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German Pages [553] Year 2019
Elsayed Elshahed
Europa und seine Muslime Koexistenz im Schatten vonVerschwörungstheorien
Elsayed Elshahed
Europa und seine Muslime KOEXISTENZ IM SCHATTEN VON VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Beiträge zur Wahrnehmungsproblematik der Interkulturalität und des Bewusstseinswandels im neuen Orient
B Ö H L AU V E R L AG W I E N KÖ L N W E I M A R
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien
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Danksagung Mein herzlicher Dank gilt den Menschen, die mich bei der Fertigstellung dieses Buches unterstützt haben. Dies gilt vor allem meiner Frau Anne sowie meinen Söhnen Rashid und Yazid für ihre unermüdliche seelische und sprachliche Unterstützung. Ebenfalls bedanke ich mich sehr bei Frau Ingrid Schnötzinger und meinen Kollegen Dr. Muhammad Abdelfadeel, Mag. Ibrahim El-Sadek sowie Mag. Abdalrahman Mosleh für ihre freundliche technische Hilfe. Dem Kultur-Fonds Wien bin ich für die freundliche finanzielle Unterstützung der Herstellung dieses Buches besonders dankbar. Allgemeine Erklärung Männliche Form = weibliche Form. Entstammt der Feder des Autors.
Inhalt VORWORT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Einführung in die Thematik I: Über die Wahrnehmungsproblematik der Interkulturalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Verantwortungsanteil der Muslime in Europa. . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Exkurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Zwischen Integration und Assimilation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Einführung in die Thematik II: Zur Definitionsproblematik der „Interkulturalität“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Kultur und Interkulturalität zwischen Begrifflichkeit und Wahrnehmungsproblematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Die Frage nach der Autonomie des Verhaltenskodexes. . . . . . . . . . . . . . 29 Von der Konzeption zur Realisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1 ZUM BEGRIFF „ISLAM“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Monotheismus, eine Religion oder mehrere?. . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Kernbotschaft aller Propheten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Schutzmaßnahmen für den islamischen Monotheismus. . . . . . . . 1.1.3 Gottesbeweise, kurz angesprochen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Selbstverständnis des Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Muslime unter christlichem Schutz.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.6 Anspruchsbegründung aus der Bibel?. . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Propheten Muhammad und Jesus, koranische Darstellung: „Zu euch ist einer von euch gekommen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Jesus im Koran. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Fünf Worte Johannes’ des Täufers und die fünf Säulen des Islam. . 1.3 Problemfeld des monotheistischen Selbstverständnisses zwischen Christentum und Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Problemfeld aus dem Koran. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Gott, Drei in Einem?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Erster innerkirchlicher Streit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran. . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Einführung ins Thema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Islamische Perspektive der Erkenntnistheorie. . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Abraham als Philosoph und Prophet. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.4.4 Islamische Einteilung der Erkenntnis bzw. des Wissens. . . . . . . . . . . 80 1.4.5 Mit dem Herzen verstehen? Über die eigentlichen Funktionen des Herzens und der Sinnesorgane. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
2 KORAN UND KORANEXEGESE. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das Primat des Koran im Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Gründe für eine einheitliche Koranfassung. . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Über den thematischen Inhalt des Koran. . . . . . . . . . . . . . 2.2 Tafsir bzw. Koranexegese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Begriffserklärung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Legitimation und Aufteilung der Koranexegese. . . . . . . . 2.2.3 Die derzeitige Aufteilung der Koranexegese.. . . . . . . . . . . . 2.3 Interpretationsmethoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Ibn Taimiya und sein Buch „Muqaddima fi usul at-tafsir“. . . . . 2.3.2 Allgemeine methodische und inhaltliche Bemerkungen. . . . . . 2.3.3 Einige Bemerkungen zur arabischen Edition dieses Werkes. . . . . 2.4 Der Koran und die Hermeneutik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Was ist Hermeneutik? Ihr Werdegang. . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Islamische Hermeneutik (Ta’wil) I. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Heilige Schriften zwischen Hermeneutik und historischer Kritik. . 2.4.4 Exkursion: Westliche Koranforschung, Ergebnisse der Berliner Konferenz vom 21. bis 25. Januar 2004. . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 ISLAMISCHE THEOLOGIE – BEGRIFFSANALYSE UND AUFGABENBEREICH. . . . . . . . . . . . 115 3.1 Begriffs- und Übersetzungsproblematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.2 Aufgabenbereich der islamischen Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.3 Bemerkungen zum Gottesbild im Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3.3.1 Das Problem der Gottesattribute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.3.2 Zurück zum reinen Monotheismus.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.3.3 Bilderverbot und Monotheismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.3.4 Islamische und christliche Problemfelder. . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.4 Zum Begriff „Unglaube“ bzw. „ungläubig“ – Zwischen koranischer Konzeption und christlicher Definition.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.4.1 Allgemeine Definition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.4.2 Unglaube im Christentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3.4.3 Die koranische Konzeption des Begriffs „Unglaube“. . . . . . . . . . . 130 3.4.4 Wo liegt das Problem mit dem Begriff „Kuffar“?. . . . . . . . . . . . . 133 3.4.5 Apostasie im heutigen innerislamischen Diskurs. . . . . . . . . . . . . 137
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Inhalt
3.5 Das Gesetzesverständnis im Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Theologische und lebenspraktische Bedeutung der Scharia. . 3.5.2 Komponenten der islamischen Scharia. . . . . . . . . . . . 3.5.3 Beispiele aus der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Verbindliche und unverbindliche Anweisungen. . . . . . . 3.5.5 Grundprinzipien der islamischen Weltanschauung. . . . . . 3.5.6 Scharia als Gesamtkonzeption der islamischen Religion. . . 3.5.7 Grundzüge der islamischen Weltanschauung in Punkten zusammengefasst.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 DJIHAD – KAMPF? KRIEG? HEILIG? GEGEN WEN?. . . . . . . 4.1 Ein Wort zuvor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Arten des Djihad. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die theologische Grundlage des Djihad. . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Die koranische Konzeption des „Djihad“.. . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Von der Theorie zur Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Problematik der Gewaltanwendung aus islamischer Sicht. . . . . . 4.2.1 Islam und Muslime. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Islamische Kriegsbestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Der Islam: Friedens- oder Kriegsreligion?.. . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Haus des Islam und Haus des Krieges?. . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Durch Toleranz oder mit Feuer und Schwert? Westliche Stimmen. 4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?.. . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Islamismus, Djihad und Terror – Theologische Begründung?.. . . 4.3.2 Die koranische Konzeption des Djihads. . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Status der Nichtmuslime in der islamischen Gesellschaft. . . . . . 4 .3.4 Schlussgedanken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 RELIGION UND POLITIK IM ISLAM – EINE UNSÄKULARE AUFFASSUNG. . . . . . . . . . . 5.1 Säkularität und Religionsfreiheit aus islamischer Sicht. . . . . 5.1.1 Der Islam und Europa. . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Muslime und der Minderheitenstatus. . . . . . . . . . 5.2 Kann sich der Islam den Problemen der Moderne stellen?. . . 5.2.1 Berührungsangst, das größte Hindernis. . . . . . . . . 5.2.2 Wie kann man diesen Hindernissen entgegenwirken?. . 5.2.3 Die erste Menschenrechtserklärung und die Erfindung der „Staatsbürgerschaft“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.2.4 Vom Dialog und Trialog zum Multilog – Eine Zukunftsperspektive oder Träumerei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.3 Wie viel Gott verträgt die säkulare Gesellschaft? – Zu einer neuen Form der Säkularität in der Postmoderne (Reformsäkularität). . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.3.1 Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.3.2 Die Vorgeschichte: Der philosophische Diskurs. . . . . . . . . . . . . 201 5.3.3 Der politische Diskurs – Die Dialektik Religion/Staat. . . . . . . . . . 203 5.3.4 Säkularität als Antithese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.3.5 Aufbruch einer neuen Epoche?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.3.6 Warum Islamophobie? Ein psychoanalytischer Einblick. . . . . . . . . 207 5.4 Das Verhältnis von Staat und Religion – Die Stellung des Islam in Ägypten.. 208 5.4.1 Ein Wort vorab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.4.2 Ein historischer Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5.4.3 Bestandaufnahme der gegenwärtigen Situation. . . . . . . . . . . . . . 211 5.4.4 Ägypten zwischen Theokratie und Säkularität. . . . . . . . . . . . . . 213 5.5 Schurakratie, keine Theokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5.5.1 Totalitarismus aus islamischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . 215 5.5.2 Demokratische Ansätze im Ur-Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 6 THEODIZEE, EINE IMPLIKATION DER GÖTTLICHEN VOLLKOMMENHEIT?.. . . . 6.1 Denkanstöße aus der islamischen Geistesgeschichte.. 6.2 Jenseits von Prädestination und Willensfreiheit. . . . 6.3 Gott, jenseits von Gut und Böse. . . . . . . . . . . 6.4 Plädoyer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 MYSTIK IM FRÜHISLAM.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die mystische Essenz im Koran.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Ansätze der Psychoanalyse und Psychotherapie in der frühislamischen Mystik. 7.3 Thematische Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zum Terminus „Sufismus“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Zusammenfassung der Vorgeschichte.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 „Maqamat“ und „Ahwal“ zwischen „Qabdh“ und „Bast“. . . . . . . . . 7.5 Koranische Ansätze für die Psychoanalyse – Die Seele als Quelle der Krankheiten und Objekt des Heilens. . . . . . . . . 7.5.1 Anatomie der Seele.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Die psychischen Krankheiten als Krankheiten des Herzens. . . . . . . . 7.6 Einige der bekanntesten Herzkrankheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Der ständige Zweifel (al-waswasa). . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7.6.2 Der Zorn (al-ghadab). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 7.6.3 Überheblichkeit, Narzissmus und Eitelkeit (al-kibr, al-ʿujb und al-ghurur). 257 7.6.4 Ein praktisches Beispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 7.7 Macht Religion krank?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 7.8 Exkurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 8 DER BEITRAG DER JÜDISCHEN PHILOSOPHEN IM BEREICH DES ISLAMISCHEN DENKENS AM BEISPIEL MAIMUNIDES. . . . . . . 267 8.1 Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 8.2 Die jüdische Philosophie – Identität, Anfang und Nachwirkung. . . . . . . . 269 8.3 Historischer Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 8.4 Schwerpunkte der jüdischen Philosophie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 8.5 Widerhall Plotins in der islamischen Philosophie.. . . . . . . . . . . . . . . 279 8.6 Maimunides – Ein Kind der islamischen Kultur?. . . . . . . . . . . . . . . . 280 9 INTERKULTURELLE ERZIEHUNG ALS EINE RELIGIONSPÄDAGOGISCHE HERAUSFORDERUNG. . . . . 287 9.1 Einleitender historischer Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 9.1.2 Im Vorfeld der Problematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 9.1.2 Einige Aspekte der gegenwärtigen Problematik. . . . . . . . . . . . . . 290 9.2 Der private Islamische Religionspädagogische Hochschulstudiengang in Wien – Ein Pilotprojekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 9.2.1 Das Lehrprogramm in fünf große Einheiten unterteilt. . . . . . . . . . 291 9.2.2 Ein älteres Modell in Kairo, vergleichbar mit der Wiener IRPA. . . . . . 292 9.2.3 Die Landessprache als unentbehrliche Voraussetzung für die Integration. 293 9.3 Die Problematik des islamischen Religionsunterrichts in Europa. . . . . . . . 296 9.3.1 Drei Punkte im Zusammenhang mit der Problematik des islamischen Religionunterrichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 9.3.2 Einige profane Denkansätze zu einer islamischen Religionspädagogik.. 297 9.3.3 Das österreichische Beispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 9.3.4 Adaption von neu gewonnener nationaler und eigener religiöser Identität.301 9.4 Die Darstellung des Christentums in den Schulbüchern islamisch geprägter Länder (Das 8. Nürnberger Symposium, September 2003).. . . . . . . . . . . . . . 303 9.4.1 Gemeinsame Punkte der vier Berichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 9.4.2 Gemeinsame Punkte der vier Rezensenten. . . . . . . . . . . . . . . . 304 9.4.3 Vorbemerkungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 9.4.4 Besprechung des Berichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 9.4.5 Hierzu die folgenden Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
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10 INFORMATIONSPOLITIK – POLITIK, MEDIEN UND MILITÄR, EINE UNHEILVOLLE ALLIANZ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 10.1 Die Menschenrechtserklärung und die Medienfreiheit.. . . . . . . . . . . . 310 10.2 Die UNESCO und die Medienfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 10.3 Zwischen Recht und Pflicht – Kritische Stimmen. . . . . . . . . . . . . . . 314 10.4 Medien und Politik – Wer manipuliert wen?. . . . . . . . . . . . . . . . . 316 10.5 Der „Wüstensturm“, Krieg zur Befreiung Kuwaits?. . . . . . . . . . . . . . 319 10.6 Der Heilige Krieg gegen den Terrorismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 11 WOHLFAHRTINITIATIVEN IM ISLAM. . . . . . . . . . . . . 11.1 Definition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Historische Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Diakonische Institutionen in Ägypten.. . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Einige Entwicklungen in Zahlen als Beispiel. . . . . . . . . . . . . 11.5 Die wichtigsten und bekanntesten islamischen Wohlfahrt-Dachorganisationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Abschlussbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt.. . . . . . . . . . 11.7.1 Was ist ein Symbol?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7.2 Verschiedene Arten der Symbolik. . . . . . . . . . . . . . . . 11.7.3 Von der Vernunft zur Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7.4 Wie reagieren Christen in ähnlichen Fällen?.. . . . . . . . . . 11.7.5 Pressefreiheit, Recht und Verantwortung – Westliche Stimmen.
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12 DIE WAHRNEHMUNGSPROBLEMATIK DER RELIGIONSUND MEINUNGSFREIHEIT IN EUROPA. . . . . . . . . . . . . . 12.1 Zwischen Recht und Pflicht aus islamischer Sicht. . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Zwischen Menschenrechten und Menschenwürde. . . . . . . . . 12.1.2 Zwischen Theorie und Praxis – Ein aktuelles Beispiel. . . . . . . . 12.2 Ist der Islam die Alternative?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Die islamische Scharia und der Zeitwandel. . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Gegenwärtige islamische Menschenrechtserklärungen.. . . . . . . 12.3 Zur Wahrnehmungsproblematik der Religionsfreiheit in Europa. . . . . 12.3.1 Die Religionsfreiheit als Baustein einer konstruktiven Integration. . 12.3.2 Vier Aspekte müssen hier berücksichtigt werden. . . . . . . . . . 12.3.3 Was müssen wir tun?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Ein Volksentscheid, seine Bedeutung, Tragweite und Folgen.. . . . . . .
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13 TECHNIK UND PERFEKTION IN DER ISLAMISCHEN WELTANSCHAUUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 13.1 Definitionen und Relationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 13.2 Der arabische Begriff „Teqniya“ im Koran und der Sunna. . . . . . . . . . . 372 13.2.1 Im Koran. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 13.2.2 In der Überlieferung des Propheten Muhammad (Sunna). . . . . . . . 373 13.2.3 Die religiöse Dimension des Begriffs „Perfektion“, weitere relevante Begriffe. 373 13.3 Exkurs: Zu den Bezeichnungen „islamisch“ und „arabisch“. . . . . . . . . . 375 13.3.1 Wie steht der Islam zu Technik und Forschung?.. . . . . . . . . . . . 375 13.3.2 Was sagt die Sunna dazu?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 13.3.3 Konkrete Beispiele aus dem islamischen theosophischen Bereich. . . . 377 13.4 Beispiele aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. . . . . . . . . . . . . . 380 13.4.1 Der theologische Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 13.4.2 Konkrete Leistungen der muslimischen Naturwissenschaftler. . . . . . 381 14 DER BEWUSSTSEINSWANDEL IM NEUEN ORIENT – EIN REGIONALER UMBRUCH MIT ÜBERREGIONALER TRAGWEITE. 385 14.1 Im Vorfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 14.2 Nur Brot oder soziale Gerechtigkeit und Demokratie?.. . . . . . . . . . . . 393 14.3 Historische Wende?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 14.4 Stolpersteine und Konterrevolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 14.5 Summa summarum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 14.6 Licht ins Dunkel?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 14.6.1 Offene Fragen zu diesem Thema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 14.6.2 Folgende vier Fakten zur veränderten Wirklichkeit. . . . . . . . . . . 409 14.6.3 Katalog selbstkritischer Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 14.7 Was sollen wir tun bzw. was könnte die Mehrheitsgesellschaft von uns erwarten?. 411 14.7.1 Und was können europäische Muslime von der Mehrheitsgesellschaft erwarten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 14.7.2 Interkulturelle Grundsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 14.7.3 Abschließendes Wort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 15 DIE LAGE DER CHRISTLICHEN MITBÜRGER IN ÄGYPTEN – EINLADUNG ZU EINER SACHLICHEN DISKUSSION. . . . . . . . 419 15.1 Ursachenforschung anstatt Schuldzuweisung. . . . . . . . . . . . . . . . . 419 15.2 Eine christliche historische Sichtweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
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15.3 Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Stellungnahme der Katholischen Presseagentur Österreich. . . . 15.5 Umstrittene Statistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.6 Die soziale Lage der christlichen Mitbürger. . . . . . . . . . . . 15.7 Ägyptische Christen in der ägyptischen Wirtschaft. . . . . . . . 15.8 Islamische Sicherheitsgarantien für ägyptische Christen. . . . . . 15.8.1 Beispiele aus der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . 15.8.2 Prominente ägyptisch-christliche Stimmen. . . . . . . . . 15.8.3 Nun, was tun?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.8.4 Eine Presseerklärung und was daraus hervorgeht. . . . . . 15.8.5 „Kommt zu einem Wort des Ausgleichs“ – Ein bislang nicht wahrgenommenes koranisches Friedensangebot. . . . . . .
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16 DIE PROBLEMATIK DES INTERRELIGIÖSEN DIALOGS AUS ISLAMISCHER SICHT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Zur Methodik des Dialogs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.1 Notwendigkeit des Dialogs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.2 Hans Küngs Projekt „Weltethos“. . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.3 Hindernisse.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.4 Innermuslimische Probleme mit dem Dialog. . . . . . . . . . . 16.1.5 Ermutigung zum Dialog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Perspektiven und Grenzen des christlich-islamischen Dialogs. . . . . . 16.2.1 Die Wahrnehmungsproblematik des Anderen.. . . . . . . . . . 16.2.2 Streitpunkte des christlich-islamischen Dialogs. . . . . . . . . . 16.2.3 Erster innerkirchlicher Streit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2.4 Islamische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2.5 Problemfeld: Stellungnahme des Koran. . . . . . . . . . . . . . 16.3 Zwischen Dialog und Einheit der Religionen. . . . . . . . . . . . . . 16.3.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.2 Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.3 Vorgedanken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.4 Chronologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.5 Analytische Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.6 Fragen an die Muslime in Europa. . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.7 Fragen an die Europäer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.8 Erwartungshaltung gegenüber Muslimen in Europa.. . . . . . . 16.3.9 Islamische Grundsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
THEMENRELEVANTE ANHÄNGE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 1: Erklärung über die Ereignisse von Kushh. . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 2: Erklärung zum verbrecherischen Attentat auf eine Koptische Kirche in Alexandria/Ägypten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 3: Erklärung zu den sozialen Unruhen in den nordafrikanischen Ländern. Tunesien und Algerien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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THEMENRELEVANTE BEITRÄGE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Beitrag 1: Die Blütezeit der Muʿtazila und ihre Rezeption bei den Spätmuʿtaziliten. 475 Beitrag 2: Zwischen Tabubrechern und Kämpfern gegen die Zensur. . . . . . . . 493 Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich. . . . . . . . . . 495 Beitrag 4: Der politische Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Beitrag 5: Parlament und Schura. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Beitrag 6: Die Kairoer Rede des USA-Präsidenten Barack Obamas in deutscher Übersetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 AUSGEWÄHLTE LITERATURHINWEISE. . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 REGISTER. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Vorwort Die ersten direkten kulturellen Berührungsmomente der islamischen mit der europäischen Kultur gehen bereits auf die Zeit vor dem 8. Jahrhundert zurück. Egal aus welcher Perspektive man sie betrachtet, sie waren vielseitig und von einer bewussten oder unbewussten gegenseitigen Befruchtung gekennzeichnet. Auch auf militärische Konfrontationen folgten immer kulturelle Herausforderungen, denen sich beide Konfliktparteien stellen mussten und von denen sie sich unbemerkt beeinflussen ließen. Diese gegenseitige Einflussnahme spiegelt sich bis heute am deutlichsten insbesondere in den jeweiligen Kultur- bzw. Wissenschaftssprachen wider. Naturwissenschaftliche, medizinische, aber auch geisteswissenschaftliche Fachausdrücke arabischen Ursprungs sind in europäischen Kulturkreisen bis heute gegenwärtig. Im historischen Gedächtnis und Bewusstsein des Menschen bleiben jedoch negative Erfahrungen stärker als positive haften. Diese negativen, im Unterbewusstsein verborgenen Eindrücke prägen, teils bewusst, teils unbewusst, die Wertschätzung der einen Kultur gegenüber der anderen und beeinflussen den Umgang der verschiedenen Kulturen miteinander. Die Heterogenität beider Kulturkreise, des muslimischen und des europäischen, erschwert zusätzlich die Erstellung eines allgemeingültigen Entwurfs, der die Beziehungen Europas zu den in dem jeweiligen europäischen Land lebenden Muslimen regeln soll. Denn jede Volksgemeinschaft hält in unterschiedlichem Maße, trotz vieler gemeinsamer Wertvorstellungen, an ihren eigenen Traditionen, Werten und Maximen fest und verwendet sie als Maßstab, an dem sich die anderen Kulturen ungewollt messen lassen müssen. Schon die Bezeichnung „Europa“ bzw. „der Westen“ als ein kultureller Gegenbegriff für die „muslimische Welt“ ist eine irreführende Begriffskonstellation, da sie die Muslime in Europa, wie auch die Europäer, als monolithische Gemeinschaften darstellt. Neben muslimischen Europäern mit Migrationshintergrund gibt es eine beachtliche Zahl an ursprünglich europäischen Muslimen. Verschiedene Sprachen, Mentalitäten und Traditionen sind Merkmale der kulturellen Heterogenität sowohl der Muslime als auch der Europäer. Ohne die Bedeutung der differenten Weltanschauungen und Selbstverständnisse der beiden Kulturkreise zu unterschätzen oder sie gar unter den Teppich kehren zu wollen, sollten wir vehement nach kulturellen Gemeinsamkeiten suchen und sie ans Tageslicht fördern. Dabei sind alle religiösen, kulturfördernden, pädagogischen, gesellschaftspolitischen Institutionen und vor allem die Massenmedien aufgefordert,
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Vorwort
alle in ihrer Macht stehenden Mittel im Dienste dieses Zwecks nicht selektiv einzusetzen. Aufklärung und nicht Verklärung sollte eigentlich die Aufgabe der meinungsbildenden Institutionen sein. Der Missbrauch der Meinungsfreiheit ist im wahrsten Sinne der größte Feind der Meinungsfreiheit selbst. Auch eine selektive Wahrnehmung des anderen ist ein heilloses Produkt manipulierter und manipulierender meinungsbildender Institutionen. Dass es Aggressionen im Namen des Islam gegenüber Andersgläubigen gab und immer noch gibt, ist eine traurige Wirklichkeit. Sie darf aber nicht dazu missbraucht werden, die islamische Religion an sich als Gewaltreligion zu diffamieren. Gewalt gegenüber Andersgläubigen, u. a. gegen Muslime, gab und gibt es bis heute auch bei Anhängern anderer Religionen. Diese Tatsache darf keineswegs eine Rechtfertigung für irgendwelche pseudo-religiös begründeten Gewaltanwendungen gegen Unschuldige sein. Keine Religion darf an den Handlungen einiger ihrer Anhänger gemessen bzw. beurteilt werden. Allein der Mensch selbst und die Art seines Handelns, keineswegs seine Religion, soll der Gegenstand der jeweiligen Urteilsfindung sein. Verschwörerische Ängste gibt es nicht nur zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern ebenso und in gleicher Stärke zwischen traditionellen Muslimen einerseits und den sogenannten liberalen Muslimen andererseits. Diese werden sogar noch misstrauischer betrachtet als Nichtmuslime. Denn vor Nichtmuslimen nehmen sich die konservativen Muslime automatisch in Acht und erwarten von ihnen, meistens zu Unrecht, nichts Gutes. Man könnte für sie sogar eine Entschuldigung finden, in dem man ihnen die Unkenntnis über den Islam unterstellt. Die sogenannten liberalen Muslime dagegen hätten keinen Grund für ihre vermeintliche Unkenntnis über den wahren Islam, denn die meisten von ihnen leben oder lebten zumindest in einer islamischen Gesellschaft und könnten die islamische Originalliteratur selbst lesen. Man unterstellt ihnen sogar den Versuch, den Islam absichtlich schädigen zu wollen. Die konservativen Muslime leben also in einer doppelseitigen Verschwörungstheorie. Dieses Buch versteht sich als Denkanstoß und Diskussionsbeitrag zu unserer defizitären Wahrnehmung des anderen. Es sieht sich auch als dringender Appell, moderat miteinander umzugehen, jeden auch noch so bescheidenen individuellen oder institutionellen Versuch, die kulturelle Kluft zu schließen, konstruktiv zu unterstützen und vor allem moderaten Stimmen nicht mit Misstrauen zu begegnen bzw. sie als Fundamentalisten zu diffamieren. Moderate Stimmen, von welcher Seite sie auch immer kommen, sind unsere einzigen Hoffnungsträger für ein besseres und friedvolleres Zusammenleben in einer menschlicheren Gesellschaft. Dieses Buch versteht sich ferner als Aufruf zu einer aufrichtigen Selbstkritik, jenseits von jeglichen egozentrischen Ambitionen. Muslime haben auf dem Gebiet der
Vorwort
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ernsthaften Selbstkritik immer noch sehr viel nachzuholen. Und dies, obwohl die ersten muslimischen Generationen bis vor etwa tausend Jahren sehr hart mit sich ins Gericht gegangen sind. Sie suchten die Fehler zu allererst bei sich selbst und dann anderswo. Also genau das Gegenteil von dem, was viele Muslime heute tun. Durch die auch theologisch belegbare Selbstkritik konnten die Muslime nicht nur ihre eigene Kultur vorantreiben, sondern ebenso andere Kulturkreise positiv beeinflussen. Graduell stehen Selbstkritik und Fortschrittsgrad einer Zivilisation in adäquater Beziehung zueinander. Inhaltlich besteht dieses Buch hauptsächlich aus interkulturellen Beiträgen, die in Fachzeitschriften und Konferenzsammelbänden in Österreich, Deutschland und der Schweiz veröffentlicht worden sind. Einige dieser Beiträge waren Gegenstand heftiger öffentlicher Diskussionen in den Massenmedien des deutschsprachigen Raums. Der Wunsch vieler europäischer und muslimischer Interessenten und Mitdiskutanten nach Veröffentlichung all dieser Beiträge in Buchform war für mich der ausschlaggebende Grund dieser Arbeit. Die Entstehungsgeschichte dieses Buchs hat wider Willen dazu geführt, dass sich einige Passagen bzw. Informationen aus kontextuellen Gründen wiederholen. Hierfür bitte ich den Leser um Entschuldigung. Aus drei Perspektiven werden die Schwerpunkte hier angegangen: Einer kultur-philosophischen, einer theologisch-mystischen und einer gesellschaftspsychologischen. Der erste Teil des Buches bietet eine kulturphilosophische Diskussionsgrundlage über die Begrifflichkeit von Kultur und Interkulturalität in Zusammenhang mit dem Primat dreier relevanter Begriffe wie „Konsens“, „Kommunikation“ und „Realisation“ bzw. „Verhalten“. Im theologischen Teil werden dem Koran, seinem Stellenwert und der Problematik seiner Interpretation besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dem Bereich des interreligiösen bzw. des interkulturellen Dialogs sowie der Problematik der Integration von Muslimen mit Migrationshintergrund in Europa wurde dabei fokussiert betrachtet. Das Gottesbild und die Eigenschaften bzw. das monotheistische Selbstverständnis im Islam in Auseinandersetzung insbesondere mit dem christlichen Selbstverständnis wird in verschiedenen Zusammenhängen dargestellt. Auf die Fragen nach Perspektiven und Grenzen des interreligiösen Dialogs sowie der Bedeutung des Koran, der Koranexegese, des islamisches Rechts und der Mystik als Integrationsbeiträge wurde ebenfalls thematisch rahmengerecht eingegangen.
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Vorwort
Einführung in die Thematik I: Über die Wahrnehmungsproblematik der Interkulturalität
Dass sich der Weg zu einer konstruktiven interkulturellen bzw. interreligiösen gegenseitigen Wahrnehmung im Schatten von Verschwörungstheorien nur schwierig gestalten lässt, wird uns fast tagtäglich vor Augen geführt. Unterschiedliche, ja oft gegensätzliche kulturelle, religiöse und geschichtliche Verständnisse erschweren das gegenseitige Verstehen und die objektive Wahrnehmung des anderen merklich. Das egozentrisch orientierte Selbstverständnis des jeweiligen Kulturkreises lässt jedes, auch gut gemeinte, interkulturelle Gespräch ins Leere laufen. Der sogenannte „Dialog der Elite“ beweist sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten, neben anderen, als ein sich lohnendes Unterfangen. Die erwartete Wirkung derartiger Dialogführung kommt jedoch bei der Masse nur in bescheidenem Maße an. Dennoch: Trotz aller Schwierigkeiten bleibt der interkulturelle Dialog die einzige vernünftige Alternative, um den Folgen der letzten dramatischen Entwicklungen im Nahen Osten begegnen zu können. Die mit zunehmender Spannung beladene Wahrnehmung der Muslime in der europäischen Öffentlichkeit sowie mangelhafte und fragmentale Kenntnisse vieler Muslime über Kultur, Religion und Sozialstrukturen in Europa erhöhen das Konfliktpotential. Ebenso sind die unheilvolle Vermischung zwischen Religion und Tradition bei vielen muslimischen sowie nichtmuslimischen Volksgruppen und nicht zuletzt die heutige verbesserungsbedürftige weltpolitische Lage, meines Erachtens, für die insbesondere in den letzten Jahrzehnten immer tiefer werdende Kluft zwischen der islamischen Kultur auf der einen Seite und der westlichen Kultur auf der anderen Seite vordergründig verantwortlich. Dieser teilweise kulturell geführte „kalte Krieg der Unkulturen“ zwischen den zwei an und für sich verwandten Kulturkreisen bedarf ernsthafter, effektiver und nachhaltiger Gegenmaßnahmen. Die meisten Menschen sehen die Religion des anderen ausschließlich aus ihrer eigenen Warte und projizieren nicht selten ihre eigenen negativen historischen Erfahrungen auf die Anhänger der anderen Religion. Gestörte bzw. unbewusste selektive Wahrnehmung des anderen sowie Pauschalierung der Urteile und Kollektivierung von Schuldzuweisungen bilden Störfaktoren mit erheblichen Konsequenzen für eine Interkulturalisierung der Gesellschaft. In seiner Rede an der Kairoer Universität im letzten Sommer sagte der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Barack Obama (in deutscher Übersetzung) Folgendes:
Einführung in die Thematik I: Über die Wahrnehmungsproblematik der Interkulturalität
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Als Geschichtsstudent weiß ich auch um die Schuld der Zivilisation gegenüber dem Islam. Es war der Islam – an Orten wie der Al-Azhar Universität – der das Licht der Bildung über so viele Jahrhunderte getragen und den Weg für die europäische Renaissance und Aufklärung bereitet hat. Es waren Innovationen in muslimischen Gesellschaften, durch die die Ordnung der Algebra entstanden, unser magnetischer Kompass und die Instrumente der Navigation, unsere Fähigkeit Federhalter herzustellen und unsere Beherrschung des Drucks sowie unser Wissen um die Verbreitung von Krankheiten und wie sie geheilt werden können. Die islamische Kultur hat uns majestätische Bögen und hohe Gewölbe beschert, zeitlose Poesie und geschätzte Musik, elegante Kalligraphie und Orte der friedlichen Kontemplation. Im Verlaufe der Geschichte hat der Islam durch Worte und Taten die Möglichkeiten der religiösen Toleranz und ethnischen Gleichberechtigung demonstriert1.
Islamophobie in Europa und Westophobie in islamischen Ländern, sowie der fast kollektive, tiefe Verfall in Verschwörungstheorien und eine heillose Opferrolle auf beiden Seiten sind die Folgen eines im Bevölkerungsbewusstsein wachsenden beiderseitigen Misstrauens, das auf einer nicht ausreichend objektiven Aufarbeitung der jeweiligen kulturpolitischen Geschichte beruht. Parallelen zwischen dem, wie Islamophoben heute mit Muslimen und allem, was islamisch sein könnte, umgehen, und dem, wie antisemitistische Faschisten im letzten Jahrhundert mit religiösen und ethnischen Minderheiten umgingen, sind unübersehbar. Diese Parallelen werden meistens verdrängt und als geistarm abgetan. Verantwortungsanteil der Muslime in Europa
Die Muslime im Allgemeinen und die muslimischen Minderheiten in Europa im Speziellen dürfen sich nicht hinter dem Vorwand verschanzen, sie seien Opfer einer aggressiven rechtspopulistischen Hetzkampagne, und sich damit vor der Verantwortung für ihre nicht zufriedenstellende Situation drücken. Durch ihre passive Haltung der europäischen Gesellschaft und Kultur gegenüber und der teilweisen Selbstghettoisierung tragen sie selbst zur Verschlechterung ihrer Situation bei, in dem sie oft um jeden Preis auf traditionsbedingtes Verhalten beharren. Religiös bedingte Erscheinungsformen (Bekleidungen) müssen dagegen von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert werden und dürfen keineswegs als Grund für versteckte, und noch weniger für eine öffentliche Diskriminierung missbraucht werden.
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Für die vollständige Rede siehe Anhang IV.
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Vorwort
Der bekannte Spruch „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ führt zwangsläufig zur Selbstghettoisierung und trifft auf alle Minderheiten zu. Die Gründe dafür sind hauptsächlich sozial-psychologischer Natur. Nicht anders haben sich die europäischen Einwanderer in Amerika ab dem 17. Jahrhundert verhalten. Sie lebten in kulturell geschlossenen Kolonien, wo sie über Generationen hinweg jeweils ihre Sprache, Kultur und Tradition pflegten. Sie tun es heute noch, wenn sie im Ausland leben. Sie leben in geschlossenen Camps, so wie sie in ihren Herkunftsländern leben. Man braucht nur in die Golfstaaten zu reisen, um zu sehen, wie weit entfernt sie von der einheimischen Kultur im Gastland sind. Von gegenseitiger Anerkennung sind beide Seiten weit entfernt. Nicht, dass ich diese gegenseitige Ausgrenzung gutheiße. Aber man sollte auch diese Tatsache in die heutige verwirrende Debatte über Fremde in Europa einfließen lassen. Die Angst vieler Europäer vor kultureller und demographischer Überfremdung, die ich persönlich ernst nehme und bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann, ist keine Erfindung der Moderne. Sie geschieht auch nicht nur zwischen Europäern auf der einen und Nichteuropäern auf der anderen Seite, sondern auch unter Westeuropäern aus unterschiedlichen Nationen und Kulturkreisen. Engländer und deutsche Einwanderer in der damaligen neuen Welt, Amerika, haben sich nicht gut vertragen. Diffamierungen und rassistische Äußerungen waren nicht selten Gegenstand der damaligen Auseinandersetzungen. Die Anschuldigungen gegen Fremde, die im 18. Jahrhundert dokumentiert wurden, gleichen den heutigen. Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der USA und Mitglied des gewählten Abgeordnetenhauses von Pennsylvania, erklärte im Jahr 1753 in einem Brief über deutsche Einwanderer2: „Diejenigen, die hierher kommen sind im Allgemeinen von der ignorantesten, dümmsten Sorte ihrer Nation. Es ist fast unmöglich, ihnen überkommene Vorurteile wieder zu nehmen“. Über ihre angebliche Unfähigkeit, sich demokratische Werte anzueignen, schreibt er: „Da sie an die Freiheit nicht gewöhnt sind, können sie mit ihr nichts anfangen. Sie lehnten es bescheiden ab, an unseren Wahlen teilzunehmen, aber jetzt kommen sie in hellen Scharen“. Seine Angst vor einer demographischen Überfremdung durch die deutschen Einwanderer drückt er folgendermaßen aus: „Kurz, wenn es uns nicht gelingt, ihren Zuflussstrom von dieser in andere Kolonien zu lenken, werden sie uns bald an Zahl übertreffen“. Seine Angst vor kulturelle Überfremdung bringt er in einem Essay von 1751 durch die Frage zum Ausdruck: „Warum sollte Pennsylvania, gegründet von den Engländern, eine Kolonie der Fremden werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren, anstatt dass wir sie anglisieren?“ Wurde Pennsylvania tatsächlich germanisiert oder ist das Gegenteil geschehen? 2
Die Nachtausgabe vom 13. Oktober 2010.
Einführung in die Thematik I: Über die Wahrnehmungsproblematik der Interkulturalität
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An offenen Rassismus grenzend, hat sich Benjamin Franklin am angeblich „dunkelhäutigen“ Aussehen (swarthy complixion) auch anderer Europäer gestört, da es sie irgendwie den Afrikanern ähnlich machen könnte. Er sagt: „In Europa sind Spanier, Italiener, Franzosen, Russen und Schweden von, wie wir es sagen, dunkler Hautfarbe, so wie auch die Deutschen, mit Ausnahme der Sachsen, die mit den Engländern den Hauptteil der weißen Menschen ausmachen“. Die oben erwähnten Äußerungen von Benjamin Franklin sind einem sehr interessanten Zeitungsartikel von Peter Seidel im Kölner Stadtanzeiger vom 13. Oktober 2010 entnommen, in dem er einen Vergleich zwischen Franklins Äußerungen und jenen von Thilo Sarrazin in seinem inzwischen zum Bestseller gewordenen Buch „Deutschland schafft sich ab“3 zieht. Am 28. August 2018 erschien das zweite Buch von Thilo Sarrazin unter einer noch provokativeren Überschrift: „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“4. Sarrazin setzt seinen islamfeindlichen Kurs durch dieses Buch fort und erntet damit vielseitige Kritik, auch aus Reihen seiner Partei SPD. Seine These der „Islamisierug der deutschen Gesellschaft“ sehen manche Kritiker als islamfeindlich und Sarrazin als einen Wiederholungstäter, wie Maria Prchal in einem Artikel bei der Wiener Tageszeitung „Kurier“ schreibt.5 Ich gehe nicht auf die umstrittenen Thesen Sarrazins ein und begnüge mich in diesem Zusammenhang damit, auf in diesem Buch erwähnte deutsche und englische Fachliteratur aus den Bereichen der Geschichte, der Naturwissenschaften, der Medizin, der Philosophie, der Orientalistik und der christlichen Theologie zu verweisen.6 Exkurs
Im Jahr 1708 schrieb der englische Historiker Simon Okley (Cambridge University) ein Buch namens „The History oft the Saracens“7. Dabei handelt es sich um arabische Stämme, die in der Region Petra in Jordanien unter der römischen Herrschaft gelebt haben. Diese Bezeichnung „Saracens“, auf Deutsch „Sarazenen“, wurde im Mittelalter für 3 4 5 6
7
13. Aufl., München, AVD, 2010. München, FBV Verlag, 2018. Kurier, 31. August 2018, S. 7. Siehe u. a. Wiedemann, Eilhard: Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften bei den Arabern; Sezgin, Fuat (Hrsg.): Vorträge zur Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften, Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften, Frankfurt/Main 1984; Le Bon, Gustave: La civilisation des Arabes, München, Berlin, F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, 1974; Schacht, J. u. Bosworth, C. E.: The Legacy of Islam, Oxford, Clarendon Press, 1976. 1. Aufl., London 1708; 2. Aufl., London 1718.
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Vorwort
alle Araber und Muslime in Europa verwendet. Schließlich galt dies als Bezeichnung für die Gegner der Kreuzzüge im Mittelalter.8 In Zusammenhang mit Sarrazins Thesen bezüglich der angeblichen genetisch bedingten Mentalität der Araber und Muslime in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ möchte ich hier die Frage in den Raum stellen, ob der Name „Sarrazin“ in irgendeinem Zusammenhang mit der ursprünglich arabischen Bezeichnung „Scharqiyun=Sarazenen“, nach phonotischen und linguistischen Umwandlungen in den letzten drei Jahrhunderten, steht.9 Wenn diese These stimmen sollte, wäre nicht mehr auszuschließen, dass der Autor Sarrazin selbst arabische Wurzeln haben könnte. Die nahezu propagandistisch oft gestellte Frage, ob der Islam mit der Demokratie kompatibel ist oder nicht, ist, meines Erachtens, hier und heute in unserem Gesellschaftskontext irrelevant. Angemessener wäre es in diesem Kontext, die Frage so zu formulieren, ob sich Muslime in Europa im demokratischen System zurechtfinden oder dieses gar mitgestalten können. Die Fähigkeit und Bereitschaft zur aktiven Partizipation an den demokratischen Gesellschaftsstrukturen wäre mehr als ein stichhaltiger Beweis für den Integrationswillen. Aber sind Muslime deswegen antidemokratisch? Ist das demokratische Verhalten mental bedingt? Die Antwort auf diese beiden Fragen ist, meiner Meinung nach, eindeutig nein. Weder in den meisten islamischen Ländern noch bei ihrer offiziellen Vertretung in Europa erleben viele Muslime eine interne Praxis der Demokratie in der Führungsstruktur. Dazu kommt eine mangelhafte politische Aufklärung sowohl in Bezug auf die europäische Demokratie als auch in Bezug auf den ursprünglichen islamischen politischen Entwurf, der als erste Konzeption für ein pluralistisches Regierungssystem in die moderne Menschheitsgeschichte einging. Jede Statistikanalyse, die diese Faktoren nicht berücksichtigt, stellt für mich eine pseudo-wissenschaftliche Erfindung dar. Die zweite, dritte und bald vierte Generation der Muslime in Europa ist in dieser Hinsicht so gut wie auf sich selbst gestellt. Einerseits leben sie in einer demokratisch strukturierten und pluralistisch geführten Gesellschaft und andererseits sind sie auf die Gnade einer Führung angewiesen, die von demokratischer Praxis weit entfernt ist. Einige Glaubensbrüder und -schwestern würden mir vorwerfen, ich hätte diese Missstände nur intern ansprechen sollen, bevor ich sie öffentlich an den Pranger stelle. Meine Antwort darauf ist ganz einfach und nachvollziehbar: Darüber diskutieren wir seit vielen Jahrzehnten – ergebnislos! Es ist leider eine traurige Tatsache, dass 8 9
Siehe Art. „Sarazenen“, in: dtv-Lexikon, Bd. 16, München 1977, S. 58. Siehe ibd.; Großes Meyers Konversation-Lexikon, Bd. 17, Leipzig, 6. Aufl. 1909, S. 605.
Einführung in die Thematik I: Über die Wahrnehmungsproblematik der Interkulturalität
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viele Muslime über ein Problem erst ernsthaft diskutieren, wenn es bereits publik geworden ist und externe Kritik in der Öffentlichkeit ausgelöst hat. Die Muslime sollten weder ihrer Natur noch ihrer religiösen Weltanschauung nach undemokratisch sein. Viele muslimische Organisationen in Europa, u. a. in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Frankreich, verfügen über demokratische Grundstrukturen und sind zumindest formal demokratisch aufgebaut. Die offiziellen Vertretungen der Muslime in Europa tragen einen beachtlichen Teil der Verantwortung für den stotternden Integrationsprozess ihrer Gemeinschaften in Europa. Sie präsentieren den Muslimen kein gutes und nachahmenswertes Führungsmodell. Sie werden meistens als Formaldemokratie geführt, die letztendlich eine Art One-Man-Show produziert. Die meisten führenden Personen gehören zu einer Generation, die in totalitär geführten islamischen Ländern aufgewachsen ist. Ebenso kommen sie aus patriarchisch geführten Familien und sind daher, von kleinen Ausnahmen abgesehen, für einen autokratischen Führungsstil determiniert. Da führende Köpfe in vielen islamischen Glaubensgemeinschaften in ihren ursprünglichen Ländern nur über bescheidene Erfahrungen mit demokratischen Familien- und Gesellschaftsstrukturen verfügen, können sie ihre Institutionen trotz eines langjährigen Lebens in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft nur patriarchisch führen. Ein diesbezüglicher Paradigmenwechsel hat sich bestenfalls nur theoretisch vollzogen. So wird Demokratie nur solange gepredigt und von anderen vehement gefordert, bis sie selbst an den begehrten Stuhl gelangen. Die institutionelle Arbeit, Teamwork und der Aufbau der Nachfolgergeneration bleibt meistens aus. Führungschaos wird dabei einkalkuliert, ja vielleicht gewünscht, um die eigene Führungszeit später rückblickend in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Demokratische Führungsmodelle, die in den eigenen, dazugehörigen Institutionen eingeführt werden, werden nicht selten als mangelhaftes Durchsetzungsvermögen und Führungsschwäche dargestellt. Die islamische Gemeinschaft braucht daher dringend Demokraten und keine Demokratieprediger. Demokratie ist eine menschliche Schöpfung und daher für jeden Menschen erwerbbar und erlernbar. Erschreckend ist eher der einheimische Rechtsextremismus, der unverkennbar mitten in demokratischen Gesellschaftsstrukturen immer mehr antidemokratische Europäer anspricht. Antidemokratie wächst mitten in der Festung der Demokratie des 21. Jahrhunderts. Die Erfahrungen mit dem politischen Faschismus des 20. Jahrhunderts in Europa waren anscheinend nicht schwerwiegend genug, um seine Wiedergeburt nach nur 65 Jahren zu verhindern. Noch erschreckender ist, dass die Wiedergeburt des Faschismus des letzten Jahrhunderts gerade in Ländern besonders deutlich ist, die als Drehscheibe seines Verbrechens gelten. Jede Vertuschung oder Verharmlosung dieses Phänomens ist im gesellschaftlichen Kontext kontrapro-
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duktiv und stellt einen direkten Beitrag zur Förderung und zum Vorantreiben dieser faschistisch-rassistischen Heimsuchung dar. Ein erlebbares Demokratieverständnis ist, neben einem genauer definierten Integrationsbegriff, eine Grundvoraussetzung für eine konstruktive Integration. Der verschleiert geforderte Verzicht auf eigene kulturelle und religiöse Werte als der einzige Weg zur Integration führt mit Sicherheit zur Assimilation und nicht zur identitätsbewussten Integration. Und gerade hier, in der Verwechslung zwischen Integration und Assimilation, liegt die Hauptursache für das Misslingen der bislang praktizierten Integrationsentwürfe. Zwischen Integration und Assimilation
Vor etwa einem Jahr wurde in einer politischen Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens eine junge muslimische Frau türkischer Abstammung als Beispiel für eine gelungene Integration und als Gegenentwurf zu Sarrazins Thesen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, vorgestellt. Diese (beispielhaft integrierte!) junge muslimische Frau hat eine Autobiographie geschrieben. Bemerkenswert dabei ist, dass die junge Frau in der Sendung einen Minirock trug und in ihrem Buch, wie sie selbst in der Sendung sagte, Erfahrungen mit unehelichen Liebschaften und Alkohol beschreibt. Und dies wäre, wie sie selbst sagte, der Grund dafür, dass ihr Vater ihr Buch nicht lesen will. In diesem Beispiel wurden drei islamische Grundprinzipien missachtet, nämlich Bekleidungsvorschriften, Ehe- und Genussbestimmungen. Wenn eine solche Art der Integration indirekt als Musterbeispiel bezeichnet werden sollte, wie könnte man dann „Assimilation“ anders definieren? Dass Muslime sich gegen eine derartig verstandene Integration vehement wehren, muss man wohl nachvollziehen können. Die heillose Debatte um das Kopftuch (Hijab) nimmt seit Mitte des letzten Jahrzehnts immer weniger nachvollziehbare Dimensionen an. Noch weniger nachvollziehbar ist gerade die Einstellung einiger Feministen, von denen man eher eine konsequente Pro-Frau-Haltung erwarten dürfte. Aus einer ego-kulturalistischen Einstellung heraus, sprechen sie kopftuchtragenden Frauen jedes Recht auf freie Entscheidung diesbezüglich ab. Um eine Kollision einerseits mit dem Religionsfreiheitsrecht und andererseits mit dem Recht der jüdischen Mitbürger auf die Kippa und der Nonnen auf deren Kopfbedeckung zu vermeiden, versuchen einige selbsternannte Frauenrechtler ihre Meinung dadurch zu begründen, dass das Kopftuch kein religiöses Gebot, sondern ein politisches Symbol sei. Dabei maßen sie sich ein theologisches Urteil an, obwohl sie keine theologische Fachkompetenz besitzen. Oder sie ziehen die Behauptung heran, dass alle kopftuchtragenden Frauen Opfer eines ungeheuren so-
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zialen Drucks seien. Und daher gilt es, sie bei der Befreiung von diesem angeblichen sozialen Druck, den es zweifellos auch gibt, zu unterstützen. Die Meinung einiger muslimischer Gelehrten, dass das Kopftuchtragen kein religiöses Gebot (Koranvers 33:59) für Frauen darstelle, verstehen die allermeisten muslimischen Gelehrten als eine individuelle Interpretation, die zwar ihre Daseinsberichtigung hat, wohl aber keine Deckung in kanonischen Koraninterpretationen findet. Welche Einstellung oder Interpretation man für sich akzeptieren möchte, ist jedem gläubigen Muslim und jeder gläubigen Muslimin überlassen. Machen wir uns Muslime nichts vor! Diskriminierung des anders Aussehenden geschieht nicht nur durch Nichtmuslime, sondern ebenso gut durch Muslime untereinander, nämlich zwischen kopftuchtragenden Frauen einerseits und Musliminnen, die kein Kopftuch tragen, andererseits. Nicht selten betrachten die kopftuchtragenden Frauen die anderen als nicht richtige Musliminnen und begegnen ihnen mit dem Vorwurf, sie hätten sich in der westlichen Gesellschaft und Moral total assimiliert und hätten dafür ihre islamische Identität aufgegeben. Auf der anderen Seite werfen muslimische Frauen ohne Kopftuch den anderen Rückständigkeit und religiösen Fanatismus vor. Nicht selten wird der alltägliche gegenseitige Gruß unter muslimischen Frauen mit unterschiedlichem Outfit nicht ausgetauscht. Diese inter-islamische gegenseitige Ausgrenzung steht der externen Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft in nichts nach. Druck, vor allem in Bezug auf eine religiöse Angelegenheit auszuüben, ist kategorisch abzulehnen, egal ob es sich dabei um Kopftuchtragen oder Nichttragen handelt. Dieses Prinzip muss von Muslimen und Nichtmuslimen in seiner vollen Tragweite akzeptiert werden. Es sieht heute manchmal so aus, als hätte die Menschheit nichts Schlimmeres zu bewältigen als das Kopftuch-Problem. Ich sehe in dieser maßlosen Debatte eher ein geistiges Armutszeugnis und eine Flucht vor den eigentlichen Problemen, die die ganze Menschheit bedrohen. Umweltverschmutzung, Bildungsdefizite, unausgewogene Verteilung der Weltressourcen und die immer häufiger auftretenden vernichtenden Naturkatastrophen sind die größten und zugleich schwierigsten Herausforderungen für die Menschen und nicht zuletzt für diejenigen, die einen nennenswerten Platz in der Menschheitsgeschichte suchen. Würden die moderaten Stimmen durch Misstrauen und Diffamierung verstummen, hätten wir eine Welt, die ausschließlich aus zwei verfeindeten, extremistischen Fronten besteht und nichts anderes als kulturelle, religiöse und politische bis hin zu militärischer Konfrontation kennt. Dieses Buch versteht sich auch als ein Aufruf vor allem an diejenigen, die sich für gegenseitige interkulturelle Verständigung einsetzen wollen, an den vielen Dialogveranstaltungen aktiv teilzunehmen, um eine konstruktive interkulturelle Auseinandersetzung zu entfachen, damit solche Dialog-
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veranstaltungen nicht als ein Selbstbestätigungsprozedere enden. Viele gut gemeinte und gut organisierte interkulturelle Veranstaltungen werden meistens von Menschen besucht, die sich bereits ein gesundes interkulturelles Verständnis angeeignet haben. Andererseits besteht die Gefahr, dass sich der gewünschte interkulturelle Dialog zu einem monokulturellen Monolog entwickelt. Ein Paradigmenwechsel auf allen Ebenen und in allen Lebensbereichen ist die Herausforderung der Postmoderne, in der wir alle jetzt mit beiden Füßen stehen. Herkömmliche Werte, Normen und Maximen sowie Religion im öffentlichen Raum und fremde Wahrheiten müssen neu bedacht und anders wahrgenommen werden.
Einführung in die Thematik II: Zur Definitionsproblematik der „Interkulturalität“ Kultur und Interkulturalität zwischen Begrifflichkeit und Wahrnehmungsproblematik Vorgedanken zur Kulturdefinition
Der Begriff „Kultur“ impliziert einen Komplex von Normen, Werten und Maximen, welche aus im Laufe von Jahrtausenden angehäuften internen, aber auch externen Erfahrungen und Eigenverhaltensweisen, sprich Traditionen, bestehen und den betroffenen Kulturkreis von anderen abgrenzend charakterisieren. Dieser Normenkomplex schafft schleichend einen sozialen Verhaltenskodex, aus dem sich ein Kulturbewusstsein, ein Intrakulturalitätsverständnis und eine exklusive Kulturidentität ableiten. Die Evolution eines kulturellen Kodexes bestimmt nachträglich die Natur und die charakteristischen Merkmale der betreffenden Kultur und weist auf ihre Fähigkeit bzw. Unfähigkeit der Wertschätzung und den Umgang mit anderen Kulturkreisen hin, insbesondere den Grad der Aufnahmefähigkeit bzw. Aufgeschlossenheit diesen gegenüber. Der Umfang und die Qualität der externen Einflüsse in der Entstehungsund Entwicklungsphase einer Kultur bestimmen nachträglich die Einstellung des Einheimischen gegenüber dem Fremden, und sie hinterlassen ihre Spuren im Verhaltenskodex der Empfängerkultur. Kulturkodex und Kulturträger (Angehöriger eines Kulturkreises) sind nie dasselbe. Entscheidend ist dabei der Grad der Empfindlichkeit und Empfänglichkeit bzw. die Sensibilität jeder einzelnen Person auch gegenüber dem eigenen Kulturgut. Damit muss die Frage nach der Authentizität der für eine interkulturelle Kommunikation infragekommenden Person immer wieder neu gestellt werden. Davon hängt die Erfolgsaussicht einer interkulturellen Kommunikation ab. Übermäßige unselektierte Beeinflussung durch fremde Kulturen führt nicht nur zu einer konstruktiven Aufge-
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schlossenheit gegenüber anderen Kulturen, sondern oft auch zu einem destruktiven Entwurzelungs- bzw. Entfremdungsprozess des Kulturträgers, woraus unweigerlich folgt, dass ihm die Authentizität, im Namen seiner Kultur zu sprechen, durch die Traditionsbewussten aufgrund seiner nunmehr zweifelhaften Inhärenz zur eigenen Kultur abgesprochen wird. Mit anderen Worten: Seine interkulturelle Kompetenz wird grundsätzlich infrage gestellt. Die Frage nach der Autonomie des Verhaltenskodexes
Könnte man der Außenwelt überhaupt einen Einfluss auf die Entstehung und Zusammensetzung des kulturellen Verhaltenskodexes zuschreiben? Bestimme ich allein mein Verhalten gegenüber den anderen oder ist mein soziales Verhalten ausschließlich eine bloße Reaktion auf die Aktion des anderen? Es geht hier um die Frage nach der Autonomie des Subjektes gegenüber dem Objekt im Bereich der Verhaltenskodexbildung im jeweiligen Kulturkreis. Die bisherige Ausführung proklamiert die exklusive Autonomie der Bildung jedweden kulturellen Verhaltenskodexes. Dagegen deklariert eine andere Ansicht die völlige Abhängigkeit des Ich-Verhaltens vom Du-Verhalten. Dies würde die Deaktivierung im Sinne von Passivierung der Rolle des Subjektes bei der Bildung des eigenen Verhaltenskodexes bedeuten. Walter Schulz erklärt die Funktionalisierung und Verdinglichung des Mitmenschen folgendermaßen: Der Umgang mit dem anderen ist eine selbstverständliche Tatsache, die niemand bezweifelt, wenn er nicht – mit den Worten Schopenhauers – in das Tollhaus gelangen will. Wenn ich in die Welt komme, so sind schon immer andere da als meine Umwelt. Ich trete in diesen Umkreis ein, in dem ich das Verhalten der anderen zum Maß nehme. Ob ich es nachahme und ihm entspreche oder ihm widerspreche, der andere gibt mir die Orientierung vor, nicht nur im Verhalten zu ihm, sondern auch im Verhalten zu mir selbst.10
Subjekttheorie ist, so meint man, ohne Sozialtheorie nicht möglich. Die Rollen sind die Schemata, in die ich mich in meinem Verhalten einpasse. Auch wenn die Schulz’sche Darstellung den Eindruck vermittelt, dass es hier um eine interkulturelle Betrachtung geht, ist sie, meines Erachtens, doch genauso gut auf eine externe bzw. interne Ebene und somit auf das interkulturelle Verhältnis bedenkenlos übertragbar. Würde man den Schulz’schen Gedankengang konsequent weiterführen, so landet man unweigerlich in einer Sackgasse. Wenn nämlich mein Verhalten (des Subjektes) 10 Schulz, Walter: Ich und Welt – Philosophie der Subjektivität, Pfullingen, Neske Verlag, 1979, S. 26.
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lediglich eine Reaktion auf das Verhalten des anderen (als ein agierendes Objekt) sein sollte, müsste im Gegenzug das Verhalten des anderen, aus seiner Perspektive gesehen, als eine Reaktion auf mein subjektives Verhalten betrachtet werden. Das Subjekt ist somit ein agierendes Objekt und zugleich ein reagierendes Subjekt. Dass jedes Subjekt für sich ein Subjekt und gleichzeitig ein Objekt für den anderen ist, ist erkenntnistheoretisch richtig und nicht paradox. Dagegen kann die Handlung eines Subjektes niemals zwei gegensätzliche Prädikate vertragen. Ein Akt kann also ausschließlich entweder ein Agieren (Aktion) oder Reagieren (Reaktion) sein, niemals beides gleichzeitig. Genauso wenig kann ein Akt subjektiv und zugleich objektiv sein. Würde man von dieser paradoxen Situation absehen, ist die daraus resultierende Konsequenz noch absurder, nämlich, dass unser Verhalten ausschließlich als Reagieren gesehen werden müsste. Worauf reagieren wir? Wer agiert? Aus diesem Paradoxon kann uns, meines Erachtens, nur die Anerkennung einer gewissen Autonomie des subjektiven Verhaltens herausführen. Dabei wird das subjektive Verhalten teils als Agieren und teils als Reagieren betrachtet. Das handelnde Subjekt tritt damit in einen Erfahrungsaustausch mit seiner Umwelt und macht dadurch den Weg frei für eine synergieträchtige soziale Kommunikation – denn nur so schaffen wir den Sprung von der Metaphysik zur Physik des kulturellen Kommunizierens. Eine derartige Subjektivierung des sozialen Verhaltens stellt dennoch eine zweischneidige Angelegenheit dar, indem sie sich auch negativ auf die Problematik der internen wie auch externen kulturellen Verständigung auswirkt. Je effektiver der subjektive Anteil des sozialen Verhaltens ist, desto divergenter sind die jeweiligen Weltanschauungen, und somit wird die Herstellung einer erfolgreichen kulturellen und in noch größeren Maßen interkulturellen Kommunikation erschwert. Die Divergenz der Weltanschauungen ist durchaus eine konstruktive Voraussetzung für eine effektive interkulturelle Kommunikation, dies setzt jedoch die Zugänglichkeit und Aufgeschlossenheit der Kommunikationskandidaten voraus. Die Kommunikationskandidaten sind Kinder ihrer Kulturkreise und in gewisser Weise Gefangene eigener verfestigter, vorgefertigter, traditionstreuer Denk- und Verhaltensnormen, die den anderen eben als einen anderen ansehen und die Form des Umgangs mit ihm entsprechend gestalten. Zunächst sind Distanz und Skepsis geboten. Diese Situation zu überwinden ist eine Grundvoraussetzung für den nächsten Schritt in die Richtung des anderen. Aber wie könnte dieser hier vorausgesetzte Überwindungsprozess vonstattengehen? Kultur als ein universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem, das aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft usw. fußt und das Wahrnehmen, Denken, Werten und
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Handeln aller ihrer Mitglieder beeinflusst, zu definieren, ist nur zu akzeptieren, wenn die Bezeichnung „universell“ relativiert bzw. individualisiert wird. Die Überzeugung, dass das eigene Orientierungssystem auch für andere gut ist, schließt die Überzeugung nicht aus, dass andere eben ein anderes Orientierungssystem haben und sie gerade deswegen andere sind und infolgedessen ihr Verhalten ein anderes ist. Von einem differenzierenden, keineswegs universellen kulturellen Selbstverständnis müssen wir ausgehen und auf Akzeptanz, Toleranz, Verständnis und schließlich Kooperation zwischen den verschiedenen Kulturen hinarbeiten, um dann auf diesem Wege vom kulturellen Monolog zum Dialog und weiter zum Trialog und schließlich zum Multilog schreiten. Gegenseitige Beeinflussung bzw. Ergänzung der verschiedenen Kulturen ist eine nicht zu leugnende historische Tatsache, auch wenn manche Kulturkreise den Anfang aller Dinge bei sich sehen möchten: In Ägypten sehen wir die Momente, welche in der persischen Monarchie als Einzelne auftraten, zusammengefasst. Wir fanden bei den Persern die Verehrung des Lichtes als des allgemeinen Naturwesens. Dieses Prinzip entfaltet sich dann zu Momenten, die sich gegeneinander als gleichgültig verhalten. Das eine Moment ist das Versunkensein ins Sinnliche bei den Babyloniern, Syrern. Das andere ist das Geistige, in zweifacher Form: einmal als beginnendes Bewusstsein des konkreten Geistes im Adonisdienst, und dann als der reine und abstrakte Gedanke bei den Juden; dort fehlt die Einheit des Konkreten, hier das Konkrete selbst. Diese widerstrebenden Elemente zu vereinen, ist die Aufgabe und als Aufgabe in Ägypten vorhanden.11
Hegel sieht den ägyptischen Geist in der Sphinx symbolisiert, in der sich der reine Geist (der Kopf ) mit der Natur (dem Körper) ausdrucksvoll vereint. Demzufolge sind interner und externer Integrationsprozess vereint in einer einzigen Kultur festzustellen, was die Ansicht belegt, dass die verschiedenen aufeinander folgenden Kulturen eine einzige farbenreiche Kette darstellen.12 Aber läuft dieser zweidimensionale kulturelle Integrationsprozess so reibungslos wie es der hegelianischen Ausführung nach aussieht? Wie würde man den heutigen entfachten Konflikt zwischen manchen Kulturkreisen erklären können? Wäre die Frage nicht überflüssig, ob Kulturen per definitionem überhaupt streitfähig sind? 11 Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1970, S. 245. 12 Siehe ibd., S. 246.
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Schließt die Bezeichnung „Kultur“ jede Konfliktbereitschaft beim bezeichneten Gegenstand aus? Wie würde man dann die unfriedlichen interkulturellen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit und der Gegenwart genauer benennen? Waren diese unfriedlichen Auseinandersetzungen tatsächlich nur politischer oder wirtschaftlicher Natur? Inwieweit kann man die gegenwärtigen interkulturellen Konflikte auf nicht selbstverschuldete Missverständnisse zurückführen? Haben wir es jetzt mit einem „Clash of the Civilizations“13 oder lediglich mit einem Zusammenstoß der wirtschaftlichen und politischen Interessen zu tun? All diese Fragen entbehren bis heute noch eindeutigen, interkulturell überzeugenden Antworten, die, meines Erachtens, ohne die Hilfe der Jung’schen Tiefenpsychologie nicht zu erreichen sind. Von der Konzeption zur Realisation
Hierzu möchte ich mich mit einem kulturphilosophischen Beitrag auseinandersetzen und anhand dessen der Frage nachgehen, wieweit sich das Kulturverständnis von unbewusster Subjektivität irreführen lässt. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Beitrag „Konsens und Kommunikation“ von Adhar Mall, erschienen als Hauptartikel14, eingehen. Darin schreibt Mall: Abgesehen von der vielfältigen, zum Teil transzendenten Definition des Konsenses kann man von einem Konsens dann sprechen, wenn dieser Begriff mit dem Selbstverständnis eines jeden Kulturkreises identisch ist, welcher wiederum von der festen Überzeugung ausgeht, die für ihn vollendete universale Wahrheit zu besitzen. Soweit ist dieser Glaube legitim und bildet keine aktuelle Gefahr für andere. Vielmehr stellt dieser Glaube, meiner Ansicht nach, einen nicht weg zu denkenden Bestandteil des Selbstbewusstseins der betroffenen Person bzw. jedes Kulturkreises dar.15
Weiter schreibt er: „Nur ein innerlich stabiler selbstbewusster Mensch ist ein optimaler Gesprächspartner, mit dem und nur durch die eine aktive, sinnvolle Kommunikation zustande kommen kann“16. Für mich stellt der Anspruch auf den Besitz der absoluten Wahrheit ein legitimes Recht eines jeden Menschen dar und dieser bleibt harmlos, solange dies nicht zur 13 Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, 1993. 14 In: Ethik und Sozialwissenschaften (EuS), Bd. 11, Heft 2., Paderborn, LUCIUS, 2000, S. 15. Siehe auch Kommentar von Elshahed, Elsayed, ibd., Heft 3. S. 361–363. 15 Ibd., S. 361. 16 Ibd.
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Degradierung des anderen führt, oder wenn gar versucht wird, den eigenen Konsens einem anderen aufzuzwingen. Dies würde in der Tat nicht nur eine Gewaltausübung, sondern eine geistige Vergewaltigung des anderen bedeuten. Die von Mall angeführte Auffassung von Konsens könnte sowohl als eine, wenn auch nicht völlig neue, Definition oder als eine externe Relativierung im Sinne von Einschränkung, aber keineswegs als eine Beeinträchtigung des Konsensinhaltes betrachtet werden. Der Konsens, so verstanden, ist ein Produkt vieler Faktoren unterschiedlicher Herkunft. Dabei kommen religiöse, kulturelle, traditionelle, soziale, temperamentbedingte und geschichtliche Erbgüter als Bauelemente der eigenen Weltanschauung, sprich Konsens, in Betracht. Dass diese Bauelemente von einem Kulturkreis zum anderen verschieden sind, ist unbestreitbar, was die Rede von unterschiedlichen Konsensen folgerichtig macht. Die Frage nach dem Primat des einen oder des anderen Konsenses wird demnach nicht nur überflüssig, sondern völlig absurd. Wir stehen nun wieder vor der ursprünglichen Frage nach dem Primat des Konsenses über die Kommunikation oder umgekehrt, wie sie Mall in seinem Beitrag stellt. Diese sucht er durch die Rezension einiger konsenstheoretischer Aussagen, sowohl durch die vertragstheoretisch orientierten Ansätze von John Rawls und H. T. Engelhardt Jr., als auch durch die kommunikationstheoretischen und transzendental-pragmatischen Ansätze von Apel und Habermas17 zu beantworten. Mit Recht sagt Mall: Interkulturelle Diskurse sind heute verpflichtet, sich die Einsicht anzueignen, dass aus prinzipiellen Gründen der Dissens wirklich und der Konsens unmöglich sein kann. Auf die Frage nach dem Sinn der Diskurse muss die Antwort lauten, dass alle Parteien ihre Argumente stets gemäß ihrer Prinzipienpräferenz darstellen und in reziproker Offenheit und Achtung die Kunst des Lebens und Leben Lassens praktizieren.18
Hier geht der Autor von einer universalen interkulturellen Auffassung des Konsenses aus, welche, meiner Ansicht nach, nicht die einzig richtige Definition desselben darstellt. Sein Aufruf zur Praktizierung der Kunst des Lebens und des Leben-Lassens ist ein direktes Plädoyer für den Verzicht auf den ohnehin absurden universalen, absoluten, allgemeingültigen, interkulturellen Konsens zugunsten eines eingeschränkten, sprich relativierten, intrakulturellen Konsenses, welcher eine Grundvoraussetzung für eine effiziente interkulturelle Verständigung darstellen kann. 17 Siehe ibd., S. 18. 18 Ibd.
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Für mich hat Mall durch die oben zitierte Passage alles ausgesagt, was er in seinem lehrreichen und interessanten Beitrag vermitteln wollte. Andere Inhalte könnte man lediglich als vehemente, zum Teil überzeugende Begründung seiner Auffassung betrachten. Dabei begibt er sich unbewusst in die Gefahr, genau das gleiche zu tun, was er bei den Konsenstheoretikern bemängelt, nämlich, dass er, ohne es zu wollen oder zu merken, die absolute Allgemeingültigkeit seiner These, das Primat der Kommunikation über den Konsens, sprich einen Gegenkonsens, beansprucht. Aber kann man tatsächlich nur unter Ausschluss jeglicher erdenklichen Art des Konsenses mit anderen kommunizieren? Impliziert nicht die Aufforderung zur konsensfreien Kommunikation im gleichen Atemzug die Aufforderung zum Konsens darüber, dass man sich konsenslos der Kommunikation hinbegeben soll? Die von Mall indirekt zu Recht erwünschte Anerkennung des Gegenarguments auch als ein gleichwertiges Argument führt unweigerlich zur Bescheidenheit gegenüber dem eigenen Argument, welches eine gute Ausgangsposition bei der Kommunikation darstellen würde. Könnte man hier nicht auch eine versteckte Vorbedingung für eine effektive Kommunikation entdecken? Und dies folgerichtig nicht anders als einen vorab geforderten Konsens über dasselbe, nämlich über die Anerkennung des Gegenarguments als gleichwertiges Argument, ansehen? Auch die in seinem Beitrag erwähnten vier Dimensionen bzw. Lesarten von Einheit und Vielfalt sowie die kurz darauf erwähnte fünfte Lesart, nämlich Einheit angesichts der Vielfalt, verraten ein paradoxes Verständnis der beiden Begriffe Einheit und Vielfalt, auch wenn Mall dieses formal bestreitet. Hierzu sagt er: „Das Primat der Vielfalt atmet den realistischen, toleranten und offenen Geist der Empirie, ohne die Vorstellung von der Einheit redundant machen zu wollen.“19 Das vorherrschende, manchmal sogar zwanghafte Primatdenken Malls beim Umgang mit paradoxen Begriffen, wie – Einheit gegenüber Vielfalt, – Konsens gegenüber Kommunikation, und – Ratio gegenüber Empirie oder Evidenz, konnte er nicht immer in seinem Beitrag überzeugend darlegen. Die religiöse Weltanschauung war in Bezug auf diesen Begriffsdualismus in diesem Beitrag kaum erwähnenswert. Die antidualistische Auffassung der scheinbar gegensätzlichen Begriffe, wie Einheit und Vielfalt; Ratio und Empirie; Glaube und Wissen, welche als die These von der doppelten Wahrheit in die Philosophie des Mittelalters 19 Ibd., S. 16.
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durch Thomas Aquinos einging, ist in der islamischen Weltanschauung eindeutig in vielen theologischen Schriften (z. B. von Averroes und Ibn Taimiya) auf das Genaueste behandelt worden. Auch die christologische Trinitätstheorie lässt bekanntlich Vielfalt in Einheit verschmelzen, und zwar in einer Form, welche in keine der von Mall oben erwähnten Lesarten hineinpasst. Allein der Glaube daran, dass der eine oder der endere freiwillig auf sein Selbstverständnis (Konsens) verzichten würde, ist für mich, gelinde gesagt, viel zu optimistisch. Denn dieses Selbstverständnis ist tief im Unterbewusstsein jedes Menschen verwurzelt und würde, trotz aller auch ernst gemeinter Unterdrückungs- bzw. Verdrängungsversuche, sein soziales Verhalten prägen oder gar vorherbestimmen. Dies trotzdem zu erwarten, ist, meiner Ansicht nach, absurd und wird, jedenfalls im Diesseits, unrealisierbar bleiben. Das Primatspiel zwischen Konsens einerseits und Kommunikation andererseits lässt einen an die bekannte Primatfrage nach dem Huhn oder dem Ei denken, bei welcher niemand mit absoluter Sicherheit das Primat des einen über das andere überzeugend behaupten kann. Mall ist selbst auch der Meinung, dass der Konsens zwar gut ist und einen Wert darstellt, wenn er ohne Zwang und Manipulation zu haben ist. Doch dann macht er alles durch seine Skepsis wieder zunichte, wenn er unmittelbar darauf sagt: „Die Frage ist, ob beim konsensuellen Verstehen doch nicht in irgendeiner Form Macht in einer ihrer Masken am Werke ist?“20 Vielleicht ist dies bei ihm auf einige negative Erfahrungen in diesem Zusammenhang zurückzuführen. Auch ich habe dies auf vielen Dialogkonferenzen erfahren müssen. Aber diese persönlichen Erfahrungen sollten weder für mich noch für ihn, noch für irgendeinen anderen einen hinreichenden Grund für eine solche generelle Skepsis darstellen. Derartige Äußerungen könnten, nicht immer zu Unrecht, als eine ungerechtfertigte Unterstellung, ja sogar als eine Diffamierung des anderen verstanden werden. Man kann diese Mall’sche Aussage auffassen, wie man will; Dialog fördernd ist sie ganz und gar nicht. Die subjektivistische Inanspruchnahme der universellen Allgemeingültigkeit des eigenen Selbstverständnisses – sprich: des Konsenses – dürfte, rein theoretisch, die subjektivistische Inanspruchnahme der Allgemeingültigkeit des Selbstverständnisses eines anderen – sprich Konsens des anderen Gegenkonsenses – gar nicht beeinträchtigen. Dieses zwischen Mein und Dein existierende gegenseitige Nichtbeeinträchtigenkönnen bleibt solange bestehen, bis der eine oder der andere auf die Begrenztheit bzw. die Relativität des eigenen Selbstverständnisses durch einen fremden Gegen20 Ibd.
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konsens aufmerksam gemacht wird. Anderenfalls würde es zu einem Zusammenprall der unterschiedlichen Selbstverständnisse kommen. Zuerst wird sich jede Konfliktpartei mit allen Mitteln selbst nicht nur verteidigen, sondern nichts auslassen, um die absolute Überlegenheit ihres eigenen Selbstverständnisses zu beweisen. Während dieses Prozesses wird die Vernunft in den meisten Fällen ausgeschaltet und an ihre Stelle tritt die Starrsinnigkeit eines jeden. Mit der wohl vermeidbaren Ausschaltung der Vernunft erlischt automatisch die Möglichkeit jeglicher Art der Kommunikation. Die Forderung Malls nach dem vorübergehenden Verzicht auf den eigenen Konsens im Dienste der Kommunikation kommt einer Kriegserklärung gleich und ruft beim anderen automatisch, bestenfalls, eine blinde defensive Haltung hervor. Wie dialoghemmend eine solche Haltung ist, muss ich hier nicht betonen. Um jemanden davon zu überzeugen, sein Gegenüber nicht als das andere Ich oder das fremde Ich im Sinne von Walter Schulz, sondern als das Er, als ein unabhängiges und gleichberechtigtes Subjekt zu betrachten und mit ihm entsprechend umzugehen, ist es absurd, von ihm zu verlangen, er möge auf sein subjektives Ich des Dialogs halber vorübergehend verzichten. Um aus diesem Dilemma herauszufinden, müssen wir uns wenigstens auf einen minimalen Konsens einigen, durch welchen sich jeder in seinem Selbstverständnis sicher fühlen kann. Aus dieser Selbstsicherheit heraus könnte man mit dem anderen eher sinnvoll kommunizieren. Die ersehnte, sich gegenseitig befruchtende kulturelle Verständigung würde erst dann reibungslos damit einhergehen, wenn sich keiner der Dialogpartner als Verlierer fühlt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die unkommunikative Selbstgefälligkeit des einen durch den sichtbaren innerlichen Narzissmus des anderen eher gedämpft als gesteigert wird, auch wenn dieser versuchen würde, den bei sich vollzogenen Dämpfungsprozess durch alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte zu verdrängen. Im Laufe des Dialogs könnte sich allmählich ein Prozess hin zur Bereitschaft zuzuhören, vielleicht unbewusst und unbemerkt, vollziehen. Parallel zu dieser wachsenden Bereitschaft könnte gleichzeitig ein Prozess der Toleranz und dann Akzeptanz einsetzen. Diese könnte dann den Weg zu einer weiteren positiven Entwicklung ebnen, bei der jeder Dialogpartner zur Einsicht gelangt, dass der andere weder sein Spiegelbild noch ein kulturloses Subjekt ist. Man wird zur Einsicht kommen müssen, dass die auf dieser Ebene geführte Kommunikation einen gegenseitigen Lernprozess nach sich zieht, bei dem jeder von jedem positiv beeinflusst werden kann, und der den eigenen Konsens durch neue aufbauende Elemente bereichern würde.
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Aber die natürliche Tendenz, am eigenen Konsens festzuhalten, verbunden mit dem Versuch, den Anspruch auf den alleinigen Besitz der absoluten und allgemeingültigen Wahrheit nicht völlig aus der Hand gleiten zu lassen, könnte diesem Optimismus Grenzen setzen. Würde sich diese diagnostizierte Entwicklung dennoch vollziehen, könnte man zu Recht von einer Reformation des klassischen Konsenses sprechen. Von einem, auf diese Weise reformierten bzw. eigenmächtig und freiwillig, um des Kommunikationswillens relativierten eigenen Konsens können wir heute nur träumen.
1 Zum Begriff „Islam“ Das Wort „Islam“ bedeutet die völlige Hingabe des Menschen gegenüber dem Willen Gottes und gerade dies ist der Kern aller monotheistischen Verkündigungen. So verstanden umfasst der Begriff „Islam“ alle monotheistischen Religionen ohne jegliche Art der Vereinnahmung seitens des historischen Islams als das dritte Glied in der monotheistischen Kette. J. W. von Goethe sagte in seinem „West-östlichen Diwan“ zu Recht: „Wenn Islam Gottergeben heißt, im Islam leben und sterben wir alle.“21 Diese, für manche „provokative Sichtweise“ bedarf sicherlich weiterer Vertiefung und könnte verständlicherweise eine heftige Diskussion auslösen. Dass das Wort „Islam“ auch im koranischen Kontext ausschließlich „Gottergebensein aller Geschöpfe Gottes in den Himmeln und auf der Erde“ heißt, wird durch zahlreiche Koranaussagen belegt.22 Was den einen von einem anderen unterscheidet, ist sein Verhalten gegenüber Gott und den anderen Menschen. In Sure 4:123 lesen wir dazu: Es geht weder nach euren Wünschen noch nach den Wünschen der Schriftbesitzer, sondern, wer Böses begeht, wird dafür bestraft und wird außer Gott keinen Beschützer und Helfer finden.
In Sura Aal ʿImran 3:64 lesen wir: Sag: O Ihr Schriftbesitzer! Kommt zu einem Wort des Ausgleichens zwischen uns und euch, dass wir Gott allein dienen, neben Ihm niemanden anbeten, und dass niemand von uns einen anderen für seinen Herrn anstelle Gottes halten darf. Wenn sie sich aber abwenden, dann sag ihnen: Ihr sollt bezeugen, dass wir Gott ergeben (Muslime) sind.
Der Prophet Ibrahim (Abraham) und nicht der Prophet Muhammad ist der Gründer der islamischen Religion. Im Koran 4:125 heißt es dazu: Nichts Besseres kann der Gläubige tun als sich Gott innig hinzugeben, Gutes zu tun und dem Weg Abrahams, des Stifters des wahren Glaubens, zu folgen. Gott hat Abraham zum Freund auserkoren. 21 Goethe, J.W.: West-östlicher Diwan, in: Berliner Ausgabe, Bd. 3: Poetische Werke, Berlin 1960, S. 75. 22 Siehe u. a. 2:112; 3:83; 4:125; 72:14.
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1 Zum Begriff „Islam“
Der Prophet Muhammad beschreibt uns bildhaft, wie er zu den früheren Propheten steht. Er sagte in einem authentischen Hadith: Ein Gleichnis für mich in Bezug auf die vor mir aufgetretenen Propheten könnte wie folgt dargestellt werden: Wenn ein Mensch ein wunderbares Haus gebaut hätte, nur fehlte ein Stein an einer Ecke dieses Hauses, dann kämen die Menschen und umkreisten das Haus und bewunderten es sehr, dabei entdeckten sie, dass an einer Ecke des Hauses ein Stein fehle, dann würden sie sagen: Hätte der Erbauer dieses Hauses den fehlenden Stein doch noch an seinen Platz gelegt!
Darauf erwiderte der Prophet: „Ich bin dieser Stein und ich bin das Siegel der Propheten.“23 Das Bekenntnis zur alleinigen Gottheit Allah (Gott) wurde nach mehreren koranischen Aussagen als der Kern aller göttlichen Botschaften und als der Auftrag aller Gesandten Gottes unterstrichen.24
1.1 Monotheismus, eine Religion oder mehrere?
Als der Prophet Muhammad nach Medina ausgewandert war und seine Lage sich dort gefestigt hatte, schuf (bzw. diktierte) er die erste islamische Verfassung für seinen jungen Stadtstaat. Der Inhalt dieser Verfassung lautet folgendermaßen: Im Namen des barmherzigen und gütigen Gottes, dies ist eine Urkunde von Muhammad, dem Propheten Gottes, über die Beziehungen zwischen den Ausgewanderten aus Mekka und den Helfern aus Medina. Sie sind eine Gemeinde. Das unterscheidet sie von den Ungläubigen. Die Gläubigen schützen sich gegenseitig ohne Rücksicht auf Stämme und Sippen. Gottes Schutz ist ein einziger. Die Juden, unsere Mitbürger, genießen die gleiche Hilfe und Unterstützung. Der Friede Gottes ist ein einziger. Alle Verträge unter euch und mit ihnen müssen auf Gerechtigkeit und Gleichheit des Rechtes beruhen. Die Juden regieren sich nach den Gesetzen ihrer eigenen Religion, sie unterstehen ihren Oberhäuptern. Den Juden ihre Religion und den Muslimen die ihre! Unser Gott und ihr Gott ist einer. Juden und Moslems zahlen die gleichen Unkosten für das Allgemeinwohl. Sie helfen einander gegen jeden, der gegen die Leute dieser Urkunde kämpft. Die Leute dieser Urkunde helfen sich gegen jeden, der die 23 Sahih Al-Buchari, manaqib, II, 4, S. 226; Sahih Muslim in Fada’il. 24 Sure 2:21; 4:36; 5:72 u. 117; 7:59, 65, 73, 85; 11:50, 61, 84; 16:36.
1.1 Monotheismus, eine Religion oder mehrere?
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Stadt überfällt. Den Quraischiten wird kein Schutz gewährt. Niemand, der in diesen Bund eingetreten ist, darf ihn brechen. Wahrlich Gott erzürnt, wenn sein Bund gebrochen wird. Gott billigt diese Urkunde. Gott schützt jeden, der aufrichtig ist. Und Mohammed ist der Prophet Gottes.
1.1.1 Kernbotschaft aller Propheten
Nach islamischer Auffassung verkündeten alle Propheten von Abraham über Moses und Jesus und schließlich Muhammad ein und dieselbe Botschaft, nämlich, allein dem einen einzigen Gott zu dienen. Dieser Gott ist nach islamischem Verständnis in keiner Weise für die Menschen sinnlich wahrnehmbar. Er ist auch unvergleichlich transzendent und demzufolge kann er in keinem seiner Geschöpfe physisch erscheinen. Nach diesem monotheistischen Verständnis steht der Islam dem Judentum viel näher als dem Christentum. Im Koran wurden Juden und Christen dennoch im Allgemeinen nicht als „Ungläubige“, sondern vielmehr als „Schriftbesitzer/Ahl al-kitab“, worauf später noch eingegangen wird, bezeichnet, und als solche angesprochen. Juden und Christen dürfen nicht nur, sie sollen sich in einem an der islamischen Gesetzgebung orientierten Staat jeweils nach der eigenen Heiligen Schrift richten. In Bezug auf die Juden lesen wir hierfür in Sure 5:43–44: Und warum lassen sie dich unter ihnen richten, obgleich sie die Thora haben, die Gottesbestimmungen enthält? (44) Wir haben die Thora hinab gesandt, die Rechtleitung und Licht beinhaltet. Danach richteten sich in Ihren Urteilen unter den Juden die Propheten, die sich Gott hingegeben hatten und die jüdischen Rechtsgelehrten, die dem Weg der Propheten folgten und die die Schrift Gottes zu wahren und ihre Wahrheit zu bezeugen hatten.
Sure 5:46–47: Auf ihre Propheten (die jüdischen Propheten) ließen wir Jesus Christus, Marias Sohn, folgen, der die vor ihm offenbarte Thora bestätigte. Ihm gaben wir das Evangelium, das Rechtleitung und Licht enthält und die Wahrheit der vorhandenen Thora bekräftigt, als Rechtleitung und erbauliche Ermahnung für die Gottesfürchtigen. (47) Denen, die das Evangelium besitzen, befahlen wir, nach den darin von Gott herab gesandten Geboten und Verboten zu urteilen. Wer nicht nach der von Gott herab gesandten Offenbarung urteilt, das sind die Übeltäter.
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Würden sich die Schriftbesitzer nicht auf eine Lösung bzw. ein Urteil einigen können, soll der Prophet Muhammad dann den Koran als Rechtsgrundlage verwenden. In derselben Sure 5:48 lesen wir: Dir haben wir das Buch (den Koran) mit der Wahrheit geschickt. Es bestätigt die davor offenbarten Schriften und bewahrt sie. Richte unter den Schriftbesitzern nach der dir von Gott herab gesandten Offenbarung und folge nicht ihren Launen, die dich von der offenbarten Wahrheit abbringen würde! Jedem Volk haben wir einen Rechtsweg und eine Glaubensrichtung gewiesen. Wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Glaubensgemeinschaft gemacht. Er hat euch aber verschieden geschaffen, um euch zu prüfen, und zu erkennen, was ihr aus den euch offenbarten verschiedenen Rechtswegen und Glaubensrichtungen macht. Wetteifert miteinander, gute Werke zu vollbringen! Ihr werdet alle am Jüngsten Tag zu Gott zurückkehren, und Er wird euch die Wahrheit über eure Streitereien sagen.
Als eine umfassende Abschlusserklärung für diese religiöse Anschauung gilt der folgende Vers 5:69: Die Gläubigen (die Muslime), die Juden, die Sabäer und die Christen, sofern sie an Gott und den Jüngsten Tag glauben und gute Werke vollbringen, haben im Jenseits nichts zu befürchten und sie werden nicht enttäuscht sein.
Ähnliche Aussagen mit einem minimalen stilistischen Unterschied gibt es in Sure 2:62. 1.1.2 Schutzmaßnahmen für den islamischen Monotheismus
Das Bilderverbot gehört, wie einige Arten der Musik, des Schauspiels und der Bildhauerei, zu den höchst problematischen innerislamisch diskutierten Fragen. Dieses Verbot, das ausschließlich als Vorbeugungsmaßnahme gegen den Verfall in Götzenanbetung zu verstehen ist, beschränkte sich von Anfang an auf Lebewesen wie Menschen, Tiere sowie auf Engel. Auslöser dafür ist ein authentischer prophetischer Hadith, der besagt, dass diejenigen, die die Höllenqual am längsten erleiden müssen, die Bildermaler sind. Schon im 5. bzw. 11. Jahrhundert hat einer der bekanntesten und allgemein anerkannten muslimischen Theologen namens Ibn Hazm Az-Zaheri dieses vermeinte Verbot auf die Bildhauerei eingeschränkt. Nach seinen Worten ist ein Bild, das Schatten wirft, verboten. Versetzt man sich in die damalige Zeit, lässt sich der Grund für dieses Verbot unter Umständen einsehen. Damals war die Befürchtung aktuell, dass diese Statuen von einigen Menschen anstelle Gottes angebetet werden könnten.
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In vielen Fällen hat die Götzendienerei auf diesem Weg ganz harmlos angefangen. Man wollte angeblich durch diese Figuren (Statuen) an den einzigen abstrakten Gott erinnert werden. Dann wurden sie nach vielen Generationen selbst als Götter betrachtet und dem entsprechend angebetet. In Arabien haben besonders die Quraischiten, die Ureinwohner von Mekka, viele miteinander konkurrierende Stammesgötter angebetet. Die bekanntesten darunter waren die drei Göttinnen, „Lat“, „ʿUzza“ und „Manat“, die auch im Koran (53:19) erwähnt werden. Lichtbilder gab es damals noch nicht, und daher stellten sie keinen Gegenstand der theologischen Diskussionen dar und waren nicht verboten. Imam Muhammad ʿAbduh, einer der angesehenen islamischen Denker und Reformer des 19. bis 20. Jahrhunderts, hat dieses Verbot ein für alle Mal aufgehoben. Er begründete seinen Diskurs damit, dass keiner in unserer Zeit auf die Idee kommen könnte, die Figuren der Bilderhauerei anstelle Gottes anzubeten. Da die Ursache des Verbots in dem modernen Zeitalter nicht mehr existieren könne, werde das daraus gefolgerte Urteil aufgehoben. Der Begriff „Monotheismus“ bezeichnet alle Religionen, deren Angehörige an den einen einzigen Gott glauben und ihm nichts beigesellen. Dieser soll, nach islamischer Auffassung, die angeborene Religion aller Menschen sein. Die Verschiedenheit der Religionen wird nach dieser Auffassung als anerzogene Erscheinung verstanden. Die Eltern bzw. die Gesellschaft sind, laut einer prophetischen Überlieferung, diejenigen, die aus jedem Menschen einen Juden, Christen oder sonst einen Andersgläubigen machen. Der Begriff „Islam“ ist mit dem Begriff „Reiner Monotheismus“ identisch und wird daher aus zwei Perspektiven, einer universalen und einer historischen, definiert. Der universale Islam wird jedem Menschen bei der Geburt von Gott mitgegeben und ist daher die Urreligion Adams und all seiner Nachkommenschaft. Der historische Islam ist die vom Propheten Muhammad im 7. Jahrhundert verkündete Endstufe der Urreligion. Daraus folgern die Muslime den universellen Charakter des historischen Islams. Und auch darauf begründen die Muslime ihren inklusiven religiösen Wahrheitsanspruch. Abraham (arab. Ibrahim) ist also der Urvater bzw. der eigentliche Gründer aller drei bekannten monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam). Diese in der Zeit aufeinanderfolgenden Religionen markieren die Entwicklungsgeschichte des Monotheismus. Jede einzelne dieser Religionen war eine notwendige Voraussetzung für die darauffolgende Religion. Dabei wird die Voraussetzung nicht als unwichtiger bewertet als ihre Wirkung, d. h. die Tatsache, dass nach islamischer Ansicht das Judentum eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Christentums und das Christentum wiederum eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Islams war.
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Diese historisch bedingte Reihenfolge soll keinen Vorzug einer dieser drei Religionen gegenüber den anderen darstellen. Der Monotheismus stellt, der islamischen Weltanschauung nach, eine vollständige Kette, bestehend aus zwar verschiedenen, jedoch gleichwertigen Gliedern, dar. Die Teilhaberschaft an der vollkommenen Wahrheit und die Rolle der gegenseitigen Ergänzung treten somit an die Stelle der Inanspruchnahme des alleinigen Wahrheitsbesitzes seitens jeder einzelnen Religion. Im Koran lesen wir in Sure ’Ala ʿImran 3:33 „Gott auserwählte Adam, Noah, Ala Ibrahim und Ala Imran.“ Mit ʿAla Ibrahim sind seine Söhne Ismael, Isak, Jakob (Israel) und ihre Nachkommenschaft gemeint. Die arabischen Muslime sind bekanntlich die Nachkommenschaft Ismaels. Und mit ’Ala ʿImran sind Moses, Marias Mutter, Maria und Jesus gemeint. Dass Ibrahim bzw. Abraham der Urvater des Monotheismus war, wird durch den folgenden Koranvers manifestiert: „Ibrahim war weder ein Jude noch ein Christ, er war ein muslimischer Monotheist (arab. Hanifan Musliman).“ Darauf, dass der vom Propheten Muhammad verkündete Islam nichts anderes als die Religion Abrahams war, wird durch den folgenden Koranvers 16:123 hingewiesen: „Dann offenbarten wir dir, dass du der monotheistischen Religion Abrahams Folge leisten musst“. Die Koranverse, welche die ökumenische Konzeption des Islam belegen, sind zahlreich und für jeden Fachkundigen zugänglich.25 Seine politische Gestalt nahm der Islam erst an, nachdem der Prophet Muhammad nach Medina ausgewandert war und seine Position sich dort gefestigt hatte. Er deklarierte die erste islamische Verfassung für seinen jungen Stadtstaat. Der Inhalt dieser Verfassung lautet folgendermaßen: Im Namen des barmherzigen und gütigen Gottes, dies ist eine Urkunde von Muhammad, dem Propheten Gottes, über die Beziehungen zwischen den Ausgewanderten aus Mekka und den Helfern aus Medina. Sie sind eine Gemeinde. Das unterscheidet sie von den Ungläubigen. Die Gläubigen schützen sich gegenseitig ohne Rücksicht auf Stämme und Sippen. Gottes Schutz ist ein einziger. Die Juden, unsere Mitbürger, genießen die gleiche Hilfe und Unterstützung. Der Friede Gottes ist ein einziger. Alle Verträge unter euch und mit ihnen müssen auf Gerechtigkeit und Gleichheit des Rechtes beruhen. Die Juden regieren sich nach den Gesetzen ihrer eigenen Religion, sie unterstehen ihren Oberhäuptern. Den Juden ihre Religion und den Muslimen die ihre! Unser Gott und ihr Gott ist einer. Juden und Moslems zahlen die gleichen Unkosten für das Allgemeinwohl. Sie helfen einander gegen jeden, der gegen die Leute dieser Urkunde kämpft. Die Leute dieser Urkunde helfen sich gegen jeden, der die Stadt überfällt. Den Quraischiten wird kein Schutz gewährt. Nie25 Siehe u. a. 2:256 u. 49:13.
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mand, der in diesen Bund eingetreten ist, darf ihn brechen. Wahrlich Gott erzürnt, wenn sein Bund gebrochen wird. Gott billigt diese Urkunde. Gott schützt jeden, der aufrichtig ist. Und Mohammedist der Prophet Gottes.
Schwarzenau kommentiert dazu: „Die Urverfassung von Medina meint eine Staatsgründung vom bewusst toleranten und ökumenischen Charakter, Toleranz allerdings unter gleichzeitiger Hochgestemmtheit des religiösen Verhältnisses.“26 Es erübrigt sich, auf die Wurzel des Wortes „Islam“ als eine abgeleitete Form des Grundwortes „salam“ (Frieden) hinzuweisen und dass „Islam“, wie oben erwähnt, die völlige Ergebenheit der Menschen gegenüber Gott bedeutet. Dennoch möchte ich hier kurz auf die Frage eingehen, wie ein Muslim seine Religion versteht. Oben wurde diese Frage bereits teilweise beantwortet, daraus konnte man entnehmen, dass sich der Islam weder als eine gänzlich neue Religion noch als eine für die anderen Religionen tilgende Alternative, sondern eher als eine notwendige Ergänzung und Vervollständigung der vorangegangenen Offenbarungen versteht. Das islamische Selbstverständnis ist also weit entfernt von Lessings Ringparabel, nach welcher jeder der drei Brüder fest davon überzeugt war, dass er allein den echten Kraftstein in seinem Ring besitzt. Die Gläubigen und diejenigen, die dem Judentum angehören und die Christen und die Sabäer (die Sternenanbeter), alle, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung) nicht traurig sein. Sagt: Wir glauben an Gott, an den uns herab gesandten Koran, an die Offenbarungen, die Abraham, Ismael, Isaak und Jakobskindern herab gesandt wurden, an das, was Moses, Jesus und den Propheten offenbart wurde. Wir machen keinen Unterschied zwischen den Propheten, und wir ergeben uns Gott allein. Der Gesandte Gottes glaubt an das, was ihm von seinem Herrn herab gesandt worden ist und mit ihm die Gläubigen. Sie alle glauben an Gott und an seine Engel und an seine Bücher und an seine Gesandten. Sie machen zwischen keinem Seiner Gesandten einen Unterschied. Und sie sagen: Wir hören und gehorchen, gewähre uns Deine Verzeihung, unser Herr, und bei Dir ruht alles.
Die Grundlage für eine solide gegenseitige Verständigung zwischen Angehörigen der monotheistischen Religionen (die Schriftbesitzer = Juden u. Christen) wird im folgenden Koranvers konzipiert. 26 Schwarzenau, Paul: Korankunde für Christen, Hamburg, Kreuz Verlag, 1990, S. 117.
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In Sure 3:64 heißt es: Sag: O ihr Schriftbesitzer kommt zu einem ausgleichenden Wort zwischen uns und euch herbei (nämlich), dass wir alle nur Gott (Allah) dienen und ihm (sonst) nichts beigesellen und keiner von uns, anstelle Gottes, einen anderen als seinen Herrn nimmt. Wenn sie (die Schriftbesitzer) sich jedoch abwenden (dieses Angebot ablehnen), dann sagt (ihr Muslime) ihnen: Bezeugt, dass wir Muslime (Gottesergebene) sind.
24 Propheten werden namentlich an verschiedenen koranischen Stellen erwähnt, nach mancher islamischen Auffassung sind es 25. Bei dem umstrittenen Propheten handelt es sich um „Jesaja“, er wird im Koran in Sure 18:60, 62 als „der Mosesjunge“ bezeichnet. Im Koran wird jedoch auf eine unbestimmte Zahl von Propheten hingewiesen, über die Gott dem Propheten Muhammad nicht berichtet hat.27 Bei allen diesen im Koran erwähnten und unerwähnten Propheten handelt es sich um biblische Propheten, aber auch um Personen, die in der Bibel nicht als Propheten betrachtet werden, wie z. B. Lot, dem in der Bibel einige unwürdige Vergehen, wie Inzest im betrunken Zustand unterstellt werden, was als eine ungeheure Verleumdung eines Propheten betrachtet wird. Festzuhalten ist, dass der Islam die biblischen Propheten anerkennt und dass ihnen in manchen Fällen sogar noch mehr Respekt zukommt, als dies selbst in der Bibel der Fall ist. Außerdem verbietet der Koran an 34 Stellen das Unrecht gegenüber Andersgläubigen. In Sure 42:15: lesen wir: Sag: Ich glaube an all das, was Gott an Offenbarungsschriften herab gesandt hat. Und mir ist befohlen worden, ich soll unter euch Gerechtigkeit walten lassen. Gott ist (gleichermaßen) unser und euer Herr. Uns kommen (bei der Abrechnung) unsere Werke zu und euch die euren. Wir brauchen nicht (weiter) mit euch zu streiten. Gott wird uns (dereinst bei sich) sammeln. Bei Ihm wird es (schließlich alles) enden.
Der binnenmonotheistische Dialog ist, meines Erachtens, so weit fortgeschritten, dass er das Erwachsenenalter bereits erreicht hat, und dass er nun von uns hin und wieder Lebensimpulse braucht. Er hat, wie ich hoffe, einen eigenen Überlebensmechanismus entwickelt, den wir gemeinsam sorgsam vorantreiben sollten. Unser Hauptaugenmerk soll nun das monotheistische Feld überschreiten und sich, nachdem wir vom Monolog zum Dialog und weiter zum Trialog fortschreiten konnten, außermonotheistischem Neuland in einem Multilog zuwenden. 27 Sure 4:164; 40:78.
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Diesem angestrebten „Multilog“ sollen, meines Erachtens, vorerst der Konfuzianismus, Buddhismus und Hinduismus, die bekanntlich eine gemeinsame fernasiatische Natur aufweisen, und in einem weiteren Schritt die aus den bekannten Weltreligionen entstandenen Religionsgemeinschaften, wie, um nur einige zu nennen, die Sikhs, Baha’i, Ahmadiya bzw. Qadyaniya, Mormonen und Zeugen Jehovas, beitreten. Areligiöse Gruppierungen in allen ihren verschieden Weltanschauungen sollen mit den monotheistischen sowie den nichtmonotheistischen Religionen in einen „Multilog“ im Sinne eines universellen Gesprächs mit dem Ziel treten, eine identitätsschonende, multikulturelle Welt zu schaffen. Die südostasiatischen Religionen, bei denen die Gottesfrage, wenigstens aus monotheistischer Perspektive, nicht eindeutig beantwortet ist, sollen ihr eigenes Gottheitsverständnis erläutern. Das Ziel eines solchen multireligiösen Gesprächs besteht, meiner Meinung nach, nicht darin, Gemeinsamkeiten um jeden Preis zu entdecken und eine täuschende Einigkeit zu proklamieren, sondern schlicht und einfach, die zum Teil herrschende Ignoranz und Arroganz gegen einander zu überwinden. Denn Ignoranz erzeugt Arroganz, die wiederum den Weg zum Radikalismus ebnet. Zweifelsohne gibt es in jedem religiösen Kreis fachkundige Wissenschaftler, die durch ihre Forschung fundierte Kenntnisse über andere Religionen und Weltanschauungen besitzen. Doch diese fundierten Fachkenntnisse verharren meistens in den fachrelevanten Büchern, die lediglich von einer relativ geringen Zahl von Interessenten gelesen werden. Die erwünschte Wirkung derartiger Forschung in der Gesellschaft bleibt aus. Doch wenn dies erst einmal erreicht ist, dürfen wir von einem echten interreligiösen Verständnis sprechen, wobei dann das Wort „Dialog“ nicht mehr in diesen Kontext passt. Der feine Unterschied zwischen dem zurzeit geführten interreligiösen Dialog einerseits und dem hier proklamierten „Multilog“ andererseits liegt hauptsächlich darin, dass der zuletzt genannte nicht nur monotheistische, sondern auch nichtmonotheistische Religionen in sein Weltbild einbezieht. Ein „Multilog“ würde, als letzter Schritt, neben den bekannten Weltreligionen auch die relativ neu entstandenen Glaubensgemeinschaften sowie alle humanistischen Ideologien einschließen, die dem Gottheitsglauben keinen Platz in ihren Konzeptionen einräumen. Es ist mir bewusst, dass der Weg dahin alles andere als leicht ist. Die wenigen derartigen Erfahrungen mit ähnlichen Initiativen brachten bis jetzt nicht einmal einen bescheidenen Teil der erhofften Wirkung. Religiöse und ideologische Konflikte treten in letzter Zeit sogar häufiger als früher auf. Dennoch, oder gerade deswegen, plädiere ich umso dringlicher für einen gut bedachten, mit entsprechender Infrastruktur
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ausgestatteten, „Multilog“. Ein wirkungsvoller „Multilog“ bedarf einer konstruktiven Aufklärung, einer fachlich orientierten Erziehung und aufrichtiger Massenmedien. Dem staatspolitischen Willen wird bei diesem Unterfangen eine wesentliche Bedeutung beigemessen. Vor etwa fünfzehn Jahren habe ich auf einer Konferenz in Süddeutschland von der Notwendigkeit des islamischen Religionsunterrichts an den deutschen öffentlichen Schulen gesprochen. Man hielt mich damals jedoch, gelinde gesagt, für einen Träumer. Heute ist der islamische Religionsunterricht, nicht ausschließlich aus Sicherheitsgründen, eine zu spät erkannte Notwendigkeit. Dies gibt mir heute Mut und Hoffnung, für weitere friedensstiftende Initiativen, so illusionär sie auch aussehen mögen, einzutreten. 1.1.3 Gottesbeweise, kurz angesprochen
In der islamischen Theologie und Philosophie hat man sich erst später unter dem Druck der Auseinandersetzungen mit Atheisten mit der Frage nach der Beweisbarkeit der Existenz Gottes befasst. Die Existenz Gottes war für die Muslime so evident wie alles, was tagtäglich zum Leben gehört. Ein altes arabisches Sprichwort besagt: „Ein Fußabdruck beweist rational zweifelsohne, dass ein Mensch oder ggf. ein Tier an dieser Stelle gegangen ist.“ Hieraus spricht die einfachste Form des Kausalitätsprinzips, welches nicht nur die Existenz Gottes beweist, sondern auch seine Eigenschaft als Schöpfer dieser Welt. Der eine einzigartige Gott entzieht sich durch seine absolute Abstraktheit und folglich Unvergleichbarkeit jedweder Art der bedingten menschlichen, sinnlichen Wahrnehmung. Höchstwahrscheinlich war dies die Ursache für die Entstehung der Götzenanbetung und demzufolge des Polytheismus, welcher u. a. auch auf der Arabischen Halbinsel verbreitet war und mit dem sich alle drei monotheistischen Religionen, einschließlich des Islam, lange Zeit auseinandersetzen mussten. Diese Abstraktheit bzw. Unvergleichbarkeit Gottes wurde im Koran 42:11 hervorgehoben. Wie sich Gott selbst beschreibt, finden wir u. a. in einem der längsten Koranverse 2:255: Allah ist der, der allein die Gottheit besitzt, Er ist der ewig Lebende (Unsterblich) und über alles Waltende. Ihn überfällt weder Schlummer noch Schlaf. Ihm allein gehört alles, was in den Himmeln und auf Erden ist. Wer ist es, der bei Ihm eine Fürsprache erbitten dürfte, wenn nicht mit Seiner Genehmigung? Er weiß, was war und was sein wird. Niemand erhält etwas von Gottes Wissen, es sei denn, Gott hat es gewollt. Sein Thron (Allmacht) umfasst Himmel und Erde. Ihm fällt es nicht schwer, sie zu versorgen, ist Er doch der Höchste und der Mächtigste.
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In einer der kürzesten Koransuren28 lesen wir eine weitere Selbstdarstellung Gottes: „Sprich, Er ist Gott, der Einzige, Gott, der allein anzuflehende; weder zeugt Er noch ist Er gezeugt worden, Ihm gleicht niemand.“ Dass es keine zwei Götter geben kann, unterstreicht der Koran und führt dafür rationale Argumente an mehreren Stellen an.29 1.1.4 Selbstverständnis des Islam
Zu der bekannten philologischen Definition des Wortes „Islam“ als eine abgeleitete Form des Grundwortes „salam“ (Frieden) und der allgemein bekannten Erläuterung, dass „Islam“ die völlige Ergebenheit der Menschen gegenüber Gott bedeutet, möchte ich weitere terminologische Aspekte dieses Begriffes heranziehen. Mit anderen Worten: Ich möchte hier in begrenzter Ausführlichkeit auf die Frage eingehen, wie ein Muslim seine Religion versteht und sogar soweit gehen kann, dass er die Angehörigen anderer monotheistischer Religionen als Muslime oder, in Anlehnung an Karl Rahners anonyme Christen30, als anonyme Muslime betrachtet. Die folgenden Koranverse könnten dieses Verständnis bekräftigen: Sure 2:285: Der Gesandte Gottes glaubt an das, was ihm von seinem Herrn herab gesandt worden ist und mit ihm die Gläubigen. Sie alle glauben an Gott und an seine Engel und an seine Bücher und an seine Gesandten. Sie machen zwischen keinem Seiner Gesandten einen Unterschied. Und sie sagen: „Wir hören und gehorchen, gewähre uns Deine Verzeihung, unser Herr, und bei Dir ruht alles.“
Sure 2:62: Die Gläubigen und diejenigen, die dem Judentum angehören und die Christen und die Sabäer (die Sternenanbeter), alle die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung) nicht traurig sein.
Die Grundlage für eine solide Ökumene mit den Angehörigen der monotheistischen 28 Sure 112. 29 Siehe u. a. Sure 16:51 u. 21:22. 30 Rahner, Karl: Die anonymen Christen, in: ders.: Schriften zur Theologie, Bd. 6, Einsiedeln 1965, S. 545–554.
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Religionen (die Schriftbesitzer = Juden u. Christen) wird im folgenden Vers konzipiert: Sure 3:64: Sag: O ihr Schriftbesitzer kommt zu einem ausgleichenden Wort zwischen uns und ihr herbei (nämlich), dass wir alle nur Gott (Allah) dienen, und ihm (sonst) nichts beigesellen, und keiner von uns, anstelle Gottes, einen anderen als seinen Herrn nimmt. Wenn sie (die Schriftbesitzer) sich jedoch abwenden (dieses Angebot ablehnen), dann sagt (ihr Muslime) ihnen: bezeugt, dass wir Muslime (Gottesergebene) sind.
Nicht nur die Propheten und das Grundbekenntnis der anderen monotheistischen Religionen, sondern auch ihre elementaren Maximen und ihre Praxis macht sich der Islam zu eigen. Die biblischen Zehn Gebote finden im Koran ihren angemessenen Platz und bilden den Kern des praktischen Islam. In den folgenden Texten werden sie ausführlich in einer umfassenden Form dargestellt. Sure 17:23–38: Und dein Herr hat bestimmt, dass ihr Ihm allein dienen sollt. Und zu den Eltern sollt ihr gut sein. Wenn einer von ihnen (den Eltern) oder sie beide das Greisenalter erreicht haben (und auf deine Hilfe angewiesen sind), dann stöhne ihnen gegenüber nicht und fahre sie nicht an, sondern sprich ehrerbietig zu ihnen. (24) Und behandle sie aus Barmherzigkeit liebevoll und gefügig und sag: Herr erbarme Dich ihrer (ebenso mitleidig), wie sie mich aufgezogen haben als ich klein (und hilflos) war. (25) Euer Herr weiß wohl, was ihr in euch bergt, auch wenn ihr nur den guten Willen besitzt, Er ist immer bereit, den Bußwilligen zu vergeben. (26) Und gib dem Verwandten, was ihm zusteht, ebenso dem Armen und dem Durchreisenden (d. h. dem hilfsbedürftigen Fremden). Und sei nicht verschwenderisch. (27) Diejenigen, die verschwenderisch sind, sind Brüder der Satane. Und der Satan ist seinem Herrn gegenüber undankbar. (28) Und wenn du dich von ihnen (deinen Eltern aus Glaubensgründen)) abwendest, um die Gunst deines Herrn zu erlangen, dann sprich (wenigstens) begütigend zu ihnen. (29) Du darfst deine Hand weder an deinem Hals fesseln (ein Ausdruck der Geizigkeit), noch sie vollständig ausstrecken (ein Ausdruck der Verschwendung), andernfalls wirst du (für den ersten Fall) getadelt (oder im zweiten Fall) entblößt dasitzen. (30) Dein Herr teilt den Unterhalt reichlich, wem Er will und begrenzt ihn nach Eigenmaß (wem er will). Er kennt und durchschaut seine Diener. (31) Und tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung! Wir bescheren ihnen und (durch) euch den Lebensunterhalt. Sie zu töten ist eine schwere Verfehlung. (32) Und lasst euch nicht auf Unzucht ein! Das ist etwas Abscheuliches, eine üble Handlungsweise. (33) Und tötet niemand, denn Gott hat dies verboten, nur dann, wenn dies auf Grund der Gerechtigkeit geschieht. Wenn
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einer zu Unrecht getötet wird, geben wir seinem nächsten Verwandten das Recht auf Rache, er soll jedoch nicht voreilig handeln, denn es wird ihm (z. B. durch Staatsorgane oder durch die Zahlung von Blutgeldern an die Kinder des Getöteten) geholfen. (34) Und tastet das Vermögen des Waisen nicht an, es sei denn auf die beste Art und Weise für ihn, bis er volljährig geworden ist. Und erfüllt jeden Vertrag (Verpflichtung), den ihr eingeht, denn danach wird (dereinst im Jenseits) gefragt. (35) Und gebt, (wenn ihr zumesst) volles Maß und wiegt mit der richtigen Waage (d. h. begeht keinen Betrug beim Messen oder Wiegen), dies ist für euch gut und die beste Interpretation (für die Gebote Gottes). (36) Und sprich nicht über etwas, von dem du kein (zuverlässiges) Wissen besitzt, denn du wirst für alles, was du hörst, siehst und verstehst (wörtlich: für das Gehör, die Sehkraft und den Verstand bzw. das Herz) Verantwortung tragen müssen. (37) Und schreitet nicht überheblich auf der Erde einher! Du kannst (ja) weder ein Loch in die Erde machen (Zeichen für die angebliche übermäßige Kraft), noch die Berge an Höhe erreichen (als ein Zeichen für die Hochnäsigkeit). (38) Jedes derartige schlechte Verhalten ist deinem Herrn zuwider.31
In diesen 16 Koranversen in der 17. Sure und in der sogenannten Urverfassung von Medina sind, wie wir eindeutig sehen, die Handlungsmaximen nicht nur der monotheistischen Religionen, sondern auch der sonstigen verschiedenen menschlichen Ideologien, einschließlich der vor einigen wenigen Jahrzehnten entstandenen Menschenrechtserklärung, zusammengefasst. Vierundzwanzig Propheten werden namentlich an verschiedenen koranischen Stellen erwähnt, nach mancher islamischen Auffassung sind es fünfundzwanzig. Bei dem umstrittenen Propheten handelt es sich um Jesaja (arab. Juschaʿ), er wird im Koran als „der Mosesjunge“ bezeichnet.32 Im Koran wird jedoch auf eine unbestimmte Zahl von Propheten hingewiesen, über die Gott dem Propheten Muhammad nicht berichtet hat.33 Bei allen diesen im Koran erwähnten und unerwähnten Propheten handelt es sich um biblische Propheten, aber auch um Personen, die in der Bibel nicht als Propheten betrachtet werden, wie z. B. Lot, dem in der Bibel einige unwürdige Vergehen, wie Inzest im betrunken Zustand, unterstellt werden, was als eine ungeheure Verleumdung eines Propheten betrachtet wird. Wichtig ist festzuhalten, dass der Islam die biblischen Propheten anerkennt und, dass ihnen, in manchen Fällen, wie oben erwähnt, sogar noch mehr Respekt zukommt, als dies selbst in der Bibel der Fall ist. Außerdem verbietet der Koran an 34 Stellen das Unrecht gegenüber Andersgläubigen. In 42:15 heißt es: 31 Siehe u. a. Sure 6:151–153; und vgl. Paret, Rudi: Der Koran, Stuttgart, Kohlhammer, 1979, S. 107. 32 Sure 18:60, 62. 33 Sure 4:164 und 40:78.
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Sag: Ich glaube an all das, was Gott an Offenbarungsschriften herab gesandt hat. Und mir ist befohlen worden, ich soll unter euch Gerechtigkeit walten lassen. Gott ist (gleichermaßen) unser und euer Herr. Uns kommen (bei der Abrechnung) unsere Werke zu und euch die euren. Wir brauchen nicht (weiter) mit euch zu streiten. Gott wird uns (dereinst bei sich) sammeln. Bei Ihm wird es (schließlich alles) enden.34
1.1.5 Muslime unter christlichem Schutz
Schon im frühen 7. Jahrhundert waren die ersten Muslime in Arabien den Schikanen und Verfolgungen der Mekkaner hilflos ausgesetzt. Sie wurden in einem fruchtlosen Tal nahe Mekka drei Jahre lang eingekesselt. Viele von ihnen sind infolge dieser Strapazen schwer erkrankt, wie die erste Ehefrau des Propheten Muhammad, Khadija. Danach empfahl der Prophet Muhammad seiner kleinen Gemeinde, aus Arabien auszuwandern und Schutz beim christlichen König von Abessinien, dem heutigen Äthiopien, zu suchen. Er sagte ihnen: „Geht zu König Negus, bei ihm erfährt niemand Ungerechtigkeit.“35 Einige Muslime befolgten seinen Rat und begaben sich unter den Schutz des gerechten Königs, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehren und dort in Sicherheit leben konnten. Ihre Feinde aus Mekka verfolgten sie bis in ihre neue Heimat und versuchten dort, den König gegen sie aufzuhetzen, indem sie behaupteten, die Muslime seien in sein Land gekommen, um dieses zu islamisieren und um ihm seine Macht streitig zu machen. Sie seien eine große Gefahr nicht nur für seine Religion, sondern auch und vor allem für sein Königreich. Diese Einwanderer würden seine Gutmütigkeit und Toleranz missbrauchen, um einen Gottesstaat in seinem Land zu errichten. Der gerechte König Negus wollte zuerst die betroffenen Einwanderer anhören, bevor er eine Entscheidung in dieser Sache traf. Er forderte die Muslime auf, ihm die Wertstellung von Jesus und Maria im Koran vorzutragen. Sie rezitierten ihm folgende Koranverse aus der Sura Maria36: Und gedenke im Buch (dem Koran) Marias, als sie sich von ihren Verwandten (Familie) entfernte und sich an einem Ort im Osten aufhielt. Sie trennte sich von ihnen und Wir schickten ihr unseren Geist (Gabriel), der ihr in der Gestalt eines gewöhnlichen Menschen
34 Dazu siehe auch Sure 2:114; 3:186, 195; 4:69, 97–98; 16:41–42; 22:38–40, 58–59; 29:56; 85:1– 10; 96:9–9. 35 Authentischer Hadith bei At-Termizi, An-Nassa’i, Al-Hakem und Al-Albani. 36 Sure 19:16–21.
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erschien. Sie sagte: Ich bitte den Barmherzigen (Gott) um Beistand gegen dich. Du mögest gottesfürchtig sein. Er (Gabriel) sagte: Ich bin nichts anderes als ein Bote Deines Herrn, um dich mit einem reinen Sohn zu bescheren. Da antwortete sie: Wie könnte ich einen Sohn bekommen, wo mich kein Mensch berührt hat und ich nicht unkeusch gewesen bin? Er (Gabriel) antwortete: So ist es, also sprach Dein Herr! Das ist für mich leicht. Wir geben ihn als ein Zeichen für die Menschen und als eine Barmherzigkeit von uns! Und dies ist eine beschlossene Sache. (Und so wurde der Wille Gottes durchgeführt).
Der christliche König Negus gewährte den Muslimen daraufhin seinen vollen Schutz und sie genossen unter seinem Wohlwollen die volle Religionsfreiheit. Davon sind wir alle heute oft genug noch weit entfernt. 1.1.6 Anspruchsbegründung aus der Bibel?
Ausgegangen von einer islamischen Perspektive und anhand einiger Koranaussagen habe ich versucht, einige ökumenische Aspekte des Islam darzustellen. Aber worauf begründet der Islam seinen Anspruch, die allererste und zugleich letzte, abschließende und umfassende Gottesbotschaft zu sein? Anders ausgedrückt: Gibt es parallel zu den koranischen Hinweisen und Bezugnahmen auf die Bibel auch in der Bibel selbst irgendwelche Zeichen bzw. Voraussagen, die auf die später folgende Prophetie Muhammads hinwiesen? Eine Antwort auf diese Frage möchte ich in zwei Abschnitten geben. Zunächst, wie der Koran selbst darauf antwortet, und dann, ob die Bibel in der Tat solche Hinweise enthält, auf welche sich der Koran bezieht. Die koranischen Aussagen gehen von der unerschütterlichen Überzeugung aus, dass die Bibel deutliche Hinweise auf Muhammads Prophetie beinhaltet, und sie gehen sogar soweit, zu behaupten, dass die Schriftbesitzer diese Hinweise nicht nur gut kennen, sondern, dass sie den Propheten Muhammad durch die Aussagen ihrer Heiligen Schrift und ihrer Gelehrten so gut erkannt haben, wie sie ihre eigenen Söhne kennen. In Sure 2:146 heißt es: Diejenigen, denen wir die Schrift gegeben haben, kennen ihn (den Propheten Muhammad oder den Koran) so gut, wie sie ihre Söhne kennen, aber einige von ihnen verheimlichen die Wahrheit, obwohl sie darüber Bescheid wissen.
In Sure 7:157 lesen wir: (Denen), die dem Gesandten, dem analphabetischen Propheten folgen, den sie bei sich in der Thora und im Evangelium verzeichnet finden, und der ihnen gebietet, was recht ist,
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verbietet, was verwerflich ist, die guten Dinge für erlaubt und die schlechten für verboten erklärt, und ihre drückende Verpflichtung und die Fesseln, die auf ihnen lagen, abnimmt. Denen nun, die an ihn glauben, ihm Hilfe und Beistand leisten und dem Licht folgen, das mit ihm herab gesandt worden ist, wird es wohl ergehen.
Sein Name „Ahmad“ (ein bekannter Beiname des Propheten Muhammad) soll, nach der folgenden Koranaussage, in der Bibel wörtlich stehen. Sure 61:6: Und als Jesus, der Sohn der Maria, sagte: Ihr Kinder Israels! Ich bin von Gott zu euch gesandt, um zu bestätigen, was vor mir als Thora offenbart wurde, und einen Gesandten mit dem Namen Ahmad (nach R. Paret: einem hochlöblichen Namen) zu verkünden, der nach mir kommen wird. Als er dann mit den klaren Beweisen zu ihnen kam, sagten sie: das ist offensichtlich Zauberei.
Auf die Paret’sche Übersetzung des Namens „Ahmad“ mit „einem hochlöblichen Namen“ werde ich später bei den Zitaten aus der Bibel zurückkommen. Sind die oben erwähnten koranischen Aussagen haltlos? Ist die Behauptung des Islam, die urmonotheistische Religion von Abraham zu sein, berechtigt? Es ist verständlich, dass die hier gewählte Interpretation einiger entsprechender Zitate aus der Bibel auf Unverständnis bei vielen Juden und Christen stoßen wird. Missdeutung und absichtliche Manipulation der Texte sowie sinnlose Apologie könnten diesem Beitrag unterstellt werden. Aber wenn jeder jedem absichtliche Manipulation unterstellt und keine Bereitschaft zu einer objektiven Bewertung der Auffassung des anderen zeigt, dann brauchen wir eigentlich nicht zu weiteren Dialogveranstaltungen aufrufen bzw. solche überhaupt zu organisieren, denn die dafür notwendige Zeit und der Kostenaufwand wären, meines Erachtens, für einen anderen nützlicheren Zweck sinnvoller angelegt. Eine zentrale Rolle dabei kommt folgenden Worten bzw. Namen zu: – Ahmad37 – Salam bzw. Islam38 – Das dritte Reich Gottes auf Erden39 – Das dritte Reich des Geistes40 37 38 39 40
Siehe u. a. Hag 2,9 und Joh 16,7–15. In der Bibel „schalom“ u. „schlama“. Siehe u. a. Dan 7,22–27; Jer 28,9. Siehe 1. Kor 15,24–28.
1.1 Monotheismus, eine Religion oder mehrere?
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– Der Berg Faran in der Nähe von Mekka – Die Rede vom zweiten Moses – Die Offenbarung aus der Richtung Arabiens41. Um uns nicht in eine endlose und höchstwahrscheinlich auch sinnlose Apologie zu begeben, beschränke ich mich hier auf den bekanntesten Streitpunkt in diesem Zusammenhang, nämlich auf den hochlöblichen Namen „Ahmad“ in der Bibel. Alle anderen oben erwähnten Stellen kann jeder aus dem oben genannten Buch „Korankunde für Christen“ von Paul Schwarzenau42 und „Muhammad in der Bibel“ von David Benjamin entnehmen.43 Hierfür werde ich mich hauptsächlich auf die deutsche Übersetzung des zuletzt genannten Buches (aus dem Englischen übersetzt von H. Günter Nydayisenga) stützen. Der Grund dafür liegt einfach darin, dass der Autor dieses Buches, Professor David Benjamin, viele Jahre als katholischer Priester bzw. Bischof tätig war, bevor er zum Islam übergetreten ist und seitdem den Namen Abdu-l-Ahad Dawud trägt. Damit stehen die Fachkenntnisse des Autors in Bezug auf die Bibel sowie die semitischen Sprachen außer allem Zweifel. Dem Autor gebührt zusätzlich großer Respekt dafür, dass er für sich aus den Ergebnissen seiner Bibelforschung, was ein höchstes Maß an Mut und Courage erfordert, die logischen Konsequenzen gezogen hat. Zuerst beginne ich mit einem Zitat aus dem Evangelium des Johannes nach der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Dort lesen wir in 16,7–15: Doch ich sage euch die Wahrheit. Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen. Gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden (8), und wenn er kommt wird er die Welt überführen (und aufdecken), was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist. (9) Sünde, dass sie nicht an mich glauben. (10) Gerechtigkeit, dass ich zum Vater gehe und ihr mich nicht mehr seht; (11) Gericht, dass der Herrscher dieser Welt gerichtet ist. (12) Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. (13) Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. (14) Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. (15) Alles, was der Vater hat, ist mein, darum habe ich gesagt, er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden. 41 Siehe Jes 21,13. 42 Schwarzenau, Paul: Korankunde für Christen, Hamburg, Kreuz Verlag, 1991. 43 Benjamin, David: Muhammad in der Bibel, München, Bavaria Verlag, 1987.
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1 Zum Begriff „Islam“
Auf diese Bibelverse nimmt der oben genannte Koranvers Sure 61:6 einen direkten Bezug. Dass der Islam Jesus verherrlicht, der der Welt gezeigt bzw. aufgedeckt hat, was Sünde, Gerechtigkeit, Gericht ist, liegt im Koran auf der Hand. Problematisch bleibt das Wort „Beistand“, dieser soll nach Jesus zu uns kommen. Der Beistand soll aber auch alles tun, was Jesus von ihm berichtet hat. Dass die Beschreibung Jesu wortwörtlich auf den Propheten Muhammad uneingeschränkt zutrifft, kann kein Islamkenner bestreiten. Der „Beistand“ ist die deutsche Übersetzung des griechischen Wortes „Parakletos“, das wiederum eine Übersetzung des aramäischen Wortes „Himda“ bzw. „Hemida“ sein soll. Die richtige Übersetzung dieser beiden aramäischen Wörter ist aber nicht „Parakletos“, sondern „Periclytos“, was genau der Bedeutung von „Ahmad“, also „berühmt, ruhmreich und gepriesen“ in der Superlativform entspricht. Im Hebräischen wird Himda folgendermaßen ausgedrückt: „ve yavu himdath kol haggoiym“, was in der wörtlichen Übersetzung bedeutet: „Und der Himda aller Völker wird kommen“. Was aber die hebräischen Wörter „shalom“ und „schlama“ betrifft, so ist es Semitisten bekannt, dass sie von derselben Wurzel wie „salam“ bzw. „Islam“ abgeleitet sind. Der Mensch [so Schwarzenau weiter] ist auf eine Vollendung der Geschichte angelegt, in der er sich als zugleich theonomes und auronames Wesen verwirklicht. Muhammad war mit der vom Geist inspirierten Botschaft des Korans der erste, der den Entwicklungsstoß in diese Richtung gab. […] Vom Abendland her sehen wir in Muhammad und der islamischen „Umma“ anfänglich das ausgedrückt, was dann in immer neuen geistig-politischen Stößen über die christliche Welt gekommen ist. Seit den Kreuzzügen, der damit gegebenen Berührung mit dem Islam und den radikalen Franziskanern bricht die Frage nach dem „dritten Reich des Geistes“ auf, wie es der Zisterzienserabt Joachim von Fiore prophetisch verkündet hat. Lessing nimmt diesen Gedanken auf. Er lässt in seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“ auf das erste Reich des Vaters (Altes Testament) und das zweite Reich des Sohnes (Neues Testament) das dritte Reich des Geistes folgen, in dem sich die Geschichte der Menschheit erfüllt. Die Geschichtsideen von Fichte, Schelling, Hegel und Marx sind Ausfüllungen des von Lessing gesetzten Programms, das letztlich bis zu den radikalen Franziskanern und den Grundimpulsen des Korans zurückgeht. Der Koran ist das Urmodell und in diesem Sinne die letzte Offenbarung.44
Für Muslime war das Vatikanum II von 1964 zweifelsohne ein lang ersehnter positiver Schritt der Katholischen Kirche in die richtige Richtung. Von da an bekam 44 Ibd.
1.1 Monotheismus, eine Religion oder mehrere?
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der Aufruf einiger christlicher Theologen und Orientalisten, dem Islam und seinem Propheten Muhammad gegenüber toleranter als bisher zu sein, eine kraftvolle Legitimation. Hans Küng erkennt die Prophetie Muhammads an. In seinem Buch „Theologie im Aufbruch“ sagt er: Insofern das konkrete Christentum aber immer wieder von diesem einen Gott und seinem Christus, diesem seinem entscheidenden Regulativ abwich, war es auch immer wieder unwahre Religion, bedürfte es auch nach Christus immer wieder des prophetischen Korrektivs, der Propheten in der Kirche, und das sehen wir heute immer deutlicher, der Propheten und Erleuchteten auch außerhalb der Kirche, zu denen auch wohl in ausgezeichneter Weise der Prophet Muhammad und Buddha zählen dürften.45
Noch ausführlicher und deutlicher sagt Küng in seinem Beitrag zu „Christentum und Weltreligionen“: Kein Zweifel indessen, wenn einer in der gesamten Religionsgeschichte schlechthin der Prophet genannt wird, weil er behauptete, dies zu sein, aber auf keinen Fall mehr dann war es Muhammad […] Auch der rechtgläubige Christ (oder Jude) kann, falls er sich orientieren lässt, bestimmte Parallelen nicht bestreiten.46
Ich fasse die Küng’sche Aussage folgendermaßen zusammen: Wie die Propheten Israels wirkt auch Muhammad nicht Kraft eines von der Gemeinschaft (oder ihren Autoritäten) verliehenen Amtes, sondern aufgrund einer besonderen Beziehung zu Gott. Er war eine willensstarke Persönlichkeit, die sich von ihrer göttlichen Berufung völlig durchdrungen, total beansprucht, exklusiv beauftragt sah. Er hat in eine religiös-gesellschaftliche Krise hineingesprochen, stand mit seiner leidenschaftlichen Frömmigkeit und seiner umstürzenden Verkündigung in Opposition zur vermögenden herrschenden Kaste und zu der von ihr gehüteten Tradition. Er nannte sich meist Warner und wollte nichts als Sprachrohr Gottes sein und Gottes Wort, nicht sein eigenes, verkünden. Er verkündete unermüdlich den einen Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet und zugleich der gütige Schöpfer und barmherzige Richter ist.
45 Küng, Hans: Theologie im Aufbruch, München, Piper Verlag, 1987, S. 302. 46 Siehe Küng, Hans: Christentum und Weltreligionen, München, Piper Verlag, 1984, u. a. S. 57–58.
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1 Zum Begriff „Islam“
Er fordert gegenüber diesem einen Gott unbedingten Gehorsam, Unterwerfung, Hingabe (Islam). Diese völlige Hingabe schließt Dankbarkeit gegenüber Gott und Großzügigkeit gegenüber den Mitmenschen ein und so verbindet er seinen Monotheismus mit einem Humanismus, den Glauben an den einen Gott und sein Gericht mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit: Gericht und Erlösung, Drohung den Ungerechten, die in die Hölle gehen, und Verheißungen den Gerechten, die zu Gottes Paradies versammelt werden. Parallelen sieht Küng nicht nur zwischen dem Propheten Muhammad und den Propheten Israels, sondern auch zwischen allen drei Heiligen Büchern, dem Alten Testament, dem Neuen Testament und dem Koran. Dazu sagt er: Wer immer die Bibel, das Alte Testament zumal, und den Koran nebeneinander legt und nebeneinander liest, der fragt sich, haben nicht die drei Offenbarungsreligionen semitischen Ursprungs Judentum, Christentum und Islam, haben nicht insbesondere Altes Testament und der Koran dieselbe Basis? Redet nicht in beiden überdeutlich der eine und derselbe Gott? Entspricht das „So spricht der Herr des Alten Testaments“ nicht dem „Sag“ des Koran; das alttestamentliche „geh hin und künde!“ nicht den Koranischen „stell dich auf und warne“? In der Tat: auch die Millionen arabisch sprechender Christen kennen für Gott kein anderes Wort als – Allah!47
Nun habe ich mich bei der Begründung meiner Überzeugung auf drei Autoritäten aus den drei größten christlichen Glaubensrichtungen, nämlich auf den römisch-katholischen Priester und späteren Repräsentanten der griechisch-orthodoxen Kirche David Benjamin, den evangelischen Theologen Paul Schwarzenau und schließlich auf den römisch-katholischen Theologen Hans Küng berufen, um einem möglichen Verdacht auf Einseitigkeit der Darstellung zuvorzukommen. Nur aus diesem Grunde habe ich sie hier ungewöhnlich lange ohne eigene Intervention zu Wort kommen lassen. Unweigerlich stellt sich nun die grundlegende Frage, warum die drei blutsverwandten monotheistischen Religionen bis heute nicht nur unfähig sind, miteinander in Frieden zu leben, sondern stattdessen einander feindselig gegenüberstehen. Muss man tatsächlich nur die Politik als den Schuldigen ansehen, oder sind auch, vielleicht sogar in noch stärkerem Maße, engstirnige und machtgierige Religionsgelehrte die eigentlichen Verschwörer?
47 Ibd.
1.2 Die Propheten Muhammad und Jesus, koranische Darstellung: „Zu euch ist einer von euch gekommen“
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1.2 Die Propheten Muhammad und Jesus, koranische Darstellung: „Zu euch ist einer von euch gekommen“
Sure 3:144: Muhammad ist nichts anderes als ein Gesandter Gottes, dem andere Gesandte vorausgegangen sind. Werdet ihr etwa kehrt machen, wenn er sterben oder getötet werden sollte?
Sure 21:107: Wir haben dich ausschließlich als Gnade für die ganze Schöpfung geschickt.
Sure 33:21: Und Ihr habt im Gesandten Gottes ein gutes Vorbild für diejenigen, die Gottes Huld und die Belohnung im Jenseits anstreben und Gottes häufig gedenken.
Sure 33:40: Muhammad ist nicht der Vater von irgendeinem eurer (angesehenen Männer), sondern der Gesandte Gottes und der abschließende Prophet.
Sure 61:6: Eines sagt Jesus, Marias Sohn: O ihr Kinder Israel! Ich bin der Gesandte Gottes zu euch, bestätige die vor mir geoffenbarte Thora und verkünde die frohe Botschaft, dass ein Gesandter namens Ahmad nach mir kommen wird. Als er ihnen dann die Beweiszeichen darlegte, sagten sie: dies ist eine offenkundige Zauberei.
Sure 9:128: Zu euch ist einer von euch gekommen. Es bedrückt ihn, dass ihr euch Schweres aufbürdet. Er sorgt sich um euch und ist gegenüber den Gläubigen einfühlsam (bzw.) liebevoll und barmherzig.
Sure 68:4: Und du bist von edlem Charakter.
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1 Zum Begriff „Islam“
In diesen Koranversen beschreibt Gott den Propheten Muhammad als einen gewöhnlichen Menschen, der von ihm mit der letzten und abschließenden Botschaft für die ganze Menschheit gesandt wurde. Sein Vorgänger Jesus hat seine Sendung vorausgesagt. Er richtete sein ganzes Leben entsprechend Gottes Botschaft ein bzw. er lebte sie uns vor. Daher wurde er von Gott als ein gutes Vorbild für die ganze Menschheit, auch für die Nichtgläubigen, bezeichnet. Ausgezeichnet wurde der Prophet Muhammad durch die Eigenschaften Einfühlsamkeit und Barmherzigkeit. Wegen dieser Eigenschaften hat ihm Allah einen edlen Charakter zugeschrieben.48 Zwei von vielen Zeichen seiner Barmherzigkeit und Einfühlsamkeit, insbesondere Frauen gegenüber, finden wir in folgendem Hadith (Aussage): „Der beste unter euch ist derjenige, der seine Frauen am gütigsten behandelt; und ich bin derjenige, der am besten von euch alle seine Frauen behandelt.“ Am Sterbebett wies er in seinem letzten Testament seine Gefährten an, gütig und gerecht zu ihren Frauen zu sein. Zeugt dies nicht von einem noblen Charakter vom höchsten Maß? 1.2.1 Jesus im Koran
Sure 2:87: Wir haben doch (seinerzeit) dem Moses die Schrift gegeben und nach ihm die (weiteren) Gesandten folgen lassen. Und wir haben Jesus, dem Sohn der Maria, die klaren Beweise gegeben und ihn mit dem heiligen Geist gestärkt. Aber waret ihr (Juden) denn nicht jedes Mal, wenn ein Gesandter euch etwas überbrachte, was nicht nach eurem Sinn war, hochmütig und erklärtet ihn für lügnerisch oder brachtet ihn um?
Sure 2:136: Wir glauben an Gott und (an das), was (als Offenbarung) zu uns und was zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen (Israels) herabgesandt worden ist, und was Moses und Jesus und die Propheten von ihrem Herrn erhalten haben, ohne dass wir bei einem von ihnen (den anderen gegenüber) einen Unterschied machen. Ihm sind wir ergeben.
Sure 2:253: Das sind die (Gottes)gesandten (der früheren Generationen und Volksgemeinschaften). 48 Sure 68:5.
1.2 Die Propheten Muhammad und Jesus, koranische Darstellung: „Zu euch ist einer von euch gekommen“
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Wir haben die einen von ihnen vor den anderen (durch besondere Gnadenerweise) ausgezeichnet. Mit einem (oder: einigen) von ihnen hat Gott (unmittelbar) gesprochen. Einigen von ihnen hat er einen höheren Rang verliehen (als den anderen). Und Jesus, dem Sohn der Maria, haben wir die klaren Beweise gegeben und ihn mit dem heiligen Geist gestärkt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätten diejenigen, (die in den Generationen) nach ihnen (lebten) einander nicht bekämpft, nachdem sie die klaren Beweise erhalten hatten. Aber sie wurden uneins. Die einen von ihnen waren gläubig, die anderen ungläubig. Und wenn Gott gewollt hätte, hätten sie einander nicht bekämpft. Aber Gott tut, was er will.
Sure 3:45: (Damals) als die Engel sagten: „Maria! Gott verkündet dir ein Wort von sich, dessen Name Jesus Christus, der Sohn der Maria, ist! Er wird im Diesseits und im Jenseits angesehen sein, einer von denen, die (Gott) nahestehen.“
Sure 3:52: Als Jesus aber fand, dass sie ungläubig waren, sagte er: „Wer sind meine Helfer (auf dem Weg?) zu Gott?“ Die Jünger sagten: „Wir sind die Helfer Gottes. Wir glauben an ihn. Bezeuge, dass wir (ihm) ergeben sind!“
Sure 3:55: (Damals) als Gott sagte: Jesus! Ich werde dich (nunmehr) abberufen und zu mir (in den Himmel) erheben und rein machen, so dass du den Ungläubigen entrückt bist. Und ich werde bewirken, dass diejenigen, die dir folgen, den Ungläubigen bis zum Tag der Auferstehung überlegen sind. Dann (aber) werdet ihr (alle) zu mir zurückkehren. Und ich werde zwischen euch entscheiden über das, worüber ihr (im Erdenleben) uneins waret.
Sure 3:59: Jesus ist (was seine Erschaffung angeht) vor Gott gleich wie Adam. Den schuf er aus Erde. Hierauf sagte er zu ihm nur: sei! da war er.
Sure 3:84: Sag: Wir glauben an Gott und (an das) was (als Offenbarung) auf uns, und was auf Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und die Stämme (Israels) herab gesandt worden ist, und was
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1 Zum Begriff „Islam“
Moses, Jesus und die Propheten von ihrem Herrn erhalten haben, ohne dass wir bei einem von ihnen (den anderen gegenüber) einen Unterschied machen. Ihm sind wir ergeben.
Sure 4:157: Und (weil sie) sagten: ‚Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, getötet‘. – Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten). Und diejenigen, die über ihn (oder: darüber) uneins sind, sind im Zweifel über ihn (oder: darüber). Sie haben kein Wissen über ihn (oder: darüber), gehen vielmehr Vermutungen nach. Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet (d. h. sie können nicht mit Gewissheit sagen, dass sie ihn getötet haben).
Sure 4:163: Wir haben dir (Offenbarungen) eingegeben (ebenso) wie (früher) dem Noah und den Propheten nach ihm: Abraham (w. und wir haben dem Abraham (Offenbarungen) eingegeben), Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen (Israels), Jesus, Hiob, Jonas, Aaron und Salomo. Und dem David haben wir einen Psalter gegeben.
Sure 4:171: Ihr Leute der Schrift! Treibt es in eurer Religion nicht zu weit und sagt gegen Gott nichts aus, als die Wahrheit! Christus Jesus, der Sohn der Maria ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und Geist von ihm. Darum glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht (von Gott, dass er in einem) drei (sei)! Hört auf (so etwas zu sagen)! Das ist besser für euch. Gott ist nur ein einziger Gott. Gepriesen sei er! (Er ist darüber erhaben) ein Kind zu haben. Ihm gehört (vielmehr alles), was im Himmel und auf der Erde ist. Und Gott genügt als Sachwalter.
Sure 5:46: Und wir ließen hinter ihnen (d. h. den Gottesmännern der Kinder Israels) her Jesus, den Sohn der Maria, folgen, dass er bestätige, was von der Thora vor ihm da war (oder: was vor ihm da war, nämlich die Thora?), und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen.
1.2 Die Propheten Muhammad und Jesus, koranische Darstellung: „Zu euch ist einer von euch gekommen“
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Sure 5:78: Diejenigen von den Kindern Israels, die ungläubig waren, wurden (seinerzeit) durch den Mund (wörtlich: die Zunge) Davids und Jesu, des Sohns der Maria, verflucht. Dies (trat ein zur Strafe) dafür, dass sie widerspenstig waren und (die Gebote Gottes) übertraten.
Sure 5:110: (Damals) als Gott sagte: „Jesus, Sohn der Maria! Gedenke meiner Gnade, die ich dir und deiner Mutter erwiesen habe, (damals) als ich dich mit dem heiligen Geist stärkte, so dass du (schon als Kind) in der Wiege zu den Leuten sprachst, und (auch später) als Erwachsener, und (damals) als ich dich die Schrift, die Weisheit, die Thora und das Evangelium lehrte, und (damals) als du mit meiner Erlaubnis aus Lehm etwas schufst, was so aussah wie Vögel, und in sie hineinbliest, so dass sie mit meiner Erlaubnis (schließlich wirkliche) Vögel waren, und (als du) mit meiner Erlaubnis Blinde und Aussätzige heiltest, und als du mit meiner Erlaubnis Tote (aus dem Grab wieder) herauskommen ließest, und (damals) als ich die Kinder Israels von dir zurückhielt (so dass sie dir nichts anhaben konnten), als du mit den klaren Beweisen zu ihnen kamst, worauf diejenigen von ihnen, die ungläubig waren, sagten: ‚Das ist ganz offensichtlich Zauberei.‘“
Sure 5:112: (Damals) als die Jünger sagten: „Jesus, Sohn der Maria! Kann dein Herr uns (wohl) einen Tisch (mit Speisen) vom Himmel herab senden? Er sagte, fürchtet Gott, wenn (anders) ihr gläubig seid (und verlangt keine besonderen Wunderzeichen?)“
Sure 5:114: Jesus, der Sohn der Maria, sagte: „Du unser Gott und Herr! Sende uns vom Himmel einen Tisch herab, der (mit seinem Mahl) für uns von jetzt an bis in alle Zukunft (?) (wörtlich: für den ersten und den letzten von uns) eine Feier und ein Zeichen von dir sein wird! Und beschere uns (Gutes)! Du kannst am besten bescheren.“
Sure 5:116: Und (damals) als Gott sagte: „Jesus, Sohn der Maria! Hast du (etwa) zu den Leuten gesagt: ‚Nehmt euch außer Gott mich und meine Mutter zu Göttern!‘?“ Er sagte: ‚Gepriesen seiest du! (Wie dürfte man dir andere Wesen als Götter beigesellen!). Ich darf nichts sagen, wozu
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1 Zum Begriff „Islam“
ich kein Recht habe. Wenn ich es (tatsächlich doch) gesagt hätte, wüsstest du es (ohnehin und brauchtest mich nicht zu fragen) (wörtlich: Wenn ich es gesagt habe, wusstest du es). Du weißt Bescheid über das, was ich (an Gedanken) in mir hege. Aber ich weiß über das, was du in dir hegst, nicht Bescheid. Du (allein) bist es, der über die verborgenen Dinge Bescheid weiß.‘
Sure 6:85: Und den Zacharias, Johannes, Jesus und Elias (haben wir rechtgeleitet) – (jeder von ihnen) gehört zu den Rechtschaffenen.
Sure 19:34: Solcher Art (wörtlich: Dies) ist Jesus, der Sohn der Maria – um die Wahrheit zu sagen, über die sie (d. h. die Ungläubigen [unter den Christen?] (immer noch) im Zweifel sind.
Sure 33:7: Und (damals) als wir von den Propheten ihre Verpflichtung entgegennahmen und von dir und von Noah, Abraham, Moses und Jesus, dem Sohn der Maria! Wir nahmen von ihnen eine feste Verpflichtung entgegen.
Sure 42:13: Er hat euch als Religion verordnet, was er (seinerzeit) dem Noah anbefohlen hat, und was wir (nunmehr) dir (als Offenbarung) eingegeben und was wir (vor dir) dem Abraham, Moses und Jesus anbefohlen haben (mit der Aufforderung): ‚Haltet die (Vorschriften der) Religion und teilt euch darin (d. h. in der Religion) nicht (in verschiedene Gruppen)!‘ Den Heiden (wörtlich: Denen, die (dem einen Gott andere Götter) beigesellen) kommt es (allerdings) schwer an, wozu du sie rufst. (Aber) Gott erwählt dazu, wen er will, und führt dazu (auf den rechten Weg), wer sich (ihm bußfertig) zuwendet.
Sure 43:63: Und als Jesus mit den klaren Beweisen (zu den zeitgenössischen Kindern Israels) kam, sagte er: „Ich bin mit der Weisheit zu euch gekommen, und um euch einiges von dem, worüber ihr uneins seid, klarzumachen. Daher fürchtet Gott und gehorcht mir!“
1.2 Die Propheten Muhammad und Jesus, koranische Darstellung: „Zu euch ist einer von euch gekommen“
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Sure 57:27: Hierauf ließen wir hinter ihnen her unsere (weiteren) Gesandten folgen. Und wir ließen Jesus, den Sohn der Maria, folgen und gaben ihm das Evangelium, und wir ließen im Herzen derer, die sich ihm anschlossen, Milde Platz greifen (wörtlich: wir setzten in das Herz derer, die sich ihm anschlossen, Milde), Barmherzigkeit und Mönchtum. Sie brachten es (d. h. das Mönchtum) (von sich aus) auf. Wir haben es ihnen nicht vorgeschrieben. (Sie haben es) vielmehr (von sich aus) im Streben nach Gottes Wohlgefallen (auf sich genommen). Doch hielten sie es (nachdem sie es erst einmal auf sich genommen hatten) nicht richtig ein. Und wir gaben denjenigen von ihnen, die (an die Wahrheit der ihnen übermittelten Offenbarungen) glaubten, ihren Lohn. Aber viele von ihnen waren Frevler.
Sure 61:6: Und (damals) als Jesus, der Sohn der Maria, sagte: „Ihr Kinder Israels! Ich bin von Gott zu euch gesandt, um zu bestätigen, was von der Thora vor mir da war (oder: was vor mir da war, nämlich die Thora), und einen Gesandten mit einem hochlöblichen Namen zu verkünden, der nach mir kommen wird“. Als er dann mit den klaren Beweisen zu ihnen kam, sagten sie: „Das ist offensichtlich Zauberei.“
Sure 61:14: Ihr Gläubigen! Ihr sollt die Helfer Gottes sein. (Diese Aufforderung ergeht jetzt an euch) so, wie (seinerzeit) Jesus, der Sohn der Maria, zu den Jüngern gesagt hat: „Wer sind meine Helfer (auf dem Weg?) zu Gott?“ Die Jünger sagten: „Wir sind die Helfer Gottes“. Und eine Gruppe der Kinder Israels war gläubig, eine andere ungläubig. Da stärkten wir diejenigen, die gläubig waren, gegen ihre Feine, so dass sie die Oberhand (über sie) bekamen.
1.2.2 Die Fünf Worte Johannes’ des Täufers und die fünf Säulen des Islam
Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen dem Christentum und dem Islam zeigen sich nicht nur in verschiedenen Koranstellen, sondern auch in einigen Hadithen. Muslime verstehen diese Parallelen grundsätzlich und ausschließlich als Beweis dafür, dass die Quelle aller drei monotheistischen Religionen ein und dieselbe ist. Den folgenden authentischen Hadith führe ich hier als Beispiel in diesem Zusammenhang an:
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1 Zum Begriff „Islam“
Al-Harith Al-Aschʿari berichtete: Der Gesandte Allahs sagte: „Allah offenbarte Jahya Ibn Zakariya (Johannes der Täufer) fünf Worte, die er selbst und sein Volk (die Israeliten), beherzigen und praktizieren sollen. Als Johannes zögerte, kam Jesus zu ihm und forderte ihn auf, die ihm offenbarten fünf Worte (Gebote) den Israeliten zu verkünden, sonst würde er (Jesus) es selbst tun. Also verkündete Johannes die folgenden offenbarten Worte (Gebote): 1. Allah wies uns an, dass wir Ihm niemand beigesellen. Würde man dies dennoch tun, hätte man keinen Anspruch auf Belohnung im Jenseits. Denn dies wäre so, wie wenn der eigene Diener für einen anderen arbeitet, seinen Lohn verlangte er dennoch von seinem Herrn, für den er nicht gearbeitet hat. 2. Allah wies uns an, dass wir das Gebet verrichten und dabei unsere Blicke nicht in eine andere Richtung richten, denn Gott schaut uns solange an, wie wir zu Ihm schauen. 3. Und dass wir fasten, denn der Fastende ist so, als würde er ein Parfümgefäß (Mask) tragen und dabei versuchen die anderen Menschen in seiner Nähe zu kommen, um etwas von seinem Duft zu erhaschen. Fasten ist bei Allah noch wertvoller als maskierendes Parfüm. 4. Und dass wir spendenfreudig sein sollen, denn man könnte sich dadurch freikaufen, wie ein Kriegsgefangener, der seine Freiheit durch eigene Leistung (Arbeit oder Geld) erkauft. 5. Und dass wir Gottes Andacht halten (Ihn lobpreisen), denn Gottes Andacht schützt vorm Satan wie eine Schutzmauer“49.
An der Stelle des fünften Wortes des Johannes tritt im Islam die Pilgerfahrt zum Gotteshaus in Mekka. Dabei wäre es gar nicht so falsch, die Pilgerfahrt als eine der höchsten Formen der Gottesandacht zu verstehen. Im Folgenden werden Textstellen aus Koran und Sunna wiedergegeben, die den Umgang mit anderen Menschen thematisieren: In Sura an-Nisa’ (4:36) lesen wir: Dient Allah und gesellt Ihm keine Teilhaber an Seiner Göttlichkeit bei. Seid gut zu euren Eltern und Verwandten, zu den Waisen und Armen, zu den Nachbarn, seien sie verwandt oder fremd, zu dem vertrauten Freund, dem Reisenden und euren Dienern! Den Hochmütigen und den Prahler liebt Allah nicht.
Der Prophet Muhammad sagt in diesem Zusammenhang in einem von Abū Huraira überlieferten authentischen Hadith (einer Überlieferung): 49 Siehe Hadithsammlungen von Termizi; Nassa’i und al-Hakem.
1.3 Problemfeld des monotheistischen Selbstverständnisses zwischen Christentum und Islam
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Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinem Nachbarn keinen Schaden zufügen. Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinen Gast ehrenvoll behandeln. Und wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll sagen, was recht ist, oder schweigen.
Ibn Jarir at-Tabari (gest. 310 n. H./930 n. Chr.), einer der ersten und größten Koraninterpreten im Islam, erläutert den oben erwähnten Koranvers in seinem bekannten Werk „Jamiʿ al-Bayan …“ (Summa summarum der Erläuterungen …) folgendermaßen: Allah fordert uns auf, ausschließlich Ihm allein zu dienen und gehorsam zu sein. Außer Ihm dürfen wir sonst niemand als Herrn annehmen. Zu unseren Eltern sollen wir äußerst freundlich sein und mit ihnen ehrenvoll umgehen. Ebenso sollen wir unsere Verwandten, die Waisen und die Schutzlosen liebevoll behandeln und Allahs diesbezügliche Anweisungen in Taten umsetzen. Mit unseren Nachbarn, ob sie mit uns verwandt sind oder nicht und ob er/sie Muslim ist oder nicht, sollen wir liebevolle Beziehungen pflegen. Wenn wir auf Reisen sind, sollen wir zu unseren Mitreisenden und Freunden, ob Männer, Frauen oder andere Weggefährten, stets gut gesinnt und hilfsbereit sein. Auch zu einem fremden Reisenden, der keine Begleiter hat, sollen wir gastfreundlich sein. Unsere Diener (früher Sklaven) sollen wir genauso rücksichtsvoll behandeln. Diejenigen, die diese göttlichen Anweisungen nicht einhalten, tun dies aus Eitelkeit und Hochmut. Derartige Menschen haben die Liebe Gottes nicht verdient und sie bleibt ihnen verwehrt.
Allein in dem oben erwähnten Koranvers finden wir ein höchst wertvolles Erziehungskonzept, dessen Umsetzung nicht nur Frieden und soziale Sicherheit in der Gesellschaft bewirken, sondern auch eine menschliche und zugleich göttliche Gesellschaft schaffen würde.
1.3 Problemfeld des monotheistischen Selbstverständnisses zwischen Christentum und Islam 1.3.1 Problemfeld aus dem Koran
Welches Konfliktpotenzial in diesem Problemfeld vorhanden ist und uns voneinander trennt und damit die gegenseitige Verständigung erschwert, ist u.a. in vier Koranversen in der oben zitierten Sure (al-Ma’ida arab. Das Gastmahl) formuliert.
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1 Zum Begriff „Islam“
Ungläubig sind diejenigen, die sagen, Gott sei Jesus Christus, Marias Sohn. Was Jesus Christus sagte war aber: „Oh Ihr Kinder Israels, dient Gott, meinem und eurem Herrn! Wer Gott andere Gottheiten beigesellt, dem hat Gott das Paradies verboten“. Ungläubig sind diejenigen, die sagen, Gott sei der dritte von drei Gottheiten. Es gibt nur den einen einzigen Gott. Sie sollen doch reuevoll zu Gott zurückfinden und Ihn um Vergebung bitten. Gott ist voller Vergebung und Barmherzigkeit. Jesus Christus ist nichts anderes als ein Gesandter, dem andere Gesandte vorausgegangen sind. Seine Mutter hat sich die Wahrheit vorgeschrieben. Sie beide waren Menschen, die wie alle anderen Nahrung zum Leben zu sich nahmen. Sieh, wie wir ihnen die Beweise klar darlegen und sieh, wie sie von der Wahrheit abgebracht werden50.
In Vers 116 wehrt Jesus Christus sich ausdrücklich dagegen, dass er jemals die Menschen dazu aufgefordert habe, ihn und seine Mutter als Götter zu betrachten. Dort lesen wir: Gott wird am Jüngsten Tag sagen: Jesus, Marias Sohn, hast du den Menschen gesagt: Nehmt mich und meine Mutter als zwei Gottheiten außer Allah? Er wird antworten: Gepriesen seiest Du! Es ziemt mir nicht, dass ich etwas sage, was ich nicht sagen darf. Hätte ich es gesagt, hättest Du es erfahren. Du weißt, was in mir ist, aber ich weiß nicht, was in Dir ist. Du bist der Allwissende, der alles Verborgene weiß. (117) Ich habe ihnen lediglich ausgerichtet, was Du mir befohlen hast. Dienet Gott, Allah, meinem und eurem Herrn! Ich war ihr Zeuge, solange ich unter ihnen weilte. Als du mein Leben beendetest, warst Du der Wächter über sie. Du bist doch der allerhöchste Zeuge, dem nichts entgeht.
Jesus Christus und seine Mutter genießen daher einen sehr hohen Rang im Koran. Die Geburt Jesu Christi ohne Vater, er wird immer als Jesus Christus, der Sohn der Maria genannt, wird als ein Wunder und Zeichen Gottes geehrt. Darüber, ob Jesus Christus Gottes Sohn sei, gibt der Koran eine eindeutige Antwort, die in einer kleinen aus vier Versen bestehenden Sure enthalten ist. Sie ist dennoch von größter Wichtigkeit in der islamischen Theologie (die Reinheit bzw. die Exklusivität des Glaubens an den einzigen Gott). So lautet es in Sure 112: Sprich: Er ist Gott, der Einzige; Gott, der allein Anzuflehende. Weder zeugt Er noch ist Er gezeugt worden. Ihm gleicht niemand.
50 Sure 5:72–75; 116–117.
1.3 Problemfeld des monotheistischen Selbstverständnisses zwischen Christentum und Islam
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1.3.2 Gott, Drei in Einem?
Das monotheistische Selbstverständnis sowie das Gotteswort-Verständnis im Islam auf der einen Seite und das ihr gegenüberstehende Verständnis im Christentum auf der anderen Seite stellen, meines Erachtens, eine der größten Problemfelder auf dem Wege des christlich-muslimischen Dialogs dar. Der christlichen Trinitätslehre, will man sie wörtlich auffassen, steht ein streng aufgefasster islamischer Monotheismus als totaler Gegensatz gegenüber. Das Gotteswort-Verständnis im Islam als Gotteswille, das ein Muslim ausschließlich durch das Gotteswort „sei“ identifiziert, steht einem fleischgewordenen Gotteswort, sprich der Inkarnation, im Christentum ebenso als totaler Gegensatz gegenüber. Das Gotteswort ist im Christentum Fleisch (Inkarnation), im Islam aber ein Buch (Inliberation) geworden. Die christliche Auffassung von einem Fleisch gewordenen Wort setzt, meiner Meinung nach, eine Doppelinkarnation voraus. Einmal muss sich Gott in seinem Wort inkarnieren und dann könnte sich das „Gott gewordene Wort“ in Jesus Christus inkarnieren. Dieser Prozess ist, wie Sie sehen, sehr kompliziert und nach meiner Auffassung rational nicht nachvollziehbar. Hier müssen wir uns nach einer Interpretation umschauen, die für alle plausibler sein kann. Fünf christliche Glaubensbekenntnisse bzw. Säulen der christlichen Religion bilden den Gegenstand der christlich-islamischen Diskussion und hemmen hintergründig die gegenseitige Verständigung. Diese zeigen zusätzlich den grundlegend unterschiedlichen theologischen Ansatz zwischen den beiden monotheistischen Religionen sehr deutlich: – Die Trinität bzw. die Dreifaltigkeit – Gottessohn und Muttergottes – Gottes Wort und der Heilige Geist – Die Erbsünde – Die Kreuzigung Jesu Christi. Mit Ausnahme vom Punkt 3 werden alle anderen genannten christlichen Glaubensartikel im Islam kategorisch verneint. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Christen und Muslimen über das Gotteswort und den Heiligen Geist lässt sich durch entsprechende Interpretation relativieren. Zu Recht kann man die Frage stellen, was dann unstrittig bleibt zwischen Christentum und Islam. Oder genauer gefragt: Können die beiden Religionen dennoch Gemeinsamkeiten vorweisen?
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1 Zum Begriff „Islam“
Auf alle oben genannten Streitfragen an dieser Stelle einzugehen, ist unmöglich, und daher werde ich mich hier auf die, meines Erachtens, wichtigsten Streitfragen beschränken. Drei Fragen müssen einleitend gestellt werden, um eine Überbrückung dieses Hindernisses zu erreichen: – Inwieweit könnte die Trinitätslehre jede Art von Trio-Theismus, Drei-GottheitsGlaube, ausschließen? – Inwieweit könnte die Dreifaltigkeit ausschließlich als bloße Erscheinungsformen des einen einzigen Gottes verstanden werden? – Inwieweit könnte Gotteswort (Logos) als Gotteswille interpretiert werden?
1.3.3 Erster innerkirchlicher Streit
Es ist bekannt, dass es den ersten ernsthaften innerchristlichen Streit über die Natur Christi im 4. Jahrhundert gab. Dieser nahm im Konzil von Nicäa im Jahr 325 seinen Anfang und wurde 385 und 451 in Konstantinopel fortgesetzt. Der Streit unter den Alexandrinern, Arius und Athanasius im 4. Jahrhundert hat die erste Spaltung in der Mutterkirche eingeleitet, und als direkte Folge dieses innerchristlichen theologischen Streits gab es mindestens zwei voneinander unabhängige Kirchen, nämlich die nestorianische (5. Jahrhundert), die Anhänger des Patriarchen Nestorius (gest. 451 n. Chr.), die insbesondere in Vorderasien beheimatet war, und die jakobinische bzw. die der Monophysiten, die Anhänger von Jakob Baradai (gest. 578 n. Chr.), in Afrika und insbesondere in Ägypten. Festzuhalten ist die Tatsache, dass die Auffassung von der göttlichen Natur Christi bei dieser Diskussion sehr stark relativiert wurde. Bei der oben genannten ersten innerkirchlichen folgenreichen Debatte vertraten Arius bzw. die Arianer die Auffassung, dass Christus mit Gott nicht wesenseins, sondern wesensähnlich sei. Diese Debatte entschied sich zugunsten des orthodoxen Athanasius. Im 5. Jahrhundert vertraten die Nestorianer die Auffassung, dass es in der Person Christi eine göttliche sowie eine menschliche Natur gebe. Die Monophysiten bzw. Jakobiten akzeptierten die Konzilbeschlüsse von Chalzedon 451 nicht und blieben bei ihrer orthodoxen Auffassung, in der Person Christi nur eine einheitliche gottmenschliche Natur zu sehen. Der in Tübingen lebende bekannte Schweizer katholische Theologe Hans Küng weist hierzu in „Christentum und Weltreligionen: Islam“ auf hellenistische Einflüsse im 3. bis 4. Jahrhundert als Auslöser dieses schicksalhaften theologischen Diskurses hin.
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran
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Karl-Theodor Heussi sieht in seinem „Kompendium der Kirchengeschichte“ den hellenistischen Einfluss insbesondere in Bezug auf den „Logos“ bereits im 2. Jahrhundert. Hierzu wird Philon, dem Gründer des Neuplatonismus (25 n. Chr.), der größte Einfluss beigemessen. Nach St. Augustin (gest. 430 n. Chr.) hat der „Logos“ theosophische Gestalt neuplatonistischer Prägung angenommen. Nach der islamischen Auffassung wurde Jesus Christus von Gott auf eine wundersame Weise, ähnlich wie Adam, als Mensch durch einen Hauch vom göttlichen Geist geschaffen, daher genießt er eine Sonderstellung unter allen Propheten. Dennoch bleibt seine Natur für die Muslime ausschließlich eine menschliche. Über Jesus lesen wir in Sure 3:59: Wahrlich, Jesus ist vor Gott wie Adam, den Gott aus Staub erschuf und dann sagte Er ihm: „Sei“ und er war.
Und in Sure 21:91 heißt es: Gedenke Maria, die ihre Keuschheit wahrte, Wir hauchten ihr von unserem Geiste ein und machten sie und ihren Sohn zu einem Zeichen für die Welten.
Über die Schöpfung Adams lesen wir in Sure 38:72: Einst sagte dein Herr den Engeln: Ich erschaffe einen Menschen aus Lehm, wenn Ich ihn vollendet und in ihm aus meinem Geiste eingehaucht habe, werft euch in Ehrfurcht vor ihm nieder.
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran 1.4.1 Einführung ins Thema
In der vorsokratischen Philosophie beschäftigten sich die Philosophen primär mit der Frage nach dem Ursprung der Welt. Erst mit Sokrates und seinen Schülern Platon (gest. 347 v. Chr.) und Aristoteles (gest. 322 v. Chr.) bekam die Suche nach der Quelle des Wissens bzw. der menschlichen Erkenntnis die gebührende Aufmerksamkeit. Dies bedeutet aber keineswegs, dass diese Frage keinen Platz in den älteren Kulturen, wie z. B. der altägyptischen und altsyrischen, altpersischen und altvedischen Religion (Hinduismus) fand.
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1 Zum Begriff „Islam“
Nur die Fachwissenschaft des jeweiligen Gebiets konnte, meines Wissens, bis heute keine fundierten Erkenntnistheorien aus den alten Schriften ableiten. Der Konfuzianismus und der Buddhismus entstanden bekanntlich im Laufe des 1. Jahrtausends vor Christus, und waren damit zeitgleich zur antiken griechischen Kultur relevant. Relevant für unser Thema sind die Kulturkreise, die direkt oder indirekt das islamische Denken erkenntnistheoretisch beeinflusst haben könnten. Hinduistisch-buddhistischer Einfluss auf die frühchristliche Theologie ist unverkennbar. Philosophisch wurde sie, wie auch vorher die jüdische Theologie und später die islamische Theologie, vor allem durch die griechische Philosophie und später durch Philon von Alexandria (gest. 50 n. Chr.) und Plotin (gest. 270 n. Chr.), den Gründer des Neuplatonismus, stark beeinflusst. Der Einfluss der griechischen und der hellenistischen Philosophie auf die Systematisierung der islamischen spekulativen Theologie und Philosophie ist allgegenwärtig. Dennoch blieben der Koran und die Sunna bzw. ihre rationalen Interpretationen als Hauptquellen ihres Inhaltes und ihrer Rahmenbedingungen. Schon bei Sokrates (gest. 399 v. Chr.) wurde die Frage aufgeworfen, ob der Mensch mit irgendeiner Art des Wissens zur Welt gekommen ist, oder ob der Mensch alles, was er an Kenntnissen besitzt, selbst durch die Lebenserfahrungen erworben hat; er wäre dann sozusagen als ein weißes Blatt zur Welt gekommen. Mäeutik, zu Deutsch „Hebammenkunst“, bezeichnet die Erkenntnismethodik des Sokrates und beschreibt die Art und Weise, die Sokrates zur Gewinnung der Erkenntnis bei seinen Schülern verwendete. Durch Frage und Antwort, bei der er die Gesprächsführung übernahm, versuchte er zuerst den Schüler von seiner Unwissenheit zu überzeugen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. In der zweiten Etappe des Gesprächs versucht Sokrates ebenfalls durch Frage und Antwort beim Gefragten die seiner Meinung nach verborgenen Erkenntnisse herauszuholen. Dieser Vorgang entspricht der Arbeit einer Hebamme, die der schwangeren Frau zum Gebären des Kindes aktiv verhilft. Nach Sokrates komme der Mensch ausgestattet mit verborgenem Wissen zur Welt. Ein Lehrer hat lediglich die Aufgabe, dem Schüler dabei zu helfen, das eigene verborgene Wissen zu entdecken bzw. in sein Bewusstsein zu rufen. Diese Methode unterscheidet sich wesentlich von unserer heutigen Didaktik, nach der der Lehrer dem Schüler fremdes Wissen vermittelt. 1.4.2 Islamische Perspektive der Erkenntnistheorie
Die sokratische Erkenntnistheorie steht so gesehen in absolutem Widerspruch zum islamischen Erkenntnissystem. Denn nach islamischer Vorstellung wird der Mensch
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran
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wie ein weißes Blatt geboren, aber mit den wesentlichen Erkenntnisinstrumenten, nämlich dem Seh- und Hörvermögen sowie dem Herz als Denkinstrument, ausgestattet. In Sure 16:78 lesen wir im Koran: Und Allah hat euch aus den Leibern eurer Mütter herausgebracht, während dessen ihr nichts wusstet. Und Er hat euch Gehör, Augenlicht und Herzen gegeben, auf dass ihr dankbar sein möget.
Im Allgemeinen unterscheidet man drei Arten von Erkenntnissen: 1. Empirische Erkenntnisse, die hauptsächlich durch die sinnliche Wahrnehmung gewonnen werden. Diese Art stellt die Grundlage der Naturwissenschaften dar. 2. Rationale Erkenntnisse, die durch einen Denkprozess und Schlussfolgerung entstehen. Diese Art der Erkenntnisse zeichnet das philosophische Denken aus. 3. Intuitive Erkenntnisse, die nach einem geistlichen Reinigungsprozess funkenartig im Herzen eines Menschen entstehen. Auf diesem Wege erwerben die Mystiker ihr für sie absolut sicheres Wissen. In dieser Art der Erkenntnisse verschmelzen Glaube und Wissen unzertrennlich miteinander. Alles, was der Mensch an Erkenntnis besitzt, hat er durch sinnliche Wahrnehmungen vorerst gesammelt und durch einen Herzdenkprozess zu einem aussagekräftigen Erkenntnissatz konstruiert. Bemerkenswert ist hier, dass das Denken eine Funktion des Herzens und nicht des Verstandes darstellt. Verstand bzw. Vernunft stellen, nach islamischer Denkanschauung, lediglich eine Funktion des Herzens dar und bezeichnen damit keine Organe des menschlichen Körpers. Daher wird das Wort „ʿaql“ bzw. „Verstand“ in Nominalform im Koran nirgendwo erwähnt, wohl aber als ein Verb wie „yaʿqilun“ oder „taʿqilun“. Das Herz steht im Koran aber meistens in Verbindung mit Wissen „ʿilm“, und Nachdenken, „tafakkur“ bzw. „tadabbur“ oder „tafaqquh“ bzw. „yafqahun“. Theoretische Erkenntnis wird erst durch Bestätigung der sinnlichen Wahrnehmung als fundiertes Wissen bzw. als eine Gewissheit betrachtet. In Sure 102:1–8 (at-takathur = die Vermehrung) werden drei Arten bzw. Stufen der Gewissheit (yaqin) erwähnt. Dort heißt es: Eure Besessenheit, immer mehr an Gütern zu haben, hat euch im Griff. Ihr werdet so weiter machen, bis ihr begraben werdet. Doch ihr werdet (es) wissen. Und doch werdet ihr (es) abermals wissen. Doch wenn ihr mit Gewissheit (es) wissen würdet. Ihr werdet den Höllenbrand sehen. Abermals: Ihr werdet ihn mit dem Auge der Gewissheit (ʿain al-yaqin) sehen. Dann werdet ihr an jenem Tag ganz gewiss danach gefragt, was ihr mit eurem gesammelten Gut gemacht haben.
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1 Zum Begriff „Islam“
Nach islamischem Verständnis ist Abraham (arab. Ibrahim) der Urvater und damit der eigentliche Begründer aller drei bekannten monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam). Jede einzelne dieser Religionen war eine notwendige Voraussetzung für die darauf folgende Religion. Dabei wird die Voraussetzung nicht als unwichtiger bewertet als ihre Wirkung, d. h. die Tatsache, dass, nach islamischer Ansicht, das Judentum eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Christentums und das Christentum wiederum eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Islams war. Diese historisch bedingte Reihenfolge soll keinen Vorzug einer dieser drei Religionen gegenüber den anderen darstellen. Monotheismus stellt, nach islamischer Weltanschauung, eine vollständige Kette, bestehend aus zwar verschiedenen, jedoch gleichwertigen Gliedern dar. Die gemeinsame Teilhaberschaft an der vollkommenen Wahrheit sowie die Rolle der gegenseitigen Ergänzung treten somit an die Stelle der Inanspruchnahme des alleinigen Wahrheitsbesitzes seitens jeder einzelnen dieser Religionen. Im Koran lesen wir in Sure ’Ala ʿImran 3:33 „Gott auserwählte ’Adam, Noah, Aala Ibrahim und ’Ala ʿImran.“ Mit Aala Ibrahim sind seine Söhne Ismael, Isak, Jakob (Israel) und ihre Nachkommenschaft gemeint. Die arabischen Muslime sind bekanntlich die Nachkommenschaft Ismaels. Und mit ’Ala ʿImran sind Moses, Marias Mutter, Maria und Jesus gemeint. Die Koranverse51, welche die ökumenische Konzeption des Islam belegen, sind zahlreich und für jeden Fachkundigen zugänglich. 1.4.3 Abraham als Philosoph und Prophet
Die Persönlichkeit Abrahams zeichnet sich in erster Linie als die eines kritischen Geistes insbesondere in drei Bereichen aus: Außer seiner unbestreitbaren Stellung als Gründer bzw. Vater der monotheistischen religiösen Weltanschauung ist er als einer der ersten Gesellschafts- und Theologiekritiker und als rationaler Denker einzustufen. Hierzu sind einige Streitgespräche hervorzuheben: Seine theologische Auseinandersetzung mit seinem Vater Ezra, seine Auseinandersetzung mit seiner Gemeinde, seine Suche nach Gott, seine Auseinandersetzung mit dem König Nemrud (die Gottesbeweise) und seine Suche nach sinnlicher Gewissheit des Glaubens an die Wiederauferstehung am Jüngsten Tag. Abraham wurde insgesamt neunundsechzig Mal im Koran erwähnt. Sure 14 trägt seinen Namen (Ibrahim), in der er nur einmal erwähnt wird (Vers 35). In weiteren 23 51 Siehe u.a. Sure 2:256 u. 49:13.
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran
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Suren wurde von ihm in verschiedenen Situationen berichtet.52 Kein anderer Prophet hat so viel Aufmerksamkeit im Koran erhalten. Der Prophet Muhammad wurde im Vergleich dazu namentlich nur vier Mal im Koran erwähnt. Die Sure 47 trägt seinen Namen, er wurde jedoch auch, wie Abraham, nur einmal namentlich erwähnt. Die Koransuren werden in der Regel nach dem wichtigsten Namen bzw. Geschehen genannt. Die Wichtigkeit und nicht die Häufigkeit der erwähnten Person oder des Geschehens ist bei der Benennung einer Sure maßgebend. Die erste Auseinandersetzung hat Abraham mit seinem Vater gehabt. Der Vater betete eine Gestalt an, die er selbst bastelte. Dies lief der Natur Abrahams zuwider. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man sein eigenes Werk als Schöpfer anbetet. Hier zeigt sich die rationale Veranlagung Abrahams, die eine auf Logik und rational nachvollziehbaren Argumente basierende Denkstruktur vorweist. Er distanzierte sich von allen Götzen, die sein Vater und seine Gemeinde anbeteten. Abraham war sich sicher, dass die Götzenanbetung ein Irrweg war, aber gleichzeitig wusste er selbst keine überzeugende Alternative. In Sure 6:75 wird seine Suche nach dem richtigen anbetungswürdigen Gott beschrieben. Eines Tages betrachtete er den Himmel in der Nacht und sah einen schönen leuchtenden Stern, er dachte, er habe endlich seinen Gott gefunden. Der schön leuchtende Stern verschwand aber alsbald. An dieser koranischen Stelle wird die Suche Abrahams nach dem wahren Gott wie folgt dargestellt. In Sure 6:74–79 heißt es: Einst sagte Abraham zu seinem Vater Azur (Ezra) „Hältst du Götzen für Götter? Ich bin der Ansicht, dass ihr, du und dein Volk, eindeutig im Irrtum seid“ (74). So ließen wir Abraham das Reich der Himmel und der Erde betrachten, damit er sich Gewissheit verschafft (75). Als ihn Nacht umgab, entdeckte er einen Stern. Er sprach: Das ist mein Gott. Als aber der Stern unterging, sprach er: „Ich kann nicht diejenigen leiden (als Götter anerkennen), die untergehen“ (76). Und als er den Mond erblickte, der aufgegangen war, sprach er: „Das ist mein Gott“. Als er (der Mond) auch unterging, sprach er (verzweifelt): „Wenn mich mein Herr nicht recht leiten würde, werde ich sicher einer der Verirrten sein“ (77). Und als er die Sonne erblickte, die aufgegangen war, sprach er: „Das ist (endlich) mein Gott, das ist größer (als alle anderen)“. Als sie (ebenfalls unterging), sprach er: „Ihr Menschen! Ich distanziere mich von allem, was ihr Gott beigesellt (78). Ich richte mein Antlitz nur zu demjenigen, der die Himmel und die Erde (vom Nichts) erschuf und distanziere mich von (jeglicher Art) Polytheismus“ (79).
52 Sure 2; 3; 4; 6; 9; 11; 12; 14; 15; 16; 19; 21; 22; 26; 29; 33; 37; 38; 42; 43; 51; 53; 57; 60; 87.
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1 Zum Begriff „Islam“
Abraham war durch diese Erfahrungen mit dem Stern, dem Mond und der Sonne klar, dass die Gottheit die Ewigkeit als spezielle und innewohnende Eigenschaft implizieren muss. Nichts im Himmel, wie er experimentell festgestellt hat, ist von Ewigkeit. Ebenso konnte er auf der Erde nichts von Ewigkeit feststellen. Menschen, Tiere, Pflanzen und Häuser sind zur Vergänglichkeit verurteilt. Dies bedeutete für ihn, dass alles, was sinnlich wahrnehmbar ist, vergänglich ist und demzufolge niemals als Gottheit betrachtet werden kann. Die Gottheit muss folgerichtig sinnlich nicht wahrnehmbar, sprich transzendent sein. Diese Betrachtungsweise führte Abraham unweigerlich zur Gewissheit, dass diese transzendente Gottheit der Schöpfer aller sinnlich wahrnehmbaren und vergänglichen Gegenstände ist. So entdeckte Abraham nicht nur den transzendenten Gott, sondern auch einige seiner Wesenseigenschaften, u.a. das Dasein, das Lebendigsein, die Ewigkeit, die Einzigartigkeit, und dass Gott der einzige Schöpfer all dessen ist, was im Himmel und auf der Erde existiert. Vier weitere Koranstellen schildern uns den weiteren Ablauf der Auseinandersetzung mit seinem Vater. Diesbezüglich lesen wir in Sure 19:41–47 Folgendes: Gedenke im Buch (Der Koran) Abrahams. Er war ein Mann der Wahrheit und ein Prophet (41). Einst sagte er seinem Vater: „Vater! Warum betest du etwas an, was nicht hören, nicht sehen und dir nichts nutzen kann? (42). Vater! Mir ist Wissen gewährt worden, was dir nicht zuteilwurde. Folge mir, ich leite dich den geraden Weg! (43). Vater! Bete den Satan nicht an! Satan war es, der sich dem Barmherzigen widersetzte (44). Vater! Ich fürchte, dass dich vom Barmherzigen eine qualvolle Strafe erfassen wird und dass du in der Hölle ein Genosse des Satans wirst“ (45). Er (sein Vater) sprach: „Abraham! Wendest du dich wirklich von meinen Göttern ab? Wenn du damit nicht aufhörst, werde ich dich steinigen. Halte dich lange fern von mir“ (46). Er (Abraham) sprach: „Friede sei mit dir! Ich werde meinen Herrn um Vergebung für dich bitten, Er war mir immer entgegenkommend (47). Ich wende mich doch von euch ab und von dem, was ihr (Sein Vater und seine Glaubensgefährten) Gott beigesellt. Und ich werde meinen Herrn allein anbeten in der Hoffnung, dass Er mich meinen Gebetswegen nicht irren lässt“ (48). Als er sich dann von ihnen und ihren Götzen abgewandt hatte, schenkten Wir ihm Isaak und von Isaak Jakob, alle beide machten Wir zu Propheten (49).
In dieser Auseinandersetzung zwischen Abraham und seinem Vater sehen wir deutliche Zeichen pädagogischen und erzieherischen Charakters. Zum einen ist da die Art und Weise, wie Abraham um seinen Vater besorgt ist, und ihm seine Besorgnis liebevoll und in voller Ehrerbietung und mit großer Vehemenz vermittelt. Zum anderen ist da aber auch seine Bereitschaft, Gott für ihn um Vergebung zu bitten, obwohl
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran
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ihm sein Vater mit der Steinigung und Abweisung droht. All das gibt uns heute eine nachahmenswerte Umgangsform, wie sich die Jugendlichen gegenüber ihren Eltern verhalten sollen. Und darüber hinaus fordert diese vorbildliche Umgangsform, dem Schlechten nicht mit Gleichschlechtem, sondern eher mit Gutem zu begegnen. In Sure 41:34 heißt es: Die gute Tat kann nicht mit der Schlechten gleichgestellt werden. Erwidere die schlechte, die dir geschieht mit einer guten! So wird derjenige, der dich anfeindet, ein warmer Freund von dir werden.
Dass Abraham die Anbetung der Götzen in seiner Gemeinde ablehnt, war inzwischen bekannt und war Anlass für eine harte Auseinandersetzung mit ihr. Der Koran schildert diese Auseinandersetzung in Sure 21:51–70 folgendermaßen: Wir (Gott) schenkten Abraham schon vorher die angemessene Denkfähigkeit und Wir wussten schon immer über ihn Bescheid (51). Einst sagte er zu seinem Vater und seiner Gemeinde: „Was sind diese Statuen. die ihr ständig anbetet?“ (52) Sie antworteten: „Wir fanden, dass unser Vorväter sie anbeteten“ (53). Er erwiderte: „Ihr und eure Vorväter seid in eindeutigem Irrtum“ (54). Sie sagten ihm: „Bringst du uns die Wahrheit oder gehörst du zu denjenigen, die Scherz treiben?“ (55). Er sprach: „Euer Herr ist der Herr über Himmel und Erde. Er ist es, Der sie erschuf und ich bin einer von denen, die dies bezeugen“ (56).
Abraham beschließt insgeheim, diese Götzen zu zerstören, um seine Gemeinde den vernichtenden Beweis dafür vor Augen zu führen, dass diese machtlos und demzufolge der Anbetung nicht wert sind. Der Koran schildert diesen Vorgang ab Vers 57 derselben Sure folgendermaßen: (Abraham schwur) „Bei Gott, ich werde euren Götzen heimlich Schaden zufügen, wenn ihr mir den Rücken kehrt und fortgeht.“ Dann schlug er sie (die Götzen) in Scherben, nur ihren Oberst nicht, den sie (später) befragen sollten (58). Sie sprachen: „Wer hat unsere Götter dies angetan? Er gehört gewiss zu den Frevlern (den Ungerechten)“ (59). Einige von ihnen sagten: „Wir haben von einem jungen Mann, den man Abraham nennt, gehört.“ (60). Dann sagten sie denen (die Abraham kennen): „Bringt ihn vor den Augen der Menschen, damit sie (den Prozess gegen ihn) bezeugen“ (61). Da fragten sie ihn (Abraham): „Hast du unseren Göttern das angetan?“ (62). Er antwortete: „Das hat wohl ihr Oberster getan. Fragt sie, wenn sie sprechen können“ (63). Sie dachten darüber nach und dann sagten einige von ihnen den anderen: „Ihr seid die Ungerechten“ (64). Dann verfielen sie wieder dem Irrtum und sagten ihm: „Du weißt doch, dass sie (die Götzen) nicht sprechen können“ (65).
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Hier triumphierte Abraham! Er hat sie durch die Aufforderung, sie mögen die zerstörten Götzen nach ihrem Schänder fragen, zu einem Selbstwiderspruch (Paradoxon) geführt, indem er ihnen sagte: „Dienet ihr etwas, was euch weder nützt noch schaden kann?“ (66). „Beschämend ist dies für euch und für diejenigen, die ihr anstelle Gottes anbetet. Wollt ihr nicht einmal (darüber) nachdenken?“ (67)
Bemerkenswert ist hier die Art der Argumentation Abrahams. Er verwendet eine Art des Analogieschlusses, die ich „Primat-Analogieschluss“ nennen möchte. Hierbei werden Argumente von minderer Qualität zugunsten eines viel gewichtigeren bzw. unwiderlegbaren Arguments übersprungen. Abraham hätte z. B. erst sagen können: „Wie könnt ihr etwas anbeten bzw. bei etwas Schutz suchen, das sich selbst nicht beschützen kann, wie ihr seht?“ Stattdessen fragte er sie, wie sie etwas anbeten könnten, das ihnen weder nützen noch schaden könne. Die Reaktion der Götzendiener war ein Ausdruck der Verzweiflung und demonstrierte ihre Unfähigkeit, sein Argument rational zu widerlegen. Sie sagten ihrem Volk: „Werft ihn ins Feuer und nehmt Rache für eure Götzen“ (68). Hier musste eine übermenschliche Macht eingreifen, um den rechtschaffenen Menschen, Abraham, zu beschützen und die Menschen auf den einzigen anbetungswürdigen Gott aufmerksam zu machen: So sprach Gott: „O Feuer, sei kühl und wohltuend für Abraham“ (69). Sie (die Götzenanbeter) wollten gegen ihn (Abraham) Verschwörung führen, doch Wir (Gott) haben sie eine schwere Niederlage erleiden lassen (70).
Eine weitere Auseinandersetzung, dieses Mal mit dem König Nemrud, wird für uns die Rationalität der Argumente Abrahams erneut unterstreichen. In Sure 2:258 wird diese Auseinandersetzung folgendermaßen dargestellt: Hast nicht von demjenigen gehört, der wegen der ihm von Gott gewährten Macht so überheblich wurde, dass er mit Abraham über Gott debattierte? Dabei sagte Abraham (ihm): „Mein Herr (Gott) lässt leben und sterben.“ Darauf antwortete er (der König): „Ich lasse (ebenfalls) leben und sterben.“ Da erwiderte Abraham: „Mein Herr (Gott) lässt die Sonne von Osten aufgehen, so lasse du sie (wenn du wirklich ein Gott wärst) von Westen aufgehen!“ Der Ungläubige war sprachlos. Gott lässt die Ungerechten weiter irren.
Nach biblischen Berichten soll der König Nemrud als Beweis für seine Macht über Leben und Tod einen Gefangenen vor den Augen Abrahams getötet und einen zum
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Tode verurteilten Menschen freigelassen haben. Er schenkte ihm sozusagen das Leben. Hier hätte Abraham damit argumentieren können, dass diese Art, leben und töten zu lassen, ganz anders ist als jene, in der Gott Leben schenkt und sterben lässt. Aber so hätte sich Abraham auf eine endlose Diskussion mit dem König eingelassen. Abraham überging all das und kam direkt zu einem unwiderlegbaren vernichtenden Argument, nämlich die Aufforderung an den König, die Sonne entgegen dem göttlichen Naturgesetz von Westen aufgehen zu lassen. Aus diesem Grund konnte Nemrud keine überzeugende Antwort auf Abrahams Herausforderung finden. Abraham war also nicht nur ein von Gott erleuchteter und rechtgeleiteter Prophet, sondern er war dazu, wie wir gerade gesehen haben, ein rationaler Denker (Philosoph). Diese Eigenschaften zeigten sich nicht nur bei den Auseinandersetzungen mit seinem Volk und seinem König. Er versuchte eine Art rational und real begründbare Theologie in völliger Harmonie mit dem Glauben zu etablieren. In derselben Sure53 wird ein Gespräch zwischen Abraham und seinem Herrn (Gott) dargelegt, in dem drei essentielle Glaubensbegriffe definiert und erkenntnistheoretisch geordnet werden. Es handelt sich hier um die Begriffe „Zweifel“, „Glaube“ und „Gewissheit“. An der besagten koranischen Stelle geht es um die Auferstehung nach dem Tode. Im Vorfeld dieser Auseinandersetzung zwischen Abraham und Gott wird von einem Menschen berichtete, der an einer seit etlichen Jahren restlos zerstörten Stadt auf seinem Esel reitend vorbeigeht und sich fragt, ob diese Stadt und ihre ehemaligen Bewohner jemals wieder ins Leben gerufen werden können. Gott soll diesen Mann sterben lassen und nach hundert Jahren wieder zum Leben erweckt haben. Dann fragt Gott diesen Mann, wie lange er gedenke, tot gewesen zu sein; Der Mann antwortete: „Einen Tag oder vielleicht weniger als einen Tag.“ Da sagt Gott: „Nein, du warst hundert Jahre tot; und trotzdem: schau deine Speise an! Sie ist nicht verdorben; und schau deinen Esel an, und du wirst sehen, wie wir seine verfallenen Knochen zusammenfügen und sie dann mit Fleisch bedecken.“ Als der Mann dies alles sah, sagte er: „Jetzt weiß ich (gewiss), dass Allah allmächtig ist.“54
Im darauf folgenden Vers ist ein Abraham-Gott-Gespräch folgendermaßen geschildert: Einst sprach Abraham: „Mein Herr! Zeige mir, wie du die Toten auferweckst!“. Gott sprach: „Glaubst du denn nicht (daran)?“ „Doch“ erwiderte Abraham und fuhr weiter fort: „Aber (ich will dies sehen) damit mein Herz absolut zufrieden sein wird.“ Gott sprach zu ihm: 53 Sure 2:260. 54 Sure 2:259.
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1 Zum Begriff „Islam“
„Nimm dir vier Vögel und zähme sie (und sieh sie dir genau an, damit du sie später wiedererkennen kannst). Schlachte sie und verteile ihre Teile auf verschieden voneinander entfernte Berge! Rufe sie dann zu dir her, und sie werden zu dir eilen. (Und so wirst du gewiss) wissen, dass Gott mächtig und weise ist.“
In diesem Koranvers finden wir vier erkenntnistheoretische Begriffe, unter denen zwei synonym sind: „Zweifel“, der hier durch die Frage Gottes an Abraham: „Glaubst du denn nicht?“ zutage tritt; „Glaube“, der in der bestätigenden Antwort Abrahams „Doch“ impliziert ist; und schließlich die „Gewissheit“, die hier durch die „Herzenszufriedenheit“ ausgedrückt wird. Hier wird die Herzenszufriedenheit als die höchste Stufe des Glaubens, die „Gewissheit“ bezeichnet. Diese Gewissheit wird erst dann erreicht, wenn der Glaubensinhalt nicht nur rational, sondern auch experimentell durch die sinnliche Wahrnehmung, hier das Sehen, bestätigt wird. Mit anderen Worten: „Wissen“, das hauptsächlich rational begründet ist, wird erst zur „Gewissheit“ werden können, wenn sein Inhalt empirisch untermauert wird. Dieser empirische Aspekt wird in dem Begriff „Gewissheit“ durch die Vorsilbe „Ge-“ verdeutlicht, die man vor den Begriff „Wissen“ setzt. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass das „Gewissen“ eines gewissenhaften Menschen als oberster Richter bezeichnet wird. 1.4.4 Islamische Einteilung der Erkenntnis bzw. des Wissens
1. Relative Erkenntnis bzw. relatives Wissen (ʿulum zanniya). 2. Sichere Erkenntnis bzw. sicheres Wissen (ʿulum yaqiniya). 3. Absolut sichere Erkenntnis bzw. absolut sicheres Wissen (ʿayn al-yaqin). Die erste Kategorie umfasst zwei Gruppen, die auf rationalem Weg erworben sind: a) Relativ richtige Erkenntnis bzw. relatives Wissen (zanniya). b) Überwiegend richtige Erkenntnis bzw. überwiegend richtiges Wissen (ghalabat az-zann). Die zweite Kategorie umfasst ebenfalls zwei Gruppen, die aber auf Glaubensbasis beruhen: a) Auf Vertrauen basierendes Wissen (ʿilm al-yaqin). b) Glaubenswahrheit (haqq al-yaqin). Die dritte Kategorie umfasst Erkenntnisse, die sowohl auf rationale als auch auf Glaubensgrundlage beruhen und die durch sinnliche Wahrnehmung bzw. empirische Wahrnehmung absolut gesichert sind (ʿayn alyaqin).
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran
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Unterdessen unterscheidet der große islamische Philosoph und Mystiker Imam Abu Hamed Al-Ghazali in seinem Hauptwerk „Ihya’ ʿulum ad-din = Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften“55 sowie in einem anderen Werk namens „Al-iqtisad fil-iʿtiqad = Zusammenfassung der Glaubensfragen“ zwischen fünf Arten von Wissen56: – Relative Erkenntnis (zann) – Überwiegend richtige Erkenntnis (ghalabat az-zann) – Glaubhaft begründbares Wissen (ʿilm al-yaqin) – Gewissenhafte Wahrheit (haqq al-yaqin) – Unbezweifelbares Wissen (ʿayn al-yaqin = Auge des Wissens). Die letztgenannte Art des Wissens stellt, für ihn als Philosoph, die allerhöchste Stufe des Wissens dar. Für ihn als Mystiker wird diese allerhöchste Stufe des Wissens weder rational noch experimentell, sondern „intuitiv“ als Gottesgeschenk erlangt. Nur durch Seelentraining wird das Herz eines Menschen von allen weltlich-materiellen Belangen gereinigt und so für den Empfang der göttlichen Erleuchtung bereit sein. In seinem Werk „Al-munqiz min adh-dhalal = Der Retter aus der Verwirrung“57 sowie in seinem Werk „Mischkat al-anwar = Die Lichtnische“58 erläutert er seine mystische Erkenntnistheorie ausführlich auf sehr überzeugende Art und Weise. Dieser muslimische Religionsgelehrte gilt als der größte Gelehrte, als der meist zitierte Autor in den islamischen Wissenschaften und als einer der bekanntesten Erneuerer bzw. Reformer des Islam im 11./12. Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung. Er war eine lebende Enzyklopädie des Islam. Nun, was zeichnet Abraham unter den Propheten aus? Er ist zum einen der Urvater der monotheistischen Religionen, und dies nicht nur im theologischen Sinne: Er ist zugleich deren ethnischer Stammvater. Demnach sind die monotheistischen Religionen nicht nur theologisch miteinander verwandt, sondern ebenfalls blutsverwandt. Zum anderen ist er der einzige Prophet nach islamischem Verständnis, der selbst nach Gott gesucht und den rationalen Weg zu ihm gefunden hat. Alle anderen Propheten wären keine Propheten, hätte Gott jeden Einzelnen von ihnen nicht auserwählt und ihnen eine der schwierigsten Aufgaben anvertraut. Abraham ist daher 55 56 57 58
Al-Ghazali, Abu Hamed M.: Ihya’ ʿulum ad-din, Jeddah, Dar Al-Minhaj, 2011. Al-Ghazali, Abu Hamed M.: Al-iqtisad fil-iʿtiqad, Beirut, Dar Kotaba, 2003. Al-Ghazali, Abu Hamed M.: Al-munqiz min adh-dhalal, 7. Aufl., Beirut, Dar Al-Andalus, o. D. Al-Ghazali, Abu Hamed M.: Mischkat al-anwar, Ad-Dar Al-qaumiya, (Hrsg.) Kairo, Afifi, Abul-Ela, o. D.
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1 Zum Begriff „Islam“
der einzige Prophet, den ich auch mit gutem Gewissen als einen großen Denker und Philosoph bezeichnen kann. Er hinterließ uns nicht nur eine eindeutige monotheistische Religion, sondern ebenso eine rational begründbare Theologie. 1.4.5 Mit dem Herzen verstehen? Über die eigentlichen Funktionen des Herzens und der Sinnesorgane
Die Funktion des Herzens für das physische Leben eines Menschen ist allgemein bekannt. Die physiologische Funktion des Herzens, das Versorgen des Körpers mit Blut, ist aber eine Sache der Herzspezialisten. Genauso bekannt ist die physische Funktion aller menschlichen Sinnesorgane, wie die der Augen, der Ohren, Nase, Zunge und Hände, als Instrumente der sinnlichen Wahrnehmung nämlich des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Fühlens. Auch hier ist die physiologische Funktion des jeweiligen Organs eine Sache des jeweiligen Spezialisten. Jenseits der oben erwähnten physischen und physiologischen Funktionen all dieser Organe gibt es eine psychische bzw. geistige Funktion für jedes einzelne Organ, die hier als die eigentliche Funktion des jeweiligen Organs bezeichnet wird. Im Alltag sehen und hören wir unbewusst viele Gegenstände, Menschen, Gebäude und Geräusche. Wir nehmen sie aber nicht wahr bzw. wir nehmen sie nicht zur Kenntnis. Mit anderen Worten: Nur was wir bewusst wahrnehmen, trägt zu unserer Erkenntnis bei. Alles andere ist für uns so, als hätte es dieses nie gegeben. Die psychische bzw. die geistige Funktion des Herzens besteht darin, dass es aus den bewusst gewonnenen sinnlichen Wahrnehmungen authentische Erkenntnisse bildet. Authentische Erkenntnis von einem Erkenntnisgegenstand zu haben, heißt, diesen Gegenstand verstanden zu haben. Nach islamischer Weltanschauung ist daher das Herz eines Menschen das Organ, das nicht nur den Körper mit Blut versorgt, sondern vielmehr mit Erkenntnissen. Hier tritt das Herz an die Stelle des Gehirns, das lediglich als eine Sammelstelle für sinnliche Eindrücke dient. Das Herz wandelt diese Eindrücke in Erkenntnis um. Und dieser Prozess ist das, was wir als Verstehen, Denken und geistiges Nachvollziehen bzw. Hineinfühlen bezeichnen. Der Koran sagt über die Ungläubigen: Sie haben Herzen, mit denen sie nicht verstehen können, und sie haben Augen, mit denen sie nicht sehen können, und sie haben Ohren, mit denen sie nicht hören können. Diese sind nicht einmal wie Tiere, sie sind noch niedriger. Sie sind die geistig Abwesenden.59 59 Sure 7:179.
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran
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Und in Sure 22:46 lesen wir Folgendes: Können sie (die Menschen) doch nicht die Erden bereisen, so dass sie Herzen haben werden, mit denen sie nachdenken könnten und Ohren, mit denen sie hören könnten und Augen, mit denen sie sehen könnten? Nicht die Augen könnten verblendet werden, sondern die Herzen, die sich in den Brüsten befinden.
Der Prophet Muhammad sagt dazu: Wahrlich! Im Körper gibt es ein Organ, solange es gesund bleibt, bleibt der ganze Körper gesund. Wenn es aber verdirbt, verdirbt der ganze Körper. Dieses ist das Herz.
Das Herz dient nach der islamischen Weltanschauung als Zentrum des Denkens bzw. des Verstehens und des Fühlens gleichzeitig. Für diese drei Funktionen des menschlichen Herzens gibt es im Arabischen zwei Begriffe: „Tafakkur“ = „Nachdenken“ und „Tadabbur“ = „Reflektion“ bzw. „Hineinfühlen“. In dem ersten überwiegt die emotionale Dimension und im zweiten die rationale Dimension. Nachdenken, „Tafakkur“, verwendet man in Bezug auf die Natur bzw. die Naturereignisse; wobei Reflektion bzw. sich Hineinfühlen, „Tadabbur“, mehr für Heilige Texte, insbesondere für den Koran, geeignet ist. In Sure 47:24 lesen wir: Können sie (die Menschen) sich doch nicht tief über den Koran hineinfühlen oder haben sie doch verschlossene (gefesselte) Herzen?
Und in Sure 17:76 lesen wir: Sprich nicht über das, worüber du nicht Bescheid weißt. Für das Sehen und Hören und das Herz (Denken und Wissen) wird der Mensch dereinst die volle Verantwortung tragen.
Ein Beispiel dafür ist die Antwort Abrahams auf die Frage seines Herrn „Awa lam tu’min = glaubst du denn nicht?“ und er erwiderte: „Bala walakin liyatma’inna qalbi = Oh doch! Aber mein Herz soll keinen Zweifel mehr hegen“. So gesehen wird dem Empirischen, z. B. dem Sehen, erkenntnistheoretisch eine übergeordnete Rolle nicht gegenüber dem menschlichen Verstand, sondern sogar gegenüber dem Glauben eingeräumt. Die Ruhe des Herzens (Itmi’nan al-qalb) stellt das ausschlaggebende Urteil über die Qualität der Erkenntnis dar. Die Komponente der koranischen Erkenntnistheorie können wir folgendermaßen punktuell zusammenfassen:
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1 Zum Begriff „Islam“
– Sinnliche Dimension (sinnliche Wahrnehmungen) – Rationale bzw. geistige Dimension (die Bildung eines Erkenntnissatzes) – Emotionale Dimension (Gefühl als Endurteil über die erworbene Erkenntnis) – Sozial-ethische Dimension (Verantwortung für die erworbene Erkenntnis). Der Frontallappen bzw. das Frontalhirn (Neocortex) ist das Zentrum des Denkens und ist derjenige Teil des Hirns, der u. a. für die Motorik, Spontanität, Problemlösung zuständig ist. Dieser Teil des Hirns wird im Koran „Nasiya“ genannt60 und wird an anderen Stellen in der Pluralform von „Lubb“ bzw. „Al-bab“ erwähnt.61 Die Hauptfunktion der „Nasiya“ bzw. des „Lubbs“ ist das Denken, das in Verbform „Yaʿqilun“ und „Yatafakkarun“ des Öfteren im Koran vorkommt.62 Das Wort „Tadabbur“ bzw. „Yatadabbarun“ kommt nur zweimal und in den beiden Stellen in Verbindung mit dem Wort „Koran“ vor.63 Das Wort „Yaddabarun“ kommt als Synonym für „Yatadabbarun“ in Sura Al-Mu’minun im gleichen Zusammenhang wie „yatadabbarun“ vor. Dort heißt es: „Aflam yaddabarun al-qawla am ja’ahum ma lam y’t ’aba’ahum al ’awwalin“64. Das Wort „al-Qawla“ wird hier, nach Al-Qurtubi in seinem „al-Jamiʿ li’ahkam al-Qur’an“, als Synonym für „al-Qur’an“ verwendet.65 Der Unterschied zwischen dem „Frontallappen“ bzw. dem „Verstand“ (Nasiya bzw. Lubb, Pl. Albab) und dem Herzen (Qalab bzw. Fu’ad) könnte, meiner Meinung nach, darin liegen, dass der Verstand als Zentrum des Denkens für die Bearbeitung bzw. Bildung eines Erkenntnissatzes aus den verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungen verantwortlich ist. Ebenso erläutert der Verstand den Inhalt der gewonnenen Informationen im Erkenntnissatz und macht aus ihnen eine vollständige, verständliche Aussage (Verstehen). Die Funktion des „Herzens“ würde nach meinem Verständnis der diesbezüglichen Koranverse hauptsächlich darin bestehen, die gewonnen Erkenntnisse über ein Objekt durch tiefe Reflexion miteinander zu verbinden und ein gesamtes Bild dieses Objekts herzustellen. Mit anderen Worten: Der Verstand denkt und das Herz reflektiert über das Gedachte. Man könnte ebenso gut sagen, dass der Verstand textuell über die gewonnenen Wahrnehmungen denkt, wobei das Herz diese verstandesmäßig gewonnenen 60 Sure Al-ʿAlaq (96:15–16) und Sura Hud (11:56). 61 Sure ’Ala ʿImran (3:190). 62 „Yaʿqilun“ 22 Mal u. „Yatafakkarun“ 13 Mal. 63 Sure An-Nisa’ (4:82) und Sure Muhammad (47:24). 64 Sure 23:68. 65 Siehe Al-Jami’ li’ahkam al-Qur’an, Sure al-Mu’minun, Vers 68.
1.4 Zur Konstellation einer islamischen Erkenntnistheorie – Eine kontextuelle Konzeption aus dem Koran
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einzelnen Erkenntnisse kontextuell denkt und sie auf diese Art und Weise zu einer urteilsfähigen Aussage gestaltet. Diese urteilsfähige Erkenntnisaussage wird erst dann zur Gewissheit erhoben, wenn sie die empirisch-sinnliche Überprüfung besteht. Das Herz besiegelt diese empirisch geprüfte Gewissheit (ʿAin al-Yaqin) durch sein Ruhen (Itmi’nan al-Qalb). Die sinnlichen Wahrnehmungen werden in einem Zwischenlager, nämlich dem Gedächtnis, gesammelt, dann werden sie durch den Verstand verarbeitet und aus ihnen schließlich eine Erkenntnis gebildet. Das Herz reflektiert über diese Erkenntnis, verbindet relevante Informationen miteinander, schickt sie an das entsprechende Sinnesorgan zur Überprüfung zurück und besiegelt sie nach ihrer Bestätigung durch sein Ruhen. Erst nach dem vollständigen Ablauf dieses Erkenntnisprozesses bekommt die gewonnene Erkenntnis das Prädikat „ʿAin al-Yaqin = absolute Gewissheit“. In dieser erkenntnistheoretischen Konstellation werden die empirischen und die rationalen mit den emotionalen und sozialen Kompetenzen in einer, meiner Meinung nach, einzigartigen Erkenntnistheorie zusammengebracht. In einem einzigen Koranvers in Sura al-Isra’ wird dieser erkenntnistheoretische Prozess zusammengefasst. Dort heißt es: „Wala taqfu ma laisa laka bihi ʿilm. Inna as-samʿa wal-basara wal-fu’ada kulu ’ula’ka kana ʿanhu mas’ula“66 = Und sag nicht das, wovon du kein Wissen hast. Gewiss: (Du wirst nach) Gehör, Augen und Herz dereinst gefragt.
In allen hier zitierten Koranversen wird der Mensch mit allen Wissensorganen ausgestattet und für die Tragweite seines erworbenen Wissens und seine Wirkung auf die anderen Menschen verantwortlich gemacht. Selbsternannte „Alleswisser“ werden dadurch zur Bescheidenheit und Vorsicht ermahnt.
66 Sure 17:36.
2 Koran und Koranexegese 2.1 Das Primat des Koran im Islam
Für die Muslime stellt der Koran die verbalisierte Botschaft Gottes an den Propheten Muhammad dar, der sich nur als Vermittler der göttlichen Botschaft ohne jede Einmischung seinerseits versteht.67 Der Koran genießt daher als einzige Heilige Schrift, wie R. Paret im Vorwort seiner Koranübersetzung beschreibt, die unbezweifelbare Authentizität als Gottes Wort.68 Er besteht aus 114 Suren (Kapitel) aufgeteilt in 30 Teilen (Juz’). Die göttliche Offenbarung durch den Erzengel Gabriel erfolgte zu verschiedenen Zeiten und Anlässen über 22 Jahre hinweg, welche mit Gottes Auftrag (Sendung) an den Propheten Muhammad im Jahre 610 n. Chr. ihren Anfang genommen hat. Dieser fing mit der Aufforderung an den Propheten Muhammad an, zu lesen (iqra’ an). Dabei konnte dieser weder lesen oder schreiben. Er wusste nicht einmal, was er lesen sollte, wenn er dies könnte. Nach dreimaliger Wiederholung der Aufforderung an den Propheten Muhammad zu lesen und der dreimaligen Bekundung seiner Unfähigkeit zu lesen sagte Gabriel dem Propheten, er soll im Namen seines Herrn rezitieren: Sure 96:1–5: Er ist der, der die Menschen aus Embryonen geschaffen hat, Er ist der Nobelste, Der den Menschen durch den Stift (die Heilige Schrift) Wissen vermittelt hat, welches der Mensch allein nie hätte erwerben können.
Diese göttliche Aufforderung an den Propheten Muhammad verstehen die Muslime als eine göttliche Aufforderung an alle Menschen durch Lesen, Rezitieren und Schreiben Wissen über die ganze Schöpfung zu erwerben, zu erweitern und weiter zu vermitteln. Der Koran wurde unmittelbar nach seinem Empfang durch den Propheten Muhammad an seine Gefährten weitergegeben, welche den Koran beherzigt und schriftlich festgehalten haben. Die Prophetengefährten wetteiferten miteinander darum, richtig und originalgetreu auswendig zu lernen oder auch auf Schaffelle, Palmenblätter, dünne Steine oder sonst jegliches taugliche Material zu schreiben. Es entstanden dadurch mehrere Exemplare, teils vollständig und teils unvollständig. Einige alte Berichte sprechen von 14 Exemplaren bzw. Koranfragmenten. Eines dieser Fragmente 67 Sure 10:15. 68 Sure 2:2, Sure 15:9; Paret, Rudi: Der Koran. Übersetzung, 12. Aufl., Stuttgart, Kohlhammer, 1971.
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2 Koran und Koranexegese
wurde vor einigen Jahren in der großen Moschee von Sanʿa (im Jemen) gefunden und veröffentlicht. 2.1.1 Gründe für eine einheitliche Koranfassung
Was hat die Muslime dazu motiviert, den Koran schon zu Lebzeiten des Propheten Muhammad parallel zu seiner Herabsendung schriftlich festzuhalten, dann eine einheitliche Koranfassung herzustellen und schließlich alle vorhandenen unvollständigen Exemplare zu vernichten? Hierfür lassen sich verschiedene Gründe anführen. Zum einen war es die für Muslime die negative Erfahrung mit den vorherigen Heiligen Schriften, deren Authentizität durch ihre uneinheitlichen Inhalte nicht mehr außer Zweifel steht. Zum andren gab es mindestens sieben verschiedene Lesearten des Offenbarungstextes, welche in späteren Generationen zu Missverständnissen führen hätten können. Ein weiterer Faktor war die Tatsache, dass etwa 70 Koranleser in einer einzigen Schlacht gegen Abtrünnige, die Yamama-Schlacht, ums Leben kamen. Daraus entstand die Befürchtung einiger Muslime, dass noch mehr Koranleser in ähnlich kriegerischen Auseinandersetzungen fallen würden. Dies hätte den Fortbestand des Originaltextes erheblich erschwert. All diese Umstände machten die Vereinheitlichung des Korantextes für die Muslime überlebensnotwendig. Gesammelt und ediert wurde der Koran unter der Betreuung des Kalifen Osman Ibn ʿAffan (gest. 657 n. Chr.) und durch mindestens zehn Prophetengefährten einheitlich herausgegeben. Diese haben den Koran auswendig gelernt, beherzigt und schriftlich aufbewahrt. Bei der Redaktion ergaben sich Schwierigkeiten, weshalb die Leseart des Stamms von Quraisch als einheitliche Grundlage und Referenz für alle anderen Lesearten definiert wurde. Der Koran ist für die Muslime zudem das letzte Wort Gottes an die Menschheit. Seine Quelle ist die Gleiche wie die der vorherigen Schriften. Er ergänzt sie und manifestiert ihre göttliche Kernbotschaft69, welche die Einheit und Einzigartigkeit Gottes in höchster Transzendenz an der ersten Stelle betont.70 2.1.2 Über den thematischen Inhalt des Koran
Man kann den Inhalt des Koran in mindestens drei große Themenbereiche einteilen. Neben Koranversen über die Geschichte der früheren Völker und ihre Propheten 69 Siehe u. a. Sure 2:41. 70 Siehe u. a. Sure 7:59, 65, 73, 85; Sure 11:50, 61, 84.
2.2 Tafsir bzw. Koranexegese
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unterscheidet man zwischen eindeutigen Koranversen einerseits und mehrdeutigen bzw. interpretationsbedürftigen Koranversen andererseits. Die eindeutigen Koranverse beinhalten die verbindlichen religiösen Anweisungen, insbesondere im Bereich des Gottesdienstes, der Glaubensartikel, der Bestimmungen für das Straf-, Erb- und Familienrecht. Der Koran stellt außerdem, gefolgt von der Sunna (Aussagen und Verhalten des Propheten Muhammad), die Primärquelle des islamischen Rechtssystems dar. Die interpretationsbedürftigen Koranverse und die Berichte über die früheren Völker sollen die Menschen dazu motivieren, über sich selbst nachzudenken und aus der Erfahrung bzw. dem Verhalten der früheren Völkergemeinschaften gegenüber ihren Propheten zu lernen. 24 biblischen Propheten, wie z. B. Abraham, Isaak, Jakob und Josef, sind im Koran als Teil einer Prophetenkette erwähnt, wobei man die eigene Definition von Prophetie des Islam beachten muss. Einige dieser koranischen Propheten sind in der Bibel ausschließlich Stammväter oder Heerführer u. ä. Ausgehend von einem einheitlichen Korantext, der als osmanische Koranausgabe bekannt ist und nahezu eine absolute Autorität unter den Muslimen genießt, gab es dennoch verschiedene Interpretationsrichtungen, verschiedene Rechtsschulen und verschiedene dogmatische Denkrichtungen. Des Weiteren ergibt sich die Frage nach der Möglichkeit und Legitimität der Übersetzung des koranischen Textes, die hier nicht detailliert behandelt werden kann. Der erste europäische Versuch, den Koran ins Latein zu übersetzen, erfolgte schon im Jahre 1143 n. Chr. durch Robert von Keton unter der Betreuung von Petrus Venerabilis. Danach wurde das erste Wörterbuch Arabisch/Latein unter derselben Regie herausgegeben. Martin Luther soll eine eigene deutsche Koranübersetzung gehabt haben, die er später, nach einigen Berichten, vernichtet haben soll. Würde man diesen Berichten Glauben schenken, wäre diese lutherische Übersetzung die erste deutsche Koranübersetzung überhaupt. Heute gibt es mehr als 20 deutsche Koranübersetzungen von verschiedener Qualität. Als wissenschaftlich fundiert und zuverlässig gilt die in diesem Beitrag erwähnte Koranübersetzung des deutschen Orientalisten Rudi Paret.
2.2 Tafsir bzw. Koranexegese
Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen drei methodisch voneinander verschiedenen Arten bzw. Zugängen der Koraninterpretation: – Eine traditionalistische (textuelle-philologische) Exegese – Eine rationalistische (kontextuelle-philosophische) Exegese, und – Eine mystische (metatextuell-hermeneutische Exegese).
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2 Koran und Koranexegese
2.2.1 Begriffserklärung
Das arabische Wort „Tafsir“ könnte auf Deutsch durch Exegese oder Auslegung wiedergegeben werden. Als Synonyme könnten Aufdeckung (kaschf ), Erhellung bzw. Erläuterung (izhar) oder Erklärung (tawdih) verwendet werden. Als ein Fachbegriff wurde dieses Wort fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Koran verwendet und bedeutet demnach, wie Al-Jurjani in seinem Buch „At-taʿrifat“ (die Definitionen) sagt: „Die Auslegung eines Koranverses und der Hinweis auf seinen Wert sowie die Erwähnung seines Offenbarungsanlasses durch klare Worte.“71 „Ta’wil“ ist ein anderer Fachausdruck, der oft mit dem Begriff „Tafsir“ verwechselt wird. Dieser wird aber eher mit Umdeutung oder Interpretation, nach manchen Wissenschaftlern auch Auslegung, übersetzt. Al-Jurjani definiert „Ta’wil“ im Zusammenhang mit religiösen Texten folgendermaßen: Dies bedeutet die Auslegung eines Koranverses durch einen unscheinbaren Sinn, den man der äußerlichen Formulierung des Verses nicht entnehmen kann. Eine solche Auslegung darf aber nur akzeptiert werden, wenn sie mit dem Kontext des Koran und der Sunna übereinstimmt.
Ein Beispiel, das den Unterschied zwischen diesen beiden Fachbegriffen deutlich macht, ist, wie Al-Jurjani weiter ausführt, Folgendes: Wenn jemand bei der Auslegung der Koranischen Aussage: Gott erschafft ein Lebewesen aus einem leblosen Gegenstand (yukhriju al-haiya min al-maiyit 3:27) sagen würde, dies bedeutet, Gott erschafft einen Vogel, d. h. ein Lebewesen, aus einem Ei, d. h. einem leblosen Gegenstand, wäre dies eine Auslegung „Tafsir“. Wenn dieser aber sagen würde, diese Aussage bedeutet, dass Gott einen Gläubigen durch einen Ungläubigen erzeugen lässt, dann handelt es sich hier um eine Interpretation bzw. Umdeutung, „Ta’wil“.72
Nach Ar-Raghib al-Isfahani (gest. 502 H./1102 n. Chr.) ist, wie Al-Suyuti berichtet, „Tafsir“ (Auslegung) umfassender als „Ta’wil“ (Umdeutung oder Interpretation) und wird meistens im Zusammenhang mit Fachbegriffen und einzelnen Wörter in allen Wissenschaftsbereichen gebraucht. Dagegen wird „Ta’wil“ meistens für die Erläuterung von Sinninhalten, insbesondere bei religiösen Texten verwendet.73 71 Al-Jurjani, Ali b. Muhammad: Kitab At-Taʿrifat, Beirut, Dar Al-Kutub Al-ʿilmiya, o. D., S. 65. 72 Ibd., S. 53. 73 Siehe al-Itqan fi ʿUlum Al-Koran, AS-Siyuti, Jalaluddin, Riad, Ministerium für Islamische Agelegenheiten, 2:173.
2.2 Tafsir bzw. Koranexegese
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Von den Koranwissenschaftlern wird der Begriff „Ta’wil“ meistens jedoch negativ, im Sinne von Sinnverstellung verstanden und dargestellt, obgleich dieser Begriff im Koran einmal (Sure 3:7) Gott zugeschrieben wird. Dort heißt es: „Wa ma yaʿlamu ta’wilahu illa Allah (Allein Gott kann es deuten).“ „Ta’wil“ kommt außerdem an vielen koranischen Stellen im positiven Sinn vor, insbesondere in Bezug auf äquivalente Aussagen (ahadith) oder als eine richtige Traumdeutung, wie es u.a. im Sure an-nissa (Die Frauen, 4:59); Yusuf (12: 6, 21, 36, 37, 44, 45, 100, 102) und al-isra (Die Nachtreise, 17:35) der Fall ist. An zwei koranischen Stellen ist „Ta’wil“ in einem eindeutigen negativen Sinn vorgekommen. In Sure Aal ʿImran (Der Stamm Imrans, 3:7) und in Sure al-Aʿraf (Die Höhen, 7:53). 2.2.2 Die Legitimation und Aufteilung der Koranexegese
Wie as-Suyuti weiter berichtet, besteht eine Übereinstimmung unter den Islamwissenschaftlern darüber, dass die Koranauslegung nicht nur erlaubt, sondern als die ehrenvollste Aufgabe unter den drei größten Islamwissenschaften, nämlich der Koranexegese, der Hadithwissenschaft und der islamischen Jurisprudenz, betrachtet wird. Ein weiterer Konsens besteht ebenfalls über das Verbot der eigenmächtigen Koranauslegung, welche weder eine solide philologische Grundlage noch eine zuverlässige Überlieferung (min ghairi lughatin wa la naql) nachweisen kann.74 Die muslimischen Koranwissenschaftler gliederten, wie at-Tabari (gest. 310 n. H./915 n. Chr.) in seiner Koranexegese berichtet, den Koran in Bezug auf seine Auslegbarkeit in drei Teile.75 Der erster Teil, dessen Auslegung Gott für sich allein behalten hat, umfasst u.a. die genaue Zeit des Jüngsten Tages (as-sa’a), den Zeitpunkt, wann Jesus vom Himmel auf die Erde herabsteigt, und schließlich, wann die Sonne im Westen aufgehen wird (als ein Vorzeichen für den baldigen Anbruch des Jüngsten Tages). Der zweite Teil, dessen Auslegung Gott ausschließlich seinem Propheten offenbarte, umfasst alles, was die Menschen sowohl für ihr alltägliches Leben als auch für ihren Gottesdienst benötigen. Dabei sind sie auf die Auslegung des Propheten angewiesen. Der dritte und letzte Teil kann von fachkundigen arabischen Philologen erläutert oder interpretiert werden. Der beste und sicherste Weg zur Koranauslegung ist, nach allen muslimischen Fachwissenschaftlern, die Auslegung durch den Koran selbst. Was an einer Stelle zu74 Ibd., 175. 75 Sure 1:92–93.
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2 Koran und Koranexegese
sammengefasst dargestellt wurde, wurde an einer anderen Stelle ausführlich erklärt und umgekehrt. Findet man keine ausreichende Erläuterung für eine koranische Aussage, so muss man die Sunna des Propheten dafür heranziehen, denn sie selbst ist von Gott u.a. als eine zusätzliche Erläuterung des Koran offenbart worden. Diese Ansicht wird durch einen richtigen Hadith (sahih) belegt, der folgendermaßen lautet: „Wahrlich mir wurde der Koran und mit ihm so viel wie er offenbart (ala inni qad utitu al-Korana wa mithlahu maʿah)“.76 In diesem Zusammenhang kommen nach dem Koran und der Sunna die Aussagen der Prophetengefährten, welche bei den Hanbaliten eine gesetzgeberische Kraft besitzen. Dagegen sind die Aussagen der Nachfolgergeneration (at-tabiʿun) in Bezug auf die Koranauslegung nach allen Fachgelehrten, mit Ausnahme der Ibn Hanbals, im Gegensatz zu denen der Prophetengefährten, nicht verpflichtend.77 Die oben erwähnten vier Wege bzw. Arten der Koranauslegung stellen den Hauptgegenstand des erwähnten Buches von Ibn Taimiya dar, in dem er sie ausführlich behandelt. Die fünfte Art der Koranauslegung, nämlich die rationale Interpretation (at-tafsir bi r-ra’y) erwähnt Ibn Taimiya ganz zum Schluss und bekundet darin seine Ablehnung dieser gegenüber. Dabei muss man zwischen zweierlei Arten der rationalen Koraninterpretation unterscheiden. Einerseits einer belegbaren rationalen Interpretation und andererseits einer eigenmächtigen rückhaltlosen Interpretation (tafsir bi mugarrad ar-ra’y). Die letztere Art stößt nicht nur bei Ibn Hanbal, sondern auch bei allen, insbesondere den sunnitischen Koranwissenschaftlern, auf entschiedene Ablehnung. 2.2.3 Die derzeitige Aufteilung der Koranexegese
Die Koranforschung kennt eine andere Aufteilung der Koranexegese. In dieser Aufteilung unterscheidet man die folgenden Arten voneinander: – Eine einfache umfassende (systematische) Koranexegese (tafsir igmali), in der die Reihenfolge der Koranverse berücksichtigt wird, die man bei der Koranrezitation (tartib at-tilawa) beachten muss. Vers für Vers wird auf eine einfache Art und in einer jedem Menschen verständlichen Sprache zusammenfassend erklärt. Dabei wird zugleich auf den Sinn und den Verwendungsbereich des jeweiligen Koranverses hingewiesen. Gegebenenfalls wird ein prophetischer Hadith oder eine Aussage eines Prophetengefährten oder ein Ereignis oder der Offenbarungsanlass herangezogen. Beispiele für diese Art sind der bekannte „tafsir al-galalain“ von Galalud76 Musnad Abu Dawud 5:10. 77 Al-Itqan 2:157.
2.2 Tafsir bzw. Koranexegese
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din as-Suyuti und Galaluddin al-Mahalli sowie die moderne Koranauslegung von Muhammad Farid Wagdi. – Eine analytische Koranexegese (tafsir tahlili). Dabei wird die Reihenfolge des Korantextes, wie es bei der vorangegangenen Art der Fall ist, berücksichtigt. Hier wird jedoch vorerst der Inhalt des Textes ausführlich analysiert, und dann wird jedes einzelne Wort philologisch und alle seine Aspekte sowie Verwendungsbereiche thematisch erklärt. Hingewiesen wird dabei auf den Bezug des jeweiligen Verses zu einem anderen thematisch verwandten Koranvers bzw. der jeweiligen Sure zu einer anderen sowie gegebenenfalls auf den Offenbarungsanlass (sabab an-nuzul). – Der manchmal unscheinbare eigentliche Sinn und Geist des Textes sowie vorteilhafte Empfehlungen oder Vorschriften werden unterstrichen. Dabei werden auch andere passende Koranverse, Hadithe und Aussagen der Gefährten des Propheten als unterstützende Belege herangezogen. Zu dieser Art der Koranexegese gehören die oben erwähnten zwei Arten, nämlich die traditionellen und die rationalen Koranauslegungen. – Beispiele für die traditionelle analytische Koranauslegung sind u.a. „Gamiʿalbayan fi tafsir al-Qur’an“ von Ibn Garir at-Tabari (gest. 310 n. H./915 n. Chr.) und „Tafsir al-Qur’an al-ʿazim“ von Ibn Kathir (gest. 774 n. H./1372 n. Chr.). – Beispiele für die rationale analytische Koranexegese sind u.a. „Tafsir al-Jassas“ 78(gest. 370 n. H./985 n. Chr.), der zu der hanafitischen Rechtsschule gerechnet wird, „Mafatih al-ghaib“ von al-Fakhr ar-Razi (gest. 606 n. H./1206), der als eine philosophische Interpretation bekannt ist, und schließlich „Al-gamiʿ li-ahkam alQur’an“ von Qurtubi (gest. 671 n. H./1270 n. Chr.). – Zudem gibt es die dogmatische Koranexegese, wie u.a. „Al-kaschschaf ʿan haqa’iq at-tanzil“ von Zamakhschari (gest. 538 n. H./1138 n. Chr.) und schließlich die literarische und soziologische Koranexegese wie u.a. „Tafsir al-manar“ von Muhammad Raschid Ridha, „Tafsir al-maraghi“ von Scheich al-Maraghi und „Fi dhilal al-Qur’an“ von Sayed Qutb (gest. 1965). – Eine komparative Koranexegese: Hier werden, im Gegensatz zu anderen Arten, nur einige Koranverse oder eine bestimmte Sure durch den Autor ausgewählt, dann werden die vorhandenen Auslegungen dargestellt, analysiert und schließlich gegeneinander abgewogen. Die markanten methodologischen Tendenzen des jeweiligen Autors werden hier hervorgehoben. Und es wird gezeigt, ob z. B. die Wortanalyse, die Grammatik, die Jurisprudenz oder die Koranerzählungen oder der rationalen bzw. traditionellen Aspekte oder die Naturwissenschaft oder die Mystik bei dem jeweiligen Koraninterpreten besonders in diesen Werken ausrei78 Al-Jassas, Ahmad b. Ali: Ahkam Al-Qur’an, Beirut, Dar Al-Kutub Al-ʿilmiya, 1994.
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2 Koran und Koranexegese
chend berücksichtigt worden sind. Zusammengefasst geht es hierbei darum, eine vergleichende Betrachtungsweise zwischen den vorhandenen verschiedenen Koraninterpretationen zu erstellen. – Die jüngste Art der Koranexegese ist die sogenannte thematische Koranexegese (at-tafsir al-mawduʿi), welche ebenfalls, wie die vorherige, eher als Koranstudie bezeichnet werden kann. Bei dieser thematischen Koranexegese geht es nicht darum, wie sonst bei den anderen Auslegungsarten, den ganzen Korantext etwa philologisch oder rational auszulegen, sondern, ähnlich wie bei der „Vorschriftenauslegung“ (tafsir al-ahkam) den Korantext gezielt nach einem bestimmten Thema zu durchforschen, um alle diesbezüglichen Aussagen vorerst zu sammeln, einzuordnen und schließlich zu interpretieren. 2.3 Interpretationsmethoden
Der Interpret nimmt sich zuerst eine Koransure und versucht darin den Angelpunkt und das einheitliche Thema bzw. ihr Hauptziel zu finden. Man kann z. B. sagen: Die zweite Sure (al-baqara) will hauptsächlich den Menschen den richtigen Weg der Menschheit aufzeigen. Und dann interpretiert er die in dieser Sure vorhandenen Themen im Sinne dieses Ziels. Unter diesem Aspekt kann man auch das Hauptziel der dritten Sure (Aala ʿImran) betrachten, den Begriff der Gottheit genau zu definieren und darin die absolute Einheit Gottes hervorzuheben. Der Autor sammelt alle Koranverse, die das gleiche Ziel haben, dann ordnet er sie entsprechend ihrer Offenbarungszeit bzw. ihres Offenbarungsanlasses. Danach muss er sie interpretieren, kommentieren und schließlich mögliche vorhandene Urteile durch die anerkannten Deduktionsmethoden ableiten. Beispiele für diese Art sind u.a. „Nazm ad-durar fi tanasub al-’ayat wa as-suwar“ von al-Biqaʿi (gest. 885 n. H./1485 n. Chr.)79 und „An-naba’al-ʿazim“80 von M. Abdallah Darraz. Der bekannte deutsche Islamwissenschaftler Helmut Gätje hat zu diesem Thema 1971 ein empfehlenswertes Buch mit dem Titel „Koran und Koranexegese“ beim Artemis Verlag veröffentlicht.81 Der ungarische deutschsprachige Orientalist Ignaz Goldziher schrieb davor ein beachtenswertes Buch über die Richtungen der Koranauslegung im Islam, welches schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in die arabische Sprache übersetzt wurde.82 79 Al-Biqaʿi, Abul-Hassan: Nazm ad-durar fi tanasub al-’ayat wa as-suwar, Kairo, Dar Al-Kitab Al-Islami, 1984. 80 Darraz, Muhammad Aballah: An-naba’al-ʿazim, Damaskus, Dar Al-Kalam, 2005. 81 Gätje, Helmut: Koran und Koranexegese, Zürich, Stuttgart, Artemis Verlag, 1971. 82 Goldziher, I.: Die Richtungen der Koranauslegung (arab. Übers. v. ʿAbdal-Halim An-Najjar) Kairo 1983.
2.3 Interpretationsmethoden
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2.3.1 Ibn Taimiya und sein Buch „Muqaddima fi usul at-tafsir“
Im Allgemeinen gilt sein Buch „Die Einführung in die Methodologie der Koranexegese“ als das bedeutendste Werk, das Ibn Taimiya über diese Problematik verfasst hat. Der Verfasser ist der angesehene muslimische Theologe Scheich al-Islam Ahmad Ibn ʿAbdal-Halim Ibn ʿAbd as-Salam Ibn ʿAbdallah Ibn Taimiya al-Harrani ad-Dimasqi al-Hanbali83. Er trug den Beinamen Taqiyuddin Abu l-ʿAbbas sowie den Ehrentitel Scheich al-Islam und galt als ein Überlieferer der prophetischen Tradition sowie Koranleser und Koranausleger, Rechtsgelehrter, eigenständiger Rechtssprecher und war zusätzlich eine prominente Autorität in vielen Wissenschaftsbereichen. Er ist der Verfasser von unzähligen Schriften, bekannt wurde er u.a. durch die folgenden Schriften: – „Die Kollektion der Rechtsprechungen“ („Magmuʿ al-fatawa“)84 – „Die religiöse Konzeption der Politik“ („As-siyasa as-sarʿiya“)85 – „Die richtige Antwort auf die entstellte christliche Religion“ („Al-gawab as-sahih li-man baddala din al-Masih“)86 – „Die Methodik der prophetischen Tradition“ („Minhag as-sunna“)87 – „Die Grundregeln bzw. die Methodologie der Koranauslegung“ („Muqaddima fi Usul at-tafsir“)88 – „Der richtige Pfad setzt andere Verhaltensweisen als die der Höllenbewohner voraus“ („Iqtida’ as-sirat al-mustaqim mukhalalfat ahl al-gahim“)89 – „Die Aufrichtigkeit“ („Al-istiqama“)90 – „Die Aufhebung des Widerspruchs zwischen dem Verstand und der Offenbarung“ („Dar’ at-taʿarud baina al-ʿaql wa an- naql“)91 – „Die Widerlegung der (griechischen) Logik“ („Naqd al-mantiq“)92 – „Die Antwort auf die Logiker“ („Ar-radd ʿala al-mantiqiyin“).93 83 Geb. im Jahre 661 n. H./1263 n. Chr. in Hawar (Irak) und gest. 728 n. H./1328 n. Chr. in Damaskus, Syrien. 84 Beirut, Dar Ibn Hazm, 1998. 85 Riad, Ministerium für islamische Angelegenheiten, 1997. 86 Riad, Dar Al-ʿAsema, 1999. 87 Riad, Islamische Universität Imam Muhammad ibn Saud, 1986. 88 Beirut, Dar Al-Hayat, 1980: Ich habe dieses Buch in die deutsche Sprache übersetzt, veröffentlicht in Riad 1999. 89 Beirut, ’Alam Al-Kutub, 1999. 90 Riad, Islamische Universität Imam Muhammad ibn Saud, 1984. 91 Ibd., 1991. 92 1. Aufl., Kairo, Dar As-Sunna Al-Muhammadiya, 1951. 93 Beirut, Dar Ar-Rayyan, 2005.
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2 Koran und Koranexegese
Das Buch „Die Methodologie der Koranexegese“ wurde durch den Editor ʿAdnan Zarzur anhand einer vermutlich im 11. Jahrhundert n. H./17. Jahrhundert n. Chr. geschriebenen Handschrift veröffentlicht. Diese Handschrift, wie der Editor in seinem ausführlichen Vorwort erwähnt, besteht aus 16 Doppelseiten im Kleinformat, jede Seite enthält 21 Zeilen, wobei jede Zeile im Durchschnitt 15 Wörter beinhaltet. Vielen muslimischen Koranwissenschaftlern diente dieses Werk als solide Grundlage, und sie ließen sich von ihm stark beeinflussen, wie u.a. der berühmte Koraninterpret und Ibn Taimiyas Schüler, Ibn Kathir. Dieser ließ sich in seiner Koranauslegung insbesondere durch die letzten zwei Abschnitte dieses Buches von Ibn Taimiya sehr stark inspirieren. Ähnliches kann man von az-Zarkaschis Werk (gest. 794 n. H./1392 n. Chr.) „Der Beweis in den Koranwissenschaften“ („Al-burhan fi ʿulum al-Qur’an“) und von asSuyuti in seinem berühmten Werk „Die Spitzfindigkeit in den Koranwissenschaften“ („Al-itaqan fi ʿulum al-Qur’an“) behaupten. Der Inhalt dieses Buches ist auch ein Teil des 13. Bandes der Sammlung seiner Rechtssprechungen (MajmuʿAl-fatawa).94 Die darauf folgenden Bände von 14 bis 17 beinhalten eine unvollständige Koranauslegung. Von Ibn Taimiya existiert bislang keine vollständige Koranauslegung, gleichwohl es verschiedene Äußerungen über die Methodik der Koranauslegung in verschiedenen Werken von ihm gibt, wie etwa in „Iqtida’ as-sirat al-mustaqim mukhalafat ahl al-gahim“. Eine englische Übersetzung dieses Buches liegt bereits von Professor Dr. Muhammad ʿAbdul Haq Ansari seit 1409 n. H./1989 n. Chr. vor. Sie wurde ebenso wie diese deutsche Übersetzung von Imam Muhammad Ibn Saud Islamische Universität Riyadh, Saudi Arabien, publiziert. 2.3.2 Allgemeine methodische und inhaltliche Bemerkungen
– Alle damals bekannten Arten der Koranexegese sowie die Gründe für die Meinungsverschiedenheiten unter den Koranexegeten wurden dargestellt und analysiert. – Koranverse sowie prophetische Überlieferungen dienten in diesem Werk als Hauptgrundlage. – Die Namen vieler Gelehrter, insbesondere von Hadithüberlieferern und Koranexegeten sowie ihre Meinungen wurden erwähnt. – Ibn Taimiya stellte die meist bekannten Arten der Koranexegese dar, nämlich die traditionelle und die deduktive bzw. rationale Koranexegese. Er vertrat die tra94 Ibd.
2.3 Interpretationsmethoden
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ditionstreue Richtung äußerst konsequent, jedoch mit einem starken rationalen Hintergrund. Ibn Taimiya teilt seine Ausführung in eine kurze Einleitung sowie fünf Abschnitte auf. Im ersten Abschnitt schildert er, wie der Prophet Muhammad seinen Gefährten die Koranverse erläuterte. Gott beauftragte den Propheten, dies durch verschiedene Koranverse zu tun. Ibn Taimiya stellt am Ende dieses Abschnitts fest, dass die Prophetengefährten nur geringe Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Koranauslegung hatten. Im zweiten Abschnitt betrachtet Ibn Taimiya die wenigen unterschiedlichen Koranauslegungen der Prophetengefährten nicht als Meinungsverschiedenheiten bei der Koranauslegung, sondern sie stellen, seiner Ansicht nach, vielmehr verschiedene Aspekte oder Möglichkeiten der Auslegung dar. Im dritten Abschnitt bespricht Ibn Taimiya das Problem der später entstandenen unterschiedlichen Auslegungsrichtungen und führt dieses Problem auf die unterschiedlichen Methoden der jeweiligen Interpreten zurück. Die meisten späteren Koranexegeten wurden, nach Ibn Taimiya, durch die Dogmatik (’ara’ al-firaq) beeinflusst. Für ihn gibt es zweierlei Arten von Meinungsverschiedenheiten, die jeweils auf einen unterschiedlichen Ausgangspunkt zurückzuführen sind. Der erste Ausgangspunkt ist, nach Ibn Taimiya, die unkritische Verwendung vieler Hadithe durch manche Koraninterpreten. Der zweite Ausgangspunkt ist das Thema des vierten Abschnitts. Es handelt sich hierbei um die Koraninterpreten, welche sich völlig auf die eigene Auffassung bzw. auf die Deduktion (ar-ra’i wa al-istidlal) verlassen haben. Als Hauptvertreter dieser Richtung, die hauptsächlich von den Muʿtaziliten getragen wurde, erwähnt und kritisiert Ibn Taimiya u.a. Zamahsari und sein Werk al-Kassaf. Auf die gleiche Art und Weise behandelt Ibn Taimiya die Rafiditen, Philosophen und Qarmaten (Qaramita), die seiner Meinung nach den Koran durch eine artfremde Umdeutung missinterpretiert haben. Zum Schluss dieses relativ reichhaltigen Abschnitts erwähnt Ibn Taimiya u.a. kurz die verschiedenen Auslegungen der Mystiker, der Prediger und der Rechtsgelehrten. Im fünften und letzten Abschnitt des Werkes spricht Ibn Taimiya über die, seiner Meinung nach, besten Methoden der Koranexegese. Die erste und beste Methode ist, in seinen Augen, die Koranauslegung durch den Koran selbst, und wenn dies nicht möglich ist, so kommt die Auslegung durch die Sunna hinzu. Gelingt die Interpretation weder durch den Koran selbst noch durch die Sunna, muss man sich an die diesbezüglichen Aussagen der Prophetengefährten halten. An erster Stelle kommen die Rechtgeleiteten Kalifen und Imame wie u.a. ʿAbdullah Ibn Masʿud.
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2 Koran und Koranexegese
Die koranerläuternden Aussagen der Nachfolgergeneration (at-tabiʿun) bieten, nach Ibn Taimiya, den letzten richtigen Weg zu einer zuverlässigen Koranauslegung, vorausgesetzt, diese ist weder durch den Koran selbst, noch durch die Sunna, noch durch die diesbezüglichen Aussagen der Prophetengefährten möglich. Dagegen kann die letztgenannte Art der Auslegung, nämlich die rationale Auslegung, in der Überschrift des 5. Abschnitts des oben genannten Originalbuchs nicht berücksichttigt werden. Aus diesem Grunde habe ich sie in meiner Übersetzung als 8. Abschnitt bezeichnet. Die eigenmächtigen rationalen Koranauslegungen durch die freien Meinungsäußerungen (tafsir al-Qur’an bi ar-ra’y) sind nach der Auffassung Ibn Taimiyas verboten, wie er in dem abschließenden Abschnitt seines Werkes darstellt. Als Beleg hierfür zitiert er viele prophetische Hadithe, u.a. von Saʿid Ibn Jubair und Wakiʿ. 2.3.3 Einige Bemerkungen zur arabischen Edition dieses Werkes
Der Editor des arabischen Textes ʿAdnan Zarzur gab sich große und dankenswerte Mühe bei der Korrektur und Definition einiger fachspezifischer Begriffe. Er belegte viele Hadithe durch die Erwähnung ihrer zuverlässigen Überlieferungsketten und ihren Qualifikationsgrad (hukm) sowie die Hadith Kanonwerke. Er erwähnte einige wichtige Sekundärquellen, die sich mit dem Thema dieses Werkes befassen. Einige Namen erklärte er nicht näher, weil er möglicherweise einige von ihnen für allgemein bekannt hielt, oder weil er über sie keine zuverlässigen Informationen finden konnte.
2.4 Der Koran und die Hermeneutik 2.4.1 Was ist Hermeneutik? Ihr Werdegang
Hermes ist in der griechischen Mythologie derjenige, der die Göttersprache in Menschensprache übersetzte. Die Menschen hätten die Sprache der Götter ohne die Vermittlung bzw. die Übersetzung durch Hermes nie verstanden. Die Sprache der Götter wäre so für die Menschen nutzlos. Der Begriff „Hermeneutik“ verdankt Hermes nicht nur seinen philologischen Ursprung bzw. seine linguistische Ableitung, sondern ebenso seinen terminologischen Inhalt als der Weg zum Verstehen eines fremden unzugänglichen religiösen Textes.
2.4 Der Koran und die Hermeneutik
99
„Hermeneutik“ kommt vom griechischen Begriff „hermeneutikè téchne“ (= Kunst der Auslegung), lateinisch „interpretatio“, und ist eine Methode der Auslegung und Erklärung von Texten. Die Hermeneutik war die besondere Methode der klassischen Sprachwissenschaft bei der Auslegung von Literatur, Texten der Antike. Der jüdische Philosoph Philo (gest. 25 n. Chr.) war der erste, der diese Kunst bei der Interpretation von religiösen Texten anwendete. Origenes (gest. 254 n. Chr.) knüpfte an die alexandrinische Tradition an und verband die philologische Sorgfalt von Philo mit allegorischer Auslegung, um umstrittene Stellen in der Bibel, u. a. den biblischen Anthropomorphismus, zu überwinden bzw. sie umzudeuten. Er unterschied zwischen einer wörtlichen bzw. textuellen und einer sinnmäßigen bzw. kontextuellen Auslegung der Heiligen Schrift. Die mittelalterliche Theologie übernahm diesen zweifachen Schriftsinn und baute darauf die These von der doppelten Wahrheit auf: der Wortsinn (sensus literalis) einerseits und der geistliche Sinn (sensus spiritualis). Martin Luther erkannte schon frühzeitig die hermeneutische Bedeutung der Ursprachen, und dies wirkte sich auf seine spätere Bibelübersetzung und Auslegung aus. In der Aufklärung unterschied man zunächst zwischen unveränderlichen „Vernunftwahrheiten“ einerseits und zufälligen zeitbedingten „Geschichtswahrheiten“ andererseits. Auch der Rationalismus vermochte nicht den christlichen Glauben in eine allgemeine zeitlose „Vernunftwahrheit“ umzuwandeln. J. G. Herder (gest. 1803) erkannte die Individualität des Geschichtlichen und die Eigenart jedes Geschichtszeitalters und jedes Volksgeistes (Volksseele). F. Schleiermacher (gest. 1843) stand unter dem Einfluss der Romantik und sprach von der Individualität des Schriftverfassers (Individualismus). W. Dilthey (gest. 1911) verstand „Hermeneutik“, in Anlehnung an Kants „Kritik der reinen Vernunft“, als „Kritik der historischen Vernunft“. 95 Die Bedeutung der allgemeinen Hermeneutik für die Theologie begann mit Schleiermachers These von der Kongenialität des Verstehens und stellte damit das Problem der Normativität der biblischen Schriften in den Raum. Die biblischen Texte würden zu bloßen historisch-antiquarischen Überlieferungsstücken oder zu psychologischen Beispielen, wobei sie ihren normativen Anspruch verlieren würden. Die sogenannte „Historische Schule“ des 19. Jahrhunderts, insbesondere seit Schleiermacher, übertrug die Hermeneutik von der klassischen Sprachwissenschaft auf die Geisteswissenschaft. Sie wurde hier als Lehre vom wissenschaftlichen Begreifen geisteswissenschaftlicher Gegenstände aufgefasst. Die Hermeneutik gewann durch Schleiermacher ihre theologische Bedeutung. 95 Fahlbusch, Erwin (Hrsg.): Taschenlexikon Religion und Theologie, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1983.
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2 Koran und Koranexegese
Schleiermachers Forderung nach der Kongenialität des Verstehens stellte die formale Autorität des biblischen Textes infrage bzw. relativierte und individualisierte sie. Die Leben-Jesu-Forschung und der religionsgeschichtliche Vergleich des Christentums mit anderen Religionen wurden durch die Verwendung der allgemeinen Hermeneutik in der christlichen Theologie erneut hinterfragt. Das methodologische Ziel der Hermeneutik liegt auch nach Karl Barth (gest. 1968) darin, „das Wort in den Wörtern“ zu vernehmen. In seinem Römerbrief-Kommentar postuliert er die Formgeschichte als Eigenart der Texte des Neuen Testaments. Diese Texte stellen keinen historischen Bericht dar, sondern vielmehr „Kerygma“. Und so thematisierte er die Frage nach dem Eigentümlichen der theologischen Hermeneutik. R. Bultmann (gest. 1976) knüpfte mit seiner Hermeneutik an Schleiermacher und Dilthey an. Nach seinem Verständnis der Hermeneutik unterliegt die Interpretation des biblischen Textes denselben Bedingungen, die für jede andere Literatur gilt. Er postulierte das „Vorverständnis“ in dem Sinne, dass „erst ein Lebensverhältnis des Interpreten zur Sache, um die es im Text geht, […] die Möglichkeit des Verstehens“ eröffnet. Die Hermeneutik wird, nach Ernst Fuchs, zum grundsätzlichen Bedenken der Sprache und die theologische Hermeneutik zur Sprache des Glaubens. Gegen Bultmanns Entmythologisierung der biblischen Texte sieht Martin Buber (gest. 1965) den Sinn des Mythos darin, dass das Überbegriffliche in eine bildhafte sprachliche Gestalt gekleidet und dadurch sagbar werden soll. Für Paul Tillich (gest. 1965) lassen sich wesentliche Grunderfahrungen nur in Symbolen darstellen.96 Aus der obigen Ausführung können wir Folgendes festhalten: Hermeneutik stellt einen Transformationsprozess dar, durch den eine transzendente überbegriffliche Sprache (Gottesworte) in eine normal begreifliche Sprache (Menschensprache) transferiert wird. Zugänglich werden bedeutet verständlich werden. Hier werden Wort-Komplexe zerlegt bzw. ausgelegt und zwar so, dass man das Wort in den Worten vernehmen bzw. verstehen kann. Das Wortbild wird als zweitrangig, ja sogar als täuschend betrachtet. Den hinter dem Wort verborgenen Sinn zu finden, bildet das Ziel der Hermeneutik. Das Wort wird dabei lediglich als ein bloßes Symbol (Mythologie) betrachtet, dessen Inhalt es durch die Hermeneutik zu finden bzw. zu entmythologisieren gilt. Die gegenwärtige Hermeneutik sieht die biblischen Schriften nicht mehr als historische, sondern vielmehr als mythologische (symbolische) Texte. Aber gleichzeitig sieht sie die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit des Mythos, um das Überbegreifliche bildhaft begreiflich und sagbar zu machen. Mit anderen Worten stellt die Hermeneutik einen Versuch dar, einen nicht-historischen Text metatextuell zu deuten 96 Ibd.
2.4 Der Koran und die Hermeneutik
101
und ihn letztendlich verständlich zu machen. Somit ist die Hermeneutik nichts anderes als die Kunst des Interpretierens und des Auslegens, also eine Art der Text-Exegese. Die Eigenart der heutigen Hermeneutik liegt darin, dass sie von der Hypothese ausgeht, dass alle religiösen Schriften nicht-historisch sind. Nicht-historisch in dem Sinn, dass ihre Inhalte historisch nicht belegbar sind, was, meines Erachtens, bei einer Verallgemeinerung einen unbegründeten Gedankensprung darstellen würde. Eine so verstandene Hermeneutik zielt auf die Neutralisierung und Relativierung der Heiligen Schriften. Sie erweitert nicht nur die Interpretationsperspektiven der religiösen Texte und öffnet neue Wege dazu, sondern sie enthüllt diese Texte und entzieht ihnen ihre transzendente verbale Authentizität. Der Bereich, in dem die Hermeneutik am aktivsten agiert, ist dort, wo der religiöse Text unschlüssig oder paradox erscheint. Die Hermeneutiker würden eine bessere Leistung und der Wissenschaft einen größeren Dienst erweisen, wenn sie sich intensiver mit dem Kontext einer Aussage beschäftigten, um dann den allernächsten Sinn der jeweiligen Aussage herauszufinden, bevor sie ihr voreilig einen bloßen symbolischen bzw. mythologischen Charakter zuschreiben. 2.4.2 Islamische Hermeneutik (Ta’wil) I
Dem Begriff „Hermeneutik“ steht der arabische Begriff „Ta’wil“ gegenüber. Der Begriff „Ta’wil“ erhält im Koran, je nach Kontext, entweder eine positive oder negative Wertung. Geschieht „Ta’wil“ durch Gott, ist er positiv anzusehen. Wenn er aber durch Menschen in Bezug auf Offenbarungstexte angewendet werden sollte, so ist er immer negativ zu bewerten, denn der menschliche „Ta’wil“ kann, nach der koranischen Auffassung, die Menschen nur in die Irre und zu Streit führen. In Sure 3:7 lesen wir: Er (Allah) ist es, Der das Buch auf dich herabgesandt hat. Darin sind eindeutige Verse enthalten, die den Kern des Buchs ausmachen sowie andere mehrdeutige. Was aber diejenigen angeht, in deren Herzen Abschweifung (zayghun) innewohnt, diese folgen (nur) den mehrdeutigen (Aussagen), im Trachten nach Irreführung und im Trachten nach ihrer Missdeutung (ta’wilih). Aber niemand weiß ihre (richtige) Deutung (ta’wilahu) außer Allah. Und diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind (ar-rasikhuna fi l-ʿilm), sagen: „Wir glauben (fest) an alle (Koranverse); alles ist von unserem Herrn. Dies können nur diejenigen realisieren (verstehen), die einen (gesunden) Verstand besitzen“97.
97 Sure 3:7.
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2 Koran und Koranexegese
In diesem Koranvers kam der Begriff „Ta’wil“ zweimal in verschieden Kontexten und mit unterschiedlichen Bewertungen vor: einmal als Missdeutung durch Menschen und einmal als richtige Deutung durch Gott. Bemerkenswert aber ist, dass der „Ta’wil“ für sich betrachtet neutral ist. Er erhält seine Bewertung als positiv oder negativ ausschließlich durch seine externe Relation, nämlich durch den Kontext, in dem er angewendet wird. Mit anderen Worten: Die Bewertung des „Ta’wil“ hängt substantiell vom Zweck ab, den man durch ihn erreichen will. Handelt es sich bei „Ta’wil“ ausschließlich um die Aufdeckung eines verborgenen Sinnes, dann ist er positiv. Will man aber die Menschen durch „Ta’wil“ manipulieren bzw. in die Irre führen, dann ist „Ta’wil“ verwerflich. Missdeutung zu betreiben, haben sich die verschiedenen islamischen Denkrichtungen gegenseitig unterstellt. Hermeneutik, verstanden als Textinterpretation bzw. Verstehenslehre, vollzieht sich durch Reflexion über die Relation zwischen Wort und Definition mit dem Ziel, eine vieldeutige bzw. schwer verständliche Aussage zu erklären bzw. ihren verborgenen Sinn zugänglich zu machen. In dieser Hinsicht unterscheidet man zwischen vier Methoden der islamischen Textinterpretation: 1. Eine textuelle Interpretation, in der das geschriebene Wort formal-philologisch wortintern behandelt und bei der die Reihenfolge der Koranverse eingehalten wird. 2. Eine kontextuelle Interpretation, in der der Text im Zusammenhang mit seinen externen Relationen, ebenfalls bei Beachtung der vorgegebenen Reihenfolge der Koranverse, behandelt wird. 3. Eine thematische Interpretation, in der die themenrelevanten Koranverse unter einer Überschrift gesammelt werden, um eine vollständige Stellungnahme zum jeweiligen Thema zu ergeben. Die vorgegebene Reihenfolge der Koranverse wird nur noch intern berücksichtigt. 4. Eine metatextuelle Interpretation, in der der formal-philologische bzw. verbale Aufbau des Textes als zweitrangig betrachtet wird und stattdessen assoziierte Bedeutungen herausgelesen werden. Die Worte des Textes werden also bei einer metatextuellen Interpretation symbolisiert bzw. lediglich als Scheinformen eines angeblichen tieferen Sinnes verstanden, der hinter dem verbalen Text verborgen sein soll. Die erste Methode würde ich als „tafsir nassi“, die zweite als „tafsir siayqi“, die dritte als „tafsir mawduʿi“ und die vierte als „Ta’wil“ bezeichnen. „Ta’wil“ würde ich nicht als „Tafsir“ bzw. Auslegung oder Interpretation, sondern als „Deutung“ ansehen, da durch diese Methode die Textworte, wie bei der Traumdeutung, nur noch als Symbole betrachtet werden. Dass diese letzte Art der Textinterpretation grenzenlo-
2.4 Der Koran und die Hermeneutik
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sen Spekulationen Tür und Tor öffnet, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Gerade deswegen wird sie von den allermeisten Muslimen mit Skepsis betrachtet. Die starke Zurückhaltung, besonders unter den sunnitischen Muslimen, gegenüber „Ta’wil = Deutung“ des Korantextes, wodurch der Korantext relativiert wird, ist in diesem Sinn zu verstehen. Hermeneutik ausschließlich als „Deutung“ zu definieren, wobei die religiösen Texte völlig entsakralisiert werden, wäre nicht nur terminologisch falsch, sondern auch historisch nicht stichhaltig. Durch die kontextuelle Interpretation, in der eine Aussage ihre jeweils aktuelle Bedeutung durch den jeweiligen Kontext erhält, wird die scheinbare Paradoxie mancher Koranstellen auf eine rational nachvollziehbare Art und Weise aufgelöst. Die muslimischen Theologen werden, insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten, immer wieder aufgefordert, endlich den Koran, sowie es der Fall bei der Bibel ist, hermeneutisch zu interpretieren, um den notwendigen Anschluss der Koranexegese an die Moderne und die moderne wissenschaftliche Forschungsmethodik zu finden. Oft kann ich mich des Eindrucks nicht verwehren, dass einige, die vehement nach hermeneutischer Koranexegese rufen, als hätten sie endlich die Lösung für die angeblich verkrustete Koranexegese entdeckt, entweder nicht genau wissen, was Hermeneutik ist oder bescheidene Kenntnisse über die Entwicklungsgeschichte der Koranwissenschaften besitzen. Dass hermeneutische Koranexegese auch im Sinne der metatextuellen Textinterpretation bereits vor dem 3./9. Jahrhundert von muslimischen Koranwissenschaftlern und im Besonderen von den islamischen Mystikern betrieben wurde, scheint ihnen völlig entgangen zu sein. Bereits im 2./8. Jahrhundert baute die muʿtazilitische Kalam-Schule ihre gesamte theologische Weltanschauung auf eine rational-hermeneutische Koraninterpretation. Ihre These über die Gotteseigenschaften wäre ohne Hermeneutik der entsprechenden Koranstellen unmöglich. Im berühmtesten muʿtazilitischen Werk im Bereich der Koranexegese „Al-kaschschaf“ von Zamakhschari (gest. 538 n. H./1144 n. Chr.) ist die gesamte muʿtazilitische Koran-Hermeneutik konzipiert. „Ikhwan as-safa wa khillan al-wafa“ (Die Brüder der Lauterkeit) schrieben bereits im 4./10. Jahrhundert ein großes Werk, bekannt als „Rasa’il Ikhwan as-safa“, in dem sie u. a. den Koran esoterisch-philosophisch gedeutet haben. Dieses enzyklopädische Werk gilt bis heute als ein Bestandteil des ismailitischen Dogmas. Ditrichi hat es im 19. Jahrhundert sinngemäß ins Deutsche übertragen und I. Goldziher (gest. 1921) hat es relativ ausführlich in seinem Werk „Die Richtungen der islamischen Koranauslegungen“98 behandelt. Die berühmteste mystische Koraninterpretation „Fusus al-hi98 Leiden, De Goeje-Stiftung, No. VI, Brill, 1920.
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2 Koran und Koranexegese
kam“ von Muhiyiddin Ibn ’arabi (gest. 638 n. H./1238 n. Chr.) ist ein erstklassiges Werk der hermeneutischen Auslegung des Koran. Der große ägyptische Reformer Muhammad ʿAbduh (gest. 1905) erwies sich durch seine berühmte Koranauslegung „Tafsir al-manar“ als einer der bedeutendsten sunnitischen Koranhermeneutiker des 19./20. Jahrhunderts. Dies trifft vor allem auf den ersten Teil seines oben erwähnten Tafsir-Werks zu, den er selbst verfasst hat. Die weiteren Teile dieses Werkes stammen von seinem Schüler Muhammad Raschid Reda, der eher eine traditionelle Tafsir-Richtung einschlug. 2.4.3 Heilige Schriften zwischen Hermeneutik und historischer Kritik
Einen religiösen Text hermeneutisch auszulegen heißt, ihn zu enthistorisieren. Mit anderen Worten: seinen Inhalt nicht als einen Gegenstand der realen Weltgeschichte zu betrachten, sondern stattdessen ihn lediglich als eine in geschichtlicher Form verschlüsselte Himmelsbotschaft anzusehen, die nur durch die Hermeneutik entschlüsselt werden kann. Demnach stellt Hermeneutik die Folge einer nicht bestandenen historisch-kritischen Prüfung eines religiösen Textes dar. Hermeneutik und historische Kritik haben unterschiedliche Wirkungen auf den jeweiligen religiösen Text. Indem die Hermeneutik auch die philologische Aussage des betroffenen Textes aufhebt und ihm stattdessen lediglich einen symbolischen Charakter verleiht, relativiert die historische Kritik seine Aussagekraft. Historische Kritik war die Methode der Koran- und Hadithwissenschaftler, um die Authentizität und die Richtigkeit eines Koranverses oder eines Hadith festzustellen. Dabei erkannten und verwendeten sie zwei Arten der historischen Kritik, eine externe und eine interne. Externe Kritik nannten sie „naqd as-sanad“ und interne bzw. Textkritik nannte sie „naqd al-matn“. Akzeptiert bzw. als authentisch „sahih“ angesehen haben sie ausschließlich Aussagen, die diese zwei Prüfungen bestehen. Durch die historische Kritik konnten die muslimischen Islamwissenschaftler neue wissenschaftliche Gebiete erschließen, wie u. a. die Wissenschaft der Terminologie „ʿil al-mustalah“, die in einer vollständigen Version in dem bekannten Hadith-Werk von Ibn As-Salah „muqaddima fi ʿilm mustalah al-hadith“, bekannt als „muqaddimat ibn as-salah“ im 7./13. Jahrhundert, präsentiert wurde. Im Bereich der Koranwissenschaften entstanden ebenfalls einige Wissenschaftszweige, die den Geltungscharakter einer koranischen Aussage bestimmt haben. Beispiele dafür wären die Wissenschaft der Offenbarungsanlässe „ʿilm asbab an-nuzul“, die Wissenschaft der Abrogation „ʿilm an-naskh“ bzw. „an-nasikh wa l-mansukh“ und die Wissenschaft der Wort-Bedeutungen „ʿilm al-maʿani“. Die Konzeptionen der ersten Wissenschaftszweige findet man u. a. bei Zarkaschi in „Al-burhan fi ʿulum al-qur’an“ sowie bei Suyuti in
2.4 Der Koran und die Hermeneutik
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„Al-itqan fi ʿulum al-qur’an“ und den dritten Wissenschaftszweig findet man u. a. bei Gurgani in „ʿIlm al-maʿani“. Durch diese neuen Koranwissenschaftszweige wurde die Gültigkeit einiger koranischen Aussagen an eine bestimmte Zeit, Personen oder Situationen gebunden. Es gab also für die verschieden koranische Aussagen entsprechende Gültigkeitsgrade: allgemeine Gültigkeit (ʿaam), spezielle bzw. eingeschränkte Gültigkeit (khas), bedingte Gültigkeit (muqayyad) und unbedingte Gültigkeit (mutlaq). Was aber die heutige Hermeneutik betrifft, so könnte sie, nach der Meinung des großen muslimischen Reformers des 19. bis 20. Jahrhunderts Muhammad ʿAbduh ausschließlich bei der Interpretation der koranischen Erzählungen (qasas al-koran) verwendet werden. Nach ihm stellen die koranischen Erzählungen keine historischen Ereignisse, sondern vielmehr Ermahnung und Rechtleitung dar. Auch Allegorien werden zu diesem Zweck angewendet, u. a. in Sure 2:102 und 275. Diese Art des Erzählens findet sich auch in arabischer und nicht arabischer Literatur, wo sie z. B. von Göttern des Bösen und Göttern des Guten in der griechischen und altägyptischen Literatur erzählen; dabei glauben die Autoren selbst nicht an diese Geschichten. Durch diese Äußerungen versuchte Muhammad ʿAbduh (gest. 1905), nach der Darstellung von N. H. Abu Zaid (gest. 2010), der Kritik einiger Orientalisten am Koran zu begegnen. Alle koranischen Geschichten gehören, nach Muhammad ʿAbduh, der Kategorie der mehrdeutigen Koranverse an, und müssen daher gedeutet werden. Muhammad ʿAbduh ging bei seinen Interpretationen von einem Konsens aus, nämlich, dass Gott die Menschen durch eine Sprache anspricht, die ihrem Auffassungsvermögen entspricht. ʿAbduh versuchte in seiner Hermeneutik, so N. Abu Zaid die koranische Philologie mit der modernen Wissenschaft in Einklang zu bringen. So befinden sich arabische Allegorie und Metapher neben moderner Psychologie in seiner Hermeneutik in einem methodologisch einwandfreien Gebilde.99 Die Erschaffungsgeschichte Adams und Evas, der göttliche Befehl an die Engel, sich vor Adam niederzuwerfen und ihre Verführung durch den Satan sind nicht wortwörtlich zu verstehen, sondern als eine bildhafte Darstellung eines verborgenen Sinnes. Adam als „khalifa“ sei nicht das erste Lebewesen, das die Erde bewohnte. Es gäbe vor ihm Lebewesen auf dieser Erde, die mit der Erde unheilvoll umgingen und sich gegenseitig töteten. Hier sieht Abu Zaid bei Muhammad ʿAbduh einen Versuch, der muslimischen Intelligenz den Anschluss an die darwinische Evolutionstheorie zu ermöglichen. Auch die Geschichte von Kain und Abel ist an erster Stelle eine Verbildlichung des guten und des schlechten Charakters der Menschen. 99 Siehe Mafhum An-Nass – eine koranwissenschaftliche Studie, Beirut, Al-Markaz Ath-Thaqafi AlArabi 2014, S. 24 - 26
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2 Koran und Koranexegese
Die Geschichte Abrahams mit den vier Vögeln, die er nach göttlicher Anweisung zerteilen und auf jeden der umliegenden Hügel einen Teil legen sollte, und dann solle er sie zu sich rufen und sie werden mit Gotteserlaubnis wieder lebendig sein und zu ihm eilen, soll die Auferstehung nach dem Tod im Jenseits demonstrieren. Nach Muhammad ʿAbduh wäre diese koranische Ausführung durch eine Deutung bzw. hermeneutische Interpretation des arabischen Wortes „fasirhunna ilaik“ möglich und würde lediglich nichts anders als eine Demonstration der göttlichen Allmacht, nämlich jener, Tote wieder auferstehen zu lassen, bedeuten. ʿAbduh versuchte, so Abu Zaid, den Unterschied zwischen „tafwid = Wortglaube“ der Traditionalisten „salaf“ einerseits und der rationalistischen Deutung „Ta’wil“ der Muʿtaziliten andererseits zu verdeutlichen. Wortglaube „tafwid“ ist, nach ʿAbduh, eine Sache des Herzens, Deutung „Ta’wil“ ist auch notwendig, damit wir den verborgenen Sinn der Gottesworte verstehen können. Gott spricht nichts Sinnloses.100 Darauf, ob diese Lesart von M. N. Abu Zaid dem gesamten Entwurf von Muhammad ʿAbduh entspricht, kann ich im Rahmen dieses Abschnitts nicht ausführlich eingehen. In seinem Werk, „At-tawhid = das monotheistische Bekenntnis“ vermittelt Muhammad ʿAbduh eher eine rationale Interpretation, die dem spätmuʿtazilitischen Dogma sehr nahekommt. Weder die Frühmuʿtaziliten noch die Spätmuʿtaziliten von Qadi ʿAbdalljabbar (gest. 415 n. H./1025 n. Chr.) und seine Schüler waren Hermeneutiker im heutigen Sinne. Zweifelsohne war, neben dem muʿtazilitischen Einfluss, der philosophische Einfluss des Jamaluddin al-Afgani des ʿAbduhs Lehrer bei Muhammad ʿAbduh deutlich erkennbar, aber er blieb dennoch der rationalen muʿtazilitischen Interpretationsmethode, insbesondere in Bezug auf die Gotteseigenschaften, treu, die rational und nicht hermeneutisch war, es sei denn Abu Zaid hätte beide Interpretationsmethoden als identisch betrachtet. Folgendes ist festzuhalten: 1. Die muʿtazilitische Art der Koraninterpretation bezeichnet man als eine rationale, im Extremfall als rationalistische Interpretation („tafsir ʿaqli“). Hermeneutik wäre „Ta’wil = Deutung“, die man nur Mystikern und sonstigen Esoterikern zuschreibt. 2. Muhammad ʿAbduh hat die Hermeneutik „Ta’wil“ ausschließlich auf die koranische Geschichte (qasass) und nicht auf den gesamten koranischen Text angewendet. Für ihn stellten diese Geschichten keine historischen Gegebenheiten dar, sondern galten lediglich als Ermahnung oder Verheißung. 3. Betrachtet man die koranischen Geschichten als Mythen der Alten, die ausschließ100 Siehe Ischkaliyat ta’will al-qur’an qadiman wa hadithan, 2, Zusammenfassung und Paraphrasen aus verschiedenen Werken von Muhammad ʿAbduh, https://de.scribd.com/ [letzter Zugriff: 14. September 2018].
2.4 Der Koran und die Hermeneutik
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lich einen symbolischen Charakter haben, so stößt man frontal gegen mindestens neun Koranverse, die diese Betrachtungsweise als die charakteristische Haltung der ungläubigen Mekkaner schildern. An den Stellen 6:25; 8:31; 16:24; 23:83; 25:5; 27:68; 46:17; 68:15 und 83:13 wird der Satz „Diese sind Mythen bzw. Märchen der Alten“ als Antwort auf die Aufforderung seitens der Muslime an die Mekkaner genannt, den Koran als eine göttliche Offenbarung anzuerkennen. An der ersten genannten Koranstelle heißt es: „Unter ihnen (den mekkanischen Polytheisten) gibt es manche, die dir zuhören. Aber Wir haben auf ihre Herzen Hüllen gelegt, so dass sie ihn (den Koran) nicht verstehen und in ihren Ohren Hörstörung. Auch wenn sie jedes Zeichen sähen, glauben sie nicht daran. Wenn sie zu dir kommen, um mit dir zu streiten, sagen diejenigen, die nicht glauben (wollen) Das sind nur Fabeln (asatir) der Früheren (in haza illa asatir al-awwalin).“ Dieser letzte Satz wird in allen oben genannten Koranstellen wortwörtlich als ein Vorwurf wiederholt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der größte muslimische Reformer und Aufklärer des 19./20. Jahrhunderts Muhammad ʿAbduh, der die muslimischen Intellektuellen bis heute inspiriert, diesen Vorwurf akzeptieren würde. Noch weniger kann ich mir vorstellen, dass er diese eindeutige, mehrmals wiederholte koranische Aussage nicht gelesen bzw. nicht verstanden haben soll. Karl Barth (gest. 1968) versucht, wie angeblich sein muslimischer Vorgänger Muhammad ʿAbduh, den Sakralstatus des Textes des neuen Testaments, in dem derartige Erzählungen vorkommen, dadurch zu retten, indem er solche Texte mit folgenden Worte beschreibt: „Als Eigenart der Texte des neuen Testaments, dass diese nicht historischer Bericht, sondern Kerygma (Predigt) sein wollen.“101 Karl Barth ging es hier auch darum, die Eigenart bzw. die Einzigartigkeit des Textes des Neuen Testaments zu begründen. Die Eigenart des koranischen Textes bzw. seine Unnachahmbarkeit (Iʿjaz al-Qur’an) wird auch auf unterschiedliche Art und Weise von muslimischen Koranwissenschaftlern, mal durch seine einzigartige Philologie, seine zutreffenden Voraussagen oder durch die in ihm enthaltenen tiefen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die den Menschen zur damaligen Zeit unzugänglich bzw. verschlossen waren, hervorgehoben. Was aber die gegenwärtige Hermeneutik von einigen muslimischen Wissenschaftlern des 19. bis 20. Jahrhunderts wesentlich unterscheidet, ist, dass man heute den gesamten koranischen Text lediglich als ein kulturelles Produkt, sprich eine gewöhn101 Siehe Hoenicker, Martin Art. „Hermeneutik“ in: Lexikon Religion und Theologie, Bd. 2, 4. Aufl., Fahlbusch, Erwin (Hrsg.), Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, S. 270.
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liche Literatur, betrachten sollte. Die Hermeneutik von Muhammad ʿAbduh beschränkte die hermeneutische Anwendung ausschließlich auf die koranischen Erzählungen (Geschichten = qasass). Daraus ergibt sich, dass Muhammad ʿAbduh nicht als Referenz für islamische Hermeneutik nach Karl Barth, Dilthey und Bultmann im heutigen Sinne geeignet ist, wie dies N. H. Abu Zaid verstehen möchte. Der unterschiedliche Authentizitätsgrad zwischen dem Text des neuen Testaments einerseits und dem koranischen Text andererseits wird von den gegenwärtigen Hermeneutikern, ob Muslime oder Nichtmuslime, völlig außer Acht gelassen. Diese Art des Umgangs mit heiligen Schriften ist wissenschaftlich-methodisch unhaltbar. Auf der einen Seite haben wir uneinheitliche Texte der vier kirchlich anerkannten Evangelien, deren Authentizität historisch-kritisch bis heute noch nicht festgestellt worden ist. Und auf der anderen Seite haben wir einen einheitlichen koranischen Text, dessen Authentizität auch historisch-kritisch nach allen seriösen Forschungen, auch durch nichtmuslimische Fachwissenschaftler, feststeht. Diesen wesentlichen Unterschied zwischen den oben genannten zwei heiligen Schriften unberücksichtigt zu lassen, entzieht den Ergebnissen einer solchen Forschung jegliche Seriosität. Die muslimischen Intellektuellen wären gut beraten, wenn sie ihre eigene Geistesgeschichte in allen ihren Farbschattierungen, vor allem was die Koran- und Hadithwissenschaften betrifft, unvoreingenommen und kritisch studierten, um diese als einen Bestandteil ihrer eigenen kulturellen Identität realisieren zu können und sie als eine solide Basis für eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Moderne bzw. mit der bereits angebrochenen Postmoderne zu nehmen. Dazu kommen die Muslime nicht umhin, aufrichtige Selbstkritik zu üben. Hiermit meine ich eine Selbstkritik und keine Selbstgeißelung. Auch externe konstruktive Kritik soll ernst genommen und nicht von vornherein als Angriff und Diffamierung zurückgewiesen werden. Vielmehr sollen die konstruktive externe Kritik sowie die Ergebnisse der gegenwärtigen Forschung in allen Bereichen als eine Bereicherung und Erweiterung des eigenen Selbstverständnisses wahrgenommen werden. Muslimische Wissenschaftler müssen die Gründe für ihren Rückstand gegenüber der westlichen Kultur zuerst bei sich selbst suchen, bevor sie den Westen oder sonst jemanden durch zum Großteil hausgemachte Verschwörungstheorien beschuldigen und sich aus Bequemlichkeit als Opfer ansehen. Hätten die Muslime schon vor Jahrhunderten auf den wissenschaftlichen Errungenschaften der früheren Generationen aufgebaut und diese weitergeführt, wären sie heute vielleicht in vielen Wissenschaftsbereichen führend. Oder zumindest würde ihnen der Anschluss an die Moderne nicht so schwerfallen. Wir Muslime sollen endlich begreifen, dass uns nur der Wettstreit und nicht der Streit mit dem Westen weiterbringen kann.
2.4 Der Koran und die Hermeneutik
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2.4.4 Exkursion: Westliche Koranforschung, Ergebnisse der Berliner Konferenz vom 21. bis 25. Januar 2004
Unter dem Motto „Historische Sondierungen und Methodologische Reflexionen zur Korangenese – Wege zur Rekonstruktion des vorkanonischen Koran“102 widmete sich die vom Seminar für Semitistik und Arabistik der FU Berlin organisierte Konferenz dem Koran und versuchte die Entstehungsgeschichte des Koran zu erforschen. Die kontroversen Thesen von Luxenberg, die er in seinem umstrittenen Werk „Syro-aramäische Lesart des Koran“103 darlegte, waren Gegenstand reger Diskussionen. Luxenbergs Hypothese nach würde der Koran auf ein in aramäisch-arabischer Mischsprache verfasstes christliches Lektionar zurückgehen. Mit den Thesen von Patricia Crone und Michael Cook, die die Entstehung des Islam nach Südpalästina verschoben und die Verankerung in Mekka und Medina als späteren islamischen Ursprungsmythos betrachteten, oder der Hypothese John Wansbroughs, der eine Redaktion des Korans für den Beginn des 9. Jahrhunderts angesetzt hatte, waren radikale Gegenentwürfe zur islamischen Textgeschichte vorgelegt worden. Auch Günther Lülings Studie zum Urkoran, die durch eine neue englische Übersetzung erneut Aufsehen erregte, hatte eine Hypothese präsentiert, der zufolge der ursprüngliche Koran des Propheten auf judenchristlichen Strophenliedern beruhe, die der Prophet umgeschrieben habe und die dann von der späteren islamischen Tradition erneut abgewandelt worden seien. Genannte drei Gegenentwürfe scheinen die Forschung in ein argumentatives Patt gesetzt zu haben, das die Grundlagenforschung am Koran häufig zu hemmen drohte. Die Gegenthese Luxenbergs zur islamischen Textgeschichte hat dabei im Vergleich zu den oben genannten Gegenentwürfen das stärkste Echo in der Öffentlichkeit und in den Fachkreisen ausgelöst. Über die Bewertung seiner Hypothesen ist man sich, wie auch die Berliner Korankonferenz zeigte, noch nicht einig. Die öffentliche Debatte begann nach dem 11. September .2001, als die Paradiesjungfrauen, die in Luxenbergs Übersetzung des Korans nicht mehr enthalten sind, dem Thema zu großer Aufmerksamkeit verhalfen. Seitdem widmete sich eine Vielzahl von Presseartikeln dem neuen Ansatz in der Koranforschung. Bisweilen schlägt die Rezeption des Buches unerwartete Wege ein: Eine schiitisch-theologische Fachzeitschrift im Libanon104 druckte die erste arabische Bespre102 Berlin 21.–25.1.2004. 103 Berlin 2000. 104 Bde. 25 und 26, Beirut, Jamiat Al-Mustafa Al-Alamiya, 2015.
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chung. Al-Hayat at-Tayyiba blieb skeptisch, sprach sich aber dafür aus, den Einfluss des Aramäischen ernst zu nehmen: Möglicherweise ließen sich durch das Aramäische koranische Ausdrücke klären – es sei deshalb wünschenswert, weitere Studien in diese Richtung zu unternehmen. Negative Besprechungen wie die von Francois de Blois (London) und euphorische Bewertungen wie die von Claude Gilliot dokumentieren die uneinheitliche Bewertung der Studie Luxenbergs.105 Angesichts dieser anhaltenden Debatte war es ein Anliegen der Berliner Konferenz, deutschsprachige Wissenschaftler zusammenzubringen, deren Fachgebiete einzelne Bestandteile im Mosaik der verschiedenen Zugänge für das Umfeld der Entstehung des Korans beinhalten. Der Vortrag von Barbara Finster (Bamberg) zu archäologischen Ausgrabungen zeigte, dass eine christliche Präsenz in allen Teilen des vorislamischen Arabiens belegbar ist. Auch die Kaaba in Mekka kann typologisch mit äthiopischen Tempelbauten in Verbindung gebracht werden, die häufig als Kirchenbauten fungierten. Die Kaaba ausschließlich als einen Kirchenbau zu verstehen, wäre allerdings eine übereilte Schlussfolgerung, wie Ernst-Axel Knauf (Bern) deutlich machte, der darauf hinwies, dass „heidnische“ Kulte häufig sogenannte Sekundärkulte (ursprünglich) monotheistischer Heiligtümer darstellten. Auch Angaben über ein Marienbild in der Kaaba, das nach einigen islamischen Quellen dort vorhanden gewesen sei, müssen nicht als Indiz für eine christliche Präsenz im engeren Sinne gewertet werden, da altarabische Kulte in einigen Fällen christliche Elemente aufgenommen hatten. Bei der Identifizierung vermeintlich vertrauter Elemente ist generell Vorsicht geboten. Nach Francois de Blois (London) sind die im Koran erscheinenden Nasara keine orthodoxen Christen, sondern Judenchristen, die in der Spätantike an der Peripherie des byzantinischen Reiches weiterexistierten. Bei durchlässigen religiösen Grenzen dürfen christliche Faktoren bei der Entstehungsgeschichte des Korans nicht übergangen werden. Auf der anderen Seite wäre es fatal, die Ausformung des Christentums mit den institutionalisierten Formen der byzantinischen oder koptischen Kirche zu verwechseln. Neben der Archäologie und der theologischen Einordnung der verschiedenen religiösen Gruppen war auch die linguistische Situation Thema. Die sprachliche Situation wurde von Ernst-Axel Knauf (Bern) mit dem Begriff „funktionale Mehrsprachigkeit“ charakterisiert. Bei den Nabatäern, den Ghassaniden und Lakhmiden müsse man von einer Diglossie (Zweisprachigkeit) von Arabisch und Aramäisch ausgehen. 105 Ibd.
2.4 Der Koran und die Hermeneutik
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Auch die geostrategische Situation der Halbinsel kann den Ausführungen von Norbert Nebes (Jena) und Mikhail Bukharin (Jena/Moskau) zufolge als relevant für die Entstehung des Islam angesetzt werden. Kulturelle Kontakte mit dem Norden und dem äthiopischen Westen sind in der vorislamischen Zeit deutlich nachzuweisen. Auch die heute entlegen erscheinenden Bereiche der Halbinsel waren an internationale Handelswege angeschlossen. Das Wissen um die Kontexte macht deutlich, dass der islamische Ausdruck „Zeit der Jahiliyya“ („Unwissenheit“) irreführend sein kann, da er ein Arabien suggeriert, das einer weißen Fläche auf der Landkarte der „monotheistischen Religionen“ glich. Für die früheste noch greifbare Textgeschichte ist eine Auswertung früher Handschriften des Korans erforderlich. Durch die Beiträge von Gerd-Rüdiger Puin (Saarbrücken) und Omar Hamdan (Haifa) wurde die Notwendigkeit deutlich, das Orthographiesystem der ältesten Handschriften zu erfassen. Nach Meinung der Forschung geht das arabische Alphabet auf einen aramäischen Schrifttyp zurück, der in der folgenden Zeit auf die Bedürfnisse der arabischen Sprache angepasst wurde. Bis zur Orthographiereform unter al-Hajjâj bin Yûsuf106 ist in den frühen Handschriften ein Schreibsystem nachweisbar, das von dem heute verwendeten abweicht. Die aramäisch-arabische Mehrsprachigkeit auf der Halbinsel ist für die Sprache des Korans von zentraler Bedeutung. Bei den Diskussionen schien sich dabei ein Konsens dahingehend zu ergeben, dass die Eingriffe in den Text, die Luxenberg vornimmt, im Einzelfall zu prüfen sind. Rainer Voigt (FU Berlin) und Martin Baasten (Leiden) sprachen sich dafür aus, die Frage des Einflusses des Aramäischen auf das Arabische des Korans erneut in die Forschung aufzunehmen. Luxenbergs Methodik im Gesamten wurde als unvollständig bewertet, auch wenn einzelne Emendationsvorschläge aus semitistischer Perspektive als haltbar gelten könnten. Die Gesamtthese von einem Koran, der aus dem Aramäischen ins Arabische übersetzt wurde, schien beim bisherigen Erkenntnisstand nicht vertretbar zu sein. Da einzelne Vorschläge offenbar akzeptabel schienen, stellt sich natürlich die Frage, wie viele Einzelfälle notwendig sind, um einen Paradigmenwechsel in der Koranwissenschaft zu etablieren. Angelika Neuwirth (FU Berlin) präsentierte einen Forschungsansatz, der den Koran als eine Folge verschiedener Diskurse versteht, die die Interaktion zwischen dem Propheten und seinen Hörern dokumentieren.
106 Regierte 694–714 n. Chr.
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2 Koran und Koranexegese
Der Koran reflektiert nach diesem Textverständnis den Verlauf einer mündlichen Kommunikation, die sich über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten erstreckte und dabei auch veränderte. Um dem Koran gerecht zu werden, müssen die sich entwickelnden Diskurse zwischen einem charismatischen Sprecher und der entstehenden Gemeinde beachtet werden. Neuwirth warnte davor, aufgrund zu starker Skepsis (wie sie die Ansätze von Wansbrough und Cook/Crone artikulierten) dem Text selbst und seinen verschiedenen chronologischen Schichten gar keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Auch wenn die Frage fremdsprachlicher Einflüsse sicherlich relevant sei, müsse der Korantext zunächst als solcher im Mittelpunkt stehen. Aus den Diskussionen der Konferenz hervorgegangen, traf sich unter Leitung von Andrew Rippin (Victoria, Canada) und Angelika Neuwirth Anfang März 2010 in Berlin eine internationale Forschergruppe, um zu beraten, wie man sich der frühen Textgeschichte des Korans nähern könne. Bisher steht ein systematischer Versuch noch aus, früheste Handschriften zusammenzutragen. Um den Text des Korans auf eine solide Grundlage zu bringen, müssten sowohl die Evidenzen aus den verschiedenen Koranhandschriften als auch die kanonischen und nicht-kanonischen Lesarten zusammengestellt werden. Das Berliner Arbeitsgespräch knüpft mit seinen Anliegen an das Projekt eines Apparatus Criticus von Bergsträsser und Pretzl an, das nach dem Zweiten Weltkrieg zum Erliegen kam und ein wichtiges Desiderat für die Auseinandersetzung mit dem Koran darstellt.107 Dazu folgende Bemerkungen: Rudi Paret beginnt das Vorwort seiner Koranübersetzung108 mit den folgenden Worten: Der Koran hat die Verkündigungen zum Inhalt, die Mohammed zu Beginn unseres siebten Jahrhunderts seinen arabischen Landsleuten als göttliche Offenbarungen vorgetragen hat. Obwohl zu hunderten von Versen der einzelnen Kapitel oder „Suren“ abweichende Lesarten überliefert sind, kann man sagen, dass der Text im großen Ganzen zuverlässig ist und den Wortlaut so wiedergibt, wie ihn die Zeitgenossen aus dem Munde des Propheten gehört haben. Denn die Abweichungen beschränken sich in der weit überwiegenden Mehrzahl auf die Vokalisierung und auf gewisse diakritische Zeichen, d. h. auf Bestandteile, die in der arabischen Schrift überhaupt nicht berücksichtigt wurden und erst nachträglich ergänzt worden sind. Das Konsonantengerippe, die eigentliche Grundlage des Textes, wird kaum einmal in einer ernst zu nehmenden Weise beeinträchtigt. Wir haben keinen Grund 107 Siehe dazu den vollständigen Bericht von Marx, Michael über diese Konferenz im Internet. 108 Stuttgart, Kohlhammer, 1979.
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anzunehmen, dass auch nur ein einziger Vers im ganzen Koran nicht von Mohammed selber stammen würde.109
Über die strukturelle Bildung der einzelnen Kapitel, „Suren“, stellt Paret fest, dass die einzelnen Teile eines Kapitels, die „Verse“, nicht immer ursprünglich zusammengehören. Eher seien sie nachträglich zu einem großen Ganzen eingeordnet worden. Dazu sagt er: Problematisch wird dagegen die Textüberlieferung, sobald wir die Komposition ganzer Suren, vor allem solcher größeren Umfangs ins Auge fassen und uns die Frage vorlegen, ob die einzelnen Verse, aus denen eine Sure besteht, ursprünglich zusammengehört haben und demnach den Text einer einmaligen, zusammenhängenden Verkündigung darstellen, oder ob sie erst nachträglich, wenn auch sinnvoll, zu einem großen Ganzen zusammengeordnet sind, oder aber, ob etwa völlig verschiedenartige Verse bzw. Versgruppen mehr oder weniger zufällig aneinandergereiht worden sind. Mit den genannten drei Möglichkeiten muss von Fall zu Fall gerechnet werden. Wenn man überhaupt versucht, den Koran historisch zu interpretieren, d. h. aus dem Satz das herauszulesen, was Mohammed ursprünglich in einer durch bestimmte Zeitumstände und Milieuverhältnisse gegebenen Situation damit sagen wollte, muss man sich fürs erste jeweils auf kleinere Textabschnitte konzentrieren, von denen von vornherein anzunehmen ist, dass sie von Anfang an zusammengehört haben und in ihrer ursprünglichen Anordnung auf uns gekommen sind.110
109 Ibd., S. 5. 110 Ibd.
3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich 3.1 Begriffs- und Übersetzungsproblematik
Für den Begriff islamische Theologie als „die Lehre von Gott“ bzw. „die Gottheitslehre“ verwenden Muslime verschiedene arabische Begriffe, deren Authentizität und Synonymie unter muslimischen Denkrichtungen umstritten sind. „ʿAqida“, „Tauhid“, „Usul ad-Din“ und „ʿIlm al-Kalam“ sind die bekanntesten arabischen Begriffe, die, inhaltlich gesehen, mit dem christlichen Begriff „systematische Theologie“ oder „christliche Dogmatik“ vergleichbar sind. Fachspezifisch sind die Begriffe „ʿAqida“ und „Tauhid“ insofern synonym, dass beide den theoretischen Teil der islamischen Religion ausmachen, würde man der allgemein anerkannten Teilung der islamischen Religion in ʿAqida als Glaubenslehre und Scharia als Rechtslehre folgen. Parallel zu der oben genannten Einteilung gibt es eine weitere Einteilung der islamischen Religion in „ʿIbadat“ als „Gottesdienst“ und „Muʿamalat“ als „Verhaltenskodex“. Beide Einteilungen stimmen insofern miteinander überein, dass sie die Religion zwar in Theorie und Praxis einteilen, jedoch von einer vollständigen Identifikation der beiden Teile ausgehen. In mancher deutschsprachigen Fachliteratur wird ʿIlm al-Kalam mit „Spekulative Theologie“ wiedergegeben und in manch anderer Literatur, u. a. bei H. Corbin und J. Schacht, wird es als die „echte islamische Philosophie“ bezeichnet. Dass ʿIlm al-Kalam als eine Art der islamischen Philosophie oder genauer gesagt die islamische Religionsphilosophie darstellt wird, ist, meines Erachtens, eine berechtigte Betrachtungsweise. Aber es als die echte islamische Philosophie zu bezeichnen, würde den Leistungen der islamischen Philosophen von Kindi (3/9. Jahrhundert) bis Averroes (6/12. Jahrhundert) jegliche Authentizität bzw. Originalität absprechen. Den arabischen Begriff „ʿIbadat“ ausschließlich als Gottesdienst im christlichen Sinne zu verstehen bzw. mit „praktischer Theologie“ gleichzustellen, ist nicht bedenkenlos möglich. Denn auch rein profane Alltagshandlungen gelten im Islam als Gottesdienst, wenn sie als ein religiöses Gebot verstanden und bei deren Durchführung die entsprechenden religiösen Bestimmungen berücksichtigt werden. Eine totale Trennung zwischen diesen beiden Teilen der islamischen Religion (ʿIbadat und Muʿamalat) käme einer säkularen Betrachtungsweise gleich, welche auch von einigen muslimischen Gelehrten im frühen 20. Jahrhunderts, u. a. dem Azhariten Scheich ʿAli ʿAbdarraziq, vertreten wurde.
116
3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
Auch eine Gleichsetzung des Faches „Islamische Theologie“ mit „Islamwissenschaft“ wäre ebenso inhaltsfremd. Denn die Islamwissenschaft ist eine Wissenschaft über den Islam und eben keine Wiedergabe der islamischen „Glaubenslehre“, wie dies Herrmann Sieglecker versteht. Die Gleichsetzung von islamischer Theologie im Sinne von „ʿIlm al-Kalam“ und „ʿAqida“ im Sinne von „Islamischer Glaubenslehre“ sorgt ebenfalls bis heute für heftige Diskussionen und stößt dabei auf kategorische Ablehnung durch die muslimischen Traditionalisten. Der erste prominente Gegner dieser Gleichstellung war Imam Malik (gest. 179 n. H./795 n. Chr.). Er ist Gründer der malikitischen Rechtsschule, der die Existenzberechtigung von ʿIlm al-Kalam kategorisch bestritt. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vertrat der Oberste Imam von Al-Azhar, Scheich ʿAbdalhalim Mahmud, verständlicherweise wegen seiner mystischen Weltanschauung, die gleiche Haltung gegenüber dieser rationalistischen Tendenz, insbesondere gegenüber der ersten großen Kalam-Schule, der Muʿtazila, wie sein großer Vorgänger Imam Malik. Die Genealogie des Begriffs„ʿIlm al-Kalam“ ist wörtlich „die Wissenschaft des Sprechens“ oder „die Wissenschaft des Argumentierens“. Sie reicht bis in den Anfang des 2./8. Jahrhunderts zurück. Die Vertreter dieser Disziplin wurden „Mutakallimun“ genannt, da sie über eindeutige koranische Aussagen, insbesondere über Gottes Namen und Eigenschaften, gesprochen bzw. rational debattiert haben. Maʿbad Al-Juhani, Al-Jaʿd Ibn Dirham und Al-Jahm Ibn Safwan, gefolgt von Wasil Ibn ʿAta’ und Amr Ibn ʿUbaid (Mitte des 2./8. Jahrhunderts) sowie Abul-Hudhail Al-ʿAllaf, An-Nazzam und Al-Jahiz (Mitte des 3./9. Jahrhunderts) waren die ersten Mutakallimun (Dogmatiker) und Systematisierer der ersten großen Denkrichtung im Islam, al-Muʿtazila. Abul-Hassan Al-Aschʿari (gest. 324 n. H./935 n. Chr.), Gründer der zweitältesten Kalam-Schule, der al-Aschʿariya, nannte die Vertreter dieser Disziplin „Al-Islamiyun“ insbesondere in seinem großen Werk „Maqalat al-Islamiyin“. Die Benennung dieser Denkrichtung ist auf das Problem des sogenannten „Kalam Allah“ (wörtlich: das Gottessprechen, gemeint hier ist der Koran) zurückzuführen. Hierbei geht es um die Erschaffenheit bzw. Nicht-Erschaffenheit des Koran. Diese bedürfen, meines Erachtens, weiterer Erklärungen, da dieses letztgenannte Problem erst im 3./9. Jahrhundert erkannt wurde. Nagels Ausführung in „Geschichte der islamischen Theologie“111 ist in diesem Zusammenhang, meines Erachtens, naheliegender als die oben genannte Ausführung. 111 Nagel, Tilman: Geschichte der islamischen Theologie von Mohammed bis zur Gegenwart, München, Verlag C. H. Becker, 1994.
3.2 Aufgabenbereich der islamischen Theologie
117
Ein weiterer arabischer Begriff, der sich, meiner Meinung nach, besser als die bereits erwähnten Begriffe mit dem der „Islamischen Theologie“ identifizieren lässt, ist „Usul ad-Din“, wörtlich: „die Fundamente der Religion“. Dieser Begriff lässt sich nicht nur formell, sondern auch inhaltlich mit dem Begriff „Fundamentaltheologie“ identifizieren. Einige prominente Vertreter der aschʿaritischen Denkrichtung, u. a. ʿAbdalqahir Al-Baghdadi (gest. 430 n. H./1038 n. Chr.) und Imam Al-Haramain Abul-Maʿali Al-Juwaini (gest. 478 n. H./1085 n. Chr.), verfassten jeweils ein theologisches Werk unter der Überschrift „Asch-Schamel fi Usul ad-Din“,112 in dem sie ihre Auffassung von den Grundsätzen bzw. Pfeilern der islamischen Religion manifestierten. Der bekannte aschʿaritische Dogmatiker ʿAbdalkarim Al-Schahrastani schrieb im 6./12. Jahrhundert ein Werk namens „Nihayat al-Iqdam fi ʿIlm al-Kalam = das Endziel der Bestrebung im Bereich der ʿIlm al-Kalam“, in dem er sich mit der muʿtazilitischen Denkrichtung auseinandersetzte und die Meinungen der Aschʿariten insbesondere über das Problem der Eigenschaften Gottes, die Willensfreiheit bzw. die Prädestination des menschlichen Handelns, die Auferstehung u. a. verteidigte. Auch der spät-aschʿaritische Philosoph ʿAdudaddin Al-Iji schrieb im 8./14. Jahrhundert ein Werk in höchst philosophischem Stil und nannte es „Al-mawaqif fi ʿIlm al-Kalam“ („Die Einstellungen im Bereich der dogmatischen Theologie“).113 In den beiden genannten Werken sowie in den beiden zuvor genannten aschʿaritischen Werken von Al-Baghdadi und Al-Juwaini werden dieselben Themen behandelt: Die Gotteseigenschaften, das Problem der Willensfreiheit, die Natur des Koran (seine Erschaffenheit bzw. Nicht-Erschaffenheit) sowie naturwissenschaftliche und metaphysische Themen. Das spricht als Indikator für eine Identifikation der beiden Begriffe „ʿIlm al-Kalam“ und „Usul ad-Din“. „Usul ad-Din“ und „ʿAqida“ haben ebenfalls denselben Inhalt, der durch den Begriff „Fundamente der Religion“ bzw. „Fundamentaltheologie“ zu Recht wiedergegeben werden kann.
3.2 Aufgabenbereich der islamischen Theologie
Der verhältnismäßig langen Ausführung über die Definition des Begriffs „Islamische Theologie“ kann man entnehmen, dass sie sich nach allen oben genannten Entwürfen erstrangig mit dem Kern des islamischen Glaubens, also Gottes Wesen und seinen Namen bzw. Eigenschaften befasst. 112 Al-Juwaini, Abul-Maʿali: Asch-Schamel fi Usul Ad-Din, Alexandria, Dar Al-Maʿarif, 1969. 113 ʿAdudaddin a-Iji: Al-Mawaqif fi ʿIlm Al-Kalam, Beirut, ʿAlam Al-Kotob, 1999.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
Die Thematik der Gottesbeweise trat erst viel später in der islamischen Theologie auf, denn die Existenz Gottes war für die Muslime so evident, dass sie für die muslimischen Theologen kein Thema war. Der Koran enthielt alle einschlägigen Beweise, die man in einem solchen Diskurs den anderen einfach darlegen kann. Das Kausalprinzip als ein unwiderlegbarer Beweis für die Notwendigkeit der Existenz Gottes steht bereits an mehreren Koranstellen.114 Im 1. und 2. Jahrhundert waren die muslimischen Gelehrten mit der Sammlung des Koran und der Sunna, der Katalogisierung der Sunna, Systematisierung des islamischen Rechts und den Grundfundamenten der islamischen Religion beschäftigt. Die theologischen Werke, die in dieser frühen Zeit verfasst wurden, enthalten keine Hinweise auf bedeutende Diskussionen über Gottesbeweise. Es gab lediglich folgenreiche Diskussionen über theosophische Probleme, wie Willensfreiheit (Qadar) sowie rein theologische Fragen, wie die Frage nach der Lage des Schwersündigen (murtakib al-kabira) und die damit verbundene Frage, ob sich der Glaube quantitativ verändern kann. Erst nach der Übersetzung der griechischen, hellenistischen und neuplatonischen Philosophie ins Arabische und der geistigen Auseinandersetzungen mit fremden Kulturen und Religionen sahen sich die muslimischen Theologen genötigt, sich mit Gottesbeweisen u. a. nach aristotelischem oder neuplatonischem Muster auseinanderzusetzen. Yakob Al-Kindi (gest. 260 n. H./873 n. Chr.) gefolgt von Al-Farabi (gest. 339 n. H./950 n. Chr., Ibn Sina, Avecenna, (gest. 427 n. H./1037 n. Chr.), Abu Hamid Al-Gazzali (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.) und schließlich Ibn Ruschd Averroes (gest. 595 n. H./1195 n. Chr.) waren die prominenten Denker unter den Muslimen, die sich mit Gottesbeweisen beschäftigt haben. Islamische Theologie, als Grundfundament der islamischen Religion verstanden, befasst sich erstrangig mit den sechs Säulen des Glaubens (arkan Al-Iman). Diese Glaubensgrundsätze bilden zugleich die Streitfragen, um die es im theologischen Diskurs ging und somit kennzeichnen sie definitiv den Bereich der islamischen Fundamentaltheologie. Daher soll die islamische Theologie im Kernbereich einer unter diesem Namen geführten universitären Disziplin stehen. Bei der Wahl der klassischen Themen und Inhalte dieses Fachs könnte man etwa „Al-Fiqh al-akbar“ (die größte Wissenschaft) und „Al-Wasiya“ (das Testament) von Imam Abu Hanifa, „Usul ad-Din“ von Imam Abul-Maʿali Al-Juwaini und „Kitab al-Iqtisad fi al-Iʿtiqad“ von Imam Abu Hamid Al-Gazzali als Referenzen hinzuziehen. Der Bezug auf die Gegenwart mit all ihren zeit-raum-bedingten Problemfällen und Veränderungen soll bei der Gestaltung eines Lehrplans für die islamische Theologie gebührend berücksichtigt 114 Mindestens 115 Mal.
3.2 Aufgabenbereich der islamischen Theologie
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werden. Eine rationale, zeitgemäße und dennoch authentische Auffassung der theologischen Inhalte soll in einem entsprechenden fachübergreifenden Lehrplan manifestiert werden. Die fünf Säulen des Islam (arkan al-Islam) werden im Rahmen der islamischen Theologie als Praktizierung der sechs Glaubenssäulen (arkan al-Iman) in Wort und Tat interpretiert, und somit ist dieser Teil der ʿIbadat mit der christlichen praktischen Theologie vergleichbar. Als Lehrangebote werden in islamischen Universitäten, wie u. a. in der Al-Azhar-Universität in Kairo, als Hauptkomponente der ʿAqida-Abteilung folgende Themen angeboten: Neben dogmatischer Theologie (ʿIlm al-kalam), Philosophie und Mystik (Tasawwuf ) werden weitere Islamwissenschaften wie Koranexegese (Tafsir), islamisches Recht (Fiqh), komparatives Recht, Methodologie des islamischen Rechts, Hadithwissenschaften, Koranwissenschaften, Heilsgeschichte, Biographie des Propheten Muhammad (Sira), Rhetorik, islamische und europäische Philosophie, Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie in verschiedenen Studiumsstufen angeboten. Festzuhalten ist, dass die islamische Theologie im fachspezifischen Sinne mit der christlichen Fundamentaltheologie vergleichbar ist. Die islamische Theologie umfasst als ein Fachbereich alle relevanten Lehrangebote, die unter der Bezeichnung „Islamwissenschaften“ geführt werden können. Drei Gründe führten immer, zusammen oder einzeln, zur Entstehung oder Verbreitung des Sufismus in der islamischen Geistesgeschichte: – Extremer theologischer Formalismus – Extremer theologischer Rationalismus – Extremer Materialismus bzw. Opportunismus. Mystik bzw. Mystizismus war immer eine natürliche Reaktion auf solchen Extremismus. Wie wir in dieser Abhandlung gesehen haben, war die Mystik nicht immer frei von extremen Weltanschauungen, welche die religiösen Toleranzgrenzen überschritten haben. Insbesondere im 1. islamischen Jahrhundert ging die erste einfache Form der islamischen Mystik im Wesentlichen von Koran und Sunna aus. Damals hat man noch nicht von „Mystik“, sondern von „Askese“ gesprochen. Erst nach der Öffnung der islamischen Kultur in Richtung fremdes Kulturerbe, sei es griechisches oder persisches, fanden fremde Elemente den Weg in diesen Bereich und haben nach und nach, insbesondere bei Hallaj, Suhrawardi, Ibn ʿArabi und Jili, fast die Oberhand gewonnen. Auch bei den heutigen Sufi-Bewegungen in einigen islamischen Ländern, wie z. B. bei der Al-Burhamiya im Sudan, relativ wenig verbreitet auch in Ägypten, finden wir theopanistische Vorstellungen. Die meisten heutigen Sufi-Bewegungen sind jedoch
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
weit entfernt von komplizierten metaphysischen Theorien. Sie streben lediglich eine neue Art von Erziehung bei ihren Mitgliedern an, die sich vielmehr auf den Alltag konzentriert als auf abstrakte Theorien. Sie versuchen, mit anderen Worten, eine alternative Pädagogik anzubieten, welche die Seele des Menschen in das Zentrum ihrer Aktivitäten stellt. Je mehr die Seele bzw. der Geist des Menschen im Vordergrund steht, desto mehr rücken die Formen und die Gesetzlichkeiten der verschiedenen Religionen in den Hintergrund, und damit reduziert sich die Rolle der einzelnen Religionen lediglich darauf, ein Heilsweg zu dem einen einzigen Gott zu sein. Der erhobene Anspruch der jeweiligen Religion, der einzige Heilsweg zu sein, entfällt dadurch unweigerlich, und es wird somit der Weg für den interreligiösen Dialog geebnet. Dialog und Einheit der Religionen sind grundverschieden. Dass die Mystiker für die Einheit der Religionen eingetreten sind, wurde ihnen zum Verhängnis. Der Islam versteht sich zwar als der abschließende, also nicht als der einzige Heilsweg. Und daher kommt sein oft wiederholter Aufruf zum Dialog mit Andersgläubigen.115 Mit einer Einheitsreligion, die fremde heidnische Elemente beinhaltet, will er nicht in Verbindung gebracht werden. Die Dialogfähigkeit des Islam wird u. a. in folgenden drei Koranstellen aufgezeigt: Sure 2:285: Der Gesandte Gottes glaubt an das, was von seinem Herrn als Offenbarung herab gesandt worden ist, und mit ihm die Gläubigen. Alle glauben an Gott, seine Engel, seine Schriften und seine Gesandten. Wir machen keinen Unterschied zwischen seinen Gesandten, und sie (die Gläubigen) sagen: Wir hören und gehorchen, schenke uns Deine Vergebung, O Herr, zu Dir werden wir alle (schließlich) kommen.
Sure 3:64: Ihr, Schriftbesitzer! Kommt her zu einem ausgleichenden Wort zwischen uns, dass wir Gott allein dienen und Ihm nichts beigesellen, und dass wir uns nicht untereinander an Gottes statt zu Herrn nehmen, wenn sie sich aber abwenden, dann sagt: bezeugt, dass wir Gott ergeben sind.
115 Siehe u. a. Sure 2:285, 3:64, 49:13.
3.3 Bemerkungen zum Gottesbild im Islam
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Sure 49:13: Ihr Menschen, wir haben euch gleichsam von einem männlichen und einem weiblichen Lebewesen geschaffen, und wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch untereinander im Guten kennt (kooperiert). Der Nobelste unter euch bei Gott ist der Frömmste (derjenige, der Gott bei seinen Handlungen am meisten erfürchtet).
Nun ist die Frage berechtigt, inwieweit auch andere Religionen, ob monotheistische oder andere, bereit sind, dem Islam die gleiche Anerkennung und Toleranz entgegen zu bringen, die er selbst bereits seit über vierzehn Jahrhunderten immer wieder anbietet. In Anbetracht der heute zunehmenden Materialisierung und Pragmatisierung des Lebens in fast allen Bereichen sowie der immer mehr zur Gewalt tendierenden Moral bzw. Entmoralisierung der modernen Erziehung und nicht zuletzt der kulturellen Globalisierung mit allen ihren positiven und negativen Aspekten, könnte ich mir eine Reaktion vorstellen, welche die Menschheit zur Besinnung zurückführt und welche die beinahe verschwundene menschliche Ethik und die menschlichen Werte wieder ins Leben ruft. Diese Reaktion könnte sehr gut eine mystische sein. Vielleicht, wenn wir mit viel Optimismus ins nächste Jahrtausend blicken, könnte die Mystik in verschiedenen Bereichen des Lebens an Boden gewinnen. Aber wie stark und wie schnell dies geschehen würde, kann man, meines Erachtens, anhand des Erzfeindes der Mystik, der Wirtschaft bzw. der Politik, messen. Je mehr Wirtschaft und Politik an Boden gewinnen, desto weniger Raum bleibt für innere Werte und mystische Lebensanschauung in der Gesellschaft. Die Wiederentdeckung der inneren Werte wird einem Menschen erst möglich, wenn ihm klar wird, dass er selbst Opfer seiner eigenen materiellen Habgier geworden ist. Er wird dann zu der Überzeugung gelangen, dass seine Habgier endlos und sein Leben sinnlos geworden ist. Den ihm inzwischen verloren gegangenen eigentlichen Sinn des Lebens wird er vielleicht nur in der Mystik finden können.
3.3 Bemerkungen zum Gottesbild im Islam
Würde man den Titel dieses Beitrags wortwörtlich nehmen, würde man frontal gegen das islamische Gottesverständnis stoßen. Denn diese Formulierung impliziert die Feststellung, dass Gott ein Bild hat, also bildlich vorstellbar ist. Und gerade diese Vorstellung von Gott lehnt der Islam kategorisch ab.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
Die Transzendenz bzw. Unvergleichbarkeit Gottes wurde im Koran116 manifestiert. Dort heißt es: Er ist der Schöpfer der Himmel und der Erde. Er hat euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen, auch für das Vieh hat Er aus seiner Art weibliche Tiere erschaffen, so lässt Er euch vermehren. Nichts ist Ihm gleich. Er ist Der Allhörende und Der Allsehende.
3.3.1 Das Problem der Gottesattribute
Nicht die Beweisbarkeit der Existenz Gottes bzw. die Gottesbeweise hat die muslimischen Gelehrten in der ersten und der zweiten Generationen beschäftigt, sondern vielmehr das Problem der Beschaffenheit Gottes. Gottes Existenz war für die Muslime so evident wie ihre eigene Existenz. Später, nachdem sie sich mit deren Kulturen darüber auseinandersetzen müssen, wie Gott beschaffen sei, wurde sie die größte theologische Frage und interne Herausforderung. Methodisch kann man in diesem Diskurs zwischen drei Arten der Herangehensweise unterscheiden: Eine textuelle (traditionelle), eine rationale und eine intuitive bzw. mystische. Jeder Versuch, Gott beschreibbar zu machen, wurde von traditionellen Muslimen vorab als Anthropomorphismus zurückgewiesen. Dabei bildet das Problem der Gotteseigenschaften den Kern der islamischen spekulativen Theologie. Dort handelt es sich um Eigenschaften, welche sich Gott selbst in vielen Koranversen zugeschrieben hat. Konkret wird in manchen Koranversen vom Antlitz gesprochen.117An der letztgenannten Koranstelle heißt es: „Alles, was auf der Erde existiert, ist vergänglich. (Aber einzig und allein) das Antlitz deines Herren, Dem Erhabenheit und Huld gehören, ist unvergänglich“118. Dass Gott eine Hand hat, wird auch an mehreren Koranstellen erwähnt.119 In einem Koranvers heißt es: „Diejenigen, die dir (dem Propheten Muhammad) Treue schwören, schwören Gott Treue. Die Hand Gottes steht über ihren Händen (als Zeichen der Zustimmung und Unterstützung)“. Und dass Gott Augen hat, wird ebenfalls an mehreren koranischen Stellen bestätigt.120 Im Zusammenhang mit dem Propheten Moses und seiner Mutter, die an 116 U. a. in Sure 42:11. 117 U. a. in Sure 2:272; 13:22; 55:26–27. 118 Sure 55: 26-27 119 U. a. Sure 3:73; 5:64; 48:10. 120 U. a. Sure 11:37; 20:39; 23:27; 52:48; 54:14.
3.3 Bemerkungen zum Gottesbild im Islam
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dieser Stelle eine göttliche Offenbarung darüber erhält, wie sie ihren Sohn Moses vor dem Tod durch die Soldaten des Pharaos beschützen kann, lesen wir in Sure 20:37–39 Folgendes: Und Wir haben dir (Moses) ein anderes Mal Gnade erwiesen. Als Wir deiner Mutter eingaben: Lege ihn in einen Kasten und wirf ihn in den Fluss, der ihn ans Ufer treiben wird. Dort wird ihn jemand aufnehmen, der Mein und sein Feind ist. Da habe ich dir Meine Liebe erwiesen und damit du unter meinen Augen heranwächst.
Solche Koranstellen liegen augenscheinlich dem Anthropomorphismus sehr nahe, wie es in der Tat zur Entstehung einer solchen Denkrichtung im 9. Jahrhundert führte. Ein muslimischer Theologe namens Hischam Ibn Al-Hakam verstand diese Aussagen als Hinweise darauf, dass Gott Sinnesorgane ähnlich jenen des Menschen besäße, aber in überdimensionaler Größe, die für uns Menschen unvorstellbar ist. Die anderen muslimischen Denkrichtungen, nämlich die Muʿtazilten (die Rationalisten oder Freidenker), Aschʿariten, Maturiditen, Traditionalisten (später Salafisten genannt) und Mystiker wiesen diese anthropomorphistische Vorstellung als unannehmbare Personifizierung Gottes zurück. Die oben genannten Denkrichtungen mit Ausnahme jener der Traditionalisten, die jegliche Spekulationen darüber als Unsinn betrachtet haben, haben die im Koran erwähnten Sinnesorgane Gottes allegorisch interpretiert. Demnach ist das Antlitz Gottes ein Ausdruck seiner Existenz, seine Hände drücken seine Macht aus und seine Augen sind stellvertretend für sein Wissen. In der Spekulation über die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erklärung der im Koran erwähnten Eigenschaften Gottes, insbesondere derjenigen Eigenschaften, die auf Sinnesorgane hinweisen, vertraten die Traditionalisten die Meinung, dass dieses Unterfangen weder notwendig noch für den menschlichen Verstand möglich ist. Für die Muʿtazilten war dieses sowohl möglich als auch notwendig. Die Aschʿariten hielten einen solchen Versuch für durchaus sinnvoll, dieser übersteige aber die Kapazität des menschlichen Verstandes. Beachtenswert ist die Einstellung der islamischen Mystik zu dieser Problematik. Stellvertretend sei hier der größte muslimische Denker und Mystiker Abu Hamid Al-Ghazali (gest. 505 n. H./1111 n .Chr.) genannt, der damals der islamischen Philosophie einen vernichtenden Schlag bescherte; er war der Meinung, dass das Begreifen der schwer definierbaren Gotteseigenschaften wohl notwendig und möglich ist, die evidente Erkenntnis darüber ist dennoch nicht artikulierbar. Es handelt sich hierbei um eine intuitive Erkenntnis, die man von Gott nach bestimmten seelischen Übungen (systematisch geführte Bittgebete und Meditationen) als Geschenk erhält.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
Die Traditionalisten hielten am Wortlaut des Textes ohne Wenn und Aber fest. Sie nehmen den Inhalt des Textes unkritisch hin und stellen nie die Frage nach Grund und Sinn der jeweiligen koranischen Aussage. Die Frage nach dem „Wie“ betrachten sie als Ketzerei und menschliche Anmaßung. Für die Aschʿariten als gemäßigte Traditionalisten war der Koran, so wie für die Traditionalisten (Textuellen), das nicht erschaffene Wort Gottes. Sie unterschieden zwischen seelischem bzw. wesensartigem Sprechen auf der einen Seite und dem sogenannten organischen Sprechen auf der anderen Seite. Der Koran ist in seiner Urform als Gottes Wort ewig und demnach mit dem Wesen Gottes identisch. Der Koran als Offenbarungsbuch besteht aus Buchstaben und demnach ist er in der Zeit erschaffen. Für die Muʿtazilten ist alles rational begründbar, und demnach kann der Koran nie etwas Irrationales bzw. Sinnloses enthalten. Der Koran als Worte Gottes ist durch die Offenbarung in der Zeit entstanden. Er ist also das erschaffene Wort Gottes. Die Muʿtaziliten vertraten und verteidigten dieses Dogma so vehement, dass sie gegenüber allen ihren Gegnern ausgesprochen intolerant waren und sie politisch verfolgten, als sie im 8. und 9. Jahrhundert politisch mächtig waren. Wie sich Gott selbst beschreibt, finden wir u. a. in einem der längsten Koranverse (2:255); dort lesen wir: Allah ist der, der allein die Gottheit besitzt, Er ist der ewig Lebende (Unsterblich) und über alles Waltende. Ihn überfällt weder Schlummer noch Schlaf. Ihm allein gehört alles, was in den Himmeln und auf Erden ist. Wer ist es, der bei Ihm eine Fürsprache erbitten dürfte, wenn nicht mit Seiner Genehmigung? Er weiß, was war und was sein wird. Niemand erhält etwas von Gottes Wissen, es sei denn, Gott hat es gewollt. Sein Thron (arab. Kursi = Allmacht) umfasst die Himmel und die Erde. Ihm fällt es nicht schwer, sie zu versorgen, ist Er doch der Höchste und der Mächtigste.
Der darauffolgende Vers ist der von Muslimen meist zitierter Koranvers in den Dialogveranstaltungen: „Es soll keinen Zwang in den Glaubensangelegenheiten geben“ (256). Die muslimischen Theologen unterscheiden zwischen zwei Arten von Gotteseigenschaften, zum einen fünf sogenannte Wesenseigenschaften: Leben, Macht, Wille, Wissen und Weisheit; und zum anderen viele sogenannte Tateneigenschaften: u. a. sehend, hörend, Leben spendend, sterben lassend. Die Wesenseigenschaften waren nie Gegenstand heftiger theologischer Diskussionen. Es gab dennoch eine weitere Eigenschaft, über deren Qualifikation als Wesenseigenschaft oder Tateneigenschaft sich die Theologen nicht einigen konnten und die dadurch für heftige Diskussion mit politischen Konsequenzen sorgte. Es handelt sich
3.3 Bemerkungen zum Gottesbild im Islam
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um die Eigenschaft Gottes als „sprechend“. Denn das Sprechen ist normalerweise eine Handlung, welche in der Zeit entsteht und endet und Bewegung erfordert. Dies alles aber kann man Gott nicht als Wesenseigenschaft zuschreiben, denn dies würde bedeuten, dass das Wesen Gottes veränderlich ist, mal sprechend und mal schweigend. Und das stößt frontal gegen das islamische Verständnis vom göttlichen Wesen, das so ewig, unveränderlich und höchst transzendent ist. Wie soll Gott mit Moses gesprochen haben?121 3.3.2 Zurück zum reinen Monotheismus
In einer der kürzesten Koransuren (Sure 112) lesen wir eine weitere Selbstdarstellung Gottes: „Sprich, Er ist Gott, der Einzige, Gott, der allein Anzuflehende; weder zeugt Er noch ist Er gezeugt worden, Ihm gleicht niemand“. Dass es keine zwei Götter geben kann, betont der Koran an mehreren Stellen, u. a. in Sure 16:51: Gott sagte „Dienet nicht zwei Göttern! Es gibt nur einen Gott. Ehrfürchtet Mich allein“. Und in Sure 21:22 heißt es: Wenn über die Himmel und die Erde außer dem einen Gott weitere Götter geben (herrschen) würden, gingen sie (Himmel und Erde) bestimmt zugrunde. Erhaben sei Gott, der Herr aller Welten (des Throns) über alles, was diese Menschen erlügen.
3.3.3 Bilderverbot und Monotheismus
Das Bilderverbot gehört, wie einige Arten der Musik, des Schauspiels und der Bildhauerei, zu den höchst problematischen innerislamisch diskutierten Fragen. Dieses Verbot, das ausschließlich als Vorbeugungsmaßnahme gegen den Verfall in Götzendienerei zu verstehen ist, beschränkte sich vom Anfang an auf Lebewesen, wie Menschen, Tiere oder Engel. 3.3.4 Islamische und christliche Problemfelder
Meine Offenheit bei meiner Ausführung darf in keiner Weise als eine absichtliche Verletzung Ihrer religiösen Gefühle verstanden werden. Noch weniger maße ich mir an, Ihnen erklären zu wollen, wie Sie Ihre eigene Religion verstehen sollen. 121 Siehe Sure 2:253; 4:164; 7:143.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
Das monotheistische Selbstverständlich sowie das Gotteswort-Verständnis im Islam und dem gegenüberstehend das Verständnis im Christentum stellen, meines Erachtens, eine der größten Schwierigkeiten auf dem Wege des christlich-muslimischen Dialogs dar. Die christliche Trinitätslehre, will man sie wörtlich auffassen, steht einem strengst aufgefassten islamischen Monotheismus als totaler Gegensatz gegenüber. Das Gotteswort-Verständnis im Islam als Gotteswille, den ein Muslim ausschließlich durch das Gotteswort „sei“ identifiziert, steht einem fleischgewordenen Gotteswort, sprich der Inkarnation, im Christentum ebenso als totaler Gegensatz gegenüber. Drei Fragen müssen einleitend gestellt werden, um eine Überbrückung dieses Hindernisses zu erreichen: 1. Schließt die Trinitätslehre jede Art von Tritheismus, Drei-Gottheits-Glaube, aus? 2. Inwieweit kann man die Dreifaltigkeit ausschließlich als Erscheinungsformen des einen einzigen Gottes betrachten? 3. Inwieweit könnte man die Inkarnation ausschließlich metaphysisch interpretieren? Der innerchristliche Streit über die Natur Christi, der durch das Konzil von Nicäa 325 n. Chr. seinen Anfang genommen hat und dann 385 und 425 in Konstantinopel fortgesetzt wurde, ist jedem Fachkundigen bekannt und muss nicht hier ausgeführt werden. Dieser Streit hat die erste Teilung der Mutterkirche eingeleitet, und als direkte Folge dieses innerchristlichen theologischen Streits gab es drei voneinander unabhängige Kirchen, die Nestorianische, Jakobinische (Monophisten) und die römische Königskirche. Hans Küng verweist hierzu in seinem Buch „Christentum und Weltreligionen“122 auf den hellenistischen Einfluss als Auslöser dieses schicksalhaften theologischen Diskurses. Festzuhalten ist die Tatsache, dass die Auffassung von der göttlichen Natur Christi bei dieser Diskussion sehr stark relativiert wurde. Ebenso ist es bemerkenswert, dass die Anhänger Nestorius’ eine Auffassung vertraten, die mit der islamischen vergleichbar ist, nämlich, dass Jesus Christus ein Gottesgesandter und Prophet war. Nach islamischer Auffassung verkündeten alle Propheten von Abraham über Moses und Jesus und schließlich Muhammad ein und dieselbe Botschaft, nämlich allein dem einen einzigen Gott zu dienen. Dieser Gott ist, nach islamischem Verständnis, in keiner Weise für die Menschen wahrnehmbar. Er ist auch unvergleichlich transzendent und demzufolge kann er in keinem seiner Geschöpfe inkarniert werden. 122 Siehe den ersten Abschnitt des oben genannten Buchs Küng, Hans a. u.: Christentum und Islam.
3.3 Bemerkungen zum Gottesbild im Islam
127
Nach diesem monotheistischen Verständnis steht der Islam dem Judentum viel näher als dem Christentum. Im Koran wurden Juden und Christen dennoch im Allgemeinen nicht als „Ungläubige“, sondern vielmehr als „Schriftbesitzer = ahl al-kitab“ bezeichnet und als solche angesprochen. Vier Koranverse in der 5. Sure „Al-Ma’ida = Die Maltafel“, Vers 72–75, tauchen sehr oft bei jeder theologischen Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Christen auf und sogen für Missstimmung: Ungläubig sind diejenigen, die sagen, Gott sei Jesus Christus, Marias Sohn. Was Jesus Christus sagte, war aber: „Oh Ihr Kinder Israel, dienet Gott, meinem und eurem Herrn! Wer Gott andere Gottheiten beigesellt, dem hat Gott das Paradies verboten. Ungläubig sind diejenigen, die sagen: Gott sei der dritte von drei Gottheiten. Es gibt nur einen einzigen Gott. Sie (die Christen) sollen doch reuevoll zu Gott zurückfinden und Ihn um Vergebung bitten. Gott ist voller Vergebung und Barmherzigkeit. Jesus Christus war nichts anderes als ein Gesandter, dem andere Gesandten vorausgegangen sind. Seine Mutter hat sich der Wahrheit (Keuschheit und Treue) verschrieben. Sie beide waren Menschen, die wie alle andere Nahrung zum Leben zu sich nahmen. Sieh, wie wir ihnen die Beweise klar darlegen und sieh, wie sie von der Wahrheit abgebracht werden123.
Jesus Christus und seine Mutter genießen bekanntlich einen sehr hohen Rang im Koran. Die Geburt Jesu Christi ohne Vater, weshalb er immer Jesus Christus, der Maria Sohn, genannt wird, wird als ein Wunder und Zeichen Gottes geehrt und mit der Schöpfung Adams durch Gottes Wort „Sei“ gleichgestellt. Würde das Trinitätsbekenntnis lediglich im übertragenem Sinne als Erscheinungsformen des einen einzigen transzendenten Gott verstanden werden, mit anderen Worten, die Natur Christi relativieren, so würde der Vorwurf von der islamischen Seite gegen die Christen, sie seien Ungläubige, hinfällig werden. Das Wort „Islam“ bedeutet, wie Sie alle wissen, die völlige Hingabe des Menschen in den Willen Gottes und gerade dies war der Kern aller monotheistischen Verkündigungen. So verstanden umfasst der Begriff „Islam“ alle monotheistischen Religionen ohne jegliche Art der Vereinnahmung seitens des historischen Islam als das dritte Glied in der monotheistischen Kette. Der Islam sieht sich nach dem eigenen Selbstverständnis, das durch diesen authentischen Hadith unmissverständlich dargelegt wird, ausschließlich als eine ergänzende 123 Sure 5: 72–76.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
und vervollständige und keineswegs als eine die vorangegangenen monotheistischen Religionen aufhebende Religion. Die vorangegangenen monotheistischen Religionen werden demnach nicht nur toleriert oder gar respektiert, sondern als unabdingbare Bausteine der eigenen Religion gesehen. Die absolute Transzendenz Gottes im Islam entspricht dem jüdischen Verständnis. Diese Transzendenz wird durch das Trinitätsverständnis im Christentum getrübt und sorgte damit für entsprechend getrübten theologischen Streit, der in der Vergangenheit für politische Machtinteressen missbraucht wurde. Theologische Differenzen dürfen auf gar keinen Fall politisch instrumentalisiert werden. Wir müssen uns vom Streit zu einem konstruktiven Wettstreit weiterentwickeln. Nur so werden wir den eigentlichen Sinn der gottgewollten religiösen Vielfalt verstehen. Der Koran hebt diesen Sinn im folgenden Vers hervor: Jedem Volk haben Wir einen geraden Weg und eine Glaubensrichtung zugewiesen. Wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Glaubensgemeinschaft gemacht. Er wollte euch doch durch das prüfen, was Er euch herabgesandt hat. Also wetteifert miteinander, gute Werke zu vollbringen. Ihr werdet alle am Jüngsten Tag zu Gott zurückkehren und Er wird euch über eure Streitereien entscheiden.124
3.4 Zum Begriff „Unglaube“ bzw. „ungläubig“ – Zwischen koranischer Konzeption und christlicher Definition 3.4.1 Allgemeine Definition
Der Begriff „Unglaube“ wird an erster Stelle als ein theologischer Fachbegriff verwendet und verstanden, obgleich er, wenn auch selten, gemäß seiner linguistischen Definition neutral verwendet wird. Nach dem Duden bedeutet Unglaube: „Fehlender Glaube an etwas bzw. an der Richtigkeit einer Sache, zum Beispiel an Gott“. Der Duden stellt Unglaube als sinnverwandt mit Atheismus, Gottlosigkeit, Ungläubigkeit und Zweifel dar.125 „Ungläubig“ bedeutet ebenso dem Duden zufolge: „Nicht an Gott glaubend“,126 und dieser Begriff wäre demnach mit Begriffen wie „atheistisch“, „gottleugnerisch“, „gottlos“ und „heidnisch“ sinnverwandt. Weitere Ableitungen vom Hauptbegriff „Unglaube“ wie u. a. „unglaublich“ und „unglaubwürdig“ sind für unser 124 Sure 5:48. 125 Siehe die Definition des Begriffs „Unglaube“ im Duden, Bedeutungswörterbuch, Bd. 10, 1985. 126 Ibd.
3.4 Zum Begriff „Unglaube“ bzw. „ungläubig“ – Zwischen koranischer Konzeption und christlicher Definition
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Thema irrelevant, und daher werden sie in diesem Zusammenhang nicht ausgeführt. Wie wir eben gesehen haben, fließt die theologische Dimension in die philologische Definition ein und weist darauf hin, dass dieser Begriff an der ersten Stelle einen theologischen Fachbegriff darstellt. Der Unglaube wird noch deutlicher durch die Definition der positiven Form, nämlich „Glaube“ folgendermaßen definiert127: Der christliche Glaube ist die innere Gewissheit, dass der Mensch in der Lehre und Person Jesu Christi der geschichtlichen Offenbarung begegnet. Im Anschluss an Paulus128 ist der Glaube nicht nur Bejahung der göttlichen Offenbarung, sondern die Grundhaltung des neuen Lebens in Christus.
Wer also diesen Glauben nicht teilt, ist ein Ungläubiger. 3.4.2 Unglaube im Christentum
Nach Karl Hörmann129 ist „Unglaube im christlichen Verständnis das gänzlich Nichtleisten des Glaubens an den in Jesus Christus sich offenbarenden Gott“. Hörmann spricht zum einen von „positivem Unglauben“, nämlich der Ablehnung des gesamten Heilswirken Gottes in Christus, oder in noch radikalerer Form: die Ablehnung Gottes überhaupt. Hörmann erklärt dies folgendermaßen: Ein Ansatz zum positiven Unglauben steckt schon im Verhalten dessen, der trotz erkannter Pflicht und trotz Gelegenheit es versäumt, sich die Kenntnis des Glaubensinhaltes zu verschaffen und ihm zuzustimmen (privater Unglaube).
Davon unterscheidet er den „negativen Unglauben“ nämlich desjenigen, dessen Glaube an Christus nicht geweckt wurde, weil der Mensch, so Hörmann, „die Botschaft des Evangeliums noch nicht vernommen hat.“130 Der Unglaube wird im Neuen Testament unmissverständlich als Grundsünde bezeichnet und die Ungläubigen werden am Tage des Jüngsten Gerichtes zur Verdammnis verurteilt: „Wer nicht glaubt, wird verdammt werden“131. Von einer ungläubigen Stadt sagt Jesus: „Dem Lande Sodom und Gomorra wird es am Tage des 127 Dtv-Lexikon, München 1976. 128 Gal 3; Röm 3,4. 129 Lexikon der christlichen Moral, LChM, 1969, Sp. 1257–1260. 130 Ibd. 131 Siehe Joh 9,41; 15,22 u. 24.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
Gerichtes erträglicher ergehen als jener Stadt.“132 „Dem Ungläubigen droht der zweite Tod.“133 3.4.3 Die koranische Konzeption des Begriffs „Unglaube“
Nach dem koranischen Kontext wird es den Kuffar – den Andersgläubigen – am Tage des Gerichtes nicht viel besser ergehen, als es im Neuen Testament angedroht wird. Das deutsche Wort „Unglaube“ wird automatisch mit dem arabischen Wort „Kufr“ eins zu eins gleichgestellt. Und demzufolge wird die davon abgeleitete Personalform „kafir“ ebenso falsch durch das deutsche Wort „ungläubig“ wiedergegeben. Die oben ausgeführten Definitionen der beiden Begriffe „Unglaube“ und „ungläubig“ zeigen, dass diese beiden Begriffe in der deutschen Sprache u. a. mit den Begriffen „Atheismus“ und „Gottlosigkeit“ sinnverwandt sind. Mit anderen Worten: Das lateinische Wort „Atheismus“ wurde im Deutschen durch „Unglaube“ und „Gottlosigkeit“ bzw. in adjektivischer Form als „ungläubig“ und „gottlos“ wiedergegeben. Wie richtig diese Übersetzung sein mag, kann eher ein Germanist feststellen. Aber dies dann als eine Übersetzung für die arabischen Begriffe „Kufr“ bzw. „kafir“ zu betrachten, ist nicht richtig. Im bekannten arabische Lexikon „Mukhtar as-sihah“ von Imam Muhammad b. Abi Bakr Ar-Razi (gest. ungefähr 666 n. H./1268 n. Chr.) wird „kufr“ philologisch als „Undankbarkeit“ („juhud an-niʿma“), also als Gegensatz zu „Dankbarkeit“ („schukr an-niʿma“) definiert. Weiter bedeutet das Wort „kafara“, einen Gegenstand zu verstecken oder eine klare Sache bzw. Wahrheit zu leugnen. Dies besagt, dass die Wurzel dieses Worts eher einen sozialen Ursprung aufweist, der später eine theologische Dimension angenommen hat.134 Auch in der arabischen Sprache stellt die theologische Dimension des Begriffs „Kufr“ einen Teil der philologischen Definition desselben dar, wie es in der deutschen Sprache der Fall ist. Das Problem liegt aber nicht in der philologischen, sondern in der terminologischen Definition. Denn „Kufr“ stellt im koranischen Kontext eine „Religion“ bzw. einen „Glauben“, also eben nicht einen „Unglauben“ dar, und er muss demnach als eine Bezeichnung für alle nichtislamischen Religionen verstanden werden. Alle diejenigen, die sich nicht zum Islam bekennen, werden als „Kuffar“ bzw. „kafirun“ im Sinne von „Andersgläubige“ und eben nicht als „Ungläubige“ bezeichnet. 132 Mt 10,15; vgl. Lk 10,10–16. 133 Offb 21,8. 134 Siehe Sure 48:28; 99:17.
3.4 Zum Begriff „Unglaube“ bzw. „ungläubig“ – Zwischen koranischer Konzeption und christlicher Definition
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Ein Ungläubiger ist, aus islamischer Sicht, ein Atheist (mulhid) und damit ein Mensch, der die Existenz der Gottheit grundsätzlich leugnet. Demzufolge schließt der Begriff „Unglaube“ den arabischen Begriff „kufr“ ein, der die Leugnung einer oder mehrere religiöser Wahrheiten darstellt. Dieses Problem wird dadurch noch komplizierter, dass die deutschen Übersetzungen einschließlich solcher, die durch muslimische Personen oder Organisationen herausgegeben wurden, diesen Hintergrund nicht erkannt haben. Sie verwendeten weiter die gängige falsche Übersetzung für „Kufr“ bzw. „kafir“ = „Unglaube“ bzw. „Ungläubige“ ohne weitere Nachprüfung. Daher möchte ich meine These am arabischen Originaltext des Koran in einer neuen deutschen Version ausführen. Die kurze Sure 109, die den Titel „Al-kafirun“ trägt und aus sechs Versen besteht, belegt und beschreibt dies ausführlich. Dort heiß es: 1. Sag: O ihr „Kafirun“! 2. Ich diene nicht Dem, Dem ihr dient. 3. Und ihr dient nicht Dem, Dem ich diene. 4. Und ich werde (auch) nicht Dem dienen, Dem ihr gedient habt. 5. Und ihr werdet Dem nicht dienen, Dem ich diene. 6. Euch eure „Religion“ und mir meine „Religion“.135
Rudi Paret übersetzt den letzten Vers (Nr. 6) in seiner bekannten Koranübersetzung136 noch genauer folgendermaßen: „Ihr habt eure Religion und ich die Meine“. Im ersten Vers werden definitiv die „Kafirun“ angesprochen. In den Versen 2 bis 5 wird die Unterscheidung zwischen den Muslimen, hier durch den Propheten Muhammad vertreten, einerseits und den „Kafirun“ andererseits genau dargelegt. Im 6. Vers werden die „Kafirun“ definitiv als Angehörige einer anderen Religion angesprochen und demnach müssen sie folgerichtig als Andersgläubige und nicht als Ungläubige bezeichnet werden. Christen und Juden, die bekanntlich die Prophetie Muhammads und den göttlichen Ursprung des Koran nicht anerkennen, werden im Allgemeinen nicht automatisch als Ungläubige im Sinne von Kuffar, sondern als Ahl al-Kitab (Schriftbesitzer) bezeichnet. Denn der Koran schreibt der Bibel göttlichen Ursprung zu.137 Aber diejenigen Christen, die daran glauben, dass Jesus Christus Gott selbst sei oder daran, 135 Sure 109 136 Stuttgart, Kohlhammer, 1979, S. 438. 137 Siehe Sure 5:43–47.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
dass Gott einer von dreien sei, sind Kuffar (Sure 5:17; 73). Denn dies impliziert aus islamischer Sicht eine Art des Polytheismus und demzufolge werden sie den mekkanischen Polytheisten gleichgestellt (Sure 98:1–5). Dass Ahl al-kitab, Schriftbesitzer bzw. Juden und Christen, hinsichtlich des Glaubens nicht alle gleich sind und es unter ihnen rechtschaffene gläubige Menschen gibt, wird in vielen Koranversen manifestiert. In diesem Zusammenhang lesen wir u. a. in Sure 3:113, nach der Koranübersetzung von Rudi Paret, Folgendes: Sie sind (aber) nicht (alle) gleich. Unter den Leuten der Schrift gibt es auch eine Gemeinschaft, die (andächtig im Gebet) steht, (Leute) die zu gewissen Zeiten der Nacht die Verse (Zeichen) Gottes verlesen und sich dabei niederwerfen. (114) Sie glauben an Gott und den Jüngsten Tag, gebieten, was recht ist, verbieten, was verwerflich ist und wetteifern (im Streben) nach den guten Dingen. Die gehören zu den Rechtschaffenen. (115) Für das, was sie an Gutem tun, werden sie (dereinst) nicht Undank ernten. Und Gott weiß Bescheid über die, die (Ihn) fürchten.
In Sure 2:62 lesen wir, ebenfalls nach R. Paret: Diejenigen, die glauben (d. h. die Muslime) und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Säbier (altpersische Religion), – alle die, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu und sie brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben und sie werden (nach der Abrechnung am Jüngsten Tag) nicht traurig sein.
Der oben erwähnte Koranvers 2:62 stellt alle Religionen auf dieselbe Stufe und nennt drei Grundvoraussetzungen für diese Gleichstellung: 1. Der Glaube an Gott 2. Der Glaube an den Jüngsten Tag 3. Gutes tun. Die religiöse Vielfalt gilt durch den relativ langen Koranvers 5:48 als gottgewollt. Dort lesen wir: Für jeden von euch wurde ein Gesetz und ein deutlicher Weg festgelegt. Und wenn Allah wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber Er wollte euch in dem, was Er euch gegeben hat, prüfen. So wetteifert nach den guten Dingen (Wohltaten). Zu Allah wird euer aller Rückkehr sein. Und dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneinig zu sein pflegtet.
3.4 Zum Begriff „Unglaube“ bzw. „ungläubig“ – Zwischen koranischer Konzeption und christlicher Definition
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Diesem Koranvers könnte man drei Feststellungen entnehmen: 1. Die Vielfalt der Wahrheit. 2. Die Verschiedenheit der Religionen als eine Prüfung für die Menschen, nämlich wie sie mit dieser Verschiedenheit umgehen. 3. Die religiöse Verschiedenheit soll die Menschen dazu veranlassen, um gute Taten zu wetteifern. Der letztgenannte Punkt 3 wird in einem authentischen Hadith nochmal unterstrichen, hier sagt der Prophet Muhammad Folgendes: „Der beste Mensch ist derjenige, der den anderen Menschen am nützlichsten ist.“ Zwei weitere Koranverse unterstreichen die prinzipielle offene interreligiöse Einstellung des Koran gegenüber den Nichtmuslimen sowie die Darlegung der ausschließlichen Aufgabe des Propheten Muhammad. In Sure 10:99 lesen wir Folgendes: „Und wenn dein Herr wollte, würden fürwahr alle die, die auf der Erde sind, gläubig werden. Willst du denn die Menschen zwingen, dass sie gläubig werden?“ Und in Sure 88:21–26 heißt es: (21) So ermahne, denn du bist nur ein Ermahner. (22) Du kannst über sie nicht bestimmen. (23) Wer sich aber von dir abwendet und nicht (an deine Botschaft) glaubt. (24) Über den verhängt Gott (dereinst) die schwerste Strafe. (25) Gewiss, zu Uns ist ihre Rückkehr. (26) Und wir haben hierauf mit ihnen abzurechnen.
Bis dahin ist der theoretische Teil des Problems vollständig geklärt, der die Aufgabe des Propheten Muhammad bzw. aller Muslime und ihre Grenzen gegenüber Nichtmuslimen unmissverständlich definiert. 3.4.4 Wo liegt das Problem mit dem Begriff „Kuffar“?
Grundsätzlich steht es jedem Menschen zu, gläubig zu sein oder nicht. In Sure 2:256 heißt es: In der Religion gibt es keinen Zwang. Der rechte Weg ist nun mehr klar unterschieden von der Verwirrung. Wer also falsche Götter leugnet und an Gott glaubt, der hält sich an der festesten Handhabe, die niemals zerreißt. Und Allah ist Allhörend und Allwissend.
Die Aussagen des Koran sowie die des Propheten Muhammad über die Kuffar sind grundsätzlich negativ. In der islamischen Rechtsliteratur fallen sie noch härter aus.
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Die falsche Übersetzung des Wortes „Kufr“ bzw. „Kuffar“ durch muslimischen Koranübersetzer als „Unglaube“ bzw. „Ungläubige“ verleitet unbewusst zu einer Fehlprojektion der christlichen Definition auf die islamische. Das Problem liegt hauptsächlich darin, dass einige Menschen historisch bedingte Aussagen des Koran verabsolutieren und pauschalieren. Die Koranverse, die dem „Kuffar“ harte Strafen verheißen, beziehen sich entweder auf das Jenseits oder aber auf historisch bedingte kriegerische Auseinandersetzungen mit mekkanische Polytheisten (muschriku Quraisch) in Mekka bzw. sonstigen mit dem Islam verfeindeten Stämmen. Die in diesem Zusammenhang oft zitierten Koranverse in Sure 2:191; 4:91 und 8:12 beziehen sich ausschließlich auf kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und mekkanischen Stämmen sowie römischen Heeren. Dafür führe ich ein Beispiel von vielen Koranversen an, die oft missdeutet und missbraucht werden, um den Islam für immer als eine Kriegsreligion zu brandmarken. Auch hier nehme ich die Koranübersetzung von Rudi Paret und die Koranübersetzung vom Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) als Grundlage für die Sinnübertragung von diesbezüglichen fünf aufeinander folgenden Versen; Sure 2:190–194: (190) Und kämpft um Gottes Willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen (euch angegriffen haben). Aber begeht keine Übertretung (fangt nicht mit dem Angriff an). Gott liebt die nicht, die Übertretung begehen. (191) Und tötet sie, wo immer ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben. Der Versuch zur Irreführung ist schlimmer als Töten. Jedoch kämpft nicht bei der heiligen Kultstätte (von Mekka) gegen sie, solange sie (ihrerseits) dort gegen euch nicht kämpfen. Aber wenn sie dort gegen euch kämpfen, dann tötet sie! Dereinst ist der Lohn der Ungläubigen. (192) Wenn sie jedoch (mit dem Kampf ) aufhören, so ist Gott barmherzig und bereit zu vergeben. (193) Und kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgungsgefahr (fitna) mehr gibt und die Religion (ausschließlich) Gott gilt. Wenn sie aufhören (den Kampf gegen euch beenden), dann sind alle weiteren Übergriffe untersagt, außer gegen diejenigen, die sich ungerecht verhalten (fala ʿudwana illa ʿala azzalimin). (194) Ein Übergriff in einem heiligen Monat wird mit Gleichem vergolten. Verbotenes wird mit Verbotenem vergolten. Wenn nun einer gegen euch Übergriffe (in einem verbotenen Monat) begeht, dann greift ihr ihn im gleichen Maße auch an und fürchtet Gott dabei (d. h. Maß halten). Ihr müsst wissen, dass Gott mit denen ist, die Ihn fürchten (seine Anweisungen halten). (195)
Die unkritische Assoziation des Begriffs „kafir“ bzw. „kuffar“ mit den Koranversen, die zur Tötung der „Kuffar“ aufrufen oder diese zumindest erlauben, ist die Ursache
3.4 Zum Begriff „Unglaube“ bzw. „ungläubig“ – Zwischen koranischer Konzeption und christlicher Definition
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für viele weitere inzwischen festsitzende Missverständnisse und Vorurteile gegenüber dem Islam. Daran tragen muslimische Gelehrte genauso viel Schuld wie eifrige christliche Missionare. Historisch-kritischer Umgang mit dem Koran verlangt ein genaues wertfreies Studieren der Entstehungsgeschichte des Koran unter konsequenter Berücksichtigung der vielfältigen Anlässe der Offenbarung jedes einzelnen Koranverses (asbab annuzul) sowie die vom Propheten Muhammad selbst, seinen Gefährten und muslimischen Theologen festgelegten Grundregeln der Koraninterpretation. Der Geltungsbereich bzw. der Charakter eines Koranverses, d. h. ob er eine allgemeine Gültigkeit genießt oder ob er nur für eine bestimmte Situation bzw. speziell für eine bestimmte Person gilt, muss berücksichtigt werden. Auch das sogenannte Abrogationsprinzip, nachdem eine Aussage durch eine spätere Aussage eingeschränkt oder aufgehoben werden kann, muss in einer historisch-kritischen Behandlung des koranischen Textes berücksichtigt werden. Auch der Kontext, in dem eine Aussage oder ein Wort vorkommt, spielt eine entscheidende Rolle bei der Interpretation des Koran. Zurecht könnte man fragen, ob sich die Muslime strikt an diese koranischen Bestimmungen gegenüber anderen gehalten haben oder nicht. Wie erklärt man die Eroberung nichtmuslimischer Länder durch muslimische Heere im Mittelalter? Hierzu möchte ich einen Beitrag des bekanntesten Orientalisten der Gegenwart heranziehen. Josef van Ess geht in seinem Beitrag im Rahmen des Buches „Christentum und Weltreligionen“138 auf die Problematik der Gewaltanwendung im Islam von seinem Anfang an ein. Darin sagt er über den Umgang des Propheten Muhammad mit Nichtmuslimen Folgendes: […] später hat Muhammad nach einer kriegerischen Auseinandersetzung mit ihnen (einem jüdischen Stamm in Medina) auch die Juden weder umgebracht, noch sie gezwungen auszuwandern oder ihrem Glauben abzuschwören […].
Van Ess schreibt weiter: Der Islam hat die Christen nicht durch Feuer und Schwert bekehrt, sie sind ihm vielmehr in einem jahrhundertelangen Korrosionsprozess durch ihre eigene, ganz menschliche Schwäche anheimgefallen. Der Islam hat sich also nicht durch Mission in unserem Sinne durchgesetzt, vom System her ist er gar nicht darauf ausgerichtet. 138 In: Küng, Hans u.a. (Hrsg.): Christentum und Weltreligionen, München, Piper, 1985, S. 170.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
Weiter schreibt van Ess: Ausnahmen gab es auch in der islamischen Herrschaftsgeschichte, in denen mancher Herrscher versucht hat, den Islam den Anhängern nichtmonotheistischer Religionen aufzuzwingen. Diese Versuche blieben aber erfolglos. Das einzige Beispiel in der islamischen Geschichte ist die Auseinandersetzung des Mahmud von Ghazna um das Jahr 1000 in Indien mit den Hindus. Aber selbst da sind die großen missionarischen Erfolge eher durch friedliche Infiltrationen erzielt worden139.
Festzuhalten ist Folgendes: 1. Der Begriff „kafir“ darf nicht mit „ungläubig“, sondern muss mit „andersgläubig“ übersetzt werden. 2. Ein „Kafir“ ist nicht automatisch ein Feind der Muslime. 3. Das Wetteifern um gute Taten ist der Maßstab der Vorzüglichkeit eines Menschen vor dem anderen. 4. Allein Gott ist der Schiedsrichter zwischen Menschen und Religionen, nicht der Mensch, und dies geschieht schon gar nicht auf dieser Welt. Hierzu möchte ich einen dringlichen Appell an alle Menschen, Muslime und Nichtmuslime, richten, die an einem konstruktiven interreligiösen und interkulturellen Dialog ernsthaft interessiert sind, dass sie ihre Informationen über andere Religionen nur aus authentischen Quellen vorurteilsfrei entnehmen. Auch muslimische Islamwissenschaftler müssen ihre Fachliteratur kritisch betrachten, denn u. a. sind einige der renommierten Koraninterpretationen und die Kommentare dazu nicht immer frei von politischen Einflüssen und religiösen Eifersüchteleien. Diese Literatur muss entsakralisiert werden. Religiöse Eifersüchteleien und kultureller Egozentrismus haben uns bis jetzt nicht und werden uns nie einander näherbringen, sondern eher gegeneinander aufbringen. Genauso schädlich ist die „Friede, Freude, Eierkuchen“-Herangehensweise mit unseren Verschiedenheiten, die nur einen trügerischen religiösen Frieden produzieren kann. Durch grundsätzlichen gegenseitigen Respekt müssen wir aufeinander zugehen und mit Mut, und nicht mit Hochmut, unsere Verschiedenheiten offen ansprechen.
139 Ibd.
3.4 Zum Begriff „Unglaube“ bzw. „ungläubig“ – Zwischen koranischer Konzeption und christlicher Definition
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3.4.5 Apostasie im heutigen innerislamischen Diskurs
Die oft erwähnte Todesstrafe für den Religionswechsel hat weder im Koran noch in der authentischen Sunna eine eindeutige Grundlage, diese gibt es ausschließlich in der islamischen Rechtsliteratur. Hierzu müssen wir zweierlei Aspekte auseinanderhalten, einen persönlichen und einen gesellschaftlichen Aspekt: Beim ersten geht es um einen Wechsel der eigenen Religion aufgrund persönlicher Überzeugung, beim letzten um den Versuch, den gesellschaftlichen Frieden z. B. durch Degradierung oder Beleidigung der ehemaligen Glaubensgenossen zu beeinträchtigen. Bei diesem zweiten Aspekt handelt es sich um eine rein profane und keine theologische Angelegenheit, die nach den geltenden Gesetzen geregelt wird. Auch in diesem Fall wird nicht über eine Todesstrafe debattiert, sondern darüber, ob dies überhaupt als ein strafbarer Akt betrachtet werden darf. Art und Maß einer möglichen Strafe werden in einem Gericht und nicht in einer religiösen Institution bestimmt. Die Diskussion über die Todesstrafe für Apostasie im Islam wurde vor einigen Jahren durch eine Aussage des früheren Großmufti von Ägypten, Scheich Ali Gomaʿa, wieder entfacht, die im Rahmen eines Interviews für die „Golf Nachrichten“ („Akhbar Al-Khaleej“) am 27. Juli 2007 und früher in der „Washington Post“ veröffentlicht wurde. In diesem Interview bestritt der Großmufti die Todesstrafe für Apostasie im Islam.140 Die arabischen und insbesondere die ägyptischen Massenmedien wurden daraufhin mit Pro- und Kontra-Kommentaren überflutet. Der Oberste Imam der Al-Azhar-Moschee, Scheich Ahmad Al-Tayyed, der ägyptische Religionsminister Mahmud Zakzouk, der frühere ägyptische Obermufti Nasr Farid Wasel und Scheich Gamal Qotb, Vorstand des Zentrums für Islamforschung an der Al-Azhar-Universität in Kairo, Amena Nousair, Professorin für Theologie und Philosophie an der Al-Azhar-Universität sowie der marokkanische Denker Abed A-Jabiri unterstützten die Aussage des ägyptischen Obermuftis. Omar Haschim, der ehemalige Rektor der Al-Azhar-Universität, Gamal El-Banna sowie einige andere islamische Religionsgelehrte, wie Scheich Yousef Al-Badri, Mahmud Al-Marakebi und ʿAbd Al-Rahman ’A. Al-Yousef vertraten die Kontrameinung, dass sie die Todesstrafe für Apostasie für islamkonform halten. Bis heute dauert diese Diskussion in unterschiedlicher Schärfe und Seriosität an. Der Koran spricht das Problem der Glaubensfreiheit auf zwei Ebenen an – einer allgemeinen und einer speziellen: 140 Washington Post, 21. Juli 2007.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
a) Bei der allgemeinen Ebene handelt es sich um einen Nichtmuslim, der als solcher geboren ist. b) Bei der speziellen Ebene handelt es sich hingegen um einen Muslim, der zu einer anderen Religion konvertiert. Dies ist die eigentliche Bedeutung der Apostasie. Der Begriff „Glaubensfreiheit“ umfasst alle beiden Ebenen. Der Koran garantiert nicht nur die Glaubensfreiheit, sondern bezeichnet sie als „gottgewollt“141: […] für jeden von euch haben WIR ein Gesetz und einen deutlichen Weg festgelegt. Und wenn Allah wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber (es ist so) damit Er euch in dem, was Er euch gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen. Zu Allah wird euer aller Rückkehr sein, und dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneinig zu sein pflegtet.
Sure 2:256: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der Unterschied zwischen dem richtigen Weg und dem Weg der Verirrung ist deutlich geworden […].
Sure 10:99: Und wenn dein Herr wollte, würden fürwahr alle auf der Erde zusammen gläubig werden. Willst du etwa die Menschen dazu zwingen, gläubig zu werden?
Und in Sure 18:29 heißt es: Sag: Es ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, der soll glauben, und wer (anders) will, der soll ungläubig sein […].
In Sure 42:48 steht Folgendes: Wenn sie sich nun abwenden, so haben wir dich als Hüter über sie gesandt. Dir obliegt nur die Übermittlung (der Botschaft) […].
Sure 88:21–23: So ermahne; Du bist nur ein Ermahner. Du bist nicht ihr Oberherrscher. 141 Siehe u. a. Sure 5:48.
3.5 Das Gesetzesverständnis im Islam
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Was die zweite Ebene dieses Problems, nämlich die sogenannte Apostasie betrifft, so sieht der Koran in keinem Vers eine irdische Strafe für diejenigen vor, die aus dem Islam austreten. Die Todesstrafe, die in mancher islamischen Rechtsliteratur in der Tat existiert, hat der Prophet selbst nie durchgeführt. Diese umstrittene weltliche Strafe wurde aus einem Hadith abgeleitet, dessen historisch-politische Hintergründe nicht berücksichtigt wurden. Dieser Hadith lautet: „Wer seine Religion wechselt, soll getötet werden.“ Zu jener Zeit war der Religionswechsel mit Frontwechseln identisch, da diejenigen, die vom Islam ausgetreten sind, unmittelbar zu den Quraischiten in Mekka (Feinde der neuen Religion, die Muhammad und seine kleine Gemeinde zur Auswanderung aus Mekka nach Medina gezwungen hatten) übergelaufen sind. Hier handelte es sich also um Desertion und nicht um einen bloßen Religionswechsel. Dass diese Strafe weder im Koran noch in der praktischen Sunna des Propheten existiert, können viele muslimische Islamwissenschaftler nachvollziehen. Weder der oberste Imam Scheich Al-Azhar noch der ägyptische Obermufti oder der ägyptische Religionsminister würden eine irdische Strafe für Apostasie befürworten. In der frühislamischen Rechtsliteratur taucht diese Strafe in der Tat auf, weil der Religionswechsel in der ersten Entstehungsphase der islamischen Gemeinschaft Frontenwechsel bedeutete. Also war Apostasie zu jener Zeit mit Desertion verbunden, daher wurde die Strafe durch die Desertion und nicht durch die Abkehr vom Islam begründet. Dass die Todesstrafe dennoch heute manchmal an Apostaten vollzogen wird, sehe ich als politisch motivierten Mord oder als Restposten eines veralteten und religiös nicht begründeten Missverständnisses der eigenen Religion an, dem es durch weitere, intensivere Bildung und Aufklärung entgegenzuwirken gilt.
3.5 Das Gesetzesverständnis im Islam 3.5.1 Theologische und lebenspraktische Bedeutung der Scharia
Der arabische Fachausdruck „Scharia“ hat sich in den letzten Jahrzehnten international durchgesetzt, und zwar im Sinne eines islamischen Rechts bzw. eines islamischen Gesetzes. Diese Auffassung ist, meiner Meinung nach, sehr problematisch. Der Begriff „Scharia“ ist auch im arabischen Sprachgebrauch nicht weniger umstritten. Zum einen bezeichnet er im allgemeinen Sinn die islamische Religion und zum anderen die islamische Rechtsordnung im fachspezifischen Sinne. Ursprünglich bedeutet dieses Wort „ein markierter Weg in der Wüste zu der
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
nächsten Wasserquelle“. In diesem Sinne symbolisiert die Wasserquelle das Ziel und zugleich die Rettung des Menschen vor dem Tod. Die Markierung symbolisiert die Rechtleitung dazu. Wer sich nicht an der Markierung orientiert, wird in der Wüste umherirren und nie zum Ziel kommen. Dass dieser Terminus seine ursprüngliche Form auch in den europäischen Sprachen beibehalten hat, liegt zum einen an der obenerwähnten zweidimensionalen Definition, der allgemeinen und der fachspezifischen, und zum anderen daran, dass sein Inhalt durch keinen geläufigen Rechtsterminus originalgetreu wiedergegeben werden kann. Scharia im fachspezifischen Sinne durch Recht oder Gesetz übersetzen zu wollen, würde den richtigen Inhalt dieses Begriffs verstellen, und ist daher unannehmbar. Auf diese Problematik hat Albrecht Noth in einem Vortrag hingewiesen, den er 1998 an der Al-Azhar-Universität im Rahmen einer Gastprofessur gehalten hat. Scharia mit Gesetz oder Recht zu übersetzen wäre, nach Noth, irreführend. Scharia als islamische Rechtsordnung stellt kein Gesetzbuch dar. Ihr fehlen u. a. die juristische Kodifizierung und die Vereinheitlichung des Urteils bei gleichen Fällen. Die verschiedenen autorisierten Rechtsschulen kommen durch verschiedene Rechtssysteme zu verschiedenen Urteilen über vergleichbare Fälle, und dennoch werden alle diese Urteile als islamkonform betrachtet. Führt diese Situation nicht zu Rechtsunsicherheit? Wie hat man diese Schwierigkeit jahrhundertelang bewältigt? Eine nicht zu leugnende Tatsache ist die, dass in keiner Phase der islamischen Herrschaft in den verschiedensten Ländern und Kulturkreisen ein auf das islamische Rechtssystem zurückzuführendes Rechtschaos festzustellen war. Erklärbar wäre dieser Umstand dadurch, dass die Quellen der islamischen Urteilsfindung zwar methodisch verschieden sind, aber denselben Rahmenbedingungen, die dem Koran und der Sunna innewohnen, unterliegen. Wenn man einen Muslim nach Lösungen für die heutigen gesellschaftlichen Probleme fragen würde, würde man meistens sofort als Antwort bekommen, dass der Islam die absolut richtige Lösung für alle Probleme sei (Al-Islam huwa l-hall). Diese Parole ist im Prinzip eine gut gemeinte und wegweisende Antwort, aber sie kann gleichzeitig genauso gut täuschend sein. Man müsste erst die Frage stellen, inwieweit der Islam von der Natur und Qualität seines Inhalts her einen einheitlichen Gegenstand darstellt und eine zeitmäßige Antwort auf die noch offenen Fragen der Moderne bzw. der Postmoderne bieten kann.
3.5 Das Gesetzesverständnis im Islam
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3.5.2 Komponenten der islamischen Scharia
Der Begriff „Scharia“ wird zum einen im allgemeinen Sinne als Synonym für den Begriff „Islam“ und zum anderen im fachspezifischen Sinne als „islamischer Rechtslehre“ verstanden. Die Scharia besteht in beiden Fällen aus drei Hauptteilen: – Einem verbindlichen und für alle Zeiten gültigen Teil, der verbindliche Anweisungen für den Gottesdienst (ʿIbadat) sowie einige Regelungen der Eheschließung, Scheidung und Erbschaftsverteilung beinhaltet. Im Koran wird dieser Teil als „Muhkamat“ bezeichnet und macht etwa 5 % des gesamten koranischen Inhalts aus. – Einem unverbindlichen, dem Zeit- und Raumfaktor entsprechend veränderbaren Teil, der aktuelle Fragen des Gesellschaftsalltags entsprechend immer wieder neu zu beantworten sucht. Der koranische Ausdruck dafür ist „Mutaschabihat“ und wird neben Geschichten der früheren Propheten und alten Völker auf 95 % des koranischen Inhaltes geschätzt. – Und schließlich aus islamkonformen Rechtsanweisungen, die durch völlig neue gesellschaftliche Gegebenheiten notwendig geworden sind, für die es weder direkte noch indirekte Aussagen in den Primärquellen (dem Koran und der Sunna) gibt. Drei Hauptquellen der islamischen Rechtsfindung, „der islamischen Scharia“, werden parallel zu den oben genannten drei Kategorien erwähnt: der Koran als eine verbale Inspiration, die Sunna als sinngemäße Inspiration und praxisorientierte, inhaltsbezogene Inspiration und schließlich der gesunde Menschenverstand, dessen Produkt „Ijtihad“ genannt wird. Genau genommen ist der gesunde Menschenverstand der Angelpunkt der islamischen Religion. Das gilt im Allgemeinen, um die religiösen Anweisungen zu verstehen, und im Besonderen in der islamischen Rechtsfindung, um immer wieder ein transparentes Rechtsurteil fällen zu können. Konsens (Ijmaʿ) der Rechtsgelehrten sowie der Analogieschluss (Qiyas) bieten zusätzliche Anpassungsmöglichkeiten. Man könnte also von zwei Komponenten der Scharia sprechen, welche verschiedene Naturen und demzufolge verschiedene Geltungsgrade haben: zum einen den Kor an und die Sunna, welche Offenbarungscharakter haben und dementsprechend unwiderruflich gelten, und zum anderen die Rechtsliteratur, welche menschlicher Natur ist, und der dementsprechend eine unverbindlicher Geltungsgrad zugeschrieben wird. Mit anderen Worten: Alle Rechtsurteile, die direkt aus dem Koran und/oder der Sunna abgeleitet werden, sind für uns Muslime verbindlich. Dagegen sind alle ande-
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
ren Rechtsurteile, welche aus Sekundärquellen bzw. aus der Rechtsliteratur abgeleitet wurden, unverbindlich und könnten durch andere zeitgemäße Rechtsliteratur ersetzt werden. 3.5.3 Beispiele aus der Praxis
Schon der zweite Kalif Omar schmiedete seine Rechtsurteile unter konsequenter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Gegebenheiten. Einige verbindliche Anweisungen hob er auf, weil die Voraussetzungen für ihre Umsetzung nicht vorhanden waren. Dies war z. B. bei der Diebstahlstrafe oder der Eheschließung muslimischer Männer mit nichtmuslimischen Frauen der Fall. Der große Imam Schafiʿi (gest. 204 n. H./820 n. Chr.), Gründer der zweitgrößten sunnitischen Rechtschule, lebte und wirkte zuerst im Irak. Dort gründete er seine erste Rechtschule. Später wanderte er nach Ägypten aus und gründete dort seine sogenannte neue Rechtschule, die sich den kulturellen und sozialen Umständen in Ägypten anpasste. Imam Schatibi (gest. 790 n. H./1390 n. Chr.), einer der größten Rechtsgelehrten des islamischen Mittelalters, nahm u. a. diese Beispiele als Referenz für seine berühmte Maqasid-Theorie (Die Zweckmäßigkeit der Scharia). Heute spricht man von der Rechtslehre der Zweckmäßigkeit (Fiqh al-Maqasid). Nach der Maqasid-Rechtslehre wird der Wortlaut der Koran- bzw. Sunnaanweisungen auf die gelebte Wirklichkeit projiziert und zweckmäßig interpretiert. Bis in unsere Zeit wurde diese Art der Urteilsfindung von vielen muslimischen Rechtsgelehrten wie Muhammad Abduh (Ägypten 1905); Ibn ʿAschur (Marokko/Tunis 1973); Muhammad Al-Gazali (Ägypten 1996) und gegenwärtig von ʿAllal al-Fasi (Marokko); Taha Jabir Al-ʿAlwani (Irak); und Yusuf Al-Qaradawi (Ägypten) weiter verwendet. Unzählige ähnliche Beispiele könnte man in diesem Zusammenhang erwähnen – nicht um der Vergangenheit zu huldigen und davon zu träumen, sondern vielmehr um zu zeigen, dass die islamische Rechtslehre ihre Flexibilität und Dynamik nicht erst jetzt unter fremden Zwänge erworben hat bzw. noch erwerben kann. Sie hat seit ihrer Entstehung ihren eigenen Erneuerungsmechanismus, durch den sie sich auf die verschiedenartigen kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen fast 800 Jahre lang einstellen und diese meistern konnte. Weiter unterscheidet man zwischen zwei Arten der islamischen Rechtsquellen: – Primärquellen, nämlich Koran und Sunna einerseits, und – Sekundärquellen, nämlich u. a. Konsens, Analogieschluss, allgemeines Interesse und das Bestmögliche bzw. Gutdünken.
3.5 Das Gesetzesverständnis im Islam
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Dazu kommen zwei Prinzipien, welche im gesamten Prozess der Urteilsfindung berücksichtigt werden müssen: – Abwendung von Nachteilen hat den Vorrang vor dem Erwerb von Vorteilen (dar’ al-mafsada muqaddam ʿala galb al-maslaha). – Abwendung von eigenen Nachteilen darf nicht auf Kosten eines anderen geschehen (la dharara wa la dhirar). Über den Vorzug der Primärquellen herrscht Einigkeit. Dagegen nahmen die Rechtsgelehrten unterschiedliche Positionen gegenüber Sekundärquellen ein. Demzufolge kamen ihre Urteile über vergleichbare Rechtsgegenstände durch die Anwendung verschiedener Methoden der Beweisführung zu unterschiedlichen Rechtsurteilen. Der einzige und wichtigste Faktor dabei war der, dass kein Urteil einer Koran- oder Sunnaaussage widersprechen darf. Im Bereich des sunnitischen Islam, der etwa 90 % der gesamten islamischen Gemeinschaft ausmacht, gibt es vier Hauptrechtsschulen: – Die hanafitische Rechtsschule, gegründet durch den Imam Abu Hanifa AnNuʿman (gest. 150 n. H./770 n. Chr.). – Die malikitische, gegründet durch Malik b. Anas, (gest. 179 n. H./805 n. Chr.). – Die schafiʿitische, gegründet durch M. b. Idr Alshafiʿi (gest. 204 n. H./830 n. Chr.). – Die hanbalitische, gegründet durch Ahmad b. Hanbal (gest. 241 n. H./867 n. Chr.). Die hanafitische Rechtsschule dominiert im Irak, in Syrien, Palästina und in der Türkei. Die malikitische ist hauptsächlich in Nordafrika dominant. Die schafiʿitische ist hauptsächlich in Ägypten und im Sudan verbreitet. Die hanbalitische behält ihren Einfluss bis heute fast nur in Saudi-Arabien. In der ägyptischen Justiz behält seit dem Osmanischen Reich bis heute die hanafitische Rechtschule die Oberhand bei der Rechtsprechung. Kennzeichnend für diese Rechtsschule ist ihre rationale Tendenz bei der Rechtsfindung. Um erneut auf die islamischen Rechtsquellen zurückzukommen, ist zu betonen, dass der Koran und die Sunna im Vordergrund stehen, danach folgt der gesunde Menschenverstand. Dieser dient als Mittel zur Urteilsfindung durch die anderen Sekundärquellen. Der Prophet Muhammad fragte einen seiner Gefährten Muʿaz b. Gabal, nachdem dieser vom Propheten als Oberstrichter für den Jemen ernannt worden war: „Auf welcher Grundlage wirst du unter den Menschen richten?“ Darauf antwortete Muʿaz: „Durch Gottes Buch
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
(Der Koran)“. Da fragte ihn der Prophet wieder: „Wenn du dort keine Lösung findest, was wirst du tun?“ Muʿaz antwortete: „Dann urteile ich entsprechend der Sunna des Gesandten Gottes.“ Der Prophet fragte ihn ein drittes Mal: „Wenn du auch dort keine Lösung findest, was wirst du noch tun?“ Da erwiderte Muʿaz: „Dann werde ich mich auf meinen gesunden Verstand verlassen und dabei keinen Fehler fürchten.“ Der Prophet bekundete seine vollkommene Zufriedenheit mit dieser Antwort und sagte: „Gedankt sei Gott, der den Gesandten des Gesandten Gottes zu dem Recht geleitet hat, was dem Gesandten Gottes Zufriedenheit bereitet.“142
Die verschiedenen Rechtsquellen, insbesondere die Sekundärquellen, ermöglichen den Rechtsgelehrten zeit- und ortsgerechte Urteile zu fällen. Zeitlich bzw. kulturell bedingte, immer wieder in neuer Form erscheinende Probleme können durch diese zusätzlichen Rechtsquellen u. a. durch den Analogieschluss, das Allgemeininteresse und das Bestmögliche aufgefangen und gelöst werden. So gelang es der Scharia 800 Jahre lang unter den verschiedensten sozialen, kulturellen und geographischen Gegebenheiten (von Indonesien bis Spanien) funktionsfähig zu bleiben. 3.5.4 Verbindliche und unverbindliche Anweisungen
Man unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Kategorien der religiösen Anweisungen: – Verbindliche Anweisungen (Gebote und Verbote) – Empfehlungen. Diese werden wiederum in einer fünfstufigen Skala dargestellt: – Geboten (Belohnung bei Ausführung und Bestrafung bei Unterlassung) – Empfohlen (Belohnung bei Ausführung und keine Strafe bei Unterlassung) – Neutral (Weder Belohnung noch Strafe bei Ausführung oder Unterlassung) – Verwerflich (Tadelnswerte, aber straffreie Taten) – Verboten (Bestrafung bei der Ausführung und Belohnung bei Unterlassung). Die Einteilung der religiösen Anweisungen in zwei verschiedene Kategorien entspricht der Einteilung der Koranverse in ebenfalls zwei Kategorien: – Eindeutige verbindliche Koranverse, die einen sehr geringen Anteil der gesamten koranischen Anweisungen ausmachen, und welche die religiösen Verpflichtungen, 142 Prädikat dieses Hadiths ist „Maschhur = Berühmt“ bei Ibn Hanbal, Imam Ahmad; Ad-Darimi; Abu Dawud und At-Tirmizi. Prädikat „Sahih = Authentisch“ bei Ibn Abdal-Barr und Ibn Al-Qayim.
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z. B. die Zahl der Tagesgebete, die Fastenzeit und -dauer, die Armensteuer, Erbschaftsregelungen und die Pilgerfahrtbestimmungen beinhalten. – Vieldeutige Verse, die den allergrößten Teil des gesamten koranischen Inhalts ausmachen. Dieser Teil betrifft hauptsächlich das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft und Berichte über frühere Propheten und Völker und dient als Quelle der lehrreichen Weisheiten und Erfahrungen für die gesamte Menschheit. Unter die eindeutigen bzw. verbindlichen religiösen Anweisungen fallen folgende Themen: – Die fünf Grundsäulen des Islam (das Bekenntnis zur göttlichen Einzigartigkeit und Einheit und der Prophetie Muhammads, die Verrichtung der fünf Gebete am Tag, das Fasten im Monat Ramadan und die Entrichtung der Zakat [Armensteuer] sowie die Pilgerfahrt nach Mekka, falls der Gläubige dazu in der Lage ist). – Die sechs Grundsäulen des Glaubens (der Glaube an Gott, seine Engel, seine Heiligen Schriften, seine Gesandten, den Jüngsten Tag und schließlich [an die] Gottesvorsehung im Guten sowie im Schlechten). – Die ausdrücklichen Gebote und Verbote im Alltagsleben. – Die Regelungen für Familien- und Erbrecht (Ehe, Scheidung und Erbschaftsverteilung = Zivilrecht). Die Mehrdeutigen sind interpretationsfähig und werden hauptsächlich in den Bereichen der – Dogmatik (spekulative Theologie) – Rechtsschulen, und – Koranexegese verwendet. 3.5.5 Grundprinzipien der islamischen Weltanschauung
– Die völlige Identität von Wort und Tat.143 – Gottvertrauen (zwei Arten des Gottvertrauens: Vertrauen des Herzens und Vertrauen des Körpers). Allein das Vertrauen des Herzens, bei dem man sich zweifelfrei auf Gottes Beistand verlässt, stellt keinen Fatalismus dar. Von Fatalismus kann man nur dann sprechen, wenn jemand tatenlos auf Gottesheil wartet. – Wer seine Handlungen auf dieser Welt nach bestem Wissen und Gewissen aus143 Siehe u.a. Sure 61:3.
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3 Islamische Theologie – Begriffsanalyse und Aufgabenbereich
führt, wird Erfolg ernten, ob gläubig oder ungläubig (Gläubige werden zusätzlich dafür im Jenseits belohnt). Koranzitat: „Wir (Gott) belohnen jeden, der seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen verrichtet.“144 – Pluralismus ist die Grundlage der islamischen Konzeption für Politik bzw. das Staatsführungssystem, die Dogmatik und Jurisprudenz. Ansätze dafür finden wir in Sure 42 (Asch-Schura).
3.5.6 Scharia als Gesamtkonzeption der islamischen Religion
Die Scharia im Sinne der gesamten islamischen Religion kann in trigonaler Form folgendermaßen dargestellt werden: – Gott-Mensch: Diese herabsteigende Linie zeigt sich in drei Aspekten: durch die Schöpfung, die Offenbarung und den gesunden menschlichen Verstand. – Mensch-Mensch: diese zweite Linie (Basis des Dreieckes) bezeichnet die Umsetzung des Offenbarungsinhaltes mit Hilfe des gesunden Verstandes im gesellschaftlichen Leben. – Mensch-Gott: die dritte, die hinaufsteigende Linie, bezeichnet den Akt des Gottesdienstes als Zeichen der Dankbarkeit des Menschen gegenüber seinem Schöpfer für seine Rechtleitung. Wie jedes Dreieck seine Form und seinen Sinn verlieren wird, wenn auch nur eine seiner drei Linien fehlen würde, so verhält es sich mit der islamischen Weltanschauung. Die Verschiedenheit der Menschen hinsichtlich ihrer Herkunft, Kulturen oder Religionen usw. wird in diesem Zusammenhang positiv und als gottgewollt145 verstanden. Gegenseitige Ergänzung setzt bekanntlich Verschiedenheit voraus. 3.5.7 Grundzüge der islamischen Weltanschauung in Punkten zusammengefasst
– Gott schuf die Erde und aus ihr schuf er den Menschen. – Der Mensch hat den göttlichen Auftrag, die Erde fruchtbar zu machen. – Dieser Auftrag stellt den Sinn seiner Schöpfung durch Gott dar. – Der göttliche Auftrag ist in der Stellvertreterschaft Gottes durch den Menschen begründet. 144 Sure 18:30. 145 Sure 49:13.
3.5 Das Gesetzesverständnis im Islam
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– Um diesen Auftrag durchführen zu können, stattete Gott seinen irdischen Stellvertreter mit gesundem Verstand, Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit aus. – Handlungsvermögen und Entscheidungsfreiheit sind nicht nur Voraussetzungen für die Durchführung des göttlichen Auftrages, sondern vielmehr eine Rechtfertigung für die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Taten vor Gott (im Diesseits und Jenseits). – Zusätzlich zur Unterstützung des menschlichen Verstands sandte Gott einige Menschen als Propheten, ausgestattet mit göttlichen Anweisungen, welche dem gesunden Verstand ergänzend und nie widersprechend gegenüberstehen. – Die Bereiche der göttlichen Anweisung decken sich mit den Lebensbereichen des Menschen in der Gesellschaft (religiös, politisch, wirtschaftlich und sozial) vollständig. – Die islamische Gesellschaftskonzeption ist in Koran und Sunna enthalten. – Diese Konzeption stellt grundsätzlich eine ganzheitliche Weltanschauung dar, was aber nicht den Eindruck erwecken darf, die Scharia sei ein starres System. Die oben erwähnten Methoden der Beweisführung garantieren die Anpassungsfähigkeit der Scharia gegenüber allen kulturellen, sozialen und geographischen Veränderungen. – Gottes Nähe wird ausschließlich durch den sozialen Umgang des Menschen erlangt, also nicht durch formale Moscheebesuche, Gebete und Koranrezitation. – Die islamische Weltanschauung sieht sich als Weg der Mitte bzw. der Mäßigung in jeder Hinsicht. – Mäßigung ist hier im Sinne von Ausgewogenheit gemeint, nicht nur in Glaubensfragen (Gebete, Fasten, Eheleben), sondern auch, was die menschlichen Bedürfnisse betrifft (Körper, Seele, Geist). – Bei physischen Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken wird der Mensch zur Mäßigung aufgerufen. „Speist und trinkt ohne zu übertreiben“.146 In finanzieller Hinsicht plädiert der Koran ebenso für die Mäßigung. Im Koran heißt es: „Du darfst deine Hände nicht an deinem Hals festhalten (zubinden), ebenso darfst du sie nicht maßlos offen halten (d. h. verschwenderisch sein).“147
146 Sure 7:31. 147 Sure 17:29.
4 Djihad – Kampf? Krieg? Heilig? Gegen wen? 4.1 Ein Wort zuvor
Zweifelsohne gehört „al-Djihad“ zu den meist verwendeten, missdeuteten und am stärksten umstrittenen islamischen Begriffen. Das gilt insbesondere für die westlichen Massenmedien sowie für die missionarischen, theologischen und orientalistischen Bereiche. Die vielfältig manipulierte Definition dieses Begriffes, zum größten Teil in nicht- und antiislamischen Quellen, führte zwangsläufig zu Bildung einer allgemeinen, mit wenigen Ausnahmen, weit verbreiteten Feindseligkeit seitens Nichtmuslimen gegenüber allem, was sich islamisch nennt. Bewusst oder unbewusst wurde jeder Muslim in das Bild eines potenziellen Feindes aller Nichtmuslime gedrängt bzw. von vielen Nichtmuslimen als solcher betrachtet und dementsprechend verurteilt. Die Gefahren, welche eine solche Vorverurteilung langfristig nach sich zieht, sind nicht zu unterschätzen. Die Ereignisse vom 11. September 2001 und die noch andauernden, stets ansteigenden politischen, militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen sind nur der Gipfel des Eisbergs. Sie kündigen einen religiös unbegründbaren, unerwünschten und unkontrollierbaren frontalen Zusammenstoß zwischen Muslimen und Nichtmuslimen an, an dessen Ende wir alle, ob Muslime oder Nichtmuslime, mit Sicherheit als Verlierer dastehen werden. Mein diesbezüglicher Beitrag ist mit Sicherheit weder der erste noch der letzte, welcher diesen komplizierten Begriff „al-Djihad“ zu beleuchten sucht. Ob und wann alle bisherigen Erhellungsversuche seitens einiger muslimischer Wissenschaftler, aber erfreulicherweise auch seitens einiger renommierter westlicher Intellektueller, ihre ersehnten Früchte tragen werden, ist angesichts der letzten weltpolitischen Entwicklungen nicht vorauszusehen. Die Muslime waren weder die ersten noch die letzten, welche „heilige“ Kriege oder Kämpfe geführt haben. Juden und Christen, um nur von den drei monotheistischen Religionen zu sprechen, haben vor und nach dem Islam derartige „heilige“ Kriege gegen Andersgläubige geführt und führen sie zum Teil heute noch unter anderen Namen, wie z. B. „Der Kampf gegen den Terror“, als „Selbstverteidigung“ u. ä. Der Begriff des „Heiligen Kriegs“ („harb muqaddasah“) ist übrigens eine westliche Erfindung und wird auf den Stifter der Kreuzzüge Urban II. im Jahr 1095 zurückgeführt. In der arabischen Literatur existiert dieser Begriff, mit Ausnahme einiger Übersetzungen aus europäischen Sprachen, nicht. Keine Frage! Der Terror muss von allen zivilisierten Menschen bekämpft werden. Aber eben alle Arten des Terrors, sei es der Staatsterror gegen das eigene Volk oder
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der Terror seitens einer Besatzungsmacht gegen Freiheitskämpfer. Jedoch ausschließlich den islamischen Djihad gegen eine Besatzungsmacht oder als Selbstverteidigung gegen eine fremde Macht als Terror darzustellen, wäre nicht nur falsch, sondern hätte auch gefährliche Konsequenzen für alle. In diesem Zusammenhang ist es, meines Erachtens, erforderlich, eine genau differenzierende Definition für die Begriffe „Djihad“ einerseits und „Terror“ andererseits zu finden, welche jegliche Manipulation dieser beiden Begriffe verhindert. Dieser Beitrag „Djihad – Krieg? Kampf? Heilig? Gegen wen?“ ist ein Versuch, diese Problematik, soweit es mir möglich ist, ins richtige Licht zu rücken sowie diesen umstrittenen, vielseitigen und vielfältigen Begriff zu erhellen. 4.1.1 Definitionen
Philologisch wird das Wort „Djihad“ von der Grundform „Djahd“ oder „Djuhd“ abgeleitet und bedeutet „Energie“. Andere Quellen unterscheiden zwischen „Djahd“ im Sinne von „Anstrengung“ und „Djuhd“ im Sinne von „Energie“. Terminologisch bedeutet „Djihad“: „die höchstmögliche Anstrengung durch Wort und Tat, die ein Mensch erbringen muss, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.“ Djihad schließt demnach eine kriegerische Auseinandersetzung nicht völlig aus, betrachtet sie aber als das letztmögliches Mittel, zu dem ein Muslim greifen darf, um die durch den Fremdenangriff verloren gegangene Gerechtigkeit wiederherzustellen, wenn die Umstände diese Auseinandersetzung unausweichlich machen. Ist dies der Fall, so darf sich kein Muslim dieser religiösen Pflicht ohne akzeptablen Grund entziehen.148 Dennoch ist ein derartiger Kampf „Djihad“ an einige zeitliche, räumliche und sonstige Bedingungen geknüpft, auf die ich später eingehen werde. Jedoch wäre vielleicht in diesem Zusammenhang angebracht, vorerst den daraus abgeleiteten Begriff „Mudschahed“ (Kämpfer) näher zu erläutern. Bei einem „Mudschaahed“ (Kämpfer) muss Folgendes vorhanden sein: – Er muss Muslim sein. – Er muss geistige und physische Reife sowie allgemeine Unversehrtheit besitzen. – Er muss sich den finanziellen Aufwand (für seine Ausrüstung) leisten können.
148 Ibd.
4.1 Ein Wort zuvor
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4.1.2 Arten des Djihad
Drei Kategorien des „Djihad“ kann man der vorhandenen Literatur entnehmen:149 – Den Kampf gegen einen übermächtigen Feind, um die Religion zu verteidigen bzw. ihr zum Sieg zu verhelfen. – Die Verteidigung der Religion gegen das satanische Werk in allen seinen möglichen Formen. – Den Widerstand gegen die eigene illegale Willkür (Unrecht, bösartige Absichten u. ä.), um die göttlichen Gebote aufrechtzuerhalten bzw. gelten zu lassen. Verschiedene Einteilungsmöglichkeiten des Begriffes „al-Djihad“: – Interner Djihad, der wiederum in zwei Arten unterteilt werden kann, nämlich eine persönliche, als ein Kampf gegen eigene bösartige Absichten bzw. Handlungen, und eine gesellschaftliche, als ein Kampf gegen allerlei Arten des Bösen in der islamischen Gesellschaft. – Externer Djihad zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, wenn der Islam bzw. die Muslime in nichtmuslimischen Ländern ungerecht behandelt werden. – Die friedliche Form: Die friedliche Art erfolgt durch verbale und schriftliche Bekanntmachung der eigenen Religion sowie durch vorbildliches Verhalten und Hilfsbereitschaft in allen Situationen und Lebensbereichen. – Die kriegerische Form: Sie geschieht durch Gewaltanwendung mit allen Arten von Waffen. Die bekannteste Art der Einteilung des Djihad in der islamischen Literatur unterscheidet zwischen einem – Kleinen Djihad (al-djihad al-asgharr) und einem – Großen Djihad (al-djihad al-akbarr). Nach der siegreichen Rückkehr des Propheten Muhammad von der ersten Schlacht gegen die Quraischiten (die Mekkaner) soll der Prophet Muhammad seinen Gefährten gesagt haben: „Wir sind jetzt von dem kleinen Djihad zurückgekehrt und begeben uns nun zum großen Djihad (ʿudna mina l-djihad al-asghar ila l-djihad al-akbarr).“ Mit dem kleinen Djihad meinte der Prophet Muhammad den Krieg gegen die Quraischiten (den externen Djihad) und mit dem großen Djihad meinte er den Kampf gegen das Böse in jedem Menschen und in der islamischen Gesellschaft (den internen Djihad). 149 Vgl. Al-ʿAqqad, M. ʿAb.: Al-Islamiyat, Bd. I, S. 213–232.
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4.1.3 Die theologische Grundlage des Djihad
Erst im 2. Jahr nach der Hidschra (die Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Madina) wurde Djihad als eine religiöse Pflicht eines jeden fähigen Muslim durch den folgenden Koranvers 22:78 bestimmt: „Ihr sollt alle euch zur Verfügung stehenden Kräfte für die Sache Gottes einsetzen.“ Grundsätzlich dürfen Muslime, solange sie nicht militärisch angegriffen werden, nie zu den Waffen greifen, es sei denn, sie werden durch Notwehr dazu gezwungen. Darüber lesen wir im Koran Folgendes in Sure 2:190: „Kämpft für die Sache Gottes, dabei dürft ihr nicht mit der Kriegshandlung anfangen, denn wahrlich! Gott liebt die Angreifer nicht.“ In diesem Koranvers wird das arabische Wort „qaatilu“ im Sinne von „bewaffneter Kampf“, d. h. „kämpft mit der Waffe“, verwendet und bezeichnet damit eine Art des Djihad, bei dem den Muslimen Gewaltanwendung erlaubt wird. Würde der Kampf (Djihad) unausweichlich in eine kriegerische Auseinandersetzung ausarten, so sind für die Muslime einige Bestimmungen unbedingt einzuhalten: – In den vier heiligen Monaten (in quellenmäßiger Reihenfolge: der 7. Monat Radjab, der 11. Monat Dhul-Qiʿda, der 12. Monat Dhul-Hidjdja und der 1. Monat al-Muharramm) dürfen die Muslime keinen Krieg führen, mit der strengsten Ausnahme, wenn die Angreifer diese Regelung (Waffenstillstand während der oben genannten vier Monaten) nicht respektieren wollen. – Die Aufrichtigkeit bei Einhaltung aller getroffenen Abkommen. – Frauen, Kinder, Kranke, Alte, Mönche und Klosterbewohner dürfen nie getötet werden. – Die Toten dürfen niemals geschändet werden, Tiere, Felder und Bäume dürfen nur für Speisen vernichtet werden. Von der Erfüllung dieser Bestimmungen hängt die Bezeichnung „heilig“ für den „Djihad“ ab. Bei Missachtung der gesamten oder eines Teils der genannten Bestimmungen wird der unter dem Vorwand des Djihad geführte Krieg nicht mehr als für die Sache Gottes, sondern für das eigene Machtinteresse und demnach nicht als heilig betrachtet.
4.1.4 Die koranische Konzeption des „Djihad“
Nicht selten werden in westlichen Veröffentlichungen Koranverse aus dem Zusammenhang gerissen und als Beleg dafür missbraucht, dass der Islam seine Anhänger zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige aufruft. Um den Koran als Quelle für irgendeine Behauptung richtig zu verwenden, muss man sich an verschiedenen Be-
4.1 Ein Wort zuvor
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reichen der Koranwissenschaften orientieren und die dafür vorgeschriebenen wissenschaftlichen Regeln berücksichtigen. So verrennt man sich nicht in sinnloser Apologie. Der Koran muss als eine Einheit betrachtet und als solche verwendet werden. Die Koranverse wurden nach und nach zu verschiedenen Anlässen als Problemlösungen oder gegebenenfalls als Antwort auf gestellte Informationsfragen übermittelt. Einige Koranverse, die bestimmte Anweisungen enthalten, gelten ausschließlich für den Offenbarungsanlass bzw. die jeweilige Situation (sabab an-nuzul). Diese Art hat also keine allgemeine Geltung (khaass oder muqaiyad). Andere Anweisungen haben dagegen eine allgemeine Geltung (ʿaam oder mutlaq). Dazu kommt eine andere Koranwissenschaft, die bestimmte Anweisungen aufhebt oder einschränkt oder ergänzt, es handelt sich hier um die Wissenschaft von der „Abrogation“ (an-nasikh wa l-mansukh). Die meisten Missverständnisse in vielen nichtislamischen Veröffentlichungen erfolgen durch die Unwissenheit oder Missachtung dieser beiden Koranwissenschaften bzw. der koranischen Zitatregeln durch einige Autoren, unter denen sich auch einige Muslime befinden, die nicht über entsprechende theologische Qualifikation verfügen und in Europa oft als Islamexperten bezeichnet werden. Djihad und Djuhd sind Nominalformen von der Wortwurzel „Djahada“. Es bedeutet wörtlich „sich anstrengen“. In diesem Sinne kommt dieses Wort zehnmal in sieben verschiedenen Koransuren vor, fünfmal im Zusammenhang mit der Schwurformel „bei Gott“, wie man in den folgenden Koranstellen 5:53; 6:109; 16:38; 24:53; 35:42 lesen kann. In dem Sinne von „sich anstrengen“ kam das Wort „djihad“ allein in Sure 29:6, 8, 69 dreimal vor, dazu einmal in 5:54 und einmal in 31:15. Für den Gewaltaspekt des Djihad verwendet der Koran das Wort „qitaal“ (aus der Wurzel „qatala“), oder es wird dem Wort „Djihad“ das Wort „mit dem Leben“ beigefügt, was so viel bedeutet wie „die Menschen, die mit ihrem Leben djihad tun“ bzw. „sie riskieren ihr Leben beim Djihad, sie nehmen den Tod im Kauf.“ Dem friedlichen Aspekt des islamischen Djihad wird in den westlichen Publikationen, sei es in wissenschaftlichen Beiträgen oder in den Massenmedien, kaum ein nennenswerter Raum eingeräumt. Dagegen wurde dem Gewaltaspekt des Djihad der Löwenanteil gezollt, so dass die Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung manipuliert und desinformiert wurde. Die Grundeinstellung des Islam in Bezug auf den Djihad finden wir in den folgenden Koranstellen. In Sure 2:190: „Und kämpft für die Sache Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, aber greift nie als erste an, wahrlich Gott liebt nicht diejenigen, die andere unrechtmäßig (ohne triftigen Grund) angreifen“. Und in Sure 60:8–9:
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Gott verbietet euch nicht (im Arabischen bedeutet diese Formulierung: „Gott empfiehlt euch“) gegenüber diejenigen pietätvoll und gerecht zu sein, die nicht der Religion wegen gegen euch gekämpft und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben. Gott liebt diejenigen, die gerecht handeln. Doch verbietet Er euch, euch denen anzuschließen, die der Religion wegen gegen euch gekämpft und die euch aus euren Häusern vertreiben oder (euren Feinden) bei eurer Vertreibung geholfen haben. Diejenigen, die sich ihnen anschließen, sind die (wahren) Frevler.
Die militärische Aufrüstung im Islam hat als Hauptziel die Abschreckung von Feinden im Vorfeld der möglichen Kriegshandlung. Sie ist in diesem Sinne vor allem eine auf Frieden zielende Vorbeugungsmaßnahme, die den Feind davon abhalten soll, sich auf ein folgenreiches Risiko einzulassen, wie es bei der ersten Begegnung zwischen dem muslimischen Heer unter der Führung des Propheten Muhammad und den Römern bei Tabuk (8. n. H./630 n. Chr.) der Fall war. Dazu lesen wir in Sure 8:60: Und rüstet für sie, soviel ihr an Kriegsmacht und Schlachtrossen (Pferdeausrüstung) aufzubringen vermögt, um damit Gottes und eure Feinde einzuschüchtern. Und andere (unscheinbare Feinde), von denen ihr keine Kenntnis habt, wohl aber Gott! Und wenn ihr um Gottes Willen spendet, wird es euch (im Jenseits) voll heimgezahlt. Und euch wird nicht dabei Unrecht getan. (61) Und wenn sie (die Feinde) sich dem Frieden zuneigen, dann neige (auch du) dich ihm zu (und lass vom Kampf ab)! Und vertraue auf Gott! Er ist der, der alles hört und weiß.
Die islamische Toleranz geht sogar gegenüber den den Muslimen feindselig gesonnenen Polytheisten soweit, dass der Muslim die Sicherheit eines Polytheisten garantieren soll, wenn dieser ihm um Schutz bittet. In Sure 9:6 heißt es: Und wenn einer von den Polytheisten dich um Schutz angeht, dann gewähre ihm Schutz, damit er das Wort Gottes hören kann! Hierauf lass ihn (unversehrt) dahin gelangen, wo er in Sicherheit ist! Dies (sei ihnen zugestanden), weil es Leute sind, die nicht Bescheid wissen.
4.1.5 Von der Theorie zur Praxis
Die Geschichte der Menschheit lehrt uns, dass ein machtgieriger Mensch sich jeglicher Mittel bedient, sei es einer Religion oder einer Ideologie, um seine Macht über andere durchzusetzen. Die meisten Religionen bieten jedoch den Menschen eine ide-
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ale Form der Lebensführung an, die diese anstreben sollen. Der Versuch, diese Ideale in die Wirklichkeit umzusetzen, beruht u. a. auf den verschiedenen Auffassungen jedes Einzelnen bezüglich dieser Ideale. Da dieses Verständnis von Mensch zu Mensch verschieden ist, gibt es demzufolge verschiedene Wege, um die verschiedenen Ideale zu konkretisieren. Wege und Interpretationen widersprechen einander manchmal und produzieren Konflikte zwischen Menschen verschiedener Auffassungen. Da sich einige Auseinandersetzungen nicht friedlich lösen lassen, so wie es zu wünschen wäre, entwickeln sich Feindseligkeiten, die oft zu Kriegshandlungen ausarten. Beispiele dafür gibt es leider mehr als genug, nicht nur in den islamischen Ländern oder in der sogenannten Dritten Welt. Hier möchte ich zunächst einmal den Unterschied zwischen zwei verblüffend ähnlichen und bedauerlicherweise oft miteinander verwechselten Ausdrücken, nämlich „im Sinne einer Religion zu handeln“ und „im Namen einer Religion zu handeln“, in Erinnerung rufen. So gab es Eroberungen durch muslimische Herrscher, die im Namen des Islam geführt wurden. Die spätmongolischen und einige osmanisch-türkische Eroberungszüge sind hierfür Beispiele. Solche Eroberungszüge wurden auch gegen andere islamische Länder geführt. Unter dem Vorwand der Ausbreitung des Christentums wurden ebenfalls Kriege geführt. Als Beispiele hierfür stehen etwa die Kreuzzüge, die Inquisition oder die spanisch-portugiesischen Übergriffe u. a. in Amerika und die Eroberung Algeriens durch die Französische Armee im 19./20. Jahrhundert. Selbiges gilt für die Besetzung Palästinas durch die Zionisten unter dem Deckmantel des Judentums. Dies sind traurige Beispiele für den Missbrauch von Religionen aus Machtgier! Keine Religion und Ideologie bildet hierin eine Ausnahme. Machtgier ist eine Krankheit, von der alle Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, Nationalität, Religion oder Ideologie in gleichem Maße betroffen sind. Religionen und Ideologien müssten im Grunde dieser Krankheit vorbeugen und entgegenwirken.
4.2 Die Problematik der Gewaltanwendung aus islamischer Sicht
Diese Problematik könnte durch die Antwort auf die folgenden drei Fragen visualisiert werden: – Ist der Islam tatsächlich eine Kriegsreligion, wie es in Europa und in nicht-islamischen Ländern häufig dargestellt wird? – Ist dies nicht der Fall: warum wird an dieser Vorstellung festgehalten und diese an die nächste Generation als Selbstverständlichkeit weitergegeben?
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– Warum wird in europäischen Massenmedien ausschließlich der Islam als Kriegsreligion dargestellt, obwohl im Namen anderer Religionen und Ideologien viele Gräueltaten an der Menschheit begangen wurden? Nahezu selbstverständlich wird jedem Muslim, der seine Religion ins richtige Licht rücken will, fehlende Objektivität sowie der in Europa missverstandene Fundamentalismus unterstellt. Dies zwingt ihm meistens, gewollt oder ungewollt, eine Position der Selbstverteidigung auf. In diese Position der Selbstverteidigung lasse ich mich nicht drängen. Ich werde lediglich versuchen, die Einstellung des Islam zum Thema „Gewalt“ nach meiner Überzeugung und der Meinung anderer muslimischer Gelehrter sowie einiger anerkannter europäischer Orientalisten darzustellen. Wird in Europa über die Entwicklungsgeschichte des Islam gesprochen oder geschrieben, so werden einige seltene Fälle von Intoleranz und Gewaltanwendung vordergründig dargestellt. Dagegen treten Jahrhunderte islamischer Toleranz gegenüber Andersgläubigen unter islamischer Herrschaft kaum ins Bild. Die Wissenschaft ließ sich in dieser Hinsicht, abgesehen von wenigen Abhandlungen, von missionarischem Eifer und Kulturrassismus treiben. 4.2.1 Islam und Muslime
Zwei Aspekte müssen unbedingt auseinandergehalten werden: zum einen die Lehre bzw. Verbreitung des Islam, zum anderen die muslimische Herrschaft bzw. Ausdehnung des islamischen Reichs durch Eroberungen. Die Ausbreitung des islamischen Glaubens erfolgte nie durch Gewalt. Der Islam kennt keinen Bekehrungszwang und der Koran verbietet dies ausdrücklich: Sure 2:256: Die Religion darf niemals jemandem aufgezwungen werden, der Unterschied zwischen dem rechten Weg und dem irreführenden ist deutlich geworden.
Als erster hat der Prophet Muhammad diesen Vers schon sehr früh praktiziert, z. B. nach einer kriegerischen Auseinandersetzung mit einem jüdischen Stamm. Der bekannte Tübinger Orientalist Josef van Ess schreibt in seinem Beitrag: […] aber später hat Muhammad nach einer kriegerischen Auseinandersetzung mit ihnen (einem jüdischen Stamm in Medina) auch die Juden weder umgebracht, noch sie gezwungen auszuwandern oder ihrem Glauben abzuschwören. […]
4.2 Die Problematik der Gewaltanwendung aus islamischer Sicht
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Der Islam hat die Christen nicht durch Feuer und Schwert bekehrt, sie sind ihm vielmehr in einem jahrhundertelangen Korrosionsprozess durch ihre eigene, ganz menschliche Schwäche anheim gefallen. Der Islam hat sich also nicht durch Mission in unserem Sinne (so van Ess) durchgesetzt, vom System her ist er gar nicht darauf ausgerichtet.
Weiter schreibt van Ess: Ausnahmen gab es auch in der islamischen Herrschaftsgeschichte, in denen mancher Herrscher versucht hat, den Islam den Anhängern nichtmonotheistischer Religionen aufzuzwingen. Diese Versuche blieben aber erfolglos. Das einzige Beispiel in der islamischen Geschichte ist die Auseinandersetzung des Mahmud von Ghazna um das Jahr 1000 in Indien mit den Hindus. Aber selbst da sind die großen missionarischen Erfolge eher durch friedliche Infiltrationen erzielt worden.150
Kommen wir zum Propheten Muhammad zurück, dem in Europa u. a. Gewalt gegen Andersgläubige unterstellt wird. Dabei werden, neben seinen kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arabischen Halbinsel, die großen Feldzüge gegen den persischen Kaiser Kisra und den römischen Kaiser Heraklios in den Vordergrund gestellt. Unverständlich bleibt der Grund dafür, warum man den äthiopischen Kaiser Nagaschi nicht erwähnt, obwohl sich Äthiopien in der gleichen geographischen und religiösen Lage gegenüber dem ersten islamischen Staat befand. Der Prophet Muhammad hatte an alle benachbarten Herrscher Aufrufe zum Islam gesandt. Die Reaktionen des persischen und römischen Kaisers waren wesentlich anders als die des äthiopischen Kaisers. Kisra befahl seinem jemenitischen Gouverneur Zazan, den Propheten Muhammad vor die Wahl zu stellen, seine Mission (Religion) aufzugeben oder den Tod für sich und seine Gemeinde hinzunehmen. Der römische Kaiser sammelte seine Streitkräfte im Norden der Arabischen Halbinsel bei Tabuk, worauf Muhammad seine Streitkräfte an der nördlichen Grenze zusammenzog, sie aber vorerst zurück befahl, nachdem die Muslime überzeugt waren, dass die Römer von einem Angriff abgesehen hatten. Sie kehrten aber später zurück, als die Römer abermals an der Grenze aufmarschierten und den Angriff auf die Muslime vorbereiteten. Aus diesem Kampf gingen die Muslime siegreich hervor und eroberten daraufhin Syrien sowie weitere Teile des römischen Reiches. Der christliche äthiopische Kaiser gab dagegen den Muslimen nicht nur die Gelegenheit, ihren Glauben vorzutragen, vielmehr vermochte er es, sich friedlich mit ihnen auseinanderzusetzen und ihnen in seinem Land Schutz zu gewähren. 150 Siehe Küng, Hans u. a. (Hrsg.): Christentum und Weltreligionen, Müchen, Piper Verlag, 1985, S. 195.
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Einige Beispiele für den Umgang des Propheten mit seinen Kriegsgefangenen möchte ich ebenfalls ausführen. Als der Prophet Muhammad und seine Gemeinde ihren ersten großen Sieg bei Badr errungen hatten, gerieten viele ihrer mekkanischen Feinde als Kriegsgefangene in ihre Hände. Muhammad machte es seinen Kriegsgefangenen, die den Islam nicht annehmen wollten, zur Bedingung für ihre Freilassung, dass jeder von ihnen zehn Analphabeten seiner Gemeinde Lesen und Schreiben beibringe. Als der Prophet Muhammad seine Heimatstadt Mekka, aus der er gezwungen worden war auszuwandern, zurückerobert hatte (8 n. H./630 n. Chr.), und seine Erzfeinde unter seiner Macht standen, fragte er sie, was sie glaubten, was er ihnen wohl antun würde. Da antworteten einige von ihnen, wissend, dass er seine Macht über sie nicht missbrauchen würde: „Du bist ein guter Bruder und Sohn eines guten Bruders“. Die Antwort des Propheten lautete erwartungsgemäß: „Gehet, ihr seid frei.“151 Auch die Nachfolger des Propheten Muhammad haben diese Richtlinien eingehalten und wichtige Kriegsregelungen erlassen, die man heute in unserer aufgeklärten Welt immer seltener vorfindet. 4.2.2 Islamische Kriegsbestimmungen
Wird ein Krieg unvermeidlich, so müssen die Kämpfenden folgende Bestimmungen unbedingt einhalten: Es darf nur gegen feindliche Soldaten gekämpft werden, d. h., wenn feindliches Gebiet erkämpft wird, müssen Frauen, Kinder und alte Männer, die nicht am Krieg teilnehmen, verschont bleiben. Der Prophet und seine Nachfolger verpflichteten ihre Heerführer testamentarisch zur Einhaltung folgender Anweisungen: Ihr dürft nicht hinterhältig sein, nicht heimtückisch, ihr dürft die Toten nicht schänden, kein Kind, keine Jugendlichen, keinen alten Mann oder Frau töten, ihr dürft keine Palme zerstören, keinen Baum fällen, weder Schafe noch Kühe, noch Kamele abschlachten, ausgenommen, was ihr unbedingt zum Essen braucht. Ihr werdet Mönche treffen, ihr müsst sie für das lassen, wofür sie sich verpflichtet haben.152
151 Überliefert durch Ibn Omar, Abdullah in: Sahih Al-Bukhari (Die eroberung von Mekka durch den Proheten Muhammad). 152 Siehe Die Prophetenbiographie von Ibn Hischam Nr. 1/616-617; 2/631, Beirut, Dar Al-Maʿrifa, o. D.
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Ähnliche Völkerrechtsbestimmungen wurden in Europa erst im 17. Jahrhundert von Hugo Grotius (gest. 1645) entworfen, der ein bis ins moderne Zeitalter geltendes Völkerrecht verfasst hat.153 Die muslimischen Feldherren wurden von den Kalifen für jede Übertretung dieser Bestimmungen strengstens zur Rechenschaft gezogen. Ein ägyptischer Christ schickte seine Beschwerde über den Sohn des ersten islamischen Gouverneurs und Eroberer Ägyptens, Amr Ibn al-ʿAas, an den 2. Kalifen Umar Ibn al-Hattab, dass dieser ihn grundlos geschlagen habe. Daraufhin rief der Kalif seinen Gouverneur und dessen Sohn zu sich und forderte den Ankläger auf, den Sohn des Gouverneurs auszupeitschen: „Schlage den Sohn des Adligen!“. Des Weiteren beschimpfte er den Gouverneur mit den Worten: „Seit wann dürft ihr Menschen verknechten, die wie wir alle frei geboren sind?“154 Nach der Eroberung Jerusalems durch den Kalifen Omar Ibn al-Khattab (16 n. H./638 n. Chr.) schloss dieser mit dem Vertreter der Stadtbewohner, Bischof Sophronius, einen Friedensvertrag. Dieser Friedensvertrag ist, neben dem bekannten Friedensvertrag von Hudaibiya, auch Mekka-Vertrag genannt, welcher der Prophet Muhammad mit den Mekkanern (6 n. H./628 n. Chr.) abgeschlossen hatte, der zweitbekannteste Friedensvertrag in der islamischen Frühgeschichte. Der Jerusalemer Friedensvertrag enthielt u. a. Folgendes: Den Bewohnern Jerusalems wird absolute Sicherheit für ihr Leben, Gut, ihre Kirchen und Kreuze gewährt. Kirchen dürfen von Nichtchristen weder bewohnt noch zerstört werden. Nichts von ihrem Besitz darf angetastet werden. Sie dürfen bei der Durchführung ihrer religiösen Pflichten nicht eingeengt werden.155
Eine zusätzliche Bedeutung gewann dieser Friedensvertrag durch das folgende Ereignis: Während der Ratifizierung dieses Vertrages in der Jerusalemer Grabeskirche ist die Zeit des Nachmittagsgebetes gekommen. Der Bischof Sophronius bot dem Kalifen an, in der Kirche mit seinen muslimischen Heerführern das Gebet zu verrichten. Obwohl die Muslime ihre Gebete an jedem reinen Ort verrichten dürfen, bevorzugte der Kalif das Gebet im Vorhof der Kirche zu verrichten, da er die Befürchtung hegte, einige Muslime könnten später diesen Vorfall als Anlass für die Annektierung der Kirche nehmen. Diese Möglichkeit wollte er von vornherein ausschließen. 153 Dtv-Lexikon, Bd. 8, München 1976, S. 97. 154 Siehe Al-ʿAmri, Adal-Aziz: Al-Welaya ʿAla Al-Beldan, Riad, dar Ischbiliya, 2001, S. 110 f. 155 Ibn Al-Athir, ʿAli M.: Usd Al-Ghaba fi maʿrifat As-Sahaba, Kairo, Matabiʿ Asch-Schʿb, Bd. 4, Kairo o. D., S. 166 ff.
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Das sind nur wenige Beispiele, die ihresgleichen in der europäischen Geschichte suchen, und die jeder Fachmann kennt bzw. in den islamischen Geschichtsbüchern lesen kann. 4.2.3 Der Islam: Friedens- oder Kriegsreligion?
Der Islam verpflichtet seine Gläubigen zur Bewahrung des Friedens mit allen Menschen. Bricht ein Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen aus, müssen die Muslime zuerst alle friedlichen Mittel und Wege zur Lösung dieses Konfliktes einsetzen. Scheitert dieser friedliche Versuch endgültig, müssen die Muslime sich auf eine kriegerische Auseinandersetzung vorbereiten. Sie dürfen trotzdem den Krieg nicht beginnen. Werden sie aber angegriffen, so müssen sie sich verteidigen. Aber selbst dann dürfen die Muslime den Krieg nur so weit führen, bis die Gefahr beseitigt ist, d. h., sie dürfen nicht rachsüchtig und blutrünstig den angeschlagenen Feind weiterverfolgen.156 Noch irreführender als die bloß falsche Übersetzung des Wortes „Djihad“ mit „Heiliger Krieg“ ist die Verbindung dieses Wortes mit der Ausbreitung des Islam. Van Ess dazu: Der Gihad dient dabei nicht etwa, wie häufig angenommen wird, der Ausbreitung des Islam, sondern der Ausbreitung muslimischer Herrschaft. Erst wenn islamisches Gebiet von einer nichtmuslimischen Macht angegriffen wird, in einem Verteidigungsfall also, müssen alle Muslime zu den Waffen greifen.157
Van Ess stützt sich hier zu Recht auf einen koranischen Vers, ohne diesen zu erwähnen.158 Sollten die Angreifer den Kampf beenden wollen, so müssen die Muslime ebenfalls die Kampfhandlungen einstellen. Der Koran verpflichtet die Muslime dazu, wie der folgende Vers zeigt. In Sure 8:60 heißt es: „Und wenn sie (die Feinde) sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu (und lass vom Kampf ab) und vertraue auf Gott.“ Diese Einstellung zum Frieden schließt neben Christen und Juden auch all diejenigen ein, die die Muslime aus religiösen Gründen nicht bekämpfen. Im Koran heißt es in Sure 60:8–9: „Gott gebietet euch, mit denjenigen pietätvoll und gerecht 156 Siehe u. a. Sure 8:61. 157 Siehe Christentum und Weltreligionen, s. o., S. 163 f. 158 Siehe Sure 2:190 u. auch 5:87.
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zu sein, die euch wegen eurer Religion weder bekämpfen noch aus eurer Heimat vertreiben. Gott liebt die Gerechten.“ Wird ein Friedensvertrag zwischen Muslimen und Nichtmuslimen geschlossen, so müssen die Muslime diesen Vertrag einhalten. Dazu heißt es im Koran in Sure 5:1: „Ihr Gläubigen, haltet die Verträge ein.“ Und weiter in Sure 16:91: „Haltet die Verträge ein, bei denen ihr Gott als Zeugen genommen habt.“ Und in 17:34: „Und erfüllt die Verpflichtungen (die ihr eingeht). Nach der Verpflichtung wird (dereinst) gefragt.“ Mehr noch: Wenn Nichtmuslime angegriffen oder unterdrückt werden, können sie mit der Hilfe der Muslime rechnen, falls kein Friedensvertrag zwischen ihren Gegnern und den Muslimen besteht. In Sure 8:72 lesen wir: „Wenn sie euch wegen religiöser Unterdrückung (durch andere) zu Hilfe rufen, dann helft ihr ihnen; nur dann nicht, wenn ihre Gegner mit euch einen (Friedens-)Vertrag haben.“ Selbst wenn die Feindseligkeiten gegen Muslime ohne Krieg nicht beendet werden können, muss der Gegner ultimativ gewarnt werden und die Muslime müssen bestimmte Kriegsregelungen strikt einhalten; andernfalls müssen sie ihre Überschreitungen vor Kalifen verantworten. Der erste Kalif Abu Bakr (12–14 n. H./634–636 n. Chr.) gab jedem seiner Heerführer die folgenden Anweisungen: Ihr dürft weder hinterhältig noch hinterlistig sein, noch Tote schänden, noch Kinder, alte Männer oder Frauen töten, noch einen Baum fällen noch ein Schaf oder Kuh oder Kamel sinnlos schlachten (töten). Ihr werdet Mönchen in Klöstern begegnen, ihr solltet sie ihre Gottesdienste in Ruhe verrichten lassen.
Im Jahre 100 n. H./722 n. Chr. eroberte der islamische Heerführer Muslim Ibn Qataiba ohne vorherige Warnung einen Teil Transoxaniens. Er musste jedoch auf Befehl des Kalifen Omar Ibn Abdulaziz das besetzte Gebiet räumen und seinem Gegner ein Ultimatum stellen. Wenige Jahrzehnte später waren die Hauptstädte dieser Gebiete bedeutende Wissenschaftszentren und brachten einige der ersten und bekanntesten Islam- und Naturwissenschaftler hervor. Al-Bukhari, Muslim und Al-Bairuni sind nur wenige Beispiele für Großgelehrte in verschiedenen islamischen Wissenschaftsbereichen von nichtarabischer Abstamung In den oben genannten Quellen werden außerdem politische Fachausdrücke angeführt, die sich früh in der islamischen Literatur herausgebildet haben und die ich folgendermaßen erläutern möchte: – Die Sicherheit (al-Aman): Tritt dieser Zustand ein, so darf der Gegner weder getötet noch versklavt oder sein Gut in Besitz genommen werden. – Die begrenzte Sicherheit (al-Isti’man): Dies bedeutet, dass dem Gegner nur so
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lange Sicherheit gewährt wird, als er sich auf islamischem Territorium aufhält, um z. B. eine Nachricht zu überbringen oder mit muslimischen Führern zu verhandeln. – Waffenstillstand (al-Muhadana): Eine vorübergehende Waffenstillstandsvereinbarung, die weder Krieg noch Frieden bedeutet. – Nichtverpflichtender Friedensvertrag (al-Muwada a): Dieser kann aufgrund eines zu erwartenden gegnerischen Überraschungsangriffs bzw. Verrats abgebrochen werden. Auch hier muss dem Gegner die bevorstehende Kampfabsicht mitgeteilt werden.
4.2.4 Haus des Islam und Haus des Krieges?
Vorauszuschicken ist die Feststellung, dass die Einteilung der Welt in zwei Lager „Haus des Islam“ und „Haus des Krieges“ weder im Koran noch in der Sunna, sondern ausschließlich in einigen Werken der islamischen Rechtsliteratur zu finden ist und gegenwärtig lediglich von einer kleinen Gruppe vertreten wird, die zur extremen traditionellen Glaubensrichtung des Islam gerechnet werden kann. Beispiele aus der Sunna, die manche Traditionalisten als Grundlage für die hiesige Einteilung verwenden, wie etwa das Abkommen von Hudaibiya, das im Jahre 8 n. H./630 n. Chr. zwischen dem Propheten Muhammad und den Mekkanern abgeschlossen und unterzeichnet wurde, gehören, meines Erachtens, zum historisch bedingten Teil der Sunna und genießen demzufolge keine Allgemeingültigkeit bei der Rechtsfindung. Dennoch teilt die spätere islamische Rechtsliteratur die Welt in drei, also nicht in zwei, Lager auf: – Haus des Islam bzw. des Friedens (dar al-Islam bzw. as-Salam), welches die islamisch regierten Länder, einschließlich Nichtmuslimen, ob Mehrheit oder Minderheit, umfasst. – Haus des Friedensvertrages (dar al-’ahd), welches Nichtmuslime mit oder ohne muslimische Minderheit umfasst, wobei garantiert wird, dass die dort lebenden Muslime an der Ausübung ihrer religiösen Pflichten, adäquat zu den Nichtmuslimen in dar al-Islam, nicht gehindert werden dürfen. – Haus des Krieges (dar al-Harb), welches Länder umfasst, die mit den Muslimen keinen Friedensvertrag abschließen wollen, aufgrund dessen die Muslime vor Angriffe und Aggressionen aus diesen Ländern sicher sein können. Auch dieses dritte Lager, „dar al-Harb“, darf prinzipiell nicht von Muslimen ohne Grund angegriffen werden – erst dann, wenn die anderen den islamischen Staat an-
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greifen oder die dort lebenden Muslime staatlichen Aggressionen jeglicher Art, der Unterdrückung oder religiösem Zwang ausgesetzt werden. In der heutigen islamischen Weltanschauung existiert diese Einteilung nicht mehr. Denn alle islamischen Länder sind ja Mitglieder der UNO und stehen demnach mit allen anderen Ländern bzw. UNO-Mitgliedern direkt oder indirekt in einem gemeinsamen Friedensabkommen, das die Souveränität jedes Mitglieds anerkennt und die Menschenrechte sowie Minderheitsrechte zumindest theoretisch garantiert. Demzufolge reduziert sich die oben genannte Einteilung bestenfalls auf zwei Lager, die auch nur theoretisch existieren, nämlich die sogenannte islamische Welt (Haus des Islam) und die sonstige Welt, die als Haus des Friedensvertrages (Dar ail-’Ahd) bezeichnet werden kann. Die dennoch in vielen westlichen polemischen Schriften und Massenmedien verbreitete Auffassung, dass der Islam die Welt in zwei Teilen aufteilt, nämlich eine islamische Welt auf der einen und eine feindliche nicht-islamische Welt auf der anderen Seite, verrät deutliche Mängel an der zuverlässigen Kenntnis über die authentische islamische Weltanschauung, an der die muslimischen Gelehrten nicht ganz unschuldig sind. Man muss sich nur vorstellen, dass die Zahl der gefallenen Menschen in allen kriegerischen Auseinandersetzungen, welche die Muslime zu Lebzeiten des Propheten Muhammad geführt haben (insgesamt 20 Kriegszüge), nach der höchsten Rechnung 386 Opfer auf beiden Seiten umfasste. Natürlich ist jedes Menschenleben wertvoll, aber von Blutbädern, die der Prophet Muhammad einigen westlichen Quellen zufolge angerichtet haben sollte, kann demnach keine Rede sein. Lange Zeit waren viele muslimische Gelehrte der festen Überzeugung, dass der Westen von Anfang an in eine Verschwörung gegen den Islam aussichtslos verstrickt gewesen sei, so dass ihnen jede Mühe, etwas dagegen zu unternehmen, sinnlos erschien. Damit tragen viele muslimische Gelehrte selbst eine Teilschuld an der heutigen gefahrvollen Situation. 4.2.5 Durch Toleranz oder mit Feuer und Schwert? Westliche Stimmen
Die deutsche Orientalistin Sigrid Hunke schreibt „Ganz im Gegensatz freilich zu einem der starrsten Vorurteile gegenüber dem Islam spielt die arabische Toleranz sogar die entscheidende Rolle bei seiner Verbreitung. Nicht einmal die christliche Geistlichkeit hatte so etwas erwartet. Inzwischen sind zwölfhundert Jahre vergangen, aber das christliche Abendland hält bis heute in Wort und Schrift, in Zeitungen und Büchern, in der allgemeinen Meinung und der neuesten Propaganda an dem Ammenmärchen fest, nach Muhammads Tod hätten arabische Heere den Islam mit
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Feuer und Schwert vom Indus bis zum Atlantik verbreitet. Diese Formel ist in diesem Zusammenhang zum geflügelten Wort geworden, obwohl sie jeder geschichtlichen Wahrheit und Wirklichkeit entbehrt“.159 In Sure 2:256 lautet das verpflichtende Wort des Korans: „Es soll kein Zwang sein im Glauben“. Ganz im Gegenteil! Die Christen sollten Christen und die Juden sollten Juden bleiben wie zuvor. Niemand durfte sie an der Ausübung ihres Glaubens hindern. Niemand beeinträchtigte ihre Geistlichkeit, ihre Gottesdienste, ihre Gotteshäuser. Es waren die Andersgläubigen – eben Christen, Juden, Sabäer, Heiden, die von sich aus zum Islam, zum Bekenntnis und Kult der Sieger drängten, mehr als diesen lieb sein konnte. Die christlichen Glaubenshirten in Andalusien bezeugten erbittert den Sog der arabischen Geistigkeit, dem christliche Schäflein allzu bereitwillig erlagen. Alvaro, Bischof von Cordoba, klagte in bewegten Worten: Viele meiner Glaubensgenossen lesen die Gedichte und Märchen der Araber, sie studieren die Schriften der muslimischen Theologen und Philosophen, nicht um sie zu widerlegen, sondern um zu lernen, wie man sich auf korrekte und elegante Weise ausdrückt […]. Redet man ihnen dagegen von christlichen Büchern, so antworten sie mit Geringschätzung, diese Bücher verdienten nicht ihre Beachtung.160
Es ist unbestritten, dass u. a. Spanien und Sizilien ihre höchste kulturelle Blütezeit unter islamischer Herrschaft erlebten. Diese kulturelle Entwicklung haben diese Regionen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weder vor der islamischen Herrschaft noch danach erreicht. Ich führe dieses Beispiel an, um zu zeigen, dass sich unter islamischer Macht Wissenschaft und Kultur bestens entwickeln können. Verfolgt man die islamische Entwicklungsgeschichte, so kann man feststellen: Je weiter sich die Muslime von den Richtlinien des Islam entfernten, desto schneller verloren sie ihre Entwicklungsfähigkeit und Bedeutung. Unverständlich bleibt für mich die Tatsache, dass einige prominente Theologen sich in Europa mit der eigenen Kirche und Geschichte kritisch auseinandersetzen, sich aber mit unbegründeten Vorurteilen gegen den Islam, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, nicht in ausreichendem Maße kritisch beschäftigen wollen. Selbst wenn sie durch eigene Forschung zu Ergebnissen kommen, die theologisch mit dem Islam übereinstimmen, zitieren sie alle anderen Religionen und Kulturen, den ihnen sowohl theologisch als auch geographisch benachbarten Islam jedoch lassen sie außen vor. 159 Hunke, Sigrid: Allah ist ganz anders, München, Goldmann Ausgabe, 1991, S. 42–44. 160 Ibd.
4.2 Die Problematik der Gewaltanwendung aus islamischer Sicht
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Warum wird beispielsweise die christliche Religion nicht gleichermaßen als eine Kriegsreligion bezeichnet, obwohl christliche Europäer die schrecklichsten Kriege gegen andere geführt, ihre Länder geplündert und die Bevölkerung vielfach unter Zwang christianisiert haben? Die Kreuzzüge, die Inquisition und die Eroberung der damaligen neuen Welt „Amerika“ mit ihren Gräueltaten gegen die Ureinwohner sind jedem Schüler in Europa bekannt. Vielleicht wird damit argumentiert, dass Jesus im Gegensatz zu Muhammad nie zur Gewaltanwendung aufgerufen hat. Hier möchte ich zum einen meine Zweifel an der Richtigkeit dieses Jesusbildes zum Ausdruck bringen, die inzwischen auch von einigen christlichen Wissenschaftlern geteilt werden,161 und zum anderen wiederholen, dass Muhammad bzw. der Islam Krieg und Gewalt ausschließlich zur Selbstverteidigung erlaubt. Auch im sogenannten modernen Zeitalter nach der französischen Revolution, die eigentlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zwischen allen Menschen bringen sollte, wurden diese bewundernswerten Prinzipien wenige Jahrzehnte später außer Acht gelassen und Algerien 130 Jahre lang besetzt. Die ursprüngliche islamische Kultur und Sprache sowie ihre Institutionen wurden ausgelöscht. Für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit mussten 1,5 Millionen Menschen ihr Leben lassen. Grauenvolle Ereignisse sollten nicht immer wieder ausgegraben werden, da dies eine destruktive Wirkung auf den Ablauf des Dialogs haben kann. Aber es wäre definitiv an der Zeit für den Westen, seine eigene Geschichte in dieser Hinsicht selbstkritisch aufzuarbeiten und damit aufzuhören, den Islam aufgrund eines fremdmanipulierten Geschichtsbildes als Kriegsreligion zu diffamieren. Ein Blick auf die Länder, in denen heute die meisten Muslime leben, zeigt, dass diese den Islam ohne Krieg angenommen haben. Indonesien, Indien, Pakistan, Malaysia, China und Schwarzafrika zählen nicht zu den durch Muslime eroberten Gebieten. Der Islam wurde dort vielmehr durch einfache Händler verbreitet. Die Gesamtzahl der Muslime in diesen Ländern ist mindestens dreimal so hoch wie die der Muslime in den eroberten Ländern Irak, Syrien, Ägypten und Nordafrika. Ein Vergleich der Zahl der Juden vor und nach der muslimischen Herrschaft in Spanien zeigt, wie tolerant der Islam im Gegensatz zum Christentum im Mittelalter war. Gibt es heute eigentlich so viele einheimische Muslime in Spanien wie z. B. einheimische Christen in Ägypten? Wo und wann gab es in der islamischen Geschichte eine solch totale und brutale Zwangsbekehrung wie die der Inquisition, die nicht nur die zurückeroberten Gebiete in Europa, sondern ganz Nordafrika heimgesucht hat? Den Vorwurf, der Islam sei eine Kriegsreligion, kommentiert der bekannte engli161 Baigent, Michael u. a.: Verschluss-Sache Jesus, München, Bastei Lübbe Stars, 1991.
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sche Orientalist Thomas Carlyle in seiner renommierten Abhandlung wie folgt: „Die Behauptung, dass Muhammad den anderen seine Religion durch das Schwert aufgezwungen hat, ist ein unverständlicher Schwachsinn.“162 Thomas Carlyle zählt übrigens nicht zu den Orientalisten, die dem Islam gegenüber allzu positiv eingestellt sind. Auch in der Gegenwart kann man erfreulicherweise einige objektive Stimmen unter den jüngeren Wissenschaftlergenerationen feststellen. Zwei in den schweizerischen Medien erschienene Artikel, die den Geist meines Beitrages wiedergeben, führe ich hier auszugsweise als Beispiel für diese positive Entwicklung an. L. Rossi schreibt unter dem Titel „Islam als Bedrohung“ Folgendes: In den westlichen Medien taucht der Jihad immer als gewaltsamer islamischer (Heiliger Krieg) auf, gemäß dem die sog. (Koran-Truppen) schon überall ihre Schwerter wetzen, um Rache zu nehmen für erlittene Niederlagen der letzten Jahrhunderte. Nun hat aber Jihad wenig mit Krieg und schon gar nichts mit heilig zu tun.163
Nach diesem eindeutigen Statement über die terminologische Bedeutung des Jihad fährt sie mit der philologisch-chronologischen Definition dieses arabischen Wortes fort: Der Begriff (Jihad) bedeutet wörtlich (Anstrengung, Abmühen, Einsatz). Er findet sich im Koran bereits in den ersten mekkanischen Offenbarungen, also zu einer Zeit, als von Kriegen noch keine Rede war. Zunächst bezeichnet das Substantiv Jihad eine entschlossene geistige Haltung, mit der in der späteren medinensischen Zeit der Einsatz für den Islam schlechthin mit der Betonung auf Einsatz von Vermögen und Leben bezeichnet wurde. Wesentlich ist dabei, dass Jihad von seiner Wurzel her weder Krieg führen noch töten bedeutet und in diesem Sinne beinhaltet er keine Aggression. Es widerspricht also dem koranischen Wesensgehalt von Djihad, ihn als Krieg aufzufassen. Für das Töten oder Kriegführen verwendet das Arabische u. a. die Wurzel (q-t-l) und (Qital = Schlacht). Aber auch für die Schlacht galten einschränkende Regeln. Die Verse 190 bis 193 der Sure 2 des Korans werden folgendermaßen zusammengefasst: – Krieg darf nur gegen Angreifer geführt werden, d. h. es ist eine reine defensive Tätigkeit. – Es darf nur für die Sache Gottes Krieg geführt werden nicht aus materiellen Gründen. – Der Krieg muss sofort beendet werden, wenn sich der Angreifer ergibt oder zurückzieht. 162 Carlyle, Thomas, On Heroes, Hero-Worship and Heroic in History, 2. Aufl., London, James Frezer Verlag, 1906, S. 83. 163 In: ASMZ, Nr. 11/1996, S. 10–11.
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Auch Qital – also der defensive Krieg zum Schutze der islamischen Gemeinschaft ist kein Heiliger Krieg, denn Krieg gilt aus islamischer Sicht nie als heilig. Selbst der Verteidigungskrieg wird als ein notwendiges Übel angesehen. Der Prophet Mohammed hat zwischen einem kleinen und einem großen Jihad unterschieden. Während die Opferung von Leben für die Verteidigung der islamischen Gesellschaft als kleiner Jihad zählt, gilt der große Jihad dem Kampf gegen die eigenen schlechten Eigenschaften und allgemein gegen die niederen Motive.164
Über die Verbindung zwischen „heilig“ und „Krieg“ sagt L. Rossi: Der Heilige Krieg, bzw. die Wortverbindung zwischen „heilig“ und „Krieg“ hingegen ist ein Begriff, der im Christentum entstanden ist. Papst Urban II. prägte 1095 nach dem Konzil von Clermont diesen Begriff, um die Kreuzzüge als einen göttlichen Auftrag an alle Christen zu rechtfertigen. Wenn heute politisch motivierte Angriffs-Kriege unter dem Deckmantel des Djihad geführt werden oder als religiös bestimmte Kriege bezeichnet werden, dann entspricht dies nicht dem koranischen Verständnis des Begriffes, um so weniger, wenn sich sogar Terrororganisatioen so nennen Solche Aktioen als islamisch ligitimierbare Handlingen zu bezeichenen ist ein Missbrauch des Begriffes und eine Ausnutzung religiöe Gefühle“.165
Die Ausführung von Rossi könnte ich inhaltlich voll unterschreiben – mit einer einzigen Ausnahme: Denn politisch motivierte Kriege können, auch im Sinne der koranischen Auffassung, wohl als Djihad bezeichnet werden, wenn sie gegen eine Kolonialmacht, also als Befreiungskrieg, unter der Berücksichtigung aller oben erwähnten Kriegsregeln geführt werden. In diesem Falle handelt es sich um einen Verteidigungskampf gegen ein geschehenes Unrecht, was aus islamischer Sicht nicht nur legitim, sondern eine religiöse Pflicht jedes dazu fähigen Muslims ist. Den zweiten Beitrag, denn ich hier ebenfalls auszugsweise erwähnen möchte, hat Friedrich Niewöhner in der NNZ am 11.11.2001 veröffentlicht. Im Gegensatz zu dem oben erwähnten Artikel von L. Rossi, versucht der Autor das Eigenmerkmal des Islam, insbesondere gegenüber den anderen monotheistischen Religionen, zu unterstreichen. Er schreibt unter dem Titel „Vernunft als innigste Ergebenheit in Gott – Lessing und der Islam“ in der Rubrik „ Literatur – Kunst“ Folgendes: Stubbe, ein Freund von Thomas Hobbes, schrieb sein Buch über Muhammad kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg (1671), also kurz nach einer Zeit, in der die christlichen Par164 Ibd. 165 Ibd.
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teien in Europa sich gegenseitig zerfleischt hatten. Die Geschichte des al-Qarafi soll bei Stubbe aber nicht nur die christlichen Kriege illustrieren, sondern auch zeigen, wie sich der Islam von Christentum unterscheidet. Im Islam gebe es nämlich keine Geheimnisse und Mysterien, wie sie Paulus den Königen erzählt habe, und „die der Vernunft und dem allgemeinen Menschenverstand widersprechen“ würden. Die Lehren des Islam seien „sehr vernünftig (very rational)“.
Stubbes Darstellung des Islams der Vernunft gipfelt in den Worten: Die Lehre des Muhammad stimmt genau mit dem Gesetz der Natur (law of nature) überein und der Lehre des Maimunides, (dessen Ausführungen genau übereinstimmten mit denen Muhammads wie dem Gesetz der Natur). Dies ist ein erstaunlicher Satz: „Das Gesetz der Natur stimmt überein mit den Predigten des Begründers des Islam sowie mit den Lehren des großen jüdischen Philosophen Moses ben Maimon (1135–1204), der so oft mit Lessings Nathan der Weise verglichen worden ist“.
Mit einem einzigen Vorbehalt stimme ich den Ausführungen Niewohners zu. Mein Vorbehalt bezieht sich auf den Vergleich zwischen dem Propheten Muhammad einerseits und Lessings „Nathan der Weise“ andererseits. Muhammad war ausschließlich ein Prophet, ein Verkünder der göttlichen Offenbarung, also war er nicht ein Weiser im Sinne von Lessing. Denn Muhammad ausschließlich als einen Weisen zu bezeichnen führte dazu, ihn u. a. als Verfasser des Koran zu betrachten, was wiederum der islamischen Grundüberzeugung widerspricht. Der Islam als eine einfache Religion, welche der Natur (Natürliche Religion) und dem gesunden Menschenverstand (Rationale Religion) entspricht, wie oben beschrieben, kann nie sinnlose unbegründete Gewaltanwendung gegen Unschuldige zulassen. Die Verzweiflung und die Überzeugung der Muslime, dass ihnen grenzenlose Ungerechtigkeit seitens der USA und einiger westlicher, aber auch östlicher Länder, z. B. Russland und Indien, angetan wird, ist der wahre Grund für die Eskalierung der Situation. Dass sie bei jedem Verdacht auf sogenannten Terror oder dessen Unterstützung sofort auf das Schärfste bestraft werden, wobei einige ihrer Länder und Gebiete von fremden Mächten kolonialisiert werden, ohne Hoffnung auf Unterstützung von den Großmächten, und dass Menschenrechte für sie nicht gelten, führte zum Status Quo. Wenn man nichts mehr zu verlieren hat, ist man zu allem fähig. Solange sich die Muslime durch die anderen Volksgemeinschaften erniedrigt und von den Großmächten im Stich gelassen fühlen, genauer gesagt, solange die Aggression gegen sie u. a. in Palästina, Tschetschenien, Kaschmir und im Irak sowie die Drohungen gegen andere islamische Länder wie Sudan und Iran nicht beendet
4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?
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werden, kann niemand garantieren, dass der Djihad seine ursprüngliche friedliche Form annehmen wird. Ungerechtfertigte Gewalt erzeugt bekanntlich immer Gegengewalt, welche in diesem Falle auch religiös legitimiert werden würde.
4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?
Das Interesse am Islam hat im Westen in den letzten Jahrzehnten in den Massenmedien und in der Politik merklich zugenommen. Angefangen mit der islamischen Revolution im Iran, dem Golfkrieg, dem Nahost-Konflikt, den ethnischen Säuberungen im Balkan, Afghanistan und schließlich im Irak sowie der Reislamisierungsprozess, der teils friedlich, teils weniger friedlich ausgetragen wird. Durch die Ereignisse vom 11. September 2001 wurde der Islam auf eine unvergleichliche Art und Weise ins Bewusstsein des Westens gerückt. Viele Schriften, die über den Islam von jeder Art und Qualität erschienen, waren nicht frei von opportunistischen Ambitionen und erlebten trotzdem Hochkonjunktur. Selbst die islamische Identität erlitt durch all diese Ereignisse eine folgenreiche Schizophrenie. Auf der einen Seite genoss der Islam die lange verlorene und ersehnte Aufmerksamkeit der Welt, nachdem man ihn insbesondere im Westen für tot erklärt hatte, auf der anderen Seite wurde er mit artfremden Elementen teils absichtlich, teils unabsichtlich vermischt und als der echte Islam deklariert. Veraltete Vorurteile wurden in verstärktem Maße wieder angefacht. Eine Bemerkung über den viel verwendeten Begriff „Islamismus“ möchte ich vorausschicken. Ausschließlich der Islam als Religion wird in einer negativen Sprachkonstruktion gebraucht und mit einer unkritischen Selbstverständlichkeit verwendet. Man spricht von christlichem, jüdischem oder buddhistischem Fundamentalismus. Adäquat zum Islamismus spricht jedoch niemand von Christizismus, Judismus oder Buddhistismus, um den gleichen Sinn, wie den des „Islamismus“ wiederzugeben. Warum spricht man in diesem Zusammenhang nicht, wie sonst bei anderen Religionen, von „Islamischem Fundamentalismus“, der ja tatsächlich existiert? Darf man hier von einer lediglich sprachlichen Fehlkonstruktion ausgehen? Demzufolge wäre dies viel harmloser, als ich es mir vorstelle. Müsste ich mir dann den Vorwurf gefallen lassen, einer bodenlosen Verschwörungstheorie verfallen zu sein? Zweifelsohne gehört der Begriff „Islamismus“ zu den meistverwendeten, missinterpretierten und umstrittensten Begriffen, insbesondere in den westlichen Massenmedien sowie in missionarisch geprägten theologischen und orientalistischen Bereichen. Die, meines Erachtens, verfehlte Definition dieses Begriffes führte zwangsläufig
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zu einer destruktiven Sensibilisierung des Medienkonsumenten gegenüber allem, was sich islamisch nennt. Und bewusst oder unbewusst wird jeder Muslim dadurch in die Position eines potenziellen Feindes gedrängt und dementsprechend vorverurteilt. Die Gefahren, welche eine solche Vorverurteilung langfristig nach sich zieht, sind nicht zu unterschätzen. Die Ereignisse vom 11. September 2001 und die noch kontinuierlich präsenten politischen, militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen sind nur der Gipfel des Eisberges. Mein diesbezüglicher Beitrag ist mit Sicherheit weder der erste noch der letzte, welcher den komplexen Begriff „Islamismus“ zu erhellen sucht. Ob und wann alle bisherigen Erhellungsversuche seitens einiger muslimischer Wissenschaftler und erfreulicherweise auch seitens einiger renommierter westlicher Intellektueller ihre positive Wirkung zeigen werden, ist angesichts der gegenwärtigen künstlich sensibilisierten weltpolitischen Lage nicht vorauszusehen. Ohne irgendwelche Rechtfertigung für Terror im Namen des Islam oder jeglicher sonstiger Religion finden zu wollen, waren die Muslime weder die ersten noch die letzten, welche „Heilige“ Kriege oder Terror gegen andere Menschen geführt haben. Juden und Christen, um nur von den monotheistischen drei Religionen zu sprechen, haben vor und nach dem Erscheinen des Islam etliche derartige „Heilige Kriege“ gegen Andersgläubige geführt und führen sie heute noch unter anderem Namen. Der Begriff „Heiliger Krieg“ („harb muqaddasah“) existiert übrigens ebenso wenig wie der Begriff „Islamismus“ im heutigen Sinne in der klassischen islamischen Literatur. Der Begriff „Islamismus“ hatte in einigen früheren islamischen Dogmenwerken, wie bei Al-Aschʿari in seinem bekannten Werk „mazahib al-islamiyin“, eine ausschließlich theologische bzw. dogmatische Bedeutung. Der Begriff „Heiliger Krieg“ wird vielmehr auf den Stifter der Kreuzzüge Papst Urban II. Im Jahr 1095 zurückgeführt. Auch in der modernen arabischen Literatur existiert dieser Begriff, mit Ausnahme einiger Übersetzungen aus europäischen Quellen, nicht. Der Begriff „Islamismus“ wird in der europäischen Literatur als Bezeichnung für den politischen und/oder für den militanten Islam verwendet. Neuerdings werden zunehmend auch politisch bewusste Muslime im arabischen Sprachraum als „Islamiyyun“ bzw. „Islamisten“ im westlichen Sinne bezeichnet. Im Zuge der derzeitigen Islamophobie auf der ganzen Welt wird mittlerweile jeder Muslim bzw. jede Muslima als „Islamist“ bzw. „Islamistin“ bezeichnet, der oder die die islamischen Gebote und Verbote im Alltagsleben ernst nimmt. Bei vielen Europäern gilt sogar derjenige als Islamist, der mit der rechten Hand isst. Keine Frage – der Terror ist ein Verbrechen und muss unselektiv von allen zivilisierten Menschen bekämpft werden. Doch dies gilt eben für alle Arten des Terrors, sei es Staatsterror, Gruppenterror oder individueller Terror.
4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?
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Das Wort „Terror“ wird auch im Arabischen mit dem Wort „irhab“ übersetzt. Philologisch gesehen weisen das lateinische Wort „Terror“ und das adäquate arabische Wort „irhab“ auf eine passiv abschreckende Handlung hin. Ausschließlich als passiv abschreckende Handlung wurde dieses Wort in Verbalform, nämlich „turhibuna“ im Koran verwendet. In Sure 8:60–61 lesen wir: Sammelt alle eure Streitkräfte, damit ihr eure und Gottes Feinde abschreckt. Wenn sie sich dann dem Frieden zuneigen, dann neige du dich ihm (dem Frieden) zu und vertraue auf Gott. Er ist der Allhörende und Allwissende.
Das Wort „irhab“ (Terror) in Nominalform in seiner heutigen Definition als eine verbrecherische Handlung kommt nicht im Koran vor. Diese koranische Anweisung wurde vom Propheten Muhammad bei seiner ersten Begegnung mit den Römern im Jahre 630 konsequent eingehalten. In diesem koranischen Kontext wird das Wort eindeutig als eine rein gewaltlose abschreckende Handlung verstanden und praktiziert und nach diesem Verständnis ist, aus islamischer Sicht, auch ein sogenannter Präventivschlag nicht erlaubt. 4.3.1 Islamismus, Djihad und Terror – Theologische Begründung?
Aus islamischer Sicht wird jede Art des Angriffs auf unschuldige Menschen, Tiere und Natur als Terror bezeichnet. Einen unschuldigen Menschen zu töten, ist nach dem koranischen Konzept mit der Tötung aller Menschen vergleichbar (Sure 5:32). Ein unschuldiger Mensch ist jeder, der keine Gewalt gegen einen anderen Menschen ausübt. Kollektive oder pauschale Schuldzuweisung, durch die einige Terroristen ihr Verbrechen rechtfertigen wollen, wird damit zurückgewiesen und gilt als eine Handlung gegen die göttlichen Gebote. Solche Terrorakte entbehren jeder theologischen Begründung und dürfen niemals als eine Art des Djihads gerechtfertigt werden. Erst im 2. Jahr nach der Hidschra (der Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina) wurde Djihad als eine religiöse Pflicht eines jeden fähigen Muslims durch den folgenden Koranvers bestimmt. In Sure 22:39 heißt es: „Denjenigen (Muslimen), die angegriffen wurden, ist die Erlaubnis (zur Bekämpfung des Angreifers) erteilt worden, weil ihnen (vorher) Unrecht geschehen ist.“ In Sure 22:78 finden wir eine zusammenfassende Konzeption des Begriffes „Djihad“:
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Ihr sollt alle vorhandenen Kräfte für die Sache Gottes einsetzen. Er hat euch dafür auserwählt und Er verpflichtet euch nie zu etwas, was euch missfällt (bzw. überfordert). Dies ist die Religion eures Urvaters Ibrahim. Er ist derjenige, der euch bereits vor vielen Jahren Muslime genannt hat.
Der Begriff Djihad wird in diesem Kontext von allen Koraninterpreten als die individuelle Anstrengung bzw. den vehementen Einsatz im Kampf gegen die eigene Willkür und die äußeren Missstände verstanden.166 Grundsätzlich dürfen Muslime, solange sie nicht militärisch angegriffen werden, nie zu den Waffen greifen, es sei denn, sie werden durch Notwehr dazu gezwungen. Darüber lesen wir im Koran Folgendes: Sure 2:190: „Kämpft für die Sache Gottes, dabei dürft ihr nicht mit der Kriegshandlung anfangen, denn wahrlich! Gott liebt die Angreifer nicht.“ In diesem Koranvers wird das arabische Wort „qatilu“ im Sinne vom bewaffneten Kampf, d. h. „kämpft mit der Waffe“, verwendet und bezeichnet damit eine Art des Djihad, bei dem den Muslimen Gewaltanwendung erlaubt wird. Würde der Kampf (Djihad) unausweichlich in eine kriegerische Auseinandersetzung ausarten, so sind für die Muslime einige Bestimmungen unbedingt einzuhalten: – In den vier heiligen Monaten (in quellenmäßiger Reihenfolge: der 1., 7., 11., und 12. Monat nach dem islamischen Kalender) dürfen Muslime keinen Krieg führen, mit der einzigen und ausschließlichen Ausnahme, wenn die Angreifer diese Regelung (Waffenstillstand während der oben genannten vier Monate) nicht respektieren wollen. – Die Aufrichtigkeit bei Einhaltung aller getroffenen Abkommen ist nötig. – Frauen, Kinder, Kranke, Alte, Mönche und Klosterbewohner sowie unbewaffnete Männer dürfen nicht getötet werden. – Die Toten dürfen nie geschändet, Tiere, Felder und Bäume dürfen nur für Speisezwecke verwendet werden. Von der Erfüllung dieser Bestimmungen hängt die Bezeichnung „heilig“ für den „Djihad“ ab. Bei Missachtung der gesamten oder eines Teils der genannten Bestimmungen wird jeder unter dem Vorwand des Djihad geführte Krieg nicht mehr als für die Sache Gottes, sondern für das eigene Machtinteresse und demnach nicht als „heilig“ betrachtet.
166 Siehe u.a. Ibn Kathir, Al-Hafiz Abul-Fida Ismail: Tafsir Al-Koran Al-ʿAzim, Kairo, Dar Al-Halabi, o. D.
4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?
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4.3.2 Die koranische Konzeption des Djihads
Die Koranverse wurden nach und nach zu verschiedenen Anlässen als Problemlösungen oder gegebenenfalls als Antwort auf gestellte Informationsfragen herabgesandt. Einige Koranverse, die bestimmte Anweisungen enthalten, galten ausschließlich für den Offenbarungsanlass bzw. die -situation (sabab an-nuzul), diese Art hat also keine allgemeine Geltung (khaass oder muqaiyad). Andere Anweisungen haben dagegen eine allgemeine Geltungskompetenz (ʿam oder mutlaq). Dazu kommt eine andere Koranwissenschaft, die bestimmte Anweisungen aufhebt, einschränkt oder ergänzt – es handelt sich hier um die Wissenschaft von der „Abrogation“ (an-nasikh wa l-mansukh). Die meisten Missverständnisse, die man in einiger Literatur findet, kommen durch Unwissenheit oder Missachtung dieser beiden Koranwissenschaften zustande. Für den Gewaltaspekt des Djihad verwendet der Koran das Wort „Qital“ (aus der Wurzel „qatala“, Sure 2:190) oder es wird dem Wort „Djihad“ das Wort „mit dem Leben“ beigefügt, was so viel bedeutet wie „die Menschen, die mit ihrem Leben Djihad tun“ bzw. „sie riskieren ihr Leben beim Djihad“, „sie nehmen den Tod in Kauf.“ Die Grundeinstellung des Islam in Bezug auf den Djihad lesen wir in den folgenden Koranstellen: In Sure 2:190 heißt es: Und kämpft für die Sache Gottes (ausschließlich) gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, aber greift nie als erste an, wahrlich Gott liebt nicht diejenigen, die die anderen unrechtmäßig (ohne triftigen Grund) angreifen.
In Sure 60:8–9 lesen wir: Gott verbietet euch nicht (im Arabischen bedeutet diese Formulierung: „Gott empfiehlt euch“) gegenüber denjenigen pietätvoll und gerecht zu sein, die nicht der Religion wegen gegen euch gekämpft und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben. Gott liebt diejenigen, die gerecht handeln. Doch verbietet Er euch, euch denen anzuschließen, die der Religion wegen gegen euch gekämpft und die euch aus euren Häusern vertrieben oder (euren Feinden) bei eurer Vertreibung mitgeholfen haben. Diejenigen, die sich ihnen anschließen, sind die (wahren Frevler).
Die militärische Aufrüstung im Islam hat als Hauptziel einer Abschreckungswirkung beim Feind im Vorfeld der möglichen Kriegshandlung, sie ist in diesem Sinne vor allem eine auf Frieden zielende Vorbeugungsmaßnahme, die den Feind davon abhalten soll, sich auf ein folgenreiches Risiko einzulassen, wie es bei der ersten Begegnung
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zwischen dem muslimischen Heer unter der Führung des Propheten Muhammad und den Römern bei Tabuk (8 n. H./630 n. Chr.) der Fall war. Die Toleranz der muslimischen Eroberer sogar gegenüber ihren Erzfeinden in Mekka geht trotz allem so weit, dass der Muslim die Sicherheit eines ehemaligen Feindes garantieren soll, wenn dieser ihn um Schutz bittet. In Sure 9:6 lesen wir: Und wenn einer von den Polytheisten dich um Schutz bittet, dann gewähre ihm Schutz, damit er das Wort Gottes hören kann! Hierauf lass ihn (unversehrt) dahin gelangen, wo er in Sicherheit ist! Dies (sei ihnen zugestanden), weil es Leute sind, die nicht Bescheid wissen.
4.3.3 Status der Nichtmuslime in der islamischen Gesellschaft
Spricht eine Person über Minderheiten, denkt man zunächst an die Unterdrückung und Diskriminierung seitens der Mehrheit in ihrem Umgang mit der Minderheit, und dies nicht immer zu Unrecht. Wenn jemand, der einer Minderheit angehört, spricht, gehen die Zuhörer wie selbstverständlich davon aus, dass er für seine Gemeinschaft Partei ergreift. Infolgedessen wird er von den Zuhörern nicht ernst genommen. Das gleiche geschieht, wenn er der Minderheit angehört; ihm werden ebenso fehlende Objektivität und Übertreibung unterstellt. Würde er weder dieser noch jener Gruppe angehören, würde ihm Unkenntnis der Lage vorgeworfen bzw. ihm die Legitimität, sich darüber zu äußern, abgesprochen. Würde man Vertreter jeder Gruppe gleichberechtigt zu Wort kommen lassen, könnte man theoretisch deren Legitimität, im Namen der jeweiligen Gruppe zu sprechen, in Zweifel ziehen. Würde man diese Personaldebatte irgendwann überwinden können, bestünde noch immer die Gefahr, dass man Willkür bei der Wahl der theoretischen oder der praktischen Beispiele walten lässt, welche jeweils angeblich nur die eigene Position unterstützen und dabei andere, vielleicht viel stärkere Argumente, außer Acht lassen. Ebenso würde man sich dem Vorwurf aussetzen, zu theoretisch oder zu konkret oder zu optimistisch bzw. zu pessimistisch zu sein. Der einzige Weg aus diesem Dilemma wäre, so scheint es mir, möglichst viele Personenkreise, Themenbereiche und Zeitperioden gleichermaßen zu Wort kommen lassen. 4.3.4 Schlussgedanken
Der selbstkritische Geist in Europa hat einen hohen Grad erreicht, von dem Muslime bis heute nur träumen können. Doch dieser hochgeschätzte europäische selbstkriti-
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sche Geist würde seine Vollkommenheit erst erreichen, wenn er in der Lage wäre, sich auch ebenso vehement mit externer Kritik auseinanderzusetzen. Gewiss gibt es extremistische Strömungen unter Muslimen, sowohl in den islamischen Ländern als auch im Westen, und diesen gilt es, besonnen entgegenzuwirken. Aber genauso gewiss gibt es im Westen extremistische antiislamische Strömungen, die insbesondere in Europa massenmedienstark Islamophobie schüren und sich eines großen Zulaufs unter der Bevölkerung erfreuen. Diese und ihre Gefolgschaft sind, meines Erachtens, einem extremen Verfolgungswahn und einer blinden Verschwörungstheorie verfallen. Heute wird jeder Muslim, der seine religiöse Identität ernst nimmt und seine religiösen Pflichten verrichtet, als „Islamist“ bzw. als eine schlafende Gefahr für die westliche Kultur wahrgenommen. Ebenso werden muslimische Intellektuelle, die sich z. B. für die Einführung des islamischen Religionsunterricht in öffentlichen Schulen in der jeweiligen europäischen Landessprache einsetzen, um die Integration durch den Aufbau von vertrauensbildenden Maßnahmen zu fördern, als „Islamisten“ und als latente Gefahr für die kulturellen Werte des Westens diffamiert. Ehemals angesehene Nachrichtenmagazine und Tageszeitungen rutschen immer mehr auf ein populistisches Niveau hinab und leisten dadurch der im Westen zurzeit aufblühenden antiislamischen „Verstimmung“ großen und gefahrvollen Auftrieb. Statt den Medienkonsumenten zur aufrichtigen Meinungsbildung zu verhelfen, führen sie diese in die Irre und malen voller Vorurteile den Teufel an die Wand. Die eigentliche Aufgabe der Massenmedien sollte darin liegen, das kulturelle Niveau der Allgemeinheit zu heben und nicht, populistischen Ansichten aus ökonomischen oder dogmatischen Gründen nachzueifern. Die Politik bleibt nicht von dieser unerfreulichen Entwicklung verschont, zumal sie aus Parteieninteresse auf Wählerstimmen angewiesen ist. So werden Medienkonsumenten und Politiker durch Massenmedien pragmatisch manipuliert und eine der besten Errungenschaften der Menschheit in der Moderne, nämlich die Demokratie, ihres Sinns beraubt. Aufrichtige Wissenschaftler und Intellektuelle sind heute wie nie zuvor aufgefordert, sich dieser katastrophalen Entwicklung als einer der größten Herausforderungen unserer Zeit zu stellen und sie in die richtige Richtung zu lenken. Der Rechtsstaat im Westen als ein erstrebenswertes Vorbild in vielen islamischen Ländern begeht als Folge solcher extremistischer antiislamischer Tendenzen nicht nur einen Verrat an seinen eigenen Menschenrechtsprinzipien, sondern verliert ebenso seinen Glanz und seine Vorbildhaftigkeit in den weniger demokratischen islamischen Ländern. Die größte Gefahr, die dann dem Weltfrieden droht, entsteht unweigerlich, wenn die moderaten Muslime durch populistische pauschale Diffamierung der Mus-
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lime in Verzweiflung geraten und sich zum Aufgeben ihrer Rolle als interkulturelle Mediatoren gezwungen fühlen. Die Folgen einer solchen Entwicklung, in der die Extremisten auf beiden Seiten die Ruder in die Hände bekommen, werden für alle Menschen auf der ganzen Welt unabsehbar sein. Anscheinend ist die westliche Intelligenz nicht auf eine derartige Herausforderung durch eine unerwartet schnell gewachsene muslimische Intelligenz vorbereitet gewesen. Für den Westen waren die muslimischen Mitbürger meist Gastarbeiter, die keine intellektuelle Konkurrenz darstellten. Dass aus den Gastarbeitern Geistarbeiter entstanden, die mit ihren westlichen Kollegen auf gleicher Augenhöhe sprechen können, war jedoch für den Westen eine Herausforderung, mit der keiner gerechnet hat und auf die dementsprechend konzeptlos reagiert wird. Im Westen ist man heute auf dem besten Weg dahin, die Muslime von heute in die Situation der Juden von gestern zwingen zu wollen. Dies könnte nur dem Extremismus auf beiden Seiten zugutekommen. Den muslimischen Mitbürgern Hoffnung und Perspektiven auf ein menschenwürdiges Leben zu geben, wäre der beste Weg dazu, dem Terror im Namen welcher Religion auch immer den Nährboden zu entziehen. In dem, meines Erachtens, ausgewogenen selbstkritischen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ unter dem Titel „Hasst der Westen den Islam? Von Demokratie und Ignoranz“ über die defizitäre Wahrnehmung des anderen in den Kulturkreisen des Westens und der islamischen Welt schildert der renommierte ägyptische Schriftsteller und Bruno-Kreisky-Preisträger 2009 Alaa Al-Aswani zutreffend Folgendermaßen: Während der jüngsten Unruhen in Iran wurde eine junge iranische Frau namens Neda Sultan von einem Unbekannten erschossen. Ihr Tod war schon bald eine Spitzenmeldung der internationalen Medien. Westliche Politiker bewegte ihr Tod so sehr, dass selbst Präsident Obama den Tränen nahe war. Ein paar Wochen später wohnte eine ägyptische Frau namens Marwa Al-Shirbini in Dresden den Gerichtsverhandlungen gegen einen Mann bei, der sie rassistisch beschimpft hatte, weil sie einen Hidschab getragen hatte. Als das deutsche Gericht ihn dafür zu einer Strafe von 2800 Euro verurteilte, drehte der Mann durch und griff Marwa und ihren Mann mit einem Messer an. Marwa starb sofort, ihr Mann wurde lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus gebracht167.
Al-Aswani sagt weiter: Menschliches Leben sollte in jedem Falle gleichwertig sein und die Trauer, die Marwas Familie über ihren Tod empfand, war nicht geringer als die Trauer, welche die Familie der 167 Süddeutsche Zeitung, 10. Juli 2009, S. 11.
4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?
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iranischen Frau Neda empfand. Der Mord an Marwa und der Mord an Neda: Das sind Verbrechen gleicher Grausamkeit und gleicher Wirkung. So sollten sie auch gesehen werden. Doch der Mord an einer ägyptischen Frau im Hidschab brach weder Obamas Herz, noch wurde er in den westlichen Medien zur Titelgeschichte. Der Grund ist, dass der Mord an Neda das iranische Regime belastet, während der Mord an Marwa zeigt, dass Terrorismus keine Domäne der Araber und Moslems ist. Ein weißer deutscher Terrorist bringt eine unschuldige Frau um, die er nicht kennt, und versucht ihren Mann zu töten – und das alles nur deshalb, weil sie Muslimin ist und einen Hidschab trägt. Westliche Medien scheren sich nicht um diese Nachricht. Kurz: Der Westen, die Politik wie die Medien, vertritt immer den Standpunkt und die Politik, die den Arabern und Moslems feindlich gegenüber ist.168
Al-Aswani fährt fort: Das ist eine Tatsache, die nicht zu leugnen ist. Doch sind Araber und Moslems nur unschuldige Opfer westlicher Vorurteile? Definitiv nicht. Wir können den „Westen“ nicht als exklusiven Begriff verwenden. „Der Westen“ bezeichnet nicht nur eine bestimmte Sache. Selbst wenn die Politik und die Medien des Westens von Vorurteilen gegen uns bestimmt werden, gibt es Millionen ganz normaler Westler, die den Islam weder mögen noch hassen, ganz einfach, weil sie nichts über ihn wissen. Doch was für ein Bild vermitteln die Moslems selbst vom Islam? Sollte ein gewöhnlicher Westler die Wahrheit über den Islam dadurch herausfinden wollen, indem er sich damit beschäftigt, was Moslems tun und sagen: Was würde er finden? Er würde auf Osama bin Laden stoßen, der verkündet, dass der Islam ihm befohlen habe, so viele westliche Kreuzfahrer wie möglich zu töten, selbst wenn sie unschuldige Zivilisten sind. Dann würde der Westler lesen, dass die Talibanbewegung entschieden hat, in den Gebieten unter ihrer Kontrolle sämtliche Mädchenschulen zu schließen, weil der Islam die Erziehung von Frauen verbietet. Danach würde der Westler Erklärungen von all den Männern lesen, die sich islamische Rechtsgelehrte nennen, und die sagen, dass der Islam einem Moslem, der zu einem anderen Glauben übertritt, nur die Wahl lässt: Buße tun – oder die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Einige dieser Rechtsgelehrten versichern, dass der Islam die Demokratie nicht anerkennt, und dass es eine Pflicht ist, einem moslemischen Herrscher zu gehorchen, auch wenn er seine Untertanen unterdrückt und ausbeutet. Sie werden Frauen schätzen, die ihr Gesicht mit dem Niqab verschleiern, damit nicht jene, die sie sehen, von ihrer sexuellen Begierde gezwungen werden, sie zu belästigen oder zu vergewaltigen. Viele werden darauf beharren, dass der Prophet Mohammed seine Frau Aisha ehelichte, als sie ein Kind von neun Jahren war.169 168 Ibd. 169 Ibd.
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4 Djihad – Kampf? Krieg? Heilig? Gegen wen?
Über die Wahrnehmungsproblematik des Islam im Westen sagt Al-Aswani: Der Westler wird all das lesen und keineswegs die Wahrheit finden. Er wird nicht herausfinden, dass die Frau des Propheten 19 und nicht neun Jahre alt war. Er wird nicht herausfinden, dass der Islam Männern und Frauen gleiche Rechte und Pflichten gibt. Er wird nicht herausfinden, dass jeder, der jemanden tötet, in den Augen des Islam alle Menschen getötet hat. Er wird nie herausfinden, dass der Gesichtsschleier Niqab nichts mit dem Islam zu tun hat, sondern ein Brauch ist, der mit dem Geld aus dem Golf aus einer zurückgebliebenen Wüstenkultur zu uns gekommen ist. Der Westler wird nicht herausfinden, dass die wahre Botschaft des Islam Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit ist, dass er die Freiheit des Glaubens garantiert, dass alle die glauben wollen, glauben dürfen, und alle, die nicht glauben wollen, nicht müssen, und dass Demokratie ganz essentiell ist für den Islam, weil kein moslemischer Herrscher sein Amt ohne die Zustimmung und die Wahl der Moslems bekleiden darf. Können wir es dem Westler letztlich vorhalten, wenn er den Islam für eine Religion der Rückständigkeit und des Terrorismus hält?170
Im Jahr 2008 gewann Al-Aswani den „Bruno Kreisky Preis“ für Literatur in Österreich. Aus Anlass der Preisverleihung musste er eine Rede halten. Er entschied sich, wie er selbst sagt, über die Realität des Islam zu sprechen. Er sagte: Ich erzählte den Zuhörern, dass der Prophet Mohammed ein so sanfter Mensch war, dass seine Enkel Hassan und Hussein oft auf seinen Rücken sprangen, wenn er niederkniete um zu beten. Er blieb dann immer knien, um die Buben nicht zu stören, bis sie genug vom Spiel hatten, dann erst nahm er seine Gebete wieder auf. Ich frage das Publikum: „Können Sie sich vorstellen, dass ein Mann, der für Kinder sein Gebet unterbricht, dafür plädieren würde, Unschuldige zu töten und zu terrorisieren?“ Das Publikum lauschte interessiert der Geschichte und viele kamen nachher zu mir, um mich zu fragen, wo sie wirkliche Informationen über den Islam bekommen könnten. Es stimmt schon, dass die Politik des Westens und auch die Medien Vorurteile gegen Araber und Moslems haben, aber es stimmt auch, dass die rückständige Auslegung des Islams der Wahabis, die sich in der islamischen Welt so weit verbreitet hat, viel dazu tut, ein unfaires und fehlgeleitetes Bild des Islam zu zementieren. Es ist unsere Pflicht, bei uns selbst zu beginnen.171
Die abschließende Aussage von Al-Aswani fasst die ganze Problematik zusammen und deutet auf eine mangelhafte Wahrnehmung des Islam in Europa. Al-Aswani 170 Ibd. 171 Ibd.
4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?
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macht die Politik und die Medien, die, seiner Meinung nach, eine voreingenommene und vorverurteilende Haltung gegenüber dem Islam haben und verbreiten, für die mangelhaften Informationen der Bürger über den Islam verantwortlich. Und dies ist der Grund dafür, dass viele Zuhörer ihn fragten, wo sie objektive Informationen über den Islam bekommen könnten. Genauso wichtig in diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf die Rolle und die Verantwortlichkeit der konservativistischen (wortl. rückständigen) Auslegung des Islam durch die Wahhabiten für das verzerrte Bild des Islam im Westen. Al-Aswani macht damit also die Politik und die Medien in Europa auf der einen Seite und die konservativen Muslime auf der anderen Seite für die Wahrnehmungsproblematik des Islam in Europa verantwortlich. Aber es stellt sich hier die Frage, ob die Bürger nicht doch teilweise selbst für die voreingenommene Politik in ihrem Lande verantwortlich sein könnten. Schließlich sind die Bürger diejenigen, die die Politiker demokratisch gewählt haben und bei der nächsten Gelgenheit abwählen könnten. Diese Problematik geht an die Wurzel der Demokratie, denn die Demokratie kann nur so gut funktionieren, wie es um den Stand der Bildung in einer demokratischen Gesellschaft steht. Gute Bürgerbildung ist eine Grundvoraussetzung für gut funktionierende Demokratie und Despoten wissen dies viel zu gut.
5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung Inwieweit stimmt eigentlich die Aussage, dass Religion eint und Politik dagegen scheidet? Gilt diese Aussage, zumindest für alle drei monotheistischen Religionen, im gleichen Maße? Welche Rolle spielt die geschichtliche Entwicklung jeder einzelnen Religion und die individuelle Interpretation ihrer jeweiligen Vertreter bzw. Oberhäupter? Die Geschichte lehrt uns eindeutig, dass die Religionen bestenfalls nur in ihrer theoretischen Konzeption ökumenische Züge nachweisen können. Die politische Entwicklungsgeschichte der Religionen zeigt oft das Gegenteil von dem, was in der theoretischen religiösen Konzeption steht. Die islamischen Eroberungszüge waren rein menschliche Handlungen, die sich auf die Religion beriefen. Der Islam verpflichtet jeden dazu befähigten Muslim, seine Religion allen interessierten Menschen auf die beste Art und Weise zu erklären. Im Koran heißt es dazu: Rufe zu dem Weg deines Herrn durch rationale Argumentation (hikma) und den guten Rat (al-mawʿiza al-hasana) auf und diskutiere mit ihnen (den Andersgläubigen) nur auf die höflichste Art und Weise (wa jadilhum bi-l-lati hiya ahsan). Gott (allein) weiß am besten, wer von Seinem Weg abgekommen ist und Er (allein) weiß am besten, wer auf dem richtigen Weg geht.172
Nun, wie kam es dann zu den bekannten kriegerischen Auseinandersetzungen? Hier war, nach meiner Auffassung, die Politik am Werke. Der junge islamische Staat auf der Arabischen Halbinsel war in manchen Fällen tatsächlich von seinen nichtmuslimischen Nachbarn bedroht, wie u. a. bei der ersten kriegerischen Auseinandersetzung mit den Byzantinern sowie mit den Persern, die aus islamischer Sicht Verteidigungskriege waren. Bei weiteren Eroberungen wie jene Ägyptens und Spaniens ging es den Muslimen dagegen um die Erweiterung ihres Reiches. Sie wollten durch diese Eroberungen neben ihrer Machterweiterung den anderen Völkern den Islam in seiner Theorie und Praxis näherbringen. Inwieweit diese Begründung richtig oder einsichtig war oder ist, bleibt der individuellen Interpretation vorbehalten. Sicher ist nur, und darüber sind sich alle, auch die westlichen Islamkenner, einig, dass die muslimischen Herrscher niemals den An172 Sure 16:125.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
dersgläubigen, mit Ausnahme des erfolglosen Versuchs von Mahmud Ghaznawi um die Jahrtausendwende in Indien, den Islam aufzuzwingen versuchten.173 Auch wenn man zugeben würde, dass die islamischen Eroberungen eine rein politische Machtfrage waren, kann niemand bestreiten, dass die Muslime eine hoch entwickelte Zivilisation, u. a. in den Geistes- und Naturwissenschaften sowie in der Kunst und Bauarchitektur in ihren ehemaligen Herrschaftsgebieten hinterlassen haben. Und dies steht in keinem Verhältnis zu den Verwüstungen, welche die Kreuzzüge und die europäische Kolonialherrschaft des 18. bis 20. Jahrhundert insbesondere in den islamischen Ländern angerichtet haben. Mit den gleichen politischen Hintergründen, aber mit fatalen Folgen, begannen die Kreuzzüge nach der berühmten Rede von Papst Urban II. am 26. November 1195. Kurt Frischler fasst dieses Ereignis in einer Zeittafel folgendermaßen zusammen: Urban II. gelingt es, die abendländischen Ritter und Fürsten durch seine berühmte Rede für den Kreuzzug zu gewinnen. Leitspruch ist: Gott will es! Losungswort wird Jerusalem, Symbol der Bewegung wird das weiße Kreuz. Ein ungeordneter Zug von Abenteurern bricht unter der Führung des Eremiten Peter von Amiens, der die Massen mit seinen Kreuzzugpredigten begeistern kann, auf, um ins Heilige Land zu ziehen.174
Fast im gesamten Buch schildert K. Frischler die Gräueltaten, Intrigen, Habgier und die Machtstreitereien vieler Heeresführer der Kreuzzüge. Eine ergänzende und noch ausführlichere Darstellung der Kreuzzüge findet man bei Francesco Gabrieli in seinem Buch „Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht“. 1896 schrieb der jüdische Journalist und Schriftsteller Theodor Herzl sein Buch „Der Judenstaat“. Ein Jahr später (1897) tagte der erste Zionistenkongress in Basel mit dem Ziel, für das jüdische Volk einen Heimatstaat in Palästina zu schaffen. Neben dem rein politischen Zionismus gibt es einen um neue Belebung der hebräischen Kultur und Sprache bemühten Kulturzionismus sowie einen stärker religiös orientierten Zionismus, dessen literarischer Verfechter Martin Buber war. Der Wunsch der Zionisten nach der Gründung eines eigenen Staates bekam seine politische Legitimation durch die berühmte Balfour-Deklaration vom 2.11.1917. Von da an begann die Verwirklichung dieser Forderung, die am 14.5.1948 mit dem Abzug der englischen Truppen nach dem Ende des britischen Palästinamandats und durch die Proklamation des Staates Israel ihren Abschluss fand. Damit haben die 173 Siehe u. a. die Beiträge von van Ess, J. in: Christentum und Weltreligionen, s. o., S. 166 ff. 174 Frischler, Kurt: Das Abenteuer der Kreuzzüge, München, Heyne Verlag, 1979, S. 378.
4.3 Gibt es eine Theologie des Islamismus?
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Juden zum ersten Mal nach fast zwei Jahrtausenden einen eigenen Staat. Im gleichen Atemzug verloren die Palästinenser ihre Heimat an die neuen jüdischen Siedler und Besatzer. Ohne viel über Religion oder Politik zu polemisieren, steht die Tatsache fest, dass ein Staat durch eine religiöse Verheißung in einem bereits bevölkerten Land gegründet worden ist. Dieser Judenstaat war und ist immer noch eine Begleiterscheinung der seit einigen Jahrzehnten stets wachsenden wirtschaftlichen bzw. politischen Macht jüdischer Personen und Organisationen. Sie beziehen die Legitimation ihres Staates aus der Thora, und damit könnte man auch hier ohne Weiteres von einem „Gottesstaat“ sprechen. Ausführlich beschreibt der Sterling Professor, Religionswissenschaftler und Judaist Keith Whitelam die Entstehungsgeschichte Israels und seinen erhobenen geschichtlichen Anspruch auf Palästina in seinem Buch „The Invention of Ancient Israel, The Silencing of Palestinian History“. In diesem Buch stellt der Autor fest, dass die alte jüdische Geschichte lediglich einen Teil der gesamten alten kanaanitischen bzw. palästinensischen Geschichte darstellt. Diese soll in ihrer Ganzheit wiederbelebt werden, sie darf nicht ausschließlich im Hinblick auf Ereignisse eingeschränkt werden, welche zur angeblichen Entstehung des alten Israel geführt haben.175 Grob ausgedrückt erlebte im letzten Jahrtausend jede der drei monotheistischen Religionen einen Höhepunkt ihrer politischen Macht. Der Islam genoss seine politische Macht fast acht Jahrhunderte vom 7. bis 15. Jahrhundert. Hinzu kommen gut dreihundert Jahre des osmanischen Reichs vom 16. bis zum 19. Jahrhundert Der christliche Westen übte seine absolute Herrschaft über fast alle islamischen Länder vom 19. bis zum 20. Jahrhundert aus. Die Juden genießen seit einem halben Jahrhundert ihre höchste Machtperiode, politisch im ganzen Westen und militärisch im Nahen Osten. Eine sich stets wiederholende Lektion der Geschichte lehrt uns, dass die politische Macht ihren Standort nach einer bestimmten Zeit wechselt, anderenfalls hätten viele Kulturen nie eine politische und geistige Macht erleben können. Der große deutsche Philosoph Hegel sagt in seiner „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“176 Es wird immer Menschen geben, welche die Religion zu ihrem eigenen Nutzen zu sehr „politisieren“, und genauso wird es immer Menschen geben, welche die Politik 175 London, Routledge Verlag, 1996. 176 Bd. 1, Johannes Hoffmeister (Hrsg.), Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1994, S. 19.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
auch für eigene Zwecke zu sehr „sakralisieren“. Dies geschah und kann immer noch geschehen, sowohl im Islam als auch in anderen Religionen. Dass es im Islam keine Trennung zwischen Politik und Religion geben darf, war nicht zuletzt ein verpflichtender Grund für das tolerante Verhalten der muslimischen Herrscher Andersgläubigen gegenüber. Auch Christen und Muslime, so Karl-Josef Kuschel in seinem interessanten ökumenischen Werk „Streit um Abraham – Was Juden, Christen und Muslime trennt und was sie eint“,177 können nach heutigem orthodoxem Verständnis als „Kinder Abrahams“ angesehen werden, ohne dass Israel seine ursprüngliche und damit einzigartige Abstammung von Abraham preisgeben müsste. Das Judentum, das Christentum und der Islam motivieren und verpflichten ihre Anhänger zu Toleranz. Die Muslime stellten ihre Fähigkeit dazu unter Beweis. Würden um des Friedens willen wenigstens unter allen drei monotheistischen Religionen auch Juden und Christen dies heute tun? Die nicht-säkulare Weltanschauung des Islam war, ist und bleibt ein Garant für Frieden und Toleranz anderen gegenüber und ist auf gar keinen Fall ein entwicklungshemmendes Element, wie dies oft, hauptsächlich im Westen, mit ungerechtfertigter Beharrlichkeit immer wieder behauptet wird.
5.1 Säkularität und Religionsfreiheit aus islamischer Sicht
Nun, wie stellt sich die Frage nach der Wahrnehmungsproblematik von Säkularität und Religionsfreiheit für den Islam dar? Die islamische Religion basiert auf öffentlicher Arbeit und Praxis, sie impliziert eine öffentliche, oder sagen wir, politische Konzeption, und nicht nur politische, sondern ebenso rechtliche Grundlagen. All das macht das aus, was in den Medien als „Scharia“ bezeichnet wird. Dieses Wort, das so viele pauschalisierte negative Assoziationen hervorruft, besteht aus drei Komponenten: einer politischen, einer rechtlichen und einer sozialen. Das sind die drei Komponenten der islamischen Religion. Die Trennung einer dieser Komponenten von den anderen käme, nach allgemein geltender Meinung, einer gesamten Zerteilung der Religion gleich, so als ob ein Mensch, der normalerweise auf zwei Beinen geht, plötzlich auf einem gehen soll. Er wird zwar mehr oder weniger gehen können, aber dies ist bekanntlich nicht der optimale Zustand. Das heißt, die islamische Religion ist das, was man in der Gesellschaft lebt und 177 München, Piper Verlag 1994, S. 258.
5.1 Säkularität und Religionsfreiheit aus islamischer Sicht
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erlebt. Wort und Tat müssen in einer völligen Identifikation existieren. Im Koran, Kapitel 61:2, lesen wir: „Oh ihr Gläubigen, warum sagt ihr, was ihr nicht tut? Gott ist wahrlich erzürnt, wenn ihr sagt, was ihr nicht tut.“ An dieser Stelle sowie an vielen anderen wird eine vollständige Wort-Tat-Identifikation von allen Gläubigen verlangt. Daher kommt eine Trennung von Religion und öffentlichem Leben nach islamischer Konzeption überhaupt nicht infrage, wenn man wirklich den Koran so in seiner traditionellen Form verstehen möchte. Wie wird ein Mensch überhaupt nach islamischer Auffassung einer Religion angehören? Ich sage hierzu bestimmt nichts Neues. Man wird in eine Familie hineingeboren, und die Eltern bestimmen vorerst die religiöse Zugehörigkeit. Der Prophet Muhammad erklärt in einem authentischen Hadith (Überlieferung): „Jeder Mensch wird mit einer reinen Natur (Fitra) erschaffen, also wie ein unbeschriebenes Blatt. Er wird als Jude, Christ oder sonstiger erzogen.“ Hier haben wir die Verquickung zwischen Religion und dem sozialen Umfeld; die Familie steht stellvertretend für die Gesellschaft. Wenn der Mensch dann später die geistige Reife erreicht hat, kann er selbst seinen Lebensweg wählen. 5.1.1 Der Islam und Europa
Der Islam kam, wie wir alle wissen, im 8. Jahrhundert nach Südeuropa, herrschte etwa 800 Jahre lang und war nicht nur eine militärisch-politische, sondern ebenso eine kulturelle und wissenschaftliche Großmacht, die ihre kulturellen Spuren in Europa insbesondere im christlichen Mittelalter hinterlassen hat. Ich könnte mir sogar anmaßen zu behaupten, dass die Europäer eigentlich viel islamischer sind, als es ihnen bewusst ist, und die Muslime ebenso viel europäischer sind, als dies ihnen bewusst ist. Die islamische und europäische Kulturgeschichte sind so miteinander untrennbar verflochten. Die Muslime haben bereits im 8. Jahrhundert beispielsweise das griechische Gedankengut in die arabische Sprache übersetzt und durch eigene Leistungen ergänzt und in weiter entwickelter Form nach Europa transportiert. Platonisches, aristotelisches, peripatetisches und neuplatonisches Gedankengut wurde wiederentdeckt und weiterentwickelt. Averroes z. B. hat die Optik-Theorie von Aristoteles, nach der ein Lichtstrahl vom Auge in Richtung des Objekts ausgeht, korrigiert, ohne darauf hinzuweisen. Das Licht fällt nach Averroes auf das Objekt und wird dann in Richtung des Auges reflektiert, damit das Auge das Objekt sehen kann. Die Theorie gelangte dann in dieser korrigierten Form nach Europa. Schon Mitte des 12. Jahrhunderts soll Robert von Kiton (1143) unter der Betreuung von Petrus Venerabilis den Koran ins Lateinische übersetzt haben. Ebenfalls im
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
12. Jahrhundert entstand das erste Lateinisch-arabische Wörterbuch, auch unter der Obhut von Petrus Venerabilis. Ohne dieses islamische Gedankengut, denke ich, gäbe es Thomas von Aquin nicht in dieser von ihm bekannten Größe. Das klingt vielleicht provozierend, aber so ist es nicht gemeint – Tatsache ist, dass Thomas von Aquin sich sehr mit den Gedanken von Averroes beschäftigt und sich nicht zuletzt in einer „Summa Theologica“ damit auseinandergesetzt hat. Wie wir wissen, gab es in Europa, insbesondere im 12. und 13. Jahrhundert, Averroismus und Anti-Averroismus, also einerseits eine Gruppe von christlichen Gelehrten, welche die Philosophie von Averroes unterstützt haben, wie z. B. Albertus Magnus und Sigerius von Barabant, und andererseits andere Gelehrte, die gegen Averroes waren, wie z. B. Thomas von Aquin und von den Franziskanern Bonaventura. Ich glaube, die islamische Kultur hat die europäische Kultur so weit beeinflusst, dass man sagen könnte, dass die Renaissance in Europa zum Teil auf islamischem Gedankengut aufgebaut ist. In Europa hat man an diesem heterogenen Kulturerbe weitergearbeitet und dadurch sind die Renaissance und in weiterer Folge die Aufklärung entstanden. Woher kam überhaupt der Gedanke zum Säkularismus oder zur Säkularität? Diese Frage wurde 800 Jahre lang im Islam nicht gestellt. Denn man konnte sich nicht vorstellen, dass der Islam ohne sein politisches Rohkonzept existieren kann. Der Prophet Muhammad war der Prophet, der gleichzeitig auch ein Staatsoberhaupt war. Seine Aussagen und sein Handeln auch in politischer Hinsicht stellten die zweite Grundlage bzw. Quelle des islamischen Glaubens dar. Die Muslime haben zudem 800-jährige Erfahrung mit der Verquickung zwischen Theologie und Politik. War dies eine Art Theologisierung der Politik oder Politisierung der Religion? Jedenfalls gingen Politik und Religion Hand in Hand, und zwar Jahrhunderte lang. Dieses Konzept war also nicht ein einmaliges Ereignis oder ein Zufall, sondern Jahrhunderte lang Realität. Und daher haben Muslime keinen dringenden Bedarf an Säkularität. Sie sehen den säkularen Weg nicht als den einzigen Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt. Wenn man die erwähnten acht Jahrhunderte, vom 7. bis zum 15. Jahrhundert, nach christlicher Zeitrechnung betrachtet, so ist das die Zeit, in der die islamische Kultur so hoch entwickelt war und Europa auch kulturell beeinflussen konnte. Aber gerade in dieser Zeit waren Politik und Religion im islamischen Raum nicht getrennt. Machtmissbrauch gab es ganz sicher. Muslime sind eben wie alle anderen Menschen fehlbar. Fehlentwicklungen bei der Praktizierung dieser Konzeption gab es sicherlich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Politik ist zwar ein Bestandteil der islamischen Weltanschauung, dennoch kann der Islam ohne eben diesen politischen Teil seine religiöse und soziale Bedeutung behalten. Aus diesem Grunde kann ich mit
5.1 Säkularität und Religionsfreiheit aus islamischer Sicht
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Gewissheit sagen, dass der Islam heute noch und gerade in der postmodernen Zeit einen konstruktiven Beitrag zur Gestaltung von friedvollem gesellschaftlichem Zusammenleben leistet. Ich sage bewusst in der Postmoderne – weil die moderne Zeit ja bald zu Ende ist, wenn sie nicht bereits zu Ende gegangen ist, und dazu gehört, meines Erachtens, die pure Säkularität, die zugegebenermaßen bisher die bestmögliche Alternative zur mittelalterlichen Staatsform darstellt. Die Säkularität haben wir aber seit über 200 Jahren, sie war die Antithese zur These der mittelalterlichen Theokratie. Sie ist aber heute blutleer bzw. menschenkalt geworden, sie braucht Blut im Sinne von menschlicher Wärme, und diese können nur religiös-ethische Werte anbieten. Eine Staatsform, in der die Politik religiöse Werte beherzigt, wäre die Synthese, die ich für die Postmoderne prophezeie. Wenn wir wirklich in der Postmoderne leben und das Beste aus unserem Kulturerbe machen wollen, dann muss sich die Politik bescheiden und die religiösen Werte, Normen und Maxime wieder aufwerten. Hier spreche ich nicht vom Islam, sondern von Religionen im Allgemeinen. Die Politik wird von der Religion wieder lernen und sich Wärme durch religiöse Werte holen müssen, anderenfalls wird sie verkrusten. Meiner Ansicht nach wird Säkularität in der heutigen Form die kommenden 50 Jahre nicht überleben. Der Prozess der Theologisierung der Politik oder Politisierung der Religionen befindet sich bereits in einer fortgeschrittenen Phase. Beispiele dafür finden wir nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch im Westen. Viele politische Parteien in Europa nennen sich „christlich“ wie die Christlich Soziale Union (CSU) und die Christlich Demokratische Union (CDU) in Deutschland. In Irland ist der Konflikt zwischen Nord und Süd religiös und politisch motiviert. Auch im Orient haben wir seit 1979 die islamische Republik Iran. Die derzeitige USA-Politik ist ein negatives Beispiel dafür. Diese Zeit kommt, und die Zeit, in der sich die Politik von der Religion distanziert hat, wird bald der Geschichte angehören, weil Säkularität genauso wenig Kriege verhindern konnte, wie dies die Theokratie vermochte. Die größte Gefahr, die sich in die Postmoderne einschleichen könnte, wäre die Vermischung von Religiosität und Nationalismus bzw. Kulturalismus, den ich als Kulturrassismus bezeichne. Wir müssen aus der Geschichte lernen und Konsequenzen ziehen, indem wir aus den Religionen alles nehmen, was zum gesellschaftlichen Frieden beiträgt, und zwar nicht nur zur Toleranz gegenüber dem anderen, sondern Akzeptanz und Respekt. Das Wort „Toleranz“ ist für mich destruktiv, geduldet werden will ich nämlich nicht, sondern entweder respektiert oder eben nicht. Wir müssen jetzt in eine Phase kommen, in der die Politik sich auf religiöse Werte rückbesinnt. Sie muss die Geschichte richtig studieren, und schauen, was sie aus dieser Geschichte lernen kann, so dass wir eine bessere gemeinsame Zukunft haben.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
5.1.2 Muslime und der Minderheitenstatus
Die Muslime haben ihre erste Erfahrung als Minderheit bereits im 7. Jahrhundert gemacht, als sie unter dem Druck der Mekkaner zur Auswanderung aus Mekka gezwungen wurden. Einige von ihnen flüchteten auf den Rat des Propheten Muhammad hin nach Abessinien. Dort herrschte König Negus. Er gewährte ihnen Schutz und Respekt, nachdem er von den koranischen Aussagen über Jesus und Maria gehört hatte. Wir sehen, dass Muslime als religiöse Minderheit auch in einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft leben konnten, die nicht nur säkular war, sondern eine andere Religion hatte. Die entsprechenden Erfahrungen haben sie also bereits und sollen ihre uneingeschränkte Loyalität zu jeder demokratisch pluralistischen Staatsordnung bekunden. Ende des 15./16. Jahrhunderts n. Chr., nach der Reconquista und der darauf folgenden Inquisition in Spanien und Nordafrika, waren nicht nur Muslime in starkem Maße betroffen, sondern auch Juden, die ebenfalls auswandern mussten. Der osmanische Sultan Sulaiman war derjenige, der 1521 geflüchteten Juden in Palästina und Ägypten Zuflucht gewährte. Wir sehen auch hier ein konkretes Beispiel dafür, dass verschiedene Religionen auch gut in gegenseitigem Respekt zusammenleben und zusammenarbeiten können, sogar in einem Staatssystem, in dem eine bestimmte Religion, in diesem Fall der Islam, den Ton angibt. Das heißt, alles, was wir brauchen, ist, neben Respekt voreinander und Aufrichtigkeit im Umgang miteinander, eine gesunde Wahrnehmung des anderen in seinem Anderssein. Als zusätliche Information bezüglich dieser Thematik füge ich den diesbezüglichen Text bzw. das Protokoll der Veranstaltung der Diplomatischen Akademie in Wien „Religion im öffentlichen Raum“178 ein. Im Folgenden gebe ich den Protokolltext über meinen Redebeitrag zu diesem Thema wortwörtlich wieder: Redebeitrag von Herrn Univ.-Prof. Elshahed in der Paneldiskussion Metz:179 Religion darf nicht das Gewaltmonopol eines demokratisch legitimierten Staates streitig machen. In der islamischen Welt heute macht gerade der Islam dem Staat das Gewaltmonopol streitig? 178 Siehe Elshahed, Elsayed, in: Religion im öffentlichen Raum, Iustitia et Pax. Dokumentation, Bd. 5, Wien, Böhlau Verlag, 2007, S. 69–74. 179 Metz, Johann Baptist, Fundamentaltheologe an der westfälischen Wilhelms-Universität und Begründer der neuen politischen Theologie, geb. 5. August 1928 in Auerbach in der Oberpfalz.
5.1 Säkularität und Religionsfreiheit aus islamischer Sicht
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Elshahed: Ich hoffe, ich habe Sie richtig verstanden. Zu Frau Mouffe: [I]ch habe jedenfalls den Eindruck, dass man hier angeblich eins wählen muss: entweder Islam oder Demokratie bzw. Pluralismus. Das ist ein total falsches Bild vom Islam. Der islamische Entwurf für die Staatsführung ist grundsätzlich pluralistisch. Ein islamkonformes Staatssystem ist mit dem heutigen parlamentarischen System unter Umständen vergleichbar. Stammesvertretung (ahl al-hall wa l-ʿaqd) stellt eine Art Parlament dar, das über Staatsangelegenheiten entscheidet. Ich spreche hier von einer Rohkonzeption für die Staatsführung nach islamischer Weltanschauung, die man hätte entwickeln können und vielleicht heute noch entwickeln kann. Parteien würden an die Stelle von Stämmen treten. Islamischer Pluralismus zeigt sich nicht nur im politischen Bereich, sondern ebenso in theologischen und rechtlichen Bereichen. Es gibt verschiedene theologische Denkrichtungen sowie Rechtsschulen, die alle islamkonform sind. Es gibt viele Rechtsschulen, vier sunnitische und noch mindestens vier nichtsunnitische, alle acht Rechtsschulen sind islamkonform. Das ist ja doch Vielfalt, das ist Pluralismus. Und wenn der Staat durch ein Gremium von Stammesvertretern geführt wird und das Staatsoberhaupt auf diesen hören muss, wie der Prophet selbst und seine vier Nachfolger (Kalifen) es praktiziert hatten, wie könnte man dies anders als Pluralismus nennen? Durch die sogenannte Medina-Charta hat der Prophet Muhammad zum ersten Mal in der Geschichte den Bürgerschafts-Status für alle in Medina als dem ersten islamischen Stadtstaat lebenden Menschen verschiedener Glaubensgemeinschaften und Stämme geschaffen. Dort galt das Prinzip der Gleichheit aller in Bezug auf Rechte und Pflichten (lahum ma lana wa ʿalaihim ma ʿalaina). Diese Medina-Erklärung kann man in deutscher Sprache u. a. bei Paul Schwarzenau in seinem Buch „Korankunde für Christen“180 nachlesen. Er hat nie allein über eine diesseitige Staatsangelegenheit entschieden. Ausschließlich gottesdienstliche Fragen waren seine alleinige Kompetenz. Er sagte in einer authentischen Überlieferung: „Ihr versteht eure weltlichen Angelegenheiten am besten“. Es gibt im Koran eine Sure (Kapitel), die den Namen „Schura“ (Beratung, Nr. 42) trägt. Im Vers 38 dieser Sure werden einige Eigenschaften der Gläubigen aufgeführt, und dabei lesen wir als positive Eigenschaft Folgendes: „Und alle ihre Angelegenheiten sind unter ihnen zu beraten.“ Der Prophet Muhammad war, wie gesagt, der erste, der diese Eigenschaft bzw. koranische Anweisung praktizierte. Wie kann ein gebildeter Mensch uns heute noch vor die angebliche Alternative stellen, entweder nur vom Islam als Religion oder Demokratie bzw. Pluralismus sprechen zu dürfen?! Ich könnte mir dies nur vorstellen, wenn man hier von Staatssyste180 Korankunde für Christen, s. o., S. 115.
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men spricht, die sich angeblich „islamisch“ nennen. Islam und Demokratie schließen sich gegenseitig keineswegs aus. Ich kann mit voller Überzeugung sagen, dass Muslime gar keine Probleme mit einer demokratischen pluralistischen Staatordnung haben. Im Gegenteil, Muslime sollen sich eines solchen Systems erfreuen und ihre Loyalität zu jeder demokratischen pluralistischen Gesellschaftsordnung bekunden.
5.2 Kann sich der Islam den Problemen der Moderne stellen?
800 Jahre lang konnte sich der Islam mit den unterschiedlichsten Kulturen und veränderten Gegebenheiten auseinandersetzen und die allgemeine Lebensanschauung durch seine dynamischen juristischen Instrumente stets lenken oder zumindest stark beeinflussen. Die Dynamik der islamischen Urteilsfindung wird durch bestimmte Rechtsinstrumente ermöglicht, u. a. den Konsens (ijmaʿ), den Analogieschluss (Qiyas) und das zeitbedingte allgemeine Interesse (masalih mursala). Alle diese Rechtsinstrumente sowie weitere Rechtsregeln (al-qawaʿid al-fiqhiya) ersetzen jegliche säkularistische Überlegungen in einem islamischen Land. Ein islamischer Staat ist keineswegs ein Gottesstaat. Die Primärquellen seiner Weltanschauung und Rechtsprechung, nämlich der Koran und die Sunna, stellen lediglich die Rahmenbedingungen und Richtlinien der Staatsverfassung dar, der sich alle Muslime, einschließlich des Staatsoberhauptes, unterordnen müssen. Es besteht also keine Vollmacht für irgendeinen Menschen, im Namen Gottes über alle anderen zu richten bzw. zu entscheiden. Dazu sagt der deutsche Religionswissenschaftler Peter Antes aus Hannover in seinem Buch: So stand der Kalif, wie jeder andere Muslim auch unter dem Wort des Korans und wusste dadurch, dass er für sein Tun dereinst im Gericht vor Gott Rechenschaft ablegen muss.181
Hans Zirker schreibt in seinem Buch „Christentum und Islam, Verwandtschaft und Konkurerenz“: Wohl waren die Kalifen mit einiger Legitimation Gottes erachtet. Aber ihre Rolle beschränkt sich grundsätzlich darauf, dem Gesetz Gottes entsprechend die innere und die äußere Ordnung der muslimischen Gemeinschaft zu schützen.182 181 Islam als politischer Faktor, Hannover, Landeszentrale für politische Bildung, 1991, S. 35 f. 182 Christentum und Islam, Verwandschaft und Konkurrenz, 2. Aufl., Düsseldorf 1992, S. 96.
5.2 Kann sich der Islam den Problemen der Moderne stellen?
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Der Islam ist eine vollständige Lebensanschauung. Glaube und Praxis sind untrennbare Grundelemente des Islam. Religion und Politik stellen demnach die zwei Seiten einer Medaille dar. 5.2.1 Berührungsangst, das größte Hindernis
Die damalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Frau Barbara John, schreibt in ihrem Vorwort zu „Islam und die Muslime, Geschichte und religiöse Traditionen“: Obwohl der Islam über die ganze Welt verbreitet ist und inzwischen auch in Berlin die zweitgrößte Religionsgemeinschaft bildet, herrschen über seine Glaubensinhalte immer noch recht abenteuerliche Vorstellungen. Das hat vielfältige Gründe. Die Religionsausübung der muslimischen Bevölkerung ist weitgehend der Öffentlichkeit entzogen, so dass man sich aus eigener Anschauung kein zutreffendes Bild machen kann.
Was man zu wissen glaubt, bezieht sich nur auf Äußerlichkeiten, wie Kleidungs- und Essgewohnheiten. Nur wenige Menschen haben einen engeren Kontakt zu gläubigen Muslimen. Gespräche über Glaubensfragen stehen auch dann selten im Vordergrund. Stattdessen erfährt man aus den Medien häufig abstoßende Einzelheiten über die Aktionen muslimischer Glaubensfanatiker. Das trägt nicht zur Aufklärung über den Islam bei, im Gegenteil, es führt zu Gefühlen von Angst und Abwehr. Ausführlich über Angst und Abwehrstellung der Christenheit vor fremden Wahrheiten, einschließlich der des Islam, schreibt der ehemalige Nürnberger Kaplan Dr. Jürgen Kuhlmann in seinem Buch „Ehrfurcht vor fremder Wahrheit“. Auf der islamischen Seite gibt es mindestens so viele Schriften, welche den Muslimen, oft zu Unrecht, Angst und Misstrauen gegenüber all dem, was aus dem Westen kommt, einflößen. 5.2.2 Wie kann man diesen Hindernissen entgegenwirken?
Der islamische Religionsunterricht ist nicht nur die beste Vorbeugung gegen die Verbreitung von Fanatismus und Extremismus, vielmehr fördert er sowohl eine binnenislamische als auch eine gesellschaftliche Integration im Gastland. 35 Millionen Muslime in Europa müssen gleichberechtigt und menschengerecht integriert werden: – Mehr als 570.000 muslimische Schüler an deutschen Schulen dürfen nicht bei der Lehrplanaufstellung ignoriert werden. – Die islamische Religionsgemeinschaft stellt in Deutschland mit 3,2 Millionen
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Menschen die drittgrößte Religionsgemeinschaft dar, und sie wird in naher Zukunft nicht kleiner. Ihre Kaufkraft und Steuerbeiträge dürfen nicht unterschätzt werden. – Gemäßigter Islamunterricht durch entsprechend ausgebildete Lehrkräfte an anerkannten islamischen Universitäten, wie z. B. der deutschen Abteilung an der Al-Azhar-Universität in Ägypten soll angeboten werden. – Öffentliche finanzielle Unterstützung für islamische Gemeinden ist nicht nur die beste Vorbeugungsmaßnahme gegen fremde, manchmal extremistische Einflussnahme durch Untergrundorganisationen, sondern ist ein Grundrecht der Muslime in Deutschland hinsichtlich der Tatsache, dass die muslimischen Arbeitnehmer, wie alle ihre deutschen Kollegen, Steuern zahlen und daher ein Anrecht auf Kulturförderung aus öffentlichen Geldern haben. – Österreich, Frankreich, Belgien und Holland haben den Islam bereits anerkannt und den islamischen Religionsunterricht an den Schulen unterstützt. Warum ist dies in Deutschland immer noch nicht möglich?
5.2.3 Die erste Menschenrechtserklärung und die Erfindung der „Staatsbürgerschaft“
Als der Prophet Muhammad in Medina ankam und den ersten islamischen Stadtstaat gründen wollte, verfasste er die folgende Erklärung als einen göttlichen Bund, welcher die Beziehung zwischen allen in Medina lebenden Menschen festlegte: Im Namen Allahs des Barmherzigen und gütigen Gottes. Dies ist eine Urkunde von Muhammad, dem Propheten Gottes, über die Beziehung zwischen den Gläubigen Muslimen von den Quraisch und Játhrib (Medina), jenen, die ihnen folgen, sich ihnen angeschlossen haben und zusammen mit ihnen ihren Staat verteidigen. Sie sind eine Gemeinde in Unterscheidung zu den anderen Menschen. Die Auswanderer von den Quraisch sollen, entsprechend ihrer bisherigen Sitten, gemeinsam die Blutschuld unter sich bezahlen und ihre Gefangenen auslösen mit der Billigkeit und Gerechtigkeit, wie sie unter den Muslimen üblich ist. Die „Banu Auf“ zahlen ihre Blutschuld entsprechend ihrer bisherigen Sitte und jede Untergruppe löst ihre Gefangenen aus, entsprechend ihrer Billigkeit und Gerechtigkeit unter den Muslimen. Ebenso die Stämme Saʿida, Harith, Gusam, Naggar, Amr Ibn Auf, Nabit und Aus. Die Juden, unsere Mitbürger, genießen die gleiche Hilfe und Unterstützung. Der Friede Gottes ist ein einziger. Alle Verträge unter euch und mit ihnen müssen auf Gerechtigkeit und Gleichheit des Rechtes beruhen. Die Juden regieren sich nach den Gesetzen ihrer
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eigenen Religion, sie unterstehen ihren Oberhäuptern. Den Juden ihre Religion und den Muslimen die ihre! Unser Gott und ihr Gott ist einer. Juden und Muslime zahlen die gleichen Unkosten für das Allgemeinwohl. Sie helfen einander gegen jeden, der gegen die Leute dieser Urkunde kämpft. Die Leute dieser Urkunde helfen sich gegen jeden, der die Stadt überfällt. Den Quraischiten wird kein Schutz gewährt. Niemand, der in diesen Bund eingetreten ist, darf ihn brechen. Wahrlich, Gott erzürnt, wenn sein Bund gebrochen wird. Gott billigt diese Urkunden. Gott schützt jeden, der aufrichtig ist. Und Muhammad ist der Prophet Gottes.
Paul Schwarzenau kommentiert dazu in seinem Buch: „Die Urverfassung von Medina meint eine Staatsgründung von bewusst tolerantem und ökumenischem Charakter, Toleranz allerdings unter gleichzeitiger Hochgestimmtheit des religiösen Verhältnisses.“183 Der deutsche Religionswissenschaftler Peter Antes schreibt zu dieser Medina-Urkunde in seinem Buch Folgendes: Die Verfassung von Medina geht von einer Koexistenz zwischen Muslimen und Juden aus, wobei den Juden ihre Religion und den Muslimen die ihre garantiert wird. Ähnliches gilt für den Koran, der den Leuten des Buches (Juden, Christen, Zoroastrier) an vielen Stellen einen Sonderstatus einräumt.
Die Koranverse, welche die Akzeptanz und den Respekt des Islam gegenüber Andersgläubigen in einer islamischen Gesellschaft belegen, sind zahlreich. Sie alle hier zu erwähnen, ist überflüssig.184 Um nicht zu theoretisch zu sein, halten wir uns an die Sunna des Propheten Muhammad, denn sie stellt den gelebten Islam dar. Der Prophet sagte: „Wenn einer einem Schutzbefohlenen (Juden, Christen oder Zoroastrier) Unrecht tut, bin ich sein Gegner, wenn ich der Gegner von einem im Diesseits bin, werde ich auch im Jenseits sein Gegner sein.“185 In einem anderen Hadith sagt der Prophet Muhammad: „Wer einem Schutzbefohlenen Unrecht tut, tut mir ebenfalls Unrecht, und wer mir Unrecht tut, wäre dies so, als hätte er Gott Unrecht getan.“ Als die Muslime Khaibar erobert hatten, fand der Prophet Muhammad einige Ex183 Korankunde für Christen, 1. Aufl., Stuttgart, Berlin, Kreuz Verlag, 1982, S. 115. 184 Siehe u.a. Sure 2:62, 256; 4:123; 5:69; 18:29; 29:46. 185 Siehe die Hadithsammlung von Abu Dawud mit Prädikat: Gut (hasan); siehe auch Al-Baghdadi, Al-Khatib, Tarikh Baghdad, Bd. 8, S. 370.
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emplare von der Thora, daraufhin befahl er, sie den Juden zurückzugeben, und zwar aus der Überzeugung heraus, dass die Juden das Recht darauf haben, ihren Kindern ihre heilige Schrift zu vermitteln. Er tat dies im Sinne des Koranverses Sure 2:256: „Niemand darf gezwungen werden, gegen seinen Glauben zu handeln (la ikraha fi d-din).“ Als die christlichen Stammesvertreter aus Najran zum Propheten Muhammad nach Medina kamen, um ihm zu sagen, dass sie zwar die islamische Herrschaft über ihr Gebiet akzeptieren, aber nicht zum Islam konvertieren wollen, billigte er ihnen nicht nur zu, ihre Religion zu behalten, sondern ihr Pfingstgebet in seiner Moschee, der zweitheiligsten Stätte des Islam, zu verrichten. Er schloss mit ihnen auch ein Friedensabkommen mit dem folgenden Wortlaut: Die Christen in Najran genießen den Schutz Gottes und Muhammads für ihr Vermögen, ihr Leben, ihr Land, ihre Religion, dies gilt ebenso für die Angehörigen ihrer Stämme, ihre Gebetsstätten und alles, was sie besitzen, ob wenig oder viel. Kein Fremder darf ihre Priester oder ihre Mönche absetzen.186
Als Omar Ibn al-Khattab Jerusalem eroberte, unterschrieb er dem christlichen Patriarchen Sophrinus eine Sicherheitsurkunde, darin stand Folgendes: Dies ist eine Sicherheitsurkunde vom Gottesknecht Omar, Kalif der Gläubigen, für die Bewohner von Iliya (Jerusalem). Er garantiert ihnen die Sicherheit für ihr Leben, ihr Vermögen, ihre Kirchen, ihre Kreuze und alles, was ihre Religion anbelangt. Niemand darf ihre Kirche weder als Wohnhäuser verwenden, noch zerstören, noch berauben, noch verkleinern, noch ihre Kreuze beschädigen, noch ihr Vermögen beeinträchtigen, noch sie an der Ausübung ihrer religiösen Rituale hindern, noch ihnen auf irgendeine Weise Unrecht tun.187 5.2.4 Vom Dialog und Trialog zum Multilog – Eine Zukunftsperspektive oder Träumerei
Der binnenmonotheistische Dialog ist, meines Erachtens, so weit fortgeschritten, dass er das Erwachsenenalter bereits erreicht hat, und dass er nun von uns hin und wieder Lebensimpulse braucht. Er hat, wie ich hoffe, einen eigenen Überlebensmechanismus entwickelt, den wir gemeinsam sorgsam vorantreiben sollten. 186 Siehe Al-Islam wal-’akhar, Asch-Schorok Ad-Dawliya Verlag, 2002, S. 162; Siehe auch Hamidullah Muhammad (Hrsg.): Al-Wathaiq As-Siyasiya lil’ahd An-Nabawi wal-Khilafa Ar-Raschida, Kairo, 1956. 187 Al-Jawziya, Ibn A-Qaiyim: Ahkam Ahl Az-Zimma, Nr. 1163–1164, Majmuʿ Al-Fatawa, Ibn Taymiya, Bd. 28, S. 651.
5.2 Kann sich der Islam den Problemen der Moderne stellen?
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Unser Hauptaugenmerk soll nun das monotheistische Feld überschreiten, und nachdem wir vom „Doppel-Monolog“ zum „Dialog“ und weiter zum „Trialog“ fortschreiten konnten, außermonotheistisches Neuland betreten und in einem „Multilog“ münden. In diesem angestrebten „Multilog“ sollen vorerst Konfuzianismus, Buddhismus und Hinduismus, die bekanntlich eine gemeinsame fernasiatische Natur haben, und in einem weiteren Schritt die aus den bekannten Weltreligionen entstandenen Religionsgemeinschaften, um nur einige zu nennen, die Sikhs, Bahai, Ahmadiyya bzw. Qadyaniya, Mormonen und Zeugen Jehovas, zur Selbstdarstellung gebeten werden. Areligiöse Gruppierungen in allen ihren verschieden Weltanschauungen sollen mit den monotheistischen sowie den nichtmonotheistischen Religionen in einem „Multilog“ im Sinne eines universellen Gesprächs mit dem Ziel antreten, eine identitätsschonende multikulturelle Welt und interkulturelle Weltanschauung zu schaffen. Die fernasiatischen Religionen, bei denen die Gottesfrage, wenigstens aus monotheistischer Perspektive, nicht eindeutig beantwortet werden kann, sollen ihr eigenes Gottheitsverständnis erläutern. Das Ziel eines solchen multireligiösen Gesprächs besteht, meiner Meinung nach, nicht darin, Gemeinsamkeiten um jeden Preis zu entdecken und eine täuschende Einigkeit zu proklamieren, sondern schlicht und einfach darin, die zum Teil wechselseitige herrschende Ignoranz und Arroganz zu überwinden. Denn Ignoranz erzeugt Arroganz und diese ist der beste Weg zum allseitigen Radikalismus. Zweifelsohne gibt es in jedem religiösen Kreis fachkundige Wissenschaftler, die durch ihre Forschung fundierte Kenntnisse über andere Religionen und Weltanschauungen besitzen. Aber diese fundierten Fachkenntnisse bleiben meistens in den fachrelevanten Büchern, die lediglich von einer relativ geringen Zahl an Interessenten gelesen werden. Die erwünschte Wirkung derartiger Forschung in der Gesellschaft bleibt aus. Erst wenn wir so weit kommen, dürfen wir von einem echten interreligiösen Verständnis sprechen, wobei dann das Wort „Dialog“ nicht mehr in diesen Kontext passt. Der feine Unterschied zwischen dem zurzeit geführten interreligiösen Dialog einerseits und dem hier initiierten „Multilog“ andererseits liegt hauptsächlich darin, dass der zuletzt genannte nicht nur monotheistische, sondern auch nichtmonotheistische Religionen in sein Weltbild einschließt. Ein „Multilog“ würde, als letzter Schritt, neben den bekannten Weltreligionen auch die relativ neu entstandenen Glaubensgemeinschaften sowie alle humanistischen Ideologien einschließen, die dem Gottheitsglauben keinen Platz in ihren Konzeptionen einräumen. Es ist mir bewusst, dass der Weg dahin alles andere als leicht begehbar ist. Die wenigen derartigen Erfahrungen mit ähnlichen Initiativen brachten bis jetzt nicht
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einmal einen bescheidenen Teil der erhofften Wirkung. Religiöse und ideologische Konflikte treten in letzter Zeit sogar häufiger als früher auf. Dennoch oder gerade deswegen appelliere ich umso dringlicher für einen gut bedachten, mit entsprechender Infrastruktur ausgestatteten, „Multilog.“ Ein wirkungsvoller „Multilog“ bedarf einer konstruktiven Aufklärung, einer pädagogisch orientierten Erziehung und aufrichtiger Massenmedien. Dem staatspolitischen Willen wird bei diesem Unterfangen eine wesentliche Bedeutung beigemessen. Der selbstkritische Geist in Europa hat einen hohen Grad erreicht, von dem Muslime bis heute nur träumen können. Doch dieser hochgeschätzte europäische selbstkritische Geist würde seine Vollkommenheit erst dann erreichen, wenn er in der Lage wäre, sich auch ebenso vehement mit externer Kritik auseinanderzusetzen. Gewiss gibt es extremistische Strömungen unter Muslimen sowohl in den islamischen Ländern als auch im Westen und diesen gilt es besonnen entgegen zu wirken. Aber genauso gewiss gibt es im Westen extremistische antiislamische Strömungen, die insbesondere in Europa massenmedienwirksam die Islamophobie schüren und sich eines großen Zulaufs unter der Bevölkerung erfreuen. Diese und ihre Gefolgschaft sind, meines Erachtens, einem extremen Verfolgungswahn und einer blinden und gefährlichen Verschwörungstheorie verfallen. Heute wird fast jeder Muslim, der seine religiöse Identität ernst nimmt und seine religiösen Pflichten verrichtet, als „Islamist“ bzw. eine schlafende Gefahr für die westliche Kultur angesehen. Ebenso werden muslimische Intellektuelle, die sich z. B. für die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen in der jeweiligen europäischen Landessprache aussprechen, um die Integration durch den Aufbau von vertrauensbildenden Maßnahmen zu fördern, als „Islamisten“ und als schleichende Gefahr für die kulturellen Werte des Westens diffamiert. Ehemals angesehene Nachrichtenmagazine und Tageszeitungen rutschen immer mehr auf ein populistisches Niveau hinab und leisten dadurch der im Westen zurzeit aufblühenden antiislamischen „Verstimmung“ großen und gefahrvollen Antrieb. Statt den Medienkonsumenten zur aufrichtigen Meinungsbildung zu verhelfen, führen sie sie in die Irre und vermitteln eine vorab vorurteilsgeladene Schwarzseherei. Die eigentliche Aufgabe der Massenmedien sollte darin liegen, das kulturelle Niveau der Allgemeinheit anzuheben und nicht aus ökonomischen oder dogmatischen Gründen zu senken. Die Politik bleibt nicht von dieser nicht wünschenswerten Entwicklung verschont, zumal sie aus Parteieninteresse auf Wählerstimmen angewiesen ist. So werden Medienkonsumenten und Politiker durch Massenmedien pragmatisch manipuliert und einer der besten Errungenschaften der Menschheit in der Moderne, nämlich die Demokratie, ihres Sinns beraubt.
5.2 Kann sich der Islam den Problemen der Moderne stellen?
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Aufrichtige Wissenschaftler und Intellektuelle sind heute, wie noch nie, aufgefordert, sich dieser gefährlichen Entwicklung als einer der größten Herausforderungen unserer Zeit zu stellen und sie in die richtige Richtung zu lenken. Es kann nicht mehr weiter akzeptiert werden, dass auf der einen Seite einige nichtmuslimische Theologen manche Koranstellen aus dem Zusammenhang reißen, um deren Inhalt negativ darzustellen, und diese Theologen dann als Islamexperten bezeichnet werden. Auf der anderen Seite aber wird jeder Muslim, der mit der Bibel auf dieselbe Art und Weise umgeht, im Westen nicht im gleichen Zuge als Christentumsexperte, sondern nicht selten als Hassprediger bezeichnet. Entweder sind beide Hassprediger oder eben Experten der jeweiligen anderen Religion. Nichtmuslimische Religions- bzw. Islamwissenschaftler und Theologen müssen endlich damit aufhören, den muslimischen Islamwissenschaftler belehren zu wollen, wie der Islam eigentlich zu sein habe. Ein Christ wird sich sicher nicht bieten lassen, sich von einem Muslim belehren zu lassen, wie die christliche Religion eigentlich zu sein habe. Diese Umgangsform der Angehörigen der jeweiligen Religionen miteinander ist destruktiv und kann keineswegs dem interreligiösen Dialog dienlich sein. Weder ein Kuschel-Dialog noch ein Doppel-Monolog, sondern allein ein auf aufrichtiger Wissbegierde und gegenseitiger Akzeptanz basierender Dialog, der auch die Problemfelder offenlegt und auf gegenseitige Verständigung zielt, kann uns zu einem dauerhaften religiösen und gesellschaftlichen Frieden führen. Wenn wir ernsthaft von Monotheismus reden wollen, sollten wir mit Paul Schwarzenau den Koran als das dritte Testament und die islamische Religion als das dritte Reich des Geistes betrachten. Früher oder später kommen wir um diesen Schritt nicht herum, sollten wir, Muslime und Nichtmuslime, respektvoller in koexistenziellem Miteinander und nicht im Nebeneinander leben wollen. Der Rechtsstaat im Westen als ein erstrebenswertes Vorbild in vielen islamischen Ländern begeht als Folge solcher extremistischer antiislamischer Tendenzen nicht nur einen Verrat an seinen eigenen menschenrechtlichen Prinzipien, sondern verliert ebenso seinen Glanz und seinen Vorbildcharakter in den viel weniger demokratisch regierten islamischen Ländern. Die größte Gefahr, die dann den Weltfrieden gefährdet, droht unweigerlich, wenn die moderaten Muslime durch populistische pauschale Diffamierung der Muslime in Verzweiflung geraten und sich zum Aufgeben ihrer Rolle als interkulturelle Mediatoren gezwungen fühlen. Die Folgen einer solchen Entwicklung, in der die Extremisten auf beiden Seiten die Ruder in die Hände bekommen, werden für alle Menschen auf der ganzen Welt unabsehbar sein. Offenbar ist ein großer Teil der westlichen Intelligenz nicht auf eine derartige Herausforderung durch eine unerwartet schnell gewachsene muslimische Intelligenz vorbe-
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reitet gewesen. Für den Westen waren die muslimischen Mitbürger meist Gastarbeiter, die keine intellektuelle Konkurrenz darstellten. Dass aus den Gastarbeitern Geistarbeiter entstehen könnten, die heute in beiden, den westlichen und den islamischen, Kulturen zuhause sind, zwischen den Zeilen lesen und mit den westlichen Wissenschaftlern auf gleicher Augenhöhe nicht nur sprachlich, sondern ebenso gut intellektuell sprechen können, überfordert manchmal die geistige Wahrnehmung einiger westlicher Bürger und stellt für sie eine Herausforderung dar, auf die sie nicht vorbereitet waren. Hierin gründet, meines Erachtens, unsere gegenseitige Wahrnehmungsproblematik, die durch pauschalisierte Wahrnehmung des Westens seitens eines großen Teils der Muslime auf der einen Seite und ebenso durch pauschalisierte Wahrnehmung des Islams seitens eines großen Teils des Westens zustande kam. Bei solch einer pauschalen Vor-Verurteilung verschwinden alle positiven und konstruktiven Aspekte der jeweiligen anderen Kultur. Somit steuern wir unbewusst auf einen heillosen Kampf der Unkulturen mit unabsehbaren Folgen zu. Angesichts des ansteigenden kulturrassistischen Antiislamismus, sprich: Islamophobie, im Westen, werden sich die europäischen Muslime mit allen legalen Mitteln dagegen wehren, sich in die Situation der Juden im letzten Jahrhundert drängen zu lassen. Die Bevölkerung in der islamischen Welt wird ihrerseits verstärkt in eine „Westophobie“ fallen und auf eine solche Entwicklung entsprechend reagieren. Im Westen ist man heute auf dem besten Weg dahin, die Muslime von heute in die Situation der Juden von gestern zwingen zu wollen. Dies könnte nur dem Extremismus auf beiden Seiten zugutekommen. Wir leben jetzt in einer Zeit, in der Macht und Gewalt unberechenbarere und unmenschlichere Dimensionen angenommen haben, und von daher müssen diese beiden Begriffe, nämlich Macht und Gewalt, neu definiert werden. Mächtig ist nicht mehr nur derjenige, der über eine gewaltige Kriegsmaschinerie verfügt, sondern derjenige, der von seinem Ziel so fest überzeugt ist, dass er sein Leben dafür freiwillig nicht nur riskiert, sondern bewusst hergibt. Loyalitätserklärungen muslimischer Dachverbände gegenüber der demokratisch-pluralistisch strukturierten Gesellschaft sowie ihre zahlreichen immer wieder veröffentlichten Distanzierungserklärungen nach jedem pseudo-islamischen Terroranschlag müssen von den westlichen Massenmedien ernsthaft wahrgenommen und nicht, wie bis jetzt der Fall, ignoriert und immer wieder neu verlangt werden, als hätte es sie nie gegeben. Eine konsequente nicht-selektive Wahrnehmung der Menschenrechte auch gegenüber den muslimischen Mitbürgern in Europa und ihnen Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben zu geben, wäre der beste Weg dazu, dem Terror im Namen irgendeiner Religion oder extremistischer nationalistischer Ideologie den Nährboden zu entziehen.
5.3 Wie viel Gott verträgt die säkulare Gesellschaft?
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Allein der vertrauensbildende Umgang mit anderen und nicht die Angst schürende Feindbild-Malerei kann der Gesellschaft die soziale Sicherheit garantieren und den Rechtstaat vor allen Arten des religiösen Extremismus schützen. Die Intellektuellen, die Bildungsinstitutionen und die gesellschaftspolitischen Initiativen sind aufgerufen, verantwortungsbewusst zu handeln und ihren unabdingbaren Beitrag in diesem Prozess zu leisten.
5.3 Wie viel Gott verträgt die säkulare Gesellschaft? – Zu einer neuen Form der Säkularität in der Postmoderne (Reformsäkularität)
Eine nicht immer konfliktfreie Art der Dialektik zwischen Religion und säkularer Gesellschaft vollzieht sich seit Menschengedenken, seit der Entstehung der modernen Säkularität vor über zweihundert Jahren als Antithese zur mittelalterlichen Theokratie in Europa. Wer wen wie lange zur eigenen Magd machte, können wir nur durch eine historisch-analytische und historisch-kritische Studie der vorangegangenen Jahrhunderte erkunden. Religionen waren, sind und werden immer maßgeblich an der Gestaltung des Verhaltenskodexes in der Gesellschaft in verschiedenen Maßen und Formen bewusst und unbewusst beteiligt sein. Stimmt diese Feststellung, müssen wir auf folgende Fragen möglichst seriöse Antworten finden: – Warum wird dann die Kompatibilität der Religion mit der säkularen Gesellschaft infrage gestellt? – Stehen beide Faktoren in einer unüberwindbaren Gegensätzlichkeit zueinander? – Müssen sich Religion und Säkularität in der Postmoderne nicht neu definieren? – Befinden sich Religionen tatsächlich im Aufbruch, wie dies Hans Küng sieht? – Haben verschiedene Religionen verschiedene Umgangsformen mit Alltagsproblemen? – Haben religiös-ethische Werte einen besseren Zugang zur Politik als Religionen im klassischen Sinne? – Sind alle Religionen im Gegensatz zur Politik tatsächlich individualisierbar? – Wie soll eine unindividualisierbare bzw. nicht säkulare Religion mit der Politik umgehen, so dass keine Gesellschaftskonflikte entstehen? – Könnte sich heute noch die mittelalterliche Theokratie wiederholen, wenn Politik und Religion Hand in Hand gehen?
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
– Gibt es einen Unterschied zwischen Säkularität und Säkularismus? – Was ist eine Synthese und wie könnte sie in der Postmoderne aussehen? – Gibt es heute andere wissenschaftliche Stimmen, die für eine neue Synthese plädieren? – Stellt die Religion tatsächlich eine gesellschaftliche Herausforderung dar, und ist eine Synthese unabwendbar? Diese und noch weitere themenrelevante Fragen werden hier nur angeschnitten. Hier soll lediglich die Aufmerksamkeit auf die Aktualität und Sensibilität dieser Problematik gelenkt werden. 5.3.1 Definitionen
Bevor wir uns in die Einzelheiten unseres Themas begeben, müssen wir wenigstens die zwei Zentralbegriffe in diesem Beitrag, nämlich „Religion“ und „Säkularität“, kurz definieren. Ohne auf die verschiedenen philologischen Definitionen des Begriffs „Religion“ im Einzelnen, u. a. von Cicero, Gellius, Sirius und Augustinus, einzugehen, kann man feststellen, dass moderne Etymologen die augustinische Ableitung, nämlich von „religare“ (= Zurückbinden oder an etwas befestigen), akzeptieren. So bedeutet „religio“ ursprünglich dasselbe wie „obligatio“, nämlich „Verbindlichmachung“ oder „Verpflichtung“ u. ä. Das Wort „Religion“ hat aber die gleiche Sinnverschiebung wie das Wort „Philosophie“ erfahren. In der Terminologie bezeichnet heute das Wort „Religion“ den in der ganzen Menschheitsgeschichte anzutreffenden kollektiven oder individuellen, äußeren oder inneren Umgang mit der gesamten Wirklichkeit in ihren natürlichen und sozialen Aspekten. Die philologische Definition des Begriffs „Säkularität“ ist nicht weniger problematisch. Philologisch wurde dieses Wort vom lateinischen „saeculum“, zu Deutsch „Jahrhundert“, abgeleitet. Terminologisch bedeutet „Säkularisierung“ seit dem westfälischen Frieden „Verweltlichung“ und bezieht sich auf die Verwendung der kirchlichen Institutionen und Kloster für allgemeine weltliche Zwecke. Seit der Aufklärung spricht man von Säkularisierung des Christentums, von der Säkularisierung der religionsmetaphysisch orientierten Philosophie und von der Säkularisierung der Theologie. Die englischen Freidenker im 18. Jahrhundert nennen sich seit Anthony Collins Schrift „Über die Denkfreiheit“, 1713, auch „saecularists“ und meinen damit, dass
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es auch Christentum außerhalb der Kirche gibt.188 Die vom Christentum unabhängige Lebensanschauung wurde seit Mitte des 18. Jahrhunderts als „Säkularismus“ bezeichnet. 5.3.2 Die Vorgeschichte: Der philosophische Diskurs
Fest steht, dass die Gott-Welt-Frage kein Kind der Moderne ist. Schon in der „Politeia“ („Der Staat“) von Platon (gest. 347 v. Chr.) wirkt der Erst-Intellekt, „Absolut-Einer“, der „Absolut-Gute“, das „intellectus archetypus“ direkt oder indirekt in der Staatsführung, die Platon exklusiv den Philosophen einräumte. An der Spitze seiner Ideentheorie bzw. der Zehn-Intellekte-Theorie steht der Absolut-Einer bzw. der Absolut-Gute, der reinen Geistes ist. Dieser Erst-Intellekt wirkt in der Welt durch den aktiven Intellekt, der größtenteils aus reinem Geist und in äußerst geringem Teil aus Materie beschaffen ist. Und dieser wirkt weiter durch einen anderen, weniger geistigen Intellekt. Es geht so weiter: ein Herabsteigen bis zum Zehnten Intellekt bzw. der „kollektiven Seele“, die gleichmäßig aus Geist und Materie besteht und direkt in der materiellen Welt wirkt. In der islamischen Philosophie, insbesondere bei Al-Farabi (Farabios, gest. 950 n. Chr.) und Ibn Sina (Avecenna, gest. 1027 n. Chr.) wird der platonische Erst-Intellekt, „intellectus archetypus“, mit Gott identifiziert. Die Aristoteles-Theorie vom Erst-Bewegenden lässt, wie die seines Meisters Platon, die Metaphysik nahtlos in die Physik einfließen. Dabei wird die Welt als reine Bewegung definiert, die ursprünglich immateriell ist, die aber im Laufe des Bewegungsprozesses immer stärker materielle bzw. weltliche Natur annimmt. Der Erst-Bewegende ist der Ursprung, das Prinzip und zugleich das Endziel aller Bewegungen. Der Bewegungsprozess verläuft in einer Kreisform, die vollkommenste Form in der altgriechischen Philosophie. In der islamischen Philosophie wird auch diese aristotelische Theorie wie die platonische theologisiert und der Erst-Bewegende mit Gott identifiziert. In der Hellenistik wurde die Philosophie zur Magd der Theologie. Sie wurde schon im Neuplatonismus, insbesondere durch den jüdischen Philosophen Philon (50 n. Chr.) umfunktioniert. Er identifizierte die jüdische Schöpfungstheorie mit der platonischen Zehn-Intellekte-Theorie. Später wurde die Interpretation des ägyptisch-griechischen Philosophen Plotin (270 n. Chr.) für die platonische Ideen-Theorie von muslimischen Philosophen übernommen. 188 Siehe Schischkoff, G.: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart, Kröner Verlag, 1978.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
St. Augustin (gest. 430 n. Chr.) ist der eigentliche Erfinder des Wortes „Gottesstaat“. In seinem großen Werk „De Civitate Dei“, zu Deutsch „Über den Gottesstaat“, schrieb er die erste Weltgeschichte. Darin sah er eine unüberwindbare Diskrepanz zwischen zwei sich ewig bekämpfenden Reichen: dem Reich der irdisch Gesinnten, der Gottesfeinde, dem Weltreich (Civitas terrena oder diaboli) auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Gottesreich (Civitas Dei). Wichtig ist hier festzuhalten, dass Augustin die römische Kirche nicht mit dem Gottesreich in seiner irdischen Erscheinung identifiziert hat. Inspiriert durch die platonische „Politeia“ schrieb Al-Farabi eine islamische Version der „Politeia“. Mehr noch fiel er einer folgenreichen literarischen Täuschung zum Opfer. Eine neuplatonische unbetitelte Schrift, die fälschlich Aristoteles zugeschrieben wurde, wurde von Farabi mit großer Begeisterung als eine zuverlässige Grundlage für die angebliche Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles bezüglich der Gottesfrage gewertet. Diese Schrift, die anscheinend vom neuplatonischen Philosoph Proklos 410 n. Chr. geschrieben wurde, wurde fälschlicherweise mit der Überschrift „Theologia Aristoteles“ versehen. Da der Inhalt dieser angeblich aristotelischen Schrift mit dem original-platonischen Entwurf übereinstimmt, schlussfolgerte man daraus, dass die zwei großen Meister ein und derselben Meinung über Gott und die Welt waren. Farabi schrieb daraufhin ein Werk namens „at-tawfiq beina ra’yai al-hakimain = die Übereinstimmung zwischen den Meinungen der zwei Meister“. Dieses Farabi-Werk wurde lange Zeit unkritisch übernommen und weiter tradiert. Bei Anselm von Canterbury (gest.1109 n. Chr.) nahm der Streit über Gott und die Welt eine andere Gestalt an. Es ging damals um die Beziehung zwischen dem Glauben und dem Wissen bzw. dem Verstehen. Anselm sah, im Gegensatz zu der damals weit verbreiteten Ansicht, nach der sich Glaube und Wissen gegenseitig ausschließen, dass Glauben zum Wissen führt. Glauben und Wissen ergänzen sich gegenseitig. Er formuliert dies in seinem bekannten Satz: „[C]redo ut intelligam“,189 zu Deutsch: „[I]ch glaube, um zu erkennen“, und dokumentiert entsprechend seine Ansicht. Thomas von Aquin, der Scholastiker und Kirchenphilosoph (gest. 1274 n. Chr.), zieht im Gegensatz zu Anselm eine scharfe Grenze zwischen Glauben und Wissen. „Die Sätze der Offenbarung oder des Glaubens seien durch die Vernunft nur als widerspruchsfrei und gegenüber Einwürfen nur als wahrscheinlich begründbar, was
189 Ibd.
5.3 Wie viel Gott verträgt die säkulare Gesellschaft?
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jedoch ihrer Autorität keinen Abbruch tue“.190 Martin Luther (1546) bringt einen völlig neuen Ansatz in diesen Diskurs, „Credo quia absurdum“, fälschlicherweise Augustin und Tertullian zugeschrieben, zu Deutsch: „Ich glaube es, gerade weil es widersinnig, widervernünftig bzw. paradox ist“. „Wider alle Vernunft, ja wider alles Zeugnis der Sinne muss man lernen am Glauben festhalten“.191 Diese waren die markanten Aussagen des großen Reformators Martin Luther. Das neuzeitliche Geschichtsbewusstsein war im 18./19. Jahrhundert durch die Einsicht in die vom Menschen hervorgebrachte und zu verantwortende Geschichte geprägt. Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Wissen hat sich durch Friedrich Hegel (gest.1831 n. Chr.) zur Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Geschichte verlagert: Wenn Geschichte und Gesellschaft mit ihren Widersprüchen als Produkt menschlicher Handlungsweisen angesehen werden konnten, so musste die Frage nach einem in der Geschichtehandelnden Gott neu gestellt werden.192
Soziale Widersprüche wurden jetzt nicht mehr in Bezug auf einen die Welt Regierenden interpretiert, sondern erschienen als Resultate menschlichen und gesellschaftlichen Fehlverhaltens, das die Existenz Gottes selbst infrage zu stellen drohte. 5.3.3 Der politische Diskurs – Die Dialektik Religion/Staat Der Staat verfolgt eine Religion
Die jüdische Religionsgemeinde zeigt ihren König an. Jesus wurde nicht wegen seines prophetischen Anspruchs, sondern wegen seines angeblichen Anspruchs auf weltliche Macht zum Tode verurteilt. Die christliche junge Gemeinde wurde von der Staatsmacht weiterverfolgt, weil sie als politische Gefahr angesehen wurde. Religion rettet den Staat
Konstantin I. macht die christliche Religion schon im frühen Mittelalter zur Magd der Politik. Das römische Reich brauchte die Loyalität und Unterstützung der ständig wachsenden christlichen Religionsgemeinschaft. Er war damit der erste römische 190 Ibd. 191 Ibd. 192 Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. I, Frankfurt/Main, Suhrkamp Verlag, 1969, S. 236 f.
204
5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
Kaiser, der aus innenpolitischen Gründen schon im Jahr 313 das Christentum politisch durchsetzte. Somit war er der erste Theokrat in der neuen Geschichte. Schon 381 wurde das Christentum durch Kaiser Theodosius I. zur Staatsreligion deklariert und heidnische Kulte wurden verboten. Hier suchte die Politik bei der Religion nach ihrer Rettung. Christliche Gelehrte konnten daraufhin über innerchristliche Fragen öffentlich diskutieren und so kam das erste Konzil von Nicäa im Jahre 325 zustande. Arius und seine Glaubensbrüder (die Monophisten) erhoben sich in Alexandrien gegen den Versuch des römischen Kaisers, die Einheitslehre Gottes zu fälschen. Weitere Konzile in den Jahren 385, 431 usw. folgten und so kam es zwischen dem 5. und de. 6. Jahrhundert zur ersten Spaltung in der römisch-katholischen Kirche in Nestorianer, Jakobiner und die Königskirche bzw. die römisch-katholische Kirche. Rollenaustausch: Die Religion vereinnahmt die Politik
Im christlichen Mittelalter wurden die Rollen vertauscht. Die Religion bzw. die Kirche vereinnahmt nun die Politik und missbraucht sie für eigene politische Zwecke. Der Papst ernennt den Kaiser bzw. der Kaiser konnte erst dann seine politische Macht ausüben und den Anspruch auf den Gehorsam seiner Untertanen erheben, wenn er die Gunst und den Segen des Papstes erhalten hatte. In die Missgunst der mittelalterlichen Theokratie sind Wissenschaft und alle Arten des freien Denkens geraten. Ihre Ergebnisse wurden verteufelt und deren Urheber hart bestraft, sollten sie dem vorherrschenden Kirchendogma widersprechen. Kreuzzüge, Hexenverfolgung, Inquisition und eine totale Feudalherrschaft kennzeichneten die theokratische Epoche Europas, die erst durch die von Martin Luther (1546) eingeleitete Spaltung der katholischen Kirche chronisch geschwächt wurde, was den Weg zur totalen Emanzipation der Politik von der Kirche ebnete. Dies war die Geburtsstunde der europäischen Säkularität und ihr Siegeszug wurde mit der französischen Revolution (1789) besiegelt. 5.3.4 Säkularität als Antithese
Die Säkularität bzw. die totale Trennung zwischen Kirche und Staat war die logische Folge des Machtmissbrauchs der Kirche vom frühen Mittelalter bis zur Aufklärung. Der Säkularität sind die bisher erreichten gewaltigen Fortschritte in allen Bereichen der Wissenschaft und der Literatur zu verdanken. Dennoch, inkonsequenterweise, gingen christliche Missionierung und Eroberungszüge im Schatten der Säkularität, u. a. in islamischen Ländern, Hand in Hand.
5.3 Wie viel Gott verträgt die säkulare Gesellschaft?
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Gesellschaftlich war auch in vielen islamischen Ländern insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine steigende Tendenz zum Säkularismus feststellbar, in dem religiöse Werte im politischen und öffentlichen Handeln immer mehr an Bedeutung verloren. Allein ihre Erwähnung wurde als Indiz für Rückständigkeit abgetan. Säkularismus entwickelte sich zu einer Art Laizismus. Religiosität wurde nicht nur in die Intimität gebannt, sondern sie wurde auch dort ihres Inhaltes entleert. Die Religiosität wurde dadurch immer stärker zur reinen Formalie. Die Nominalität der Religiosität entwickelte sich alsbald zu einer Art Religionismus, der exklusiv als formeller Identitätsfaktor diente. Die Gefahr, die sich hinter dem Religionismus als ein formeller Identitätsfaktor verbirgt, liegt nicht nur an seiner Inhaltslosigkeit, sondern vor allem daran, dass er eine undurchlässige Schutzschale um den Menschen bildet. Der Mensch versteckt sich hinter dieser Schutzschale aus Berührungsangst vor anderen Menschen mit anderem Glauben. Dies kann sich dann zu einer Art Identifikation zwischen der eigenen Religion mit der eigenen ethnischen Herkunft entwickeln. Die Religion würde so ethnisch definiert, was wiederum zu einem ausgrenzenden Verhalten gegenüber dem anderen führt. Dieses exklusivistische Verhalten könnte sich bald zu einem Kultur- und Rassenkonflikt entwickeln. Mittelalterliche Verhältnisse heute? Die berechtigten Bedenken, mittelalterliche Verhältnisse könnten sich auch in unserer Zeit wiederholen, sollten Religionen und Politik nicht feinsäuberlich voneinander getrennt bleiben, soll, meines Erachtens, zwar sehr ernst genommen werden, doch uns nicht daran hindern, religiöse Werte in die Politik hineinwirken zu lassen. Ein Gebot der Postmoderne wird sein, dass wir über eine neue Konstellation des religiös-politischen Lebens nachdenken müssen, in der interreligiöse Werte die politischen Rahmenbedingungen in einer säkularen Gesellschaft mitgestalten dürfen. Ich spreche bewusst von interreligiösen Werten und nicht von Religionen. Bedenken wie z. B., diese könnten destruktive Folgen nach sich ziehen, müssen wir sehr ernst nehmen und uns dadurch dazu veranlasst fühlen, ein entsprechendes Gegeninstrumentarium zu entwickeln. In einer interkulturellen Gesellschaft gibt es keine Alternative zur Säkularität, denn nur in einer säkularen Gesellschaft, in der transparente und für interreligiöse Werte offene Politik betrieben wird, können alle Religionsgemeinschaften miteinander in gegenseitigem Respekt leben. Und nur in dieser politischen Konstellation wird eine solche Gesellschaft auch in der Postmoderne lebensfähig sein. Der Wunsch nach mehr gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
sowie politischer und wirtschaftlicher Verantwortlichkeit wird immer stärker. Intellektuelle mahnen dies an und appellieren immer wieder an die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit zu fördern und walten zu lassen, ehe der gesellschaftliche Frieden gefährdet wird. Wachsende Frustration und die starke Tendenz zu einer zwischenmenschlichen Kälte und Gleichgültigkeit sowie steigender Individualismus sind unübersehbare Folgen des sogenannten puren Säkularismus. Individualismus als Folgeerscheinung des puren Säkularismus führt unweigerlich zur Schwächung des Gemeinschaftssinns. Die in den letzten Jahren auffallend zunehmende Perspektivlosigkeit bei vielen Menschen bietet in stärkerem Maße – insbesondere bei Jugendlichen – den Nährboden für verschiedene Arten von Extremismus und Verschwörungstheorien sowie die Suche nach Schuldigen, an denen die Frustrationen ausgelassen werden kann. Andere flüchten in exklusivistische Religiosität, in der Andersgläubige verteufelt und als große Gefahr für den eigenen Glauben gesehen werden. Interreligiöse und interkulturelle Aufklärung würde dieser destruktiven Entwicklung entgegenwirken. Durch die andauernde Weltwirtschaftskrise fühlen sich die meisten Menschen in eine Sackgasse gedrängt. Die Politik befindet sich ihrerseits in einer ungewöhnlichen Orientierungslosigkeit. Diese folgenreiche Entwicklung zu verharmlosen wäre, meines Erachtens, nicht nur, wie den Kopf in den Sand zu stecken, sondern ein nicht wiedergutzumachender Verrat an den nächsten Generationen. 5.3.5 Aufbruch einer neuen Epoche?
Das Ende der Moderne und der Beginn der Postmoderne werden durch das Versagen der Weltfinanz- und der Weltwirtschaftspolitik besiegelt. Das bereits beginnende Scheitern des sogenannten Globalisierungsprozesses wird auch dadurch eingeleitet. Muss sich nicht auch die Säkularität in ihrer heutigen Form neu definieren? Es ist höchste Zeit, dass sich Intellektuelle dieser Herausforderung stellen und nach einem zeitmäßigen Orientierungspfad suchen. Der Soziologe Jose Casanova von der Georgetown-Universität, der im Dezember 2011 an der Uni Wien einen Gastvortrag „Religion in Modernity as Global Challenge“ gehalten hat, sieht die Religion als eine ernst zu nehmende Herausforderung für die moderne Gesellschaft. Das angekündigte Ende der Religion durch die Moderne bzw. die Säkularisation ist also nicht nur ausgeblieben, vielmehr ist die Religion heute lebendiger denn je in allen säkularen Gesellschaften der Welt und spielt eine entscheidende Rolle im kulturellen sowie im politischen Leben, wenn auch in veränderter Gestalt.
5.3 Wie viel Gott verträgt die säkulare Gesellschaft?
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„Den Religionen“, so Casanova weiter, „ist daher wieder erneut wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit zu schenken – nicht nur als Bollwerke des Konservativismus und Fundamentalismus, sondern auch in ihrer positiven Gestaltungskraft für globalen Frieden“. Ebenso vehement kritisiert er die nicht hinterfragte europäische Annahme, dass die Abwendung von der Religion die Norm sei. Er prognostiziert dagegen „einen heraufziehenden globalen ‚Denominationalismus‘, der mit seinen transnationalen religiösen Gemeinschaften eine fundamentale Herausforderung sowohl für die Theorie der säkularen Moderne als auch für Globalisierungstheorien darstellt“. Paradigmenwechsel im politischen wie im theologischen Denken für ein Gesellschaftsethos, basierend auf allgemein akzeptierten ethischen und religiösen Werten zu konstruieren, könnte den Gemeinschaftssinn bei den Menschen wiederherstellen und das Gesellschaftsleben für alle wieder lebenswerter gestalten. Man stelle sich vor, wir könnten in einer Welt leben, in der ein Politiker nicht aus politischem Kalkül nicht lügt, weil er weiß, dass er seine Lüge nicht nur vor einem Richter, den er bzw. sein Anwalt täuschen könnte, offenlegen muss, sondern, weil er eines Tages vor einem stehen wird, der auch über seine aller tiefsten Geheimnisse bestens Bescheid weiß. 5.3.6 Warum Islamophobie? Ein psychoanalytischer Einblick
Nichts ist leichter, als auf andere zu zeigen, wenn es um etwas geht, dass man von sich um jeden Preis ablenken möchte. Wenn einem dies bewusst ist, dann handelt es sich hier um ein Fehlverhalten. Geschieht dies aber unbewusst, dann geht es hier mit Gewissheit um ein psychopathologisches Symptom. Dieses psychopathologische Symptom ist die Folge eines komplexen Bündels, bestehend aus verschiedenen Elementen, u. a. der Sorge um die Bewahrung der eigenen kulturellen bzw. religiösen Identität und um die Bewahrung des eigenen Wohlstands. Dazu kommen mangelhafte Informationen über die eigene Kulturgeschichte bzw. noch mangelhaftere Erkenntnisse über die Kulturgeschichte der muslimischen Mitbürger sowie unbegründete Angst vor allem, was einem fremd ist. Die unerwartete intellektuelle Herausforderung durch einen Fremden, den man bewusst oder unbewusst stets unterschätzt hat (aus Gastarbeiter wurden Geistarbeiter und aus Putzfrauen wurden Powerfrauen), verunsicherte zusätzlich einige Einheimische. Hinzu kommt die Fehlinterpretation der islamischen Weltanschauung auch durch Muslime auf der einen Seite und durch einige sogenannte Islamexperten auf der anderen Seite.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
Offen bleiben folgende Fragen: – Aber warum gibt es keine Christophobie oder Judophobie in Europa, wenn das Unbehagen der Religion als solcher gelten soll? Reicht als eine ausreichende Antwort auf diese Frage die Aussage aus, dass die europäische Kultur jüdischen-christlichen Ursprungs ist? – Ist der Islam der europäischen Kultur tatsächlich so fremd, wie man hier in Europa im Allgemeinen glaubt? – Ist der Islam etwa schuld daran, dass viele Christen, insbesondere im letzten Jahrzehnt, ihrer Kirche den Rücken gekehrt haben? Über diese und viele weitere themenrelevante Fragen muss weiter unter Fachwissenschaftler aus verschiedenen Aspekten ausreichend diskutiert werden, um für Schadenbegrenzung, die durch populistische Äußerungen u. a. in einigen Massenmedien entstanden sind, zu sorgen.
5.4 Das Verhältnis von Staat und Religion – Die Stellung des Islam in Ägypten 5.4.1 Ein Wort vorab
Der Islam in Ägypten genießt bei vielen Islamwissenschaftlern, Religionswissenschaftlern und Theologen eine beachtliche Aufmerksamkeit. Dies ist nicht zuletzt zum einen auf die Bedeutung des Islam als eine der größten und lebendigsten Weltreligionen und zum anderen auf die kulturelle und politische Lage Ägyptens zurückzuführen. Im Rahmen dieses Beitrages sollen lediglich die wichtigsten Punkte dieses Themenkomplexes angesprochen werden. Mindestens zwei Dimensionen dieses Themas müssen hier besprochen werden: eine interne und eine externe Dimension. Die interne Dimension beinhaltet die verschiedenen Denkströmungen unter den muslimischen Intellektuellen, die von extrem links bis extrem rechts reicht. Mit links meint man die sogenannte islamische Linke und mit rechts die traditionalistische Denkrichtung. Die Linke offenbart sich durch die säkulare Auffassung der islamischen Religion, die traditionalistische durch die texttreue Auffassung des Islam. Die externe Dimension befasst sich mit der Stellung des Islams zu den anderen Religionsgemeinschaften in Ägypten und kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden: – Einer historischen, und – Einer gegenwartsbezogenen.
5.4 Das Verhältnis von Staat und Religion – Die Stellung des Islam in Ägypten
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Anders ausgedrückt: aus einer historisch-theoretischen und einer gegenwartsbezogen-praktischen Perspektive. Dabei ist „historisch“ mit „theoretisch“ sowie „gegenwärtig“ mit „praktisch“ nicht ohne Weiteres zu identifizieren. Mit der historisch-theoretischen Perspektive meine ich hier die religiöse Konzeption und mit der gegenwartsbezogen-praktischen Perspektive meine ich, wie die religiöse Konzeption durch die Menschen wahrgenommen und im Alltag praktiziert wird. 5.4.2 Ein historischer Überblick
Zur ersten Berührung Ägyptens mit dem Islam kam es der herkömmlichen Literatur zufolge erst mit der Eroberung Ägyptens (640 n. Chr.) durch die muslimische Armee unter der Führung ʿAmr Ibn Al-ʿAs (gest. 43 n. H./664 n. Chr.). Dass bereits vor der Eroberung Ägyptens einige Bewohner im Zuge von Handelsbeziehungen zum Islam konvertierten, wie dies später in Ostasien und Afrika der Fall war, lässt sich nur vermuten. ʿAmr Ibn Al-ʿAs gründete die Hauptstadt Ägyptens al-Fustaat (643 n. Chr.) und eine nach ihm benannte Moschee, die heute eine der ältesten, noch funktionierenden Gebetsstätten Ägyptens ist. Von 868 bis 905 herrschte die Dynastie der Tuluniden, die sich vom Kalifat in Bagdad losgelöst hatte. Die noch gut erhaltene Moschee des Dynastiegründers, Ahmad Ibn Tuluns (884 n. Chr.), ist eine der schönsten und größten Moscheen Ägyptens ihrer Zeit, die bis heute noch in gutem Zustand erhalten geblieben ist. 905 bemächtigte sich die Ikhschid-Dynastie des Throns, der kurz danach, 969, der schiitischen Fatimiden-Dynastie in die Hände fiel. Kairo (arab. Al-Kahira = die siegreiche Stadt) wurde gegründet und als Hauptstadt Ägyptens ins Leben gerufen. 972 gründete al-Muʿiz li-dinallah al-Fatimi die erste und älteste Universität der Welt, die Al-Azhar-Universität, als Lehrstätte für das schiitische Dogma. Zweihundert Jahre später, 1171, bemächtigen sich die Aiyubiden unter der Führung des Dynastiegründers Sultan Salahaddin al-Aiyubi des ägyptischen Throns und wandelten die ehemalige schiitische Lehrstätte in eine Hochburg des sunnitischen Dogmas. Noch heute gilt sie als die größte und renommierteste islamische Universität. In ihr werden aber auch wieder schiitische Dogmen und Recht unterrichtet. 1250 kamen die Mameluken, ehemalige Kalifensöldner türkischer, tscherkessischer und mongolischer Herkunft an die Macht. Sie blieben rund 267 Jahre, bis ihre Herrschaft, wie auch die ihrer Vorgänger, durch internen Machtstreit zugrunde ging. 1517 rissen die Osmanen durch ihren Heerführer Sultan Selim I. die Herrschaft über Ägypten an sich und blieben bis 1798 an der Macht.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
Der erste europäische neuzeitliche Eroberungsversuch durch Napoleon Bonaparte 1798–1801 scheiterte am erbitterten Widerstand der ägyptischen Armee. Seine Flotte wurde im ägyptischen Hafen Abuqir nahezu vernichtet. 1805 bemächtigte sich der türkische Statthalter Muhammad Ali, albanischer Abstammung, des ägyptischen Throns, und kurz danach, im Jahr 1811, ließ er die bis dahin noch relativ mächtigen Mameluken heimtückisch ermorden. In der Zeit von 1820 bis 1822 gelang es ihm, die Herrschaft über Oberägypten an sich zu reißen und 1841 wurde ihm die Herrschaft über ganz Ägypten unter der formalen Oberhoheit der Türkei zuerkannt. Das ägyptische Volk hatte Muhammad Ali schon zuvor gegen die Tyrannei der Mameluken unterstützt. Ägypten erlebte unter seiner Herrschaft eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Der Sultan Muhammad Ali war fest davon überzeugt, dass die ägyptische Renaissance ohne den Anschluss an die mittlerweile sehr fortgeschrittene europäische Wissenschaft undenkbar war. Daher schickte er die Elite der ägyptischer Al-Azhar-Studenten, wie Rifaʿa At-Tahtawi und Khlifa At-Tunusi, nach Frankreich. Durch diese mutige Öffnung gegenüber dem Westen auf kulturellen und wirtschaftlichen Ebenen begann eine große Übersetzungswelle, insbesondere aus dem Französischen ins Arabische. Zum ersten Mal durften in Ägypten Mädchen die Schule und später die Hochschule besuchen. Auch damals hatte Ägypten durch die Öffnung gegenüber dem Westen nicht nur Vorteile. In der Folgezeit nahm der Einfluss Frankreichs auf die ägyptische Politik und Wirtschaft auf immer mehr besorgniserregende Weise zu. Der Suezkanal wurde 1869 gebaut und an die Engländer und Franzosen wegen hoher Schulden der verschwenderischen Khedewis (Nachfolger Muhammad Alis) übergeben, bis Nasser den Suezkanal 1956 verstaatlichte. 1882 eroberte England nach einem erbitterten Widerstand der ägyptischen Armee unter der Führung Urabis, eines ägyptischen Offiziers aus der östlichen Provinz, das gesamte Land. Erst 1956 mussten die Besatzer unter dem Druck der ägyptischen Revolution von Nasser, der den letzten Nachfolger Muhammad Alis, König Farouk, 1952 aus dem Land ins Exil geschickt hatte, das Land verlassen. Seit Ende des 19. Jh. bis Mitte des 20. Jh. erlebte der Islam in Ägypten mehrere Reformversuche: Djamaluddin Al-Afghani (1897), der Initiator der Islamischen Liga, und Muhammad ʿAbduh (1905), Erneuerer der islamischen Theologie, Vater des neuzeitlichen islamischen Rationalismus und Reformer des ägyptischen Schulwesens, und dann Muhammad Raschid Reda (1935), Schüler Muhammad ʿAbduhs und Autor des bekannten Koranexegesewerkes „Al-Manaar“, und schließlich Hassan
5.4 Das Verhältnis von Staat und Religion – Die Stellung des Islam in Ägypten
211
Al-Banna (1949), Vater und Gründer der „Muslimbruderschaft“, waren die bekanntesten Reformer dieser Epoche. Die Wurzel des bis heute andauernden Reislamisierungsprozesses liegt in dieser ereignisreichen und schicksalhaften Zeitspanne. 5.4.3 Bestandaufnahme der gegenwärtigen Situation
Nach der letzten Statistik hat Ägypten rund 85 Millionen Einwohner, davon sind 6 bis 8 % Christen verschiedener Konfessionen. Dabei stellen die Kopten die absolute Mehrheit unter den nichtmuslimischen Mitbürgern dar und der Rest gehört verschiedenen christlichen Kirchen, u. a. der griechischen, armenischen, katholischen und evangelischen, an. Rund 94 % der Ägypter sind sunnitische Muslime mit einer kleinen schiitischen Minderheit. Die in Ägypten vordergründig vertretenen vier sunnitischen Hauptrechtsschulen sind der Zahl ihrer Angehörigen nach geordnet: – Die Schafiʿiten – Die Hanafiten – Die Maleliten, und – Die Hanbaliten. In Oberägypten herrscht die malikitische Rechtschule und in Unterägypten die schafiʿitische Rechtschule vor. Nach der Eroberung Ägyptens durch die Osmanen (1517) wurden zahlreiche Rechtsmaterien nach hanafitischer Doktrin, vor allem im Familien- und Erbrecht, ausgestaltet. Das hanbalitische Rechtsgut wurde später vor allem von der Muslimbruderschaft wiederentdeckt. Auch das Zivilrecht enthält in einer leicht abgewandelten Form, vor allem in Personenrecht, islamrechtliche Elemente. Der Islam wird als Staatsreligion in der ägyptischen Verfassung ausdrücklich erwähnt und dient als Hauptquelle für die Gesetzgebung. Die Religionsfreiheit ist für jeden Ägypter gewährleistet, atheistische Äußerungen in der Öffentlichkeit sind jedoch ausdrücklich verboten. Seit der Aufhebung der Scharia-Gerichtshöfe und der Minoritäten-Gerichte 1955/56, die bis dahin seit Mitte des 19. Jh. u. a. für Gerichtsprozesse existierten, in denen Personen verschiedener Nationalitäten und Religionen verwickelt waren, galt im ganzen Land ein einheitliches kodifiziertes Recht. Die höchsten religiösen Würdenträger in Ägypten sind der Scheich Al-Azhar und der Großmufti. Beide werden vom ägyptischen Präsidenten persönlich ernannt. Al-Azhar und seine Universität stellen die bedeutendste Bildungsstätte Ägyptens dar und unterliegen, sowie die sonstigen religiösen Verwaltungen, staatlichem Einfluss.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
An der Al-Azhar-Universität, der größte Bildungsstätte in der gesamten islamischen Welt, werden alle großen Rechtsschulen gelehrt. Sie bieten heute rund 350.000 Studenten (seit 1962 dürfen auch Mädchen bzw. Frauen an den verschiedenen Fakultäten der Al-Azhar-Universität studieren) einen Studienplatz in den verschiedenen Fächern, einschließlich technischer, medizinischer und naturwissenschaftlicher Studiengänge. Dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten (Awqaf-Ministerium) war bis 1965 die Verwaltung der „Wohlfahrt-Stiftungen“ (awqaf khairiya) zugeordnet, die Krankenhäuser und Schulen finanziert und betreut haben. Ab 1965 wurden die Krankenhäuser dem Gesundheitsministerium und die Schulen dem Erziehungs- und Schulministerium zugeteilt. Die Hauptaufgabe des Awqaf-Ministeriums beschränkt sich heute auf den Bau, die Renovierung und Finanzierung der staatlichen Moscheen in Ägypten. Die nichtstaatlichen Moscheen werden durch private Spender gebaut und betrieben, sie unterliegen aber der staatlichen religiösen und gelegentlich der finanziellen Betreuung durch das Awqaf-Ministerium. Der Minister für religiöse Angelegenheiten (Awqaf-Minister) ist zugleich der Vorsitzende des Obersten Rates für religiöse Angelegenheiten, der ausschließlich eine reine wissenschaftliche Aufgabe hat. Er besteht aus diversen Fachausschüssen, in denen alle wissenschaftlichen einschließlich der naturwissenschaftlichen Fachrichtungen vertreten sind. Dieser Rat setzt sich durch seine Fachausschüsse, die aus renommierten Wissenschaftlern bestehen, mit der Problematik der Neuzeit im Hinblick auf die islamische Weltanschauung auseinander. Während die Bedeutung der mystischen Orden zurückgeht, nimmt die Bedeutung der traditionellen Glaubensrichtung zu, welche nicht ausschließlich durch die Muslimbruderschaft vertreten ist. Nicht alle Traditionalisten gehören der Muslimbruderschaft an, wie manches westliche Literaturwerk behauptet. Traditionelle Religiosität gehört fast zur Natur der muslimischen Ägypter. Die Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ägypten von Hasan Al-Banna als eine rein religiöse, pädagogische Volksbewegung gegründet und stand unter dem Einfluss des Gedankenguts des großen Reformers Djamaluddin Al-Afghani (1897). Ihr Einfluss reichte 1936 bis in weite Gebiete des Irak, Syriens, Jordaniens, Palästinas und des Libanon. Ihr Ziel war, die Rückkehr zu den Urquellen des Islam, dem Koran und der Sunna, einzuleiten. Alsbald, nach der Ermordung ihres Gründers durch Komplizen der Kolonialmacht England 1947, nahm diese religiöse Bewegung zusätzlich eine politische Richtung ein, denn Religion und Politik waren seit der Verkündung des Islam untrennbar. Durch diese neue Orientierung geriet die Muslimbruderschaft in Konflikt nicht
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nur mit der Besatzungsmacht und dem korrupten König, sondern auch später, nach der Revolution von 1952, mit der neuen Führung. Verhaftungen und schnelle Verurteilungen waren damals an der Tagesordnung. 1966 erreichte die Verfolgung der Muslimbruderschaft durch die Staatsmacht ihren Höhepunkt. Einer der bekanntesten ehemaligen Schriftsteller und später ein Muslimbruder, Sayed Qutb, wurde einige Jahre zuvor verhaftet, der Verschwörung gegen den Staat beschuldigt und schließlich gegen alle Proteststimmen im In- und Ausland1965 exekutiert. Seitdem wird die Beziehung zwischen der Muslimbruderschaft und dem Staat bis heute von unüberwindbarem Misstrauen beherrscht. 5.4.4 Ägypten zwischen Theokratie und Säkularität
Der neuzeitliche Reislamisierungsprozess in Ägypten begann, wie oben erwähnt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Djamaluddin Al-Afghani und wurde durch Muhammad Abdulah, Muhammad Rashid Reda und Hassan al-Banna bis Mitte des 20. Jahrhunderts weitergeführt. Dieser immer noch andauernde Prozess strebt die Gründung eines islamischen Staates in Ägypten an. Die Träger dieses Prozesses gehen von der Grundannahme aus, dass die Muslime im Allgemeinen und die Ägypter im Besonderen den islamischen Staat ständig im Herzen tragen. Der Missbrauch dieser Parole seitens einiger muslimischer Herrscher lässt jedoch einige Muslime eine reservierte Haltung hinsichtlich eines islamischen Staates einnehmen. Diese Ablehnung bezieht sich nicht auf eine Skepsis bezüglich der Führungsfähigkeit des Islam, sondern vielmehr auf eine gegenüber den tatsächlichen Absichten derer, die dazu aufrufen. Die islamische politische Geschichte ist leider nicht fehlerlos verlaufen. Eine Religion oder eine Ideologie wird bekanntlich durch Menschen getragen, die nicht unfehlbar sind. Aber die Fehlbarkeit des Menschen bzw. eines Herrschers darf dennoch auf gar keinen Fall der Religion bzw. der jeweiligen Ideologie angelastet werden. Der Islam bildet auch hier keine Ausnahme. Hierin gründen die internen Vorbehalte gegenüber einem islamischen Staat in Ägypten oder sonst wo in der islamischen Welt. Interne Vorbehalte haben aber neben dem oben genannten noch einen externen historischen Grund. Die negative Erfahrung des Westens mit dem sogenannten Gottesstaat des Mittelalters sitzt tief im Bewusstsein der Menschen in Europa. Diese unbewusste und nicht hinterfragte Polemisierung bei der Beurteilung der islamischen Entwicklungsgeschichte verstärkt das Misstrauen des Westens dem Islam gegenüber zu Unrecht. „Ethik und Politik im Islam“ und „Der Islam als politischer Faktor“193 sind zwei 193 Stuttgart, Kohlhammer, 1982.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
informierende Bücher, verfasst vom Religionswissenschaftler und Islamkenner Peter Antes aus Hannover. Die reichhaltigen Literaturangaben in diesen zwei Büchern sind in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Der Prophet Muhammad hat nicht vom Katheder aus gesprochen, sondern mitten aus dem Leben eines Geschäftsmannes, Familienvaters, Heerführers und Staatsmannes. Daher haben seine Aussagen eine praktische Dimension. Sie zeichnen eine Lebensform, die im Diesseits und Jenseits wirkt und beide Bereiche untrennbar miteinander vereint. Er war, wie bekannt ist, der einzige Prophet, der selbst einen Staat gegründet und geführt hat. Das sind nicht zu leugnende Tatsachen, die eine Trennung der Staatsführung von der islamischen Religion mit Theologie und Recht unislamisch macht. Der Koran beinhaltet zwar keine ausgereiften politischen und wirtschaftlichen Theorien, dennoch bietet er eine detaillierte Konzeption für alle Lebensbereiche in Theorie und Praxis. Der Koran wird in zwei elementare Bestandteile gegliedert: einen theoretischen Teil für das Glaubensbekenntnis und einen praktischen Teil für die Lebensführung. Diese zwei Bestandteile der islamischen Religion sind so miteinander verflochten wie die zwei Seiten einer Medaille. Entsprechend dieser Auffassung käme die Trennung des Glaubensbekenntnisses von seiner Praxis in der Öffentlichkeit der Trennung des Kopfes vom Körper eines Lebewesens gleich. Hierbei müssen wir zwischen der Praxis im privaten Bereich einerseits und der Praxis in der Öffentlichkeit im Sinne von der Einmischung im politischen Bereich andererseits unterscheiden. Und gerade hier liegt das ewige Spannungsfeld zwischen der islamischen Weltanschauung einerseits und dem westlichen Säkularitätsverständnis andererseits. So stellt sich die Frage, wie viel Säkularität die islamische Religion verträgt und wieviel Islam wiederum die Säkularität verträgt. Diese Problematik müssen wir unvoreingenommen angehen. Für mich ist dieses Thema das exklusive Produkt einer intellektuell geführten Auseinandersetzung. Für den größten Teil der breiten Masse der Muslime ist die Diskussion über dieses Thema ein Luxus der Intellektuellen, der angesichts der praktischen Natur des Islam eine grundlose Projektion des europäischen Mittelalters auf den Islam darstellt. Dieser Ansicht sind die meisten traditionellen Muslime in Ägypten. Eine kleine intellektuelle Minderheit, unter ihnen Muhammad Khalafallah, ließ sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts vom Vater des neuzeitlichen islamischen Säkularismus Scheich ʿAli ʿAbdarraziq inspirieren, insbesondere durch sein Buch „Das politische System im Islam“. Dieses findet in der öffentlichen islamischen Meinung jedoch keinen Widerhall. Demgegenüber stehen die größten Denker und Gelehrten unserer Zeit
5.5 Schurakratie, keine Theokratie
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seit Muhammad ʿAbduh, M. Raschid Reda und Hassan Al-Banna bis Muhammad Al-Ghazali (1996) und Muhammad ʿImarah. Die meisten Säkularisten unserer Zeit, u. a. Hassan Hanafi und Mahmud Amin al-ʿAlim, nennen sich die Islamische Linke. Die Islamische Rechte wären in diesem Falle die Konservativen oder die Fundamentalisten, wie man heute sagen würde. Dem Islam sind alle diese Begriffe in ihrem pauschalen Gebrauch fremd. Er kennt weder Linke noch Rechte noch Konservative oder Liberale.
5.5 Schurakratie, keine Theokratie
Jeder Aufruf nach der Errichtung eines islamischen Staates wird pauschal als Plädoyer für die Wiederbelebung der verpönten mittelalterlichen Theokratie abgetan. Die Frage, ob ein islamischer Staat mit einem Gottesstaat identisch ist oder nicht, wird einfach nicht gestellt. Hierbei gewinnt die Emotion und nicht der Verstand die Oberhand. Das politische System im Islam gründet auf einem pluralistischen Prinzip, das wir hier Schurakratie nennen. „Schura“ bedeutet auf Deutsch „Beratung“ und „Besprechung“. Diese setzt die Bildung eines Volksvertretungsforums (Ahl al-hall wa l-ʿaqd) voraus, das alle Staatsangelegenheiten bespricht und Entscheidungen darüber trifft. Als Entscheidungsgrundlage gelten Koran, Sunna und eigenständige Meinungen der Gelehrten: „Igtihad.“ Der Herrscher hat die Entscheidung dieses Volksvertretungsforum zu akzeptieren, damit seine Herrschaft als islamkonform anerkannt wird und er demzufolge die Gehorsamkeit des Volkes beanspruchen kann.194 5.5.1 Totalitarismus aus islamischer Perspektive
Gegen jegliches totalitäre Verhalten sprechen zwei Koranstellen. Die erste Stelle wird in einer Befehlsform als Konsequenz der von Gott an den Propheten Muhammad erwiesenen Barmherzigkeit ausgedrückt. Diese erwiesene göttliche Barmherzigkeit bewirkte, dass der Prophet Muhammad mit seinen Gefährten sanft umgeht. Wäre er zornig und hartherzig, hätten sie ihn allein gelassen. In jener Koranstelle195 heißt es: Nur durch Gottes Barmherzigkeit gehst du mit ihnen sanft um. Wärst du jähzornig und hartherzig, wären sie von dir weggegangen (sich von dir distanziert). Also verzeihe ihnen 194 Siehe Noth, A.: Historische Entwicklung u. Charakter der Scharia, Hamburg 1995. 195 Sure 3:159.
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
und bitte mich für sie um Vergebung und lass dich von ihnen in deinen Anliegen beraten; wenn du dann eine Entscheidung getroffen hast, (führe sie durch) und vertraue auf Gott […].
Die zweite Koranstelle kommt in der 42. Sure vor, die die Überschrift „Die Beratung“ trägt. Im Vers Nr. 38 dieser Sure werden die wichtigsten Eigenschaften des gläubigen Menschen aufgezählt: „(Diese sind diejenigen) die den Anweisungen ihres Herrn gehorsam sind und das Gebet verrichten und ihre Angelegenheiten untereinander beraten und von dem, was Wir ihnen beschert haben, spenden“. Der Prophet Muhammad praktizierte dieses Beratungsprinzip bei allen seinen diesseitigen Entscheidungen konsequent. Bei der ersten kriegerischen Auseinandersetzung mit den Mekkanern bei der Wasserquelle Badr änderte er die Stellung nach einem Rat einer seiner Gefährten. Bei der zweiten Auseinandersetzung, bekannt als „Uhud-Schlacht“, folgte er ebenfalls der Meinung der Mehrheit seiner Gefährten, obwohl er einer anderen Meinung war. Er sagte einmal zu seinem Gefährten: „Ihr wüsstet besser Bescheid über eure weltlichen Angelegenheiten“.196 Die einzige Ausnahme, bei der der Prophet dem Rat seiner Gefährten, nach langer Überlegung, nicht folgte, war bei dem berühmtem „Hudaibiya-Friedensabkommen“ mit den Mekkanern. Dabei war es jedoch eine Offenbarung, die ihn dazu bewog, nicht den Rat seiner Gefährten zu befolgen. Nur seine Frau Aischa wusste, dass es bei dieser Entscheidung darum ging, nämlich einen unausgewogenen Friedensvertrag um des Friedens Willen mit den Mekkanern anzunehmen. Später hat sich diese Entscheidung im Alleingang des Propheten als richtig erwiesen. Durch diese oben erwähnten Koranverse und die Überlieferungen des Propheten Muhammad wird ersichtlich, dass der Islam jenseits jeglicher Form der politischen Totalität steht und für kollektive Entscheidungen eintritt. 5.5.2 Demokratische Ansätze im Ur-Islam
Der neuzeitliche Reislamisierungsprozess begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Djamaluddin Al-Afghani und wurde durch Muhammad Abdulah, Muhammad Rashid Reda und Hassan al-Banna bis Mitte des 20. Jahrhunderts weitergeführt. Dieser immer noch andauernde Prozess strebt die Gründung eines islamischen Staates u. a. in Ägypten an. 196 Siehe Al-Bukhari, Muhammad Ibn ’Ism,aʿil: Al-Jamiʿ Al-Musnad As-Sahih, al-Jil Verlag, Bd. 6, S. 162, Hadith Nr. 3039; Al-ʿAsqalani, Ibn Hajar, Fath Al-Bari, Scharh Sahih Al-Bukhari, Bd. 7, S. 346.
5.5 Schurakratie, keine Theokratie
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Die Träger dieses Prozesses gehen von einer axiomatischen Erkenntnis aus, dass die Muslime im Allgemeinen und die Ägypter insbesondere den islamischen Staat ständig im Herzen tragen. Der Missbrauch dieser Parole seitens einiger muslimischer Herrscher lässt jedoch einige Muslime eine reservierte Haltung hinsichtlich eines islamischen Staates einnehmen. Diese reservierte Haltung bezieht sich nicht auf die Führungsfähigkeit des Islam, sondern vielmehr an die wahre Absicht derer, die dazu aufrufen. Die islamische politische Geschichte ist nicht fehlerlos verlaufen. Religionen sowie Ideologien werden bekanntlich durch Menschen getragen, die nicht unfehlbar sind, aber die Fehlbarkeit des Menschen bzw. eines Herrschers darf dennoch auf gar keinen Fall der Religion bzw. der jeweiligen Ideologie angelastet werden. Der Islam bildet auch in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Hierin gründen die internen Vorbehalte gegenüber eines islamischen Staates in Ägypten oder sonst wo in der islamischen Welt. Interne Vorbehalte haben aber neben dem oben genannten Grund noch einen externen historischen Grund. Die negative Erfahrung des Westens mit der Theokratie des Mittelalters sitzt tief im Bewusstsein der Menschen in Europa. Diese unbewusste und undurchdachte Polemisierung bei der Beurteilung der islamischen Entwicklungsgeschichte verstärkt das Misstrauen des Westens dem Islam gegenüber zu Unrecht. Die reichhaltigen Literaturangaben in den oben genannten zwei Büchern von Peter Antes sind in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Der Prophet Muhammad hat nicht vom Katheder aus gesprochen, sondern mitten aus dem Leben eines Geschäftsmannes, Familienvaters, Heerführers und Staatsmannes, daher haben seine Aussagen eine praktische Dimension. Sie zeichnen eine Lebensform, die im Diesseits und Jenseits ineinander verflochten und untrennbar ist. Er war, wie bekannt ist, der einzige Prophet, der selbst einen Staat gegründet und geführt hat. Das ist Fakt, das eine Trennung der Staatsführung von der islamischen Religion mit seiner Theologie und Recht problematisch macht. Der Koran beinhaltet zwar keine ausgereiften politischen und wirtschaftlichen Theorien, dennoch bietet er eine detaillierte Konzeption für alle Lebensbereiche in Theorie und Praxis. Der Koran teilt sich in zwei Teile, einen Teil für das religiöse Bekenntnis und ein anderer für die Lebensführung. Sprich: ihn zu säkularisieren kommt einer Trennung des Kopfes vom Körper eines Lebewesens gleich. Hier sind wir beim Thema Säkularismus angekommen und müssen diese Problematik unvoreingenommen betrachten. Für mich ist dieses Thema ein Produkt der intellektualistischen Auseinandersetzung. Für die breite Masse der Muslime ist die Diskussion über dieses Thema ausschließlich ein Luxus der Intellektuellen, der angesichts der praktischen Natur des Islam eine grundlose Projektion des europäi-
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5 Religion und Politik im Islam – Eine unsäkulare Auffassung
schen Mittelalters auf den Islam darstellt. Dieser Ansicht sind alle traditionalistischen Muslime in Ägypten. Eine kleine intellektuelle Minderheit, die sich seit Anfang des 20. Jahrhundert vom Vater des neuzeitlichen islamischen Säkularismus Scheich ʿAli ʿAbdarraziq, insbesondere durch sein Buch „Das politische System im Islam“197, und durch Muhammad Khalafallah inspirieren ließ, findet in der öffentlichen islamischen Meinung keinen Widerhall. Demgegenüber stehen die größten Denker und Gelehrten unserer Zeit seit Muhammad ʿAbduh, M. Raschid Reda und Hassan Al-Banna bis Muhammad Al-Ghazali (1996) und Muhammad ʿImarah. In diesem Zusammenhang sagt der hamburger Orientalist Albrecht Noth: „Der Herrscher hat die Entscheidung dieses Volksvertretungsforum zu akzeptieren, damit seine Herrschaft als Islamkonform anerkannt wird und er demzufolge den Gehorsam des Volkes beanspruchen kann“.198 Der Duisburger katholische Theologe Hans Zirker schreibt in seinem vorher erwähnten Buch „Christentum und Islam, theologische Verwandtschaft und Konkurrenz“: Wohl werden die Kalifen als Herrscher mit einer Legitimation Gottes erachtet, sodass man sie gelegentlich sogar als „Kalif“ (d. h. Statthalter) Gottes und nicht nur als „Kalif“ (d. h. Nachfolger) Mohammeds bezeichnet. Ihre Rolle beschränkt sich grundsätzlich darauf, dem Gesetz Gottes entsprechend die innere und äußere Ordnung der muslimischen Gemeinschaft zu schützen. Irgendeine prophetische oder lehramtliche Funktion kommt ihnen nicht zu. Allein der muslimischen Gemeinschaft als ganzer wird insofern ein unfehlbares Glaubensverständnis zugesprochen, als sie dort, wo sie sich von gemeinsamer Überzeugung zusammengehalten weiß, nicht irren kann.199
Die Legitimation dieses Konzept für die Staatsführung befindet sich im Koran (Sure 3:159; 38:43) und in der wiederholten Praxis des Propheten Muhammads und seiner vier Nachfolger. Ist die Angst vor einem islamischen Staat, der pluralistisch durch ein entscheidungsfähiges Gremium (Schurarat = Volksvertretung) vertreten wird, dennoch berechtigt?
197 Arabischer Originaltitel: Al-Islam wa Usul Al-Hukm, Kairo, Dar Al-Hilal, 1925. 198 Siehe Noth, A.: Historische Entwicklung und Charakter der Scharia, Hamburg 1995. 199 2. Aufl., Ostfildern, Patmos Verlag, 1992, S. 67 f.
6 Theodizee, eine Implikation der göttlichen Vollkommenheit? 6.1 Denkanstöße aus der islamischen Geistesgeschichte
Die von den Denkern verschiedener kultureller und religiöser Herkunft angestellten Überlegungen darüber, ob diese Welt für Gott die bestmögliche Schöpfung darstellt, ist eine logische Konsequenz der bedauerlichen und unabwendbaren Existenz des Übels in dieser Welt. Ob es sich um das moralische oder das natürliche Übel handelt, so folgt immer und in gewisser Hinsicht zu Recht die Frage nach dem Grund des Übels. Dabei treten Gedanken über die Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit des Geschehens oder einfach die Frage nach der Rechtfertigung des unverdienten Übels zutage. Warum überhaupt? Und warum gerade ich bzw. wir? Diese unbeantwortet gebliebenen und bleibenden Fragen nach dem Grund und der Rechtfertigung führen im Allgemeinen zur Urfrage hin, ob Gott sei, und wenn ja, folgt die Frage, wie er beschaffen ist. So haben wir es hier mit zweierlei Fragen zu tun, einer existentiellen und einer qualitativen. Nur die Beziehung zwischen seinem Sein als Grundvoraussetzung für alle seine weiteren Eigenschaften einerseits und seinen weiteren Eigenschaften insgesamt andererseits muss genauer definiert werden. Danach müssen seine Eigenschaften im Einzelnen und unabhängig voneinander untersucht werden. D. h., es muss untersucht werden, ob es zwischen seinen einzelnen Eigenschaften eine Art von zwingendem Zusammenhang gibt, oder nicht. Dabei muss die These aufgestellt werden, dass seine bloße Existenz ganz und gar unabhängig von seinen Eigenschaften ist. Die bloße Existenz Gottes impliziert zwar, dass er die Welt geschaffen hat, aber keineswegs, dass er diese Welt per Definition verwalten muss. Und wenn wir annehmen würden, dass er diese Welt verwaltet, dürfen wir uns nicht anmaßen, seinen Schöpfungs- bzw. Verwaltungsplan endgültig aufdecken bzw. erhellen zu können und zu müssen. Dies wäre, meines Erachtens, ein irrationales Projekt, welches von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Die Irrationalität eines solchen Vorhabens resultiert aus der Begrenztheit des Auffassungsvermögens des Menschen gegenüber der Unbegrenztheit des göttlichen Wesens und seiner Qualitäten. Anders ausgedrückt kann man die Frage stellen: Wie soll ein seiner Natur nach endliches Wesen ein seiner Natur nach unendliches Wesen umfassend begreifen? Diese Frage führt uns ad absurdum. Gott für das Übel in der Welt verantwortlich machen zu wollen, stellt, meiner
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6 Theodizee, eine Implikation der göttlichen Vollkommenheit?
Meinung nach, das Versagen oder, milder ausgedrückt, die Verzweiflung des Menschen dar, die richtige Ursache des Geschehens zu ergründen, um dann effektiver entgegen zu wirken. Die Existenz Gottes aufgrund der Existenz des Übels infrage zu stellen, wäre mehr als banal und stellt einen unlogischen Gedankensprung dar. Die konkrete Existenz des Übels in dieser Welt kann, meines Erachtens, demnach keine solide Grundlage für atheistische Überlegungen anbieten. Sie rechtfertigt bestenfalls den menschlichen Zweifel an der Richtigkeit ihres Gottesbildes, das die Menschen durch die theologische Dogmatik vermittelt bekommen haben. Auch die Gotteseigenschaften, die im Koran als die schönsten Gottesnamen (asma’ Allah al-husna) bezeichnet werden, könnten ausschließlich sein Wesen betreffen und damit dem menschlichen Verstand verschlossen sein und bleiben. Ein Versuch, das Unendliche durch ein Endliches zu begreifen bzw. zu umfassen, ist absurd. Gott wollte sich aber durch seine Eigenschaften den Menschen offenbaren. Demzufolge müsste der Mensch in der Lage sein, Gottes Eigenschaften zumindest in dem notwendigen Maße zu begreifen, der ihm einen festen Glauben an die Existenz Gottes ermöglicht. Aber eben in einem begrenzten Maße und nicht mehr. Hier soll die Relativität des Erfassungsvermögens des Menschen in Bezug auf alles, was Gottes Wesen, aber auch seine Eigenschaften betrifft, unterstrichen werden. Diese Einstellung darf keineswegs nihilistisch verstanden werden, sie ruft lediglich zur Bescheidenheit des menschlichen Verstandes auf, die David Hume bereits im 18. Jahrhundert u. a. in seinem Buch „Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand“200 ebenfalls anstrebte. In seinem Projekt stellt Armin Kreiner die These auf, dass die „anscheinende Inkohärenz von theistischem Bekenntnis und Leiderfahrung“ eben nur als scheinbar zu verstehen ist, was m. E. der Vertiefung bedarf. Rationalistisch gesehen dürfte genau das Gegenteil dessen bestätigt werden, was Kreiner in seinem Projekt anstrebt. Denn eine kohärente Beziehung zwischen dem theistischen Bekenntnis einerseits und den Leidenserfahrungen der Menschen andererseits stützt sich, meines Erachtens, vielmehr auf eine emotionale als auf eine rationale Grundlage. Man macht es sich leicht, erst an Gott zu glauben, wenn Gott für alles sorgt und die Welt in ein Paradies für die Menschen verwandelt. Die Beziehung zwischen Leidenserfahrungen und theistischem Bekenntnis, wenn es sie tatsächlich gäbe, könnte nur inkohärent sein. Sie würde allenfalls ein theistisches „Prinzip Hoffnung“ darstellen. Die Göttlichkeit impliziert neben Allmacht und Allwissenheit auch die sittliche Vollkommenheit, aber was alle diese Eigenschaften implizieren und nach welchen 200 Ditzingen, Reclam Verlag, 1987.
6.2 Jenseits von Prädestination und Willensfreiheit
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Regeln sie wirken, kann der Mensch nur erahnen. Es ist geradezu eine Anmaßung, zu meinen, entweder tue Gott, was wir gutheißen oder er sei kein Gott bzw. es gäbe ihn nicht.
6.2 Jenseits von Prädestination und Willensfreiheit
Ibrahim Ibn Sayyar An-Nazzam, ein früher Muʿtazilit und guter Kenner der griechischen Philosophie,201 bot uns hierfür eine beachtenswerte These an, die er „kumun und zuhur“ (Verborgensein und Erscheinung) nannte. Einige Wissenschaftler sehen darin griechische Einflüsse. Die Frage nach der Originalität Nazzams dürfte aber in diesem Zusammenhang eine sekundäre Rolle spielen. Diese Frage darf auch nicht mit den Kant’schen Begriffen „immanent“ bzw. „transzendent“ in direkte Verbindung gebracht werden. Nazzams These vom Verborgensein und der Erscheinung bietet uns eine Lösung für das Problem des natürlichen Übels an. Ihr zufolge hat Gott alle Entwicklungsstufen in demselben Gegenstand bei seiner Schöpfung in der Urform gespeichert. Ein ganzer Baum existiert virtuell bereits in seinem Kern. Alles in der Natur unterliegt einer strengen Gesetzmäßigkeit. Die Dinge entwickeln sich dann selbständig ohne göttliches Eingreifen. Gott könnte theoretisch jederzeit den Entwicklungsprozess unterbrechen, er tut dies aber nicht, damit der Mensch sein Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der Natur nicht verliert und sie dann nicht mehr erforschen kann, um sie dann für die Erfüllung seiner Bedürfnisse sinnvoll zu nutzen. Das malum physicum ist nach dieser Ansicht nichts anderes als eine natürliche Folgeerscheinung der strengen Gesetzmäßigkeit der Natur. Durch diese plausible Erklärung tritt die Gesetzmäßigkeit als ein Garant gegen Willkür ein, und damit wird der Naturforschung Tor und Tür geöffnet und die moralische Vollkommenheit Gottes grundsätzlich gerettet. Die Menschen, die unter Naturkatastrophen leiden, werden entweder im Diesseits oder im Jenseits entschädigt. Nazzam geht sogar so weit zu behaupten, dass die Opfer einer Naturkatastrophe oder eines ungerechtfertigten subjektiven Übels keinen Schmerz empfinden. Diese Auffassung Nazzams wurde folgendermaßen erklärt: Schmerzerzeugende Gegenstände erzeugen nicht immer Schmerzempfindung. Mit anderen Worten: Bei einem malum morale kann Gott die Wirkung eines ungerechtfertigten menschlichen Übels verhindern und das Opfer vom Leid verschonen. Das Verhindern des Empfindens von Leid bei unverdientem natürlichen Übel oder bei re201 Siehe oben.
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6 Theodizee, eine Implikation der göttlichen Vollkommenheit?
ligiösen Opfergaben behandelten die Muʿtaziliten ausführlich in ihren dogmatischen Werken im Traktat der „Aalaam“ (die Schmerzen). Die Natur ist durch ihre Gesetzmäßigkeit prädestiniert, der Mensch ist dagegen, den überwiegenden islamischen Ansichten zufolge, soweit dies nicht seine physischen und physiologischen Beschaffenheit betrifft, nicht prädestiniert, d. h. er besitzt einen freien Willen und eine angemessene Handlungsfähigkeit. Dies ist eine Grundlage und unentbehrliche Voraussetzung dafür, dass er seine Taten verantworten muss. Immerhin ist er, wie oben erwähnt, der wahre Urheber seiner Taten. Die Rechenschaft des Menschen für seine Handlungen löst jedoch höchstens nur einen Teil des Theodizee-Problems, indem sie den wahren Handelnden nennt. Die immer wieder gestellte Frage, warum Gott nicht auch hier bei jeder Ungerechtigkeit eingreift, bleibt bisweilen offen. Aber könnte man nicht auch fragen: Wenn Gott bei jeder Ungerechtigkeit eingreifen würde, um sie zu verhindern, wie kann man dann die Verantwortung des Menschen für seine Handlungen im Diesseits, aber auch im Jenseits rechtfertigen? Mehr noch: Wie würde man dann Gerechtigkeit von Ungerechtigkeit unterscheiden können? Gäbe es überhaupt noch etwas, was wir als Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bezeichnen könnten bzw. gäbe es überhaupt Gut und Böse als Gegensätze? Die Existenz des einen setzt die Existenz seines Gegenteils voraus. Infolgedessen stellt das Theodizee-Problem für mich, rein rational betrachtet, weder eine Gefahr für die Existenz Gottes noch deren rationale Beweise dar. Denn warum soll die Theodizee nicht dadurch erklärt werden, dass Gott einerseits die Natur von vornherein mit den optimalen Voraussetzungen ausgestattet hat, welche dem Menschen die optimale Nutzungsmöglichkeit bei vernünftiger, gemäßigter und artgerechter Ausbeutung ermöglicht? Andererseits hat er den Menschen jedoch mit allen nötigen geistigen und körperlichen Fähigkeiten sowie mit der Entscheidungsfreiheit ausgestattet, und darüber hinaus zu verschiedenen Zeiten eine göttliche Rechtleitung geschenkt. Mit zwei kompatiblen Rechtleitungsgehilfen, eine eigene, sprich: den gesunden Menschenverstand, und eine göttliche, sprich: die Offenbarung, hat Gott den Menschen ausgestattet, durch welche er das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Theodizee wird demnach nach den optimalen Voraussetzungen fragen, mit denen Gott die Natur und den Menschen ausgestattet hat, und nicht danach, was die Gesetzmäßigkeit der Natur nach sich zieht, und ebenso wenig danach, was ein Mensch einem anderen durch den Missbrauch dessen, was Gott ihm an Macht anvertraut hat, antut. Prädestination impliziert die Gesetzmäßigkeit und diese impliziert wiederum das Kausalitätsprinzip (qanun as-sababiya oder al-ʿilliya). Diese unauflösbare Implikationskette führt unweigerlich zur Annahme, dass die Gegenwart der Gottheit total überflüssig sein könnte.
6.3 Gott, jenseits von Gut und Böse
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Das Kausalgesetz war deswegen unter muslimischen Dogmatikern sehr heftig umstritten. Einige Frühmuʿtaziliten bejahten es, dagegen lehnten es die Aschʿariten sowie die Spätmuʿtaziliten ab. Als eine Alternative sprachen sie vom sogenannten Gewohnheitsprinzip, das nicht nur die Gegenwart Gottes garantiert, sondern darüber hinaus die Möglichkeit für ein ständiges Eingreifen durch Gott in die Naturereignisse offenhält. Das islamische Gewohnheitsprinzip darf nicht mit dem gleichnamigen positivistischen von D. Hume verwechselt werden. Ein ständiges Eingreifen Gottes impliziert, neben der Gegenwart der Gottheit, den ständigen Schöpfungsakt durch Gott und lässt uns an die sich ständig erneuernde Natur bei Herakleitos denken. Die ständige Erneuerung bzw. Schöpfung in der Natur führen die Muslime nicht auf ein in der Natur innewohnendes Prinzip, sondern direkt auf Gott zurück.
6.3 Gott, jenseits von Gut und Böse
Die vorherige Ausführung könnte bei manchen den Eindruck erwecken, dass Gott, wie von Epikur über die Götter berichtet wurde, in den Zwischenräumen (Intermundien) zwischen diesen Welten wohnt, ewig und selig, ohne sich um Welt und Menschen zu kümmern. Eine solche Ansicht wäre äußerst unislamisch und würde den Glauben an seinen Fortbestand, wenn nicht an seine Existenz überhaupt, überflüssig machen. Und noch weniger sinnvoll wäre die Diskussion über das Theodizee-Problem. Diesen Streit einfach dadurch beenden zu wollen, dass all diese Pro- und KontraArgumentationen eine Sache des Wissens und nicht des Glaubens seien, wäre banal und unakzeptabel. Denn eine solche Ansicht geht von einer täuschenden Prämisse aus, welche Wissen und Glauben als unvereinbare Kontrastbereiche ansieht. Martin Luther soll diese Ansicht bis zur äußersten Grenze, credo, quia absurdum est, vertreten haben. Damit predigte Luther das mittelalterliche Dogma von der sogenannten doppelten Wahrheit, die als ein Missverständnis einer Aussage von Averroes durch Thomas von Aquin in die Welt gesetzt wurde. Averroes (arab. Ibn Ruschd, gest. 595 n. H./1198 n. Chr.) hat in Bezug auf die Problematik der Koranexegese lediglich von einigen den Laien und einigen nur den Fachgelehrten zugänglichen Kontexten gesprochen. Wenn die Allmacht die Möglichkeit eines göttlichen Eingreifens impliziert, muss die sittliche Vollkommenheit die Verpflichtung dazu wirklich implizieren? Genau diese Streitfrage wurde unter den muslimischen Theologen sehr heftig diskutiert. Ausgehend von einer koranischen Aussage lehnen die Traditionalisten grundsätz-
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6 Theodizee, eine Implikation der göttlichen Vollkommenheit?
lich jede Implikation ab, welche Gott zu irgendetwas verpflichten sollte. Die Rationalisten hingegen ließen sich streitfreudig auf die Diskussion über diese Problematik ein. Dabei vertraten die Verfechter der Theodizee unter den frühen Muʿtaziliten, Nazzam, Kaʿbi und Jubba’i, die Ansicht, Gott sei dazu verpflichtet, das Beste für die Menschen zu tun. Die späteren Muʿtaziliten wie ʿAbdalgabbar distanzierten sich von dieser Ansicht und sahen darin einen Gnadenakt und keineswegs eine Verpflichtung Gottes. Den dogmatischen Berichten nach gab es eine Auseinandersetzung zwischen einem aschʿaritischen Traditionalisten und dem großen Mutʿazilit Jubba’i. Dabei ging es um drei Brüder, die vor Gott am Tage des Jüngsten Gericht stehen. Einer von den beiden älteren wurde ins Paradies geschickt, der andere dagegen in die Hölle verdammt. Der jüngste soll Gott gefragt haben, warum er ihn so früh aus dem Leben scheiden ließ, er wäre gerne noch länger am Leben geblieben, damit er, als ein erwachsener Mensch, ihn noch mehr und intensiver hätte anbeten können. Da sagte ihm Gott: „Wenn ich dich noch länger am Leben gelassen hätte, wärst du dem Unglauben verfallen“. Da fragte derjenige, der zur Hölle verdammt wurde: „Und warum hast Du mich, mein Herr, nicht, wie meinen jüngeren Bruder, schon im Kindesalter sterben lassen, bevor ich dem Unglauben verfallen bin?“ Hierauf konnte der große Muʿtazilit nicht antworten und gab sich geschlagen. Spätestens an dieser Stelle stockte die theologische Diskussion über die Theodizee in der islamischen Dogmatik und geriet in eine Sackgasse.
6.4 Plädoyer
Dieses vorgestellte apologetische Beispiel illustriert die verschiedenen Einstellungen der muslimischen Dogmatiker über eine der ernsthaften Streitfragen der islamischen Theologie insbesondere unter den rationalistischen Theologen. Traditionalistisch gesehen ist eine schwere Krise, die Unschuldige trifft, ausschließlich als eine Prüfung für die Standhaftigkeit des Menschen und die Festigkeit des Glaubens eines Gläubigen zu verstehen, der von Gott spätestens im Jenseits reichlich belohnt wird. Unverschuldete Krisen werden im Islam nie als Strafe für angeblich begangene Sünden im früheren Leben betrachtet. In Sure 2:214 lesen wir Folgendes: Oder denkt ihr etwa, dass ihr ins Paradies kommt ohne vorher geprüft zu werden, wie die früheren Gläubigen(?). Diese wurden durch Nöte, Krankheiten geprüft und so heftig erschüttert, dass ihr Gesandter zusammen mit ihren treuen Gläubigen fragte: „Wann kommt endlich Gottes Sieg? Gottes Sieg ist wahrhaftig sehr nahe“.
6.4 Plädoyer
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Der Offenbarungsanlass dieses Koranverses war die schwere Situation der Muslime bei der Khandaq-Schlacht, in der der Prophet Muhammad mit seinen Gefährten auf die in gewaltiger Überzahl versammelten feindlichen Parteien (Ahzab) in Gräben um die Medina gewartet haben. Diese Situation war für die Muslime äußerst kritisch. Aber der versprochene Sieg Gottes trat ein, weil sie standhaft blieben. Der Prophet Muhammad und alle vorherigen Propheten erlitten selbst viele Unannehmlichkeiten bei der Verkündigung ihrer Botschaft, sie blieben aber standhaft und vertrauten völlig auf Gottes Beistand, bis Gottes Wort die Oberhand über alles andere erlangte. Die Propheten Abraham, Moses, Jesus und Muhammad sind die besten Beispiele in diesem Kontext. Derartige Prüfungen gehören zum Plan Gottes (Sunnat Allah) und haben durchaus erhebliche Vorteile für die Gläubigen: 1. Das Paradies ist der Preis für die Standhaftigkeit bei schweren Glaubensprüfungen. 2. Die Gläubigen, die an ihrem Glauben trotz der schweren Prüfungen festhalten und auf Gottes Beistand vertrauen, werden mit dem Sieg hier und im Jenseits belohnt. 3. Die Standhaftigkeit und das Gottesvertrauen stärken den Charakter und den Glauben eines Menschen und reinigen ihn von sonstigen Schwächen und Sünden. 4. Die Nöte vereinigen die Gläubigen und entlarven ihre Feinde. Der Islam ist heute vielen Aggressionen ausgesetzt. Die erste muslimische Generation ist in den Krisenzeiten standhaft geblieben und hielt an ihrem Glauben fest. Sie war voller Zuversicht, dass Gott ihr letztendlich zum Sieg verhelfen wird. Gott hat sein Versprechen ihr gegenüber in der Tat eingehalten und ihr zum versprochenen Sieg verholfen, weil sie ihrerseits ihr Versprechen ihm gegenüber eingehalten hatte, nämlich, dass sie ihre Worte in Taten umsetzte. Sie hat ihre Liebe zu Gott und seinem Propheten über alles andere gestellt und an dieser Liebe mit all ihren Konsequenzen in allen schwierigen Situationen festgehalten. Sie wurde terrorisiert, gefoltert und aus ihrer Heimat vertrieben. Sie blieb dennoch standhaft, bis sie letztendlich den Sieg errungen hat. Sie als Sieger hat sich dennoch an ihren ehemaligen Folterern nicht gerächt, sondern ihnen vergeben, ein friedliches Zusammenleben angeboten, wie es nach der Eroberung von Mekka durch die Muslime der Fall war. Dieser kurze Abriss der theologischen Spekulation über die Problematik der Theodizee bedarf selbstverständlich noch weiterer Vertiefung, um alle Zusammenhänge einzeln wenigstens anzutasten und ihren jeweiligen Bezug zum Hauptthema noch deutlicher darzustellen.
7 Mystik im Frühislam 7.1 Die mystische Essenz im Koran
Schon der Titel dieses Beitrages impliziert mindestens drei Behauptungen: Zum einen, dass der Koran mystische Ansätze enthält, zum anderen, dass die islamische Mystik einen koranischen Ursprung hat, und schließlich, als Schlussfolgerung, dass die Behauptung, die islamische Mystik sei durch fremde Einflüsse entstanden, unbegründet ist. In diesem Abschnitt geht es an erste Stelle darum, inwieweit diese Behauptungen der Wahrheit entsprechen. Im Gegensatz zur Ansicht manch älterer polemischer Schriften und einiger Orientalisten sowie westlich orientierter muslimischer Wissenschaftler, gehen fast alle muslimische Gelehrte, insbesondere Theologen, unter ihnen der bekannte muslimische Theologe Ibn Taimiya (gest. 728 n. H./1328 n. Chr.), von einem rein koranischen Ursprung der islamischen Mystik aus. Im 11. Band des Magmuʿ fatawa Scheichul-islam Ahmad ibn Taimiya, der den Titel „At-tasawwuf“ trägt, wird dieses Thema in aller Ausführlichkeit in Form, Frage und Antwort behandelt. Der zeitgenössische Islamwissenschaftler Mustafa Hilmi schrieb 1982 ein Buch mit dem Titel „Ibn Taimiya wa at-tasawwuf“ (Ibn Taimiya und die Mystik), in dem er detailliert auf dieses Thema eingegangen ist. Einige Orientalisten, beeinflusst u. a. durch I. Goldziher, sehen in allen Zweigen der Islamwissenschaften nicht nur einen fremden Einfluss, sondern manchmal einen fremden Ursprung. I. Goldziher sieht einen persischen, indischen und schließlich hellenistischen Ursprung. Das gleiche gilt bei ihm sogar für die mit dem Islam am engsten verbundene Hadithwissenschaft.202 Jeder Hinweis seitens der muslimischen Mystiker auf ihren koranischen Ursprung wird von Goldziher u. a., wie z. B. D. B. MacDonalds, nur als eine sekundäre Stütze für ihr Unternehmen abgetan. Goldziher selbst weist auf Koranverse hin,203 die von islamischen Mystikern als Urquelle ihrer Philosophie betrachtet werden; er meint aber, diese Koranverse seien für sie lediglich eine Stütze, die sie mühelos im Koran finden könnten. Goldziher wollte um jeden Preis ihre Urquelle in fremden Kulturkreisen sehen.204 Ähnliche Ansichten vertreten: R. Blachère; L. Massignon, W. Thomson, Kroll, Tor 202 Siehe Goldziher, I., „Neuplatonische und gnostische Elemente im Hadith“, in: ZA 22, S. 317 ff. 203 U. a. 2:115, 156, 245; 24:35 sowie auch einige Verse von Sure 53 und 103. 204 Siehe Vorlesungen über den Islam, s. o., S. 170 ff.
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7 Mystik im Frühislam
Andrae u. a. Gemäßigte bzw. sunnitische Mystiker, die sich ausschließlich auf Koran und Sunna stützen, werden mehr in die dogmatische Richtung (z. B.: der Muʿtazila) als in die der Mystik eingestuft, wie dies mit Harith al-Muhasibi (243 n. H./ 857 n. Chr.) durch J. van Ess geschehen ist.205 Die angesehene Orientalistin Annemarie Schimmel geht in vielen ihrer Werke u.a. über Jalal Ad-Dddin Ar-Rumi und Über Ibn `Ata´ Allah As-Sekandri206 nicht auf diese Polemik ein. Für sie ist der Koran die größte Inspirationsquelle der islamischen Mystik. Auf der Arabischen Halbinsel, der Wiege des Islam, gab es vor dem Islam verschiedene Kulturen und Religionen, und das ist auch nach dem Eintreten des Islam so geblieben. Der Islam hat sich schnell in vielen Ländern der Erde verbreitet. Keine Religion wurde verboten oder ihre Praktizierung eingeschränkt. Warum ist die islamische Mystik erst am Ende des 2. bzw. Anfang des 3. Jahrhunderts der islamischen Zeitrechnung und beispielsweise nicht im 1. Jahrhundert in Erscheinung getreten? Die muslimischen Mystiker hätten gleich im Koran nach einer Rechtfertigung für ihre abweichende Weltanschauung suchen und diese finden können, wenn sie tatsächlich nach koranischen Belegen für ihre angeblich nichtauthentische Weltanschauung gesucht hätten. Der Großteil der alten und neuen islamischen Fachliteratur führt die Entstehung der islamischen Mystik auf einen innerislamischen Entwicklungsprozess zurück. Später, Ende des 3. und Anfang des 4. Jahrhundert, wurde die Mystik durch fremde, u. a. christliche, indische, persische oder griechische Kulturen beeinflusst. Die christliche Inkarnation inspirierte al-Hallaj höchstwahrscheinlich. Seine Hinrichtung erfolgte nicht aufgrund seiner „abweichenden“ Weltanschauung, wie L. Massignon meint, sondern aus politischen Gründen. Diese Meinung vertreten, außer mir, nicht nur frühere Wissenschaftler wie ʿAbdul-Qahir al-Bagdadi (gest. 429 n. H./1030 n. Chr.) in seinem Buch „Al-Farq baina l-firaq“, sondern auch Fachwissenschaftler wie N. Ghunaim. Der Einfluss der platonischen und neuplatonischen Theorie von der Einheit des Universums ist bei Ibn ʿarab (gest. 638 n. H./1260 n. Chr.) unverkennbar. Der Einfluss fremder Kulturen auf die spätere islamische Mystik ist daher eben unbestreitbar. Für einige Dogmatiker war dieser Fremdeinfluss eine Rechtfertigung dafür, die Mystiker als Abweichler zu betrachten. Die Behauptung, die gesamte islamische Mystik verdanke ihre Entstehung ausschließlich fremden Quellen, halten die muslimischen Theologen für unwahr. Im Allgemeinen waren die Muslime in ihrem 1. Jahrhundert hauptsächlich mit der Sammlung des Koran und der Sunna sowie mit kriegerischen Auseinandersetzun205 Siehe van Ess, J.: al-Muhasibi, Bonn 1961, Vorwort. 206 U. a. Jalaal ad-Din ar-Rumi, Freiburg, Herder Verlag, 2001; Ibn ʿAta’ Allah, Freiburg 1987.
7.1 Die mystische Essenz im Koran
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gen beschäftigt. Die Grundelemente der islamischen Wissenschaften, insbesondere die des Hadith und des Koran, wurden damals gelegt. Im 2. islamischen Jahrhundert entstanden die islamische Jurisprudenz und die Dogmatik, u. a. der Muʿtazila durch Wasil ibn ʿAta’ (131 n. H./748 n. Chr.) und ʿAmr Ibn ʿUbaid (145 n. H./ 761 n. Chr.). Im politischen Bereich etablierte sich das Monarchiesystem, das mit dem ursprünglichen islamischen Herrschaftssystem „Schura“, einer speziellen Art der Demokratie, nicht viel zu tun hatte. Das öffentliche Leben wurde immer mehr von materiellen Interessen beherrscht. Einige Religionswissenschaftler ließen sich immer mehr auf polemische Haarspaltereien ein, sowohl im juristischen als auch im theologischen Bereich. Als eine Reaktion auf die zunehmende Materialisierung des Lebens unter den Muslimen entwickelte sich bei einigen muslimischen Gläubigen eine ablehnende Haltung gegenüber dieser Fehlentwicklung, und sie suchten für sich eine andere, sinnvollere Lebensanschauung. Sie bedienten sich hierfür vieler Koranverse, insbesondere solcher, die das Diesseits nur als unsichere Zwischenstufe darstellen, und solcher, die das Jenseits als das einzige wahre unvergängliche Leben verkünden, wie z. B. die Sura al-Hadid (57:20); dort heißt es: Ihr müsst wissen, dass das diesseitige Leben nur Spiel, Zerstreuung, Flitter (Schmuck) ist, darin gibt es nur gegenseitige Angeberei zwischen euch, Habgier in Bezug auf Vermögen und Kinder. (Dies alles ist aber in Wahrheit nur Täuschung), wie wenn durch reichlichen Regen (vielversprechende) Pflanzen wachsen, die den Ungläubigen verzaubern. Dann (plötzlich) verändert sich (die Farbe der Pflanzen) und wird gelb und dann werden sie brüchig und ausgetrocknet. Im Jenseits gibt es zwar harte Strafe, aber auch Vergebung und Wohlgefallen von Gott. Wahrlich ist diesseitiges Leben nichts anders als ein vergängliches (trügerisches) Vergnügen.
In Sure 35:5 (Fatir) ist Folgendes zu lesen: O Ihr Menschen! Wahrlich, das Versprechen Gottes ist (absolut) wahr. Ihr dürft euch (darum) vom diesseitigen Leben nicht verirren lassen, ihr dürft euch ebenso wenig (grenzenlos) auf Gottes Vergebungsbereitschaft verlassen.
In Sure 10:62 (Yunus) lesen wir: Wahrlich, die Freunde Gottes werden (am Jüngsten Tag) in Sicherheit sein, und sie werden auch danach nie unglücklich sein.
Abu Huraira, der berühmte Hadith-Überlieferer, berichtete uns von einem heiligen Hadith (Hadith qudsi), in der Prophet Muhammad vermittelt, was Gott in einem
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7 Mystik im Frühislam
bestimmten Zusammenhang in der Form „Ich“ aussagt, und daher werden derartige Hadithe höher bewertet als ein gewöhnlicher prophetischer Hadith. Diese heiligen Hadithe werden besonders von den muslimischen Mystikern als eine solide Grundlage für ihre religiöse Weltanschauung verwendet. Der oben angesprochene heilige Hadith lautet: Wer sich mit einem Meiner Freunde verfeindet, betrachte Ich auch als meinen Feind. Das Beste, was Mir Mein Diener schenken kann, ist die Erfüllung dessen, was Ich ihm auferlegte. Je mehr Mir Mein Diener zusätzliche Dienste (nawafil) erweist, rückt er näher zu Meiner Liebe. Und wenn Ich ihn lieben würde, so werde Ich sein Hörvermögen, durch welches er hört, und sein Sehvermögen, durch welches er sieht, und seine Hand, mit der er handelt, und sein Bein, mit dem er läuft, sein. Und wenn er Mich um etwas bitten würde, werde Ich es ihm geben, und wenn er Mich um Schutz bitten würde, werde Ich ihn beschützen. Und es gibt nichts, was Ich weniger ungern tue, als die Seele eines Gläubigen zu Mir abzuberufen. Denn ihm ist der Tod unangenehm und Ich tue auch nicht gerne, was einem solchen Diener unangenehm ist.207
Diese Tendenz zur Askese als eine virtuelle Vorstufe zur Mystik gab es schon in der Anfangszeit des Islam, unter den Prophetengefährten, wie u. a. Abu ad-Darda’ (31 o. 32 n. H./651 o. 652 n. Chr.) Salman al-Farisi (a. 31 o. 32 n. H./651 o. 652 n. Chr.); Abu Dharr al- Ghifari (32 n. H./652 n. Chr.). Die islamische Mystik war nach dieser Auffassung ein Ausdruck der ablehnenden Haltung gegenüber der zunehmenden Materialisierung des Lebens im islamischen Reich. Dass islamische Mystiker, in welchem Grad auch immer, später von nichtislamischen Strömungen beeinflusst wurden, darf uns dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Wurzeln hauptsächlich in Koran und Sunna liegen. Meiner Ansicht nach stellt das einen ganz normalen Prozess der gegenseitigen Kulturbefruchtung, insbesondere durch die weiträumige Übersetzung aus den verschiedensten älteren Kulturkreisen, dar. Der Entwicklungsprozess des islamischen Asketentums zur Mystik hat fast zweihundert Jahren gedauert. Das erste große Phänomen erschien durch die bekannteste islamische Mystikerin Rabiʿa al-ʿAdawiya (135 n. H./752 n. Chr.). Ihre Philosophie, wenn man den Begriff „Philosophie“ hierfür verwenden darf, war durch die mystische „Gottesliebe“ gekennzeichnet. Man kann zwischen vier Arten der späteren islamischen Mystik, die vielleicht zugleich drei Entwicklungsstufen darstellen, unterscheiden: – Sunnitische Mystik oder, wie Ibn Taimiya sagt, „die legale Mystik“ (at-Tasawwuf al-maschruʿ) 207 Ibn Taimya: Majmu’Al-Fatawa, Bd. 25, Riad, S. 316.
7.1 Die mystische Essenz im Koran
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– Affektionelle Mystik (at-Tasawwuf al-wagdi) – Theosophische Mystik (at-Tasawwuf al-falsafi) besonders im 6.und 7. Jahrhundert – Sufi-Bewegungen (At-Turuq as-Sufiya) vom 6. Jahrhundert an. Stellvertretend für die erste Art kann man u. a. den oben genannten Harith al-Muhasibi (gest. 243 n. H./857 n. Chr.) nennen und Abu Hamid al-Ghazali (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.). Für die zweite Art steht u. a. die oben genannte Rabiʿa alʿAdawiya. Für die dritte Art kann man u. a. al-Hallaj (gest. 309 n. H./922 n. Chr.) und Ibn ʿArab (gest. 648 n. H./1240 n. Chr.) zitieren. Die berühmten Sufi-Bewegungen sind u. a. Ar-Rifaʿiya, deren Begründer der irakische Scheich Ahmad Ar-rifaʿi (gest. 578 n. H./1184 n. Chr.) ist, Al-Qadiriya von Scheich ʿAbdul-Qadir al-Jilani (gest. 561 n. H./1163 n. Chr.), Al-Schaziliya, gegründet von Scheich Abul-Hasan al-Schazili (gest. 656 n. H./1258 n. Chr.), und Al-Badawiya, gegründet vom marokkanischen Scheich As-Sayed al-Badawi (gest. 675 n. H./1278 n. Chr.). Viele dieser Begründer liegen in Ägypten begraben und haben viele Anhänger sowohl in Ägypten als auch im Sudan.208 Die frühen Mystiker im ersten islamischen Jahrhundert, von der Generation der Prophetengefährten an, waren eher Asketen. Man nannte sie auch Koranleser (Qurra’) oder Arme (Fuqara’). Der Unterschied zwischen ihnen und den späteren Mystikern lag hauptsächlich darin, dass viele von ihnen neben ihrer zunehmenden Gottesfürchtigkeit auch weltliche Ambitionen hatten, wie z. B. ʿUthman ibn ʿAffan (gest. 35 n. H./656 n. Chr.) und ʿAli ibn Abi-Talib (gest. 40 n. H./661 n. Chr.), der Vetter des Propheten, sowie der oben genannte Abu Zarr al-Ghifari, Salman al-Farisi (gest. 35 n. H./655 n. Chr.), ʿOmar ibn ʿAbd al-ʿAziz (gest. 101 n. H./727 n. Chr.), Al-Hasan al- Basri (gest. 110 n. H./728 n. Chr.) und Ibn Sirin (gest. 110 n. H./ 728 n. Chr.). Wichtig ist auch, darauf hinzuweisen, dass die oben erwähnte Einteilung nicht als abgeschlossen und exklusiv gesehen werden darf, denn die erste Entwicklungsstufe, die mit der Gefährtengeneration des Propheten Muhammad anfängt, wird nach der Meinung einiger Islamwissenschaftler, z. B. Mustafa Hilmi, bis Ende des 8. islamischen Jahrhunderts weitergeführt. Er nennt stellvertretend dafür Ibn Taimiya (gest. 728 n. H./1326 n. Chr.), Ibn al-Qaiyim (gest. 751 n. H./1350 n. Chr.), Ibn al-Muflih (gest. 763 n. H./1361 n. Chr.) und schließlich Ibn Ragab (gest. 795 n. H./1392 n. Chr.). Ibn Taimiya erwähnt in seinem Buch „Bughiat al-murtad“ einige Asketen,209 die er manchmal als Sufis (Mystiker) bezeichnet. Diese sind Ibrahim ibn 208 Siehe An-Naggar, ʿAmer: At-Turuq as-Sufiya, Kairo, Dar Al-Maʿarif, 1995. 209 Ibn Taimiya, Taqiyaddin: Bughiat al-murtad, Al-Madina Al-Munawwara, Maktabat Al-ʿUlum wal-Hikam, 2001, S. 112.
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7 Mystik im Frühislam
Adhamm (gest. 160–162 n. H./776–778 n. Chr.), Al-Fudail ibn ʿIyad (gest. 187 n. H./802 n. Chr.), Maʿ ruf al-Karkhi (gest. 200 n. H./815 n. Chr.) und schließlich Ad-Darani (gest. 215 n. H./830 n. Chr.). Er führt die Entstehung der Mystik im Islam auf innerislamische theopolitische Gründe zurück. Er schließt gleichzeitig aber indirekt die Wirkung fremder Einflüsse, insbesondere nach der Übersetzungswelle Anfang des 3./9. Jahrhunderts, nicht aus. In seinem Buch210 teilt er die Entwicklung der islamischen Geistesgeschichte vom 2./8. Jahrhundert im Hinblick auf die Mystik in drei Etappen auf: Zuerst entstand die – Richtung der freien Interpretation (ar-ra’i) insbesondere im juristischen Bereich, dann – Die Dogmatik (al-kalam), und schließlich – Die Mystik (at-tasawwuf ). Die islamische Mystik ist in ihrem Grundelement, nach Ibn Taimiya, eine normale Fortentwicklung der asketischen Weltanschauung, die in Basra (Iraq), manchmal in übertriebener Form verbreitet war. Kufa war das Zentrum der islamischen Rechtswissenschaften. Deswegen beschrieb Ibn Taimiya kufische Jurisprudenz und basrinische Askese als beispielhaft. Mystiker und Asketen wurden auch as-sufiya und al-fuqara’ genannt. Ibn Taimiya vermittelt uns außerdem in seinem Werk „Magmuʿ al-fatawa“ einige Definitionen des Begriffes „Mutasawwif“ (ein Mystiker). Er sagt: Diese wurden nach ihrer Bekleidung aus Wolle (Suf ) „Sufi“ genannt. Die Bekleidung aus Wolle stellt jedoch keine Grundpflicht für einen Sufi dar, seine mystische Lebensführung kann er unabhängig von dieser äußerlichen Erscheinung praktizieren. Sie wurden nach der Woll-Kleidung nur deswegen so bezeichnet, weil die meisten von ihnen sich dadurch von den anderen fein gekleideten Menschen distanzieren wollten. Einige von ihnen führen den Begriff „Sufi“ auf den Begriff „Safa“ (Reinheit) zurück, sie sagen: Ein Sufi ist derjenige, der von allen Arten der Unreinheit frei und von (Gottes) Gedanken erfüllt ist, für ihn sind Gold und Stein gleichwertig211.
Tasawwuf bedeutet auch die Verbergung der wahren Inhalte (al-maʿani) und die Unterlassung der äußerlichen Aussagen (ad-daʿawi).
210 S. 358. 211 Bd. 11., Riad, Majmaʿ Al-Malek Fahd Verlag, 1995, S. 16 ff.
7.1 Die mystische Essenz im Koran
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Die Sufis stellen sich auf die gleiche Ebene mit den wahrhaften Gottesfreunden (as-siddiqun), die als Menschen den zweiten Rang nach den Propheten besitzen. In einer späteren Entwicklungsphase gab es, nach Ibn Taimiya, drei Arten von Mystikern (as-sufiya): – Mystiker der Wahrheiten (sufiyat al-haqa’iq) – Mystiker des Lebensunterhaltes, mit anderen Worten „Berufsmystiker“ (sufiyat al-arzaq) – Mystiker der äußerlichen Erscheinung (sufiyat ar-rasm). Die Mystiker der Wahrheiten sind diejenigen, die bereits beschrieben wurden. Die Mystiker des Lebensunterhaltes sind die, die an einem bestimmten für sie gestifteten Ort leben und durch Wohltätigkeiten mit Lebensmitteln versorgt werden. Und schließlich sind die Mystiker der äußerlichen Erscheinung diejenigen, die sich ausschließlich an die äußerliche Form, d. h. die Wollbekleidung halten und ansonsten ein ganz normales Leben führen.212 Zwei zusammenhängende mystische Begriffe sind die Schlüssel für die frühe islamische Mystik, die man in allen früheren oder späteren Fachwerken findet: Der erste ist „as-samaʿ“ (das Hören), ein sinnlicher Vorgang, und der zweite ist „al-ahwal“ (die Zustände), eine psychische Wirkung des sinnlichen Vorgangs. Die Nachwirkung des Zustandes auf die Menschen ist von einer Person zur anderen verschieden. Für manche Menschen war die Nachwirkung, insbesondere bei einigen gläubigen Muslimen im 2. islamischen Jahrhundert, sogar tödlich. Das hier gemeinte Objekt des Hörens ist der Koran. Viele Fachbücher, u. a. „at-Tasawwuf“ von Ibn Taimiya, berichten über die verschiedenen Reaktionen einiger Muslime, als sie den Koran hörten. Imam Ahmad Ibn Hanbal (gest. 241 n. H./860 n. Chr.) soll, laut Ibn Taimiya, Folgendes berichtet haben: Als der Koran einmal vor Yahya Ibn Saʿid al-Qattan (gest. 198 n. H./813 n. Chr.) rezitiert wurde, fiel er ohnmächtig um. Das Gleiche soll der Fall bei Imam Schafiʿi (gest. 204 n. H./820 n. Chr.) gewesen sein. Eine tödliche Wirkung soll, nach einem bekannten Bericht, die Rezitation einiger Koranverse auf ʿAli Ibn al-Fudail ibn ʿIyadh gehabt haben.213 Ein solcher Fall wird allgemein von den muslimischen Gelehrten als ein Zeichen der Schwäche angesehen, diejenigen die diesen Zustand besser ertragen können, werden dagegen höher eingeschätzt. Unter den Prophetengefährten „as-Sahaba“ waren solche folgenreichen Wirkungen nicht bekannt. Ihre Reaktion entsprach dem, was im Koran diesbezüglich steht. 212 Siehe ibd., S. 19 f. 213 Ibd.
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7 Mystik im Frühislam
Dort wurde ihr Zustand beim Hören des Koran folgendermaßen beschrieben: Ihre Herzen erweichen (wagal al-qulub); Ihre Augen scheiden Tränen aus (dumuʿ al-ʿain); Ihre Haut fröstelt (iqshiʿrar al-julud). Diese Beschreibung ist in den folgenden Koranversen zu lesen: In Sura al-Anfal 8:2: Die Gläubigen sind diejenigen, deren Herzen erweichen, wenn Gott vor ihnen erwähnt wird, und wenn sie seine Koranverse hören, wird ihr Glauben noch fester und sie verlassen sich auf Gott.
Sura az-Zumur 39:23: Gott hat die beste Verkündigung in einem einheitlichen Buch geoffenbart, vor dem die Haut der Gottesfürchtigen erschaudert, und dann wird sie weich, ebenso ihre Herzen, wenn sie Gottes Worte hören.
Sura Mariam 19:58: Und wenn die Zeichen (Worte) des Barmherzigen vor ihnen rezitiert werden, werfen sie sich weinend auf die Knie nieder.
Sura al-Ma’ida 5:83: Und wenn sie hören, was dem Gesandten (Gottes) geoffenbart wurde, wirst du die Tränen aus ihren Augen fallen sehen, und zwar wegen dessen, was sie von der Wahrheit erkannten.
Sura al-Isra 17:109: Und sie werfen sich weinend und erweicht bis zum Kinn nieder.214
Die bisherige Ausführung zeigt uns eindeutig, dass der Koran und die Sunna eine gemäßigte Askese nicht nur erlauben, sondern sie als ein Zeichen für die tiefe Verehrung Gottes seitens der Gläubigen betrachten. Übertriebene Ablehnung der diesseitigen guten erfreulichen Geschenke Gottes an die Menschen ist dagegen verboten und wird als Undankbarkeit des Menschen seinem Herrn gegenüber eingestuft. Im Koran steht diesbezüglich: 214 Ibd., S. 8 f.
7.2 Ansätze der Psychoanalyse und Psychotherapie in der frühislamischen Mystik
235
Sag: Wer hat die schönen und wohlschmeckenden Dinge, die Gott für seine Diener (auf der Erde) hervorgebracht hat, verboten? Sag (ihnen), all diese Dinge sind für die Gläubigen im Diesseits, (und auch) im Jenseits werden sie diese schöne Dinge in reinster Form vorfinden.215
Die Authentizität der islamischen Mystik schließt, wie wir dieser sehr stark zusammengefassten Ausführung entnehmen können, den Einfluss fremder Kulturen auf die spätere Mystik nicht aus. Der Islam hatte in seiner Blütezeit nie Berührungsängste gegenüber anderen Kulturen gehabt, im Gegenteil. Muslime waren es, die nach fremdem Kulturgut gesucht haben und es in ihre Sprache, manchmal mit Hilfe nichtmuslimischer Übersetzer, übersetzt haben. Was ihnen nützlich und mit ihrer religiösen Überzeugung übereinstimmend erschien, übernahmen sie, ohne sich dabei minderwertig zu fühlen. Nur in der Zeit ihrer Ohnmacht sind sie oft sehr sensibel und misstrauisch gegenüber fremdem stärkerem Kulturgut. Ein Erwachen aus dieser Ohnmacht ist nicht nur für die Muslime gut, sie wäre auch für die gesamte Menschheit gewinnbringend und notwendig.
7.2 Ansätze der Psychoanalyse und Psychotherapie in der frühislamischen Mystik
Der dem Sufismus und der Mystik in der islamischen Literatur gewidmete Interessenraum entspricht keineswegs ihrer historischen und kulturellen Bedeutung in der islamischen Geistesgeschichte. Als Grund dafür könnte man auf ihre sehr umstrittenen Einstellungen und Interpretationen in Bezug auf das religiöse Textverständnis bei allen anderen islamischen Glaubensrichtungen und Disziplinen verweisen. Mystiker und Sufi müssten sich religiöse Vorwürfe bis hin zur Apostasie gefallen lassen. Auf diese Problematik im Einzelnen einzugehen, würde den vorgesehenen Rahmen dieses Textes sprengen. Daher werde ich mich hier lediglich auf eine ihrer vielfältigen geistigen Dimensionen, nämlich ihren Beitrag zur Psychoanalyse und Psychotherapie, beschränken. Bei Untermauerung der hier gebotenen Informationen werde ich mich fast nur auf arabische Literatur stützen und ich tue dies aus zwei Gründen: Zum einen, weil die Mystik-Literatur in europäischen Sprachen verhältnismäßig gering ist und zum zweiten, weil ich dem europäischen Leser einen Blick in die am meisten vernachlässigte arabische Primärliteratur ermöglichen möchte. Frühestens im 2. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung (8. Jh. n. Chr.) wurde der Begriff „Sufisten bzw. Mystiker“ verwendet und bezeichnete diejenigen Gläubi215 Sure 7:32.
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7 Mystik im Frühislam
gen, die dem gesellschaftlichen Leben den Rücken gekehrt und ihr ganzes Leben der Andacht Gottes gewidmet haben. Diese ablehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft und die völlige Hingabe zur innerlichen Reflektion hatten verschiedene Gründe, die wiederum gesellschaftlich bedingt waren. Zuallererst war diese Art der Lebensführung eine Reaktion auf den sich immer mehr materialisierenden Lebensstil am Ende des 1. und Anfang des 2. islamischen Jahrhunderts und dann auf die wachsenden und oft übertriebenen theologischen Spekulationen bzw. die Rationalisierung des Glaubens im 2. bis 3.Jahrhundert n. H. (8.–9.Jahrhundert n. Chr.) und schließlich auf die zunehmende Formalisierung bzw. „Verjuristizierung“, wenn man es so ausdrücken darf, der Scharia (der islamischen Religions- und Rechtswissenschaft) besonders im 3. Jahrhundert n. H./9. Jahrhundert n. Chr. In der Generation des Propheten Muhammad lebten die meisten seiner Gefährten sehr asketisch, auch solche, die reich waren und sich ein leichteres Leben hätten leisten können, wie Abu Darr al-Ghifari, Abu Ad-Darda’ und Huzaifa, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie alle zogen es vor, sich von ihrem Hab und Gut für die Sache Gottes zu trennen. Sie wurden aber weder Mystiker noch Asketen genannt, sondern sie bekamen den Ehrentitel „Sahaba“ (Sing. Sahabi = ein Prophetengefährte). In der zweiten Generation wurden diese Muslime, die ein solches asketisches Leben führten, „Tabiʿun“ (Nachfolger) genannt. Als sich jedoch viele Muslime durch die Erweiterung des islamischen Reiches im 2. Jh. n. H. zunehmend weltlich orientierten, distanzierten sich einige von ihnen von dieser zum Materiellen tendierenden Masse und hielten am Lebensstil des Propheten und seiner Gefährten fest. Diese Gruppe wurde dann „Zuhhad“ (Asketen) und „ʿUbbad“ (Gottesdiener) genannt. Als dann vom Ende des 2. Jahrhunderts an die dogmatische Theologie florierte und dadurch die Muslime immer mehr in verfeindete dogmatische Denkrichtungen verfielen, wie z. B.: die Muʿtaziliten und die Aschʿariten, und außerdem dazu noch nach und nach die islamischen Rechtsschulen entstanden, sonderten sich einige Tiefgläubige sowohl von dieser übertriebenen spekulativen Dogmatik als auch von der zunehmenden Formalisierung des Glaubens durch die muslimischen Rechtswissenschaftler ab. Erst in jener Zeit nannte man diese ablehnende Gruppe „Mutasawwifah“ (Mystiker). Der bekannte Mystiker ʿAbdal-Karim al-Quschairi (gest. 465 n. H./1072 n. Chr.), der durch seine „ar-Risala al-Quschairiya“ einer der berühmtesten Mystiker geworden ist, beschreibt in seiner „Risala“ den richtigen Mystiker folgendermaßen:
7.2 Ansätze der Psychoanalyse und Psychotherapie in der frühislamischen Mystik
237
Man kann einen wahren Mystiker daran erkennen, dass er freiwillig arm geworden ist, nachdem er reich gewesen war, dass er schwach geworden ist, nachdem er mächtig gewesen war, und schließlich, dass er unbedeutend geworden ist, nachdem er angesehen war.
Der bedeutendste islamische Denker Abu Hamid al-Ghazali (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.) stellt in seinem größten und bekanntesten Werk „Ihya´ `Ulum Ad-Din“ das höchste Ziel aller Arten von Gottesdiensten folgendermaßen dar: „Alle Gottesdienste und sonstige menschlichen Handlungen haben ausschließlich das Ziel, das Herz vom Bösen frei zu machen, es zu reinigen und zu polieren.“216 Der bekannte sunnitische Denker Ibn al-Qaiyim (gest. 751 n. H./1350 n. Chr.), Schüler des Scheich al-Islam Ibn Taimiya (gest. 728 n. H./1328 n. Chr.), definiert „tasawwuf“ in seinem Buch mit den Worten: „Die Fachgelehrten auf diesem Gebiet sind sich einig darüber, dass ‚tasawwuf‘ mit der Ethik identisch ist.“217 Erkenntnistheoretisch unterscheiden sich die Mystiker von anderen Denkern bzw. Wissenschaftlern durch den Weg, durch den sie ein, nach ihrer Auffassung, absolut sicheres Wissen erwerben. Sie unterscheiden zwischen zweierlei Erkenntnisarten: der didaktischen und der intuitiven bzw. inspirativen. Die intuitive bzw. inspirative Erkenntnis wird nicht induktiv oder deduktiv (Iʿtibaran und istibsaran) erworben, sondern sie überfällt sozusagen das Herz eines Menschen und dringt in ihn ein, ohne dass der Mensch weiß, wie er zu dieser Erkenntnis gekommen ist. Die erste Erkenntnisart ist die der Wissenschaftler und die zweite ist die der Propheten und der Mystiker. Alle wissen aber, dass die Urquelle aller Erkenntnisarten von Gott kommt. Der Hauptunterschied zwischen den Wissenschaftlern einerseits und den Propheten bzw. den Mystikern andererseits liegt darin, dass die ersteren sich rational anstrengen müssen, um Erkenntnisse zu erwerben, den anderen hingegen wird das Wissen von Gott geschenkt. K. Rahner und H. Vorgrimler definieren den Begriff „Mystik“ folgendermaßen: Mystik besagt sowohl als Erfahrung die innerliche, einende Begegnung eines Menschen mit der ihn und alles Seiende begründenden göttlichen Unendlichkeit, in der christlichen Mystik, im Judentum und Islam mit dem persönlichen Gott, als auch den Versuch der wissenschaftlichen Auslegung, die Reflektion über diese Erfahrung (daher eine wissenschaftliche Disziplin).218 216 Ihya’ ʿUlum Ad-Din, Bd. I, Beirut, Dar al-Maʿrifa, o. D., S. 211–212. 217 Madarij As-Salikin, Bd. I, Kairo, Dar Al-Kitab Al-ʿArabi, 1996, S. 131. 218 Siehe Zur Theologie und Spiritualität der Pfarrseelsorge, in: Schriften der Theologie, Bd. XIV, Zü-
238
7 Mystik im Frühislam
Zusammenfassend kann man im Rahmen des geschichtlichen Werdegangs der islamischen Mystik vier Entwicklungsstufen bzw. Arten erkennen: – Die rein religiöse Mystik in der Generation des Propheten Muhammad und deren Nachfolgergeneration bis zur ersten Hälfte des 2. islamischen Jahrhunderts, welche man eher als Askese bezeichnen kann. – Die spekulative Mystik von der zweiten Hälfte des 2. bis etwa zum 5. islamischen Jahrhundert, in welcher die innerlichen Erfahrungen zwar gefördert, aber sowohl die religiösen als auch die rationalen Prinzipien nicht übersprungen werden durften. – Die rein metaphysische Mystik, welche am stärksten im 6. und 7. islamischen bzw. 12/13. Jahrhundert aufgetreten war. Bei dieser Art der Mystik hat die platonische bzw. neuplatonische Metaphysik ihre größte Wirkung gezeigt. – Die sogenannte Volksmystik vom 7. islamischen Jahrhundert an, bei der die Mystik zutiefst konkret im Alltag in Form von verschiedenen Gruppierungen (Sufi-Bewegungen) praktiziert wurde. Wie bei einem Wettbewerb wurden dabei viele Mysterien und Wundertaten dem jeweiligen Meister zugeschrieben. Mystik hat sich dadurch negativ zum Mysterium entwickelt. Diese Einteilung darf nicht exklusiv verstanden werden, denn in manchen der oben genannten Zeitperioden konnte man mehr als eine der genannten Arten feststellen. G. C. Anawati unterscheidet zwischen drei Entwicklungsstufen der islamischen Mystik: Die erste Stufe erstreckt sich vom 1. bis zum 3. Jahrhundert n. H. (vom 7. bis zum 9. Jahrhundert n. Chr.). In jener Zeit entstand die islamische Mystik und kämpfte um ihre Existenz gegen Vorurteile seitens ihrer einflussreichen Gegner. Die zweite Stufe fand im 5. Jahrhundert n. H. (11. Jahrhundert n. Chr.) statt. In jener Zeit gab es Schlichtungsversuche zwischen der Mystik und ihren Gegnern, wobei die Mystik, dank des genialsten Mystikers der damaligen Zeit, Imam Abu Hamid al-Ghazali (505 n. H./1111 n. Chr.) als Sieger hervorgegangen ist. Die dritte und letzte Entwicklungsstufe erstreckte sich vom 6. bis zum 9. Jahrhundert n. H. (12. bis 15. Jahrhundert n. Chr.). In dieser Zeit erschienen die größten mystischen Werke. Danach begann der Rückgang der islamischen Mystik, sie verlor ihren hochphilosophischen Charakter und zerfiel in viele Sufi-Bewegungen. Man könnte sich aber auch eine geographische Einteilung der islamischen Mystik in verschiedenen Zentren mit unterschiedlicher Bedeutung vorstellen. Die erste Schule wurde in Basra von Abdul-Hassan al-Basri (gest. 110 n. H./728 n. Chr.) gerich 1980, S. 61; Lehmann, K. (Hrsg.): Vor dem Geheimins Gottes den Menschen verstehen, Zürich 1984, S.62–78.
7.2 Ansätze der Psychoanalyse und Psychotherapie in der frühislamischen Mystik
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gründet, dem Vater der islamischen Mystik. Seiner Schule gehörte in der zweiten Generation die bekannteste islamische Mystikerin Rabiʿa al-ʿAdawiya (185 n. H./801 n. Chr.) an. Sie gehörte zu einer Gruppe von Asketen (nussaak), die in Abadaan, einem Ort nahe der Stadt al-Basra (2. Jahrhundert n. H./8. Jahrhundert n. Chr.), lebten. Zur gleichen Zeit gab es parallel zur Schule von Basra eine andere mystische Schule zunächst in Kufa. Alsbald aber übersiedelten viele ihrer Angehörigen gegen Anfang des 3. Jahrhunderts n. H. (9. Jahrhunderts n. Chr.) nach Bagdad. Charakteristisch für diese Schule war, im Gegensatz zur basranischen kritischen realistischen Schule, ihre traditionelle idealistische Weltanschauung. Einer der bekanntesten Vertreter dieser traditionsbewussten mystischen Schule in Bagdad war al-Harith Ibn Asad al-Muhasibi (gest. 245 n. H./857 n. Chr.). Der Beiname al-Muhasibi bezeichnet im Arabischen denjenigen, der sich selbst fast ununterbrochen zur Rechenschaft zieht. Kennzeichnend für seine Mystik ist die starke Verbundenheit zu islamischen Traditionstexten. Die Definition der komplizierten theologischen Fachausdrücke sowie die Vervollkommnung seiner Seele strebte er unermüdlich an. In seinem Buch „Die Erfüllung aller Gottesrechte“ („Ar-Riʿaya li-huquq Allah“) konzipierte er seine personelle und soziale Weltanschauung. Josef van Ess veröffentlichte eine der ersten und bedeutendsten Arbeiten über al-Muhasibi als Dissertation 1961 in deutscher Sprache.219 Zur bagdadischen Schule gehörte ein anderer, nicht weniger bekannter Mystiker namens Al-Junaid (gest. 298 n. H./911 n. Chr.), der u. a. von den sunnitischen Dogmatikern, vor allem von den Aschʿariten, als der Reformator und Korrektor der islamischen Mystik gefeiert wurde. Er wurde von seinem großen Vorgänger al-Muhasibi stark beeinflusst und war zugleich der Lehrer von al-Hussein Ibn Mansur al-Hallaj (gest. 309 n. H./922 n. Chr.), der durch die großartige Arbeit von L. Massignon im Westen noch berühmter wurde. Al-Hallaj vertrat jedoch eine ganz andere, unter den Muslimen zutiefst umstrittene metaphysische Weltanschauung. Auch im 3. Jahrhundert n. H. (9. Jahrhundert n. Chr.) gab es einen sehr bedeutenden Mystiker in Ägypten, Abul-Faid Ibn Ibrahim Dhu an-Nun Al-Misri (gest. 245 n. H./860 n. Chr.), der nach seinem Tod von seinem Zeitgenossen Abu Yazid al-Bastaami (gest. 261 n. H./875 n. Chr.) als einer der verborgenen „Gottesfreunde“ (al-awlyaa’ al-masturun) bezeichnet wurde. Sein Name wurde mit der Ehrenformel „qaddasa Allahu ruhahu“ (deutsch: Gott möge seine Seele heiligen) versehen. Al-Quschairi, Al-Schaʿrani, al-Manaawi, Abu Naʿim al-Isbahaani, as-Sarraaj, atTusi, al-Hajwiri, Jalaal ad-Din ar-Rumi und al-Hakim at-Tirmizi bezeichnen ihn 219 Selbstverlag des orientalischen Seminars der Universität Bonn, 1961.
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7 Mystik im Frühislam
in ihren bekannten Fachwerken als einzigartig in der Mystik, Wissenschaft und Lebensführung. K. Brockelmann sowie L. Massignon betrachten ihn als Begründer der islamischen Mystik.220 Für B. Carra de Voux war Dhu an-Nun al-Misri der erste Mystiker überhaupt, der seinen Mystizismus nicht verheimlichte und dadurch die Missgunst einiger Gelehrter auf sich zog.221 Unter dem Kalifen al-Mutawakkil (gest. 247 n. H./861 n. Chr.) kam er wegen angeblicher Ketzerei in Bagdad ins Gefängnis, wurde später jedoch von diesem mit großen Ehren entlassen. Zur spätägyptischen mystischen Schule gehören auch ʿOmar Ibn al-Farid (gest. 632 n. H./1235 n. Chr.), at-Tustari (gest. 1019 n. H./1610 n. Chr.) und Jalaal adDin ar-Rumi (gest. 670 n. H./1273 n. Chr.) und Farid ad-Din al-ʿAttar (gest. 627 n. H./1230 n. Chr.) gleichstellt. Doch blieb Bagdad bis zu Anfang des 6. Jahrhunderts n. H. (12. Jahrhunderts n. Chr.) das größte Zentrum der islamischen Mystik und erlebte seinen Höhepunkt mit dem großen Abu Hamid al-Ghazali (gest. 505 H./1111 n. Chr.), der wie kein anderer eine theologisch rationale metaphysische Mystik in einem harmonischen Komplex darstellte. Auch wenn die meisten großen Mystiker in Bagdad gelebt und gewirkt haben, so kamen viele von ihnen aus anderen Orten wie Khurasan, Nisabur und Tus sowie aus anderen Städten in Persien. Sie waren irgendwann im Laufe ihres Lebens nach Bagdad gekommen, um zu studieren oder auch um für immer zu bleiben. Al-Bastami, al-Junaid, al-Hallaj, Abu Hamid al-Ghazali, sein Bruder Ahmad al-Ghazali (gest. 525 n. H./1131 n. Chr.) und schließlich As-Suhrawardi (gest. 587 n. H./1191 n. Chr.) sind nur die bekanntesten Beispiele dafür. Auch daher kommt der unverkennbare schiʿitische Einfluss auf die islamische Mystik im Allgemeinen zustande.
7.3 Thematische Betrachtung
Anhand der bisherigen Darstellung kann man unter den muslimischen Mystikern zwischen zwei verschiedenen Arten von Mystik unterscheiden: – Der traditionsbewussten bzw. sunnitischen Mystik, und – Der philosophischen bzw. metaphysischen Mystik. 220 Siehe Corbin, H., Tarikh Al-Falsafa Al-Islamiya (Arabische Ausgabe), (Originaltitel: Histoire du la Philosophie islamique), Beirut 1983, S. 83. 221 Ibd., Fußnote S. 301; siehe auch: Die dialogische Kraft des Mystischen, Religionen im Gespräch, Bd. 5, Balve, Zimmermann Verlag, 1998, S. 250–253.
7.3 Thematische Betrachtung
241
Zur ersten Art gehören u. a. al-Hassan al-Basri, Rabiʿa al-ʿAdawiya, al-Harith al-Muhasibi, Dhu an-Nun al-Misri, al-Junaid und schließlich Abu Hamid al-Ghazali. Der Ausgangspunkt ihrer Mystik waren der Koran und die prophetische Tradition mit einer starken Betonung auf die geistigen Hintergründe im Sinne einer spirituellen Deutung des heiligen Textes. Sie arbeiteten mit abstrakten Begriffen wie „Liebe“ (Hubb bzw. ʿIschq), „Aufdeckung“ (Kaschf ), „Licht“ (Nur), „Festhalten und Loslassen“ (Qabdh und Bast) und „Auflösung“ (Fana’). Sie leiteten ihr ganzes Vokabular immer vom Koran ab. Zur zweiten Art gehören u. a. al-Hallaj, Ahmad al-Ghazali, As-Suhrawardi, Ibn ʿArabi und al-Jili. Sie haben neben den oben genannten andere, deutlich kompliziertere metaphysische Begriffen, wie u. a. „Vereinigung“ (Ittihaad), „Inkarnation“ (Hulul), „Theopanismus“ (Tajalli), „Pantheismus“ (Wihdat al-wujud), verwendet. Dabei ist der Einfluss des Neuplatonismus und des persischen Gedankenguts nicht zu verkennen. Die Urquelle der islamischen Mystik bleibt dennoch rein islamisch. Sie ist, wie H. Corbin sagt, vor allem eine Frucht des Geistes der Botschaft des und eine persönliche Erfahrung der Koranischen Offenbarung durch die Verinnerlichung seiner Worte. Die Himmelfahrt des Propheten Muhammad, bei der ihm göttliches Wissen zuteilwurde, war das höchste Ziel aller muslimischen Mystiker.222
Die erste große Mystikerin, Rabiʿa al-ʿAdawiya, ist als die Märtyrerin der Gottesliebe in die islamische Mystik-Geschichte eingegangen. Sie hat ihre göttliche Liebesphilosophie in einige überwältigend schöne Versen gefasst, die ich nur annähernd sinngemäß folgendermaßen wiedergeben kann: Zweierlei liebe ich dich: Liebe der puren Wonne und Liebe, deren Wert Du bist Liebe der Wonne ist deshalb, weil Dir und sonst niemand meine Gedanken gehören Aber die Liebe, deren Wert Du bist, ist deshalb, weil Du mir alle Trennwände aufgehoben hast, so dass ich Dich erblicken kann Weder für diese noch für jene Liebe verdiene ich Lob Aber gelobt seist Du für diese und für jene.
222 Corbin, H., Tarikh Al-Falsafa Al-Islamiya (Arabische Ausgabe), (Originaltitel: Histoire du la Philosophie islamique), Beirut 1983, S. 83.
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7 Mystik im Frühislam
Den Begriff „Gottesliebe“ entnahm Rabiʿ a aus dem folgenden Koranvers 5:54: „Oh, ihr Gläubigen! Wenn einige (wörtl. wer) von euch von ihrer Religion abfallen, so wird Gott sie durch andere ersetzen, die Er liebt und sie Ihn lieben.“ Diese Auffassung der Gottesliebe erreichte ihren absoluten Höhepunkt bei Ahmad al-Ghazali in seiner Theorie von der „reinen Liebe“ (al-ʿIschq al-khalis), die er in seinem Buch „Sawanih al-ʿuschschaaq“ („Die Auspizien der Verliebten“) in Persisch dargestellt hat.223 In diesem zutiefst psychoanalytischen Buch finden wir die bekannte Episode des Schmetterlings, der sich aus Liebe zum Feuer vom Schatten der geliebten Fackel anziehen lässt. Der Schmetterling kann seine eigene Existenz nur solange behalten, als er im Schatten der Fackel fliegt. Aber sobald er die Fackel direkt berührt, wird er ihre Speise sein und nicht umgekehrt. Das ist ein großes Geheimnis: in einem einzigen Augenblick wird der Schmetterling selbst sein Liebesobjekt sein, er wird somit der Liebende und der Geliebte gleichzeitig in einem sein. Denn er wurde selbst die Fackel, und erst dadurch hat er ihre absolute Vollkommenheit erreicht. Dhu an-Nun al-Misri war lange vor Ahmad Al-Ghazali ein Verfechter der Gottesliebe, wenn auch nicht in dessen Ausmaß. Dhu an-Nun war nicht nur ein Mystiker, sondern auch ein mit Theologie vertrauter Mystiker. In seiner Mystik legte er den Grundstein für die später bekannte „Theosophische Mystik“. Ibn Khallikan berichtet von ihm in seinem Werk „Wafiyat al-aʿyan“: In seiner tragischen Heimsuchung, als er gefesselt zum Kalifen al-Mutawakkil abgeführt wurde, hörte man, wie er zu Gott tiefinnige Gedichtverse flüsterte: Dir gehört in meinem Herzen der wohlbewahrte Platz Leicht ist mir jede Anschuldigung Dir zuliebe Dir schwöre ich, in Deiner Liebe zu sterben Und das unerträgliche Deinetwegen zu ertragen.
Neben der Theorie der „Gottesliebe“ gab es auch die Theorie des „Gotteslichts“, welche ihre beste Konzeption bei Abu Hamid al-Ghazali, insbesondere in seinem Buch „Mischkat al-anwar“ fand. Eine viel metaphysischere und weit umstrittene Form der „Gotteslicht-Theorie“ finden wir bei As-Suhrawardi, obgleich sich beide Mystiker auf den koranischen Vers in Sura an-Nur berufen (24:25–34). Dieser Vers lautet sinngemäß:
223 Ediert u. veröffentlicht von Ritter, H., in: ZDMG 15, 1942.
7.3 Thematische Betrachtung
243
Gott ist das Licht, der Himmel und die Erde. Das Gleichnis Seines Lichtes ist wie eine Nische, in ihr ist eine Lampe, die Lampe ist in einem Glas, das Glas ist wie ein funkelndes Gestirn, sie ist entzündet von einem gesegneten Baum, einem Olivenbaum, er ist weder vom Osten noch vom Westen, fast erleuchtet sein Öl, bevor es Feuer berührt, Licht über Licht. Allah leitet recht zu einem Licht, wen Er will, und Allah gibt die Gleichnisse für die Menschen, und Allah weiß am besten über allem Bescheid.
As-Suhrawardi ließ sich jedoch im Gegensatz zu Abu Hamid Al-Ghazali sehr stark von griechischem, pythagoräischem, platonischem bzw. neuplatonischem und zoroastrischem Gedankengut beeinflussen. Seine illuministische Philosophie, die er ausführlich in den wichtigsten seiner Werke, insbesondere in „Hikmat al-Ischraq“ („Die illuministische Weisheit“), in „Maschriq al-anwaar“ („Die Ausstrahlung der Lichter“) und in „Hayakil an-Nur“ („Die Lichtgestalten“) behandelt, war für ihn verhängnisvoll. Nach As-Suhrawardi ist Gott das Licht der Lichter, aus ihm werden unzählige Lichter ausgestrahlt. Die oberen Lichter sind in verschiedene Rangstufen eingeordnet, ähnlich den Rangstufen der Engel nach der altpersischen Religion des Mazdaismus. Es gibt Lichter, welche für die Gattungen und die einzelnen Körper zuständig sind. Zu dieser Art der Lichter gehört dasjenige Licht, das für die Schicksale der Menschen zuständig ist. Für jede Art der Geschöpfe, ob Lebewesen oder Himmelskörper, gibt es eine zuständige Ratio in der Welt des Lichts, die ihre Angelegenheiten regelt. Als Gegenstück zur Urquelle des Lichts gibt es Finsternisse „barazikh“. Hier ist der Einfluss des zoroastrischen Dualismus, Licht gegen Finsternis, deutlich. Das höchste Ziel des geistigen Lebens eines Menschen ist die Vereinigung mit dem Einen und die Verwirklichung des Monotheismus. Dies geschieht in den seligen Momenten des Sich-Auflösens und des Fortdauerns „al-fanaʿ wa al-baqa’“. Das gleiche Schicksal, nämlich den Tod, hat sein Vorgänger Al-Hallaj erleiden müssen. Sein „Theopanismus“ (Alles ist Gott), der als „Inkarnation“ interpretiert wurde, ist auf die totale Ablehnung seitens der muslimischen Theologen, Philosophen und vor allem der Rechtsgelehrten gestoßen. Dass dazu politische Motive für sein Todesurteil den Ausschlag gegeben haben könnten, halte ich persönlich für sehr wahrscheinlich. Ähnliche Beispiele gab es schon im 2. Jh. n. H., z. B.: Ghilaan ad-Dimaschqi (gest. 105 n. H./723 n. Chr.) und Al-Jaʿd Ibn Dirhamm (gest. 118 n. H./736 n. Chr.), die als Qadariten und Ketzer beschuldigt wurden. Al-Hallaj sah, ähnlich wie später As-Suhrawardi, die Vereinigung mit Gott als das höchste Ziel aller Menschen an, dies gilt also nicht nur für die Mystiker. Diese Vereinigung kann durch die Liebe verwirklicht und nur durch eine göttliche Aktion geschehen, welche die Natur des Menschen entsprechend in eine höhere Form um-
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7 Mystik im Frühislam
wandelt. Diese metaphysische, für die Theologen ketzerische Weltanschauung war angeblich der einzige Grund für seine Verurteilung. Denn er habe dadurch die göttliche Natur mit der menschlichen auf eine theopanistische Art vermischt. Von ihm stammt der bekannte Spruch: „In diesem meinem Gewand ist nichts anderes als die Wahrheit (Gott) selbst“ (ma fi al-Jubbati Gheiru l-Haqq). Die Herrschaft interpretierte diese umstrittene Weltanschauung als eine Volksverhetzung. Al-Hallaj konzipierte seine theopanistische Weltanschauung in den folgenden zwei Gedichtversen: „1. Gepriesen sei Der, welcher durch das scharfsinnige Lichtgeheimnis seiner Gottheit die Menschheit erschuf. 2. Dann erschien Er seiner Schöpfung deutlich in Form eines Essenden und Trinkenden“. Muhyi Ad-Din Ibn ʿArabi, der bedeutendste Philosoph in der islamischen Mystik, vertrat in seinen Grundwerken „Al-futuhat al-makkiya“ und „Fusus al-hikamm“ eine pantheistische Weltanschauung, nach der es, wie auch bei al-Hallaj, in der Wirklichkeit nur Gott gibt, alles andere ist nur eine Scheinform des einzig wirklich existierenden Gottes. Von ihm stammt ein bekanntes Gebet: „Gepriesen sei Der, der die Dinge erschuf, während Er sie selbst ist“ (subhana man khalaqa al-Aschya’ wa huwa ʿAinuha). Diesen ontologischen Nomismus gründete Ibn ʿArabi auf seine Theorie vom „Logos“ (Das Wort = Al-kalima), nach der der Logos aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann: – Einer ontologischen Perspektive, nach der „Logos“ so viel wie die Welterscheinung bedeutet. – Einer mystischen Perspektive, nach der „Logos“ nur metaphysisch verstanden werden kann. – Einer mythischen Perspektive, nach der „Logos“ den Mythos des vollkommenen Menschen symbolisiert. Das Wort ist, entsprechend der ersten Perspektive, das ewige Wort, die Wahrheit aller Wahrheiten, die Ursache der Weltschöpfung, und es ist schließlich die Gottheit selbst, die nichts anderes ist als die Welt, es ist Gott selbst, wenn er sich in der Weltseele (An-nafs al-kulliya) offenbart. Das alles umfassende „Wort“ offenbart sich auch in der Form des vollkommenen Menschen, der nichts mit der tierischen Natur gemeinsam hat. In diesem vollkommenen Menschen hat sich das höchste göttliche Wissen verwirklicht. In diesem Sinne war das „Wort“ die allererste Schöpfung Gottes. Nach der mystischen Perspektive des „Wortes“ weist dieses auf die „Muhammad’sche Wahrheit“ (Al-haqiqa al-Muhammadiya) hin. Es ist das erste „nos“ (Die erste Vernunft = Al-ʿaql al-awwal) und das geistige Prinzip des Universums. Jeder Prophet ist ein „Wort“, aber Muhammad ist „das Wort“. Alle Gottesworte vereinen sich in einem einzigen umfassenden „Pol“ (Qutb), dieser ist der Geist Muhammads bzw. die
7.3 Thematische Betrachtung
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Muhammad’sche Wahrheit. Er ist der aktive „Pol“, von dem alle Offenbarungen und Inspirationen ausgehen. Ibn ʿArabi glaubt an die Ewigkeit der Seele Muhammads, weil er der einzige Pol für das ganze Universum ist. Ibn ʿArabi wird, wie fast alle theosophischen metaphysischen Mystiker, von den meisten Theologen auch heute noch wegen seiner oben genannten Weltanschauung als Abweichler bezeichnet. Im Allgemeinen umfasst die Mystik asketische sowie rein mystische Elemente. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist die Reinigung der Seele von allem weltlichen Verlangen, erst dann ist sie in der Lage, sich mit Gott zu vereinen. Wer diesen Weg gehen möchte, muss drei Grundetappen bestehen. Die erste Stufe ist die „des Schülers“ (Maqam at-Talib), die zweite die „des Gängers“ (Maqam as-Salik) und die dritte die des „Novizen“ (Maqam al-Murid). Abu Nass As-Sarraj erwähnt in seinem Buch „Al-Lumaʿ“ sieben Stufen: – Die Reue (At-Tawba) – Die Frömmigkeit (Al-Waraʿ) – Die absolute Askese (Az-Zuhd at-Tam) – Die Armut (Al-Faqr) – Die Geduld (As-Sabr) – Das Vertrauen auf den göttlichen Beistand (Ath-thiqa bi-llah), und schließlich – Die Zufriedenheit mit allem, was Gott mit einem geschehen lässt (Al-imtithal li-iradat Allah). Während die „Maqamat“ (Stufen) ausschließlich durch die eigene Anstrengung des Schülers erreicht und bestiegen werden können, sind die „Ahwaal“ (Die Zustände) reine Gottesgeschenke an denjenigen, der alle „Maqamat“ und die mit ihnen verbundenen Prüfungen (Makarih und Balaya) bestanden hat. Nach As-Sarraj gibt es zehn „Zustände“, nämlich: – Die Beobachtung (Al-Muraqaba) – Die Nähe (Al-Qurb) – Die Liebe (Al-Mahabba) – Die Angst (Al-Khawf ) – Die Hoffnung (Ar-Raja’) – Die Sehnsucht (Asch-Schawq) – Die Vertraulichkeit bzw. die Zweisamkeit (Al-Uns) – Die innerliche Ruhe (Al-’Itmi’nan) – Die Betrachtung bzw. der Anblick (Al-Muschahada) – Die Gewissheit (Al-Yaqin).
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7 Mystik im Frühislam
Die Reihenfolge dieser Zustände ist nicht in allen Fachwerken gleich. Auch manche Zustände, wie z. B. „die Liebe“ (Al-Mahabba), werden in einigen Quellen nicht nur als erwerbbare Stufen, sondern vielmehr als Grundlage für die Vereinigung eines Menschen mit Gott gesehen.224 Die ganze Mystik ist auf einer Doppelgrundlage aufgebaut. Diese ist zum einen die Wahrheit und zum anderen das religiöse Gesetz und parallel dazu: „wahrnehmbar“ (Zahir) und „innerlich“ bzw. „unwahrnehmbar“ (Batin). Mit „der Wahrheit“ ist die einzige wirkliche Existenz, d. h. Gott bzw. die Schöpfung (= die Welt) nach mystischem Verständnis gemeint. Das religiöse Gesetz markiert, nach mystischer, aber auch nach theologischer Auffassung, den Weg (At-Tariq) zur Wahrheit. Die Wahrheit ist ihrer Natur nach ewig und unendlich, die Gesetze dagegen sind zeitgebunden und demnach veränderbar. Folglich ist die Wahrheit auch älter als das Gesetz. Träger und Verkünder der Gesetze sind die Propheten. Jeder Prophet wird mit der Verkündigung der zeitgemäßen Gesetze von Gott, der Urquelle aller prophetischen Botschaften, beauftragt. Problematisch wurde diese Auffassung, als sie von einigen extremen Mystikern, wie z. B. den „Malamatiya“, als ein Grund für die Unterlassung ihrer religiösen Verpflichtungen angesehen wurde. Die Malamatiya sind entweder selbst eine ismaʿilitische bzw. schiʿitische Gruppe oder sie standen unter deren starkem Einfluss und wurden aus diesem Grunde von den Theologen, Rechtsgelehrten und auch Philosophen als Abweichler und Ketzer bezeichnet. Im 6. Jahrhundert n. H. (12. Jahrhundert n. Chr.) entstand eine neue Form der Mystik, die Volksmystik (At-turuq as-sufiya), die u. a. Qaderiya und Schazliya, Jilaniya, Naqschabandiya, Burhamiya oder Bekdaschiya genannt wurde. Kennzeichnend für diese neue Mystik, genauer gesagt dieses „Mystizismus“, ist die Abneigung gegenüber der klassischen gnostischen Weltanschauung. Sie bevorzugt eine einfache Form des innerlichen seelischen Reinigungsprozesses, bei dem jeder Novize (Murid) die Anweisung seines Lehrers (Scheich) blind befolgen soll, die aber vielmehr mit alltäglichen Handlungen und Ritualen als mit komplizierten abstrakten Formeln zu tun hat. Eine genaue Zahlenangabe über die bisher bekannten Sufi-Bewegungen in den islamischen Ländern ist so gut wie unmöglich. Fast in jeder Stadt oder jedem Dorf, insbesondere in Ägypten und im Sudan, gibt es einen oder mehrere Gottesfreunde bzw. Heilige, nach denen jeweils eine Gruppe oder eine Zweiggruppe benannt wird. G. Anawati führt die Entstehung dieser mystischen Bewegungen auf das Gedankengut Abu Hamid al-Ghazalis zurück, insbesondere auf bestimmte Abschnitte seines größten Werkes „Ihya’ Ulum ad-Din“. Anawati macht außerdem die schlechte 224 Siehe As-Sarraj, Abu Nasr: Al-Lumaʿ fit-Tasawwuf, Kairo, Dar Al-Kutub Al-Haditha, 1960.
7.4 Zum Terminus „Sufismus“
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Lage und den seit langem andauernden Stillstand der kulturellen Entwicklung in den islamischen Ländern heute für die Entstehung und Verbreitung solcher Sufi-Bewegungen verantwortlich. Aber auch missionarische Absichten durch Vereinfachung des Islam für Nichtmuslime unterstellt Anawati den Gründern und Vertretern dieser Sufi-Bewegungen.
7.4 Zum Terminus „Sufismus“
Als „Sufi“ wird ein Mensch bezeichnet, der sich eine mystische Weltanschauung aneignet und sein Leben willentlich durch einen stufenreichen geistlichen Entwicklungsprozess dementsprechend führt. Das arabische Wort „Sufismus“ wurde aus dem arabischen Wort „Tasawwuf“ abgeleitet, das im Deutschen als „Mystik“ wiedergegeben wird. Im Laufe der Zeit wurde das Wort „Sufismus“ fast ausschließlich für eine bestimmte Art des „Tasawwuf = Mystik“ verwendet und zwar für die sogenannte „Volksmystik“ bzw. „Sufi-Bewegungen“. Sufismus wurde auch als eine Art „praktische Mystik“ verstanden und hob sich dadurch von der ursprünglichen „philosophischen“ bzw. „metaphysischen Mystik“ ab. Vielleicht könnte man Sufismus auch als „physischen Mystizismus“ bezeichnen, wobei dann Mystik als die metaphysische Dimension dieser geistigen Weltanschauung verstanden werden könnte. Die oben angesprochene Aussondierung des Sufismus als „Volksmystik“ stellt, historisch gesehen, eine spätere Entwicklung der islamischen Mystik dar, die ab dem 6./12. Jahrhundert als „Sufi-Bewegung“ bzw. „Sufi-Orden“ = „at-turuq as-sufiya“, u. a. Qadiriya, Schaziliya, Rifaʿiya und Jilaniya, bekannt wurde. Die früheren großen Mystiker des 3./9. Jahrhunderts, u. a. Junaid, Muhasibi, Tustari, Termizi und Zunnun El Misri sowie später Abu Hamid Al-Ghazali (505 n. H./1111 n. Chr.) und Ibn ʿArabi (7./13. Jahrhundert) hinterließen zwar große Werke, aber keine großen Schulen oder Sufi-Bewegungen, die ihre Philosophie praktizierten und weiter tradierten. Graduell reicht die Spannweite der Sufi-Orden in Bezug auf ihre Einstellung zur Scharia vom gemäßigten Sufismus, der auch äußerlich die Lehre und Praxis der Scharia einhält (tasawwuf sunni), bis zum sufistischen Radikalismus, der sich nicht mehr an die Scharia in Lehre und Praxis gebunden fühlt (ghulat al-mutasawwifa). Die Mehrzahl der Sufi ist in einer Art Bund bzw. Orden (tariqa) organisiert und der Rest lebt als Wanderderwische, die sich weder an einen Ort noch an einen bestimmten Orden gebunden fühlen. Mitglieder bzw. Jünger eines Ordens (muridun, Sing. murid) leben in klosterähnlichen Orten (tikiya, rebat, zawiya) nach dem Prinzip der Besitzlosigkeit und schulden ihrem Meister (Scheich) absoluten Gehorsam.
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7 Mystik im Frühislam
Zahlenmäßig unterscheidet man zwischen drei Kreisen unter den Anhängern eines Sufi-Ordens: 1. Ein enger Kreis bestehend aus denjenigen, die ständig mit ihrem Meister in ihrem Ordenshaus leben. 2. Ein mittlerer Kreis bestehend aus Mitgliedern, die zu einer bestimmten Zeit regelmäßig das Ordenshaus besuchen, um ihrem Meister zuzuhören und seine Anweisungen praktizieren. 3. Ein erweiterter Kreis bestehend aus den Sympathisanten dieses Ordens, die sich dennoch als Jünger bzw. Schüler des jeweiligen Meisters beschreiben lassen. Strukturell wird ein Orden durch den Meister (Scheich bzw. murschid) und einem Stellvertreter (wakil) geführt. Der Rest der Mitglieder besteht aus den Schülern (Derwische), die den Haushalt, u. a. Küche, Reinigung u. ä. führen. Die Funktion der Derwische eines Sufi-Ordens ist mit der der Novizen eines Klosters vergleichbar. Der Sufi-Orden trägt in der Regel nicht den Namen seines eigentlichen Gründers, sondern meistens den Namen eines Patrons aus seinem Stammbaum (silsila). Die religiösen Übungen, durch welche sich die Derwische in einen Trancezustand zu versetzen suchen, sind je nach Orden verschieden. Dennoch basieren alle diese verschiedenen religiösen Übungen auf einem Prinzip – nämlich Absenkung aller Körperfunktionen aufs Minimum, um die Seele von allen materiellen Bedürfnissen zu befreien. Das sogenannte „samaʿ“ (das [Musik]-Hören) und das „zikr“ (Andacht, Reflexion) stellen die Hauptmittel bei allen Orden dar. Vierzigtägige Meditation in völliger Zurückgezogenheit, Fasten und wenig Schlaf, unter ständigem „zikr“ und „samaʿ“, sind der einzige Weg, der zur Erhebung der Seele führt. Dieser Weg wird in der Sufi-Terminologie „Quadragesima“ (arbaʿin = vierzig) genannt. Im Trancezustand erhalte der Derwisch, nach Volksglauben, übermenschliche heilende Ausstrahlung. Relevant für unser Thema sind daher sowohl die Sufi-Bewegungen als auch die einzelnen großen Mystiker, da die Seelenheilung das Endziel aller Arten der islamischen Mystik darstellt. 7.4.1 Zusammenfassung der Vorgeschichte
Die islamische Mystik ist aus ständigen Meditationen sowie Reflexionen über den Koran und der prophetischen Überlieferungen (Hadithe) entstanden. Zu Anfang war sie eine Art asketische Weltflucht (zuhd), wobei die Asketen immer ein Wollgewand trugen. Daher kommt das arabische Wort „Sufi“, das sich von „Suf“ (Wolle) ableitet. Erst durch die bekannteste muslimische Mystikerin Rabiʿa al-ʿAdawiya
7.4 Zum Terminus „Sufismus“
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(gest. 185 n. H./801 n. Chr.) wurde die einfache Askese thematisiert und zur Mystik erhoben. Das Prinzip und Ziel dieser jungen Mystik war einzig und allein, die reine selbstlose Gottesliebe zu erlangen und erwartungslos zu genießen. Vom Ende des 2. bis einschließlich des 8. Jahrhunderts n. H. entstanden verschiedene mystische Strömungen: das khorasanische Asketentum, in dem das absolute Gottesvertrauen (tawakkul) das Hauptmotiv und Endziel darstellte; die psychologische Methode der Bagdader Harith Al-Muhasibi (gest. 240 n. H./857 n. Chr.); al-Juneid (gest. 285n. H./910 n. Chr.) und Zun-Nun almisri (gest. 243 n. H./859 n. Chr.), der die von Gotteslob und Gottespreisung erfüllte Natur wiederentdeckte. Der mystische Weg mit seinen „Zuständen = ahwal“ und seinen „Stufen = maqamat“ wird ab Ende des 10. Jahrhunderts konsolidiert. Dabei sind „Ahwal“ bzw. Zustände eine Gabe Gottes, die „maqamat“ bzw. Stufen sind dagegen Entwicklungsstufen (madarij), die ein Weggänger (salik) durch seelische und körperliche Praxis erreichen kann. Lehre und Praxis der islamischen Mystik, im Sinne von vertiefter Anwendung der religiösen Vorschriften und ständiger Gottesandacht (zikr), werden durch große Mystiker wie As-Sarraj (gest. 988 n. Chr.); al-Kalabazi (gest. 990 n. Chr.); al-Hajwiri (gest. 1071 n. Chr.) und al-Quscheiri (gest. 1074) dargestellt und ausgearbeitet. Streitpunkte wie samaʿ (Mystische Musik und Tänze) und das Benehmen der Schüler (muridun) wurden genau geregelt. Diese Regeln gipfelten in der Summa theologica des großen Mystikers Abu Hamid al-Gazali „ihya’ ʿulum ad-din“ (Die Wiederbelebung der Religions-Wissenschaften). Vom 12. Jahrhundert an entwickeln sich die sogenannten „Sufi-Orden“ (at-turuq as-sufiya), durch die die ursprüngliche Mystik an Tiefe verlor und zu einer Massenbewegung wurde, in der viele Muslime jene emotionalen Elemente wie Tanz und Musik fanden, die sie im traditionellen religiösen Leben vermissten. Die Popularisierung der Propheten-Verehrung verdanken die Muslime dieser Sufi-Bewegungen. Nach einer Ablehnung der pantheistischen Mystik und der destruktiven Haltung der mystischen Meister in vielen Gebieten, haben muslimische Reformer und Dichter der Neuzeit von Iqbal (gest. 1938) bis Adonis und Salah’ Abdassabur die Werte der klassischen voluntaristischen Mystik für sich wiederentdeckt und in moderner Sprache interpretiert. 7.4.2 „Maqamat“ und „Ahwal“ zwischen „Qabdh“ und „Bast“
Die immaterielle Kontingenz des Menschen besteht aus vier Kräften bzw. Stufen. In aufsteigender Reihenfolge: Die Seele (nafs), das Herz (qalb), der Geist (ruh) und
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7 Mystik im Frühislam
schließlich das Geheimnis (sirr). Scharfe Grenzen zwischen diesen immateriellen Kräften kann man, nach Abul-Wafa At-Taftazani, nicht ziehen, denn sie alle sind miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig. „Es scheint mir so“, so Taftazani weiter, „dass ein Sufi während seiner Zustände (ahwal) und Stationen (maqamat) von der Stufe der Seele zur Stufe des Herzens, weiter zur Stufe des Geistes und schließlich zur allerhöchsten Stufe des Geheimnisses unbewusst aufsteigt.“225 „Maqamat“ und „Ahwal“ sind zwei ihrer Natur nach voneinander wesentlich unterschiedliche Merkmale des sufistischen Wegs, zwischen denen sich ein Sufi ständig bewegt. Ein Sufi kann von einem Maqam (Stufe bzw. Station) zu einem höheren Maqam durch „mudjahada“ (Anstrebung, Anstrengung) aufsteigen bzw. einen höheren Maqam erwerben. Die „Ahwal“ lassen sich dagegen nicht erwerben. Vielmehr sind sie ausschließlich ein Geschenk Gottes und ein Zeichen seiner Liebe an Menschen, die ihr Leben der Nähe zu Gott vollständig verschrieben haben. Und solange sich ein Sufi in einem „hal“ (Zustand = Sing. von ahwal) befindet, wird seine Seele zwischen „khauf“ (Angst) und „radja’“ (Hoffnung) hin und her versetzt. Solange er sich um Gottes Nähe bemüht, hat er „radja’“ (Hoffnung), dass Gott ihn in seine unmittelbare Nähe holt. Geschieht dies, so lebt der Sufi in einem Zustand des „qabdh“ (Festhaltung). Mit anderen Worten, er ist dann fest in Gottes Hand. Und solange Gott den Sufi in einer Hand hält, lebt der Sufi in ständiger „khauf“ (Angst) davor, dass Gott ihn wieder loslässt, „bast“ (Loslassen). Ein Sufi bekämpft seine unredlichen Gelüste solange, bis er seine Seele gereinigt hat. Damit steigt er auf die höhere Stufe, die Stufe des Herzens. Wenn das Herz vom Licht des Glaubens erfüllt ist und mit der unerschütterlichen Gewissheit beschenkt wird, erreicht er die Stufe des Geistes. Wenn der Geist so kraftvoll bleibt und vom Licht der Gewissheit umhüllt ist, wird er mit der Sichtung der göttlichen Herrlichkeit (muschahda) belohnt. Der Zustand der Sichtung ist ein Indiz dafür, dass der Sufi die Stufe des Geistes bereits verlassen und die allerhöchste Stufe, die Stufe des Geheimnisses (sirr), erreicht hat.226 ʿAmer An-Najjar fasst in seinem sehr interessanten und umfassenden Werk „at-tasawwuf an-nafsi = die psychische Mystik“ die gesamte psychische Heilmethodik der Sufi und Mystiker, insbesondere im 3./9. Jahrhundert zusammen. Er stellt die bekanntesten Mystiker jener Zeit sowie einige spätere Mystiker und ihre psychoanalytischen Methoden dar. Begriffsdefinitionen sowie Begriffsanalysen werden in diesem 225 At-Taftazani, Abul-Wafa: Al-Madkhal Ila At-Tasawwuf, Kairo, Dar Ath-Thaqfa wan-Naschr watTawziʿ, 1979, S. 436 f. 226 Siehe At-Taftazani, Abul-Wafa: Studien über die islamische Philosophie, S. 131–142.
7.4 Zum Terminus „Sufismus“
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Werk ebenfalls ausführlich behandelt. Dem Autor dieses Werks verdanke ich viele wertvolle Informationen für das vorliegende Kapitel. Im Allgemeinen gilt bei den Sufi die Seele als Quelle des Bösen, der Geist als das Lebensprinzip und für die guten Taten zuständig, und das Herz, das von seiner Natur her neutral ist, gilt als Ort der Erkenntnis. Neutral bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es mal von der (bösartigen) Seele und mal vom Geist beeinflusst werden kann. Und schließlich ist das Geheimnis der Ort der Schaual-muschahada (= die Schau der göttlichen Herrlichkeit). Termizi (279 n. H./892 n. Chr.) unterscheidet in seinen zwei bekannten Werken „ghawr al-omur = die Tiefe der Dinge“ und „haqiqat al-adamiya = die Wahrheit des Menschseins“ zwischen zwei Arten von Seele: einer sichtbaren (zahira) und einer unsichtbaren (batina). Die unsichtbare Seele ist nach Termizis Definition mit dem Unterbewusstsein bei Freud vergleichbar. Dabei hat die sichtbare Seele einen neutralen Status. Mit anderen Worten: Sie ist weder gut noch böse und damit wird sie jeweils nach ihrem momentanen Verhalten beurteilt – je nachdem ob sie unter dem Einfluss der unsichtbaren, also der bösartigen Seele oder dem guten Einfluss des Geistes steht. Termizi identifiziert die unsichtbare Seele mit dem Satan. Darin unterscheidet sich diese bösartige unsichtbare Seele vom Unterbewusstsein nach Freud. Diese bösartige Seele hat eine aktive Funktion, die den Menschen zur Erfüllung meist unerlaubter Wünsche drängt. Nach Freud stellt dagegen das Unterbewusstsein an erster Stelle ein Magazin dar, wo sich unerfüllbare Wünsche des Menschen lagern und diese unter Umständen einige seiner späteren Handlungen unbewusst beeinflussen. Die Identifizierung der bösartigen Seele mit dem „Satan“ bedeutet die Entpersonifizierung und Enttheologisierung, ja sogar die Verdinglichung Satans. Und dies bedeutet zugleich die Anthropomorphisierung Satans, der sonst als ein aus Feuer erschaffener Geist definiert wird. Im Wesentlichen unterscheiden sich die Thesen von Termizi und Freud darin, dass die unsichtbare Seele bei Termizi die Quelle des Bösen im Sinne unerlaubter Gelüste oder Wünsche darstellt. Bei Freud stellt das Unterbewusstsein eher ein Lager der unrealisierbaren Wünsche dar, die nur bei der Abwesenheit des Bewusstseins z. B. im Schlaf in Form von Träumen erscheinen können. Die unsichtbare Seele erhält bei Termizi einen aktiven Charakter, bei Freud dagegen eher einen passiven, auch wenn sie, hier als Unterbewusstsein, bestenfalls das Verhalten des betroffenen Menschen hintergründig und unbewusst beeinflussen kann. Tustari (283 n. H./896 n.Chr.) unterscheidet verschiedene Stufen der Seele und des Geistes: eine transzendentale (samiya) und eine nicht-transzendentale bzw. normale (duna zalik). Hierbei muss man berücksichtigen, dass Tustari die beiden Be-
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7 Mystik im Frühislam
griffe „Seele“ und „Geist“ undifferenziert verwendet. Im Arabischen gehören beide Begriffe zur femininen Sprachgruppe, wobei „ruh = Geist“ sowohl feminin als auch maskulin ist. (Allein der Geist als Eigenname des Erzengels Gabriel wird im Arabischen als Maskulinum verwendet [Sure 26:199]. Er wurde im Koran selbst auch in Sure 42:52 als der vertrauensvolle „ar-ruh al-amin“ bezeichnet.) Die allerhöchste Stufe des Geistes wird bei Tustari auch „die erleuchtete Seele“ (naf nuraniya) genannt. Allgemein wird bei dem muslimischen Sufi ein derartig erleuchteter Geist als das verborgene Prinzip oder Gott allernächste Geist angesehen. Denn dieser Geist ist, nach Tustari, ein unmittelbares Produkt der göttlichen Allmacht. Dieser Geist ist für viele Mystiker das zur Wirklichkeit gewordene Gotteswort. Der Geist wird vor allem als das Geheimnis Gottes, ein Lichtstrahl seiner Emmanation und sein Hauch angesehen, aufgrund dessen sich die Engel vor dem Menschen (Adam) entsprechend Gottes Anweisung unterwerfen mussten. Den nicht-transzendenten normalen Geist bezeichnet Tustari als die Seele des Geistes per se bzw. als den Geist selbst bzw. die Seele des Geistes (nafs ar-ruh) und bietet damit eine gute Grundlage für die dritte Definition des Geistes bei Ibn ʿArabi (gest. 638 n. H./1235 n. Chr.) in seinem Werk „al-futuhat al-makkiya“ als das, was dem Menschen nach seiner Formung durch Gott eingehaucht wurde. Ibn ʿArabis These ähnelt Avecennas Definition (gest. 427 n. H./1027 n. Chr.) des Geistes. Avecenna sah die Seele bzw. den Geist bei den Menschen als den individualisierenden Faktor.
7.5 Koranische Ansätze für die Psychoanalyse – Die Seele als Quelle der Krankheiten und Objekt des Heilens
Gestützt auf verschiedene Koranverse unterscheiden die muslimischen Mystiker zwischen drei Arten der menschlichen Seele (nafs), die jeder Mensch besitzt. Diese sind: Die tadelnde Seele (an-nafs al-lawwama); die bösartige Seele (an-nafs al-ammara bis-su’) und schließlich die zufriedene Seele (an-nfs al-mutma’inna). Das Ganze wird in vielen koranischen Stellen auch Seele (nafs) genannt. Allein in der zweiten Sure kommt „Nafs“ als Synonym für den Menschen vier Mal vor, und zwar in den Versen 48; 123; 233 und 281. Die tadelnde Seele ist mit dem Gewissen (dhamir) identisch und hat in der Psyche eines Menschen die Funktion eines Richters, der nach Al-Hasan al-Basri (gest. 110 n. H./728 n. Chr.), dem Urahn aller muslimischen Mystiker, jeden gewissenhaften Menschen vor seinem Schlaf für alle seine Handlungen am Tag zur Rechenschaft zieht. Sie gibt keine Ruhe, bis dieser Mensch seine schlechten Taten bereut und die aufrichtige Absicht erklärt, diese nie wieder zu begehen.
7.5 Koranische Ansätze für die Psychoanalyse – Die Seele als Quelle der Krankheiten und Objekt des Heilens
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Die bösartige Seele animiert den Menschen, wie ihre Bezeichnung bereits verrät, zu schlechten Taten und führt ihn somit ins Verderben. Diese Seele stellt die größte Herausforderung für den Menschen dar. Diese bösartige Seele zu besiegen und ihre Gelüste zu bändigen, gilt als das höchste Ziel aller mystischen Übungen. Dies kann nur durch die Anleitungen eines Lehrers (murschid) erreicht werden. Der Schüler (murid) schuldet seinem Lehrer dabei, ohne Wenn und Aber, absoluten Gehorsam. Die zufriedene Seele ist diejenige Seele, die die bösartige Seele vollständig überwindet und all ihre religiösen Pflichten bestens erfüllt. Sie bildet somit die unabdingbare Grundlage für die weiteren Entwicklungsstufen eines Mystikers, bis er zu einem Zustand findet, in dem er in der Lage ist, sich der göttlichen Herrlichkeit anzunähern. Der mystische Heilungsprozess fängt mit der Aktivierung und der Verstärkung der tadelnden Seele an und setzt sich unaufhaltsam fort, bis diese die Gelüste der bösartigen Seele überwunden hat. Diese Überwindung kann nur durch bestimmte Übungen erreicht werden, die den Menschen dazu verhelfen, über ihren körperlichen bzw. materiellen Bedürfnissen, wie Reichtum, sexuelle Wünsche und gesellschaftliches Ansehen, zu stehen. Trotz der oben erwähnten Differenzierung zwischen den verschiedenen Arten der Seelen wird die Seele als solche per se negativ gesehen. Die Mystiker identifizieren meistens unbewusst alle drei Seelenarten mit dem Bösartigen. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob der Mensch drei verschiedene voneinander unabhängige Seelen oder nur eine Einzige besitzt, die aber drei Kräfte hat, findet man kaum in der mystischen Literatur. 7.5.1 Anatomie der Seele
Tustaris Anatomie der Seele (Psychoanalyse) geht weiter in die Tiefe: Der obere Teil der Seele ist, nach Tustari, die immaterielle Substanz, die die animalische Seele mit dem transzendentalen Geist verbindet. Demnach ist der untere Teil der Seele durch seine nicht-transzendente dichte Natur dazu geeignet, guten Boden für die schlechten Wünsche (ahwa’) zu bieten, wenn er ungezügelt agieren darf. Tustari unterscheidet vier Arten von schlechten Wünschen des Menschen: die animalischen (hayawaniya) bzw. sexuellen Gelüste; die teuflischen (scheitaniya), wie das Glücksspiel und die sinnlose Vergeudung von Zeit; die zauberartigen (sihriya), wie List, Betrug und schließlich die satanischen (iblisiya), wie Hochmut und Eitelkeit. Für Tustari stellen diese schlechten Gelüste seelische Krankheiten dar, die es zu heilen gilt. Er liefert uns auch Heilungsrezepte für jede derartige seelische Krankheit. Im Kontext der mystischen Psycho-Terminologie unterscheiden die muslimischen Mystiker zwischen der Seele (nafs), dem Geist (ruh), dem Herz (qalb), dem Verstand
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7 Mystik im Frühislam
(fu’ad), dem Kern bzw. der Vernunft (lubb) und der Brust (sadr). Auf diese Termini im Einzelnen einzugehen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Die ersten zwei Begriffe, Seele und Geist wurden oben relativ ausführlich behandelt. Dem Begriff „ruh“ (der Geist), seinen Definitionen, Dimensionen und Funktionen hat der muslimische Großgelehrte und direkte Schüler des großen Scheich ul-Islam Ibn Taimiya, Ibn al-Qaiyim einige Werke gewidmet, u. a. „Kitab ar-ruh“ sowie „Madarij as-salikin“, das, meines Erachtens, einen guten Ansatz für die die Religionspsychologie und die Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung darstellt. Darauf kann ich hier auch nicht ausführlich eingehen. 7.5.2 Die psychischen Krankheiten als Krankheiten des Herzens
Die psychischen Krankheiten werden in den islamisch-theologischen Werken und insbesondere bei den Sufi „Krankheiten des Herzen“ bzw. „Herzkrankheiten“ genannt. Denn das Herz eines Menschen ist der Ort des Fühlens und des Denkens, wobei dessen physische Funktion als völlig sekundär betrachtet wird. In Sure 2:10 lesen wir über die „Heuchler“ folgende Aussage: „Da sie sich eine Krankheit (die Heuchelei) in ihren Herzen (bewusst) aneigneten, lässt Allah sie (bzw. ihre Herzen) noch mehr erkranken.“ (fi qulubihim maradun fazadahum Allahu marada).227 Diese Aussage „Ihre Herzen sind erkrankt“ kommt nämlich auch im Koran als eine Bezeichnung für verschiedene psychische Krankheiten zwölfmal vor (2:10; 5:52; 8:49; 9:125; 22:53; 24:50; 33:12, 32, 60; 47:20, 29; 74:31). Die gesunden bzw. zufriedenen Herzen sind dagegen diejenigen, die ständig an Gott denken. Gottes Andacht ist zugleich das Allheilmittel gegen jegliche Herzkrankheiten. In Sure 13:28 lesen wir über die Gläubigen: „Diese sind diejenigen, die an Gott glauben und deren Herzen Ruhe bzw. Zufriedenheit durch Gottes Andacht spüren. Wahrhaftig! Alle Herzen werden Ruhe bzw. Zufriedenheit durch Gottes Andacht finden“ (al-lazin ’amanu wa tatma’innu qulubuhumbizikrillah, alabizikrillahitatma’innul-qulub). So viele Herzkrankheiten es gibt, so viele Arten der Gottesandacht (zikr) gibt es. Jede Art der Gottesandacht wird bei einem Heilungsprozess individuell, von Fall zu Fall und von Person zu Person durch den Meister bestimmt und proportioniert. Koranverse und prophetische Hadithe (Überlieferungen) sowie Weisheitssprüche des Meisters oder alte Weisheiten, besonders aus alten Dichtungen, dienen bei dem Heilungsprozess als Medikamente, die zu dem einen Ziel führen sollen, nämlich das 227 Sure 1:9.
7.5 Koranische Ansätze für die Psychoanalyse – Die Seele als Quelle der Krankheiten und Objekt des Heilens
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Herz des Patienten in den Zustand der Zufriedenheit zu versetzen. Damit ist dann die völlige Genesung erreicht. Und so impliziert der Zustand der Herzenszufriedenheit die Heilung von allen seelischen bzw. psychischen Krankheiten. Die Begriffe „murid“ als Schüler bzw. Wollender und „marid“ als Patient haben im Arabischen keine linguistische Verwandtschaft miteinander, auch wenn sie phonetisch und inhaltlich fast identisch sind. Denn jeder „Murid“ ist in diesem Sinne ein Patient (marid), der seine Genesung bei einem Meister (Scheich) sucht. Nach islamischer Weltanschauung und insbesondere bei den Sufi ist der „Satan“, der in diesem Kontext mit der jedem Menschen innewohnenden bösartigen Seele (an-nafs al-ammara bis-su’) identisch ist, die Quelle aller Persönlichkeitsstörungen. Diese Quelle des Übels durch religiöse Aussagen und Übungen austrocknen und damit den Geist des Patienten von ihren üblen Auswirkungen zu befreien bzw. zu bereinigen, stellt das Endziel des seelischen Heilungsprozesses bei allen islamischen Denkrichtungen und an erster Stelle bei den Sufi dar. Auch wenn die muslimische Gelehrsamkeit alle Persönlichkeitsstörungen auf satanisches Eingreifen zurückführt, war es für sie stets entscheidend, die negative Wirkung dieses üblen Eingreifens auf das soziale Verhalten des Menschen aufzuheben oder wenigstens zu lindern. Wie ein physisch kranker Mensch zu einem Arzt geht, um seine Krankheit loszuwerden, geht ein Mensch, der an einer seelischen Krankheit leidet, zu einem Sufi-Meister, um sich von seinem seelischen Leiden zu befreien. Es versteht sich von selbst, dass es sich in allen Sufi-Traditionen des Heilens um eine ethisch-religiöse Therapie handelt. Mit anderen Worten: Die Therapie setzt religiöse Überzeugungen voraus, die der Patient mitbringen muss. Der Meister leistet hierzu keine missionarische Arbeit. Weiter soll der Patient zur Überzeugung gekommen sein, dass er allein mit sich selbst und/oder mit seinem sozialen Umfeld nicht mehr zurechtkommen kann, und dass er diesen Zustand nicht mehr erträgt. Des Weiteren muss er den festen Willen besitzen, sich von einem bestimmten Meister behandeln zu lassen, dem er von vornherein unerschütterliches Vertrauen und folglich den erforderlichen absoluten Gehorsam entgegenbringen kann. Die Therapie beginnt, wie bei jeder gewöhnlichen ärztlichen Behandlung üblich, mit einem Gespräch, in dem der Patient sein Problem ausführlich schildert und der Meister mit dem Patienten in einen Dialog eintritt, durch den der Heiler eine Diagnose feststellen und eine Lösung vorschlagen kann. In manchen Fällen muss der Meister den Patienten zuerst von der Richtigkeit der Diagnose überzeugen, um dann für ihn eine individuell maßgeschneiderte Prognose zu erstellen. Der Patient muss allerdings mit der Prognose einverstanden und bereit sein, sich dem Willen des Meisters widerstandslos zu ergeben und seine Anweisungen zu befolgen.
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7 Mystik im Frühislam
7.6 Einige der bekanntesten Herzkrankheiten
In der mystischen Literatur werden vordergründig fünf Seelenkrankheiten ausführlich beschrieben, nämlich: das teuflische Flüstern(al-waswasa), der Zorn (al-ghadab), die Eitelkeit/Überheblichkeit/Narzissmus (al-ghurur, al-kibr, al-ʿugb), die Heuchelei (ar-riya’) und der Neid (al-hasad). Im Rahmen dieses relativ kurzen Beitrags kann ich nicht auf alle diese seelischen Krankheiten eingehen, daher werde ich nur auf die wichtigsten drei der genannten seelischen Krankheiten eingehen. 7.6.1 Der ständige Zweifel (al-waswasa)
Al-waswasa wird als Vater aller anderen Herzkrankheiten betrachtet und wird als ein teuflisches „Flüstern“, das das Verhalten eines Menschen sich selbst, aber auch anderen Menschen gegenüber negativ beeinflusst, definiert: Selbstunsicherheit und Misstrauen gegenüber sich selbst und anderen bei allem, was sie sagen oder tun. Der Betroffene kann meistens selbst seine Zweifel bzw. sein Misstrauen und seine Unsicherheit nicht begründen. Die letzte Koransure (Nr. 114) trägt die Überschrift „An-nas“ („Die Menschen“) und stellt ein Bittgebet an Gott dar, das den Menschen vor diesem teuflischen Flüstern schützen soll. Dort heißt es: Sag: Ich nehme Zuflucht beim Herrn der Menschen, dem König der Menschen, dem einzigen Gott der Menschen vor dem Übel des Einflüsternden, des Davonschleichens, der in die Brüste der Menschen hineinflüstert. Sei es ein Djinn (Geist) oder ein Mensch.
Der eingeflüsterte krankhafte Zweifel tritt nach Tustari in stärkeren Maßen bei Menschen auf, die in einer bestimmten Hinsicht die Perfektion anstreben. So wird der Zweifel bzw. der Verdacht des Polytheismus insbesondere muslimischen Monotheisten durch den Satan eingeflüstert; der Zweifel und Verdacht der Ignoranz wird verstärkt Großgelehrten eingeflüstert; der Verdacht der Vergesslichkeit überfällt gerade andächtige Menschen; der Verdacht des Ungehorsams (Gott gegenüber) überfällt gerade gehorsame Menschen und der Verdacht auf Interesse für die weltlichen Belange findet sich oft bei Menschen, die ihr Leben aufs Jenseits gerichtet haben. Der krankhafte Zweifel ist so gesehen eine Reaktion auf einen Perfektionswahn.228 Termizi unterscheidet zwischen zwei Arten des krankhaften Zweifels: Eine, die in der eigenen Seele entsteht, und eine weitere, die vom Satan eingeflüstert wird. Die 228 Siehe An-Anajjar: ʿAmer, At-tasawwuf an-nafsi, Kairo, Dar Al-Maárif, 1984, S. 138 f.
7.6 Einige der bekanntesten Herzkrankheiten
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erste Art kann durch Reflektion und die zweite Art durch Gottesandacht beseitigt werden. 7.6.2 Der Zorn (al-ghadab)
In Sure 3:134 werden einige Charakterzüge der Gläubigen aufgezählt: „Diese sind diejenigen, die sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten (den Armen) freudig spenden und ihren Zorn zügeln und den anderen Menschen ihre Übertritte verzeihen. Wahrhaftig: Gott liebt die Wohltäter“. Der Hadithwissenschaftler Termizi berichtet in seiner kanonischen Hadith-Sammlung, der Prophet Muhammad habe in einem relativ langen Hadith gesagt: Der Zorn ist wie eine Feuerglut, die im Bauch des Menschen brennt, deswegen erröten seine Augen stark und seine Wangen werden wie aufgeblasen […] Der beste Mensch ist derjenige, der nicht so schnell zornig wird und der sich schnell beruhigen lässt. Und der schlechteste Mensch ist derjenige, der schnell zornig wird und sich nur langsam beruhigen lässt.
Der Zorn ist also, wie der krankhafte Zweifel, die Überheblichkeit und der Neid, ein Werk Satans bzw. eine Wirkung der bösartigen Seele des betroffenen Menschen. Diese gilt es zu bekämpfen. Abu Hamid Al-Ghazali (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.) behandelt diese Krankheit in seiner Summa theologica „Ihya’ ʿulum ad-din“ („Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften“) sowie in seinem Buch „Oksir as-saʿada“ („Elixier der Glückseligkeit“) ausführlich. Nach Ghazali gibt es zwei Arten des Zorns, eine konstruktive und eine destruktive. Die erste Art, nämlich der konstruktive Zorn, dient als ein Verteidigungsinstrument gegen jede Art von Gefahren, die das Leben bedrohen. Der destruktive Zorn aber könnte selbst den Menschen in Lebensgefahr bringen. Daher muss der Mensch vom destruktiven Zorn geheilt werden. 7.6.3 Überheblichkeit, Narzissmus und Eitelkeit (al-kibr, al-ʿujb und al-ghurur)
Alle diese drei Begriffe sind zwar philologisch keine Synonyme, inhaltlich liegen sie aber sehr nahe beieinander, daher werden sie theologisch gleichgestellt und mit gleicher Konsequenz vergolten. Der bekannte Prophetengefährte Abu Huraira gibt den folgenden Hadith wieder: „Der Prophet Muhammad sagte: Allah sagt: Die Großartigkeit ist mein Obergewand und die Herrlichkeit ist mein Untergewand. Wer mir dies streitig macht, den werde
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7 Mystik im Frühislam
ich in meine Hölle schicken“. ʿAbdullah Ibn Salam berichtete, er habe den Propheten Folgendes sagen hören: „Ins Paradies kommt niemand hinein, der auch nur den kleinsten Teil von Überheblichkeit in seinem Herzen trägt“. Im Koran finden wir zahlreiche Verse, die diese Hadithe untermauern. In Sure 40:76 sagt Allah zu den überheblichen Menschen Folgendes: „Tretet in die Tore der Hölle für die Ewigkeit, diese ist die übelste Endstation der überheblichen Menschen“. Al-Raghib Al-Asfahani definiert in seinem bekannten Werk „Al-mufradat fi gharib al-qur’an“ („Die Fremdwörter im Koran“) den arabischen Begriff „Kibr“ bzw. „takabbur“ und „istikbar“ (Überheblichkeit) folgendermaßen: Diese Begriffe beschreiben einen Zustand, in dem sich der Mensch selbst verherrlicht und sich als den Größten und Mächtigsten sieht. Für Harith Al-Muhasibi stellt Überheblichkeit die Ursache vieler tadelnswerter Handlungen dar. Heuchelei (riya’) ist einer der schlechtesten Charakterzüge, die durch die Überheblichkeit verursacht werden. Dies kann so geschehen: Man leugnet eine Wahrheit, nur weil sie von einem anderen Menschen kommt, den man durch seine eigene Überheblichkeit für minderwertig hält. Die Zurückweisung einer Wahrheit, von der man selbst weiß, dass es sich dabei um die Wahrheit handelt, ist Selbstheuchelei. Die Selbstverherrlichung (ʿujb) ist nach Al-Muhasibi eine weitere Folge der Überheblichkeit. Dabei stellt man sich mit voller Überzeugung über einen anderen Menschen, der ihm in keiner Weise nachsteht. Bei der Selbstverherrlichung handelt es sich, im Gegensatz zur Überheblichkeit, um eine innere Überzeugung, und daher wird sie als eine echte Herzkrankheit betrachtet. Die Selbsttäuschung (al-ghurur) bzw. falscher Stolz oder Verbohrtheit stellen nach Tustari den endgültigen Fall eines Menschen in seine Willkür und seine Gelüste dar. Bemerkenswert ist hier, dass diese Herzkrankheit, im Gegensatz zu den vorherigen, nicht vom betroffenen Menschen ausgeht, sondern von außen, nämlich von Satan. Für Tirmizi handelt es sich hierbei um eine besondere psychische Krankheit, die er mit Betrunkenheit gleichstellt. In beiden Fällen ist der Mensch nicht mehr in der Lage, seine Worte und Handlungen richtig zu beurteilen. Ein getäuschter Mensch (mughtarr) betet z. B. die Götzen an, im Glauben, dass er dadurch Gottesnähe erlangen kann. Er übertreibt bei der Erfüllung der Äußerlichkeiten der Gottesdienste auf Kosten des Sinnes und Inhalts des Gottesdienstes. Beim Fasten verzichtet ein solcher Mensch auf leibliche Speisen und Getränke, aber nicht auf Verleumdungen und Lügen. Das Heilmittel gegen Überheblichkeit und alle durch sie verursachten Seelenkrankheiten ist nach Muhasibi und allen anderen Mystikern das Erlernen und Verinnerlichen von Bescheidenheit. Der Prophet Muhammad geht mit einem guten und
7.6 Einige der bekanntesten Herzkrankheiten
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nachahmenswerten Beispiel voran. Nach einem authentischen Hadith (ein Bericht von oder über den Propheten Muhammad) berichtet der Prophetengefährte Abu Saʿid Al-Khudri, dass der Prophet Muhammad selbst die Tiere fütterte, Kamele bändigte, sein Haus reinigte, die Ziegen molk, Schuhe putzte, seine löchrige und geflickte Kleidung reparierte, mit seinem Haushälter gemeinsam gespeist, Getreide gemahlen, wenn sein Haushälter nicht konnte, auf dem Markt einkaufte und seine Einkäufe selbst nach Hause getragen, seine Verwandten besuchte, die Armen wie die Reichen mit Handschlag gegrüßt, die Angesehenen wie die einfachen Menschen, Schwarze wie Farbige gleich, ob Herren oder Sklaven.229
7.6.4 Ein praktisches Beispiel
Wie der Heilungsprozess aussieht, zeigt uns Al-Harith al-Muhasibi an einem praktischen Beispiel und damit schließe ich dieses Kapitel. Eines Tages kam ein Mensch zum Scheich Al-Muhasibi und klagte ihm sein Leiden. Er leide unter einem ungezügelten Zorn. Ihn überfällt der Zorn bei jeder Kleinigkeit. Er kennt die Gefahren, in die er sich begibt, wenn er einen unkontrollierten Wutanfall bekommt. Er erkannte seine Krankheit, schilderte sie dem Scheich ausführlich und bat ihm um Hilfe. Der Mann stellt dieses Gespräch folgendermaßen dar: – Ich sagte dem Scheich: „Ich kann mich nicht beherrschen, wenn jemand mich beleidigt.“ – Der Scheich sagte mir „Die Selbstbeherrschung fällt dir schwer und die Rachesucht fällt dir leicht.“ – Ich fragte: „Und warum fällt mir die Selbstbeherrschung schwer, die Rachesucht aber leicht?“ – Der Scheich antwortete: „Weil du die Selbstbeherrschung als Erniedrigung und die unsinnige Rache als Selbstbestätigung betrachtest.“ – Ich fragte: „Wie kann ich mir die Selbstbeherrschung aneignen?“ – Der Scheich antwortete: „Du sollst deine Seele auf Geduld trainieren und deinen Körper fesseln.“ – Ich fragte: „Wie könnte ich dies erreichen?“ – Der Scheich antwortete: „Dafür musst du realisieren, dass die Selbstbeherrschung ein Indiz für eine gute Macht und die blinde Rache eine beschämende Erniedrigung darstellt.“ – Ich fragte: „Wie kann ich dies realisieren, wenn dessen Gegenteil in meinem Herzen inne229 U. a. Musnad A-Imam Ahmad, Hadith Nr. 26194.
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wohnt? Mein Herz sieht in jedem unvergoltenen Übergriff eine unerträgliche Erniedrigung und ich komme mir vor als wäre ich für eine Rache zu schwach und derjenige, der mich beleidigte zu stark.“ – Der Scheich antwortete: „Dir fällt dies so schwer, weil du nicht weißt, wie hässlich die Rache, wie nobel die Verzeihung und wie groß die Belohnung für die Vergebung bei deinem Herrn ist.“ – Ich fragte: „Wie erkenne ich diese beiden Zustände, nämlich die Hässlichkeit der Rachesucht bzw. des Zorns und den Edelmut der Verzeihung?“ – Der Scheich antwortete: „Dies wirst du deutlich sehen, wenn du deinen Beleidiger genau beobachtest. Du wirst sehen, wie hässlich er in seinem Zorn aussieht, die hässliche Farbe seines Gesichts, wie aufgerissen seine Augen sind, wie rot sein Gesicht ist, wie verdreht seine Augen sind, wie er sich selbstrespektlos verhält und wie anstandslos sein Körper steht. Wenn du dies alles bei ihm siehst, denke daran, dass du auch so hässlich aussiehst, wenn du zornig und rachsüchtig bist. Außerdem musst du an das denken, was Gott denjenigen versprochen hat, die sich beim Zorn beherrschen und verzeihen, obwohl sie sich rächen könnten. Auf solche Menschen warten im Jenseits Gottes Liebe und reichliche Belohnung. Die Befriedung durch die Rache ist von kurzer Dauer, ihre schweren Folgen aber werden auf dich im Jenseits warten. Die Selbstbeherrschung bzw. die Verzeihung würde dir kurz schwerfallen, aber umso mehr und dauerhafter wird deine Belohnung dafür sein. Ein besonnener Mensch würde einer kurzen folgenreichen Freude, einem kurzen Leid aber dauerhafte Freude vorziehen“.230
Dieser Dialog ist im Sinne eines Vorgesprächs zu verstehen, durch welches der Patient über die Gründe seines Leidens aufgeklärt wird und dann von der Möglichkeit und der Notwendigkeit der Therapie rational überzeugt werden soll. Die Therapie selbst wird dann durch ein individuell gestaltetes mystisches Training durch die Schüler-Meister-Beziehung vollzogen. Ein Sufi-Meister ist damit ein Psychoanalytiker und Psychotherapeut zugleich. Ein Derwisch bzw. Sufi-Schüler ist ein Suchender, der sein Leben restlos der Nähe Gottes als sein höchstes Ziel und seine größte Hoffnung verschrieben hat. Die Unzufriedenheit eines Menschen mit sich selbst, mit seiner bisherigen Lebensführung sowie mit dem eintönigen, meist materiellen Alltag ist der stärkste Beweggrund für die eigene Entscheidung, nach einem höheren Lebenssinn und besseren Lebensweg zu suchen.
230 An-Najjar, ʿAmer: A-Taswwuf An-Nafsi, Kairo, Hay’at Al-Kitab, o. D., S. 105 f.
7.7 Macht Religion krank?
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7.7 Macht Religion krank?
Die Leitfrage dieser Veranstaltung231 hat mich zunächst irritiert. Der Zusammenhang zwischen Religion einerseits und Krankheit andererseits ist zwar unleugbar, jedoch im genannten Kontext für mich befremdlich. Auch das rhetorische Fragezeichen ändert nicht viel an der Semantik dieser Leitfrage. Meiner festen Überzeugung nach hat die Religion bzw. die Religiosität einen nicht unerheblichen positiven Einfluss auf den psychischen und physischen Zustand des Patienten. Ich würde eher „Religiosität gegen Krankheit“ formulieren. Die innewohnende Heilkraft der Religion liegt darin, dass insbesondere lebensbejahende Religionen dem Menschen die unabdingbare Hoffnung auf Heilung geben und ihm dadurch den für den Heilungsprozess erforderlichen starken Willen und die nötige Widerstandsfähigkeit verleihen. Der starke Wille, die Krankheit zu überwinden, stärkt bekanntlich das Immunsystem. Die Quelle dieser Hoffnung ist die feste Überzeugung eines Menschen, dass es eine höhere Macht gibt, die die erhoffte Heilung vollbringen kann, wenn die menschliche Macht an ihre Grenzen stößt. Nicht die Religion an sich, sondern die Art und Weise der Vermittlung einer Religion könnte krank machen. Würde eine Religion ausschließlich als eine strenge Verordnung von Geboten und Verboten bzw. durch Angstmacherei vor der Höllenqual im Jenseits vermittelt, so wäre dies ein verstelltes und artfremdes Religionsverständnis, das Depressionen und Fanatismen heranzieht. Depression führt zur Selbstzerstörung und Fanatismus führt zur Zerstörung der Gesellschaft. Der Anteil der verbindlichen religiösen Gebote und Verbote im Koran macht höchstens 5 bis 7 % des gesamten koranischen Textes aus. Die Reduzierung der islamischen Religion auf Gebote und Verbote, bekannt als Scharia, kommt demnach einem engstirnigen Verständnis des Islams gleich. Zu Beginn des 9. Jahrhunderts lebte eine der berühmtesten Mystikerinnen in der islamischen Geistesgeschichte, Rabiʿa al-ʿAdaweya (gest. 185 n. H./805 n. Chr.), die durch ihre radikale Gottesliebe bekannt ist. Von ihr wird folgendes Gebet überliefert: Oh, mein geliebter Gott, wenn du meinst, dass ich Dich aus Angst vor der Hölle liebe, dann werfe mich in sie hinein. Und wenn Du meinst, dass ich Dich aus Hoffnung auf das Paradies liebe, dann verwehre es mir, hinein kommen zu dürfen.232
231 Eine Veranstaltung der Seelsorge des AKH – Wien, 14. Februar 2007. 232 Siehe Rabiʿa Al-Adawiya: Schahidat Al-ʿIschq Al-Ilahi, 2. Aufl., Kairo, An-Nahda A-Masriya, 1962.
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7 Mystik im Frühislam
Man berichtet von ihr, dass sie oft mit einem vollen Wassereimer auf die Straße ging. Als man sie nach ihrem Beweggrund fragte, antwortete sie: „Um die Hölle auszulöschen, damit die Menschen Gott vom Herzen lieben bzw. nicht aus Angst vor der Hölle.“ Hier haben wir es mit einer bedingungslosen Gottesliebe und einem gesunden Gottesvertrauen vereint in einer Person zu tun. Eine ausgewogene lebensbejahende und auf Gottes Nachsicht aufbauende Religiosität kann einen wesentlichen Beitrag zur Unterstützung des klinischen Heilungsprozesses leisten. Der Prophet Abraham (Ibrahim) distanziert sich laut des Koran (26:78–82) von der Götzendienerei seiner Gemeinschaft und äußert sein unbedingtes Vertrauen dem einzigen wahrhaften Gott aller Welten gegenüber folgendermaßen: Er ist der, der mich erschuf und mich zum richtigen Weg rechtleiten wird und Er ist der, der mich mit Speise und Getränken versorgt und wenn ich krank werde, mir die Heilung schenkt und Er ist der, der mich sterben und wieder auferstehen lassen wird und Er ist der, von dem ich am Jüngsten Tag Vergebung meiner Sünden erhoffe. (26:80)
Krankheiten lassen sich auch nach der islamischen Weltanschauung in drei Kategorien einteilen: physische, psychische und soziale. Für die physischen Krankheiten ist der Mensch selbst größtenteils verantwortlich und zwar deshalb, weil er die von Gott empfohlene Mäßigung in allen Lebensbereichen missachtete oder auf die Unversehrtheit seines Körpers und/oder seiner Umwelt nicht ausreichend geachtet hat. Anderenfalls wird die Krankheit als eine Prüfung von Gott angesehen, um die Festigkeit des Glaubens bei dem geprüften Gläubigen zu erkunden. Die erwähnte Mystikerin Rabiʿa al-ʿAdawya wurde durch ihre streng mystische Lebensführung und ihre Kritik an den herrschenden Statthaltern, die sie emotional schwer belastete, schwer krank. Ihr Gebet in dieser Situation lautete folgendermaßen: „Oh mein geliebter Herr! Wenn mein gegenwärtiger Zustand Dir Recht und Deinem Willen entsprechen sollte, dann lass mich noch mehr leiden. Wenn dies aber nicht der Fall wäre, dann befreie mich von meinem Leid.“233 Die sozialen Krankheiten entstehen durch die Vernachlässigung der sozial-religiösen Gebote, die zwischenmenschliche Beziehungen regeln. Grundlage dafür ist ein prophetischer Hadith, der lautet: „Wünsche deinem Nächsten, was du dir selbst wünschst.“234 Die schwersten Krankheiten sind die psychischen. Quelle und Ort dieser Krankheiten ist das Herz eines Menschen; die Herzkrankheiten sind nach der 233 Ibd. 234 Sahih Muslim, Kapitel al-Iman, Hadith Nr. 45.
7.7 Macht Religion krank?
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islamischen Konzeption rein psychischer bzw. seelischer Natur. Seele und Herz sind voneinander untrennbar, ja sogar nach vielen koranischen Aussagen identisch. Beachtenswert ist die Funktion des Herzens nach islamischer Auffassung, die dem Herzen und nicht dem Gehirn eines Menschen das Denken und die Reflexion zuschreibt. Das Herz denkt und das Gehirn lenkt bzw. entscheidet. Das arabische Wort für Gehirn, nämlich „ʿaql“ oder „much“ kommt kein einziges Mal im Koran in Substantivform, wohl aber oft als Verb vor. Diese Verbform bezeichnet im Arabischen die Funktion des Gehirns als Denkorgan, und nicht ausschließlich als physisches Organ. Durch das Herz denken (tadabbur bzw. tafakkur), impliziert nicht nur rationale Gedanken, sondern eine Mischung von Denken und Fühlen gleichermaßen in einem einzigen Prozess. Der Koran beschreibt einige Menschen folgendermaßen (Sure 7:179): Sie haben Herzen, mit denen sie aber nicht verstehen können und sie haben Augen, mit denen sie aber nicht sehen können und sie haben Ohren, mit denen sie aber nicht hören können. Diese sind weniger wert als die Tiere, diese leben nicht im vollen Bewusstsein.
Im Herzen eines Menschen liegt also der Lebensschlüssel des Menschen, von dessen Zustand der Zustand des Menschenlebens insgesamt vollkommen abhängt. Der Prophet Muhammad sagt dazu: „Wahrhaftig! Es gibt ein Organ im menschlichen Körper, wenn dieses verdirbt, verdirbt demzufolge der ganze Körper.“235 Um das Herz vor der Verderbnis zu bewahren, empfiehlt uns der Koran in Sure 13:28, ständig an Gott zu denken (Gottesandacht zu halten, Sahih z. B. durch das Lesen seiner Heiligen Schriften), seine Nähe und seinen Beistand zu erbitten – denn so erlangen die Herzen ihre Zufriedenheit, die das Wohlergehen des Menschen seelisch und körperlich bewirkt. Der Begriff „Krankheit“ steht im Koran in Verbindung mit dem Herzen bzw. dem Charakter eines Menschen. In diesem Sinne kommt der Begriff „Krankheit“ zwölf Mal in Substantivform als eine Beschreibung der Heuchelei bzw. der Heuchler vor. So heißt es u.a. in Sure 2:10: „In ihren Herzen gibt es eine (selbst verschuldete) Krankheit, Gott ließ ihre Krankheit noch stärker werden.“ Als Herzkrankheiten werden in den islamischen Quellen u.a. folgende genannt: Hass, Neid, Härte, Gier, permanenter bzw. krankhafter Zweifel und Verzweiflung. Gegenmittel sind: Liebe, Zufriedenheit bzw. Bescheidenheit, Barmherzigkeit, Freizügigkeit, Selbstvertrauen und Vertrauen auf Gottes Beistand. Die islamische Weltanschauung betont ebenso und mit gleicher Vehemenz die 235 Sahih Al-Bukhari, Kapitel Al-Iman, Hadith Nr. 52.
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7 Mystik im Frühislam
Rolle des menschlichen Beistandes dem kranken Menschen gegenüber. Die Unterlassung einer möglichen Hilfeleistung für einen hilfsbedürftigen Menschen ist im Jenseits ebenso strafbar wie im Diesseits. Der Besuch eines kranken Menschen stellt eine religiöse Pflicht dar. In einem Heiligen Hadith (Hadith Qudsi), in dem Gott in Ich-Form spricht,236 lesen wir einen Dialog zwischen Gott und einem Menschen, der Rechenschaft ablegt. Dort sagt Gott dem Menschen u. a.: „Oh mein Diener! Ich war hungrig und du hast mir keine Speise angeboten.“ Da sagte der Mensch: „Oh mein Herr! Dir gehört doch alles, was auf der Erde und im Himmel ist.“ Da antwortete Gott: „Wusstest du doch nicht, dass ein Mensch in deiner Nähe hungrig war! Wahrlich! Wenn du ihm Speise gegeben hättest, hättest du diese gute Tat bei Mir gefunden. Oh, mein Diener! Ich war krank und du hast mich nicht besucht.“ Da entgegnete der Mensch: „Oh mein Herr! Wie kannst Du krank sein, wobei allein Du den Kranken die Genesung schenkst?“ Da antwortete Gott: „Wusstest du doch nicht, dass ein Mensch in deiner Nähe krank war und dabei hast du ihn nicht besucht! Wahrhaftig! Wenn du ihn besucht hättest, hättest du mich bei ihm vorgefunden.“
7.8 Exkurs
Heilpraktiken haben in vorchristlicher Zeit bei den alten Ägyptern einen beachtlichen Entwicklungsgrad erreicht. Im alten Griechenland hat die Heilkunde ihren Anfang genommen und wurde durch muslimische Mediziner zu einer systematisch aufgebauten Wissenschaft entwickelt, welche als gute Grundlage für die europäische Medizin bis ins 18. Jahrhundert gedient hat. Beispiele dafür wären Razis (9. Jahrhundert) mit seinem Werk „Al-Hawy“ („Das Sammelwerk“) und Avicenna (10. Jahrhundert) mit seinem Werk „Al-Qanun“ („Das Gesetz in der Medizin“) und seinem philosophischen Werk „Aschschifa’“ („Die Genesung“) und Ibn an-Nafis (13. Jahrhundert), Entdecker des kleinen Blutkreislaufs, was fälschlich einer Person mit dem Pseudonym Servitus (aufgedeckt 1924 an der Universität Freiburg) zugeschrieben wurde. Zu erwähnen wären auch ein muslimischer Mediziner und Medizinhistoriker namens Ibn ’Asaybiʿa und seine „Medizinische Enzyklopädie“ („tabaqat al-atibba’“). Dies sind nur wenige Beispiele für muslimische Mediziner höchsten Ranges. In seinem Sammelwerk „Die Geschichte der arabisch-islamischen Naturwissenschaften“237 236 Sahih Muslim, Hadith Nr. 2569. 237 Siehe Wiedemann, Eilhard (Hrsg.): Die Geschichte der arabisch-islamischen Naturwissenschaften, Frankfurt, Institut für Arabisch-Islamische Wissenschaften, 1983.
7.8 Exkurs
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schreibt der bekannte deutsche Naturwissenschaftshistoriker Wiedemann ausführlich darüber. Der Prophet Muhammad selbst zeigte großes Interesse an gesundheitsschonenden Maßnahmen, da in verschiedenen Koranversen sowie eigenen Überlieferungen die Unversehrtheit des Körpers und Geistes als eine religiöse Pflicht vorgeschrieben ist. Die Vorbeugemaßnahmen sollten beachtet werden, damit man später nicht gezwungen ist, Heilmaßnahmen gegen eine Krankheit zu ergreifen, die vermeidbar gewesen wäre (al-wiqaya khairun min al-ʿilaj). Solche und ähnliche themenrelevante Aussagen des Propheten wurden bereits im Mittelalter von einem muslimischen Gelehrten namens Ibn al-Jawzi gesammelt. In einem Werk unter dem Titel „Medizinische Aussagen des Propheten“ („At-tibb an-nabawy“) sind diese niedergeschrieben. Jede Religion markiert einen Weg der Heilung für eine bestimmte Glaubensgemeinschaft, und darin sind alle Religionen gleich. Verschieden sind nur die Wege – und dies ist auch gut so, da die Menschen selbst schließlich verschieden sind. Die Verschiedenheit der Menschen sowie die Verschiedenheit der religiösen Wege sind nach dem Koran gottgewollt (Sure 5:48). Unsere Aufgabe besteht daher darin, herauszufinden, wie wir unsere gottgewollte Verschiedenheit positiv und konstruktiv für die gesamte Menschheit einsetzen können. Dies ist die größte Herausforderung, der wir uns heute mehr denn je stellen müssen.
8 Der Beitrag der jüdischen Philosophen im Bereich des islamischen Denkens am Beispiel Maimunides 8.1 Vorwort
Dieses Kapitel wird sich ausschließlich mit dem jüdischen Einfluss auf das islamische Gedankengut befassen. Hier werden vor allem Bereiche der islamischen Wissenschaften, wie z. B. der Hadithwissenschaft, der Koranexegese und der Dogmatik, in denen ein erheblicher Einfluss des jüdischen Gedankengutes feststellbar ist, behandelt. Gerade diese drei genannten Religionswissenschaften stellen, meines Erachtens, die Quelle und die Rohmaterie des islamischen Philosophierens dar; sei es nun die reine Philosophie (Falsafa) oder die spekulative Theologie (Kalam). In der Hadithund Koranexegese nennt man den jüdischen Einfluss „Isra’iliyat“ (israelische Berichte). Im Bereich der Philosophie spricht man dagegen von jüdischer Philosophie. Nicht-authentische bzw. erfundene Hadithe (ahadith mawduʿa) spielten eine beachtliche Rolle, insbesondere bei einigen frühen Koranauslegungen, z. B. beim ersten großen Tafsir-Werk von Tabari (gest. 310 n. H.).238 Wie einflussreich die Isra’iliyat nicht nur im Bereich der Islamwissenschaften, sondern auch in der islamischen Theologie waren, kann man u.a. bei Muhammad Hussein Ad-Dahabi in seinem Buch „al-isra’iliyat fi t-tafsir wa l-hadith“239 ausführlich nachlesen. Abu Ishaq ath-Thaʿlabi soll nach der Meinung Adh-Dhahabis einer fanatischen Begeisterung für die israelitischen Berichte verfallen sein.240 Die erste kulturelle religiöse Berührung zwischen Juden und Muslimen fand bereits zur Zeit des Propheten Muhammads statt, da diese sich in unmittelbarer Nachbarschaft befanden. Der Prophet selbst traf sich oft mit Juden und Christen, um ihnen seine Religion zu erklären. Der Schrift zufolge sollen Juden gelegentlich den Propheten bei ihren internen Auseinandersetzungen um Rat gefragt und ihn auch in allgemeinen Angelegenheiten um seine Meinung gebeten haben. Vielleicht wollten sie ihn dadurch herausfordern und seinen Anspruch auf die Prophetie überprüfen. Der Koran selbst berichtet an verschiedenen Stellen über viele derartige Auseinandersetzungen, fügt adh-Dhahabi hinzu.241 238 JamiʿAl-Bayan fi Ta’will Al-Qur’an, Kairo, Dar Al-Maʿarif, 1952. 239 3. Aufl., Kairo, Wahba Verlag, 1986. 240 Ibd., S. 24. 241 Ibd., S. 5 u. 17 f.
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8 Der Beitrag der jüdischen Philosophen im Bereich des islamischen Denkens am Beispiel Maimunides
Später fanden ähnliche Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und muslimischen Gelehrten statt. Infolgedessen konvertierten einige jüdische Gelehrte zum Islam, wie z. B. ʿAbdallah Ibn Salam, ʿAbdallah Ibn Surya und Kaʿb al-Ahbar. Die islamische Literatur berichtet von einer zweckgebundenen Konvertierung zum Islam seitens einiger jüdischer Gelehrten. ʿAbdallah Ibn Saba’ und Abu ʿIsma Nuh Ibn Mariam sollen die unrühmlichsten Beispiele in dieser Hinsicht gewesen sein.242 Im Bereich der spekulativen Theologie sollen einige Konvertiten, wie Ibn al-Athir berichtet,243 eines der folgenschwersten theologische Probleme im islamischen Kalam ausgelöst haben. Es handelt sich hier um die umstrittene These „der Erschaffung des Koran“, welche die Muʿtaziliten vertraten, die in der Blütezeit ihrer politischen Macht unter den ʿAbbasiden Kalifen al-Maʾmun und al-Muʿtasim die sunnitischen Gelehrten zur Übernahme ihrer Meinung gezwungen haben sollen. In jene Zeit fällt die bekannte „Passion des Imam Ahmad Ibn Hanbal“ (241 n. H.) („Mihnat al-Imam Ibn Hanbal“), der diese These, nämlich „die Erschaffung des Korans“, konsequent ablehnte und dafür jahrelang Gefangenschaft und Misshandlung in Kauf nahm, bis ihn der Kalif al-Mutawakkil (245 n. H.) befreite. Das muʿtazilitische Bekenntnis zur menschlichen Willensfreiheit soll ebenfalls durch jüdischen Einfluss entstanden sein.244 ʿAbdallah Ibn Saba’ soll, nach ʿAbdalqahir al-Baghdadi, die Behauptung vertreten haben, dass der vierte Kalif ʿAli Ibn Abi Talib nicht ermordet worden sein soll, sondern, wie der Prophet Jesus, durch Gott in den Himmel aufgestiegen sei. Der Kalif ʿAli soll, nach dem Dogma der Saba’iya, vor dem Ende der Zeit wieder zur Erde hinabsteigen und sich an seinen Feinden rächen.245 Der jüdische Einfluss erreichte im Bereich der Hadithwissenschaft und Koranexegese, nach Einschätzung adh-Dhahabis, ein besorgniserregendes Ausmaß, insbesondere in der Zeitperiode der Folgegeneration (at-tabiʿun) und noch mehr in den darauf folgenden Generationen (ʿasr ma baʿda at-tabiʿun).246 Wieweit diese und ähnliche Einschätzungen des jüdischen Einflusses auf die islamische Gedankenwelt zutreffend sein können, hängt, meines Erachtens, von weiteren objektiveren Untersuchungen ab. Einige weitere Fragen sollen in diesem Zusammenhang zwangsläufig genauer und weniger dogmatisch untersucht werden: – Beschränkte sich die islamische Weltanschauung in diesem Prozess ausschließlich 242 Ibn Hischam: As-Sira An-Nabawiya, Hijazi (Hrsg.), Kairo o. D., Bd. 2, S. 104. 243 Al-Kamel fit-Tarikh, Bd. 7, Kairo, Al-Amiriya, o. D., S. 26. 244 Ibd. 245 Siehe Al-Bagdadi, ʿAbdalqahir: Kairo, Dar Al-Maʿarif, o. D., S. 223–224. 246 Ibd., S. 23.
8.2 Die jüdische Philosophie – Identität, Anfang und Nachwirkung
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auf die Empfängerrolle, oder handelte es sich dabei vielmehr um einen Akt gegenseitiger Beeinflussung? – In welcher Entwicklungsperiode überwog der jeweilige Einfluss dem anderen gegenüber? – In welchen kulturellen Bereichen ist der jeweilige fremde Einfluss besonders deutlich erkennbar?
8.2 Die jüdische Philosophie – Identität, Anfang und Nachwirkung
Eine reine jüdische Philosophie gibt es genauso wenig wie eine reine christliche oder islamische Philosophie. Wohl aber kann man von einer griechischen oder hellenistischen Philosophie sprechen. Denn sobald eine Philosophie ein religiöses Prädikat bekommt, verliert sie ihre gedankliche Unabhängigkeit. Sie unterliegt dann den Rahmenbedingungen bzw. den Glaubensprinzipien der jeweiligen Religion, durch welche sie prädikatisiert ist. Bernhard von Clairvaux sagt: Was soll mir die Philosophie? Meine Lehrer sind die Apostel. Sie haben mich nicht gelehrt, Plato zu lesen und die Spitzfindigkeiten von Aristoteles zu entwirren, immer zu lernen und nie zur Erkenntnis der Wahrheit zu kommen. Aber sie haben mich gelehrt zu leben; und glaubt Ihr, es sei etwas Geringes, zu leben wissen? Es ist das größte von allen.247
E. Rosenthal kommentiert: „In weiteren Kreisen des damaligen Judentums wurde die Philosophie als etwas dem Judentum Wesensfremdes gesehen und die Beschäftigung mit ihr als gefährliche Zeitvergeudung verdächtigt.“248 Judentum und Philosophie schließen sich, nach der oben genannten Ansicht von Clairvaux und dem Kommentar von E. Rosenthal, gegenseitig aus. Demzufolge gäbe es keine jüdische Philosophie, und das gleiche sollte auch für das Christentum und den Islam gelten. Haben Religionen tatsächlich mit der reinen Philosophie nichts gemeinsam? Ist Philosophie ausschließlich das Produkt der reinen Vernunft, und Religionen das der praktischen Vernunft, wie uns die Aussage von Clairvaux belehren möchte? Hat E. Rosenthal Recht, wenn er sagt: 247 Rosenthal, Erwin: Griechisches Erbe in der jüdischen Philosophie des Mittelalters, Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 1959, S. 11. 248 Ibd.
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Die zentrale Stellung der Schrift und ihre Erklärung bringt es mit sich, dass die Philosophie kein eigenständiges Gewächs im Judentum ist und dass sie auch in den Tochterreligionen Christentum und Islam keine voraussetzungslose Wissenschaft sein kann. Deshalb dürfte der Ausdruck „religiöse Philosophie“ oder „Religionsphilosophie“ berechtigt sein. Dann ergibt sich aber die natürliche Frage: Warum überhaupt jüdische Philosophie?249
Inwiefern aber die Bezeichnung zutrifft, dass die islamische Religion eine Tochterreligion des Judentums sei, wie dies in der oben genannten Aussage E. Rosenthals ohne Weiteres behauptet wird, bleibt dahingestellt. Religionen zeichnen bekanntlich einen bestimmten diesseitigen Weg vor, welcher sich auf eine jenseitige Anschauung anlehnt. Jenseitige Anschauungen sind rein metaphysischer Natur. Dies hat zur Folge, dass Religionen eine harmonische Einheit von Physik und Metaphysik darstellen. Eben in diesem Bereich lag, liegt und wird immer weiter liegen: die Aufgabe der Religionsphilosophen. Sie müssen die reine Vernunft mit der praktischen bzw. Urteilsvernunft in Einklang bringen. Philon von Alexandrien (gest. 50 n. Chr.) hat sich dieser Aufgabe gestellt und sie als erster monotheistischer Religionsphilosoph gemeistert. Zusätzliche Bedeutung bekommt das Gedankengut Philons zum einen dadurch, dass er der eigentliche Gründer des Neuplatonismus ist, und zum anderen dadurch, dass der vermeintliche Einfluss der jüdischen Philosophie auf die islamische Philosophie nur indirekt auf Philon zurückgeführt werden kann. Indirekt, weil dieser Pionier der frühen Religionsphilosophie durch einen anderen ägyptischen Philosophen aus Assyut, namens Plotin (gest. 270 n. Chr.), das islamische Gedankengut sowohl im Bereich der Religionsphilosophie als auch der spekulativen Theologie (ʿilm al-kalam) erreicht und beeinflusst hat. Doch bevor ich auf diesen großen jüdischen Religionsphilosophen im Einzelnen eingehe, wäre es angebracht, einen kurzen historischen Überblick über die gesamte jüdische Philosophie zu bieten.
8.3 Historischer Überblick
Der jüdischen Literatur250 kann man entnehmen, dass die jüdische Philosophie von Anfang an eine Religionsphilosophie war und auch geblieben ist. 249 Ibd., S. 16. 250 Siehe die entsprechende Stelle in: Schischkoff, Georg: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart, Kröner Verlag, 1974.
8.3 Historischer Überblick
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Die reine Bibelauslegung und die Sammlung der göttlichen Gesetze, in der Halacha (Rechtschnur) normiert und durch erbauliche Schriften zur Haggada (Erzählung, Belehrung) erweitert und später in den Talmud übernommen, wurde durch das Einströmen hellenistischen Gedankengutes ausgeweitet, das besonders die Philosophie der alexandrinischen Juden bestimmte. Philon war in dieser Periode eine führende Figur. Er vertrat eine jüdische Lehre im Gewand griechischer Philosophie. Nach dem Untergang des jüdischen Staates (70 n. Chr.) versuchte Rabbi Jochanan ben Sakkai die geistigen Besitztümer des Judentums zu bewahren. Die Schriften von Rabbi Ben Josef Akiba (50–137 n. Chr.) galten als Grundlage für die Mischna (Wiederholung). Der gesamte, in den ersten fünf nachchristlichen Jahrhunderten mündlich und schriftlich überlieferte religionsgesetzliche Stoff wurde im Talmud (Lehre) gesammelt. Um 761 n. Chr. gründete Hanan ben David die Sekte der Karaiten (Karäer), die sich geistig vom Talmud loslöste und verstandesmäßig zu philosophieren begann. Um dieselbe Zeit trifft die jüdische Philosophie mit der islamischen zusammen und lässt sich insbesondere von den Muʿtaziliten beeinflussen. Damit beginnt die Blütezeit der jüdischen Philosophie. Die damalige Entwicklung verlief in zwei Hauptrichtungen: – Eine orientalische in Babylon, an deren Spitze Saadja ben Josef (892–942 n. Chr.) stand, und – Eine okzidentale in Spanien, deren prominentester Denker der Neuplatoniker Bahja ben Josef (um 1050 n. Chr.) war. Weitere prominente Denker waren der ebenfalls Neuplatoniker Ibn Gabirol (1020–1069 n. Chr.); der Religionsphilosoph und größte Dichter der nachbiblischen Zeit Jehuda ha-Levi (1085–1145 n. Chr.); der größte jüdische Denker Musa Ibn Maimun (Maimunides, 1135–1204 n. Chr.); der Aristoteliker und Astronom Levi ben Gerson (Gersonides, 1238– 1340 n. Chr.) und schließlich Don Hasdai Crescas (1370–1412 n. Chr.), der als erster Europäer Aristoteles kritisierte und ein entschiedener Gegner des Rationalismus des Maimunides war. Der Hauptunterschied zwischen den beiden jüdischen Denkrichtungen, jene der Orientalen von Babylon einerseits und jene der Okzidentalen von Spanien andererseits, lag darin, dass die okzidentale an der Philosophie Aristoteles’ festhielt, die orientalische von Babylon sich dagegen zwischen aristotelischer und muʿtazilitischer Philosophie bewegte. Dass die orientalische Richtung in Babylon von der Muʿtazila beeinflusst war, liegt daran, dass die Muʿtazila in dieser Region (Basra und Bagdad) entstanden sind und dort ihre Zentren bis zum Schluss beibehalten haben. Im Westen des islamischen Reiches, nämlich in Andalusien, war dagegen die aristotelische Philosophie sehr stark
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vertreten, insbesondere durch Ibn Baga (gest. 545 n. H./1138 n. Chr.), Ibn Tufail (gest. 582 n. H./1185 n. Chr.) und schließlich Ibn Ruschd (gest. 595 n. H./1198 n. Chr.), dessen Zeitgenosse Ibn Maimun (gest. 589 n. H./1204 n. Chr.) war.
8.4 Schwerpunkte der jüdischen Philosophie
Bemerkenswert ist, dass sich die jüdische Philosophie mit den gleichen Themen wie die der islamischen Philosophie beschäftigt hat. Das ist verständlich, da die Urschrift der Thora mit dem Koran im Großen und Ganzen übereinstimmt. Beide Religionen sind streng monotheistisch und sehen ihre Hauptaufgabe darin, ihren reinen Monotheismus zu bewahren und gegen kontradiktorische Ansichten zu verteidigen. Die Rangordnung der Schwerpunkte ist bei diesen beiden Religionen ebenfalls fast gleich. Die Einheit Gottes genießt demzufolge das größte Interesse. Diese Tatsache erklärt die oben erwähnte Nähe der jüdischen Philosophie zu der muʿtazilitischen Weltanschauung. Die Existenz Gottes pflegten die sogenannten östlichen Philosophen und Bahya durch den im Islam bekannten ontologischen Beweis (die Schöpfung ist, folglich ist ein Schöpfer) zu beweisen. Die sogenannten westlichen Philosophen bevorzugten dagegen den aristotelischen Beweis vom ersten unbewegten Beweger. Jehuda ha-Levi, einer der östlichen jüdischen Philosophen, ist im Unterschied zur rationalistischen Richtung der Scholastik um den überintellektuellen Charakter der Offenbarung und die dem Herzen innewohnende Gottesgewissheit der Frommen bemüht, gestützt auf das Faktum der historischen Offenbarung. Die Einheit Gottes ist nach Saadja und seiner Schule bereits im Begriff des Schöpfers gegeben, während Maimunides und sein Kreis mit dem Begriff des unbewegten Bewegers und der Weltharmonie argumentieren. Das Problem der Eigenschaften Gottes löste eine ausgedehnte Diskussion aus, in deren Mittelpunkt die Unbegreiflichkeit Gottes stand. Trotzdem bemühte man sich, einige Aussagen über Gott zu machen. Sa’adja nennt Gott den Einen, den Lebendigen, den Mächtigen und den Weisen. Bahya nennt Gott den Einen, den Daseienden und den Ewigen. Ibn Dawud fügt die Eigenschaften „wahr“ und „wollend“ hinzu. Da aber alle Eigenschaften im Grunde mit der absoluten Einheit Gottes unvereinbar sind bzw. sie infrage stellen würden, legte Bahya fest, der Inhalt jener Begriffe sei negativ zu definieren im Sinne von „nicht unwahr und nicht unwollend“. Dieser Auffassung schlossen sich andere Philosophen an, Gerson und Crescas folgten ihr mit einigen Vorbehalten.251 251 Ibd. Vergleiche Kaufmann, David: Geschichte der Attributenlehre in der jüdischen Religionsphilosophie, Philo Press, 1967.
8.4 Schwerpunkte der jüdischen Philosophie
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Hier ist der muʿtazilitische Einfluss unverkennbar, da besonders die Früh muʿtaziliten, u.a. Abu l-Hudhail al-ʿAllaf (gest. 227 n. H./845 n. Chr.) und Ibrahim Ibn Saiyar an-Nazzam (gest. 235 n. H./853 n. Chr.), diese Art des indirekten Beweises, d. h. die Bestätigung einer Eigenschaft durch die Negation ihres Gegenteils, verwendet haben. Die Bestätigung der Eigenschaft „wissend“ durch die Negation der Ignoranz, die Bestätigung der Eigenschaft „mächtig“ durch die Negation der Ohnmacht. Diese Methode löste unter den islamischen Philosophen und Theologen ebenfalls eine sehr heftige Diskussion aus, insbesondere zwischen den Muʿtaziliten und den Aschʿariten. Unter den Muʿtaziliten selbst war diese Beweismethode nicht minder umstritten. Die Welt besteht nach der jüdischen Weltanschauung durch die Beziehung zwischen Materie und Form nach dem aristotelischen Muster. Die Begriffe der Hyle, die vier Elemente (Feuer, Luft, Wasser und Erde), ebenso die Teilung des Alls in eine obere Welt der Sphären und eine untere sublunarische, waren ebenfalls ein Bestandteil der jüdischen Philosophie. Sa’adja vertrat eine stufenförmige Erschaffungstheorie der Welt durch Gott aus dem Nichts. Dieser Prozess verlief, nach seiner Ansicht, folgendermaßen: Als Erstes gab es Luft, die aus Hyle (Materie) und Form bestand, daraus entstanden dann die vier Elemente, die Engel, die Sterne und die Sphären. Ibn Dawud, Maimunides und Gerson vertraten die Auffassung, dass aus der prima causa ein geistiges Wesen hervorging und aus diesem entstanden weitere neue Wesen, deren Zahl der Anzahl der Sphären entsprach. Ibn Gabirol und Gerson behaupten, die Existenz der Materie sei ewig und demzufolge sei die Schöpfung nichts anders als die Ausstattung der Materie mit Form und Leben. Die Vorsehung Gottes wird aus der Beständigkeit der natürlichen Ordnung abgeleitet. Trotzdem werden Wunder, d. h. Unterbrechungen dieser Ordnung, für möglich gehalten. Hier ist wieder muʿtazilitischer, aber auch aschʿaritischer Einfluss erkennbar. Das sogenannte Gewohnheitsprinzip (magra al-ʿada) soll, nach spätmuʿtazilitischer und aschʿaritischer Auffassung, die Allmacht Gottes vor dem Automatismus des Kausalprinzips schützen.252 Für Maimunides ist die Vorsehung auch eine menschliche Eigenschaft, die mit dem menschlichen Verstand zusammenhängt. Das Verhältnis zwischen der göttlichen Vorsehung und der menschlichen Willens- und Wahlfreiheit ist problematisch. Dieses Verhältnis könnte auch als eine Einschränkung der menschlichen Willensfreiheit durch das göttliche Wissen bzw. Gottes Vorsehung verstanden werden. Sa’adja sagt dazu: „Gottes Wissen sei lediglich wie ein Blick in den Spiegel der Zukunft, von dem die menschliche Handlung nicht beeinflusst werden kann.“253 252 Siehe u. a. ʿAbdal-Jabbar, Al-Qadi: Al-Mughni fi Abwab at-Tawhid wal-ʿAdl, Kairo 1964. 253 Spiegler, S. J.: Geschichte der Philosophie des Judentums, 1971; Schischkoff, Georg: Philosophisches Wörterbuch, Art. „Jüdische Philosophie“, Stuttgart, Kröner Verlag, 1974.
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Maimunides drückt sich viel deutlicher aus; er sagt: „Gottes Wissen sei vom menschlichen Wissen so verschieden, dass Gott den Verlauf der Dinge kennt, ohne die Willensfreiheit der Menschen dadurch einzuschränken.“254 Ibn Dawud und Gerson vertreten eine sehr merkwürdige Auffassung in Bezug auf das göttliche Wissen und stehen damit in der jüdischen Philosophie allein. Sie beschränken nämlich Gottes Wissen auf das, was den Menschen zur Wahl gestellt wird. Crescas vertritt eine ziemlich skeptische Meinung über die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und kommt damit der aschʿaritischen Auffassung sehr nahe. Demnach weiß der Mensch nichts von der wirklichen Situation, in der er sich befindet, deshalb wird von Gott nicht das Ergebnis seines Wählens, sondern die Art seiner Absicht, ob gute oder böse, bewertet. Hier könnte man eine Ähnlichkeit dieser Auffassung mit der aschʿaritischer Kasb-Theorie vermuten. Die Seele wird im Verlauf der fortgesetzten Schöpfung geschaffen. Diese Auffassung verrät einen Einfluss der aschʿaritischer These von der fortgesetzten und ständigen Schöpfung durch Gott (al-khalq al-mustamirr), durch welche das Kausalgesetz beseitigt werden sollte. Nach Saadja besteht die Seele aus einer feinen geistigen Substanz. Begehren, Fühlen und Denken sind ihre Hauptfunktionen. Maimunides fügt zwei weitere Funktionen der Seele hinzu: Einbildungskraft und Erkennen. In Bezug auf die Existenz der Seele vertritt Ibn Dawud die These von einer möglichen Präexistenz der Seele sowie ihrer Entwicklungsfähigkeit im irdischen Dasein. Alle jüdischen Denker halten die Seele für unsterblich. Nach Saadja und ha-Levi lebt die ganze Seele weiter. Nach Ansicht anderer Philosophen lebt nur der Verstand weiter. Die jüdische Ethik schließt sich im Allgemeinen der aristotelischen Lehre vom goldenen Mittelweg an, dessen Auffindung durch die Thora gewährleistet wird. Maimunides hält den Mittelweg für eine nur den Durchschnittsmenschen betreffende Norm. Der höherstehende Mensch muss den herausragend guten Weg beschreiten. Crescas meint, die Liebe zu Gott und der Wunsch, sie im Leben zu verwirklichen, seien die Grundlagen des menschlichen Verhaltens. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1498 n. Chr.) markiert einen Wendepunkt in der jüdischen Philosophie. Von nun an besteht sie hauptsächlich in der Sichtung und Kommentierung des bis dahin erarbeiteten philosophischen und theologischen Gedankengutes.255 Inwieweit diese passive Entwicklung mit der ebenso passiven Entwicklung auf der islamischen Seite zusammenhängt, bedarf weiterer Untersuchungen. Unverkennbar ist die Tatsache, dass die Blütezeit der jüdischen 254 Ibd. 255 Ibd.
8.4 Schwerpunkte der jüdischen Philosophie
275
Philosophie parallel zu der der islamischen Philosophie verlief, und der Untergang der jüdischen Philosophie mit dem der islamischen zusammenfällt, als hätte die jüdische Philosophie ihre Antriebskraft von der islamischen erhalten. Dieser Abriss der Geschichte der jüdischen Philosophie macht uns eines sehr deutlich: nämlich, dass die jüdische Philosophie in ihrer Blütezeit und in fast allen ihren Denkbereichen sehr stark von der islamischen Philosophie und Theologie beeinflusst war und nicht umgekehrt. E. Rosenthal bestätigt diese Ansicht in der Einleitung seines oben erwähnten Buches „Griechisches Erbe in der jüdischen Philosophie des Mittelalters“ folgendermaßen: Die jüdische Religionsphilosophie ist im islamischen Kulturkreis, wie vorher im hellenistischen Bereich, unter dem direkten Einfluss der islamischen Theologie und Religionsphilosophie erwachsen und hat im islamischen Spanien ihre Glanzzeit erlebt. Die griechische und hellenistische Philosophie sind in arabischem Gewand in Übersetzung und Erläuterung ins Judentum eingeführt worden.256
Die Problematik der gegenseitigen Beeinflussung zwischen der jüdischen Philosophie einerseits und der islamischen Philosophie andererseits ist viel komplexer, als man zunächst annimmt. Denn die islamische Philosophie war bereits indirekt von der jüdischen Philosophie durch den großen jüdischen Philosophen Philon von Alexandrien beeinflusst. Dieser Einfluss auf die islamische Philosophie gelang durch den Neuplatonismus, dessen Gründer, meiner Ansicht nach, Philon und der endgültige Systematiker Plotin waren. Die meisten Schriften der Philosophiegeschichte betrachten Philon nicht als Gründer des Neuplatonismus, sondern vielmehr Plotin. Sie sprechen lediglich von Ähnlichkeiten zwischen den Weltanschauungen der beiden großen Philosophen.257 Wenn sich nun die jüdische Philosophie von der islamischen Philosophie im Mittelalter beeinflussen lässt, dann ist ihre jüdische Identität keineswegs in Gefahr. Vielmehr hätte sie einen Teil ihrer Wurzeln wiederentdeckt. Diese Annahme lässt sich durch eine genaue Betrachtung der neuplatonischen Philosophie, insbesondere ihres Gründers Philon von Alexandrien und ihres Systematikers Plotin, stärken. Der große hellenistische jüdische Denker Philon war, meines Erachtens, der erste, der die Bezeichnung Religionsphilosoph verdiente. Er versuchte als erster Vertreter 256 Ibd., S. 11, Fußnote 8. 257 Störig, H. J.: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Bd. 1, 11. Aufl., Frankfurt/Main, Fischer Verlag, 1976, S. 204–206.
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der ersten Offenbarungsreligion, des Judentums, die Weltanschauung seines Glaubens mit der griechischen Philosophie in Einklang zu bringen. Einerseits war er fest davon überzeugt, dass Platon, Aristoteles und die Stoiker philosophische Wahrheiten gefunden hatten. Andererseits war er noch mehr davon überzeugt, dass die jüdischen Heiligen Schriften die Wahrheit beinhalten. Die Unstimmigkeiten zwischen manchen Glaubensprinzipien und den entsprechenden philosophischen Prinzipien veranlassten ihn, nach einem Mittelweg zu suchen. Diesen Mittelweg fand er durch die Überzeugung, dass die Heiligen Schriften schon früh in die griechische Sprache übersetzt wurden und dadurch die griechische Philosophie beeinflusst haben. Der scheinbare Widerspruch ist demzufolge kein echter Widerspruch und kann daher überbrückt werden. Wir werden diese Überzeugung, insbesondere bei Al-Farabi (gest. 339 n. H./953 n. Chr.) in seinem Buch „At-tawfiq baina ra’yay al-hakimain“ („Die Übereinstimmung der Meinungen der beiden Philosophen)“ und viel später bei Ibn Ruschd (gest. 595 n. H./1198 n. Chr.) in „Fasl al-maqal fima naina al-hikmat wa schschariʿa min ittisal“, und noch später bei Ibn Taimiya (gest. 728 n. H./1328 n. Chr.) in „Dar’ at-taʿarud baina al-ʿaql wa n-naql“, aber auch bei den Muʿtaziliten wieder finden. Philon musste aber dazu eine neue Art der Bibelinterpretation finden. Er fand sie in der symbolischen bzw. allegorischen Interpretation einiger biblischer Aussagen.258 Könnte diese Art nicht mit der der muʿtazilitischen Ta’wil vergleichbar sein? Selbstverständlich darf nicht jede adäquate Einstellung als eine Übernahme des Vorausgegangenen durch das Spätere verstanden werden. Aber es ist auf jeden Fall für die Forschung sehr wichtig, auf Parallelen in den verschiedenen Kulturkreisen und geistigen Entwicklungsstufen hinzuweisen. Neben der griechischen Philosophie und der allegorischen Ausbeutung der Heiligen Schrift entdeckt Philon eine dritte und zugleich für ihn die wichtigste Erkenntnisquelle: die göttliche Erleuchtung. Man stößt hier wieder auf Parallelen zum islamischen Gedankengut, wie etwa zur Lichttheorie bei Abu Hamid al-Ghazali (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.).259 Philon hat eine vom Alten Testament abweichende Gottesvorstellung. Gott ist für die menschliche Wahrnehmung unerreichbar. Er ist damit allen menschlichen Erkenntnismöglichkeiten verschlossen. Gott bedient sich zur Ausführung seines Willens gegenüber der Materie körperlicher Kräfte, die mit ihrem wahren Namen die Ideen heißen. Hier ist der Anschluss an die platonische Ideentheorie unverkennbar.260 258 Badawi, Abdarrahman: Kharif A-Fikr Al-Yunani, Kairo, An-Nahda Verlag, 1959, S. 91. 259 Siehe Mischkat Al-Anwar, Damaskus 1986. 260 Grundriss der Geschichte der Philosophie, Berlin 1930, S. 16; Störig, H. J.: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, s. o., S. 203.
8.4 Schwerpunkte der jüdischen Philosophie
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Der Logos ist nach Philon die weltverwaltende Vernunft. Er ist nicht mit Gott identisch, sondern er kommt an die zweite Stelle nach Gott und wird von Philon „Gottes Sohn“ genannt. Ihm wird eine Fürsprecher- und Vermittlerrolle zwischen Gott und den Menschen zugeschrieben.261 Die Gotteseigenschaft „unendlich“ erfährt, nach ʿAbdarrahman Badawi, eine essentielle Aufwertung bei Philon. Zum ersten Mal wird dem „Unendlichen“ ein höherer Rang als dem „Endlichen“ eingeräumt. In der griechischen Philosophie war es umgekehrt. Die einzigen positiven Eigenschaften, die Philon Gott zuschreibt, sind: Das Dasein, das Höchstgute und die Allmacht. Alle anderen Eigenschaften können ihm nur durch die Negation ihrer Gegensätze zugeschrieben werden, denn alle positiven Eigenschaften entsprechen den menschlichen Vorstellungen, und gerade dies darf nicht auf Gott übertragen werden. Man könnte bestenfalls von einem die menschliche Vorstellung übersteigenden Grad einer positiven Eigenschaft in Bezug auf Gott sprechen.262 Was war Philon eigentlich? War er ein Theologe oder ein Philosoph oder beides? Philon vertrat eine allegorische Interpretation der Heiligen Schriften sowie in Bezug auf andere Thesen, die unter den jüdischen Denkern umstritten waren, insbesondere bei der Definition der platonischen Ideen, die er mal als geistige Personen bzw. Engel und mal als bloße Gedanken und Handlungsmittel Gottes ansieht. Der Logos ist, nach Philon, nichts anderes als die Summe der letztgenannten Gegenstände, nämlich die Engel, die Gedanken und die Handlungsmittel Gottes. Die göttliche Intelligenz ist für ihn mal eine geistige Person und mal Gottes Sohn von der jungfräulichen Weisheit. Fest steht aber, dass er auch unter jüdischen Gelehrten ein sehr umstrittener Denker war. Manche seiner Glaubensbrüder und Gelehrten warfen ihm wegen seiner Logos-Interpretation Ketzerei und den Abfall vom Glauben vor.263 Die Selbstverständlichkeit, die insbesondere bei den hellenistischen jüdischen Intellektuellen von Alexandrien herrschte, nämlich dass die griechischen Philosophen ihre Weisheiten aus der griechischen Übersetzung der jüdischen Heiligen Schriften geschöpft hätten, weist G. Sarton in seinem Buch „The History of Science“ entschieden zurück. In diesem Buch stellt er die Hintergründe dieser weit verbreiteten, seiner Meinung nach falschen Behauptung ausführlich dar.264 Darauf einzugehen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 261 Zeller, E.: Grundriss der Geschichte der griechischen Philosophie, Leipzig 1920, S. 22. 262 Ibd., S. 93, Anm. 17. 263 Durant, W.: Tarikh Al-Hadara (Originaltitel: The History oft he Civilization), Bd. 11., Kairo 1964, S. 104. 264 Saraton, G.: Tarikh Al-ʿIlm (Originaltitel: The History of Science), Bd. 5, 2. Aufl., Kairo, Al-Markaz Al-Qawmi Lit-Tarjama 1978, S. 59 ff.
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Der Oberägypter Plotin (204–270 n. Chr.) war der Brückenbauer zwischen der griechisch-hellenistischen Philosophie, die mit Philon ihren Höhepunkt erreichte, und der islamischen Philosophie mit ihrem Höhepunkt bei Ibn Ruschd. Die metaphysischen Probleme, die Philon nicht lösen konnte, haben bei Plotin eine systematische Erklärung gefunden. Fragen, wie die Art und Weise eines lückenlosen Entstehungsvorgangs der Materie aus dem ersten Geist oder Intellekt bzw. der Welt von Gott, konnte Philon nur durch undeutliche Aussagen entweder über den Logos oder über die Ideen oder die Engel beantworten. Der Logos wird bei ihm mal als Teil des göttlichen Wesens, als eine souveräne Person oder als Gottessohn und wiederum an anderer Stelle als Gottestatkraft dargestellt. Die Diskrepanz zwischen Materie einerseits und Form andererseits konnte auch nicht durch Philon restlos ausgeräumt werden. Auch der von Philon entdeckte mystische Weg der Erkenntnis, die Erleuchtung, fand keine weitere Klärung. Wie und unter welchen Umständen kann diese beispielsweise genau erreicht werden? Ungeklärt ist ebenfalls die Frage geblieben, wie es um Gott genau bestellt sei. Ist er eine Person, wie es die jüdische Tradition erahnen lässt, oder ist er ein abstraktes, lediglich durch Negationen beschreibbares Wesen? Doch hat die Philosophie Philon den ersten ernsthaften philosophischen Versuch zu verdanken, die erste monotheistische Religion und das frühere rein intellektuelle philosophische Denksystem in gewissem Umfang in Einklang zu bringen und damit den Weg zu einer weiteren Entwicklungsphase des religiösen Philosophierens zu ebnen.265 Plotins platonische Philosophie wurde nur deswegen zum Neuplatonismus, auch Plotinismus genannt, weil diese erst durch ihn die Gestalt eines eigenständigen philosophischen Charakters erlangte. Gott wird bei Plotin, etwas präziser als bei Philon, durch genaue übermenschliche bzw. transzendente Eigenschaften beschrieben. Er ist das Eine, das Erste, das Ewige, das Höchste, das Gute, das Absolutgute. Er ist jenseits aller Gegensätze und aller Fassbarkeit. Anders als es bei Philon der Fall ist, würde die Würde und das Wesen Gottes nicht berührt, wenn er mit der Materie in unmittelbare Berührung träte. Die Welt kann, nach Plotin, nicht durch einen Willensakt Gottes geschaffen sein, denn er ist in sich vollendet und ruhend. Das höchste Wesen, Gott, strömt gleichsam über und seine Überfülle erschafft das andere. Wie die Sonne Wärme ausstrahlt, ohne dadurch von ihrer Substanz etwas zu verlieren, so strahlt das höchste Wesen, gleichsam als Abglanz oder Schatten seiner selbst, allesbestehende aus.266 265 Siehe Kharif Al-Fikr Al-Younani, Badawi: ʿAbdarrahman, s. o., S. 109–111. 266 Siehe Kleine Weltgeschichte der Philosophie, s. o., Bd. 1, S. 205.
8.5 Widerhall Plotins in der islamischen Philosophie
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8.5 Widerhall Plotins in der islamischen Philosophie
Hier haben wir es mit der auch in der islamischen Philosophie bekannten Emanationstheorie (as-sudur wa l-faid) zu tun, die ursprünglich von Platon entwickelt wurde und dann über Philon und Plotin in die islamische Mystik einging. Emanation ist mit einer anderen Theorie verbunden, nämlich jener des Pantheismus (wihdat alwgud), der in der deutschen Literatur als Vorläufer des Atheismus angesehen wird.267 Ibn ʿArabi (gest. 638 n. H./1240 n. Chr.) ist der prominenteste Vertreter des transzendenten mystischen Pantheismus. Doch davor fand diese Theorie ihren Weg durch Abu Yusuf Yaʿqub Ibn Ishaq AlKindi (gest. 260 n. H./873 n. Chr.) in die islamische Philosophie. Er war der erste arabische islamische Philosoph, der viele Bücher aus dem griechischen übersetzte und viele theologische Bücher verfasste. In diesen hat er die muʿtazilitische Denkrichtung vertreten. Schicksalhaft für die Philosophiegeschichte war seine Übersetzung eines Buches mit dem angeblichen Titel „Theologie des Aristoteles“ („Ar-rububiya“), über welches er, wie später Abu Nasr Al-Farabi (339 n. H./953 n. Chr.), die Versöhnung zwischen der aristotelischen einerseits und der platonischen Philosophie andererseits einleiten wollte. Al-Farabi schrieb sein oben genanntes Buch zu diesem Zwecke. Es handelt sich bei diesem Buch jedoch um ein pseudo-aristotelisches Werk. In Wirklichkeit stellt dieses Buch eine der Enneaden Plotins268 dar. Der Einfluss des Neuplatonismus auf Al-Farabi ging viel weiter. Seine Vorstellung von der Welt gründet auf der sogenannten „Zehn-Intelligenzen-Theorie“ („Al-ʿuqul al-ʿaschra“), ein Gemisch aus platonischen und aristotelischen Gedanken, die er als Himmelsengel angesehen hat. Aus aristotelischem Gedankengut entstand die Vorstellung, dass die Form ehrenvoller sei als die Materie, die Seele sei die Form des lebendigen Körpers, der Verstand sei die vollkommene Funktion der Seele. Von Platon übernahm er die Auffassung, dass die Welt mit einem Lebewesen vergleichbar sei. Die Vernunft ist demnach der vollkommene Gegenstand, danach folgt die Seele oder der Geist dieser Welt, die Materie ist der niedrigste Gegenstand auf dieser Skala. Von Plotin übernahm er die Vorstellung, dass die Welt aus dem Einen Vollkommenen entstanden sei. Die Welt sei die Wirkung der göttlichen Emanation.269 Die Philosophie von Ibn Sina (gest. 428 n. H./1037 n. Chr.) ist zum größten Teil 267 Siehe Schischkoff, Georg: Philosophisches Wörterbuch, s. o., Art. „Pantheismus“. 268 Siehe Farraj, ʿAbduh: Maʿalem Al-Fikr Al-Falsafi fil-ʿUsur Aal-Wusta, 1. Aufl., Kairo 1969, S. 82 u. 89 ff. 269 Siehe ibd., S. 93 f.; Qasim, Mahmud: Nazariyat Al-Maʿrifa ʿinda Ibn Ruschd, 2. Aufl., Kairo, Anglo Verlag, 1969, S. 83 ff.
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als Kommentar zur Philosophie Al-Farabis anzusehen. Demzufolge übernahm Ibn Sina die Meinung seines Lehrers in Bezug auf die Gottheitsvorstellung, die Emanation, die Zehn-Intelligenzen, den menschlichen Verstand, die Universalien und die Prophetie.270 Ibn Ruschd (gest. 595 n. H./1198 n. Chr.) war, im Gegensatz zu einigen Behauptungen, verständlicherweise ein entschiedener Gegner des Emanationismus, da er sich als treuer Verfechter und Vervollständiger der aristotelischen Philosophie gesehen hat. Das Problem des Schöpfungsvorgangs war das am stärksten umstrittene Problem zwischen den beiden Schulen, der aristotelischen und der neuplatonischen. Die erste vertrat die These von der direkten Schöpfung und der unmittelbaren Verbindung zwischen einem geschaffenen Gegenstand und einem anderen, sprich, dem ununterbrochenen Schöpfungsvorgang. Beim Versuch, die Frage nach einer rationalen bzw. überzeugenden Erklärung dafür zu finden, wie das Viele aus dem Einen entstehen sollte, kommt Aristoteles auf eine geniale Idee. Diejenigen, die diese Frage stellen, gehen, so Ibn Ruschd, von einer diesseitigen menschlichen Vorstellung aus, wobei diese Vorstellung für das Jenseits (Metaphysik) nicht gelten kann. Durch die Unterscheidung zwischen dem, was für das Diesseits gilt und dem, was für das Jenseits gelten könnte, hat Ibn Ruschd nicht nur Aristoteles verteidigt, vielmehr hat der Schüler seinen Lehrer übertroffen. Ibn Ruschd hat alle diese metaphysischen Probleme in seinem relativ kleinen, aber umso wertvolleren Buch „Manahig al-adilla fi ’aqaʿid al-milla“, aber auch in „Tahafut at-tahafut“ in ausreichendem Maß behandelt.271
8.6 Maimunides – Ein Kind der islamischen Kultur?
Die bilaterale kulturelle Beziehung zwischen Juden und Muslimen im Mittelalter bietet noch immer viel Stoff für die kulturgeschichtliche Forschung. Vor allem sind jüdische Intellektuelle, jenseits der politischen und militärischen Eskalation, immer noch an der Erforschung der damaligen Verhältnisse rege interessiert. Vielleicht wäre es gerade aus diesem Grunde angebracht, diesen Abschnitt über einen der größten jüdischen Denker und Theologen, Musa Ibn Maimun (Maimunides 1135–1204 n. Chr.), oder wie er von den jüdischen Historikern mit dem ehrenvollen Titel „Rambam“ als Abkürzung für „Rabbi Moses Ben Rabbi Maimun“ bezeichnet wird, mit verschiedenen Zitaten aus der jüdischen Literatur zu beginnen.272 270 Siehe ausführlich Al-Ahwani, A. F.: Ibn Sina, 2. Aufl., Kairo, Dar Al-Maʿarif, o. D. 271 Siehe Qasim, Mahmud: Nazariat Al-Maʿrifa ʿinda Ibn Ruschd, s. o., S. 97 ff. 272 Siehe Katsh, Abraham I.: Judaism in Islam. Biblical and Talmudic Background of the Koran, New York, Uni. Press, 1954.
8.6 Maimunides – Ein Kind der islamischen Kultur?
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Eine positive Bilanz finden wir in einer umfassend angelegten wissenschaftlichen Studie von S. D. Goitein über die kulturelle Beziehung zwischen Juden und Muslimen im Mittelalter. Er schätzt die Lage der jüdischen Intellektuellen unter der islamischen politischen Herrschaft im Mittelalter folgendermaßen ein: Its dominant religion was Islam. Christians and Jews were therefore relegated to an inferior legal status, which made their position always degrading and often precarious. On the other hand this civilization was largely secular, so that non-Muslims could feel themselves to be equal heirs to a great cultural tradition273.
Weiter sagt er: „Therefore, Judaism could draw freely and copiously from Muslim civilization and, at the same time, preserve its independence and integrity far more completely than it was able to do in the modern world or in the Hellenistic society of Alexandria. “ Er bekräftigt seine vorherige Aussage: I emphasize this fact not because I believe that such an attitude should be adopted in our times, but simply as an indication that Judaism inside Islam was an autonomous culture sure of itself despite, and possibly because of, its intimate connection with its environment. Never has Judaism encountered such a close and fructuous symbiosis as that with the medieval civilization of Arab Islam.274
Wie die jüdischen Gelehrten im Mittelalter von der philologischen und terminologischen Entwicklung der arabischen Sprache in Palästina und Babylon beeinflusst waren, stellt Goitein folgendermaßen dar: The situation was quiet different with regard to Arabic. It was adapted by the Jews at a time when the Arabs had already developed a national literature and a religious terminology (a development to be sure, in which many Jewish converts had taken Part).275
In ihrem Beitrag zur jüdischen Hermeneutik konkretisiert Ester Seidel den Einfluss der islamischen Terminologie auf die jüdische Philologie anhand des talmudischen Begriffs „Peschat“, der einfach „Wortsinn“ bedeutet. Sie schreibt:
273 Jews and Arab, their Contacts through the Ages, Revised Edition, New York, 1974, S. 125. 274 Ibd., S. 130. 275 Ibd., S. 132.
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8 Der Beitrag der jüdischen Philosophen im Bereich des islamischen Denkens am Beispiel Maimunides
Unter dem Einfluss des Islams gewannen philologische, vor allem grammatikalische Aspekte der Interpretationen an Bedeutung und daneben auch philosophische und historische, so dass man „Peschat“ lieber als „kontextbezogen“ übersetzen sollte. Das heißt als eine Methode, die neben den genannten Kenntnissen der Sprache auch eine Kenntnis der Logik erforderte und mehr den Intellekt ansprach als die Methode des „Darasch“, der vor allem Einbildungskraft erforderte.276.
In dieser kulturfördernden, toleranten Umwelt konnten Juden, Christen und Muslime ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten entfalten und gemeinsam hervorragende Denker hervorbringen. Maimunides ist einer der markantesten jüdischen Theologen und Denker der damaligen Zeit. Er war ein Kind, Schüler und Lehrer der jüdisch islamisierten arabischen Tradition. Sein bekanntestes Werk, das er in arabischer Sprache und hebräischer Schrift verfasst hat, heißt „Dalalt al-ha’irin“ („Der Führer der Unschlüssigen“). Dieses Buch besteht aus drei Kapiteln, das erste Kapitel hat 76 Abschnitte, das zweite 48 und das dritte Kapitel 54 Abschnitte. Ibn Maimun hat sein Buch nicht konsequent nach Themen eingeteilt. Trotzdem kann man in etwa sagen, dass er sich in dem ersten Kapitel mit allgemeinen religiösen Gedanken, Geschichten und einigen spekulativen Fragen befasste. Im zweiten Kapitel behandelte er religionsphilosophische Themen. Und im dritten Kapitel bespricht er schließlich überwiegend theologisch juristische Fragen.277 Die wichtigste und bekannteste Abhandlung über Maimunides schrieb Israel Wolfsohn zum achthundertsten Jubiläum des Maimunides im Jahre 1935 in arabischer Sprache unter dem Titel: „Musa Ibn Maimun, sein Leben und seine Schriften“278. Muhammad Ibn Abu Bakr at-Tabrizi (Mitte des 7./13. Jahrhunderts), ein muslimischer Schüler des Ibn Maimun, kommentierte die 25 Vorsätze (muqaddimat) seines Lehrers, durch welche Ibn Maimun die Existenz Gottes zu beweisen versuchte. Diese 25 Vorsätze bzw. Beweise sind Inhalt deszweiten Kapitels des „Dalalat al-ha’irin“. Diesen Kommentar hat Scheich Muhammad Zahid al-Kawthari veröffentlicht.279 Das zweitwichtigste Werk von Ibn Maimun ist das „Mishneh Torah“, was so viel wie „Das zweite Buch nach der Thora“ bedeutet. Durch diesen anmaßenden Buchtitel wurde Ibn Maimun von vielen frommen Juden angefeindet. Der Buchtitel könnte aber auch „Die Thora-Lehre“ bedeuten, was bescheidener und versöhnlicher klingt als die erste Definition. 276 Zur jüdischen Hermeneutik, in: GIG, Bd. 7, 2002, S. 107. 277 Herausgegeben und ins Arabische übersetzt mit einer arabischen und türkischen Einleitung von Atai, Hussein, Kairo und Türkei, At-Thaqafa Ad-Diniya Verlag, o. D. 278 Lajnat At-Ta’lif wat-Tarjama, Kairo, 1936. 279 Kairo, Matbaʿat As-Saʿada Verlag, 1269 n.H/1869 n. Chr.
8.6 Maimunides – Ein Kind der islamischen Kultur?
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Die Literatur gibt vier weitere, weniger bekannte Werke von Ibn Maimun an: – „Über das Handwerk der Logik“, Original in Arabisch: „Maqala fi sinaʿat al-mantiq“. Dieses Buch wurde von Ibn Tabbun in die hebräische Sprache übersetzt. Auch eine türkische Übersetzung dieses Buches wurde 1951 in Leiden veröffentlicht. – „Kitab as-Sirag – Der Leuchter“. Dieses Buch wurde ebenfalls in mehrere Sprachen übersetzt. – „Risala ila al-amann“ verfasste Ibn Maimun in Arabisch für die Jemeniten. – „Maqala ʿan al-baʿth“, das arabische Original in hebräischer Schrift wurde in New York 1952 und 1972 in Tel Aviv veröffentlicht.280 Die vorhandene Literatur erwähnt fast nur islamische Philosophen, durch welche er beeinflusst wurde. Spätere islamische Philosophen oder bekannte Gelehrte, welche von Ibn Maimun beeinflusst wurden, finden wir selten. In der Einleitung des „Dalalat al-ha’irin“ wird ein einziger islamischer Gelehrter als Schüler Ibn Maimuns erwähnt, nämlich Muhammad Ibn Abu Bakr at-Tabrizi, der Verfasser des Kommentars über die 25 Gottesbeweise von Ibn Maimun. Dagegen werden drei Personen als seine direkten Lehrer erwähnt, nämlich ein Schüler von Abu Bakr, Ibn as-Sa’igh, Ibn al-Aflah und Ibn Ruschd. Ibn Maimun selbst bestätigt sein Schülerverhältnis zu den ersten zwei Gelehrten. Ibn Ruschd wird aber in diesem Zusammenhang ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz ist der Einfluss von Ibn Ruschd auf Ibn Maimun unübersehbar, insbesondere in seinem größten Werk „Dalalat al-ha’irin“ und dessen Korrekturen, wie S. Pines anmerkt. Er selbst gibt in seiner Schrift aus dem Jahre 1191 zu, dass er alle Bücher von Ibn Ruschd, außer einem einzigen Buch über die Wahrnehmung „Al-hiss wa l-mahsus“, besitzt. Scheich Mustafa ʿAbdarraziq geht in seiner Einschätzung über Ibn Maimun so weit zu behaupten, dass Ibn Maimun ein islamischer Philosoph sei, weil sein islamischer kultureller Hintergrund sogar bei seinem Thora-Kommentar und seinem „Dalat al-ha’irin“ sowie bei seiner Kritik an manchen islamischen Theologen unverkennbar ist. Die Methodik seiner Gottesbeweise und seine Meinung in Bezug auf die Gotteseigenschaften durch die Negation haben ihre Wurzeln bei den Muʿtaziliten, Al-Farabi und Ibn Sina.281 Arthur Hyman bestätigt diese Einschätzung über Ibn Maimun. Er führt ein Zitat aus „Dalalat al-ha’irin“ an und kommentiert dazu: From Maimunides’ description, it should, however, not be inferred that medieval Jewish Philosophy was a branch of Islamic Philosophy. For just as Muslim philosophers made use 280 Siehe Einleitung in: Dalalat Al-Ha’irin, s. o., S. 23–24; 26–29. 281 Ibd.
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8 Der Beitrag der jüdischen Philosophen im Bereich des islamischen Denkens am Beispiel Maimunides
of the works of there Greek and Hellenistic predecessors (which they had in Arabic translations), adapting them to their needs, so Jewish Philosophers made use of the same works together with philosophic works of Muslims, adapting them to theirs.282
Weiter sagt er: „As Islamic Philosophers, so Jewish Philosophers may be classified under four headings: Mutakallimun, Neoplatonists, Aristotelians of various kinds, and critics of Aristotelian Philosophy“.283 Und zu dem direkten Einfluss der Muʿtazila auf die jüdischen Philosophen sagt Hyman: „Since the Muʿtazilites were primarily interested in solving scriptural problems, rather than developing an independent philosophy, their works had an eclectic complexion […] Ashʿarite Kalam was known to jewish Philosophers and is cited by them.“284 Alexander Broadie vertritt die gleiche Meinung über Maimunides. Er sagt: „Nevertheless Maimunides fits into the history of islamic philosophy, for he was steeped in islamic philosophy and was taken up and studied by later Islamic philosophers. “285 Für Friedrich Niewöhner ist Maimunides ein Aufklärer, ausgestattet mit einem eigenen Aufklärungsprogramm. Niewöhner skizziert das Aufklärungsprogramm in sechs Punkten wie folgt (von mir stark abgekürzt): – Maimunides war für Verständlichkeit, Klarheit und Einfachheit in der Interpretation der Thora, der fünf Bücher Moses. Darum ordnete er in seinem Buch der Gesetze alle sechshundertdreizehn Ge- und Verbote neu und kommentierte sie kurz. – Die Rationalität des Maimunides im „Führer der Unschlüssigen“ ist häufig hervorgehoben worden, sie findet sich aber auch in seinen anderen Werken, z. B. im Schlusskapitel der „Mischneh Torah“. – Die sogenannte negative Attributenlehre im „Führer der Unschlüssigen“ verbietet jede Art von Spekulation über die Person Gottes. – Maimunides lehrte und lebte eine intellektuelle Redlichkeit, und zwar in einer Radikalität, die selbst vor den Grundlehren des jüdischen Glaubens nicht haltmachte. – Maimunides war nicht nur ein Philosoph, sondern auch ein Mediziner und Astronom. Der Philosoph Maimunides gewann die Maßstäbe seines Denkens aus den Naturwissenschaften. – Im „Führer der Unschlüssigen“ beschreibt Maimunides in einem ganzen Block 282 Nars, Sayyed Hussein und Leaman, Oliver (Hrsg.): History of Islamic Philosophy, London, New York 2001, S. 678. 283 Ibd. 284 Ibd., S. 679. 285 Ibd., S. 725.
8.6 Maimunides – Ein Kind der islamischen Kultur?
285
von Kapiteln den Werdegang der frühen muslimischen Theologie und Philosophie. Noch im 20. Jahrhundert konnte man sagen, diese Kapitel seien die beste Darstellung des sich bildenden philosophischen Denkens der Muslime.286 Diese zusammenfassende Ausführung der bilateralen philosophischen Beziehung zwischen jüdischen und muslimischen Philosophen zeigt deutlich, dass beide monotheistischen Weltanschauungen von der griechischen Philosophie, insbesondere durch Platon und Aristoteles über Philon und Plotin, sehr stark beeinflusst waren. Philosophen aus beiden Kulturkreisen hatten die gleiche Aufgabe, die religiöse Wahrheit mit der rein rationalen in Einklang zu bringen. Der jüdische Philosoph Philon leistete die Pionierarbeit, Plotin systematisierte Philons Erbe. Die Muslime entwickelten neue Denkmethoden, durch welche sie die irrationalen Vorstellungen der Antike nahezu vollständig rationalisiert haben. Die reine Vernunft bekam durch die muslimischen Denker eine praktische und eine spekulative Dimension. Die islamische Philosophie versuchte die Unstimmigkeiten zwischen den beiden alten weisen Männern, Platon und Aristoteles, zu überbrücken. Al-Kindi und Al-Farabi waren die ersten, die dieses Unterfangen auf sich genommen haben. Die griechische Philosophie lebte im Islam erneut auf und erlebte einen neuen Aufschwung durch die Analyse und Kritik durch Abu Hamid al-Ghazali und später Ibn Taimiya. Ibn Ruschd und sein Zeitgenosse Maimunides, der ihn sehr wahrscheinlich als einen Konkurrenten gesehen hat, kommentierten, kritisierten und „religiösierten“ Aristoteles, dann übergaben sie ihn Europa. Die europäische Renaissance wurde dank muslimischer und jüdischer Aufklärer im 13./14. Jahrhundert geboren. Es ist unmöglich mit absoluter Sicherheit festzustellen, wer wen im islamischen Kulturkreis beeinflusst hat. Die Denker aller großen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, lebten und wirkten zusammen und sind Kinder derselben Mutter. Gerade Judentum und Islam haben ein eindeutiges Glaubensbekenntnis, nämlich dass der Monotheismus in den beiden Religionen klar definiert und verbindlich klar konzipiert ist. Dennoch können wir nicht von einem besonders starken Einfluss des großen jüdischen Philosoph Maimunides auf die islamische Philosophie in seiner Zeit sprechen.
286 In: Das Licht der Vernunft. Die Aufklärung der Aufklärung im Mittelalter, München, Beck Verlag, 2001, S. 19–23
9 Interkulturelle Erziehung als eine religionspädagogische Herausforderung 9.1 Einleitender historischer Überblick
In diesem Beitrag geht es hauptsächlich um einen Versuch, das Vorfeld einer möglichen Pädagogik zu beleuchten, welche eine interkulturelle Erziehung der muslimischen Jugend fördert. Die erste Frage wäre, ob die islamische Literatur diesbezüglich Elemente oder Richtlinien aufweisen kann. Die zweite Frage wäre, ob diese Elemente, falls es sie gibt, entwicklungsfähig sind, und die dritte Frage wäre schließlich, wie diese Entwicklung konkret in einem authentisch-islamischen pädagogischen Konzept umzusetzen ist. Der Koran liefert in zahlreichen Versen eine ethische Grundlage und einen allgemeinen Rahmen für eine authentische und entwicklungsfähige islamische Pädagogik. Dies gilt insbesondere für die verbindlichen Anweisungen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen von den Eltern zu ihren Kindern sowie dem vorbildlichen Verhalten der Kinder gegenüber ihren Eltern, so beispielsweise die ethischen Ratschläge des Propheten Lukman zu seinem Sohn in Sure 31:13–19. Eine ethische bereichsübergreifende Konzeption finden wir zusammengefasst in Sure 17:23–39, wo die Beziehungen Mensch/Gott, Mensch/Eltern, Mensch/zu sich selbst und Mensch/Mensch angesprochen werden.287 In einer Überlieferung, die einige muslimische Gelehrte auf den Propheten Muhammad und andere, zu denen ich zähle, eher auf seinen Vetter Ali Ibn Abi Talib zurückführen, befindet sich das erste Rohkonzept für eine authentisch islamische Pädagogik. In einem seiner diesbezüglichen zahlreichen Hadithe (Überlieferungen), in denen es um die Erziehung eines Kindes geht, sagt der Prophet Folgendes: „Verwöhne es sieben Jahre, dann erziehe es weitere sieben Jahre, danach befreunde dich mit ihm noch sieben Jahre, und danach lege ihm seine Zügel auf den Rücken, d. h. gewähre ihm seine Freiheit.“ Die Umsetzung dieser Überlieferung im Kontext der damaligen sozialen Gegebenheiten soll uns zu deren Überprüfung motivieren, ob und inwieweit sie heute konstruktiv umgesetzt werden könnte. Die spätere Literatur vom 2. bis zum 8. Jh. n. H./14. n. Chr. enthält einige praktische Beispiele dafür, insbesondere die des Unterrichtscharakters der großen islamischen Gelehrten. 287 Mehr dazu u. a. in Sure al-Aʿ raf 7:199, al-Isra 17:24 u. 37, Mariam 19:42–45 und al-Furqan 25:63.
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9 Interkulturelle Erziehung als eine religionspädagogische Herausforderung
Vier Bücher seien als Beispiele in diesem Zusammenhang genannt, in denen einige fachdidaktische Rahmenbedingungen des Unterrichts ausführlich geschildert werden: – „Akhlaq al-ʿulama’“ von Abu Bakr Al-Aadjiri (gest. 273 n. H./865 n. Chr.) – „Ayyuha al-walad“ von Abu Hamid Muhammad al-Ghazali (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.) – „Tazkirat as-sami’ wa l-mutakallim fi’adaab al-ʿalim wa l-mutaʿallim“ von Ibn Djamaʿa al-Kinani (gest. 733 n. H./1333 n. Chr.) – „Muqaddimat Ibn Khaldun“, Prolégomènes des Ebn Khaldoun (gest. 808 n. H./1408 n. Chr.). Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte Refaʿa At-Tahtawi nach seiner Rückkehr aus Frankreich, das ägyptische Schulsystem zu reformieren: Mädchenschulen wurden parallel zu den Jungenschulen errichtet. Ende des 19. Jahrhunderts versuchte Imam Muhammad ʿAbduh (gest. 1905 n. Chr.) eine noch weiträumigere Reformation des Schulsystems in Ägypten unter Einschluss europäischer Pädagogik zu unternehmen, was ihm teilweise gelungen ist. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktizierte Hassan Al-Banna (gest. 1949), der Gründer der Muslimbruderschaft, eine noch effektivere Pädagogik, die nicht nur auf die theoretischen Kenntnisse, sondern u. a. auch auf Spiele und Gymnastik großen Wert legte. Diese Pädagogik geht von der Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen Körper und Seele aus. Nach der Unabhängigkeit Ägyptens von England (1952) hat Nasser die Schulpflicht für Jungen und Mädchen zum ersten Mal eingeführt. 9.1.2 Im Vorfeld der Problematik
Erziehung ist bekanntlich nicht allein die Aufgabe der Eltern und der Familie, sondern ebenso die der Schule. Auch wenn die oben erwähnte Überlieferung des Propheten Muhammad diese Aufgabe an erster Stelle den Eltern zuschreibt, könnte man sie, meines Erachtens, dennoch bei der schulischen Erziehung als Orientierungspfad einsetzen. Ist es denn jetzt nicht so, dass die in der oben genannten Überlieferung erwähnten drei Altersstufen der in der herkömmlichen Schulausbildung praktizierten Aufteilung in Grundschule, Gymnasium und Hochschule fast genau entsprechen? Gewiss bedarf dieses Rohkonzept mit Hilfe der heutigen modernen pädagogischen Errungenschaften weiterer Systematisierung, Klassifizierung und detaillierter Thematisierung, was für uns heute die Hauptaufgabe darstellen muss, um in absehbarer Zeit
9.1 Einleitender historischer Überblick
289
eine authentische islamische Pädagogik und eine sach- und fachorientierte islamische Didaktik für Lehrerausbildung bzw. ihre Fortbildung an den Hochschulen entwickeln zu können. Eine islamische Religionspädagogik sowie islamische Fachdidaktik werden seit etlichen Jahren an der Pädagogischen Fakultät der Al-Azhar-Universität in Kairo unterrichtet. In Ägypten allein gibt es um die 20 allgemein- und religionspädagogischen Fakultäten und Hochschulen. Eine Studie über die dort praktizierten Konzepte könnte für uns heute hilfreich sein. Dies darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie größtenteils von westlichen Theorien ausgehen und daher nicht kopierfähig sind. Ihr Erfolg wird auch weiterhin sehr bescheiden bleiben. Eine der größten Schwierigkeiten liegt darin, dass die meisten muslimischen Pädagogen im Westen ausgebildet sind und damit den muslimischen Studierenden keine authentische islamische Pädagogik vermitteln können. Ein islamisches Grundstudium, ergänzt durch eine interkulturelle pädagogische Fortbildung, böte eventuell die ideale Lösung bei der Ausbildung von Islamlehrern, nicht nur in Europa, sondern ebenso in den islamischen Ländern. Eine gesunde Mischung zwischen der westlichen Pädagogik auf der einen Seite und der sich noch in der Entstehungsphase befindenden islamischen Pädagogik auf der anderen Seite könnte eine geeignete Grundlage für den diesbezüglichen Lehrplan darstellen, bis eine bessere pädagogische Konzeption ausgereift ist. Wir müssen uns also um die Entwicklung einer kultur- und traditionsgerechten Pädagogik für die europäischen Muslime bemühen, welche die unterschiedlichen Traditionen und gesellschaftlichen Gegebenheiten unbedingt berücksichtigt. Einen Versuch auf diesem Weg stellt die Islamische Religionspädagogische Akademie in Wien (IRPA) dar, auf die ich später zu sprechen kommen werde. Vor einem solchen Versuch müssen wir die religiösen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten unvoreingenommen analysieren, damit ein konkretes Gesamtkonzept für eine effektive interkulturelle Erziehung entwickelt werden kann, das die unterschiedlichen Selbstverständnisse der Muslime und der Europäer berücksichtigt und somit für beide Gültigkeit hat. Interkulturelle Erziehung ist nicht ausschließlich ein Planungsproblem der Pädagogik oder der Erziehungswissenschaft als solche, sondern sie ist in erster Linie ein gesellschaftliches Problem. Das heißt, es ist ein Teil, wenn nicht der wesentliche Teil des Integrationsprozesses. Es gilt also nicht nur die „Umerziehung“ einer bestimmten Gemeinschaft in der Gesellschaft zu erwirken, sondern dies gilt ebenso notwendig für den Rest der Gesellschaft, in der die zur Umerziehung bestimmte Gruppe lebt. Interkulturelle Erziehung muss also zweidimensional, intrakulturell und interkulturell gleichzeitig und mit gleicher Vehemenz vorgenommen werden.
290
9 Interkulturelle Erziehung als eine religionspädagogische Herausforderung
9.1.2 Einige Aspekte der gegenwärtigen Problematik
Sowohl die Muslime in Europa als auch die Europäer stellen hinsichtlich ihrer Herkunft und gesellschaftlichen Traditionen keine homogene Gemeinschaft dar, nichtsdestotrotz haben sie einen gemeinsamen religiösen und oft auch kulturellen Hintergrund. Im Hinblick auf ihren sozialen Status muss man zwischen drei Gruppierungen unterscheiden: – Gebürtige europäische Muslime – Neueuropäische Bürger – Neueinwanderer als Ausländer. Hinsichtlich des kulturellen Hintergrunds muss man zwischen gebürtigen europäischen Muslimen auf der einen Seite und den ursprünglich nichteuropäischen Muslimen auf der anderen Seite unterscheiden. Die europäischen Muslime genießen im Gegensatz zu den nichteuropäischen Muslimen einen nahezu homogenen kulturellen Hintergrund, da der europäische Kontinent eine zumindest geographische Einheit darstellt. Hingegen kommen nichteuropäische Muslime aus verschiedenen Kontinenten und, wenn auch im Allgemeinen geringfügig geographisch abhängigen Traditionskreisen. Beide Gruppen erfahren eine zwiespältige kulturelle Identität, beide müssen einen Mittelweg zwischen ihrer alten und neuen Situation finden, um einer kulturellen Schizophrenie zu entgehen. Keine von ihnen kann auf ihren kulturellen Hintergrund völlig verzichten, denn dies würde, falls es überhaupt möglich wäre, die völlige Assimilation bzw. Isolation bedeuten. Sowohl Assimilation als auch Isolation sind die negativen Folgen eines misslungenen Integrationsprozesses, für welche beide Parteien – Muslime und Europäer –verantwortlich sind und demnach auch beide zu einer Überprüfung ihrer Einstellung zu dieser Problematik aufgefordert sind. Drei Faktoren gehören zu einem erfolgsversprechenden, integrationsfördernden, interkulturellen Erziehungsprozess, auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich eingegangen werden kann. – Eine integrationswillige integrierende Gesellschaft – Eine integrationswillige kulturell fremde Gemeinschaft – Gegenseitiger Respekt und Vertrauen.
9.2 Der private Islamische Religionspädagogische Hochschulstudiengang in Wien – Ein Pilotprojekt
291
9.2 Der private Islamische Religionspädagogische Hochschulstudiengang in Wien – Ein Pilotprojekt
Österreich erkannte den Islam als öffentliche Glaubensgemeinschaft bereits im Jahr 1912 an. Diese staatliche Anerkennung wurde den Muslimen 1978 erneut ausgesprochen, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) wurde daraufhin 1979 gegründet. In den 90er Jahren wurde der Wunsch nach der Gründung einer Ausbildungsstätte auf hochschulischem Niveau für Islamlehrer immer dringlicher, da die Zahl der zweiten und dritten Generation der in Österreich lebenden Muslime immer größer wurde. 1999 war es soweit, dass die Islamische Religionspädagogische Akademie (IRPA) in Wien die erste studierende Generation aufnahm. Der Mangel an ausgebildeten Fachlehrern erschwerte die Arbeit. Man war gezwungen, gebildete Muslime vorübergehend als Islamlehrer einzustellen. Abitur war keine Voraussetzung für das Studium an der Akademie, weil eine große Zahl muslimischer Schüler aus sozialen Gründen diese Voraussetzung nicht erfüllen konnte. Ein Bewerber musste lediglich eine vergleichbare Schulausbildung nachweisen. Abiturienten bevorzugten eine Universitätslaufbahn. Im Hinblick auf die Akademie-Dozenten sieht die Entwicklung zufriedenstellend aus. In allen Fächern unterrichten ausschließlich Fachdozenten, die mindestens einen Magistertitel oder eine ordentliche Professur besitzen. Die Dauer der gesamten Ausbildung in diesem Studiengang beläuft sich auf insgesamt drei Jahre Hauptstudium. Nach dem Vorbereitungsjahr muss jeder Studierende, der keine Matura hat, eine Studienberechtigungsprüfung bestehen, um zum Hauptstudium zugelassen zu werden. Anschließend müssen die Hochschüler eine Diplomarbeit unter der Betreuung eines der Fachdozenten schreiben. Die islamische Gemeinde, die zugleich Schulerhalter des Studiengangs ist, übernimmt die Beschäftigung der Absolventen und verteilt sie auf die öffentlichen Schulen in Wien und Niederösterreich. 9.2.1 Das Lehrprogramm in fünf große Einheiten unterteilt
– Arabisch durch muttersprachliche Lehrkräfte – Islamwissenschaften: Koran, Hadith, Islamisches Recht, Koranexegese, Theologie – Humanwissenschaften, Pädagogik, Didaktik und Schulpraxis – Kulturgeschichte, politische Bildung und Schulrecht – Vergleichende Religionswissenschaft.
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9 Interkulturelle Erziehung als eine religionspädagogische Herausforderung
Einige islamische Fächer werden auf Arabisch unterrichtet, wie z. B. die arabische Sprache, Koranwissenschaften, Hadithwissenschaft und Islamisches Recht. Theologie, Politik, Pädagogik und Vergleichende Religionswissenschaft werden auf Deutsch unterrichtet. Die Tendenz für die Zukunft geht in die Richtung, dass einige islamische Fächer, z. B. Koranexegese und Islamisches Recht, auf Deutsch unterrichtet werden, sobald ein deutschsprachiger Fachmann zur Verfügung steht. Parallel zu der pädagogischen Ausbildung muss sich der angehende Islamlehrer in Europa ein Mindestmaß an Grundkenntnissen über alle wichtigen Islamwissenschaften während seiner Ausbildung aneignen, damit er nicht nur die Kunst des Lehrens, sondern in gleicher Qualität islamisches Fachwissen nachweisen kann. Gewiss geht es hier nicht darum, einen Fachwissenschaftler, sondern in erster Linie einen islamischen Schullehrer auszubilden. Dennoch soll der Inhalt des Unterrichts die Form bzw. die Methode bestimmen und keineswegs umgekehrt. Denn eins dürfen wir dabei nicht vergessen – nämlich, dass der Islamlehrer oft von den Eltern der Schüler als ein vertrauenswürdiger Islamgelehrter betrachtet wird. 9.2.2 Ein älteres Modell in Kairo, vergleichbar mit der Wiener IRPA
In der Sektion für islamische Studien, die der deutschen Abteilung an der Al-Azhar-Universität zu Kairo angegliedert ist, werden alle islamischen Fachwissenschaften auf Deutsch unterrichtet. Fast alle Studierenden sind Araber und der Rest beherrscht die arabische Sprache. Bevor sie zum Hauptstudium zugelassen werden, müssen sie einen einjährigen Intensivkurs für Deutsch erfolgreich absolvieren. Das Hauptstudium dauert dann vier Jahre und wird mit einem Bakkalaureat abgeschlossen. 99 % der Studierenden haben bis zum Abitur eine islamische Grundausbildung bekommen. Fachlich gesehen wären die Absolventen dieser Sektion gute Islamlehrer für den deutschsprachigen Raum – wenigstens für die Übergangszeit, bis die im deutschen Sprachraum lebenden Islamstudierenden ihre Lehrerausbildung abgeschlossen haben. Ihnen fehlt jedoch im Vergleich mit den in Deutschland lebenden Muslimen neben der Perfektion der deutschen Sprache auch die Erfahrung mit der Kultur, den Traditionen und dem Alltagsleben in Europa. Auf der anderen Seite fehlt den meisten Islamstudierenden in Europa die islamische Religionsgrundausbildung. Die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, liegt u. a. darin, einen Islamlehrer auszubilden, bei dem alle angesprochenen Erfordernisse vorhanden sind. Ein weiteres Problem in diesem Bereich stellt der Mangel an deutschsprachigen Fachdozenten, insbesondere für Islamwissenschaften und islamische Pädagogik, dar. Nicht minder problematisch ist auch der Mangel an fachwissenschaftlichem Lehrmaterial auf Deutsch. Es gibt sehr wenig authentische islamische Fachliteratur.
9.2 Der private Islamische Religionspädagogische Hochschulstudiengang in Wien – Ein Pilotprojekt
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Eine der schwierigsten Herausforderungen stellt die Frage nach der Priorität zwischen Arabisch einerseits und Deutsch andererseits als Unterrichtssprache dar. Gewiss ist die Bedeutung der deutschen Sprache unbestritten, zumal der Unterricht in den öffentlichen Schulen auf Deutsch erfolgen soll. Dennoch bleibt die Wichtigkeit der arabischen Sprache als Sprache der Primärquellen des Islam unangefochten. Ein Islamlehrer, der den Koran in Arabisch nicht lesen und erklären kann, kann nicht als vertrauenswürdiger Vermittler der islamischen Religion betrachtet werden. Würden alle Fachwissenschaften ausschließlich auf Deutsch vermittelt, könnte man gleich das ganze Lehrprogramm an orientalische Institute weiterleiten. Es muss eine Balance zwischen den beiden Unterrichtssprachen Deutsch und Arabisch hergestellt werden. Zumindest müssen die arabische Sprache und der Koran ausschließlich auf Arabisch unterrichtet werden. Alle nicht deutschsprachigen Studenten an deutschen Universitäten müssen z. B. die deutsche Sprache durch Deutsch, also nicht durch ihre Muttersprache lernen, und können somit ein Fachstudium in Deutschland, Österreich oder der deutschen Schweiz anfangen und erfolgreich abschließen. Drei Hauptkomponenten muss ein Lehrplan für den Islamunterricht beinhalten und den Studierenden in ausgewogenem Maß anbieten: – Fachwissenschaften (Islamwissenschaften, Kultur und Gesellschaftskunde) – Sprachen (Deutsch und Arabisch) – Pädagogik (Allgemeine und Fachpädagogik sowie Didaktik). Der Studiengang für Islamische Religionspädagogik in Wien (IRPA) ist sich der Problematik bewusst, dass der arabischsprachige Unterricht für nicht Arabisch sprechende Studenten die Qualität des zu erwerbenden Stoffes beeinträchtigt – dies muss man jedoch in Kauf nehmen, um die Motivation bei den Studierenden, Arabisch ernsthaft zu lernen, aufrechtzuerhalten. Vergleichbar ist die Situation der nicht Deutsch sprechenden Studierenden an den deutschsprachigen Universitäten und Hochschulen. Diese müssen die deutsche Sprache so gut beherrschen, dass sie ihren Fachlehrstoff in akzeptabler Qualität aufnehmen und ihr Studium erfolgreich abschließen können. 9.2.3 Die Landessprache als unentbehrliche Voraussetzung für die Integration
Die Wichtigkeit und Aktualität des Sprachproblems bei Schülern ohne deutsche Muttersprache sind hinreichend bekannt. Ein arabisches Sprichwort lautet in sinngemäßer Übersetzung: „In der Kindheit zu lernen ist wie auf einen Stein zu gravieren.“ Heute weiß man, dass die Wahrneh-
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mung bzw. das Absorbieren der Sprache bereits im Mutterleib beginnt und Spuren im kindlichen Gehirn hinterlässt. Diese Art des Lernens wird in der Pädagogik als „unbewusstes Lernen“ bezeichnet. So spricht Maria Montessori in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom „absorbierenden Geist des Kindes“ bzw. über die „unbewusste Intelligenz“, die im frühsten Kindesalter beginnt und ungefähr im dritten Lebensjahr aufhört.288 Dabei vergleicht sie den Spracherwerb bei einem Kind mit einer Fotographie: Im Dunklen wird fixiert, und dann kann das Bild endlich ans Licht kommen und ist unveränderlich. Das gleiche geschieht beim psychischen Mechanismus der Sprache des Kindes. Es beginnt in der Dunkelheit des Unbewussten zu wirken, dort entwickelt es sich, fixiert sich, und dann offenbart es sich.289
Hier haben wir nicht nur ein gutes Beispiel für die Interkulturalität des Denkens, sondern auch eine wertgewaltige pädagogische Feststellung, die für uns heute und gerade für die Erforschung des Sprachproblemfelds von großer Bedeutung ist. Handelt es sich aber um Kinder im Schulalter, so tritt anstelle des unbewussten Lernens nun ein bewusstes Lernen – und in dieser Entwicklungsstufe kommen soziale und psychische Aspekte dazu. Bei der Erforschung dieses Problems müssen, meines Erachtens, mindestens fünf Voraussetzungen erfüllt werden, die auch als Aspekte des Problems gelten: – Eine physische bzw. physiologische, im Sinne von funktionsfähigen Sinnesorganen. – Eine psychische, im Sinne vom Vorhandensein des Willens zum Lernen. – Eine soziale, im Sinne von gesellschaftlichen Motivationen bzw. Zukunftsperspektiven. – Eine materielle, im Sinne von geeignetem Lernmaterial, und schließlich – Eine pädagogische bzw. didaktische im Sinne von Vorhandensein pädagogisch gebildeter Fachlehrkräfte sowie geeigneter Medientechnik bzw. Medienpädagogik. Die Punkte 2 und 3, nämlich die psychischen und sozialen Aspekte des Lernprozesses, werden oft deshalb vernachlässigt, weil sie unsichtbar und interpretationsfähig sind, obgleich ihnen die höchste Priorität in der Rangordnung der Voraussetzungen zusteht. Der psychische Aspekt hängt nahezu 100 % vom sozialen Aspekt ab. Ohne gesellschaftliche Motivationen und Zukunftsperspektiven kann kein Wille zum Ler288 Das kreative Kind. Der absorbierende Geist, Freiburg/Br. 1972, S. 148. 289 Ibd.
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nen entstehen. Lernen allein um des Lernens Willen ist ein Luxus, den sich nur die allerwenigsten Menschen in unserer Zeit leisten können. Die Sprache stellt nicht nur den verbalen Ausdruck der Gedanken, sondern vielmehr den Schlüssel zu einem neuen Kulturland dar. Mit anderen Worten: Um eine Kultur authentisch verstehen zu können, muss man ihre Sprache nicht nur linguistisch und semantisch beherrschen, sondern ebenso ihrer Wortassoziationen mächtig sein. Wieder einmal stehen wir vor einer großen Herausforderung, die eine logische Folge eines zu langen anhaltenden Verdrängungsprozesses darstellt. Migranten mit nichtdeutscher Muttersprache leben hier seit knapp einem halben Jahrhundert. Auch wenn die erste Generation der Einwanderer nicht direkt unser heutiges Hauptproblem darstellt, so stehen die zweite und die dritte Generation im Fokus dieser Untersuchung. Die alarmierend hohe Zahl der Schulabbrecher besonders unter den Schülern mit nichtdeutscher Muttersprache, ist uns seit mindestens zehn Jahren bekannt. Beiderseitige Versäumnisse oder halbherzige Lösungskonzepte durch die Migranten auf der einen Seite und Politiker der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite haben das Problem zu diesem alarmierenden Ausmaß anschwellen lassen. Laut einer vor zwölf Jahren in Österreich veröffentlichten Studie betrug die Zahl der Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache 50,1 % in Wiens Volksschulen und 59,5 % in Hauptschulen. In jeder zweiten Wiener Volksschule liege der Migrantenanteil angeblich über 50 % und in jeder zehnten über 90 %. Davon besonders betroffen sind Volks- und Hauptschulen in Bezirken mit hoher Migrantenanzahl.290 Und laut einer späteren Studie soll die Zahl der Schüler mit Migrationshintergrund etwa 24 % der gesamten Schülerzahl in Österreich betragen.291 Bei den veröffentlichten Zahlen über Schüler mit Migrationshintergrund sollte man berücksichtigen, dass auch Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache darunterfallen, die dennoch der deutschen Sprache so mächtig sind wie ihre Schulkameraden mit deutscher Muttersprache. Genaue Zahlen über diese Deutsch sprechenden Schüler mit Migrationshintergrund liegen bis heute jedoch nicht vor. Können allein Deutsch-Sprachkurse bzw. Sprachtests dieses Problem lösen? Oder müssen die jeweiligen sozialen und kulturellen bzw. traditionsbedingten Aspekte im Vorfeld der Lösungssuche berücksichtigt werden? Unzureichende Sprachkenntnisse sind zweifellos ein Hindernis auf dem Wege der weiteren Schulausbildung der betroffenen Schüler. Dies ist die eine Dimension des 290 Siehe Standard.at, 20. Oktober 2006. 291 Siehe Die Presse, 21. Februar 2017.
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Problems. Die zweite Dimension schließt Schüler mit Deutsch als Muttersprache ein. Diese werden in Klassen mit hoher Anzahl an Schülern mit unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen unterrichtet und werden unter Umständen nicht ausreichend gefördert, sollten die Lehrer allzu viel Rücksicht auf, die sprach-schwachen Mitschüler nehmen. Die Kommunikation unter allen Schülern sollte zur Verbesserung der Sprachkenntnisse bei den sprachschwachen Schülern beitragen. Dies ist aber nicht möglich, da die begrenzte Sprachkenntnis die Kommunikation mit Schülern mit deutscher Muttersprache erschwert und soziale Barrieren schafft. Eine Aufteilung der Schulklassen in Schüler mit Deutsch als Muttersprache bzw. solche mit nichtdeutscher Muttersprache ist, meines Erachtens, nicht nur kontraintegrativ, sondern würde auch zu einer folgenreichen Zerteilung der Gesellschaft in verschiedene, sich gegenseitig ausgrenzende Sprach- und Nationengruppen, sprich: zu einer Zweiklassengesellschaft führen. Ferner würde dies eine Ausgrenzung bzw. Stigmatisierung der Migrantenkinder bedeuten. Wie wir sehen, hat dieses Problem neben seiner sichtbaren schulischen Ausbildungsdimension auch eine nicht zu unterschätzende soziale Dimension, die religiöse, kulturelle und nicht zuletzt national-politische Komponenten enthält. Insofern können sozial-politische und fachwissenschaftliche Kompetenzen bei der Erforschung und Erstellung von Lösungsentwürfen effektive Beiträge leisten.
9.3 Die Problematik des islamischen Religionsunterrichts in Europa 9.3.1 Drei Punkte im Zusammenhang mit der Problematik des islamischen Religionunterrichts
1. Begriffserklärung: Pädagogik, Religionspädagogik 2. Historischer Überblick: Ansätze für eine islamische Religionspädagogik 3. Gegenwärtige Bestandsaufnahme: Das österreichische Beispiel, Entwicklung und Erfahrungen. 1.a) Pädagogik als Erziehungslehre, Erziehungskunst und Erziehungswissenschaft umfasst in ihrem weitesten Sinne die gesamten Erziehungs- und Bildungsbereiche bzw. das Bildungsgeschehen. Die neuzeitliche Pädagogik verdankt ihren wissenschaftlichen Charakter dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1827), der zu Recht der Vater der modernen Pädagogik genannt werden kann. Für ihn ist das höchste Ziel der Erziehung die Emporbildung der inneren Kräfte der Natur des Men-
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schen in „bildender Nähe zur Natur und zum Menschen“292 und für tätiges Wirken in der Gemeinschaft in innerer Ruhe und äußerer Ordnung. Bildung ist für ihn Selbstentfaltung der Grundkräfte und Fähigkeiten von Kopf bzw. Verstand, Herz bzw. Gefühl und Hand bzw. Schaffen. Seine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts brachten ihn zu der Überzeugung, dass die Erziehung diesem Gange angepasst werden müsse. Neben Johann Pestalozzi sind Herbert Fröbel und Friedrich Diesterweg zu nennen. Die Pädagogik nahm seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine andere Entwicklung, sofern sachfremde Einflüsse deren didaktische Aufgaben nicht mehr primär dem geistvoll wirkenden lebendigen Lehrer, sondern den sogenannten „Lehrmaschinen“ zuführen wollen. Erziehungsmodelle werden heute von Theoretikern des Fachs, die auf die Erfahrungen der praktischen Pädagogen wenig Rücksicht nehmen, vorgelegt. 1.b) Religionspädagogik: In ihren Bemühungen um eine Religionspädagogik als eigenständiger Wissenschaft setzten sich die Pädagogen mit der liberalen Theologie des frühen 20. Jahrhunderts auseinander. Diese griffen ihrerseits auf einen reichen Bestand theologischer und pädagogischer Traditionen, Reformation, Pietismus und Aufklärung zurück, welche aber vornehmlich im Rahmen kirchlicher Katechetik erarbeitet worden waren. Wichtig wurde neben Johann Friedrich Herbarts (gest. 1841) pädagogischen Anschauungen vor allem die Anknüpfung an Friedrich Schleiermachers (gest. 1834) psychologischen Religionsbegriff. Dieser wurde für Ernst Elias Niebergall (gest. 1932) zum Fundament einer eigenständigen, sich ganz auf die Belange der staatlichen Schule konzentrierenden Theorie des Religionsunterrichts. Gegenüber dem kirchlichen Bekenntnis schien eine allen Menschen wesensmäßig zukommende religiöse Anlage eher geeignet, Legitimation und Konzeption eines solchen Unterrichtsfaches im Rahmen pädagogischer Bemühungen des Staates zu eröffnen. Im Widerspruch zu Schleiermacher wurde die viel diskutierte Frage nach der Lehrbarkeit einer solchen erfahrungsbezogenen Religion auf dem Wege pädagogisch-psychologischer Beweisführung positiv beantwortet. 9.3.2 Einige profane Denkansätze zu einer islamischen Religionspädagogik
– Abu Bakr Al- Aajeri, Arzt und Philosoph (gest. 273 n. H./885 n. Chr.) in seinem Werk „akhlaq al-ʿUlama’“ („Die Moral bzw. Ethik der Gelehrten“). 292 Siehe Kraft, Volker: Pestalozzi oder das pädagogische Selbst, Bad Heilbrunn, Klinkhardt Verlag, 1996, S. 360.
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– Abu Hamid al-Gazzali (lat. Gazalis), Philosoph, Theologe und Mystiker (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.) in seinem Werk „Ayyuha al-wald“ („Oh Junge!“). – Ibn Jamaʿa al-Kinani (lat. Unbekannt), Rechtsgelehrter und Schriftsteller (gest. 733 n. H./1335 n. Chr.), in seinem Werk „Tazkirat as-samiʿ wal-mutakallim fi aadaab al-ʿalim wal-mutaʿallim“ („Die Ermahnung des Hörenden und des Sprechenden über die Regeln des Lehrenden und des Lernenden“). – Ibn Khaldun (lat. Khaldun), Geschichtsphilosoph (gest. 808 n. H./1408 n. Chr.), in seinem Werk „Al-muqaddima“ („Der Prolog“), Einleitung für sein größeres aber weniger bekanntes Geschichtswerk „Al-Iʿtibar“ („Die Belehrsamkeit der Geschichte“). Sein Prolog wurde bereits im 18. Jahrhundert in verschiedene europäische Sprachen, vor allem ins Französische, Englische und ins Deutsche, übersetzt. Er gilt auch für viele Orientalisten als der Vater der Soziologie, der 500 Jahre vor Emil Durkheim (1917) gelebt und gewirkt hat. Durkheim hat Ende des 19. Jahrhundert die Methodik und Elemente der Soziologie in Europa geschaffen. – Rifaʿa at-Tahtawi (1875), einer der ersten akkreditierten Absolventen der Al-Azhar-Universität in Kairo. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich (1860) schrieb er u. a. zwei Werke, in denen er seine Konzepte für eine pädagogische Reform der Schulsysteme in Ägypten darstellte. In seinem Buch „Takhlis al-Ibris fi talkhis Paris“ („Die Auslese der kurzen Geschichte von Paris“) versuchte er, das französische Schulmodell in einer islamkonformen Pädagogik wiederzugeben. In seiner Schrift „Al-murschid al-amin lilbanat wal-banin“ („Der vertrauenswürdige Führer für Mädchen und Jungen“) rief er die Regierung auf, die Schulausbildung für Mädchen zu ermöglichen und begründete dies mit dem Grundrecht auf Ausbildung für jeden Menschen, unabhängig von seinem Geschlecht. Er erklärte die gesellschaftlichen Vorteile, die durch die schulische Ausbildung für die weibliche Hälfte der Bevölkerung entstehen könnten. Sein Anliegen wurde noch zu seinen Lebzeiten erfüllt. – Der bekannte Islamreformer Muhammad ʿAbduh (gest. 1905) führte am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts den Reformkurs von Tahtawi weiter und versuchte, diesen auch in den Al-Azhar-Schulen einzuführen, was ihm größtenteils gelungen ist. Sein Reformkonzept schließt neben dem französischen das englische Schulmodell ein. – Hassan Al-Banna (gest. 1949), der Gründer der bekanntesten und größten islamischen Bewegung der Neuzeit, entwarf ein Erziehungskonzept, das den Weg zur Erneuerung des Islams auf pädagogischer Ebene fördern soll. – Sein Zeitgenosse, der große Imam von Al-Azhar, Scheich Muhammad Mustafa Al-Maraghi (1945), vollzog die vom Imam Muhammad ʿAbduh konzipierte Schulreform für die öffentlichen Schulen im Lehrprogramm der Religionsschulen.
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– Anfang der 60er Jahre entstanden die ersten pädagogischen Fakultäten in Kairo, in denen aber fast ausschließlich europäische Pädagogik gelehrt wurde. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. – Seit vielen Jahren arbeitet die Liga der islamischen Universitäten an einem islamkonformen pädagogischen Konzept, das sowohl europäische als auch islamische Entwürfe berücksichtigt. Vor einem solchen Versuch müssen wir die religiösen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten unvoreingenommen untersuchen, damit ein konkretes Gesamtkonzept für eine effektive interkulturelle Erziehung entwickelt werden kann, das die unterschiedlichen Selbstverständnisse der Muslime und der Europäer berücksichtigt und somit für beide Gültigkeit hat. Interkulturelle Erziehung ist nicht ausschließlich ein Planungsproblem der Pädagogik oder der Erziehungswissenschaft als solcher, sondern sie ist an erster Stelle ein gesellschaftliches Problem. Das heißt, es ist ein Teil, wenn nicht der wesentliche Teil des Integrationsprozesses. Es gilt also nicht nur ein Umdenken einer bestimmten Gemeinschaft in der Gesellschaft herbeizuführen, sondern dies gilt ebenso notwendig für den Rest der Gesellschaft. Erziehung muss also zweidimensional gestaltet werden: Intrakulturell und interkulturell und sie muss gleichzeitig mit gleicher Vehemenz vorgenommen werden. 9.3.3 Das österreichische Beispiel
Von einem historischen Glück im Unglück kann man in Bezug auf die Situation der Muslime in Österreich sprechen. Innerhalb Europas stellt die Behandlung des Islams in Österreich eine Besonderheit dar, denn bereits seit 1912 geht ein eigenes Islamgesetz auf die rechtliche Stellung der hierzulande lebenden Muslime ein. Die Donaumonarchie hatte 1908 das großteils muslimische Bosnien-Herzegowina annektiert. Dass nun rund 600.000 Muslime im Reichsgebiet lebten, fand seinen Niederschlag in einem Gesetz, das über das eher auf die christliche Organisationsstruktur zugeschnittene Anerkennungsgesetz von 1874 hinaus in § 6 ausdrücklich den gesetzlichen Schutz von Religionsausübung und Religionsdienern des Islams aussprach. Bosniaken dienten in der Leibgarde des Kaisers, Imame taten als Militärseelsorger Dienst, und es gab Pläne für den Bau einer großen Moschee in Wien, die durch den Ersten Weltkrieg nicht mehr verwirklicht werden konnten. In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wuchs die Zahl der Muslime in Österreich durch den Zuzug von Migranten vor allem aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien. In dieser Zeit wurde der Verein „Moslemischer Sozialdienst“ gegründet, der sich neben den Aufgaben in religiöser Hinsicht und der Übernahme
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humanitärer Hilfe auch für eine angemessene rechtliche Verankerung der muslimischen Gemeinde einsetzte. 1971 beantragte der Verein die Genehmigung zur Errichtung einer Kultusgemeinde und zur Festsetzung von deren Statuten auf Grundlage des Islamgesetzes. Daraufhin konstituierte sich 1979 die islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich als Körperschaft öffentlichen Rechts. Sie stellt die offizielle Verwaltung der religiösen Belange aller im Lande lebenden Muslime dar. Für die Muslime ist nicht nur die freie und öffentliche Religionsausübung garantiert, sondern sie genießen durch die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts Autonomie, was die Regelung der inneren Angelegenheiten betrifft. In Österreich bekennen sich mehr als 500.000 Personen zum Islam, was einem Prozentsatz von 5 % der Bevölkerung entspricht. Eine hohe Konzentration findet sich dabei in der Bundeshauptstadt. In Wien sind mit 121.149 Personen 7,8 % Muslime zu verzeichnen. In Niederösterreich leben 48.730 Muslime. Um die 20 Moscheen in Niederösterreich, z. B. in Wiener Neustadt, Sollenau und Leobersdorf, bilden Knotenpunkte des sozialen und religiösen Lebens der muslimischen Bevölkerung und bieten gleichzeitig regelmäßig Veranstaltungen wie u. a. den „Tag der Offenen Moschee“, die ausschließlich durch Beiträge und Spenden finanzier werden. Diese staatliche Anerkennung wurde den Muslimen 1979 erneut ausgesprochen. Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) wurde daraufhin gegründet. In den 90er Jahren wurde der Wunsch nach der Gründung einer Ausbildungsstätte für Islamlehrer immer akuter, da die Zahl der zweiten und dritten Generation der in Österreich lebenden Muslime immer größer wurde. Die Absolventen unserer derzeitigen Akademie bzw. des zukünftigen hochschulischen Studiengangs haben bereits seit dem Wintersemester 2006/07 die Möglichkeit, an einem Masterstudiengang für Islamische Religionspädagogik an der Universität Wien teilzunehmen, damit sie u. a. als Gymnasiallehrer arbeiten oder in die wissenschaftliche Forschung gehen können. Die derzeitigen Lehrer für den islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Pflichtschulen, die die erforderliche pädagogische Ausbildung nicht nachweisen können, müssen ein Studienprogramm für Fort- und Weiterbildung besuchen, das vom Institut für Islamische Religionspädagogik (IRPI) angeboten wird. Somit sind wir in Österreich in der Lage, unseren Interessenten eine vollständige, authentische und gegenwartsorientierte Lehrerausbildung im In- und Ausland anzubieten. Aufbauend auf die hochschulische Ausbildung (IRPA) ist der Masterstudiengang unsere Hoffnung im Hinblick auf akademisch ausgebildete Islampädagoginnen und pädagogen, welche eine ausgereifte, zeitgemäße und zukunftsorientierte islamische Religionspädagogik entwerfen und entwickeln können.
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9.3.4 Adaption von neu gewonnener nationaler und eigener religiöser Identität
Die Muslime in Europa sind nicht mehr Einwanderer, sondern durch ihren langen Daueraufenthalt in Europa ein Bestandteil der europäischen Bevölkerung geworden, auch wenn dies einem Teil der Muslime selbst und einem erheblichen Teil der Mehrheitsgesellschaft nicht bewusst ist. Sie haben eine europäische Nationalidentität adaptiert und in ihre islamische religiöse Identität integriert. Allein in den letzten vier Jahren sind, laut einer Nachrichtensendung der ARD vor einigen Monaten, 10.000 europäische Frauen und Männer zum Islam konvertiert. Die Tendenz ist steigend. Viele der neuen Muslime sind junge Menschen, unter ihnen befindet sich eine große Zahl an Studenten; sie sind nicht ausschließlich durch Eheschließung zum Islam konvertiert. Die zweite und dritte Generation der Muslime in Europa sind ebenso junge Menschen, die nicht nur den Wunsch, sondern auch das Recht auf einen authentischen islamischen Religionsunterricht in öffentlichen Schulen haben. Dies wäre nicht ausschließlich ein Geschenk an die europäischen Muslime, sondern ein vertrauensbildender Beitrag zur einer identitätsgerechten Integration und Identifikation der Muslime in ihrer europäischen Gesellschaft. In einer Studie der Universität Wien am Institut für Rechtsphilosophie aus dem Jahr 2005 über den islamischen Religionsunterricht in Österreich wird Folgendes festgestellt: Bei aller gebotenen Skepsis vor einer „blauäugigen“ Schönung bestehender Probleme im Zusammenleben zwischen Minderheiten und Mehrheiten im Allgemeinen bzw. Muslimen und Nicht-Muslimen im Besonderen, können auf Grund der Analyse des Projekts folgende zentralen positiven Punkte eines islamischen Religionsunterrichts, wie er sich in Österreich präsentiert, herausgestellt werden: – Die Möglichkeit, einen öffentlichen islamischen RU abzuhalten, wird von den Muslimen als Praxis der staatlichen und gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Religion gewertet. Die Anerkennung führt wiederum zu einer verstärkten Identifikation mit dem System, welches diese Anerkennung ermöglicht – mit dem österreichischen Rechts- und Verfassungsstaat. – Der islamische Religionsunterricht erfüllt neben seiner Kernaufgabe – den Schülerinnen und Schülern das islamische Glaubensgut zu vermitteln – eine wichtige Integrationsleistung, indem er den Schülerinnen und Schülern hilft, ihre muslimische und österreichische Identität miteinander zu vereinbaren. Dass dies im Kindes- und Jugendalter geschieht, ist ein wichtiger Umstand. – Ein RU, der an öffentlichen Schulen durchgeführt wird, dient auch als Drehscheibe für
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den Austausch über religiös-weltanschauliche sowie ethische Fragestellungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Dadurch können Vorurteile, die auf beiden Seiten bestehen, abgebaut werden. Das gründliche Wissen um die eigene Religion muss auch daher jedem Staat ein besonderes Anliegen sein, wenn er seine Bevölkerung vor ideologischen Verführungen schützen möchte. Darüber hinaus unterliegt der islamische Religionsunterricht anderer Religionsbekenntnisse, aber natürlich auch alle anderen Fächer – einer erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit und Rechenschaftspflicht; diese wäre bei einer rein „privaten“ religiösen Unterweisung nicht gegeben. – Als weitere positive Besonderheit der österreichischen Situation wurde die Ausbildung der islamischen Religionslehrkräfte festgestellt. Während die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) als „Unternehmerin“ des Religionsunterrichts lange Zeit auf ausländische Religionslehrer zurückgreifen musste, die in Österreich weder verwurzelt waren noch ihr Leben lang hier bleiben wollten, hat sich die Situation seit 1998 in mehrfacher Hinsicht erheblich verbessert. Die Gründung der islamischen Religionspädagogischen Akademie (IRPA), an der Religionslehrer für den Pflichtschulbereich ausgebildet werden, führte nämlich dazu, dass einerseits die pädagogische und didaktische Ausbildung der islamischen Religionslehrer mit allen anderen LehrerInnen gleichzog (also für die islamischen Religionslehrer die gleichen Qualitätsstandards gelten); und dass andererseits nun „österreichische“ islamische Religionslehrer ausgebildet werden, die zum überwiegenden Teil schon ihr ganzes Leben im deutschsprachigen Raum verbracht haben. – Die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Schulbehörden und der IGGiÖ wird von beiden Seiten im Großen und Ganzen als produktiv und positiv charakterisiert. Der IGGiÖ kommt über das Fachinspektorat insbesondere auch die Aufgabe zu, eine Clearingstelle für Fragen, Probleme und Konflikte in der Schule vor Ort zu sein und damit Situationen zu entschärfen. Vielfach wird diese Praxis als der „typisch österreichische Weg“ des Kompromisses zum Wohl aller Betroffenen gutgeheißen.293
Durch dieses relativ lange Zitat möchte ich an alle verantwortlichen Politiker und Wissenschaftler appellieren, im Sinne des friedlichen Miteinanders von Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und sich nicht von populistischer Scharfmacherei und antiislamischen Parolen entmutigen zu lassen. Der islamische Religionsunterricht ist ein unabdingbarer Teil einer erfolgreichen identitätsschonenden Integrationspolitik, welche nicht nur die Multikulturalität Europas festigt, sondern auch die Loyalität und die Integrität der euro293 Projektleiter: Univ.-Prof. Dr. Potz, Richard, Homepage des Instituts für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht, 2005, www.rechtsphilosophie.at.
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päischen Muslime in ihrer jeweiligen Mehrheitsgesellschaft fördert. Die in der Menschenrechtserklärung deklarierte Religionsfreiheit und Gleichheit aller Menschen impliziert das Recht jeder Glaubensgemeinschaft auf authentisch gestalteten Religionsunterricht in öffentlichen Schulen. Dabei darf es keine selektive Handhabung dieses Grundrechts geben. Benachteiligung und Diffamierung einer bestimmten Glaubensgemeinschaft könnten zu einem nationalen und internationalen kulturellen Konflikt, mit anderen Worten zu einem heillosen Kampf der Unkulturen mit unabschätzbaren Folgen führen.
9.4 Die Darstellung des Christentums in den Schulbüchern islamisch geprägter Länder (Das 8. Nürnberger Symposium, September 2003)
Im Rahmen der Thematik dieses Symposiums, in dem es sich um Ergebnisse eines Teils der interreligiösen Schulbuchforschung handelte, wurden Berichte von zwei deutschen Wissenschaftlern, Prof. Dr. ʿAbd al-Jawad Falaturi und Prof. Dr. Udo Tworoschka, über die Darstellung des Christentums in den Schulbüchern vier islamischer Ländern, nämlich der Türkei, Irans, Palästinas und Ägyptens, vorgetragen. Diesen folgten vier Resonanzen einheimischer Wissenschaftler. 9.4.1 Gemeinsame Punkte der vier Berichte
– Methodisch weisen sie Parallelen auf, sie haben die gleiche Sicht- und Herangehensweise, betrachten den Forschungsgegenstand zielgerichtet und isoliert vom gesamten gesellschaftlichen Kontext. Soziale, gesellschaftliche und psychologische Aspekte wurden nicht berücksichtigt. – Ihre Prognosen und Diagnosen sind, abgesehen von sehr geringfügigen Abweichungen, gleich. Man hat den Eindruck, sie hätten denselben Forschungsgegenstand und dasselbe Verbesserungskonzept. – Die zwei Hauptreferenten sind einer Meinung darüber, dass das Christentum in den Schulbüchern der vier untersuchten Länder positiv dargestellt ist. Sie sind sich aber auch darüber einig, dass die einzelnen christlichen Bekenntnisse in den Schulbüchern berücksichtigt werden sollten. – In allen vier Referaten fehlen Hinweise auf die verschiedenen untersuchten Altersstufen und die entsprechenden Verbesserungsvorschläge.
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9.4.2 Gemeinsame Punkte der vier Rezensenten
Die Rezensenten kritisieren bei allen vier Hauptreferaten bzw. merken an, – Dass die Schulbücher isoliert vom gesamten gesellschaftlichen und historischen Kontext untersucht wurden. – Dass die nach Ansicht der Referenten fehlenden Informationen über das Christentum durch andere Lehrmittel, z. B. Massenmedien und öffentliches Leben gedeckt werden. – Dass die zuständigen Behörden mit einheimischen Christen und sonstigen christlichen Geistlichen zusammenarbeiten. – Dass die Auswirkung ausführlicherer Informationen über die von den Referenten empfohlenen christlichen Bekenntnisse bei muslimischen Schülern nicht unbedingt positiv und friedensfördernd sein muss. – Dass die verschiedenen christlichen Konfessionen in den verschiedenen Ländern, beeinflusst durch die Verschiedenheit der jeweiligen Tradition und Kultur, verschiedene Auffassungen in Bezug auf die vorgeschlagenen christlichen Bekenntnisse vertreten. Zusammenfassend kann man alle erwähnten Differenzen zwischen Referaten und Resonanzen in einem wesentlichen Punkt darstellen – nämlich jenem, dass beide Parteien verschiedene Sichtweisen und Methoden haben. Man kann sogar von verschiedenen Denkstrukturen sprechen, welche zu verschiedenen, ja vielleicht gegensätzlichen Ergebnissen führen können. Bemerkenswert ist die kritische Resonanz von Samiha Sidhom, einer ägyptischen christlichen Wissenschaftlerin, die als Beraterin des ägyptischen Schulministeriums arbeitet, auf das Hauptreferat von Reiss, die folgendermaßen lautet: Trotz alledem schulden wir in Ägypten so wie in den anderen untersuchten Ländern den Hauptreferenten Dank für diese Leistung, die uns zweifelsohne konstruktive Denkanstöße für die Weiterentwicklung unserer Schulprogramme gegeben haben.
Ein Jahr davor habe ich die Gelegenheit gehabt, mit Herrn Dr. Reiss, der Berichterstatter u. a. über ägyptische Schulbücher ist, während einer Sitzung des deutsch-ägyptischen Gesprächskreises in Kairo über die vorliegenden Forschungsergebnisse zu sprechen. Meine eigenen Gedanken und Bemerkungen zu dem Bericht über die ägyptischen Schulbücher von Reiss, deren Inhalt nach so vielen Jahren und Diskussionen unverändert geblieben ist, gliedere ich folgendermaßen: – Die christliche Religion
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– Das einheimische Christentum – Das westliche Christentum – Vorschläge zur Verbesserung.
9.4.3 Vorbemerkungen
Bevor wir auf die Einzelheiten dieses Berichtes eingehen, müssen wir Folgendes festhalten: – Es handelt sich hier um ein Projekt mit Schülern, die mehrheitlich unter 18 Jahre alt sind. – Das Christentum in Ägypten hat seine theologischen, historischen und gesellschaftlichen Besonderheiten. – Das Schullehrprogramm für den Religionsunterricht wurde durch eine Fachkommission genehmigt, zu der Vertreter der christlichen Gemeinde in Ägypten gehören. – Der westliche Forschungsansatz bzw. die herkömmliche europäische Sichtweise ist nicht ohne Weiteres global eins zu eins übertragbar. Historische, kulturelle, gesellschaftliche und politische Besonderheiten des jeweiligen Landes müssen berücksichtigt werden. – Der Erfolg eines Forschungsprojektes hängt nicht unbedingt davon ab, ob es um jeden Preis etwas Ungewöhnliches hervorbringt. Es kann genauso gut objektiv und fundiert die Richtigkeit der vorgefundenen Inhalte bestätigen. Mit anderen Worten: Es muss nicht unbedingt ein Haar in der Suppe gefunden werden, um die Sinnhaftigkeit der darin investierten Mühe und Unkosten zu rechtfertigen. – Interreligiöse gegenseitige Akzeptanz und Respekt setzt keineswegs detaillierte Kenntnis über den anderen voraus – und dies gilt umso weniger in Bezug auf persönliche oder religiöse Überzeugungen. Die grundsätzliche Einstellung eines Menschen einem anderen Menschen gegenüber ist in diesem Kontext ausschlaggebend, sie prägt die Umgangsform von Fall zu Fall positiv oder negativ. – Und schließlich sind die Schulbücher, wie alle Menschenwerke, nicht unfehlbar, sondern kritisierbar und demzufolge entwicklungsfähig.
9.4.4 Besprechung des Berichts
Der Bericht bestätigt in Punkt 1, dass das Christentum in den ägyptischen Schulbüchern im Allgemeinen positiv dargestellt wird, dies gilt insbesondere im Vergleich
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mit dem Judentum. Er bemängelt fast im gleichen Atemzug das Fehlen von detaillierten Informationen über die christlichen Konfessionen, ihre Entwicklungsgeschichte, Kirchenstrukturen und die einzelnen Dogmen bzw. Bekenntnisse, u. a. Kreuz, Auferstehung, Inkarnation, Gottessohnschaft, Trinität, usw. Diese Art der Darstellung mache das Christentum mit dem Islam identisch. Weiter macht der Berichterstatter den gegenseitigen Respekt von der Kenntnis über Einzelheiten des Glaubens der anderen Person abhängig. 9.4.5 Hierzu die folgenden Bemerkungen
– Diese Art der Darstellung macht das Christentum nicht mit dem Islam identisch, vielmehr stellt sie es als einen Bestandteil des Islams in seiner allgemeinen Definition dar, nachdem der Islam nicht durch den Propheten Muhammad, sondern den Vater des Monotheismus, den Propheten Abraham (arab. Ibrahim), gegründet wurde. – Die oben genannten fehlenden Informationen über das Christentum müssen, meines Erachtens, nicht in den ägyptischen Schulbüchern vorhanden sein, denn sie sind unter den verschiedenen christlichen Konfessionen nicht einheitlich dargestellt und ausgewertet. Die ägyptischen Kopten haben bekanntlich eine ganz andere Vorstellung von all diesen Themen als z. B. Katholiken und Protestanten und dies seit der ersten Spaltung der Kirchen im 4. Jahrhundert. Würde man diese Themen in ihren verschiedenen Prägungen den Schülern vermitteln, würde dies zur Verunsicherung der Schüler führen. Jedenfalls kann man über den Sinn eines solchen Unternehmens streiten. Die Schlussfrage in diesem Punkt, nämlich jene, wie ein Schüler Christen akzeptieren soll, wenn er nichts über ihren Glauben erfährt, finde ich irrelevant und sinnlos, weil die in den Schulbüchern dargebotenen Informationen einen Konsens unter den verschiedenen christlichen Konfessionen darstellen. Sie bieten eine ausreichende Grundlage nicht nur für Akzeptanz, sondern für Respekt der muslimischen Schüler gegenüber ihren christlichen Schulkameraden. – Dem Oberhaupt der koptischen Kirche Papst Schenuda III. werden alle Informationen über das Christentum in den Schulbüchern vorgelegt und bedürfen seines Einverständnisses. Inwiefern die anderen christlichen Gemeinden in diesen Kontrollprozess miteinbezogen werden, kann ich nicht definitiv beantworten. Im Hinblick auf die seit den 70er Jahren vorhandene religiöse Sensibilität und das Konfliktpotenzial wäre es sehr unklug, die Schüler auch auf die unterscheidenden religiösen Aspekte aufmerksam zu machen. Hier haben wir es wieder einmal mit einem stereotyp westlichen Umgang mit einer orientalischen Frage zu tun.
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Dies ist die eine Seite des Problems. Die andere Seite, welche für mich ausschlaggebend ist, ist die unerwiderte, grundsätzlich positive Einstellung des Islams den anderen monotheistischen Religionen gegenüber. Judentum und Christentum sind nach islamischer Weltanschauung, ohne dies als eine Vereinnahmung missverstehen zu wollen, Bestandteile des gesamten Islam. Mit anderen Worten: Ein Muslim muss an die Richtigkeit und Authentizität der Botschaft von Moses und Jesus glauben, sonst wäre er kein Muslim. Wie gut wäre es, wenn diese konstruktive Einstellung auch seitens der Juden und Christen erwidert würde! Aus diesem Ansatz heraus müssen vereinende Aspekt im Vordergrund stehen und trennende Aspekte in den Hintergrund rücken. Jesus und seine Botschaft stellen im Islam ein göttliches Wunder dar. Alles andere, wie z. B. Trinität, Gottessohnschaft, Erbsünde, Inkarnation und die klerikale Struktur der Kirche, sind für Muslime hingegen Menschenwerk, über welches sich auch die verschiedenen christlichen Konfessionen nicht immer einig sind. Dennoch ist eine gut durchdachte Behandlung dieser Themen in den Schulbüchern kein Tabu. Beanstandet wird zu Recht, dass die koptische Kulturgeschichte nach der arabischen Eroberung im Jahre 640 keine gesonderte Erwähnung mehr in den Schulbüchern findet. Auf der anderen Seite wird dabei die Tatsache übersehen, dass sich die koptische Kultur fast vollständig in einer einheitlichen arabisch-islamisch-ägyptischen Kultur aufgelöst hat. Kopten und Muslime gehören seit der arabisch-islamischen Eroberung zu ein und demselben Kulturkreis. Einzig und allein die Religionszugehörigkeit bleibt als unterscheidender Faktor bestehen. Alle haben fast die gleichen Traditionen im Alltag und erleben gleichermaßen dieselben politischen und kulturellen Entwicklungen seit dem 7. Jahrhundert. Nach Aussagen u. a. von Patriarch Schenuda III., Yohanna Qulta, Edward Az-Zahabi und Ghali Schukri fühlt sich ein Kopte als kulturell-islamisch geprägter Ägypter. Die ägyptisch-islamische Geschichte kennt in der Tat eine Epoche der Unterdrückung von Christen, und zwar Ende des 10. bis Anfang des 11. Jh. Damals mussten die Christen und Juden viele Formen der Diskriminierung über sich ergehen lassen. Dies geschah unter der Herrschaft eines Fatimiden Kalifen namens al-Hakem bi Amr Allah (gest. 411 n. H./1010 n. Chr.). Auch sunnitische Muslime blieben von seiner Tyrannei nicht verschont. Er verbot allen Ägyptern den Genuss bestimmter Speisen, u. a. Mulokhiya (ägyptische grüne Suppe und Rosinen), weil er selbst diese Speisen gerne aß. Das Volk durfte den Esel nur mit dem Hinterteil nach vorne reiten, weil er allein seinen Esel mit dem Gesicht voran reiten wollte. Er verbot seinem Volk alles, was ihn mit dem Volk gleichstellen hätte können. Er ging in die ägyptische Geschichte deshalb als ein geistesgestörter Tyrann ein und wurde dafür auch vom einfachen Volk hinter vorgehaltener Hand belächelt.
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Die sonstigen Verbesserungsvorschläge sind in Ordnung. Ich kann sie voll unterstützen, insbesondere den letzten Vorschlag, in dem zur Bildung einer Kommission von Historikern und Pädagogen aus Ägypten und dem Westen zu diesem Zweck aufgerufen wird.
10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz? Medien sind ihrer Definition nach breite und vielseitige Wege, durch welche Informationen, Meinungen und sonstige meinungsbildende Beiträge an die Öffentlichkeit gelangen. Kernaufgabe der Massenmedien sollte hauptsächlich darin liegen, die Öffentlichkeit möglichst objektiv mit aktuellen Ereignissen zu beliefern und ggf. diese Ereignisse zu kommentieren. Eine unabdingbare Voraussetzung für die Erfüllung der oben genannten Aufgabe der Massenmedien ist das in der ersten Menschenrechtserklärung in Europa verankerte und garantierte Recht jedes Menschen auf freie Meinungsäußerung. Ist das Recht auf freie Meinungsäußerung, so wichtig, wie es ist, nicht dennoch ein Recht, das wie sonstige Rechte auch mit Pflichten verbunden sein sollte, oder soll dieses Recht als einziges seiner Art absolut und schrankenlos sein? Wie ist es um den sogenannten „Ehrenkodex“ der Medienarbeit bestellt? Müssen die Privatsphäre und Gefühle jedes Menschen nicht als Tabu auch für die Medien gelten? Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde bereits 1946 im allerersten Konzept der später durch die Menschenrechtskommission der UNO deklarierten Menschenrechtserklärung 1948 manifestiert. Der Grund dafür, dass der Meinungsfreiheit eine zentrale Stellung in der Menschenrechtserklärung eingeräumt wurde, lag darin, dass das Medienmachtmonopol durch die Politik in einigen Ländern missbraucht wurde. 1916 vermochte der US-Präsident Woodrow Wilson mittels einer manipulierten und manipulierenden Medienpolitik das amerikanische Volk als ein außenpolitisch desinteressiertes Volk mit dem Slogan „Frieden ohne Sieg“ während des Ersten Weltkriegs zu einer Kriegstreiberei umzustimmen. In äußerst großen Maßen wurden die Massenmedien durch den Nazi-Propagandaminister Goebbels für die Mobilisierung der deutschen Bevölkerung gegen die angeblichen Feinde missbraucht. Diese wie auch spätere Erfahrungen zeigen unmissverständlich die unheilvollen Gefahren, die durch staatliche Manipulation der Medien, aber auch, wie wir später sehen werden, durch den eigenen Machtmissbrauch der Medien entstehen können. Das Machtmonopol der Massenmedien war und ist den Mächtigen bewusst. Sie haben diese manipuliert, um dann die Massen für ihre Zwecke bewusst zu manipulieren. Aber kommt die Gefahr der Medienmanipulation ausschließlich von außen bzw. durch den Staat? Welche Rolle spielen dabei die Finanzquellen bzw. die wirtschaftlichen Interessen?
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10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz?
Inwieweit tragen die Massenmedien zur objektiven Aufklärung und nicht zur Verdummung der Masse bei? Bieten Demokratie, Pluralismus und Säkularismus ausreichende Garantie für die Objektivität der Medienberichte? Die zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert entstanden mitten in einer demokratischen, pluralistischen und säkularen Welt, wobei die Rolle der Informationspolitik der Konfliktparteien nicht unerheblich war. Allen bewaffneten Auseinandersetzungen des letzten und dieses Jahrhunderts ging ein Informationskrieg voraus. Der Vietnamkrieg, die Unabhängigkeitskämpfe nach dem Zerfall der Sowjetunion insbesondere in Aserbaidschan und Tschetschenien, der Bürgerkrieg im Balkan, der in eine der grausamsten ethnischen Säuberungen ausgeartet ist, Irak I, Irak II, Afghanistan, Alt- und Neu-Nahost sind einige Beispiele dafür. Welchen Beitrag leisten die Massenmedien im Kampf gegen Rassismus, Nationalismus und Kulturalismus, oder tragen die Medien selbst dazu bei?
10.1 Die Menschenrechtserklärung und die Medienfreiheit
In Artikel 19 der Menschenrechtsdeklaration von 1948 ist die Medienfreiheit und das unantastbare Recht jedes Menschen auf die freie Meinungsäußerung manifestiert. Dafür wurde eine Menschenrechtskommission ins Leben gerufen und mit der endgültigen rechtlichen Formulierung dieser Erklärung beauftragt. Später wurde ihr die Überwachung dieses Rechts mit international geltenden Kompetenzen anvertraut. Mit der Deklaration dieser Menschenrechtscharta durch die UNO wurde die Einhaltung deren Inhalts für die UNO-Mitgliedstaaten zumindest theoretisch als verbindlich betrachtet. Mindestens zwei Probleme erschwerten und erschweren noch bis heute die konsequente Durchsetzung des schwer erkämpften Inhalts der Menschenrechtserklärung: Zum einen hat die Menschenrechtserklärung lediglich einen Empfehlungscharakter, was der Manipulation und Selektion durch die Weltmächte Tür und Tor öffnet. Zum anderen wurden keine klar definierten Sanktionen im Falle einer Nichteinhaltung der deklarierten Menschenrechte verhängt. Auch wurden keine international autorisierten Sanktionsinstrumente für derartige Fälle geschaffen. Das Fehlen der Verbindlichkeit und klarer Sanktionen brachten die eigentliche Errungenschaft um ihren Sinn. Diese Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft raubt nicht nur der Menschenrechtserklärung, sondern der gesamten UNO ihre Existenzberechtigung. Bis jetzt konnte sich die UNO nicht einmal gegen die Groß-
10.1 Die Menschenrechtserklärung und die Medienfreiheit
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mächte und Finanzlobbyisten durchsetzen. Menschenrechte und Veto-Recht der sogenannten Großmächte schließen sich, meines Erachtens, gegenseitig aus. Die von der UNO geschaffene Kommission für internationales Recht übernahm das schwierige Unterfangen, einen plausiblen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Sie teilte ihre Aufgabe in zwei Bereiche auf: Eine Gruppe befasste sich mit dem kulturellen und politischen Recht und eine andere mit dem sozialen und wirtschaftlichen Recht. Die Lösungskonzepte, die die oben genannte Kommission, auch Genfer Kommission genannt, entwarf, wurden in einer UNO-Vollversammlung angenommen und bildeten zusammen mit der bereits deklarierten Menschenrechtserklärung die bekannte internationale Menschenrechtskonvention, auch als Genfer Konvention bekannt. Der Inhalt der Genfer Konvention wurde später von vielen Ländern angenommen und nach und nach in ihre jeweiligen Verfassungen aufgenommen. Erst dadurch bekam der größte Teil der internationalen Menschenrechtskonvention einen rechtskräftigen und verbindlichen Charakter. Dennoch konnte die Manipulation derselben durch die Großmächte nicht gänzlich verhindert werden. Die Menschenrechtskommission, die durch den Sozial- und Wirtschaftsrat der UNO im Jahre 1946 geschaffen wurde, war bemüht, eine für alle Mitglieder überzeugende Formulierung des Rechts aller Menschen auf freie Meinungsäußerung zustande zu bringen. Aus diesen Bemühungen ergaben sich zwei Vereinbarungsentwürfe sowie ein ergänzendes Protokoll für den ersten Vereinbarungsentwurf. Der erste Vereinbarungsentwurf betraf das zivil- und politische Recht und der zweite befasste sich mit dem Sozial- und Wirtschaftsrecht. Am 19. Dezember 1966 wurde der Entwurf als Vertrag allen UNO-Mitgliedstaaten zur Unterschrift vorgelegt. In den Monaten Januar und März 1976 wurden die beiden Verträge für die Staaten, die sie unterschrieben haben, rechtskräftig. 1982 schloss sich Ägypten, nach der Darstellung von Gafar Abd Elsalaam, einem der bekanntesten Rechtswissenschaftler Ägyptens, den ersten Vereinbarungen über zivil- und politisches Recht an und wurde dadurch zur Einhaltung des Rechts auf freie Meinungsäußerung für alle Bürger verpflichtet. In dieser zivil-politischen Vereinbarung werden drei Punkte hervorgehoben: – Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung ohne jede Einmischung von außen. – Das Recht auf freie Meinungsäußerung impliziert das uneingeschränkte Recht auf die Erforschung und Aneignung sowie Weitergabe von Informationen oder Gedanken jeglicher Art und durch jeden Weg der Kommunikation aller Arten der künstlerischen Ausdrucksweise. – Die Rechte im Absatz 2 dieses 2. Artikels sind an spezielle Verpflichtungen und
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10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz?
die Verantwortungen geknüpft. Dies bedeutet eine gewisse Einschränkung dieses Rechts, die aber ggf. ausschließlich durch notwendige gesetzliche Bestimmungen gelten kann. In zwei Fällen könnte dieses Recht auf nationaler Ebene eingeschränkt werden: – Wenn die Rechte und Ehre anderer Menschen dadurch beeinträchtigt werden. – Wenn die soziale Sicherheit, Staatsordnung, die Volksgesundheit oder die gesellschaftliche Moral dadurch gefährdet werden. Auf internationaler Ebene schränkt der Artikel 20 dieses Abkommens das Recht auf freie Meinungsäußerung ein, wenn dies – Als Kriegspropaganda dienen könnte. – Die Verbreitung von Nationalismus, Rassismus oder religiösem Fanatismus fördern würde. Das zweite Abkommen, das sich mit dem sozial- und wirtschaftlichen Recht befasst, geht einen großen Schritt weiter im Bereich des Rechtes jedes Menschen auf freie Meinungsäußerung. Der Staat ist nach diesem Abkommen nicht nur dazu verpflichtet, die freie Meinungsäußerung zu garantieren, sondern auch dazu, seinen Bürgern alle entsprechenden meinungsbildenden sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür anzubieten. Hierbei steht das Recht auf geeignete Arbeit, soziale Versicherung und Bildung im Vordergrund. Artikel 13 dieses Abkommens besagt: Alle Vertragspartner bekennen sich dazu, dass jeder Mensch das Recht auf aktive Teilnahme am kulturellen Leben hat. Den kulturellen Aktivitäten müssen die Entfaltung und Evaluierung der menschlichen Persönlichkeit und Bewahrung seiner Ehre als Ziel gelten. Die kulturellen Aktivitäten müssen den Respekt vor den Menschenrechten sowie den gegenseitigen Respekt zwischen allen Ländern, Ethnien, Kulturen, Ideologien, Religionen und die friedlichen Ziele der UNO fördern.
Artikel 15 betont das Recht jedes Menschen auf – Die aktive Teilnahme am kulturellen Leben. – Die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt. – Den Schutz der Ergebnisse seiner geistigen, literarischen, materiellen und künstlichen Leistungen (Urheberrecht). – Die Teilhabe an den technologischen Errungenschaften im Bereich der Kommunikation, Wissenschaft und Kultur.
10.2 Die UNESCO und die Medienfreiheit
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10.2 Die UNESCO und die Medienfreiheit
Als Zielsetzung hat sich die UNESCO dazu verpflichtet, die UNO-Ziele, nämlich Frieden und Sicherheit in der Welt durch die internationale Zusammenarbeit in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, die Grundfreiheiten jedes Menschen und die Menschenrechte zu fördern. Diese hohen Ziele will sie vor allem durch Bildung, Wissenschaft, Kultur und Medienfreiheit insbesondere in der sogenannten Dritten Welt erreichen. 1956 verabschiedete die UNESCO einen Beschluss, nach dem alle administrativen Hindernisse vor dem Transfer von Büchern, visuellem Lernmaterial (z. B. Kinofilmen) und Informationen in die Dritte Welt aufgehoben werden sollen. Ausbildungsprogrammen im Bereich der Medienarbeit sowie Entwicklungshilfe bei Funk-, Fernseh- und Kinoarbeit widmete die UNESCO besondere Aufmerksamkeit, um die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von den Industrieländern in den Bereichen der Bildung sowie der Medien- und Kommunikationssysteme zu verringern. Die UNESCO schuf Förderprogramme für die Umsetzung der freien Meinungsäußerung durch konstruktive Kommunikationspolitik und die Schaffung der dazu benötigten Infrastruktur in den betroffenen Ländern. 1976 hob die UNESCO in einer internationalen Konferenz die Notwendigkeit des „Kommunikationsrechts“ für alle Länder hervor. Sie unterstrich im Zuge dessen die Bedeutung von nationalen Nachrichtenagenturen und den entsprechenden Gesetzgebungen sowie eine international anerkannte Kommunikationspolitik. Durch mehr Gerechtigkeit und Ausgewogenheit in der Kommunikationspolitik wird das Ziel verfolgt, die Diskrepanz zwischen den Entwicklungsländern auf der einen Seite und den Industrieländern auf der anderen Seite möglichst zu verringern. Bei ihrer 20. Vollversammlung im November 1978 deklarierte die UNESCO einen Prinzipienkodex für die Verwendung von Massenmedien, welche den Weltfrieden und den Kampf gegen Kriegstreiberei sowie die Schaffung bzw. Einhaltung des Ehrenkodexes der Massenmedien fördern sollen. Bei allen UNESCO-Entwürfen und Deklarationen werden die Grundrechte jedes Menschen auf freie Äußerung, die Medienfreiheit, das Recht auf freie Kommunikation, aber auch die persönliche Verantwortung jedes Menschen für seine Äußerungen hervorgehoben. In einer Vollversammlung der UNESCO im März 1983 entwarf sie eine „Neue Weltordnung für die Medien“. Darin wurde Folgendes unterstrichen: – Garantierte Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit für alle Korrespondenten. – Freier Zugang zu den Informationsquellen bzw. Orten des Geschehens.
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10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz?
– Ungehinderter und unzensierter Fluss und Verbreitung von Informationen. – Ungehinderter Transfer von Büchern und sonstigen Informationsmaterialien. – Schutz vor Informationen, die zu möglichem Machtmissbrauch beitragen bzw. ermutigen könnten. – Förderungsprogramme für einen bewussten selektiven Umgang mit den medialen Informationen insbesondere bei Jugendlichen (hier geht es um die Bewahrung ethischer Werte gegen anscheinend unaufhaltsame exzessive Materialien besonders im Internet). Die von der UNO verabschiedete und im Jahr 1976 zur Unterschrift vorgelegte Vereinbarung über Medienfreiheit sieht neben der Garantie der Pressefreiheit einige Einschränkungsmöglichkeiten vor, die durch nationale Gesetzgebung gelten können. Artikel 2, Absatz 2 verknüpft die Pressefreiheit mit Verantwortung und erlaubten staatlichen Zensuren im Falle, dass die Rechte und/oder die Ehre eines anderen dadurch verletzt werden, sowie bei Gefährdung der Staatsordnung, der sozialen Sicherheit, der allgemeinen Gesundheit und der gesellschaftlichen Moral. Artikel 20 derselben Vereinbarung legitimiert Pressezensuren in bestimmten Fällen, wie bei Kriegspropaganda sowie bei der Verbreitung von Nationalismus, Rassismus und religiösem Fanatismus. Die UNESCO übernahm die Aufgabe, die dafür erforderlichen wissenschaftlichen, pädagogischen und kulturellen Grundlagen zu konzipieren.
10.3 Zwischen Recht und Pflicht – Kritische Stimmen
Im gegenwärtigen Diskurs stellt kein Beteiligter das individuelle Recht auf freie Meinungsäußerung infrage, wie es einige Diskutanten wahrgenommen haben wollen. Vielmehr geht es in der heutigen Debatte um die existentielle Frage, ob es überhaupt eine uneingeschränkte Freiheit gibt bzw. geben kann. Mit anderen Worten: Kann es in einer zivilisierten Gesellschaft Rechte ohne Pflichten bzw. Handlung ohne Verantwortung geben? Weiters geht es um die Frage, ob die Menschenrechtserklärung kulturelle, ethnische oder sonstige Grenzen haben darf, will sie ihren universellen Charakter beibehalten. Und schließlich stellt sich die Frage, ob Menschenrechtserklärungen nicht daran gemessen werden sollten, inwieweit sie zur Menschenwürde beitragen können. Die Menschenrechtserklärung von 1948 steht im Zentrum des westlichen Diskurses seit der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts und brauchte mehr als anderthalb Jahrhunderte bis zu ihrer von blutigen Wehen eingeleiteten Geburt.
10.3 Zwischen Recht und Pflicht – Kritische Stimmen
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Sie hat zudem ihre vollständige Reife knapp sechzig Jahren nach ihrer Ratifizierung noch nicht erreicht. Ihre Mündigkeit würde sie erst erreichen, wenn sie den Schritt von der bloßen Manifestation zur uneingeschränkten Realisation vollzogen hätte. Mit anderen Worten: bis sie im politischen und gesellschaftlichen Alltag im vollen Maße und ohne jedwede Manipulation oder Selektion als Selbstverständlichkeit gilt. Ohne die Wertschätzung der Menschenrechtserklärung in irgendeiner Weise in Zweifel ziehen zu wollen, legt man im orientalischen Diskurs mehr Wert auf Menschenwürde als auf bloße Menschenrechte. Nach orientalischem Verständnis impliziert die Menschenwürde die Menschenrechte und erweitert sie zusätzlich um eine ethische Dimension. Würde man eine „Menschenwürdeerklärung“ zusätzlich zur oder gar anstelle der vorhandenen Menschenrechtserklärung schaffen, so würde eine Handlung nicht mehr exklusiv danach beurteilt, ob sie rechtmäßig ist oder nicht, sondern eher danach, ob sie ethisch vertretbar ist oder nicht. Die sogenannte „InterAction“ früherer Staats- und Regierungschefs unter der Leitung des deutschen Altbundeskanzlers Helmut Schmidt hat sich einem -Interview mit Hans Küng für das Katholische Nachricten-Agentur (KNA) zufolge schon vor längerer Zeit auf eine allgemeine „Erklärung der Menschenpflichten“ geeinigt, welche die allgemeine Menschenrechtserklärung unterstützen sollte. Artikel 14 in dieser Erklärung lautet folgendermaßen: „Die Freiheit der Medien bringt eine besondere Verantwortung für genaue und wahrheitsgemäße Berichterstattung mit sich. Sensationsberichte, welche die menschliche Person oder die Würde erniedrigen, müssen stets vermieden werden.“294 Das heißt: Wenn schon nicht erlaubt ist, einzelne Individuen zu diffamieren und in ihrer Würde zu verletzen, dann sollte man auch mit den religiösen Leitfiguren der Menschheit in den Medien taktvoll umgehen, ob das nun der Prophet Muhammad oder Jesus Christus ist. Uneinsichtige Verteidiger einer schrankenlosen Pressefreiheit schaden dieser Freiheit selbst und rufen dann inadäquate Reaktionen hervor.295
Die internationalen Presseverbände haben diese Erklärung wegen dieser Artikel abgelehnt. Über den Zusammenhang zwischen Meinungs- und Pressefreiheit einerseits und Presseverantwortung andererseits sagte Küng im selben Interview: „Selbstverständlich muss die verfassungsmäßig garantierte Meinungs- und Pressefreiheit in jedem 294 KNA, 7. Februar 2006. 295 Ibd.
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Fall hochgehalten werden. Aber Pressefreiheit schließt auch Presseverantwortung ein.“296 Im Zusammenhang mit dem Streit über die Muhammad-Karikaturen sagt die Professorin für Praktische Theologie an der Universität Wien, Susanne Heine: Es ist undenkbar, dass Europa wieder eine staatliche Zensur einführt; so etwas können sich Leute vorstellen, die in Ländern ohne Meinungsfreiheit leben. Ende der Zensur heißt allerdings nicht Ende der Verantwortung. Ein Arzt wird gründlich gebildet, dann handelt er aus eigener Verantwortung, oder er kommt als Kurpfuscher vor Gericht. Den Kurpfuschern der dänischen Tageszeitung hat das Gericht ihr Handwerk nicht gelegt. Weder Journalisten noch Richter haben Verantwortung wahrgenommen, weil sie – es ist schmerzlich zu sagen – ungebildet sind.297
Über die negative Wirkung der Kommunikation auf die gesellschaftliche Tradition schreibt der zeitgenössische italienische Intellektuelle Mario Perniola in seinem Buch „Wider die Kommunikation“ unter der Überschrift „Kommunikation und Werte“ Folgendes: Der verheerende und zerstörerische Angriff, den die Kommunikation gegen die Tradition führt, läuft über eine Strategie der allumfassenden Einverleibung mit dem Ziel, sogar die Wahrnehmung eines Konflikts zu unterdrücken. Wer in der Kommunikation vermeintlich eine bewusste Entscheidung für das Vergängliche, das Vorübergehende, das Augenblickliche sieht, täuscht sich, denn sie erhebt auch den Anspruch, dauerhaft, beständig und sogar unsterblich zu sein.298
10.4 Medien und Politik – Wer manipuliert wen?
Wie gefährlich die Manipulation der Medien durch den Staat sein kann, haben wir anhand der oben geführten Beispiele, während des Ersten Weltkrieges in den USA durch Woodrow Wilson und im Zweiten Weltkrieg durch die Nazis in Deutschland sowie bei späteren Konflikten,299 deutlich gesehen. Ohne in antidemokratischen Verdacht geraten oder als ein Verfechter der Medienzensur missverstanden werden zu wollen, möchte ich einige Fragen stellen: 296 Ibd. 297 Die Furche, 7. Februar 2006. 298 Wider die Kommunikation, Berlin, Merve Verlag, 2006, S. 25. 299 I. u. II. Irakkrieg; Tschetschenien; 11. September 2001 in den USA; Afghanistan, Palästina und heute Libanon.
10.4 Medien und Politik – Wer manipuliert wen?
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Können wir uns nicht genauso gut einen Rollentausch vorstellen, nach dem die Medien die Politik manipulieren? Demokratie und Pressefreiheit bedingen sich gegenseitig, aber wie groß ist die politische Macht der Medien in einem demokratischen System, in dem die Legitimität der Politik fast ausschließlich von durch Medien beeinflusste Wählerstimmen abhängig ist? Können die meinungsbildenden Medien durch ihr mediales Machtmonopol die Politik nicht ihrerseits manipulieren, um nicht von Erpressung zu sprechen? Wie viel ist dann eine Demokratie wert, die durch zügellose Massenmedien manipuliert werden kann? Die meisten Massenmedien sind von Sponsoren aus der Wirtschaft abhängig. Wird nicht auch die Politik mittels der von ihr abhängigen Massenmedien durch die Wirtschaft manipuliert? Dazu schreibt Mario Perniola im oben erwähnten Buch unter der Überschrift „Kommunikation und New Economy“ Folgendes: Ein nicht unbedeutender Grund für den Erfolg der Kommunikation liegt in ihrer vorgeblichen Verbindung zu jener Transformation des Kapitalismus, die in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat und bekanntlich unter dem Namen New Economy firmiert. Unter diesem Begriff versteht man die Ausweitung der Ökonomie auf Bereiche der Erkenntnis, der Information, des Wissens und der Kultur, wodurch wichtige Belange wie Kompetenz, Know-how, Patente, vertrauliche Beziehungen, das Netz persönlicher Verbindungen … also die Gesamtheit der sogenannten intangibles in eine Dynamik der ökonomischen Bewertung eingeschleust wird. Dies führt zu einer regelrechten Revolution in den Beziehungen zwischen Wissen und Macht, was die traditionelle Trennung zwischen materieller Struktur und ideologischem Überbau aus den Angeln hebt und den Forschern, den kreativen Denkern, den Künstlern und überhaupt den technischen und intellektuellen Erneuern neue und außergewöhnliche Möglichkeiten eröffnet, in die Welt einzugreifen und sich dort durchzusetzen, wodurch sie aber zugleich Gefahr laufen, in einem in modernen Zeiten ungekannten Maß in Abhängigkeit zu geraten und proletarisiert zu werden.300
Perniola zeigt unmissverständlich, welche Gefahren für Wissenschaft, Kultur und Tradition durch eine mögliche Allianz zwischen Medien und Wirtschaft entstehen könnten, nämlich die Manipulation der gesamten gesellschaftlichen Kompetenzen zu Diensten der privaten Wirtschaft. 300 Ibd., S. 23.
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10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz?
Über das Ausmaß der von Perniola beschriebenen gesellschaftlichen Gefahren kann man streiten, unbestritten bleibt jedoch die desorientierende und irreführende Auswirkung auf die konsumierende Masse. Ob nun die Medien die Politik manipulieren oder umgekehrt – letztendlich bleibt die manipulierte Bevölkerung der einzige Verlierer in diesem Prozess. Manipulierte Meinungsbildung verhindert jedwede Art der Demokratie. Über die Rolle der Medien in der gegenwärtigen Politik schreibt Noam Chomsky in seinem Buch „Media Control“301 Folgendes: „Die Rolle der Medien in der gegenwärtigen Politik zwingt uns zu der Frage, in was für einer Welt und in was für einer Gesellschaft wir leben wollen, und vor allem, in welchem Sinn diese Gesellschaft demokratisch verfasst werden sein soll.“302 Weiters schreibt er: Ich möchte zunächst zwei unterschiedliche Konzeptionen von Demokratie einander gegenüberstellen. Die eine geht davon aus, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Bevölkerung die Möglichkeit hat, sich in einer sinnvollen Weise an der Regelung ihrer Angelegenheiten zu beteiligen und ungehinderten Zugang zu den Informationsmitteln besitzt. Wenn man in einem Lexikon den Begriff „Demokratie“ nachschlägt, wird man eine Definition dieser Art erhalten. Eine andere Konzeption besagt, dass die Bevölkerung von der Regelung ihrer Angelegenheit ausgeschlossen und der Zugang zu den Informationsmitteln streng begrenzt und kontrolliert werden muss. Das mag sich seltsam anhören, aber diese Konzeption von Demokratie ist die vorherrschende, und das schon seit langem, in der Theorie ebenso wie in der Praxis. Es ist eine Geschichte, die bis zu den frühsten demokratischen Revolutionen in England des 17. Jahrhunderts zurückreicht.303
Chomsky befasst sich im oben genannten Buch ausschließlich mit der Informationspolitik der USA. Er spricht bewusst nicht von Informations-, sondern viel mehr von Propagandapolitik und durchkämmt sie kritisch vom Ersten Weltkrieg bis zum Irakkrieg. Er erwähnt dabei die bekanntesten amerikanischen Nachrichtenagenturen im Zusammenhang mit dem amerikanischen Umgang mit dem oppositionellen Regime insbesondere in Lateinamerika und im Nahen Osten. Die USA-Propagandapolitik ist für Chomsky das beste Beispiel für die von ihm genannte Konzeption der Demokratie, in welcher der Zugang der Bevölkerung zu den Informationsmitteln „streng begrenzt und kontrolliert werden muss.“ Diese Art der Demokratie nennt er „De-
301 Hamburg, Europa Verlag, 2003. 302 Ibd., S. 28. 303 Ibd.
10.5 Der „Wüstensturm“, Krieg zur Befreiung Kuwaits?
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mokratie für Zuschauer“.304 Er spricht hierbei von der „Herstellung der öffentlichen Meinung“ durch „das Demokratie-Ideal der Public-Relations-Industrie.“ Dazu sagt er im Sinne der USA-Propagandapolitik: „Manchmal ist es notwendig, die Bevölkerung (und sei es mit der Peitsche) zur Befürwortung außenpolitischer Abenteuer zu bewegen.“305
10.5 Der „Wüstensturm“, Krieg zur Befreiung Kuwaits?
Lassen Sie mich auf die amerikanische Informationspolitik in Bezug auf den Irak im Sinne von Noam Chomsky eingehen. Rational auf den bis heute noch brennenden Israel/Libanon-Konflikt im Rahmen dieses Beitrags einzugehen, halte ich für viel zu verfrüht, da die Emotionen bei allen Beteiligten noch zu aufgewühlt sind und die Vernunft noch zu sehr mit der Sammlung objektiver Informationen beschäftigt ist. Wenn man die Berichterstattung über den Golfkrieg seit August 1990 ansieht, fällt auf, dass die Stimme der seit langer Zeit im Exil lebenden demokratischen Opposition gegen den gestürzten irakischen Diktator Saddam Hussein fehlt. Im Februar 1989, als Saddam noch George Bushs bester Freund bzw. Handelspartner und Verbündeter gegen den Iran war, bat die irakische Opposition Washington um Unterstützung für die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie im Irak. Sie wurde kurzerhand abgewiesen; die USA hatten damals kein Interesse daran. Die Berichterstattung darüber war gleich null. Als aber die USA ihre Politik um hundertachtzig Grad gegen Saddam wandelte, den Ronald Reagan und sein Nachfolger George Bush hofierten, während sie die Stimme der irakischen Opposition ignorierten, war die Stimme der irakischen Opposition für die USA plötzlich von existenzieller Bedeutung. Von August 1990 bis März 1991, d. h. bis der sogenannte „Wüstensturm“ zur Befreiung Kuwaits begann, verloren die US-amerikanischen Medien kein einziges Wort über diese Opposition und ihr Anliegen. Grund dafür war anscheinend die ablehnende Haltung dieser Opposition so wie jene der Friedensbewegung gegenüber den Kriegsplänen der USA-Regierung. Dazu sagt Chomsky: „Wenn man etwas über die Opposition erfahren will, muss man deutsche oder britische Zeitungen lesen, die weniger kontrolliert werden als unsere Blätter.“306 304 Ibd., S. 30. 305 Ibd., S. 36. 306 Ibd., S. 45.
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10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz?
Unter dem Slogan „Aggressoren dürfen nicht belohnt, sondern müssen durch schnellen Einsatz von Gewalt in die Schranken gewiesen werden“ haben die US-amerikanischen Medien versucht, die eigene Bevölkerung und die Welt für den Krieg gegen den Irak zu indoktrinieren. Mitte Januar, bevor die ersten amerikanischen Bomben im Irak fielen, förderte eine vom Sender ABC und der „Washington Post“ durchgeführte Umfrage etwas Interessantes zutage. Es ging dabei um die Frage, ob sie (die Befragten) es begrüßen würden, wenn der Irak sich unter der Bedingung aus Kuwait zurückzöge, dass der UN-Sicherheitsrat sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigte. Zwei Drittel der Befragten waren dafür, aber die Presse hielt es für keine gute Idee. Washington hatte sich als Gegner eines solchen diplomatischen Junktims erklärt, und die Medien vollzogen den Schulterschluss. Allein Alexander Cockburn befürwortete diesen Vorschlag in der „Los Angeles Time“. Offensichtlich wussten die Leute, die ebenfalls dafür waren, überhaupt nicht, dass der Irak ein solches Angebot gemacht hatte. Am 2. Januar hatten hochrangige US-Regierungsbeamte die Meldung verbreitet, der Irak sei bereit, sich vollständig aus Kuwait zurückzuziehen, wenn der UN-Sicherheitsrat den Nahostkonflikt und das Problem von Massenvernichtungswaffen auf die Tagesordnung setzen würde. Die USA waren lange Zeit vor dem Einmarsch in den Irak dagegen, dass diese Probleme im UN-Sicherheitsrat verhandelt werden. Was wäre geschehen, wenn die US-Bevölkerung von diesem Angebot damals gewusst hätte? Die Zahl der Befürworter dieses Angebots wäre nach der Schätzung Chomskys von zwei Dritteln auf 98 % gestiegen.307 Der oben erwähnte irakische Vorschlag war höchstwahrscheinlich ein Teil der Auswirkungen durch die gegen ihn verhängten Sanktionen. Trifft diese Interpretation zu, so wären der Krieg, zehntausende Tote und eine Umweltkatastrophe durch vielleicht noch härtere Sanktionen vermeidbar gewesen. Warum ignorierte die US-amerikanische Presse die irakischen Marschflugkörper, die auf israelische Gebiete einschlugen? Vielleicht deshalb, weil die Argumente von Saddam Hussein nicht schlechter als die von George Bush waren. Saddam konnte die Annektierung von palästinensischen Gebieten und Ostjerusalem sowie die Besetzung der Golanhöhen durch Israel nicht dulden. Dies alles steht im Widerspruch zu allen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Die Besetzung des Südlibanons durch Israel ist genauso rechtswidrig wie die durch Amnesty International verurteilten Gräueltaten der Israeli im Westjordanland. Dies waren die Argumente von Saddam Hussein, die sicherlich glaubwürdiger als jene von George Bush waren. 307 Ibd., S. 47.
10.6 Der Heilige Krieg gegen den Terrorismus
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Nehmen wir an, Saddam Hussein sei ein Ungeheuer gewesen und habe es auf die Eroberung der Welt abgesehen gehabt – wie es die durch die Massenmedien in der US-Bevölkerung verbreitete Meinung war. Dies wirft die Frage auf, wie er so mächtig hatte werden können. Noch ein wesentlicher Fall, der von den westlichen Medien total ignoriert wurde. Es geht hier um ein politisches Gespräch, das in Bagdad zwischen amerikanischen und irakischen Diplomaten kurz vor dem Einmarsch der irakischen Armee in Kuwait am 2. August 1991 stattgefunden hat und das durch irakische Fernsehsender live übertragen wurde. Bei der Besprechung des damals hoch sensiblen Grenzproblems zwischen dem Irak und Kuwait sagte die amerikanische Botschafterin in Bagdad, dass zwischen Kuwait und den USA kein Verteidigungsvertrag bestehe, was Saddam als grünes Licht verstanden hat, in Kuwait einzumarschieren, ohne amerikanische Einmischung befürchten zu müssen. In einer amerikanischen Fernsehsendung schilderte ein junges Mädchen mit verweinten Augen, dass es angeblich mit eigenen Augen gesehen habe, wie die irakischen Soldaten Frühgeborene brutal aus ihren Brutkästen gerissen und die leeren Brutkästen daraufhin mitgenommen hätten. Später wurde bekannt, dass es sich um die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA handelte, die für ihr Verhalten in dieser Sendung gut „trainiert“ worden war.
10.6 Der Heilige Krieg gegen den Terrorismus
Den Kampf gegen den Terrorismus bezeichnete US-Präsident Bush als „Kreuzzug“, während ihn Coleen M. Rowley, Spezialagentin des FBI Minnesota, mit folgenden Worten beschrieb: „[D]as mörderischste, teuflischste Vertuschungsmanöver gegenüber dem eigenen Volk, das sich ein amerikanischer Präsident und sein Kabinett jemals zu Schulden kommen ließ.“ Hierzu werde ich aus einem Buch zitieren, das Gore Vidal in der „taz“ unter der Überschrift „Die US-Partner im Geschäft des internationalen Terrors“ als das „erschütterndste Buch mit der besten Analyse über den 11. September, das ich bisher gelesen habe“ bezeichnet.308 Dieses Buch trägt den Titel „Geheimsache 09/11. Hintergründe über den 11. September und die Logik amerikanischer Machtpolitik“.309 Der Autor heißt Nafeez Musaddeq Ahmed und ist Engländer bangladeschischer Abstammung. Er leitet das 308 „Taz“-Ausgabe vom 24. Dezember 1994. 309 2. Aufl., Hamburg, Goldmann Verlag, 2004.
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10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz?
Institute for Policy Research and Development in Brighton, England. Bello Walden schrieb unter dem Titel „The American Way of War“, erschienen in „Focus in Trade“310 Folgendes: Zum ersten Mal wird die Bevölkerung im Inland bedroht. Das Endziel ist nicht die Gefangennahme eines Fanatikers, die nichts als ein reines Medienereignis wäre, sondern die Konsolidierung der imperialen Macht des Westens […]. [D]ie Nachricht, die heute nicht in der Zeitung steht ist, dass der Krieg gegen den Terrorismus ausgenutzt wird, um mit ihm Ziele zu erreichen, die die Macht Amerikas zu vergrößern suchen. Dazu gehören die Bestechung, Unterjochung korrupter und schwacher Regierungen im ehemals sowjetischen Zentralasien, die für die Ausweitung des amerikanischen Einflusses in dieser Gegend und damit die Kontrolle über die letzten unangetasteten Öl- und Gasreserven in der Welt entscheidend sind.311
Der amerikanische Journalist Patrick Martin schrieb: Bei der Untersuchung jedes Verbrechens lautet die zentrale Frage: wem nützt es? Die Hauptnutznießer der Zerstörung des World Trade Center sind die Vereinigten Staaten bzw. die Bush-Regierung, das Pentagon, die CIA und das FBI, die Rüstungsindustrie, die Ölkonzerne, die aus dieser Tragödie einen solchen Nutzen haben.312
Nafeez Ahmed fasst die Ergebnisse seiner dokumentarisch gut belegten Arbeit folgendermaßen zusammen: – Sowohl die USA als auch die Sowjetunion sind für den Aufstieg des religiösen Extremismus, Terrorismus und den Bürgerkrieg verantwortlich, den Afghanistan seit den 80er Jahren erlebt hat. Die Vereinigten Staaten tragen jedoch auch die ganze Verantwortung für das Aufkommen einer verqueren „Dschihad-Ideologie“, die zusammen mit den amerikanischen Waffen und der amerikanischen Ausbildung auch noch nach dem Abzug der sowjetischen Truppen Krieg und Terror im Land schürte. – Die Vereinigten Staaten akzeptierten den Aufstieg der Taliban und unterstützten diese Bewegung auch weiterhin zumeist im Geheimen, trotz der ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen, deren Opfer afghanische Zivilisten waren – und dies alles nur, um ihre regionalen strategischen und wirtschaftlichen Interessen abzusichern. 310 Walden, Bello: „The American Way of War “, in: Focus in Trade Nr. 72, Dezember 2001. 311 Ibd. 312 Ibd.
10.6 Der Heilige Krieg gegen den Terrorismus
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– Militär und Regierung der Vereinigten Staaten planten seit mindestens einem Jahr vor dem 11. September einen Krieg in Afghanistan. Dieser Plan wurzelte in geostrategischen und wirtschaftlichen Überlegungen, welche die Kontrolle um Eurasien und damit die Befestigung einer unangefochtenen globalen Hegemonie Amerikas zum Ziele hatten. – Die US-Regierung behinderte ständig Ermittlungen zur Rolle der saudischen Königsfamilie, saudischer Geschäftsleute und Mitglieder der Familie Bin Laden, die im Verdacht standen, Osama Bin Laden sowie ihm zugeschriebene terroristische Aktivitäten zu unterstützen. Dies war gleichbedeutend mit dem Schutz führender in Saudi-Arabien lebender Personen, die Verbindungen zu Osama Bin Laden hatten. – Die US-Regierung blockierte ständig die Versuche, Osama Bin Laden anzuklagen oder festzunehmen, und hat ihn dadurch wirksam und direkt geschützt. – Die US-Regierung hat es zugelassen, dass mutmaßliche Terroristen mit Verbindungen zu Osama Bin Laden auf Kosten von Saudi-Arabien jahrelang eine Ausbildung in Einrichtungen des amerikanischen Militärs erhielten sowie auf amerikanischen Flugschulen das Fliegen lernten. – Führende Stellen der Regierung, der Streitkräfte, der Nachrichtendienste und Justizbehörden der Vereinigten Staaten erhielten zahlreiche glaubhafte und dringende Warnungen vor den Anschlägen des 11. September, die sich auch noch zunehmend gegenseitig ergänzten und verstärkten. Nur einer umfassenden Untersuchung könnte es gelingen, definitiv aufzuklären, warum die amerikanischen Geheimdienste nicht auf die erhaltenen Warnungen reagierten. Jedoch weisen die Natur dieser vielfältigen Warnungen sowie die falschen Behauptungen der US-Nachrichtendienste, sie hätten diese überhaupt nicht erhalten, darauf hin, dass jene tatsächlich im Voraus von den Anschlägen wussten, aber jetzt im Nachhinein versuchen, diese Tatsache zu vertuschen. – Trotz dieser vielen Warnungen versagte das Krisenreaktionssystem der US-Luftwaffe am 11. September völlig. Klar feststehende Regeln, die normalerweise auch routinemäßig eingehalten werden, wurden an diesem Tag nicht befolgt. Dies lässt sich nur dadurch erklären, dass man annimmt, dass die entsprechenden Standardrichtlinien für Luftnotfälle ganz bewusst sabotiert wurden. – Dies konnte nur dann gelingen, wenn auch hier höchste Stellen in der US-Regierung und dem amerikanischen Militär die Fäden gezogen haben. Sowohl Präsident Bush auch General Myers, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, legten an diesem 11. September eine eigenartige Indifferenz gegenüber diesen ungeheuerlichen Ereignissen an den Tag. Dies könnte auf eine gewisse Verantwortlichkeit der beiden hindeuten. Noch einmal sei betont, dass auch hierüber nur eine gründliche Untersuchung endgültigen Aufschluss geben könnte.
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10 Informationspolitik – Politik, Medien und Militär, eine unheilvolle Allianz?
– Unabhängige Journalisten deckten auf, dass Mahmud Ahmad, der Generaldirektor des ISI, amerikanische Regierungsgelder an Mohammed Atta weiterleitete, der vom FBI als „Kopf der Verschwörer“ bezeichnet wurde. Die US-Regierung schützte Ahmad und sich selbst, indem sie ihn nach der Aufdeckung dieser Affäre aufforderte, still und ohne Aufsehen zurückzutreten. Damit hat sie eine weitere Untersuchung und einen möglichen Skandal verhindert. – Die Ereignisse des 11. September waren für die Bush-Administration von entscheidendem Nutzen, da sie die Konsolidierung der Macht und des Profits der Eliten in den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt rechtfertigten. Die tragischen Ereignisse und der Tod tausender Zivilisten wurden von der US-Regierung dazu benutzt, im Inland gegen die Freiheiten der Bürger vorzugehen, während sie gleichzeitig einen rücksichtslosen Bombenkrieg gegen das wehrlose Volk Afghanistans begann, indem fast doppelt so viele Zivilisten umkamen wie am 11. September.313 Genau eine Woche nach dem ungeheuren Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 kommentierte George Monbiot in der englischen Zeitung „The Guardian“ vom 18. September 2001 die Ereignisse mit den folgenden Worten: Wenn es Osama Bin Laden nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. In den letzten vier Jahren wurde er immer dann angeführt, wenn ein amerikanischer Präsident versuchte, den Verteidigungshaushalt zu erhöhen oder aus Rüstungskontrollverträgen herauszukommen. Er wurde sogar dazu benutzt, Präsident Bushs Raketenabwehrprogramm zu rechtfertigen, obwohl weder Bin Laden noch seine Kumpane dafür bekannt sind, über etwas zu verfügen, das einer Raketentechnologie auch nur nahekäme. Und jetzt ist er zur Personifikation des Bösen geworden, gegen den ein „Kreuzzug“ für das Gute unternommen werden muss. 314
Man mag dieser Ausführung Glauben schenken oder sie für unglaubwürdig und einseitig halten, sie zeigt jedoch eindeutig, wie ohnmächtig wir gegenüber politisch manipulierten Medien sind. Die hier erwähnten Beispiele der beiden Weltkriege sowie vom heutigen sogenannten globalen Weltkrieg gegen den Terrorismus sprechen eine eindeutige Sprache. Ob die Medien die Politik manipulieren oder umgekehrt, die Bevölkerung ist in jedem Falle die Leidtragende. Von einer gut funktionierenden Demokratie kann man unter diesen Umständen kaum sprechen. Ein Ausweg aus der Spirale der Gewalt wäre erst möglich, wenn der Westen die Tatsache wahrnähme, dass der Orient von heute nicht mehr der Alte ist und es nie 313 Siehe S. 382 ff. 314 Ibd.
10.6 Der Heilige Krieg gegen den Terrorismus
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wieder sein wird. Der Orient und insbesondere die Muslime können nicht mehr tatenlos zusehen, wie der Westen die Ereignisse mit zweierlei Maß misst und die Menschenrechte zu ihrem Nachteil manipuliert. Jeder Widerstand gegen eine fremde Besatzung wird auch in den meisten europäischen Medien einfach als Terrorismus diffamiert. Jeder Staatsterror, der von einem befreundeten Land durchgeführt wird, wird als legitime Selbstverteidigung deklariert. Am 11. August 2006 tagte die Menschenrechtskommission in Genf auf Antrag der arabischen und islamischen Vertreter und verabschiedete eine Resolution, die das israelische Bombardement im Libanon verurteilt. Die neun europäischen Vertreter sowie Japan, die Ukraine und Kanada stimmten, anscheinend wegen politisch übermächtigem Druck oder aus sonstigen kulturalistischen Gründen, gegen den Antrag. Acht Vertreter, nämlich Kamerun, Ghana, Nigeria, Gabun, Mexiko, Südkorea, die Philippinnen und die Schweiz enthielten sich der Stimme. Diese Resolution wurde mit einer Mehrheit von 27 Stimmen angenommen. Ein UNO-Mitgliedsstaat wird dem Erdboden gleichgemacht, Zivilisten mitsamt ihren Häusern barbarisch bombardiert und die Infrastruktur systematisch zerstört – und das alles reicht offenbar nicht für eine Verurteilung aus. Frustration und Aussichtslosigkeit sind die Brutstätten jeder Art von Extremismus, ob religiöser, nationaler, rassistischer oder sonstiger Prägungen. Ohne irgendeine Art des Terrors in irgendeiner Weise rechtfertigen zu wollen, ist sie immer eine Wirkung von Ursachen, die wir bewusst ignorieren oder unbewusst aus unsrem Bewusstsein verdrängen, weil sie uns nicht bequem erscheinen und unserer Arroganz die Existenzberichtigung entziehen. Solange wir nicht den Mut aufbringen können, unsere eigene Selbstwertschätzung zu hinterfragen und die anderen als gleichwertige Partner wahrzunehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn der Terror von heute morgen noch unabsehbarere Dimensionen annimmt. Würde der sogenannte globale Kampf gegen den Terror in der Tat und ausschließlich um die menschliche Würde geführt werden, und nicht, wie es gegenwärtig der Fall ist, für national geopolitische Zwecke manipuliert bzw. geführt werden, um eine bestimmte Volksgemeinschaft zu diffamieren, würden die Muslime an vorderster Front für die Bewahrung und den Erhalt der menschlichen Würde antreten.
11 Wohlfahrtinitiativen im Islam 11.1 Definition
Drei Fragen stelle ich vorab als Einleitung zu diesem Thema: – Kann Diakonie in einem islamischen Land vom Staat geleistet bzw. unterstützt werden? – Ist Diakonie nicht ausschließlich ein privater religiöser Dienst? – Ist Diakonie in einer säkularen Gesellschaft ausschließlich eine kirchliche Leistung? Eins vorweg: In allen Fällen ist Diakonie immer ein sozialer und zugleich religiöser Dienst. Im Islam ist sie ein sozial-religiöser Gottesdienst, in dem der theoretische Glaube in Taten umgesetzt wird. Der Glaube wird im Islam nach den Worten des Propheten Muhammad folgendermaßen definiert: „Der Glaube ist das Aussprechen des Glaubensbekenntnisses und dieses Bekenntnis im Herzen verinnerlichen und dann entsprechend handeln.“315 Eine der wichtigsten Arten der Glaubenskonkretisierung ist die Abgabe eines Teils des eigenen Eigentums an die Armen, der als ihr gutes Recht zusteht und nicht als ein Gnadenakt geleistet werden muss. Diese religiösen Pflichtabgaben dürfen daher nicht als „Spende“, sondern vielmehr als ein Gottesdienst betrachtet werden, der quantitativ bestimmt ist. Alles, was man darüber hinaus abgibt, wird als eine freiwillige Spende betrachtet und dementsprechend von Gott vergolten. Die Summe aller Arten der sozial-religiösen Abgaben bilden die Hauptquelle der sogenannten diakonischen Arbeit im Islam. Es gibt zwei Arten von sozial-religiösen Abgaben: – Eine Pflichtabgabe (Zakat) – Eine freiwillige Abgabe (Sadaqa). Es handelt sich also um ein Recht der Armen und kein Almosen. Im Koran finden sich folgende Verse dazu: „Ihr werdet die Liebe (Gottes) erst erlangen, wenn ihr von dem ausgebt, was euch lieb ist!“316 Dieses Recht wird auch in den folgenden Koranversen betont: 315 An-Nawawi, Muhyiaddin: Scharh Sahih Muslim, Bd. 1, S. 149. 316 Sure 3:92.
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11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
„Von ihrem (der Reichen) Vermögen haben die Armen und die Mittellosen ein Recht auf einen Teil des Vermögens. Von ihrem (der Reichen) Vermögen haben Arme und Mittellose das Recht auf einen bestimmten Teil des Vermögens!“317 Wenn der Mensch sich weigert, die Pflichtabgabe zu entrichten, so hat dies für ihn negative Folgen. Und wenn der Mensch von seinem Herrn in der Weise auf die Probe gestellt wird, dass dieser freigebig (großmütig) gegen ihn ist und ihm Wohltaten erweist, sagt er: Mein Herr hat mich erniedrigt. Nein! Ihr seid (eurerseits) nicht freigebig gegen die Waise und haltet euch nicht gegenseitig dazu an, dem Armen (etwas) zu essen zu geben, zehrt vielmehr das Erbe (eurer Schützlinge) vollständig auf und liebt Hab und Gut über alles.318
Das Wort „Gottesnähe“ bzw. „Liebe“ (al-birr) wurde im Koran in diesem Sinne achtmal erwähnt. In Sure 9:60 wird diese Pflichtabgabe in acht Bereiche aufgeteilt: – Für die Armen – Für die Schutzbedürftigen – Für diejenigen, welche die Almosen einsammeln – Für die Bedürftigen unter den Nichtmuslimen – Für die Befreiung von Sklaven – Für diejenigen, die eine hohe Geldstrafe oder Blutgeld zahlen müssen – Für diejenigen, die für die Sache Gottes arbeiten, und – Für die Fremden. Einen lobenswerten Charakter der Gläubigen bezeichnet der Koran wie folgt: „Diese sind diejenigen, die ihre Speise den Armen, den Waisen und den Kriegsgefangenen geben, obwohl sie diese für sich selbst benötigen.“319 Gott gibt ein Gleichnis für die guten Taten und den dafür zustehenden Lohn. Im Koran heißt es: Eine gute Tat „ist wie ein (Weizen-)Korn, das sieben Ähren hervorgebracht hat, jede Ähre hat hundert Körner und Gott vermehrt dies, wem Er will.“320 Der Prophet Muhammad schlachtete einmal eine Ziege. Als er und seine Familie einen Teil des Fleisches für sich zubereiteten, kam ein Bettler und fragte nach Speisen. Der Prophet gab ihm einen Teil vom Fleisch. Danach kamen andere Bettler, 317 Sure 70:25. 318 Ibd. 319 Sure 76:8–9. 320 Sure 12:43–46.
11.2 Historische Entwicklung
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einer nach dem anderen, und der Prophet gab jedem ein Stück, bis nur die Schulter des Tieres übrig blieb. Seine Frau Aischa sagte in einer traurigen Stimme: „Alles ist weg, nur die Schulter ist für uns geblieben.“ Worauf der Prophet erwiderte: „Nein, Aischa, alles außer der Schulter ist für uns geblieben.“ Gemeint hat der Prophet, dass alles, was man den Armen gibt, für den Wohltäter bei Gott erhalten bleibt, und er wird ihn dafür belohnen. Diese und andere sinnverwandte Koranverse und Prophetenaussagen bzw. Verhaltensmuster bieten dem Islam eine solide theologische Grundlage für alle Arten des diakonischen Dienstes in der Gesellschaft.
11.2 Historische Entwicklung
Die erste diakonische Einrichtung in der islamischen Gesellschaft war das sogenannte „Bait almal“ (Haus des Vermögens), was im heutigen Sinne so viel wie „Finanzministerium“ bedeutet. Hier wurden die gesamten Staatseinkünfte gesammelt und auf die verschiedenen Staatswesen verteilt. Jeder bedürftiger Mensch, auch ein Fremder, konnte sich an dieses „Bait almal“ wenden und um eine Unterstützung bitten. Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein kompliziertes Finanzsystem. Die Staatsausgaben wurden in Folge der Reichsexpansion vielfältiger. Fremde Verwaltungs- und Finanzsysteme wurden von den eroberten Ländern übernommen und islamkonform umgestaltet. Ein Staatswesen für die Betreuung der Bedürftigen war daher notwendig, und so wurde ein Ministerium (Awqaf-Ministerium) eingerichtet, welches sich um die Angelegenheiten der bedürftigen Bürger kümmerte. Diese Hilfeleistung wurde zum größten Teil durch Spenden finanziert, die an religiöse Zwecke gebunden waren. Die Schuldentilgung für Zahlungsunfähige und eine Starthilfe für beschäftigungssuchende Menschen sowie Hilfe für Schwerkranke gehörten dazu.
11.3 Diakonische Institutionen in Ägypten
Das Aufflammen des Terrorismus hatte eine schicksalhafte Wirkung sowohl auf bereits bestehende diakonische Einrichtungen als auch in noch größerem Maße auf Neugründungen einiger Privatinstitutionen. Misstrauen gegenüber privaten diakonischen Einrichtungen seitens der Regierungen in der islamischen Welt hat die Arbeit in den bestehenden Einrichtungen stark eingeschränkt und die Entstehung neuer Institutionen gefährdet. Private Sponsoren
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11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
wurden oft verdächtigt, terroristische Ambitionen unterstützen zu wollen. Staatlich kontrollierte diakonische Einrichtungen versinken in oft unüberwindbarer Bürokratie und korruptem Beamtenapparat. Die als Allheilmittel gegen Terrorismus von den Regierungen gepredigte Parole „Die Finanzquellen des Terrors austrocknen“ hatte auch eine unheilvolle Wirkung auf die diakonische Arbeit. Druck von außen und das Misstrauen von innen haben die diakonische Arbeit tödlich getroffen und der Armut in vielen arabischen Ländern einen großen Vorschub geleistet. Abgesehen von den genannten negativ wirkenden Umständen kann man sehr wohl mit Recht von zufriedenstellender diakonischer Arbeit in vielen islamischen Ländern sprechen. Zwei Arten von Diakonieeinrichtungen sind in diesem Zusammenhang zu unterscheiden: – Staatlich kontrollierte Einrichtungen – diese werden den sogenannten Zqaf-Ministerien zugeteilt. – Private Einrichtungen, Moscheen, Wohlfahrtstätten. Die staatlichen Einrichtungen erfüllen u. a. die Aufgabe der staatlich-sozialen Versicherung, die jedoch den Grundbedürfnissen der Menschen wegen knapper Haushaltsmittel nicht gerecht werden können. Lediglich in den reichen Ländern, wie etwa den Golfstaaten, sind die staatlichen Einrichtungen weniger bürokratisch und leiden außerdem nicht an geringen öffentlichen Einnahmen. Dennoch sind ihre Dienstleistungen für Bedürftige in den ärmeren islamischen Ländern, gemessen an ihrem Budget, äußerst gering. Unter „Awqaf“ versteht man religiöse Stiftungen, die aufgrund eines Testaments der Spender ganz bestimmten, von ihnen persönlich genannten Zwecken dienen sollen. Es gibt auch Stifter, die ihr Vermögen für nicht bestimmte gute Zwecke dem Ministerium anvertrauen. Das Ministerium kann in diesem Falle über das gestiftete Vermögen im Rahmen der bekannten guten Zwecke frei verfügen. Mit dem gestifteten Vermögen unterstützt das Awqaf-Ministerium Krankenhäuser, Altenheime und Waisenhäuser sowie zielverwandte Einrichtungen und bedürftige Studenten. Das Awqaf-Ministerium dient ausschließlich religiösen Zwecken und ist die einzige staatliche Einrichtung, die für alle islamischen Angelegenheiten zuständig ist und den größten Teil ihrer Finanzen von den privaten religiösen Stiftungen bezieht. Der Staat unterstützt dieses Ministerium auch finanziell, indem er Regierungsbeamte in dieser Einrichtung beschäftigt. Daher kann man die Aufgabe dieses Ministeriums weder als rein staatlich noch als rein privat betrachten. Die zutreffende Bezeichnung dieser Aufgabe wäre, meines Erachtens, staatlich kontrollierte Diakonie. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die islamischen Diakoniewerke anfangs jeglicher staatlichen finanziellen Unterstützung abgelehnt haben. Ebenso
11.3 Diakonische Institutionen in Ägypten
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waren ihnen ausländische Unterstützungen nicht willkommen, weil sie misstrauisch waren. Dieses Misstrauen gegenüber ausländischer Unterstützung verschwand in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts fast zur Gänze. Die harten Bedingungen, welche die Regierung jeglicher Art der ausländischen Finanzierung, insbesondere aus den arabischen bzw. islamischen Ländern, auferlegt hatte, ließen den diakonischen Institutionen keine andere Wahl, als die finanzielle Unterstützung anzunehmen, die von islamischen Personen und Institutionen aus dem Westen kam. Diese binnenislamische finanzielle Unterstützung wurde ebenfalls stark eingeschränkt, weil die Regierung darin die Unterstützung von extremistischen Organisationen sah. Dieses Dilemma zwang einige diakonische Institutionen dazu, finanzielle Unterstützung vom Staat zu fordern. Die sogenannte Wirtschaftsreform führte zur Verschlechterung des Lebensstandards vieler Menschen, die sich in weiterer Folge an die diakonischen Institutionen wendeten. Mit der staatlichen Hilfe konnten die diakonischen Werke ihre Leistungen erheblich steigern. – Eines der ersten diakonischen Werke in Ägypten im 19. Jahrhundert trug den Namen „Die Gönner der Al-Azhar/al-mugawerun“ und hatte soziale, kulturelle und politische Aufgaben. – Die Wohlfahrtsgesellschaft I hat zunächst den im Schutze der Kolonialmacht (England und Frankreich) aufblühenden christlichen Missionierungsaktivitäten entgegengewirkt und sich dann hauptsächlich dem Bau von öffentlichen Schulen und der Unterstützung von Bedürftigen gewidmet. – Die Wohlfahrtsgesellschaft II hat sich die Förderung der Ausbildung und Verbesserung des Gesundheitszustandes der Armen zur Hauptaufgabe gemacht. Sie ist bis heute aktiv. – Die Gesellschaft für religiöse Aufklärung ist als eine Reaktion auf die steigende christliche Missionierung zu verstehen. Insbesondere in Oberägypten unter der ärmeren Schicht entstand diese Wohlfahrtsgesellschaft mit der Aufgabe, den missionarischen Aktivitäten entgegenzuwirken. Sie baute Koranschulen und öffentliche Privatschulen und leistete effektive Sozialhilfe für die Bedürftigen. Der große ägyptische Reformer Muhammad ʿAbduh und sein Schüler Raschid Rida waren die Initiatoren und Gönner dieser Gesellschaft. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren etwa 65 Wohlfahrtsgesellschaften in Ägypten gegründet und offiziell registriert worden. Sie waren in den Bereichen der Ausbildung, der Gesundheit und der religiösen Aufklärung tätig.
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11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
Parallel zu den islamischen diakonischen Werken in Ägypten waren auch christlich-koptische Diakoniewerke tätig. Die bekanntesten unter ihnen waren: – Die koptische Taufiq-Gesellschaft (Deutsch: Erfolgs- oder Ökumenische Gesellschaft) – Die koptische Wohlfahrtgesellschaft – Die Gesellschaft für Seelenheilung. Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen die Aktivitäten der diakonischen Organisationen einen politischen Charakter an. Sie starteten neben ihren religiös-sozialen Aufgaben eine großangelegte politische Aufklärung und wetterten u. a. gegen die Kolonialmacht England, in Ägypten und Frankreich in Nordafrika. Landenteignungen durch unrechtmäßige Verschuldung wurden, etwa durch die Gründung von religiösen islamischen und koptischen Stiftungen, welche die Schulden der Enteigneten zahlten und enteignete Ländereien ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgaben, rückgängig gemacht. Verschiedene Gründe ließen diese Stiftungen eine Blütezeit erleben: – Die Rückkehr vieler Studenten aus dem Ausland mit starkem sozialem Engagement und religiösem Eifer. Wohlhabende Studenten wurden sich ihrer sozialen Verpflichtung bewusst. – Die sich zunehmend verschlechternde soziale Lage und wachsende Probleme in der ägyptischen Gesellschaft, insbesondere im Hinblick auf das Problem der Einwohnerverdichtung ohne Ausdehnung der erforderlichen bewohnbaren Fläche. – Aufbruch der islamischen Aufklärung und Reformation, die den Reislamisierungsprozess ausgelöst haben. – Die Gründung vieler nichtreligiöser Wohlfahrtsorganisationen, welche eine Herausforderung für die religiös bewussten und wohlhabenden Muslime darstellte. – Ein Oberster Rat für die Verbesserung der sozialen Angelegenheiten wurde 1936 ins Leben gerufen. – Ein Ministerium für soziale Angelegenheiten wurde daraufhin 1939 errichtet. Diese Entwicklung auf dem Gebiet des diakonischen Dienstes insbesondere nach Gründung und aktiver Teilnahme einiger Wohlfahrtgesellschaften, u. a. der „Scharia-Gesellschaft“ (Al-jamʿiya al-scharʿiya), der „Sunna-Helfer“ (Jamʿiyat ansar al-sunnah); der „muslimischen Jugend-Gesellschaft“ (Jamʿiyat al-schubban al-muslimin) und der „muslimischen junge Frauen Gesellschaft“ (Jamʿiyat al-schabbat al-muslimat) sowie anderer Organisationen, welche die Muslimbruderschaft später betreute, erforderten eine entsprechende Reaktion seitens der Regierung.
11.4 Einige Entwicklungen in Zahlen als Beispiel
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1945 wurde das Gesetz Nr. 49 verabschiedet, welches die Richtlinien und Rahmenbedingungen für die privaten Wohlfahrtsinstitutionen regelt. 1949 haben das Gesetz Nr. 5 und 1950 das Gesetz Nr. 156 die staatliche Kontrolle über alle privaten sozialen Aktivitäten, wie Spenden und gegenseitige Unterstützung, unter der Bevölkerung legitimiert. 1951 hat das Gesetz Nr. 66 die Kontrolle über die Aktivitäten der Wohlfahrtsorganisationen, insbesondere jener, die der Muslimbruderschaft nahestehen, dem Ministerium für soziale Angelegenheiten und dem Innenministerium anvertraut. 1952 legitimierte das Gesetz Nr. 4 eine weitere Ausweitung der staatlichen Kontrolle über die immer mehr und aktiver werdenden religiösen diakonischen Dienststellen, welche nicht nur religiöse Aufklärung, sondern vielmehr die Bekämpfung von Epidemien und Armut als Hauptaufgabe angesehen haben (der „Rote Halbmond“, die „Islamische Wohlfahrt“, die „Koptische Wohlfahrt“ und „Muhammad-Ali-Pflegestätte“). Alle privaten Wohlfahrtsinstitutionen agierten, in welcher Form auch immer, unter staatlicher Kontrolle und ließen den unabhängigen Wohlfahrtsinitiativen keine Chance. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass für jede islamische diakonische Initiative parallel eine christliche Initiative entstand – und umgekehrt. Dieser Wettlauf war insbesondere in Oberägypten sowie in einigen Stadtvierteln in Kairo und Alexandrien sehr deutlich und hatte eine sehr positive soziale Wirkung zur Folge.
11.4 Einige Entwicklungen in Zahlen als Beispiel Jahr 1900 1919 1945 1950 1955 1960
Anzahl der diakonischen Organisationen 65 260 830 1228 1724 3195
In den 60er Jahren ergaben sich zusätzliche soziale Probleme: – Die Notwendigkeit der Familienplanung – Die Altersvorsorge – Der Zerfall der Großfamilien als Folge der Industrialisierung.
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11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
1961–1975: Diese Entwicklung hat zur Folge, dass sich die privaten diakonischen Initiativen vermehrten; und damit dehnten sich ihre sozialen Ausgaben aus. Der Staat sah diese Entwicklung mit großer Sorge, weil die meisten dieser Initiativen von Islamisten bzw. der Muslimbruderschaft geführt wurden. Aus gesellschaftlichen und Sicherheitsgründen wollte der Staat die Aktivitäten dieser Initiativen unter seine Kontrolle bringen. Befürchtete Unruhen zwischen Muslimen und Christen mussten um jeden Preis vermieden werden. 1964 verabschiedete die Regierung in Ägypten ein Gesetz (Nr. 32), das die vollständige Kontrolle über alle Privatinitiativen legitimierte. Alle bisher eingetragenen Privatinitiativen mussten erneut die Registrierung beantragen. Dadurch war es dem Staat möglich, jedem unliebsamen Verein die Legitimation zu verweigern. Die Träger der nicht registrierten Vereine waren gezwungen, ihre Zielbereiche umzubenennen, etwa durch die Übernahme zusätzlicher Aufgaben, die nicht unbedingt speziell islamisch sein mussten. Sie plakatierten den Islam nicht mehr. Dennoch führten sie ihre sozial-islamische Fürsorge für Kinder, alleinstehende Mütter, Waisen, Alte, Bedürftige und Behinderte mit der gleichen Vehemenz weiter. Andere Initiativen förderten die kulturelle und religiöse Aufklärung sowie die Bekämpfung des Analphabetentums. 1975 sah die Zahl der diakonischen Privatinitiativen folgendermaßen aus: – 2568 Initiativen zur medizinischen Betreuung der ärmeren, ländlichen Schicht – 1937 Initiativen zur Betreuung von Waisen- und Behindertenhäusern – 1879 Initiativen zur Unterstützung der kulturellen und religiösen Aufklärung. Durch die Umbenennung der islamischen diakonischen Vereine sank die Zahl der aufgelösten Vereine in der Zeit von 1966/67 bis 1975 von 1220 auf 33. Die christlichen diakonischen Werke beschritten den gleichen Weg wie die islamischen Vereine. Sie verzichteten ebenso nur formal auf die Plakatierung von speziell christlichen Zielsetzungen zugunsten sozialer Aufgaben. Sie unterstützten hauptsächlich bedürftige und fremde Studenten sowie den Bau von Kirchen und kleine christliche Vereine. Auch islamische Privatinitiativen förderten den Bau von Moscheen und Gebetsstätten sowie Koranschulen. 1976–1995: Diese Zeitperiode war von schicksalhaften Ereignissen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Natur gekennzeichnet. Die Folgen des Jom-Kippur-Krieges 1973, die Ölkrise, die sogenannte wirtschaftliche Öffnung nach Westen, die Golfkrise, das Missmanagement der Krise nach dem Erdbeben von 1992 durch die staatlichen Behörden, der Druck der Weltbank und vieles mehr hatten verheerende Folgen für die islamische Region.
11.5 Die wichtigsten und bekanntesten islamischen Wohlfahrt-Dachorganisationen
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Die diakonischen Dienststellen standen vor zusätzlichen Herausforderungen. Dazu wurde die diakonische Arbeit vermehrt durch neue staatliche Bestimmungen erschwert. Die bis dahin geltende Zollfreiheit für Importe und Spenden der diakonischen Institutionen wurde aufgehoben. Der Staat war gegenüber der Hilfe, welche die diakonischen Vereine besonders für die Opfer des zerstörerischen Erdbebens von 1992 geleistet hatten, sehr misstrauisch. Indem der Staat private wirtschaftliche Investitionen mit günstigen Krediten und Subventionen unterstützte, verbot er fast im gleichen Atemzug private Spenden für islamische Wohlfahrtsvereine. Nur der staatliche Rote Halbmond durfte Spenden erhalten und weiter agieren. Als Folge der genannten staatlichen Einschränkungen ging die Zahl der islamischen Wohlfahrtsvereine stark zurück, insbesondere in den ländlichen Gebieten, wo wenig Spenden aus dem Ausland auf Schleichwegen hingelangen konnten. Von 1975–1985 waren in Großstädten etwa 70–90 % und auf dem Land nur etwa 27 % der noch agierenden religiös-sozialen Initiativen tätig. Ab 1990 ging es auf dem Land wieder aufwärts; es gab – 3014 Vereine für verschiedene soziale Hilfeleistungen, und – 2542 Vereine für die Förderung religiöser und kultureller Aufklärung. Allein im Jahr 1975 wurden zusätzlich 23 Dienststellen für Behinderte gegründet. 1990 kamen 150 Dienststellen neu dazu. Die Gesundheitsfürsorge erreichte schon im Jahr 1980 4,5 Millionen Menschen. 1992 wurden 14 Millionen Menschen medizinisch betreut. Grund dafür war u. a. die wenig erfolgreiche staatliche Leistung in dieser Hinsicht.321 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass viele Ärzte und Sponsoren der islamischen diakonischen Vereine die Mitgliedschaft des Vorstandes aus Sicherheitsgründen nicht beantragt haben.
11.5 Die wichtigsten und bekanntesten islamischen Wohlfahrt-Dachorganisationen
Zu den wichtigsten und bekanntesten islamischen Wohlfahrt-Dachorganisationen gehörten: – Der Verein der muslimischen Jugend, vertreten durch 80 Filialen im ganzen Land – Der legalistische Verein – Die Vereine der Muslimbruderschaft 321 Aktuelle seriöse Statistiken konnte ich leider nicht finden.
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11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
– Der Verein der Helfer der Muhammadssunna – Der Verein der Muhammadsjugend – Der Verein Muhammadsgroßfamilie – Der Verein des Rufes zum wahren Islam. Der letztgenannte Verein wird im Allgemeinen als der gemäßigte und der aktivste in Ägypten angesehen. Er genießt eine gewisse Anerkennung des Staates. Er wurde dadurch zu einem sehr wichtigen und erfolgreichen Vermittlungsinstrument zwischen dem Staat und den Islamisten, die ohne klare Anschuldigung verbannt worden waren. Dieser Fall führte zum Rücktritt des damaligen Innenministers ʿAbdal-Halim Musa.
11.6 Abschlussbemerkungen
– Durch vernünftige und konstruktive Vorgehensweisen konnten die islamischen diakonischen Vereine die Sympathie der Bevölkerung für sich gewinnen. – Sie waren meistens erfolgreich und zuverlässig in ihren Aktivitäten. – Sie gründeten kostenfreie Schulen, eröffneten Möglichkeiten zur Berufsausbildung, schufen Kliniken, Apotheken und Sportvereine und gaben Computerkurse für die ärmere Bevölkerungsschicht. – Sie erzielten nicht nur eine finanzielle Unabhängigkeit, sondern vielmehr auch Gewinne. – Sie förderten einige kleine Projekte für die jungen Berufsschulabsolventen. – Sie leisteten Fürsorge bei Bedürftigen, Studenten, insbesondere solchen, die aus ländlichen Gebieten in die Großstadt zum Studieren kommen, sowie in Waisenhäusern, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen. – Sie leisten bis heute noch Seelsorge für Muslime in Gefängnissen. – Einige Fälle von finanzieller Veruntreuung in manchen Vereinen trübten bedauerlicherweise das saubere Bild der islamischen Diakoniearbeit nicht nur in Ägypten. 11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt
Das unmittelbare Aufeinanderfolgen von Religion und Gewalt im Titel assoziiert womöglich eine physische Verbindung zwischen den beiden Begriffen – dies würde aber der Natur der Religionen gänzlich widersprechen. Vielleicht wäre der Hinweis auf den „Missbrauch“ von religiösen Symbolen im Zusammenhang mit dem Begriff „Gewalt“ notwendig.
11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt
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11.7.1 Was ist ein Symbol?
Ein Symbol ist ein Sinnbild bzw. eine Zeichnung, die auf der einen Seite einen objektiven Inhalt vorweist und auf der anderen Seite artfremde Assoziationen hervorruft. Der objektive Inhalt hat in vielen Fällen zu den durch ihn hervorgerufenen Assoziationen keinen direkten Bezug. Die durch das Symbol hervorgerufenen Assoziationen dienen u. a. als ein Identitätsträger einer bestimmten Menschengruppe, die sich dieses Symbol als solches angeeignet hat. Ein Identitätsfaktor bzw. Identitätsträger hat zwei Funktionen: Eine intern definierende und eine extern ausgrenzende Funktion. Diese beiden Symbolfunktionen könnten, aus gesellschaftlichem Blickwinkel gesehen, sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben: – Positive Auswirkungen im Sinne von konstruktiver gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt – Negative im Sinne von Degradierung und Diffamierung des anderen als Außenseiter. Eine Verwechslung oder gar Vermischung von Inhalt und Sinn des Symbols hat manchmal schwerwiegende Folgen. Der Inhalt eines Symbols ist die direkte Aussage des sinnlich wahrgenommenen Zeichens, das auch ein Merkmal oder ein elementarer Teil eines Gegenstandes ist, sei dieser eine Religion oder eine Ideologie. Der Sinn desselben ist dagegen eine gruppeninterne Interpretation des Symbols. Mit anderen Worten stellt der Sinn eines Symbols all das dar, was die betroffene Menschengruppe in ihr Symbol hineinprojiziert. Und daher ist jede Menschengruppe allein berechtigt, festzulegen, was „symbolhaft“ bzw. Symbol im herkömmlichen Sinne ist, und was als ein Teil ihrer eigenen Identität zu gelten hat. 11.7.2 Verschiedene Arten der Symbolik
Symbole können Zeichnungen bzw. ein Zeichen, Bilder, Texte oder Personen sein, gemeinsam haben alle diese Arten des Symbols, dass sie zweierlei Wertschätzungen haben: die objektive nüchterne Wertschätzung und die subjektive von Menschen projizierte Wertschätzung. Den symbolischen Charakter bekommt ein Gegenstand, sei er eine Zeichnung, ein Bild, ein Text oder eine Person, ausschließlich durch die subjektiv projizierte Wertschätzung, durch die er für die betroffene Menschengruppe einen Heiligkeitsstatus erlangt und dadurch für Fremde unantastbar bleiben muss.
338
11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
Der Status der Unantastbarkeit eines Symbols für Fremde gilt nicht nur für religiöse, sondern ebenso für alle profanen Symbole, wobei religiöse Symbole die anderen Symbole nicht nur an Sensibilität, sondern auch an Kontinuität übertreffen. Der hier erwähnte Heiligkeitsstatus der religiösen Symbole gehört zum Privatrecht jeder einzelnen Person bzw. jeder Glaubensgemeinschaft, und muss vom Rechtsstaat, zum einen aus rechtlicher Sicht und zum anderen um des sozialen Friedens willen, anerkannt und beschützt werden – unabhängig davon, ob das jeweilige Staatssystem säkular oder religiös orientiert ist. Nach Angaben des Adventistischen Pressedienstes wurde die Frage nach dem richtigen Umgang mit religiösen Symbolen durch Juden, Christen und Muslime ausführlich im ersten Austausch im Rat der Religionen (SCR)322 in der Schweiz behandelt. Einigkeit herrschte darüber, dass die religiösen Symbole zu den Ausdrucksformen des Glaubens gehören. Sie sollen deshalb mit Achtung und Respekt behandelt werden. Sie dürfen weder lächerlich gemacht noch als Kampfsymbole gegen die Menschenwürde oder gegen andere religiöse Überzeugungen missbraucht werden. Die Religionsfreiheit ist ein hohes und schützenswertes Gut. Dazu gehört ebenfalls, dass Kirchen und Glaubensgemeinschaften ihren Überzeugungen durch religiöse Symbole öffentlich Ausdruck verleihen. Es sollte der Grundsatz gelten: Der mögliche Missbrauch einer Sache soll nicht ihren guten Gebrauch verhindern.323
Diese Erklärung zeigt, dass die Politik noch viel von den Religionen lernen kann, und ich kann diese Erklärung nicht nur begrüßen, sondern auch vorbehaltlos unterschreiben. Die „Aachener Zeitung“ vermerkte zu Recht, dass „die religiösen Symbole in der europäischen Gesellschaft kritikanfälliger zu werden scheinen.“324 1995 wurde das Kruzifix in bayerischen Klassenzimmern, so die Aachener Zeitung wörtlich, „zum Skandal erklärt“. Seit 2003 wird mit dem Kopftuch islamischer Lehrerinnen an öffentlichen Schulen die Frage „Sein oder Nichtsein“ verbunden. In Frankreich traf es 2004 wohl auch die Schülerinnen mit Kopftuch. Die Wahrnehmung der Neutralität staatlicher und städtischer Einrichtungen ist der Hintergrund solcher Infragestellungen. Die Intention solcher Neutralität bezieht sich aber auf die Vielfalt der Religionen, vorausgesetzt, sie entsprechen dem Grundgesetz. 322 Adventistischer Pressedienst, 30. August 2006. 323 Rat der Religionen (SCR), 21. August 2006. 324 Aachener Zeitung, 31. Dezember 2003.
11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt
339
Weiters heißt es in derselben Zeitung: Neutral bedeutet allerdings, dass niemand auf Grund seiner religiösen Überzeugung benachteiligt werden darf. Wenn ein religiöses Symbol nun als Ausdruck der Benachteiligung dessen gewertet wird, was es nicht zum Ausdruck bringt, dann müssen alle religiöse Symbole verboten werden, da sie allein auf Grund ihres Vorhandenseins schon eine Vorteilsnahme darstellen.325
Bernd Dörries schrieb unter dem Titel „Religiöse Symbole“ in der „Süddeutschen Zeitung“: Muslimische Lehrerinnen dürfen in Zukunft an öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg kein Kopftuch tragen. Mit den Stimmen der CDU, FDP und SPD hat der Landtag in Stuttgart das bundesweit erste Gesetz zum Kopftuchverbot beschlossen. Kreuz und Kippa
sind nicht betroffen.326
Er zitiert die Ungleichheit in diesem Gesetz folgendermaßen: „Die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen, wie das Tragen eines Nonnenhabit, bleibt aber erlaubt.“327 Alle politischen, religiösen und weltanschaulichen Bekundungen, so heißt es weiter, welche die Neutralität der Schule oder den Schulfrieden gefährden können, seien zu untersagen. Auch die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) in der Schweiz fordert im Rahmen der Integrationsdebatte, laut einer „Kippa“-Meldung328 vom 17. August 2006, das Verbot aller religiösen Symbole an staatlichen Schulen. Aber wäre es eigentlich nicht konstruktiver und menschenwürdiger, alle religiösen aber auch areligiösen Symbole im Sinne der kulturellen Vielfalt und der Interkulturalität in einer weltoffenen Gesellschaft ausnahmslos zu erlauben, statt sie zu verbannen? Ist es nicht so, dass alles, was verboten wird, eher an Attraktivität gewinnt? Mit unplausiblen Verboten erreicht man immer das Gegenteil dessen, was man mit dem Verbot beabsichtigte. Es wäre sonnvoller, seine Energie gegen jegliche Art von Zwang einzusetzen. Emotional kann ich dieses Kopftuchverbot in Europa nachvollziehen. Alles, was traditionell islamisch ist, stellt eine gewisse emotionale Herausforderung bei vielen 325 Ibd. 326 Dörries, Bernd, „Religiöse Symbole“, in: Süddeutsche Zeitung, 2. April 2004. 327 Ibd. 328 Kippa – Nachrichten und Themen, in: www.tagesschau.de.
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11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
Nichtmuslimen dar. Das wiedererwachende islamische Identitätsbewusstsein sowie die schnelle Verbreitung des Islams auch in Europa, insbesondere in einer Zeit, in der die Muslime keinen ernstzunehmenden politischen Einfluss auf die Weltpolitik haben, begünstigen das Gefühl der Befremdung oder eine Art religiöser Eifersucht und infolgedessen gewisse Berührungsängste den Muslimen gegenüber. Allerdings fehlen, meines Erachtens, noch immer stichhaltig rationale Argumente für ein solches Verbot, die sich mit dem Prinzip der Gleichheit und Religionsfreiheit reibungslos decken. 11.7.3 Von der Vernunft zur Gewalt
Symbole als Identitätsträger eignen sich optimal für jegliche integrativen Zwecke innerhalb der betroffenen Gemeinschaft, doch ihr ausgrenzender Aspekt könnte negativ in Feindseligkeit gegenüber anderen ausarten und so könnte er als eine Rechtfertigung für Gewaltausübung im Namen des angeblichen Selbstschutzes instrumentalisiert werden. Die Instrumentalisierung von Symbolen aller Arten durch Menschen ist keine Eigenart einer bestimmten Religion oder Ideologie. Alle Religionen und Ideologien sind dabei gleich. Durch Symbole hervorgerufene Gewalt kann als Aktion aber auch genauso Reaktion auf eine Provokation sein, welche auch manchmal bewusst herbeiprovoziert werden kann, um den Reagierenden etwa in medialen Misskredit zu bringen oder um vorher geplante Gewaltakte gegen ihn zu legitimieren. Zahlreich sind die Beispiele dafür in der alten und in der neuen Geschichte. Als aktuellstes Beispiel dafür könnte man den Streit über die sogenannte Mohammed-Karikatur im Februar 2006 nennen. Oft wird Gewaltanwendung durch einen angeblich guten Zweck legitimiert. Römer, Muslime, Christen, Franzosen und heute die USA und Großbritannien versuchten ihre Eroberungszüge durch nahezu gleiche Slogans zu rechtfertigen. Die Hinterlassenschaften aller dieser Eroberungszüge sind zuverlässige Indizien für deren Glaubwürdigkeit. Aggressionen gegen andere sind, meines Erachtens, durch nichts, auch nicht durch gut gemeinten und angeblichen Fortschritt, zu legitimieren. Ganze Völkergruppen und Glaubensgemeinschaften mussten durch Kreuzzüge vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, durch die Entdeckung bzw. Eroberung Amerikas durch die Spanier im 15. Jahrhundert sowie in Europa und Nordafrika nach der Reconquista und die darauffolgende Inquisition für angeblich gute Ziele ihr Leben lassen. Auch wenn die Muslime ihren Kolonien insbesondere einen beachtlichen kulturellen Fortschritt gebracht und hinterlassen haben und dabei niemanden zur Konvertierung oder zur Auswanderung genötigt haben, sehe ich diese Eroberungen prinzipiell als religiös motivierte politische Aktionen.
11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt
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Die Kreuzritter sowie die Inquisitoren trugen bei ihren Kriegszügen ihr religiöses Symbol, das Kreuz, entweder an ihrer Kriegsuniform (bei den ersten Angriffswellen) oder an einer Halskette (bei den zweiten Angriffswellen). Menora, Kreuz und Halbmond sind die bekanntesten Symbole der drei monotheistischen Religionen. Kleidungsstücke können auch symbolische Kraft haben. Eine jüdische Kippa, der Nonnen- und Priesterhabit mit dem Kreuz und die Kopfbedeckung von muslimischen Frauen und Männern haben ebenso nicht nur eine symbolische, sondern auch eine bestimmte und klare Aussagekraft. Über eine triftige Klassifizierung von solchen symbolhaften und aussagekräftigen Gegenständen gehen die Meinungen weit auseinander, und dabei spielen oft subjektive oder gar egozentrische Tendenzen eine wesentliche Rolle. Die Meinungen gehen ebenso oft auseinander über die assoziierte Aussage eines Symbols, nämlich ob sie Frieden oder Gewalt fördert. Symbole sind eben für subjektive Interpretationen sehr geeignet. Das sogenannte islamische Symbol, der Halbmond, symbolisiert auf der einen Seite das Aufgehen, das Aufsteigen des Islams und soll außerdem auf die Menschen Optimismus ausstrahlen. Auf der anderen Seite bietet er eine zuverlässige Grundlage, wonach sich die Muslime bei der Gestaltung ihres Jahreskalenders orientieren. Dieser Halbmond wird allerdings auch von Muslimen falsch dargestellt. Beim Mondaufgang, der hier symbolisiert wird, beginnt der sichtbare Teil immer von rechts oder in manchen islamischen Ländern, wie dem Jemen, von unten, wie eine Schüssel, aber auf keinen Fall von links, wie wir ihn auf den verschiedenen Flaggen und Titelseiten sehen. Diese Linksposition hat der Mond kurz vor seinem Untergang und nicht beim Aufgang. Das Kreuz soll u. a. die friedliche Opferbereitschaft Jesu für seine Gemeinde zeigen, um Vergebung ihrer Sünden durch Gott zu erreichen. Nichtchristen könnten bei der Betrachtung des Kreuzes den Aspekt der an Jesus verübten Gewalt im Vordergrund sehen und dabei Wut gegen diejenigen empfinden, die Jesus gekreuzigt haben. In den Massenmedien wurde immer wieder mit Erstaunen gefragt, warum die Muslime mit ihrer Reaktion auf die umstrittenen Mohammed-Karikaturen etwa vier Monate gewartet haben. Man wollte unbedingt die intern-islamische und innenpolitische Motivation in den islamischen Ländern sehen, um von dem eigentlichen Grund und der Mitschuld an der Eskalation abzulenken. Man bemühte sich, Schuldige woanders zu finden und sich schließlich der Verantwortung zu entziehen. Die Wirklichkeit zeigt allen Menschen, welche die Entwicklung dieses Problems mitverfolgt haben, dass die Muslime während der vorangegangenen vier Monate auf die Stimme der Vernunft gehört und alle friedlichen Mittel bereits ausgeschöpft hat-
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ten: friedliche Demonstrationen, rechtliche Schritte gegen die betroffene Zeitung, diplomatische Vermittlungen und klare Warnbriefe vor möglichen Eskalationen durch Regierungen einiger islamischer Länder. Die nicht demonstrierfreudigen Muslime in Dänemark demonstrierten vorm Rathaus in Kopenhagen bereits fünf Tage nach der Veröffentlichung der umstrittenen Karikaturen und versuchten vergeblich, die Verantwortlichen in der Redaktion sowie die Politiker zu einer Wiedergutmachung zu bewegen. Diese friedlichen und rechtstaatlichen Versuche seitens der Muslime in Dänemark wurden sowohl von den Politikern als auch von der Zeitungsredaktion vollkommen ignoriert. Daraufhin reichten sie eine Klage gegen die Zeitungsredaktion ein, die jedoch kurzerhand abgewiesen wurde. Die verzweifelten Protestierenden riefen in weiterer Folge die diplomatischen Vertretungen der islamischen Länder auf den Plan. Auch die Botschaften von elf islamischen Ländern in Kopenhagen kamen trotz aller Bemühungen zu keinem Ergebnis. Die ägyptische Regierung richtete einen Brief an den Ministerpräsidenten Rasmussen, in dem sie ausdrücklich vor einer möglichen Eskalation warnte und einen Dialog anregte. Nach Aussage der dänischen Opposition wurde weder auf diesen Brief noch auf ähnliche Briefe von verschiedenen islamischen diplomatischen Vertretungen reagiert, „noch – wie es verfassungsmäßige Pflicht gewesen wäre – das Parlament informiert worden“.329 Nachdem alle legalen Protestmöglichkeiten ergebnislos ausgeschöpft waren, wurden die religiösen sowie die politischen Autoritäten in den islamischen Ländern um Beistand gebeten. Einige Oppositionszeitungen in diesen Ländern schrieben über dieses Problem, was zu Massenprotesten und später zur Eskalation führte. Die Bevölkerung in den jeweiligen Lagern war höchst sensibilisiert und die Lage äußerst explosiv. Dass Ähnliches mit christlichen Symbolen (Jesusbildern) in der Vergangenheit stattfand, angeblich ohne vergleichbare Reaktionen unter gläubigen Christen hervorzurufen, betrachten die Muslime einerseits als nicht richtig und andererseits als alleinige Angelegenheit der Christen. Auch wenn diese problematischen Karikaturen keinen Fall der Rechtsprechung in Europa darstellen sollte, so sollten sie wenigstens in Bezug auf Anstand und Respekt gegenüber Andersgläubigen in einer zivilisierten Gesellschaft zur Diskussion stehen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung in Europa ist bereits durch das Antisemitismusgesetz mit Recht eingeschränkt, und diese Einschränkung hat bis jetzt positive Wirkung gezeigt. Alle drei monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, sind semitische Religionen und daher sollten ihre Symbole durch das 329 Taz, 21. Februar 2006.
11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt
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bestehende Antisemitismusgesetz gleichermaßen beschützt werden, will man dieses Gesetz nicht manipulieren und selektiv gelten lassen. Die diesbezügliche Debatte in den Massenmedien und in der Politik verfehlte ihr eigentliches Ziel und wurde ad absurdum geführt. Da ging es nicht, wie es sein sollte, um die Frage, wie man einerseits die Pressefreiheit garantiert und andererseits den Missbrauch derselben verhindern kann. Stattdessen diskutierte man darüber, welche extremistische Organisationen und interne machtpolitische Interessen in islamischen Ländern hinter dieser Eskalation stecken könnten. Die protestierenden Muslime wurden kurzerhand pauschal als demokratisch unreif und säkularitätsfeindlich dargestellt, vielleicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Wertvorstellung und dem Selbstverständnis zu vermeiden. Die Frage, ob diese Verfehlung bewusst oder unbewusst gesteuert wurde, bleibt dahingestellt. Verunglimpfungen jüdischer Symbole in Europa während des deutschen Dritten Reichs gingen dem Holocaust voran. Muss erst eine ähnliche Apokalypse passieren, um dann darauf hastig zu reagieren, statt die Vorzeichen einer katastrophalen Entwicklung rechtzeitig zu erkennen, wahrzunehmen und deren Eskalation entgegenzuwirken? In jeder Religion gibt es heilige unantastbare Symbole, und diese gilt es, wie gesagt, zu schützen. Ein solches Gesetz sollte im kollektiven und im individuellen Religionsfreiheitsverständnis einer multi- und interkulturellen Gesellschaft fest verankert werden. Die Verunglimpfung religiöser Symbole stellt bereits in großen Teilen Europas eine Straftat dar. So heißt es z. B. im Deutschen Strafgesetzbuch (StGB), § 166, Abschnitt 11, Abs. 3–4: (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen): Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11, Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.
Auch der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan erklärte damals, dass das Recht auf Meinungsfreiheit die Beleidigung einer Religionsgemeinschaft nicht rechtfertige. Er kündigte eine baldige Diskussion in der UNO über einen Ethik-Codex als Zusatz zur UNO-Menschenrechtserklärung an.
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11 Wohlfahrtinitiativen im Islam
Dieselbe dänische Zeitung, die die umstrittenen Karikaturen veröffentlicht hat, hat nach APA/Reuters am 9. April 2003 die Veröffentlichung einiger Karikaturen des Künstlers Christoffer Zieler, in denen Jesus verunglimpft wird, mit der Begründung verweigert, dies könnte Unruhe hervorrufen. Nichtsdestotrotz verlangte derselbe Chefredakteur der Kulturabteilung derselben Zeitung Jahre danach von den Muslimen, dass sie Verunglimpfung und Spott über ihre Religion akzeptieren müssen, wörtlich, nach ENAR – Dänemark: „([T]he Muslims) must be ready to accept scorn, spite and ridicule.“330 11.7.4 Wie reagieren Christen in ähnlichen Fällen?
Als Jesus 1988 in einem Kinofilm namens „Die letzte Versuchung Christi“ als ein Mensch voller sexueller Begierde dargestellt wurde, steckten wütende Katholiken das Kino in Brand. Dabei wurden 13 Menschen schwer verletzt. Ein österreichischer Karikaturist wurde 2005 wegen seiner Jesus-Darstellungen in Griechenland zuerst verurteilt und dann in einer späteren Instanz freigesprochen. In Deutschland wurde auf Plakaten eines Modehauses Jesus umringt von halbnackten Models dargestellt. Das Plakat musste entfernt werden. Auch in Frankreich ließ ein Modehaus Plakate mit zwölf weiblichen Models, in Anspielung auf die zwölf Apostel (einer mit nacktem Rücken), und einer Frau, die Jesus darstellte, anfertigen. Die katholische Kirche verklagte das betroffene Modehaus und gewann den Prozess. 11.7.5 Pressefreiheit, Recht und Verantwortung – Westliche Stimmen
Die Initiative „InterAction“ früherer Staats- und Regierungschefs unter der Leitung des deutschen Altbundeskanzlers Helmut Schmidt hat sich, nach einem „KNA“-Interview mit Hans Küng, schon vor längerer Zeit auf eine allgemeine „Erklärung der Menschenpflichten“ geeinigt, welche die allgemeine Menschenrechtserklärung unterstützen sollte. Artikel 14 in dieser Erklärung lautet folgendermaßen: Die Freiheit der Medien bringt eine besondere Verantwortung für genaue und wahrheitsgemäße Berichterstattung mit sich. Sensationsberichte, welche die menschliche Person oder die Würde erniedrigen, müssen stets vermieden werden.
330 Siehe taz, 21. Februar 2006.
11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt
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Das heißt: wenn schon nicht erlaubt ist, einzelne Individuen zu diffamieren und in ihrer Würde zu verletzen, dann sollte man auch mit den religiösen Leitfiguren der Menschheit in den Medien taktvoll umgehen, ob das nun der Prophet Muhammad oder Jesus Christus ist. Uneinsichtige Verteidiger einer schrankenlosen Pressefreiheit schaden dieser Freiheit selbst und rufen dann inadäquate Reaktionen hervor.331
Die internationalen Presseverbände haben diese Erklärung wegen dieser Artikel abgelehnt. Über den Zusammenhang zwischen Meinungs- und Pressefreiheit einerseits und Presseverantwortung andererseits sagte Küng in einem Interview auch für die „KNA“ am 07. Februar 2006: „Selbstverständlich muss die verfassungsmäßig garantierte Meinungs- und Pressefreiheit in jedem Fall hochgehalten werden. Aber Pressefreiheit schließt auch Presseverantwortung ein.“ Auf die Frage „Meinungsfreiheit versus Religionsfreiheit – ist das tatsächlich der Kern der Aufregung um die Mohammed-Karikatur?“ antwortete der deutsche Islamwissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität Peter Heine in einem Interview in der österreichischen katholischen Zeitung „Die Furche“ folgendermaßen: Die Sache ist viel komplexer als man zuerst meint. Und das Ganze gehört auch in den Kontext der Globalisierung. Wir wissen, dass in Dänemark spätestens mit der Regierung Rasmussen eine, vorsichtig formuliert, unfreundliche Politik gegenüber den Muslimen betrieben wird, die sich auch auf die Öffentlichkeit auswirkt. Das ist natürlich den religiösen Führern in der islamischen Welt durchaus bekannt. So wird jetzt diese Karikatur zum Anlass genommen, darauf aufmerksam zu machen.332
Über Meinungsfreiheit und Zensur sagt die Professorin für praktische Theologie an der Universität Wien Susanne Heine in derselben Ausgabe der „Furche“: Es ist undenkbar, dass Europa wieder eine staatliche Zensur einführt; so etwas können sich Leute vorstellen, die in Ländern ohne Meinungsfreiheit leben. Ende der Zensur heißt allerdings nicht Ende der Verantwortung. Ein Arzt wird gründlich gebildet, dann handelt er aus eigener Verantwortung, oder er kommt als Kurpfuscher vor Gericht. Den Kurpfuschern der dänischen Tageszeitung hat das Gericht ihr Handwerk nicht gelegt. Weder Journalisten noch Richter haben Verantwortung wahrgenommen, weil sie – es ist schmerzlich zu sagen – ungebildet sind. 331 KNA, 7. Februar 2006. 332 Die Furche, 6. Februar 2006.
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Johannes Müller schreibt unter dem Titel „Schutz für religiöse Symbole“ Folgendes: In der westlichen Debatte werden solche Argumente bezüglich des heftigen Protests der Muslime gegen die Muhammadskarikatur oft mit dem Hinweis auf Meinungs- und Pressefreiheit zurückgewiesen. Zweifellos sind dies wichtige Rechte, die man nicht durch staatliche Zensur einschränken sollte. Es ist daher auch nicht sinnvoll, wenn sich Regierungen für das Fehlverhalten von Medien entschuldigen. Aber auch diese Rechte sind nicht schrankenlos und dürfen andere Rechte, wie das auf Anerkennung, nicht nach Belieben verletzen. Zudem zeichnen sich echte Aufklärung und Meinungsfreiheit durch Argumente aus, scharfe Kritik auch an den Religionen eingeschlossen. Etwas anderes ist aber die Verletzung religiöser Gefühle nach dem Motto: Alles ist erlaubt.333
Weiter lesen wir: Hinzu kommt etwas Weiteres: Viele gerade aufgeklärte Muslime beklagen, dass die Praxis der Medienfreiheit in der westlichen Welt Wasser auf die Mühlen jener ist, die Demokratie und Pressefreiheit ablehnen. Es ist auch für sie nicht verständlich, warum das Verbrennen des amerikanischen Sternenbanners oder die Zerstörung eines Kunstwerks bestraft werden, die Verletzung tiefster religiöser Gefühle aber ungeahndet bleibt. Man wird sich in der Tat fragen müssen, ob der Rechtsstaat in dieser Hinsicht seiner Verantwortung noch gerecht wird.334
Im Kern geht es also keineswegs um die Meinungsfreiheit und ein aufgeklärtes Weltbild, sondern ebenso sehr um Religionsfreiheit, um die Anerkennung des anderen und um den Umgang mit grundlegenden religiösen Symbolen. Dies betrifft das Christentum nicht weniger als den Islam und andere Religionen. In der konkreten Praxis braucht es sicher eine oft schwierige Abwägung. Auf jeden Fall aber wird sich die westliche Welt künftig, so Müller weiter, „ernsthafter als bisher mit dieser Fragestellung auseinandersetzen müssen – nicht aus religiösen Gründen, sondern um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen. Andernfalls muss sie sich zu Recht den Vorwurf kultureller Gewalt und Arroganz gefallen lassen.“ Wenn man im Westen die Sensibilität der Muslime in Bezug auf ihre religiösen Symbole ausschließlich auf die angeblich fehlende islamische Aufklärung zurückführt, dann ist diese Ansicht nicht nur zu bequem, sondern auch unbegründet. Die Muslime haben mehrere Aufklärungen erlebt und sie erleben sie noch heute, nur wird diese islamische Aufklärung im Westen nicht verstanden und nicht registriert. Im Westen versteht man Aufklärung nur durch die Säkularität, mit anderen 333 Müller, Johannes: „Schutz für religiöse Symbole“, in: Stimmen der Zeit 224 (2006) Heft 4, S. 217 f. 334 Ibd.
11.7 Religiöse Symbole zwischen Vernunft und Gewalt
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Worten heißt dies: Wer seine Religion ernst nimmt und in seinem gesellschaftlichen Leben umsetzt, ist nicht aufgeklärt. Muslime verstehen unter Aufklärung, ihre Religion zeitgemäß zu begreifen und zu praktizieren. Die islamische Welt kann sich politisch säkularisieren lassen, ein aufgeklärter Muslim wird sein Herz in Bezug auf seine religiösen Symbole nie säkularisieren.
12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa Hier gehe ich von der Feststellung aus, dass Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung miteinander untrennbar verflochten sind. Uneingeschränkte Freiheit gibt es prinzipiell nicht, denn die Freiheit des Einen muss durch die Freiheit des anderen eingeschränkt sein. Das Recht auf angeblich uneingeschränkte freie Meinungsäußerung ohne soziale Verantwortung würde die Gesellschaft in Gefahr bringen und könnte von einer Anarchie bis zu einem Glaubens- oder ideologischen Krieg führen. Menschenwürde und Menschenpflichten müssen Hand in Hand mit Menschenrechten gehen. Darauf, wie der Islam zu dieser ganzen Problematik steht, wird im zweiten Teil dieses Beitrags eingegangen. Dabei werden einige Koranverse, Prophetenhadithe und Beispiele aus der islamischen Geschichte angeführt, welche die Anpassungsfähigkeit der islamischen Weltanschauung zu den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen zeigen. Der soziale Frieden in Europa wird, angesichts der relativ großen Zahl der hier lebenden Muslime, stark davon abhängig sein, inwieweit die legalen Belange der Muslime ernst genommen werden. Zu einer besonnenen und identitätsschonenden Integrationspolitik sowie zu einer interkulturellen vorurteilsfreien Erziehung, vom Kindergarten bis zur Hochschule, wird zum Schluss aufgerufen. Religionsfreiheit ist mit der Meinungsfreiheit fest verflochten, auch wenn die Religion, im Unterschied zur Meinung, eine zusätzliche tiefe psychische und emotionale Dimension in stärkerem Maße beinhaltet. Hier wird die Frage behandelt, ob und inwieweit wir, Muslime sowie Nichtmuslime, mit der Wahrnehmung der Religionsbzw. Meinungsfreiheit Schwierigkeiten haben. Weiters wird die Frage gestellt, ob es überhaupt eine uneingeschränkte Freiheit geben kann, ohne Chaos und Anarchie hervorzurufen. Der zweite Teil dieses Beitrags behandelt die Frage, ob und inwieweit die islamische Weltanschauung mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen zurechtkommen kann. Zum Schluss wird nach einer Lösung durch eine besonnene und identitätsschonende Integration gesucht. Man mag meine Meinung, dass wir alle mit der Wahrnehmung der Religions- und Meinungsfreiheit Schwierigkeiten haben, als eine unbegründete Verallgemeinerung meinerseits kritisch ansehen und sich als außerhalb dieser Problematik stehend betrachten. Viele Menschen sind davon überzeugt, dass sie die Religionsfreiheit richtig verstehen und sie konsequent praktizieren. Nur die Tatsache, dass wir in vielen Konferenzen endlos darüber reden müssen, beweist genau das Gegenteil, nämlich dass wir alle von einem Konsens über die Definition dieser Begriffe, Religions- und
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
Meinungsfreiheit, noch sehr weit entfernt sind – ganz zu schweigen davon, sie konsequent im Alltag umzusetzen. Der Begriff „Religionsfreiheit“ sollte nicht nur Toleranz – sprich Duldung – Andersgläubigen gegenüber, sondern Akzeptanz ihrem Glauben gegenüber bedeuten. Alles, was die religiösen Gefühle eines gläubigen Menschen verletzt, entzieht der so oft deklarierten Religionsfreiheit jede sozial-ethische Grundlage. Man muss zwischen dem Recht auf Meinungs- bzw. Religionsfreiheit als eine persönliche Überzeugung einerseits und dem Recht auf öffentliche freie Meinungsäußerung andererseits unterscheiden. Denk- und Glaubensfreiheit sind ausschließlich ein persönliches Gut und dürfen unter keinen Umständen angetastet werden. Öffentliche Meinungsäußerung ist hingegen ein gewöhnliches soziales Verhalten, das die private Sphäre eines anderen, sprich Verunglimpfung, Beleidigung und/oder Verleumdung jeglicher Art, unter keinen Umständen berühren darf. Ein uneingeschränktes Recht auf öffentliche freie Meinungsäußerung, welche die persönliche Privatsphäre eines anderen Menschen verletzt, würde zwangsläufig zu einem sozialen Chaos führen, das im schlimmsten Fall auch in einen Religionskrieg münden könnte.
12.1 Zwischen Recht und Pflicht aus islamischer Sicht
Das gesellschaftliche Leben wird, meines Erachtens, nur in Ausnahmefällen durch die Gesetzgebung geregelt, d. h., das Gesetz wird erst dann wirksam, wenn das Recht eines Bürgers durch einen anderen verletzt wird. Der allergrößte Teil des gesellschaftlichen Lebens wird nicht durch das Gesetz, sondern vielmehr durch sozial-ethische Werte und Normen geregelt. Jede Handlung müsste also auf ihre Konformität nicht nur mit geltenden Gesetzen, sondern mindestens ebenso mit sozial-ethischen Werten und Normen geprüft und dementsprechend bewertet werden. In einer multikulturellen Welt darf kein Kulturkreis die eigenen Wertvorstellungen einem anderen Kulturkreis aufzwingen wollen – dies gilt insbesondere für religiöse Werte. Dies bewusst zu versuchen, wäre nicht nur ein Ausdruck von Selbstüberschätzung und Verrat an den eigenen Werten, sondern ebenso an den internationalen Menschenrechtsprinzipien. Woher nimmt sich Europa das alleinige Recht, die Meinungsfreiheit nach seiner eigenen Weltanschauung zu interpretieren und diejenigen, die diese Interpretation nicht mittragen wollen, als unterentwickelt zu bezeichnen? Im Kern der Säkularität sind Respekt und Gleichbehandlung aller Glaubensgemeinschaften verankert. Wird in einer säkularen Gesellschaft einer bestimmten Glaubensgemeinschaft ein
12.1 Zwischen Recht und Pflicht aus islamischer Sicht
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gesonderter Schutz gewährt, wird das gesamte säkulare Konzept unglaubwürdig. Eine pauschale Verbindung zwischen Säkularität und Religionsfreiheit ist genauso wenig evident wie die pauschale Verbindung zwischen Religiosität und Rückständigkeit. Was im europäischen Bewusstsein immer noch keine Vergegenwärtigung findet, ist die Tatsache, dass der Islam für die überwiegende Mehrheit der Muslime nicht nur eine religiöse, sondern vielmehr eine Art nationale Identität darstellt. Der arabische Begriff „Umma = Glaubensgemeinschaft“ spielt dabei die zentrale Rolle. Nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft hat den Vorrang. Im Falle, dass die Interessen des Individuums und die Interessen der Gemeinschaft nicht miteinander übereinstimmen, muss sich das individuelle Interesse den Interessen der Gemeinschaft unterordnen. Im Westen werden dagegen die individuellen Interessen vorrangig behandelt. Würde man auf das uneingeschränkte Recht auf Meinungsfreiheit beharren, falls es diese überhaupt gäbe, so hätten wir große Schwierigkeiten, gegen fanatische Prediger in einer demokratischen pluralistischen Gesellschaft vorzugehen. Diese würden sich auf ihr angeblich uneingeschränktes Recht auf Meinungsfreiheit berufen. Die Meinungsäußerung kann in verschiedenen Formen, etwa verbale oder schriftliche Rhetorik, oder durch Malerei, Bildhauerei oder Karikaturen getätigt werden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das zu Recht als eine der größten Errungenschaften der Moderne bezeichnet wird, muss aber konsequent bei allen Formen der Meinungsäußerung zur Geltung kommen. Dieses Recht sollte als Grundrecht für alle Menschen, im Sinne des § 29 der Menschenrechtserklärung von 1948, betrachtet werden. Jede Manipulation oder selektive Verwendung dieses Rechts würde seine Glaubwürdigkeit infrage stellen und dem religiösen sowie dem kulturellen Fanatismus zusätzliche Nahrung bieten. 12.1.1 Zwischen Menschenrechten und Menschenwürde
Die Menschenrechtserklärung von 1948 steht seit der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts im Zentrum des westlichen Diskurses und brauchte mehr als eineinhalb Jahrhunderte bis zu ihrer von blutigen Wehen eingeleiteten Geburt. Sie hat zudem ihre vollständige Reife nach knapp sechzig Jahren noch nicht erreicht. Ihre Volljährigkeit wäre erst erreicht, wenn sie den Schritt von der bloßen Manifestation zur uneingeschränkten Realisation getan hat. Mit anderen Worten: Wenn sie im politischen und gesellschaftlichen Alltag im vollen Maße und ohne jedwede Manipulation als Selbstverständlichkeit gilt. Ohne die Wertschätzung der Menschenrechtserklärung auf irgendeine Weise in Zweifel zu ziehen, legt man im orientalischen Diskurs mehr Wert auf „Menschen-
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
würde“ als auf äußerliche „Menschenrechte“. Nach orientalischem Verständnis impliziert die Menschenwürde die Menschenrechte und erweitert sie zusätzlich um eine ethische Dimension. Würde man eine „Menschenwürdeerklärung“ zusätzlich zur oder gar anstelle der vorhandenen Menschenrechtserklärung schaffen, so würde eine Handlung nicht mehr nur danach beurteilt, ob sie rechtmäßig ist oder nicht, sondern eher danach, ob sie ethisch vertretbar ist oder nicht. Nicht nur die Vernunft, sondern mindestens im gleichen Ausmaß die Emotionen dürften dabei die Richterrolle spielen. Der Unterschied zwischen der hellenistischen Philosophie und der altgriechischen Philosophie liegt im Wesentlichen darin, dass die hellenistische Philosophie die klassische okzidentalische Philosophie um die emotionale Dimension des Orients erweitert hat. Der Einfluss der Emotion auf die europäische Philosophie blieb bis zur Aufklärung, besonders ab dem 18. Jahrhundert, unangefochten, diese musste ihren Platz an die Ratio endgültig abgeben. Auch die „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant vermochte nichts an dieser geistigen Entwicklung zu ändern. Mit welcher rationalen Begründung soll das Recht auf uneingeschränkte freie Meinungsäußerung als einziges akzeptiert werden? Warum soll den religiösen Symbolen dieser uneingeschränkte Schutz nicht ebenso zugesprochen werden? Die Weltethoserklärung vom Parlament der Weltreligionen,335 in deren Entstehungsphase ich durch ihren Initiator Hans Küng Anfang der 90er Jahre involviert war, ist daher ein Meilenstein auf dem richtigen Weg. Denn darin wird, Gott sei gedankt, von der ethischen Grundlage der menschlichen Handlungen wieder laut gesprochen. Unübersehbar ist darüber hinaus der Aufbruch der religiösen Identität nicht nur unter Muslimen, sondern unter fast allen Religionsgemeinschaften auf der ganzen Welt. Diese Entwicklung leitet bereits jetzt den Aufbruch der Postmoderne ein, welche die religiösen Gefühle nach langer Vernachlässigung – um nicht von Verachtung zu sprechen – rehabilitieren wird. Die Geschichte zeigt uns viele Beispiele des in verschiedenen Graden stattgefundenen religiösen Missbrauchs von allen Religionsgemeinschaften, welcher viele grausame kriegerische Auseinandersetzungen verursachte und die totale Säkularisation besonders in Europa nach sich gezogen hat. Die Epoche der Säkularisation vermochte genauso wenig Kriege zu verhindern, teils wurden sogar Kriege mit noch verheerenderen Folgen geführt. Die Postmoderne wird versuchen, aus der Geschichte zu lernen und die gesunde Wechselwirkung zwischen Politik und Religion bzw. Vernunft und Emotion wiederherzustellen. Die Vernunft wird neben sich einen Platz für die Emotion freihalten müssen, um mit ihr 335 Chicago 1993.
12.1 Zwischen Recht und Pflicht aus islamischer Sicht
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möglichst in Harmonie effizienter agieren zu können. Die Vernunft zügelt die Emotion, und die Emotion wird die Vernunft wiederum vermenschlichen.336 12.1.2 Zwischen Theorie und Praxis – Ein aktuelles Beispiel
Die Debatte in den Massenmedien und in der Politik verfehlt, meines Erachtens, ihr eigentliches Ziel. Da geht es nicht, wie es sein sollte, um die Frage, wie man auf der einen Seite die Pressefreiheit garantiert und auf der anderen Seite den Missbrauch derselben verhindern kann. Stattdessen verausgabt man sich in der Diskussion darüber, welche extremistischen Organisationen hinter dieser Eskalation stecken könnten. Die Frage, ob diese Verfehlung bewusst oder unbewusst gesteuert ist, bleibt dahingestellt. Darauf folgte eine diplomatische, politische und wirtschaftliche Missstimmung zwischen den agierenden islamischen Ländern einerseits und den europäischen Ländern, mit Ausnahme Dänemarks, andererseits, was für eine vergiftete Stimmung in der Weltpolitik sorgte. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in Europa bereits durch das Antisemitismusgesetz mit Recht eingeschränkt, und diese Einschränkung hat bis jetzt gute Wirkung gezeigt. Warum kann ein entsprechendes Gesetz nicht für den Schutz der religiösen Symbole bzw. Gefühle aller gläubigen Menschen geschaffen oder das bereits vorhandene Gesetz in einigen europäischen Ländern, etwa Griechenland und Deutschland, international kodifiziert und von der UNO verabschiedet werden? In jeder Religion gibt es heilige, unantastbare Symbole und diese gilt es zu beschützen. Ein solches Gesetz ist, meines Erachtens, ein elementarer Baustein sowohl der kollektiven als auch der individuellen Religionsfreiheit und wäre der beste Garant für einen sozialen und kulturellen Frieden in jeder multikulturellen Gesellschaft. Hans Küng führt die Eskalation der Lage zwischen den europäischen Ländern und den islamischen Ländern wegen des Karikaturkonflikts in dem oben genannten „KNA“-Interview auf die „Fehleinschätzung der Lage durch den dänischen Ministerpräsidenten zurück“. Er sagt: Der dänische Ministerpräsident Rasmussen hat in totaler Fehleinschätzung der Lage mehrere Chancen zum Dialog verpasst: 1. Schon am 15. Oktober 2005 hat er die Großdemonstration bisher nicht demonstrierfreudiger dänischer Muslime vor dem Rathaus von Kopenhagen ignoriert. 336 Siehe Elshahed, E.: „Erklärung zum Weltethos … im islam. Blickfeld“, in: Religionen im Gespräch (RIG), Bd. 4, Balve 1996, S. 338 ff.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
2. Er hat die Bitte der Botschafter von elf muslimischen Nationen um ein Gespräch brüsk zurückgewiesen. 3. Er hat die darauf folgende Reise führender dänischer Muslime mit dem Imam von Kopenhagen nach Kairo, um Hilfe bei ihren Glaubensgenossen zu erlangen, in ihrer Brisanz nicht durchschaut, obwohl so Kunde von der Beleidigung des Propheten in die ganze islamische Welt gebracht wurde. 4. Selbst angesichts erster Zornausbrüche in islamischen Ländern hat er aus rein formalen Gründen eine klare Entschuldigung verweigert – für eine bewusst geplante Provokation einer regierungsnahen Zeitung, welche in leichtsinniger Weise die Grenzen der Meinungsfreiheit testen wollte.337
In einem anderen Interview mit dem „Bayerischen Rundfunk“ am gleichen Tag338 betont Küng die Zusammengehörigkeit von Pressefreiheit und Verantwortung folgendermaßen: „Die Pressefreiheit muss mit Verantwortung und Umsicht gebraucht werden. Da könnte die Presse viel tun.“ Er sagt weiters: „Wenn eine Zeitung einen solchen Brand ausgelöst hat, dann hat der Ministerpräsident sich nicht hinter Formalien zu verstecken und zu sagen: Ich kann mich nicht für eine Zeitung entschuldigen.“ Erst als die wirtschaftlichen Konsequenzen, hervorgerufen durch den Boykott dänischer und norwegischer Waren, Wirkung zeigten und die Gewalt gegen die diplomatischen Vertretungen eskalierte, distanzierten sich führende Politiker Dänemarks und Norwegens sowie die dänische Zeitungsredaktion von diesem Vorfall und unterstrichen den Respekt gegenüber allen Religionen. Die inzwischen eskalierten Protestaktionen ausschließlich und voreilig als das Werk einiger fanatischer Islamisten zu betrachten, wäre eine bequeme und höchst unplausible Erklärung, die deutlich zeigt, dass auch der Westen immer noch große Probleme mit der Wahrnehmung des anderen als solchem hat. In vielen Diskussionen über diese Eskalation wird auch oft der wesentliche Unterschied zwischen „Verständnis für etwas“ einerseits und „einverstanden sein mit etwas“ andererseits verkannt. Für die bereits eingetretene Lage Verständnis zu haben, bedeutet lediglich, dass man die Ursache dieser Entwicklung als zwar eine bedauerliche, aber dennoch logische Folgeerscheinung eines kollektiven und individuellen Fehlverhaltens der verantwortlichen Politiker in Dänemark nachvollziehen kann. Dies als ein „Einverständnis“ oder gar als Bejahung desselben aufzufassen, wäre genauso fatal, wie diese als eine Erscheinungsform des von Hantington prophezeiten „clash of civi337 KNA, 7. Februar 2006. 338 Bayerischer Rundfunk, 7. Februar 2006.
12.1 Zwischen Recht und Pflicht aus islamischer Sicht
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lizations“ anzusehen. Eher zeigen diese Ereignisse, dass das Verständigungsproblem in den Bereichen der Rezeption und Kommunikation zwischen Orient und Okzident liegt. Mit Rezeption meine ich, dass der Orient und der Okzident oft verschiedene Lesarten für die gleichen Ereignisse haben. Dabei bedeutet Kommunikation, wie jeder der beiden Kulturkreise, ausgehend von seiner Lesart der Ereignisse, mit dem anderen umgeht. In diesen Bereichen haben beide Kulturkreise viel nachzuholen. Hans Küng sagte im oben erwähnten Interview mit dem „Bayerischen Rundfunk“: „Kulturen führten keine Kämpfe. Aber eine falsche Politik kann diese These wahr machen, kann sie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung machen“.339 Und der deutsche Literaturnobelpreisträger Günther Grass sagte in einem Interview mit der spanischen Zeitung „El Pais“, zitiert von der Berliner Tageszeitung „Die Welt“340: „Es war eine bewusste und geplante Provokation eines rechten dänischen Blattes […], sie haben aber weitergemacht, weil sie rechtsradikal und fremdenfeindlich sind.“ Von den gewalttätigen Reaktionen zeigte er sich nicht überrascht: „Es ist eine fundamentalistische Antwort auf eine fundamentalistische Aktion des Westens.“ Verletzte religiöse Gefühle haben bekanntlich viele Glaubenskriege ausgelöst, nicht zuletzt innerhalb Europas. Die Kreuzzüge zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert, die spanische Inquisition ab dem 15. Jahrhundert, der dreißigjährige Glaubenskrieg, Palästina, Balkan, Tschetschenien, Afghanistan und Irak sind negative Beispiele dafür mit verheerenden Folgen für die Menschheit. Die Frage bleibt also: Können wir uns weitere Ausuferungen derartiger Gewalt durch weitere Missachtung der religiösen Gefühle leisten? Weitere Eskalationen könnten nur Fanatiker auf beiden Seiten in ihrer Position stärken und würden verzweifelte Fanatiker zur Selbstjustiz motivieren, wenn die religiösen Gefühle weder von der Politik noch von den internationalen Menschenrechtsorganisationen ernst genommen und geschützt werden. Auch moderate Muslime fühlen sich dabei abermals nicht nur von den Politikern, sondern auch von vielen Intellektuellen in Europa allein gelassen. Könnte eine vorprogrammierte Eskalation der Gewalt und Gegengewalt eine gewollte Entwicklung einiger Interessensmächte in Europa und in den islamischen Ländern sein? Die letzten Entwicklungen besonders im Bereich des interkulturellen und interreligiösen Dialogs in den letzten zehn Jahren zeigen deutlich, wie differenziert und kompliziert die Wahrnehmung der Religionsfreiheit auch in Europa ist.341 339 Ibd. 340 Die Welt, 10. Februar 2006, S. 1. 341 Siehe Elshahed, E., „Konsenslos kommunizieren oder den Konsens neu definieren“, in: Ethik u. Sozialwissenschaften, Jg. 11/2000, Heft 3, S. 361 ff.; ders.: „Interkulturelle Kompetenz …“, in: Erwägen Wissen Ethik, Jg. 14/2003, S. 160 ff.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
Die größten muslimischen Dachorganisationen in Europa sowie die führenden Politiker und Geistlichen in den islamischen Ländern und schließlich die islamische Konferenz, in der 57 islamische Länder vertreten sind, riefen die protestierenden Muslime überall zur Besonnenheit auf und verurteilten die Gewalt gegen diplomatische Vertretungen als unislamisch. Sie verurteilten mit der gleichen Vehemenz auch die umstrittenen Karikaturen als eine Beleidigung für die Muslime und forderten Respekt gegenüber den religiösen Gefühlen aller Gläubigen. Letztlich demonstrierten Christen und Muslime in beachtlicher Zahl gemeinsam in Kopenhagen gegen religiöse Intoleranz und forderten Respekt gegenüber allen Religionen. Seit der Aufklärung hat sich der selbstkritische Geist in Europa in einer bewundernswerten Weise politisch und gesellschaftlich entwickelt, von der man im Orient bis heute nur träumen kann. Diese geistige Entwicklung wird ihre Vollendung dennoch erst erlangen, wenn in Europa der selbstkritische Geist in der Lage ist, sich auch mit externer Kritik ernsthaft auseinanderzusetzen.
12.2 Ist der Islam die Alternative?
„Al-Islam huwa al-hall“ – „Der Islam ist die Lösung“, dies ist der Slogan, den man von den meisten Muslimen ohne Zögern hören würde, würde man sie nach Lösungen für die heutigen gesellschaftlichen Probleme fragen. Dies ist im Prinzip eine gut gemeinte Antwort, basiert jedoch vielfach auf einer Täuschung. Denn der Islam ist, meiner Meinung nach, wie eine große Apotheke, in der es für fast alle Krankheiten das richtige Medikament gibt. Nur: Um das richtige Medikament zu finden, brauchen wir nicht nur einen Apotheker, sondern auch einen Arzt, der die vorhandene Krankheit erkennt, die richtige Diagnose stellt und Menge und Häufigkeit der Einnahme des jeweils passenden Medikamentes bestimmt. Der häufigste und folgenreichste Fehler, den man insbesondere hier in Europa begeht, ist der, dass sich einige halbgebildete Muslime anmaßen, universelle Ärzte und Apotheker gleichzeitig zu sein. Die Folgen eines solchen Fehlverhaltens sind unverkennbar. Binnenislamisch führte dies bisweilen zu beinahe unüberwindbaren Streitigkeiten und gesellschaftlich zu verstärkter Desintegration der Muslime in der neuen Heimat Europa, vom schlechten Islamimage ganz zu schweigen. Auf der anderen Seite werden oft zwei Komponenten der islamischen Religion miteinander verwechselt, nämlich „Islam“ und „Scharia“, im fachterminologischen Sinne auch Gesetzgebung und Gottesdienst, wobei diese Verwechslung nicht nur durch Nichtmuslime geschieht, sondern auch durch Muslime. Islam und Scharia werden oft pauschal als identisch betrachtet, die Scharia wird zudem mit klischeehaf-
12.2 Ist der Islam die Alternative?
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ten Assoziationen, wie Handabhacken oder Steinigung, in Verbindung gebracht.342 Scharia und Gottesdienst schließen sich in einer gegenseitigen Bedingtheit ein. Zum einen regelt die Scharia den Gottesdienst und bestimmt seine Rahmenbedingungen und zum anderen stellt die Umsetzung der Scharia einen Teil des Gottesdienstes dar. Demnach kann man sagen, dass die islamische Religion erst vollzogen wird, wenn der Gottesdienst nach den Regeln der Scharia praktiziert wird, dabei vollzieht sich der Gottesdienst fast ausschließlich durch das Leben in der Gesellschaft. Die Richtigkeit des Gottesdienstes wird im Islam erst durch seine Praxis im Alltag bestätigt, sonst ist er sinnlos.343 Festzuhalten ist, dass nur ein Fachmann, der in den verschiedenen Disziplinen der Islamwissenschaften, insbesondere Koran-, Hadith- und Rechtswissenschaft, bewandert ist und seine Fähigkeit darin etwa durch eigene Fachliteratur unter Beweis gestellt hat, in der Lage ist, Gebote und Verbote nach islamischer Rechtsprechung zu erkennen. 12.2.1 Die islamische Scharia und der Zeitwandel
Die bekannte und in einem solchen Zusammenhang oft erwähnte „Medina-Erklärung“ des Propheten Muhammad aus dem Jahr 622 n. Ch. wurde als „Bund“ zwischen den verschiedenen Stämmen und Religionsgemeinschaften bezeichnet. Darin wurden alle diese Gruppierungen namentlich genannt und für gleichwertige Staatsbürger erklärt. Und hier liegt die erste Konzeption für eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft, in der die kollektive sowie die individuelle Religionsfreiheit und Gleichberechtigung durch die Staatsbürgerschaft garantiert werden. Ausdrücklich wurde in dieser Erklärung geschrieben: „Die Juden dürfen ihre Angelegenheiten nach ihrer Heiligen Schrift, der Thora, und die Christen ihre eigenen Angelegenheit nach ihrer Heiligen Schrift, dem Evangelium, regeln.“ Diese prophetische Aussage wurde im Koran (5:42, 43; 46) explizit erwähnt. Die Gleichberechtigung in jeglicher Hinsicht lautet auf Arabisch: „Lahum ma lana wa ʿalaihim ma ʿalaina“. Ins Deutsche übersetzt heißt dies: „Ihnen steht zu, was uns zusteht und sie sind zu dem verpflichtet, wozu wir verpflichtet sind“.344 Dieses islamische Prinzip, das die Religionsfreiheit festschreibt, wurde auch später in den von Muslimen eroberten Ländern praktiziert. Hätten die muslimischen 342 Vgl. al-ʿAlwani, T. J., u. a.: „Der Koran und die Sunna: der Zeit-Raum-Faktor“. International Institut of Islamic Thought (Hrsg.), Kairo, Virginia, London 1994. 343 Siehe Sure 16:2. 344 Siehe Schwarzenau, Paul: Korankunde für Christen, Hamburg, Risse Verlag, 1990, S. 115 ff.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
Herrscher z. B. in Spanien dieses nicht praktiziert, gäbe es dort angesichts ihrer Jahrhunderte andauernden Herrschaft kaum noch einen Nichtmuslim, insbesondere in Andalusien. Kurz nach der Wiedereroberung Andalusiens durch die Spanier hat die bekannte Inquisition angefangen und zwang alle Nichtkatholiken, sich zum Katholizismus zu bekennen, anderenfalls wurden sie vertrieben oder zum Tode verurteilt. Vergleicht man unvoreingenommen, was die muslimische Herrschaft in Spanien, Südfrankreich und Süditalien an kulturellem Erbe hinterlassen hat, mit dem, was die Kreuzritter in Jerusalem oder die Kolonialländer in der islamischen Welt an Verwüstungen hinterlassen haben, würde man feststellen, dass das islamische Verständnis der Religionsfreiheit – mit wenigen Ausnahmen – nicht nur eine reine Theorie geblieben ist.345 Es gibt zahlreiche Koranstellen und sowohl mekkanische als auch medinensische Suren hierzu346: „Es darf keinen Zwang in der Religionsangelegenheit geben.“ Sure 18:29 (Mekka/Medina): „Sprich! Das ist die Wahrheit von eurem Herrn, wer daran glauben will, möge glauben und wer sie leugnen will, möge sie leugnen.“ Die Sure 109:1–6 (Mekka/Medina) endet mit dem Satz: „Ihr habt eure Religion und ich habe die meine“. Die Einstellung des Propheten Andersgläubigen gegenüber wurde in der Medina-Erklärung konzipiert und später durch seinen Umgang etwa mit der christlichen Delegation aus Nadjran in Taten umgesetzt. Nach der Eroberung Mekkas durch die Muslime unter seiner Führung sammelte er die besiegten Mekkaner und fragte sie, was er ihrer Meinung nach mit ihnen zu tun gedenke. Da antworteten sie: „Du bist ein guter Bruder und ein Sohn eines guten Bruders.“ Darauf antwortete er: „Geht! Ihr seid alle frei.“ Ähnlich verhielt sich der zweite Kalif Omar, als er Jerusalem eroberte und ein Friedensabkommen mit dem Erzbischof der Stadt, Sophronius, in der Auferstehungskirche unterzeichnet hatte. Der Erzbischof bot Omar an, sein Nachmittagsgebet in der Kirche zu verrichten. Omar bedankte sich und zog es vor, im Vorhof der Kirche zu beten und nannte dem Erzbischof als Grund, er befürchte, dass Muslime später einen Anspruch auf diese Kirche erheben würden, mit der Begründung, dass er in ihr gebetet hätte. Im selben Friedensabkommen verlangte der Bischof Sophronius, dass die Juden nicht zu ihrer heiligen Stätte in Jerusalem kommen sollten. Der Kalif Omar lehnte diese Forderung mit der Begründung ab, dass der Islam niemandem den Besuch seiner heiligen Stätten verbietet. 345 Siehe Elshahed, E.: Al-Khitab al-falsafi al-muʿasira … = Der philosophische Diskurs der Gegenwart, Kairo, Dar Qiba’, 2000. 346 Siehe u. a. Sure 2:256.
12.2 Ist der Islam die Alternative?
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Diese Beispiele aus dem Koran, der Sunna sowie aus der Sunna des zweiten Kalifen Omar müssen als Referenzquelle und Garantie für die freie Meinungsäußerung im Islam sowohl in den islamischen Ländern als auch in Europa gelten. Dass es manchmal zu Überschreitungen dieses islamischen Grundprinzips auch in den ersten drei Jahrhunderten kam, kann niemand bestreiten. Dies sind Vorkommnisse, die zum Teil durch unbewusste Missdeutung einiger relevanter Aussagen des Propheten Muhammad geschehen sind, zu weitaus größeren Anteilen waren sie politisch motiviert. Al-Djaʿd Ibn Dirham und Ghilan ad-Dimaschqi im 2./8. Jahrhundert sowie der berühmte Mystiker al-Hallaj, Anfang des 3./9. Jahrhundert sind beispielhaft für den Missbrauch der islamischen Religion für eigene politische Machtinteressen. Auch im 20. Jahrhundert kam es unter dem sudanesischen Präsidenten Numeri zu einem solchen Missbrauch. Einige Despoten in islamischen Ländern haben den islamischen Djihad ebenfalls für ihre eigene politische Machtgier missbraucht. Andererseits gab es unzählige sogenannte Häretiker, die ihre Weltanschauungen verbal und schriftlich öffentlich verkündeten, ohne dass sie dafür die Todesstrafe erleiden mussten. Um einige Beispiele zu nennen: Ibn al-Muqaffaʿ, Ibn Ar-Rawandi, Abul-ʿAla’ al-Maʿarri, Abu ʿIsa al-Warraq und der berühmte Mystiker Ibn ʿArabi, die zwischen dem 3. und 7. bzw. 9. und 13. Jahrhundert lebten.347 12.2.2 Gegenwärtige islamische Menschenrechtserklärungen
Teile der allerersten islamischen Menschenrechtserklärung kann man aus verschiedenen Koranstellen und einigen Aussagen des Propheten Muhammad entnehmen. In der sogenannten Medina-Erklärung und in den verschiedenen Kriegsbestimmungen, die den Umgang mit den Gegnern während und nach der kriegerischen Auseinandersetzung regelten, nahm diese erste Menschenrechtserklärung eine theoretische und praktische Gestalt an. In den letzten 25 Jahren wurden mehrere Menschenrechtserklärungen von verschiedenen islamischen und arabischen Organisationen in und außerhalb der islamischen Länder verabschiedet und veröffentlicht, welche, wie auch andere davor und danach, von der Öffentlichkeit in Europa nicht in ausreichendem Maße wahrgenommen wurden. Sie werden lediglich als momentane Reaktionen auf die im Namen des Islams ausgeübten Gewalttaten gesehen. 347 Siehe Elshahed, E.: Rihlat al-Fikr al-islami … = Die Reise des islamischen Denkens …, Beirut, Dar Al-Muntakhab, 1994, S. 56 ff.; ders.: „Die islamische Mystik u. die Einheit der Religionen“, in: RIG 6, 2000, S. 217 ff.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
Einige Beispiele darf ich hier kurz anführen: Am 19. September 1981 verabschiedete der Islamrat für Europa eine Menschenrechtserklärung. Darin heißt es: „Jedermann hat das Recht auf Gewissensfreiheit, auf die freie Kulturausübung in Übereinstimmung mit seinem Glauben.“ Ein eindeutiges Bekenntnis zur Religionsfreiheit, die man in der Verfassung eines jedes europäischen Landes an der ersten Stelle finden kann. Am 05. August 1990 verabschiedete die „Islamische Konferenz der Außenminister“ die Kairoer Menschenrechtserklärung, in der jede Art des Missbrauchs von Notsituationen, z. B. Armut oder Unwissenheit, etwa für missionarische Zwecke bzw. als Mittel zur religiösen Manipulation oder Zwang, missbilligt wurde (Artikel 10). Die islamische Scharia wird als die einzige Referenzquelle für die Auslegung des Inhaltes dieser Erklärung (Artikel 22a), aber auch als Rahmenbedingung für das gewährte Recht auf freie Meinungsäußerung genannt (Artikel 25). Hier werden wir mit dem Begriff „Scharia“ in seiner vielfältigen Definition als einzige Referenzquelle und als eine Rahmenbedingung der Meinungsfreiheit konfrontiert. Dabei garantiert die richtig verstandene Scharia wie erwähnt die Religions- und Meinungsfreiheit unter einer einzigen Bedingung, nämlich, dass der soziale Frieden dadurch nicht gestört werden darf. Dieselbe Bedingung finden wir in vielen europäischen Gesetzbüchern, wie in dem oben zitierten Deutschen Strafgesetzbuch. Die am 15. September 1994 durch den Rat der Liga der arabischen Staaten verabschiedete Arabische Charta der Menschenrechte unterstreicht in ihrer Präambel die Menschenwürde, Brüderlichkeit und Gleichheit, die in der islamischen Scharia und anderen Offenbarungsreligionen festgehalten ist. Sie betont weiter die Religions-, Gedanken- und Meinungsfreiheit (Artikel 26) sowie das Recht eines jeden auf Ausübung seiner religiösen Bräuche und Gottesdienste (Artikel 27). Die Einschränkung dieser Rechte wird durch eine mögliche Verletzung der Rechte eines anderen oder des geltenden Gesetzes begründet. Die Loyalität zum Grundgesetz, zur Rechtsstaatlichkeit, den demokratischen Strukturen, zum Parteienpluralismus und vor allem das Recht, die eigene Religion zu wechseln, wurde nicht zum ersten Mal und nicht zuletzt durch die islamische Charta – Grundsatzerklärung des Zentralrates der Muslime in Deutschland am 20. Februar 2002 – ausdrücklich deklariert. In der Grazer Erklärung vom 15. Juni 2003, an deren Formulierung ich auch beteiligt war, und die zum Abschluss der Konferenz der „Leiter islamischer Zentren und Imame in Europa“ sowie in der Erklärung der Imam-Konferenz von Wien am 24. April 2005, die durch die islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich organisiert und deren Schlusserklärungen verabschiedet wurden, werden die in den vorangegangenen Menschenrechtserklärungen deklarierten Bekenntnisse beschworen.
12.3 Zur Wahrnehmungsproblematik der Religionsfreiheit in Europa
361
Alle diese Erklärungen schließen durch das Bekenntnis zu den europäischen Grundgesetzen und ihren demokratischen Strukturen sowie zum Parteienpluralismus die angebliche Forderung einiger Muslime auf die Einführung der Scharia in Europa aus. Weitere Menschenrechts- und Distanzierungserklärungen werden stets von Muslimen erwartet und verlangt, sobald irgendwo auf der Welt eine Gewalttat von einem mutmaßlichen Muslim im Namen des Islams begangen wird. Kann man sich vorstellen, dass Muslime z. B. in Ägypten von ihren christlichen Mitbürgern solche Distanzierungserklärungen verlangen, wenn Gewalt gegen Muslime in Europa oder andernorts von christlichen Fanatikern wie z. B. in Frankreich oder im Irak ausgeübt wird? In diesem Zusammenhang zeigt man mit dem Finger allzu gerne auf einige muslimische Staaten, wie Saudi-Arabien oder den Iran, und beklagt – mal zu Recht, mal zu Unrecht – die Verletzung der Menschenrechte. Zweifelsohne besteht in vielen islamischen Ländern in Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte großer Nachholbedarf. In diesen Ländern wird die Religion im Dienste politischer Zwecke und eigener Traditionen manipuliert und missbraucht. Demokratische Strukturen, Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie religiöse Toleranz, geschweige denn Akzeptanz, müssen dort erst gelernt werden. In dieser Hinsicht mangelt es nicht nur an religiöser Aufklärung, sondern auch an geeigneter Pädagogik. Europa könnte einen großen Beitrag dazu leisten, indem es den dort lebenden Muslimen die entsprechenden Programme zur Aufklärung und moderate Ausbildungsmöglichkeiten anbietet bzw. sie in dieser Hinsicht unterstützt. Der öffentliche islamische Religionsunterricht und die dafür benötigten Ausbildungsstätten könnten mit Sicherheit eine zweidimensionale Integration der Muslime in Europa fördern – eine intern islamische durch den einheitlichen moderaten Islamunterricht und zugleich eine gesellschaftliche durch die Verstärkung des Zugehörigkeitsgefühls der Muslime zu ihrer neuen Heimat sowie durch eine identitätsschonende Integrationspolitik. Dies würde einen wesentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden in Europa leisten.
12.3 Zur Wahrnehmungsproblematik der Religionsfreiheit in Europa
Folgende Fragen sollten sich Muslime und Nichtmuslime in Europa unbedingt stellen: – Inwieweit bestimmt die Berührungsangst mit dem authentischen Islam die Darstellung desselben in Europa? – Wann werden Nichtmuslime damit aufhören, muslimischen Islamwissenschaftlern beibringen zu wollen, wie der Islam angeblich richtig zu verstehen ist?
362
12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
– Mit welchem Recht beharren vor allem Europäer darauf, den Islam so maßgeschneidert darzustellen, dass er in ihre eigene Vorstellung hineinpasst, zumal viele muslimische Religionswissenschaftler und Theologen bemüht sind, dem authentischen moderaten Islam Geltung zu verschaffen? – Riskiert man nicht durch die einäugige Schwarz-Weiß-Malerei in Europa in Bezug auf den Islam, dass die moderaten Muslime ihre Vermittlerrolle letzten Endes als sinnlos betrachten und sie dann demzufolge aufgeben? – Welches Islambild würde eher zum interkulturellen und konstruktiven Zusammenleben beitragen, ein von Gewalt geprägtes oder ein friedensstiftendes Bild? – Wie oft müssen die muslimischen Institutionen inner- und außerhalb Europas die Loyalität zur Demokratie, zum Parteienpluralismus, zur kollektiven sowie individuellen Religionsfreiheit und zu den geltenden Verfassungen bzw. Gesetzen im jeweiligen Land durch diverse Menschenrechtserklärungen sowie Konferenzabschlusserklärungen bekunden, bis dies von Nichtmuslimen ernsthaft wahrgenommen wird? – Spielen für die verschiedenen christlichen Kirchen die nicht zufriedenstellenden Ergebnisse der christlichen Missionierungsarbeit unter den Muslimen inner- und außerhalb Europas eine bedeutende Rolle bei der Kritik, dass der Islam keine individuelle Religionsfreiheit bzw. keinen Religionswechsel dulde und der betroffenen Person mit der Todesstrafe drohe? – Dürfen einige wenige Diskriminierungsfälle gegen Andersgläubige während der 800-jährigen muslimischen Herrschaft ohne Weiteres als repräsentativ für die gesamte islamische Herrschaftszeit betrachtet werden? – Schließt die international garantierte freie Meinungsäußerung die Verletzung der religiösen Gefühle von Andersgläubigen ein, oder muss dieses Recht, wie jedes andere soziale Verhalten in jeder zivilisierten Gesellschaft, bestimmte Regeln beachten? Das internationale Recht garantiert ausschließlich die Denk- und Glaubensfreiheit. Im römischen sowie im angelsächsischen Recht muss das Recht auf freie Meinungsäußerung zum gesellschaftlichen Frieden beitragen und nicht umgekehrt, dort heißt es „A minimum of social redeaming value“. Das Oberste Verfassungsgericht in den USA hat viele eindeutige entsprechende Urteile ausgesprochen. – Wie würde man sich in Europa entscheiden, wenn man zwischen uneingeschränkter individueller Meinungsfreiheit und dem gesellschaftlichen Frieden zu wählen hätte?
12.3 Zur Wahrnehmungsproblematik der Religionsfreiheit in Europa
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12.3.1 Die Religionsfreiheit als Baustein einer konstruktiven Integration
Einem dreidimensionalen Versäumnis verdanken wir die problematische soziale und kulturelle Situation, in der Muslime in Europa im Allgemeinen leben. 1. Die erste Einwanderergeneration lebte in der Vorstellung, dass sie nach einigen Jahren in ihre Heimat zurückkehren würde und strebte daher keine Integration im Gastland an. 2. Die muslimischen Rechtsgelehrten betrachteten ihrerseits das Verweilen der muslimischen Minderheit als vorübergehend und demzufolge hielten sie jeden Versuch, eine zeit- und situationsgerechte Rechtsgrundlage für die Muslime in Europa zu schaffen, für überflüssig. 3. Die Politik in Europa verhielt sich zurückhaltend, weil sie die Anwesenheit der Muslime in Gastland ebenfalls als vorübergehend betrachtete und somit keine effektiven Integrationskonzepte entwickelte. Stattdessen wurde in einer späteren Phase über verwirrende Begriffe wie Euro-Islam, Leitkultur etc. in den Massenmedien unbedacht debattiert und dabei verschleierte Assimilationsversuche unternommen. 12.3.2 Vier Aspekte müssen hier berücksichtigt werden
1. Die ernsthafte Bereitschaft des jeweiligen europäischen Landes, die Einwanderer identitätsschonend zu integrieren. 2. Die Integrationsbereitschaft der muslimischen Zuwanderer in der Aufnahmegesellschaft. 3. Die Heterogenität der beiden Kulturkreise, des europäischen und des islamischen, welche die Integrationsarbeit erschweren. 4. Die gemeinsamen Kulturelemente, die durch den Einfluss der islamischen Kultur auf Europa, insbesondere vom Mittelalter bis zur Renaissance, entstanden sind. Eine besonnene Integration sollte die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften hervorheben und diese für die gegenseitige kulturelle Befruchtung ohne die Selbstaufgabe einzelner Kulturkreise, wie es im Mittelalter der Fall war, optimal ausschöpfen. Eine so verstandene Integration sollte keinesfalls einseitig gefordert, sondern vielmehr beidseitig gefördert werden. Mit anderen Worten: Aufrichtig fördern statt einseitig fordern. Ein ernst gemeinter Integrationsprozess ist keine Einbahnstraße. Gegenseitige aufrichtige Anerkennung und mutiger vorurteilsfreier Umgang miteinander sind hierfür eine Grundvoraussetzung.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
Generell stellt jede einseitige Forderung nach Integration der zugewanderten Kulturen in die einheimische einen mehr oder weniger bewussten Assimilationsversuch dar, welcher der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft jede Grundlage für eine multikulturelle Entfaltung raubt. 12.3.3 Was müssen wir tun?
– Kollektive sowie individuelle Religionsfreiheit muss für alle Menschen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, ihrem Herkunftsland oder ihrer Hautfarbe, garantiert sein. – Freie Meinungsäußerung darf nicht die religiösen Gefühle eines anderen Menschen verletzen und muss auf ihre soziale Konformität geprüft werden. – Eine aufrichtige interkulturelle identitätsschonende Integrationspolitik, die nicht nur zur Toleranz, sondern vielmehr zur gegenseitigen Akzeptanz führt, muss an die Stelle von einseitig gefasstem Kulturalismus treten. – Man soll mit Vertrauen und Respekt aufeinander zugehen und versuchen, den anderen zu verstehen. Das Rechtsverständnis in der Aufnahmegesellschaft sollte interkulturell soweit erweitert werden, dass genügend Freiraum für andere kulturell bedingte Verhaltensweisen und Erscheinungsformen gewährleistet ist. – Misstrauen muss auf beiden Seiten abgebaut und nicht durch übertriebene Sicherheitsmaßnahmen verstärkt werden, welche Angst und Misstrauen erzeugen. – Die Balance zwischen Schutzmaßnamen auf der einen Seite und Meinungs- und Glaubensfreiheit auf der anderen Seite muss hergestellt und behütet werden. Anderenfalls würden die Menschenrechte in einer demokratischen Gesellschaft langsam aber sicher unbemerkt zusammenschrumpfen oder ganz und gar verschwinden. – Muslime müssen mitten in der Gesellschaft und nicht an deren Rand leben. Ihre Loyalität zur Gesellschaftsordnung der neuen Heimat sowie den Respekt für deren Kultur und Tradition müssen sie unmissverständlich bekunden. – Authentischer, moderater und der Gesellschaft angepasster islamischer Religionsunterricht soll in der jeweiligen europäischen Landessprache in den öffentlichen Schulen erteilt werden dürfen. Die sogenannte religiöse Unterweisung bietet hierzu keine überzeugende Alternative. – Die negativen Erfahrungen, die Europa mit der Herrschaft der Kirche im Mittelalter erlebt hat, dürfen nicht ohne Weiteres auf den Islam projiziert werden. Der Islam erlebte seine kulturelle Blütezeit im Mittelalter, als die meisten muslimischen Herrscher bemüht waren, ihre Politik soweit wie möglich islamkonform zu gestalten.
12.3 Zur Wahrnehmungsproblematik der Religionsfreiheit in Europa
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– Die muslimischen Dachorganisationen in Europa müssen ihren internen Streit überwinden und, ähnlich wie in Österreich, durch demokratische Strukturen einen Konsens über allgemein anerkannte Richtlinien finden sowie eine von allen Organisationen gewählte und anerkannte Vertretung als Ansprechpartner für die jeweilige politische Führung zustande bringen. – Furcht erzeugende, manipulierte und manipulierende Massenmedien führen die Masse und demzufolge die Politik, die die Bevölkerung für ihre Wiederwahl braucht, in eine sehr gefährliche Richtung mit unabsehbaren Folgen. Diese Tatsache zu unterschätzen oder gar zu verdrängen, ist langfristig selbstzerstörerisch. Man muss keinem Verschwörungswahn unterliegen, um anzunehmen, dass die Integration der Muslime in Europa bestimmten Interessensmächten nicht recht ist. Die besonders gute Beziehung zwischen einigen europäischen Ländern, wie etwa Österreich, Deutschland und der Schweiz und den islamischen Ländern, die sich bis jetzt bewährt hat, beunruhigt die vermeinten Interessensmächte. Verantwortungsbewusstes Handeln ist hier ein hohes Gebot. – Ständiges Misstrauen und Verdächtigungen zerstören Schritt für Schritt das gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühl und führen zwangsläufig zur Abkapselung von der Gesellschaft. Diese bietet wiederum einen fruchtbaren Boden und hochgradige Anfälligkeit für extremes Gedankengut, das sich mit der Zeit zu einer Zeitbombe entwickeln und den gesellschaftlichen Frieden in große Gefahr bringen könnte, wenn es nicht rechtzeitig durch besonnene Aufklärung und Überzeugungsarbeit entschärft wird. – Identitätsbewusste aufgeschlossene Muslime sollen seitens der Mehrheitsgesellschaft weder zu Unrecht als Konservative oder gar Fundamentalisten bezeichnet noch zum Störfaktor degradiert werden. Unter den Muslimen gibt es Opportunisten, die ein „zurechtgebogenes“ Islambild propagieren und dafür als Islamexperten oder gar als Islamreformer vor allem in vielen Massenmedien, aber auch von einflussreichen Politikern entsprechend hofiert werden. In Wirklichkeit können diese sogenannten Islamexperten zum interkulturellen Dialog und dem erhofften sozialen Frieden am wenigsten beitragen. Ganz im Gegenteil, sie tragen, meines Erachtens, wesentliche Schuld an der nicht zufriedenstellenden Entwicklung der kulturellen Verständigung in Europa. – Damit diese Konzeption nicht theoretisch bzw. lediglich ein Wunsch bleibt, müssen wir neue multikulturelle Erziehungskonzepte für alle Schularten, vom Kindergarten bis zur Hochschule, entwickeln. Dabei soll der Sprach- und Religionsunterricht besonders berücksichtigt werden. Familien- und Bildungsministerien sowie Hochschulen und Forschungsinstitutionen sind hierfür zur aktiven Teilnahme aufgerufen.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
– Unwissenheit ist bekanntlich die Ursache aller Arten des Fanatismus. Durch die Behebung der Ursache wird ihre Wirkung automatisch behoben. Bildungsinstitutionen, alle Arten der Öffentlichkeitsarbeit und vor allem die Massenmedien überall müssen ihren Beitrag dazu weitsichtig und verantwortungsvoll leisten, indem sie den moderaten Aspekt der islamischen Religion insbesondere in Bezug auf die individuelle und die kollektive Religionsfreiheit objektiver darstellen. Keine einzige große Religion auf dieser Welt kann eine völlig gewaltlose und diskriminierungsfreie Vorgeschichte nachweisen. Bevor man mit dem Finger auf andere zeigt, sollte man sich daran erinnern, was Jesus bei der Steinigung einer Frau gesagt hat: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
12.4 Ein Volksentscheid, seine Bedeutung, Tragweite und Folgen
Ein herber kultureller Rückschlag wurde durch das am 29. November 2009 in der Schweiz abgehaltene Referendum über das Bauverbot von Minaretten Realität. An diesem Referendum nahm über die Hälfte der stimmberechtigten Schweizer teil. Über die Hälfte von ihnen stimmte mit „Ja“. Demnach können wir rein rechnerisch davon ausgehen, dass sich gut ein Viertel der gesamten schweizerischen Bevölkerung keine Minarette in ihrer unmittelbaren Nähe wünscht. Man könnte davon ausgehen, dass diejenigen Stimmberechtigten, die eindeutig für dieses Verbot sind, sich aktiv an dieser Abstimmung beteiligt haben. Dieses Ergebnis bedeutet zusätzlich, dass nicht nur die Anhänger der SVP, die dieses Referendum demokratisch erzwungen hat, für das Minarettverbot gestimmt haben, sondern auch Anhänger anderer politischer Gruppierungen für dieses Verbot sind. Diejenigen aber, die ihre Stimmen nicht abgegeben haben, könnten entweder diese Abstimmung aus Protest boykottiert haben oder ihnen war der Ausgang gleichgültig. Als ein Stimmungsbarometer für die gesamte schweizerische Bevölkerung ist dies, meines Erachtens, nicht zu sehen. Kritische Stimmen und Demonstrationen mit überwiegender Beteiligung junger Schweizer bestärken diese Annahme. Ein erheblicher Teil des schweizerischen Volks hat durch dieses Referendum von einem seiner demokratischen Rechte formalrechtlich Gebrauch gemacht. Dagegen ist, abgesehen davon, ob diese Entscheidung für die schweizerische Bevölkerung langfristig gesehen richtig war oder nicht, in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft nichts einzuwenden. Von besonderer Bedeutung sind jedoch einige Medieninformationen, nach denen das Wahlergebnis in Städten mit hoher muslimischer Einwohnerzahl, u. a. in Basel, im Gegensatz zu den anderen Städten mit einer niedrigen Zahl muslimischer
12.4 Ein Volksentscheid, seine Bedeutung, Tragweite und Folgen
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Einwohner, negativ war. Dort wurde mehrheitlich gegen das Minarettverbot votiert. Dies könnte sowohl auf hohe Wahlbeteiligung muslimischer Stimmberechtigter, aber auch ebenso gut auf positive Erfahrungen seitens schweizerischer Wähler mit Muslimen in diesen Städten zurückgeführt werden.348 Glücklicher- und gleichzeitig unglücklicherweise ist dieses Referendum gegen den Willen einer demokratisch gewählten Regierung und eines demokratisch gewählten Parlamentes zustande gekommen. Dies bedeutet, dass die größten schweizerischen Staatsorgane und ebenso knapp die Hälfte der aktiven Wähler gegen das Minarettverbot sind und ihnen dieses Votum nicht anzulasten ist. Auch manche Pressestimmen haben im Vorfeld versucht, die Bevölkerung über die Tragweite eines solchen Votums objektiv aufzuklären. In vielen europäischen Ländern beurteilten Politiker und Massenmedien den Ausgang dieses Referendums sehr kritisch. Eine pauschale Verurteilung der Europäer bzw. der gesamten schweizerischen Bevölkerung und Massenmedien wäre daher ungerechtfertigt und kontraproduktiv. Die Bedeutung dieses Verbotsvotums liegt nicht ausschließlich im religiösen Stellenwert oder der Symbolik des Minaretts in einer Moschee oder gar in den Gefühlen der muslimischen Minderheiten in der Schweiz, sondern vielmehr in der Wiederbelebung einer alt-neuen folgenreichen Entwicklung, die dadurch auch im historischen Gedächtnis der Muslime zutage tritt. Mit anderen Worten: Dieses klare Votum gegen ein religiös-islamisches Symbol stellt ein klares Zeichen für den wachsenden Antiislamismus in Europa dar, welcher die große Politik in den nächsten Jahrzehnten negativ beeinflussen wird. Insbesondere die konservativen Parteien stehen unmittelbar vor der Gefahr eines großen Rechtsrucks. Auch große Volksparteien orientieren sich tendenziös nach Wählerstimmen, die u. a. durch rechtspopulistische, antiislamische Propaganda und verklärende mediale Berichterstattung manipuliert und für eigene Ziele mobilisiert werden können. Jede emotionale, unreflektierte Reaktion seitens der Muslime wie auch jeder verfrühte Siegeseifer seitens der rechtspopulistischen Institutionen sind in diesem Diskurs destruktiv, ja sogar gefährlich, da sie zu einer Eskalation der Lage mit unabsehbaren Folgen führen könnten. Stattdessen sollten sich alle Beteiligten um Schadensbegrenzung bemühen, bevor dieses schweizerische Model Schule macht. Auf der einen Seite haben die rechtspopulistischen Parteien in Europa, allen voran Holland und Österreich, ihre Freude und das Gefühl der Selbstbestätigung öffentlich gezeigt. Unverkennbar ist auf der anderen Seite ebenfalls die Enttäuschung der Muslime in Europa sowie in den mehrheitlich islamischen Ländern, auch wenn diese bis jetzt zurückhaltend reagiert haben. Sie haben aus den Ereignissen und Erfahrungen mit 348 Siehe die ORF-Fernsehsendung „Im Zentrum“, 6. Dezember 2009.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
den dänischen Karikaturen gelernt und wollen ihren Gegnern keine Angriffsfläche bieten. Diese zurückhaltende Reaktion der Muslime als Schwäche oder Ratlosigkeit zu interpretieren, wäre sehr kurzsichtig. Die Kurzsichtigkeit einer rechtspopulistischen Politik offenbart sich u. a. in der Verkennung der Tatsache, dass Muslime über ein großes und wirksames politisches und wirtschaftliches Potential inner- und außerhalb Europas verfügen, das sie heute noch effektiver als in den 70er Jahren während der Ölkrise für ihre Interessen einsetzen könnten. Nun stellt Öl heute nicht mehr das einzige Druckpotential dar. Wirtschaftliche bzw. finanzielle Investitionen sowie Importboykotts haben sich in den letzten Jahren ebenso als ein wirksames Mittel bewährt. Muslime sind sich bewusst, dass dieses Referendum nicht die letzte derartige und für sie negative Entwicklung darstellt, sondern vielmehr den Anfang von einer langen Verbotskette und Einschränkungsmaßnahmen bildet, die auf die Muslime in Europa in den nächsten Jahrzehnten zukommen werden. Andere Minderheiten dürfen sich angesichts dieser Entwicklung auch nicht sicher fühlen, denn Minderheiten, welcher Art auch immer, waren schon immer, sind heute und werden morgen der Gegenstand eines Feindbildes sein, auf welches Mehrheiten ihre Sorgen projizieren. Beide Seiten sind Opfer eines Opferwahns. Denn sowohl die Minderheit als auch die Mehrheit fühlen sich durch die Existenz des anderen in ihrer eigenen Existenz bedroht. Eine gesunde Basis für ein friedliches Zusammenleben in einer interkulturellen Gesellschaft kann dies allemal nicht sein. Nach dem Kopftuchverbot in öffentlichen Institutionen in einigen Bundesländern Deutschlands und in Frankreich befürchten Muslime weitere Verbote bzw. Einschränkungen ihrer Rechte auf religiöse Freiheit bis hin zum Bauverbot von Gebetshäusern und Ähnlichem. Apartheid und Diskriminierung von religiösen Minderheiten wären die schleichende Folge der derzeit wachsenden Islamophobie in Europa, welche wiederum einer bereits vorhandenen antiwestlichen Tendenz im arabisch-islamischen Raum weiteren Vorschub leistet. Der klare Gewinner ist am Ende der Radikalismus in beiden Kulturkreisen. Würden wir also eine derartige Entscheidung der Schweiz kleinreden, steuerten wir unweigerlich auf einen Kulturkampf mit unabsehbaren Folgen für alle Beteiligten zu. Vielleicht steht Europa heute vor der schicksalhaften Frage, ob es seinen eigenen Werten, wie Menschenrechten, Gleichheit aller Menschen und Religionsfreiheit, unselektiv treu bleiben kann. Wird diese Frage in Europa nicht eindeutig positiv beantwortet, könnten sich antieuropäische Strömungen in der islamischen Welt nichts Besseres wünschen, um für ihr durch Kreuzzüge und Kolonialismus traumatisiertes Gedächtnis eine klare Bestätigung zu finden. Die Folgen einer solchen Fehlentwicklung wären für beide
12.4 Ein Volksentscheid, seine Bedeutung, Tragweite und Folgen
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Seiten und vor allem für die christlichen Minderheiten in manchen mehrheitlich islamischen Ländern unabsehbar. Der israelischen Knesset liegt kurzer Zeit nach dem Minarettverbot in der Schweiz ein Antrag vor, nach dem der Gebetsruf in Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg in der Jerusalemer Altstadt und in Bethlehem verboten werden sollte. Weitere Nachahmungen in verschiedenen Ländern, die eine problematische Wahrnehmung bezüglich des Islam haben, sind nicht auszuschließen. In Bregenz, laut einer Pressemeldung, redet die FPÖ bereits von einem Antrag auf ein Minarettverbot in Vorarlberg.349 Müssen sich die muslimischen Minderheiten in Europa auch als Staatsbürger, wie kürzlich in einer Pressemeldung350 zu lesen war, tatsächlich damit abfinden, entweder Bürger zweiter Klasse zu sein oder auszuwandern? Bis vor Kurzem hörte man in Europa ständig den Vorwurf, Muslime seien Opfer einer vermeintlichen Verschwörungstheorie, sie würden sich selbst immer mehr als Opfer betrachten. Dieser Vorwurf könnte in der Tat für einige Personen oder muslimische Gruppierungen zutreffend sein, aber ihn auf Muslime im Allgemeinen anzuwenden und dies unermüdlich immer wieder als bedeutende Erkenntnis vorzubringen, ist mehr als fragwürdig. Die Frage, die man heute aufgrund der wachsenden Islamophobie doch stellen muss, ist, ob es nicht Europa selbst ist, das sich heute als Opfer einer Verschwörungstheorie durch den Islam betrachtet bzw. sich denselben Vorwurf gefallen lassen muss. Muslime in Europa sind nicht mehr nur Gastarbeiter und Putzfrauen. Aus vielen Gastarbeitern sind Geistarbeiter und aus vielen Putzfrauen sind Powerfrauen geworden. Vielleicht stellt diese unerwartete Entwicklung einige Europäer vor eine ernsthafte kulturelle Herausforderung, auf die sie nicht vorbereitet waren. Islamophobie in Europa und Westophobie in islamischen Ländern sind die Folgen eines im Bevölkerungsbewusstsein wachsenden beiderseitigen Misstrauens, das auf einer nicht ausreichenden objektiven Aufarbeitung der jeweiligen Kulturgeschichte beruht. Parallelen zwischen der Art, wie Islamophobe heute mit Muslimen und allem, was islamisch sein könnte, umgehen, und der Art, wie antisemitische Faschisten im letzten Jahrhundert mit religiösen und ethnischen Minderheiten umgingen, sind unübersehbar. Diese Parallelen werden aus wohl bekannten Gründen verdrängt oder als geistarm ignoriert. In „Dailyrace“ erschien, einen Tag nach dem hiesigen Referendum, folgender Artikel: 349 Siehe Der Standard, 12. Dezember 2009. 350 Siehe die Reaktionen auf die Rede des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff zum 20. Tag der Deutschen Einheit, Frankfurter Allgemeine, 4. Oktober 2010.
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12 Die Wahrnehmungsproblematik der Religions- und Meinungsfreiheit in Europa
Daniel Streich, Militärinstruktor und bis vor kurzem SVP-Politiker in Bulle, ist aus der Partei ausgetreten. Grund: Er ist zum Islam konvertiert. Zwei Jahre lang verheimlichte er dies seiner Ex-Partei. Jetzt – mit der „Hetzjagd gegen den Islam“ – wurde die Situation für ihn untragbar. Er war ein treuer SVPler und Christ, las die Bibel und besuchte regelmäßig die Kirche. Nun liest der Militärinstruktor und Gemeinderat von Bulle, Daniel Streich, den Koran, betet fünfmal täglich und geht in die Moschee. „Der Islam bietet mir logische Antworten auf wichtige Lebensfragen, die ich im Christentum nicht abschließend fand“, sagt Streich. Weil er die „Hetzjagd der SVP gegen den Islam“ nicht länger aushielt, ist Streich vor gut zwei Wochen aus der Partei ausgetreten und hat sich öffentlich zum Islam bekannt – zwei Jahre nach seinem Übertritt. Nun beteiligt er sich am Aufbau der neuen BDP-Partei im Kanton Freiburg. Der ehemalige Kirchenbeauftragte ist vehement gegen die Anti-Minarett-Initiative: „Würde die Initiative angenommen, wäre das ein absoluter Tiefschlag für mich. Ich müsste mich dann fragen, warum ich mich seit über 30 Jahren beruflich und politisch für diesen Staat eingesetzt habe.“ Die Schweiz brauche im Gegenteil dringend mehr Moscheen. „Es ist der Schweiz nicht würdig, dass Moslems in Hinterhöfen ihren Glauben ausüben müssen […]“.351
Wirtschaftlicher und finanzieller Boykott als Druckmittel haben ausschließlich eine vorübergehende Wirkung und eignen sich nicht als effektive Mittel, um hintergründig kulturelle oder religiöse Entscheidungen nachhaltig zu verhindern bzw. zu erzwingen. Nach neuerlichen Zeitungsberichten gehen 7 % des gesamten schweizerischen Exports in mehrheitlich islamische Länder. Der Anteil der muslimischen Touristen im schweizerischen Touristensektor beträgt 5 %. Schwer zu schätzen ist der erhebliche Anteil des muslimischen Kapitals in den schweizerischen Banken. Boykottdrohungen gehen bereits durch islamische Medien. Eine mögliche Verschiebung dieses Kapitals oder künftige Investitionen in ein anderes Land würden die schweizerische Wirtschaft empfindlich treffen.352 Diskriminierung von Minderheiten hin, wirtschaftliche Erpressungen her, verschwörerisches Verhalten hier und dort – der Ausgang des schweizerischen Referendums, ohne es verteufeln oder bejubeln zu wollen, führt uns unsere defizitäre Bildungspolitik, Aufklärungsarbeit und Integrationsverständnis unverschleiert vor Augen, die kulturelles bis hin zu militärischem Konfliktpotential bergen könnten.
351 Dailyrace, 30. November 2009 352 Siehe Die Presse, 3. 12. September 2010, S. 5.
13 Technik und Perfektion in der islamischen Weltanschauung 13.1 Definitionen und Relationen
Ähnlich lautende Begriffe verführen oft zur Annahme, dass die betroffenen Begriffe in irgendeiner Relation zueinander stehen. Und gerade deswegen soll man sich in so einem Falle Zeit lassen und unvoreingenommen historisch-kritisch nach den philologischen Wurzeln der phonographisch ähnlich lautenden Begriffe suchen. Im Rahmen der Thematik dieses Beitrags fallen in diesem Zusammenhang zwei verblüffend ähnlich lautende Begriffe auf, nämlich der Begriff „Technik“ auf der einen Seite und der arabische Begriff „Teqniya“ auf der anderen Seite. Philologisch besteht dabei kein Adaptionsverdacht, dass der eine oder der andere Begriff von der jeweiligen anderen Sprache übernommen sein könnte. Beide Begriffe sind in ihrer jeweiligen Sprache fest verwurzelt. Der Begriff „Technik“ hat einen griechischen Ursprung und gelangte über die französische Sprache in andere europäische Sprachen. Der arabische Begriff „Teqniya“ ist adäquat zum Begriff „Technik“ in der arabischen Sprache tief verwurzelt, wie die klassische arabische Lexikographie zeigt, und kam im Koran sowie in den Überlieferungen des Propheten Muhammad (Sunna) oft vor. In der Infinitivform heißt dieser Begriff „Itqan“ und bedeutet „Perfektion“. Die Annahme, dass der Begriff „Teqniya“ aus dem Griechischen ins Arabische gelangt sein könnte, und zwar durch die im 8./9. Jahrhundert in Bagdad stattgefundene Übersetzungsarbeit aus dem griechischen Gedankengut, wird durch die Tatsache ausgeschlossen, dass dieser Begriff bereits im vorislamischen Arabisch vorhanden war und später im Koran und in der Sunna im 7. Jahrhundert inhaltlich gleich vorkommt. Terminologisch sind, im Gegensatz zur Philologie, beide Begriffe fast identisch. Der arabische Begriff „Teqniya“ hat haargenau die gleiche Bedeutung wie der griechische/lateinische Begriff „Technik“. Der Begriff „Technik“ ist ein Sammelbegriff für die Gesamtheit der Maßnahmen, Einrichtungen und Verfahren, die dazu dienen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse praktisch nutzbar zu machen. Der arabische Begriff „Teqniya“ hat zusätzlich zu dem technischen Inhalt des Begriffs „Technik“ eine weitere sozial-ethische Dimension. Die Grundform des Wortes „Teqniya“, nämlich „Itqan = Perfektion“, impliziert zusätzlich einen ethischen Aspekt: die „Gewissenhaftigkeit“.
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13 Technik und Perfektion in der islamischen Weltanschauung
Ein Produkt bzw. eine Handlung wird erst als „perfekt“ bezeichnet, wenn sie „nach bestem Wissen und Gewissen“ ausgeführt wurde.
13.2 Der arabische Begriff „Teqniya“ im Koran und der Sunna 13.2.1 Im Koran
Zeichen für die Perfektion der Schöpfung der Natur durch Gott finden wir u. a. im folgenden Koranvers vor: Wahrhaftig! In der Erschaffung der Himmelssphären, der Erde, der Verschiedenheit (und des Aufeinanderfolgens) von Nacht und Tag und wie sich die Schiffe im Dienste der Menschen übers Meer fortbewegen und in dem, was Gott vom Himmel als Wasser fallen lässt, durch welches Gott die tote Erde wieder leben ließ und auf ihr die verschiedensten Arten von Lebewesen existieren ließ und die Bestimmung (von Mengen und Maß) des Windes sowie der Wolken, die zwischen Himmel und Erde als Diener funktionieren. All dies sind Zeichen (Gottes) für nachdenkende Menschen. (2:164).
Nicht die bloße Erschaffung des Himmels, der Erde, der Nacht, des Tages, der Schiffe, des Meeres, des Regens, des Todes, des Lebens, der Tiere (Lebewesen), des Windes und der Wolken werden hier als Zeichen der Existenz und der Allmacht Gottes, sondern viel mehr ihr Sinn und ihre Zweckmäßigkeit – sprich ihre Perfektion – werden in den Vordergrund gestellt. Im Zusammenhang mit der Erschaffung der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeit durch Gott sowie der täuschenden Erscheinung einiger Naturphänomene kommt der Begriff „Itqan“ im folgenden Koranvers vor: „Du siehst die Berge und denkst, sie bewegen sich nicht, dabei ziehen sie doch dahin wie die Wolken. Das ist das Werk Gottes, der alles in vollkommener Perfektion (atqana) erschuf …“ (27:88). In diesem Koranvers kommen mindestens vier relevante Begriffe bzw. Zusammenhänge vor: a) Naturgegenstände: Berge und Wolken. b) Naturgesetze: Der Vergleich zwischen der unsichtbaren Bewegung der Erde einerseits und der Bewegung der Wolken andererseits. c) Perfektion: Die Verbindung zwischen dem Begriff „Erschaffung“ (wörtlich: „Herstellung“) einerseits und dem Begriff „Perfektion“ bzw. „Vollkommenheit“ des hergestellten Gegenstandes andererseits. d) Ihre technische Dimension: Die Erschaffung der Berge und der Wolken impliziert eine technische Dimension von höchster Perfektion.
13.2 Der arabische Begriff „Teqniya“ im Koran und der Sunna
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Sinn und Gesetzmäßigkeit in Perfektion finden wir in einer ausführlicheren Form im Koran beschrieben (36:33–40): Und ein Zeichen für sie (die Menschen) ist, dass Wir die tote Erde zum Leben wiedererweckten und aus ihr Getreide als Nahrung für sie hervorgebracht haben. Auf ihr erschufen Wir Gärten voller Palmen und verschiedene Arten von Weintrauben sowie Wasserquellen, damit sie von ihrer Ernte, die sie nicht eigenhändig herstellten, speisen. Wollen sie nicht dankbar sein? Preis sei Demjenigen, der alle pflanzlichen, menschlichen und sonstigen, den Menschen unbekannten Paare erschuf. Ein weiteres Zeichen für sie (die Menschen) ist die Nacht, aus der Wir den Tag herausziehen, so dass es um sie (die Menschen) herum dunkel ist. Und die Sonne (ließen Wir) zu einem bestimmten Ort eilen. Das ist die Bestimmung des Allmächtigen und Allwissenden. Und den Mond ließen Wir in verschiedenen Formen erscheinen, bis er wieder wie ein alter Dattelrispenstiel wurde. Weder ziemt es der Sonne, den Mond einzuholen, noch wird die Nacht dem Tag zuvorkommen; alle laufen (wörtl. „schwimmen“) in einer (jeweils eigenen) Umlaufbahn. 13.2.2 In der Überlieferung des Propheten Muhammad (Sunna)
In den Überlieferungen des Propheten Muhammad (auch „Hadith“ genannt) gibt es einen authentischen Hadith, der in deutscher Übersetzung folgendermaßen lautet: „Wahrhaftig, Gott liebt es, wenn der Mensch auf die bestmögliche Art und Weise das tut (an yutqinah), was er zu tun gedenkt.“353 In diesem Hadith können wir mindestens drei weitere Dimensionen des Begriffs „Perfektion“ (Itqan) erkennen: 1. Gottes Liebe bzw. Gottes Nähe setzt, diesem Hadith zufolge, den guten Willen des Menschen voraus, keine Mühe zu scheuen, sein Werk möglichst perfekt auszuführen. 2. Ethik wird (durch das Wort Liebe) mit dem Begriff Technik bzw. Herstellung und Perfektion unauflöslich verbunden. 3. Handeln nach bestem Wissen und Gewissen ist ein religiöses Gebot. 13.2.3 Die religiöse Dimension des Begriffs „Perfektion“, weitere relevante Begriffe
„Itqan“ als die höchste Stufe des Handelns steht adäquat zum religiösen Begriff „Ihsan“ als der höchsten Stufe der Umsetzung des Glaubens im Alltag (Islam, Iman, Ihsan). „Ihsan“ wird in der Sunna nach einer authentischen prophetischen Überliefe353 Siehe Al-Awsat von At-Tabarani, Nr. 891; Schuʿab Al-Iman von Al-Bayhaqi, Bd. 4, S. 334.
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13 Technik und Perfektion in der islamischen Weltanschauung
rung folgendermaßen definiert: „Du sollst Gott so gewissenhaft dienen, als würdest du Ihn (Gott) sehen. Denn auch wenn du Ihn nicht siehst, Er sieht dich doch.“ Gottesdienst impliziert in seinem Kern, nach islamischer Sicht, alle diesseitigen guten Handlungen, die man aus voller Überzeugung als Befolgung des göttlichen Willens ausführt. Eine überlieferte Geschichte schildert die verschiedenen Stufen des islamischen Glaubens folgendermaßen: Einer Sklavin eines Gefährten des Propheten zerbrach aus Versehen einen Wasserkrug. Als sie bemerkte, dass ihr Herr deshalb sehr wütend war, erinnerte sie ihn an einen Koranvers, in dem die Eigenschaften eines Gläubigen aufgezählt sind: „Die Gläubigen sind diejenigen, die ihre Wut überwinden.“ Da antwortete der Mann: „Gut! Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Sie erwähnte die nächste Eigenschaft, nämlich: „Und diese sind diejenigen, die zum Verzeihen immer bereit sind.“ Da antwortete er: „Ich habe es dir verziehen.“ Darauf folgerte sie: „Wahrhaftig! Gott liebt die Wohltäter.“ (al-muhsinin = Nominalform von Ihsan). Darauf sagte er ihr: „Geh, du bist frei.“ Dieses Beispiel bzw. diese Geschichte schildert uns, abgesehen von ihrer Authentizität, die Rangordnung bzw. Stufen des im Alltag gelebten perfekten Glaubens. Die ersten zwei Stufen stellen eine positiv-passive Handlung, nämlich Überwindung der Wut und Verzeihung dar. Die Perfektion der Umsetzung des Glaubens im Alltag erfordert einen weiteren Schritt, nämlich eine positiv-aktive Handlung, bei der man ein zusätzliches Opfer erbringt, in diesem Beispiel die Freilassung seiner Sklavin. Man muss also dazu fähig sein, eine schlechte Tat durch eine Wohltat zu erwidern, um seinen Glauben zu perfektionieren. Die praktische Dimension des Glaubens wird als Maßstab für die Beurteilung und Rangbestimmung eines Gläubigen betrachtet. Der Begriff „Ihsan“ wird mit einem weiteren religiösen Begriff, nämlich „Taqwa“ als „Ehrfurcht“ (?!) vor Gott wesentlich verbunden. Dabei müssen wir vermerken, dass „Ehrfurcht“ in der arabischen Sprache viel mehr mit „Ehrung“ als mit „Furcht“ zu tun hat. So verstanden ehrt man Gott, indem man alle Handlungen, seien sie nun üblicher ritueller Gottesdienst oder ganz gewöhnliche zwischenmenschliche soziale Handlungen, so gewissenhaft durchführt, als würde man vor Gott direkt stehen. „Taqwa“ bzw. „Ehrfurcht“ hat ebenso viel mit „Schamgefühl“ („Haya’“) gegenüber Gott zu tun. Schamgefühl führt so zur Gewissenhaftigkeit, die wiederum zur Perfektion der Handlung führt. „Haya’“ bzw. Schamgefühl würde nach einem authentischen Hadith die Hälfte des gesamten islamischen Glaubens ausmachen.
13.3 Exkurs: Zu den Bezeichnungen „islamisch“ und „arabisch“
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13.3 Exkurs: Zu den Bezeichnungen „islamisch“ und „arabisch“
Der Begriff „arabische Kultur“ hat viel mehr eine kulturelle als eine ethnische Dimension. Die Sprache des islamischen Schrifttums ist ursprünglich Arabisch, da die Primärquellen der islamischen Religion, des Koran und der Sunna (die Überlieferungen über den Propheten Muhammad) sowie die früheren Schriften in arabischer Sprache verfasst wurden. Aus diesem Grunde lernten die nichtarabischen Muslime Arabisch, um einen sicheren Zugang zu den Primärquellen der neuen Religion zu haben. Die Sprache der frühen islamischen Literatur war Arabisch, der Geist war es jedoch meist nicht. Die meisten bekannten kanonischen Werke, insbesondere in den Bereichen der Theologie und Philologie sind Leistungen von Wissenschaftlern, deren Muttersprache nicht Arabisch war. Selbst die ersten Schritte der Grammatisierung bzw. Systematisierung der arabischen Sprache geschahen durch einen persischen Gelehrten namens Sibawaih, der jedoch ein Schüler des großen arabischen Sprachgelehrten Al-Khalil Ibn Ahmad war. Beide lebten im 9. Jahrhundert n. Chr. Die technische Dimension der Poesie, „Metrik“ genannt, wurde ebenfalls durch den Sprachgelehrten Al-Khalil Ibn Ahmad erfunden und später als eine eigenständige Wissenschaft etabliert. Die größten kanonischen Hadith-Sammlungen, bekannt als „Sahih alBuchari“ und „Sahih Muslim“, sind große Leistungen der Imame al-Buchari aus Buchara und Muslim aus Samarkand. Diese zwei Hauptwerke werden dadurch gekennzeichnet und deshalb hochgeachtet, weil sie ausschließlich authentische prophetische Überlieferungen enthalten. Sie werden aus diesem Grund „as-sihah“, d. h. „die Richtigen“, genannt und dienen als zuverlässige Quellen in der Islamforschung.354 13.3.1 Wie steht der Islam zu Technik und Forschung?
Die zwei Begriffe „Naturphilosophie“ und „Naturwissenschaft“ haben zwar verschiedene Definitionen, dennoch bedingen sie sich gegenseitig: Naturphilosophie ist, nach meinem Verständnis, eine systematische Reflexion über Naturereignisse, um sie zu ergründen bzw. um eine plausible Erklärung für sie zu finden. Naturwissenschaft ist hingegen der Versuch, die theoretische Reflexion der Naturphilosophie experimentell vorausschaubar bzw. beherrschbar zu machen. Im Koran wird Wissen bzw. Wissenschaft mehr als zweihundert Mal in lobenswertem Zusammenhang erwähnt. 354 Siehe dazu Brockelmann, Karl: Die Geschichte der arabischen Literatur, GAL, Leipzig, Amelangs, 1909; sowie Segzin, Fuat: Geschichte des arabischen Schrifttums, GAS, Leiden, Brill Verlag, 1974–96.
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13 Technik und Perfektion in der islamischen Weltanschauung
Zwei Stellen können stellvertretend für die Wertschätzung des Wissens im Koran stehen: In Sure 17:36 lesen wir: Du sollst nicht mutmaßen über das, worüber du über kein sicheres Wissen verfügst. (Denn) der Mensch wird dereinst Rechenschaft darüber ablegen müssen, was er gesehen, gehört und gedacht hat.
Hierzu möchte ich vier Punkte hervorheben: 1. Die Instrumente des experimentellen Erwerbens von Wissen bzw. die sinnlichen Wahrnehmungen durch das Sehen und das Hören sowie durch den Geist, dessen Funktion, nämlich das Denken, im Islam nicht durch das Gehirn, sondern durch das Herz geschieht. 2. Die sinnvolle Verwendung dieser Sinnesorgane. 3. Die Verantwortung jedes Menschen für das, was er an Wissen erwirbt und wie er damit umgeht. 4. Schließlich die Wort-Tat-Identifikation. Die Verantwortung auch für die Umsetzung bzw. Einhaltung dessen, was man sagt oder verspricht, wird im folgenden Koranvers betont. In Sure 61:2 lesen wir Folgendes: „Oh Ihr Gläubigen! Warum sagt ihr, was ihr nicht tut. Gott verabscheut es zutiefst, wenn ihr sagt, was ihr nicht tut.“ 13.3.2 Was sagt die Sunna dazu?
Mindestens vier Propheten-Überlieferungen fordern zur Erforschung der Natur auf: 1. „Ihr wisst besser Bescheid über eure weltlichen Angelegenheiten als ich.“355 2. „Wissen bzw. Weisheit soll das Ziel jeglicher Bemühung eines gläubigen Menschen sein, wo er/sie es auch immer findet, muss er/sie es sich unverzüglich aneignen.“356 3. „Die Gelehrten sind die Erben der Propheten.“357 4. „Strebt das Wissen an, auch wenn sie sich im (weit entfernten) China befinden würde.“ (Grad der Überlieferung: schwach).358 355 Sahih Muslim, Hadith Nr. 2363; und Musnad Imam Ahmad, Hadith Nr. 24964. 356 At-Termizi, Bd. 5, S. 51; Ibn Maja, Bd. 2, Nr. 1395. 357 Takhrij al-Ahadith wal-’Athar Imam Az-Zailaʿi, Bd. 3, Riad, Dar Ibn Khuzaima, 1414 n. H., S. 7. 358 Kaschf Al-Khafa’ wa muzil al-Ilbas ʿan An-Nas, Al-ʿAjluni, Ismaʿil, Bd. 1, Kairo, Maktabat AlQudsi, 1351 n. H., S. 154.
13.3 Exkurs: Zu den Bezeichnungen „islamisch“ und „arabisch“
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13.3.3 Konkrete Beispiele aus dem islamischen theosophischen Bereich 13.3.3.1 Atomlehre: Die Teilbarkeit bzw. die Unteilbarkeit der Materie
In der islamischen spekulativen Theologie „Kalam“ die von manchen Orientalisten als die eigentliche „islamische Philosophie“ bezeichnet wird, stritten sich die verschiedenen Denkrichtungen nicht nur miteinander, sondern ebenso heftig untereinander. Dabei ging es nicht nur um theologische Fragen, wie die Existenz Gottes und seiner Eigenschaften, sondern mindestens so oft und so vehement um naturphilosophische bzw. naturwissenschaftliche Probleme, die aber theologische Konsequenzen hatten. Es ging u. a. um die Definition und Beschaffenheit der Farbe, des Lichtes, der Gerüche und des Geschmacks, ob sie körperartig bzw. materieller Natur oder immaterieller Natur (Geist) sind. Im Bereich der Naturphilosophie wurde u. a. über die sogenannte Atomlehre und das Kausalitätsproblem am heftigsten gestritten. Bei diesem spekulativen naturphilosophischen Streit haben sich zwei islamische Denkrichtungen, die Muʿtaziliten (entstanden im 8. Jahrhundert) und die Aschʿariten (entstanden im 10. Jahrhundert), besonders hervorgetan. Die muʿtazilitsche Denkrichtung gilt als rational, und ihre Anhänger werden in manchen orientalistischen Schriften als „Freidenker“ bezeichnet. Die aschʿaritische gilt dagegen als traditionalistisch bzw. konservativ. Diese zwei miteinander konkurrierenden großen Denkrichtungen stritten über fast alle theologischen und naturphilosophischen Fragen mit Ausnahme der oben genannten Probleme. Hierbei folgte die jüngere der älteren Schule. Der Streit über dieses Problem war intern muʿtazilitisch. Zwei der größten Anhänger dieser Schule, die miteinander blutsverwandt waren, vertraten vollkommen entgegengesetzte Meinungen. Der erste Systematiker dieser Schule, Abul-Hudhail al-ʿAllaf (gest. 845), vertrat die Meinung, dass die Teilung eines Körpers nicht unendlich weitergehen könne. Sie müsse bei einem unteilbaren Teil (Atom) endgültig enden. Er sah, dass alles, was in dieser Welt existiert, endlich ist und dass es außer Gott absolut nichts Unendliches gibt. Sein Neffe und Schüler Ibrahim Ibn Sayyar an-Nazzam (gest. 853), in orientalistischen Schriften Nazzam genannt, vertrat die gänzlich entgegengesetzte Meinung, nämlich, dass ein Gegenstand, der sich einmal teilen lässt, unendlich teilbar sein müsse. Für Nazzam gibt es also kein unteilbares Teilchen. Die unendliche Teilbarkeit eines Körpers impliziert die Unendlichkeit der Bewegung, was wir schon in der altgriechischen Philosophie bei Heraklit finden. Ihm zufolge befinde sich das Universum in unaufhörlicher Bewegung. Man könne seinen Fuß nie zweimal in denselben Fluss eintauchen, denn der Fluss werde durch die ununterbrochene Bewegung immer ein anderer sein. Die Unteilbarkeit eines Teilchens impliziert, dass die Bewegung irgendwann end-
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13 Technik und Perfektion in der islamischen Weltanschauung
gültig aufhören und in sich ruhen würde. Demokrit sah, im Gegensatz zu Heraklit die Stille als das Prinzip aller existierenden Dinge. Bewegung sei nichts anderes als eine verblüffende Sinnestäuschung, in Wirklichkeit würde aber alles ruhen. Die theologische Konsequenz der Unteilbarkeit des Atoms führt dazu, dass die Menschen im Jenseits, ob sie im Paradies oder in der Hölle sind, irgendwann in einen absoluten ewigen Stillstand treten müssen, gegebenenfalls mitten in einer unvollendeten Bewegung. Demzufolge würde es weder Höllenqual noch paradiesischen Genuss mehr geben. Dies verstößt, nach Nazzam, gegen die islamische Lehre vom Jenseits. So hat der Schüler seinen Onkel und zugleich Meister in ein theologisches Debakel gebracht. 13.3.3.2 Das Kausalitätsprinzip und die Gewohnheitstheorie
Bei diesen zwei Theorien geht es um die Frage, ob es sich bei zwei aufeinander folgenden Naturereignissen bzw. Handlungen um ein Kausalverhältnis bzw. Ursache-Wirkungs-Verhältnis oder ein unzusammenhängendes Aufeinanderfolgen handelt. In der europäischen Literatur kennt man das Kausalprinzip aus der aristotelischen Metaphysik und dazu die entgegengesetzte Theorie, nämlich die Gewohnheitstheorie von David Hume (gest. 1776). Der theologische Aspekt dieses Problems motivierte die muslimischen Denker dazu, diese Frage gründlich zu untersuchen und eine plausible Erklärung dafür zu finden. Das Interesse der Muslime an diesem Problem kam erst viel später, nämlich als sie gezwungen waren, die Existenz Gottes rational zu beweisen. In den ersten zwei Jahrhunderten war die Existenz Gottes für die Muslime so evident wie sonst keine andere Existenz. Erst nach der Übersetzung des griechischen philosophischen Gedankengutes ins Arabische und die darauf folgenden Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden, insbesondere in den eroberten Gebieten, mussten sie zu allen anstehenden philosophischen Fragen Stellung nehmen. Der Automatismus, der sich zwangsläufig aus dem Kausalprinzip ergibt, das wir von Aristoteles kennen, hat einige muslimischen Theologen abgeschreckt. Die Natur mache sich selbständig und brauche Gott nicht mehr, denn die Kausalkette, bei der die Wirkung durch das Vorhandensein der Ursache zwingend eintritt und die Wirkung selbst eine Ursache sei, die eine weitere Wirkung hervorrufe usw., mache die göttliche Lenkung überflüssig, ja sie könne selbst dem göttlichen Willen widersprechen. Die Frühmuʿtaziliten sahen in der Verleugnung des Kausalprinzips schwerwiegende theologische Konsequenzen, nämlich, dass die Existenz Gottes nicht mehr rational beweisbar ist. Wenn die Welt nicht mehr eine Wirkung des göttlichen Willens sein sollte, wäre die Konsequenz, dass die Welt durch einen Zufall, also ohne den
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Schöpfer als Ursache, zustande gekommen sei. Gott erschuf die Welt und gab ihr ihre eigene Gesetzmäßigkeit, die er jedoch jederzeit durch ein Wunder unterbrechen kann. Dadurch wäre die Existenz Gottes als Schöpfer der Welt gesichert und seine Allmacht bliebe unbeeinträchtigt. Die Aschʿariten hielten das sogenannte Gewohnheitsprinzip dem Kausalprinzip entgegen, weil sie dadurch die Allmacht Gottes in Gefahr sahen. Die Aschʿariten sind der Meinung, dass die wiederholte Wahrnehmung von zwei aufeinander folgenden Ereignissen uns zur falschen Überzeugung führt, dass das erste Ereignis die Ursache für das darauffolgende bzw. das zweite eine Wirkung des ersten sei. Diese falsche Überzeugung sei ausschließlich durch die Gewohnheit des Menschen an dieses wiederholt auftretende Scheinkausalverhältnis entstanden. Während die Muʿtazilten um die Beweisbarkeit der Existenz Gottes besorgt waren, waren die Aschʿariten vielmehr um die Beeinträchtigung der Allmacht Gottes besorgt. Der erste muslimische Theologe, der das Gewohnheitsprinzip anstelle des Kausalprinzips als eine Rettung der Allmacht Gottes ansah, war der Namensgeber der aschʿaritischen Denkrichtung, Abul-Hasan al-Aschʿari (gest. 935). Nichtsdestotrotz bekannte sich als eine große Ausnahme auch ein glühender Anhänger der gegnerischen, der muʿtazilitischen Schule, Al-Qadi ʿAbdaljabbar (gest. 1025), zum Gewohnheitsprinzip. Im Kausalprinzip sah ʿAbdaljabbar dennoch keine Gefährdung der Allmacht Gottes, wie dies etwa bei Al-Aschʿari der Fall ist, vielmehr sah er u. a. zum einen eine unendliche Kette von Ursache und Wirkung, was der Endlichkeit aller existierenden Dinge widerspricht, und zum anderen die sehr oft beobachteten Unterbrechungen der Ursache-Wirkungs-Kettenreaktion. Der prominenteste Vertreter des Gewohnheitsprinzips ist der muslimische Großgelehrte und Islam-Erneuerer Imam Abu Hamid Al-Gazzali (gest. 1111), in der westlichen Fachliteratur unter dem Namen „Gazali“ bekannt, dessen Schriften im Mittelalter ins Lateinische übersetzt wurden. Der englische Philosoph David Hume (gest. 1776) vertrat allem Anschein nach einer verblüffend ähnlichen Meinung wie Gazali. Beide Meinungen unterscheiden sich jedoch wesentlich voneinander. Für Gazali waren alle aufeinanderfolgenden Ereignisse ausschließlich eine Schöpfung Gottes. Für Hume waren diese Ereignisse eine Schöpfung der Natur selbst.
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13.4 Beispiele aus dem naturwissenschaftlichen Bereich 13.4.1 Der theologische Hintergrund
So sehr die Naturphilosophie auf die Sprache angewiesen ist, so sehr ist die Naturwissenschaft auf die Technik angewiesen. Denn naturwissenschaftliche Forschung erfordert Beobachtungen, Messungen und Experimentieren. Alle diese drei Erfordernisse sind bekanntlich technischer Natur. Je weiter die Technik entwickelt ist, desto einfacher ist es, gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu erwerben. Die Quelle der Motivation zur Erforschung der Natur in all ihren Bereichen, ob Menschen, Tiere, Pflanzen, Gesteine oder Atmosphäre, war für die Muslime zugleich die Quelle ihrer Religion, denn Wissen zu erwerben kommt praktisch dem Gottesdienst gleich. Folgende koranischen und prophetischen Aussagen belegen dies und zeigen, dass Theologie und Naturwissenschaft Hand in Hand gehen und zur absoluten Wahrheit führen können. Im Koran lesen wir: „Wir werden ihnen (den Menschen) unsere Zeichen an allen Horizonten (im Weltall) und in ihnen selbst (so oft) zeigen, bis es ihnen klar wird, dass Er die absolute Wahrheit ist“ (41:53). Muslimische Wissenschaftler haben diesen Koranvers so verstanden, dass die Erforschung der Natur den sicheren Weg zur Erlangung der Wahrheit darstellt. Mit (Gottes) „Zeichen“ sind die Naturereignisse und Phänomene gemeint. Dies bedeutet auch, dass die Suche nach Erklärung der Naturphänomene auf dem rationalen Weg zum Glauben an Gott hinführt. Der Prophet Muhammad sagt: „Wer seine Herde verlässt auf der Suche nach Wissen, so ebnet Gott für ihn einen Weg ins Paradies.“359 „Die Tinte des Schülers ist heiliger als das Blut eines Märtyrers.“360 Der oben erwähnte Koranvers sowie die vier Hadithe (Überlieferungen) des Propheten Muhammad waren u. a. diejenigen heiligen Aussagen, welche die Muslime in den ersten Jahrhunderten so grenzenlos wissbegierig machten, und jene, durch die sie den Erwerb von Wissen als eine religiöse Pflicht ansahen. Die meisten muslimischen Naturwissenschaftler waren in diesem Sinne zugleich Großgelehrte der Religion. „Durch die Wissenschaft von den Sternen gelangt der Mensch zum Beweis der Einheit Gottes und zur Erkenntnis der ungeheuren Größe, der höchsten Weisheit, der größten Macht und der Vollendung Seiner Tat“, sagte der muslimische Groß359 Siehe Sahih Muslim, fil-’Ilm. 360 Ibn ʿAbd Al-Barr, Yusuf ibn ʿAbdallah, JamiʿBayan Al-ʿIlmwafadlih, Bd. 1, Dammam, Dar Ibn AlJawzi, 1414 n. H./1994 n. Chr., S. 150.
13.4 Beispiele aus dem naturwissenschaftlichen Bereich
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gelehrte und Himmelsforscher (Astronom) Al-Battani, auf Lateinisch Albategenius (gest. 918), und gibt damit den Sinn des oben erwähnten Koranverses wieder. 13.4.2 Konkrete Leistungen der muslimischen Naturwissenschaftler
Methodisch gesehen sieht sich dieser Beitrag im Bereich der Geschichte der muslimischen Naturwissenschaften, deshalb werden die gegenwärtigen Leistungen der Muslime auf diesem Gebiet nicht im Vordergrund stehen. Man kann heutzutage den allgemeinen Status der muslimischen Naturwissenschaft sowohl im Vergleich zu ihrer eigenen Vergangenheit als auch zum gegenwärtigen europäischen Standard als eine tiefe Ebbe bezeichnen. An herausragende Leistungen einiger muslimischer Naturwissenschaftler soll mit Anerkennung gedacht werden. Diese ergeben aber kein allgemeines Bild des tatsächlichen Entwicklungsstandes der muslimischen Welt von heute. Einer der ersten Universalgelehrten im Islam ist der u. a. als Arzt, Physiker, Chemiker und Philosoph tätige Abu Bakr Muhammad Ibn Zakariya ar-Razi, der als Rhazes (gest. 925) in der lateinischen Wissenschaftsliteratur bekannt ist. Seine medizinischen Leistungen, so Martin Plessner,361 waren in Europa bis zum 17. Jahrhundert von hoher Autorität, insbesondere sein Werk „al-Hawi“ („Sammelsurium“). In diesem Werk setzt er sich mit Galen (altgriechischer Arzt) auseinander. Dies war die Grundlage für das 300 Jahre später erschienene medizinische Werk von Maimunides, nämlich „Die fünfundzwanzig Thesen“. Plessner zufolge war er auch der erste Alchemist, der eine logische Aufteilung der ihm bekannten Elemente und eine detaillierte Beschreibung für alle Instrumente und Methoden gab, die er bei seinen wissenschaftlichen Experimenten verwendet hatte. Von seinem philosophischen Werk, das im Mittelalter ins Lateinische übersetzt wurde, blieb nur sehr wenig erhalten. Jaber Ibn Hayyan, ein Zeitgenosse von Rhazes, schrieb u. a. ein Werk mit dem Titel „Al-Mizan“ („Die Waage“), in dem er ein System für die Zahlenverhältnisse entwickelte, auf deren Grundlage die Elemente in der Materie zusammengesetzt sind. Ein späterer Universalgelehrter namens Al-Biruni (gest. 1053) verfasste eine Biographie über Rhazes und betrachtete sich als dessen Schüler. Nur konnte der Schüler die theologischen Ansichten seines Lehrers nicht teilen. Al-Biruni schrieb ein Buch über die Mineralogie, in dem er die Namen der Steine, ihre Gewichte, ihre Gruben und auch ihren Wert sowie ihre medizinischen Eigenschaften genau ausführte. Ihm wird nach Max Mayerhof ein Werk über die Pharmakologie und die Medizin zugeschrieben. In Mathematik und Astronomie soll er Plessner zufolge auch wertvolle originelle Schriften verfasst haben, in denen er jeg361 Siehe Schacht, J. u. Boosworth, K. (Hrsg.): The Legacy of Islam, Oxford 1974.
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13 Technik und Perfektion in der islamischen Weltanschauung
liche Zauberkräfte sowohl in den Materialien als auch bei den Sternen (wie dies in früheren griechischen Schriften noch der Fall war) und auch jegliche Möglichkeit der Vorhersage durch Horoskope (Astrologie) ausschloss.362 Im Bereich der Mathematik verdankt die Algebra ihren Namen einer Schrift mit dem Titel „al-Jabr wa l-Muqabala“, zu Deutsch „Die Wiederherstellung und der Vergleich“. Verfasst hat es das mathematische Genie Al-Khwarizmi, in der mittelalterlichen Literatur als „Algoritmi“ bekannt. Al-Khwarizmi verfasste außerdem große Werke der Geographie und Astronomie, welche 300 Jahre später durch Athelhart von Barth ins Lateinische übersetzt wurden. Algoritmi wurde vor allem durch eine kleine Schrift über die Rechenkunst bekannt. In dieser Schrift erklärte er die indischen Zahlenzeichen und den Gebrauch des indischen Rechnens. Zusätzlich erklärte er das Zahlenschreiben, das Addieren und Subtrahieren, das Halbieren und Verdoppeln, das Multiplizieren, Dividieren und das Bruchrechnen. Diese kleine Schrift wurde in Spanien im 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt. Die Übersetzung beginnt mit den Worten: „Also sprach Algoritmi […]“. Aus dem Wort „Algoritmi“ ist der bekannte mathematische Begriff „Algorithmen“ entstanden. Die älteste Handschrift dieses Lehrbuches stammt aus dem Jahre 1143 und befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek (alte Hofbibliothek). Eine zweite Handschrift unter der Bezeichnung „Liber Algorismi“ („Das Buch des Algorismus“) befindet sich im Kloster Salem und wird in Heidelberg aufbewahrt. Juan Vernet sieht in Al-Khwarizmi den ersten großen Mathematiker und den ersten Methodologen seit der Entstehung der Algebra. Außerdem sagt er: Wir verdanken ihm u. a. den spanischen Begriff „Guarizmo“ (d. h. die Zahlen und ihre Rangordnung und die Null). Der englische Begriff „Algorizm bzw. Algorithm“ ist aus der lateinischen Übersetzung in Toledo entstanden und aus dem Namen Al-Khwarizmi abgeleitet worden.363
Dieser Teil der Mathematik entwickelte sich durch spätere große Mathematiker weiter, wie etwa Schujaʿ Ibn Aslam (gest. 951), der u. a. Rechenprobleme (Gleichungen) mit fünf Unbekannten (Zahlen) analysierte. Er löste die bis dahin ungelöste Rechnung von Diophantus von Alexandria (gest. 250). Einige seiner Werke sollen laut Vernet in spanischer Übersetzung seit dem Jahr 399 n. H./1000 n. Chr. im Kloster Reichenau in Deutschland gewesen sein. 362 Ibd. 363 Ibd., Bd. 1, S. 137.
13.4 Beispiele aus dem naturwissenschaftlichen Bereich
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Abu Jaʿfar Al-Khazin (gest.400 n. H./1010 n. Chr.), ein Zeitgenosse Ibn Aslams, löste die sogenannte hypothetische Rechnung von Archimedes. Der bekannte Mathematiker und Dichter Omar Al-Khayyam (gest. 517 n. H./1123 n. Chr.), der u. a. die bis dahin ungelösten Rechenprobleme von Euklid analysiert und gelöst hat, sowie Ikhwan As-Safa („Die Brüder der Lauterkeit“) im 11. Jahrhundert haben geniale Leistungen in Bereich der Mathematik erbracht und Europa auf diesem Gebiet wesentlich beeinflusst.364 Außer Addieren und Subtrahieren haben diese Gelehrten Multiplizieren, Dividieren und Bruchrechnen, das Verhältnis zwischen zwei Zahlen, die Trennung von zwei übereinander geschriebenen Zahlen durch einen waagerechten Strich (den Bruchstrich), Potenzrechnen, Wurzelziehen, die Lösung von Gleichungen mit einer, zwei oder mehreren Unbekannten sowie die Aufstellung von bestimmten und unbestimmten, quadratischen und kubischen Gleichungen nach Europa überliefert und somit einen wesentlichen Beitrag zu seiner wissenschaftlichen Entwicklung seit dem Mittelalter geleistet. Weitere wissenschaftliche Leistungen der muslimischen Gelehrten im Mittelalter, die ich in diesem Rahmen nicht ausführlich behandeln kann, waren flächendeckend in allen technischen und naturwissenschaftlichen Bereichen zu finden, wie etwa astronomische Messgeräte, Uhren, Kompasse, Fotoapparate, die sogenannte Camera obscura, medizinische und pharmakologische Geräte, Musikinstrumente sowie der Bau und die Organisation von Krankenhäusern und Psychiatrien. Diese Errungenschaften kann ich hier nur punktuell darstellen: – Korrektur der aristotelischen Optik durch Rhazes (3. Jh. n. H./10. Jh. n. Chr.) und später Averroes (gest. 595 n. H./1198 n. Chr.). – Die Messung des Erdzentrums und Gewichtsbestimmung durch Ibn al-Haitham (al-Hazin), (gest. 440 n. H./1040 n. Chr.). – Schwere bzw. Anziehungskraft durch Al-Biruni (gest. 448 n. H./1048 n. Chr.), auch Schöpfer der Idee des später verwirklichten Hochstaudamms in Ägypten. – Der Vater der modernen Medizin war Avicenna (gest. 437 n. H./1037 n. Chr.), nicht Constantin Africanus (vor 1098 n. Chr.). – Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs durch Ibn an-Nafis (gest. 680 n. H./1288 n. Chr.), nicht Servitus. – Geographie und die ersten zuverlässigen Landkarten durch al-Idrisi (gest. 562 n. H./1160 n. Chr.).
364 Siehe Ikhwan As-Safa wa Khillan Al-Wafa, The Legacy of Islam, Schacht, Joseph und Bosworth, C. E. (Hrsg.), Cambridge, University Press, 1976. S. o.
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13 Technik und Perfektion in der islamischen Weltanschauung
– Soziologie und Zivilisationswissenschaft durch Ibn Khaldun (gest. 408 n. H./1408 n. Chr.), nicht Emil Durkheim (gest. 1917). – Reiseberichte, Weg- und Länderbeschreibungen des Weltreisenden Ibn Battuta (gest. 778 d. H./1378 n. Chr.). Agrippa von Nettersheim sagte: Daher sind des Avecenna, Rahsis (auch Rhazes) und Averroes Bücher eben mit der gleichen Autorität wie der des Hippokrates und Galeni aufgenommen worden und haben so viel Kredit erlangt, dass, wer ohne dieselben zu kurieren sich unterstanden, von dem hat leicht gesagt werden können, er ruiniere die allgemeine Wohlfahrt.365
365 Siehe Hunke, S.: Allahs Sonne über dem Abendland, Frankfurt/M, Fischer Taschenbuch Verlag, 1965, S. 109.
14 Der Bewusstseinswandel im neuen Orient – Ein regionaler Umbruch mit überregionaler Tragweite 14.1 Im Vorfeld
Mitte des letzten Jahrhunderts erlebte die arabisch-islamische Welt, im besonderen Maße der Nahe Osten, einen grundlegenden Bewusstseinswandel, der eine starke Welle von Revolutionen auslöste. Diese Revolutionen führten schlussendlich zur politischen Unabhängigkeit des gesamten Nahen Osten von den damaligen größten Kolonialmächten England und Frankreich. Ein Ballett von sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Missständen war dem vorausgegangen, das in der Besetzung Palästinas und der Entstehung des Staates Israel bzw. der Niederlage der arabischen Armee 1948 gipfelte. Diese militärische Niederlage im Jahre 1948 und die darauf folgende Gründung Israels im selben Jahr mitten im Herzen der arabischen Länder rüttelte das arabische politische Bewusstsein wach und festigte die Überzeugung der in ihrem Stolz verletzten Araber, dass das, was durch Gewalt verloren gegangen ist, nur durch Gewalt zurückgeholt werden kann. Dieser Konflikt nahm neben den sozial-politisch-wirtschaftlichen Gründen auch religiös-kulturelle Dimensionen in beträchtlichen Maßen an. Die Frankophonisierungsversuche und die zumeist aggressive Missionierung von Nordafrika durch die damalige französische Besatzungsmacht zum Nachteil vor allem der Koran- und staatlichen Schulen waren diesem Befreiungsbegehren als Brennstoff vorausgegangen. Der erste Schritt auf diesem Weg lag für die freien Offiziere in der ägyptischen Armee vorerst darin, sich von der bis dahin in Ägypten herrschenden Muhammad-Ali-Dynastie zu befreien. Dies geschah durch die gelungene Revolution am 23. Juli 1952. Gamal Abd Al-Naser war der Held der Nation, der König Farouk am dritten Tag der Revolution aus dem Land Richtung Italien vertrieben hat. 1956 erlangte Ägypten endgültig seine Unabhängigkeit von England. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erlangten, mit ägyptischer Unterstützung, Nordafrika und der sogenannte Fruchtbare Halbmond (Syrien, der Libanon, Irak) sowie die arabischen Golfstaaten ebenso ihre Unabhängigkeit von England und Frankreich. Militärische und zum Teil politische Unabhängigkeit waren die Folge dieses Sinneswandels in der arabisch-islamischen Welt. Wirtschaftlich und kulturell waren diese Länder immer noch in tiefer Abhängigkeit ihrer ehemaligen Besatzer. Die damals himmelhoch gelobte Unabhängigkeit blieb nur eine Theorie.
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14 Der Bewusstseinswandel im neuen Orient – Ein regionaler Umbruch mit überregionaler Tragweite
Auch viele Kolonien in Europa und Asien erlangten kurz davor oder danach ihre ebenso mangelhafte Unabhängigkeit und wurden, wie die befreiten arabischen Länder, zwischen dem allmächtigen Westen und Osten schutzlos hin und her gerissen. Diese Länder der sogenannten unterentwickelten „Dritten Welt“ schlossen sich 1955 in Bandong in einer Allianz der Blockfreien Staaten zusammen. Führend bei dieser Initiative waren Jugoslawien, Indonesien, Indien und Ägypten. Dieses neue politische Gebilde implizierte neben den politischen und militärischen Aspekten gleichzeitig einen beträchtlichen sozial-kulturellen Ausdruck der Ausgrenzung gegenüber den beiden Blöcken, dem Westen unter der Führung der USA einerseits und dem Osten unter der Führung der damaligen Sowjetunion (UDSSR) andererseits. Dies war ein Versuch, einen dritten Weg auf der weltpolitischen Ebene zu finden, zu markieren und weitere Staaten dazu einzuladen. Ganz frei von kulturellen Aspekten war dieses Unternehmen nicht. Die Gründerstaaten dieser Blockfreien Allianz waren entweder islamische Staaten (etwa Ägypten und Indonesien) oder solche mit starken Minderheiten muslimischen Glaubens, wie etwa Jugoslawien und Indien – ohne dass jedoch der religiöse, sondern eher der politische Bewusstseinsaspekt im Vordergrund stand. Weltpolitisch spielte diese Organisation nur eine sehr bescheidene Rolle und sowohl intra- als auch interkulturell vermochte diese Allianz keine eigene kulturelle Identität zustande zu bringen. Alle bis dahin gestarteten Versuche seitens der Blockfreien Länder, für sich einen einflussreichen Platz auf der weltpolitischen oder der interkulturellen Weltbühne zu finden, waren in einer stark polarisierten Welt, die ausschließlich von zwei übermächtigen Blöcken, West und Ost, beherrscht war, so gut wie gescheitert. Aus dem Verlangen der befreiten Länder nach eigener Bedeutung heraus, die weder politisch noch kulturell gelungen war, wandte man sich in einigen dieser Länder in Richtung Nationalismus und in einigen anderen in Richtung eines fanatischen Religionismus (religiösen Fanatismus). Die Wiederbesinnung auf die eigene Kultur führte zur Wiederentdeckung der eigenen religiösen Identität. Diese neu entdeckte religiöse Identität im arabisch-islamischen Raum wurde weder im Inland noch im Ausland ernsthaft wahrgenommen. Religiös-politische Gruppierungen entstanden, und einige von ihnen nahmen radikale Züge an und grenzten sich dadurch selbst aus. Zu dieser Zeit bildeten die religiös motivierten Gruppierungen die einzige Opposition zum autokratisch regierenden Staatsapparat, der seinerseits religiöse Gruppierungen oft wahllos verfolgte. Beide Konfliktparteien verteufelten sich gegenseitig und suchten Unterstützung auch im Ausland. Der Staat hat seinerseits die Opposition durch ihr Medienmonopol jahrzehntelang verteufelt, so dass mindestens zwei Generationen im Inland und Ausland in dieser Hinsicht indoktriniert sind und sich somit keine vorurteilsfreie Meinung bilden können.
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Die Umwälzung des 20. Jahrhunderts verfehlte ihre deklarierten Ziele, indem sie weder Demokratie noch soziale Sicherheit oder politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland erreicht hat. Es bedürfte also einer neuen Umwälzung, die nicht wie die vorherige von oben kommt, sondern aus der Mitte der Bevölkerung entspringt und die bisher verfehlten Ziele mitten in ihrem Programm platziert. Sowohl im Westen als auch im Osten vermochte die Politik weder die erste Umwälzung im letzten Jahrhundert noch die noch im Gange befindliche Umwälzung in der arabischen Welt richtig wahrzunehmen und den neuen Selbstbewusstseinswandel in der geopolitisch so sensiblen Region einzuschätzen und sich entsprechend darauf einzustellen. Mit einer folgenreichen Wahrnehmungsproblematik des anderen sowohl auf der arabisch-islamischen Seite als auch auf der Seite des Westens, insbesondere Europas, haben wir es jetzt zu tun. Die Wahrnehmungsproblematik des anderen ist nicht erst in unserer Zeit entstanden. Vielmehr zieht sie sich wie ein roter Faden durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Im Rausch ihrer Macht verfehlten es die muslimischen Eroberer, den unterschwelligen und schicksalhaften Widerstandsgeist in ihrem Imperium, besonders in Südeuropa und Asien, ernsthaft wahrzunehmen und richtig einzuschätzen. Die Europäer wiederholten die Fehleinschätzung und Nichtwahrnehmung des anderen ebenso wie ihre arabischen Vorgänger, und ermöglichten dadurch die Entstehung der osmanischen Großmacht Mitte des letzten Jahrtausends. England und Frankreich verfehlten gegen Ende des 19. Jahrhunderts und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die oben angeschnittene Umwälzung in ihren Kolonien in Afrika und Asien. Auch innereuropäisch missachteten die beiden Kriegsparteien im Ersten und im Zweiten Weltkrieg die Entwicklungen auf der jeweiligen anderen Seite. Auch heute noch haben die Großmächte, aber auch und im verstärkten Maße die autokratischen Herrschaftssysteme, folgenreiche Probleme mit der Wahrnehmung des anderen. Sie stecken ihre Köpfe, wie alle anderen vorher, in den Sand und meinen, alles würde so weitergehen wie gehabt. Viele wollen nicht einsehen, dass wir vor einer epochalen Veränderung stehen, welche die Weltkarte sowohl politisch als auch wirtschaftlich und kulturell grundlegend verändern wird. Bereits der Ausklang des 20. Jahrhunderts brachte klare Vorboten einer weltpolitischen Umwälzung. Der Zerfall des kommunistischen Blocks Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts nahm seinen Anfang in Danzig (Polen) mit dem Sieg der Arbeitergewerkschaft Solidarność unter der Führung von Lech Wałęsa mit Hilfe vor allem der einheimischen katholischen Kirche über die damals noch regierende kommunistische Partei. Ungarn, einer der Vorposten des kommunistischen Blocks zu West-
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14 Der Bewusstseinswandel im neuen Orient – Ein regionaler Umbruch mit überregionaler Tragweite
europa, öffnete 1989, durch vehementen Einsatz des westdeutschen Außenministers Hans Dietrich Genscher, seine westliche Grenze nach Österreich. Der Zerfall des gesamten Ostblocks wurde im November 1989 durch den Fall der Berliner Mauer endgültig besiegelt und 1990 wurde die Wiedervereinigung Deutschlands deklariert. Der gewaltlose Zerfall des kommunistischen Blocks machte vor dem Kern bzw. Mutterland des Kommunismus, der Sowjetunion, keinen Halt. Das ehemalige Sowjetreich, das von Russland bis zu seinem Zerfall gelenkt wurde, ist auf Russland und wenige noch rebellierende russische Republiken geschrumpft. Der friedliche Aufstand in der ehemaligen DDR ist mit den arabischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten insofern vergleichbar, als er zu einem grundlegenden Wechsel des politischen Systems geführt hat. Der Arbeiteraufstand in Polen Anfang der 80er Jahre führte zunächst lediglich zu einigen, wenn auch wichtigen Zugeständnissen seitens der damals regierenden kommunistischen Partei an die rebellierende Bevölkerung. Die Wirkung dieser Revolution auf die darauf folgenden Aufstände in Osteuropa war unverkennbar. Kennzeichnend für alle diese Beispiele ist die Tatsache, dass sie eine epochale Wende in der weltpolitischen Geschichte von u. a. unermesslicher psychologischer Dimension markieren. Die Barriere der Angst vor totalitären Regimes ist ein für alle Mal überwunden worden. Brutalität als Mittel zum Erhalt der eigenen politischen Macht hat sich eher als Antrieb und Nahrung für Massenrevolutionen offenbart. Wir stehen nun mit beiden Füßen endgültig in einer neuen Zeitepoche, der Postmoderne, in der Autokratie, ob politischer oder religiöser Natur, alsbald der Vergangenheit angehören wird. Wofür die Masse in den betroffenen arabischen Ländern auf die Straße strömte, hat die Welt auf vielen Transparenten und Parolen der Aufständigen durch die nationalen und internationalen Medien gesehen bzw. gehört. Die Ausstrahlung des „Arabischen Frühlings“, insbesondere der ägyptischen Revolution, reichte bis in die New Yorker Wallstreet. Auf einem Transparent der amerikanischen Demonstranten war Folgendes zu lesen: „Wir werden die Wallstreet in den Tahrir-Platz verwandeln“. Zuerst lautete der Slogan der Demonstranten „Das Volk will das System ändern“ („aschaab yurid taghier annizam“). Wenig später wurde der Slogan „Das Volk will das Herrschaftssystem zu Fall bringen“ („aschaab yurid isqat annizam“) und war der meistwiederholte Aufruf der Demonstranten im gesamten arabischen Raum und später sinngemäß in einigen europäischen Ländern als Protest gegen nationale und globale Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das Aufbegehren der Masse gegen viele Arten des Machtmissbrauchs auf allen politischen, wirtschaftlich-finanziellen und religiösen Ebenen ist nicht mehr aufzuhalten. Wir sahen den Funken, der aus Tunesien Mitte Dezember 2010 entsprang
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und in Ägypten ein Feuer entfacht hat, das einen Dominoeffekt zuerst in anderen arabischen Ländern wie Libyen, dem Jemen und Syrien ausgelöst hat. Algerien, Marokko und Jordanien sind die nächsten „Kandidaten“, bei denen derartige Anzeichen in der Öffentlichkeit unübersehbar sind. Auch in Palästina demonstrierten hunderttausende für nationale Versöhnung und Einigkeit zwischen PLO und Hamas. PLOu. Hamas-Führungen einigten sich im dritten Anlauf – zuvor gab es einen in Mekka und davor in Doha (Hauptstaat von Katar) – auf eine gemeinsame Übergangsregierung. In Israel gingen ebenso hunderttausende Demonstranten für soziale Gerechtigkeit auf die Straßen. Europa und die USA sind erwartungsgemäß, wie bereits erwähnt, nicht davon verschont geblieben. Spanien, Griechenland, Italien und selbst die Weltsupermacht USA fingen die Revolutionsfunken aus den arabischen Ländern auf und verwandelten den größten und bekanntesten Platz in den „Tahrir-Platz in Kairo“. Parallel zu den Unruhen in Westeuropa gab es auch in verschiedenen osteuropäischen Städten Massendemonstrationen. Auch die chinesische Regierung musste fast im gleichen Zeitraum ein bedeutungsvolles Volksbegehren überstehen. Dieser Umbruch wird von den noch existierenden autokratischen Regimen in Politik, Finanz und Wirtschaft immer noch nicht richtig wahrgenommen und wird weiterhin vehement verdrängt. Die besten Beispiele dafür sind die noch existierenden Langzeitdespoten in einigen arabischen Ländern wie Syrien und Algerien sowie die alleinherrschenden Familien-Klans in Marokko, Jordanien und den Golfstaaten. Dies sind die nächsten „Kandidaten“, wenn sie sich nicht alsbald auf den neuen arabischen Geist einstellen können und ernsthafte demokratische Reformen zulassen. Die Monarchien in Marokko, Jordanien und den Golfstaaten wären gut beraten, wenn sie selbst ihre Herrschaftssysteme in eine Art konstitutionelle Monarchie umwandeln und die Bestrebungen nach Demokratie in den eigenen Ländern unterstützen würden. Es erübrigt sich zu betonen, dass es für ein angemessenes und endgültiges Urteil über die sich in vollem Gange befindlichen politischen Umwälzungen in der arabischen Welt noch viel zu früh ist. Die Auseinandersetzungen mit den alteingesessenen Machthabern und ihren sichtbaren sowie unsichtbaren Helfern und Helfershelfern in allen Staatsapparaten sind, wie wir es tagtäglich durch die Massenmedien erfahren, noch lange nicht gewonnen. Die einzige und doch entscheidende Entwicklung ist das neu gewonnene Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl unter der langjährig unterdrückten Bevölkerung, insbesondere in der arabischen Welt. Diese Entwicklung kann nie wieder rückgängig gemacht werden. Der Wille hat die Macht endgültig besiegt und dies ist kein Traum mehr, sondern eine erlebte Realität in Tunesien, Ägypten, Libyen und bald auch im Jemen und Syrien.
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14 Der Bewusstseinswandel im neuen Orient – Ein regionaler Umbruch mit überregionaler Tragweite
Nach Tunesien, Ägypten und Libyen ist es den jemenitischen Revolutionären durch hartnäckigen und teuren Kampf nach knapp einem Jahr gelungen, den Diktator Ali Abdullah Saleh aus seinem 33-jährigen Amt zumindest formal zu vertreiben. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis der Rest seines korrupten Klans seinen Platz räumen muss. Das Potential für nachrevolutionäre ethno-politische Machtkämpfe sowohl in Libyen als auch im Jemen ist vorhanden und könnte jederzeit mit verheerenden Folgen ausbrechen. Momentan scheint die Mutter des Arabischen Frühlings, Tunesien, die gefährliche Übergangsphase überwunden zu haben oder zumindest auf dem richtigen Weg dazu zu sein. Tunesien verfügt seit Kurzem über ein vom Volk gewähltes Parlament, eine Regierung sowie einen demokratisch gewählten Präsidenten, und zwar als erstes arabisches Land im postrevolutionären Zeitalter. Damit stellte es bis dahin einmal mehr ein Vorbild für Ägypten, Libyen und den Jemen dar. Syrien erlebt seit März 2011 einen noch blutigeren Befreiungskampf gegen das totalitäre Asad-Regime, das das Land seit über vier Jahrzehnten mit eiserner Hand regiert. Seine Reaktion auf den Volksaufstand ist dieselbe, die wir in Tunesien, Ägypten, Libyen und dem Jemen erlebt haben. Dieses Regime wird über kurz oder lang so enden, wie jenes der gefallenen Regimes in den erwähnten Ländern. Jedes dieser totalitären, korrupten Systeme dachte und behauptete, es sei anders als alle anderen, und doch mussten sie alle schlussendlich dem Volksaufstand in ihrem Land weichen. Was müsste noch passieren, bis dieser epochale Umbruch endlich Wirklichkeit wird, um den Weg für einen ideo-politischen Paradigmenwechsel in der arabischen Region zu ebnen? Im Raum steht immer noch die Frage, ob es sich bei diesem Umbruch um einen bloßen Machtkampf zwischen zwei Generationen handelt, oder ob wir tatsächlich vor einer grundlegend veränderten Denkstruktur stehen. Der durch Resignation entstandene Wille zu grundlegender Veränderung der Macht- und Denkstrukturen wurde im letzten halben Jahrhundert im arabischen Raum auf verschiedenen Arten ausgetragen: – Bewaffneter Widerstand gegen die Kolonialmächte England und Frankreich (19./20. Jahrhundert). – Militärischer Aufstand (Militärputsch) gegen Machtsysteme, die ausschließlich auf ihre eigenen und/oder ausländischen Interessen fixiert waren, wie die ägyptische Revolution (1952) gegen König Farouk und die englische Besatzung (von 1882 bis 1956). – Paramilitärischer Widerstand gegen eine überlegene Macht, die durch eine konfessionelle Armee nicht zu besiegen ist. Diese Macht ist der „Terrorismus“, der Begriff ist jedoch noch definitionsbedürftig. Das bekannteste Beispiel dafür ist Al-Kaida.
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– Und schließlich friedliche Massendemonstrationen, die zahlenmäßig so überwältigend sind, dass ihnen keine staatliche systemtreue Brutalität im Wege stehen bzw. sie beenden kann. Der arabische Aufstand, der sich in fast allen arabischen Ländern seit Dezember 2010 manifestiert und diese in verschiedenen Formen und Stärken erfasst hat, bietet ein aktuelles und lebendiges Beispiel für diese Art des friedlichen Widerstandes. Der friedliche Aufstand (silmiya) hat sich als der eindeutig beste Weg zur Erlangung der begehrten Freiheit erwiesen. Seine Stärke bewies er am deutlichsten dadurch, dass er sich durch Staatsterror und grenzenlose Brutalität nicht zur Gewalt hinreißen ließ. Die Demonstranten begegneten der Waffengewalt des Staates, wie man im Arabischen sagt, mit „nackten Brüsten“ – d. h. unbewaffnet und ohne kugelsichere Westen. In Libyen hat der Kampf um die Freiheit im Februar 2011 angefangen und sich im Laufe der Zeit, anders als in Tunesien und Ägypten, zu einem gewaltsamen Konflikt entwickelt und mit dem Tod des Diktators Gaddafi sowie einiger seiner Söhne ein gewaltsames Ende gefunden. Der Rest seiner Familie flüchtete in die Nachbarstaaten Algerien, Niger und den Tschad. Entscheidend dabei war die Rolle der Armee im jeweiligen Land. In Tunesien, Ägypten und zum großen Teil in Libyen entschied sich die Arme vorerst, auf der Seite des demonstrierenden Volkes zu stehen. Dafür gab es mindestens drei Gründe: 1. Es besteht eine starke emotionale Bindung zwischen der Bevölkerung und der Armee als Beschützer des Landes. 2. Die Armeen in den meisten arabischen Ländern sind zum größten Teil keine Berufsarmeen, d. h., die Basis besteht aus Zeitsoldaten, die nach Ableistung der Pflichtdienstzeit wieder Zivilisten werden. 3. In Tunesien, Ägypten und Libyen herrschte eine Art Konkurrenz zwischen der Armee und dem Polizeiapparat bzw. regierungstreuen paramilitärischen Milizen, da die letztgenannten in erster Linie dem Herrschaftssystem dienten und dafür vom herrschenden System mit vielen Privilegien belohnt wurden. Dadurch verloren sie die Sympathie der Bevölkerung und waren nur gefürchtet. Die Machthaber in Syrien haben immer noch nicht realisiert, dass das Urteil der Geschichte über sie bereits gefallen ist und der Schrei der aufgebrachten Masse nach Freiheit und Menschenwürde durch Brutalität nicht zu stoppen ist. Je mehr zivile Opfer fallen, desto hartnäckiger und opferbereiter ist die aufgebrachte Masse. Blut ist der gefährlichste Zündstoff der Revolutionen. Demonstranten fühlen sich zusätzlich gegenüber den gefallenen Opfern dazu verpflichtet, in ihrem Sinne bis zum bitteren
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Ende weiterzukämpfen, sonst wäre das vergossene Blut umsonst gewesen. In diesem Kampf stehen die Machthaber, die viel, womöglich auch ihr Leben, zu verlieren haben, einer Menschenmasse gegenüber, die nichts mehr zu verlieren hat. Die Entscheidung war und bleibt schlussendlich über kurz oder lang bei der jahrzehntelang entwürdigten Masse. Ein Dominoeffekt ist in Tunesien ausgelöst worden und ist nicht mehr aufzuhalten, bevor alle totalitären Systeme in der arabischen Region beseitigt werden. Der Weg bis dahin ist noch sehr lang und wird noch schmerzhafter sein. In Tunesien, Ägypten und dem Jemen gab es, anders als in Libyen und in Syrien, keinen definierbaren einheitlichen Revolutionsrat, der die Demonstrantenmasse mit klarer Strategie führt und eine klare Roadmap für ihren Aufstand festlegt. In Tunesien und Ägypten nahm die Armee eine unparteiische Stellung ein, indem sie weder geputscht noch auf die Demonstranten geschossen hat. Die im Laufe der Zeit steigende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Arbeit ihrer Führungsgremien ebnete den Weg zu einer Konterrevolution, diesmal gegen ihre eigenen Interessensvertreter. Eine Spaltung der Bevölkerung zugunsten der noch mächtigen Überreste des alten Systems wäre absehbar. Man muss weder ein Prophet noch ein Verschwörungstheoretiker sein, um deutliche Indizien und Symptome für ein derartiges Szenario festzustellen. Dieser Volksaufstand darf nicht wie ein Zauberer enden, der die von ihm herbeigerufenen Geister nicht mehr loswird. Der bereits am 19. November 2011 in Ägypten losgegangene Aufstand gegen die sogenannten Beschützer der Revolution, den Militärrat und die Regierung, hat schon damals zum Rücktritt der Regierung unter der Führung des einstigen Tahrir-Platz-Revolutionärs Essaam Scharaf geführt. Der damalige Militärrat unter der Führung des alten Generals Tantawi musste unter dem Druck der Straße versprechen, seine Macht an eine Zivilregierung wesentlich früher als von ihm ursprünglich geplant (Ende 2013), bis spätestens zum 1. Juli 2012, abzutreten. Undurchsichtige gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei rund um das Innenministeriumsgebäude in Kairo forderten insgesamt 34 Tote und weitere vier Opfer in Alexandria (drei Tote) und Marsa Matruh im Westen Ägyptens (bislang ein Opfer) und über 2000 Verletzte. Die Demonstranten forderten das vollständige Abtreten des Militärs von der politischen Ebene. Das Militär bedient sich unverständlicherweise der gleichen Vorgehensweise, wie der aus dem Amt gejagte ehemalige Präsident M. H. Mubarak.
14.2 Nur Brot oder soziale Gerechtigkeit und Demokratie?
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14.2 Nur Brot oder soziale Gerechtigkeit und Demokratie?
Es wäre banal und viel zu bequem, diesen Volksaufstand als einen Aufstand der Hungrigen abzutun, wie es die meisten westlichen, aber auch die arabischen Massenmedien am Beginn dieses Aufstands propagierten. Auch der frühere ägyptische Staatspräsident Sadat bediente sich dieser banalen Erklärung beim Volksaufstand im Jahr 1977 in Kairo. Man ist einfach fast automatisch von dem Axiom ausgegangen, dass die Menschen in der sogenannten Dritten Welt, beeinflusst durch ihre Religion und/oder ihre Kultur, keinen Sinn für demokratische Gesellschaftsstrukturen besitzen. Dafür fehle, wie es im westlichen Mittelalter der Fall war, die grundlegende soziale und religiös-politische Aufklärung. Diese seit Jahrhunderten verfestigte Unterschätzung der arabischen Bevölkerungen erklärt die besonders in den westlichen Medien deutlich vernehmbare Irritation sowie die Orientierungslosigkeit der westlichen Politik gegenüber der für viele unerwarteten, folgenreichen Veränderungen in dieser Region, was für die Weltpolitik von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Gesunde Orientierung setzt eine gesunde Wahrnehmung voraus, ohne die nur falsche Entscheidungen, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Natur, getroffen werden können. Niemand, weder in der arabischen Welt noch im Westen, hat diese grundlegende Umwälzung in ihrem Ausmaß, ihrer Wucht und blitzartigen Effektivität vorausgesehen. Alle nachträglichen Vorhersagen sind nichts anderes als verspätete Warnprognosen, obgleich die Geschehnisse für jeden Geschichtsleser eine logische Folge langwieriger politischer Unterdrückung, maßlos wuchernder Staatskorruption und wirtschaftlicher Resignation, insbesondere unter den jüngeren Generationen, darstellen. Bis vor Kurzem verfestigte sich im europäischen Bewusstsein und allgemein in den westlichen Massenmedien die Überzeugung, dass die islamischen Länder große Schwierigkeiten mit demokratischen Gesellschaftsstrukturen hätten. Schuld daran war, wie für sie von vornherein klar war, „der Islam“, dessen Grundkonzept angeblich antidemokratische Elemente beinhalte. In diesem Kontext, ohne sich in Details zu verirren, muss man zwischen nichtarabischen asiatischen bzw. euroasiatischen islamischen Ländern einerseits und arabisch-islamischen Ländern andererseits unterscheiden. Ostasiatisch-islamische Länder, wie Indonesien, Malaysia und Pakistan, haben bereits langjährige Erfahrung mit der Demokratie. Der Iran hat seine eigene Form der Demokratie, über welche man streiten kann. Das euroasiatische Land Türkei hat seit etlichen Jahren demokratisch gewählte Regierungen, die aber bis vor einigen Jahren durch das Militär immer wieder gestürzt wurden. Die heutige Türkei gilt für die
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arabische und islamische Welt als ein Vorbild nicht in Sachen Demokratie, sondern primär als ein Wegweiser für die Adaption von Staat und Religion, und macht es damit denjenigen schwer, die die Religion als eine unüberwindbare Hürde auf dem Wege der Demokratisierung und Zivilisierung der Gesellschaft sehen wollen. Die in der Türkei regierende „islamistische“ AK-Partei ist ideologisch mit der tunesischen Nahda-Partei, die die kommende Regierung in Tunis führen wird, seelenverwandt, und diese beiden islamischen Parteien in der Türkei und Tunis sind wiederum mit der ägyptischen Muslimbruderschaft bzw. ihrer Partei „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ ideologisch sehr stark verbunden. Alle diese drei islamischen Großparteien bringen in den Grundzügen ihrer Ideologie Religion und Staat problemlos in Einklang. Der Arabische Frühling hat uns vor eine gesellschaftspolitische Herausforderung gestellt, in der wir u. a. eine neue Definition und Form der Säkularität finden müssen, um den verblassten Gemeinschaftssinn wieder aufzupolieren. Weder mittelalterliche Theokratie noch einäugiger Säkularismus werden in die Postmoderne hineinpassen. Entreligionisierte Politik und entpolitisierte Religion sowie totale Autokratie, wenn es sie jemals gab, haben endgültig ausgedient und werden sehr bald der Vergangenheit angehören. Allgemeingültige religiös-ethische Werte müssen die Grundzüge der neuen Form der postmodernen Säkularität darstellen und in der jeweiligen Verfassung kodifiziert werden. Hierin werden für alle in der Gesellschaft ko-existierenden Religionen, Ideologien und sonstigen Weltanschauungen dieselben politischen Rahmenbedingungen gelten. Die sogenannten Islamisten in Tunesien und Ägypten müssen demnächst ihre Fähigkeit dazu unter Beweis stellen. Wir stehen bereits mit beiden Füßen im Jahrhundert der Macht der Masse und müssen mit diesem neuen Phänomen lernen richtig umzugehen. Die erfolgreichen Volksaufstände in Europa gegen Ende des letzten Jahrhunderts und schließlich der sogenannte Arabische Frühling haben uns gelehrt, dass die Masse und nicht die Berufspolitiker die Welt verändern können. Das neu gewonnene politische Bewusstsein der Masse ist nicht mehr wegzudenken. Der Arabische Frühling hat der These von dem sogenannten „Clash of the Civilizations“ von Huntington die Grundlage entzogen, nämlich die Kontroversität zwischen einer demokratisch strukturierten Welt, sprich des Westens, auf der einen Seite und einer autokratisch strukturierten Welt, sprich der außerwestlichen Welt, auf der anderen Seite. Denn der Arabische Frühling zeigt unzweideutig, dass die außerwestliche Welt ebenso viel Sinn für und Sehnsucht nach Demokratie hat wie der Westen und die Bevölkerung sogar bereit ist, das Leben dafür zu geben. Die größte Gefahr, die wir heute befürchten müssen, besteht darin, dass die fanatischen Anfechter dieser These nun um jeden Preis einen Ersatz für die unseriös gewor-
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dene sozial-politische Begründung in Form einer religiösen Begründung zu finden versuchen. Das Zauberwort dafür sind nun die sogenannten „Salafisten“ in den vom Islam geprägten Ländern, zumal sich die bisher durch viele westliche Massenmedien und populistische Politiker gespenstisch dargestellten „Islamisten“ trotz ihres klaren Sieges durch freien Wahlen zum demokratischen Wandel und zu zivilgesellschaftlichen Strukturen unmissverständlich bekennen. Damit können die „Islamisten“ nicht mehr als Kontrahenten bzw. als Gegenpol für den Westen propagiert werden. Ein erfolgreicher Start in die Postmoderne hängt von unserer Bereitschaft und Sensibilität ab, davon, wie gut, ernsthaft und konsequent wir uns auf einen grundlegenden Paradigmenwechsel einstellen und den Ansprüchen dieses Paradigmenwechsels gerecht werden können, in dem wir vor allem andere bzw. fremde Kulturen gebührend zu schätzen lernen. Das Rad, das mit dem Arabischen Frühling zu rollen anfing, kann keiner mehr aufhalten. In Europa trat die Säkularität als Antithese zur Theokratie auf; heute wird in der arabischen Welt Demokratie zur Antithese für die Autokratie. Mit der Überwindung der Angstbarriere durch die Masse wurde das Ende der Autokratie nicht nur im arabischen Raum, sondern auch in anderen bislang autoritär regierten Ländern eingeleitet.
14.3 Historische Wende?
Der arabische Umbruch, den man Arabischer Frühling nennt, hat die arabische Welt binnen weniger Monate mit einem Sprung in die Postmoderne versetzt, und die Zeitspanne zwischen Moderne und Postmoderne um 200 Jahre verkürzt. Aber um in der Postmoderne mit beiden Füßen ohne Wanken stehenzubleiben, muss noch viel Arbeit geleistet werden und viele schwere, in der Gesellschaft tiefsitzende soziale, politische und wirtschaftliche Hindernisse müssen überwunden werden. Globale Interessenverschiebungen auf der weltpolitischen Karte stehen an. Ein mögliches Szenario würde nicht nur die politische und wirtschaftliche Aufwertung der arabischen Welt ankündigen, sondern auch eine geopolitische Verschiebung der wirtschaftlichen Machtzentren bedeuten, und zwar in Richtung Osten. Europa könnte nicht mehr der Nabel der Welt bleiben, diese Rolle fiele vielmehr in der ersten Etappe den sogenannten asiatischen Tigerstaaten zu, weil sie über eine stabilere Wirtschaft und eine weitaus größere industrielle sowie finanzielle Entwicklungskapazität verfügen. Auch das technologische Know-how wird dank der Globalisierung nicht mehr Alleineigentum des Westens bleiben. Die arabischen Länder sind bekanntlich Hauptlieferanten des größten Teils der Rohstoffe für den Rest der Welt – durch unausgewogene Lieferungsverträge, die
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durch Korruption von korrupten Regimes zustande gekommen sind. Die Bevölkerungen dieser Länder waren bis jetzt von diesem Prozess ausgeschlossen. Diesen Zustand wird es in naher Zukunft nicht mehr geben. Das Wiedererwachen des politischen Bewusstseins unter den arabischen Bevölkerungen öffnete den Menschen dieser Region die Augen für ihr eigentliches wirtschaftliches Potential, mit dem sie zukünftig zu ihren Gunsten bewusster als bisher umgehen werden. Ihre Rolle als Absatzmärkte für ausländische Produkte wird nicht mehr so hingenommen werden. Nur als Handelspartner auf gleicher Augenhöhe werden sie sich selbst definieren. Die Deckung eigener Bedürfnisse in möglichst vielen Lebensbereichen wird ihr Höchstziel sein. Sie sind jetzt entschlossener denn je, ihre politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit um jeden Preis wiederzuerlangen. Das technologische Know-how werden sie ebenfalls von weiterentwickelten Ländern erwerben. Was man dabei nicht unterschätzen darf, ist der wiederentdeckte Stolz, ein Araber zu sein. Dieses neu erlangte Selbstbewusstsein wird gründliche Veränderungen der außenpolitischen Beziehungen zum Westen zur Folge haben. Auf weniger als der gleichen Augenhöhe werden die Araber nicht mehr mit sich reden lassen. Der Umgang des Auslands mit arabischen Minderheiten wird den Umgang mit Angehörigen des jeweiligen Auslandes entsprechend gestalten. Die historisch erheblich belastete Situation zwischen der arabischen Bevölkerung und dem Westen als einer ehemaligen Kolonialmacht sollte behutsam angegangen werden. Dabei wird die jeweilige Einstellung eines Landes zum Palästina-Problem bei der Bestimmung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen maßgebend sein. Zugegebenermaßen klingt diese Diagnose hinsichtlich der aktuellen turbulenten Lage in den revolutionierten Ländern ziemlich euphorisch, doch eins ist sicher: Ein Zurück zum vorherigen Zustand ist ein für alle Mal ausgeschlossen, auch wenn einige politische Mächte dies immer noch nicht realisieren wollen. Die Weltpolitik wäre gut beraten, wenn sie sich schon heute auf diese Veränderungen einstellen und ihre bisher gewohnte Nahost-Konzeption neu definieren bzw. ihre Interessenbereiche entsprechend aktualisieren würde.
14.4 Stolpersteine und Konterrevolution
Ein dermaßen erdrutschartiger politischer Wandel in einer geopolitisch und wirtschaftlich so sensiblen Region, den keiner in dieser Größenordnung erwartet hat, ruft in der Regel Verwirrung und Orientierungslosigkeit sowohl im Inland als auch im Ausland hervor. Drei Gründe für die bisherige Instabilität der revolutionierten Region könnte man
14.4 Stolpersteine und Konterrevolution
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hier anführen. Diese sind ein interrevolutionärer, ein gesellschaftlicher und ein ausländischer Grund. 1. Das Fehlen eines Führungsgremiums für den spontan entfachten Aufstand, die planlose im Laufe der Zeit immer höher werdende Forderung der Aufständischen an die Herrschaft sowie der relativ schnelle und unerwartete Erfolg des Aufstandes besonders in Tunesien und Ägypten verursachten folgerichtig eine Art der Verwirrung und Orientierungslosigkeit unter den Aufständischen. 2. Der Arabische Frühling vermochte bislang nur die Spitze der alten autokratischen Systeme zu beseitigen. Das System selbst verharrt immer noch fest auf der Spitze aller Führungs- und Verwaltungsapparate in Kommunen und Ländern. Von dort aus stiften sie und ziehen die Fäden der Unruhen in allen befreiten Ländern mit dem Ziel, die entzogene Herrschaft zurückzuerlangen oder wenigstens für sich einen sicheren Abgang zu erreichen. Von einer totalen Umwandlung bzw. Säuberung kann daher bislang keine Rede sein. Man könnte mit Gewissheit sagen, dass die arabische Großrevolution ihren ersten Schritt gerade begonnen hat und der Weg bis zum Endziel noch sehr lang ist. 3. Das Ausland: Der zurückerkämpfte arabische Stolz und das wiedererwachte Selbstbewusstsein werden nicht nur die gesellschaftliche und politische Struktur im arabischen Raum verändern, sondern werden sich auch auf die Auslandsbeziehungen in gleicher Wucht auswirken. Inzwischen hat Ägypten zum ersten Mal in seiner neuntausendjährigen Geschichte seit Juli 2012 einen vom Volk demokratisch frei gewählten Präsidenten, Muhammad Morsi, der nach einem harten Wahlkampf die Stichwahl für sich entscheiden konnte. Er kommt aus dem Lager der Muslimbruderschaft und wurde u. a. deswegen von einem Teil der ägyptischen Bevölkerung mit Misstrauen betrachtet. Der Militärrat und die Überreste des alten Regimes, unterstützt durch die offiziellen ägyptischen Massenmedien, die die seit Jahrzehnten gepflegte Angstmachung vor einer Machtübernahme der Muslimbrüder Tag und Nacht geschürt haben, vermochten nicht, den Siegeszug des ehemaligen Muslimbruders zu stoppen. Bemerkenswert bei dieser Wahl ist die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Wähler in den beiden Blocks einem der beiden Kandidaten unenthusiastisch als dem kleineren Übel ihre Stimme gegeben haben. Viele unter denjenigen, die den heutigen Präsidenten gewählt haben, haben ihm ihre Stimme nur deshalb gegeben, um seinen Kontrahenten General Ahmad Schafik, den letzten von Mubarak zum Premierminister ernannten und Ende Februar 2011 gestürzten Kandidaten, zu Fall zu bringen. Dieser General wurde als Konterrevolutionär betrachtet, und seine Wahl hätte das Ende der großen Revolution vom 25. Januar 2012 bedeutet. Das Militär hätte viel
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zu verlieren, wenn die Macht im Niltal in die Hände echter Revolutionäre fallen würde. Ein gutes Drittel der gesamten ägyptischen Wirtschaft ist in den Händen des Militärs, diese stellen außerdem fast alle Gouverneure im Lande. Auf der anderen Seite haben viele Wähler ihre Stimme dem vom Militär und den sogenannten Zivilorganisationen favorisierten General Ahmad Schafik gegeben, um den bis dahin ziemlich unbekannten Muslimbruder und Chef der neu gegründeten Partei „Al-hurriya wal-Adala“ („Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“) Muhammad Morsi an der Machtübernahme zu hindern. Einen Tag nach der offiziellen Verkündung des Wahlergebnisses verließ der gescheiterte General mit samt seiner Familie Ägypten in Richtung der Arabischen Emirate. Man spricht von einem inzwischen vereitelten Putschversuch, der vom Militärrat geplant gewesen sei. Eine große Demonstration der Antimuslimbruderschaft war für Freitag, den 24. August 2012 geplant gewesen, die auch von Gewaltanwendung und Randalen begleitet werden sollte, und dies hätte dem Militärrat einen scheinbaren Grund für einen militärischen Putsch geliefert. Wäre dieser Plan gelungen, so würde der Militärrat den gescheiterten Präsidentschaftskandidaten General Ahmad Shafik aus den Arabischen Emiraten als Präsident einsetzen und die Macht des Militärs aufrechterhalten. Vorgespräche mit General Shafik sollten laut Medienberichten bereits stattgefunden haben. Dieser angebliche Putschversuch würde, laut einigen Internetmedienberichten, als Grund für die plötzliche Absetzung des Marschalls Tantawi, seines Stabchefs General Anan sowie anderer Mitglieder des Militärrats angegeben. Um weitere Unruhen unter der Bevölkerung zu vermeiden, wurde die Absetzung der beiden einflussreichsten Generäle, Tantawi und Anan, sowie anderer hochrangiger Militärratsmitglieder möglichst unauffällig und fürs Militär unvorhersehbar durchgeführt. Einige Führungsköpfe des vermeintlichen Putschversuchs wurden vorläufig mit anderen Zivilaufgaben betraut. Mit diesem Präsidentenstreich wurde einer 60-jährigen Ära des Militärs als einziger Staatsführungsmacht ein Ende bereitet und somit eines der Hauptziele der 25.-Januar-Revolution erreicht. Der neue Präsident hat mit einem Handstreich nach weniger als zehn Wochen an der Macht das geschafft, wofür andere viele Jahrzehnte gebraucht haben. Ein unermesslich schweres Erbe hatte der erste seit über siebentausend Jahren neugewählte Präsident Ägyptens, Muhammad Morsi, anzutreten. Viele inländische sowie ausländische Stolpersteine bzw. politische, wirtschaftliche und vor allem soziale Hürden muss der neue Präsident überspringen bzw. überwinden. Ermutigende Schritte sind bereits unternommen worden, deren Früchte noch einige Zeit in Anspruch nehmen werden. Dafür braucht das Land am Nil eine gesunde und konstruktive Demokratie, die vor allem eine konstruktive Opposition voraussetzt. Der derzeitigen Op-
14.4 Stolpersteine und Konterrevolution
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position fehlen die dazu notwendige Erfahrung und das Profilierungsvermögen – sie befindet sich, meines Erachtens, noch immer in der Krabbelstube der Demokratie. Ihr Programm, wenn man überhaupt in diesem Zusammenhang von Programm sprechen darf, besteht hauptsächlich aus exklusiver Kritik. Allen von der derzeitigen Regierung unternommenen Schritten wird bestenfalls mit Misstrauen begegnet. Und dies ist wiederum eine zusätzliche Belastung für die junge, zum Teil unerfahrene Regierung. Souveränität betonende Entscheidungen werden als Provokation für das Ausland interpretiert und tolerante Aussagen werden als Schwäche diffamiert. Terroristische Angriffe auf der Sinai-Halbinsel und die Verunglimpfung religiöser Symbole im Ausland unter dem Deckmantel eines schief definierten Verständnisses der Meinungsfreiheit sorgen für Unruhen im In- und Ausland. Die bis jetzt, Gott sei gedankt, vergeblichen Versuchen, religiösen Fanatismus u. a. durch zweitklassige Kunst zu schüren, konnten überwunden werden. Nichtsdestotrotz hat der noch krabbelnde demokratische Prozess in Ägypten einen harten und blutigen Rückschlag erlitten. Die Armee unter der Führung ihres neuen Obergenerals Abdalfattah Elsisi putschte den demokratisch gewählten Präsidenten Muhammad Morsi nach nur einem Jahr im Amt am 03. Juli 2013 und ging mit beispielloser Brutalität gegen alle Oppositionsgruppen, vor allem die Islamisten, vor. Am 14. August 2013 errichtete die Armee ein Blutbad in den größten Demonstrationslagern, Rabia al-adawiya in Ost-Kairo und Al-Nahda-Platz in Giza unmittelbar vor der Kairoer Universität. Human Rights Watch schätzte die Zahl der Opfer an jenem Tag auf 1089 Tote und mehrere tausende Verletzte. Die Opposition spricht dagegen von über 2680 Opfern, über 10.000 Verletzten und um die 20.000 verhafteten Oppositionsführer. Dagegen spricht die am 27. November 2013 durch die staatlichen Medien veröffentliche Angabe von 633 Opfer. Die ägyptische Armee hat die Macht, mit Unterstützung der alten und neuen konterrevolutionären Kräfte im Staatsapparat und der Geschäftswelt, wieder an sich gerissen. Zuvor wurde zu großen Demonstrationen gegen den islamistischen Präsidenten und seine Regierung im ganzen Land durch die sich schnell formierende, bis dahin unbekannte Protestbewegung „Tamarrud“ (Rebellion) aufgerufen. Die Macht der Polizei, die mit dem Sturz Mubaraks verloren gegangen war, ist durch diesen Militärputsch wieder allgegenwärtig und rächt sich Hand in Hand mit dem Militär mit voller Wucht an die Revolutionären vom 25. Januar 2011. Die gesamte Führung der ägyptischen Muslimbruderschaft wurde verhaftet und der Gewaltanwendung und Unruhestiftung beschuldigt. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat vom Jahr 2010 gegen den damaligen langjährigen Diktator Mubarak, der zuletzt vom Militärputschführer General Alsisi
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als Vize-Präsident ernannt worden war, Muhammad Albaradae, hat die Konsequenzen gezogen und sich einen Tag nach dem Massaker von Rabiʿa und Nahda vom 14. August 2013 am 15. August nach Wien abgesetzt. Die Putschisten bezichtigen ihn der Untreue und haben ihn rechtlich verfolgt. Hamdin Sabbahi, der Chef der Nasseristischen Partei, auch Volksfront genannt, und Präsidentschaftskandidat bei der ersten demokratisch geführten Präsidentschaftswahl 2012, war beim Putschführer in Ungnade gefallen und durfte lange Zeit nicht mehr öffentlich auftreten. Die Protestaktionen unter der Führung der Islamisten haben sich unmittelbar nach der blutigen Räumung der zwei Protestlager Rabiʿa und Nahda neu formiert und ihre Aktivitäten auf die Straßen aller ägyptischen Städte und Dörfer getragen. Neue Protestgruppen schlossen sich dieser Protestwelle an. Ungeschickte Entscheidungen der neuen Machthaber im Lande bringen auch die bisher auf Distanz stehenden Menschenrechtsorganisationen zu Solidaritätsstellungnahmen mit der neuen Opposition. Die die 25.-Januar-Revolution auslösende Jungendbewegungen „6.-April-Bewegung“ schloss sich ebenfalls der Opposition an, jedoch mit klarer Distanzierung von der Muslimbruderschaft. Die ehemalige Protestbewegung „Tamarrud“ (Rebellion), die durch eine Großdemonstration am 30. Juni 2013 dem Militärputsch den Weg ebnete, fällt fast auseinander. Spaltungen einiger Tamarrudvertretungen im Delta und zuletzt in Alexandria sorgen für interne Unruhe innerhalb dieser Bewegung und sorgen indirekt für Jubel bei der gegenwärtigen Opposition. Die Spaltung der alexandrinischen Tamarrud wurde unmittelbar nach der blitzartigen Verurteilung 14 protestierender Mädchen (im Alter zwischen 13 und 19) vollzogen. Diese sollen eine angeblich gewalttätige Protestgruppe unter dem Namen „7 Uhr morgens“ in Alexandria gegründet haben. Der Name dieser Gruppe ist eine Anspielung auf die blutige Ausräumung der zwei Protestlager Rabiʿa und Nahda durch die ägyptische Armee und Polizei. Diese Mädchen wurden zu je 11 Jahren und einem Monat verurteilt, weil sie angeblich Gewalt gegen Zivilisten und Polizei angewendet haben sollen. Das Land am Nil versinkt im Chaos. Auf der einen Seite gibt es einen vom Militär eingesetzten provisorischen Präsidenten, eine provisorische Regierung, staatlich manipulierte Massenmedien, einen Polizeiapparat, der damit beschäftigt ist, seine am 25. Januar 2011 verloren gegangene Ehre gewaltsam zurückzuholen, eine umstrittene Justiz, die sich vor einer radikalen Säuberung durch jede demokratisch gewählte Regierung bzw. einen demokratisch gewählten Präsidenten fürchtet, und schließlich eine rücksichtslose Armee, die den ersten demokratisch gewählten Präsidenten und die bis dahin allein übrig gebliebene 2. Kammer der demokratisch gewählten Volks-
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vertretung (Schrarat) sowie die vom Volk bestätigte Verfassung von 2012 am 3. Juli 2013 abgesetzt bzw. außer Kraft gesetzt hat. Und auf der anderen Seite stehen die Oppositionsbewegungen, die neben Anhängern der ägyptischen Muslimbruderschaft auch viele ehemalige Zivilgruppierungen einschließen, die große Sorge um die durch den Militärputsch verloren gegangenen bescheidenen demokratischen Errungenschaften tragen und bereit sind, für ihre Wiedererlangung sogar ihr Leben zu geben. Dazwischen formierte sich ein dritter Block unter dem Namen „al-mydan al-thalith = dritte Platz“. Dieser Block lehnt beide Lager, die Islamisten und die sogenannten Putschisten, ab. Anhänger des neuen bzw., wie sie sich nennen, mittleren Blocks fordern die Beseitigung der Übergangsregierung, weil sie vom Militär nach dem Putsch eingesetzt wurde und daher keine demokratische Legitimität besitzt. Und auf der anderen Seite wollen sie keine islamistische Regierung statt der Übergangsregierung haben. Sie sehen ihre Ideologie nicht als einen Kompromiss zwischen den Kontrahenten, sondern als eine in sich geschlossene, realistische Sichtweise, die von der schweigenden Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung bzw. der sogenannten „Couch-Partei“ getragen würde. Inwieweit die Selbsteinschätzung dieses dritten Blocks zutrifft, bleibt dahingestellt. Seit Herbst 2013 übernahmen die Studenten in fast allen ägyptischen Universitäten die Führungsrolle der Protestbewegung, insbesondere an der renommierten islamischen Universität Al-Azhar. Sie versuchten, die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs zu Beginn des Studienjahres 2013/14 zu verhindern, was ihnen teilweise gelungen ist. Das Wintersemester wurde zwei Mal unter dem Druck von heftigen Protesten verschoben und begann am 19. Oktober statt Mitte September. Die Regierung steigerte ihrerseits den Gegendruck auf die Studenten durch eine systematische Verhaftungswelle der Führungsköpfe der Studentenbewegung. Der Konflikt eskalierte durch die zum Teil maßlose Gewaltanwendung seitens der Polizei bei ihren Versuchen, die immer heftiger werdenden Proteste zu unterbinden. In blitzartigen Gerichtsverfahren wurden viele Studenten zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Unter den Studenten gab es während der Polizeiansätze in verschiedenen ägyptischen Universitäten auch viele Tote. Eine markante und wesentliche Bedeutung gewann die Protestbewegung dadurch, dass einige sogenannte zivile Bewegungen mit den islamistischen Bewegungen solidarisierten und aktiv mitdemonstrierten. Zuerst führten die Muslimbrüder die Protestwelle, dann kamen einige islamistische Gruppierungen dazu. Zum Schluss umfasste die Protestbewegung auch nichtislamistische Gruppen, wie unabhängige Studenten und sonstige junge Menschen, die gegen Ende die Führung der Protestbewegung übernahmen. Der unermüdliche Versuch der ägyptischen Massenmedien, die Muslimbruderschaft immer heftiger und oft mit nicht überzeugenden und längst veralteten Argumenten
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und Methoden zu verteufeln, trug geradezu dazu bei, dass die Muslimbruderschaft immer mehr Sympathisanten unter der schweigenden Mehrheit gewann. Die ägyptischen Massenmedien so wie andere arabische Massenmedien, insbesondere in den Golfstaaten, die den Militärputsch unterstützen, wie Saudi-Arabien, die Arabischen Emirate und Kuwait, machen ausschließlich die Muslimbruder für alle Gewalttaten, deren Opfer fast ausschließlich Demonstranten sind, verantwortlich. Ihnen wurde Gewalt und bewaffneter Aufstand unterstellt, obwohl die Live-Übertragung einiger unabhängiger Massenmedien, soweit man von unabhängigen Massenmedien sprechen kann, genau das Gegenteil zeigen. Aber man sieht anscheinend nur das, was man sehen will. Ein im Schnellverfahren verabschiedetes Demonstrationsgesetz, das zur Abschreckung der protestierenden Menschen führen sollte, hat nicht nur genau das Gegenteil bewirkt, sondern noch andere Gruppierungen, u. a. die „6.-April-Bewegung“ und einige mit dem Militärputsch sympathisierende Islamisten, so stark verärgert, dass sie mit der Protestbewegung sympathisierten. Die Einstufung der Muslimbruderschaft seitens des ägyptischen Innenministeriums als eine terroristische Organisation hat nicht nur die Islamisten eingeschüchtert, sondern ebenso auch andere Bewegungen wie den oben erwähnten „6. April“ und die „Neue Volksfront“ („At-tahaluf Aschaʿbi Al- Jadid“), die bislang konsequent auf der Seite des Militärputsches standen. Einige führende Personen der „6.-April-Bewegung“ wurden auch in einem Schnellverfahren zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. 14 Schulmädchen, unter ihnen ein 13-jähriges Mädchen, wurden bis zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil wurde unter dem Druck heftiger Proteste auch innerhalb der vom Militär eingesetzten Übergangsregierung teils aufgehoben und teils aufgeschoben. Vom 26. bis 28. Mai 2014 fanden die ersten Präsidentschaftswahlen nach dem Militärputsch statt. Zuerst waren zwei Tage für die Wahlen vorgesehen. Wegen der sehr geringen Teilnahme der Wahlberechtigten an den ersten zwei Wahltagen haben die Machthaber in einer verfassungswidrigen Handlung die Wahlen um einen Tag verlängert, um ihr Gesicht zu wahren. Internationale Beobachter sprachen von 7,5 bis 10% Beteiligung. Zuvor hatte die Opposition zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Die staatlichen Quellen sprachen von einer Wahlbeteiligung in Höhe von 47 % bzw. 27 Millionen Wahlteilnehmern. Die meisten Ägypter, die zur Wahlurne gegangen sind, gaben ihre Stimmen dem Putschführer und dem aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten General Abdalfattah Al-Sisi, der über 96 % der abgegebenen Stimmen erhalten hat. Der einzige aussichtslose Präsidentschaftskandidat Hamdin Sabahi erhielt lediglich 3,9 % der abgegebenen Stimmen. Am Ende des zweiten Wahltages war die Wahlbeteiligung für den Machthaber und seine Helfer in den staatlichen und privaten Massenmedien so enttäuschend, dass sie die Bevölkerung zur Teilnahme massiv gedrängt haben und mit hohen Geldstrafen
14.5 Summa summarum
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drohten. Einige Fernsehmoderatoren gingen in ihrer Wut so weit, dass sie sogar die passiven Wähler und Wahlboykottierer offen beschimpften. Die Konterrevolution hat damit ihren ersten bedeutenden Etappensieg errungen. Und damit wird sie versuchen, die Außenwelt von ihrer demokratischen Legitimität zu überzeugen. Vielleicht wartet die Außenwelt nur auf einen Grund, um den Status quo in Ägypten aus geopolitischen und wirtschaftlichen Eigeninteressen als ein legitimes System anzuerkennen, ohne mit den vom Militär und Polizei begangenen massiven Menschenrechtsverletzungen konfrontiert zu werden. Die Afrikanische Konferenz hat bereits am 17. Juni 2014 die Einfrierung der Mitgliedschaft Ägyptens aufgehoben. Auch Europa wird diesem Schritt demnächst folgen. Seit dem 8. Juni 2014 hat Ägypten einen formal demokratisch gewählten Präsidenten, den ehemaligen Verteidigungsminister General Abdalfattah Al-Sisi. Wie lange das heutige Regime und seine Helfer im In- und Ausland ihre heutige Position angesichts der ständig wachsenden Opposition in Ägypten, die nicht nur Islamisten umfasst, beibehalten können, bleibt offen. Das ägyptische Volk war noch nie so gespalten wie heute. Beide Fronten kämpfen um alles oder nichts. Ihre Ziele stoßen frontal gegeneinander, so dass es keinen Platz für versöhnliche Töne mehr gibt, insbesondere nachdem so viel Blut vergossen wurde.
14.5 Summa summarum
Das 21. Jahrhundert zeigt erste Anzeichen für eine überregionale kulturpolitische Veränderung mit weltpolitischem Charakter. Der sogenannte Arabische Frühling markiert, meines Erachtens, eine wichtige Etappe auf diesem Weg. Der sogenannte Tiefe Staat, gemeint sind damit alte Systeme in den Staaten des Arabischen Frühlings, meldet sich in all diesen Staaten zu Wort und gewinnt sogar Etappensiege, wie in Ägypten, wo das sich Rad der Revolution um 180 Grad zurückgedreht hat. Und der Polizei-Militärstaat sitzt wieder voll im Sattel. Das Musterbeispiel und Vorbild aller dieser Revolutionen war die Türkei, in der die Islamisten auf demokratischem Weg zur Macht kamen und ein unterentwickeltes Land in ein beneidenswert wachsendes Land mit einer Wachstumsrate zwischen 6 und 7 % verwandelt haben. Noch wichtiger ist, dass die demokratisch gewählte islamistische Regierung das Militär in die Schranken verwiesen hat. Es erlebt jetzt eine Welle der Unruhe, die darauf abzielt, diese erfolgreiche Regierung zu Fall zu bringen. Die Mutter des Arabischen Frühlings Tunesien sowie Libyen und der Jemen werden auch gegenwärtig auf eine harte Probe gestellt.
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Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass bestimmte inländische sowie ausländische Kräfte alles daransetzen, diese jungen Demokratien im Keim zu ersticken. Man kann diese Sichtweise als Verschwörungsglaube abstempeln, dennoch bleibe ich bei dieser Einschätzung. Mehr noch: Mir scheint die Behauptung, dass es keine Verschwörungen in der Politik gibt, sondern dass es sich dabei lediglich um offene und begründbare eigene Interessenvertretungen handelt, nur eine Modeerscheinung unter einigen Intellektuellen zu sein. Strikte Ablehnung jeglicher Art von ausländischer oder inländischer geheimer Einmischungen zur Verteidigung eigener Machtinteressen schätze ich sogar als politische Naivität ein. Das Schweigen des Westens in Bezug auf den Rückfall in Polizei- und/oder Militärdiktatur, u. a. in Ägypten, riecht nach stillschweigender Zustimmung. Es riecht auch nach „Demokratie“ insbesondere für Länder, in denen die Demokratie Islamisten an die Macht bringt. Die Islamisten haben sich 1992 in Algerien und 2008 im Gazastreifen sowie 2012 in Ägypten den demokratischen Regeln unterstellt. Über die Ergebnisse der vom Westen oft beschworenen und angeblich geförderten Demokratisierungsprozesse hält sich die Freude des Westens bis jetzt in Grenzen. Dennoch! Alle eigenen Misserfolge durch Verschwörungstheorien zu rechtfertigen ist mindestens genauso falsch, wie die totale Verleugnung der Existenz solcher Verschwörungen. Mindestens fünf Gründe für gegenwärtige Orientierungslosigkeit der Bevölkerungen in den Ländern des Arabischen Frühlings kann ich hier kurz anschneiden: 1. Der weit verbreitete sprachliche und politische Analphabetismus in arabischen Ländern. 2. Die wirtschaftlichen Zwänge des Alltagslebens beim größten Teil dieser Länder. 3. Die fehlende politische Praxis der Opposition auf dem Gebiet der Staatsführung. Woher sollte die auch kommen, wenn sie die letzten Jahrzehnte zwischen Gefängnis und Auswanderung lebte? 4. Die tief verwurzelte und in fast allen Gesellschaftsstrukturen und Staatsapparaten verbreitete Korruption. 5. Die erschwinglichen Privilegien und Korruption vieler Geschäftsleute sowie bei vielen Militär- und Polizeistellen. Die einzige und doch entscheidende Entwicklung ist das neu gewonnene Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl unter der jahrzehntelang unterdrückten Bevölkerung insbesondere in der arabischen Welt. Diese Entwicklung kann nie wieder rückgängig gemacht werden. Der Wille hat die Macht endgültig besiegt, und dies ist kein Traum mehr. Das Potential von ethno-politischen Machtkämpfen insbesondere in Libyen und im Jemen ist vorhanden, könnte jederzeit ausbrechen und verheerende Folgen nach sich ziehen.
14.6 Licht ins Dunkel?
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Momentan scheint Tunesien, die Mutter des Arabischen Frühlings, die gefährliche Übergangsphase überwunden zu haben oder zumindest auf dem richtigen Weg dazu zu sein. In Kürze wird Tunesien über ein vom Volk gewähltes Parlament, eine Regierung sowie über einen demokratisch gewählten Präsidenten als erstes arabisches Land im postrevolutionären Zeitalter verfügen und könnte damit wieder einmal eine Vorbildfunktion für Ägypten, Libyen und den Jemen bieten. Nach dem Rückfall Ägyptens in eine Militärdiktatur durch den Militärputsch am 3. Juli 2013 und das Massaker gegen die Islamisten und andere Oppositionsgruppierungen am 14. August 2013 durch ägyptisches Militär und Polizei ist die Revolution vom 25. Januar 2011 vorerst begraben. Human Rights Watch sprach damals von 1089 Toten an diesem Tag unter den Demonstranten allein in den beiden Demonstrationslagern am Nahda- und Rabiʿa-Platz. Oppositionsquellen sprachen sogar von 2600 Toten, die namentlich registriert wurden. Der Freispruch fast aller Angeklagten des alten Regimes, des früheren Präsidenten Mubarak, seiner Söhne und seines Clans lässt keinen Zweifel mehr daran, dass die Kontrarevolution das alte Herrschaftssystem und die Macht des Militärs wieder herstellen will. Die ägyptische Gesellschaft, Familien und Freundeskreise waren noch nie so gespalten wie heute. Ähnliches kann man in der gesamten arabischen Region sowie in der Türkei feststellen. Die im Schnellverfahren angefertigte Verfassung und die Präsidentschaftswahlen 2014, aus der der Anführer des Militärputschs, General Al-Sisi, erwartungsgemäß als Sieger hervorging, besiegeln den Sieg der Konterrevolution in Ägypten. Dennoch ist das Ende bislang offen und das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Wie lange dieser Demokratisierungsprozess noch andauern wird, steht in den Sternen. Demokratie kann nicht nach siebentausend Jahren die Autokratie per Mausklick ersetzen. Sie muss gelehrt, gelernt und gelebt werden. Demnächst wird das Militär entweder den Präsidenten stellen oder aber einen Marionettenpräsidenten vorschieben, damit es sich eine demokratische Fassade verschafft, um dann behaupten zu können, dass es nie die politische Macht im Lande angestrebt habe.
14.6 Licht ins Dunkel?
Eine neue politische Konstellation, in der Religion und Politik einander ergänzen, und eine neue Form der Säkularität müssen gefunden werden. Allein werden weder die Islamisten noch die Säkularisten diese Krise überstehen und das Endergebnis dieses Umbruchs für sich entscheiden.
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14 Der Bewusstseinswandel im neuen Orient – Ein regionaler Umbruch mit überregionaler Tragweite
Die Erfahrungen der letzten 60 Jahre haben uns das Scheitern des sogenannten Liberalismus vor Augen geführt und die letzten Ereignisse in den Frühlingsländern Tunesien, Libyen, Jemen und Ägypten haben das Scheitern des islamistischen Konzeptes gezeigt. Die Kompromisslösungen in Tunis, Libyen und dem Jemen haben diese Länder vor dem totalen Chaos bewahrt. In Ägypten nutzte das Militär die Führungsschwäche der Muslimbruderschaft und brachte sie um ihren Wahlsieg. Ägypten wurde durch den Militärputsch vom 3. Juli 2013 vorerst auf den Punkt Null vor dem 25. Januar 2011 zurückgeworfen. Die Resignation, die viele jungen Menschen erfasst hat, hat den Boden für die Entstehung extremistischer Gruppierungen bereitet, die sich viel gewiefteren und schwer einzuschätzenden Methoden bedient. Sie verfügen über höchst entwickeltes technisches Know-how und sind skrupelloser als ihre Vorgänger. Sie finden großen Zulauf, Bewunderung und Sympathie insbesondere unter den Jugendlichen. Die im höchsten Maß radikale und skrupellose ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien), die riesige Flächen und wichtige Städte im Irak und Syrien blitzartig erobert hat, ist die erste Entwicklungsstufe des unaufhaltsamen Radikalisierungsprozesses im arabischen Raum als Folge der Resignation. Die Weltpolitik hat die Entwicklung verschlafen und ihre Folgen verdrängt oder bestenfalls unterschätzt, da sie immer noch in festen Kategorien denkt. Die arabischen Länder werden bis heute noch von korrupten Autokraten regiert, die durch verschleierte Zustimmung und Unterstützung aus wirtschaftlich-geopolitischen Interessen des Westens überleben. Das islamische Kalifat scheint heute kein Märchen aus „Tausendundeine Nacht“ zu sein. Nur wenn ISIS der Sieg tatsächlich gelingen würde, würden wir eine andere unkontrollierbare Art des Kalifats erleben, das jede Art der Demokratie verwirft und verteufelt. Die stillschweigende Zustimmung des Westens gegenüber der gewaltsamen Beendigung des jüngeren demokratischen Versuchs in den Ländern des Arabischen Frühlings verstehe ich als ein Indiz für das selektive Verständnis der Demokratie und Menschenrechte im Westen. Wenn wirtschaftliche bzw. politische Interessen Gefahr laufen, durch demokratische und menschenrechtliche Prinzipien beeinträchtigt zu werden, opfert man eben die Demokratie zugunsten der wirtschaftlichen und politischen Interessen. Die gegenwärtige Lage im revoltierenden arabischen Raum und das passive Verhalten des Westens diesbezüglich ist mehr als verdächtig und liefert den radikalen Gruppierungen ihre Legitimität. Das Scheitern des moderaten Islam hat auch für den Westen heillose Folgen. Der Westen verweigerte, meines Erachtens, dem moderaten Islam jede Unterstützung, vielleicht aus kulturellen und/oder religiösen oder sogar wirschaftlichen Gründen, was nur dem Rechtspopulismus und dem religiösen Fanatismus zugutekommt.
14.6 Licht ins Dunkel?
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Die logische Entwicklung ist die Entstehung islamischer Gruppierungen, die alles, was aus dem Westen kommt, radikal ablehnen und ihm feindselig gegenüberstehen werden. Keiner, weder im Orient noch im Westen, will von der Geschichte lernen und den Bewusstseinswandel in den jahrhundertelang unterdrückten arabischen Bevölkerungen wahrhaben und sich darauf einstellen. Es wird keinen Frieden im arabischen Raum geben, bevor sich nicht der Westen und das Überbleibsel der alten Systeme in den arabischen Ländern diese epochale Veränderung vergegenwärtigt und den moderaten Islam als einzig vernünftiges Gegenmittel gegen die Radikalisierung dieser Region zur Kenntnis nimmt. Die Chance dazu ist, meiner Meinung nach, noch nicht endgültig verloren. Ungetrübte Demokratie wird sicherlich die moderaten Muslime in die Führung bringen, denn etwa 80 % der Bevölkerung im arabischen Raum, seien es Muslime oder Christen, sind religiös angehaucht. In Europa könnte man vom Gegenteil reden, d. h., etwa 20 % der Bevölkerungen im Westen sind religiös angehaucht. Vielleicht spielt diese Situation eine wesentliche Rolle bei den politischen Entscheidungen im Westen. Der Drang zur Freiheit wird durch Panzer und militärische Macht nicht auf Dauer verdrängt werden können. Die Reaktion auf diesen gewaltsamen Freiheitsraub könnte von unvorstellbarer Wucht sein und in die Gegenrichtung umschlagen. Die arabische Bevölkerung in Tunis, Ägypten, Libyen und dem Jemen einschließlich der Islamisten haben ihre Fähigkeit zum demokratischen Verhalten unter Beweis gestellt. Die sogenannten liberalen Kräfte unterstützten aber den Militärputsch und tun dies bis heute immer noch, weil sie keinen Rückhalt in der Basis haben und jede demokratische Wahl verlieren werden. Machtinteressen sind verschiebbar, und dies bedeutet für Länder, die sich auf ihren gegenwärtigen politisch-wirtschaftlichen Einfluss total verlassen, dass sie eines Tages aufwachen, eine böse Überraschung erleben und allein im Regen stehen könnten. Schuld daran ist keineswegs der Westen allein. Viel mehr sind es inländische Kreise, deren Existenz von der Korruption entscheidungskräftiger Politiker abhängig ist, und die daher ihre Interessen um jeden Preis mit legalen und illegalen Mittel bis hin zur Finanzierung von Rebellionen und Militärputsch durchsetzen wollen. Privilegien des Militärs und Interessen korrupter Geschäftsleute schweißen diese zwei Gruppen zusammen, um jeden demokratischen Prozess zum Scheitern zu bringen. Verschwörungstheorie hin und Verschwörungstheorie her, Opferrolle hin und Opferrolle her! Tatsache ist aber, dass Autokraten und korrupte Politiker leichter manipulierbar sind als unabhängige Demokraten. Damit könnte man vielleicht die halbherzige Unterstützung des Westens für den Demokratisierungsprozess erklären. Vielleicht spielt bei der passiven Haltung des Westens gegenüber dem demokrati-
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schen Prozess im neuen Nahen Osten auch eine gewisse Portion religiöser Eifersucht eine Rolle. 14.6.1 Offene Fragen zu diesem Thema
Zu diesem Thema gibt es einige offene Fragen, die in naher Zukunft beantwortet werden sollten. – Was müsste noch geschehen, dass wir alle diesen epochalen Umbruch in seiner vollen Tragweite realisieren und uns darauf einstellen können? – Stehen wir vor einem bloßen Generationenwechsel oder einer grundlegend veränderten Denkstruktur im neuen Orient? – Wie realistisch ist die Wahrnehmung und das Wahrhaben Europas für die aufgebrochene Postmoderne und ihre politischen und kulturellen Folgeerscheinungen? – Wie kommt Europa mit dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein unter der arabischen Bevölkerung zurecht (echte Demokratie versus eigene politische und wirtschaftliche Interessen)? Mit anderen Worten: Wie ernst und konsequent bzw. nicht selektiv nimmt Europa den Demokratisierungsprozess im arabischen Raum wahr? – Geht es Europa an der ersten Stelle nicht um die Bewahrung seines zweihundertjährigen säkularen Systems gegen jede mögliche Alternative, die vielleicht Politik und Religion in einem postmodernen System in Einklang bringen könnte? – Welche Rolle spielt die Religion in diesem Konflikt in den betroffenen Ländern? Mit anderen Worten: Hat der politische Islam versagt bzw. seine historische Chance verspielt oder wurde ihm diese Chance nicht gegönnt? – Hat die ägyptische Kirche die während der Revolution vom 25. Januar 2011 gewonnene gesellschaftliche Verschmelzung durch ihre vorbehaltlose Unterstützung des Militärputsches vom 3. Juli 2013 aufs Spiel gesetzt? – In welchem Maße könnte der in Gang gesetzte Demokratisierungsprozess die Stabilität der autokratischen Herrschaftssysteme in der arabischen Golfregion, in Nordafrika, Jordanien und im Irak gefährden? – Welche geo-politische Bedeutung hat die geographische Lage der Türkei, Ägypten, Syrien und des Libanon in diesem Kontext? – Wie lange wird sich Europa am Prinzip „Demokratie, ABER“ für den neuen Orient festhalten? – Haben die Unruhen Ende des letzten Jahres 2013 in der Türkei im Hinblick auf die „islamistische“ Regierung irgendwelche Relevanz für die Unruhen in den Ländern des Arabischen Frühlings?
14.6 Licht ins Dunkel?
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Die Antwort auf diese und weitere relevante Fragen stellt eine große Herausforderung dar, der sich Intellektuelle sowohl in den betroffenen Ländern als auch in Europa stellen müssen und deren Problematik sie aus verschiedenen Aspekten und Perspektiven erläutern müssen. Die Bevölkerung in den arabischen Ländern hat sich für ein besseres, gerechteres, souveränes Leben entschieden und viel Blut dafür geopfert. Sie ist fest entschlossen, diesen Weg bis zum bitteren Ende unwiderruflich zu gehen. Das Rad der Geschichte wird unaufhaltsam, trotz vieler Stolpersteine und bitterer Niederlagen, weiterrollen und eine neue weltpolitische Karte schaffen. Die klassischen Mächte wären gut beraten, diese Realität wahrzunehmen und sich rechtzeitig darauf einzustellen. Den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun als wäre nichts Ernsthaftes passiert, könnte, meines Erachtens, auf ein mangelhaftes Wahrnehmungsvermögen hinweisen. Klug ist bestimmt nicht derjenige, der die Geschichtslektüre ignoriert, sondern der, der aus dieser für die Zukunft lernt. 14.6.2 Folgende vier Fakten zur veränderten Wirklichkeit
1. Muslimische Minderheiten in Europa verfügen im Gegensatz zu den religiösen und ethnischen Minderheiten im letzten Jahrhundert über einen starken Rückhalt in den islamischen Ländern, der auf islamophobe Ereignisse in Europa sehr sensibel reagieren könnte. Die bereits in manchen islamischen Ländern vorhandene Westophobie kann allein dadurch zusätzlichen Zuwachs erhalten. 2. Die muslimischen Minderheiten (allein in Westeuropa um die 18 Millionen und in ganz Europa um die 35 Millionen) in Europa leisten selbst, etwa als Konsumenten sowie durch eigene Geldanlagen und sonstige Investitionen, einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur gesamten europäischen Volkswirtschaft. 3. Sollte das schweizerische Referendum in Europa tatsächlich Schule machen, könnte dies in einigen mehrheitlich islamischen Ländern Nachahmer finden, die ein ähnliches Referendum gegen den Bau von Kirchen bzw. Kirchentürmen vorbringen. Leidtragende werden dadurch christliche Mitbürger, deren Zahl in den meisten islamischen Ländern kaum die Zahl der muslimischen Minderheiten in Europa übersteigt. In beiden Fällen machen die religiösen Minderheiten im Durchschnitt etwa 5 % der gesamten Bevölkerung aus. 4. Je mehr Druck auf Muslime und den Islam im Westen ausgeübt wird, desto mehr Nichtmuslime, insbesondere in Europa und der USA, konvertieren zum Islam, wie man auf mehreren Websites lesen kann.366 Allein in Deutschland ist die Zahl 366 Siehe Anhang.
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der zum Islam konvertierten deutschen Bürger zwischen Juli 2004 und Juni 2005 von ungefähr 1300 auf 4000 gestiegen. Schon die amerikanischen und europäischen Reaktionen auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 haben bei vielen Nichtmuslimen in den USA und Europa großes Interesse am Islam geweckt und viele von ihnen konvertierten anschließend zum Islam.367 Die Kopftuch-Debatte, besonders in Europa, führte – für viele europäische Sozialforscher unverständlich – zu einer steigenden Zahl von Frauen, die zum Islam konvertierten. In punktueller Form möchte ich hier ein aussichtsreicheres Integrationskonzept entwerfen und fange mit einem selbstkritischen Fragenkatalog an, der von uns Muslimen klare Antworten fordert. Diese selbstkritischen Fragen dürfen jedoch nicht aus ihrem Rahmen herausgerissen und als Tatsachenbericht polemisch gegen die Muslime in diesem Diskurs umfunktioniert bzw. missbraucht werden. Ich bin mir dieser Gefahr bewusst, aber dennoch bin ich von der Notwendigkeit der offenen und öffentlichen Diskussion über deren Inhalte fest überzeugt. Dieser Fragenkatalog soll vielmehr Denkanstöße bringen und zur Selbstkritik in der intern-islamischen Diskussion ermutigen. Auf diese Fragen folgend werden weitere Aspekte dieser Diskussion ebenfalls punktuell angesprochen, um dem Leser dann, wie ich hoffe, einen einigermaßen vollständigen Einblick in die unterschiedlichen Dimensionen dieser Problematik anzubieten. 14.6.3 Katalog selbstkritischer Fragen
– Sind wir wirklich zur Selbstkritik fähig, oder sind für uns immer noch allein die anderen schuldig? – Haben wir uns nicht zu lange hinter einer bequemen Opferrolle vor der dringend notwendigen sozialen Verantwortung versteckt? – Diskriminieren wir uns selbst nicht gegenseitig (z. B. durch Diskussionen pro und kontra Kopftuch, die zur gegenseitigen Ausgrenzung führen)? – Grenzen wir uns nicht selbst im Alltag von der Mehrheitsgesellschaft aus (Wohnungen, Schulen, Einkäufe, Besuche, Nachbarschaft)? – Erkennen wir die anderen so an, wie wir dies von ihnen erwarten? – Geben unsere Jugendlichen das beste Beispiel für islamische Erziehung in Schulen, Straßen und im Umgang mit den anderen im Alltag ab? – Behandeln unsere Männer ihre Frauen menschen- und islamgerecht bzw. entsprechend den Anweisungen unseres Propheten? 367 Siehe Anhang.
14.7 Was sollen wir tun bzw. was könnte die Mehrheitsgesellschaft von uns erwarten?
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– Dürfen wir wirklich behaupten, dass wir unserer Religion ein gutes Image verleihen – innerlich und äußerlich, intern-islamisch und extern-gesellschaftlich? – Vermischen wir nicht oft in unserem Alltag, bewusst oder unbewusst, Tradition mit Religion (Religion als Magd der Tradition)? – Beteiligen wir uns in ausreichendem Maße an allgemeinen gesellschaftlichen kulturellen und politischen Aktivitäten? – Arbeiten wir mit den Schulverwaltungen und Wohnbehörden bei der Suche nach Problemlösungen zusammen, die unsere Kinder und Familien in den Schulen und im Alltag betreffen? – Inwieweit sind wir und unsere Familien eigentlich mit der Landeskultur, ihren Gebräuchen und der Sprache vertraut? 14.7 Was sollen wir tun bzw. was könnte die Mehrheitsgesellschaft von uns erwarten?
– Niemand darf die Religion als Vorwand für die Ablehnung und Ausgrenzung des anderen missbrauchen. – Niemand darf religiöse Rituale (Gottesdienst) als Vorwand für die Vernachlässigung der beruflichen Verpflichtungen benutzen. – Die religiösen Erleichterungswege (ruhsat) sollen in Anspruch genommen werden, um den Ablauf des Berufs- und Gesellschaftslebens nicht zu stören. – Die Landessprache sollte man als Grundvoraussetzung für die gesellschaftliche Kommunikation bestmöglich erlernen, um die jeweilige Landeskultur und ihre Traditionen zu verstehen und zu respektieren. – Wir müssen die Ängste der Europäer vor Überfremdung nachvollziehen und ernst nehmen und versuchen, diesen Ängsten durch entsprechende präventive Maßnahmen entgegenzuwirken. – Wir müssen uns noch aktiver als bisher an Problemlösungen für soziale Missstände und Konflikte beteiligen. – Wir müssen mehr als bisher mitten in der Gesellschaft leben und uns an den politischen Ereignissen aktiver als bisher beteiligen. – Unsere Loyalität und Akzeptanz gegenüber der jeweiligen einheimischen Verfassung, dem Grundgesetz bzw. den geltenden Gesetzen und zu den jeweiligen Gesellschaftsstrukturen in Europa sollten wir noch mehr als bisher eindeutig bekunden. – Wir müssen versuchen, mit unserer moderaten und gesellschaftsbejahenden Weltanschauung einen Zugang zu den Massenmedien zu finden und unsere eigene Medienarbeit gesellschaftlich salonfähiger gestalten.
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– Wir müssen bessere Nachbarschaftsbeziehungen pflegen und an Freude und Trauer der anderen durch kontaktfreudigere Initiativen teilhaben. – Ferner sollten wir allen Menschen unsere kulturellen Aktivitäten nicht nur offenhalten, sondern sie ausdrücklich zu aktiver Beteiligung einladen und ermutigen. 14.7.1 Und was können europäische Muslime von der Mehrheitsgesellschaft erwarten?
– Unsere kulturelle und religiöse Identität sollte in positiver Weise als ein Merkmal und einen Bestandteil einer interkulturellen Gesellschaft anerkannt und akzeptiert werden. – Gemeinschaftsdenkenskultur sollte anstelle von leitkulturalistischer Ausgrenzung gefördert werden. – Integration darf nicht auf eine verschleierte Assimilation hinzielen. Sie sollte beidseitig gefördert und nicht einseitig gefordert werden. – Verhetzenden Massenmedien und veralteten Vorurteilen in Schulbüchern und sonstigen Schriften sollte Einhalt geboten werden. – Es sollt ein ernsthafter Dialog mit identitätsbewussten Muslimen anstatt eines sinnlosen Monologs mit bereits geistig assimilierten Muslimen geführt werden. – Global menschenrechtliches Denken sowie konsequentes Handeln sollte praktiziert werden. – Weitsichtig und nachhaltig sollte ein konstruktives und friedvolles Zusammenleben geplant werden. – Freiheit des Denkens und Auftretens sollte für alle Menschen gelten, d. h., es dürfen keine geographischen, kulturellen oder nationalen Grenzen für die Menschenrechte eingesetzt werden. – Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt, bei Aufstiegschancen und in Bildungsinstitutionen ist umzusetzen. 14.7.2 Interkulturelle Grundsätze
Für alle sollen, meines Erachtens, folgende interkulturelle Grundsätze gelten: – Religiöse bzw. kulturelle Identität darf nicht zugunsten einer verschleierten Assimilation aufgegeben werden. – Durch intraislamische Aufklärung soll traditionsbedingtes Fehlverhalten beseitigt und durch authentische religiöse Werte ersetzt werden. – Den anderen verstehen und in seinem Anderssein grundsätzlich anerkennen und respektieren.
14.7 Was sollen wir tun bzw. was könnte die Mehrheitsgesellschaft von uns erwarten?
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– Gegenseitige Akzeptanz und Aufgeschlossenheit müssen in der Praxis umgesetzt werden. – Religiöse und kulturelle Werte müssen im Alltag realisiert werden (Glaubens- und Handelns-Identifikation). – Islamspezifische Streitfragen, die in einer islamischen Gesellschaft aktuell sind, sollten nicht 1:1 auf die neue Heimat übertragen werden. Allein durch den Einsatz bewusster, nicht selektiver, selbstkritischer Wahrnehmung und durch objektive Aufarbeitung der eigenen Wertvorstellungen in einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft seitens der Muslime und ebenso bewusste und niveauvolle selbstkritische Wahrnehmung des Islams seitens der europäischen Mehrheitsgesellschaft, die einen unvoreingenommenen Umgang auch mit konstruktiver externer Kritik in einem interkulturellen offenen Geist impliziert, könnten wir uns und den nächsten Generationen eine bessere und konfliktfreie Welt hinterlassen. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt uns, dass die Islamfeindlichkeit in Europa und die Radikalität einiger muslimischer Gruppierungen in äquivalenter Beziehung zueinander stehen – folglich ist der effektivste Weg, der Radikalisierung einiger Muslime entgegenzuwirken, jener, der Islamfeindlichkeit ernsthaft Einhalt zu gebieten. Antiislamische Aussagen dienen heute scheinbar vielfach als der einfachste Weg zur Berühmtheit und nicht zuletzt zum Geldverdienen. Dazu ist keine besondere Intelligenz erforderlich, vielmehr ein Mangel an Verantwortungsbewusstsein und eine gewisse Kurzsichtigkeit. Menschen, die einen „maßgeschneiderten“ Islam anbieten, werden in der Regel als Islamreformer und/oder Islamexperten tituliert. Allein gut durchdachte realitätsbezogene Entwürfe basierend auf wissenschaftlicher Erforschung der islamischen Kultur durch muslimische und nichtmuslimische ausgewiesene Fachwissenschaftler können uns aus dem derzeitigen kulturellen Dilemma herausholen oder zumindest einen effektiven Beitrag dazu leisten. Egozentristisches Kulturverständnis, sprich Leitkulturalismus, wird in der, meines Erachtens, bereits angebrochenen Postmoderne obsolet sein. Die wachsende Rolle der Religionen, oder was man für solche hält, wird die Politik in unterschiedlichen Maßen theologisieren und die Religion vermehrt politisieren. Es führt kein Weg daran vorbei, eine universitäre, fachauthentische interreligiös-interkulturell-islamtheologische Imamausbildung in der jeweiligen Landessprache in Europa zu etablieren und zu fördern. Einen entsprechenden Vorschlag habe ich vor etwa fünf Jahren während einer Sitzung an der Universität Wien bei der Verhandlung über die Gründung des nun seit etwa drei Jahren bereits bestehenden Masterstudiengangs für islamische Religionspädagogik zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag sah einen zweispurigen Masterstudiengang mit einer pädagogischen und einer
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theologischen Fachrichtung vor, wurde aber auch durch den Vertreter der islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGiÖ), blockiert. Begründet wurde diese Blockade dadurch, dass die Zeit dafür angeblich noch nicht reif sei. Später, vor gut zwei Jahren, wurde während eines Empfangs beim österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer öffentlich angekündigt, dass die Gründung einer Fakultät für islamische Theologie an der Universität Wien bereits genehmigt wurde. Es wurde jedoch lediglich ein Lehrstuhl für „Muslime in Europa“ im Rahmen des islamisch-religionspädagogischen Masterstudiengangs errichtet, der auch als Imamfortbildung deklariert wurde – dieser neue Lehrstuhl bietet allerdings, laut dem zuständigen Ministerium, keine theologische Ausbildung für Studierende. Wie könnte man sich eine Imamausbildung ohne islamische Theologie vorstellen? Halbherzige Lösungen und verfehlte, politisch motivierte Personenwahl können, wie es bis jetzt der Fall ist, die Gemüter nur vorübergehend beruhigen, wobei wertvolle Zeit und Geld verloren gehen. Leitendes Motiv für die Gründung einer universitären Imamausbildung ist das Fehlen einer Fachausbildung für islamische Theologie im gesamten deutschsprachigen Raum, welche eine moderate und gesellschaftskonforme interreligiös-theologische Ausbildung für Imame bzw. Theologen im gesamten deutschsprachigen Raum anbietet. Umso notwendiger wird eine solche akademische Einrichtung durch die Tatsache, dass weder der religiöse Konservativismus noch der unreflektierte religiöse Liberalismus bis heute effektive Antworten auf die drängenden sozialen Herausforderungen erbringen konnten. Die bislang erzielten Fortschritte im Bereich der Integration der Muslime in Europa könnten viel effektiver sein, wenn sie von kulturell-religiösen identitätsschonenden Maßnahmen begleitet wären. Authentische religiöse bzw. kulturelle Identität stellt eine Grundvoraussetzung für eine konstruktive Integration der Muslime in Europa dar. Diese eigene kulturelle Identität wird heute als Grundstein benötigt, um später eine interreligiöse und interkulturelle Erziehung zu ermöglichen. Dadurch könnte die gesellschaftliche Ghettoisierung von Minderheiten verhindert werden. Allein die Vermittlung von moderater und authentischer islamischer Theologie ist imstande, religiöse Identität mit gesellschaftlich-politischer Loyalität in Einklang zu bringen und so eine gesunde Grundlage für eine konstruktive Integration der Muslime in Europa zu ermöglichen. Für den Erfolg des angestrebten Ausbildungsprogramms ist eine Kooperation mit fachrelevanten Instituten an österreichischen Universitäten sowie an anderen europäischen fachrelevanten universitären Einrichtungen, wie beispielsweise dem Institut für Arabistik und Islamwissenschaften, der theologischen Fakultät und dem Institut für Rechtsphilosophie an der Wiener Universität, vonnöten. Die gesamten Lehrpläne für interreligiös-islamische Theologie in Wien müssen
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entsprechend dem neuen Hochschulgesetz von 2005 und den Richtlinien der Bologna-Erklärung von 1999 sowie dem österreichischen Akkreditierungsgesetz gestaltet werden. Heute ist der Bedarf an einer solchen Imamausbildung in Europa größer denn je, und je länger dieses Projekt aufgeschoben wird, desto entfernter bleibt die so ersehnte identitätsschonende Integration der ursprünglich nichteuropäischen Muslime in der europäischen Gesellschaft und dem dazugehörigen Kulturkreis. Tür und Tor für religiöse und populistische Hasspredigten auf beiden Seiten bleiben somit weit offen. Gegenseitige Ausgrenzung und Verteuflung sind dann unausweichlich. Die veränderte demographische und kulturelle Wirklichkeit in Europa verlangt nach einer entsprechend veränderten Wahrnehmung des Islams und speziell der muslimischen Mitbürger und ebenso einer entsprechend veränderten Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft seitens der in Europa lebenden Muslime. Ein kultureller Paradigmenwechsel bei Muslimen, wie auch in Europa, ist ein Gebot der Postmoderne, die einen neuen Typus des gesellschaftspolitischen und kulturreligiösen Verständnisses erforderlich macht und uns vor eine noch nie dagewesene interkulturelle Herausforderung stellen wird, in der es für monokulturalistische und religionistische Engstirnigkeit keinen Platz mehr geben wird. 14.7.3 Abschließendes Wort
Eine bessere Zukunft setzt eine bessere Gegenwart voraus, und eine bessere Gegenwart bedarf eines ernsthaften, vorurteilsfreien und selbstkritischen Vergangenheitsbewältigungsprozesses, der wiederum ein objektives Studium der eigenen Kulturgeschichte voraussetzt. Ohne gesunde Wahrnehmung und Wertschätzung des anderen wird weder eine bessere Gegenwart noch eine hoffnungsvolle Zukunft geschaffen werden können. Das Fehlen klarer Konzeptionen für interkulturelle Erziehung an Schulen und für interkulturelle Forschung an Hochschulen sowie die mangelhafte Objektivität mancher Massenmedien und Politiker vertiefen die Kluft zwischen den Kulturen und Religionen. Auch das Fehlen objektiver Forschung im Bereich der Reformbewegungen und Entwicklungsgeschichte der Kulturen und Religionen ist ein wesentlicher Grund für die Orientierungslosigkeit im Bereich der interkulturellen Forschung. Darüber hinaus ist die vorherrschende Angst seitens einiger traditioneller muslimischer Volksgruppen vor einer totalen Assimilation durch die angestrebte Integration teils durch den unscharf definierten Begriff „Integration“ und teils durch schwammig konzipierte Integrationspolitik entstanden. Aber auch Muslime dürfen sich nicht resigniert in die Opferrolle drängen lassen und sich auf diese Art ihrer
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gesellschaftlichen Verantwortung entziehen. Sie müssen sich mit Geist und Körper als einen Bestandteil ihrer aktuellen Gesellschaft und nicht als Fremde in ihrer Herkunftsgesellschaft betrachten. Kurz gesagt: Muslime, ob sie Migrationshintergrund haben oder gebürtige Europäer sind, sollten die Gesellschaft, in der sie leben, bejahen und nicht nur tolerieren, sondern konstruktiv an allen ihren legitimen Aktivitäten partizipieren. Muslime begünstigen ihrerseits oftmals unbewusst die Verbreitung von Islamophobie, indem sie ihrer Anderssein nahezu provokativ demonstrieren. Die eigene Identität auch auf eigene Art und Weise öffentlich auszudrücken, ist das gute Recht aller Menschen, aber man könnte dies auch auf eine gemäßigte Art und Weise tun, so dass man keine unliebsamen Reaktionen provoziert. Der islamische Begriff „Umma wasat“ („eine Gemeinschaft des Mittelmaßes“) impliziert das Gebot zum moderaten Verständnis der eigenen Religion als einen legitimen und empfehlenswerten Verhaltenskodex im gesellschaftlichen Leben. Das arabische bzw. islamische Sprichwort „al-mu’minu kayyisun fatin“ („Der Gläubige ist ein bedachter und intelligenter Mensch“) impliziert die Aufforderung an jeden gläubigen Menschen, Mittelmaß in allen seine Handlungen zu wahren. Schulen, Medien und Politik sind die eigentlichen Akteure, die ihre Aufgabe erst richtig erledigen können, wenn sie von der Wissenschaft brauchbare Konzepte erhalten. Gegenseitige Vorwürfe, wie etwa jene, dass Politiker nur auf Stimmenfang aus seien, es Medien nur um Einschalt- bzw. Verkaufsquoten ihrer Produkte ginge, Schulen mit ihrem immer bescheidener werdenden Budget ums Überleben kämpfen würden und Wissenschaftler oder Pseudowissenschaftler ausschließlich Karriere und mediale Präsenz im Kopf hätten, bringen uns nicht weiter. Das sichtbar gewordene Religionsbewusstsein als ein Identitätsfaktor in der Öffentlichkeit ist im Grunde ein positives Phänomen – aber es könnte sich zu exklusivem Religionismus und Leitkulturalismus entwickeln. Eine solche Entwicklung ist keineswegs harmloser als Rassismus oder Nationalismus. Mit Religionismus meine ich die nominelle Zugehörigkeit zu einer Religion mit ausgrenzendem exklusivem Religionsverständnis. Die Postmoderne, die einen globalen Transfer der Religionen, Traditionen und Kulturen mit all ihren positiven und negativen Folgen mit sich bringt und die dadurch einäugige religionistische sowie leitkulturalistische Eifersüchteleien und noch mehr Berührungsängste erzeugen könnte, soll uns dazu veranlassen, diese Entwicklungen schon jetzt in die wissenschaftliche Forschung einzubinden und mit gebührender Ernsthaftigkeit und Unvoreingenommenheit anzugehen. Diskriminierung von Minderheiten, verschwörerisches Verhalten hier und dort, dies alles führt uns unsere defizitäre Bildungspolitik, Aufklärungsarbeit und Integra-
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tionsverständnis unverschleiert vor Augen, was kulturelles bis hin zu militärischem Konfliktpotential in sich bergen könnte. Muslime müssen endlich die Angst mancher Europäer vor kultureller Entfremdung ernst nehmen und nachvollziehen lernen, da sich Muslime mit ähnlicher Vehemenz gegen kulturelle Entfremdung während und nach der Kolonialzeit mit allen Mitteln gewehrt haben. Europäer müssen auch ihrerseits die Sorgen der Muslime um ihre religiöse Freiheit, ihre Sehnsucht nach religiöser Gleichberechtigung und ihre Ängste vor Assimilation ebenso ernst nehmen und nachvollziehen lernen.
15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion Die Sensibilität dieses Themas ist mir voll bewusst. Ich weiß, dass ich mich dabei auf dünnem Eis bewege und mir allerlei Vorwürfe gefallen lassen muss. Nichtsdestotrotz müssen wir Muslime und Christen jenseits von jedweder Art der polemischen Auseinandersetzungen gemeinsam versuchen, einen nüchternen Einblick in diese Problematik durch Ursachenforschung bzw. eine sachliche und konstruktive Diskussion zu erreichen, um möglichst effektive Lösungsvorschläge zu finden.
15.1 Ursachenforschung anstatt Schuldzuweisung
Eine sachliche Diskussion über dieses Thema unter gebildeten Menschen, ob sie direkt oder indirekt davon betroffen sind, ist unverzichtbar und stellt den einzigen Weg dazu dar, den seit einigen Jahrzehnten getrübten gesellschaftlichen Frieden in Ägypten in seiner ursprünglichen Harmonie wiederherzustellen. Dabei müssen die Konfliktherde registriert, historisch-kritisch erforscht und es muss nach nachhaltigen, friedlichen Lösungen aufrichtig gesucht werden. Gegenseitige Schuldzuweisung ist nicht nur kontraproduktiv, sondern kann die Kluft zusätzlich vertiefen. Mutmaßliche historische Gründe aufzuzeigen, darf keineswegs als Rechtfertigung für Ausschreitungen missverstanden werden. Sie dienen hier als Diagnose, auf welche eine effektive Prognose folgen soll, nicht mehr und nicht weniger. Es wäre heute viel zu naiv zu behaupten, es gäbe keine Probleme zwischen Muslimen und Kopten in Ägypten. Dies hätten wir vor etwa 30 Jahren mit Recht behaupten können und ich denke, dass fast alle ägyptischen Christen mit mir diese Meinung teilen. Doch bevor ich auf die Kernfragen dieser Problematik eingehe, wäre es vielleicht angebracht, die Bezeichnung „Kopten“ kurz zu erläutern. Vielerlei Theorien und philologische Ableitungsformen gibt es für das Wort „Ägypten“ bzw. „Kopten“. Die eine Theorie führt das Wort „Kopten“ auf das griechische Wort „aigyptos“ zurück, das eine geographische Bezeichnung für „Ägypten“ ist und in altgriechischer Sprache in etwa „das Land, das unterhalb der Ägäis liegt“ bedeutet. Nach einer transzendental geographischen Theorie bezeichnet das Wort „aigyptos“ den „Sitz der Seele des altägyptischen Gottes Ptah“. „Ägypten“ wurde auf Altgriechisch auch „Kymeia“ genannt und bedeutete „schwarzes Land“, da der ägyptische Ackerboden schwarz bzw. fruchtbar war und immer noch ist.
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
Eine andere Theorie führt die Benennung Ägyptens durch das Wort „Kymeia“ auf das Wort „Chemie“ zurück. – Damit würde Ägypten „Land der Chemie“ genannt, da die alten Ägypter die Chemie erfanden und durch sie ihre Toten mumifizierten. Die Bezeichnung „Kopten“ gilt gemäß dieser philologischen Ableitung für alle Ägypter, die mehrheitlich orthodoxe Christen waren. Nach der Eroberung Ägyptens durch das islamisch-arabische Heer sind viele ägyptische Christen nach und nach zum Islam konvertiert. Der Großteil der ägyptischen Muslime sind demnach ehemalige orthodoxe Christen gewesen und trotz Konvertierung „Urägypter“ geblieben. Folglich ist jeder Versuch, die Muslime als Araber bzw. Nicht-Urägypter zu bezeichnen, eine grundlose Behauptung, ja sogar eine Beleidigung für die ägyptisch-muslimische Mehrheit. Denn die arabischen Muslime sind eine kleine Minderheit gewesen und längere Zeit eine solche geblieben, bis sie u. a. durch Blutvermischung Ägypter geworden sind. Mit anderen Worten heißt dies, dass die Mehrheit der muslimischen Ägypter Urägypter, also „Kopten“, sind und darum darf man sie ohne Weiteres gleichermaßen, wie koptische Katholiken oder koptische Protestanten und sonstige christliche Kopten, als koptische Muslime bezeichnen. Die Inanspruchnahme der Bezeichnung „Kopten“ im Sinne von „Urägypter“ ausschließlich für ägyptische Christen zu verwenden, ist daher nicht nur wissenschaftshistorisch falsch, sondern auch in diesem Diskurs kontraproduktiv. Diese historisch gewachsene Bezeichnung zu ideologisieren und ausschließlich für sich zu beanspruchen, stellt eine Gefahr mit unabsehbaren Folgen für den gesellschaftlichen Frieden dar, deren Vorboten wir heute in Ägypten erleben. Die Kopten sehen sich gern als das „älteste, reinste und ursprünglichste Element Ägyptens“, wie es im nie veröffentlichten Kommuniqué der koptischen Konferenz von 1977 heißt.368 Auch der koptisch-orthodoxe Bischof Damian sagte in Deutschland: „Wir sind die Ureinwohner unseres Landes.“369 Dass sich die ägyptischen Christen als Ureinwohner Ägyptens sehen, ist vollkommen richtig. Nicht richtig ist hingegen, dies für sich exklusiv, im Sinne von „wir und nicht ihr“ zu beanspruchen. Nun zu den Kernfragen, die ich hier als Denkanstöße für eine konstruktive Diskussion und keineswegs als meine Meinung in den Raum stellen möchte. Es handelt sich hierbei ausschließlich um einen nüchternen Versuch, auf einige historischen Momente hinzuweisen, die in diesem Diskurs möglicherweise von der einen oder der anderen Seite vergessen oder verdrängt wurden: 368 FOCUS, Nr. 51, 1993. 369 Katholische Presseagentur Österreich, 26. August 2009.
15.1 Ursachenforschung anstatt Schuldzuweisung
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– Was hat den bis dahin gelebten gesellschaftlichen Frieden und die Harmonie gestört bzw. die heutigen Probleme verursacht und warum geschah dies gerade in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts? – Gibt es Schnittpunkte zwischen den ersten religiösen Unruhen in Ägypten Mitte der 70er Jahre und den blutigen Ereignissen des libanesischen Bürgerkriegs im gleichen Zeitraum? – Hat die islamische Revolution im Iran (1979) auf den in den 80er Jahren durch einige koptische Gruppierungen wieder erwachten Wunsch nach einem eigenen Staat in Oberägypten gewirkt und die verzögerte offizielle Reaktion der koptischen Kirche die Lage verkompliziert? – Inwieweit könnten innenpolitische Aspekte bzw. Ereignisse, wie etwa die Revolution von Nasser (1952), der Suezkrieg (1956), der Sechstageskrieg (1967), der „06.-Oktober-Krieg 1973“ (bekannt als Jom-Kipur-Krieg) und die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat (1981), zum Aufbruch des militanten Religionismus beigetragen haben? – Hängen die blutigen Ereignisse im oberägyptischen Dorf al-Kuschh aus dem Jahr 2000 mit der sogenannten ethnischen Säuberung im ehemaligen Jugoslawien auf irgendeine Weise zusammen, bei der das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche dem Schlächter der Muslime in Bosnien, Radovan Karadzic, öffentlich die höchste Auszeichnung verliehen hat? – Kann diese folgenreiche Entwicklung ausschließlich durch externe Einflüsse bzw. Machtinteressen erklärt werden, oder spielt dabei auch ein möglicher interner Paradigmenwechsel auf beiden Seiten eine wesentliche Rolle? – Hat die Hinrichtung von Sayed Qutb im Jahr 1965 zur Entstehung und Radikalisierung der Splittergruppe „Takfir und Hijra“ beigetragen, welche die ganze ägyptische Gesellschaft, insbesondere den Regierungsapparat und alle ihm nahestehenden Institutionen (z. B. Al-Azhar) in vorislamische „Jahiliya“ (= Unglaube) zurückfallen sah? – Könnten die Gerüchte über Ambitionen und angebliche Absichten seitens einiger koptischen Gruppierungen, einen eigenen koptischen Staat in Ober- und Mittelägypten gründen zu wollen, die erstmals 1953 und dann wieder in der 80er Jahren aufkamen, die Umleitung der Aggressionen radikaler Muslime von der Regierung auf die Kopten begünstigt haben? – Und schließlich stellt sich die Frage, ob sich eine Besserung der Lage heute abzeichnet. Über diese und sonstige Fragen wollen wir unvoreingenommen und jenseits von Polemik und Rechthaberei miteinander diskutieren.
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Einleitend möchte ich einige diesbezügliche Zitate aus christlichen Quellen als Einstieg in die Diskussion anführen.
15.2 Eine christliche historische Sichtweise
In „Orientierung“ schildert Peter Heine die Situation der christlichen Ägypter in einem historischen Überblick wie folgt: Als Ägypten 640 vom muslimischen Feldherrn ʿAmr Ibn al-ʿAs erobert wurde, empfingen ihn die Kopten mit Freudenkundgebungen. Da die Muslime keine Zwangsbekehrung durchführten, blieben die Kopten bis ins 16. Jahrhundert hinein die Bevölkerungsmehrheit im Lande am Nil. Zwar kam es hin und wieder zu Diskriminierungsmaßnahmen. So mussten sie unter dem fatimidischen Kalifen Al-Hakim 985–1021 eine bestimmte Kleidung tragen, jede Form öffentlicher Darstellung christlicher Rituale wurde verboten. In den öffentlichen Bädern mussten die Kopten hölzerne Kreuze tragen, deren Größe vorgeschrieben war. Der Weinkonsum, der ihnen als Christen vom islamischen Recht erlaubt war und den sie für die Liturgie benötigen, wurde ihnen untersagt. Manche Kirchen wurden abgerissen. Ähnliche Formen der Verfolgung hatten auch die ägyptischen Juden zu erleiden. Nach einiger Zeit wurden diese Maßnahmen noch in der Herrschaft des Kalifen al-Hakim jedoch rückgängig gemacht und die zerstörten Kirchen wieder aufgebaut. Nach und nach verringerte sich der Anteil der Kopten an der ägyptischen Bevölkerung. Mehr und mehr Familien wandten sich dem Islam zu. Die Gründe dafür waren vielfältig. Ein direkter Zwang zum Religionswechsel wurde von den Muslimen jedoch in der Regel nicht ausgeübt. Während sie sich in ihrer Religion von ihren muslimischen Landsleuten unterscheiden, haben sie mit ihnen zahlreiche soziale Normen und Verhaltensweisen gemeinsam. So haben sie die gleichen Heiratsbräuche, Geistervorstellungen und Traumdeutungen, ja sie verehren sogar die gleichen Heiligen. Beim Fest eines ihrer größten Heiligen, dem heiligen Georg, beteiligen sich bis zu einem Drittel Muslime. Wie eng die Symbiose zwischen Kopten und Muslimen noch in jüngster Zeit war, zeigt auch die Tatsache, dass nach der ägyptischen Niederlage gegen die israelische Armee im Sechstagekrieg von 1967 in Kairo von Marienerscheinungen berichtet wurde, in denen sich die Gottesmutter den Ägyptern tröstend zuwandte. Von diesen Erscheinungen berichten Christen wie Muslime übereinstimmend, und die ägyptische Postverwaltung gab aus diesem Anlass eine Sondermarke heraus.370 370 Orientierung, Nr. 7, 15. April 1996.
15.3 Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften
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15.3 Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften
Wie immer handelt es sich bei derartigen Spannungen um eine Vielzahl von Ursachen und Motiven, die auch nur teilweise dargestellt werden können. Erste Spannungen gehen auf die Zeit des Präsidenten Nasser zurück. Dieser hatte einerseits die Kopten verschiedentlich gefördert, anderseits aber einen panarabischen Nationalismus propagiert, der die Kopten um ihre Identität fürchten ließ. Sie fühlten sich sehr viel stärker einer ägyptischen Tradition verbunden als einer arabischen. Als Reaktion auf die panarabische Propaganda entstanden 1953 koptische Gruppierungen, die eine Stärkung des koptischen Selbstbewusstseins betrieben und in einigen Fällen von einem christlichen Staat in Mittelägypten mit der Hauptstadt Assyut träumten. Während diese Vorstellungen in den 60er Jahren in Vergessenheit gerieten, wurden sie nach 1980 wiederbelebt. Dass offizielle Kreise der koptischen Kirche in derartige Pläne involviert waren, mag durchaus bezweifelt werden. Am 3. Januar 1987 erklärte das Oberhaupt der koptischen Kirche: „Die Gerüchte von der Schaffung eines koptischen Staates, dessen Hauptstadt Assyut sein soll, stellen geschmacklose Witze dar.“371 Ivesa Lübben schreibt: Der 1981 ermordete Präsident Anwar al-Sadat hatte Muslime und Kopten gegeneinander ausgespielt. Seitdem kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften. […] „Der Glaube für Gott, das Vaterland für alle“, war die Parole der antibritischen Unabhängigkeitsbewegung in den 20er Jahren. Damals hielten koptische Priester Freitagspredigten in der Moschee, islamische Scheichs sprachen von der Kirchenkanzel.372
Ulrich Delius sagt: Als eine positive Geste werteten viele Kopten die Entscheidung der ägyptischen Regierung, das orthodoxe Weihnachtsfest am 7. Januar 2003 erstmals als nationalen Feiertag zu begehen. Bis dahin waren Kopten an diesem Tag nur von der Arbeit freigestellt worden, während es für die Muslime ein normaler Arbeitstag war. Gamal Mubarak, ein Sohn des Staatspräsidenten, wohnte der Weihnachtsmesse in der Kathedrale von Kairo bei, um 371 Die ägyptische Zeitschrift „Oktober“, 3. Januar 1987. 372 FOCUS, Nr. 51, 1993.
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
demonstrativ ein Zeichen für das gute Zusammenleben von Muslimen und christlichen Kopten zu setzen. Ägypten ist ein islamisches Land, in dem etwa 90 % der Bevölkerung sunnitische Moslems sind. Der Islam kennt keine Trennung von Politik, Gesellschaft und Religion: Er regelt sämtliche Lebensbereiche bis ins Detail und weist dem Gläubigen dadurch den rechten Weg. Ägyptens Gesetzgebung orientiert sich an den Prinzipien der Scharia, dem islamischen Recht. Versuche religiöser Gruppierungen, die Scharia als allein gültiges Gesetz einzuführen, sind im Parlament bisher gescheitert. Natürlich empfinden die rund sechs Millionen Kopten diese Tendenzen als beunruhigend. Über die Jahrhunderte hinweg hat es letztlich jedoch nie Zweifel an der nationalen Einheit von Moslems und Kopten gegeben. Auch sind die ägyptischen Christen gesellschaftlich voll integriert und gehören allen sozialen Schichten an. Besonders zahlreich sind sie in den freien Berufen vertreten, aber auch die Ärmsten der Armen. Die Spannungen zwischen den beiden Religionsgruppen haben sich nach der katastrophalen Niederlage Ägyptens gegen Israel im Junikrieg 1967 und durch die anhaltende wirtschaftliche Krise erhöht. Ausdruck dieser Krise war nicht nur eine allgemeine religiöse Rückbesinnung bei Christen wie Moslems, sondern auch ein wachsender religiöser Fanatismus der islamischen Fundamentalisten.373
15.4 Stellungnahme der Katholischen Presseagentur Österreich
„Koptisch-orthodoxer Bischof Damian beklagt am 26.8.2009 Inaktivität der Behörden bei Übergriffen gegen Christen und ortet Angst vor radikalen Islamisten.“ Dazu sagte Bischof Damian: „Grundsätzlich ortete der Bischof in der muslimischen Bevölkerung kaum Misstrauen gegenüber den Kopten. Viele muslimische Geschäftsleute würden beispielsweise in Geld- und Geschäftsangelegenheiten den Kopten mehr als ihren muslimischen Glaubensbrüdern vertrauen.“ Damian: „Die Kopten waren noch nie eine Gefährdung für die ägyptische Gesellschaft. Wir sind keine Feinde des Staates oder der Muslime. Wir sind die Ureinwohner unseres Landes.“ Fast alle hier zitierten Quellen sehen die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts als den Wendepunkt zum religiös motivierten Konflikt in der ägyptischen Gesellschaft, ohne klare und stichhaltige Gründe dafür aufzuführen. Warum hat der damals noch neue ägyptische Präsident Anwar El-Sadat angeblich Islamisten und Christen gegeneinander ausgespielt? Warum hat er Islamisten aus der Haft entlassen, so dass es zu den Ausschreitungen kommen konnte? 373 BM Bozen Magazin, Bolzano (Italien), Ausgabe vom 07. August 2003.
15.5 Umstrittene Statistik
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Lassen Sie mich über einen möglichen Grund mutmaßen. Im Jahr 1971 schrieb ein hoher Kirchenfunktionär namens Zakarya Boutros ein Buch, in dem er den Propheten Muhammad und seine Familie auf eine sehr provokative Art und Weise beschrieb. Viele Muslime waren erwartungsgemäß deswegen sehr aufgebracht. Der koptische Patriarch Schenuda III. soll angeblich versucht haben, den Staat zu erpressen. Als Preis für Sanktionen gegen den Autor Zakarya Boutros sollte der Präsident eine große Zahl von Kopten als Parlamentsmitglieder, einige Gouverneure bzw. Polizeiinspektoren, besonders in Oberägypten und Mittelägypten, sowie einige andere in den verschiedenen Ministerien ernennen. Diese angeblichen politischen Forderungen an den Präsidenten wurden als ein Schritt in Richtung eigener koptischen Staat in Ober- und Mittelägypten gesehen und als ein Versuch verstanden, die entsprechenden Gedanken von 1953 wiederzubeleben. Dies könnte, meines Erachtens, als der Beweggrund für die Entlassung der Islamisten durch den Präsidenten Sadat gewertet werden. Auch wenn dies nur ein Gerücht gewesen sein sollte – die Reaktion der einfachen, manipulierbaren Menschen ist dann erwartungsgemäß unvorhersehbar. Aber eines ist sicher: nämlich die Tatsache, dass eine solche unverantwortliche Diffamierung des Propheten Muhammad und seiner Familie eine folgenreiche Provokation für die Muslime darstellt – und dies hätte nicht von der Kirche geduldet werden dürfen. Eine Distanzierungserklärung seitens der koptischen Kirche hätte zweifelsohne positive Auswirkungen auf die allgemeine Stimmung der muslimischen Bevölkerung gehabt.
15.5 Umstrittene Statistik
Hierzu möchte ich vorausschicken, dass die Größe des christlichen Bevölkerungsanteils für mich persönlich keinen entscheidenden Stellenwert hat. Aber wenn die eine oder andere Statistik als Grundlage für entsprechende politische Forderungen verwendet werden sollte, dann muss man ausschließlich zuverlässige und international anerkannte Quellen heranziehen. Für mich persönlich ist nur die nationale Zugehörigkeit einer Person bzw. einer Minderheit entscheidend. Und dies soll die einzige Grundlage für die Wertschätzung und die Gleichheit aller ägyptischen Mitbürger vor dem Gesetz, unabhängig von religiöser, ideologischer oder sonstiger Zugehörigkeit, sein. Für Ägypten gehen die meisten Quellen374 von 5 bis 10% Christen, davon über 374 Siehe Spiegel – dtv-Jahresbuch, 2004, S. 54. CIA World Fact Book, ägyptische Regierungsstellen, Deutsches Auswärtiges Amt.
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
90 % Kopten, aus. Der „Fischer Weltalmanach“ 2008 nennt, wie auch koptische Quellen, wesentlich höhere Zahlen von 12–15 % Kopten.375 „Harenberg Aktuell“ gibt 94 % Muslime gegenüber 6 % Christen insgesamt (die meisten davon Kopten) an.376 Das „Spiegel-dtv-Jahrbuch“ nennt 90 % Muslime gegenüber 9 % Kopten.377 Nach Länderinformationen des Auswärtigen Amtes handelt es sich um 90% Muslime gegenüber 6% Kopten und gemäß „CIA World Fact Book“ um 10% Christen.378 Einzig der Fischer Weltalmanach 2009 zählt 80% Muslime gegenüber 15% Kopten, führte aber 2006 noch 85% Muslime gegenüber 12% Kopten auf und 2003 noch 90% Muslime gegenüber 9–10% Kopten (6 Mio. von 64 Mio.), ohne eine Erklärung für diese erhebliche Verschiebung innerhalb von nur fünf Jahren zu liefern. Ebenso unerklärlich habe sich bereits zuvor innerhalb von nur zwei Jahren379 die Zahl der Kopten in Ägypten verdreifacht (von 2 Mio. auf 6 Mio.) und ihr Anteil damit von 4,1% auf 10,4% erhöht, innerhalb von nur zehn Jahren380 sogar vervierfacht (von 2 Mio. auf 8,1 Mio.). Über den Anteil der Christen an der ägyptischen Bevölkerung gibt es stark abweichende Zahlen. Die meisten Schätzungen gehen von 5 bis 8 Millionen aus (zwischen 6 und 10 % der Gesamtbevölkerung). Die Mehrheit davon sind koptische Christen, meistens orientalisch-orthodox, ein kleiner Teil koptisch-katholisch, der Rest verteilt sich auf griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische und protestantische Christen.
15.6 Die soziale Lage der christlichen Mitbürger
Um die soziale Lage der Christen in Ägypten darzustellen, führe ich hier einige ökonomische Statistiken an, die zwei Christen im Jahre 1994 unter der Überschrift „Die Kopten in Ägypten“ veröffentlicht haben, nämlich der Franzose Philip Fargue und der Libanese Rafiq al-Bustani.381 Zwischen 1907 und 1937 stellten die Kopten 8 % der ägyptischen Bevölkerung dar. Danach soll die Zahl der Kopten in Ägypten von 8% auf 7,9% im Jahr 1947, im Jahr 1960 auf 7,3% und dann weiter auf 5,9% im Jahr 1986 gesunken sein. 375 Ibd. 376 Harenberg Aktuell, Mayers u. Brockhaus (Hrsg.), S. 532. 377 Spiegel-dtv-Jahrbuch, 2004, S. 54. 378 CIA World Fact Book, s. o. 379 Vgl. Fischer WA 1996, S. 59, und Fischer WA 1998, S. 58. 380 Vgl. Fischer WA 1996, S. 59, und Fischer WA 2006, S. 50. 381 In: Atlas der arabischen Welt, Ägypten, Verlag al-Mustaqbal al-ʿArabi.
15.7 Ägyptische Christen in der ägyptischen Wirtschaft
427
2006 schwanken die Schätzungen, laut „Spiegel“ zwischen 5 und 8 %.382 Demnach schwankt die Zahl der ägyptischen Kopten zwischen 3 und 10 Millionen. Koptische Quellen im Internet schätzen die Zahl der zum Islam konvertierten Kopten in Ägypten auf 1000 Personen pro Jahr. Die Zahl der zum Christentum konvertierten Muslime wird nach derselben koptischen Quelle auf 100 Personen pro Jahr geschätzt. Vielleicht erklärt diese authentisch-christliche Einschätzung die absteigende Tendenz der Zahl der ägyptischen Kopten.
15.7 Ägyptische Christen in der ägyptischen Wirtschaft
Der Anteil der ägyptischen Christen an der gesamten ägyptischen Wirtschaft sieht nach der genannten Statistik folgendermaßen aus: – 22,5 % aller Firmen, die zwischen 1974 und 1995 gegründet wurden – 20 % der gesamten Bauunternehmungen – 50 % der Beratungsbüros – 60 % der Apotheken – 45 % der privaten Arztpraxen – 35 % der Mitglieder der amerikanischen und deutschen Handelskammer – 60 % der Mitglieder in der französischen Handelskammer – 20 % der Gesamtzahl der Geschäftsleute – 20 % der Investoren in den neuen Industriesiedlungen – 25 % der hoch angesehenen Berufe wie Ärzte, Tierärzte, Apotheker, Ingenieure und Rechtsanwälte. Wie diese Statistik zeigt, besitzen rund 6 % der Bevölkerung zwischen 35 und 40 % der gesamten Wirtschaftskapazität des Landes. Auf dem Gebiet der religiösen Gottesdienststätten kommen nach einer Statistik von 1997 auf eine Kirche je 1250 Menschen, demgegenüber kommen auf eine Moschee je 1227 Menschen.
382 Spiegel, 30. Dezember 2006.
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
15.8 Islamische Sicherheitsgarantien für ägyptische Christen 15.8.1 Beispiele aus der Geschichte
Nachdem ʿAmr Ibn al-ʿAas Ägypten durch die Hilfe ägyptischer Christen von den Byzantinern befreit hatte, hat er den in der ägyptischen Wüste verbannten christlichen Patriarchen Benjamin befreit und ihn wieder auf seinen Heiligen Stuhl gesetzt. Danach schrieb ʿAmr Ibn Al-ʿAs folgende Erklärung für die Ägypter: Diese Urkunde ist von ʿAmr Ibn al-ʿAs für die Ägypter. Sie genießen die Sicherheit für ihr Leben, ihre Religion, ihr Gut, ihre Kirchen, ihre Kreuze, ihr Land und ihre Gewässer. Niemand darf sich in ihre Angelegenheiten einmischen oder ihnen etwas wegnehmen.
Der Bericht über den Fall des Sohnes von ʿAmr Ibn ʿAs, der einen ägyptischen Christen angriff, und die Reaktion des Kalifen Omar Ibn Al-Khattab darauf, sind allen bekannt. Der Kalif Omar reiste eigens aus Medina nach Ägypten, um in diesem Fall Gerechtigkeit walten zu lassen. Er ließ das Opfer vom Täter rächen und sagte ihm dabei: „Schlage den Sohn der Noblen (Idrib Ibn al-akramin), den Sohn des Eroberers und Ägyptens Statthalter.“383 Im 8. Jahrhundert verfasste Al-Laith Ibn Saʿd, einer der größten islamischen Rechtsgelehrten (713–791) eine Fatwa (einen religiösen Rechtsspruch) mit dem Inhalt, dass der Bau einer Kirche zur Entwicklung des gesamten Landes beitrage. Sultan Sulaiman I. (gest. 1529) war derjenige, der aus Spanien vor der Inquisition geflohene Juden in seinem Reich aufgenommen hat. Sie konnten unter seiner Herrschaft sogar hohe Staatsämter besetzen. Der jüdische Philosoph Musa Ben Maimun (Maimunides), der in Ägypten als Leibarzt des berühmten muslimischen Kalifen und Feldherren Saladdin tätig war, ist nur ein Beispiel von vielen. Unter dem ersten ägyptischen Präsidenten Jamal ʿAbd An-Nasser (1918–1970) förderte die ägyptische Regierung durch das Ministerium der islamischen Stiftungen (Auqaf ) in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts den Bau der größten Kathedrale in Ägypten, der Markus-Kathedrale – mit einer finanziellen Unterstützung in Millionenhöhe. Der bekannte deutsche Orientalist und Islamkenner Adam Metz (1917) behauptet in seinem Buch „Die islamische Zivilisation im 4. Jh. H./10. Jh. Chr.“, dass die Christen diejenigen waren, „welche die wirkliche Macht in den islamischen Ländern 383 Hamidullah, M.: Al-Watha’iq As-Siyasiya fi Al-Islam (Die Politischen Dokumente im Islam), 6. Aufl., Dar An-Nafa’is, 1987.
15.8 Islamische Sicherheitsgarantien für ägyptische Christen
429
innehatten und dreihundert Jahre nach der Eroberung Ägyptens durch das muslimische Heer machten die Muslime 25 % der gesamten ägyptischen Bevölkerung aus“.384 Und Peter Heine sagt in dem erwähnten Beitrag: „Bis zum 16. Jahrhundert bildeten die Kopten die Mehrheit unter der ägyptischen Bevölkerung.“385 Hätten die Muslime die gesamte Bevölkerung islamisieren wollen, hätten sie die Macht und die Zeit dafür gehabt und wären sicherlich nicht nach rund drei Jahrhunderten, ja sogar bis zum 16. Jahrhundert, eine Minderheit von 25 % der gesamten Bevölkerung geblieben. Gleiches könnte man über die islamische Herrschaft in Spanien sagen, die mehrere Jahrhunderte gedauert hat – auch dort blieben die Muslime eine herrschende Minderheit. Im Vergleich dazu brauchte die katholische Kirche nur wenige Jahren, um durch die berühmt-berüchtigte Inquisition das ganze Land zu re-christianisieren. 15.8.2 Prominente ägyptisch-christliche Stimmen
Man mag den folgenden Erklärungen bzw. Aussagen einiger unumstrittener christlicher Autoritäten politisches Kalkül unterstellen, dennoch habe ich vor diesen christlichen Autoritäten, die ich zum Teil persönlich kenne, großen Respekt und nehme ihre Aussagen sehr ernst. Denn sie könnten heute als Wegweiser für uns alle gelten und einen erheblichen Beitrag zur Konfliktlösung leisten. Der berühmte christliche ägyptische Nationalführer zur Zeit der englischen Besatzung Makram ʿUbaid Pascha (1889–1960) sagte im Namen der ägyptisch-christlichen Gemeinschaft: National gesehen sind wir Muslime, was aber die Religion betrifft, sind wir Christen; Gott, lasse uns dir gegenüber Muslime (Gottesergebene) und für unsere Nation Helfer sein! Gott, lasse uns Helfer Deiner Sache (nasara lak) und unserer Nation ergebene Diener (Muslimin) sein!386
Der vorherige Patriarch der koptisch-orthodoxen Kirche, Schenuda III., äußerte sich in Zusammenhang mit der Einführung der islamischen Scharia in Ägypten folgendermaßen:
384 Siehe arab. Übers. „Tarikh Al-Hadara Al-Islamiya fil-Qarn Ar-rabiʿ Al-Hijri“, ʿAbdalhadi Abu Raida, Bd. 1., 5. Aufl., Beirut, Dar Al-Kitab Al-ʿArabi o. D., S. 105. 385 S. o. 386 Siehe den Beitrag von Ayyad, Mirvat in: Aqbat Muttahidun, 16. November 2010.
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
Die Kopten fühlen sich unter der islamischen Scharia besser als sonst und genießen mehr Sicherheit. Genauso war es früher, als die Scharia für uns alle galt. Wir sehnen uns heute danach (denn für sie, die Muslime, und für uns Christen gelten die gleichen Rechte und Pflichten).387
Der stellvertretende Patriarch der katholischen Kopten in Ägypten, Bischof Johann Qulta, schreibt in einem Vortrag im Rahmen der 9. Konferenz des Obersten Rates für islamische Angelegenheiten in Ägypten388: Aus islamischer Sicht darf jeder Mensch der Religion, der Glaubensgemeinde oder der Ideologie angehören, die er selbst auswählt. Er genießt die volle Freiheit, seine religiösen Rituale in der Öffentlichkeit wie im Privaten ungestört auszuüben. Ihm steht auch zu, konfessionsfrei zu leben, solange er die ihm gewährte Glaubensfreiheit nicht zum Nachteil der anderen Menschen missbraucht. Der Islam erlaubt keinen religiösen Zwang, auch wenn der Islam als die Staatsreligion in der Verfassung proklamiert ist.
Der bekannte islamische Rechtsgelehrte Imam Schafiʿi, so Qulta, verbot dem muslimischen Ehemann mit seiner christlichen Ehefrau über ihre Religion zu sprechen, um jeden Verdacht auf Manipulation abzuwenden. Weiter sagt Bischof Qulta: Ich bin völlig damit einverstanden, dass ich als christlicher Ägypter in der islamischen Kultur lebe, ich gehe sogar soweit, dass ich mich 100 % als Muslim in Bezug auf die Kultur fühle, ich gehöre zur islamischen Kultur, wie ich sie in der ägyptischen Universität gelernt habe. Ich lernte, dass der Prophet Muhammad den jemenitischen Christen erlaubt hat, ihr Pfingstgebet in der Medina-Moschee zu verrichten. Wenn die islamische Kultur soweit geht, einen Krieg zu führen, um einen Christen aus der Kriegsgefangenschaft zu befreien, und den Menschen zum Status des Gottes-Statthalters erhebt, dann bin ich stolz darauf, dieser Kultur anzugehören. Kulturell gesehen sind wir alle Muslime.389
Der ehemalige Präsident des Obersten Staatsgerichts und Mitglied des ägyptischen Parlaments, Dr. Eduard Az-Zahabi, sagte in der gleichen Publikation390:
387 Al-Ahram, 6. März 1985. 388 Publiziert 1998 in Kairo, S. 400. 389 In: M ʿImara: Die Lüge über die angebliche religiöse Unterdrückung in Ägypten, S. 16–17. 390 Ibd., S. 340.
15.8 Islamische Sicherheitsgarantien für ägyptische Christen
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Der Islam ehrt die Natur des Menschen, diese Ehrung erkennt keine Unterscheidung zwischen den Menschen, weder aufgrund des Geschlechts noch der Religion noch der sozialen Position an. Dies ist im heiligen Koran manifestiert. Der Mensch darf im Islam wegen seiner ethnischen Abstammung oder seiner Hautfarbe oder seines Glaubens oder seiner Religion niemals benachteiligt werden.
„Diese völlige Gleichheit zwischen den Menschen“, so Zahabi weiter, „hat der Islam nicht nur unterstrichen, sondern zu einer unerlässlichen Pflicht jedes Menschen gemacht.“391 Der christliche Intellektuelle Ghali Shukrie sagt: „Die islamische Kultur ist die grundlegende Identität der ägyptischen Kopten. Diese Tatsache muss die koptische Jugend beherzigen. Sie ist die wahrhafte Identität für uns alle.“392 15.8.3 Nun, was tun?
Nichts will ich hier beschönigen. In der Tat gibt es inakzeptable religiös motivierte extremistische Angriffe von einigen indoktrinierten Muslimen auf Kirchen oder kirchliche Einrichtungen in Ägypten, und ebenso von extremistischen Kopten auf Moscheen oder islamische Einrichtungen. Diese gegenseitigen Angriffe sind nicht nur von uns allen zu verurteilen, sondern sie entbehren jeglicher religiöser Grundlage, sowohl christlicher als auch islamischer. Dieser Konflikt stellt, meines Erachtens, eine multidimensionale Herausforderung für die gesamte ägyptische Bevölkerung und vor allem für die gebildete Schicht dar. Ich nenne hier ganz kurz nur einige dieser Herausforderungen: 1. Alphabetisierung der benachteiligten Unterschicht und allgemeine Aufklärung der gesamten Bevölkerung Ägyptens, insbesondere im Bereich des sozialen Zusammenhalts und der Zivilcourage. 2. Eine gemeinsame effektive Reform der Schulpädagogik, besonders in den Fachbereichen Religion und Geschichte. 3. Die Inhalte der islamischen und christlichen Schulbücher für das Fach Religion müssen grundsätzlich positive Informationen über die jeweils andere Religion vermitteln. 4. Wiederaufarbeitung der ägyptischen kulturellen und politischen Geschichte in solcher Art, dass die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Volksgruppen bzw. Religionsgemeinschaften im Vordergrund stehen müssen. 391 Ibd., S. 349. 392 Ibd., S. 355.
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
5. Unabhängige Studien und Statistik aller Religionsgemeinschaften in Ägypten als Vorlage für eine gerechte Vertretung der jeweiligen Religionsgemeinschaft in den öffentlichen Institutionen. 6. Slogans wie „Kopten sind die echten Ägypter“ sowie Bestrebungen nach einer Schwächung oder gar Abschaffung der arabischen Schrift bzw. danach, diese durch lateinische Buchstaben393 oder durch die koptische Schrift zu ersetzen, sollen unterlassen werden. 7. Separatistische Tendenzen sollen von allen ägyptischen Bürgern unmissverständlich und entschieden zurückgewiesen werden. 8. Gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung sollen anstelle von religiöser Engstirnigkeit und Selbstverherrlichung treten und es soll allein die nationale Zugehörigkeit als Referenz für die Gleichheit aller Ägypter vor dem Gesetz gelten. Entweder stellen wir uns alle in aller Aufrichtigkeit diesen und sonstigen Herausforderungen und versuchen, gemeinsam nachhaltige Antworten zu finden, oder wir werden früher oder später von einer unaufhaltsamen Kettenreaktion mit unabsehbaren Folgen eingeholt werden. 15.8.4 Eine Presseerklärung und was daraus hervorgeht
Ende November 2000 wurde eine Erklärung über die Ereignisse von Kuschh394 veröffentlicht, die von hundert intellektuellen ägyptischen Christen und Muslimen signiert wurde. Diese Erklärung würde ich auch heute unterschreiben. Darin wurden diese inakzeptablen Ereignisse aufs Schärfste verurteilt und zu Gegenmaßnahmen aufgerufen und die Einheit der ägyptischen Nation in Gleichberechtigung aller Ägypter beschworen. Die unveränderte Version folgt erst im Anhang, hierbei handelt es sich um eine Zusammenfassung:395 – Ägyptisch-muslimische Intellektuelle solidarisieren sich mit ihren christlichen Mitbürgern und stellen sich gegen jedwede Art von Gewalt und Unterdrückung der ägyptisch-christlichen Minderheit in der gemeinsamen Nation. – Extremisten sind jene, die diese nationale Unruhe stiften, um den ägyptischen Staat politisch zu destabilisieren – und nicht die ägyptischen Muslime schlechthin. – Die Ursachen dieses Konflikts sind bereits in den letzten Jahrzehnten zu verorten und nicht von heute auf morgen entstanden. 393 U. a. der ägyptische Publizist Salama Musa in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. 394 Am 3. Januar 2000. 395 Siehe Anhang I.
15.8 Islamische Sicherheitsgarantien für ägyptische Christen
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– Alle Konflikte eskalierten meistens aus einem fast alltäglichen Streit, an dem Muslime und Christen zufällig beteiligt waren. – Auf beiden Seiten aufgestautes Misstrauen ist immer der Hintergrund für die Eskalierung eines meist harmlosen Streits. Gegenseitige Schuldzuweisung ist das sinnloseste, ja das gefährlichste Mittel, mit dem man diesem Konflikt begegnen kann. Emotionen anheizende Aussagen können nur zu weiteren Eskalationen führen. Mit anderen Worten: Nur rationale und wohlüberlegte Lösungsvorschläge, die auch die historischen Ereignisse berücksichtigen, um sie zu bewältigen, können uns aus diesem Konflikt herausholen und das friedliche Zusammenleben aller Ägypter miteinander wiederherstellen. 15.8.5 „Kommt zu einem Wort des Ausgleichs“ – Ein bislang nicht wahrgenommenes koranisches Friedensangebot
Sure 3:64: Sag: O ihr Schriftbesitzer! Kommt zu einem ausgleichenden Wort zwischen uns (allen) herbei (nämlich), dass wir alle nur Allah (Gott) dienen, und Ihm (sonst) nichts beigesellen, und keiner von uns, anstelle Gottes, einen anderen als seinen Herrn nimmt. Wenn sie (die Schriftbesitzer) sich jedoch abwenden (dieses Angebot ablehnen), dann sagt (ihr Muslime) ihnen: Bezeugt, dass wir Muslime (Gottergebene) sind.
Mit der Bezeichnung „Schriftbesitzer“ sind, wie bereits erläutert, Juden und Christen gemeint. Alle drei Offenbarungsreligionen, Judentum, Christentum und Islam, werden auch als monotheistische Religionen bezeichnet. Die koranische Bezeichnung für Juden und Christen als „Schriftbesitzer“ impliziert bereits die Anerkennung des Originaltextes der Bibel als einer göttlichen Offenbarung, was wiederum in ihrer Bezeichnung als „Offenbarungsreligionen“ enthalten ist. Die Bezeichnung „monotheistisch“ für diese drei Religionen unterstreicht, neben der Anerkennung ihres göttlichen Ursprungs bzw. des Heiligtums ihrer Bücher, die Betonung auf den ersten und wichtigsten gemeinsamen Glaubensgrundsatz, nämlich den festen Glauben an den einen einzigen Gott. Und darum geht es in dem oben zitierten koranischen Vers. Dieses koranische Friedensangebot, das zugleich eine islamische Grundsatzerklärung darstellt, ist, neben anderen koranischen Versen und prophetischen Überlieferungen, jedem gebildeten Menschen, sei er Jude, Christ oder Muslim, bekannt. Sie
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
alle wissen, dass die Kernbotschaft der Bibel in diesem Zusammenhang die gleiche wie die des Koran und der Sunna ist. Dazu gab und gibt es unzählige Dialogschriften, Konferenzen und Begegnungen in vielen Ländern zwischen Wissenschaftlern bzw. Vertretern von allen Weltreligionen insbesondere der Offenbarungsreligionen. Es gibt kaum eine kulturelle Publikation, die auf dieses Thema nicht in irgendeiner Form eingeht. Alle erklären sich bereit, alles zu tun, um den Andersgläubigen näher zu kommen, sie besser zu verstehen und den endgültigen Frieden mit ihnen zu schließen. Das Vatikanum II (1964) war für die Christen in Europa das Startzeichen. Eine der hervorragendsten und mutigsten deutschsprachigen Beiträge auf dem Gebiet der kulturellen religiösen Verständigung zwischen Christentum und Islam sind:Paul Schwarzenaus Werke wie etwa „Korankunde für Christen – Ein Zugang zum heiligen Buch der Moslems“396 sowie „Skizzen zum Verhältnis von Bibel und Koran“.397 Hierin beweist Schwarzenau wie kein anderer ein tiefes und objektives Koranverständnis, er schreckt nicht davor zurück, den Wortlaut des Koran, so wie er ist, zu akzeptieren und demnach zu interpretieren, so z. B. bei Sure 5 (al-ma’ida = der Tisch) Vers 112 ff. in seinem Buch „Korankunde für Christen“398. Er kommentiert diese Verse folgendermaßen: „Der Tisch, der sich niedersenkt, das bedeutet nun nicht nur geistliche Speise, sondern auch leibliche, ein Tisch vom Himmel zum Festtag, und zur Friedensfeier auf der Erde, ein wahrer Gralstisch.“399 Eine ähnliche Interpretation kann man nur bei konservativen muslimischen Koraninterpreten finden. Selbst muʿtazilitische Dogmatiker würden dagegen hier eine allegorische Interpretation vorziehen. Peter Antes bestätigt den islamischen Aufruf zu einem ausgleichenden Wort zwischen den Muslimen einerseits und den Schriftbesitzern andererseits in seinem Beitrag unter dem Titel „Der Islam im Umgang mit Judentum und Christentum“, er schrieb: Wer unvoreingenommen den Koran liest, findet eine Anzahl von Glaubensaussagen, die mit denen der Juden und Christen übereinstimmen. So bekennen alle, dass es nur einen Gott gibt, für den im arabischen Sprachraum, Juden, Christen und Muslime jeweils das Wort „Allah“ (etymologisch: der Gott) verwendet wird. Des Weiteren sind sie sich darin ei396 Schwarzenau, Paul: Korankunde für Christen – Ein Zugang zum heiligen Buch der Moslems, Stuttgart, Kreuz Verlag, 1982 u. 2. Aufl. 1990. 397 Schwarzenau, Paul: Skizzen zum Verhältnis von Bibel und Koran (Religionen im Gespräch – RIG 2), 1992. 398 Korankunde für Christen, s. o., S. 23. 399 Ibd.
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nig, dass dieser Gott die Welt erschaffen hat und durch sein Walten leitet, dass der Mensch sich seinem Tun vor Ihm verantworten muss, wobei Gott der Richter und barmherzig ist, und dass dieser Gott wiederholt zu den Menschen gesprochen hat. Alle glauben an die Existenz der Engel und des Bösen. Die Christen und Muslime sehen schließlich die Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria als ein weiteres Stück des gemeinsamen Glaubens an.400
Martin Bauscke sagt zu Recht im selben Beitrag: „Muslime müssen das Neue Testament studieren, und Christen den Koran. Wer die Heilige Schriften des Anderen nicht kennt, kann keinen sinnvollen Dialog mit ihm führen“.401 Der Anstoß dazu ging jedoch in den 30er Jahren nicht von Europa aus, wie Peter Antes schreibt,402 sondern vom Islam. Der zum Anfang dieses Beitrages zitierte Koranvers sowie einige andere403 liefern den Beleg dafür. Die vorhandenen ältesten islamischen theologischen Werke, insbesondere muʿtazilitische und aschʿaritische Kalam-Werke, sind die verbale Form der in der Tat geführten Dialogsitzungen in den verschiedenen Ländern, die unter der muslimischen Herrschaft seit dem 1. Jahrhundert n. H./7. Jahrhundert n. Chr. stattgefunden haben. Der islamische Aufruf zum Dialog mit anderen Offenbarungsreligionen ist demnach so alt wie der Islam selbst und gehört zu den Bausteinen der Religion. Karl-Josef Kuschel hebt in seinem Buch „Streit um Abraham – Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint“ gemeinsame religiöse Aspekte hervor, indem er zu Recht sagt: Auch der Prophet Muhammad beansprucht die [Abrahamskindschaft] für die Muslime der Sache nach. Hier unterscheidet er sich strukturell in nichts von der Selbstbehauptung des Judenchristen Paulus gegen die Traditionalisten des jüdischen Establishments. Zwar beansprucht Muhammad über Ismael für sich sogar die physische Abrahamskindschaft. Aber der erneuerte Glaube Abrahams, den der Prophet erwecken will, ist davon unabhängig. Ihn kann jeder erlangen, aus welchem Volk auch immer jemand stammt. Der Islam begreift sich von daher zu Recht, ähnlich wie das Christentum, als eine universale Menschheitsreligion.404 400 Antes, Peter: „Der Islam im Umgang mit Judentum und Christentum“, in: Hilf, Rudolf (Hrsg.): Weltmacht Islam, München, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 1988, S. 149– 160. Dieses Zitat stammt von Peter Antes in seinem hier genannten Buch, S. 149–150. Ecivit Polat hat lediglich auf diese Stelle von Antes in seinem Artikel bei der Plattform „Antike Zukunft unter dem Titel „Ist ein Dialog möglich?“ vom 15. Dezember 2012, hingewiesen. 401 Ibd. 402 Ibd. 403 Z. B. 12:108; 16:125; 29:46, vgl. auch 2:62; 4:123; 5:69 und andere. 404 München, Piper Verlag, 1949, S. 246.
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Hinzu fügt er: „Niemand hat so radikal direkt eine ‚Rückkehr‘ zu Abraham gefordert wie der Prophet.“405 Es ist also der Koran selbst, so Fazlur Rahman, der eine Art enger Kooperation zwischen Judentum, Christentum und Islam im Blick hat, und der Juden und Christen einlädt, sich den Muslimen im Hinblick auf ein Ziel des Ausgleichs anzuschließen.406 Die Beiträge von Hans Küng in „Christentum und Weltreligionen“407 und in seinem Buch „Projekt Weltethos“408 unterstreichen nicht nur die gemeinsamen Glaubensgrundsätze und versuchen, Hindernisse und Missverständnisse auszuräumen, sondern gehen viel weiter bis zur Anerkennung der Prophetie Muhammads und dem göttlichen Ursprung des Korans, wenn auch mit einigen Vorbehalten. Eines der beachtenswertesten deutschsprachigen Projekte auf dem Gebiet der Kulturverständigung ist das Projekt von Abdoljawad Falaturi und Udo Tworuschka „Der Islam im Unterricht – Beiträge zur interkulturellen Erziehung in Europa“409. Die positive Auswirkung dieser Pionierarbeit wird sich in den nächsten Generationen sicherlich zeigen. Der bekannte Hamburger Orientalist Albrecht Noth sagt im Rahmen einer Analyse des im Westen missverstandenen islamischen Dschihad: Diese Verbindung von banalem Geschichtsbild und handlichem Beurteilungsraster hat, soweit ich sehe, vor allem drei wesentliche Ursprungsfelder: – Historische Tatsachen, die man in diesem Zusammenhang anführen kann, d. h. Teile dieses Vorstellungskomplexes lassen sich wirklich oder anscheinend verifizieren. – Eine jahrhundertealte und bis heute entscheidend nachwirkende christlich-kirchliche Polemik gegen die „Kriegsreligion“ Islam. – Aussprüche und Aktionen moderner Repräsentanten des politischen Islam, die solchen Vorstellungen entsprechen.410
Über das Bild des Propheten Muhammad in der europäischen Presse sagt Harald Motzki, zutreffend, in seinem Beitrag „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist der Gesandte Gottes“:
405 Ibd. 406 Ibd., S. 271. 407 Küng, Hans: Christentum und Weltreligionen, München, Piper, 1984. 408 Küng, Hans: Projekt Weltethos, München, Piper, 1990. 409 Falaturi, Abdoljawad u. Tworuschka, Udo: Der Islam im Unterricht – Beiträge zur interkulturellen Erziehung in Europa, 7. Bde., Braunschweig 1986–1992. 410 In: Rotter, Gernot (Hrsg.): Die Welten des Islam, Frankfurt/Main 1993, S. 22 ff.
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Muhammad hatte in Europa Jahrhunderte lang eine schlechte Presse. Man verteufelte ihn im wahrsten Sinne des Wortes, wobei Teufel, Ketzer, Lügner oder Heuchler zu den milderen Bezeichnungen gehörten, mit denen man ihn bedachte.411
Weiters erwähnenswert ist der Sammelband „Weltmacht Islam“412. Es gibt außerdem, wie bekannt, viele andere wertvolle wissenschaftliche Beiträge, die hier aus räumlichen Gründen nicht aufgelistet werden können, wie z. B. von Hans Zirker, „Christentum und Islam“, Düsseldorf 1989; von Sigrid Hunke, „Allah ist ganz anders“, Bad König 1990, und von Murad Hofmann, „Der Islam als Alternative“, München 1992. In Anbetracht der erwähnten gemeinsamen Glaubensgrundlagen und der vielen schriftlichen und mündlichen Dialogveranstaltungen zwischen allen drei monotheistischen Religionen sowie den vielen verschiedenartigen Verständigungsformen darf man dann doch die berechtigte Frage stellen, warum wir, Angehörige dieser drei in allen Hinsichten verwandten Religionen, nach 35 aktiven Jahren fast an der gleichen Stelle stehen geblieben sind? Hat es denn noch einen Sinn, so viel Aufwand, Mühe, Zeit und Geld für Dialogkonferenzen und Schriften zu opfern? Diese existentielle Frage müssen sich die Dialogeiferer selbst stellen oder sich durch andere Mitstreiter gefallen lassen. Die Frage, welchen Sinn die Weiterführung des interreligiösen Dialogs unter diesen Umständen und nach dem relativ großen Aufwand noch haben kann, kann man, meines Erachtens, vielleicht nur noch durch eine intensive kulturelle Psychoanalyse beantworten. In den folgenden Punkten werde ich, aus meiner Sicht als muslimischer vehementer Dialogbefürworter, versuchen, diese Problematik auszuleuchten und meine persönlichen Eindrücke unverblümt darzulegen: – Die gegenwärtige politische Situation verlangt von den Muslimen nicht nur ihre Vergangenheit, sondern zusätzlich auch ihre Gegenwart und sogar ihre bereits vorgezeichnete Zukunft zu bewältigen. Pseudo-wissenschaftliche Schriften, in jeder Hinsicht manipulierte und irreführende Massenmedien sowie die rücksichtslose Wirtschaftspolitik des Westens gegenüber den Entwicklungsländern – darunter fallen fast alle islamischen Länder – tragen ihren Anteil dazu bei. – Viele christliche Wissenschaftler, Politiker und Journalisten haben wahrscheinlich immer noch nicht begriffen, dass viele Muslime heute in der Lage sind, zwischen den Zeilen zu lesen bzw. zuzuhören und auf die gleiche Art und Weise schreiben bzw. sprechen können. In der christlichen Welt hört und liest man immer noch 411 Motzki, Harald, S. 11 ff. 412 Hilf, Rudolf (Hrsg.): Weltmacht Islam, München, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 1988.
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die gleichen, inzwischen veralteten, grundlosen Vorurteile über den Islam, was, meiner Meinung nach, ein psychologisches Problem darstellt. Entweder werden Veränderungen in der islamischen Kulturlandschaft absichtlich übersehen, oder sie werden zwar wahrgenommen, aber dann ins Unterbewusstsein verdrängt. – In der christlichen Welt will man scheinbar immer noch nicht wahrhaben, dass die Phase der kritiklosen Bewunderung der Muslime für den Westen jetzt endgültig der Vergangenheit angehört. Kulturelle Gleichberechtigung und gegenseitige Anerkennung sind heute für die Muslime ein Grundrecht und eine nicht zu leugnende Voraussetzung für einen fruchtbaren Dialog. – Die nach christlichem Verständnis unauflösliche Verbindung zwischen dem Fortschritt und der Säkularisierung der Gesellschaft ist in Anbetracht der islamischen Geschichte nicht nur haltlos, sie verrät auch ein tiefsitzendes egozentrisches Kulturverständnis. Betrachtet man die islamisch-politische Entwicklungsgeschichte unvoreingenommen, dann wird man unweigerlich feststellen, dass der Höhepunkt der islamischen Zivilisation und politischen Macht in jener Zeit war, als Politik und Religion am stärksten miteinander verknüpft waren, und dass der Niedergang der islamischen Zivilisation eingesetzt hat, als die muslimischen Herrscher von den Richtlinien ihrer Religion abwichen und sich von persönlicher Machtgier leiten ließen. – Durchschnittliche antiislamische Literatur bzw. Personen werden bedauerlicherweise im christlichen Westen als Freiheitskämpfer und Fortschrittspropheten hochgejubelt und mit den höchsten Auszeichnungen gekrönt. Gemäßigte Literatur und identitätsbewusste Wissenschaftler werden dagegen bestenfalls als unaufgeschlossen und konservativ degradiert, und auf diese Weise verschwindet die goldene Mitte aus der westlichen Skala. – Die Angst der christlichen Welt vor einer islamischen Großmacht ist wegen einiger negativer Beispiele sicherlich nicht unbegründet, jedoch würde eine unvoreingenommene Betrachtung der islamischen Weltanschauung dieser Angst jegliche Grundlage entziehen. Der Islam darf nicht wegen einiger muslimischer machtgieriger Despoten missverstanden und entsprechend ausgelegt werden. Er darf noch weniger in die Rolle des Ersatzfeindes für den Westen gedrängt werden, denn diese gefährliche, ungerechtfertigte Betrachtungsweise könnte für beide Seiten unabsehbare Folgen haben. – Sehr tief ist die Enttäuschung der Muslime darüber, dass Juden und Christen die islamische Toleranz, die sie unter der islamischen Herrschaft lange genossen haben, nicht nur nicht erwiderten, sondern im Gegenteil muslimische Länder lange Zeit besetzt hielten, ausbeuteten und zum Teil Muslime, wie in Palästina durch die Zionisten mit Hilfe der Christen, aus ihrer Heimat vertrieben. – Im christlichen Westen bevorzugen Dialogveranstalter und förderer sehr oft für sie
15.8 Islamische Sicherheitsgarantien für ägyptische Christen
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maßgeschneiderte muslimische Gesprächspartner, die jedoch einen der westlichen Weltanschauung angepassten Islam vertreten. andere glaubens- und identitätsbewusste Muslime sind für sie nicht akzeptabel, sie werden als konservativ und unaufgeschlossen abgestempelt. Auf diese Art und Weise wird aus dem angestrebten Dialog bestenfalls ein Monolog. – Oft habe ich den Eindruck, dass viele aktive christliche bzw. jüdische Dialogpartner den Dialog an sich als das höchste Ziel ihres Bemühens betrachten. Meinen sie vielleicht damit, dass sie sich dadurch genug herablassen, oder organisieren sie Dialogveranstaltungen nur dafür, um ihr Gewissen zu befriedigen? Oder streben sie den Dialog ganz einfach deshalb an, weil er eine Art Mode und ein Zeichen der Aufgeschlossenheit und Toleranz in unserer Zeit geworden ist, um nicht zu sagen, dass der Dialog uns als die einzige Alternative zum direkten Zusammenprall der verschiedenen Religionen übrig geblieben ist? Angst und nicht Überzeugung wäre dann der eigentliche Grund für den Dialog, was ein Armutszeugnis für uns alle darstellen würde. – Oft müssen sich muslimische Dialogteilnehmer zusätzlich mit innerislamischen Vertrauensproblemen auseinandersetzen. Sie geraten nämlich zwischen Hammer und Amboss. Einerseits hält man sie im Westen für sehr konservativ und andererseits hält man sie in bestimmten islamischen Kreisen für sehr verwestlicht. Um diesem Teufelskreis zu entkommen bzw. einen aussichtsreicheren Dialog zu führen, bedarf es einer aufrichtigen Aufklärung auf beiden Seiten. – Und schließlich: Die Tatsache, dass 1,2 Milliarden Menschen dem Islam angehören, müsste ein ausreichender Grund für seine Anerkennung als eine wahre und wahrhaftige Religion durch Juden und Christen sein. Wie kann man sonst von einer Gleichberechtigung aller Dialogpartner sprechen? Die Muslime haben dies längst durch verschiedene Koranaussagen413 und prophetische Überlieferungen sowie später in der Praxis vorgezeigt. Jedes der gerade erwähnten elf Hindernisse des Dialogs kann wiederum in drei Kategorien zusammengefasst werden: – Historisch-politische Probleme, die durch langwierige Konflikte zwischen den beiden Dialogpartnern entstanden und an manchen Stellen noch nicht endgültig beendet sind, wie z. B. in Palästina und in Bosnien-Herzegowina. – Religiös-dogmatische Hindernisse wie z. B. die Nichtanerkennung des Islams als einer echten Offenbarungsreligion durch die Kirche. Auch die seriöse Formulierung des Vatikanums II (1965) diesbezüglich ist nicht ausreichend, vergleicht 413 Siehe u. a. Sure 2:285.
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15 Die Lage der christlichen Mitbürger in Ägypten – Einladung zu einer sachlichen Diskussion
man diese interpretationsfähige Formulierung mit der des Korans gegenüber den Schriftbesitzern. – Hindernisse, die mit der Mandatsberechtigung des Dialogpartners als Vertreter seiner Religionsgemeinschaft zusammenhängen. Ein berechtigter Dialogpartner soll die allgemein anerkannten Richtlinien seiner Religion vertreten und nicht seine eigenen persönlichen Ansichten oder Ansichten, die dem anderen Dialogpartner angepasst sind, anderenfalls hat man es ausschließlich mit einer Selbstdarstellung zu tun. Der religiöse Dialog ist aus seiner Natur heraus viel komplizierter als der politische oder rein kulturelle Dialog. Denn es geht beim religiösen Dialog nicht um materielle oder soziale Interessen, die sich ständig den Zeitbedingungen anpassen können, oder die je nach eingetretenen neuen Entwicklungen und Bedürfnissen teilbar und verschiebbar sind. Bei einem religiösen Dialog handelt es sich vielmehr um einen Teil des tiefsten Bewusstseins des Menschen, um seine gesamte Identität und sein Dasein als ein fühlendes Geschöpf. Daher betrachte ich es als absurd, den Dialog als einen effizienten Weg für die Bekehrung bzw. Missionierung zu verstehen. Vielleicht liegt hier noch eine Erklärung für die nicht zufriedenstellenden Ergebnisse des bis heute stattgefundenen Dialogversuchs in allen Formen vor. Dialog darf ausschließlich eine aufklärende Aufgabe haben, denn es gibt so viele bewusste und unbewusste Missverständnisse, Vorurteile und sogar unübersehbare von Menschen gemachte Feindseligkeiten zwischen den Angehörigen der drei Offenbarungsreligionen, die eigentlich, in Anbetracht ihres gemeinsamen Ursprungs und sehr ähnlichen Glaubensbekenntnissen, nicht existieren dürften. Michael von Brück bemerkt zu Recht: Im Dialog der Religionen geht es nicht darum, Positionen gegeneinander auszuspielen oder die Unterschiede zu verwischen, sondern darum, das weite Spektrum polarer Denk- und Erfahrungsmuster sowie unterschiedliche Sinnstrukturen als Pluriformität der Deutungsmöglichkeiten von Wirklichkeit zu erfahren. Daraus folgt die Anerkennung der Pluralität authentischer Lebensmöglichkeiten.414
Die Tatsache, dass die Menschen verschiedenen Glaubensrichtungen angehören, ist ein gottgewolltes Naturgesetz. Wollte Gott, dass alle Menschen nur einen einzigen Weg zu ihm gehen, hätte er uns alle gleich geschaffen. Im Koran heißt es in Sure 5:48: „Wenn Gott es wollte, hätte Er aus der ganzen Menschheit eine einzige Gemeinschaft gemacht.“ 414 Von Brück, Michael: Dialog der Religionen, München 1987, S. 12 f.
15.8 Islamische Sicherheitsgarantien für ägyptische Christen
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Da er uns aber mit verschiedenem Denk-, Handlungs- und Einfühlungsvermögen erschuf, mussten wir verschiedene Wege einschlagen, um zu ihm zu kommen. Die vorherbestimmte Verschiedenheit der Menschen ist aber absolut kein Grund für rassistische oder nationalistische Selbstverherrlichung gegenüber anderen Menschen. Die vorherbestimmte Verschiedenheit der Menschen sollte vielmehr ein Grund für die gegenseitige Ergänzung unter allen Menschengruppen sein, da sie verschiedene Berufe, Gedanken und Lebensmöglichkeiten haben. Maßgebend bei der Bewertung eines Menschen oder einer Menschengruppe ist der geleistete Beitrag zum Wohle der Menschheit. Diese Weltanschauung ist im Koran in Sure 49:13 folgendermaßen konzipiert: Ihr Menschen, Wir haben euch (gleichsam) von einem männlichem und einem weiblichen Lebewesen geschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch (auf Grund der genealogischen Abstammung) untereinander im Guten kennt (kooperiert). Der Vornehmste (der Beste) unter euch bei Gott ist derjenige, der Gott am meisten fürchtet (den göttlichen Anweisungen Folge leistet).
Vielleicht ist die in Europa tiefsitzende Angst vor dem Islam als eine religiöse und kulturelle Herausforderung im negativen Sinne zu sehen, wie auch die Angst der Muslime davor, doch keine Besserung ihrer Situation durch den Dialog zu erzielen. Diese Ängst scheinen der Hintergrund für die nicht zufriedenstellenden Ergebnisse der bisherigen Dialogarbeit zu sein. Der Islam ist aber weder ein Feind des Christentums noch ein Ersatz für die Moderne. Er versteht sich vielmehr als eine konstruktive Herausforderung und eine notwendige Ergänzung der Moderne. Dies hat er immer wieder in seiner Entwicklungsgeschichte bewiesen. Bevor wir sagen: „Ohne Religionsfrieden gibt es keinen Weltfrieden“, müssen wir sagen: „Ohne Pressefrieden keinen Religionsfrieden.“ Mit den hoffnungsvollen Worten, mit denen Paul Schwarzenau sein hervorragendes Buch „Korankunde für Christen“ abgeschlossen hat, möchte ich ebenfalls diesen Beitrag abschließen, nämlich: Aus dem Nacheinander [der Propheten Moses, Jesus und Muhammad] wird so ein Miteinander, das Miteinander eines Bruderpaars aus dem gemeinsamen Urbild Mose, Jesus und Muhammad.415
415 Schwarzenau, Paul: Korankunde für Christen, s. o., S. 126.
16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht 16.1 Zur Methodik des Dialogs
Der Inhalt des Wortes „Dialog“ wird im Koran durch zwei arabische Begriffe, nämlich „Hiwar“ und „Jidal“ mit einer kleinen Abweichung wiedergegeben. Beide arabischen Begriffe kommen in Sure 58 vor, die den Namen „al-Mujadala“ (= Dialog bzw. Diskussion) trägt. Manchmal wird das arabische Wort „Daʿwa“ (Aufruf zum Wege Gottes) im Sinne von „Dialog“ verwendet. In Sure 18 (al-Kahf = Die Höhle) wird das Wort „Hiwar“ einmal im positiven, als konstruktiver Dialog, und einmal im negativen Sinne, als ein sinnloser Disput verwendet. In Sure 16 (an-Nahl = Die Bienen), Vers 125, kommen die erwähnten zwei Begriffe, „Daʿwa“ und „Jidal“ vor. An dieser Stelle zeigt uns der Koran drei Wege bzw. Stufen oder Methoden auf, wie wir Muslime mit Nichtmuslimen einen Dialog führen sollen. Dort heißt es: „Lade ein zum Wege deines Herrn mit Weisheit und guter Ermahnung und debattiere mit ihnen auf die beste Art und Weise. Dein Herr ist es, der am besten weiß, wer von Seinem Weg abwich und wer sich rechtleiten ließ.“ Weisheit, gute Ermahnung und die beste Art des Debattierens sind die koranischen Wegweiser bei der Dialogführung mit Andersgläubigen. Jede empfohlene Art des Dialogs ist für eine bestimmte Gruppe von Menschen vorgesehen, bei der sie am besten wirkt. „Weisheit“ drückt eine rationale Art des Debattierens mit Gesprächspartnern aus, die einen bestimmten Bildungsstand besitzen. „Gute Ermahnung“ wäre bei Menschen angebracht, die eher emotional ansprechbar sind. Mit Menschen, die sich erst nach langer Diskussion neuen Überzeugungen öffnen, soll man „auf die beste Art und Weise“ diskutieren. Die Sunna des Propheten Muhammad enthält zahlreiche Aussagen (Hadithe), die den destruktiven Argumentationsaustausch im Bereich der Religionen verbieten. In einem authentischen Hadith heißt es: „Lass dich ja nicht auf einen Streit und auf einen nutzlosen religiösen Disput ein“ (Darimi, Muqad). Insbesondere den sinnlosen Disput über interpretationsfähige Koranverse (mutaschabihat) hat der Prophet Muhammad verboten. Ein vieldiskutiertes Thema unter den muslimischen Gelehrten, verstärkt in den ersten vier Jahrhunderten nach der Hijra, war das sogenannte „Qadar-Problem“ bzw. das „Prädestinationsproblem“, worüber es zahlreiche interpretationsfähige Koranverse gibt. Die bekanntesten Hadith-Sammlungen, u. a. Buchari, Muslim und Abu Dawud, enthalten viele authentische Hadithe, die den sinnlosen Disput über dieses
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
Problem verbieten. Der interreligiöse Dialog im Allgemeinen scheint heute für viele Religionswissenschaftler, aber auch für Politiker die einzige verbliebene Möglichkeit zur Lösung der bedrängenden Konflikte zu sein. Zahlreiche Werke verschiedener Art und unterschiedlichen Umfangs, die dieses Thema behandeln, wurden in den letzten Jahrzehnten von Wissenschaftlern und Journalisten veröffentlicht. Dabei gingen allerdings die Meinungen über die Erfolgsaussichten solcher Dialogunternehmungen weit auseinander. Die Einstellungen schwankten zwischen euphorischem Optimismus und verzweifeltem Pessimismus in verschiedenen Schattierungen. Kein Wunder in einem Zeitalter, in dem Gewalt immer schneller eskaliert und die Unterschiede zwischen scheinbaren Siegern und Besiegten von Mal zu Mal kleiner werden und so jede kriegerische Auseinandersetzung sinnloser wird. 16.1.1 Notwendigkeit des Dialogs
Der Aufruf zum Dialog ist, meines Erachtens, ein Ausdruck der Verzweiflung und zugleich des Erwachens der menschlichen Intelligenz, da weltweit die Ansicht wächst, dass Probleme nicht durch Gewaltanwendung gelöst werden können. Er ist also eine logische und zugleich notwendige Entwicklung, die daher jeder Unterstützung wert ist, auch wenn sie ausschließlich aus dem Scheitern der alten Denk- und Handlungsformen herrührt. Der Tübinger Theologe Hans Küng konzipiert diese These in einigen seiner Werke, insbesondere in „Christentum und Weltreligionen“ und in seinem „Projekt Weltethos“, die in der Tat einen beachtenswerten und konstruktiven Versuch darstellen, aus den historischen Erfahrungen eine Lehre zu ziehen und sich dementsprechend mit Vehemenz und Mut für Verständigung einzusetzen. In den genannten Werken strebt Küng mit großem Optimismus den Dialog zwischen allen Weltreligionen an, insbesondere zwischen den drei Offenbarungsreligionen, d. h. Judentum, Christentum und Islam, und sieht dies als den einzigen sinnvollen Weg, den Herausforderungen unseres modernen Zeitalters sowie der Vorbereitung auf das angebrochene „Postmoderne“-Zeitalter gerecht zu werden. 16.1.2 Hans Küngs Projekt „Weltethos“
– Die positiven Aspekte der Offenbarungsreligionen werden unterstrichen und die negativen werden zwar erwähnt, sie treten jedoch in den Hintergrund. – Die Authentizität bzw. Souveränität aller betroffenen Religionen wird anerkannt und akzeptiert. – Durch den Dialog wird keine Einheitsreligion, sondern eine Art Koalition zwischen eigenständigen Religionen angestrebt.
16.1 Zur Methodik des Dialogs
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Doch bei zu großem Optimismus besteht die Gefahr, dass grundlegende hemmende Faktoren unbewusst unterstützt werden. Ganz gewiss gibt es zwischen den drei Offenbarungsreligionen, wie Küng zu Recht betont, grundsätzlich gemeinsame Werte, Normen und Ziele, wie den Glauben an den einen Gott, der die Menschen liebt und dies durch seine Offenbarungen zum Ausdruck bringt. Die zehn Gebote gelten als Handlungsnormen nicht nur für Juden, sondern ebenso für Christen und Muslime. Dennoch reicht diese Grundlage, meiner Meinung nach, allein nicht aus, um die Parteien im Dialog der monotheistischen Religionen einander näher zu bringen. Denn neben den interreligiösen Missverständnissen gibt es zahlreiche interreligiöse kontroverse Auffassungen und Textinterpretationen der Heiligen Schriften innerhalb der jeweiligen Religion. Hauptsächlich diese erschweren den Dialog und lassen oft die Gemeinsamkeiten in den Hintergrund treten. So geht es z. B. innerhalb der islamischen Gemeinschaft um die Frage, ob Juden und Christen heute als Monotheisten bezeichnet werden können, oder ob diese Bezeichnung nur jene betrifft, welche die absolute Einheit Gottes von schwer definierbaren Dogmen, wie z. B. der tritheistischen Auffassung der Trinitätslehre, fernhalten. Andererseits ist der Islam grundsätzlich nicht nur zum Dialog mit anderen monotheistischen Religionen bereit, sondern macht dies auch zu einem islamischen Gebot. Im Sure 16:125 heißt es: „Rufe zum Weg deines Herrn durch Weisheit und guten Rat und diskutiere mit den anderen auf die beste Art.“ Juden und Christen, die im Islam ehrenvoll als „Schriftbesitzer“ bezeichnet werden, gebietet der Koran eine besonders rücksichtsvolle Umgangsform. Sure 29:46: „Ihr dürft nur auf die beste Art und Weise mit den Schriftbesitzern (ahl al-kitâb) diskutieren.“ 16.1.3 Hindernisse
Belastend für den Dialog sind jedoch Auslegungen einiger Koranverse, wie z. B. 5:73: „Ungläubig geworden sind diejenigen, die sagten, Gott sei Einer von Dreien.“ Noch schwerwiegender als dieser Vers sind zwei gleich lautende weitere Aussagen in Sure 5:17, 72: „Ungläubig sind diejenigen, die sagen, Gott sei Christus, der Sohn Marias.“ Der Streit innerhalb der Kirche über die Natur Christi vom 4. Jahrhundert n. Ch. an, der verschiedene Konzilien in den Jahren 325, 381 und 430 hervorgerufen hat, ist das einzige Argument für die muslimischen Dialogbefürworter, um ihre Position gegenüber anderen Glaubensbrüdern vertreten zu können. Was aber die Juden betrifft, heißt es u. a. in Sure 5:82:
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
Du wirst sicher finden, dass diejenigen Menschen, die sich den Gläubigen (den Muslimen) gegenüber am meisten feindlich zeigen, Juden und Polytheisten sind, und du wirst sicher finden, dass diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, diejenigen sind, die sich „nasara“ (Christen) nennen, deshalb, weil es unter ihnen Priester und Mönche gibt, und weil sie nicht hochmütig sind.
Die genannten Koranverse werden von Koranexegeten kontrovers aufgefasst und interpretiert. In Bezug auf die Christen gingen bzw. gehen die Meinungen der muslimischen Koraninterpreten darüber auseinander, ob alle Christen tatsächlich daran glauben, dass Gott einer von Dreien sei, und demnach als Ungläubige, d. h., nicht mehr als Monotheisten betrachtet werden können, oder ob sich diese Aussage auf eine bestimmte Gruppe unter den Christen beschränkt. In Bezug auf die Juden sind sich die meisten islamischen Gelehrten darüber einig, dass sie aufgrund ihres feindseligen Verhaltens gegen den Propheten Muhammad sowie später im Laufe der Geschichte als Gegner des Islams zu betrachten sind. Dennoch waren die Muslime während der Blütezeit ihrer Macht im Mittelalter gegenüber den Juden toleranter als später die Christen. Juden wie auch Christen wurden in der islamischen Welt stets als Religionsgemeinschaft anerkannt. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Beziehung zwischen Juden und Muslimen ständig verschlechtert. Diese bedauerlichen politisch-religiösen Entwicklungen behindern gegenwärtig einen sinnvollen Dialog zwischen Muslimen und Juden, und dies wird sich vorerst kaum ändern, bis eine grundlegende Besserung im Verhältnis zwischen Muslimen und Juden eintritt, was u. a. eine gerechte Lösung des Palästinaproblems voraussetzt. Die innerreligiöse Problematik unter den Muslimen bezüglich des interreligiösen Dialogs kann in folgenden Punkten dargestellt werden: – Interpretationsbedingte bzw. dogmatische Schwierigkeiten, die durch unterschiedliche Auffassungen der religiösen Texte entstehen. – Individuelle Schwierigkeiten, welche die Befürworter des Dialogs betreffen. – Historische Schwierigkeiten, die durch frühere und gegenwärtige negative politische bzw. religiöse Erfahrungen entstanden sind. Als exemplarisch für die interpretationsbedingten Schwierigkeiten gilt der Streit um den Geltungsbereich des koranischen Urteils für diejenigen Christen als Ungläubige, die Gott als Einen von Dreien (Tritheismus) ansehen bzw. daran glauben, Jesus Christus sei Gott ähnlich. Der Koran wirft den Juden vor, sie würden Ezra (Uzair) als Gottes Sohn betrachten. In Sure 9:5 heißt es: „Die Christen sagten, Jesus sei Sohn Gottes, und die Juden sagten, Esra sei Sohn Gottes.“
16.1 Zur Methodik des Dialogs
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Ein solches Bekenntnis bei Juden und Christen impliziert neben dem Polytheismus die Personifizierung Gottes, die vom Islam nicht minder als die Götzenanbetung abgelehnt wird. Jüdische Überlieferungen dokumentieren diese Personifizierung, wie z. B. der im 1. Buch Mose überlieferte Streit zwischen Gott und Jakob in Jakobs Zelt, sowie die für Muslime unverständliche Beziehung zwischen jüdischen Schriftgelehrten und Gott. 16.1.4 Innermuslimische Probleme mit dem Dialog
Die individuellen oder genauer gesagt die personenbezogenen Schwierigkeiten resultieren aus der geschilderten Problematik. Sie betrifft jedoch auch muslimische Wissenschaftler, die trotz Widerstand unter Muslimen den interreligiösen Dialog mit Juden und Christen unterstützen, ausgehend von der Überzeugung, dass diese, trotz der unterschiedlichen Auffassung, Monotheisten sind. Die muslimischen Dialogbefürworter werden nicht nur von ihren eigenen Glaubensbrüdern mit Skepsis beurteilt, sondern werden von vielen jüdischen und christlichen Gesprächspartnern als konservative Fundamentalisten abgetan. Sie werden also gleichzeitig mit zwei Fronten konfrontiert, wenn sie weder auf ihre positive Einstellung zum Dialog noch auf ihre eigene Identität als gläubige Muslime verzichten wollen. Die skeptisch eingestellte Gruppe von Muslimen repräsentiert demnach eine Religion, die falsch interpretiert, falsch repräsentiert und missverstanden worden ist, und zwar aus historischen und politischen Gründen, teilweise auch aufgrund des Verhaltens einiger ihrer Anhänger, die sich keineswegs mit den Lehren der Schrift deckt, und teilweise hervorgerufen durch den vorurteilsvollen Widerstand der Orthodoxie anderer Religionen. Zu liberale Auffassungen des Islams erschweren eher den Dialog, sie führen ihn sogar ad absurdum. Denn eine religiöse Auffassung, die von den meisten Muslimen nicht geteilt wird, wird von ihnen einfach nicht wahrgenommen. Der Dialog wird sich so zu einem nutzlosen einseitigen Monolog entwickeln. Die historischen Schwierigkeiten sind das Ergebnis des langwierigen Konfliktes zwischen Muslimen und Christen einerseits sowie zwischen Muslimen und Juden andererseits. Zweifellos wurde der Religion eine maßgebende Rolle in diesen Konflikten eingeräumt. Inwiefern jedoch tatsächlich religiöse Interessen im Vordergrund standen, und diese nicht bloß als Vorwand für politische Machtgier dienten, konnte nie mit Sicherheit festgestellt werden. Der Streit um die Macht und um die Herrschaft über die anderen war dennoch stets der Beweggrund für alle bislang bekannten feindseligen Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der drei an sich verwandten und sich gegenseitig ergänzenden Offenbarungsreligionen. Auch waren und sind politische und wirtschaftliche Interessen bei allen Auseinandersetzungen
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
unverkennbar. Diese Feindseligkeit, die religiöse, kulturelle und politische Formen annahm und bereits mit der Entstehung des Islams begann, verschärfte sich im Laufe der Geschichte und offenbarte sich in manchen islamischen Eroberungen sowie in den Kreuzzügen und schließlich in der Kolonialherrschaft über die islamischen Länder bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese Situation wurde durch die westliche Unterstützung der zionistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts aussichtslos und erreichte ihren Höhepunkt in der Besetzung, ja Annektierung des größten Teils Palästinas bzw. dessen Umwandlung in einen jüdischen Staat. Die Muslime können nur schwer einsehen, dass sie für eine machtpolitische Fehlentwicklung in Europa eines ihrer Länder preisgeben müssen. Und dieses Verhalten der christlichen Welt und des jüdischen Staates vertieft nicht nur das Misstrauen gegenüber Christen und Juden, sondern bietet zusätzlich ein vernichtendes Argument für die Gegner des interreligiösen Dialogs bzw. gegen seine muslimischen Befürworter. Ihnen könnte nicht nur religiöse Untreue, sondern auch politischer Verrat unterstellt werden, denn Politik und Religion sind im Islam bekanntlich untrennbar. Die Toleranz der Muslime gegenüber Andersgläubigen während der Zeit ihrer Herrschaft wurde weder von Christen noch von Juden erwidert. Das daraus resultierende Misstrauen der Muslime kann daher nur durch einen politischen und religiösen Paradigmenwechsel im Bereich des religiösen und politischen Verhaltens des Westens bzw. der Juden gegenüber den Muslimen abgebaut werden. Die genannten politischen und wirtschaftlichen Missstände können in folgenden Punkten zusammengefasst werden: – Der Islam als Religion wird im Westen pauschal für den wirtschaftlichen Rückstand in den meisten islamischen Ländern verantwortlich gemacht. Außerdem werden die Muslime besonders in der letzten Zeit mit zunehmender Überheblichkeit und Diskriminierung in den westlichen Ländern konfrontiert. – Die sogenannte Entwicklungshilfe für die sogenannte Dritte Welt, die zum Teil aus Menschen muslimischen Glaubens besteht, hat bisher die erhoffte Wirkung verfehlt und entpuppte sich oft als Selbsthilfe für den Westen. – Die Kluft zwischen Reichen und Armen wurde durch diese Hilfe nur noch tiefer, da die Entwicklungspolitik nur einer bestimmten Schicht zugutekommt, die ohne Rücksicht auf den Rest der Bevölkerung noch kaufkräftiger gemacht wurde. – Der bis vor etwa zehn Jahren bestehende Konflikt zwischen Ost und West wurde bis zuletzt auf dem Rücken der unterentwickelten Dritten Welt ausgetragen. – Diktatoren in Afrika, Asien und Lateinamerika wurden zum großen Teil von den westlichen Ländern und der Rest von osteuropäischen Despoten unterstützt, obwohl sie ihre Länder mit Wissen des Westens ausgebeutet haben.
16.1 Zur Methodik des Dialogs
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– Machtgierige Politiker sowie desorientierte und desorientierende Wissenschaftler in der islamischen Welt wie auch im Westen können sich der Verantwortung für die Unterentwicklung in der Dritten Welt nicht entziehen. – Das „schizophrene“ Verhalten des Westens in Bezug auf das Palästinaproblem und neuerdings im Golfkrieg: In der Golfregion hat sich das Misstrauen der Muslime gegenüber der christlichen Welt verstärkt und damit auch den angestrebten interreligiösen Dialog belastet. Die Auswirkung dieser Haltung zu unterschätzen ist auf lange Sicht ein historischer Fehler, der unübersehbare Folgen für die nächsten Generationen nach sich ziehen wird.
16.1.5 Ermutigung zum Dialog
Dieser nicht gerade ermutigende Zustand sollte dennoch die Dialogbestrebungen nicht hemmen, sondern diese jetzt noch notwendiger denn je machen. Die Muslime wären zum Dialog noch mehr ermutigt, wenn dabei ihr Anliegen auch ernsthafter als bisher berücksichtigt würde, zumal das muslimische Anliegen den erklärten Zielen des Dialogs in keiner Weise widerspricht. An erster Stelle erwarten die Muslime von den anderen die Anerkennung der Authentizität des Islams, seines Propheten und des Korans. Die Muslime anerkennen nämlich ihrerseits bereits die Authentizität des Judentums und des Christentums, entsprechend dem Koranvers 29:46. Dort heißt es: „Sagt: Wir glauben an das, was uns offenbart wurde, sowie an das, was euch (Juden und Christen) offenbart wurde, unser Gott ist mit eurem identisch, wir sind Ihm ergebene Diener.“ Der absolute Monotheismus soll weder durch Tritheismus noch Personifizierung Gottes beeinträchtigt werden. Die Anerkennung der absoluten Gleichheit aller Menschen vor Gott soll für alle selbstverständlich sein. Diesbezüglich heißt es im Koran (Sure 49:13): Ihr Menschen, wir haben euch alle von einem männlichen und einem weiblichen Lebewesen geschaffen, und wir haben euch zu verschiedenen Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch (aufgrund der gemeinsamen genealogischen Verhältnisse) untereinander im Guten kennt (in einer guten Beziehung zueinander steht). Der Edelste bei Gott ist (nur) derjenige, der Gott am meisten ehrfürchtet.
Eine weitere positive Koranaussage, welche die Anerkennung der Offenbarung des Judentums und Christentums unterstreicht, lautet in Sure 2:285: Der Prophet (Muhammad) glaubt an das, was ihm von seinem Herrn geoffenbart wurde, ebenso die Gläubigen (die Muslime), alle glauben an Gott, seine Engel, seine (Heiligen)
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
Schriften und seine Gesandten. Wir machen keinen Unterschied zwischen seinen Gesandten. Und sie sagen: Wir hören und gehorchen.
Auch nach dem zweiten Vatikanum Mitte der 60er Jahre ist die katholische Kirche in ihrer Toleranz gegenüber den anderen Offenbarungsreligionen nicht so weit gegangen wie diese koranische Aussage. Eine Neuorientierung in Politik, Islamwissenschaft und Medien sowie in den Schulbüchern, die zum größten Teil noch immer auf mittelalterlichen sowie eurozentrischen Vorstellungen basieren, ist unumgänglich. Gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den islamischen Ländern und die Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen Osten, die den Palästinensern die Unabhängigkeit in ihrem Heimatland ermöglicht, sollten realisiert werden. Frieden ist ein islamisches Gebot, das ein Muslim anstreben und einhalten muss. In Sure 8:61 heißt es: „Und wenn sie (die Feinde) sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu und vertraue auf Gott. Er ist allhörend und allwissend.“ Nach dem Koran ist es den Muslimen untersagt, einen Krieg zu beginnen. In Sure 2:190 heißt es: Und kämpfe auf dem Wege Gottes (nur) gegen diejenigen, die euch angreifen, und beginnt nie mit den Kampfhandlungen, Gott liebt nicht diejenigen, die mit dem Kampf zu Unrecht (ohne einen vorausgegangenen Angriff) anfangen.
Gewiss gibt es einige Fälle in der islamischen Geschichte, bei denen dieses Gebot nicht eingehalten wurde, diese dürfen jedoch nicht dem Islam angelastet werden. Die islamische Frühgeschichte vom Propheten Muhammad an bis Ende der islamischen Herrschaft im 15. Jahrhundert weist, wie eingangs erwähnt, einen hohen Grad an Toleranz und Anerkennung anderer Glaubensgemeinschaften, insbesondere gegenüber Juden und Christen auf, von dem wir heute nur noch träumen können, den wir jedoch durch den Dialog wieder erreichen und vielleicht übertreffen können. Von diesem Zustand sind wir momentan jedoch noch weit entfernt, und daher ist der Dialog zwischen den drei Offenbarungsreligionen umso bedeutender. Dabei stellen Dogmatismus und Polemik sowie uferloses Nachgeben, das fast zur Aufgabe der eigenen religiösen Identität führen könnte, eine zusätzliche Belastung für den Dialog dar. Toleranz und Anerkennung des anderen sind selbstverständlich ein Gebot für alle Dialogbefürworter, dieses darf jedoch nicht so weit gehen, dass die Grenzen der eigenen Religion nicht mehr erkannt werden. Zu weit gehende Geständnisse könnten dahin führen, dass die Legitimation der religiösen Vertreterschaft, sprich: die eigene Religion authentisch vertreten zu können, nicht mehr gewährleistet werden kann. Um möglichst viele Gelehrte anderer
16.2 Perspektiven und Grenzen des christlich-islamischen Dialogs
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Religionen für die Teilnahme am religiösen Dialog zu gewinnen, versuchen einige Religionswissenschaftler, wie z. B. Hans Zirker in seinem Buch „Christentum und Islam“, die Grundbekenntnisse der anderen Religionen vielleicht unbewusst infrage zu stellen. Ein derartiger Umgang wirkt auf die Dialogwilligen, nach meiner Überzeugung, eher abschreckend als ermutigend. Michael von Brück hält eine Form der religiösen Konföderation für die sinnvollste Alternative zur Einheitsreligion oder zur „Einheit in Verschiedenheit“, wie er es ausdrückt. Wie schwierig es sein wird, allen oben erwähnten Voraussetzungen und Richtlinien gerecht zu werden, bedarf keiner Betonung. Dennoch führt am Religionsbzw. Weltfrieden kein Weg vorbei, wie Hans Küng in seinem „Projekt Weltethos“ zu Recht unterstreicht.
16.2 Perspektiven und Grenzen des christlich-islamischen Dialogs 16.2.1 Die Wahrnehmungsproblematik des Anderen
Um zu einem konstruktiven Dialog bzw. zu einer aktiven und effektiven gegenseitigen religiösen Verständigung zu gelangen, müssen wir einen Prozess, bestehend aus fünf Schritten, vollziehen: – Das eigene religiöse Selbstverständnis erkennen, festigen und dem anderen objektiv darstellen. – Das religiöse Selbstverständnis des anderen erkennen, nachvollziehen und anerkennen. – Das Bild des eigenen religiösen Selbstverständnisses beim anderen erfahren und mit dem eigenen Selbstverständnis vergleichen. – Das eigene Bild vom religiösen Selbstverständnis des anderen hinterfragen und ggf. korrigieren. – Identitätsbewusst auf den anderen zugehen, mit ihm kommunizieren und den Konsens suchen, um ein Konzept für eine auf Gleichberechtigung basierende konstruktive Koexistenz entwerfen zu können. Das monotheistische Selbstverständnis sowie das Gotteswort-Verständnis im Islam auf der einen Seite und das dem gegenüberstehende Verständnis im Christentum auf der anderen Seite stellen, meines Erachtens, eines der größten Problemfelder auf dem Wege des christlich-muslimischen Dialogs dar. Der christlichen Trinitätslehre, will man sie wörtlich auffassen, steht ein strengst aufgefasster islamischer Monotheismus als totaler Gegensatz gegenüber.
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
Das Gotteswort-Verständnis im Islam als Gottes Wille, das ein Muslim ausschließlich durch das Gotteswort „sei“ identifiziert, steht einem fleischgewordenen Gotteswort, sprich Inkarnation, im Christentum ebenso als totaler Gegensatz gegenüber. Das Gotteswort ist im Christentum Fleisch (Inkarnation), im Islam aber ein Buch (Inlibration) geworden. Die christliche Auffassung von einem menschgewordenen Wort setzt, meiner Meinung nach, eine zweifache Inkarnation voraus. Einmal muss sich Gott in seinem Wort inkarnieren und dann könnte sich das „Gott gewordene“ Wort in Jesus Christus weiter inkarnieren. Dieser Prozess ist, wie wir sehen, sehr kompliziert und rational – soweit man in diesem Zusammenhang von Rationalität sprechen darf – nicht nachvollziehbar. Hier müssen wir nach einer Interpretation suchen, die für uns beide plausibler sein könnte und die Diskrepanz zwischen dem nach christlichem Bekenntnis durch Jesus Christus Mensch gewordenen Gotteswort auf der einen und dem nach islamischem Bekenntnis durch den Koran sinnlich wahrnehmbar gewordenen Gotteswort auf der anderen Seite überbrücken könnte. 16.2.2 Streitpunkte des christlich-islamischen Dialogs
Fünf christliche Glaubensbekenntnisse bzw. Säulen der christlichen Religion bilden den Gegenstand der christlich-islamischen Diskussion und hemmen hintergründig die gegenseitige Verständigung. Sie zeigen zusätzlich die grundlegend unterschiedlichen theologischen Ansätze zwischen den beiden monotheistischen Religionen sehr deutlich: – Die Trinität bzw. die Dreifaltigkeit – Gottessohn und Muttergottes – Gotteswort und der Heilige Geist – Die Erbsünde – Die Kreuzigung Jesu Christi und seine Auferstehung. Mit Ausnahme von Punkt 3 werden alle anderen genannten christlichen Glaubensartikel im Islam kategorisch verneint. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Christen und Muslimen über Gottes Wort und den Heiligen Geist lässt sich durch eine entsprechende Interpretation relativieren. Mit Recht kann man die Frage stellen: Was bleibt dann unumstritten zwischen Christentum und Islam? Oder genauer gefragt: Können die beiden Religionen dennoch Gemeinsamkeiten vorweisen? Auf alle genannten Streitfragen im Rahmen dieses zeitlich und räumlich begrenzten Beitrags einzugehen, ist unmöglich, und daher werde ich mich hier auf die, meines Erachtens, wichtigsten Streitfragen beschränken.
16.2 Perspektiven und Grenzen des christlich-islamischen Dialogs
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Drei Fragen müssen einleitend gestellt werden, um eine Überbrückung dieses Hindernisses zu erreichen: – Inwieweit könnte die Trinitätslehre jede Art von Tritheismus/Drei-GottheitsGlaube ausschließen? – Inwieweit könnte die Dreifaltigkeit ausschließlich als bloße Erscheinungsformen des einen einzigen Gottes verstanden werden? – Inwieweit könnte Gotteswort (Logos) als Gotteswille interpretiert werden?
16.2.3 Erster innerkirchlicher Streit
Bekanntlich gab es den ersten ernsthaften internen christlichen Streit über die Natur Christi vom 4. Jahrhundert an. Dieser nahm im Konzil von Nicäa im Jahr 325 seinen Anfang und wurde 385 und 451 in Konstantinopel fortgesetzt. Der Streit unter den Alexandrinern, Arius und Athanasius im 4. Jahrhundert hat die erste Spaltung in der Mutterkirche eingeleitet. Als direkte Folge dieses innerchristlichen theologischen Streits gab es mindestens zwei voneinander unabhängige Kirchen, nämlich die Nestorianische (5. Jh.), die Anhänger des Patriarchen Nestorius (gest. 451), die insbesondere in Vorderasien, und die Jakobinische bzw. die Monophysiten, die Anhänger von Jakob Baradai (gest. 578), die in Afrika und insbesondere in Ägypten beheimatet waren. Festzuhalten ist die Tatsache, dass die Auffassung von der göttlichen Natur Christi bei dieser Diskussion sehr stark relativiert wurde. Bei der genannten ersten innerkirchlichen folgenreichen Debatte vertraten Arius bzw. die Arianer die Auffassung, dass Christus mit Gott nicht wesensgleich, sondern wesensähnlich sei. Diese Debatte entschied sich zugunsten des orthodoxen Athanasius. Im 5. Jahrhundert vertraten die Nestorianer die Auffassung, dass es in der Person Christi eine göttliche sowie eine menschliche Natur gäbe. Die Monophysiten bzw. Jakobiten akzeptierten die Konzilbeschlüsse von Chalzedon 451 nicht und blieben bei ihrer orthodoxen Auffassung, in der Person Christi nur eine einheitliche gottmenschliche Natur zu sehen. Hans Küng weist hierzu in „Christentum und Weltreligionen – Christentum und Islam“ auf hellenistische Einflüsse im 3. bzw. 4. Jahrhundert als Auslöser dieses schicksalhaften theologischen Diskurses hin. Karl Heussi sieht in seinem „Kompendium der Kirchengeschichte“ den hellenistischen Einfluss insbesondere in Bezug auf den „Logos“ bereits im 2. Jahrhundert. Hierzu wird Philon, dem Gründer des Neuplatonismus (gest. 25), der größte Einfluss beigemessen. Durch St. Augustinus (gest. 430) hat der „Logos“ theosophische Gestalt neuplatonischer Prägung angenommen.
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
16.2.4 Islamische Perspektive
Nach der islamischen Auffassung wurde Jesus Christus als Mensch hingegen von Gott auf wundersame Weise, ähnlich wie Adam, durch einen Hauch vom göttlichen Geist erschaffen. Daher genießt er eine Sonderstellung unter allen Propheten, dennoch bleibt seine Natur aus islamischer Sicht ausschließlich eine menschliche. Über Jesus lesen wir in Sure 3:59: „Wahrlich, Jesus ist vor Gott wie Adam, den Gott aus Staub erschuf und dann sagte Er ihm „‚sei‘ und er war.“ Und in Sure 21:91: „Gedenke Maria, die ihre Keuschheit wahrte, wir hauchten ihr von unserem Geiste ein und machten sie und ihren Sohn zu einem Zeichen für die Welten.“ Über die Schöpfung Adams lesen wir in Sure 38:72: „Einst sagte dein Herr den Engeln: Ich erschaffe einen Menschen aus Lehm, wenn Ich ihn vollendet und ihm aus meinem Geiste eingehaucht habe, werft euch in Ehrfurcht vor ihm nieder.“ 16.2.5 Problemfeld: Stellungnahme des Koran
Als Streitpotenzialträger in diesem Diskurs kann man u. a. vier Koranverse in den oben zitierten Suren 5:72–75 und 116–117 (al-Ma’ida = das Büffet) finden: Vers 72: Ungläubig sind diejenigen, die sagen, Gott sei Jesus Christus, Marias Sohn. Was Jesus Christus sagte, war aber: „Oh Ihr Kinder Israels, dient Gott, meinem und eurem Herrn!“ Wer Gott andere Gottheiten beigesellt, dem hat Gott das Paradies verboten […].
Vers 73: Ungläubig sind diejenigen, die sagen, Gott sei der dritte von drei Gottheiten. Es gibt nur einen einzigen Gott.
Vers 74: Sie sollen doch reuevoll zu Gott zurückfinden und Ihn um Vergebung bitten. Gott ist voller Vergebung und Barmherzigkeit.
Vers 75: Jesus Christus ist nichts anderes als ein Gesandter, dem andere Gesandte vorausgegangen sind. Seine Mutter hat sich die Wahrheit vorgeschrieben. Sie beide waren Menschen, die
16.2 Perspektiven und Grenzen des christlich-islamischen Dialogs
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wie alle anderen Nahrung zum Leben zu sich nahmen. Sieh, wie wir ihnen die Beweise klar darlegen und sieh, wie sie von der Wahrheit abgebracht werden.
Jesus Christus wehrt sich in anderen Passagen ausdrücklich dagegen, dass er jemals die Menschen dazu aufgefordert habe, ihn und seine Mutter als Götter zu betrachten. Vers 116: Gott wird am Jüngsten Tag sagen: Jesus, Marias Sohn! Hast du den Menschen gesagt: Nehmt mich und meine Mutter als zwei Gottheiten außer Allah? Er wird antworten: Gepriesen seist Du! Es ziemt mich nicht, dass ich etwas sage, was ich nicht sagen darf. Hätte ich es gesagt, hättest Du es erfahren. Du weißt, was in mir ist, aber ich weiß nicht, was in Dir ist. Du bist der Allwissende, Der alles Verborgene weiß. (117) Ich habe ihnen lediglich ausgerichtet, was Du mir befohlen hast. Dienet Gott, Allah, meinem und eurem Herrn! Ich war ihr Zeuge, solange ich unter ihnen weilte. Und als du mein Leben beendetest, warst Du der Wächter über sie. Du bist doch der allerhöchste Zeuge, Dem nichts entgeht.
Jesus Christus und seine Mutter genießen daher einen sehr hohen Rang im Koran. Die Geburt Jesu Christi ohne Vater – er wird immer als Jesus Christus, Sohn der Maria bezeichnet – wird als ein Wunder und Zeichen Gottes geehrt. Seine Geburt bzw. Schöpfung geschah nach den diesbezüglichen koranischen Aussagen auf die gleiche Art und Weise wie die Schöpfung Adams, nämlich aus Staub und durch einen göttlichen Hauch in Form des Gotteswortes „sei“.416 Darauf, ob Jesus Christus Gottes Sohn sei, gibt der Koran eine eindeutige Antwort, die in einer kleinen aus vier Versen bestehenden Sure enthalten ist. Sie ist dennoch von größter Wichtigkeit in der islamischen Theologie, nämlich Sure 112 („Die Reinheit bzw. die Exklusivität des Glaubens an den einzigen Gott“). Sie lautet folgendermaßen: „Sprich: Er ist Gott, der Einzige, Gott, der allein Anzuflehende. Weder zeugt Er noch ist Er gezeugt worden. Ihm gleicht niemand.“ Ein weiteres Problemfeld stellt die Kreuzigung Christi dar. Nach koranischer Auffassung wurde Jesus weder gekreuzigt, noch ist er am Kreuz gestorben, vielmehr hat Gott ihn zu sich erhoben. Sein Aussehen wurde auf einen anderen Menschen (Judas?) übertragen, so dass man ihn mit dem anderen verwechselt haben soll. In Sure 4:157 lesen wir: Und sie (die Juden) sagten: Gewiss haben wir den Messias Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Allahs getötet. (In Wirklichkeit) aber haben sie ihn weder getötet noch gekreuzigt, 416 Sure 3:59.
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
sondern es erschien ihnen nur so (als hätten sie es getan). Und diejenigen, die darüber uneinig waren, zweifelten wahrlich daran. Sie haben keine Gewissheit darüber gehabt. Sie folgten lediglich Mutmaßungen. Und Sie haben ihn mit Gewissheit nicht getötet. (158) Nein, vielmehr hat Allah ihn zu sich erhoben. (159) Und es gibt keinen unter den Leuten der Schrift, der nicht noch vor dessen Tod ganz gewiss an ihn glauben wird. Und am Tage der Auferstehung (im Jenseits) wird er (Jesus Christus) über sie Zeuge sein.
Wenn also Jesus Christus weder gekreuzigt wurde noch am Kreutz gestorben sei, dann kann er auch nicht am dritten Tag nach der Kreuzigung auferstanden sein. Der Mensch wurde mit einer reinen Natur, sündenlos, erschaffen. Die Familie bzw. die unmittelbare Umgebung und die Art der Erziehung sind, nach einem authentischen Hadith, dasjenige, das die Glaubensrichtung eines Menschen bestimmt, bis er seine Reife erlangt. Er trägt die volle Verantwortung für alles, was er freiwillig tut, denn Gott hat dem Menschen freien Willen und Handlungsfähigkeit mitgegeben. Alle Menschen sind fehlbar und können jederzeit Gott direkt um Vergebung bitten – Gott vergibt den Menschen immer, wenn sie tatsächlich Reue empfinden. Die Fehlbarkeit des Menschen ist gottgewollt, damit er von seinen Fehlern lernt und ständig mit Gott in Kontakt bleibt. Ein Bittgebet ist Gottesdienst, für den der Mensch zusätzlich belohnt wird. Die höchste Stufe des islamischen Glaubens „Ihsan“ (Großzügigkeit) wird durch einen authentischen Hadith folgendermaßen definiert: „Der Mensch soll bei allem, was er tut, an Gott denken, als ob er Ihn sehen würde. Denn wenn er Ihn nicht sieht, Er (Gott) sieht ihn doch gewiss.“ In einem anderen Hadith heißt es: „Wenn die Menschen keine Fehler und Sünden begehen und dann Gott um Vergebung bitten würden, würde Gott diese Menschen gegen andere austauschen, die Fehler begehen und Gott um Vergebung bitten.“ Dies ist gewiss kein Aufruf oder eine Ermunterung dazu, Fehler zu begehen, sondern vielmehr als Einladung zur Anerkennung der eigenen Schwäche zu verstehen sowie als Erinnerung an die unaufhörliche Vergebungsbereitschaft Gottes, auf die man hoffen darf, gleichwohl, wie schwerwiegend die begangene Sünde ist. Ungerechtigkeit eines Menschen gegenüber einem anderen würde erst von Gott vergeben, wenn der benachteiligte Mensch bereit ist, auf sein Recht zu verzichten bzw. dem anderen das ihm geschehene Unrecht zu verzeihen. Gottes Vergebungsbereitschaft ist bedingungslos und braucht keine Opfer, weder menschliche noch andersartige. Die Auferstehung Jesus wird mehreren Hadithen zufolge kurz vor dem Anbruch des Jüngsten Tages erfolgen. Er werde als Messias (nicht mehr als Prophet) die Menschheit, die inzwischen irregeführt wurde, wieder auf den richtigen Weg zu Gott führen. Er ist aber, wie wir im erwähnten Koranvers (4:116) sehen, wie jeder andere
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Mensch gestorben und dann von Gott erhoben worden. Der Zeitpunkt seines Todes wurde in keiner islamischen authentischen Quelle erwähnt.
16.3 Zwischen Dialog und Einheit der Religionen 16.3.1 Einführung
Drei geistige Elemente kann man in allen großen, vor allem in den monotheistischen Religionen feststellen. Diese sind theologische, philosophische und mystische. Alle diese drei Elemente führen getrennt, aber auch gemeinsam zu Gott. Dazu bedient sich die Theologie einer heiligen Schrift, die Philosophie des menschlichen Verstandes und schließlich die Mystik der Seele. Man kann diese drei Elemente als Stufen des Glaubensweges eines Menschen betrachten. Dabei wird sich der Mensch zunächst in der rein theologischen Phase an einem materiellen Gegenstand, der heiligen Schrift, festhalten. In der philosophischen Phase reflektiert er über den Inhalt der heiligen Schrift, um eine für sich und die andere überzeugende rationale Begründung für seine Glaubensbekenntnisse zu finden. Schließlich, besonders dann, wenn man weder durch den Text der heiligen Schrift allein, noch durch die Reflektion der reinen Vernunft die geistige Ruhe findet, sucht man einen anderen, von Schrift und Verstand unabhängigen Weg, den mystischen Weg durch die Seele. Demnach entwickelt sich der Glaube eines Muslims von einem zunächst materiellen zu einem rationalen und dann schließlich zu einem „irrationalen“, transzendentalen Weg zu Gott. Man darf aber auch nicht übersehen, dass viele Gläubige die erste Phase, also die materielle Form, für völlig ausreichend finden. Sie befürchten, durch rationale oder seelische Betrachtung ihres Glaubens in einen nicht wieder gutzumachenden Irrtum abzufallen. Gerade diese Befürchtung schreckte viele Gläubige nicht nur von Philosophie und Mystik ab, sondern führte zunehmend zur Verketzerung vieler Rationalisten und in einer noch härteren Form der meisten Mystiker. Viele berühmte islamische Mystiker wurden des Pantheismus, Nomismus und Theopanismus bezichtigt. Die Rationalisten unterstellten ihrerseits den Mystikern Irrationalität und die Unfähigkeit, ihre metaphysischen Thesen und Erfahrungen überzeugend zu begründen. Für die Mystiker waren die Schrift-Theologen zu formal, ja nach Rabiʿa alʿAdawiya (gest. 185 n. H./801 n. Chr.), eines der größten und eines der ersten Mystiker im Islam, sogar zu pragmatisch. Ihrer Auffassung nach sollte man Gott nicht aus Furcht vor der Hölle und auch nicht, um ins Paradies zu kommen, anbeten, sondern
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aus reiner Liebe zu ihm, um letzten Endes sein Antlitz zu erblicken. Demnach steht die Gottesliebe (Al-ʿIschq al-ilahi) im Kern der mystischen Philosophie. Die Rationalisten, ob Theologen oder Philosophen, waren für die Mystiker, wie es M. Hofmann zutreffend ausdrückt, zu blutleer. Außerdem bedienen sie sich eines für diese Aufgabe untauglichen Instruments, des menschlichen Verstandes. Dieser kann, nach der Auffassung der Mystiker, die Grenze des Unendlichen nicht durchbrechen, denn er ist auf die Endlichkeit der diesseitigen physischen Erfahrungen unweigerlich angewiesen und so bleibt ihm das Jenseits, also das Metaphysische, verschlossen. Nur die Seele kann die Grenzen der Unendlichkeit durchbrechen und damit das Metaphysische erfahren. Diese metaphysische Erfahrung ist der Seele vorbehalten, weil ihre Natur ebenso metaphysisch ist. Nicht der Verstand wird dabei in Anspruch genommen, sondern der „Geschmack“ (zauq), manchmal auch „Intuition“ (Haus). Gemeinsam haben Theologen und Philosophen eine expansive Aufgabe. Ihnen liegt viel daran, andere von der Richtigkeit ihrer eigenen religiösen Weltanschauung zu überzeugen. Die Mystiker hingegen sind nach innen orientiert. Sie versuchen nie, anderen ihre persönlichen Erfahrungen glaubhaft darzustellen. Ein solcher Versuch wäre auch fatal, denn diese zutiefst persönliche Erfahrung kann, ihrer Natur nach, keiner anderen Person vermittelt bzw. zuteilwerden. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den Mystikern und den Theologen bzw. Religionsphilosophen liegt darin, dass die letztgenannten ihre Belohnung im Jenseits erwarten, während die ersten ihre Belohnung bereits im Diesseits genießen. Daraus resultiert die seriöse Frage nach ihrem Verständnis über die Beschaffenheit des Paradieses bzw. des Fegefeuers im Jenseits. Darin finden wir eine weitere ernsthafte Streitfrage zwischen den beiden oben genannten Parteien. Ebenfalls von existenzieller Bedeutung für die Souveränität der einzelnen Religionen war die pantheistische Weltanschauung der Mystiker. Denn eine solche Weltanschauung würde, nach Ansicht der identitätsbewussten Theologen und Religionsphilosophen, die Grenzen zwischen den verschiedenen Religionen völlig aufheben. Religionen sind demnach gleichermaßen nur als gleichwertige, wenn auch verschiedene Heilswege zu ein und derselben Wahrheit zu verstehen. Damit würden keine ernsthaften Hindernisse vor einem erfolgreichen interreligiösen Dialog mehr stehen. Aber welche Religion will auch heute diese Ansicht akzeptieren und damit ihren Anspruch aufgeben, die einzige wahre Religion zu sein? Dennoch ist Folgendes festzuhalten, wie wir gesehen haben: Es ging bei sämtlichen oben erwähnten drei Gruppen nie um die deistische Frage, ob Gott die Welt lenkt und dass wir ihn anbeten sollen, sondern lediglich um die richtige Art und Weise, wie man Gottes Anweisungen am besten befolgen kann bzw. sich ihm gegenüber verhalten soll.
16.3 Zwischen Dialog und Einheit der Religionen
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16.3.2 Definitionen
Die bisherige Ausführung gab uns kurze Informationen über den Begriff „Mystik“ im Allgemeinen sowie die umstrittene Stellung der islamischen Mystik innerhalb der Islamwissenschaften. Mystik heißt im Arabischen „Tasawwuf“. Dieses arabische Wort ist nach Meinung der meisten islamischen, aber auch der europäischen Fachwissenschaftler, z. B. Louis Massignon, eine abgeleitete Form des Wortes „Suf“, zu Deutsch „Wolle“, und daher bezeichnet das arabische Wort „Sufi“ (ein Mystiker) einen Menschen, der ein Gewand aus Wolle trägt, und er wird als „Mutasawwif“ bezeichnet. Andere Wissenschaftler führten das Wort „Tasawwuf“ auf „Safa’“ (Reinheit) zurück, einige andere führten dieses auf „Suffah“ (ein Platz für die Armen in der Propheten-Moschee in Medina) zurück. Einige wenige Wissenschaftler führten es auf „Sufat al-qafa“ (die Nackenhaare) zurück, da diese Stelle bei den Sufis nicht bedeckt war. Eine Beziehung zwischen dem arabischen Wort „sufi“ und dem griechischen Wort „sophos“ wollen auch T. Nöldecke und H. Corbin nicht sehen. Die erste Definition hat sich somit gegenüber allen anderen in dieser Disziplin durchgesetzt. 16.3.3 Vorgedanken
So gewichtig die Problematik der Theodizee im Bereich der theosophischen Gedankenwelt im Allgemeinen ist, so genießt sie hingegen nicht den entsprechenden Stellenwert innerhalb der islamischen Philosophie, genauer gesagt in der spekulativen Theologie. Dies gilt jedenfalls, solange man sich auf die spezifische Definition des Begriffs der „Theodizee“ beschränken möchte. Man findet zwar den entsprechenden Begriff für die Theodizee im Arabischen „al-aslah“ an vielen Stellen in verschiedenen Zusammenhängen, aber man darf diesen nicht ohne Weiteres mit der Leibniz’schen Theodizee gleichstellen, da die islamische Theodizee, wenn man das so sagen darf, mehr eine jenseitige als diesseitige Theodizee ist. Sie befasst sich hauptsächlich mit der religiösen Pflichtenlehre im Zusammenhang mit Glaube und Unglaube, doch vernachlässigt sie nicht vollständig die Kernfrage der ontologischen christlich-philosophischen Theodizee, in der es um die Frage geht, ob diese Welt die bestmögliche Gottesschöpfung darstellt. Anstelle der göttlichen Vollkommenheit sprach man in der islamischen Theosophie von der göttlichen „Großzügigkeit“ und behandelte die Frage nach der bestmöglichen Schöpfung im Rahmen des Problems der Gotteseigenschaften insbesondere der Allmacht und der Gerechtigkeit. Reichhaltiger an Diskussionsstoff im Zusammenhang mit der Problematik der Theodizee sind die Debatten über die Identifikation der sogenannten „wahren Täterschaft der menschlichen Handlungen“.
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Es ging darum, festzustellen, ob der Mensch als der wahre Täter seiner Taten betrachtet werden darf, oder ob Gott doch noch immer der eigentliche Täter ist, der diese Taten durch die Menschen geschehen lässt, wenn der Mensch diese eine oder andere Tat ausführen will. Der Mensch entscheidet sich also für eine Tat und Gott lässt diese Tat durch ihn geschehen. Aufgrund seines freien Willens wird der Mensch zur Rechenschaft gezogen. Diese These wird in der islamischen spekulativen Theologie als „Kasb(Aneignungs)-Theorie“ bezeichnet. Sie diente als Gegenthese zur „Istitaʿa(Fähigkeits)-Theorie“ nach der der Mensch als der wahre Täter seiner Handlungen betrachtet wird. Man sieht hier deutliche Ansätze für die Diskussion über die Theodizee-Problematik, indem man versucht hat, die Herkunft des moralischen Übels in der Welt ausführlich zu ergründen. Im Rahmen dieser Diskussion spekulierten die Theologen über andere relevante erkenntnistheoretische Fragen, u.a. ob der Mensch fähig sei, allein durch seinen Verstand das Gute und das Böse zu erkennen (Rationalismus), oder aber ob er dabei auf die göttliche Offenbarung angewiesen sei (Traditionalismus). Der theologische Streit über die Definition und die Natur des „Leids“ (Alam) und der „Entschädigung“ (ʿIwad) für das unverdiente Leiden spielte im Zusammenhang mit der Klärung der Theodizee-Problematik ebenfalls eine beachtliche Rolle. 16.3.4 Chronologie
Mit dieser Problematik des Leids und der Entschädigung u.a. befassten sich mehr als alle anderen islamischen Theologen die zwei größten konträren Denkrichtungen, die Muʿtaziliten und die Aschʿariten. Die erstere entstand in der ersten Hälfte des 2. islamischen Jahrhunderts/8. christlichen Jahrhundert. Ihr Gründer war Wasil Ibn ʿAta’ (gest. 131 n. H./748 n. Chr.) Man bezeichnet die Anhänger dieser Schule als „Rationalisten“ oder „Freidenker“. Die zweite Denkrichtung wurde etwa zweihundert Jahren später durch einen ehemaligen Muʿtazilit namens Abul-Hassan Al-Aschʿari (gest. 324 n. H./935 n. Chr.) gegründet. Diese Schule gilt als traditionalistisch. Die Muʿtaziliten waren unter sich diesbezüglich, wie dies sonst in vielen Streitfragen der Fall war, uneinig. Die Meinung, dass diese Welt die bestmögliche Gottesschöpfung sein soll, war bei einigen frühen Muʿtaziliten, wie An-Nazzam (gest. 235 n. H./850 n. Chr.), Abu ʿAli al-Gubba’i (gest. 303 n. H./915 n. Chr.) und Abul-Qasim Al-Kaʿbi (gest. 319 n. H./930 n. Chr.) die Voraussetzung dafür, dass man Gott als „großzügig“ (Gawwad) bezeichnen dürfte. Qadi ʿAbdalgabbar (gest. 415 n. H./1025 n. Chr.), einer der größten Denker der muʿtazilitischen Schule, und einige seiner Schüler lehnten diese These jedoch ab. Sie sahen darin einerseits eine Gefährdung der Allmacht Gottes und andererseits eine
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Anmaßung des Menschen Gott gegenüber, indem er sich herausnimmt, über die göttlichen Handlungen urteilen zu wollen. Die Aschʿariten lehnen jeden Versuch ab, diese Frage rationalistisch zu begründen. Um ihre ablehnende Haltung gegenüber jeglichen rationalistischen Erklärungsversuchen ihrer Gegner, den Muʿtaziliten, zu verteidigen, argumentieren sie jedoch sehr rational. Der Gründer dieser traditionalistischen Schule, Abul-Hassan Al-Aschʿari, war, wie bereits erwähnt, vierzig Jahre lang Muʿtazilit, und konnte sich daher nicht leicht von der Argumentationsmethodik seines muʿtazilitischen Lehrers, Abu ʿAli al-Jubba’i, befreien. Diese Tendenz, nämlich traditionelle Thesen durch rationale Argumentationen darzustellen, hat sich in der Nachfolgerschaft diese Schule, u. a. bei Abu Bakr al-Baqillani (gest. 402 n. H./912 n. Chr.) und Abul-Maʿali al-Guwaini (gest. 478 n. H./1085 n. Chr.) durchgesetzt. Sie erreichte ihren Höhepunkt bei ʿAdudaddin al-’Iji (gest. 756 n. H./1355 n. Chr.) Zu dieser traditionalistischen Schule gehörte auch der wohlbekannte islamische Mystiker Abu Hamid Al-Ghazali (gest. 505 n. H./1111 n. Chr.), der neben seinen berühmten mystischen Werken besonders im Westen durch seine Traktate gegen die griechische Philosophie bekannt wurde. In seiner Person und Weltanschauung als Mystiker vereinigen sich in beachtenswerter Harmonie drei, zumindest äußerlich gesehen, konträre Denkrichtungen, nämlich der Traditionalismus, der Rationalismus und der Mystizismus. 16.3.5 Analytische Betrachtung
Die komplizierte Situation, in der die Muslime in Europa heute leben, verdanken wir einem beiderseitigen Versäumnis, welches sowohl den muslimischen als auch den europäischen Politikern und Rechtswissenschaftlern unterlaufen ist. Beide Seiten haben die Anwesenheit der Muslime in Europa als eine vorübergehende, folgenlose Entwicklung betrachtet, für welche keine besondere Maßnahme notwendig gewesen wäre. Um dieses Versäumnis zu überwinden, muss eine effektivere und gerechtere Integrationspolitik als Grundvoraussetzung für die angestrebte interreligiöse Erziehung geschaffen und konsequent durchgeführt werden. Die Muslime als Minderheit in Europa stehen ratlos vor der gegenwärtigen Situation, denn sie haben bis vor einigen Jahrzehnten nie als Minderheit in einer nichtislamischen Gesellschaft gelebt – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Ausgenommen sind hier beispielsweise die ersten Muslime in Mekka, bevor der erste islamische Stadtstaat in Medina entstanden war. Außerdem lebten einige Muslime im 2. bis 8. Jahrhundert unter der römischen Herrschaft, dabei waren die Machtverhältnisse grundverschieden von der heutigen Situation.
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
Heute befinden sich die islamischen Länder in einer völlig anderen Lage. Die Muslime müssen sich daher eine neue Umgangsform aneignen, um zu einer gerechten und identitätsschonenden Integration zu gelangen und um sich vor einer anbahnenden folgenreichen Assimilation in der westlichen Kultur zu schützen. Und gerade dabei sind Rechtswissenschaftler, Theologen, Soziologen und Politiker in den beiden Kulturkreisen zur Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe aufgerufen. Was die Situation zusätzlich schwieriger und komplizierter macht, ist die Tatsache, dass im 10. Jahrhundert bei einigen muslimischen Gelehrten die Überzeugung entstand, dass sich die islamische Konzeption in allen Bereichen des Lebens bereits vervollständigt habe und keiner weiteren Entwicklung mehr bedürfe. Bedauerlicherweise gewann diese Tendenz mit der Zeit, beeinflusst u. a. von den negativen politischen Entwicklungen, immer mehr Anhänger, was zur Folge hatte, dass das islamische Rechtsdenken Jahrhunderte lang stagnierte. Neue Fragestellungen wurden entweder ignoriert oder nicht mehr zeitgemäß beantwortet. Die traditionelle Rechtsliteratur wurde fast „heilig“ gesprochen und man traute sich nicht mehr, ihre Aktualität zu hinterfragen. Dies geschah, obwohl die islamischen Primärquellen die ständige Hinterfragung der vorhandenen Interpretationen und Rechtsurteile fordern. Der Prophet Muhammad hat auf vergleichbare Rechtsfragen zeitgemäß und situationsgerecht geantwortet und seine Statthalter zum gleichen Umgang bei der Urteilsfindung aufgefordert. Der Islam leidet heute noch unter solchen starren Ansichten, die dem Gesamtbild des Islams mehr schaden als dienen, insbesondere in einer Zeit, in der ein hohes Maß an Sensibilität und Misstrauen gegenüber dem Islam unverkennbar ist. Noch schlimmere Folgen der eigentlich unislamisch blinden Textgläubigkeit zeigen sich in Form einer Fehlhaltung einiger Muslime in Bezug auf die vom Islam befürwortete Loyalität gegenüber der Verfassung und der geltenden Gesetze des Gastlandes. Das Gegenteil davon kann man durch das Beispiel der ersten muslimischen Einwanderer in Abessinien im 7. Jahrhundert belegen. Nur durch die innewohnende Anpassungsfähigkeit des islamischen Rechtssystems in den früheren Jahrhunderten war es der islamischen Gemeinschaft möglich, ihr flächenmäßig großes und kulturell vielfältiges Reich jahrhundertelang aufrechtzuerhalten und die für damalige Verhältnisse höchste Zivilisation hervorzubringen. Die Enttabuisierung der islamischen Rechtsliteratur ist eine Grundvoraussetzung für den Anschluss des islamischen Rechtssystems an die Gegenwart, in der die Muslime in einer ganz neuen Situation, nämlich als Minderheit in einer nichtislamischen Gesellschaft leben, in der sie mit nie dagewesenen Problemen tagtäglich konfrontiert werden. Eine authentische interislamische Reform muss jetzt ernsthafter und konsequent durchgeführt werden, um zu verhindern, dass muslimische Minderheiten in Europa
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nicht integriert, sondern assimiliert werden. Grundlagen für ein solches Unterfangen finden wir bei einigen muslimischen Rechtsgelehrten, wie z. B. bei Schatibi (13. Jahrhundert), insbesondere in seinem Werk „al-muwafaqat“, in dem er den Sinn der islamischen Gesetzgebung (Maqasid at-taschriʿ) in den Vordergrund stellt. Heute arbeiten viele zeitgenössische Rechtsgelehrte, u. a. der Oberste Rat für islamische Angelegenheiten in Ägypten und Scheich Yusuf al-Qaradhawi (Vorsitzender des Obersten Rates für Fatwa in Europa) an einer zeitgerechten Reform des islamischen Rechtssystems, in dem nicht mehr der Wortlaut, sondern der Sinn und der Geist des Schariatextes im Vordergrund stehen. Einige Fragen an die Muslime und einige an die Europäer möchte ich zur Diskussion stellen, deren Antwort nicht nur ein naturgerechtes Bild des Islam in Europa vermittelt, sondern mindestens genauso gut einen konstruktiven selbstkritischen Beitrag zu der angestrebten interkulturellen Erziehung und konstruktiven Integration der Muslime in der europäischen Gesellschaft leisten und einen Bestandteil des Lehrplans darstellen kann. 16.3.6 Fragen an die Muslime in Europa
– Können sich die Muslime in ihrem jeweiligen europäischen Staat organisieren und sich über eine gemeinsame Grundlage, sprich Konsens, bei der Verhandlung mit den Politikern und Behörden in ihrem Gastland einigen? – Können die Muslime ihre internen Streitigkeiten beilegen und mit einer Stimme für ihre Belange sprechen? – Geben sich die Muslime in Europa ernsthaft Mühe, die Geschichte, Kultur und Religion ihrer Gastgeberländer zu verstehen und als eine ebenbürtige Weltanschauung zu akzeptieren? – Verstehen die Muslime in Europa die Rangordnung ihrer religiösen Pflichten und Erleichterungsmaßnahmen und deren Anwendungsbereiche richtig? Können viele von ihnen zwischen Sein und Schein unterscheiden? – Ist den Muslimen in Europa bewusst, dass sie nicht in ihrer Heimat, sondern in einem anderen Land mit einem anderen kulturellen Hintergrund leben und sich mit einem dementsprechenden Identitätsbewusstsein verhalten müssen? – Bekunden die Muslime in Europa ihre Loyalität gegenüber der Verfassung und den geltenden Gesetzen in der Mehrheitsgesellschaft durch ein vorbildliches, konstruktives Verhalten? – Haben die Muslime in Europa alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft, um ihre Religion, Tradition und Meinungen sprachlich und inhaltlich den Europäern richtig zu vermitteln?
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– Interpretieren die Muslime in Europa die Einstellung der Europäer zu den den Islam betreffenden Angelegenheiten immer objektiv?
16.3.7 Fragen an die Europäer
– Ist das westliche Modell des Fortschritts tatsächlich menschengerecht und für andere Kulturkreise ohne Weiteres erstrebenswert? – Enthält die islamische Weltanschauung wirklich keine zeitgerechten Elemente, so dass sie und der Fortschritt sich gegenseitig ausschließen? – Wie erklärt man die Tatsache, dass trotz zahlloser Fachkonferenzen, authentischen Büchern sowie direkten Erfahrungen mit Muslimen sich am Bild des Islam im Westen nichts Wesentliches geändert hat? – In Anbetracht der vielen multikulturellen, akademischen und anderen Institutionen in Europa, die sich mit dem Islam aus verschiedenen Blickwinkeln beschäftigen, erwarten Muslime mehr Einfühlungsvermögen. Ist diese Erwartung berechtigt? – Warum überträgt man im Westen die eigene negative Erfahrung mit dem theokratischen Staat im Mittelalter auf den Islam? Dürfen einige in der Tat negative Beispiele in der islamischen Vergangenheit und Gegenwart unbedacht auf den Islam selbst übertragen werden, und muss man sich demzufolge vor einem mutmaßlichen islamischen Staat in Europa oder anderswo schützen? – Warum macht man den Islam als Religion für jeden Terrorakt verantwortlich, der von fanatischen Muslimen begangen wird? Hingegen werden die Barbareien gegen Muslime, die von Anhängern einiger Glaubensgemeinschaften begangen werden, niemals mit deren Religion in Verbindung gebracht. – Werden Demokratie und Menschenrechte konsequent und mit gleicher Vehemenz überall auf der Welt unterstützt und gefördert? Beeinträchtigt der unter den Muslimen verbreitete diesbezügliche negative Eindruck nicht das für die Integration erforderliche gegenseitige Vertrauen? – Und schließlich: Wann werden nichtmuslimische Orientalisten, Theologen und Religionswissenschaftler damit aufhören, die muslimischen Islamwissenschaftler und Theologen in vielen Fachkonferenzen und Schriften über die islamische Religion belehren zu wollen?
16.3 Zwischen Dialog und Einheit der Religionen
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16.3.8 Erwartungshaltung gegenüber Muslimen in Europa
– Gegenwärtig wird von den Muslimen erwartet, dass sie nicht nur ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart, sondern sogar ihre bereits vorgezeichnete Zukunft bewältigen. Pseudowissenschaftliche Schriften, manipulierte und irreführende Massenmedienberichte sowie eine rücksichtslose Wirtschaftspolitik tragen ihren Teil dazu bei. – Muslime haben ein anderes Verständnis von Fortschritt. Sie sehen in der westlichen Moderne eine einseitige Form davon; einseitig zum einen hinsichtlich der Definition des Fortschritts, zum anderen im Hinblick auf den Nutzungsbereich des erzielten Fortschritts. In der westlichen Moderne sind nationalistische und eurozentristische Aspekte unübersehbar. – Die nach westlichem Verständnis unauflösbare Verbindung zwischen Fortschritt und Säkularisation ist in Anbetracht der islamischen Geschichte nicht nur unbegründet, sie verrät auch ein eurozentrisches Kulturverständnis. Betrachtet man die islamisch politische Entwicklungsgeschichte, stellt man fest, dass der Höhepunkt der islamischen Zivilisation in eine Zeit fällt, in welcher die islamischen Prinzipien die Politik am stärksten geprägt haben. Der Niedergang der Zivilisation hat dort eingesetzt, wo die Herrscher von den islamisch religiösen und politischen Richtlinien abgewichen sind und sich von der persönlichen Machtgier haben leiten lassen. Gewiss gibt es eine positive Auslegung des Aufstiegs und Niedergangs der islamischen Herrschaft. Diese Interpretation schließt die oben erwähnte nicht aus. – Gewisse Literatur mit antiislamischen Zügen wird bedauerlicherweise im Westen als fortschrittlich gefeiert und teilweise sogar mit Auszeichnungen versehen, ungeachtet deren tatsächlichen Wertes. Gemäßigte Literatur und identitätsbewusste Wissenschaftler werden dagegen oft höchstens als unaufgeschlossen deklariert. – Die zuletzt aufflammende Debatte über das Kopftuch und davor jene über das islamische Schächten, welche durch die entsprechende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland ausgelöst wurden, zeigen ein hohes Maß an Sensibilisierung gegenüber Allem, was ein islamisches Prädikat trägt, und ist alles andere als eine vertrauensfördernde europäische Einstellung gegenüber den muslimischen Mitbürgern. – Angesichts der oben erwähnten Erwartungen haben die islamische und die europäische Weltanschauung dennoch Gemeinsamkeiten, welche eine ernsthaft angestrebte, konstruktive, interkulturelle Erziehung der Muslime in ihrer neuen Heimat fördern und eine aufbauende Basis für eine gegenseitige kulturelle Befruchtung darstellen können.
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
16.3.9 Islamische Grundsätze
– Unterstreichen möchte ich vorerst, dass der Islam grundsätzlich niemals Feind des Westens bzw. der europäischen Gesellschaft war und auch heute nicht ist. Wir Muslime sehen viele Ansatzpunkte für eine bilaterale konstruktive Beziehung, sowohl in der islamischen Weltanschauung wie auch in der europäischen. – Die islamische wie auch die europäische Weltanschauung fördert die wissenschaftliche Forschung; diese muss jedoch im Dienste der Menschheit bleiben. Die Folgen der wissenschaftlichen Forschung für die Menschen und die Natur müssen stets berücksichtigt werden. – Die islamische Weltanschauung akzeptiert und fördert das private Eigentum und unterstützt menschenwürdige, wirtschaftliche Investitionen. Diese dürfen allerdings nicht auf Kosten anderer Menschen ausgetragen werden. Wucherzinsen sind deshalb im Islam verboten. – Die islamische Weltanschauung fördert und garantiert die Meinungsfreiheit. Diese darf jedoch nicht die religiösen und sittlichen Gefühle anderer verletzen. Ein islamisch geführter Staat muss eine pluralistische, zeitgerechte Konzeption entwickeln. Früher wurden politische Führungsinstanzen gebildet, dazu gehörten Stammesväter, angesehene Gelehrte und vertrauenswürdige Menschen aus dem Volk. Diese Urform der islamischen Demokratie könnte als gute Grundlage dienen, um eigene traditionsgerechte demokratische Systeme zu entwickeln. – Der Islam, wie auch die europäische Gesellschaft, respektiert die Menschenrechte. Diese sollen für alle Menschen in gleichem Maße gelten, sowohl in friedlichen wie auch in Kriegszeiten.417 – Der Islam erklärt den Umweltschutz zur gesellschaftlichen Pflicht jedes Menschen; denn der Mensch ist nach islamischer Auffassung der Stellvertreter Gottes auf Erden, und die Umwelt ist ein ihm anvertrautes Gut, für welches er Rechenschaft ablegen muss.418 Der Prophet Muhammad sagte diesbezüglich: „Wenn die letzte Stunde der Welt gekommen ist und einer von euch einen Setzling in der Hand hat, muss er ihn trotzdem einpflanzen!“419 – Die islamische wie auch die europäische Weltanschauung ist gegen jede Art der Diskriminierung bzw. für die Gleichheit aller Menschen. Im Koran heißt es: 49:13 „Oh, ihr Menschen, wir haben euch aus einem männlichen und weiblichen Wesen geschaffen, und wir machten aus euch verschiedene Völker und Stämme, euer Ziel 417 Siehe u. a. Sure 2:190; 5:87; 8:16; 60:8–9; 16:91. 418 Siehe u. a. 2:60, 7:74, 11:85, 26:183, 35:39, 29:36, 47:22. 419 Siehe Sahih Al-Bukhari, Kapitel al-adab al-mufrad, Hadith Nr. 479.
16.3 Zwischen Dialog und Einheit der Religionen
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soll sein, euch untereinander im Guten zu kennen. Der Beste unter euch ist derjenige, der Gott am meisten ehrfürchtet.“ – Zum islamischen Grundprinzip der Gleichheit aller Menschen gehört sicherlich die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Zweifellos bedarf die Stellung der Frau auch in islamischen Ländern einer kräftigen Aufwertung. Die bisherige Ungleichheit hat jedoch weder theologische noch terminologische, sondern ausschließlich soziale Gründe, die auf eigennützige und Missinterpretationen des Koran und der Sunna zurückzuführen sind. – In der islamischen Weltanschauung wird allerdings nicht von Gleichheit, sondern vielmehr von einer naturgerechten Rollenverteilung unter dem Gleichberechtigungsprinzip zwischen Frauen und Männern gesprochen. – Die unterschiedliche Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern im Blickfeld der islamischen Weltanschauung basiert auf der unterschiedlichen physischen und sozial-psychischen Natur der beiden Geschlechter, welche als Grundlage für die Rollenverteilung gilt. So steht für die Frau die Rolle der Mutter an erster Stelle. Andere Berufe, insbesondere solche, bei denen sie mit Frauen und Kindern zu tun hat, werden für sie ebenso bevorzugt. Auf gar keinen Fall sind berufliche Einschränkungen vorgesehen, solange sie die islamischen moralischen Richtlinien nicht verletzt. So gab und gibt es bis heute in der islamischen Welt Frauen in allen Berufssparten, auch in technischen Berufen. – Die erste Ehefrau des Propheten, Khadija, mit der er bis zum Ende ihres Lebens, etwa fünfzehn Jahre, monogam gelebt hat, war eine selbständige Geschäftsfrau. Im Koran lesen wir, dass die Männer einen Grad höher als die Frauen stehen (Sure 2:228). Dies impliziert weder eine naturgegebene Abwertung der Frauen noch die absolute Herrschaft der Männer über die Frauen, sondern stellt lediglich eine Gegenleistung für die soziale und finanzielle Verantwortung des Mannes gegenüber der Frau während der Ehe dar. Dies wird in der vorausgegangenen Aussage im selben koranischen Vers deutlich – dort heißt es: „Die Frauen haben (in der Behandlung von Seiten der Männer) dasselbe zu beanspruchen, wozu sie (ihrerseits den Männern gegenüber) verpflichtet sind, dies soll in einer aufrichtigen Form geschehen.“ In Sure 4:34 heißt es: „Die Männer haben die Sorge für die Frauen zu tragen.“420 – Der Islam, wie auch die Moderne, tritt für gegenseitige Akzeptanz ein und ist gegen jede Art von Fanatismus. Im Koran lesen wir in Sure 2:256: „Es darf keinen Zwang im Glauben geben, denn der richtige Weg kann deutlich von dem der Verwirrung unterschieden werden.“ 420 Vgl. die Koranübersetzung von Paret, Rudi, Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 1979; Tafsir Al-Qur’an Al-ʿAzim (Die Koraninterpretation) von Ibn Kathir, Abul-Fida, Dar Tiba, 1999.
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16 Die Problematik des interreligiösen Dialogs aus islamischer Sicht
– Die islamische Weltanschauung berücksichtigt in ausgewogener Weise die verschiedenen Bedürfnisse und Neigungen des Menschen, ob sie nun mystischer, geistiger oder materieller Natur sind. Darin könnte die westliche Moderne eine Ergänzung für ihre einseitige, sprich: materielle Orientierung finden. – Ein islamischer Staat muss pluralistisch sein und darf nie totalitär regiert werden. Dieser Staat wird durch folgende Instanzen geführt: a) Den Koran als göttliche Verfassung, die durch keinen Menschen willkürlich geändert werden kann. b) Einen Beratungsausschuss (Schura), bestehend aus den bestgelehrten, frommsten und aufrichtigsten Mitgliedern der Gesellschaft, wobei die freie Meinungsäußerung für alle gewährleistet sein muss, und schließlich c) Einen Regierenden, der sich dem Koran und der Sunna sowie der überwiegenden Meinung des Beratungsausschusses beugen muss. Dadurch hat man zwar einen pluralistischen, aber keineswegs einen säkularen Staat. Nach einer authentischen prophetischen Überlieferung müssen die Bürger des islamischen Staates ihrem Herrscher gegenüber loyal sein, auch wenn dieser ein „äthiopischer Sklave“ wäre.421 – Ein soziales Netz für die gesamte muslimische Gemeinschaft wird staatlich durch die Zakat-Pflichtabgabe und privat die Familien- bzw. Nachbarschaftszusammenarbeit sowie privaten Wohlfahrtsinstitutionen und sonstigen Spenden garantiert. Dies kommt auch den nichtmuslimischen Mitgliedern der Gesellschaft zugute. Im Koran heißt es in Sure 9:60: Die Spenden sind bestimmt für die Armen und die Bedürftigen und diejenigen, die sie sammeln, und für die Nichtmuslime, die dem Islam nahestehen, und für die Befreiung der Sklaven und für die Hochverschuldeten und diejenigen, die sich für Gottes Sache einsetzen, und für die fremden Reisenden, dies ist eine göttliche Verpflichtung.
421 Siehe Fath Al-Bari, Scharh Sahih Al-Bukhari, Al-ʿAsqalan, Ibn hajar, Kairo, Rayyan Verlag, 1986, S. 6723 u. Vgl. Bukhari, Kapitel al-’imara.
Themenrelevante Anhänge Anhang 1: Erklärung über die Ereignisse von Kushh
Dies ist eine Erklärung über die Ereignisse von Kushh, die von einhundert Intellektuellen Ägyptens unterschrieben wurde, welche sich Sorgen um ihr Vaterland machen. Sie waren sich einig darüber, dass diese Ereignisse, die der Natur des ägyptischen Volkes fremd sind, ein rein internes Problem darstellen, das die Kinder des Landes selbst lösen müssen […]. Weil von diesen Ereignissen eine Gefahr für die nationale Einheit und die Zukunft Ägyptens ausgeht, unterbreiten sie den zuständigen Behörden einige praktische Empfehlungen, die das Problem an der Wurzel anpacken und sich nicht nur mit der Behandlung oberflächlicher Symptome begnügen. Sie sind überzeugt davon, dass diese Empfehlungen geeignet sind, die Ursachen der Spannung zu beseitigen und für die Zukunft derartige Vorkommnisse zu vermeiden. „Erklärung der Hundert“. Aufruf an die Nation. An alle Ägypter
Am Vorabend des neuen Jahres und des Millenniums, als alle Welt feierte, waren wir alle entsetzt zu hören, was sich in Kushh im Regierungsbezirk Sohaj zugetragen hatte: Ein unbedeutender Streit zweier Ägypter, der eine war zufällig Kopte und der andere Muslim, wuchs sich erst zum Handgemenge und dann zur bewaffneten Auseinandersetzung aus. Ihr fielen zwanzig Ägypter zum Opfer, weitere zwanzig wurden verletzt. Im Verlauf der Auseinandersetzung wurden Kioske und Läden in Brand gesetzt und Häuser wurden geplündert. Es ist klar, dass sich die Ereignisse von Kushh, die sich in den ersten Tagen des Jahres 2000 abspielten, aus einer unbedeutenden Meinungsverschiedenheit heraus entwickelten, wie sie sich tagtäglich zu Dutzenden in allen Städten oder Dörfern Ägyptens ereignen. Sie hätte aber nicht derartig schnell kippen, dieses Ausmaß und diese Grausamkeit annehmen können, wenn dort nicht eine Atmosphäre voller Misstrauen und Hass vorgeherrscht hätte. Dies sind Faktoren, die sich nicht über Nacht entwickeln konnten. Sie mussten sich in den letzten Jahren angestaut haben. Alle werden bezeugen, dass die Gemeinde Kushh noch vor einigen Jahren ein gutes Beispiel friedlichen Zusammenlebens und freundschaftlicher Koexistenz von Muslimen und Christen war. Dennoch gehört Kushh zu den mehr als fünfzig Gemeinden des gesegneten Ägyptens, in dem sich zwischen 1971 und 2000 ähnliche Vorkommnisse ereigneten, wir sprechen hier also
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Themenrelevante Anhänge
über eine immer häufiger auftretende Erscheinung, die in den letzten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts unter verschiedenen Bezeichnungen auftrat. Nach den Angriffen auf eine Kirche und Plünderungen bei Kopten in der Gemeinde Khanka im Regierungsbezirk Qalyubiya war das Parlament 1972 gut beraten, als es unmittelbar danach die Wurzeln dieser Erscheinung in Erfahrung brachte und daraufhin einen Ausschuss gründete, der die Wahrheit herausfinden sollte. Vorsitzender dieses Ausschusses war Dr. Jamal Atifi, stellvertretender Parlamentspräsident zu jener Zeit. Dieser Ausschuss hatte sechs Mitglieder, Kopten und Muslime. Der Ausschuss befasste sich nicht nur mit den Ereignissen von Khanka, sondern dehnte seine Tätigkeit auf das ganze Land aus, insbesondere auf jene Regionen, in denen es in diesem Jahr zu ähnlichen Ereignissen kam. Allein im Jahr 1972 waren dies zehn Regionen! Nach Abschluss seiner Tätigkeit legte der Ausschuss dem Parlament am 26. November einen ausführlichen Bericht über die Ereignisse in den Regionen vor. Im Allgemeinen waren es Ereignisse, wie sie sich auch in Kushh zugetragen hatten – d. h., eine winzige dörfliche Auseinandersetzung entwickelte sich rasch zu einem Handgemenge und schließlich zu einem kollektiven Gewaltausbruch, von dem Tausende einfacher Muslime und Kopten erfasst wurden. Der Bericht des Atifi-Ausschusses warnte insbesondere: Solange wir das Problem nicht an der Basis anpacken, uns seiner Ursachen annehmen und eine Lösung dafür vorschlagen, steht zu befürchten, dass uns das Problem über den Kopf wächst. Denn wenn, nachdem sich die Menschen einmal wieder beruhigt haben und sich die Situation entspannt hat, keiner mehr an einer dauerhaften Lösung des Problems interessiert ist und nur halbherzig agiert wird, besteht die große Gefahr, dass sich der zugrundeliegende Konflikt nur noch gewaltiger entladen wird.
Leider hat sich das, wovor der parlamentarische Ausschuss gewarnt hatte, tatsächlich nicht nur einmal, sondern vierzig Mal seit den Ereignissen von Khanka in einer Weise zugetragen, dass die Öffentlichkeit in Ägypten und in aller Welt darauf aufmerksam wurde. Man hörte oft erstmals die Namen von ägyptischen Dörfern, Städten und Orten wie Samallout und Abu Zaabal (1978), Qasriyat Rihan (1979), El-Zawiya El-Hamra (1981), Sohaj (1987), Roud El-Farag (1988), Assiout (1989), Abu Qurqas und Ain Shams (1990), Bani Swen, Shoubra, Zeitoun und Imbaba (1991), Dayrout (1992), Dayrout II, II, IV, V und VI sowie Zanbou I, II und III (1993), Assiout und Deer (Kloster) El-Moharrak (1994), Sohaj (1995), El-Badari und Kafr Demian/ Sharkia (1996), vom Dorf Fiqriya/Minya (1997), Kushh I (1998), Kushh II (1999) und Kushh III (2000). Es besteht kein Zweifel, dass manche Ereignisse der letzten dreißig Jahre von extre-
Anhang 1: Erklärung über die Ereignisse von Kushh
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mistischen und terroristischen Kreisen vorsätzlich geplant waren, um die Gesellschaft zu destabilisieren, den ägyptischen Staat gegenüber den Kopten im In- und Ausland bloßzustellen und Ägypten in der Welt zu diffamieren. Zweifellos waren einige Ereignisse auch darauf zurückzuführen, dass unsere koptischen Brüder erpresst und zur Zahlung von Schutzgeldern gezwungen wurden. Die Warnung, die der parlamentarische Ausschuss zur Ermittlung der Tatsachen ausgesprochen hatte, ist jedoch weiterhin aufrechtzuerhalten. Heute im Jahr 2000 noch mehr als 1972 – d. h. nach über 28 Jahren! Zum großen Bedauern wurde keine einzige der Empfehlungen des Ausschusses, denen das Parlament zugestimmt hatte, umgesetzt. Daher rührt die schmerzhafte Ernte, die wir zu Beginn des Jahres in Kushh einfahren mussten. Die Ereignisse in Kushh waren nicht vom Ausland aus gelenkt, genauso wenig wie dahinter eine geheime Macht steckt. Im Grunde ist es das Ergebnis unzureichender Erziehung, verzerrter Berichterstattung der Medien, bestimmter Sicherheitsmaßnahmen sowie einer Politik, die jeder faire Beobachter als einseitige Bevorzugung gegenüber den koptischen Mitbürgern beschreiben muss. Was in Kushh passierte, ist keine rein koptische und auch keine rein islamische Angelegenheit, es ist vielmehr eine nationale Angelegenheit, die alle Ägypter betrifft, Regierende und Regierte, die ganze zivile Gesellschaft. Es stellt eine große Gefahr für das soziale Gefüge und die Zukunft Ägyptens sowie seine Fähigkeit dar, inneren und äußeren Herausforderungen zu begegnen. Daher müssen alle Seiten und alle Bürger mithelfen, den inneren Gefahren für die Einheit der Nation entgegenzutreten. Wenn nicht jeder, sei es Muslim oder Kopte, dazu beiträgt, dieser Gefahr zu trotzen, wird er kraft seines fehlenden Engagements selbst Teil des Problems! Daher haben wir, die diesen Aufruf unterschrieben haben, uns die Aufgabe gestellt, damit anzufangen und Teil dieser Front gegen die Gefahr einer religiösen Spaltung zu werden. In diesem Aufruf an die Nation und die zuständigen Behörden nehmen wir die Empfehlungen des parlamentarischen Ausschusses zur Richtschnur und lassen uns vom Geist der nationalen Einheit inspirieren, der während und nach der Revolution von 1919 in unserem schönen Lande herrschte. Dies erfordert grundlegende Überlegungen und Reformen. Die Empfehlungen
Angesichts vorstehender Überlegungen legen wir den Verantwortlichen die folgenden Empfehlungen vor: Umsetzung der Empfehlungen des Ausschusses zur Erforschung der Wahrheit, der vom Parlament unter Vorsitz von Jamal Otifi 1972 gebildet wurde.
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Themenrelevante Anhänge
Durchführung von überfälligen politischen und verfassungsmäßigen Reformen, welche die Demokratie realisieren und die gesetzliche und tatsächliche Gleichberechtigung aller Bürger sicherstellen. Die Einstellung in leitende Positionen und Beförderung darf ausschließlich nach Maßgabe der Leistung erfolgen. Die Parteien sollen für das Parlament und alle Wahlgremien ohne Ansehen von Religion, Glaube oder Geschlecht neue Führungskräfte zur Verfügung stellen. Verschärfung der Strafen für jene, die gegen eine religiöse Gruppe aufhetzen oder eine durch Verachtung oder Hass gegenüber den Glauben der anderen motivierte Tat ausführen. Einsatz der Medien zur Förderung des Geistes der Brüderlichkeit und der religiösen Toleranz. Einbindung von Lernprogrammen zur Förderung des Geistes der Brüderlichkeit und der religiösen Toleranz bei allen Mitbürgern unterschiedlichen Glaubens sowie Hervorhebung gemeinsamer Werte und Tugenden der Religionen. Dazu gehört, dass alle Ägypter die koptische Kultur und ihre heiligen Stätten, ihre Feiertage und ihren Beitrag zum Aufbau Ägyptens im Verlauf der Jahrhunderte kennen lernen. Durchführung einer verstärkten kulturellen und Informationskampagne in den Regierungsbezirken, in der es zu religiösen Konflikten kam. Damit soll der Geist der Brüderlichkeit, der religiösen Toleranz und der Gleichberechtigung gefördert werden. Sorgfältige Auswahl der geeigneten örtlichen Führungskräfte. Vereinheitlichung der Bestimmungen für die Errichtung, Erweiterung und Renovierung der Gebetsstätten, wodurch die Gleichberechtigung aller Bürger, ungeachtet ihrer Religion, erreicht werden soll. Absolute Neutralität der Sicherheitskräfte und anderer Kräfte bei allen Arten religiöser Konflikte sowie Entfernung aller Elemente, bei denen nicht klar ist, ob sie für eine Religion Partei ergreifen würden. Wir rufen die Verantwortlichen und alle Kinder Ägyptens dazu auf, dass sie diese Empfehlungen annehmen und sich zu ihrer Durchführung verpflichten, damit Ägypten wieder sein Gesicht der Toleranz zurückgewinnt und alle Ägypter, seien es Muslime oder Kopten, zur Errichtung einer strahlenden demokratischen Zukunft beitragen.422
422 Siehe auch die Namensliste der Unterzeichnenden, veröffentlicht auf der Atifi-Homepage und unterzeichnet von Saed Al-Naggar am 30. November 2000.
Anhang 2: Erklärung zum verbrecherischen Attentat auf eine Koptische Kirche in Alexandria/Ägypten
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Anhang 2: Erklärung zum verbrecherischen Attentat auf eine Koptische Kirche in Alexandria/Ägypten
Der Koordinationsrat für die Islamischen Vereine in Österreich (Iskorat) verurteilt aufs schärfste das verbrecherische Attentat gegen unsere christlichen Mitbürger in Ägypten, das gestern um Mitternacht vor einer koptischen Kirche in Alexandria verübt wurde. 21 Menschen starben, 43 Menschen sind verletzt, darunter 8 Muslime. Ein derartiges Selbstmordattentat kann in keiner Weise vom Islam legitimiert werden. Indem wir allen Angehörigen aller Opfer dieses Verbrechens unsere aufrichtige Anteilnahme ausdrücken, unterstreichen wir nachdrücklich unsere Ablehnung jeder Art von Gewaltanwendung gegen unschuldige Menschen, gleich welcher Religion oder Nation sie angehören. Mit gleicher Vehemenz lehnen wir jede Art von verbaler Provokation oder Manipulation von religiösen Gefühlen ab, die zur Teilung der ägyptischen Gesellschaft führen könnte. Ägypten ist und bleibt eine multireligiöse Gesellschaft, in der vor allem Muslime und Christen als gleichberechtigte Staatsbürger friedlich miteinander leben können. Zu diesem traurigen Anlass rufen wir erneut unermüdlich alle ägyptischen Mitbürger in Ägypten zu einem friedvollen Umgang miteinander auf, der auf gegenseitigen Anerkennung und Respekt gründet. Frieden und Harmonie können in einer Gesellschaft nur durch gegenseitigen Respekt erreicht werden. Wien, am 1. Jänner 2011 Unterzeichnet: Univ.-Prof. Dr. Elsayed Elshahed (Obmann u. Generalsekretär des Iskorats in Österreich)
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Anhang 3: Erklärung zu den sozialen Unruhen in den nordafrikanischen Ländern Tunesien und Algerien
Der Koordinationsrat für Islamische Vereine und Institutionen in Österreich (Iskorat) betrachtet mit tiefer Sorge die seit Mitte Dezember letzten Jahres unvermindert anhaltenden sozialen Unruhen in den beiden oben genannten arabisch-islamischen Ländern. Diese zutiefst zu bedauernden sozialen Unruhen forderten bis heute, mehreren Menschenrechtsorganisationen und europäischen Presseagenturen zufolge, wie dpa, afp, N24, dapd und rtr, zwischen 30 und 70 Tote sowie über 800 Verletzte allein in Tunesien. Die Europäische Union drückt ebenfalls ihre Sorge über diese Unruhen aus und spricht von ähnlichen Opferzahlen. Vergleichbar ist die Lage in Algerien, wo ebenfalls zahlreiche Tote und Verletzte, darunter Zivilisten und Polizisten, zu beklagen sind. Alle Beobachter geben für diese Massenproteste soziale und politische Gründe an. Meinungsfreiheit und Menschenrechte seien in den betroffenen Ländern äußerst eingeschränkt. Die Presse leide unter starker staatlicher Kontrolle und eine ungezügelte soziale Ungerechtigkeit sowie Perspektivlosigkeit insbesondere bei der jüngeren Generation verursache Unmut unter der Bevölkerung. Wir vom Islamischen Koordinationsrat in Österreich rufen alle Konfliktparteien in Tunesien und Algerien zur Besonnenheit auf. Gewalt erzeugt Gegengewalt und stellt keine Lösung der anstehenden Probleme dar. Wir rufen die Politiker insbesondere in Tunesien und Algerien zur Gewährleistung und Wahrung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit für die Bevölkerung auf. Pluralismus und soziale Gerechtigkeit für alle Bürger, gleich welcher Religion oder welchem Kulturkreis sie angehören, denn diese sind Eckpfeiler einer islamischen Gesellschaft. Schließlich appellieren wir an alle demokratischen Staaten und internationalen Menschenrechtsorganisationen auf der ganzen Welt, den Demokratisierungsprozess in den betroffenen Ländern aufrichtig zu unterstützen. Wien, 11. Januar 2011 Univ.-Prof. Dr. Elsayed Elshahed (Generalsekretär des islamischen Koordinationsrates in Österreich)
Beitrag 1: Die Blütezeit der Muʿtazila und ihre Rezeption bei den Spätmuʿtaziliten
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Themenrelevante Beiträge Beitrag 1: Die Blütezeit der Muʿtazila und ihre Rezeption bei den Spätmuʿtaziliten
Rationalität in der islamischen Theologie zwischen Tradition und Moderne Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg, 26.–28. Nov. 2015 Elsayed Elshahed, Al-Azhar-Universität Kairo Ein Wort zuvor
Es erübrigt sich, über die Entstehungsgeschichte der Muʿtazila Mitte des 2./8. Jahrhunderts durch Wasil Ibn ʿAta’ (gest. 131 n. H./750 n. Chr.) und Amr Ibn ʿUbaid (gest. 145 n. H./764 n. Chr.) in Basra im Beisein von Al-Hasan Al-Basri (gest. 110 n. H./727 n. Chr.) bzw. wie sie zu dieser Benennung gekommen sind, in diesem Beitrag zu sprechen. Viele ältere Sekundärquellen, die sich mit dem Iʿtizal beschäftigt haben, u. a. Alber Nasri Nader, „Falsafat al-Muʿtazila“423; G. F. Hourani, „Islamic Rationalism“424, und ʿAbdarrahman Badawi „Madhahib al-Islamiyin“425, machen eine solche Wiederholung überflüssig. Zwischen den zwei Hauptströmungen innerhalb der Muʿtazila, nämlich der basrischen und der bagdadischen, entbrannte im 3./9. Jahrhundert eine heftige Auseinandersetzung. Im Fokus dieses Streits stand u.a. die Problematik des Nichtseins (alʿAdam bzw. al-Fana’).426 Ende des 4./10., Anfang des 5./11. Jahrhunderts zeichnet sich eine Art Annäherungsversuch zwischen den beiden Strömungen insbesondere bei ʿAbdaljabbar (gest. 415 n. H./1025 n. Chr.) ab. Muʿammar Ibn ’Abbad As-Sulami (gest. 215 n. H./828 n. Chr.); Abul-Hudhail A-ʿAllaf (gest. 227/840); Ibrahim Ibn Sayyar An-Azzam (gest. 235 n. H./848 n. Chr.); Abu ʿAli Al-Uswari (gest. 240 n. H./854 n. Chr.) und ʿAmr Ibn Bahr Al-Jahiz (gest. 255 n. H./868 n. Chr.) sind die bekanntesten muʿtazilitischen Theologen der basrischen Schule im 3./9. Jahrhundert. Bischr Ibn Al-Mʿtamir (gest. 210 n. H./825 n. Chr.); Thumama Ibn Al-Aschras (gest. 213 n. H./826 n. Chr.); Abu Musa ʿIsa Ibn Subaih Al-Mirdar (gest. 226 n. H./839 n. Chr.); Jaʿfar Ibn Mubaschschar (gest. 234 n. H./848 n. Chr.); Jaʿfar Ibn 423 Bagdad/Alexandria 1951. 424 Oxford 1971. 425 Beirut 1971. 426 Mehr darüber siehe Ibn Al-Murtada, Ahmad Ibn Yahia, Al-Munya wal-Amal, Filzer Susanne (Hrsg.), Beirut, 1961.
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Themenrelevante Beiträge
Harb (gest. 236 n. H./850 n. Chr.) und Abu Jaʿfar Muhammad Ibn ʿAdallah Al-Iskafi (gest. 240 n. H./852 n. Chr.) waren die bekanntesten Vertreter der bagdadischen Schule. Im 4./10. Jahrhundert treten mindestens zwei große Namen der bagdadischen Schule, nämlich Abul-Hussein Al-Khayyat (gest. 311n. H./930 n. Chr.),427, Verfasser der bekannten Schrift „Al-Intisar“ und Abul-Qasim Al-Balkhi Al-Kaʿbi (gest. 319 n. H./938 n. Chr.), der Verfasser der zwei bekannten Schriften, „Al-Maqalat“ und „ʿUyun al-Masa’il“, hervor.428 Für heftige Auseinandersetzungen sowohl innerhalb der Muʿtaziliten-Schulen, aber auch mit der später entstandenen aschʿaritischen Schule im 4./10. Jahrhundert sorgten u. a. die fünf Prinzipien (al-Usul al-Khamsa); Gotteseigenschaften bzw. die Attributenlehre (Muschkilat az-Zat was-Sifat); der menschliche Verstand als Weg der Erkenntnis und Maßstab des ethischen Werturteils Gut bzw. Böse (At-Tahsin wat-Taqbih al-ʿAqliyain); die sogenannte Atomlehre (al-Jawhar al-Fard); die Substanzen und die Akzidenzien (al-Jawahir wal-Aʿrad); die Erzeugung bzw. das Kausalitätsprinzip (at-Tawlid bzw. as-Sababiya); und das Sein und das Nichtsein (al-Wujud wal-ʿAdam). Blütezeiten mit Rückschlägen
Drei Höhepunkte und drei Tiefpunkte erlebte das muʿtazilitische Dogma im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte: Der erste Höhepunkt zeichnet sich am Ende des 2./8. Jahrhunderts ab. Da gelingt es Abul-Hudhail Al-ʿAllaf (gest. 227 n. H./842 n. Chr.), das muʿtazilitische Dogma u. a. durch die originelle Formulierung der so bekannten fünf Grundprinzipien (alUsul al-Khamsa) zu systematisieren. Diese al-Usul al-Khamsa galten als eine Art Glaubensbekenntnis für alle Muʿtaziliten. Die Reihenfolge dieser Prinzipien drückt die Wertstellung des jeweiligen Prinzips aus. An der ersten Stelle kommt at-Tauhid (der absolute Monotheismus), dann folgen al-ʿAdl (die Gerechtigkeit), al-Manzila baina al-Manzilatain (der Zwischenzustand), al-Waʿd wal-Waʿid (die Verheißung und die Drohung) und schließlich alAmr bil-Maʿruf wan-Nahy ʿan al-Munkar (das Gute zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten). Historisch gesehen war das Prinzip al-Manzila baina l-Manzilatain der eigentliche 427 Nyberg, H. N., Kairo 1925. 428 Kurdi, Rajih u. a. (Hrsg.): SaudiArabien, Dar al-Hamd Verlag, o. D.
Beitrag 1: Die Blütezeit der Muʿtazila und ihre Rezeption bei den Spätmuʿtaziliten
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historische Grund für die Entstehung des Iʿtizal. Dogmatisch nimmt dieses Prinzip jedoch die dritte Stelle innerhalb ihrer fünf Prinzipien ein. Abul-Hudhail soll ein Werk mit dem Titel „Al-Usul al-Khamsa“ verfasst haben. Aber erst durch die Herausgabe von ʿAbdaljabbars Buch „Scharh al-Usul al-Khamsa“429 erfahren wir, dass diese al-Usul al-Khamsa von Abul-Hudhail stammen. Abul-Hudhails Schüler und Neffe Ibrahim Ibn Sayyar An-Nazzam (gest. 231 n. H./846 n. Chr.) und ʿAmr Ibn Bahr Al-Jahiz verleihen dem Iʿtizal eine philosophische und naturphilosophische Gestalt. Der Einfluss der Übersetzungsflut aus dem griechischen Gedankengut in Baitul-Hikma unter der Obhut des Kalifen Al-Maʾmun (gest. 218 n. H./831 n. Chr.) und seines Nachfolgers Al-Muʿtasim (gest. 227 n. H./840 n. Chr.) war insbesondere in theosophischen Fragen beispielsweise beim Streit über das Kausalitätsproblem unübersehbar. Die Muʿtaziliten und später auch die Aschʿariten bedienten sich der griechischen Logik bei ihrer Argumentation und so entstand eine Art spekulative Theologie. Der erste Rückschlag wurde durch die sogenannte „Ibn Hanbals“- Krise (Mihnat Ibn Hanbal) , die These der Erschaffenheit des Koran (Muschkilat Khalq al-Koran)430, eines Glaubens, den die Muʿtazila allen anderen muslimischen Theologen kompromisslos aufzwingen wollten. Eine gewaltige Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der abbasidische Kalif Al-Mutawakkil (gest. 248 n. H./861 n. Chr.) nutzte diese Krise aus, um seine mittlerweile fast verschwundene politische Macht zu retten. Der Kalif solidarisierte sich nicht nur mit den Gegnern der Muʿtazila, sondern er verfolgte die Muʿtazila und entfernte sie von allen einflussreichen Ämtern. Gegen Ende des 3./9., Anfang des 4./10. Jahrhunderts erlebte das Iʿtizal einen neuen Höhepunkt. Abu ʿAli Al-Jubba’i (gest. 303 n. H./915 n. Chr.), sein Sohn Abu Haschim ʿAbdassalam Al-Jubba’i (gest. 321n. H./932 n. Chr.) in Basra431 sowie Abul-Qasim Al-Balkhi Al-Kaʿbi (gest. 319 n. H./930 n. Chr.) in Bagdad gaben dem muʿtazilitischen Dogma eine neue Lebenskraft. Mitten in der sogenannten Al-Jubba’iyan-Schule wuchs ein starker Gegner des muʿtazilitischen Dogmas heran, der traditionsbewusste ehemalige Muʿtazilit und Schüler des Abu ʿAli Al-Jubba’is, Abul-Hasan Al-Aschʿari (gest. 324 n.H./935 n. Chr.).432 429 ʿUthman, ʿAbdalkarim, Kairo, Wahba Verlag, 1965. 430 Siehe das Vorwort für Al-Mughni, Bd. VII, Al-Ibyari, Ibrahim (Hrsg.), Kairo 1961. 431 Siehe Khuscheim, ʿAli Fahmi: Al-Jubbaiyan, Tripoli 1965. 432 Siehe Badawi, ʿAbarrahman: Mazahib al-Islamiyin, Beirut 1971.
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Themenrelevante Beiträge
Die bis heute in vielen islamischen Ländern stark verbreitete aschʿaritische Theologie wurde geboren und dadurch wurde das Ende der zweiten Blütezeit der Muʿtazila besiegelt. Mit der Entstehung des traditionstreuen aschʿaritischen Dogmas im 4./10. Jahrhundert zeichnet sich eine Wende in der gesamten islamischen spekulativen Theologie ab. Der Einfluss dieses neuen traditionellen Dogmas erstreckte sich auch auf das nachkommende muʿtazilitische Kalam und beeinflusste es nachhaltig. Gegen Ende des 4./5. bzw.10./11. Jahrhunderts erlebte das muʿtazilitische Dogma eine neue Blütezeit durch den bekanntesten Muʿtazilit Al-Qadi ʿAbdajabbar Al-Hamadani (gest. 415 n. H./1025 n. Chr.) durch dessen großes Werk „Al-Mughni fi Abwab at-Tawhid wal-ʿAdl“ in 20 Bänden, von dem nur 13 Bände im Jemen in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts gefunden und in Kairo von 1960 bis 1965 herausgegeben wurden.433 Erst dadurch standen die ersten authentischen Kenntnisse über die muʿtazilitische Theologie der Forschung zur Verfügung. Die erste muʿtazilitische Summa Theologica
Vor der Entdeckung des „Mughni“ von Al-Qadi ʿAbdaljabbar waren die aschʿaritische Firaq-Werke, wie „Maqalat al-Islamiyin“ von al-Aschʿari; „Al-Farq beinal-Firaq“ von al-Bagdadi; „Al-Milal wan-Nihal“ von Schahrastani sowie wenige altmuʿtazilitische Werke wie „Al-Hayawan“ von Gahiz und „Al-Intisar“ von al-Khaiyat die Hauptquellen der Forschung über die Muʿtazila. Eine umfangreiche und authentische Information über das muʿtazilitische Gedankengut ist erst nach der Entdeckung des „Mughni“ möglich. Der Werdegang ʿAbdaljabbars ist mit dem Al-Aschʿaris in die entgegengesetzte Richtung vergleichbar, in dem Sinne, dass ʿAbdaljabbar dem aschʿaritischen Dogma lange Jahre angehörte, bevor er im Jahr 346 n. H./958 n. Chr. durch Abu ʿAbdallah Al-Basri (gest. 367 n. H./978 n. Chr.) und dessen Zeitgenossen Ishaq Ibn ʿAyyasch zum Iʿtizal überwechselte. Dennoch blieb der Einfluss des aschʿaritischen Dogmas in seiner Theologie, was ich als eine schüchterne Wende in dem muʿtazilitischen Kalam bezeichnen kann, bestehen. Mit Wende meine ich eine Art Annäherungsversuche an die aschʿaritsche Theologie. ʿAbdaljabbar bezieht insbesondere beim Kausalitätsprinzip sozusagen einen Zwischenzustand zwischen dem muʿtazilitischen Kausalitätsprinzip einerseits und dem aschʿaritischen Gewohnheitsprinzip andererseits. Dies wird durch ein Beispiel deutlich, in dem er das Sättigungsgefühl nicht als eine Wirkung des Essens, sondern 433 Die Bände 1, 2, 3, 5, 10, 18 u. 19 fehlen bis heute.
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eher als ein Produkt der Gewohnheit des Menschen betrachtet; wenn dieser eine bestimmte Menge Nahrungsmittel verspeist hat, fühlt er sich statt.434 ʿAbdaljabbar und mit ihm die Muʿtaziliten genossen im 4.–5./10.–11. Jahrhundert die Förderung des buyidischen Wezirs As-Sahib Ibn ʿAbbad (gest. 385 n. H./998 n. Chr.).435 Doch die Förderung war nicht von langer Dauer, denn der Untergang der buyidischen Macht bedeutete den Verlust auch des politischen Einflusses der Muʿtaziliten. Durch namhafte Schüler ʿAbdaljabbars wie Abul-Hussain Al-Basri (gest. 436 n. H./1048 n. Chr.), Verfasser des Buches „Al-Muʿtamad fi Usul al-Fiqh“, Abu Raschid Saʿid Ibn Muhammad An-Nisaburi (gest. 460 n. H./1072 n. Chr.), Verfasser der „At-Tawhid“ bzw. „Diwan al-Usul und Al-Masaʿil fil-Khilaf bainal-Basriyin wal-Baghdadiyin“436, Al-Hassan Ibn Ahmad Ibn Mattayaih (gest. 466 n. H./1076 n. Chr.)437, Verfasser der Werke „At-Tazkira fi Ahkam al-Jawahir wal-Aʿrad“438 und Verfasser oder Herausgeber von „Al-Majmuʿ fil-Muhit bit-Taklif“ bzw. „Mutaschabih al-Qur’an“, und Al-Hakim Al-Juschami (gest. 494 n. H./1104 n. Chr.), Verfasser der Werke „ʿUyun al-masa’il“ und „Tabaqat al-Muʿtazila“ sowie seiner Koranauslegung bekannt als „At-Tahzib“, konnte sich das Iʿtizal gegen das immer stärker werdende aschʿaritische Dogma wehren. Auch im 6./12. Jahrhundert fand das Iʿtizal starke Vertreter und lebte weiter durch Ruknaddin Mahmud Ibn Al-Malahimi (gest. 536 n. H./1146 n. Chr.), Verfasser der bekannten Werke „Al-Muʿtamad fi Usul ad-Din“439 und „Al-Fa’iq fi Usul alFiqh“, und Mahmud Ibn ’Omar Az-Zamakhschari (gest. 538 n. H./1148 n. Chr.); Verfasser des bekannten Tafsir-Werks „Al-Kaschschaf“, sowie den bagdadischen spätmuʿtaziliten Ibn Abi Al-Hadid, der Verfasser von „Scharh Nahj al-Balagha“. Die bislang jüngste muʿtazilitische Summa Theologica
Die Entdeckung des „Al-Kamil fil-Istiqsa’ fima balaghna min Kalam al-Qudama’“ von Taqiyaddin An-Najrani (gest. 675 n. H./1277 n. Chr.) belegt u. a., dass das I’tizal im 7./13. Jahrhundert nicht nur ebenso stark weiterlebte, sondern die traditionelle spekulative Theologie methodisch und teilweise inhaltlich beeinflusst. 434 Siehe Al-Mughni, Bd. XI, S. 79. 435 Siehe Tabana, Badawi: As-Sahib Ibn ʿAbbad – Al-Wazir, Al-Adib, Al-ʿAlim, Aʿlam El-ʿArab, Kairo o. D. 436 Ziyada, Ma’n u. Elsayed, Ridwan (Hrsg.), Beirut 1979. 437 Al-Ahwani, ’Azmi ’Omar, Kairo 1965. 438 Latif, Samy Nasr u.ʿAwn, Faisal Budyr (Hrsg.), Kairo 1975. 439 Madelung, M. (Hrsg.), London 1991.
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Hans Daiber hat mir dankenswerterweise aus Leiden einen Mikrofilm von dem einzigen Exemplar dieser Handschrift im Jahre 1980 mit der Empfehlung gegeben, von dieser Handschrift, wenn möglich, eine vollständige Edition anzufertigen. Für meine Dissertation habe ich zwei Abschnitte als Grundlage ediert, übersetzt, analysiert und systematisiert. Eine vollständige Edition dieser Handschrift, die vorerst als Habilitationsschrift vorgesehen war, habe ich erst 1999 bei dem Obersten Rat für Islamische Angelegenheiten in Kairo herausgegeben. Als das letzte bekannt gewordene muʿtazilitische Werk werde ich auf dieses Werk ausführlicher als sonst eingehen. Die Identifizierung des Verfassers Taqiyuddin An-Najrani (bzw. wie sein voller Name lauten könnte) war sehr problematisch. Die vorhandenen Nachschlagwerke geben keine ausreichenden Informationen über den Autor Taqiyuddin her. C. Brockelmann sagt in seinem Nachschlagwerk „Die Geschichte der Arabischen Literatur“440, dass „Taqiyuddin An-Najrani das Buch ‚Al-Kamil fil-Istiqsa’‘ zwischen 505 und 675 H. geschrieben hat“. Wie Brockelmann aber auf diese Datierung kam, erklärt er nicht. Hans Daiber stellte die Vermutung auf, dass dieser Text aus der Zeit der zweiten Schülergeneration des ʿAbdaljabbars Ende des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts stamme. Beide Vermutungen von Brockelmann und Daiber beruhen auf keinen zuverlässigen Quellen. Ob der Autor Taqiyuddin als Schüler ʿAbdaljabbars der zweiten Generation zugeordnet werden könnte, wie Daiber in einem persönlichen Brief vermutete, halte ich für sehr unwahrscheinlich, da Taqiyuddin ʿAbdaljabbar in seiner Schrift kaum erwähnte. Häufig aber kritisierte Taqiyuddin Abu Haschim, ʿAbdaljabbars größte Autorität. In der Einleitung schreibt Taqiyuddin, dass sein Werk lediglich als eine weitere Verarbeitung, Verfeinerung und Systematisierung dessen, was die alten Meister bereits schrieben, betrachtet werden soll. Der Inhalt dieses Werkes wurde, so Taqiyuddin, durch Abul-Husein Al-Basri (gest. 436 n. H./1046 n. Chr.) zusammengefasst und dann durch Ruknuddin Al-Khuwarizi (gemeint Ruknuddin Mahmud Ibn Al-Malahimi Al-Khuwarizmi [gest. 536 n. H./1141 n .Chr.]) weiter erläutert. Dieses Werk stellt, meines Erachtens, einen Bruch mit der Tradition ʿAbdaljabbars, ja eine Wende im Denken der basrische Schule der Muʿtazila dar, die das Iʿtizal näher an das traditionelle Dogma rückt. Fuat Sezgin hält es für möglich, dass Taqiyuddin mit ʿAtiya An-Najrani (603–665 n. H./1207–1267 n. Chr.) identisch sei, den ʿOmar Kahhala in seinem „Muʿjam 440 GAL, Bd. 1, S. 606.
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al-Mu’allifin“441, erwähnt. ʿAtiya An-Najrani wird bei Kahhala als Faqih, Mufassir und Zaydit bezeichnet. Für die Annahme Sezgins spricht der bei Kahhala angegebene Zeitraum, der mit der Zeitangabe auf dem letzten Blatt der Handschrift übereinstimmt. Auch wenn die Bezeichnungen Fiqih und Mufassir für Taqiyuddin nicht total ausgeschlossen sind, dagegen sprechen vier Fakten: 1. Gegen seine Bezeichnung als Zaydit spricht die Tatsache, dass Taqiyuddin fast ausschließlich Muʿtaziliten zitiert, sich nur muʿtazilitischer Quellen bedient. Die Tatsache, dass der zweite Kalif ʿOmar Ibn Al-Khattab im „Al-Kamil“ mit Ehrentiteln begleitet wird, während der der vierte Kalif ʿAli Ibn Abi Talib ohne jegliches Lob erwähnt wird,442 lässt großen Zweifel an der Annahme zu, dass Taqiyuddin ein Zaydit war. Taqiyuddin bezeichnet ausschließlich muʿtazilitischen Theologen u. a. Abul-Hudhail, A-Nazzam, Abu ʿAli Al-Jubbai, Abu Haschim, Al-Kaʿbi, Abul-Husain Al-Basri und Ruknuddin Mahmud Al-Mulahimi in seinem ganzen Werk als seine Meister („Schuyukhuna“ bzw. „Ashabuna“). 2. Bezüglich der Bezeichnungen Mufassir und Faqih fand ich in dem bis heute einzigen veröffentlichten Werk Taqiyuddins keinen einzigen Hinweis, der diese Bezeichnungen bestätigt, auch wenn sich diese Feststellung durch mögliche neue Entdeckungen später als falsch erweisen könnte. Die Erwähnung einiger Koranverse und ihre Interpretation im Rahmen der Besprechung von theologischen Problemen, wie al-Fana’ und al-Iʿada (die Vernichtung und die Wiederherstellung), beweisen nicht, dass der Autor ein professioneller Koranexeget war. 3. Normalerweise erwähnt Kahhala in seinem Muʿjam alle vorliegenden Beinamen seiner Autoren. Für ʿAtiya An-Najrani jedoch führt er keine Beinamen bzw. Ehrentitel auf, die wir bei unserem Autor, nämlich Taqiyuddin, auf dem Titelblatt dieser Handschrift sehen und die von Brockelmann übernommen wurden. 4. Die Datierung dieser Handschrift bei Brockelmann (505–675 n. H.) sowie ihre Datierung im Codicus Manuscripti der Universitätsbibliothek Leiden443 weisen eine Differenz von ihrer Datierung bei Kahhala um etwa 100 Jahre aus. Dies lässt eine vermeintliche Identifizierung der beiden Autoren nur schwer zu. 1985 rezensierte Manfred Madelung meine Dissertationsschrift („Das Problem der transzendenten sinnlichen Wahrnehmung in der spätmuʿtazilitischen Erkenntnisthe-
441 Bd. IV, S. 187. 442 HS, S. 287, Z. 19–21. 443 VII, S. 150, Z. 13 u. S. 425, Z. 9.
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orie“).444 In seiner Rezension lieferte Madelung sehr hilfreiche Informationen über Taqiyuddin An-Najrani. Madelung identifiziert den Lehrer von Taqiyiddin, nämlich Ruknuddin Al-Khuwarizmi, mit Ruknuddin Mahmud Ibn ʿAbdallah Ibn Al-Malahimi (gest. 536 n. H./1141 n. Chr.). Ein Nachruf für Ibn Al-Malhimi befindet sich in „Al-Kaschschaf“ von Mahmud Ibn ʿOmar Az-Zamakhshari (gest. 538 n. H./1143 n. Chr.), der einige Werke von Ibn Al-Malahimi, u. a. „Al-Muʿtamad“ und „Al-Fa’iq fi Usul ad-Din“ in seinem „Kaschaschaf“ erwähnte. Madelung gab 1991 in London den ersten Band von Ibn Al-Malahimis Werk „Al-Muʿtamad“ heraus.445 Ruknuddin Al-Khuwarizmi war also ebenso wenig ein Schüler ʿAbdaljabbars, wie Max Horten in seinem Buch behauptet.446 Verwirrend war jedoch, dass Madelung Taqiyuddin An-Najrani mit einem bekannten hanafitischen Faqih, nämlich Najmaddin Mukhtar Ibn Mahmud Az-Zahidi Al-Ghazmini (gest. 658 n. H./1260 n. Chr.), identifizierte. Drei verblüffende Fakten führten Madelung zu einer falschen Identifizierung der beiden Autoren: Zum einen die totale Übereinstimmung der Vornamen, nämlich „Mukhtar Ibn Mahmud“, zum anderen die totale Übereinstimmung des Titels eines Werkes, nämlich „Al-Mujtaba“, und schließlich die zeitlich passende Datierung des Taqiyuddins-Manuskripts (675– 679 n. H.) mit dem Todesdatum des Ghazminis (656 n. H.), auch wenn dies kein ausschlaggebendes Indiz darstellt. Die unterschiedlichen Beinamen und die Nisba der beiden Autoren waren für mich der Anlass, die These Madelungs anzuzweifeln. Aufschlussreich für eine genauere Identifizierung Taqiyuddins war der Hinweis auf das Werk „Al-Mujtaba“, aus dem Muhammad Ibn Ibrahim Ibn Al-Wazir in seinem Buch „Ithar al-Haqq ʿala alKhalq“447 den Autor des Mujtaba mit Ehrentiteln und Nisba „Taqiyulumma Khatimat Ahl al-Usul Al-ʿIjali Al-Muʿtazili“ zitierte. In einem Zitat Ibn Al-Wazirs aus dem „Mujtaba“ lesen wir Folgendes: „[A]kthar ma azkuruhu fi Masa’il ath-Thuluth al-Awwal min Masa’il al-ʿAdl min multaqatat tasnifihi al-Kamel fil-Istiqsa’“. Dieses Zitat lässt keinen Zweifel daran, dass der Autor des „Mujtaba“ mit dem Autor des „Al-Kamil fil-’Istiqsa’“ identisch ist. Hätte Madelung das Buch „Al-Mujtaba“ von Al-Ghazmini gelesen, von den je zwei vollständigen Exemplaren in der Alexandria-Bibliothek448 und in der Al-Az444 Berlin, Klaus Schwarz Verlag, 1983. 445 BSOAS, Vol. XLVIII, S. 1, 1985. 446 Die Philosophie von Ibn Ruschd, Bonn 1912, S. 4. 447 Kairo 1318/1888, S. 111–112. 448 ب1197ن.
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har-Bibliothek449 vorhanden sind, wäre ihm diese Verwechselung nicht unterlaufen. Denn das „Al-Mujtaba“ von Al-Ghazmini ist nichts anders als ein hanafitisches Rechtswerk, das den Titel trägt „Scharh Mukhtasar Al-Quduri fil-Fiqh al-Hanafi“ („Kommentar über die Zusammenfassung des Qudur’ im Rahmen des hanafitischen Rechts“). Ich habe dieses Werk vollständig gelesen und konnte kein einziges Wort über „Kalam“ bzw. „Usul ad-Din“ finden. Kitab „al-Mujtaba“, das Ibn Al-Wazir in seinen zwei bekannten Büchern „’Ithar al-Haq ʿala al-Khalq“ und noch mehr in „Tarjih Asalib al Qur’an ʿala Asalib al-Yunan“ sowie „Al-ʿAwasim wal-Qawasim“ erwähnte und zitierte, ist aller Wahrscheinlichkeiten nach einem Kalam-Werk, das Taqiyuddin später als „Al-Kamil“ verfasste. Diese Annahme geht aus dem oben erwähnten Zitat von Ibn Al-Wazir eindeutig hervor. Ibn Al-Wazir sagt eindeutig, dass der Autor des „Al-Mujtaba“, den er in seinen oben erwähnten drei Büchern zitiert, Al-Scheikh Mukhtar Ibn Mahmud Al-ʿIjali AlMuʿtazili heißt. Und dieser ist zweifelsohne der Autor des „Al-Kamil“, von dem Ibn Al-Wazir zitierte.450 Die Thematik des „Al-Kamil“ ist weitgehend mit der des „Al-Masa’il fil-Khilaf“ des Abu Raschid vergleichbar. Gegenstand der beiden Werke ist der interne spekulative Streit zwischen den Vertretern der beiden muʿtazilitischen Schulen in Basra und in Bagdad. Wenn man beide Werke nebeneinanderlegt, würde man meinen, dass sich Taqiyuddin die Themen des Abu Raschid und sogar ihre Reihenfolge aneignete und lediglich seine eigenen Stellungnamen dazu schrieb. Bemerkenswert ist außerdem, dass Taqiyuddin Abu Haschim in seinem Werk „Al-Kamil“ fast so oft den bagdadischen Muʿtazilit Al-Kaʿbi erwähnte, wie Abu Raschid den Gegner von Abu Haschim. Durch „Al-Kamil“ wollte Taqiyuddin, wie er selbst in dem Vorwort der Handschrift sagt, hauptsächlich die Thesen des Abu Haschim widerlegen. Dabei folgt er der Linie seiner Meister, Abul-Hasain Al-Basri und Ruknuddin Mahmud Ibn Al-Malahimi Al-Khuwarzmi, die vor ihm Abu Haschim kritisierten. Taqayyudin sieht sein Werk „Al-Kamil“ als Vollendung der vorangegangenen Schriften seiner Meister. Dabei bediente er sich der Argumentationen des Kaʿbi gegen Abu Haschim. Bemerkenswert ist auch, dass Taqiyuddin Abu Haschim fast genauso oft kritisierte, wie Abu Raschid Al-Kaʿbi kritisierte. Und genau das schreibt Taqiyuddin in der Einleitung seines Werkes „Al-Kamil“. 449 ت1127ه. 450 Siehe oben, Anm.
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Inhaltlich setzt sich Taqiyuddin mit 16 Thesen des Abu Haschim auseinander, die er in seiner Einleitung des „Al-Kamil“ ausführt. Diese in der Einleitung erwähnten 16 Thesen werden jedoch in der Schrift selbst in 13 Thesen zusammengefasst. Diese unterschiedliche Zahl lässt sich dadurch erklären, dass Taqiyuddin einige Gotteseigenschaften in der Schrift nicht im Einzelnen, sondern zusammen ausführte, die er in der Einleitung getrennt voneinander erwähnte. Einige weitere übereinstimmende Überschriften kommen in der Schrift ebenfalls vor. „Al-Kamil“ ist zweifelsohne den Usul-ad-Din- bzw. Tawhid-Werken zuzuordnen. Es finden sich fast ausschließlich metaphysische Überlegungen darin, wobei rein philosophische Gedanken und theologische Glaubenssätze ineinanderfließen und sich gegenseitig bestätigen, und damit steht Taqiyuddin erkenntnistheoretisch mitten in der muʿtazilitische Tradition. Um die Existenz des Schöpfers (Wujud as-Saniʿ) zu beweisen, musste der Autor die Erschaffenheit der Körper bzw. der Substanzen (Huduth al-Ajsam) beweisen. Aus diesem Komplex entstehen weitere Fragen, wie u. a. nach der Ewigkeit der Welt (Qidam al-ʿAlam) und dem totalen Zerfall der Dinge (al-Fana’), die klar beantwortet werden müssen. Dasselbe gilt für weitere relevante Fragen z. B. nach der Entstehung der Materie (Khalq al-Ajsam), ihrem totalen Zerfall (Fana’uha) und ihrer Wiederentstehung (Iʿadatuha). Philosophische Fragen nach dem Sein und Nichtsein (al-Wujud wal-ʿAdam) im Hinblick auf den Akt der Schöpfung bzw. die Entstehung und die Fortdauer der Dinge nehmen eine zentrale Position in der ersten Hälfte des „Al-Kamil“ ein. Die Akzidenzen eines Gegenstandes (al-Aʿrad) in Bezug auf die Frage des Nichtseins (al-ʿAdam) und des Seins (al-Wujud) sind ein Bestandteil der muʿtazilitischen Schöpfungstheorie und daher wird ihnen eine große Bedeutung in „Al-Kamil“ beigemessen. Die Begriffe „Wissen“ und „Wahrnehmung“ („ʿIlm“ u. „’Idrak“) stellen den Kern der muʿtazilitischen Erkenntnistheorie dar und werden in fast allen Abschnitten dieses Werkes, aber insbesondere in Abschnitten 9 und 13 systematisch behandelt. Ich werde daher, soweit der mir hier gewährte Raum es erlaubt, anschließend darauf eingehen. Die muʿtazilitische Erkenntnistheorie
Nach einer im philosophischen Sinne systematisierten Erkenntnistheorie bei den Muʿtaziliten zu suchen, ist ein schwieriges Unterfangen. Zum einen, weil die vorhandenen Quellen nicht alle muʿtazilitischen Überlegungen auf diesem Gebiet enthalten, weil die Hauptquelle eines der größten und letzten Muʿtaziliten, nämlich „Al-Mughni fi Abwab at-Tawhid wal-ʿAdl“ von Al-Qadi ʿAbdaljabbar, nur Aussagen
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beinhalten, deren Ursprung schwer festzustellen ist. Außerdem folgt ʿAbdaljabbar in seinen Büchern, insbesondere im „Mughni“, keinem bestimmten in sich konsequenten System.451 Will man trotzdem versuchen, eine Übersicht über ihre Erkenntnistheorie zu gewinnen, so muss man alle Werke ʿAbdaljabbars und die der anderen Muʿtaziliten auf diesen Gegenstand hin erforschen. Es stellt sich heraus, dass dieses Problem auf zwei verschiedene Arten behandelt worden ist. Einmal wird erklärt, wie man die Erkenntnisse im Allgemeinen erwerben kann, und zum anderen, wie man eine menschliche Handlung bewerten soll. Dem ersten Teil dieser Erkenntnistheorie gilt hauptsächlich der 12. Band seines Buches „Al-Mughni“, der den Titel „an-Nazar wal-Maʿarif“ (Das Denken und die Erkenntnisse) trägt.452 Aber auch in anderen Büchern, z. B. im Buch „al-MajmuʿfilMuhit bit-Taklif“, das Al-Hasan Ibn Mattawaih zusammengetragen oder sogar verfasst haben könnte,453 findet sich einschlägiges Material. Der zweite Teil nimmt einen festen Platz im 4. Band des „Al-Mughni“454 ein, aber ebenso in „Scharh al-Usul al-Khamsa“ bringt er wichtige Beiträge dazu.455 Das bedeutet allerdings nicht, dass ʿAbdaljabbar nicht auch in anderen Büchern diesen oder jenen Teil behandelt.456 Also muss man alle seine Schriften sowie alle anderen muʿtazilitischen Werke heranziehen, um ein umfassendes Bild von den erkenntnistheoretischen Überlegungen im muʿtazilitischen Gedankengut zu gewinnen. Alle theologischen bzw. philosophischen Überlegungen auf diesem Gebiet des Islam, sei es aus muʿtazilitischer Sicht, sei es nach orthodoxem Glauben, sei es nach den Philosophen oder sei es nach den Mystikern, basieren auf den entsprechenden Koranauslegungen.457 Die Muʿtaziliten und orthodoxen Theologen glaubten in ihrer teilweise vom Fiqh getrennt behandelten Sittenlehre ausschließlich dem Propheten zu folgen. Die von den Griechen, insbesondere den Peripatetikern beeinflussten muslimischen Philosophen übernahmen dagegen als praktische Philosophie eine Ethik, die auf dem Grundsatz von Gut und Böse und der Unterscheidung von Tugend und Laster aufbaut und der Glückseligkeit (as-Saʿada) dienen soll. Diese Ethik weist auch pythagoreische, platonische und stoische Einflüsse auf, wo451 Vgl. Peters, J. R.: God’s Created Speach, S. 27 ff. 452 Madkur, I. u. Husein, Taha (Hrsg.), Kairo 1962. 453 Siehe Azmi, ʿO, Einleitung des oben genannten Buchs. 454 VI. I, „At-Taʿ dil wat-Tajwir “, Al-Ahwani, A. F und Madkur Ibr. (Hrsg.), Kairo 1962. 455 ʿUthman,’A. (Hrsg.), Kairo 1965. 456 Siehe u. a. „Al-Majmuʿ fil-Muhit … “, ’Osman,ʿAzmi u. Al-Ahwani, Ahmad Fuad (Hrsg.), Kairo 1965. 457 Vgl. Wulf, M.: Histoirede la Philosophie Medivale, Paris 1924, S. 208 ff.
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bei normative Elemente im Vordergrund stehen, die durch Offenbarung, Dichtung und Weisheitssprüche belegt wurden.458 Die islamische Mystik versuchte in ihrer Ethik pythagoreisches, gnostisches, neuplatonisches und indisches Gedankengut mit der islamischen Offenbarung in Einklang zu bringen. Die mystische Ethik unterscheidet sich von der Ethik der Philosophen dadurch, dass sie aus verschiedenen Stufen (Maqamat) besteht, die nur durch eine asketische Lebensführung erreicht werden können.459 Die Muʿtaziliten unterscheiden sich einerseits von den übrigen Traditionsanhängern dadurch, dass sie das Primat der Vernunft vertraten, und andererseits von den Philosophen, denen sie am meisten ähnelten, insofern, als sie sich stärker als diese an den Wortlaut des Koran hielten und ihm eine erhebliche Beweiskraft zuschrieben. Sie unterscheiden sich schließlich von den Mystikern, indem sie die asketische Lebensführung sowie das mystische Glaubensverständnis und vor allem die These der Vereinigung mit Gott ablehnten.460 Der Schwerpunkt der muʿtazilitischen Erkenntnistheorie und Wertlehre liegt darin, dass sie nicht nur die Frage untersuchten, wie man die Eigenschaft eines bestimmten Objektes erkennen kann, sondern auch, ob etwas anderes als das Objekt selbst die Eigenschaft beeinflusst. Geht es um die Bewertung einer Handlung, dann ist danach zu fragen, ob sie nur gemäß dem göttlichen Gebot und Verbot gut bzw. böse ist, wie die Aschʿariten behaupten, wonach der ganze Bewertungsprozess völlig von dem Willen Gottes abhängt.461 Oder es liegt die Ursache in einem anderen Bereich, wie z. B. in dem sogenannten wajh (Aspekt), der von dem Willen des Täters abhängt, wie es die Ansicht der Muʿtaziliten ist.462 Es ist sicherlich übertrieben zu behaupten, dass die Muʿtaziliten durch ihre Neigung zum rationalen Denken der Offenbarung jede Bedeutung aberkannten. In der Tat schrieben sie der göttlichen Eingebung sogar eine der Vernunft überlegene Funktion in ihrer Erkenntnistheorie zu. So wichtig und wesentlich der menschliche Verstand ist, so wird er – wie es der Auffassung ʿAbdaljabbars zu entnehmen ist – der göttlichen Eingebung untergeordnet. Denn man kann nur durch die göttliche Eingebung die Einzelheiten des Er458 Vgl. Falaturi, ’A.: Lexikon der Islamischen Welt, Bd. I, S. 167, u. Hourani, G. F.: Essays on Islamic Philosophy and Science, Albany 1975, S. 128 ff. 459 Ibd. 460 Ibd. 461 Siehe Watt, M.: Free Will and Predestination, London 1948, S. 1. 462 Siehe. Al-Schahrastani, ʿA: Nihayat Al-Iqdam fi ʿIlm al-Kalam, S. 370 u. 379–80; Gardet, L.: L’slam. Religion et communaute, Paris 1967, S. 176.
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kenntnisgegenstandes erfassen.463 Diese Einstellung kann man als ein Zeichen ihrer Originalität verstehen, welches sie von ihren Vorgängern, seien es die Griechen oder andere, unterscheidet und sie in dieser Hinsicht in die Reihe der Traditionsanhänger bzw. der Orthodoxen rückt. Der Erkenntnisprozess erfordert, nach muʿtazilitischer Auffassung, die Erfüllung zweier Voraussetzungen: 1. Eine gesunde menschliche Vernunft, die zum Erwerb allgemeiner Kenntnisse über ein erkennbares Objekt fähig ist. 2. Eine göttliche Eingebung, die präzisen Erkenntnisse über das zu erkennende Objekt vermittelt. Die Vernunft und die göttliche Eingebung widersprechen sich nach ʿAbdaljabbar nie, vielmehr ergänzen und bestätigen sie sich gegenseitig.464 Die Eigenart der muʿtazilitischen Erkenntnistheorie weist sich noch deutlicher und wesentlicher in ihrer Auffassung von den Begriffen „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ aus, für die eine philosophisch fundierte Definition in ihren Quellen allerdings kaum zu finden ist. Was man bei ihnen als Subjektivismus bezeichnen kann, ist eher und genauer als Nicht-Objektivismus zu betrachten. Denn diejenigen Muʿtaziliten, welche z. B. einer Handlung an sich keine Eigenschaft zuschreiben, führen diese auch nicht auf die bewertende Person zurück, sondern auf einen dritten Grund, nämlich den Aspekt, unter dem die Handlung ausgeführt worden ist. Dies ist die Auffassung u. a. des Jubba’i und später des ʿAbdaljabbar. Was auch den anderen Teil ihrer Wertlehre in dieser Beziehung angeht, nämlich das ästhetische Urteil, so führen Al-Jubba’i und ʿAbdaljabbar die Ursache des Urteils auf den sogenannten „Zustand“ (Hal) des Betrachters zurück.465 Der Begriff „Zustand“ bezeichnet hier die natürliche Empfindung des Betrachters zu dem zu bewertenden Objekt. Diese Empfindung erzeugt bei dem Betrachter entweder Begierde (Schahwa) oder Widerwillen (Nafra) und dementsprechend wird das Objekt bewertet.466 In der Bedeutung des Begriffs „Objektivismus“ besteht kein nennenswerter Unterschied zur heute herrschenden Auffassung. Wenn man vorsichtig von Subjektivismus und Objektivismus bei den Muʿtaziliten sprechen darf, so muss man noch vorsichtiger sein, wenn man einzelne Personen in diese oder jene Kategorie einfügen will. Denn diejenigen, die angeblich eine subjek463 Siehe Al-Mughni, VI, I, S. 77, u. Al-Majmuʿ fil-Muhit …, S. 236. 464 Siehe Al-Mughni, VI, I, S. 63–64. 465 Al-Majmuʿ fil-Muhit …, S. 234; u. Horten, M.: Die Philosophischen Probleme, Bonn 1910, S. 127, Fußnote 2. 466 Siehe Al-Mughni …, XII, S. 50; u. Hourani, G. F.: Islamic Rationalism, Oxford 1971, S. 53.
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tivistische Haltung, z. B. in einer ästhetischen Frage haben, müssen sich nicht unbedingt in einer z. B. ethischen Frage entsprechend verhalten. Anhand eines von ʿAbdaljabbar im „Mughni“ dargestellten Problems, in dem es um die Beurteilung einer äußerlichen Gestalt (as-Sura bzw. al-Khilqa) als schön oder hässlich (Hasan oder Qabih) geht, kann man klar die Einstellung jedes einzelnen der sogenannten Muʿtaziliten erkennen.467 Eine entsprechende Unterscheidung zwischen dem ethischen Werturteil des Guten und Bösen einerseits und den ästhetischen Werten des Schönen und Hässlichen andererseits, wie man sie im Deutschen findet, gibt es im Sprachgebrauch der islamischen Theologie nicht. Zwar gibt es im Arabischen entsprechende Ausdrücke für die ästhetischen Werte des Schönen und Hässlichen, nämlich „Jamil“ und „Zamim“, doch wurden diese nicht in den theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen verwendet. Der Grund dafür wird nirgendwo erwähnt. Man hat einfach die Ausdrücke „gut“ und „böse“, die normalerweise ethische Werte beinhalten, auch für die ästhetischen Urteile verwendet. Während die Muʿtaziliten die Ausdrücke „gut“ und „böse“ sowohl für ethische als auch ästhetische Werte bevorzugten, zogen die Philosophen die Ausdrücke „Khair“ und „Schar“ vor. Während die Orthodoxen die Ausdrücke „Hasana“ und „Sayi’a“ für die ethischen Werte bevorzugten, zogen die Philosophen die Ausdrücke „Khair“ und „Scharr“ und die Orthodoxen die Ausdrücke „Hasana“ und „Saiyi’a“ für die ethischen Werte vor. Um die nennenswerten Haltungen einiger bedeutender Muʿtaziliten zu diesem Problem des Subjektivismus und des Objektivismus darzustellen, kann man die unterschiedlichen Haltungen von Abu Haschim (gest. 321 n. H./932 n. Chr.) und ʿAbdaljabbar (gest. 415 n. H./1025 n. Chr.) diesbezüglich als Beispiel nennen. Eine klare objektivistische Haltung kann man ohne Weiteres Abu Haschim zuschreiben. Denn er vertritt die Meinung, dass sich die äußere Gestalt (Sura und Khilqa) in einem Zustand (Hal) befindet, aufgrund dessen sie immer als gut oder böse bewertet werden muss, und zwar völlig unabhängig davon, welche Person sie bewertet und in welchem Zustand sich diese Person befindet. Abu Haschim soll – nach der Darstellung von ʿAbdaljabbar in „Al-Mughni“ die Meinung vertreten haben, dass sich eine hässliche äußere Gestalt (al-Khilqa al-qabiha) nur davon durch ein ihr innewohnendes Etwas (li amrin takhtassu bihi) von einer schönen unterscheiden kann. Dieses innewohnende Etwas führt notwendigerweise dazu, dass die Natur der betrachtenden Person sie abstoßend empfindet (li zalika yanfuru at-tabʿu minhu)“.468 467 Ibd. 468 Ibd. u. Hourani, G. F.: Islamic Rationalism, S. 64.
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Diese objektivistische Haltung gilt nach Abu Haschim ebenso bei einer ethischen Bewertung; daher kann er, so Hourani, zu den Objektivsten im modernen Sinn gerechnet werden. Im Gegensatz zu Abu Haschim vertritt ʿAbdaljabbar die Meinung, dass die Empfindung eines bestimmten Objektes als hässlich oder schön seitens des Betrachters ihre Ursache nicht in dem zu bewertenden Objekt selbst hat, sondern durch den jeweiligen inneren Zustand des Betrachters verursacht wird. Dieser Zustand erzeugt bei ihm eine natürliche Zu- oder Abneigung gegenüber dem betrachteten Objekt. Demzufolge kann ein einziges Objekt von ein und demselben Betrachter einmal als schön und ein anderes Mal als hässlich empfunden werden, je nachdem, welche Empfindung durch den Zustand des Betrachters für dieses Objekt erzeugt wird. So kann etwa eine Begierde (Schahwa) durch einen Widerwillen (Nafra) abgelöst werden (yarjiʿu ila hal al-Mustaqbih). Demnach ist das Objekt selbst für ʿAbdaljabbar eigenschaftslos, allerdings nur, wenn es sich um ein ästhetisches Urteil handelt. ʿAbdaljabbar lässt sich damit in dieser Hinsicht zu den Subjektivisten rechnen. Will man das muʿtazilitische Dogma mit dem aschʿaritischen im Hinblick auf die Urteilsfindung vergleichen, so erweisen sich die Muʿtaziliten im Allgemeinen als Nicht-Subjektivisten, weil die Art und der Zustand der bewertenden Person bei der Bewertung einer Handlung gar keine Rolle spielen. Die Aschʿariten, die Widersacher der Muʿtaziliten, können dagegen als Subjektivisten betrachtet werden. Denn sie sprechen dem Menschen jedes Recht, sogar jede Fähigkeit zur Bewertung seiner eigenen Handlungen und vor allem der Handlungen Gottes ab. Hier steht man vor einem eigenartigen Subjektivismus, den man als einen transzendentalen Subjektivismus bezeichnen kann, in dem nur Gott allein das Recht hat, seine eigenen Handlungen und die der Menschen zu bewerten. Ist die Handlung von Gott ausgeführt worden, so ist sie immer gut, ist aber ein Mensch ihr scheinbarer Urheber, so ist sie gemäß dem göttlichen Gebot und Verbot zu bewerten. Das schreibt z. B. Al-Schahrastani in „Nihayat al-’Iqdam fi ʿIlm l-Kalam“.469 Gott handelt nach der aschʿaritischen Auffassung sozusagen in seinem eigenen Besitztum (Mulkihi) als ein absoluter Herrscher (Malik), so dass er immer im Recht ist. Ein Mensch ist nach dieser Auffassung nicht fähig, freiwillig zu handeln, und schon gar nicht, die Handlung Gottes zu beurteilen. Mit einer komplizierten These, die sie „Kasb“ (Aneignung) nannten, machten die Aschʿariten den Menschen für seine Taten verantwortlich, um dessen Belohnung und Bestrafung im Jenseits zu rechtfertigen. Die Belohnung bzw. Bestrafung verdient ein Mensch aber nicht, weil er etwas Gutes oder Böses getan hat, wie die muʿtazilitische 469 Ibd., S. 379–380.
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Auffassung lautet, sondern weil er mit seiner Handlung dem göttlichen Gebot entsprach oder zuwidergehandelt hat.470 Bei den Aschʿariten hat man es also mit einer übermenschlichen (transzendentalen) Erkenntnistheorie zu tun, in der die menschliche Beteiligung am Bewertungsprozess zugunsten der absoluten göttlichen Souveränität entfällt. Die muʿtazilitische Gegenthese besagt, dass der Mensch, so wie er von Gott geschaffen wurde, in der Lage ist, u. a. die Erkenntnisse über die ethischen Wahrheiten (Maʿrifat al-Haqa’iq al-’Akhlaqiya) zu erwerben, solange er einen gesunden Verstand besitzt und entsprechende Erfahrungen hat.471 ʿAbdaljabbar argumentiert so: Wären die Handlungen ohne die Bestimmung der göttlichen Offenbarung wertlos, so erhebt sich die Frage, aus welchem Grunde Gott diese oder jene gebietet. Es bleibt demnach nur die eine logische Erklärung dafür, dass Gott diese oder jene Handlung geboten oder verboten hat, weil sie gut oder böse ist, also aufgrund bereits vorhandener Werte.472 Mit der Frage, wie man die Erkenntnis erwerben kann, kommt man zum zweiten Teil der Erkenntnistheorie ʿAbdaljabbars. Er sieht drei Arten von Erkenntnissen, die durch drei verschiedene Mittel erworben werden können473: 1. Erkenntnisse, die als Folge des rationalen Denkens (bi ad-darura al-ʿaqliya) für jeden denkfähigen Menschen erreichbar sind; vielleicht darf man dabei an apriorische Erkenntnissen denken. 2. Erkenntnisse, die außer der Denkfähigkeit zusätzliche Überlegungen (Ta’ammul za’id) erfordert. 3. Erkenntnisse, die durch die Beweisführung (ʿan tariq al-’Istidlal) gewonnen werden können. Die von ʿAbdaljabbar angezeigten drei Arten können auf zwei reduziert werden, ohne den Inhalt zu beeinträchtigen. Die eine kann man als ein natürliches Wissen bezeichnen, das jedem denkfähigen Menschen zugänglich ist, die andere umfasst die weiteren zwei Arten (2 und 3), für deren Erwerb eine besondere Denkfähigkeit und eine bestimmte Erfahrung vorausgesetzt werden. Die nennenswerten Versuche, die Muʿtaziliten in Subjektivisten und Objektivsten einzuteilen wurden u. a. vom Imam Muhammad ʿAbduh (gest. 1385 n. H./1905 470 Siehe Al-Aschʿari, Abul-Hasan, Al-Lumaʿ, Mc Carthy (Hrsg.), Beirut 1953. S. 52; u. Abu Bakr: Al-Insaf, Al-Kauthari, M. Z. (Hrsg.), Kairo 1953, S. 407; vgl. Al-Baqillani, Abu Nasr Al-Maturidi: Ta’wilat Ahl As-Sunna, I.,ʿAwadain, U. S., Kairo 1971. 471 Vgl. Al-Mughni, VI, S. 10. 472 Siehe Al-Mughni, VI, I, 63–64; XIII, S. 351: u. Jarallah, Z.: Al-Muʿtazila, Kairo 1947, S. 167. 473 Siehe Al-Mughni, VI, I, S. 122.
Beitrag 1: Die Blütezeit der Muʿtazila und ihre Rezeption bei den Spätmuʿtaziliten
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n. Chr.), dem größten neuzeitlichen muslimischen Theologen, und ʿAbdalkarim ʿUthman in einer biographischen Schrift über ʿAbdaljabbar unternommen. Imam Muhammad ʿAbduh vertritt die Ansicht, dass die Frühmuʿtaziliten (2.–3. n. H./8.–9. Jh. n. Chr.) Objektivsten waren. Die späteren wären, seiner Meinung nach, dagegen Subjektivisten, da diese von zusätzlichen Eigenschaften sprachen, die durch bestimmte Aspekte gewonnen werden.474 Diese Aussage übersieht u. a., dass Muʿammar Ibn ʿAbbad As-Sulami (gest. 210 n. H./834 n. Chr.) dem sogenannten „Maʿna“ sprach, das etwas anderes als das Objekt darstellt und dieses hinsichtlich der Eigenschaft beeinflusst.475 ʿAbdalkarim ʿUthman bezeichnet dagegen die Muʿtaziliten von Basra als Nicht-Objektivsten, da diese keine wesentliche Eigenschaft für die Tat anerkannten. Sie sind aber auch, so ʿUthman, insofern keine Subjektivisten, als sie die Eigenschaften völlig unabhängig von der betrachtenden Person sahen, gleich, ob es sich dabei um Gott oder Mensch handelt. Die Muʿtaziliten von Bagdad bezeichnet ‘Uthman als Objektivsten, weil sie den Taten als solche die Eigenschaft gut oder böse zuschreiben.476 Nimmt man die Einstellung des Abu Haschim, der ein Basrier und in dieser Hinsicht ein ausgesprochener Objektivist war, stellt sich die Aussage des ‘Uthmans zweifelhaft dar. Zusammengefasst hat die muʿtazilitische Erkenntnistheorie zwei Teile, einen theoretischen und einen praktischen. Der theoretische befasst sich mit der Frage, wie man die Erkenntnisse erwerben kann, wofür drei Wege gezeigt werden. Der erste ist die Denknotwendigkeit (ad-Darura al-ʿAqliya bzw. al-ʿIlm ad-Daruri) durch die man nur die allgemeinen Kenntnisse über das Objekt erfassen kann; der zweite Weg ermöglicht dagegen eine präzisere Kenntnis, setzt allerdings außer der Denkfähigkeit beim ersten Weg und zusätzlicher Überlegungen die Beweisführung (al-’Istidlal) voraus.477 Die letzten beiden Wege sind besonders für Bereiche des Fiqh unentbehrlich. Der praktische Teil ihrer Erkenntnislehre befasst sich, nach ʿAbdaljabbar, vornehmlich mit speziellen Fragen, durch die man gewisse Urteile über bestimmte Gegenstände des alltäglichen Lebens erwerben kann. 474 Siehe Dunya, S.: Asch-Scheikh Muhammad ʿAbduh, Kairo 1960, S. 567. 475 Ibd. 476 Die hier erwähnte Aussage von Muhammad ʿAbduh passt eher zu Al-Kaʿbi. Vgl. dazu Peters, J. R: God’s Created Speech, S. 207. 477 Siehe die unterschiedlichen Definitionen dieses Begriffs bei ʿAbdaljabbar in seiner Auseinandersetzung mit den sogenannten „Ashab al-Ma’arif“ in: Scharh Al-Usul Al-Khamsa, S. 50, und dazu die Erläuterung von Hourani G. F, in: Islaamic Rationalism, S. 20–21, über den Unterschied zwischen dem arabischen Begriff „Daruri“ und dem englischen „necessary“.
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Dieser Teil hat wiederum zwei Themenbereiche. In dem einen geht es um ästhetische und im anderen um ethische Urteile. Mit ʿAbdaljabbars muʿtazilitischer spekulativer Theologie haben wir, soweit die vorhandenen muʿtazilitischen Quellen uns berichten, eine spezielle Art der Erkenntnistheorie vor uns, die zwar der menschlichen Vernunft eine zentrale Funktion zuschreibt, sie allein jedoch als nicht ausreichend für den Erwerb der präziseren Kenntnisse betrachtet. Damit nimmt ʿAbdaljabbar wieder einmal einen Zwischenstand zwischen der reinen Rationalität und der Orthodoxie ein oder er rückt sie zusammen. Diese Tendenz setzte sich durch ʿAbdaljabbars Schüler und die Nachfolgergenerationen bis Taqiyuddin An-Najrani im 7./13. Jahrhundert fort und ebnete damit den Weg für „Dar’ at-Taʿarud bain al-ʿAql wan-Naql“ von Ahmad Ibn ʿAbdalhalim Ibn Taymiya (gest. 728 n. H./1328 n. Chr.). Literaturhinweise zu diesem Thema
Al-Fard, Hafs al-Marisi, Bischr: „Dirars politische Theologie, seine Werke und Schüler“, in: Der Islam, Bd. 44, 1968, S. 1–70. Eberhardt, Dorothee: Der sensualistische Ansatz und das Problem der Veränderung in der Philosophie Mʿammars und an-Nazzams, Diss., Tübingen 1979. Ess, Josef van: „Dirar Ibn ʿAmr und die Gahmiya, Biographie einer vergessenen Schule: u. a. Dirar u. Gahm b. Safwan, Determinismus, die Attributenlehre, Nazzam, Gahiz (al-Hayawan), Beziehung zur Antike“, in: Der Islam, Bd. 43, 1967, S. 241–279. Ess, Josef van: Theologie und Gesellschaft im 2. u. 3. Jahrhundert, 6 Bde., Berlin, Gruyter Verlag 1991–1995. Ders.: „Gahiz und die ashab al-maʿarif“, in: Der Islam, Bd. 42, 1966, S. 170–176. Frank, Richard M.: The Metaphysics of Created Being according to Abul-Hudhayl, al-ʿAllaf, a Philosophical of the Earliest Kalam, Istanbul 1966. Gätje, Helmut: „Zur Farbenlehre in der islamischen Philosophie“, in: Der Islam, Bd. 43, 1967, S. 280–301. Goldziher, Ignaz: Vorlesungen über den Islam, Heidelberg 1910. Hans, Daiber: Muʿammar Ibn ʿAbbad As-sulami (210/830), 1. Ausgabe, Franz Steiner Verlag, Beirut 1975. Horton, Max: Die philosophischen Probleme der spekulativen Theologie im Islam, Bonn 1910. Hourani, George Fadlo: Islamic Rationalism, the Ethics of ʿAbdalgabbar, Oxford 1971. Ibn Mattawaih, Al-Hasan, At-Tazkira fi ahkam al-jawahir wal-aʿrad, Latif, Samy Nasr u. ʿAwn, Faisal Budyr (Hrsg.), Kairo 1975. Peters, J. R. T. M.: God’s Created Speech, Brill, Leiden 1976.
Prezl, Otto: „Zu frühislamische Atomenlehre (Die Beziehung der frühislamischen Theologie zur griechischen Philosophie)“, in: Der Islam, Bd. 19, S. 117–130. Steiner, Heinrich: Die Muʿtazila oder die Freidenker im Islam, Leipzig 1865.
Beitrag 2: Zwischen Tabubrechern und Kämpfern gegen die Zensur
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Beitrag 2: Zwischen Tabubrechern und Kämpfern gegen die Zensur
Zwischen Tabubrechern und Kämpfern gegen die Zensur. Die Konstruktion europäischer Identität und der (Un-)Geist des antimuslimischen Rassismus Vortrag auf der Eröffnungskonferenz des Instituts für Interkulurelle Islamforschung (INTIS) im Islamischen Zentrum Wien, 10. März 2009 Rüdiger Lohlker, Wien Eine Fallstudie soll zeigen, auf welche Weise über Konstruktionen des antimuslimischen Rassismus europäische Identität hergestellt wird und vor welchem Hintergrund dies geschieht. Es wird also über Europa und ‚seine Fremden‘ zu sprechen sein. Letztlich geht es bei den ‚Fremden‘, bei den ‚anderen‘ auch immer um das Ich, das Selbstverständnis. Eine sehr komplexe Beziehung. Lassen Sie mich dafür zuerst Tzvetan Todorov anführen, der in seiner Studie über die Eroberung Amerikas schreibt: Ich will von der Entdeckung des anderen durch das Ich sprechen. [...] Man kann die andern in sich entdecken, kann herausfinden, dass man keine homogene Wesenheit ist, die mit nichts außer sich selbst etwas gemein hätte: Ich ist ein anderer. Aber die anderen sind auch Ich: Subjekte wie ich, die nur mein Blickwinkel, aus dem alle dort sind und ich allein hier bin, tatsächlich von mir trennt und unterscheidet. Ich kann diese anderen als eine Abstraktion sehen[...], als das Andere, den anderen oder die anderen in Bezug auf das Ich oder aber als eine konkrete gesellschaftliche Gruppe, der wir nicht angehören.
Dieses andere, von dem Todorov spricht, hat in der europäischen Moderne noch weitere Dimensionen. Das europäische Ich mit seinen Rationalitätsstrukturen konstruiert sich durch Abspaltungen vielfältiger Art, die sowohl die Natur, die Leiblichkeit als auch ‚die Frau‘ als anderes des europäischen, logozentrischen, weißen Mannes betreffen. Was nicht hindert, dass Frauen diese Grundstruktur flankierend unterstützen (s. u.). Dazu tritt als weitere abgespaltene Sphäre die kolonisierte Welt außerhalb Europas. Insofern ist Markus Schmitz zuzustimmen: Die westliche Kultur der Moderne ist von einem spezifischen Begriff der Rationalität geprägt, der auf die Konstruktion eines inneren und äußeren Anderen angewiesen ist.
Dieses äußere – und zugleich jetzt innere – andere Europas, auf diesen Erdteil möchte ich mich konzentrieren, konkretisiert sich zur Zeit in Form der muslimischen Minderheiten Europas und ihrer zunehmenden öffentlichen Sichtbarkeit. Damit wandelt
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sich die „Faszination“ des Islam, von der Maxime Robinson sprach, in bedrohliche „Euro Phantasien“, die sich um muslimische Frauen bündeln. Der sich so herausbildende antimuslimische Habitus kann umso mehr als ein Rassismus bezeichnet werden, je mehr er „den“ Islam zu einem Differenzierungsmerkmal macht, das das Wesen aller Moslems zu durchdringen scheint und sich wie eine biologische Eigenschaft von einer Generation auf die andere vererbt. [...] Die Bezeichnung Rassismus ist vor allem auch dann angemessen, wenn die entsprechenden Konstruktionen der Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse dient.
Innerhalb dieses rassistischen Diskurses hat der Geschlechterdiskurs eine besondere Rolle. Iran Atiya schrieb dazu: Im antimuslimischen Geschlechterdiskurs zeigt sich besonders deutlich, wie sehr Orientund Islambilder der kulturellen Selbstrepräsentation dienen. Indem einerseits Sexismus und Patriarchat als orientalisch bzw. islamisch und andererseits Gewalt als männlich identifiziert werden, kann die eigene (Mit-)Täterschaft an rassistischen Diskursen und Praxen geleugnet werden. [...] Im Kontrast zu ‚islamischen‘ Männern erscheinen ‚westeuropäische‘ noch ganz akzeptabel. ‚Orientalische‘ Frauen dagegen werden marginalisiert als Opfer ‚ihrer‘ Männer, Kultur und Religion. Gehört werden sie nur, sofern und solange sie Frauenunterdrückung – und zwar jene durch ‚ihre‘ Männer, Kultur und Religion – bezeugen können. Von diesen Eindeutigkeiten abweichende Lebensentwürfe, Äußerungen und Praxen, die sich in ironischem Spiel und Persiflage, in Umcodierungen und Zurückweisungen, in kritischen Analysen und vor allem in unspektakulärem Alltag präsentieren, müssten zwar längst die Einfältigkeit und Hinfälligkeit der Bilder ad absurdum geführt haben. Dennoch wird daran vehement festgehalten und die Reproduktion der Bilder aktiv betrieben. Damit ist die Konstruktion des Anderen nicht nur von Männern zutiefst in die Konstruktion Europas eingeschrieben.
Der antimuslimische Rassismus wird virulent in einer Situation, in der „der Westen“ bzw. „Europa“ seiner Errungenschaften nicht mehr sicher sein kann. Das „gilt auch für den wirklich wichtigen zivilisatorischen Wert des Westens: den materiellen Reichtum.“ Die rassistische Grundstruktur des europäischen anderen wird zu aktuellen Anlässen immer wieder sichtbar.
Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich
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Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich
Zwischen Gottesstaat und Demokratie. Handbuch des politischen Islam, von Schmidinger, Thomas / Larise Dunja (Hg.), Wien 2008. Pentz, Eva u.a.: „Dies ist kein Gottesstaat!“ Terrorismus und Rechtsstaat am Beispiel des Prozesses gegen Mohamed M. und Mona S., Wien 2008. Der Rezensionsartikel erscheint in der „Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes“, 23. Nov. 2008 Rüdiger Lohlker, Wien Das Problem am „religiösen Fundamentalismus“, also der Politisierung elitärer Religionen, ist nicht die Tatsache, dass sie Religionen sind, sondern dass ihre Führung elitär ist.478
Spivak spricht einen zentralen Punkt der Debatte an, um die es hier geht: Ist es nur erlaubt, sich in europäischen Gesellschaften politisch zu äußern, wenn diese aus säkularistischer, europäischer Tradition heraus geschieht? Europäische Gesellschaften und politische Systeme haben zumeist recht wenig Probleme, wenn Christen und Christinnen sich politisch äußern; machen es andere religiös gestimmte Menschen, wird es problematisch. Gerade unter den Vorzeichen einer als europäisch konstruierten Identität. Fangen wir aber mit dem Positiven an! Die Absicht, das Bild des Islams und insbesondere der MuslimInnen in Österreich ausdifferenzieren zu helfen, ist gewiss lobenswert und nur zu begrüßen. Auch mancherlei Informationen des vorliegenden Bandes sind nützlich. Dass Informationen aus bosnischen Quellen vorliegen, ist begrüßenswert. Bedenken wir, dass der bosnische Islam der große Unbekannte in der Landschaft des europäischen Islams ist. Leider trüben etliche Mängel dies auf den ersten Blick erfreuliche Bild. Der Verlag verspricht einen „fundierten Überblick“, fragt danach, wie weit „der Islam als Religion“ zu verstehen sei, so der Klappentext. Spätestens hier wird also deutlich, dass das Buch in einem bestimmten Kontext eingeordnet wird, der an der ‚Fundiertheit‘ des Überblicks zweifeln lässt. Nun, einem Fehler begegnen wir bereits auf den ersten Textseiten479: Aziz al-Azmeh ist inzwischen gar nicht so weit vom Verlagsort Wien in Budapest tätig und nicht mehr in Exeter. Es wäre wohl ein einfaches Recherchemanöver gewesen, dies festzustellen. Wenn allerdings der Titel der deutschen Übersetzung eines Buches gebraucht 478 Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten, Zürich, Berlin 2008, S. 93. 479 Ibd., S. 7 f.
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wird („Islamisierung des Islam“), um eine Zielrichtung des vorliegenden Bandes zu formulieren, verwundert es nicht. Die – wie immer – höchst differenzierte Argumentation al-Azmehs wird ‚heruntergebrochen‘ darauf, dass die ‚politischen Muslime‘ beabsichtigen, die ‚säkularisierten Muslime‘ zu ihrer Form des Islam zu bekehren. Das Detail, dass es darum in al-Azmehs Buch nicht geht, scheint nicht weiter zu stören. Der redliche Brauch würde ein Anzeigen dieser Verschiebung notwendig machen. Die „Ehre“ der islamischen Geschichte versuchen die AutorInnen zu retten, indem sie auf die Muʿtazila als Aufklärer verweisen, die Qarmaten als „Gerechtigkeitsbewegung“480 etikettieren, etwas, das auch die Konstruktion eines Ursprungsmythos bedeutet, der erkenntnistheoretisch auf gleicher Stufe steht wie andere Ursprungsmythen, die den AutorInnen nicht so sehr gefallen (s.u.). Ungeachtet der persönlichen Integrität der am Band beteiligten Personen ist die bloße Feststellung eines Migrationshintergrundes481 kein Ausweis besonderer Qualität. Mit solchen Argumentationsfiguren wird auf ähnlichem Niveau argumentiert wie bei AutorInnen der Kategorie Bassam Tibi, die aus dem bloßen Muslimsein eine Allgemeinkompetenz für ‚Islamfragen‘ generiert haben, die durch keinerlei inhaltliche Qualität gedeckt wird. Ergänzt wird dies mit KronzeugInnen, die aus ‚dem Inneren‘ der ‚Parallelgesellschaften‘ berichten und – mit oder ohne Ghostwriter – in der Nachfolge Betty Mahmoodys agieren und dem schaudernden Publikum Einblicke in eine geheimnisvolle Welt gewähren. Zuweilen wird dies auch mit etwas seriöser erscheinenden KronzeugInnen komplettiert. Es bleibt zu hoffen, dass die AutorInnen sich nicht bewusst waren, in welche Tradition sie sich einschreiben. Wir dürfen auf die eingangs zitierte Gayatri Spivak verweisen, um an die auch in diesem Kontext notwendige Selbstreflexivität zu erinnern. Interessant wäre, auf welche Weise sich die AutorInnen „klandestinen Untergrundgruppen, die potenziell in“ terroristische „Aktivitäten verwickelt sein könnten“, so genähert haben, dass sie die „Namen wichtiger Funktionäre“ nennen könnten, wenn sie denn wollten.482 In dieser Formulierung macht es den Eindruck purer Bedeutungsschinderei. Eine verstärkte „Versachlichung und Präzisierung der öffentlichen Debatte“483 leisten zu wollen, ist sicherlich verdienstvoll, wenn einige Zeilen später „repressivere gesellschaftliche Verhältnisse“ die „Freiheit“ der Muslime bedrohen und zwar seitens der proklamierten politisch-islamischen Gefahr, ist der Gebrauch von „gesellschaft480 Ibd., S. 8. 481 Ibd., S. 18. 482 Ibd., S. 16. 483 Ibd., S. 17.
Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich
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lich“ durch SozialwissenschaftlerInnen zumindest bedenklich oder es liegt eine Projektion vor. Sehr selektiv ist die Kenntnis der AutorInnen über die aktuellen Diskussionen. Als Beleg für Alarmsignale gilt ihnen die Studie von Heitmeyer et al. „Verlockender Fundamentalismus“484. Es wird zwar relativiert, da dies Ergebnisse aus den 1990er Jahren seien, von der dezidierten Kritik an dieser Studie und ihrer Methodik erfährt das geneigte Lesepublikum nichts. Insgesamt scheint die Rezeption der Sekundärliteratur höchst einseitig zu sein. Auch für ein ‚Sachbuch‘, wie es der vorliegende Band sein soll, ist dies kaum zu rechtfertigen. Kommen wir als erstes zu den theoretischen Konzepten! Wir würden erwarten, dass Klarheit geschaffen wird, warum die AutorInnen im Gegensatz zu Olivier Roy nicht vom Scheitern des politischen Islam reden wollen. Dafür finden wir allerdings keinen Anhaltspunkt. Im Kapitel über Begrifflichkeiten wird uns aber Klarheit versprochen. Wenn es sich bei dem vorliegenden Band auch nicht um ein wissenschaftlich orientiertes Werk handelt, ist es doch mehr als irritierend, wenn zur Begriffserklärung hauptsächlich Duden-Einträge herangezogen werden. Etwas mehr intellektueller Aufwand wäre vielleicht doch angemessen. Ohne auf die überaus kritische Diskussion einzugehen485 (nur davon, dass er umstritten ist, wird gesprochen486), wird z. B. der ‚Begriff‘ des Islam(o)faschismus eingeführt. Auch wenn er von den Autoren abgelehnt wird, scheint dies nur auf die mangelnde Akzeptanz in der wissenschaftlichen Diskussion zurückzuführen zu sein. Normativ werden unter politischem Islam alle „Bewegungen und Gruppierungen“ gefasst, die den Islam „nicht als reine Religion verstehen, sondern [...] ein politisches Konzept des Islam verfolgen“487. Erwarten wir allerdings Aufschluss, was hier als „reine Religion“ firmiert, werden wir enttäuscht. Lesen wir dieses Statement anders, wird jede Religiosität, die über ein „Taufscheinchristentum“ hinausgeht, als „politisch“ zu qualifizieren sein. Damit entpuppt sich der Kern des vorliegenden Bandes als von jeglicher Kenntnis über moderne religiöse Entwicklungen vollkommen unberührtes Projekt eines Aufklärungsfundamentalismus. Dies ist legitim, wird eine Kampfschrift verfasst, nicht in einer sich als ‚Handbuch‘ gebenden Publikation. Dass aus dieser normativen Sicht der aufklärerischen Moderne auch solch unfundierte Konzepte wie das der ‚halben Moderne‘ Tibis attraktiv erscheinen,488 mag nicht mehr 484 Ibd., S. 22. 485 Ibd., S. 30 f. 486 Ibd., S. 31. 487 Ibd., S. 31. 488 Ibd., S. 29 f.
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zu verwundern. Ein informierter Blick hätte den ideologischen Charakter dieser Konstruktion schnell erkannt. ‚Fundamentalistisch‘ sind Bewegungen, die „besonders rückwärtsgewandt“ sind.489 Hier wird also in einer Definition ein Werturteil der Beurteilenden einbezogen. Apart ist, dass in einem Band als Indikator nur der Bezug auf Koran und Sunna einbezogen wird. Die AutorInnen geben uns keine Auskunft darüber, wie sie es mit schiitischen Bewegungen halten oder ob sie, ausschließen kann man es nicht, unter „Sunna“ auch die schiitischen Überlieferungen subsumieren. Als „integralistisch“ werden Organisationen benannt, die „einen Bruch mit dem überkonfessionellen Staat herbeiführen wollen“490. Unbeantwortet bleibt die Frage nach dem oben genannten Scheitern des politischen Islams, denn das wäre dieser Integralismus in Roys Beitrag zur Diskussion. Die Veränderungen in den islamischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte und die entsprechende Forschung scheinen an den AutorInnen vorbeigegangen zu sein. Dass auch nichts vom Neo-Fundamentalismus Roy’scher Prägung zu hören ist, wundert nicht. Weitere Unterscheidungen sind „reformistisch“, „revolutionär“ und „dschihadistisch“. Geradezu kurios ist die Anmerkung, dass mit den letztgenannten Qualifikationen „noch nicht der Vorwurf einer strafbaren Handlung“ verbunden sei.491 Es muss also Anlass geben, dass dies aus den Kategorisierungen ableitbar ist. Saubere Definitionen? Das Kapitel über „Ideologeme“492 betreibt aber dann wieder eine Vermischung von Fundamentalismus und Integralismus ungeachtet aller spezifischen Differenzen“493, was angesichts des definitorischen Aufwandes, der zuvor betrieben wurde, verblüfft. Es fällt zudem die Vermischung einer staatlichen Erklärung über die Menschenrechte, die von den Organisationen Islamischer Konferenzen (OIC) verabschiedet wurde, mit fundamentalistischen, integralistischen etc. pp. Bewegungen auf.494 Eine systematische Einbeziehung staatlich propagierter Ideologien fällt aber aus. Sonst müssten vermutlich alle Botschaften islamischer Staaten als Agenten des politischen Islams klassifiziert werden. Angesichts des nonchalanten Umgangs mit Geschichte, die in islamischem Kontext steht, mutet der Vorwurf der mangelnden Unterscheidung zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus, der anscheinend nur
489 Ibd., S. 32. 490 Ibd. 491 Ibd., S. 32 492 Ibd., S. 33 ff. 493 Ibd., S. 33. 494 Ibd., S. 34.
Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich
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für den „islamischen Fundamentalismus“ (!?) gilt,495 etwas merkwürdig an. Es wird auch die inzwischen weidlich bekannte Konstruktion eines politischen Islamismus als antisemitische Bewegung wiederholt, die hier nicht weiter analysiert werden kann. Nur die mangelnde Kenntnis der neueren Literatur und der Lücken in der Forschung kann diese Konstruktion weiterhin aufrechterhalten. Es sei nur auf Wiens einschlägige Untersuchung zum Irak hingewiesen. Auch für die dschihadistische Strömung kann die Zentralität des Antisemitismus nicht so umstandslos behauptet werden. Auch mit Bezug auf den Kritikpunkt der Homophobie können die AutorInnen aus Platzmangel nur auf neuere Literatur wie die Arbeiten von El-Rouayheb oder unlängst Georg Klauda verwiesen werden, die die kommode Konstruktion des anderen des aufgeklärten Europa erschweren. Denn darum handelt es sich. Es geht um die Zuweisung von Phänomenen, die in Europa, dem Hort der Aufklärung, durchaus massiv präsent sind, an die ‚anderen‘, hier nicht die Muslime, sondern die Islamisten u.ä. Die knapp sechszeilige Rückversicherung, dass es natürlich Antisemitismus und Homophobie in anderen Strömungen gebe,496 wirkt angesichts der seitenlangen eindeutigen Zuweisungen nur als Ornament am Rahmen eines eindeutigen Bildes. Kommen wir zu einigen Beispielen! An den historischen Teilen des Handbuches verblüfft mancherlei, aus Gründen der Raumökonomie können nicht alle Punkte betrachtet werden. Nur ein besonders schönes Beispiel: Muhammad Abduh und al-Afgani wären verblüfft gewesen, hätten sie erfahren, dass die Entstehung der Salafiya mit der des Wahhabitentums „zeitlich fast völlig“ zusammengefallen sei,497 wobei die Salafiya auf eine „breite Strömung islamischer Reformer“498 zurückgehe, deren Vordenker sie gewesen seien. Immerhin habe es sich bei ihnen um ‚islamische Reformer‘ gehandelt. Bei vorsichtiger Analyse lässt sich vermuten, dass die AutorInnen damit vielleicht Salafisten ab dem 1920er Jahren meinen. Dass es hier nur um die Herstellung eines Bandes zwischen Salafiya und Wahhabiten geht, ist offenkundig. Dass hier präzise Kenntnis der außereuropäischen Geistesgeschichte nicht für nötig erachtet wird, ist es ebenfalls. Abduh und al-Afgani wird positiv angerechnet, sie hätten eine „Modernisierung des Islams“ angestrebt.499 Dagegen haben die verdächtigen Salafisten und Wahhabiten noch etwas gemeinsam: den Bezug auf die islamische Urgemeinde. Nun könnte man Ähnliches bei den genannten beiden Autoren finden. Dann funktioniert die Konstruktion natürlich nicht mehr so schön. Dass zu der „Moderne“, die den AutorInnen so lieb ist, auch ein Bezug auf einen „Naturzustand“ gehört, auf einen 495 Ibd., S. 36. 496 Ibd., S. 46. 497 Ibd., S. 70. 498 Ibd. 499 Ibd.
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deutschen Urmenschen wie Luther etc., mag vielleicht PolitikwissenschaftlerInnen unbekannt sein, sollte aber anderen Stoff zum Nachdenken über den Charakter der Moderne geben. Dass „as-salafiyya“ nicht „die Vorfahren“500 bezeichnet, sondern den Bezug auf die salaf, sei nur noch der Vollständigkeit halber angemerkt. Ein ganz apartes Exemplar selektiver Wahrnehmung, die den Band kennzeichnet, findet sich im Falle der Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen (IMÖ). Ein zentraler Begriff der muslimischen Reformdiskussion seit dem 18. Jahrhundert ist der „igtihad“. Wir können hier nicht diskutieren, in welcher Form dieser Begriff eingesetzt wurde, um für die neu entstandenen Positionen der islamischen Reformbewegungen Raum im Feld der islamischen intellektuellen Diskussion zu schaffen. Es gibt also durch die Jahrhunderte eine Vielzahl von Personen, die vom igtihad sprechen. Auch die von einem der Herausgeber in einem anderen Band (s.u.) positiv apostrophierten islamischen TheologInnen beziehen sich auf diesen igtihad. Nun beziehen sich aber auch andere Autoren auf ihn. So zitiert man im Handbuch den „aus der Muslim-Bruderschaft hervorgegangenen Reformer al-Turabi“ als Befürworter des igtihad für eine moderne Auffassung des islamischen Rechts.501 Da man den Eindruck gewinnt, die Muslimbrüder stellten das wichtigste Feindbild im „Handbuch“ dar, ist eine direkte Erwähnung in diesem Zusammenhang ein schlechtes Vorzeichen. „Ganz in diesem Sinne“ argumentierend wird dann als Vertreter der IMÖ Tarafa Baghajati vorgestellt, der sich ebenfalls für den igtihad ausspricht.502 Der suggerierte Schluss ist klar: Die IMÖ vertritt Positionen der Muslimbrüder. Aber es wird noch interessanter: „Ganz ähnlich wie Tariq Ramadan und islamische Reformer aus dem gemäßigten Flügel und Umfeld der Muslim-Bruderschaft in Ägypten argumentiert Baghajati, dass sich bereits im Koran positive Frauengestalten finden würden [...]“503. Damit wäre die vorsichtshalber nur ideologisch argumentierende Zuordnung Baghajatis zu den Muslimbrüdern abgeschlossen – auf der Basis einer Art Hermeneutik des Verdachts. Wer „ähnlich“ argumentiert, muss auch sonst so ähnlich sein. Dass eine Vielzahl von Frauen, in der höchst differenzierten innermuslimischen Diskussion, von der die AutorInnen wohl keine Kenntnis haben (haben wollen?), gerade diese und andere historische Vorbilder heranzieht, um ihre Positionen zu begründen, davon finden wir keine Spur. Und dann auch noch das: Es wird „die europäische Aufklärung nicht offen angegriffen“504. Welch Perfidie! Wir ahnen, dass der Angriff hinterrücks erfolgt. Es wird dann eine 500 Ibd. 501 Ibd., S. 104. 502 Ibd., S. 104 f. 503 Ibd., S. 105. 504 Ibd.
Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich
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Stellungnahme zitiert, in der die Vertreterin der IMÖ auf die europäische Begründetheit der Aufklärung verweist, theoretisches Kleingeld der aktuellen Diskussion um den Eurozentrismus; es kann hier nicht an die Vielzahl von kritischen Ansätzen erinnert werden. Das hier die „Universalität der Aufklärung“ zum Schibboleth wird, von dem jeglicher kritischer Blick fernzuhalten ist, verwundert nicht. An solchen Stellen entpuppt sich der als „Handbuch“ objektiv gerierende Band als Tendenzschrift. Eine Tendenzschrift, die ihren eigenen Ausgangspunkt verbirgt. Wenn auf Angriffe der IMÖ auf „selbsternannte linke Philozionisten“ hingewiesen wird,505 wird verschwiegen, dass es sich um eine Debatte handelt, die der Mitherausgeber mit Vertretern der IMÖ seit längerem in der österreichischen Öffentlichkeit führt. Davon erfahren die LeserInnen nichts. Auch wird auf eine vom österreichischen Außenministerium unterstützte NGO verwiesen.506 Besonders skurril ist der mahnende Hinweis, der bereits genannte Baghajati habe den Ausschluss der Mitangeklagten Mona S. im einschlägigen Terrorprozess kritisiert,507 was der Mitherausgeber und ein Mitautor in einem anderen Band selber tun (s.u.). Über die enge Verbindung des Mitherausgebers zu dieser NGO erfahren wir nichts ... Immerhin wird der IMÖ eine glaubhafte Abgrenzung von dschihadistischer Gewalt konzediert,508 aber dann moniert, „dass gar Goethe zur Argumentation“ herangezogen wird.509 Ein Frevel, zweifelsohne! Zum Schluss wird noch die scheinbare Affäre um Christine Schirrmacher erwähnt, ohne das geringste über deren Hintergrund zu recherchieren,510 eine selektive Wahrnehmung, die wir auch an anderen Stellen finden. Andere Organisationen werden auch bedacht. An dieser Stelle kann nicht auf jeden einzelnen Punkt eingegangen werden; einige Beispiele müssen genügen. Die Liga Kultur wird u.a. kritisiert, weil sie „propalästinensische beziehungsweise antiisraelische Agitation“511 betreibe. Einer der Belege für diese offenkundig negative Aktivität ist eine Stellungnahme eines Repräsentanten der Liga, der davon gesprochen habe, die israelische Polizei schieße mutwillig auf Kinder.512 Rez. muss bekennen, durch jahrelange Medienrezeption selber diesen Eindruck gewonnen zu haben ... Als Vernetzung der Liga auf europäischer Ebene wird der „Europäische Rat für Fatwa und Forschung“ genannt, in dem Jusuf al-Qaradawi eine 505 Ibd., S. 107. 506 Ibd., S. 111. 507 Ibd. 508 Ibd., S. 109. 509 Ibd. 510 Ibd., S. 112. 511 Ibd., S. 113. 512 Ibd., S. 114.
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führende Rolle spielt.513 Nun erfahren wir nichts weiter über diesen Rat und seine differenzierten Diskussionen, so dass der Verweis auf al-Qaradawi nur signalisiert, dass hier wieder eine Muslimbrüdernähe besteht. Trotz dieser ständigen Suggestion einer Nähe zur Muslimbrüderschaft muss dann ein Autor konstatieren, dass eine wissenschaftliche Beantwortung der Frage nach der Zugehörigkeit von Personen und Gruppen nicht möglich sei.514 Besonders skurril mutet der Eintrag zum Islamischen Zentrum Wien an.515 Hier scheint der Gipfel der Perfidie des politischen Islams erreicht: „Bei einem unangemeldeten Besuch wird man freundlich und bemüht empfangen.“516 Saudis massakrieren also keine unangemeldeten Ungläubigen. Angesichts solcher Naivität mag man sich kaum vorstellen, was für „brenzlige Fragen“ die mutigen Rechercheure gestellt haben. Dass sie richtig feststellen, dass unkommentiert Bücher eines höchst zweifelhaften Autors wie Roger Garaudy präsentiert werden, rettet nichts. Hier wäre eine wichtige Aufgabe für ein Handbuch wie das vorliegende, das Diskursuniversum zu verstehen, in der ein höchst mittelmäßiger Autor wie Garaudy mit seiner Holocaustleugnung zu Ruhm gelangen kann. Aber das ist wohl etwas zu viel verlangt. Ein Zeitungsbericht über ‚Islamcamps‘ der VIKZ in Tirol wird ebenfalls als – offenkundig negatives – Beispiel erwähnt. Dass der Bericht von einem Journalisten mit türkischem Migrationshintergrund stammt, dient als weitere Authentifizierung.517 Wir erfahren nichts über Inhalte, Lehrmethoden, nur die Geschlechtersegregation wird erwähnt. Wir dürfen noch einmal auf Schiffauers genaue Analyse eines Fallbeispiels hinweisen, das über den beschränkten Blickwinkel der AutorInnen hinausführt. Dass die UETD als europäische Organisation der türkischen Regierungspartei AKP aufscheint,518 mag nicht verwundern. Verwunderlich ist aber, dass eine Regierungspartei aufgeführt wird, eine Organisation, die von derselben Regierung kontrolliert wird, aber nicht. Wenn es wirklich um Ideologie ginge, wäre da eine Detailanalyse doch mehr als notwendig. Recht obskur ist die Einstufung der Naqšbandiya als „konservativ“.519 Der geneigte Leser darf vermuten, dass die AutorInnen dies vermeinen, weil es Verbindungen zu regierenden Kreisen gegeben hat und gibt. Eine Realanalyse der höchst komplexen Geschichte dieser sufischen Strömung fehlt. 513 Ibd., S. 115 f. 514 Ibd., S. 122. 515 Ibd., S. 129 f. 516 Ibd., S. 130. 517 Ibd., S. 168. 518 Ibd., S. 168 ff. 519 Ibd., S. 176.
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Wenn angemessen kurz über die Kaplancilar gehandelt wird,520 verwundert es doch, dass die einzige auf empirischer Forschung beruhende Untersuchung über diese Strömung, Werner Schiffauers „Gottesmänner“, nicht einmal erwähnt wird. Dies hätte vielleicht etwas über die bloße Vermutung von Kontakten zu Einzelpersonen521 hinweggeholfen. Die Konstruktionsprozesse der AutorInnen können wir wiederum im Abschnitt über den politischen Islam „mit indischem, pakistanischem und afghanischem Migrationshintergrund“522 am Werke sehen. Shah Waliullah wird heranzitiert, der zusammen mit Muhammad b. Abdalwahhab studiert haben könnte.523 Diese phantasierte Möglichkeit reicht aus, um eine direkte Verbindung der indischen Muslime zum Monster des Wahhabismus zu kreieren, von dessen Genese die AutorInnen wohl so viel Kenntnis haben wie von der hochdifferenzierten indischen Diskussion über islamische Reform – vermutlich keine. Der zitierte Autor Charles Allen mag zwar ein schöner Geschichtenerzähler sein, ist aber kaum in der Lage, autoritativ über die Zusammenhänge der islamischen Reformbewegungen des 17. bis 19. Jahrhunderts Auskunft zu geben. Einen Gelehrten vom Kaliber eines Ibrahim al-Kurani auf einen hanbalitischen Konservativen reduzieren zu wollen, entbehrt nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Bei Ibn Saif gibt es ein Lehrer-Schüler Verhältnis zu Muhammad b. ʿAbdalwahhab (und nicht bloß Abd al-Wahab o. ä., wie es Autoren, die sich so präsentieren, als kennten sie irgendetwas über die Geschichte Saudi-Arabiens, so gerne schreiben – aber diese arabischen Namen sind ja so komisch ...). Wenn über die islamische Glaubensgemeinschaft in dem vorliegenden Band berichtet wird, verwundert dies, sind doch andere offizielle Verbände mit türkischem oder bosnischem Hintergrund explizit ausgeschlossen. Besonders kritisch erscheint die Frage der Repräsentativität der Glaubensgemeinschaft und die mangelnde Gewaltenteilung innerhalb derselben.524 In einem von PolitikwissenschaftlerInnen herausgegebenen Band mutet dies etwas merkwürdig an, da nicht sehr viele Glaubensgemeinschaften nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie funktionieren. Hier scheint ein recht denkwürdiger Versuch durch, eine Institution insgesamt zu diskreditieren. Hier wird ein bestimmter innermuslimischer Diskurs gestützt. Wenn an anderer Stelle525 unkommentiert Seyran Ates zitiert wird – als „säkulare Teilnehmerin der deutschen Islamkonferenz“526 –, ohne dass darüber informiert wird, dass 520 Ibd., S. 177 ff. 521 Ibd., S. 179. 522 Ibd., S. 209 ff. 523 Ibd., S. 208. 524 Ibd., S. 267 ff. 525 Ibd., S. 12. 526 Die erste Deutsche Islamkonferenz (DIK) wurde im Schloss Charlottenburg in Belin am 27. Sep-
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ihr Mandat auf das deutsche Innenministerium zurückgeht und nicht auf demokratisch gewählte Körperschaften, scheinen demokratische Maßstäbe im vorliegenden Band sehr variabel zu sein. Kritische Punkte werden angesprochen, wie die Repräsentation der Zwölferschiiten oder der Aleviten. Aus all dem wird eine Infragestellung des Rechtsanspruches der islamischen Glaubensgemeinschaft auf die Vertretung der „Anhänger des Islams“527 abgeleitet. Hier wäre komparativ eine Betrachtung anderer Religionsgemeinschaften interessant, was zu diversen Infragestellungen dürfte. Interessant ist auch, wenn im Abschnitt über den islamischen Religionsunterricht eingeschoben wird, dass an islamischen/arabischen Privatschulen Schulbücher bedenklichen Inhalts verwendet wurden.528 Betrachten wir zwei weitere Beispiele, die zeigen, in welcher Weise im ‚Handbuch‘ mit Informationen umgegangen wird. Ein Abschnitt ist Elsayed Elshahed529 gewidmet, früher Direktor der Islamischen Religionspädagogischen Akademie. Zu Beginn des Abschnittes wird sein Werdegang geschildert. Dann erfahren wir, dass er ein Werk über Ibn Taimija übersetzt hat, und zwar zu dessen Methode der Koranauslegung. „Da Ibn Taimiya jener islamische Gelehrte ist, auf den sich heute der Wahhabismus und andere rigide Strömungen berufen“,530 lohne es sich, sich mit Elshaheds Säkularismusverständnis auseinanderzusetzen. Der Rezensent muss bekennen, aus Werken zweier bedeutender malikitischer Gelehrter übersetzt zu haben, die gewiss keine Säkularisten waren. Es wäre also ebenfalls an der Zeit, sein Säkularismusverständnis zu überprüfen ... Auf jeden Fall, Ibn Taimija ist nicht nur derjenige hanbalitische Gelehrte, der bereits für Muhammad b. Abdalwahhab von Bedeutung war (nicht nur für heutige wahhabitische Gelehrte!), der auch von dschihadistischen Theoretikern des 20. Jahrhunderts in reduzierter Rezeption immer wieder zitiert wurde. Er ist auch ein recht komplexer Theoretiker, dessen Schriften (und die seines Schüler Ibn Qaijim) noch nicht umfassend analysiert sind. Wir werden nach unseren bisherigen Ausführungen kaum erwarten dürfen, dass sich die AutorInnen tatsächlich mit einer Analyse des Bandes über koranexegetische Methodik beschäftigt haben. Wir müssen aber feststellen, dass die AutorInnen auch hier eine höchst oberflächliche Rhetorik des Verdachts pflegen: Ibn Taimija, daraus folgt Wahhabiten, daraus folgt Rigidität, daraus folgt Überprüfung notwendig. Das Ergebnis der Überprüfung ist eindeutig: Der Islam kenne keine Trennung zwischen Politik und Religion, wird Elshahed zitiert, ein unter Muslimen bekanntermaßen nicht unübliches Konzept. Er wird weiterhin damit zitiert, dass die europäischen Getember 2006 veranstaltet. 527 Ibd., S. 268. 528 Ibd., S. 272 f. 529 Ibd., S. 282 ff. 530 Ibd., S. 282.
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sellschaften religiös-ethische Werte bräuchten, da ein reiner Säkularismus auch keine Kriege verhindert habe. Insoweit erweist sich Elshahed als jemand, der einen Wertediskurs pflegt, der auch von anderen EuropäerInnen gepflegt wird, die Defizite ihrer Gesellschaften pflegen. Wir wollen hier nur an das Böckenförde-Theorem erinnern, das kritisiert wurde und wird, aber m.W. nicht zu einer Verdammung Böckenfördes als bedenklichen Entsäkularisierer geführt hat. Hier wird an Muslime offensichtlich ein anderer Maßstab gelegt als an ‚richtige‘ Europäer. Dass die von Elshahed zitierte Auffassung der Scharia nicht mit einer Verankerung in europäischen Gesellschaften kollidieren muss, wäre bei einer Betrachtung anderer Äußerungen Elshaheds selbst den VerfasserInnen aufgegangen, so sie gewollt hätten. Fortgeschrittene Debattenbeiträge wie die Heiner Bielefeldts verweisen ja auch darauf, dass von säkularer staatlicher Seite keine vorbehaltlose Identifikation gefordert werden könne, vielmehr eine respektvolle Neutralität die einzig angemessene Haltung sei. Die VerfasserInnen kommen dann zu weiteren Aussagen Elshaheds. Dessen Rezeption in der Öffentlichkeit wird als „zwiespältig“ kategorisiert.531 Zu erwarten, dass wir erfahren, ob diese Rezeption angemessen ist, wäre wohl vermessen. Das unkommentierte Stehenlassen einer solchen Formulierung kann nur als Indikator eines Diskurses gedeutet werden, der eine solche zwiespältige Betrachtungsweise fördern soll. Ein besonderes Vergehen Elshaheds scheint zu sein, dass er keinen „Euro-Islam“ befürwortet, für den Bassam Tibi ein Urheberrecht beansprucht. Wer nun die Konstrukte eines Bassam Tibi kennt, wird verstehen, dass eine Identifikation mit solchen Konzepten doch eine ziemliche Zumutung ist. Wir erfahren nun, dass die Scharia so ausgelegt werden kann, dass sie in die europäischen Rechtsordnungen integriert werden kann, so wird Elshahed zitiert. Der Antisäkularist spricht positiv über eine Einordnung religiösen Rechts in ein säkulares System. Dass die Logik der Verwerflichkeit dem Rezensenten entgeht, mag am Rezensenten liegen ... Ein Interview wird zitiert, in dem Elshahed darauf verweist, dass islamischem Rechts zufolge Homosexualität eine Sünde sei. Wer die einschlägigen Bestimmungen kennt, wird dem zustimmen. Eine Recherche über Elshaheds Auffassung unterbleibt allerdings. Wir erfahren noch einmal, dass Elshahed eine Unterfütterung europäischer Gesellschaften durch Werte wohl für notwendig hält. Recht ominös ist die Feststellung, dass die enge Bindung Elshaheds an die Al-Azhar-Universität in diversen Artikeln deutlich werde. Sollte den VerfasserInnen entgangen sein, dass sie es mit einem Professor eben dieser Universität zu tun haben? Eigentlich haben sie es ja festgestellt. Vielmehr scheint es um die Fortschreibung des Diskurses zu gehen, der durch die bloße Bindung an eine nicht österreichische und eine nicht europäische Institution (und gar islamischen) 531 Ibd.
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einen Verdacht erzeugt, den europäischen ‚Werten‘ zuwider zu handeln. Dann wird Elshaheds Äußeres beschrieben, das ganz europäisch sei und nicht den Klischees entspreche. Diese unkommentierte Präsentation solcher Äußerungen schreibt sich direkt in Diskurse ein, die Muslime zum ‚anderen‘ Europas machen – selbst wenn sie sich noch so gut kostümieren. Einen Schritt weiter erhebt der Vorwurf der taqiya, gewollt missverstanden als muslimische Heuchelei, das Haupt, ob die AutorInnen es wollen oder nicht. Ärgerlich wird es auch, wenn die AutorInnen des Bandes, die ‚Affäre‘ um die Äußerungen Adnan Ibrahims erneut aufkochen.532 Eine Suppe wird nicht besser, wenn man sie immer wieder erhitzt. So auch hier: Die VerfasserInnen ignorieren völlig, dass es etliche kritische Stimmen zu den Konstrukten mancher österreichischeren Medien gegeben hat, die unbedingt der islamischen Glaubensgemeinschaft einen ‚Hassprediger‘ anhängen wollten. Vermerkt wird die positive Medienresonanz Adnan Ibrahims, eine Haltung „der Öffentlichkeit“,533 die sich nach einer Anzeige gegen ihn gewandelt habe, die auf Predigten basierte, in denen er zum Dschihad aufgerufen habe. Diskursiv wird hier eine Veränderung „der Öffentlichkeit“ konstruiert, die sich realiter auf ein bestimmtes Spektrum der veröffentlichten Meinung Österreichs beschränkte, eine Konstruktion, die deutlich irreführend ist. Als Referenzen werden die „Wiener Zeitung“ und der inzwischen eingestellte Informationsdienst „Sicherheit-Heute“ genannt. Letzterer hatte sich neben anderen Sicherheitsthemen besonders dem Kampf gegen den politischen Islam gewidmet, war also ein Teil der deutschen veröffentlichten Meinung, der sich der Konstruktion ‚des Islams‘ als Sicherheitsproblem verschrieben hatte. Eine objektive Quelle? Reproduziert wird auch die mit dem Nimbus des investigativen Journalismus versehene Behauptung, die österreichischen Printmedien „Wiener Zeitung“ und „profil“ verfügen über mehr als 200 Tonbänder, die die Behauptung, Ibrahim sei einer der sogenannten ‚Hassprediger‘, bestätigen würden. Nun ist jedem, der auch nur in geringem Maße mit der Person und den Aktivitäten Ibrahims bekannt ist, geläufig, dass seine Predigten in großem Umfang auf einer eigenen Internetpräsenz veröffentlicht wurden und werden. So geheimnisvoll ist das Erschließen dieser Quellen wohl nicht. Die verblüffende Tatsache, dass der aus Gaza stammende Prediger von den Segnungen der israelischen Besatzung nicht überzeugt ist, wird besonders erwähnt und soll – angesichts der im vorliegenden ‚Handbuch‘ dominierenden Tendenz – wohl die besondere Verwerflichkeit der Auffassungen Ibrahims dokumentieren. 532 Ibd., S. 284 ff. 533 Ibd.
Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich
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Interessant, dass andere Stimmen der österreichischen Öffentlichkeit (zu denen in diesem Falle der Rezensent zählt) zu der Diskussion um Ibrahim nicht zur Kenntnis genommen werden, die ein ausgewogeneres Bild vermitteln. Bewusste Ignoranz oder schlampige Recherche? Interessant ist auch die Wortwahl des ‚Handbuches‘ zur Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI., die hier nicht diskutiert werden kann. Diese wird als „Äußerung“ des Papstes bezeichnet,534 keine Stellung wird zu dem einschlägigen Zitat aus der nahöstlichen, christlichen antiislamischen Tradition (spätesten seit al-Kindi bekannt) genommen. Ein drastisches Zitat aus einer Predigt Ibrahims wird damit verknüpft, dessen Authentizität von Ibrahim bestritten wird. Im Gesamtbild kann ein solches Dementi nur als Ausflucht verstanden werden. Eine Analyse und eigene Recherche der AutorInnen erfolgt nicht. Verzeichnet wird, dass Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz in Österreich kein Ergebnis erbracht haben, das eine Strafverfolgung erforderlich machen würde, da die Tonträger (wohl der Predigten) verfälscht seien. Statt dieses doch einigermaßen vernichtende Urteil zum Anlass zu nehmen, die von ihnen benutzten Quellen zu überprüfen, wird das bloße Faktum der Einstellungen der Ermittlungen konstatiert. Vermisst wird hier eine Reflexion der selber gegebenen Informationen (oder ist es Absicht?). Dass die VerfasserInnen des Abschnittes zu Ibrahim den Unterschied zwischen einer Predigt und ein Fatwa nicht kennen,535 rundet das Bild ab. Beschworen wird das Bild ein Fatwa als ominöses, gefährliches, das seit Salman Rushdie durch die europäische Öffentlichkeit geistert. Apart ist der Schluss des Absatzes zu Ibrahim. Es wird eine Predigt Ibrahims zitiert, in der dieser sich von Kalifatsvorstellungen distanziert und diejenigen, die solche Zielvorstellungen verfolgen, aufgefordert werden, Österreich zu verlassen und ihre Ziele in islamischen Ländern zu verfolgen. Folgen wir der Logik des ‚Handbuches‘, soll dieses Zitat wohl demonstrieren, dass Ibrahim die Ziele der von ihm kritisierten Personen teilt, es nur nicht für opportun hält, sie in Österreich zu propagieren. Eine andere Lesart scheint nicht nur möglich, ist vielmehr im Kontext der anderen öffentlichen Stellungnahmen Ibrahims die einzig akzeptable – wenn man nicht die hochgradige selektive Rezeption der AutorInnen betreibt. Fahren wir in der Analyse des Diskurses fort, erfahren wir, dass Adnan Ibrahim weiterhin (!) als Imam an der Schura-Moschee bzw. an der SIRP tätig ist. Wer ein feineres Gehör hat, wird im Gesamtdiskurses des ‚Handbuches‘ eine Drohung heraushören. Abschließend eine Anmerkung zum wissenschaftlichen Standard. Die HerausgeberInnen, die sich in einem sozialwissenschaftlichen Kontext bewegen, sollten viel534 Ibd 535 Ibd., S. 286.
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leicht die aktuelle seriöse religionssoziologische Forschung zur Kenntnis nehmen, die deutlich konstatiert, dass die Säkularisierung der europäischen Gesellschaften schon seit Jahrzehnten kein dominierender Trend ist. Trotz der positiv zu bewertenden Absicht ist der Band kein brauchbares Handbuch zum politischen Islam und keine brauchbare Analyse bestimmter Strömungen der österreichischen muslimischen Gemeinschaften. Manchmal schimmert die Möglichkeit durch, was ein solches Handbuch des österreichischen Islams sein könnte, zu oft erscheint aber der Schatten einer gewollten Konstruktion einer politisch-islamischen Gefahr, die es zu entlarven gilt. Damit wird – unterstellen wir die gute Absicht der VerfasserInnen – ungewollt letztlich islamfeindlichen Diskursen Munition geliefert. Zum Teil werden diese Diskurse – hoffen wir, aus mangelnder Reflexion – sogar fortgeschrieben. Das Schlusswort der MitautorInnen zeigt, welche Energie und welches Engagement hier für ein zweifelhaftes Projekt vergeudet wurde. Resümieren können wir nur, dass der Band „Zwischen Gottesstaat und Demokratie“ keinerlei fundierten Überblick bietet – nicht über den politischen Islam im Allgemeinen und nicht über den in Österreich. Die Absicht mag lobenswert gewesen sein ... Es ist allerdings ein Band herausgekommen, der wieder einmal davon zeugt, dass über ‚Islam‘ zu schreiben, den Verzicht auf Wahrung von Qualität rechtfertigt. Der Band ist Ausdruck einer affirmativ verstandenen Moderne, gegen die der politische Islam als Gegenbild konstruiert wird. Insofern ist er ein Teil des aktuellen Diskurses um die ‚europäischen Werte‘, die zur Ausgrenzung bestimmter Organisationen und Bevölkerungsgruppen konstruiert werden, einmal in einer christlichen (manchmal christlich-jüdisch u.a.m.), im vorliegenden Band in einer linken Variante – auch wenn sich die AutorInnen immer wieder gegen extremere rechte Varianten des Diskurses abgrenzen. Darauf, dass diese „dominierende Politik des Misstrauens und der Meidung“ fatale Folgen haben kann, hat unlängst Werner Schiffauer hingewiesen – aus empirischer Kenntnis der Verhältnisse.536 Der zweite hier zu besprechende Band hat zwei Autoren, die bereits am zuvor besprochenen Handbuch mitgearbeitet haben. Daraus ergeben sich gewisse konzeptuelle Übereinstimmungen, die nicht im Detail betrachtet werden müssen. Der Band widmet sich dem Prozess gegen Mohamed S. und Mona S. 2008 in Wien mit dem Vorwurf, als Mittäter in der ‚Globalen Islamischen Medienfront‘ einer terroristischen Vereinigung angehört zu haben. Auch in diesem Band findet sich ein programmatisch besetzter Begriff der Aufklärung,537 der der Historie der aufklärerischen Bewegung nicht gerecht wird, die ja durchaus Kontakte in die islamische Welt hatte. Letztlich 536 Schiffauer, Werner: Parallelgesellschaften, Bielefeld 2008, S. 124. 537 Ibd., S. 20.
Beitrag 3: Rezension. Zwei neue Werke zum Islam in Österreich
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wird hier an den Diskursen der Konstruktion europäischer Identitäten mitgewirkt, was im Gesamtkontext dieser Konstruktionsprozesse doch bedenklich erscheint. Ein paar Anmerkungen seien noch angefügt: Das Staatsoberhaupt und damit der Souverän der Islamischen Republik Iran ist immer noch der 12. Imam, nicht Gott. Der Begriff „din“ ist tatsächlich nicht nur mit ‚Religion‘ zu übersetzen,538 vielmehr umfasst dieses Konzept einen größeren Komplex an Regeln der Lebensführung, so dass die Einbeziehung der Demokratie eigentlich nicht verwundert. Dass nach dem Namen Aiman al-Zawahiris eine Eulogie steht,539 ist kein besonders aussagekräftiger Indikator, steht vielmehr im Kontext der Aneignung der älteren islamischen Tradition, in der es eine Vielzahl solcher Formeln gibt, durch die moderne dschihadistische Strömung. Abseits solcher Probleme mit Bezug auf die islamische Komponente der Analyse besticht der Band durch eine luzide und engagierte Betrachtung der Probleme, die sich durch das Vorgehen während der Ermittlungsphase, mittels der Prozessführung und der legistischen Grundlegung letztlich eines Meinungsdeliktes ergeben (können). Dass eine „gesellschaftliche Debatte“540 notwendig ist, in welcher Weise verhindert werden kann, dass Demokratien dem Zerrbild ihrer – in diesem Falle: dschihadistischen – Gegner ähnlich werden, kann nur unterstützt werden. Gewiss ein notwendiges Buch zur Reflexion des Verhältnisses von Sicherheit und Freiheit.
538 Ibd., S. 58. 539 Ibd., S. 64. 540 Ibd., S. 109.
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Beitrag 4: Der politische Islam
Dr. Fuat Sanac, der frühere Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Wien (IGGiÖ) in der Zeit von 2011 bis 2016 Der sogenannte „islamische Fundamentalismus“ ist ein recht junges Phänomen. Historisch kann er auf das erste Viertel des 20. Jahrhunderts zurückgeführt werden, als islamische Prediger dazu aufriefen, Gemeinschaften zu bilden, in denen das Wort Gottes als alleinige Richtschnur sozialen Handelns gelten sollte. Eine solche Propaganda setzte eine tiefgreifende Umdeutung des islamischen Religionsverständnisses voraus, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass sie zeitlose „Fundamente“ der Religion definierte, die normativ auf die religiösen Gemeinschaften einzuwirken hätten. Bekanntlich entstammt dieser Begriff der protestantischen Geschichte in den USA und bezog sich ursprünglich auf eine Gruppe von Laien, die zwischen 1910 und 1915 in einer Millionenauflage eine zwölfbändige Buchreihe unter dem Titel „The Fundamentals“ veröffentlichte. Erst gut fünfzig Jahre nach der Publikation dieser Buchreihe wurde die Formulierung „The Fundamentals of Islam“ verwendet. Auch der Gründer der indisch-pakistanischen „Islamischen Gemeinschaft“, Abu Al-Aʿla Mawdudi (1903–1979), benutzte diese Formulierung für die englische Version einer Predigtsammlung, die er 1975 in Pakistan publizierte. Schon 1967 hatte ein scharfer Kritiker Mawdudis, der kanadische Politikwissenschafter Aziz Ahmed, einen Artikel in der Zeitschrift „Middle East Journal“ publiziert, in dem er Mawdudis Weltanschauung als „orthodoxen Fundamentalismus“ bezeichnete. Damit war der Begriff „Fundamentalismus“ in doppelter Hinsicht auf die islamische Religionsgeschichte übertragen: a) Einerseits als Kategorie der Selbstsicht b) Andererseits als Begriff der Kritik. Doch der Begriff setzte sich nur zögerlich durch. Der Zusammenhang zur protestantischen Geschichte erschwerte seine Generalisierung. Seit etwa 1975 aber zeichnete sich im angelsächsischen und im deutschen Sprachgebrauch ein Bedeutungswechsel ab: Der protestantische Ursprung des Begriffs trat mehr und mehr in den Hintergrund, stattdessen wurde der Islam verstärkt als Bezugspunkt gewählt. Seit der islamischen Revolution im Iran 1978/79 und den nachfolgenden Ereignissen, besonders seit den Terroranschlägen des 11. September 2001, sind die Begriffe „Islam“; „Fundamentalismus“ und „Terrorismus“ für Islamgegner fast zu Synonymen geworden (Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU spielen hier auch eine Rolle).
Beitrag 4: Der politische Islam
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Die chaotischen Missstände seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den islamischen Ländern auf der einen Seite und das Feindbild über den Islam im Westen auf der anderen Seite vermitteln das Gefühl auf beiden Seiten, dass es keine Möglichkeit für eine gegenseitig konstruktive Zusammenarbeit gibt. Einige PolitikerInnen, Medien und bedauerlicherweise manche Kirchenfürsten assoziieren Islam mit Unterdrückung, Unfreiheit, Rückschritt. Christliches dagegen impliziere Fortschritt, Moderne, Menschenrechte. Jeder, der etwas über den Tellerrand der Tagespolitik hinausschaut, weiß, dass das so nicht stimmt: Solange Europa von der Kirche beherrscht und dominiert war, begegnet uns ein Düsteres und beinahe ein wissenschaftsfeindliches Bild. Erst durch die Aufklärung gelang der Durchbruch, der geistige Fortschritt. Und dieser geistige Fortschritt in der Wissenschaft kam in vielerlei Hinsicht durch die Berührung mit anderen Völkern und Religionen vor allem mit den Muslimen. Natürlich, die kulturell-geistige Entwicklung der Menschheit gehört allen und ist nicht Eigentum einer Kulturregion, weder der einer muslimisch-orientalischen noch der des sogenannten christlichen Abendlandes. Alle Völker mit ihrem kulturellen Reichtum und ihren Ausprägungen haben ihren Beitrag geleistet. Beeinflussung und gegenseitige Bereicherung fand und findet beständig statt. Aber ohnehin bestehende Vorurteile gegen den Islam, Klischeevorstellungen und Unwissenheit tragen allesamt dazu bei, die These von einer Konfrontation der Religionen und Kulturen zu bestätigen. So entsteht das unbestimmte Gefühl, „die demokratischen Länder des Westens hätten nun einen Krieg oder gar einen Kreuzzug gegen Muslime eröffnet“.541 Diese Wahrnehmung erscheint sogar plausibel, haben doch die Terroristen ihrerseits den Dschihad gegen die „ungläubigen Kreuzfahrer“ ausgerufen, weil sie sich unterdrückt und demütigt fühlen. Dieses bestürzende Wahrnehmungsmuster hat die gefährliche Wirkung, die Kluft zwischen zwei Kulturen zu vertiefen. Im Westen tragen Politiker und Medien – mit lobenswerten Ausnahmen – in doppelter Weise zu dieser Polarisierung bei: a) Zum einen, indem sie die religiösen Überzeugungen der Terroristen in den Vordergrund stellen und deren politische Motive ausblenden. b) Zum anderen, indem sie sprachlich die unterschiedlichen Dimensionen des Problems, die sie eigentlich auseinanderhalten wollen, dann doch wieder vermischen. So produziert die willkürliche und unterschiedslose Verwendung der Begriffe „Islam“, „Fanatismus“, „Terrorismus“ und „Fundamentalismus“ allemal Verwirrung, im 541 Siehe Sanac, Fuat: Der politische Islam, ein Beitrag bei der Eröffnungskonferenz des Instituts für Interkulturelle Islamforschung (INTIS) in Wien am 10. März 2009.
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schlimmsten Fall fördert sie antiislamische Vorurteile. Dasselbe gilt für den Begriff „Islamismus“. Bei der Einordnung islamistischer Parteien und Bewegungen zeigt sich, dass jede Verallgemeinerung erneut zu Verwirrung und falschen Gleichsetzungen führt, denn diese Gruppierungen sind extrem verschieden, was auch erklärt, warum sie im politischen Spektrum von ganz rechts bis ganz links angesiedelt sind.
Beitrag 5: Parlament und Schura
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Beitrag 5: Parlament und Schura
Ratsversammlungen und Demokratieentwicklung in Europa und der islamischen Welt Univ.-Prof. Dr. Michael Mitterauer, Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien Die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie ist Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Diese Diskussion läuft falsch, wenn sie sich einerseits auf die islamische Theologie, andererseits auf die Politikwissenschaft beschränkt. Das Thema hat in verschiedener Hinsicht eine eminent historische Komponente – in Kurzzeitperspektive wie in Langzeitperspektive betrachtet, bezogen auf religiöse wie auch auf außerreligiöse Bedingungen demokratischer Verhältnisse. Die Erkenntnis historischer Bedingtheit ermöglicht Veränderungen in der Gegenwart. Um die Diskussionsgrundlage in dieser Hinsicht zu erweitern, gilt es, verschiedene Entwicklungslinien aufzugreifen – solche, die weit in die Vergangenheit zurückführen, aber auch solche der neueren Geschichte. Die Ereignisse und Stellungnahmen, die hier als Ausgangspunkt gewählt werden, sind den letzteren zuzurechnen. Im Osmanischen Reich kam es zu Beginn der Regierung von Sultan Abdul Hamid II. zu liberalen Reformen. 1876 wurde ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet, in dem es hieß: Der Sultan bleibt Kalif, Religions-Oberhaupt der Muselmanen und Staatschef; der Sultan genießt vollständige Souveränität, gegen Willkürakte kann jedoch die Volksvertretung Einspruch erheben; die Volksvertretung besteht aus gewählten Abgeordneten, die Wahl basiert auf dem Zensus; alle Untertanen des Türkischen Reiches ohne Unterschied der Konfession und Nationalität besitzen das aktive und passive Wahlrecht; die Minister werden vom Sultan ernannt und sind der Volksvertretung verantwortlich.542
Nachdem ein provisorisches Wahlgesetz beschlossen worden war, wurde am 23. Dezember 1876 in Konstantinopel in feierlicher Form die Verfassung verkündet. Die Minister, muslimische Würdenträger und der Patriarch brachten dem Sultan ihre Glückwünsche dar, während in Konstantinopel Jubelkundgebungen der Bevölkerung stattfanden und die Batterien der Stadt 101 Kanonenschüsse abgaben. Der Außenminister erklärte im Ministerrat: „Meine Herren, wir sind konstitutionell!“ 542 Mitterauer zitiert hier aus dem Verfassungsentwurf des osmanischen Reiches 1876, in seinem o. g. Vortrag bei der Eröffnungskonferenz des Instituts für Interkulturelle Islamforschung in Wien am 10. März 2009.
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Über die Wahlen, die noch im Dezember 1876 durchgeführt wurden, heißt es in einem zeitgenössischen Pressebericht: Man war auf der Halbinsel Arabien nicht wenig erstaunt, als die Nachricht eintraf, der Nachfolger der Kalifen habe in seiner Residenz einen Entwurf veröffentlichen lassen, in dem er seine Untertanen kund und zu wissen tat, dass von nun an in seinem Reiche Muslims, Nazarener und Juden gleichgestellt sein sollten, und dass dasselbe nicht mehr nach den Normen der Scharia, der göttlichen Lehre, sondern nach den in einem Rate seiner Untertanen, in welchem sich Mitglieder aller Konfessionen befinden werden, festgesetzten Richtlinien regiert werden soll. Wie groß war ihr Erstaunen, als der türkische Statthalter der Provinz Hedschas, in der die zwei den Muslims so heiligen Städte Mekka und Medina liegen, eine Aufforderung an alle Bürgermeister und Stammeshäupter erließ, in der er sie im Namen des Fürsten der Gläubigen ermahnte, die Wahlen in den National-Konvent, der bald in Stambul zusammentreten wird, vorzunehmen. Der Groß-Scherif von Mekka machte nun die Gläubigen darauf aufmerksam, dass ihre Gottesfurcht durch die Vornahme der Wahlen ins türkische Parlament gar keinen Abbruch erleiden werde, da die Sunna oder die religiösen Überlieferungen der Mohammedaner nur dann verbietet, auf den Rat von Ungläubigen zu hören, wenn es sich um eine Glaubenssache handelt, während man in weltlichen Dingen auch den Rat der Christen und Juden annehmen dürfe. Auch der Kalif Harun al-Raschid habe Juden als Ratgeber gehabt, und die Kalifen in Spanien hätten sogar Christen und Juden zu Ministern ernannt.543
Der hier ausführlich zitierte Bericht über Ereignisse im Osmanischen Reich aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt einige grundsätzliche Schlüsse zu dem hier erörterten Thema zu, die in Thesen zusammengefasst werden sollen: 1. Parlamentarische Demokratie und Religion wurden damals in der islamischen Welt keineswegs als unvereinbarer Gegensatz angesehen. Das zeigen auch in etwa zeitgenössische Ansätze zu parlamentarischen Experimenten in Tunis, in Ägypten und in Persien. Die differenzierte Stellungnahme des Groß-Scherifs von Mekka verdient besondere Beachtung. Als Haschemit und Nachkomme des Propheten besaß er hohe Autorität. Er verwies auf eine lange Tradition des Vereinbarkeitsdenkens – allerdings nach seiner Konzeption von Ratsversammlungen. Die Vorstellung einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von parlamentarischer Demokratie und Islam ist historisch jung und dementsprechend aus ihrer Genese relativierbar. 2. Die zu wählende Volksvertretung wird als Beratungsorgan gedeutet. Der Groß-Scherif von Mekka sieht nicht den Unterschied zwischen einer Legislative 543 Ibd.
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nach westlichem Vorbild und dem Einholen von Rat bei muslimischen und nichtmuslimischen Ratgebern in Form eines konsultativen Gremiums. Offenbar will er die bevorstehende Wahl mit dem koranischen „Schura“-Prinzip legitimieren – dem empfohlenen Grundsatz, Rat zu geben und Rat zu holen. Auch heute berufen sich Befürworter parlamentarischer Institutionen auf diesen genuin islamischen Grundsatz. Viele moderne Volksvertretungen der islamischen Welt tragen die Bezeichnung „Schura“ – allerdings ohne unmittelbar aus islamischer Tradition ableitbar zu sein. 3. Das Problem des Verhältnisses von Gesetzgebung durch die Volksvertretung und Scharia als göttlicher Norm beschäftigt den Parlamentarismus in islamischen Ländern schon in seinen ersten Anfängen. Ein Trennungsdenken schien damals jedoch durchaus möglich. Scheinbar unauflösliche Gegensätze sind erst später entstanden – mit stärker elaborierten Konzepten des islamischen Staats, mit der Entwicklung einer theologisch fundierten politischen Theorie und in der Auseinandersetzung mit westlichen Parlamentarismuskonzepten. Auch diesbezüglich liegt keine gleichsam überzeitliche Konstante islamischen politischen Denkens vor, sondern ein historisch relativ junges Konfliktfeld. 4. Ein gewählter National-Konvent war für die Untertanen des Sultans eine völlig neue Sache – wohl nicht nur in Arabien, wo das Vorhaben „großes Erstaunen“ ausgelöst hat. Für eine solche Einrichtung gab es keine autochthonen Wurzeln. Es handelte sich um europäischen Import ohne entsprechende Grundlagen in der eigenen kulturellen Tradition. Deshalb waren parlamentarische Experimente im Osmanischen Reich wie insgesamt in der islamischen Welt zunächst recht kurzlebige Erscheinungen. Und bis heute sind in diesem Kulturraum Parlamentarismus und repräsentative Demokratie vielfach nur schwach verankert. Auch in Europa, wo sie über historisch weit zurückreichende Rahmenbedingungen verfügen, haben sie sich nur langsam und mit vielen Krisen und Unterbrechungen durchgesetzt. Es ist ahistorisch gedacht, dass sie im Kontext völlig anderer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen kurzfristig übernommen werden können. Das war der Trugschluss der europäischen Großmächte, die den osmanischen Sultanen im 19. Jahrhundert mehr Konstitutionalismus aufdrängen wollten. Und das war die katastrophale Fehleinschätzung eines George Bush und seiner Berater, die glaubten, durch einen militärischen Überfall mehr Demokratie in den Nahen Osten bringen zu können. Gerade nach dem Desaster des Irakkrieges gilt es, darüber nachzudenken, wie in dieser Region mehr politische Partizipation zu verwirklichen ist – auf der Basis parlamentarischer Traditionen, aber auch von traditionell islamischen Beratungsprinzipien. Mehr historisches Wissen um die je spezifischen Wurzeln von politischen Institutionen in Ost und West kann dabei vielleicht behilflich sein.
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Geht man mit der plakativen Gegenüberstellung „Parlament und Schura“ unterschiedlichen Formen der Herrschaftsorganisation in Europa und im islamischen Raum nach, so bedarf eine solche Analyse in mehrfacher Hinsicht einiger Vorbemerkungen: Zunächst darf man sich dabei nicht auf die Ideengeschichte beschränken, wie sie bei demokratiegeschichtlichen Überlegungen oft im Vordergrund stehen. Es wäre verfehlt, bei Hobbes und Locke, bei Montesquieu und Rousseau zu beginnen. Was sie über Gewaltenteilung, Gesellschaftsvertrag oder Mehrheitsentscheidungen gedacht und geschrieben haben, war eine Reaktion auf bereits Vorgegebenes. Nicht der politische Diskurs schafft das politische Leben. Politische Theorie bezieht sich auf eine schon bestehende Realität. Dann würde es sicher zu kurz greifen, von einer Geschichte der Begriffe auszugehen. Nicht die jeweilige Bedeutung von „Ständen“, „Parlament“ oder „Schura“ ist entscheidend. Es geht viel allgemeiner um die Kontinuität bzw. auch Diskontinuität von Institutionen der politischen Partizipation, wie auch immer sie von den Zeitgenossen bezeichnet wurden. In Hinblick auf solche langfristige Entwicklungsstränge ist weiters in der komparativen Analyse historische Tiefe gefragt. In vielen Belangen muss bis ins Frühmittelalter zurückgegangen werden, um Unterschiede erklären zu können. Schließlich kann sich ein erklärender Ansatz nicht auf ein Beschreiben von Unterschieden zwischen Institutionen beschränken. Es muss auch auf deren ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen eingegangen werden. Dieser soziale und kulturelle Kontext in Europa und in der islamischen Welt scheint für das bessere Verständnis der jeweiligen Möglichkeiten von Bedeutung, politische Partizipation in Vergangenheit und Gegenwart zu realisieren. Ratsversammlungen als Form der politischen Partizipation finden sich in der Geschichte der Herrschaftsorganisation weltweit in sehr unterschiedlichen Strukturen und mit sehr unterschiedlichen Entwicklungstendenzen. Was wir als „parlamentarische Demokratie“ zu bezeichnen gewohnt sind, ist bloß das Ergebnis von einem dieser vielfältigen Entwicklungsstränge. Wir assoziieren damit politische Repräsentation der Bevölkerung, Wahlen und Abstimmungen, Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip, Parteienpluralismus, Teilung der Staatsgewalt in Legislative, Exekutive und Judikative, in einem weiteren Verständnis auch verschiedene Grund- und Freiheitsrechte. Parlamentarische Demokratie dieser Prägung ist in jahrhundertelangen Prozessen in Europa entstanden – nach Regionen dieses Kulturraums in unterschiedlichen Formen und mit vielfachen zeitlichen Verwerfungen. Die entscheidende Basis bilden jedoch stets Ratsversammlungen, die schon im Mittelalter vielfach als „parlamentum“ bezeichnet werden. Und diese europäischen Ratsversammlungen lassen spezifische Gemeinsamkeiten erkennen. Auch die islamische Welt kennt seit ihren Anfängen besondere Formen der Ratsversammlung. Ihnen liegen andere Formen der politischen Beteiligung zugrunde. Die Entwicklung der parlamentarischen Demo-
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kratie im islamischen Raum schließt in neuerer Zeit mit der Bezeichnung „Schura“ vielfach an solche Frühformen an, nicht aber in ihren Strukturen. Warum das so ist, wird uns näher zu beschäftigen haben. Das Beratungsprinzip ist ursprünglich im islamischen Kulturraum viel stärker religiös verankert als im Europäischen. An zwei Stellen wird im Koran von „Schura“ als Beratung gesprochen – und zwar sowohl im Sinne von Rat einholen als auch sich untereinander beraten. In welcher Form wer wen zu beraten habe, das erscheint hier allerdings nicht festgelegt. So fehlt eine klare institutionelle Grundlage. Insgesamt bieten die Offenbarungstexte des Islam keine eindeutigen Vorgaben für die politische Ordnung des Gemeinwesens. Wahrscheinlich knüpfte „Schura“ als religiös empfohlenes Prinzip der Beratung an ältere Stammestraditionen der vorislamischen Zeit an. Solche tribalen Strukturen waren allerdings in einem überregionalen Imperium, zu dem das Kalifenreich durch seine rasche Expansion geworden war, nicht mehr ohne Weiteres praktizierbar. Bei der Bestellung des Kalifen – zugleich religiöses und politisches Oberhaupt – wird wohl noch am deutlichsten sichtbar, was in der Frühzeit unter „Schura“ verstanden wurde. Aber keine der frühen Kalifenwahlen verlief in gleicher Weise wie die anderen. Die Prophetengefährten genossen zunächst bei dieser wichtigsten Personalentscheidung eine Vorzugsstellung. Unter ihnen dürfte es wiederum einen Vorrang nach Seniorität gegeben haben. Allein konnten die „sahaba“, wie die Prophetengefährten genannt wurden, aber auch nicht entscheiden. Immer wieder musste mit den führenden Stämmen über deren Oberhäupter verhandelt werden. Selbst als Kalif Omar sechs „sahaba“ als Schura zur Bestellung seines Nachfolgers einsetzte, kam es vor der Wahlentscheidung zu solchen Verhandlungen. Die „umma“, wie die neue Gemeinde der Muslime genannt wurde, war ja in ihrer Entstehungszeit im Wesentlichen ein Zusammenschluss von Stämmen, nicht von Individuen. Der erste Omaijaden-Kalif Muawija ließ sich von seinem Heer in Jerusalem zum Kalifen ausrufen. Das war sicher keine Schura im Sinne des Koran. Als er seinen Sohn Jezid zu seinem Nachfolger designierte, rief er einen Ältestenrat zusammen, der sich allerdings darauf beschränkte, dem Designierten die Unterstützung zuzusagen. Das dynastische Prinzip der Erbfolge setzte sich seit damals bei der Kalifenbestellung immer stärker durch, so dass sich eine Schura mit der Funktion der Kalifenwahl erübrigte. Eine solche trat nur mehr 684 zusammen, als mit Marwan I. ein Vertreter einer omaijadischen Seitenlinie gewählt wurde. Die Abbasiden verzichteten gänzlich auf Versammlungen dieser Art. Aufrechterhalten wurde das Wahlprinzip hingegen bei der Gruppe der Ibaditen, die sich 657 abgespalten hatte. Bei ihnen wurde der Imam als religiöser und politischer Führer von einem Rat prominenter Mitglieder der Gemeinde gewählt. Und er konnte von diesem Gremium auch wieder abgelöst werden. Gerade
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die Frage des legitimierten Machtwechsels ist ja ein Grundproblem, das vielfach bis heute keine befriedigende Lösung gefunden hat. Es handelt sich so hier um eine interessante Sonderentwicklung innerhalb der islamischen Welt, die allerdings nur in Randgebieten ihre Bedeutung behielt. Über die Wahl von religiösen bzw. politischen Führern hinaus konnten Schura-Versammlungen sehr unterschiedliche Fragen zur Beratung vorgelegt werden. Religiöse Fragen spielten dabei interessanterweise eine geringe Rolle. Konzilien und Lehrentscheide zur Festlegung einer orthodoxen islamischen Lehre hat es nie gegeben. Aus dem engeren Bereich des Kultus sind zwei Belange überliefert, in denen schon Muhammad selbst seine Gefährten um Rat fragte, nämlich die Einführung des Gebetsrufs und der Kanzel. Das waren allerdings Fragen der religiösen Praxis, nicht des Glaubens. Über göttliche Offenbarung konnte es keine Schura geben. So ist das im Koran verankerte Beratungsprinzip vor allem außerhalb der religiösen Belange zum Tragen gekommen – etwa in militärischen und gerichtlichen Angelegenheiten. Wesentlich war es, durch die Konsultation im Rahmen der Schura-Versammlung Konsens zu erzielen. Dies erfolgte nicht durch Abstimmung – schon gar nicht nach dem Mehrheitsprinzip. Als Funktion der Schura wird für die Frühzeit angenommen, dass die Beratung vor allem als Harmonisierungs- und Mobilisierungsinstrument in der schwierigen Phase des Übergangs von der Stammesverfassung zum Zentralstaat diente. Es ging um die Ausbildung einer islamisch legitimierten Elite. Neue Befehlsund Gehorsamsstrukturen sollten eingeübt werden – auch das als Form politischer Partizipation. Beratungsgremien über säkulare Angelegenheiten haben sich in der islamischen Welt im Lauf der Jahrhunderte in vielfachen Formen und unter vielfältigen Bezeichnungen entwickelt. Im Verwaltungsbereich hat sich das persische Wort „Diwan“ stark durchgesetzt. Spezifische religiöse Beratungsgremien sind hingegen hier nicht entstanden. Ratskollegien der religiösen Rechtsgelehrten, der Ulama, waren nicht institutionalisiert. Die Fatwa als islamisches Rechtsgutachten setzt keineswegs kollegiale Konsultation voraus. So haben sich in der islamischen Geschichte durch die Jahrhunderte keine institutionalisierten Ratsversammlungen religiöser Würdenträger ausgebildet, an die säkulare Beratungsformen hätten anschließen können. Der Wächterrat und die Expertenversammlung der iranischen Verfassung stellen diesbezüglich eine sehr junge Sonderentwicklung dar. Kontinuität zwischen parlamentarischen Institutionen der islamischen Welt in neuerer Zeit zu historischen Formen der Schura lässt sich nirgendwo feststellen. Wenn Autoren der Gegenwart wie der ägyptische Publizist Hamid Suleiman meinen, dass der Gedanke der Demokratie von Anfang an ein Wesenszug des Islam gewesen sei und in diesem Sinne formulieren: „Der Islam hat die
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Demokratie erfunden“,544 so ist diese These verfassungsgeschichtlich nicht zu halten. Zweifellos aber lassen sich parlamentarische Institutionen der jüngeren Geschichte und der Gegenwart durch das koranische Prinzip der Schura religiös legitimieren. Der Rückgriff auf die Anfänge bietet so Perspektiven für die Gestaltung der Zukunft. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das im Koran formulierte Schura-Prinzip in der islamischen Frühzeit vor allem im Kriegswesen Anwendung fand. Zu einer dauerhaften Institution sind solche militärischen Beratungen aber nicht geworden. In den Garnisonsstädten des expandierenden Großreichs haben die arabischen Krieger zunächst noch Stammesversammlungen abgehalten. Im 8. Jahrhundert wurde allerdings die Stammesorganisation als Grundlage der Heeresorganisation zunehmend aufgegeben. Im 9. Jahrhundert kam es zu einer grundlegenden Neuordnung, die sich in der Folgezeit in der ganzen islamischen Welt von Chorassan bis Cordoba durchsetzte und auf Jahrhunderte zu einem bestimmenden Faktor der Herrschaftsorganisation werden sollte, obwohl sie in keiner Hinsicht auf spezifisch islamischen Grundsätzen beruhte. Gemeint sind die Mameluken, die „slaves on horses“, wie sie in der wissenschaftlichen Literatur treffend charakterisiert werden. Es handelte sich bei ihnen um Kaufsklaven, die in jungen Jahren zu tausenden in nichtmuslimischen Ländern erworben und systematisch zu disziplinierten Reiterkriegern und überzeugten Glaubenskämpfern ausgebildet wurden. Im Kalifenreich der Abbasiden handelte es sich primär um türkischstämmige, im Reich von Cordoba um slawischstämmige Sklaven. Wenn unter der traditionellen Bezeichnung „Schura“ in islamischen Ländern seit der zweiten Hälfte des 19. und vermehrt dann im 20. Jahrhundert parlamentarische Einrichtungen nach westlichem Vorbild geschaffen wurden, so bedeutete das de facto stets einen grundsätzlichen Neuanfang. Nicht nur Defizite auf dem Gebiet der Massenkommunikation standen entgegen. Eine Vielzahl anderer Schwierigkeiten sind zu bedenken, etwa die distanzierte bis feindliche Haltung der Untertanen gegenüber der staatlichen Obrigkeit schon in osmanischer Zeit, wie sie insgesamt für Herrschaftssysteme des tributären Typs charakteristisch ist, die Gegnerschaft gegenüber Kolonial- und Protektoratsmächten wie gegenüber den durch sie manipulierten Regierungen oder die Bewertung der parlamentarischen Demokratie als politisches System feindlicher Mächte, dem quasi-religiöse Bedeutung beigemessen wird – ein Moment, das mit der Verschärfung des Nahostkonflikts zunehmend polarisierend wirkt. Die Zeiten, in denen der Groß-Scherif von Mekka die Beteiligung an Parlamentswahlen wohlwollend empfohlen hat, auch wenn sie unter dem Druck der europäischen Großmächte zustande kamen, sind schon lange vorbei. 544 Mitterauer zitiert hier den ägyptischen Publitzisten Hamed Sulaiman in seinem o. g. Vortrag.
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Die grundsätzliche Frage nach der Vereinbarkeit von Wahlen nach westlichem Vorbild mit den Prinzipien des Islam hat der Groß-Scherif von Mekka 1876 mit dem simplen Verweis auf den Unterschied zwischen Glaubenssachen und weltlichen Dingen zu beantworten versucht. So einfach ist sie heute sicher nicht zu lösen. Das Problem, ob Islam und Demokratie miteinander vereinbar sind, hat sich durch Prozesse vertiefter wissenschaftlicher Reflexion, ebenso aber durch die weltpolitischen Konflikte der letzten Jahre und Jahrzehnte enorm verschärft. Es ist eine historisch junge Debatte, die als intellektueller Diskurs in die zeitgeschichtlichen Ereignisse eingeordnet gesehen werden muss und auch durch diese Bedingtheit relativiert werden kann. Die Frage der Vereinbarkeit wird von verschiedenen Seiten hergestellt – in der islamischen Welt wie im Westen, aus der Perspektive der Theologie wie der Politologie und anderer wissenschaftlichen Disziplinen. Unter den Schura-Theoretikern der islamischen Welt lassen sich verschiedene Konzeptionen der Scharia als verbindlich geltenden religiösen Rechts feststellen. Für stärker fundamentalistisch orientierte sind der Koran, die Sunna des Propheten und der ersten Generation der Muslime normative Quelle. Rechtsgelehrte und Theologen des mittelalterlichen Islam werden hoch geachtet. Hinsichtlich der Frage der Modifizierung und Anpassung des religiösen Rechts an die Moderne kristallisieren sich bei ihnen zwei Tendenzen heraus: Einige Fundamentalisten sehen die Scharia als unveränderlichen Korpus von Befehlen und Verboten. Diese Rechtsbestimmungen können höchstens – auf spezifische Situationen bezogen – ergänzt werden. Andere wiederum betonen stärker die Quellen der Scharia und betrachten sie eher als ein unveräußerlicher Rechtserbe, das aber jeweils im Licht veränderter Bedingungen gesehen werden muss. Nach Meinung von Modernisten hingegen ist die Scharia nicht als eine definitiv fixierte Quelle von Ge- und Verboten anzusehen, sondern als Endprodukt eines langen Prozesses der Entwicklung islamischer Jurisprudenz. Sie ziehen es vor, die jeweils der islamischen Rechtsprechung zugrundeliegenden Konzepte zu betonen. Zwischen den beiden Gruppen bestehen also wesentliche Unterschiede, inwieweit historisch-gesellschaftliche Relativierungen zugelassen und anerkannt werden. Extrem weit gehen diese beim sudanesischen Reformer und Führer der „Republikanischen Brüder“ Mahmud Muhammad Taha (1909–1985). Er sieht in den frühen mekkanischen Suren die primäre Botschaft des Islam. Der spätere Gesetzesislam der medinensischen Suren wird von ihm in seiner allgemeinen Gültigkeit bezweifelt. Für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie sind solche historisch-kritischen Ansätze von größter Bedeutung, weil sie eine offene Legislative ermöglichen. Es ist wahrscheinlich, dass die islamische Theologie sich zunehmend solchen historisch-kritischen Ansätzen stellen wird, wie sie in den Theologien anderer Glaubensgemeinschaften schon Tradition haben.
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Unter Orientalisten und Politikwissenschaftlern westlicher Länder wird vielfach die Meinung vertreten, Demokratisierung wäre im Nahen Osten nur auf der Basis von Säkularisierung möglich – also unter scharfer Trennung von Religion und Politik. Bei den wissenschaftlichen Unterstützern des IrakKriegs war diese Position sehr prominent vertreten. Nach dem Scheitern des gewaltsamen Demokratie-Exports gewinnen jene Fachvertreter an Einfluss, die für eine Demokratisierung in islamischem Kontext plädieren – also unter Berücksichtigung überkommener sozialer und religiöser Traditionen. In verschiedenen europäischen Ländern hat die Frage der Kompatibilität von Islam und Demokratie vor dem Hintergrund der Zuwanderung aus islamischen Ländern an Brisanz gewonnen, für die EU als Ganze durch den Kandidatenstatus der Türkei. Durch die politische Polarisierung kam es auch hier zu einer Betonung angeblich unüberwindbarer Gegensätze. In einer Situation verschärfter Konflikte werden verstärkt auch theoretische Oppositionen konstruiert. Sieht man den jeweiligen politischen Kontext, dann lassen sich manche abstrakt formulierten Unvereinbarkeiten relativieren. Das ist ein möglicher Beitrag aus einer historischen Kurzzeitperspektive. Aus historischer Langzeitperspektive kann zum Thema Islam und Demokratie Wesentliches gesagt werden. Die historische Sicht lässt relativieren und differenzieren – besser vielleicht als die theologische bzw. die politikwissenschaftliche. Weder Demokratie noch das Verhältnis von Religionsgemeinschaften zu ihr sind etwas überzeitlich Gleichbleibendes. Das zu erkennen schafft ein Bewusstsein der Veränderbarkeit in diesem Verhältnis und macht damit offen für neue Entwicklungen. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen hier zwei ganz unterschiedliche Entwicklungsstränge politischer Beteiligung, die mit den Stichworten „Parlament“ und „Schura“ etikettiert wurden. Bei beiden konnten in Entstehung und Entwicklung religiöse Rahmenbedingungen festgestellt werden, keineswegs aber konstitutive Zusammenhänge, die Wesenselemente der Religionsgemeinschaft betreffen. In den Traditionen der parlamentarischen Demokratie ist nichts spezifisch Christliches, das mit dem Islam nicht zu vereinbaren wäre. Umgekehrt stellt „Schura“ eine allgemeine Form des Beratungsprinzips dar, das in Ratsversammlungen der christlichen Welt durchaus in ähnlicher Weise angewandt wurde. Die divergenten Entwicklungen der politischen Systeme in den beiden hier verglichenen Kulturräumen ergaben sich keineswegs aus Glaubensfragen, sondern aus Faktoren in ganz anderen Lebensbereichen – hinsichtlich politischer Beteiligung vor allem im Bereich der Wehrverfassung. Religiöse Faktoren scheinen eher in mehrfach vermittelter Form für die Demokratieentwicklung bedeutsam gewesen zu sein – etwa durch den verzögerten Buchdruck als Folge des Festhaltens an religiös wichtigen Schreibtraditionen in der islamischen Welt. Durch die Langzeitfolgen solcher Gegebenheiten ist die Realisierung parlamentarischer Demokratie bis heute schwierig, weil elementare gesellschaftliche Voraussetzungen nur schwach
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entwickelt sind oder überhaupt fehlen. Dem Wesen der Religionsgemeinschaft sind solche Hindernisse nicht anzulasten. Es ist nicht der Islam, der der Verwirklichung von mehr Demokratie in der islamischen Welt entgegensteht. Der Blick in die Geschichte zurück verweist auf viele außerreligiöse Faktoren, die hier eine Erweiterung politischer Partizipation so schwierig machen. Tendenzen zu verstärkter Demokratisierung lassen sich in der jüngsten Vergangenheit und in der Gegenwart weltweit beobachten. Die Voraussetzungen dafür sind zunehmend gegeben – etwa im Bereich der hier ausführlicher besprochenen Verhältnisse der Kommunikation. Und offenbar wird mehr politische Partizipation auch von den Menschen gewollt. So dürfte dieser Trend wohl weitergehen. Allerdings brauchen Transformationsprozesse zu mehr Mitbestimmung viel Zeit. Und sie werden nur dann gelingen, wenn sie eigenständige Kulturtraditionen des jeweiligen Kulturraumes berücksichtigen. Für die islamische Welt bedeutet das auf jeden Fall eine historisch-kritisch fundierte Weiterentwicklung der Schura-Theorie und ihre verstärkte Übernahme in die politische Praxis, vielleicht auch eine Berücksichtigung eigenständiger Elemente der Konkordanzdemokratie gegenüber westlicher Konkurrenzdemokratie bzw. allgemeiner des Prinzips der Konsultation, wie es im Begriff „Schura“ enthalten ist. Beratung wird in komplexer werdenden Gesellschaften immer notwendiger, Expertenwissen ist zunehmend gefragt. Der Schura-Gedanke entspricht diesem zunehmenden Bedarf. Solcher Bedarf erscheint nicht nur auf staatlich-nationaler Ebene gegeben – ebenso in anderen Bereichen zivilgesellschaftlicher Strukturen. In diesem Verständnis könnte man Schura durchaus auch als ein Postulat nach verstärkter Partizipation im Allgemeinen, anders formuliert, nach Demokratisierung aller Lebensbereiche deuten. Die religiösen Basistexte des Islam lassen eine solche Deutung wohl zu. Werden eigenständige Traditionen politischer Partizipation weiterentwickelt, so stellt das die Traditionen anderer Kulturräume unter Legitimationsdruck. Parlamentarische Demokratie ist keine dogmatisch festgelegte Institution, die von westlichen Ländern in alle Welt exportiert werden könnte. Sie hat in ihrem Entstehungsgebiet eine vielfältige Entwicklung durchgemacht und sich immer wieder neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst. Akzelerierte Veränderungsprozesse werden auch weiterhin solche Prozesse der Adaptation notwendig machen. Die Demokratiedebatte in Europa verweist zu Recht auf viele Problembereiche, in denen bestehende politische Strukturen den gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht mehr entsprechen. So sind mit der Weiterentwicklung von Parlament und Schura interessante Zukunftsperspektiven der Demokratieentwicklung insgesamt angesprochen, die wohl primär zu Konvergenzen führen werden – in manchen Belangen vielleicht aber auch zu Divergenzen. Aus historischer Perspektive erscheint ein solcher Pluralismus – den unterschiedlichen Voraussetzungen entsprechend – durchaus angemessen.
Beitrag 6: Die Kairoer Rede des USA-Präsidenten Barack Obamas in deutscher Übersetzung
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Beitrag 6: Die Kairoer Rede des USA-Präsidenten Barack Obamas in deutscher Übersetzung
„Nach Kairo gekommen, um einen Neuanfang zwischen den Vereinigten Staaten und den Muslimen überall auf der Welt zu beginnen“ Barack Obama, Kairo/Berlin (APA/dpa) US-Präsident Barack Obama hat am Donnerstag in der Kairo-Universität seine mit Spannung erwartete, historische Rede an die islamische Welt gehalten. Es folgt die unwesentlich gekürzte Rede gemäß einer von der amerikanischen Botschaft in Berlin verbreiteten Übersetzung: Vielen herzlichen Dank. Guten Tag. Ich fühle mich geehrt, in Kairo zu sein, dieser zeitlosen Stadt, und Gast zweier bemerkenswerter Institutionen zu sein. Seit mehr als 1000 Jahren ist die Al-Azhar-Universität ein leuchtendes Beispiel für islamische Bildung, und seit mehr als einhundert Jahren ist die Universität von Kairo eine Quelle des ägyptischen Fortschritts. Und gemeinsam stehen Sie für die Harmonie zwischen Tradition und Fortschritt. Ich möchte mich für Ihre Gastfreundschaft und die Gastfreundschaft der Bürger Ägyptens bedanken. Ich bin auch stolz darauf, die guten Wünsche der amerikanischen Bevölkerung und einen Friedensgruß der muslimischen Gemeinden in meinem Land übermitteln zu können: Salam alaikum. Wir kommen in einer Zeit großer Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Muslimen überall auf der Welt zusammen – Spannungen, die in historischen Kräften verwurzelt sind, die über jede gegenwärtige politische Debatte hinausgehen. Die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen umfassen Jahrhunderte der Koexistenz und Kooperation, aber auch Konflikte und religiöse Kriege. In der jüngsten Vergangenheit wurden die Spannungen durch Kolonialismus genährt, der vielen Muslimen Rechte und Chancen versagte und einen Kalten Krieg bescherte, in dem mehrheitlich muslimische Länder zu oft als Stellvertreter benutzt wurden, ohne dass dabei Rücksicht auf ihre eigenen Bestrebungen genommen wurde. Darüber hinaus hat der weitreichende Wandel, der von der Moderne und der Globalisierung herbeigeführt wurde, dazu geführt, dass viele Muslime den Westen als feindlich gegenüber den Traditionen des Islams erachteten. Gewalttätige Extremisten haben diese Spannungen in einer kleinen, aber starken Minderheit der Muslime ausgenutzt. Die Anschläge vom 11. September 2001 und die fortgesetzten Bemühungen dieser Extremisten, Gewalt gegen Zivilisten zu verüben, hat einige in meinem Land dazu veranlasst, den Islam als zwangsläufig feindlich nicht nur gegenüber den Vereinigten Staaten und Ländern des Westens zu be-
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trachten, sondern auch gegenüber den Menschenrechten. All das hat zu weiteren Ängsten und mehr Misstrauen geführt. Solange unsere Beziehungen von unseren Unterschieden definiert sind, werden wir diejenigen stärken, die eher Hass als Frieden verbreiten, und diejenigen, die eher Konflikte fördern als die Zusammenarbeit, die den Menschen in allen unseren Ländern helfen könnte, Gerechtigkeit und Wohlstand zu erreichen. Dieser Kreislauf der Verdächtigungen und Zwietracht muss enden. Ich bin nach Kairo gekommen, um einen Neuanfang zwischen den Vereinigten Staaten und den Muslimen überall auf der Welt zu beginnen. Einen Neuanfang, der auf gemeinsamen Interessen und gegenseitiger Achtung beruht und auf der Wahrheit, dass die Vereinigten Staaten und der Islam die jeweils andere Seite nicht ausgrenzen und auch nicht miteinander konkurrieren müssen. Stattdessen überschneiden sich beide und haben gemeinsame Grundsätze; Grundsätze der Gerechtigkeit und des Fortschritts, der Toleranz und der Würde aller Menschen. Natürlich weiß ich, dass sich nicht alles über Nacht ändern kann. Ich weiß, dass im Vorfeld viel über diese Rede gesprochen wurde, aber keine einzelne Rede kann die Jahre des Misstrauens hinwegfegen, noch kann ich in der Zeit, die mir heute Nachmittag zur Verfügung steht, all die komplexen Fragen beantworten, die uns an diesen Punkt gebracht haben. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir, um Fortschritte machen zu können, einander offen sagen müssen, was uns auf dem Herzen liegt, und das wird zu häufig nur hinter verschlossenen Türen getan. Wir müssen uns darum bemühen, einander zuzuhören, voneinander zu lernen, uns gegenseitig zu respektieren und Gemeinsamkeiten zu finden. Wie der Heilige Koran uns lehrt: „Sei Gott gewärtig und spreche immer die Wahrheit.“ Das werde ich heute versuchen; ich werde die Wahrheit sagen, so gut ich das kann; demütig angesichts der Aufgabe, die vor uns liegt, und fest in meinem Glauben, dass die Interessen, die uns als Menschen gemein sind, viel stärker sind als die Kräfte, die uns entzweien. Diese Überzeugung beruht teilweise auf meinen eigenen Erfahrungen. Ich bin Christ, aber mein Vater stammt aus einer kenianischen Familie, zu der Generationen von Muslimen gehören. Als Junge lebte ich mehrere Jahre in Indonesien und hörte bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang den Ruf des Azaan. Als junger Mann arbeitete ich in Gemeinden Chicagos, wo viele Menschen im muslimischen Glauben Würde und Frieden fanden. „Islam ist immer ein Teil der amerikanischen Geschichte gewesen“
Als Geschichtsstudent weiß ich auch um die Schuld der Zivilisation gegenüber dem Islam. Es war der Islam – an Orten wie der Al-Azhar-Universität – der das Licht
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der Bildung über so viele Jahrhunderte getragen und den Weg für die europäische Renaissance und Aufklärung bereitet hat. Es waren Innovationen in muslimischen Gesellschaften, durch die die Ordnung der Algebra entstand, unser magnetischer Kompass und die Instrumente der Navigation, unsere Fähigkeit Federhalter herzustellen und unsere Beherrschung des Drucks sowie unser Wissen um die Verbreitung von Krankheiten und wie sie geheilt werden können. Die islamische Kultur hat uns majestätische Bögen und hohe Gewölbe beschert, zeitlose Poesie und geschätzte Musik, elegante Kalligraphie und Orte der friedlichen Kontemplation. Im Verlaufe der Geschichte hat der Islam durch Worte und Taten die Möglichkeiten der religiösen Toleranz und ethnischen Gleichberechtigung demonstriert. Ich weiß auch, dass der Islam immer ein Teil der amerikanischen Geschichte gewesen ist. Die erste Nation, die mein Land anerkannte, war Marokko. Bei der Unterzeichnung des Vertrags von Tripolis im Jahre 1796 schrieb unser zweiter Präsident, John Adams: „Die Vereinigten Staaten hegen in ihrem Innern gegenüber den Gesetzen, der Religion oder dem Frieden der Muslime keinerlei Feindseligkeit.“ Seit ihrer Gründung haben amerikanische Muslime die Vereinigten Staaten bereichert. Sie haben in unseren Kriegen gekämpft, in unserer Regierung gedient, sich für Bürgerrechte eingesetzt, Unternehmen gegründet, an unseren Universitäten gelehrt, hervorragende Leistungen in unseren Sportstätten gebracht, Nobelpreise gewonnen, unser höchstes Gebäude erbaut und die Olympische Fackel entzündet. Und als vor kurzem der erste muslimische Amerikaner in den Kongress gewählt wurde, legte er den Amtseid zur Verteidigung unserer Verfassung auf den gleichen Heiligen Koran ab, der in der Bibliothek eines unserer Gründungsväter stand – Thomas Jefferson. Ich habe den Islam auf drei Kontinenten kennengelernt, bevor ich in die Region gekommen bin, wo er zuerst verkündet wurde. Diese Erfahrung leitet meine Überzeugung, dass eine Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und dem Islam auf dem basieren muss, was der Islam ist, und nicht auf dem, was er nicht ist. Und ich sehe es als Teil meiner Verantwortung als Präsident der Vereinigten Staaten an, gegen negative Stereotype über den Islam vorzugehen, wo auch immer sie auftreten mögen. Aber das gleiche Prinzip muss für die muslimischen Wahrnehmungen der Vereinigten Staaten gelten. Genauso wie Muslime nicht groben Stereotypen entsprechen, entsprechen auch die Vereinigten Staaten nicht dem groben Stereotyp eines nur an sich selbst interessierten Imperiums. Die Vereinigten Staaten sind eine der größten Quellen für Fortschritt, die die Welt jemals gesehen hat. Wir sind aus einer Revolution gegen ein Weltreich hervorgegangen. Unser Land wurde auf den Idealen gegründet, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, und wir haben über Jahrhunderte gekämpft und Blut vergossen, um diesen Worten Bedeutung zu verleihen – innerhalb unserer Grenzen und in der übrigen Welt. Wir sind von jeder Kultur in jedem Win-
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kel der Erde geprägt und folgen einem einfachen Konzept: „E Pluribus Unum – aus vielen Eins.“ Viel wurde über die Tatsache diskutiert, dass ein Afroamerikaner mit dem Namen Barack Hussein Obama zum Präsidenten gewählt wurde. Meine persönliche Geschichte ist aber gar nicht so einzigartig. Der Traum von Chancen für alle Menschen ist nicht für jeden in den Vereinigten Staaten wahr geworden, aber seine Versprechungen bestehen weiterhin für alle, die in unser Land kommen. Dies schließt nahezu sieben Millionen amerikanische Muslime ein, die heute in unserem Land leben, und die übrigens über ein Einkommen und einen Bildungsstand verfügen, der über dem amerikanischen Durchschnitt liegt. Außerdem ist die Freiheit in den Vereinigten Staaten untrennbar mit der Freiheit der Religionsausübung verbunden. Das ist der Grund, warum in jedem Staat unserer Union eine Moschee und es insgesamt mehr als 1200 Moscheen innerhalb unserer Landesgrenzen gibt. Das ist auch der Grund, warum die US-Regierung vor Gericht gegangen ist, um die Rechte der Frauen und Mädchen zu schützen, die das Hijab tragen wollen, und um diejenigen zu bestrafen, die es ihnen verwehren wollen. Es besteht also kein Zweifel: Der Islam ist ein Teil der Vereinigten Staaten. Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten in sich die Wahrheit tragen, dass wir alle, unabhängig von der Hautfarbe, der Religion oder der Lebensphase, gemeinsame Ambitionen haben in Frieden und Sicherheit zu leben, Bildung zu erhalten, und in Würde zu arbeiten und unsere Familien, Gemeinden und Gott zu lieben. Das sind Dinge, die wir alle anstreben. Das ist die Hoffnung aller Menschen. Natürlich ist die Anerkennung unserer gemeinsamen Menschlichkeit erst der Anfang unserer Aufgabe. Worte alleine können die Bedürfnisse der Menschen in unseren Ländern nicht befriedigen. Diese Bedürfnisse können nur befriedigt werden, wenn wir in den kommenden Jahren mutig handeln, und wenn wir verstehen, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, gemeinsame Herausforderungen sind, und ein Versagen uns allen schaden wird. „Islam ist nicht Teil des Problems im Kampf bei der Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus“
Aus den jüngsten Erfahrungen haben wir gelernt, dass wenn ein Finanzsystem in einem Land geschwächt wird, der Wohlstand überall davon betroffen ist. Wenn ein neuartiges Grippevirus einen Menschen infiziert, wir alle gefährdet sind. Wenn eine Nation den Erwerb von Atomwaffen anstrebt, das Risiko eines Atomwaffenangriffs für alle Nationen steigt. Wenn gewalttätige Extremisten in einer Bergregion operieren, Menschen auf der anderen Seite des Ozeans gefährdet sind. Und wenn
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Unschuldige in Bosnien und Darfour abgeschlachtet werden, es ein Schandfleck auf unserem kollektiven Gewissen ist. Das bedeutet es, im 21. Jahrhundert die Welt gemeinsam zu bewohnen. Das ist die Verantwortung, die wir vor einander als Menschen haben. Das ist eine schwierige Verantwortung, die wir übernehmen müssen. Die menschliche Geschichte war oft geprägt von Nationen und Stämmen aber auch Religionen, die einander aufgrund ihrer eigenen Interessen unterjochten. In dieser neuen Ära ist dieses Verhalten aber völlig sinnlos. Angesichts unserer gegenseitigen Abhängigkeit wird jede Weltordnung, die eine Nation oder Gruppe über andere erhebt, unweigerlich scheitern. Ganz gleich, was wir also über die Vergangenheit denken, wir sollten nicht zu ihren Gefangenen werden. Unsere Probleme müssen durch Partnerschaft gelöst und Fortschritt muss geteilt werden. Das heißt nicht, dass wir Ursachen für Spannungen ignorieren sollten. Das Gegenteil scheint mir vielmehr angebracht zu sein: Wir müssen uns diesen Spannungen direkt stellen. Lassen Sie mich in diesem Sinne so klar und so offen, wie mir das möglich ist, einige spezielle Themen ansprechen, von denen ich glaube, dass wir uns ihnen endlich gemeinsam stellen müssen. Das erste Thema, dem wir uns stellen müssen, ist gewalttätiger Extremismus in allen seinen Formen. In Ankara habe ich klar gesagt, dass sich die Vereinigten Staaten nicht mit dem Islam im Krieg befinden und das auch niemals sein werden. Wir werden uns jedoch unnachgiebig gegen die gewalttätigen Extremisten stellen, die eine ernste Gefahr für unsere Sicherheit bedeuten, weil wir dasselbe ablehnen, was die Menschen aller Glaubensrichtungen ablehnen: Die Ermordung unschuldiger Frauen, Kinder und Männer. Und es ist meine oberste Pflicht als Präsident, die Bevölkerung der Vereinigten Staaten zu schützen. Die Situation in Afghanistan zeigt die amerikanischen Ziele und die Notwendigkeit der Kooperation. Vor mehr als sieben Jahren haben die Vereinigten Staaten die El Kaida und die Taliban mit breiter internationaler Unterstützung verfolgt. Wir haben das nicht getan, weil wir das tun wollten, sondern weil es eine Notwendigkeit war. Ich bin mir bewusst, dass es noch immer einige Menschen gibt, die die Ereignisse des 11. Septembers anzweifeln oder rechtfertigen würden. Aber lassen Sie uns ganz klar feststellen: Die El Kaida hat an diesem Tag fast 3000 Menschen getötet. Die Opfer waren unschuldige Frauen, Kinder und Männer aus den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern, die niemandem etwas getan hatten. Dennoch hat die El Kaida diese Menschen unbarmherzig ermordet, sich mit dem Angriff gebrüstet und sagt sogar heute, dass sie entschlossen ist, einen massiven Angriff durchzuführen und viele Menschen zu töten. Sie haben in vielen Ländern Anhänger und versuchen ihre
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Reichweite noch auszudehnen. Das sind keine Ansichten, über die diskutiert werden kann, es sind Fakten, mit denen man sich befassen muss. Täuschen Sie sich also nicht: Wir wollen unsere Truppen nicht in Afghanistan lassen. Wir wollen dort keine Militärbasen einrichten. Es ist qualvoll für die Vereinigten Staaten, ihre jungen Frauen und Männer zu verlieren. Es ist kostspielig und politisch schwierig, diesen Konflikt fortzusetzen. Wir würden gerne jeden einzelnen unserer Soldaten nach Hause bringen, wenn wir sicher sein könnten, dass es in Afghanistan und jetzt auch in Pakistan keine gewalttätigen Extremisten gibt, die entschlossen sind, so viele Amerikaner wie möglich zu töten. Aber das ist zurzeit noch nicht der Fall. Deshalb haben wir eine partnerschaftliche Koalition mit 46 Ländern geschlossen. Trotz der damit einhergehenden Kosten wird das amerikanische Engagement nicht nachlassen. In der Tat sollte keiner von uns diese Extremisten tolerieren. Sie haben in vielen Ländern getötet. Sie haben Menschen unterschiedlichen Glaubens getötet – allerdings starben mehr Muslime als Anhänger anderer Glaubensrichtungen. Ihre Taten sind unvereinbar mit den Menschenrechten, dem Fortschritt von Nationen und dem Islam. Der Heilige Koran lehrt, dass wenn jemand einen Unschuldigen tötet, es so ist, als habe er die ganze Menschheit getötet. Und der Heilige Koran sagt auch, wenn jemand einen Menschen rettet, ist es so, als habe er die ganze Menschheit gerettet. Der fortdauernde Glaube von mehr als einer Milliarde Menschen ist so viel größer als der engstirnige Hass einiger weniger. Der Islam ist nicht Teil des Problems im Kampf bei der Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus – er ist ein wichtiger Teil der Förderung des Friedens. „Militärische Macht alleine reicht nicht aus“ – „Die Situation für die Palästinenser ist unerträglich“
Wir wissen auch, dass militärische Macht alleine nicht ausreicht, um die Probleme in Afghanistan und Pakistan zu lösen. Das ist der Grund, warum wir vorhaben, jedes Jahr in den kommenden fünf Jahren 1,5 Milliarden US-Dollar zu investieren, um in Partnerschaft mit der Bevölkerung Pakistans Schulen, Krankenhäuser, Straßen und Unternehmen aufzubauen, und hunderte Millionen Dollar, um denen zu helfen, die vertrieben wurden. Aus diesem Grund stellen wir mehr als 2,8 Milliarden Dollar bereit, um den Menschen in Afghanistan zu helfen, ihre eigene Volkswirtschaft aufzubauen und die Dienste bereitzustellen, auf die die Menschen angewiesen sind. Lassen Sie mich auch das Thema Irak ansprechen. Im Gegensatz zu Afghanistan haben wir uns für den Krieg im Irak entschieden, was zu starken Meinungsverschiedenheiten in meinem Land und auf der ganzen Welt geführt hat. Obwohl ich glaube,
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dass es der irakischen Bevölkerung letztendlich ohne den Tyrannen Saddam Hussein besser geht, glaube ich auch, dass die Ereignisse im Irak die Vereinigten Staaten an die Notwendigkeit der Diplomatie und des internationalen Konsenses zur Lösung von Problemen erinnert haben, wann immer dies möglich ist. Wir erinnern uns in der Tat an die Worte von Thomas Jefferson, der sagte: „Ich hoffe, dass unsere Weisheit mit unserer Macht wachsen und uns lehren wird: Je weniger wir unsere Macht einsetzen, desto größer wird sie sein.“ Heute haben die Vereinigten Staaten eine zweifache Verantwortung: Dem Irak zu helfen, eine bessere Zukunft aufzubauen – und den Irak den Irakern zu überlassen. Ich habe es gegenüber der irakischen Bevölkerung ganz klar gesagt, dass wir keine Basen errichten wollen und keine Ansprüche auf ihr Territorium oder Ressourcen erheben. Die irakische Souveränität gehört dem Irak allein. Daher habe ich den Abzug der Kampfbrigaden bis kommenden August angeordnet. Daher werden wir uns an unsere Vereinbarung mit der demokratisch gewählten Regierung im Irak halten und unsere Kampftruppen bis Juli aus irakischen Städten sowie unsere übrigen Soldaten bis 2012 aus dem Irak abziehen. Wir werden den Irak dabei unterstützen, Sicherheitskräfte auszubilden und seine Volkswirtschaft aufzubauen. Aber wir werden einen sicheren und geeinten Irak als ein Partner unterstützen und niemals als Schutzmacht. Und schließlich dürfen wir genauso wenig wie die Vereinigten Staaten Gewalt von Extremisten tolerieren können, niemals unsere Prinzipien verändern oder vergessen. Der 11. September stellte ein enormes Trauma für unser Land dar. Die Angst und Wut, die er hervorrief, war verständlich, aber in einigen Fällen führte dies dazu, dass wir entgegen unseren Traditionen und Idealen handelten. Wir unternehmen konkrete Schritte, um den Kurs zu ändern. Ich habe unmissverständlich den Einsatz von Folter durch die Vereinigten Staaten verboten und die Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo Bay bis Anfang kommenden Jahres angeordnet. Die Vereinigten Staaten werden sich also unter Achtung der Souveränität von Nationen und der Rechtsstaatlichkeit verteidigen. Und wir werden das in Partnerschaft mit den muslimischen Gesellschaften tun, die ebenfalls bedroht sind. Je eher die Extremisten isoliert und aus muslimischen Gesellschaften vertrieben werden, desto schneller werden wir alle sicherer sein. Die zweite große Quelle für Spannungen, über die wir sprechen müssen, ist die Situation zwischen Israelis, Palästinensern und in der arabischen Welt. Die starken Bande der Vereinigten Staaten zu Israel sind allgemein bekannt. Diese Bande sind unzerbrechlich. Sie basieren auf den kulturellen und historischen Verbindungen und dem Wissen um die Tatsache, dass das Streben nach einer jüdischen Heimat in einer tragischen Geschichte verwurzelt ist, die nicht geleugnet werden kann.
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Überall auf der Welt wurden Juden seit Jahrhunderten verfolgt, und der Antisemitismus gipfelte in Europa in einem beispiellosen Holocaust. Morgen werde ich Buchenwald besuchen, das Teil eines Netzwerks von Lagern war, in denen Juden während des Dritten Reichs versklavt, gefoltert, erschossen und vergast wurden. Sechs Millionen Juden wurden getötet – mehr als die gesamte jüdische Bevölkerung, die heute in Israel lebt. Diese Tatsache zu leugnen ist bar jeder Grundlage, ignorant und abscheulich. Israel mit Zerstörung zu drohen – oder gemeine Stereotype über Juden zu wiederholen – ist zutiefst falsch und dient nur dazu, bei den Israelis diese schmerzvollste aller Erinnerungen wieder zu erwecken und gleichzeitig den Frieden zu verhindern, den die Menschen in dieser Region verdienen. Andererseits lässt es sich auch nicht leugnen, dass die Palästinenser – Muslime und Christen – auf der Suche nach einer Heimat gelitten haben. Seit mehr als sechzig Jahren ertragen sie den Schmerz der Vertreibung. Viele warten in Flüchtlingslagern im Westjordanland, im Gazastreifen und den angrenzenden Ländern auf ein Leben in Frieden und Sicherheit, das sie noch nie haben führen können. Sie ertragen die täglichen Demütigungen – kleine und große –, die die Besatzung mit sich bringt. Es besteht also kein Zweifel: Die Situation für die Palästinenser ist unerträglich. Die Vereinigten Staaten werden dem legitimen Streben der Palästinenser nach Würde, Chancen und einem eigenen Staat nicht den Rücken kehren. „Israel wird nicht einfach verschwinden – und viele Israelis erkennen die Notwendigkeit eines Palästinenserstaates“
Seit Jahrzehnten gibt es eine Pattsituation: Zwei Völker mit legitimen Wünschen, jedes davon mit einer schmerzvollen Geschichte, die einen Kompromiss erschwert. Schuldzuweisungen sind einfach – die Palästinenser weisen auf die Vertreibung aufgrund der Gründung des Staates Israel hin, und die Israelis weisen auf die ständigen Feindseligkeiten und Anschläge hin, die im Laufe ihrer Geschichte im eigenen Land und aus dem Ausland auf sie verübt wurden. Aber wenn wir diesen Konflikt nur von der einen oder der anderen Seite betrachten, verschließen wir unsere Augen vor der Wahrheit: Die einzige Lösung besteht darin, dass die Wünsche beider Seiten durch zwei Länder erfüllt werden, in denen Israelis und Palästinenser jeweils in Frieden und Sicherheit leben. Das ist im Interesse Israels, im Interesse Palästinas, im Interesse der Vereinigten Staaten und im Interesse der Welt. Aus diesem Grund habe ich vor, mich mit all der Geduld und Hingabe, die diese Aufgabe erfordert, persönlich für dieses Ziel einzusetzen. Die Verpflichtungen, die die Parteien im Rahmen der Roadmap eingegangen sind, sind eindeutig. Um Frieden zu ermöglichen, ist es an der Zeit, dass sie – und wir alle – unserer Verantwortung nachkommen.
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Die Palästinenser müssen der Gewalt abschwören. Widerstand durch Gewalt und Morden ist falsch und führt nicht zum Erfolg. Jahrhundertelang ertrugen schwarze Menschen in den Vereinigten Staaten als Sklaven den Hieb der Peitsche und die Erniedrigung der Rassentrennung. Aber es war nicht Gewalt, mit der vollständige und gleiche Rechte errungen wurden. Es war ein friedliches und entschlossenes Beharren auf den Idealen, die bei der Gründung der Vereinigten Staaten das Kernstück waren. Dieselbe Geschichte können Menschen in Südafrika, in Südasien, Osteuropa und in Indonesien erzählen. Es ist eine Geschichte mit einer einfachen Wahrheit: Gewalt ist eine Sackgasse. Es ist weder ein Zeichen von Mut noch von Macht, Raketen auf schlafende Kinder zu schießen oder einen Bombenanschlag auf alte Frauen in einem Bus zu verüben. So erlangt man keine moralische Autorität; so gibt man sie auf. Es ist jetzt an der Zeit, dass sich die Palästinenser auf das konzentrieren, was sie aufbauen können. Die Palästinenserbehörde muss ihre Fähigkeit zu regieren entwickeln, mit Institutionen, die die Bedürfnisse der Bürger befriedigen. Die Hamas hat die Unterstützung einiger Palästinenser, sie muss aber auch erkennen, dass sie eine Verantwortung trägt. Um eine Rolle dabei zu spielen, die Wünsche der Palästinenser zu erfüllen und die Palästinenser zu einen, muss die Hamas die Gewalt beenden und vergangene Abkommen sowie das Existenzrecht Israels anerkennen. Gleichzeitig müssen die Israelis anerkennen, dass das Existenzrecht Palästinas genau so wenig verwehrt werden kann wie das Existenzrecht Israels. Die Vereinigten Staaten betrachten den fortgesetzten Bau israelischer Siedlungen nicht als legitim. Der Bau verletzt bestehende Abkommen und untergräbt die Bestrebungen, Frieden zu erreichen. Es ist an der Zeit, dass diese Besiedelung aufhört. Israel muss auch seiner Verpflichtung nachkommen und sicherstellen, dass die Palästinenser leben, arbeiten und ihre Gesellschaft voranbringen können. Die andauernde humanitäre Krise im Gazastreifen zerstört nicht nur palästinensische Familien, sie erhöht auch nicht die Sicherheit Israels. Der fortbestehende Mangel an Chancen im Westjordanland tut das genauso wenig. Fortschritte im täglichen Leben der Palästinenser müssen ein wichtiger Teil des Weges zum Frieden sein, und Israel muss konkrete Schritte unternehmen, um solchen Fortschritt zu ermöglichen. Schließlich müssen die arabischen Staaten erkennen, dass die arabische Friedensinitiative ein bedeutender Anfang war, aber nicht das Ende ihrer Verantwortung. Der Konflikt zwischen Arabern und Israelis sollte nicht länger dazu verwendet werden, die Bürger in arabischen Nationen von anderen Problemen abzulenken. Stattdessen muss es ein Anliegen sein, den Palästinensern zu helfen, die Institutionen zu entwickeln, die ihren Staat tragen werden, die Legitimität Israels anzuerkennen und sich für Fortschritt zu entscheiden, statt sich auf kontraproduktive Weise auf die Vergangenheit zu konzentrieren.
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Die Vereinigten Staaten werden ihre Politik mit jenen abstimmen, die Frieden anstreben, und öffentlich das sagen, was sie auch in geschlossenen Treffen zu den Israelis, den Palästinensern und den arabischen Nationen sagen. Wir können keinen Frieden erzwingen. Aber insgeheim erkennen viele Muslime, dass Israel nicht einfach verschwinden wird. Genauso erkennen viele Israelis die Notwendigkeit eines Palästinenserstaates. Jeder kennt die Wahrheit, und deshalb ist es jetzt an der Zeit, ihr entsprechend zu handeln. „Zu viele Tränen sind geflossen. Zu viel Blut wurde vergossen“
Zu viele Tränen sind geflossen. Zu viel Blut wurde vergossen. Wir alle haben die Verantwortung, auf den Tag hinzuarbeiten, an dem die Mütter von israelischen und palästinensischen Kindern diese ohne Angst aufwachsen sehen, an dem das Heilige Land der drei großen Glaubensrichtungen der Ort des Friedens ist, den Gott für ihn vorgesehen hat, an dem Jerusalem die sichere und ständige Heimat von Juden, Christen und Muslimen ist und ein Ort, an dem alle Kinder Abrahams friedlich zusammenkommen können wie in der Geschichte der Al-Israa, als Moses, Jesus und Mohammed – möge der Friede mit ihnen sein – gemeinsam beteten. Die dritte Quelle von Spannungen ist unser gemeinsames Interesse an den Rechten und den Pflichten von Nationen in Bezug auf Atomwaffen. Dieses Thema ist eine Quelle der Spannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Islamischen Republik Iran. Iran definiert sich seit vielen Jahren auch über die Opposition zu meinem Land, und in der Tat steht eine ereignisreiche Geschichte zwischen uns. Mitten im Kalten Krieg spielten die Vereinigten Staaten beim Sturz einer demokratisch gewählten iranischen Regierung eine Rolle. Seit der Islamischen Revolution spielt Iran eine Rolle bei Geiselnahmen und bei Gewalt gegen amerikanische Soldaten und Zivilisten. Diese Geschichte ist weithin bekannt. Aber statt in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben, habe ich den iranischen Politikern und Bürgern des Landes eindeutig gesagt, dass mein Land bereit ist, in die Zukunft zu blicken. Die Frage lautet jetzt nicht, wogegen der Iran ist, sondern welche Zukunft das Land aufbauen will. Ich weiß, dass es schwer sein wird, Jahrzehnte des Misstrauens zu überwinden, aber wir werden mutig, rechtschaffen und entschlossen vorgehen. Es wird viele Fragen geben, die unsere beiden Länder diskutieren müssen, und wir sind bereit, ohne Vorbedingungen und auf der Grundlage gegenseitiger Achtung zu handeln. Aber es ist allen Beteiligten klar, dass wir beim Thema der Atomwaffen einen entscheidenden Punkt erreicht haben. Dabei geht es nicht einfach um die Interessen der Vereinigten Staaten. Es geht darum, ein Wettrüsten im Nahen Osten zu verhindern, das die Region und die ganze Welt auf einen zutiefst gefährlichen Kurs bringen könnte.
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Ich verstehe jene, die protestieren und sagen, dass einige Länder Waffen besitzen, die andere Länder nicht haben. Kein einzelnes Land sollte aussuchen dürfen, welche Länder Atomwaffen besitzen dürfen. Aus diesem Grund habe ich das Bekenntnis der Vereinigten Staaten maßgeblich gestärkt, auf eine Welt hinzuarbeiten, in der kein Land Atomwaffen besitzt. Jedes Land – auch der Iran – sollte das Recht auf friedliche Nutzung der Atomkraft haben, wenn es seinen Verpflichtungen im Rahmen des atomaren Nichtverbreitungsvertrags nachkommt. Dieses Bekenntnis ist das Kernstück des Vertrages, und es muss für alle bewahrt werden, die sich vollständig daran halten. Ich habe Hoffnung, dass alle Länder in der Region dieses gemeinsame Ziel verfolgen können. Das vierte Thema, über das ich sprechen werde, ist Demokratie. Ich weiß, dass die Förderung von Demokratie in den vergangenen Jahren Anlass zu einigen Kontroversen gegeben hat, und dass ein Großteil dieser Kontroversen mit dem Krieg im Irak zu tun hat. Ich sage es ganz deutlich: Kein Regierungssystem kann oder sollte einem Land von irgendeinem anderen Land aufgezwungen werden. Das heißt jedoch nicht, dass ich mich weniger für Regierungen einsetze, die dem Willen ihrer Bürger entsprechen. Jedes Land erfüllt dieses Prinzip auf seine eigene Art und Weise mit Leben, und diese beruht auf den Traditionen seiner Bürger. Die Vereinigten Staaten maßen sich nicht an zu wissen, was für alle anderen am besten ist, genau so wenig wie sie sich anmaßen, das Ergebnis von friedlichen Wahlen beeinflussen zu können. Aber ich bin der unerschütterlichen Überzeugung, dass sich alle Menschen nach bestimmten Dingen sehnen: Die Fähigkeit, seine Meinung zu äußern und ein Mitspracherecht dabei zu haben, wie man regiert wird, Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit vor dem Gesetz zu haben, eine Regierung, die transparent ist und die Menschen nicht bestiehlt, sowie die Freiheit, so zu leben, wie man möchte. Das sind nicht nur amerikanische Ideen, es sind Menschenrechte. Und aus diesem Grund werden wir sie überall auf der Welt unterstützen. Es gibt keine eindeutige Linie, wie diese Versprechen verwirklicht werden können. Aber folgendes ist klar: Regierungen, die diese Rechte schützen, sind letzten Endes stabiler, erfolgreicher und sicherer. Das Unterdrücken von Ideen führt nicht zu ihrem Verschwinden. Die Vereinigten Staaten respektieren das Recht aller friedlichen und gesetzestreuen Stimmen auf der Welt, Gehör zu finden, auch, wenn wir nicht ihrer Meinung sind. Wir begrüßen alle gewählten, friedlichen Regierungen – wenn sie beim Regieren alle ihre Bürger achten.
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„Der Islam blickt auf eine stolze Tradition der Toleranz zurück“
Dieser letzte Punkt ist wichtig, weil es einige gibt, die Demokratie nur fordern, wenn sie nicht an der Macht sind. Wenn sie dann an der Macht sind, unterdrücken sie rücksichtslos die Rechte anderer. Unabhängig davon, wo sie Wurzeln schlägt: Eine Regierung für die Bürger und bestehend aus den Bürgern setzt einen Standard für alle, die an die Macht kommen: Man muss die Macht durch Konsens, nicht durch Zwang erhalten, durch die Achtung der Rechte von Minderheiten und Mitwirkung im Geist der Toleranz und des Kompromisses sowie die Einstufung der Interessen der Bürger und der legitimen Arbeit des politischen Prozesses über der Partei. Wahlen allein machen ohne diese Zutaten noch keine wahre Demokratie aus. Das fünfte Thema, das wir gemeinsam ansprechen müssen, ist Religionsfreiheit. Der Islam blickt auf eine stolze Tradition der Toleranz zurück. Wir sehen das an der Geschichte Andalusiens und Cordobas während der Inquisition. Ich habe es als Kind selbst in Indonesien erlebt, wo fromme Christen ihren Glauben frei in einem mehrheitlich muslimischen Land praktizierten. Das ist die Geisteshaltung, die wir heute brauchen. Die Menschen in allen Ländern sollten die Freiheit haben, ihren Glauben aufgrund der Überzeugung des Geistes, des Herzens und der Seele zu wählen und zu leben. Diese Toleranz ist unerlässlich, damit eine Religion erblühen kann, aber sie wird in vielerlei Hinsicht angegriffen. Unter einigen Muslimen gibt es die beunruhigende Tendenz, den eigenen Glauben zu messen, indem man den Glauben eines anderen Menschen ablehnt. Die Reichhaltigkeit der religiösen Vielfalt muss aufrechterhalten werden – unabhängig davon, ob es um die Maroniten im Libanon oder die Kopten in Ägypten geht. Und wenn wir ehrlich sind, müssen zwischen Muslimen auch Spaltungen überwunden werden, da die Entzweiung zwischen Sunniten und Schiiten zu tragischer Gewalt geführt haben, insbesondere im Irak. Religionsfreiheit ist ein wesentliches Kriterium dafür, dass verschiedene Menschen zusammenleben können. Wir müssen immer die Art und Weise untersuchen, wie wir sie schützen. Beispielsweise haben es in den Vereinigten Staaten Vorschriften zu wohltätigen Spenden schwieriger für Muslime gemacht, ihre religiösen Pflichten zu erfüllen. Daher bin ich fest entschlossen, mit amerikanischen Muslimen zusammenzuarbeiten um zu gewährleisten, dass sie die Zakaat erfüllen können. Es ist genauso wichtig, dass westliche Länder aufhören, ihre muslimischen Bürger dabei zu behindern, ihre Religion auszuüben, wie sie möchten – beispielsweise, indem muslimischen Frauen vorgeschrieben wird, welche Kleidung sie zu tragen haben. Wir können Feindseligkeit gegenüber einer Religion nicht unter dem Deckmantel des Liberalismus verstecken.
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Unser Glaube sollte uns vielmehr zusammenbringen. Aus diesem Grund fördern wir in den Vereinigten Staaten Projekte, bei denen Christen, Muslime und Juden zusammengebracht werden. Deshalb begrüßen wir Bestrebungen wie den religionsübergreifenden Dialog des saudi-arabischen Königs Abdullah und die Führungsrolle der Türkei in der Allianz der Zivilisationen. Überall auf der Welt können wir aus Dialog glaubensübergreifendes Engagement machen, so dass Brücken zwischen Menschen Maßnahmen zur Folge haben – ob es um die Bekämpfung von Malaria in Afrika geht oder um Hilfsmaßnahmen nach einer Naturkatastrophe. Das sechste Thema, das ich ansprechen möchte, sind die Rechte von Frauen. Ich weiß, dass dieses Thema viel diskutiert wird, wie man auch an der Reaktion des Publikums hört. Ich lehne die Ansicht einiger Menschen im Westen ab, dass eine Frau, die ihre Haare bedecken möchte, auf irgendeine Weise weniger gleich ist, aber ich bin der Meinung, dass man einer Frau, der man Bildung verweigert, auch Gleichberechtigung verweigert. Es ist kein Zufall, dass in Ländern, in denen die Frauen gut gebildet sind, die Wahrscheinlichkeit weitaus höher ist, dass die Länder selbst erfolgreich sind. Ich sage es ganz deutlich: Fragen, die mit der Gleichberechtigung von Frauen zu tun haben, sind keineswegs nur für den Islam ein Thema. In der Türkei, in Pakistan, Bangladesch und in Indonesien haben wir gesehen, wie mehrheitlich muslimische Länder Frauen an die Spitze ihres Staates gewählt haben. Gleichzeitig dauert der Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen in vielen Bereichen des Lebens in den Vereinigten Staaten noch an, wie auch in vielen anderen Ländern auf der Welt. „Unsere Töchter können genauso viel zu unserer Gesellschaft beitragen wie unsere Söhne“
Ich bin überzeugt, dass unsere Töchter genauso viel zu unserer Gesellschaft beitragen können wie unsere Söhne. Unser gemeinsamer Wohlstand wird gefördert, wenn alle Menschen – Frauen und Männer – ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Ich glaube nicht, dass Frauen dieselben Entscheidungen treffen müssen wie Männer, um gleichberechtigt zu sein, und ich respektiere Frauen, die sich entscheiden, ihr Leben in traditionellen Rollen zu leben. Aber es sollte ihre Entscheidung sein. Aus diesem Grund gehen die Vereinigten Staaten Partnerschaften mit allen mehrheitlich muslimischen Ländern ein, damit mehr Mädchen lesen und schreiben lernen, und um jungen Frauen durch Mikrofinanzierung, die Menschen hilft, ihre Träume zu leben, zu unterstützen, eine Anstellung zu finden. Schließlich möchte ich über wirtschaftliche Entwicklung und Chancen sprechen. Ich weiß, dass die Globalisierung vielen als widersprüchlich erscheint. Internet
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und Fernsehen fördern Wissen und stellen Informationen bereit, bringen aber auch offensive Sexualität und gedankenlose Gewalt in unser Wohnzimmer. Handel kann neuen Wohlstand und Chancen ermöglichen, aber auch riesige Brüche und Veränderungen in Gemeinden mit sich bringen. In allen Ländern – auch in den Vereinigten Staaten – verursachen diese Veränderungen Angst. Angst, dass wir aufgrund der Modernität die Kontrolle über unsere wirtschaftlichen Entscheidungen verlieren, über unsere Politik und, was am wichtigsten ist, über unsere Identität – die Dinge, die wir in unseren Gemeinschaften, Familien, Traditionen und in unserem Glauben am meisten schätzen. Aber ich weiß auch, dass sich menschlicher Fortschritt nicht aufhalten lässt. Es muss keinen Widerspruch zwischen Entwicklung und Tradition geben. Länder wie Japan und Südkorea förderten das Wachstum ihrer Volkswirtschaften und bewahrten sich dennoch ihre eigene Kultur. Dasselbe ist bei den erstaunlichen Fortschritten in mehrheitlich muslimischen Ländern von Kuala Lumpur bis Dubai der Fall. Weit in der Vergangenheit und auch heute sind muslimische Gemeinschaften führend, wenn es um Innovationen und Bildung geht. Das ist wichtig, weil keine Strategie für Entwicklung ausschließlich darauf aufbauen kann, was aus dem Boden kommt; genauso wenig kann sie aufrechterhalten werden, wenn junge Menschen keine Arbeit finden. Viele Golfstaaten genießen aufgrund von Erdöl großen Wohlstand, und einige fangen an, diesen Wohlstand in eine umfassendere Entwicklung zu investieren. Aber wir alle müssen erkennen, dass Bildung und Innovationen die Währung des 21. Jahrhunderts sein werden. In zu vielen muslimischen Gemeinden wird zu wenig in diese Bereiche investiert. Ich konzentriere mich in meinem Land auf solche Investitionen. Und während sich die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit in diesem Teil der Welt auf Öl und Gas konzentriert haben, wollen wir uns jetzt umfassender engagieren. Im Bildungssektor werden wir Austauschprogramme ausweiten und mehr Stipendien anbieten, wie das, das meinen Vater in die Vereinigten Staaten führte. Gleichzeitig werden wir mehr Amerikaner ermutigen, in muslimischen Gesellschaften zu studieren. Wir werden vielversprechenden muslimischen Studenten Praktika in den Vereinigten Staaten anbieten, in Online-Angebote für Lehrer und Kinder überall auf der Welt investieren und ein neues Online-Netzwerk aufbauen, so dass ein junger Mensch in Kansas direkt mit einem jungen Menschen in Kairo kommunizieren kann. Im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung werden wir ein neues Korps von freiwilligen Unternehmen schaffen, das Partnerschaften mit mehrheitlich muslimischen Ländern eingeht. Ich werde in diesem Jahr einen Gipfel für das Unternehmertum abhalten, um festzustellen, wie wir die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen führenden Vertretern aus der Wirtschaft, von Stiftungen und sozialen Unternehmern
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in den Vereinigten Staaten und muslimischen Gesellschaften überall auf der Welt vertiefen können. Im Bereich Wissenschaft und Technologie werden wir einen neuen Fonds ins Leben rufen, der technologische Entwicklung in mehrheitlich muslimischen Ländern unterstützt und dazu beiträgt, Ideen auf den Markt zu bringen, so dass mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir werden in Afrika, im Nahen Osten und in Südostasien wissenschaftliche Exzellenzzentren eröffnen und neue wissenschaftliche Beauftragte ernennen, die an Programmen zur Erschließung neuer Energiequellen, bei der Schaffung grüner Arbeitsplätze, der Digitalisierung von Daten, bei sauberem Wasser und dem Anbau neuer Pflanzen zusammenarbeiten. Heute kündige ich zudem neue globale mit der Organisation der Islamischen Konferenz unternommene Bestrebungen zur Bekämpfung von Polio an. Wir werden ferner Partnerschaften mit muslimischen Gemeinden ausweiten, die Gesundheit von Kindern und Müttern zu verbessern. „Es ist einfacher, Kriege zu beginnen, als sie zu beenden“
All diese Dinge müssen in Partnerschaften geleistet werden. Die Amerikaner sind bereit, mit den Bürgern und Regierungen, mit Gemeindeorganisationen, religiösen Vertretern und Unternehmen in muslimischen Gemeinden überall auf der Welt zusammenzuarbeiten, um unseren Bürgern zu helfen, ein besseres Leben zu führen. Die von mir beschriebenen Themen werden nicht einfach anzusprechen sein. Aber wir haben die Verantwortung, uns gemeinsam für die Welt, die wir anstreben, einzusetzen – eine Welt, in der Extremisten nicht mehr unsere Bürger bedrohen und die amerikanischen Soldaten heimgekehrt sind, eine Welt, in der sowohl Israelis als auch Palästinenser ihr eigenes Land haben, in der Atomenergie für friedliche Zwecke genutzt wird, in der die Regierungen ihren Bürgern dienen und die Rechte aller Kinder Gottes geachtet werden. Das sind gemeinsame Interessen. Das ist die Welt, die wir anstreben. Aber wir können sie nur gemeinsam erreichen. Ich weiß, es gibt viele – Muslime und Nichtmuslime, die sich fragen, ob wir diesen Neuanfang erreichen können. Einige sind sehr daran interessiert, Spaltung zu schüren und sich dem Fortschritt in den Weg zu stellen. Einige bringen vor, dass es die Mühe nicht wert sei, dass es unser Schicksal ist, unterschiedlicher Meinung zu sein, und dass es Kulturen bestimmt ist, gegeneinander zu kämpfen. Viele andere sind einfach skeptisch, ob wahre Veränderungen wirklich stattfinden können. Es gibt so viel Angst und so viel Misstrauen, die sich im Laufe der Jahre aufgebaut haben. Aber wenn wir beschließen, dass wir an die Vergangenheit gebunden sind, werden wir niemals Fortschritte machen. Ich möchte das insbesondere an die jungen Menschen
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aller Glaubensrichtungen in allen Ländern richten: Sie, mehr als jeder andere, haben die Fähigkeit, diese Welt neu zu erdenken, neu zu gestalten. Wir alle teilen diese Welt nur für einen kurzen Augenblick. Die Frage ist, ob wir uns in dieser Zeit auf das konzentrieren, was uns auseinandertreibt, oder ob wir uns einem Unterfangen verpflichten – einer andauernden Bestrebung –, Gemeinsamkeiten zu finden, uns auf die Zukunft zu konzentrieren, die wir für unsere Kinder wollen, und die Würde aller Menschen zu achten. Es ist einfacher, Kriege zu beginnen, als sie zu beenden. Es ist einfacher, die Schuld auf andere zu schieben, als sich selbst zu betrachten. Es ist einfacher zu sehen, was uns von jemand anderem unterscheidet, als die Dinge zu finden, die wir gemeinsam haben. Aber wir sollten uns für den richtigen Weg entscheiden, nicht nur für den einfachen. Es gibt auch eine Regel, die jeder Religion zugrunde liegt – dass man andere behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte. Diese Wahrheit überwindet Nationen und Völker – ein Glaube, der nicht neu ist, der nicht schwarz oder weiß oder braun ist, der nicht Christen, Muslimen oder Juden gehört. Es ist ein Glaube, der in der Wiege der Zivilisation pulsierte, und der noch immer in den Herzen von Milliarden Menschen auf der Welt schlägt. Es ist der Glaube an andere Menschen, und er hat mich heute hierhergebracht. Es steht in unserer Macht, die Welt zu schaffen, die wir uns wünschen, aber nur, wenn wir den Mut für einen Neuanfang besitzen, und uns an das erinnern, was geschrieben steht. Der Heilige Koran lehrt uns: „Oh Ihr Menschen, wir haben Euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennen lernt.“ Der Talmud lehrt uns: „Die ganze Thora gibt es nur, um den Frieden unter den Menschen zu erhalten.“ Die Heilige Bibel lehrt uns: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Die Menschen auf der Welt können in Frieden zusammenleben. Wir wissen, dass das Gottes Weitblick ist. Jetzt muss es unsere Arbeit sein.
Ausgewählte Literaturhinweise (Die gesamte verwendete Literatur ist mit vollständigen Angaben in den jeweiligen Fußnoten angeführt.) Al-ʿAjami, Abul-Yazid: Al-wujha al-akhlaqiya lit-tasawwuf al-islami, in: Al-Muslim AlMuʿasir, Kairo 1978. Al-ʿAlwani, Taha: Der Koran und die Sunna – Zeit- und Raum-Faktor, Virginia, London, Kairo, Intern. Institut for Islamic Thought, 1994. Al-ʿUsman, Abd Al-Karim: Ad-dirasat an-nafsiya ʿinda al-muslimin wal-Gazali biwajhin khass (Psychologische Studien bei den Muslimen, insbesondere bei Al-Gazali), Kairo, Maktabat Wahba, 1981. Al-Asbahani, Abu Naʿim: Hulyat al-awliya’wa tabaqat al-asfiya’ (Schmuck der Gottesfreunde und die Klassen der Auserwählten), Kairo, Gjanji Verlag, 1938. Al-Buti, M. Said: Dawabit al-maslaha fi asch-schariʿ al-islamiya (Die Regelungen für das Prinzip des allgemeinen Interesses), Beirut, Libanon, Risala Verlag 1982. Al-Farabi, Abu Nasr: Al-madina al-fadila (Die Politeia/Ideale Stadt), Kairo, Katholischer Verlag, 1059. Al-Fasi, ʿAllal: Maqasid asch-schariʿa al-islamiya (Der Geist der islamischen Scharia), Casablanca, Marokko, Dar Al-Wihda Al-´Arabiya, o. D. Al-Gazali, Abu Hamid: Ihyya’ Ùlum (Die Wiederbelebung der Islamwissenschaften), Kairo, Halabi Verlag, o. D. Al-Hajwiri, Abul-Hasan Ali: Kaschf al-mahjub (Aufdeckung des Verborgenen), Isʿad Qandil (Hrsg.), Kairo, der Oberste Rat f. Islam. Angelegenheiten, Kairo 1975. Al-Hindi, Husam Al-Din: Kanz al-’ummal fi sunan al-aqwal wal-afʿal (Schatzkammer der Arbeitenden für Worte und Taten/Theorie u. Praxis), Haiderabad 1894. Al-Jurjani, Ali Hussein: At-taʿrifat (Die Definitionen), Kairo, Halabi Verlag, 1938. Al-Kalabazi, Abu Bakr: At-taʿarruf li-mazhab ahl at-tasawwuf (Vorstellung der Anhänger der Mystik), ʿAbdul-Halim Mahmud u. a. (Hrsg.), Kairo 1960. Al-Kendi, Abu Yaʿqub: Ar-rasa’il (Die Sendungen bzw. Kleinbücher des Kendis), Muhammad ʿAbd Al-Hadi Abu Raida (Hrsg.) Kairo, Dar Al-Fikr Al-ʿArabi, 1950. Al-Makki Abu Talib: Qut al-qulub fi muʿamalat al-mahbub (Die Herzennahrung für den richtigen Umgang mit dem Geliebten Gott), Kairo, Halabi Verlag, o. D. Al-Muhasibi, Harith: Al-ʿaql wa fahm al-qur’an (Die Vernunft und das Verstehen des Koran), Al-Quwwatli, Hussein (Hrsg.), Kairo, Dar al-Fikr Verlag, 1971. Ders.: Ar-riʿaya li-huquq Allah ʿazza wa jall (Die Verpflegung der Rechte des erhabenen Gottes), Mahmud, ʿAbd Al-Halim u. ʿAbd Al-Baqi, Taher (Hrsg.), Bagdad, Kairo o. D. Ders.: At-tawahhum (Die Halluzination), ʿAta, ʿAbdalqadir, A. (Hrsg.), Kairo, Mu’ssasat Al-Kutub Ath-Thaqafiya, 1991. Ders.: Risalat al-mustarschidin (Empfehlungen für die Lehrlinge), ʿAbd Al-Fattah Abu ʿAzza (Hrsg.), Halab, Syrien 1964.
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Register
A ʿAbdaljabbar, Al-Qadi, 379, 478, 484 Afrikaner, 23 Aggression, 166, 168 Aktion, 29–30, 243, 340, 355 Akzidenzen, 484 Al-ʿAdawiya, Rabiʿa, 230–231, 239, 241, 248, 457 Al-ʿAdl, 476, 482 Al-ʿAllaf, Abul-Hudhail, 116, 273, 377, 476 Al-Amr bil-Maʿruf wan-Nahy ʿan alMunkar, 476 Al-ʿAwasim wal-Qawasim, 483 Al-Basra, 239 Al-Basri, Abu ʿAbdallah, 478 Al-Basri, Abul-Hussain, 479 Al-Basri, Al-Hasan, 231, 252, 475 Al-Fana’ und al-Iʿada, 481 Al-Farq beinal-Firaq, 478 Al-Ghazali, Abu Hamid, 118, 123, 231, 237–238, 240–243, 246–247, 249, 257, 276, 285, 288, 298, 379, 461 Al-Ghazali, Ahmad, 240–242 Al-Ghazmini, Najmaddin Mukhtar Ibn Mahmud Az-Zahidi, 482 Al-Hayawan, 478, 492 Al-Intisar, 476, 478 Al-Iskafi, Abu Jaʿfar Muhammad Ibn ʿAbdallah, 476 Al-Jahiz, ʿAmr Ibn Bahr, 116, 475, 477 Al-Jubba‘i, Abu ʿAli, 461, 477 Al-Jubba‘i, Abu Haschim ʿAbdassalam, 477, 487 Al-Juschami, Al-Hakim, 479 Al-Kaʿbi, Abul-Qasim Al-Balkhi, 460, 476– 477, 481, 483, 491 Al-Kamil fil-Istiqsa‘ fima balaghna min Ka-
lam al-Qudama‘, 479, 540 Al-Kaschschaf, 93, 103, 479, 482 Al-Khayyat, Abul-Hussein, 476 Al-Ma’mun, 268, 477 Al-Manzila baina al-Manzilatain, 476 Al-Maqalat, 476 Al-Milal wan-Nihal, 478 Al-Mirdar, Abu Musa ʿIsa Ibn Subaih, 475 Al-Mughni fi Abwab at-Tawhid wal-ʿAdl, 273, 478, 484 Al-Mujtaba, 482–483 Al-Muʿtamad fi Usul al-Fiqh, 479 Al-Muʿtasim, 268, 477 Al-Mutawakkil, 240, 242, 268, 477 Alternative, 20, 45, 75, 120, 187, 189, 205, 223, 356–357, 359, 364, 408, 437, 439, 451 Al-Usul al-Khamsa, 476–477, 485, 491 Al-Uswari, Abu ´Ali, 475 Al-Waʿd wal-Waʿid, 476 Andersgläubige, 130–131, 149, 152, 157, 170, 206, 362 An-Najrani, ʿAtiya, 480–481 An-Najrani, Taqiyaddin, 540 An-Nazar wal-Maʿarif, 485 An-Nazzam, Ibrahim Ibn Sayyar, 211, 377, 477 An-Nisaburi, Abu Raschid Saʿid Ibn Muhammad, 479 Antes, Peter, 435 Antidemokratie, 25 Antidualistisch, 34 Apel, 33 Aschʿariten, 117, 123–124, 223, 236, 239, 273, 377, 379, 460–461, 477, 486, 489– 490 Assimilation, 26, 290, 412, 415, 417, 462
544 As-Suhrawardi, Abul-Futuh Yahya, 240–243 As-Sulami, Muʿammar Ibn ʿAbbad, 475, 491–492 Atomlehre, 377, 476 At-Tauhid, 476 Attributenlehre (Muschkilat az-Zat was-Sifat), 476 Aufklärung, 18, 21, 24, 48, 99, 139, 186, 191, 196, 200, 204, 206, 285, 297, 310, 331–335, 346–347, 352, 356, 361, 365, 393, 412, 431, 439, 499–501, 508, 511, 525 Ausgrenzung, 22, 27, 296, 386, 410–412, 415, 508 Authentizität, 28–29, 87–88, 101, 104, 108, 115, 235, 307, 374, 444, 449, 507 Autokratie, 388, 394–395, 405 Averroes, 35, 115, 118, 185–186, 223, 383– 384 Az-Zamakhschari, Mahmud Ibn ʿOmar, 479 B Badawi, ʿAbdarrahman, 276–277, 475, 477 Bagdad, 209, 239–240, 271, 321, 371, 475, 477, 483, 491, 539–540 Bagdadische Schule, 239, 476 Baitul-Hikma, 477 Barabant, Sigerius von, 186 Begriffskonstellation, 17 Ben Maimun, Musa (Maimonides), 428 Bewusstsein, 17, 31, 72, 169, 213, 217, 263, 325, 351, 385, 393–394, 521 Bildung, 21, 29, 84, 113, 139, 149, 179, 190, 215, 291, 297, 308, 312–313, 523, 525–526, 535–536 Bonaventura, 186 Brockelmann, Karl, 375 Buyidische Macht, 479 C Codicus Manuscripti, 481
Register
D Daiber, Hans, 480, 492 Das Primat der Vielfalt, 34 Daseinsberichtigung, 27 Deduktion, 97 Degradierung, 33, 137, 337 Demokratie, 24–25, 175–179, 189–190, 196, 229, 310, 317–319, 324, 346, 362, 387, 389, 393–395, 398–399, 404–408, 464, 466, 472, 495, 503, 508–509, 513– 516, 518–522, 533–534 Dialog der Elite, 20 Dialog, 20, 27–28, 31, 35, 46–47, 120, 136, 194–195, 197, 255, 260, 264, 342, 353, 365, 412, 435, 438–441, 443–447, 449– 451, 457–459, 461, 463, 465, 467, 535 Dichtung, 486 Die fünf Prinzipien (al-Usul al-Khamsa), 476 Diffamierung, 27, 35, 108, 175, 197, 303, 337, 425 Diskriminierung, 21, 27, 174, 307, 368, 370, 416, 448, 466 Diskussionen, 19, 43, 109, 111–112, 116, 118, 124, 304, 354, 410, 497, 502 Dissens, 33 Distanz, 30, 400 E Einwanderer, 22, 52, 295, 301, 363, 462 Elshahed, Elsayed, 32, 188, 540 ENAR, 344 Engelhardt Jr., H. T., 33 Entfremdungsprozess, 29 Entstehung der Materie (Khalq al-Ajsam), 484 Erkenntnis, 71–73, 80–85, 123, 217, 237, 251, 269, 278, 317, 369, 380, 476, 490, 513 Erkenntnistheorie, 71–73, 75, 77, 79, 81, 83, 85, 484–487, 490–492, 540 Erschaffenheit der Körper, 484 Erschaffenheit des Koran, 116, 477
Register
Ethik, 32, 121, 213, 237, 274, 297, 343, 355, 373, 485–486, 540–541 Evidenz, 34 Existenz des Schöpfers (Wujud as-Saniʿ), 484 Exklusive Autonomie, 29 F Fachausdrücke, 17, 161, 239 Fanatismus, 27, 191, 261, 312, 314, 351, 366, 386, 399, 406, 424, 467, 511 Fiqh, 118–119, 142, 479, 483, 485, 491 Fortdauer der Dinge, 484 Franklin, Benjamin, 22–23 Freiheit, 22, 66, 165, 178, 287, 314–315, 344–345, 349, 368, 391, 398, 407, 412, 417, 430, 496, 509, 526, 533–534 Führungschaos, 25 Fundamentalisten, 18, 215, 365, 424, 447, 520 G Gastarbeiter, 176, 198, 207, 369 Gesellschaftskontext, 24 Gesellschaftsstruktur, 24, 25, 393, 404, 411 Gewaltanwendung, 135, 151–152, 155–157, 159, 161, 163, 165, 167–168, 172, 340, 398–399, 401, 444, 473 Gewohnheitsprinzip, 223, 273, 379, 478 Glaubensbekenntnis, 214, 285, 476 Glaubensbrüder, 24, 204, 277 Glaubensverständnis, 218, 486 Gleichberechtigung, 21, 357, 361, 417, 432, 438–439, 451, 467, 472, 525, 535 Glückseligkeit (as-Saʿada), 485 Gnostisch, 227, 246, 486 Goldziher, Ignaz, 492 Gottesbild, 19, 121, 123, 125, 127 Griechen, 485, 487 Gut und Böse, 222–223, 485
545 H Habermas, Jürgen, 33 Hautfarbe, 23, 364, 431, 526 Hegel, Friedrich, 31, 56, 183, 203 Herausforderung, 28, 79, 122, 176, 197– 198, 200, 206–207, 253, 265, 287–288, 290, 292, 294–296, 298, 300, 302, 304, 306, 308, 332, 339, 369, 394, 409, 415, 431, 441 Hermeneutik, 98–109, 111, 113, 281–282, 500 Herzkrankheiten, 254, 256–257, 259, 262– 263 Heterogenität, 17, 363 Hourani, G. F., 486–488 Hume, David, 220, 223, 378–379 I Ibn ʿAbbad, As-Sahib, 479 Ibn Abi Al-Hadid, Muwaffaq Ad-Din Qasim Ibn Hibattallah, 479 Ibn Al-Aschras, Thumama, 475 Ibn Al-Khattab, Khalif ʿOmar, 159, 194, 428, 481 Ibn Al-Malahimi, Ruknuddin Mahmud Ibn ʿAbdallah, 479–480, 482–483 Ibn Al-Mʿtamir, Bischr, 475 Ibn Al-Wazir, Muhammad Ibn Ibrahim, 482–483 Ibn ʿAta’, Wasil, 116, 229, 460, 475 Ibn ʿAyyasch, Ishaq, 478 Ibn Hanbal, Ahmad, 233, 268 Ibn Harb, Jaʿfar, 476 Ibn Mattayaih, Al-Hassan Ibn Ahmad, 479 Ibn Mubaschschar, Jaʿfar, 475 Ibn Taimiya, Taqiyaddin, 231 Ibn ʿUbaid, ʿAmr, 116, 229, 475 Ibrahim, Adnan, 506–507 Identitätsbewusste Integration, 26 Indisch, 510 Inhärenz, 29 Innovation, 21, 525, 536
546 Integration, 19, 26, 175, 191, 196, 293, 301, 349, 361, 363–365, 412, 414–415, 462–464 Integrationswille, 24 Interkulturalität, 19–21, 23, 25, 27–29, 31, 33, 35, 37, 294, 339 Interkulturelle Auseinandersetzung, 27 Interpretation, 19, 27, 51, 54, 69, 90, 92–93, 97, 99–100, 102–103, 105–106, 135, 181, 201, 232, 276–277, 284, 320, 337, 350, 434, 452, 465, 481 Interpretation, 19, 27, 51, 54, 69, 90, 92–93, 97, 99–100, 102–103, 105–106, 135, 181, 201, 232, 276–277, 284, 320, 337, 350, 434, 452, 465, 481 Interreligiös, 413–414 Intrakulturalitätsverständnis, 28 Islamische Mystik, 227–228, 230, 232–233, 238, 240–241, 248, 279, 359, 486, 541 Islamische Philosophie, 115, 250, 269–270, 275, 279, 285, 377, 540 Islamophobie, 21, 170, 175, 196, 198, 207, 368–369, 416 ‚Ithar al-Haqq ʿala al-Khalq, 482–483 Iʿtizal, 475, 477–480 J Jüdische Philosophie, 269–273, 275 Jung, Karl-Gustav, 254 K Kahhala, ʿOmar, 480 Kalam, 94, 103, 115–117, 119, 232, 267– 268, 270, 284, 377, 435, 478–479, 483, 486, 489, 492, 540 Karikaturen, 316, 341–342, 344, 351, 356, 368, 541 Kausalitätsprinzip, 222, 378, 476, 478 Kausalitätsproblem, 377, 477 Ketton, Robert von, 89, 185 KNA, 315, 344–345, 353–354, 541 Kölner Stadtanzeiger, 23
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Kommunikation, 19, 28, 30, 32–36, 112, 296, 311–313, 316–317, 355, 411, 522 Konfliktbereitschaft, 32 Konsens, 19, 32–37, 91, 105, 111, 141–142, 190, 306, 349, 355, 365, 451, 463, 518, 534, 540 Kontraproduktiv, 367, 419–420 Kopftuch (Hijab), 26 Koran, 19, 39, 41–46, 48–53, 56, 58, 60, 66–68, 71–77, 79, 81–85, 87–92, 94, 96–113, 116–119, 123–125, 127–128, 131, 133–135, 137–144, 147, 152–153, 156, 160–162, 166, 168, 171–173, 181, 185, 189–190, 193, 197, 212, 214–215, 217–218, 220, 227–231, 233–234, 241, 248, 252, 254, 258, 261–263, 265, 267– 268, 272, 280, 287, 291, 293, 327–328, 357, 359, 370–373, 375–376, 380, 385, 431, 434–436, 440–441, 443, 445–446, 449–450, 452, 454–455, 466–468, 477, 486, 498, 500, 517–520, 524–525, 528, 538–539 Koranauslegungen, 93, 97–98, 103, 267, 485 Koranübersetzung, 87, 89, 132, 134, 467 Kreuzzüge, 24, 149, 155, 165, 167, 170, 182, 204, 340, 355, 368 Kulturelle Kluft, 18 Kultureller Egozentrismus, 136 Kulturkodex, 28 Kulturphilosophisch, 19, 32 Küng, Hans, 57, 126, 135, 157, 436, 541 Kuschel, Karl-Josef, 184, 435 L Leitkultur, 363 Lohlker, Rüdiger, 493, 495 Luther, Martin, 89, 99, 203–204, 223 M Madelung, Manfred, 479, 481–482 Magnus, Albertus, 186 Mall, Adhar, 32
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Manipulation, 35, 54, 150, 309–311, 315– 317, 351, 360, 430, 473 Maqalat al-Islamiyin, 116, 478 Masken, 35 Massenmedien, 17, 19, 48, 137, 149, 153, 156, 163, 169, 175, 196, 198, 208, 304, 309–310, 313, 317, 321, 341, 343, 353, 363, 365–367, 389, 393, 395, 397, 400– 402, 411–412, 415, 437 Medina, 40, 44–45, 51, 109, 135, 139, 156, 171, 189, 192–194, 225, 357–359, 428, 430, 459, 461, 514 Mekka, 40, 43–44, 52, 55, 66, 109–110, 134, 139, 145, 152, 158–159, 171, 174, 188, 225, 358, 389, 461, 514, 519–520 Menschenrechte, 163, 168, 198, 310–311, 313, 315, 325, 352, 360–361, 364, 406, 412, 464, 466, 474, 498, 511, 533 Menschenwürde, 314–315, 338, 349, 351– 352, 360, 391 Mentalitäten, 17 Minderheiten, 21–22, 174, 301, 367–370, 386, 396, 409, 414, 416, 462, 493, 534 Missbrauch, 18, 155, 167, 213, 217, 222, 336, 338, 343, 353, 359 Mitterauer, Michael, 513, 519 Monokultur, 28, 415 Muhammad, der Prophet, 39–40, 42, 44, 52, 57, 60, 66, 75, 83, 97, 133, 143, 151, 156–159, 163, 185–186, 189, 192–193, 214–217, 225, 229, 257–259, 263, 265, 315, 328, 345, 380, 430, 435, 443, 462, 466 Multikulturalität, 302 Multilog, 31, 46–48, 194–196 Muʿtazila, 116, 228–229, 271, 284, 475, 477–481, 483, 485, 487, 489–492, 496 Muʿtazilitische Dogma, 476, 478, 489 Mystik, 19, 93, 119, 121, 123, 227–228, 230–242, 244–250, 252, 254, 256, 258, 260, 262, 264, 279, 359, 457, 459, 486, 539, 541
547 N Navigation, 21, 525 Neuplatonisch, 118, 185, 202, 227, 228, 238, 243, 275, 280, 453, 486 Nichtmuslime, 18, 27, 108, 136, 149, 161– 162, 174, 197, 247, 349, 356, 361, 409, 468, 537 Niewöhner, Friedrich, 167, 168, 284 O Obama, Barack, 20, 176, 177, 523, 525, 526, 527, 528, 529, 531, 533, 535, 537 Objektivität, 156, 174, 310, 415 Offenbarung, 41–42, 55–56, 60–61, 64, 87, 95, 107, 120, 123–124, 129, 135, 146, 168, 202, 216, 222, 241, 272, 433, 449, 460, 486, 490, 518 Öffentlichkeit, 20, 25, 109, 153, 191, 211, 214, 309, 345, 359, 389, 416, 430, 470, 501, 505–507 One-Man-Show, 25 Opferrolle, 21, 407, 410, 415 Orientierungssystem, 30–31 P Paradigmenwechsel, 25, 28, 111, 207, 390, 395, 415, 421, 448 Paradoxon, 30, 78 Paret, Rudi, 51, 87, 467 Partizipation, 24, 515–516, 518, 522 Philosophie, 23, 29, 31, 34, 48, 71–72, 115, 118–119, 123, 137, 183, 186, 200–201, 203, 221, 227, 230, 240–241, 243, 247, 250, 267, 269–280, 285, 352, 377, 457– 459, 461, 482, 485, 492, 540–542 Pluralismus, 146, 189, 310, 474, 522 Politisches Symbol, 26 Postmoderne, 28, 108, 140, 187, 199–200, 205–206, 352, 388, 394–395, 408, 413, 415–416, 444 Potz, Richard, 302 Primat der Vernunft, 486
548 Primatspiel, 35 Prinzipienpräferenz, 33 Pseudo-religiös, 18 Pythagoreische, platonische und stoische Einflüsse, 485 R Rahner, Karl, 49 Rassismus, 23, 310, 312, 314, 416, 493–494 Ratio, 34, 243, 352 Rawls, John, 33 Rechtsextremismus, 25 Rechtspopulismus, 406 Rechtsprechung, 143, 190, 342, 357, 465, 520 Relativität, 35, 220 Religion, 18, 20, 28, 39–41, 43–45, 47, 49, 51–55, 57, 62, 64, 69, 71, 74, 82, 95, 99, 107, 115, 117–118, 120, 125, 128, 130– 134, 137–139, 141, 146, 151, 154–157, 161, 165–166, 168–170, 172–173, 176, 178, 181–194, 196–200, 202–214, 216– 218, 228, 242–243, 261, 263, 265, 267, 269–270, 278, 281, 293, 297, 301–302, 304, 336–337, 340, 343–344, 347, 349, 352–353, 356–361, 366, 375, 380, 393– 394, 405, 408, 411, 413, 416, 422, 424, 428–431, 435, 438–440, 445, 447–448, 450, 452, 458, 463–464, 472–474, 486, 494–495, 497, 504, 509–510, 514, 521, 525–526, 534, 538 Religionsfreiheitsrecht, 26 Rezension, 33, 482, 495, 497, 499, 501, 503, 505, 507, 509 S Säkularität, 184–187, 189, 199–200, 204– 206, 213–214, 346, 350–351, 394–395, 405 Sanac, Fuat, 511 Sarrazin, Thilo, 23, 24, 26 Sättigungsgefühl, 478
Register
Schacht, Josef, 23, 115, 381, 383, 542 Schahrastani, ʿAbdal-Karim, 117, 478, 486, 489 Schimmel, Annemarie, 228 Schmidt, Helmut 315, 344 Scholastik, 272 Schopenhauer, 29 Schöpfungstheorie, 201, 484 Schultz, Walter, 29, 36, 542 Schwarzenau, Paul, 45, 55, 357, 434, 441, 542 Seidel, Peter, 23, 281 Sein und Nichtsein (al–Wujud wal-ʿAdam), 484 Selbstbestätigungsprozedere, 28 Selbstghettoisierung, 21, 22 Selbstkritik, 18–19, 108, 410 Selektive Wahrnehmung, 18, 20, 198, 501 Sensibilität, 28, 200, 306, 338, 346, 395, 419, 462 Sezgin, Fuat, 23, 542 Skepsis, 30, 35, 103, 112, 213, 301, 447 Sozialtheorie, 29 Spätmuʿtazilitische Erkenntnistheorie, 481 Spekulative Theologie, 477 Sphinx, 31 Stammesvertretung, 189 Stufen (Maqamat), 486 Subjektivität, 29, 32, 542 Substanzen und die Akzidenzien, 476 Summa Theologica, 186, 249, 257, 478–479 Sunna, 66, 72, 89–90, 92, 95, 97–98, 118– 119, 137, 139–144, 147, 162, 190, 193, 212, 215, 228, 230, 234, 332, 357, 359, 371–373, 375–376, 434, 443, 467–468, 490, 498, 514, 520, 539 Swarthy complixion, 23 Synergieträchtig, 30 T Teamwork, 25 Theodizee, 219–220, 222–225, 459–460
Register
Theokratie, 187, 199, 204, 213, 215, 217, 394–395 Thomas von Aquin, 186, 202, 223 Toleranz, 21, 31, 36, 45, 52, 121, 154, 156, 163, 174, 184, 187, 193, 350, 361, 364, 438–439, 448, 450, 472, 524–525, 534 Tollhaus, 29 Tradition, 20, 22, 57, 95, 99, 109, 241, 278, 282, 304, 316–317, 364, 411, 423, 463, 475, 480, 484, 495–496, 507, 509, 514– 515, 520, 523, 534, 536 Trinitätstheorie, 35 Tugend und Laster, 485 U Überfremdung, 22, 411 Unselektiv, 170, 368 Unterbewusstsein, 17, 35, 251, 438 Urteilsfindung, 18, 140, 142–143, 190, 462, 489 ʿUyun al-Masa‘il, 476, 479 V Verdinglichung, 29, 251 Vergangenheit, 32, 128, 142, 342, 381, 388, 394, 437–438, 464–465, 513, 516, 522– 523, 527, 531–532, 536–537 Verhaltenskodex, 28, 115, 416 Verklärung, 18 Verschwörerisch, 18, 370, 416 Vielfalt, 34–35, 128, 132–133, 189, 337– 339, 534 W Weisheitssprüche, 254, 486 Weltanschauungen, 17, 30, 47, 119, 195, 275, 285, 359, 394 Wertschätzung, 17, 28, 315, 337, 351, 376, 415, 425, 432 Wertvorstellungen, 17, 350, 413 Westophobie, 21, 198, 369, 409 Wiederentstehung (Al-I´ada), 484
549 Wiedergeburt, 25 Wissen und Wahrnehmung (ʿIlm u.‘Idrak), 484 Z Zerfall der Dinge (al-Fana‘), 484 Zirker, Hans, 190, 218, 437, 451 Zivilisation, 19, 21, 182, 428, 438, 462, 465, 524, 538 Zusammenprall, 36, 439