jugendliche ihre Besetzung von den Eltern abziehen müssen. Während dieses Prozesses ergeben sich Verschiebungen in den Besetzungsenergien mit höherem Narzissmus bzw. Egozentrismus und auch stärkerer Nähe zu den gleichgeschlechtlichen Freunden. Schließlich wird ein neues heterosexuelles Liebesobjekt gefunden, das dennoch möglicherweise den Eltern ähnelt. Mit anderen Worten: Körper, Sexualität, Triebe und Eltern sind in den analytischen Theorien über romantische Beziehungen sehr prominent. Dagegen zeigt die entwicklungspsychologische Forschung und Theorienbildung einen ganz anderen Fokus auf.

Phasen der Entwicklung romantischer Beziehungen und der Bezug zur Psychopathologie Das erste Standardwerk über die Entwicklung romantischer Beziehungen entstand erst 1999 (Furman et al. 1999); im Deutschen gibt es überhaupt kein Buch darüber. Warum die späte Erforschung?, mag man fragen. Die meisten Forscher sahen romantische Beziehungen als trivial und auch vorübergehend an, also von geringer Bedeutung. Hinzu kam die Befürchtung, man würde durch eine Befragung zu ro-

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mantischen Beziehungen die Jugendlichen zur Sexualität verführen – eine Phantasie, die vor allen Dingen bei amerikanischen Forschern sehr verbreitet ist. Die jüngste Forschung zeigt beeindruckende Auswirkungen auf die Entwicklung. Einen romantischen Partner zu haben, steht in enger Beziehung zu einem positiven Selbstbild, zu mehr Konflikten in Beziehungen, unter anderem mit den Eltern. Romantische Beziehungen sind wichtig für die Zugehörigkeit und den Status in der Peergruppe und vor allen Dingen: Sie sind auch aus therapeutischer Sicht wichtig. Der frühe Beginn romantischer Beziehungen geht einher mit Problemverhalten wie Drogengebrauch, Alkohol und frühen sexuellen Erfahrungen, unter anderem deshalb, weil der romantische Partner in der Regel älter ist, vor allen Dingen bei Mädchen. Für Therapeuten ist allerdings interessant, dass es einige Studien gibt, die auch eine Zunahme an Depressivität an weiblichen Jugendlichen demonstrieren, die eine romantische Beziehung haben. Es sieht also ganz so aus, als stehe die Aufnahme romantischer Beziehungen – ein wichtiger Entwicklungsschritt zur Loslösung von den Eltern – in enger Beziehung zur Psychopathologie. Es deutet sich demnach an, dass dieser Entwicklungsschritt für Jugendliche nicht nur wahnsinnig spannend, sondern auch sehr belastend ist. Der Aufbau romantischer Beziehungen ist eine Entwicklungsherausforderung von ganz besonderer Art. Es handelt sich um einen Lernprozess, der insgesamt vier Stufen umfasst, wenn wir jetzt nur einmal das Jugendalter betrachten. Die folgenden Altersangaben sind wiederum nur grobe Orientierungsmarken. In der Initiationsphase, die etwa vom zwölften bis zum 14. Lebensjahr dauert, besteht die Hauptaufgabe darin, die beiden getrennten Welten von Jungen- und Mädchengruppen wieder miteinander bekannt zu machen. Man geht in Großgruppen aus, ein spezifischer Partner ist noch nicht ausgewählt, vielmehr ist der Hauptzweck das Wiedervertrautwerden mit dem anderen Geschlecht. Der Fokus liegt also stark auf der Identität, dem eigenen Selbst- und Körperkonzept der Person. Die romantischen Beziehungen sind sehr kurz (im Schnitt maximal drei Monate), sehr oberflächlich, aber dennoch sehr aufregend. Bei diesen frühen romantischen Beziehungen spielen Phantasien eine große Rolle. 34 Prozent der Mädchen und 24 Prozent der Jungen in

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diesem Frühstadium berichten davon, sich in einen Jungen bzw. ein Mädchen verliebt zu haben, dass der Betreffende aber noch nichts davon weiß. In der zweiten Phase, der Statusphase, die etwa vom 14. bis zum 15. Lebensjahr dauert, entwickeln Jugendliche Vertrauen in ihre Fähigkeiten, mit romantischen Partnern umzugehen, und haben verschiedene kurzzeitige romantische Beziehungen (Datingphase). Der Fokus wechselt vom Selbst zu den Freunden und Gleichaltrigen, also zu der Frage, ob man mit dem jeweiligen romantischen Partner gut in die Peergruppe hineinpasst oder nicht. Die romantischen Beziehungen fangen allmählich an, länger zu dauern (im Schnitt fünf Monate). Die dritte Phase, die »affection phase«, erstreckt sich von etwa 17 bis 20 Jahren. Wir finden nun eine Veränderung vom Kontext zur romantischen Beziehung selber. Der romantische Partner steht jetzt zum ersten Mal wirklich im Vordergrund. Die romantische Beziehung dauert jetzt vergleichsweise lang, durchschnittlich elf Monate, und hat etwas emotional und sexuell sehr Erfüllendes, aber auch Idealistisches. Die Bondingphase beginnt am Übergang zum Erwachsenenalter, etwa zwischen 21 und 24 Jahren. Die Beziehungen dauern nun recht lange, durchschnittlich 21 Monate. Die Qualität der Bindung aus der vorherigen Phase bleibt erhalten, der idealistische Aspekt nimmt aber ab, und das Ganze gewinnt eine eher pragmatische Qualität insofern, als man sich fragt, ob die Beziehung etwa eine längere Dauer hat und der romantische Partner als potenzieller langfristiger (Ehe-)Partner in Frage kommen könnte. Der Fokus liegt wiederum auf der Identität und den romantischen Beziehungen, weil nämlich das Paar in diesem Stadium wichtige Konflikte lösen muss, die sich zwischen Individualität und Verbundenheit bewegen. Die Altersangaben sind, wie gesagt, Orientierungsmarken, die ich selber in meinen eigenen Studien bestätigen konnte (Seiffge-Krenke 2001b, 2003). Auch die durchschnittlichen Monatsangaben für die Dauer entstammen aus meiner Längsschnittstudie, indem wir Personen im Alter von 14 bis 28 Jahren kontinuierlich untersucht haben.

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Welche Bedeutung hat dies für Therapeuten? Patienten, bei denen immer noch das Selbst oder die Wirkung auf die Bezugsgruppe sehr wichtig sind in ihrer romantischen Beziehung, sind in ihrer Entwicklung noch nicht reif, sie sind immer noch nicht angekommen bei einer echten Reziprozität und Intimität. Die erwähnte Stufenfolge gilt also für die Adoleszenz. Therapeuten werden aber möglicherweise in ihren Behandlungen mit erwachsenen Patienten Anklänge an diese qualitativen Stufen finden, die Hinweise auf eine Entwicklungsretardierung sein können. Die Frage, die man sich stellen könnte, ist, ob alle romantischen Beziehungen im Bondingstadium gleich sind. Wir fanden in der erwähnten Längsschnittstudie im Alter von 21 Jahren zwei unterschiedliche Gruppen: junge Erwachsene, die eine niedrige Bindung aufwiesen (»low bonded«), und solche, die eine hohe Bindung an den Partner aufwiesen (»highly bonded«). Beide Gruppen unterschieden sich nicht bezüglich der Formalia wie beispielsweise der Anzahl der Partner und der Dauer der romantischen Beziehungen. Aber die Qualität der Beziehung zum romantischen Partner und auch die Beziehung zu Eltern und Freunden unterschied sich. In meiner Längsschnittstudie zeigte sich in der Tat, wie Furman und Wehner (1994) postulieren, dass der romantische Partner mit zunehmendem Alter der Jugendlichen als Unterstützungspartner immer wichtiger wird. Ab dem Alter von 17 Jahren wurde er sogar noch wichtiger als die besten Freunde, und dies bleibt bis zum Alter von 21 Jahren und danach stabil. Dieses typische Entwicklungsmuster galt für die Mehrzahl der von uns untersuchten Jugendlichen, wobei zu bedenken ist, dass es sich bei diesen »Aufstiegswerten« um Summenwerte über verschiedene romantische Partner handelt, denn Partnerwahl und kurze Dauer der Beziehung sind ja typisch für diesen Entwicklungsabschnitt. Dagegen fanden wir keinen »Aufstieg« des romantischen Partners bei jungen »Low-bonded«-Erwachsenen. Ganz im Gegenteil, während ihrer Jugendzeit und danach hatten sie zu lange und inadäquat enge Bindungen an ihre Eltern: Dies verhinderte die Entwicklung von engen Beziehungen zum romantischen Partner. Welchen Einfluss hat die Bindung an die Eltern, gemessen mit dem Adult-Attachment-Interview? Die jungen Erwachsenen, die »highly

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bonded« in ihrer Partnerschaft sind, hatten überwiegend auch eine sichere Bindung an ihre Eltern. Es wird also deutlich, dass grundsätzlich eine sichere Bindung an die Eltern eine gute Voraussetzung ist. Andererseits verhindert eine zu lange und inadäquate Unterstützung durch die Eltern die Entwicklung von Beziehungen zum romantischen Partner. Bei der Vorhersage der Qualität der romantischen Beziehung ist es wesentlich wichtiger, wie die früheren romantischen Beziehungen zu verschiedenen Partnern aussahen, die Eltern spielen in diesem Alter als Modell noch keine ausschlaggebende Rolle. Dies gilt zumindest für deutsche Jugendliche, in anderen Ländern haben die Eltern eine größere Bedeutung als Modell (Seiffge-Krenke 2006).

Konflikte in romantischen Beziehungen und ihre Bedeutung für die Verbesserung der Beziehungen Mir ist in dieser Studie aufgefallen, dass das Lösen von Konflikten tatsächlich eine ganz entscheidende Fähigkeit ist (Seiffge-Krenke u. Nieder 2001) und die Qualität der Partnerbeziehung nach und nach auf ein höheres Niveau hebt. In dieser Studie fanden wir, dass die meisten Stressoren am Beginn der Beziehung bestanden. Dann wurden die jungen Paare zunehmend kompetenter im gemeinsamen Lösen dieser Konflikte. Dies wirkte sich wiederum positiv auf die Intimität aus. Sie waren also zudem besser in der Lage, romantische Stressoren kompetent zu bewältigen, und die kontinuierliche Bearbeitung von Beziehungsstressoren führte wiederum zur Verbesserung der Qualität ihrer romantischen Beziehungen. Was waren die Ursachen für Konflikte? Es ist einmal das unterschiedliche Intimitätsniveau bei Jungen und Mädchen, denn Mädchen haben im Vergleich zu Jungen bereits zwei Jahre früher ein hohes Intimitätsniveau entwickelt. Dies führt zu Kommunikationsbarrieren und Missverständnissen. Hinzu kommt die Reduzierung der mit den Freunden verbrachten Zeit. Ab dem Alter von 15 Jahren verbringt man weniger Zeit mit Freunden und mehr Zeit mit dem romantischen Partner (Seiffge-Krenke 2002). Dann gibt es natürlich Eifersucht in romantischen Beziehungen und auch kommunikative Missverständnisse, die auf sexuellen Beziehungen gründen, die unter anderem in

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dem Konzept des »date rape« gebündelt werden. Besonders schwierig und eine Ursache für viele Konflikte ist das Finden einer Balance zwischen Individualität und Verbundenheit. Allerdings sind erst Paare im jungen Erwachsenenalter dazu in der Lage, diese Konflikte anzuerkennen und angemessene Lösungen auszuhandeln. Jüngere Paare lassen solche Konflikte nicht aufkommen. Sie müssen verleugnet werden, weil sie die idealistische Beziehung bedrohen. Auch für die beiden bereits erwähnten Paare Modersohn/Becker und Rilke/Westhoff hatte die Balance zwischen Individualität und Verbundenheit eine große Bedeutung. Paula geht nach Paris, Otto bleibt zurück, die Beziehung leidet. Später erfolgt die Versöhnung. Otto kommt nach, Paula wird schwanger, geht mit Otto zurück nach Worpswede und stirbt zehn Tage nach der Geburt ihrer Tochter. Das Ehepaar Rilke bleibt nur ein Jahr mit seiner Tochter Ruth zusammen. Es erfolgt die Trennung von der einjährigen Ruth, das Paar geht nach Paris und wenig später jeder seine eigenen Wege (Schlaffer 1994).

Umsetzung im therapeutischen Raum Die entwicklungsfördernde Funktion von Freunden und romantischen Partnern wurde lange übersehen. Die Beziehung zu Freunden und romantischen Partnern entwickelt sich jeweils in einer spezifischen Stufenfolge. Viele kognitive und soziale Lernprozesse finden im Kontext dieser Beziehung zu Gleichaltrigen statt und beziehen sich auf die Identität, die Fähigkeit zur Emotionsregulierung, auf Empathie und Konfliktlösung. Konflikte und deren Bewältigung werden als ein wichtiges Mittel für die Entwicklung von Beziehungen herausgestellt. Sie heben Beziehungen auf ein höheres Qualitätsniveau. Wir finden spezifische Defizite bei unsicher gebundenen Kindern und Jugendlichen. Der Einfluss der Eltern als Modell ist wichtig, vor allem von der Bindungsbeziehung her. Dennoch verdeutlicht dieser Beitrag den besonderen eigenständigen Beitrag von Freunden und romantischen Partnern als »Instanzen im Schatten«, die die Entwicklung wesentlich vorantreiben. Sie sind umso bedeutsamer, je mehr familiäre Beziehungen defizitär und problematisch sind. Im therapeutischen Kontext ist daher im-

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mer auf die Art und Qualität der Freundschaftsbeziehungen und romantischen Beziehungen zu achten. Die zunehmenden Lernprozesse in der therapeutischen Beziehung lassen sich u. a. auch daran festmachen, dass Kinder und Jugendliche in der Folge dann qualitativ bessere Beziehungen zu Freunden und romantischen Partnern entwickeln.

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Inge Seiffge-Krenke

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Hartmut Radebold

Die Väter der Kriegskinder: abwesend und anwesend

War children’s fathers: absent and present In the second half of the 20th century discussions about the role and function of fathers became increasingly critical. Nonetheless, almost completely and worldwide these discussions neglected the kind of fatherly absence due to the Second World War and its consequences – an absence sometimes permanent (as in death) or sometimes stretching over a long period of time (as in the case of fighting in the war and/or being held prisoner of war). Furthermore, many fathers returned psychologically and/or physically harmed. Today – 60 years after the end of the war – syndromes of depression, post-traumatic disorder, relationship and intimacy disorders as well as restrictions of their psychosexual and psychosocial identity manifest themselves among the individuals who were children back then. In some, these disorders have existed over the lifespan. In some, traumas are reactivated or reinforced in old age. Of particular significance retroactively, seems to be the age at which individuals lost their fathers as well as protective factors present during that time. Despite preliminary research findings that are presented here, knowledge in this field is still insufficient.

Zusammenfassung Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend geführte kritische Diskussion über Rolle und Funktion von Vätern klammerte fast völlig und dazu weltweit die durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen bedingte väterliche Abwesenheit aus – sei es dauerhaft (Tod), sei es langfristig (Kriegsteilnahme und/oder Gefangenschaft). Dazu kehrten viele Väter psychisch/physisch versehrt zurück. Bei den damaligen Kindern/Jugendlichen zeigen sich heute – 60 Jahre nach Kriegsende – in größerem Umfang depressive Syndrome/posttraumatische Belastungsstörungen/Beziehungs- und Bindungsstörungen sowie eine eingeschränkte psychosexuelle und psychosoziale Identität. Diese bestanden teilweise lebenslang; teilweise zeigen sich in der Alternssituation Trauma-Reaktivierungen bzw. Verstärkungen. Als rückwirkend wichtig

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Hartmut Radebold

erscheinen das jeweilige Alter beim Verlust des Vaters sowie vorhandene protektive Einflüsse. Trotz erster referierter Forschungsergebnisse ist der diesbezügliche Kenntnisstand weiterhin unzureichend.

Zwei Feststellungen: Wir haben eine Geschichte, wir sind Geschichte, und wir verkörpern Geschichte. Und: 1945 waren wir zunächst Besiegte, später Befreite und jetzt dürfen wir uns zugestehen, dass wir auch Leidtragende waren! Was bedeuten daher für die so genannten »Kriegskinder« (das heißt für die Jahrgänge 1927/28 bis 1945/46) ihre belastenden, beschädigenden oder traumatisierenden zeitgeschichtlichen Erfahrungen für ihre damalige Lebenssituation, für ihre weitere Entwicklung in Kindheit, Jugendzeit, Erwachsenenalter und jetzt heute für ihre Alterssituation? Die statistischen Daten zur väterlichen Abwesenheit während des Zweiten Weltkrieges und in der direkten Nachkriegszeit (Zusammenfassung Radebold 2000, 2005) sind erschreckend. Im Ersten Weltkrieg gab es zwei Millionen Kriegstote und 2,7 Millionen Kriegsversehrte (körperlich, insbesondere durch Amputationen, Verletzungen und psychisch: Stichwort »Kriegszitterer«). Im Zweiten Weltkrieg kam jeder achte männliche Deutsche (vom Kind bis zum Greis) ums Leben; vermutlich 4,71 Millionen Todesfälle. In den Ostgebieten kam jede fünfte männliche Person ums Leben. Von den eingezogenen Männern fielen von den 20- bis 25-Jährigen 45 Prozent, von den 25- bis 30-Jährigen 56 Prozent, von den 30- bis 35-Jährigen 36 Prozent und von den 35- bis 40-Jährigen 29 Prozent. Die Geburtsjahrgänge ab 1920 (bezogen auf die Rekrutenzahlen) wiesen in der Regel Todesquoten von mehr als 30 Prozent auf. Die Gefallenen/Vermissten hinterließen mehr als 1,7 Millionen Witwen sowie fast 2,5 Millionen Halbwaisen und Vollwaisen. Ungefähr ein Viertel aller Kinder wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg auf Dauer ohne Vater auf. Im Frühjahr 1947 befanden sich noch 2,3 Millionen Kriegsgefangene in den Lagern der Alliierten und 900.000 in sowjetischen Lagern. 1947 wurden weitere 350.000 entlassen, 1948 rund 500.000 und 1949 weitere 280.000. Im Bundesgebiet wurden Ende 1950 über 2,1 Millionen »Kriegsbeschädigte« des Ersten und Zweiten Weltkrieges registriert.

Die Väter der Kriegskinder: abwesend und anwesend

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Leider waren Kindheit/Jugendzeit vielfach zusätzlich durch weitere zeitgeschichtliche Erfahrungen geprägt: – Miterleben zahlreicher Bombenangriffe/Ausbombungen, Miterleben der Städtezerstörungen und der »Feuerstürme« mit zahlreichen Opfern; – Evakuierungen (zusammen mit der Mutter und weiteren jüngeren Geschwistern) oder Kinderlandverschickungen (mit Trennung von der Mutter und der weiteren Familie); – Flucht (vor dem näher rückenden Krieg und/oder nach Hause); – Vertreibung mit Flucht und späterem Aufwachsen in einer fremden bis feindselig eingestellten Umwelt (Sprache, Religion, Lebensgewohnheiten etc.) mit der Folge häufigem langen Hungers, Verarmung und sozialem Abstieg der Eltern; – zusätzlicher Verlust der Mutter (Status als Vollwaise), weiterer Geschwister und näherer Verwandter (insbesondere Großeltern); – Gewalterfahrung (aktiv/passiv), z. B. Verwundungen, Tötungen, Vergewaltigungen. Die Interdisziplinäre Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE) zeigt, dass Betroffene im Durchschnitt drei bis vier derartige Erfahrungen in der Kriegszeit/direkten Nachkriegszeit machen mussten (Frey u. Schmitt 2003). Insgesamt wird von folgendem Ausmaß möglicher Betroffenheit (Radebold 2000) ausgegangen: – durch den Krieg und seine Folgen kaum beeinträchtigt aufgewachsene Kinder mit anwesendem Vater (sichere stabile familiale, soziale, materielle und wohnliche Verhältnisse (geschätzt 35 bis 40 Prozent); – Kinder mit zeitweiliger väterlicher Abwesenheit und zeitweilig eingeschränkten Lebensbedingungen (geschätzt 25 bis 30 Prozent); – Kinder mit lang anhaltender oder andauernder väterlicher Abwesenheit bei in der Regel gleichzeitig lang anhaltenden beschädigten Lebensumständen (geschätzt 25 bis 30 Prozent). Damit stellte die andauernde oder vorübergehende Vaterlosigkeit ein damaliges »Massen-Schicksal« dar im Sinne einer anormalen oder pathologischen Normalität. Die Väter waren kriegsbedingt in unterschiedlichen Entwicklungs-

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Hartmut Radebold

phasen ihrer Kinder abwesend. Es lassen sich verschiedene Gruppen (Radebold 2000, S. 135ff.; 2005) unterscheiden. Zu den endgültig abwesenden Vätern zählen: – als erste Gruppe diejenigen, die zwischen Zeugung und Ende des dritten Lebensjahres ihres Kindes gefallen sind, vermisst wurden oder in der Kriegsgefangenschaft oder im Lazarett verstarben. Dieser Vater bleibt lebenslang ein »Geist«, manchmal sogar ein bedrohliches »Gespenst«. Dieses wird – abgesehen von Fotos und Briefen – in der Regel lediglich durch die Mutter belebt und mit Erinnerungen und Persönlichkeitszügen ausgestattet. Oft handelte es sich um die erste Schwangerschaft bei einer Kriegsheirat (vor dem Feldeinsatz oder während des Fronturlaubs) ohne längere Bekanntschaft oder aufgrund nur sehr kurzer Zeit einer Partnerschaft – diese Mütter verfügen dann selbst über keine längeren Erinnerungen. Sehr selten verfügen die Dreijährigen über vereinzelte – wahrscheinlich durch Erzählungen stabilisierte – Erinnerungen an ihre Väter. – Die zweite Gruppe der endgültig abwesenden Väter bilden diejenigen, die zwischen dem vierten und zehnten Lebensjahr ihrer Kinder gefallen sind, vermisst wurden, in Kriegsgefangenschaft oder im Lazarett verstarben. Die erstgeborenen Kinder verfügen über ausreichende bis viele (beim Tod des Vaters in ihrem späteren Alter über entsprechend zahlreichere) Bilder von und Erinnerungen an diese Väter, die allerdings weitgehend aus den kurzen Fronturlauben stammen. Die Mütter hatten entsprechend längere Beziehungen zu den Vätern und ebenso (falls vorhanden) die älteren Geschwister. Dadurch sind in diesen Familien zahlreiche zusätzliche Erinnerungen vorhanden mit oft detaillierten Kenntnissen über das Elternhaus mit den Großeltern und anderen Verwandten, über seine Kindheit und Jugendzeit sowie über seine Persönlichkeitszüge, Interessen und vieles mehr. – Die dritte Gruppe der endgültig abwesenden Väter stellen diejenigen dar, die nach dem 10. Lebensjahr ihrer Kinder gefallen sind, vermisst wurden oder in Kriegsgefangenschaft oder im Lazarett starben. Diese Kinder verfügen über sichere eigene Erinnerungen aus der Vorkriegszeit und eher geringere von den Fronturlauben. Diese Kinder werden jetzt von ihren Müttern in die verpflichtende,

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vertraute oder sogar partnerschaftliche Position eingesetzt und damit frühzeitig zu Erwachsenen gemacht. Bei der zweiten und dritten Gruppe schrumpft die mögliche Erinnerungszeit dadurch, dass diese Väter teilweise schon 1939/40 eingezogen wurden und nur noch zu Fronturlauben zurückkehrten. Zu den zeitweise abwesenden Vätern zählen diejenigen, die nach langer Kriegszeit (eingezogen bereits 1939 oder 1940) oder langer Kriegsgefangenschaft (unter Umständen bis 1951) zu unterschiedlichen Zeitpunkten der psychosexuellen und psychosozialen Entwicklung ihrer Kinder zurückkehrten. Auf jeden Fall sind sie zunächst und oft sehr lange ihren Kindern »unbekannt«; häufig sind sie und bleiben sie chronisch, physisch und psychisch beeinträchtigt oder krank (also Invaliden); der soziale Aufstieg gestaltet sich öfter schwierig oder misslingt. Sie erweisen sich in jedem Fall als ganz andere: Sie sind ganz anders, als man sie in Erinnerung hat oder sich nach den Erzählungen von Mutter und älteren Geschwistern vorstellt; die Kinder haben sich selbst verändert und befinden sich in heftiger Konkurrenz, ödipaler Auseinandersetzung oder pubertärer Ablösung. Die Väter empfinden sich selbst auch als veränderte Menschen, die den Aufgaben als Ehemänner, Väter und Ernährer so – zumindest für einen langen Zeitraum – nicht mehr nachkommen können. Ein kleinerer Teil dieser Väter stirbt später an den Folgen der im Krieg erworbenen Krankheiten und Verletzungen. Öfter trennen sich auch die Eltern; die Kinder verlieren ihre Väter erneut. Als fünfte Gruppe lassen sich die innerlich abgekapselten und damit auf diese Weise dauerhaft psychisch abwesenden Väter beschreiben. Sie kamen als eher jüngere Erwachsene nach längerer Kriegsteilnahme äußerlich unversehrt zurück und setzten dann ihre berufliche Tätigkeit erfolgreich mit weiterem sozialen Aufstieg fort. So erlebten ihre Kinder – auch im deutlichen Kontrast zu anderen Schicksalen – eine »heile Welt« ohne größere Einschränkungen oder Mängel. Diese Väter konzentrieren sich auf ihre berufliche Arbeit, gestalten die Beziehungen zu ihrer Frau und ihren Kindern karg und verwirklichen erziehungsmäßig bestimmte, durch ihre Kriegserfahrungen offenbar bestätigte, in der Regel rigide Erziehungsideale, die in fataler Weise an Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädchen erinnern. Die gegen Ende

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Hartmut Radebold

des Kriegs oder danach geborenen Kinder können die offensichtlich erfolgten Veränderungen dieser Väter (innere Abkapselung bei äußerlich überspielendem und überaktivem Verhalten, zum Teil mit Suchtzügen) nicht erkennen, da sie diese Väter nicht von früher kennen. Nur die Mütter kennen die Männer aus der Vorkriegszeit oder der Anfangszeit des Kriegs und können diese Veränderung auch teilweise eindeutig benennen. Als sechste Gruppe müssen die während des Krieges dauerhaft anwesenden, aber innerlich nicht erreichbaren Väter beschrieben werden. Sie waren aufgrund ihrer beruflichen Position/Bedeutung uk. (= unabkömmlich) gestellt. Sie sind familiär die ganze Zeit anwesend, das heißt selbst bei Ausbombung/Evakuierung oder Kinderlandverschickung regelmäßig erreichbar. Dennoch sind sie psychisch für ihre Kinder unerreichbar oder reagieren innerlich völlig abgekapselt. Eine weitere Gruppe stellen die aufgrund von Erkrankungen/Behinderungen (teilweise Kriegsversehrte des Ersten Weltkrieges) oder aufgrund ihres Alters nicht mehr eingezogene Väter, die sich oft ebenso verhalten. Wie wirkte sich diese spezifische väterliche Abwesenheit aus? – Die Symbiose mit der Mutter entwickelte sich oft aufgrund einer Ein-Kind-Situation und wurde begünstigt durch die anhaltende Witwenschaft sowie durch die räumliche Nähe (Ausbombung, soziale Situation, Unterbringungsnot). – Die Parentifizierung machte gerade aus den ältesten Kindern (insbesondere auch Söhnen) früh »kleine Erwachsene«. Einerseits übernehmen sie vielfache Aufgaben, die sie oft stolz machen, aber auch überfordern. Anderseits sind sie anstatt anderer möglicher realer Erwachsener die einzige vertraute Person der Mutter. – Auch die familiären Delegationen überforderten sie: Sie sollten das nicht gelebte oder beeinträchtigte Leben von Vater und Mutter ersetzen; alle Verluste wieder gutmachen und endlich den sicherheitsgebenden sozialen Aufstieg verwirklichen. – Die Erziehung der Kinder erfolgte nach einem (unbekannten und auf keinem Fall überprüfbaren) väterlichem Ich-Ideal mit deutlich normsetzenden Über-Ich-Anteilen. Oft positiv getönt reichte die Palette allerdings auch von »wenn das dein Vater wüsste« bis zu dem Vorwurf »du bist genauso wie dein Vater«.

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– Oft mangelte es in Familien an Trauermöglichkeiten: Sei es, dass es keinen Ort oder keine Möglichkeit zur Trauer gab; sei es, dass die vermissten Väter jahrzehntelang nicht für tot erklärt werden durften; sei es, dass die abgekapselte Trauer der Mütter den Kindern nicht vermittelt werden konnte. So fanden die Kinder, insbesondere die Söhne, kaum Zugang zu Gefühlen. Leider verhinderten zwei weitere Einflüsse die grundsätzlich bestehenden Möglichkeiten der Abschwächung dieser zeitgeschichtlichen Erfahrungen: – Bereits der Erste Weltkrieg führte zu zwei Millionen Kriegstoten und 2,7 Millionen zurückgekehrten psychisch und physisch beschädigten Vätern. So ließen sich 1926/27 in vielen Schulklassen bis zur Hälfte vaterlos aufwachsende Kinder, insbesondere Jungen, antreffen (Clauß 1931). Die Hilfestellung für sie und ihre Mütter wurde damals als wichtige gesellschaftliche Aufgabe angesehen – nach unserem Kenntnisstand erfolgte diese Hilfestellung jedoch nicht. Somit verfügten diese »Kriegskinder« des Ersten Weltkrieges über kein sicheres inneres Bild der Väter im Sinne des »ödipalen Übergangsraumes« (Ogden 1955, zit. nach Schlesinger-Kipp 2003). Entsprechend fiel es ihnen schwer, als Erwachsene väterliche oder mütterliche Aufgaben zu übernehmen. – Dazu fehlten oft die bekannten protektiven Einflüsse oder waren nur in sehr abgeschwächter Form vorhanden: so eine stabile Mutter-Kind-Beziehung, eine heile Großfamiliensituation, andere Männer gleichen Alters als Ersatz für die Väter sowie soziale Sicherheit. Aus dieser Perspektive stellt diese kriegsbedingte vorübergehende, insbesondere aber dauerhafte väterliche Abwesenheit eine besondere gegenüber heutigen Möglichkeiten väterlicher Abwesenheit dar: Damals gab es kaum gleichaltrige Männer, die für die Frauen Partnerersatz und für die Kinder Vaterersatz sein konnten. So kamen zum Beispiel in Berlin nach dem Krieg auf 170 Frauen im Alter zwischen 20 und 40 lediglich 100 (und dazu eben noch kriegsgeschädigte) Männer. Außerdem war die Zahl der Ehescheidungen zwischen 1945 und 1950 doppelt so hoch wie vorher und nachher. Selbst wenn die Väter heute

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Hartmut Radebold

ihre Familien verlassen, bleiben sie biologisch präsent: Sie können erreichbar sein; man kann sie besuchen/bei ihnen wohnen und oft geht die Mutter neue Beziehungen ein. Dazu leben überall jüngere Männer, so als Lehrer, im Sportverein, oder einige Freunde/Freundinnen verfügen über stabile Beziehungen zu Vätern. Ebenso fehlen heute Hunger/Unterernährung, Verarmung oder soziale Not im Vergleich zu damals weitgehend. Hatte die (teilweise lebenslange) Abwesenheit der Väter auch lebenslange Folgen? Meine Feststellungen stützen sich auf meine eigenen psychoanalytischen Forschungen und auf inzwischen vorliegende Befunde aus Längsschnitts- und Querschnittsuntersuchungen. Für den deutschsprachigen Raum belegten meine Forschungen spätestens ab 1980, dass Psychotherapie Älterer (das heißt jenseits des 55./60. Lebensjahres) möglich, sinnvoll und auch katamnestisch nachgewiesen langfristig erfolgreich ist (Zusammenfassung bei Radebold 1992). Ab 1985 interessierte mich die Frage, inwieweit bei über 50-jährigen Erwachsenen nach Wegfall neurotischer Einengungen weitere Entwicklungen im Lebenszyklus wie auch Veränderungen von Persönlichkeitsstrukturen möglich werden. So behandelte ich ab 1985/86 insgesamt 19 Erwachsene zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr durch Psychoanalysen (10 Patientinnen und Patienten) und langfristige Psychotherapien (9 Patientinnen und Patienten). Sie alle zeichneten sich durch folgende Charakteristika aus: – Die bekannte Relation von psychotherapiesuchenden Frauen zu Männern kehrte sich um: Zwölf der Patienten waren Männer, sieben Frauen. – Sie litten an mittelschweren depressiven, funktionellen und psychosomatischen Symptomen, die sich nach dem 45./50. Lebensjahr allmählich verstärkten. – Sie sahen sich als lebenslang »funktionierend« und insgesamt beruflich erfolgreich an. – Sie wurden durch ein Gefühl verunsicherter, manchmal auch unbekannter psychosexueller und psychosozialer Identität geprägt. – Ihrer Kindheit/Jugendzeit im Zweiten Weltkrieg und danach maßen sie keine Bedeutung für ihre jetzige Symptomatik zu und – sie suchten eine psychotherapeutische Behandlung eindeutig bei einem »älteren erfahrenen Mann«.

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Als ich 1989/1990 parallel sechs bis sieben Patienten dieser Gruppe langfristig behandelte, reagierte ich selbst allmählich depressiv: Ich zog mich innerlich zurück, kapselte mich in meiner Arbeit ab, wirkte für meine Umwelt resigniert und fing an, erneut die mir aus meiner Kindheit bekannten Träume des »Alleinseins auf langen staubigen Straßen« zu träumen. Hatte ich zunächst den Verdacht einer »Midlife-Crisis« eines 55-jährigen Mannes, so begriff ich allmählich beunruhigt und schmerzlich, dass ich als »Kriegskind hinter der Couch« viele »Kriegskinder auf der Couch« behandelte. Meine zwar hinsichtlich der Fakten bewusste, aber bezüglich der schmerzlichen Erinnerungen, Gefühle und Konflikte abgespaltene und weitgehend verdrängte Kindheitsgeschichte hatte mich wieder eingeholt (s. insgesamt Radebold 2000, S. 74ff.). Mit Hilfe einer langen Selbstanalyse erreichte ich eine erneute und dazu nach dem Eindruck meiner Frau und meiner Umwelt lebendigere Stabilität. Ich konnte dazu erstmals wirklich von meinem Vater Abschied nehmen. Er wurde 1939 sofort bei Kriegsbeginn eingezogen und erlag 1945 seinen Kriegsverletzungen. Bei all diesen 19 Patientinnen und Patienten war der Vater langfristig oder dauerhaft abwesend oder unerreichbar. Alle (bis auf eine einzige Ausnahme) verfügten über mehrfache, zu Anfang beschriebene, belastende bis traumatisierende Erfahrungen. Sie wuchsen teilweise in lang anhaltender Verarmung mit Hunger/Unterernährung und schlechten sozialen Startchancen auf. Ihre biografische Entwicklung, ihre Familienkonstellation, ihre Symptome/Konflikte wie auch ihre Behandlungen einschließlich der Katamnese wurden anhand der zehn durchgeführten Psychoanalysen ausführlich dargestellt (s. Radebold 2000, S. 41ff.). Als bis in das mittlere/höhere Erwachsenenalter anhaltende Störungen lassen sich bei ihnen beschreiben: – eine verunsicherte psychosexuelle und psychosoziale Identität; – Beziehungs- und Bindungsstörungen (aufgrund der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehungen); – eine Unkenntnis eigener Wünsche, Bedürfnisse aufgrund der Parentifizierung, der familiären Delegationen und des erworbenen Altruismus. – Dazu zeigten sich die typischen und bekannten Verhaltensweisen

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der sogenannten »Kriegskinder« wie freundliches Angepasstsein, »Funktionieren«, bedürfnislos, organisierend/planend und sich absichernd, skeptisch bis manchmal misstrauisch gegenüber ihren und in ihren Beziehungen sowie eher konfliktscheu. Der Verlauf ihrer langfristigen Behandlungen (Radebold 2000, S. 106ff.) verdeutlichte erneut die bestehende Vaterproblematik bzw. Vaterlosigkeit: Die erste (monate- bis jahrelang anhaltende) Phase war die des Misstrauens (mir gegenüber und insbesondere gegenüber einer möglichen Beziehung). Die Patientinnen und Patienten »funktionierten wie in der Schule . . . «. In der zweiten Phase der vorsichtigen Annäherung entdeckten sie mich als Bezugsperson mit »väterlichen«, aber auch »mütterlichen« Zügen. Die dritte Phase umfasste die Suche nach dem Vater – gefühlsmäßig, symbolisch und real (zunächst als älterer Bruder gewünscht, bestand dann eine klassische »Vater«-Übertragungskonstellation). Die nie an den Vater gestellten Fragen wurden formulierbar, und alle konnten um seinen Verlust trauern. Die fünfte Phase umfasste die Suche nach erweiterter eigener Identität im Sinne von »Was will ich jetzt selbst?«. Die sechste Phase des Vertrautwerdens mit der gewonnenen Identität und dem Abschied von dem Vater ermöglichte, bewusst und auf jeweils eigene Weise mit Trauer von dem Analytiker Abschied zu nehmen und somit erstmals einen Abschied direkt zu erleben und zu durchleben. Die katamnestische Untersuchung – teilweise mehrere Jahre nach Behandlungsschluss – erbrachte ein sowohl für die Betroffenen als auch für mich sehr befriedigendes Ergebnis: Sie waren sich ihrer psychosexuellen und psychosozialen Identität sicher und konnten Wünsche, Bedürfnisse durchsetzen und leben; ihre inter- und intragenerationellen Beziehungen waren erwachsenengerecht geklärt, und sie lebten jetzt in stabilen Beziehungen; Parentifizierungen und familiäre Delegationen waren weit zurückgetreten, oder sie hatten sich von ihnen abgelöst; sie waren in der Lage, anfallende Entwicklungsaufgaben wie auch notwendige Veränderungen/Anpassungen aktiv anzugehen (Radebold 2000, S. 139ff.). Die Mannheimer-Kohorten-Längsschnittuntersuchung (Franz et al. 1999, 2004) belegt für diese Gruppe (bei den Jahrgängen 1935 und 1945) ein statistisch signifikantes hohes Risiko psychogener Beein-

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trächtigung im mittleren und höheren Erwachsenenalter. Aktuelle Querschnittsuntersuchungen (Brähler et al. 2004) verdeutlichen, dass vaterlos Aufgewachsene eine stärkere Depressivität, ein deutlicheres Misstrauen gegenüber anderen Menschen und eine psychische Ermüdung zeigen. Insgesamt kann man von deutlich stärkeren sozialen Einschränkungen und einer negativeren Befindlichkeit ausgehen. Meine Patientengruppe verdeutlichte mir nicht nur die lebenslangen Folgen väterlicher Abwesenheit in Kindheit/Jugendzeit, sondern ebenso das lebenslange Fehlen eines erlebbaren Modells Mann (Radebold 2000, S. 128ff.; Schulz et al. 2004). Wenn der Identitätsbildungsprozess ein Leben lang eine seelische Integrationsarbeit erfordert, so muss aus der Sicht einer auf den gesamten Lebenslauf bezogenen psychoanalytischen Entwicklungspsychologie (Radebold 1992, 2002) gefragt werden, welche Bedeutung den Vätern anschließend für das gesamte Erwachsenenalter ihrer Kinder im Sinn eines »good enough fathering throughout the life-cycle« zukommt. Der Vater – jeweils aufgrund des Generationszyklus in der Entwicklung 25 bis 30 Jahre voraus – zeigt seinen nachfolgenden Söhnen (aber auch seinen Töchtern) ein mögliches reales Modell, wie man sich weiterentwickelt, insbesondere dadurch, – wie er trotz der Wirren und Abgrenzungen infolge ihrer Pubertät/Adoleszenz die Beziehung zu ihnen verlässlich aufrechterhält, weiterentwickelt und schließlich erwachsenengerechter gestaltet; – wie er Freundin und Freund und später Schwiegertochter und Schwiegersohn akzeptiert, in die Familie integriert und eine eigene Beziehung zu ihnen aufbaut; – wie er seine Entwicklungsphasen vom mittleren bis zum hohen Alter durchläuft und bewältigt und wie er jeweils die anfallenden psychosozialen und psychosexuellen Entwicklungsaufgaben wahrnimmt; – wie er sich die jeweils erforderlichen Lebensstrukturen (Levinson 1979) schafft und sich ihnen (im Bedarfsfall) anpasst; – wie er lebenslang die intra- (insbesondere zur Ehefrau oder Partnerin, zu Geschwistern und Freunden) und die intergenerationellen (insbesondere zu seinen Eltern und Schwiegereltern und eben seinen Kindern, aber auch Enkelkindern) Beziehungen gestaltet und verändert;

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– wie er bedrohliche Veränderungen (Arbeitsplatzwechsel, -verlust oder Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess oder Krankheiten) erträgt und bewältigt; – wie er seinen Interessen und Fähigkeiten nachgeht, wie sich diese während des Lebensablaufs ändern und wie er parallel soziale Aufgaben und Verantwortung übernimmt; – wie er den langen Prozess seines Alterns gestaltet und dabei sowohl die bestehenden Möglichkeiten erforscht und ausschöpft als auch – wie er auf die potenziell zunehmenden physischen, psychischen und sozialen Veränderungen reagiert und schließlich – wie er stirbt. Dieses durch den Vater vermittelte Modell ermöglicht eine Erfahrung. Bestimmt nicht immer als Vorbild anzusehen, gestattet diese Erfahrung jedoch dem Sohn, zukünftige eigene Entwicklungsphasen kennen zu lernen, Anteile davon für sich zu übernehmen oder sich umgekehrt davon abzugrenzen sowie in eigenen innerlich unsicheren Situationen auf vorhandene männliche Vorbilder (und Vorbilder der Eltern insgesamt) zurückzugreifen (Radebold 2000, S. 128ff.). Bei lebenslang abwesenden Vätern und dazu noch bei ringsum fehlenden geeigneten Männern entsprechenden Alters bestehen diese Möglichkeiten für die notwendigen eigenen weiteren Entwicklungsschritte nicht. Inwieweit wurden die Männer der Jahrgänge 1927/28 bis 1946/47 in der Wissenschaft als Väter wahrgenommen? Der Tatbestand massenhafter väterlicher Abwesenheit wurde zwar nach dem Krieg kurzfristig konstatiert; die wenigen vorliegenden sozialwissenschaftlichen Untersuchungen diskutierten allerdings die Veränderungen der Familienstruktur und innerhalb dessen die Veränderungen der väterlichen Position (das heißt der zurückgekehrten Väter!). Normsetzend für die psychoanalytische Fachwelt waren die Bücher »Eltern, Kind und Neurose« von Richter (1963) sowie die Bücher von Mitscherlich »Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft« (1963) und von Mitscherlich und Mitscherlich »Die Unfähigkeit zu trauern« (1968). Richter beschreibt die wieder vorhandene Familie, das heißt Mutter und Vater. Nur ein einziges seiner aufgeführten Beratungsbeispiele bezieht sich noch auf eine frühe kriegsbedingte väterliche Abwesenheit bei einem Jungen und die Folgen. Mitscherlich klammert bewusst die reale Va-

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terlosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus und bezieht sich ausschließlich auf die sozialpsychologischen und damit gesellschaftlichen Auswirkungen der veränderten väterlichen Rolle. Unbekannt ist, wie er auf die bestimmt bei vielen seiner männlichen Patienten erlebbare kriegsbedingte Vaterlosigkeit reagiert hat. Das zusammen mit seiner Frau verfasste Buch gibt die Reihenfolge möglicher Trauer vor: zunächst über den Verlust des narzisstisch besetzten Führers Adolf Hitler und dann erst über die eigenen familiären Verluste. Entsprechend war das familiäre Trauern so nicht erlaubt. Offensichtlich wurde dabei die Trauma-Theorie von Freud nicht genügend berücksichtigt (Bohleber 2000). Anschließend setzten sich die 68er aggressiv und vorwurfsvoll mit ihren (allerdings zurückgekehrten!) Vätern auseinander. Mehrere Jahrzehnte waren dann Männer als Väter sowohl in der öffentlichen als auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung bedeutungslos. Seit einem Jahrzehnt zunehmend durchgeführte Untersuchungen und Langzeitstudien belegen erneut, dass eine Kindheit mit nur einem Elternteil lebenslang negative Folgen haben kann. Wenn der Vater fehlt, leidet das Kind – aber auch die Gesellschaft und das Gesundheitssystem. Zurzeit wachsen in Deutschland 2,2 Millionen Kinder bei nur einem Elternteil auf, der Großteil bei allein erziehenden Müttern (Stöcker 2004). Erst allmählich wird bewusster, dass gerade die Situation des Alterns und Altseins ein hohes Risiko für die Verstärkung lebenslanger Folgen oder für ihre erstmalige Manifestation darstellen kann (Radebold 2000, 2005; Schulz et al. 2004): Die Lebenssituation nach dem 60. Lebensjahr stellt sich oft als Leere ohne berufliche Identität und berufliche Stabilisierung dar. Angesichts noch begrenzter Lebenszeit stellt sich die Frage »War das alles?«. Dazu sterben jetzt die Mütter, die lebenslang in einer symbiotischen Beziehung Schutz, Sicherheit und Stabilität gewährleisteten. Die allmählich zunehmende Einforderung als Großvater konfrontiert erneut mit den schon einmal erlebten langfristigen Schwierigkeiten, Vater zu sein. So können sich gerade in der Situation des Alterns und insbesondere bei zunehmender Hilfsbedürftigkeit/Abhängigkeit Trauma-Reaktivierungen oder Re-Traumatisierungen ergeben (Heuft 1999). Besonders bedroht dabei sind diejenigen, die aufgrund ihrer damaligen zeitgeschichtlichen Erfahrungen lebenslang über eingeengte Entwicklungschancen ver-

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fügten, unter eingeengten oder gestörten Beziehungs-/Bindungschancen sowie an verunsicherter psychosexueller und psychosozialer Identität litten. Kann man so Betroffenen in ihrer Alterssituation überhaupt helfen? Wie kann man ihnen helfen? Keinesfalls dürfen sie von vornherein als behandlungsbedürftige Patienten angesehen werden. Folgende Möglichkeiten einer Hilfestellung (Radebold 2005) erscheinen gegeben: – Information über jetzt vorliegende Bücher, durch Filme oder mit Hilfe von Tagungen (zum Beispiel an den evangelischen und katholischen Akademien); – gezielte bewusste Suche nach der eigenen biografischen Entwicklung unter dem Aspekt »Mir ist doch etwas Schreckliches passiert, aber ich bin nicht daran schuld«; – Verschriftlichung der eigenen Biografie (mit dem therapeutisch wichtigen Schritten von der Benennung von Gefühlen und Erlebnissen, ihrer Fassung in Worte/Begriffe und in eine Erzählung); – Mitteilung der eigenen Biografie an die private und soziale Umwelt (Partner/Partnerin, Kinder/Freunde wie auch durch Verfassen einer Biografie) und/oder – Teilnahme an einem Gesprächskreis von Kriegskindern (zurzeit in Beratungsstellen, psychosomatischen Kliniken etc. angeboten, z. B. Schlesinger-Kipp 2004). – Eine unverändert mögliche Psychotherapie (Heuft et al. 2000; Radebold 2005) kann abzielen 1.) auf die spezifische Behandlung damaliger schwerer Traumatisierungen (unter Umständen auch mit Hilfe einer krisenstationären Krisenintervention); 2.) auf den endgültigen Abschied vom Vater mit Hilfe eines Trauerprozesses innerhalb einer tiefenpsychologisch fundierten/psychoanalytischen Fokaltherapie oder 3.) auf die Klärung der eigenen Biografie anlässlich einer akuten Trauma-Reaktivierung. Angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung für 60-jährige Männer von zurzeit weiteren 19 bis 20 Jahren und für 60-jährige Frauen von zurzeit weiteren 22 bis 24 Jahren ist dies eine wichtige Zielsetzung, um eine erneute psychische Stabilisierung zu erreichen. Auf jeden Fall bleibt die Beziehung zu den unbekannt gebliebenen und im Krieg verstorbenen Vätern höchst ambivalent: sehnsuchtsvoll, fra-

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gend, skeptisch und vorwurfsvoll. Die Sehnsucht nach einem Vater, der beschützt und fördert, den man lieben, bewundern und als Vorbild verehren kann, an dem man sich anlehnen und den man alles fragen kann, bleibt lebenslang. Oft versuchte man, sich diese Sehnsucht mit Hilfe anderer Männer zu erfüllen, aber diese konnten oder wollten diese sehnsuchtsvollen Wünsche meist nicht erfüllen. Ebenso bleiben lebenslang Fragen: Liebte er mich wirklich? Liebte er mich mehr oder anders oder besonders im Vergleich zu meinen Geschwistern? Freute er sich über mich? Mochte er mich so, wie ich bin, zu allen Zeiten, mit all meinen Seiten? Akzeptierte er mein Anderssein und meine Ablösungsversuche? Was hat er im Krieg gemacht? Was hat er gewusst? Hätte er sich nach dem Krieg damit auseinander gesetzt und dazu noch mit mir darüber geredet? Hätte er (mit seinem Können, aber auch mit seinen Verletzungen) unser Leben in Armut, sozialem Abstieg, bei großem Hunger verändern können? Wäre dieses Leben so gar nicht aufgrund seiner Anwesenheit eingetreten? Ebenso bleibt die Skepsis: Wenn ich alle diese Väter ringsum sehe: Wäre er wirklich anders gewesen? Hätte er mir auch gegen Mutter beigestanden? Hätte er mir wirklich die Wahrheit über den Krieg erzählt? Wäre er wirklich ein Vater gewesen, wie ich ihn mir gewünscht hätte? Ebenso bleiben die gegenüber einem Toten so schwer zu äußernden Vorwürfe: Warum musstest du überhaupt in diesen Krieg gehen? Warum konntest du dich nicht wie andere Väter entziehen? Musstest du wirklich alles mitmachen? Warum hast du dich und damit uns aufgegeben? Warum hast du uns verlassen? Warum? Warum? Wir haben eine Geschichte, wir sind Geschichte, und wir verkörpern unsere Geschichte. Wir müssen aufpassen, dass uns Ältere diese Geschichte nicht für den Rest unseres Lebens beschädigt oder gar zerstört. Wir müssen darauf hoffen, dass unsere Söhne und Töchter jetzt als Psychotherapeuten unsere damaligen Erfahrungen und unsere heutige Situation verstehen und dass sie bereit sind, uns zu helfen und ihre eigenen schwierigen Erfahrungen mit uns uns nicht lebenslang verübeln.

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Literatur Bohleber, W. (2000): Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Psyche (54): 797–839. Clauß, K. (1931): Mutter und Sohn. Vom Werdegang vaterloser Halbwaisen in: Kroh, O. (Hg.): Pädagogische Untersuchungen. VI. Reihe: Schwererziehbare und Erziehungsschwierigkeiten. Langensalza, S. 1–104. Decker, O.; Brähler, E.; Radebold, H. (2004): Kriegskindheit und Vaterlosigkeit – Indizes für eine psychosoziale Belastung nach 50 Jahren. ZPPM (2): 33–42. Franz, M.; Liebherz, K.; Schmitz, N.; Schepank, H. (1999): Wenn der Vater fehlt. Epidemiologische Befunde zur Bedeutung früher Abwesenheit des Vaters für die psychische Gesundheit im späteren Alter. Z. psychosom. Med. (45): 260–278. Franz, M.; Liebherz, K.; Schepank, H. (2004): Das Fehlen der Väter und die spätere seelische Entwicklung der Kriegskinder in einer deutschen Bevölkerungsstichprobe. In: Radebold, H. (Hg.): Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen. Gießen, S. 45–56. Frey, C.; Schmitt, M. (2003): Kindheitsbelastungen und psychische Störungen im Erwachsenenalter. In: Radebold, H. (Hg.): Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen. psychosozial (26): 33–38. Heuft, G. (1999): Die Bedeutung der Trauma-Reaktivierung im Alter. Z. Gerontol. Geriat. (32): 225–230. Heuft, G.; Kruse, A.; Radebold, H. (2000): Lehrbuch der Alterspsychotherapie und Gerontopsychosomatik. 2.Aufl. München, 2006. Levinson, D. (1979): Das Leben des Mannes. Köln. Mitscherlich, A. (1963): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. München. Mitscherlich, A.; Mitscherlich, M. (1968): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München. Ogden, T. (1995) Frühe Formen des Erlebens. Wien u. New York. Radebold, H. (1992): Psychodynamik und Psychotherapie Älterer. Berlin u. Heidelberg. Radebold, H. (2000): Abwesende Väter und Kriegskindheit. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen. 3. Aufl. Göttingen, 2004. Radebold, H. (2002): Psychoanalyse und Altern oder: Von den Schwierigkeiten einer Begegnung. Psyche (56): 1031–1060. Radebold, H. (2005): Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Pflege und Seelsorge. 2. Aufl. Stuttgart, 2005. Richter, H. (1963): Eltern, Kind und Neurose. Stuttgart. Schlesinger-Kipp, G. (2003): Psychoanalytische Behandlungen von KriegsKindern. In: Radebold, H. (Hg.): Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen. psychosozial (26): 23–32. Schlesinger-Kipp, G. (2004): »Meine Kindheit im Krieg und auf der Flucht« – Gesprächskreis mit 60- und 70-Jährigen. Psychotherapie im Alter (3): 67–78.

Die Väter der Kriegskinder: abwesend und anwesend

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Schulz, H.; Radebold, H.; Reulecke, J. (2004): Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. Berlin. Stöcker, C. (2004): Wenn dem Kind der Vater fehlt. Süddeutsche Zeitung vom 9. 9. 2004.

Rainer Schmidt

Nachgedanken zur Lesung aus meinem Roman »Rückkehr mit Marek – Eine masurische Kindheit«

A reading from my novel »Return with Marek – a Mazurian childhood« – afterthoughts After reading from his largely autobiographical novel the author follows up on some fundamental ideas that he formulates. Primarily he is convinced of humans’ inextricable link with their story and with the larger context of their cultural circumstances. In this sense his protagonist Ürgend goes on a journey with Marek, his alter ego from his dreams, traveling, by memory, into his childhood during the Nazi regime. The author regards this movement – in accordance with his understanding of individual psychology – as a creative regression. It encourages revisiting old images that have been kept in the soul, some suppressed, some not understood. It also serves to restructure, understand and come to peace with all that is past.

Zusammenfassung In seinen Nachgedanken zur Lesung aus seinem in großen Teilen autobiographischen Roman geht der Autor einigen Grundlinien des Buches nach. Im Vordergrund steht die Überzeugung von dem unauflösbaren Eingebundensein des Menschen in seine Geschichte und in den größeren Bedingungsrahmen seiner Kultur. In diesem Sinne begibt sich sein Romanheld Ürgend mit Marek, der als ein Alter Ego aus seinen Träumen kam, auf eine Reise des wiederkehrenden Erinnerns in seine Kindheit während der Nazizeit. Der Autor sieht in dieser Bewegung – ganz seinem Verständnis von Individualpsychologie folgend – eine schöpferische Regression. Sie dient der Wiederbegegnung mit alten, in der Seele bewahrten, teils zu verdrängen versuchten, teils unverstandenen Bildern, der Neuordnung, dem Verstehen und vor allem dem Frieden mit all dem Vergangenen.

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In seinem Vortrag »Die Väter der Kriegskinder: abwesend und anwesend« wie in seinem Buch »Abwesende Väter und Kriegskindheit« formulierte Hartmut Radebold folgenden Satz: »Für mich lautet das Fazit: ›Wir haben eine Geschichte und wir sind Geschichte – wir tragen sie in uns und wir verkörpern sie‹« (Radebold 2004, S. 16). Dieser Aussage kann ich voll zustimmen, sie steht für mich im Zentrum jeder tiefenpsychologischen Betrachtung. Die Überzeugung von dem unauflösbaren Eingebundensein des Menschen in seine Geschichte und in den größeren Bedingungsrahmen seiner Kultur stand immer im Mittelpunkt meines Denkens über das seelische Bewegtsein des Menschen und der (größtenteils unbewussten) Motivationen seines Fühlens und Handelns. Das Selbstverständnis meiner Tätigkeit als individualpsychologischer Psychoanalytiker war geprägt von dieser Grundüberzeugung. Dieser Linie folgt auch mein autobiographischer Roman »Rückkehr mit Marek«. Die Absicht, dieses Buch zu schreiben, hat mich mein ganzes Erwachsenenleben hindurch begleitet und Vorformen dazu entwarf ich schon in früheren Jahren. Es ging mir dabei um Identitätssuche und Identitätsversicherung, indem ich mich meinen »Instanzen im Schatten«, vor allem dem Bild des Vaters, aber auch der Mutter und der Geschwister und bedeutsamen anderen Bezugspersonen, vielen guten Bildern, aber auch den Schrecken des Naziterrors und der Naziverführung und denen des Krieges mit dem Anspruch größtmöglicher subjektiver Redlichkeit nachzuspüren versuchte. Es ging mir dabei auch um Aussöhnung mit einer Geschichte, die ich als Jugendlicher wie einen Weltuntergang erlebte. In der jetzt vorliegenden Form formulierte ich das Buch nach einer Reise, die mich im Jahr 1991 – nach dem Fall der Mauer und den dieses Ereignis begleitenden Entwicklungen in unserer Welt – in die Heimat meiner Kindheit, in das ehemalige Ostpreußen und in die Stadt, die früher einmal Rastenburg hieß und heute Ketrzyn heißt, zurückführte. Von dieser Reise in die Welt meiner Kindheit und meiner Jugend und in ein heute polnisches Land erzählt mein Roman. Nicht sentimentale Erinnerung war mein Anliegen, sondern es ging mir vor allem um Versöhnung mit der Vergangenheit und um einen Frieden in der heutigen Zeit. Diese Art des rückkehrenden Erinnerns, in welcher sich eine Brücke baut aus unserem heutigen Sein in unsere Ge-

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schichte, nannte ich in meinem Nachdenken über Individualpsychologie »schöpferische Regression«. Sie dient im therapeutischen Prozess immer auch dem Frieden, den wir mit uns und der Welt schließen. In meinem Roman gab ich dem Reisenden, der mein Ich verkörpert, den Namen Ürgend. Ich griff dabei auf einen Spitznamen zurück, mit welchem mich meine Klassenkameraden in der Schule in einer Stadt im Ruhrgebiet, in welcher ich nach der Flucht gelandet war, riefen, weil ich das Hochdeutsche mit einem östlich eingefärbten Klangfärbung versah, also etwa statt Kirche Kürche sagte und statt irgend eben ürgend. Die beiden Träume, welche ich im ersten Kapitel des Buches erzähle, habe ich tatsächlich geträumt. In ihnen erschien mir mein Reisebegleiter Marek. Sie waren der letzte Anstoß zu meiner Reise. Ich zitiere eine Passage aus meiner Lesung: Irgendwo auf dem Weg von Posnan nach Olsztyn kam Ürgend die Zeit abhanden […] Die Nachtluft, die nun kühler, aber immer noch mit Gewitterschwüle beladen, durch die halb offenen Abteilfenster hereindrang, schmeckte irgendwie immer vertrauter. Da sehnte er sich nach Marek. Ach ja, Marek!

Der war aus seinen Träumen geboren. Ürgend träumte sie am Beginn seines sechzigsten Lebensjahres. Im ersten Traum sah er sich auf dem Weg nach Hause, aber das Haus und die Treppe davor waren weiter und viel geräumiger als in der Wirklichkeit. Das Wort festlich kam ihm in den Sinn. Auf dem Treppenabsatz vor der Tür kniete ein dunkelhäutiger Mann. Im Traum noch fiel Ürgend das Wort »Neger« ein. Es schien ihm unausweichlich. Er hatte – aber auch schon im Traum – die Furcht, der Fremde könne dieses Wort als rassistische Diskriminierung missverstehen. Er nannte ihn deswegen von Anfang an einen Farbigen, meinte aber einen, der aus der Fremde kam. Neben dem Fremden steckte ein Stab im Boden, der aussah wie ein Klingelbeutel, mit welchem man in den Kirchen nach dem Gebet die Kollekte einsammelt. Der fremde Mann lächelte ihn an, wie um Verzeihung bittend. »Ich bin gezwungen zu betteln«, sagte er. Irgendwelche Leute riefen erregt: »Wir müssen ihn wegschaffen, fortschmeißen, das ist doch Müll.« Ja »Müll« sagten sie, sie nannten ihn »Müll«. Ürgend protestierte im Traum laut und klagend. »Aber ach, aber ach, nein, nein, er gehört doch zu mir!« Dann ging er auf den Fremden zu und umarmte

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ihn. Beide knieten auf der Treppe. Sie streichelten sich und weinten vor Freude über ihr Wiederfinden. Ürgend verwunderte sich über den Traum. Allerlei Bilder überschwemmten ihn, als er über ihn nachdachte. Er sah sich zum Beispiel als fünfzehnjährigen Jungen vor den Speicherhäusern am Hafen in Danzig stehen. Das war an einem trüben Tag im Februar des Jahres 1945. Er trug den alten abgewetzten Ledermantel seines Vaters und dessen Reitstiefel. Caesar war damals schon tot, und er, sein Sohn, war nun ein Flüchtling. Der Krieg hatte diese Stadt damals noch nicht erreicht, stand aber unmittelbar vor ihren Toren. Er sah ordentlich gekleidete Menschen, darunter natürlich, der Zeit entsprechend, viele Uniformträger, aber auch Frauen mit Kindern, auch solche die Kinderwagen vor sich herschoben, und alte Frauen und alte Männer natürlich, solche zum Beispiel, wie er jetzt einer war, der sich erinnerte. Sie hasteten vorbei. Schmerzhaft spürte er die Blicke voller Mitleid und Erschrecken, Irritiertheit, mit welcher die Vorübergehenden den Elendshaufen entwurzelter Menschen streiften. Einen Namen gab Ürgend dem fremden Vertrauten in seinem zweiten Traum. Diesmal träumte ihm, er befinde sich im Herrenzimmer seines Vaters in Rastenburg, jener kleinen östlichen Stadt seiner Kindheit, die als deutsche Stadt in den Wirren des Zweiten Weltkrieges untergegangen war und die heute einen polnischen Namen trug. Es war wohl jetzt sein – des Träumers – Ordinationszimmer. Alles war ihm vertraut, der dunkle Schreibtisch, der bunte Kelim, der tiefe braune Ledersessel, die Bilder aus der Frankfurter Malschule des neunzehnten Jahrhunderts, die Bücher und der Rauchtisch mit der ziselierten Kupferplatte, die sein Vater, der im Ersten Weltkrieg als deutscher Offizier – gewissermaßen als ein Leihoffizier – in der türkischen Armee Kriegsdienst getan hatte, wie eine Beute aus dem Orient hierher gebracht hatte. Ürgend – der Träumer – war wohl so alt wie sein Vater gegen Ende seines Lebens, aber er war auch jünger und er war auch älter, ein Kind, ein Jüngling, ein Mann, ein Greis. Plötzlich war ein Lärm draußen. Die Tür des Zimmers wurde aufgerissen. Jugendliche – Jungen und Mädchen – schoben einen jungen Mann herein. Der war sehr schön, aber er war auch scheu und wild und offenbar verletzt. Er hinkte, wodurch sein Gang etwas flüchtig Tänzerisches bekam, wie der hüpfende Tanz eines Vogels vor dem Abflug. Noch im Traum fiel Ürgend ein, dass er dieses tänzerische Hinken auch schon bei dem farbigen Bettler bemerkt hatte. Ürgend war sehr angerührt von seinem Anblick. Er ging auf ihn zu und schloss in die Arme, und er sprach zu ihm – wie beruhigend – »Marek, ach Marek.« Davon wurde er wach.

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So führe ich Marek, den Reisebegleiter Ürgends, in meine Erzählung ein. Ürgend sucht ihn. Eines Tages steht Marek vor ihm und deutet in den Himmel: »Schau, die Wolken fliegen ostwärts, wir werden verreisen, wir werden nach Osten reisen, Caesar suchen.« So lasse ich die Reise beginnen. Caesar, das ist der Vater, der 1945 während der Flucht verstarb. Mit Mareks Hilfe gewinnt Ürgend – tiefenpsychologisch verstanden – die Kraft des schöpferischen Wiederbelebens. Wie unter einer Tarnkappe kann er in Vergangenes eintauchen, ohne jedoch handelnd eingreifen zu können. Die Funktion Mareks in meiner Erzählung hat Pit Wahl in einer Besprechung des Romans in »DGIP intern« sehr einfühlsam und ganz in meinem Sinne beschrieben: »Marek ist es, der Ürgend anfangs zu seiner Reise ermutigt und ihn dann wie ein (C. G. Jung’scher) Schatten begleitet. Mal als brüderliches ›alter ego‹, mal als ›advocatus diaboli‹, mal als eine Art anarchistischer Kobold kommentiert er das Erlebte wechselweise verständnisvoll bestärkend, kritisch hinterfragend oder auch erklärend, dann wieder provokativ karikierend. Auf diese Weise fungiert Marek als eine Art Navigator, als Lotse zwischen Bewusstem und Unbewusstem, von geordnetem und ungeordnetem, logischem und primär prozesshaftem Material. Manchmal erscheint er mir wie ein Analytiker, der regressive Bewegungen mal fördert und mal begrenzt, hier ordnend, dort fragend oder irritierend eingreift, immer nah am seelischen Geschehen« (Wahl 2005, S. 20). In dieser Wahrnehmung des Marek fühle ich mich verstanden. Er ist ja eine Schöpfung aus Träumen. Er ist beheimatet im Unbewussten. In diesem Sinne repräsentiert er in meiner Erzählung von dort her wirkende Kräfte – auch Triebenergien im Sinne der Libido Freuds – und ein tieferes Wissen um Eingebundensein im Sinne des von Adler postulierten Gemeinschaftsgefühls und Archetypisches, wie es Jung in seiner Lehre vom kollektiven Unbewussten beschreibt. Er ist so auch ein Vermittler zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten. Er ist Teil Ürgends, sein Kontakt, gewissermaßen sein Dolmetscher, zum Unbewussten. So verhilft er diesem zu einer ganzheitlicheren und wahreren Sicht auf seine Geschichte und die Welt. Während seiner ganzen Reise erlebt ihn Ürgend als eine Person neben sich, am Ende geht Marek wieder ganz in ihn hinein: »Marek ging nun ohne Zögern weiter, es war Ürgend jedoch, als ginge er nicht von ihm fort, sondern

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in ihn hinein.« Um das über Marek Gesagte ein wenig zu illustrieren, möchte ich eine Szene aus dem Kapitel »Gott wohnt am Moysee« zitieren. Der Moysee war ein kleiner masurischer See. Er lag etwa sechs Kilometer vor der Stadt am Rande des Görlitzer Waldes, eines großen Waldgebietes, in welchem Hitler nach 1939 die so genannte Wolfsschanze einrichtete, das Hauptquartier, von dem aus er den Krieg mit Russland plante und führte. Der See war eine Freude meiner Kindheit, die Wolfsschanze ein Schatten über ihr. Hier nun die angekündigte Szene: Später, es wurde schon Abend, saß Ürgend auf einem kleinen Steg am Ufer des Moysees [. . . ] Er hatte gelesen. Dann hatte er das Buch aufgeschlagen neben sich zur Seite gelegt. Er schaute über den See. Es war so still, dass man das Aufschlagen eines Blattes auf dem Wasser hätte hören können. Die Fische sprangen am Abend. Luftperlen stiegen mit einem kleinen glucksenden Geräusch zur Oberfläche. Es malten sich aus einem Zentrum auseinander strebende Kreise in das Wasser. Das hatte er lange nicht mehr gesehen und gehört. Er hob seinen Blick und schaute nun über die ganze Weite des Sees, sah das ferne Ufer und Buchten, Waldstücke, ein weiter fort liegendes Gehöft und Wiesen. Die Abenddämmerung warf mit dem Spiegelbild der Wolken einen Schein von Gold und sehr zartem Rosa über den See. Ürgend atmete tief. Er wollte diese von heißem Sommer, See und Wald gewürzte Abendluft ganz in sich hineinnehmen. »Die Welt ist schön, unglaublich schön ist diese Welt«, dachte er. Er fragte sich: »Bin ich heimgekehrt in etwas Vergangenes, träume ich, oder ist dieser schöne Augenblick gelebte Gegenwart?« Marek war unmerklich leise hinter ihn getreten. Er hatte das Buch aufgehoben, welches Ürgend zur Seite gelegt hatte, und darin gelesen, erst leise, nur so für sich. Nun begann er den Text laut vorzulesen. Er tat dies in einem plärrenden und albern leiernden Tonfall. Ürgend drehte sich erschrocken um, wollte ihn unterbrechen, ja, irgendwann nach ihm schlagen. Marek ließ sich aber nicht beirren, sprang nur ein wenig zur Seite und las immer weiter: »›Ihr höheren Menschen, – so blinzelt der Pöbel – es gibt keine höheren Menschen, wir sind alle gleich! Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollten wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen geht weg vom Markt! – Vor Gott! Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen, dieser Gott war eure größte Gefahr. Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große Mittag, nun erst wird der höhere Mensch Herr [... ] Gott starb, nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.‹« »Willst du mich veräpfeln?«, schrie Ürgend sehr aufgebracht. »Aber

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nein, aber nein«, beschwichtigte Marek und setzte sich neben ihn. Er lachte, der Schalk leuchtete ihm aus den Augen, und doch klang es auch ernst, was er sagte. »Aber bemerkst du nicht«, fuhr er fort, »dass dieser Herr Niet-z-sche« – er hob die Zischlaute des Namens überdeutlich karikierend hervor, was Ürgend seinerseits durchaus als ein Stück Verächtlichmachung empfand – »also alias Zarathustra, denn beide Herren sind ja wohl identisch, recht großmäulig daherredet. Er lässt Gott in den Köpfen sterben. Aber Gott ist immerhin mehr als die Gedanken der Menschen, er stirbt nicht so einfach in ihren Köpfen.« Ürgend schaute irritiert auf Marek, so als sei er ein Fremder, dabei war er ganz unverkennbar der junge Mann aus Ürgends zweitem Traum. Schön erschien er Ürgend, unglaublich schön, aber auch fremd [... ] »Spielst du mit mir?«, fragte er. Marek schüttelte den Kopf. »Aber du hast mich ganz närrisch im Kopf gemacht, einen Augenblick warst du mir ganz fremd.« Da umarmte ihn Marek zärtlich. »Aber ich bin doch dein Freund«, sagte er, »ja mehr noch, dein Bruder, dein Zwillingsbruder.« »Du, mein Zwillingsbruder? Du?«, fragte Ürgend ungläubig. »Aber ich bin doch alt, du bist so schön und so jung.« »Das macht nichts, ich komme ja aus dir. Ich bin vielleicht der Teil von dir, der immer jung ist und schillernd und nicht festgelegt. Und Schönheit ist nicht unbedingt eine Frage von Jungsein oder Altsein«, erklärte Marek ruhig. »Aus meinen Träumen kommst du«, präzisierte Ürgend, »aus meinen Träumen, und du hast mich hierher geführt. Nun verwirrst du mich mit schmerzhaften Geschichten über meinen Vater. Und ich weiß immer noch nicht, wer du wirklich bist. Mal warst du ein Bettler, dann ein schöner junger Mann, aber du bist auch verletzt. Mal bist du traurig und wütend, jetzt lachst du mich aus. Wer bist du?« »Ich lache dich nicht aus. Ich bin ... «, Marek zögerte und fuhr dann wie beiläufig fort, »ich bin vielleicht ein Engel, ein gefallener Engel vielleicht, ein Gottesbote, vielleicht aber selber ein bisschen Gott. Ich bin unsterblich und übrigens deinem Zarathustra gar nicht so unähnlich.« »Da treibst du ja schon wieder mit mir Spott?«, rief Ürgend. »Und wenn du diesem Zarathustra ähnlich bist, warum schmähst du dann das Buch, das mein Vater liebte? Warum spottest du über mich, wenn ich darin lese? Ich las es, weil es vielleicht ein Stück von Caesar ist.« »Au Mann!«, rief da Marek. »Au Mann!« Er sprang nun auf, er fuchtelte mit Armen und Beinen. Einen wilden Hinketanz tanzte er am Ufer des Moysees. »Meinst du denn, du könntest es erfahren aus Büchern, aus diesem oder anderen, was du suchst. Das hast du doch dein Leben lang schon versucht. Nein, ich habe nichts gegen diesen Herrn Niet-z-t-sche, oder wie er heißt, nur dass er ein Philosoph ist. Die denken, die denken sich Gott weg, und dann begraben sie ihn, und dann sagen sie ›Gott ist tot‹ und erfinden den Übermenschen. So leicht stirbt Gott aber nicht. Er lebt, er lebt. Er lebt in dir und in mir. Und wer ich bin? Ich bin du, denn du hast

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mich geboren aus deinen Träumen, und Zarathustra bin ich vielleicht auch, denn der nistet ja in dir wie eine Ratte, die sich in dir festgebissen hat. Ich fühle mich unsterblich, ich bin groß und ich bin klein, ich bin allmächtig und ich bin das Kind, das aus Gott geboren ist und das Gott gebiert.« Mit diesen Worten warf Marek dem Ürgend das Buch vor die Füße. Ürgend hob es auf. »Aber Caesar, mein Vater, hat dieses Buch verehrt«, rief er. »Caesar, mein Vater, lebt in diesem Buch.« »Aber nein, aber nein!«, setzte Marek dagegen. »Damals als er zwanzig Jahre alt war und als ein Freiwilliger in den Krieg zog, war er wie besoffen von den Sprüchen des Zarathustra. Sie haben ihn in die Irre geleitet. Später hat er ganz anders darüber gedacht. Du wirst es erfahren, wenn du seinen Weg weiter verfolgst.« »Aber du sagst doch selber, dass du seist wie Zarathustra«, rief nun Ürgend dazwischen. »Der sagt, weil Gott tot ist, muss der Mensch an seine Stelle treten. Deswegen proklamiert er den Übermenschen.« »Ja doch, ja doch ja!« Marek tanzte immer noch aufgebracht vor ihm auf und ab. »Du bist kein Kind, und du bist kein Greis«, schrie er Ürgend in das Gesicht und fuhr fort: »Da hast du gerade nur einen kleinen Blick in das vergangene Leben deines Vaters gewagt, und schon greinst du, weil du so viel Leid und so viel Schmerz nicht aushalten willst. Aber glaub mir, das Leben ist keine Himbeerlimonade. Damals, als dem Caesar seine junge Frau gestorben war und er sich die Spritze voll Morphium in die Vene rammte, war er groß, und er war näher an Gott als vielleicht jemals früher oder später in seinem Leben. Er trotzte ihm und innerlich schrie es in ihm: ›Ich will mich von dir nicht fertigmachen lassen!‹ Damals war er Mensch, Mensch sollen wir sein, nicht Übermensch.« [... ] Wie gebannt hatte ihm Marek zugehört. »Du sprichst von Gott«, sagt er nun, »aber gibt es ihn denn? Ich kann ihn nicht fühlen. Glaubst du an Gott?« »Du stellst wohl merkwürdige Fragen. Ich glaube nicht, ich weiß ihn. Das ist einfach so«, rief Marek. »Ich bin der in dir, der weiß, dass es Gott gibt, und ich weiß ihn gegen jede Vernunft. Er ist unabhängig davon, ob du ihn glaubst oder nicht. Aber solange du ihn nicht glaubst oder ihn nicht erfährst, hat er keine Bedeutung für dich.« »Du sprichst in Rätseln«, Ürgend blieb skeptisch. »Alle Vernunft spricht gegen ihn. Wer ist dieser Gott? Können wir uns ein Bild von ihm machen?« »Nein«, antwortete Marek, »jedes Bild wäre zu klein. Gott ist Ordnung und Chaos zugleich, Gesetz, Form und Zerfall, Gott ist mächtig und ohnmächtig [... ] Und Gott ist überall in der Welt, in dir, in deinem Schatten und in mir, denn dein Schatten bin ich, ganz ähnlich wie der Teufel der Schatten Gottes ist. Wir alle sind Gottes Kinder. Er ist in mir und in dir. In allen Menschen ist er, in allen, nicht nur in den Übermenschen. Wir erfahren ihn in der Liebe.« »Wir erfahren ihn in der Liebe?«, wiederholte Ürgend nun fragend, nachdenklich. »Dann wäre ich ihm ja gerade eben, ehe du zu mir kamst, ganz nahe gewesen? Ich liebte diesen See. Ich liebte dieses Land. Die

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Menschen liebte ich, die, welche damals hier lebten, und die, welche heute hier leben. Das war ein ruhiges und gutes Gefühl.« »Ja!«, rief Marek und stand nun aufrecht und reckte sich. Da war er schön in seiner unsterblichen Sterblichkeit, die Ürgend neu an ihm entdeckt hatte. Viele Gefühle durchfluteten Ürgends Brust [... ] Da wandte Marek ihm den Rücken zu und lief hinein in den See. Das Wasser des Sees spritzte hoch auf. Noch einmal drehte er sich um. Er stand nun tropfnass Ürgend gegenüber. Alles Lachen war in seine Augen gegangen. »Die Jäger sind überall. Nichts ist bleibend«, rief er und »alles, was lebt, ist preisgegeben.« Er lief weiter in den See, drehte sich noch einmal herum und rief diesmal: »Die Jäger sind in uns und außerhalb von uns. Sie sind die Neider und Ängstler in uns und die Neider und Ängstler in der Welt. Sie wollen mich nicht leben lassen und nicht dich und den liebenden Erosgott schon gar nicht. Aber wir müssen sie nicht fürchten. Wir setzen dagegen die Liebe. So verbünden wir uns mit Gott.« Dann warf er sich endgültig in den See hinein und schwamm weit hinaus [... ] »Ist Gott Mann oder Frau?«, rief Ürgend. »Gott ist Gott«, lachte Marek und ritt in weiten Kreisen auf seinem Fisch um Ürgend herum. »Zeig mir die Jäger«, rief Ürgend. »Ach vergiss die Jäger. Die sind überall. Aber wir fürchten sie nicht. Sie sind machtlos, wenn wir lieben! Sind machtlos, wenn wir lieben! Sie sind machtlos, wenn wir lieben!« Diese letzten Sätze Mareks schwebten wie ein Gesang über dem See. Die Sonne versank. Die Gestirne zogen auf. Der Mond erschien gelb und hell über dem Horizont. Und immer noch zog Marek mit dem Fisch seine Kreise. Dann schwamm Ürgend an das Ufer. Wie ein Pfeil flog Marek über den See. Ürgend winkte ihm nach, wie grüßend. Dann schlüpfte er in seine Kleider und ging davon. Er war glücklich in seinem Herzen. »Nun weiß ich, wo Gott wohnt«, dachte er. »Gott wohnt an diesem See, und der da, der da«, rief er laut zur Wolfsschanze hinüber, »der da hat ihn nicht vertreiben können. Die Welt ist ein Paradox«, rief er und »wir sind gefangen und frei, gefangen und frei, gefangen und frei. Auch du, Caesar, warst gefangen und frei.«

Die hier wiedergegebene Szene aus meinem Roman ist zu verstehen als eine Art innerer Dialog. Es geht in ihr vor allem um eine Auseinandersetzung mit einem – auf dem Hintergrund des Zeitgeschehens und der Umstände des Todes des Vaters verständlicher Weise – hochidealisierten inneren Vaterbild. Aber es geht auch um mehr, zum Beispiel um den gewaltigen Schatten, den die Figur Hitlers aus der Wolfsschanze über mein Kinderleben warf. Alle von mir in meinem autobiographischen Roman geschilderten Begegnungen mit Eltern, Lehrern, Mitschülern, Freunden und anderen wichtigen Bezugsperso-

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nen folgen einer inneren Wahrheit, und natürlich weiß ich als ein Schüler Alfred Adlers, dass unser Erinnern immer subjektiv bleibt. In den Jahren, die meiner Reise nach Masuren vorangingen, geriet ich in eine Art Lebenskrise. Eine Fülle von noch unverarbeiteten Bildern aus meiner Seele drängte sich mir auf und drohte mich zu überschwemmen. Ich suchte damals Hilfe bei einem älteren Kollegen aus der Schule C. G. Jungs. Diese analytischen Gespräche zogen sich über einen längeren Zeitraum hin und halfen mir sehr, die Flut dieser Bilder zu ordnen und sie zu integrieren. Diese Erfahrungen sind auch in mein Buch eingegangen. Natürlich ist meine Erzählung auch voll von Fiktionen, dichterischen Ausschmückungen. Das betrifft zum Beispiel die Gestalt des Dichters Mauruschkat. Ihn gab es wirklich. Die Szenen, in denen er durch die Stadt zieht, seine kleinen Verse rezitiert, die er auf Postkarten gedruckt an die Kinder verteilt, welche ihm wiederum folgen und diese Verse laut und ihn lustig verspottend rezitieren, gab es wirklich. Aber vielleicht war er tatsächlich nur ein komischer Kauz. In meiner Erzählung habe ich ihn größer und bedeutender gezeichnet, als er es wahrscheinlich in der Wirklichkeit war. Aber ich folgte dabei meiner kindlichen Wahrnehmung, in der war er mehr als nur komisch. Eindrucksvoll erschien er mir, wie eine Art Prophet, der Rätselhaftes zu verkünden hat. Einige seiner kleinen Gedichte, die ich ihm zuordne, sind von mir erfunden, einige sind original so überliefert und erhalten. Zum Beispiel dies: »Der Oberteich ist groß und rund Und in der Tiefe ist der Grund.«

Das ist vielleicht nur unfreiwillig komisch. Die Rastenburger haben damals viel darüber gelacht. Aber die Zeile »und in der Tiefe ist der Grund« enthält ja vielleicht auch – tiefenpsychologisch gesehen – eine den lachenden Bürgern verborgen gebliebene Wahrheit. Ziemlich an das Ende des Buches setzte ich das »Märchen von einem Narren, der ein König war, dem sterbenden alten Mann und der Feder eines Rotkehlchens«. Ich ordnete es dem Dichter Mauruschkat zu. Das ist natürlich reine Fiktion. Ich wählte diese Form des langen Traums vom brennenden Wald der Wolfsschanze, den Ürgend in der Kirche von Karlshorst träumt, und die des in diesem enthaltenen Mär-

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Rainer Schmidt

chens, um all das Schreckliche, was mir aus der vergangenen Geschichte an Erinnerungen entgegenschlug, ertragbar zu machen. Ich wollte die schöpferische Kraft, die im Märchen liegt, nutzen, die Phantasie für die Hoffnung zu öffnen, dass hinter all den dämonischen Gefahren, die unsere Welt bedrohten – und immer noch und immer wieder bedrohen – am Ende ein Frieden erreichbar ist. In diesem Sinne schreibt Hermann Hellgardt über das Märchen: »Individualpsychologisch kommt der Wahrheit des Ganzen das Gemeinschaftsgefühl der Individualität am nächsten. Im Märchen entwickelt es sich aus der ursprünglich magisch-mythischen Allverbundenheit des Helden, auf seinem Weg vom bloßen Mögen und Wünschen des Wunderbaren (Magie), Schweigen und Sagen der Eingebung (Mythos) zur individuellen Kraft des königlichen Könnens« (Hellgardt 1989, S. 419). Solche königliche Kraft des Märchens wünsche ich uns, den Menschen, und der Welt, damit wir Frieden schaffen können. Die Welt braucht das, immer und immer noch.

Literatur Hellgardt, H. (1980): Zur therapeutischen Bedeutung des Märchens. In: Schmidt, R. (Hg.): Die Individualpsychologie Alfred Adlers. Frankfurt a. M. Radebold, H. (2004): Abwesende Väter und Kriegskinder. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen. 3. Aufl. Göttingen. Wahl, P. (2005): Rainer Schmidt: Rückkehr mit Marek – Eine masurische Kindheit. In: DGIP intern (1): S. 20–21.

Der Roman von Rainer Schmidt »Rückkehr mit Marek« ist im Helios Verlag in Aachen erschienen, der Abdruck der Textauszüge erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Personenverzeichnis

A Adams, V. 111, 117 Adler, Alexandra 12–14 Adler, A. 19, 26, 52–54, 57, 61, 63, 66, 68, 91, 92, 99, 102, 106–109, 112, 117, 118, 122, 135 Ahrens, T. 8, 9 Ainsworth, M. 86, 102 Andreas-Salomé, L. 120, 125 Angst, J. 109, 117 Ansbacher, H. 70, 77 Ansbacher, R. 70, 77 Antoch, R. F. 63, 66 B Bank, S. P. 95, 102 Bahr, H. 95, 96 Bauriedl, T. 71 Bausinger, H. 102 Becker, P. 128, 134 Bedford, V. H. 113, 117 Bernais, M. 128 Bernfeld, S. 85 Bilstein, J. 86–88, 102 Bleuler, E. 101, 102 Blos, P. 129, 135

Blumenthal, E. 108, 117 Bohleber, W. 149, 152 Bohlmann-Modersohn, M. 128, 135 Bowlby, J. 86, 102 Brähler, E. 147, 152 Brandes-Kessel, J. 77 Brooks, J. 90, 91, 103 Brown, B. 135 Buber, M. 66 Bück, U. 8 Buhrmester, D. 110, 117 C Cicirelli, V. G. 110, 117 Clarkin, J. F. 44, 48 Clauß, K. 143, 152 Cortàzar, L. 7, 8 D Decker, O. 152 Dreikurs, R. 65, 108, 109, 117 Dunn, J. 111, 117 E Ernst, C. 109, 117 Eckenrode, J. 121, 135

166

F Federn, P. 44 Feiring, C. 135 Flaubert, G. 126, 128 Flitner, W. A. 85 Fonagy, P. 30, 40 Forer, L. K. 108 Franz, M. 146, 152 Freud, A. 68, 118, 120, 125, 135 Freud, S. 12, 13, 69, 70, 85, 86, 98, 102, 125, 128, 129, 149, 158 Frey, C. 139, 152 Fried, E. 88, 90, 93, 102 Fritzsche, Y. 120, 135 Fürstenau, P. 83, 103 Furman, W. 110, 117, 129, 132, 135 G Grey, L. 108 H Hackenberg, W. 95, 103 Harms, E. 48 Hartmann, H. 70 Hellgardt, H. 164 Herbart, J. F. 85 Heuft, G. 149, 150, 152 Heisterkamp, G. 8, 70, 71, 77, 92, 103 Hitler, A. 149, 162 Hoanzl, M. 97, 101–103, 106, 117 Holub, M. 107, 118

Personenverzeichnis

J Jacobson, E. 96 Janet, P. 44, 48 Jellouschek, H. 77 Jung, C. G. 158, 163 K Kahn, M. D. 95, 102 Kandinsky, W. 92, 101–103 Kästner, E. 81, 82, 103 Kagerer, H. 66 Kannicht, R. 78, 79, 103 Kast, V. 96, 103 Kasten, H. 111, 118 Kaus, G. 106, 118 Kernberg, O. F. 44, 48 Kinast-Scheiner, U. 92, 103 Klagsbrun, F. 96, 99, 103 Knopfler, D. 102 Knopfler, M. 102 König, K. 116, 118 Kohaus-Jellouschek, M. 77 Kohut, H. 71 Krähenbühl, V. 73–77 Kreppner, K. 112, 118 L Laufer, M. 129, 135 Laufer, M. E. 129, 135 Lehmkuhl, G. 36, 48, 92, 97, 103, 115, 118 Lehmkuhl, U. 92, 97, 103, 115, 118 Lepenies, A. 16, 27, 29 Levinson, D. 147, 152 Lewis, M. 90, 91, 103

Personenverzeichnis

Ley, K. 82, 83, 88, 93, 94, 96, 103, 105, 106, 118 Liebherz, K. 152 Liegle, L. 85, 103 Limentani, A. 116, 118 M Mahler, M. S. 86, 104 Mann, T. 124 Marvin, R. 102 McPherson, K. 8 Mitscherlich, A. 148, 152 Mitscherlich, M. 148, 152 Modersohn, P. 128, 134 Moran, P. B. 121, 135 N Nelson, P. 30, 32, 48 Nieder, T. 133, 135 Nohl, H. 85 O Oelsner, W. 36, 48 Ogden, T. 143, 152 Ohser, E. 16, 18, 29, 50 Olivier, C. 64, 66 Otscheret, E. 102, 104 P Papastefanou, C. 111, 118 Papernow, P. 73 Parens, H. 112, 118 Petri, H. 64, 66, 98, 99, 104 Pestalozzi, J. H. 85 Piaget, J. 123, 135 Plauen, E. O. 16, 18, 29, 51 Pulakos, J. 113, 118

167

R Radebold, H. 138–140,144–150, 152, 155, 164 Rauh, H. 90, 104 Reddemann, L. 42, 44–46, 48 Reimann, B. 7, 8 Richter, H. E. 69, 70, 77, 148, 152 Rilke, R. 128, 134 Rothe, D. A. 120, 126, 135 Rudolf, G. 42, 43, 48 Ruppelt, H. 90–92, 104 S Sasse, H. 8 Schepank, H. 152 Schlaffer, H. 128, 134, 135 Schleiermacher, F. E. D. 84, 85, 104 Schlesinger-Kipp, G. 143, 150, 152 Schmitt, M. 139, 152 Schmitz, N. 152 Schottky, A. 65, 66 Schramm-Geiger, A. 77 Schütz, Y. 97 Schulz, H. 147, 149, 153 Selman, R. 124, 136 Seelmann, K. 106, 118 Seidler, G. H. 41, 42 Seiffge, J. M. 125, 136 Seiffge-Krenke, I. 41, 48, 91, 93, 95, 104, 113, 118, 121, 125, 127, 129, 133, 135, 136 Silbereisen, R. K. 120, 136 Sohni, H. 80, 104 Soltz, V. 108, 117

168

Sperber, M. 66 Spranger, E. 85 Staudinger, J. 84, 104 Stein, E. 71 Still, H. 108, 117 Stöcker, C. 149, 153 Streeck-Fischer, A. 38, 48 Strehlow, B. 48 T Tapken, A. 71, 77 Taylor, M. 121, 136 Turgenev, I. S. 126, 128 Tymister, H. 65 U Unverzagt, G. 77 Urban, P. 126, 128, 136 V Visher, B. 72, 74, 77 Visher, J. 72, 74, 77 Voitl-Mischik, R. 63, 66 von Salisch, M. 91, 127, 135

Personenverzeichnis

W Wagner-Winterhager, L. 91, 104 Wahl, P. 158, 164 Walther, H. 8 Weber, I. 135 Weber, R. 77, 120, 126, Wehner, E. A. 132, 135 Weinmann-Lutz, B. 94, 104 Wellendorf, F. 113–115, 117, 118 Westhoff, C. 128, 134 Wexberg, E. 107, 109, 118 Wieder, H. 36, 48 Winnicott, D. 36, 48, 100, 104 Winterhager-Schmid, L. 81, 104 Wygotski, L. S. 122, 136 Y Yeomans, F. E. 44, 48 Z Zinnecker, J. 120, 136

Stichwortverzeichnis

A Abhängigkeit 14 Abhängigkeitsverhältnis 18 Ablösung, pubertäre 141 Abwesenheit, väterliche 138, 139, 142, 143, 147 Adoleszenz 123, 127, 132 Adoption 33 Adoptiveltern 35 Adoptivkinder 36 Affekttoleranz 45 Aggressionen 24, 57 Aggressionen, geschwisterliche 94 Ärgerausdruck 127 Aufeinander-Bezogensein 51 Auseinandersetzung, ödipale 141 Autoaggressionen 24 B BASK-Modell 45 Begegnung 66 Beziehung unter Gleichaltrigen 91 Beziehung, symmetrische 120 Beziehungen, familiäre 134

Beziehungen, romantische 129– 133, 135 Beziehungen, sexuelle 133 Beziehungen, stabile 146 Beziehungs- und Bindungsstörungen 145 Beziehungs-/Bindungschancen 150 Beziehungsentwicklung in der Kindheit 122 Beziehungserfahrungen 43, 92 Beziehungserfahrungen, frühe 19 Beziehungsmuster, frühe 23 Beziehungspsychologie 51 Beziehungsstile, späte 19 Beziehungsverzerrungen 44 Bezugspersonen 155 Bindung 36 Bindungs- und Abhängigkeitswünsche 36 Bindungsbeziehungen 41 Bindungsfähigkeit 30 Bindungsqualität 40 Bindungstheorie 99 Brautbriefe 128 Briefwechsel 126, 128

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D Defizitorientierung 44 Delegation, familiäre 142, 146 Denkrichtung 91 Depressivität 147 Dialog, innerer 162 Dissoziationsneigung 45 E Egoismus 119 Egozentrismus 123, 126, 129 Eifersucht 133 Einfühlung 65 Einzelkinder 94, 105 Elternbeziehung 82 Elternfiguren 116 Elterngespräch 60, 62 Eltern-Kind-Achse 106 Eltern-Kind-Beziehung 81, 91, 99, 110, 113 Elternrollen 116 Elternschaft 73 EMDR 42 Emotionsregulierung 43, 134 Empathie 126, 134 Entmutigung 52 Entwicklungsaufgaben 114 Entwicklungsimpulse 121 Entwicklungsphasen 15 Entwicklungsprozesse 121 Erinnerungen 140 Erwachsenenalter 125, 131 Erziehungsideale 141 Erziehungsstil 110

Stichwortverzeichnis

F Fähigkeiten, kompensatorische 14 Familie 70, 148 Familienform 72 Familienforschung 109 Familienkonstellationen 106, 107, 109, 121 Familienstruktur 148 Familiensystem 112 Familientherapie 69, 70 Familienverband 74 Fiktionen 163 Freund 81, 119, 123, 124, 134 Freundschaft 119 Freundschaft, ideale 126 Freundschaftsaktivitäten 125 Freundschaftsbeziehungen 120– 124, 126, 128, 135 Freundschaftsverhalten 124 Frustration 100 G Geburt des zweiten Kindes 113 Gefühl für Gemeinschaft 64 Gegenübertragung 116 Gegenübertragungsgeschehen 40 Gegenübertragungsprozesse 41, 44 Gegenübertragungsreaktionen 116 Gemeinschaft 53, 54, 58, 61, 63, 76 Gemeinschaftsgefühl 99, 158 Generation 86 Generationsgefälle 81, 99

Stichwortverzeichnis

Geschlecht 86 Geschwister 8, 19, 78, 79, 81– 84, 86, 88, 92, 94–97, 99, 101, 106, 108, 114, 115, 155 Geschwisterbeziehungen 22, 23, 79, 80, 82, 83, 97, 99, 101, 105, 109–113, 114–116 Geschwisterbindung 95 Geschwisterbündnis 101 Geschwisterfolge 112 Geschwisterforschung 19, 92 Geschwister-Gegenübertragung 115 Geschwisterinteraktion 111 Geschwisterkinder 98, 100 Geschwisterkonstellation 83, 91, 92, 106–109 Geschwisterliebe 111 Geschwisterposition 110, 111 Geschwisterreihe 19, 82, 92, 106, 107 Geschwisterrivalität 96, 101, 106, 112 Geschwisterrollen 116 Geschwistersolidarität 112 Geschwistertheorie 97 Geschwister-Übertragung 115, 116 Gesellschaft, vaterlose 55 Gesundheit, seelische 101 Gleichrangigkeit 82 Großfamiliensituation 143 Großmutter 7 Grundgefühl 19 Grundstrukturierungsprozesse 90

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H Heim 33 Herkunftsfamilie 21, 69 Hilfeplangespräche 39 Hilflosigkeit 14 I Ich-Ideal, väterliches 142 Ich-Stärkung 30, 34 Identität 94, 134 Identität, eigene 127 Identität, psychosexuelle 145, 146, 150 Identität, psychosoziale 145, 146, 150 Identitätssuche 155 Identitätsversicherung 155 Individualität 134 Instanzen 7, 12, 14, 18, 86 Instanzenlehre 13 Integrationsarbeit, seelische 147 J Jugend 155 Jugendzeit 139, 144 Jungen- und Mädchengruppen 130 Jungenfreundschaft 125 K Kernfamilie 72 Kernselbst 95 Kindergartenalter 123 Kinderselbst 95 Kindheit 139, 144, 155 Kindheitsbeziehungen 108 Klassengemeinschaft 53–55

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Klassenkameraden 23 Kleinfamilie 72 Kleinkind 14 Kompensationsmöglichkeiten 32 Konflikt 53 Konfliktfähigkeit 102 Konfliktlösung 134 Konkurrenz 94 Konstellationsforschung 92 Kraft, schöpferische 14, 65, 164 Kränkung 100 Kriegskinder 138, 155 Krisen 114 L Lebenskrise 163 Lebenssituation 40 Lebensspanne 19, 83 Lebensstile 106 Leistungsanforderungen 15 Leistungserwartungen 15 Liebesbeziehungen 120 Loyalitätskonflikt 35 M Macht 12, 117 Machtverhältnis 12, 13 Mädchendyaden 127 Mädchenfreundschaft 125 Männerfreundschaft 126 Märchen 122, 163, 164 Mutter 7, 15, 45–47, 79, 100, 155 Mutter-Kind-Beziehung 86, 111, 143

Stichwortverzeichnis

O Objektbeziehungstheorie 86, 96 Objektbindung 98 Objektpermanenz 90 Ödipuskomplex 129 Ohnmacht 14, 63 P Pädagogik 84, 85 Parentifizierung 142, 146 Partner, romantische 119, 130– 134 Partnerbeziehung 133 Patchworkfamilien 79 Peergroup-Beziehungen 81, 82 Persönlichkeitsentwicklung 92 Phantasiefreunde 121, 122 Psychoanalyse 41, 85, 86, 113 Psychologie, soziale 70 R Realitätsprinzip 15 Ressourcen 48, 119 Ressourcenorientierung 44 Re-Traumatisierung 37, 149 Rivalität 96 S Säuglingsforschung 19, 98 Schatten 7, 14, 49, 52, 60 Schattenfamilie 36 Scheidungsfamilien 69 Selbst- und Körperkonzept 130 Selbst- und Selbstwerterleben 14 Selbstanalyse 145 Selbstbild, positives 130

Stichwortverzeichnis

Selbstobjekte 19, 23 Selbstwertkrise 24 Sexualität 130 Sonderregelungen 60 Sozialisationsinstanzen 19, 23 Spielkameraden 122, 123 Stieffamilien 67–69, 71, 74–76 Stieffamiliengründung 72 Stiefkinder 75 Störung, strukturelle 42 Strukturtheorie 12, 13 Suizidalität 44 Suizidversuch 47 T Teilfamilie 73 Teilzeitstieffamilie 73 Therapieziel 47 Tod der Mutter 33 Todeswunsch 115 Trauer 149 Trauermöglichkeiten 143 Traum 145, 156–158 Traumakonfrontation 30, 44, 45 Traumatherapie 42, 43 Traumatisierung 38 Triade, ödipale 114

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Triebbedürfnisse 14 Triebenergien 158 Triebentwicklung 13 U Übertragungsbeziehung 42 Übertragungsgeschehen 40, 116 Übertragungsprozesse 27, 41, 44 Unterstützungspartner 132 V Vater 7, 46, 50, 52–55, 58, 59, 79, 100, 144, 149, 151, 155, 158 Väter, abwesende 140, 141, 148 Vaterbild 162 Vaterlosigkeit 139, 146, 148 Vater-Tochter-Beziehung 56 Vaterverlust 64 Verbundenheit 134 Verhaltenstherapie 42 W Wiederbegegnung 154 Z Zärtlichkeit 14

Die Autorinnen und Autoren

Barbara Bittner ist Lehrerin und Individualpsychologische Beraterin (DGIP) in München. Tristan Geiger ist als Diplompsychologe, Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) in Frankfurt am Main tätig. Martina Hoanzl, Dr. Mag. Phil., ist Psychoanalytikerin (DGIP), Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (DGIP), Erziehungswissenschaftlerin und als Dozentin an der Fakultät für Sonderpädagogik in Reutlingen tätig. Gerd Lehmkuhl, Univ.-Prof., Dr. med., Diplompsychologe, ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln, Dozent und Lehranalytiker (DGIP, DGPT, DAGG). Ulrike Lehmkuhl, Univ.-Prof., Dr. med., Diplompsychologin, ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsmedizin Berlin, Charité, Campus Virchow-Klinikum, Dozentin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT, DAGG). Hartmut Radebold, Univ.-Prof., Dr. med., lehrt am Institut für Alterspsychotherapie in Kassel. Lisa Rauber, Diplompsychologin, ist als Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT), Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse in Mainz tätig. Rainer Schmidt, Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Lehranalytiker (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in Aachen tätig. Anneliese Schramm-Geiger ist Diplomsozialarbeiterin in Frankfurt am Main.

Die Autorinnen und Autoren

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Inge Seiffge-Krenke, Univ.-Prof., Dr. phil., ist Professorin für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Mainz und als Psychoanalytikerin (DPV) tätig. Pit Wahl ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) in eigener Praxis in Bonn tätig.

Beiträge zur Individualpsychologie 29: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Wie arbeiten Individualpsychologen heute? 2003. 324 Seiten mit 4 Abb. und 9 Tab., kartoniert ISBN 10: 3-525-45010-9 ISBN 13: 978-3-525-45010-9 Die veränderten Rahmenbedingungen (Psychotherapeutengesetz, Sparvorgaben im Rahmen der Krankenversorgung, Leitlinien und die Notwendigkeit von Effizienz- und Effektivitätsnachweisen ...) zwingen zu kritischem Blick auf das Gewohnte und klinisch Bewährte. Die Arbeiten des Bandes zeigen, dass vieles neu durchdacht werden sollte, dass es aber auch Bewährtes in Therapie und Beratung in der Individualpsychologie gibt, das weiter zum Wohl der Patienten und Klienten genutzt werden kann und sollte.

30: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Bedeutung der Zeit Zeiterleben und Zeiterfahrung aus der Sicht der Individualpsychologie 2005. 262 Seiten mit 22 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 10: 3-525-45011-7 ISBN 13: 978-3-525-45011-6 Therapeuten und Berater versuchen in diesem Band, Zeiterfahrung aus Sicht der Individualpsychologie darzustellen. An dem

Diskurs, den Sigmund Freud bereits in seiner Abhandlung »Das Unbehagen in der Kultur« als ambivalente Gefühlslage beschrieb, da die neu gewonnene Verfügung über Zeit und Raum uns nicht glücklicher gemacht habe, beteiligen sich Autoren anderer Therapieschulen und Professionen.

31: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Gesellschaft und die Krankheit Perspektiven und Ansichten der Individualpsychologie 2005. 336 Seiten mit 16 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 10: 3-525-45012-5 ISBN 13: 978-3-525-45012-3 Die Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit den Verknüpfungen und Berührungspunkten der Begriffe »Krankheit« und »Gesellschaft«. Das Thema ist allgegenwärtig. Nicht nur Patienten, auch Ärzte, Therapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen müssen mit neuen Definitionen leben und umgehen, neue Grenzen ziehen, diese begründen und möglicherweise mit Zweifeln leben. Das Bestmögliche im Bereich Gesundheit ist nicht mehr selbstverständlich für jeden. Gefragt ist eine solide Grundversorgung, die bezahlbar ist und möglichst vielen zugute kommt. Mit anderen Worten: Wie viel an (Psycho-)Therapie können wir uns leisten?