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German Pages [273] Year 2007
Walter Koch Inschriftenpaläographie
Oldenbourg Historische Hilfswissenschaften Herausgegeben von A. Scharer, G. Scheibelreiter und A. Schwarcz in Verbindung mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung
BG
R. Oldenbourg Verlag Wien München 2007
Walter Koch
Inschriftenpaläographie des abendländischen Mittelalters und der früheren Neuzeit Früh- und Hochmittelalter
mit CD-ROM
R. Oldenbourg Verlag Wien München 2007
Drucklegung gefördert durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
© 2007 Oldenbourg Verlag im Veritas Bildungsverlag, Wien Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Weg und der Speicherung in EDV-Anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Lektorat und Satz: Mediendesign, 1020 Wien Umschlagentwurf: Neuwirth & Steinborn, 1150 Wien Druck: Grasl Druck & Neue Medien, 2540 Bad Vöslau ISBN 978-3-7029-0552-1 Oldenbourg Verlag im Veritas Bildungsverlag, Wien ISBN 978-3-486-58189-8 Oldenbourg Wissenschaftsverlag München
Inhalt Vorwort I.
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Einleitung
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1. Wissenschaftsgeschichte und Forschungsproblematik
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2. Was ist eine Inschrift? Definition, Terminologie, Kriterien der Beschreibung 22 II.
Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
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1. Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift 30 1.1 Die Epigraphik der römischen Kaiserzeit 1.2 Die frühchristlichen Inschriften 43 1.3 Die Runen und die Ogham-Schrift 49
2. „Vorblick"
30
51
3. Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
55
3.1 Die kontinentalen Inschriften des 6 . - 8 . Jahrhunderts 55 3.1.1 Die Inschriften im Frankenreich 55 3.1.2 Die Inschriften auf der iberischen Halbinsel 64 3.1.3 Die Inschriften auf dem Boden Italiens 69 3.2 Der insulare Bereich 86
4. Die Inschriften der karolingischen Zeit - mit ihren Ausläufern bis etwa 1000 101 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Die Karolingische Renaissance im Frankenreich 101 „Bodenständige" Inschriften im südlichen Westfranken 113 Das 10. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich 118 Ober- und Mittelitalien mit Rom 125 Süditalien 130
5. Der iberische Sonderweg (späteres 8.—11. Jahrhundert)
134
6. Der Weg in die Romanik — Romanische Majuskel (11. und beginnendes 12. Jahrhundert) 148 6.1 Mittel-und Westeuropa 6.2 Rom 168 6.3 Süditalien 174
148
7. Das 12. und 13. Jahrhundert in der Epigraphik
181
7.1 Besondere Ausformungen in West-und Südeuropa 7.2 Der deutsche Bereich 201
182
Inhalt
III.
Anhang
217
1 Editionsrichtlinien in Zusammenfassung
217
2 Musterbeispiele mit Edition und Übersetzung 3 Grundalphabete zur älteren Zeit 4
223
226
Karten der Bearbeitungsgebiete in Deutschland, Österreich, Frankreich und Polen 229
5 Wichtige Basisliteratur zur Entstehung des Alphabets, zur antiken und frühchristlichen Epigraphik, zu den Runen und zur Ogham-Schrift 233 6 Handbücher zur allgemeinen Paläographie
234
7 Quellen und Literatur zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Epigraphik 235 7.1 Nationale Editionsreihen 235 7.1.1 Die Deutschen Inschriften (DI) 235 7.1.2 Corpus des Inscriptions de la France Medievale (CIFM) 238 7.1.3 Recueil des inscriptions chretiennes de la Gaule anterieures ä la Renaissance carolingienne 239 7.1.4 Corpus Inscriptionum Medii Aevi Helvetiae (CIMAH) 239 7.1.5 Inscriptiones Medii Aevi Italiae (IMAI) 239 7.1.6 Corpus Inscriptionum Medii Aevi Liguriae (CIMAL) 239 7.1.7 P. Rugo, Le iscrizioni dei sec. VI-VII-VIII esistenti in Italia 240 7.1.8 Corpus Inscriptionum Hispaniae Medievalium (CIHM) 240 7.1.9 Corpus Inscriptionum Poloniae 240 7.1.10 Corpus Inscriptionum Bohemiae 241 7.2 Weitere größere Editionen, Inventare (mit umfangreichem Bildteil) und Tafelwerke 241 7.3 Tagungsakten 243 7.4 Festschriften 244 7.5 Handbücher und Einführungen — Arbeitsweise und Geschichte der Arbeit mit Inschriften 244 7.6 Bibliographische Hilfsmittel 247 7.7 Auswahlbibliographie zur Inschriftenpaläographie 247 7.8 Sonstige zitierte Literatur 257 8 Abbildungsnachweis
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262
Vorwort Die Wissenschaft von den Inschriften des Mittelalters und der Neuzeit ist im Unterschied zur Epigraphik des Altertums wie auch der frühchristlichen Inschriftenkunde noch verhältnismäßig jung, doch machte sie gerade in den letzten Jahrzehnten einen beachtlichen Prozess der wissenschaftlichen Verdichtung und der Ausweitung der Fragestellungen durch, sodass sie dabei ist, sich im Fächerkanon der Historischen Hilfswissenschaften fest zu etablieren. Sie hat nicht nur Eingang in das ständige Lehrprogramm an einigen Universitäten gefunden, sondern auch eine zunehmende Vernetzung sowohl im deutschsprachigen Bereich — hier vornehmlich durch die enge Kooperation im Rahmen des von den deutschen Akademien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften getragenen editorischen Großunternehmens „Die Deutschen Inschriften" — als auch im internationalen Rahmen erfahren. Mag auch den nachantiken Inschriften - je jünger eine Inschrift ist, gilt dies umso mehr — in der Regel nicht jene Exklusivität wie den Inschriften des Altertums zukommen, wo vielfach weite Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens nur durch epigraphische Denkmäler belegt sind, so haben sie aufgrund ihrer vielfältigen Thematik, der Spontaneität ihrer Aussage und der Verbindung mit einem Inschriftenträger, der sich oftmals noch an Ort und Stelle befindet oder meist gut lokalisierbar ist, beträchtlichen Wert fur mehr als ein Dutzend verschiedener Wissenschaften. Neben der Epigraphik im engeren Sinn sind dies eine Reihe von historischen Disziplinen, vornehmlich Stadt- und Regionalgeschichte, aber auch Wirtschafts-, Sozial-, Rechts-, Kirchen- und Mentalitätsgeschichte, ebenso Heraldik und Genealogie, weiters die Sprach- und Literaturwissenschaften (Latein wie Volkssprachen, einschließlich der Dialektkunde), Kunstgeschichte, Realienkunde, Volkskunde und andere mehr. Die zunehmende Wertschätzung der inschriftlichen Quellen zeigt sich nicht zuletzt in einer deutlich steigenden Zahl von Publikationen, die ihnen gewidmet sind oder sie zumindest maßgeblich berücksichtigen. Auch die Sorge um die Erhaltung von im Freien sich befindlichen, von der zunehmenden Umweltverschmutzung stark bedrohten Denkmälern hat zu dieser Intensivierung der Beschäftigung mit ihnen beigetragen. Die vorliegende Publikation beruht im Wesentlichen auf den Lehrveranstaltungen, die der Unterfertigte in den letzten mehr als 25 Jahren an den Universitäten München und Wien gehalten hat. Sie waren - und dies gilt in gleicher Weise für das hier vorgelegte Buch — hauptsächlich der „Inschriftenpaläographie" gewidmet, wobei unter diesem Begriff sowohl ein Teilgebiet der Epigraphik als auch ein Teilgebiet der allgemeinen Paläographie verstanden wird. Angesichts der zahlreichen Bereiche und Fragen, die noch nicht oder noch nicht ausreichend aufgearbeitet sind, kann selbstverständlich bloß ein „Ist-Zustand" der Forschung — und dies der vorliegenden Publikationsreihe entsprechend auch nur in den Grundzügen — geboten werden. Standen Rudolf M. Kloos etwa, der seiner 1980 in erster Auflage erschienenen „Einfuhrung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit" [P6] einen ausführlichen schriftkundlichen Abschnitt beigegeben hatte, 16 Bände des deutschen Inschriftenwerkes und zwei des französischen Corpuswerkes zur Verfugung, so sind es heute 66 { C 1 - C 5 2 , C54—C64, 7
Vorwort
C 6 6 , C67, C 7 0 ] bzw. 22 [ D l - 2 2 ] , Allein schon dieses einzige Kriterium macht deutlich, dass die Zeit für eine neuerliche Auseinandersetzung mit der Materie gekommen ist. Erstrebt ist eine gesamteuropäische Sicht des Themas, doch ist nicht zu verhehlen, dass angesichts der Forschungslage und des zugänglichen Bildmaterials eine solche Ausrichtung für die älteren Perioden leichter zu erreichen ist als für das spätere Mittelalter und die Neuzeit, sodass für diese Abschnitte der deutschsprachige Raum stärker im Zentrum stehen wird. Zweifellos sind manche Zeitabschnitte und vor allem Regionen noch wenig oder überhaupt nicht aufgearbeitet. Es versteht sich auch von selbst, dass epigraphische „Spitzenleistungen" sich besser in ein stimmiges Bild einordnen lassen als mindere Leistungen oder gar rustikale Inschriften. Doch soll die Breite des vorhandenen Materials nach Möglichkeit eingefangen werden. Sie repräsentiert die epigraphische „Wirklichkeit". Der Verfasser hofft, mit dieser Standortbestimmung, die auch die noch gravierendsten Defizite unseres derzeitigen Wissens nicht verschweigen soll, dem interessierten Anfänger einen Einstieg in die Materie, dem Fachkollegen Basis und Anregung für weitere zielgerichtete Forschungen zu bieten — ein auf dem Wege zu einer komparativischen europäischen Epigraphik im Allgemeinen und einer vergleichenden Inschriftenpaläographie im Besonderen insgesamt freilich noch fernes Ziel. Er ist sich durchaus bewusst, dass innerhalb dieser noch voll im Fluss der Entwicklung befindlichen Wissenschaft neue Arbeiten und vor allem neues Bildmaterial zwangsläufig zu Ergänzungen, Modifikationen und mitunter auch zu Korrekturen der gebotenen Ausführungen führen werden. U m reichhaltiges Ausstattungsmaterial zu gewährleisten, wird das Werk in zwei Teilbänden vorgelegt, wobei ein erster Band — nach kursorischer Berücksichtigung der antiken und vornehmlich spätantiken Basis - dem Früh- und Hochmittelalter gewidmet ist. Es wird erstrebt, den zweiten, das Spätmittelalter und die frühere Neuzeit umfassenden Band bald folgen zu lassen. Der Einschnitt zwischen den beiden Teilbänden liegt in etwa im 13· Jahrhundert, sodass mit der europaweiten Verbreitung der ausgeprägten Gotischen Majuskel der zweite Teil einsetzen wird. Dem Werk ist eine C D - R O M mit allen Abbildungen beigegeben, um eine vertiefte Nutzung des Bildmaterials zu ermöglichen. Der Publikation zugute kamen die Materialien — Literatur wie Photothek - des an der „Abteilung Geschichtliche Hilfswissenschaften" des Historischen Seminars der Universität München in der Mitte der 1980er Jahre von mir eingerichteten „Epigraphischen Forschungs- und Dokumentationszentrums", das das jährlich europaweit erscheinende epigraphische Schrifttum zu Mittelalter und Neuzeit systematisch erfasst. Dem Buch ist - der Reihe entsprechend — ein umfangreiches Literaturverzeichnis beigegeben. Darüber hinausgehende Monographien und Aufsätze, die in den etwa letzten drei Jahrzehnten erschienen, sind den am „Zentrum" in regelmäßigen Abständen erarbeiteten „Literaturberichten zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Epigraphik" [Ql—4] zu entnehmen. Die vorliegende Reihe kennt keine Anmerkungen in Fußnotenform, sodass die Kennzeichnung eigener Sichtweisen von Entnahmen aus der Literatur nicht immer ganz eindeutig getrennt werden kann. Die beschränkte Möglichkeit, im Rahmen des Textes — zwischen Klammern — zu zitieren, wurde vornehmlich der Angabe von vergleichendem Bildmaterial vorbehalten, um wenigstens auf Bildbasis eine
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Vorwort
gewisse Vernetzung der zahlreichen gegenseitigen Bezüge in stärkerem Maß herzustellen. Sehr herzlich danke ich meinem Kollegen, Herrn Univ.-Prof. Dr. Georg Scheibelreiter (Wien), einem der drei Herausgeber der neuen Reihe „Oldenbourg Historische Hilfswissenschaften", für die freundliche Einladung zur Mitarbeit an diesem Vorhaben. Ich tat dies umso lieber, als der Anstoß zu meiner Befassung mit den mittelalterlichen und neuzeitlichen Inschriften vor nunmehr etwa vier Jahrzehnten untrennbar mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung und unserem gemeinsamen Lehrer Heinrich Fichtenau verbunden war. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich meinen Münchener Mitarbeitern, Herrn Dr. Franz-Albrecht Bornschlegel, der das erwähnte „Zentrum" mit viel Engagement betreut, und Herrn Dr. Christian Friedl, die beide nicht nur zu Diskussionen - Herr Bornschlegel zu epigraphischen Fachfragen, Herr Friedl zu Fragen der Präsentation — stets zur Verfugung standen, sondern mich insbesondere in der Abschlussphase der Arbeiten, so vor allem bei den Kontrollgängen, in hohem Maße unterstützten. Meine Institutssekretärin, Frau Ingrid Neudecker, beteiligte sich in dankenswerter Weise am Lesen der Korrekturfahnen. Manch Hilfe verdanke ich Frau Oberrat Mag. Gertrud Mras (Abt. Inschriften des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), Frau Dr. Christine Steininger und Frau Ramona Epp Μ. A. (beide Inschriftenkommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Einer Reihe von Kollegen europaweit - so vor allem Herrn Prof. Robert Favreau (Centre d'etudes superieures de civilisation medievales, Poitiers), Herrn Bornschlegel und Herrn Dr. Rüdiger Fuchs (Inschriftenkommission der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur) - habe ich für die Bereitstellung von Bildmaterial zu danken. Fruchtbar und von Vertrauen getragen war die Zusammenarbeit mit dem Oldenbourg Verlag Wien. Ich danke für manches klärende Gespräch und die Geduld insbesondere dem ehem. Geschäftsführer des Verlages, Herrn Dr. Thomas Cornides, sowie Frau Dr. Ursula Huber und Herrn Dr. Georg Hauptfeld, die das Werk von Seiten des Verlages mit Umsicht und Verständnis betreuten. Gewidmet sei das Buch meiner Frau, Frau Mag. arch. Inge-Irene Janda, die selbst an den Inschriften viel Freude gefunden hat und mir aufmunternd immer wieder zur Seite stand sowie auch einen großen Teil der Graphiken des Bandes zeichnete. Sie war es, die auf unseren „Epigraphik-Fahrten" nicht wenige Denkmäler meiner Sammlung photographisch aufgenommen hat.
München-Wien, im Frühjahr 2007
Walter Koch
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I. Einleitung 1.
Wissenschaftsgeschichte und Forschungsproblematik
Eine zielgerichtete methodisch-kritische Erarbeitung einer Wissenschaft von den mittelalterlichen und — mit beträchtlichen Abstrichen und zeitlichem Abstand — auch den neuzeitlichen Inschriften mit der Schaffung eines entsprechenden Instrumentariums setzte in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zögernd ein und erlebte erst in den letzten drei bis vier Jahrzehnten — eingebettet in eine immer intensivere Befassung mit inschriftlichen Quellen generell — eine entscheidende Verdichtung auf breiterer Basis. Dies bedeutet nicht, dass das Interesse an inschriftlichen Texten nicht Jahrhunderte zurückreicht und kaum weniger alt ist als das an antiken Inskriptionen. Sammlungen mit vielfach metrischen Inschriften aus dem Früh- und Hochmittelalter liegen in Handschriften schon aus dem 9—12. Jahrhundert vor, ja der eine oder andere Text wurde auch in vorkarolingischer Zeit abgeschrieben. Grabelogien verehrungswürdiger Personen, Weiheinschriften, Altartituli und anderes mehr finden sich heute in beträchtlicher Zahl in der Reihe der Poetae Latini der Monumenta Germaniae Historica [S64] ediert. Mancher Text ist noch als originale Inschrift erhalten, überwiegend sind wir jedoch auf Vermutungen angewiesen, ob tatsächliche Abschriften oder bloß literarische Produkte vorliegen. Auch spätmittelalterliche Totenbücher überlieferten manchen Inschriftentext [zum Folgenden vgl. vor allem P32: Kloos, P31: Favreau und P35 bzw. Q 1 (Einführung): Koch]. Zahllos - und in modernen Inschrifteneditionen wie etwa im deutschen Inschriftenwerk, das auch die nur mehr k o p i a l überlieferten Texte aufnimmt, in eigenen Einleitungskapiteln aufgelistet und näher besprochen — sind die Abschriften mittelalterlicher und „zeitgenössischer" Inschriften, in erster Linie von Grabinschriften, die aus den neuzeitlichen Jahrhunderten in großen oder kleineren handschriftlichen Kompendien sowie schließlich auch in Drucken vorliegen. Wohl durch die Befassung mit antiken Inschriften angeregt, setzte offenkundig in der Zeit des Humanismus eine größere Sammeltätigkeit ein. So war es niemand Geringerer als der herausragende Augsburger Gelehrte Konrad Peutinger selbst, der neben seiner Beschäftigung mit alten Inschriften auch stadtrömische epigraphische Denkmäler der Renaissancezeit sammelte. Der Reiz, der den Inschriften innewohnt, der Aspektreichtum und die Authentizität der Texte und die die Zeiten überdauernde Geltung waren Triebfeder fur diese Abschriften, die sie zu geschätzten Quellen in zunehmend der historischen Dimension zugewandten Zeiten machten. Im deutschen Bereich setzten sie in größerer Dichte vor allem ab dem 17. Jahrhundert ein und wurden vielfach im Rahmen eines Quellenstudiums für andere umfangreiche Arbeiten angelegt oder zumindest geplant. Genealogische Interessen, ab dem 18. Jahrhundert auch patriotische und antiquarische Intentionen waren die Voraussetzung für zahlreiche Sammlungen, die von bloßen Textwiedergaben über eine mehr oder weniger geglückte Nachzeichnung der Inschriften bis hin zur zeichnerischen Wiedergabe ganzer Denkmäler reichten. Auf diese Weise sind viele Texte überliefert, die im Original nicht mehr erhalten sind. Nicht bloß die verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, ebenso Sorglosigkeit und Unverstand der
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Alte Abschriften und Drucke von mittelalterlichen und neuzeitlichen Inschriften
Einleitung
Menschen generell bis zum heutigen Tag, sondern vor allem die Barockisierungsphase haben vielerorts die Zahl an älteren Denkmälern beträchtlich reduziert. Die Bedeutung der Abschriften für die modernen Editionen kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden. Manche solcher Sammlungen mögen noch als ungehobene Schätze in unseren Archiven und Bibliotheken schlummern, wie erst ein vor kurzem getätigter spektakulärer Neufund im Oberösterreichischen Landesarchiv zu Linz vermuten lässt, wo eine an die 600 Abschriften von Grabinschriften aus dem Stephansdom zu Wien enthaltende Handschrift auftauchte [S44: Kohn}. Etwa 240 davon - darunter die bedeutender Persönlichkeiten - waren bis dahin völlig unbekannt, da sie weder erhalten noch sonst irgendwo überliefert sind. Die wohl noch im späteren 16. Jahrhundert angelegte Handschrift gehört zweifellos zu den ältesten Spezimina ihrer Art. DeutschIm d e u t s c h sprachigen Bereich dürften die Abschriften des Mainzer Inschriftensprachiger sammlers und Dekans von St. Moritz, Hebelin von Heimbach (f 1515), die ältesten Bereich sein. Sie vermitteln die einstigen Mainzer Erzbischofsgräber in St. Alban. Als ältester umfangreicher Druck von deutschem nachantiken Material — neben Inschriften aus weiten Teilen Europas — sind nach unserem bisherigen Wissen die 1594 erschienenen und dem König Christian IV. von Dänemark gewidmeten „Variorum in Europa itinerum deliciae" des Polyhistors Nathan Chytraeus (t 1598) erhalten [S85: Zajic]. Zu den ältesten Drucken gehört auch das 1612 veröffentlichte „Apographum monumentorum Heidelbergensium", das der aus Schlesien stammende Melchior Adamus anlegte, der 1612-1615 Rektor des Gymnasiums in Heidelberg war. Georg Helwichs (f 1632) „Syntagma monumentorum et epitaphiorum", eine 474 Seiten umfassende Handschrift mit mehr als 1.100 Inschriften des Totengedächtnisses und weiteren 90 Inschriften auf anderen Inschriftenträgern, sind von unschätzbarem Wert für die mittelrheinische Region [S34: Fuchs]. Markanterweise sind dem Werk 2.300 Wappenzeichnungen beigefugt. Die größte Sammlung dieser Art - sechs Quartbände, von denen ein Teil 1622 im Druck erschien - stammt vom Nürnberger Arzt Michael Rötenbeck (f 1623) und enthält die Inschriften der wichtigen Nürnberger Klöster und Kirchen, aber auch der historischen Friedhöfe St. Johannis, St. Rochus und Wöhrd. Den bürgerlichen Grabdenkmälern Augsburgs gewidmet sind die 1624 bis 1626 erschienenen „Epitaphia Augustana Vindelica" des Daniel Prasch. Zu den großen Wiener Inschriftensammlungen [S43: Kohn] gehört — neben dem erwähnten Neufund — der etwa 1630 entstandene so genannte „Codex Trautsonianus", als dessen Auftraggeber wohl fälschlich der Wiener Fürstbischof Ernst Graf von Trautson (f 1701) galt. Das Original ist zwar verschollen, doch liegt eine Kopie vor, die mehr als 1.000 abgeschriebene Inschriften enthält, von denen viele nur auf diesem Wege überliefert sind [S63: Perger]. Einer der großen Komplexe ist schließlich der des Grafen Ignaz Joseph Fuchs von Puchheim und Mitterberg (t 1838), wobei der Bregenzer Wappenmaler Gebhard Gartenschmid das Werk illustrierte. Die Handschrift, die Inschriften aus allen Wiener Kirchen beinhaltet, liegt heute in der Szechenyibibliothek in Budapest. Im 18. Jahrhundert erfolgten die ersten Aufrufe zu einer gezielten Sammlung und Aufnahme der Grabmäler und Epitaphien samt ihrer Beschriftung, nachdem bereits 1699 Kurfürst Max Emanuel von Bayern die Erfassung der wichtigen Denkmäler im Lande generell angeordnet hatte. Ein vom Wormser Weihbischof und
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Wissenschaftsgeschichte
und
Forschungsproblematik
Geschichtsforscher Stephan Alexander Würdtwein auf Wunsch des Mainzer Erzbischofs 1765 veranlasster Aufruf an die Vorsteher der Kirchen und Klöster des Erzstifts, die Epitaphien und Inskriptionen aufzunehmen, brachte als Ergebnis immerhin ein nahezu 400 Seiten starkes Manuskript mit den Inschriften aus 134 Orten. 1776 erfolgte ein Aufruf in Verbindung mit Arbeitsrichtlinien, der eine umfassende Sammlung zum Ziele hatte, der noch jungen Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Dem Plan war kein Erfolg beschieden. Ebenso wurde die Absicht der 1819 gegründeten Monumenta Germaniae Historica, Editionen gegebenenfalls In- und Grabschriften in Nachzeichnung beizugeben, nicht realisiert. Die Gründung regionalhistorischer Vereine und kunsthistorischer Kommissionen im 19- Jahrhundert führte zu mancherlei weiterem Interesse an Denkmälern, auch solchen, die sich mit Inschriften verbanden, wenn auch nicht epigraphische Aspekte maßgeblich waren. Frühzeitige Überlegungen zum Erhaltungszustand der Grabdenkmäler begannen eine Rolle zu spielen, mögen auch — etwa in Österreich im Rahmen der k.k. Centraikommission zur Erhaltung und Erforschung der Baudenkmale — ventilierte Pläne, ein „Corpus Epitaphiorum Vindobonensium" [S5: Bergmann] ins Leben zu rufen (1857), nicht zu einem Ergebnis geführt haben — letztlich bis zum heutigen Tage nicht, mögen auch im Rahmen des deutschen Inschriftenwerkes (siehe unten S. 16—18) derzeit die Arbeiten an den Inschriften von St. Stephan Erfolg versprechend laufen. Immerhin ist noch im ausgehenden 19- Jahrhundert das eine oder andere Tafelwerk entstanden, das aufgrund seines Bildmaterials für den Epigraphiker bis heute nützlich ist, wie etwa die „Sammlung von Abbildungen mittelalterlicher Grabdenkmale aus den Ländern der Österreichisch-Ungarischen Monarchie" des Karl Lind [S47], des an Grabdenkmälern besonders interessierten damaligen Geschäftsleiters des Wiener Altertumsvereins, oder Wilhelm Weimars „Monumental-Schriften vergangener Jahrhunderte 1100-1812 an Stein-, Bronze- und Holzplatten" [S82], das Beispiele bis ins 18. Jahrhundert enthält. Wenn hier einige wenige ausgewählte Beispiele aus dem deutschsprachigen Italien und Raum vorgeführt wurden, so bedeutet das nicht, dass nicht in ganz E u r o p a Frankreich Inschriften des Mittelalters und der Neuzeit in reichstem Maße abgeschrieben bzw. abgezeichnet wurden, ja umfangreichste Sammlungen — wie etwa aus Italien und Frankreich - vorliegen. Für die Grabmonumente der Kirchen Roms etwa ist an die mit vorbildlich gezeichnetem und dokumentiertem Bildmaterial versehenen handschriftlichen Sammlungen Francesco Valesios (1670-1742) oder des vornehmlich im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts tätigen Riminesen Francesco Gualdi zu denken [M35, Bd. 1, S. 21 ff.]. Unter den Drucken des 19· Jahrhunderts ist u. a. auf die zahlreichen Bände Ε. A. Cicognas für Venedig (Venedig 1824-1853) [S22] und Vincenzo Forcellas zu den Kirchen Roms - mit etwa 16.700 Inschriften für die Zeit vom 11. bis zum 19- Jahrhundert — bzw. Mailands zu verweisen (Rom 1869-1884 bzw. Mailand 1889-1893) [S32 bzw. S33], Werke, die bis heute unentbehrlich sind. Für Frankreich gebührt besondere Aufmerksamkeit den zahllosen Zeichnungen von Kunst- und Kulturgegenständen — darunter der Grabdenkmäler —, die Roger de Gagnieres (1642-1715) anlegte. Die riesige Sammlung befindet sich heute, soweit noch erhalten, in Oxford und Paris. Die Columbia University in New York bewahrt seit I960 eine 13
Einleitung
Großunternehmungen zur antiken Epigraphik
Projekte zur frühchristlichen Epigraphik
Photosammlung aller Zeichnungen von Grabdenkmälern auf [SI: Adhemar, Sl4: Brown]. An gedruckten Publikationen spielten - neben einer Reihe von kleineren Sammlungen — die fiinfbändigen „Inscriptions de la France du Ve siecle au XVIIIe" (Paris 1873—1883) eine herausragende Rolle, die in repräsentativer Auswahl das ganze Land betreffen. Die ersten vier Bände stammten von Fra^ois de Guilhermy, der letzte von Robert de Lasteyrie [S36]. Auch aus Frankreich gibt es Klagen aus der Zeit noch vor der Mitte des 19- Jahrhunderts (1841), etwa des Arcisse de Caumont, über die Vernachlässigung mittelalterlicher Inschriften — im gegebenen Fall der Grabinschriften des 11. und 12. Jahrhunderts - , verbunden mit der dringenden Aufforderung, sie zu sammeln [S18, Bd. 6, S. 374]. Eine zu Ende des 19. Jahrhunderts von der „Commission des travaux historiques de la ville de Paris" in Angriff genommene und erst im Jahre 2000 abgeschlossene Sammlung der Pariser Grabdenkmäler vom Mittelalter bis ins ausgehende 18. Jahrhundert umfasst etwa 6.000 Grabinschriften in zwölf Bänden, die von verschiedenen Autoren vorgelegt wurden [Ml6]. Wenn man bedenkt, dass fur die a n t i k e Epigraphik das Großunternehmen des Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) unter der Leitung Theodor Mommsens an der damaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bereits 1853 ins Leben gerufen worden war und das jetzt Inscriptiones Graecae (IG) genannte Vorhaben seine Wurzeln sogar bis ins Jahr 1815 zurückfuhren kann, so ist zu ermessen, wie spät erst — in einem völlig gewandelten wissenschaftspolitischen Klima - man sich eher zögerlich an die wissenschaftlich systematische Sammlung und kritische Edition der mittelalterlichen Inschriften machte, und dies auf nationaler Ebene und nicht in einer von vornherein intendierten internationalen europäischen Vernetzung. Das deutsche Inschriftenwerk war zumindest noch in der - wenn auch ausgehenden — Zwischenkriegszeit begründet worden, nach den existenzbedrohenden Folgen von Krieg und Nachkriegszeit de facto aber erst so richtig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angelaufen, wie auch Vorhaben in einigen anderen Ländern erst ab den endenden 1960er Jahren ins Leben gerufen wurden bzw. bis in die heutigen Tage werden (vgl. unten S. 16—20). Waren mit den frühen Fortschritten des CIL - bis heute liegen an die 200.000 Inschriften ediert vor - ausgefeilte Editionsgrundsätze, schließlich das Leidener Klammersystem [P29: Weber, P25: Krummrey — Panciera] entwickelt worden und eine entsprechende wissenschaftliche Fundierung erfolgt, die die Epigraphik der Antike zu einem der angesehensten Zweige der Altertumswissenschaft machte [A4—9], so erfolgte der Weg zu einer mittelalterlichen Epigraphik mit der entsprechenden zeitlichen Verzögerung. Den von den Althistorikern in der Regel verwendeten Begriff „lateinische" Epigraphik statt „römische" Epigraphik sehen Epigraphiker späterer Epochen nicht allzu gerne, da auch die nachantike Epigraphik im abendländischen Bereich bis zum heutigen Tag dem lateinischen Alphabet verpflichtet ist. Bevor es noch so weit war, trat an die Seite der intensiven Bemühungen um die antiken Inschriften in der zweiten Hälfte des 19· Jahrhunderts und im beginnenden 20. Jahrhundert zunächst das besondere Interesse an der christlichen Archäologie und in ihrem Gefolge an einer frühchristlichen Epigraphik [A10—23]. Groß angelegte Editionen des Materials in Italien und anderen Ländern der frühchristlichen Welt — sie sind zum Teil bis heute noch im Gang, zum Teil als Neubear-
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Wissenschaftsgeschichte und
Forschungsproblematik
beitungen — sowie ihre Auswertung in Handbüchern liegen vor. Da die f r ü h c h r i s t l i c h e Inschriftenkultur in Schrift, Sprache und Formular die antike Welt überdauerte, regional unterschiedlich lang ins frühere Mittelalter weiterlebte und in den Publikationen auch dementsprechend Berücksichtigung fand, bedeutete die frühchristliche Epigraphik vielfach einen nicht zu unterschätzenden Ansatz und Ausgangspunkt für die Erarbeitung einer mittelalterlichen Inschriftenkunde, zumal in den Publikationen da und dort auch eine spätere Inschrift abgebildet und behandelt wurde. Wenn man zunehmend das Fehlen einer solchen Wissenschaft bedauerte und die Frühe ersten Schritte zu ihrer Realisierung in der Zwischenkriegszeit gesetzt wurden, so Vorläufer einer ist doch aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht kurz auf einen frühen Vorläufer zu Inschriftenkunde verweisen, der allerdings Eintagsfliege blieb und mehr als eineinhalb Jahrhunderte keine Nachfolge fand. Im zweiten Band des „Nouveau Traite de Diplomatique" der beiden Mauriner Charles Fra^ois Toustain und Rene Prosper Tassin (1755) [S78] — im dritten Band der nur wenig zeitversetzten deutschen Übersetzung „Neues Lehrgebäude der Diplomatik" von Johann Christoph Adelung (1763) - sind die Inschriften mit ihren Schriftformen von der Zeit der Etrusker bis ans Ende des Mittelalters behandelt, dargestellt in zehn Kupferstichtafeln mit der Bezeichnung „Ecritures gravees, empreintes, tracees ou peintes sur les metaux, les marbres, les pierres, l'ivoire, les vases de terre ou de verre, les briques, la cire etc." - also der Materialvielfalt der Inschriftenträger Rechnung tragend. Dies geschah dem Geist der Aufklärung entsprechend in Unterteilung der Spezimina in zahllose Gruppen und Gattungen, wobei flir die späteren Zeitabschnitte vor allem Münzen und Siegel herangezogen wurden. Die einseitige Materialauswahl, die methodische Vorgangsweise und das Fehlen entsprechenden vergleichenden Bildmaterials führte dazu, dass die zwei Mauriner keine Fortsetzer ihrer schriftkundlichen Bemühungen „in epigraphicis" für die mittelalterlichen Jahrhunderte fanden. Erst ab den ausgehenden 1920er Jahren setzten auf die Erarbeitung einer In- Erste Arbeiten schriftenkunde ausgerichtete erste kontinuierliche Studien zu den m i t t e l a l t e r - im deutschspral i c h e n Denkmälern - vornehmlich zur Paläographie der Inschriften - ein, wo- chigen Bereich bei im d e u t s c h e n Bereich anhand regional überschaubarer Bestände zunächst Längsschnitte durch die Jahrhunderte versucht wurden. Die älteste Publikation ist hierbei die „Mainzer Epigraphik" Konrad F. Bauers (1926) [R9], wobei er bei dem dort nahtlos in die heidnische Antike und frühchristliche Zeit zurückreichenden Material ansetzte und die Schreibformen bis zum Auslaufen der gotischen Majuskelschrift um etwa 1400 verfolgte. Seine Arbeit hat eine Basis geschaffen, die bis heute in den Grundzügen maßgeblich ist. Die niederrheinischen Inschriften des 8 . - 1 3 . Jahrhunderts untersuchte Rudolf Conrad (1931) [R34], der sich in der Tradition der „christlichen Inschriften der Rheinlande" von Franz Xaver Kraus ( 1 8 9 0 - 1 8 9 4 ) [A19] verstand; mit der „Paläographie der mainfränkischen Monumentalinschriften" befasste sich Rudolf Rauh (1935) [R132], Eine erste schriftkundliche Zusammenschau der bis dahin vorliegenden Ergebnisse — unter Einbeziehung auch der Gotischen Minuskel und manch außerdeutschen Beispiels — bot schon im Hinblick auf das in seiner Gründungsphase stehende deutsche Inschriftenwerk Karl Brandl (Göttingen) [R20], einer der engagiertesten und einflussreichsten Vertreter des neuen Unternehmens (siehe unten S.17). 15
Einleitung
Erste Arbeiten im außerdeutsehen Bereich
Große CorpusUnternehmungen
Die Deutschen Inschriften
Parallel zu diesen Arbeiten beschäftigte sich in Wien Rudolf Zimmerl anhand österreichischen Materials mit der Entwicklung des Grabformulars vom 13- bis zum 18. Jahrhundert (1934) [S86], wobei er sich auf die in ihrer Qualität vielfach ungenügenden kleinen Editionen von einzelnen Inschriftenbeständen aus dem 19. Jahrhundert stützen musste. Im a u ß e r d e u t s c h e n Bereich gehört jener frühen Periode die Arbeit von Paul Deschamps [ R 4 0 ] an, die in Verbindung mit zahlreichen Tafeln - sie enthalten 61 Abbildungen — und gezeichneten Buchstabentabellen von der ausgehenden Merowingerzeit bis 1200 reicht. Sie ist Fortsetzung der Paläographie Le Blants zu den frühchristlichen Inschriften Frankreichs ( 1 8 9 6 / 1 8 9 7 ) [ R 1 1 0 } und bis heute als schriftkundlicher, das ganze Land umfassender Überblick für einen größeren Zeitraum von einiger Bedeutung. Noch in den 1930er Jahren erarbeitet, doch erst nach dem Krieg publiziert ( 1 9 4 8 ) ist Nicolette Grays „Paleography of Latin Inscriptions in the Eigth, N i n t h and Tenth Centuries in Italy" [ R 6 5 ] . Sie behandelt, nach Zeit und Regionen gegliedert, 161 Inschriften aus ganz Italien, wobei es ihr besonders darum geht, regionale Unterschiede festzuhalten, aber auch Produkte von „popular schools", d. h. rustikale Inschriften, solchen mit höherem Formniveau gegenüberzustellen. Studien zur frühen mittelalterlichen italienischen Epigraphik fuhren an dieser nach wie vor nützlichen Arbeit nicht vorbei. Gray kam aus dem U m f e l d des renommierten Vertreters der frühchristlichen Epigraphik Angelo Silvagni, dessen 1943 erschienenes vierbändiges Tafelwerk „Monumenta epigraphica Christiana saeculo X I I I antiquiora quae in Italiae finibus adhuc extant" (MEC) [ M 3 0 ] mit seinem Bildmaterial für die mittelalterliche italienische Epigraphik unentbehrlich ist. Es bietet Beispiele aus einigen Städten Italiens (Rom, Mailand, Pavia, Como, Lucca, Neapel, Benevent) - für R o m tatsächlich bis ins 13. Jahrhundert reichend — in erstklassigen Abbildungen. Heute sind von überragender Bedeutung die in einigen Ländern laufenden großen C o r p us-Unternehmungen, die größtenteils von Akademien oder anderen übergeordneten wissenschaftlichen Institutionen organisiert und betreut werden. Diese kritischen Editionen sind mit ihren kompetenten Bearbeitern nun weitgehend die Basis der epigraphischen Forschung. Fördert die steigende Zahl der edierten Inschriften in Verbindung mit dem gebotenen Abbildungsmaterial laufend unser „epigraphisches Wissen", so kommt dieses wieder den jeweils folgenden Bänden zugute. Dieser zunehmende „Bewusstseinsprozess" ist im Laufe der Jahre — etwa an den bisher erschienenen Bänden des deutschen Inschriftenwerkes — gut abzulesen. Der Gründung und der Dimension nach — es liegen inzwischen bereits 6 6 Bände vor, mehr als zwei weitere Dutzend sind in Arbeit — steht das deutsche und österreichische Gemeinschaftsunternehmen „Die Deutschen Inschriften" (DI) an der Spitze [ C l - 5 2 , C 5 4 - 6 4 , C 6 6 , C 6 7 , C 7 0 ] . Es wurde in den 1930er Jahren ins Leben gerufen [P33: Koch]. D i e Initiative g i n g vom Heidelberger Germanisten Friedrich Panzer aus, dessen Denkschrift auf eine „Sammlung, wissenschaftliche Bearbeitung und Veröffentlichung der Inschriften des deutschen Mittelalters in gemeinsamer B e m ü h u n g " — vergleichbar den großen Corpora zu den lateinischen und griechischen Inschriften des Altertums - abzielte. Diese Initiative machte sich die Heidelberger Akademie der Wissenschaften zu Eigen und leitete sie Ende 1933 den anderen damaligen deutschen Akademien zu Berlin, Göttingen,
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Wissenschaftsgeschichte und
Forschungsproblematik
Leipzig und München sowie der Akademie zu Wien zur Stellungnahme zu. Nach einer verhältnismäßig kurzen Phase der Diskussion, an der sich Karl Brandl (Göttingen) und Hans Hirsch (Wien) maßgeblich beteiligten, trafen sich die Vertreter der einzelnen Akademien am 2. August 1934 in Bamberg zur konstituierenden Sitzung, in der die entscheidenden Aufnahmekriterien beschlossen wurden, nach denen die Akademien in den ihnen zugewiesenen Bearbeitungsgebieten vorgehen sollten. Ausgeklammert blieben sowohl die Runen als auch die Siegel und Münzen. Deren Inschriften sollten den Spezialwissenschaften überlassen bleiben. Eine 1938 veröffentlichte Werbeschrift Panzers unter dem Titel „Die Inschriften des deutschen Mittelalters. Ein Aufruf zu ihrer Sammlung und Bearbeitung" £P26) fasste nochmals — nun für eine breite Öffentlichkeit — die wissenschaftlichen Motive für das groß angelegte Unternehmen zusammen: Entwicklung einer mittelalterlichen Epigraphik, Geschichte der Zahlen und Ziffern, Technik der Ausführung, Sprachgeschichte, Auseinandersetzung zwischen Latein und Deutsch, Rolle des Mittellateins und der deutschen Dialekte, soziologische und religiöse Verteilung des Inschriftenmaterials, die Inschriftenträger mit Aussagen zur Kunstgeschichte, Deutung der religiösen Darstellungen, Entwicklung der Grabinschriften und Jenseitsvorstellungen, Erfassung der Memoriensteine und Urkundeninschriften, Erwähnung historischer Ereignisse, Inschriften an Profanbauten, Inschriften volkskundlichen Inhalts, Witz- und Rätselinschriften usw. Diese an sich recht unsystematische Auflistung zeigt zumindest, wie viel man insgesamt wollte - eine gewaltige Anforderung fur die Mitarbeiter, und dies bis zum heutigen Tag. Ein umfassendes Quellenwerk war jedenfalls intendiert. Konnte zwar 1942 ein erster Band erscheinen, so bedeuteten Krieg und Nachkriegszeit, schließlich der Tod Panzers 1956 eine existenzbedrohende Gefährdung des Unternehmens. Der Zusammenhalt unter den Akademien hatte sich weitgehend aufgelöst. In dieser Situation war es der Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Richard Meister, der die Initiative zu einer Neufundierung des Unternehmens ergriff und ein zehn Punkte umfassendes „Normale" erstellte, das die Basis für die konstituierende Sitzung einer nun eingerichteten „Interakademischen Kommission" am 29- Juni 1959 in München war, das damals zum „Vorort" bestimmt wurde. Diese Kommission war aus den Vorsitzenden der Inschriftenkommissionen an den einzelnen Akademien zusammengesetzt. Noch 1959 kam die Akademie zu Mainz, 1973 die zu Düsseldorf hinzu, während die Akademien auf dem Boden der ehemaligen DDR (Berlin und Leipzig) in den späteren 1960er Jahren de facto ausschieden und sich erst nach der Wende und Wiedervereinigung 1989/1990 wieder an den Arbeiten beteiligten, die zu Berlin allerdings nur bis 2001. Vorsitzender der Interakademischen Kommission war von 1964 bis 1991 kein Geringerer als der weltweit renommierte Paläograph Bernhard Bischoff. Diskussionen, die in den späten 1960er Jahren zu mancherlei Fragen der editorischen Praxis einsetzten und die vor allem von den damals führenden Mitarbeitern - Rudolf M. Kloos (München), der seit 1967 an der Universität München das Fach „Mittelalterliche Epigraphik" lehrte, Renate Neumüllers-Klauser (Heidelberg) und Ernst Schubert (Halle/Saale) — bestimmt wurden, brachten auf der Sitzung der Interakademischen Kommission 1977 in Heidelberg als wesentlichste Neuerung die Auflösung gekürzter Worte im Interesse des Benützers mittels runder
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Einleitung
Klammern, nachdem man die zwar optisch attraktive, jedoch wissenschaftlich wertlose und kostspielige Manier, Lettern und Trennzeichen nachzuschneiden, schon Jahre zuvor aufgegeben hatte (siehe in C1-C5, C8). Das Unternehmen, wie es sich heute darstellt, sammelt, bearbeitet und ediert die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften Deutschlands und Österreichs (einschließlich Südtirols) - möglichst flächendeckend — nach gemeinsamen Richtlinien [siehe dazu P21-22: Koch], Aufgenommen werden die lateinischen und deutschsprachigen Inschriften - sowohl die noch im Original erhaltenen als auch die nur mehr abschriftlich oder bildlich überlieferten - bis etwa in die Mitte des 17. Jahrhunderts. Diese im Laufe der Zeit vielfach diskutierte Zeitgrenze - immerhin sind mitunter bis zu drei Viertel eines Bandes Inschriften nach 1500 und somit ist der „neuzeitliche" Teil sehr arbeitsaufwändig und zeitintensiv — ist nunmehr weitgehend unumstritten. Sie ermöglicht die epigraphische Erfassung von Reformation und Gegenreformation sowie verstärkt auch die des Bürgertums und vereinzelt auch schon der bäuerlichen Welt neben Kirche und Adel. Aus germanistischer Sicht kann etwa die Ablösung des Niederdeutschen durch das Hochdeutsche eingefangen werden. Die Bände sind versehen mit auswertenden Einleitungskapiteln und zahlreichen Registern. Getragen wird das Unternehmen de facto von den Mitarbeitern der einzelnen Arbeitsstellen, die sich regelmäßig zu Arbeitstagungen treffen und vielerlei Spezialfragen im Interesse einer einheitlichen Vorgangsweise erörtern. Mag das Vorliegen von derzeit 66 Bänden bereits ein stolzes Ergebnis darstellen, so ist zweifellos noch beträchtlich mehr zu erarbeiten. „Die Deutschen Inschriften" sind ein Quellenwerk von grundlegender Bedeutung. - An einigen Arbeitsstellen des deutschen Inschriftenwerkes — in Heidelberg, München und Wien - laufen neben den Editionsarbeiten bzw. in deren Vorfeld nach Maßgabe der vorhandenen Mittel auch Sicherheitsverfilmungen des noch im Original erhaltenen Inschriftenmaterials bis in die Zeit von etwa 1800. Corpus des 1969 wurde am Centre d etudes superieures de civilisation medievale an der inscriptions de la Universität Poitiers das „Corpus des inscriptions de la France medievale" (CIFM) France medievale [ D l - 2 2 ] ins Leben gerufen, wobei noch Paul Deschamps dem Gründungskomitee angehörte. Das zunächst unter der Oberleitung von Rene-Edmond Labande stehende Unternehmen brachte unter der wissenschaftlichen Verantwortung und schließlich Leitung von Robert Favreau, der von einem nur kleinen Bearbeitungsteam unterstützt wurde, von 1974 bis zum gegenwärtigen Zeitraum 22 Bände heraus, die in verhältnismäßig rascher Folge erschienen. Der Erfassungszeitraum setzt mit etwa 750, also der Karolingerzeit, ein. Das Werk schließt somit nahtlos an die auf 19 Bände projektierte Neubearbeitung von Le Blants Edition der frühchristlichen Inschriften Galliens an [A20—21}, von der allerdings erst drei Bände erschienen sind [El, E8, E15]. Gesammelt und photographiert wird das Inschriftenmaterial bis ans Ende des Mittelalters, publiziert allerdings nur bis 1300. Freilich bieten zwei bis drei französische Bände genauso viele Inschriften bis zum Ende des 13. Jahrhunderts wie alle bisherigen deutschen Bände zusammen. Das Werk, das mit den Inschriften der Stadt Poitiers, des Sitzes des Unternehmens, gestartet wurde, deckt inzwischen die ganze südliche Hälfte Frankreichs ab und hat bereits die Mitte des Landes — den burgundischen Raum - erreicht, ja greift mit dem bisher letzten, dem 22. Band, der die Departements
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Wissenschaftsgeschichte und Forschungsproblematik
der Normandie umfasst, in den Nordwesten des Landes aus. Der Start mit den südfranzösischen Inschriften war aufgrund des besonderen Reichtums dieser Zonen an epigraphischen Denkmälern wohl überlegt, ist doch vielfach eine nahtlose Tradition seit den antiken und frühchristlichen Inschriften gegeben. Mögen auch auswertende Einleitungskapitel fehlen und die Register auf ein Minimum beschränkt sein, so bietet ein sehr schematischer Aufbau der Katalognummern rasche Information: A - Funktion der Inschrift, Β — Aufbewahrungsort, C — Material, technische Ausführung und Maße, D - Transkription, Ε - Ubersetzung, F — Paläographische Bemerkungen, G — Sprachliche Bemerkungen, Η — biblische, liturgische und profane Quellen sowie Formular, I — Historischer Kommentar und Datierung, im Anschluss daran bibliographische Angaben. Mit einem fünften und letzten Band, der 1997 erschien, hat das 1971 am Mediävistischen Institut der Universität Fribourg gegründete und unter der Leitung von Carl Pfaff stehende „Corpus Inscriptionum Medii Aevi Helvetiae" (CIMAH) [ F l - 5 ] bereits seinen Abschluss gefunden. Es umfasst sowohl die frühchristlichen Inschriften der Schweiz — es ist somit eine Nachfolgearbeit von Emil Eglis, Die christlichen Inschriften der Schweiz vom 4.-9. Jahrhundert [ A l 3 } - als auch die mittelalterlichen - und zwar wie das französische Unternehmen bis 1300. In der Kommentierung zu Schrift bzw. Sprache und Formular wird auf den Vergleich mit verwandten Denkmälern Wert gelegt. Dazu kommt das besondere Augenmerk auf die vorkommenden Eigennamen — verständlich bei der multikulturellen Zusammensetzung der Schweiz. Die überstarke Rolle der antiken und frühchristlichen Epigraphik im Bewusstsein der Italiener war wohl der Grund dafür, dass — trotz mancher Pläne und Anläufe — es ungemein spät, nämlich erst in den letzten Jahren, zur Gründung eines nationalitalienischen Corpuswerkes zu den mittelalterlichen Inschriften mit Zentrum in Spoleto (Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo) kam. Die „Inscriptiones Medii Aevi Italiae" (IMAI) [ G l } , von denen bisher nur ein einziger, 2002 erschienener Band zu den Inschriften der Provinz Viterbo - einer von zweien, die dieser Provinz zugedacht sind - vorliegt, erfassen den Zeitraum vom 6. Jahrhundert bis 1200. Diese frühe abschließende Grenze ist zweifellos bedauerlich, wenn man den Reichtum an spätmittelalterlichen Inskriptionen in der politisch und kulturell so differenzierten Landschaft Italiens bedenkt, verständlich angesichts der beträchtlichen landesweit zu bewältigenden Materialmassen. Dieses Unternehmen wird eines Tages die von Außenseiterhand, von Pietro Rugo, vorgelegten fünfbändigen „Iscrizioni dei secoli VI-VII-VIII esistenti in Italia" ( 1 9 7 4 - 1 9 8 0 ) [11-5] ersetzen. Als regionales Corpuswerk in Italien, das in dankenswerter Weise das Spätmittelalter und zum Teil die beginnende Renaissance einschließt, hat das „Corpus Inscriptionum Medii Aevi Liguriae" (CIMAL) [ H l - 4 ] , das am Institut für Paläographie und mittelalterliche Geschichte der Universität Genua angesiedelt ist, zunächst drei Bände - die Städte Savona und Genua betreffend — in verhältnismäßig rascher Folge vorgelegt, nun ist vor kurzem nach langem Intervall ein vierter Band erschienen. Er betrifft Albenga und einige Orte im Umfeld. Die vorliegenden Bände zeigen mit ihren Ergebnissen nichtsdestoweniger den Wert der Berücksichtigung auch der späteren Jahrhunderte. Materialsammlungen für ein sardisches Corpuswerk haben bisher noch zu keinem Band geführt.
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Corpus Inscriptionum Medii Aevi Helvetiae
Corpus-Werke in Italien
Einleitung
Corpus-Werke auf der iberischen Halbinsel
Corpus-Werke in Polen und Tschechien
Einführungen in die Epigraphik
Italien in gewisser Hinsicht vergleichbar ist der spanische Bereich. Von einem neu ins Leben gerufenen „Corpus Inscriptionum Hispaniae Medievalium" (CIHM) |J1} ist 1997 ein erster und bisher einziger Band zu den Inschriften Zamoras erschienen. Ausgangspunkt der Arbeiten ist ein sich an der Universität Leon verdichtendes epigraphisches Zentrum unter der Leitung von Vicente Garcia Lobo. Die Arbeiten auf der iberischen Halbinsel verdienen besondere Aufmerksamkeit, unterscheidet sich doch die dortige Inschriftenkultur grundlegend von der des sonstigen Europa bis tief ins Mittelalter. Augenfällig zeigt dies eine sehr dichte Edition der Inschriften Asturiens, die Francisco Diego Santos 1994 im Druck vorlegte [Ml2}. Die Inschriften Katalaniens für die Zeit von 815—1150 edierte 2003 Javier de Santiago Fernandez im Rahmen einer Einführung in die katalanische Epigraphik [P8}. Eine dreibändige — Band zwei als Corpus-Werk mit der Edition in zwei Halbbänden - „Epigrafia medieval Portuguesa (842—1422)", die im Jahre 2000 erschien, bot Mario Jorge Barroca [M7]. Ein Blick in das östliche Mitteleuropa führt zunächst nach Polen, wo Jozef Szymanski vor nun schon mehr als 30 Jahren — 1973 — ein „Corpus inscriptionum Poloniae" ins Leben rief. In der Praxis wird das Unternehmen von mehreren Teams an verschiedenen Universitäten getragen, die sich das Land aufgeteilt haben. Mangels größerer Bestände aus dem Mittelalter ist die Bearbeitungsgrenze mit 1800 festgesetzt. Bisher sind 18 Bände bzw. Faszikel [ K l - 1 0 ] erschienen. Eine Neugründung ist hingegen das „Corpus Inscriptionum Bohemiae" [LI—2], an dem in enger Beziehung zur kunsthistorischen Landesaufnahme Tschechiens gearbeitet wird. Das Unternehmen, das sich in der editionstechnischen Vorgangsweise eng an das deutsche Inschriftenwerk anlehnt, legte bisher zwei Bände (1996 und 2000) zu Stadt und Bezirk Kuttenberg vor. Bearbeitungsgrenze ist ebenfalls 1800, vor allem das spätmittelalterliche Material — das einer Blütezeit Böhmens — ist sehr umfangreich. Zahlreiche größere und kleinere Editionen, die stärker begrenzten Bereichen, etwa einer Stadt oder einem größeren Baukomplex, gewidmet sind, ergänzen unser Wissen beträchtlich [vgl. Ml—35], zumal sie da und dort auch von ausgewiesenen Epigraphikern erarbeitet wurden. Nützliche Standortbestimmungen und Basis weiterer Arbeiten waren zwei fast gleichzeitig erschienene z u s a m m e n f a s s e n d e Publikationen, die von französischer und deutscher Seite vorgelegt wurden: Robert Favreaus 1979 erschienene „Les inscriptiones medievales" [ P I ] sowie die von Rudolf Μ. Kloos 1980 publizierte „Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit" [P6}. Die beiden Werke, die sich gut ergänzen, zeigen den recht unterschiedlichen Zugang zur Epigraphik im deutschsprachigen Bereich und in Frankreich in den letzten Jahrzehnten. Den beträchtlichen Zugewinn an Material und Erkenntnissen auf französischer Seite macht die aspektreiche „Epigraphie medievale" [P2] deutlich, ein Hand- und Übungsbuch mit 132 transkribierten und erläuterten Beispielen, in dem Favreau 1997 vor allem die Ergebnisse der Arbeiten des französischen Inschriftenzentrums — zahlreicher Einzelstudien wie besonders der Bände des Corpuswerkes — verwertete. Im Zentrum der französischen Forschung steht — wie aus den Arbeiten Favreaus und seiner Mitarbeiter hervorgeht — ganz entschieden die Inschrift als Quelle mittelalterlichen Lebens, eines Lebens, eingebunden in die 20
Wissenschaftsgeschichte und Forschungsproblematik
christliche Welt, also der kultur- und geistesgeschichtliche Aspekt. In der deutschen Forschung dominierte von Anfang an die hilfswissenschaftliche Ausrichtung, d. h. vor allem die Beschäftigung mit der Schrift der Inskriptionen. Zu einem „movens" der epigraphischen Forschung, vor allem der internationalen Vernetzung, entwickelten sich mehrtägige F a c h t a g u n g e n , die seit 1980 — erstmals von der Inschriftenkommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Landshut veranstaltet - in regelmäßigen Abständen im Rahmen des deutschen Inschriftenwerkes unter auswärtiger Beteiligung organisiert werden. Bisher wurden zehn solcher Veranstaltungen in Deutschland und Österreich abgehalten, die von derzeit neun umfangreichen Tagungsakten { N l - 9 ] begleitet sind. Ein zehnter Band mit den Referaten der Tagung in Halberstadt (2004) zum Thema „Epigraphik und Schatzkunst" befindet sich in Vorbereitung. — Inzwischen fanden in den letzten Jahren auch ganz oder teilweise der mittelalterlichen Epigraphik gewidmete Kongresse und Seminare in Italien, Frankreich, England, Spanien und Tschechien statt [ N 1 0 - 1 5 ] . Als Servicestelle versteht sich das in der Mitte der 1980er Jahre im Rahmen der Abteilung „Geschichtliche Hilfswissenschaften" des Historischen Seminars der Universität München eingerichtete E p i g r a p h i s c h e F o r s c h u n g s - u n d D o k u m e n t a t i o n s z e n t r u m . Erfasst und nach Möglichkeit angekauft wird das europaweit erscheinende einschlägige Schrifttum, sowohl unmittelbar epigraphische Arbeiten wie auch (in Auswahl) historische bzw. kunsthistorische Veröffentlichungen, in denen Inschriften eine zentrale Rolle spielen. Die inzwischen größte Fachbibliothek zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Epigraphik macht das Zentrum zu einer Anlaufstelle für Forschungsbesuche und Anfragen aus dem Inund Ausland. In gewissen Abständen werden Literaturberichte publiziert { Q l ^ } , die das Material nach acht Themenkreisen aufschlüsseln und kritisch besprechen: (1) Kongressakten, Handbücher, größere Zusammenfassungen. (2) Nationale Editionsreihen. (3) Weitere Editionen. (4) Epigraphische Arbeitsweise, Aufgaben und Projekte. (5) Schriftkundliche Arbeiten. (6) Sprache, Formular, Metrik, „mentalite". (7) Einzelne Denkmäler und Denkmalgruppen in historischer Auswertung. (8) Epigraphik und Kunstgeschichte, Kunstgewerbe sowie Realienkunde - Restaurierungsfragen. Diese an Umfang zunehmenden Literaturberichte haben sich zu einem Organ der internationalen Kommunikation entwickelt und zeigen die Fortschritte der Wissenschaft sowie die europaweit steigende Wertschätzung der Inschriften als breit gefächerte spontane Quellen für das Leben früherer Zeiten.
Fachtagungen
Epigraphisches Forschungs- und DokumentationsZentrum
Die derzeitige F o r s c h u n g s l a g e stellt sich so dar, dass der Überblick über die Allgemeine epigraphischen Schriftabläufe ständig an Dichte gewinnt, mögen auch so wich- Forschungslage tige Schriftzweige wie etwa die Gotische Minuskel sowie vielfach die Schriften der Neuzeit - wohl aufgrund der zu bewältigenden Massen — noch immer zu den Stiefkindern des Wissens gehören. Hier fehlen noch weitgehend sichere Datierungskriterien, die allein auf dem Schriftbefund beruhen. Die Arbeiten vornehmlich an den großen Editionsprojekten bringen Einsichten in zahlreiche Detailfragen, die in den systematischen Auswertungen der Bände selbst mehr oder weniger klar aufgezeigt sind - entsprechende Synthesen werden jedoch zunehmend zu einem Desiderat. Einzelne Studien, vor allem aber Editionen von außerdeutschem Material — vornehmlich zum Süden Frankreichs (siehe oben S. 18 f.), den man inzwischen
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Einleitung
bis etwa 1300 voll überblicken kann, aber auch zu Ligurien (siehe oben S. 19) und zu den stadtrömischen Inschriften [M35] — machen von Formenbestand, Schriftentwicklung sowie Datierungsansatz her die Gemeinsamkeiten, vor allem aber die beträchtlichen Unterschiede zu den mitteleuropäischen Inschriften deutlich, sodass in Anfängen bereits die Konturen einer vergleichenden europäischen Epigraphik sichtbar werden. Einer Reihe von Spezialfragen gilt seit einigen Jahren besondere Aufmerksamkeit, da es sich um zentrale Anliegen der Epigraphik und im Besonderen der Inschriftenpaläographie handelt, nämlich der Wechselwirkung zwischen Auszeichnungsschriften im Buch und den epigraphischen Schriften, ebenso der Rolle des Materials eines Inschriftenträgers und der angewandten Bearbeitungstechnik flir die Ausformung der Buchstaben. Weitere besonders aktuelle Themenkreise sind die Inschriften im Vorfeld der Gotischen Majuskel (12. und früheres 13- Jahrhundert) sowie diejenigen „zwischen" Mittelalter und Neuzeit. Zunehmend entstehen Untersuchungen zur Schriftgestaltung in verschiedenen Werkstätten. Ein steigendes Interesse an den neuzeitlichen Inschriften ist ebenfalls festzustellen. Ergebnisse zu all diesen Fragen werden jeweils im gegebenen Zusammenhang im Überblick zu bieten sein. Neben der zügigen Weiterfuhrung der großen Editionsreihen wäre — gerade aus inschriftenpaläographischer Sicht — die Erarbeitung vergleichender Tafel- und Abbildungswerke ein besonderes Desiderat.
2.
Was ist eine Inschrift? Definition, Terminologie, Kriterien der Beschreibung
Inschriften Ob es Graffiti sind, die wir auf unsere Wände und Mauern mehr oder weniger überall „monumental" gekritzelt, gepinselt oder gesprüht lesen, ob es Hinweis- oder Verbotstafeln sind, also zahllose feste Aufschriften in verschiedenster Funktion, ob es Texte in leuchtenden oder zuckenden Neonröhren, Produkte der Werbegraphik in unterschiedlichster Ausführung und Qualität, politische Slogans auf Transparenten, Tattoos oder gar Worte sind, die Flugzeuge auf Schriftbändern hinter sich ziehen oder in Kondensstreifen für wenige Minuten in den Himmel schreiben — wir sind in der Welt, in der wir leben, tagtäglich mehr denn je von Inschriften umgeben. Moderne Techniken, ein steigender Pluralismus unserer Lebensbedürfnisse und unsere zunehmende Anfälligkeit für Einflüsse von außen haben zu dieser Überflutung geführt, die von dauerhafter oder zumindest längerfristiger Information, die Inschriften von alters her traditionell und überwiegend erstrebten, bis hin zu ephemerer Beeinflussung und kurzer bis kürzester Lebensdauer reicht. Im vorliegenden Buch sowie im Folgeband geht es um die historischen Inschriften, die des Mittelalters und der früheren Neuzeit, also um jene Epochen, die durch eine klar nachvollziehbare Entwicklung epigraphischen Schreibens — bei aller Beziehung, die man phasenweise zu Schriftpartien im Buch, mitunter auch zu Dokumenten und zum Druck feststellen kann — gekennzeichnet ist. Auch diese älteren Zeugnisse der Epigraphik zeichnen sich durch eine beträchtliche Vielfalt in Aussage, Funktion und Ausführung aus — mit charakteristischen Eigenschaften und Merkmalen, die vielfach noch für mancherlei inschriftliche Formen unserer Zeit Geltung haben.
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Einleitung
bis etwa 1300 voll überblicken kann, aber auch zu Ligurien (siehe oben S. 19) und zu den stadtrömischen Inschriften [M35] — machen von Formenbestand, Schriftentwicklung sowie Datierungsansatz her die Gemeinsamkeiten, vor allem aber die beträchtlichen Unterschiede zu den mitteleuropäischen Inschriften deutlich, sodass in Anfängen bereits die Konturen einer vergleichenden europäischen Epigraphik sichtbar werden. Einer Reihe von Spezialfragen gilt seit einigen Jahren besondere Aufmerksamkeit, da es sich um zentrale Anliegen der Epigraphik und im Besonderen der Inschriftenpaläographie handelt, nämlich der Wechselwirkung zwischen Auszeichnungsschriften im Buch und den epigraphischen Schriften, ebenso der Rolle des Materials eines Inschriftenträgers und der angewandten Bearbeitungstechnik flir die Ausformung der Buchstaben. Weitere besonders aktuelle Themenkreise sind die Inschriften im Vorfeld der Gotischen Majuskel (12. und früheres 13- Jahrhundert) sowie diejenigen „zwischen" Mittelalter und Neuzeit. Zunehmend entstehen Untersuchungen zur Schriftgestaltung in verschiedenen Werkstätten. Ein steigendes Interesse an den neuzeitlichen Inschriften ist ebenfalls festzustellen. Ergebnisse zu all diesen Fragen werden jeweils im gegebenen Zusammenhang im Überblick zu bieten sein. Neben der zügigen Weiterfuhrung der großen Editionsreihen wäre — gerade aus inschriftenpaläographischer Sicht — die Erarbeitung vergleichender Tafel- und Abbildungswerke ein besonderes Desiderat.
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Was ist eine Inschrift? Definition, Terminologie, Kriterien der Beschreibung
Inschriften Ob es Graffiti sind, die wir auf unsere Wände und Mauern mehr oder weniger überall „monumental" gekritzelt, gepinselt oder gesprüht lesen, ob es Hinweis- oder Verbotstafeln sind, also zahllose feste Aufschriften in verschiedenster Funktion, ob es Texte in leuchtenden oder zuckenden Neonröhren, Produkte der Werbegraphik in unterschiedlichster Ausführung und Qualität, politische Slogans auf Transparenten, Tattoos oder gar Worte sind, die Flugzeuge auf Schriftbändern hinter sich ziehen oder in Kondensstreifen für wenige Minuten in den Himmel schreiben — wir sind in der Welt, in der wir leben, tagtäglich mehr denn je von Inschriften umgeben. Moderne Techniken, ein steigender Pluralismus unserer Lebensbedürfnisse und unsere zunehmende Anfälligkeit für Einflüsse von außen haben zu dieser Überflutung geführt, die von dauerhafter oder zumindest längerfristiger Information, die Inschriften von alters her traditionell und überwiegend erstrebten, bis hin zu ephemerer Beeinflussung und kurzer bis kürzester Lebensdauer reicht. Im vorliegenden Buch sowie im Folgeband geht es um die historischen Inschriften, die des Mittelalters und der früheren Neuzeit, also um jene Epochen, die durch eine klar nachvollziehbare Entwicklung epigraphischen Schreibens — bei aller Beziehung, die man phasenweise zu Schriftpartien im Buch, mitunter auch zu Dokumenten und zum Druck feststellen kann — gekennzeichnet ist. Auch diese älteren Zeugnisse der Epigraphik zeichnen sich durch eine beträchtliche Vielfalt in Aussage, Funktion und Ausführung aus — mit charakteristischen Eigenschaften und Merkmalen, die vielfach noch für mancherlei inschriftliche Formen unserer Zeit Geltung haben.
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Was ist eine Inschrift?
Eine verbindliche, alle Aspekte umfassende Definition des Begriffes „Inschrift" Begriff ist nicht so ohne Weiteres zu bieten. Die Abgrenzung gegenüber anderen Schrift- „Inschrift" äußerungen bleibt mitunter unscharf bzw. willkürlich. Dauerhaftigkeit, Publizität — nach Robert Favreau sind „duree" und „publicite" die vornehmlichen Merkmale einer Inschrift [S28: Favreau S. 3 9 4 f. bzw. P I : Favreau S. 1 6 ] - , weiters Monumentalität, ja gestaltender Formwille sind zweifellos Kriterien, die insgesamt oder zumindest zum Teil auf zahlreiche Inschriften zutreffen, sie können aber letztlich sicherlich nicht das gesamte Spektrum der als Inschrift in Frage kommenden Denkmäler von vornherein charakterisieren. D a u e r h a f t i g k e i t ist zunächst einmal eine Frage des Materials des Inschriftenträgers und seines Umfeldes bzw. der Aufbewahrungsumstände. Bei Inschriften etwa auf Stoff oder Leder wird man von vornherein diese Dauerhaftigkeit nicht voraussetzen können. Mag „ewige Dauer", d. h. dauerhafte „Memoria" bei Stein wohl im Allgemeinen erstrebt gewesen sein, so ist sie unter den gegenwärtigen aggressiven Umwelteinflüssen — je nach Steinart unterschiedlich — keineswegs mehr grundsätzlich gegeben. Manches im Freien sich befindliche Epitaph ist so sehr verwittert, dass Schrift bzw. Darstellung weitgehend verloren sind. Verlagerung in eine geschützte Position ist dringendes Gebot der Stunde, ansonsten können nur konservatorische Maßnahmen — als Beispiel seien etwa die vielfach schwer geschädigten Denkmäler an der Münchener Frauenkirche genannt [26a: Messerschmitt-Stiftung und S65: Ramisch — Steiner] — den weiteren Verfallsprozess zu stoppen versuchen. Von restaurierenden und somit oftmals verfälschenden Eingriffen in Schriftdenkmäler ist - dies sei in diesem Zusammenhang kurz deponiert — unter allen Umständen Abstand zu nehmen [ P 1 8 - 1 9 : Koch — Bacher]. P u b l i z i t ä t oder zumindest Mitteilungs- bzw. Erläuterungsfunktion wird man einer Inschrift kaum zubilligen können, die etwa eine Szene auf einem Kapitell erklärt, das sich unter dem Gewölbe eines romanischen Doms befindet. Dies gilt nicht weniger für Glocken mit ihren Inschriften hoch oben auf einem Campanile. Eine eingemauerte Grundsteinlegungsinschrift oder der Vermerk auf dem Metalltäfelchen eines Verstorbenen, das bei der Bestattung mitgegeben wurde, ist ebenfalls dem täglichen Blick entzogen. Auch ist das Streben nach Öffentlichkeit rechtskonstitutives Element der Quellengattung „Urkunde", also nicht auf inschriftliche Denkmäler beschränkt. Es äußert sich dort in der Publikationsformel und in der wohl nicht seltenen öffentlichen Verlesung urkundlicher Texte. Sind Rechtsdokumente in epigraphischer Form angebracht [vgl. etwa R 9 6 : Koch, vor allem M 2 3 : Müller] — im Mittelalter sind dies ausschließlich kopiale Überlieferungsformen neben einem Original auf „weichem" Material wie vornehmlich Pergament —, so ist etwa bei solchen in Stein oder solchen in Metall eine zusätzliche Publizität (in Verbindung mit Dauerhaftigkeit, vielfach auch mit Repräsentation) erstrebt. Anspruch der M o n u m e n t a l i t ä t ist wohl einem beschränkten Bereich von Inschriften vorbehalten gewesen. Sie war einer Vielzahl von Inschriften bis hin zu etwa beschrifteten Gegenständen des Alltagslebens von vornherein nicht zugedacht. Aber selbst bei „Großinschriften" sind Intention und Ergebnis der Ausführung Kriterien der Beurteilung, ob monumentaler Anspruch gegeben ist. Gestaltender F o r m w i l i e — dies verbindet Inschriften übrigens auch mit Zierzeilen im schreibschriftlichen Bereich - muss nicht unbedingt mit einem hoch-
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Einleitung
stehenden Ergebnis verbunden gewesen sein. Generelle Schriftkultur einer Zeit sowie Anspruch eines Auftraggebers bzw. Können des Ausführenden sind hierbei nicht ohne Bedeutung. Bei Graffiti, die es zu allen Zeiten gegeben hat und gibt, ist im Regelfall gestaltender Formwille nicht intendiert [R97: Koch], Definition Unter diesen Gegebenheiten zielten Definitionsversuche auf die Herstellung bzw. auf die Vielfalt der Inschriftenträger. So formulierte Jean Mallon 1952 [S48: Mallon S. 55] — freilich die antiken Inschriften im Auge habend —, die Epigraphik befasse sich „mit allen graphischen Denkmälern, mit Ausnahme derer, die mit Tinte auf Papyrus und Pergament geschrieben sind". Auf dieser Linie liegt letztlich auch jene Definition, die Rudolf M. Kloos für den mittelalterlichen (und neuzeitlichen) Bereich vorschlug: „Inschriften sind Beschriftungen verschiedener Materialien - in Stein, Holz, Metall, Leder, Stoff, Email, Glas, Mosaik usw., die von Kräften und Methoden hergestellt sind, die nicht dem Schreibschul- und Kanzleibetrieb angehören" [P6: Kloos S. 2]. Diese „Negativdefinition", die den geringsten gemeinsamen Nenner anspricht, hat sich letztlich in der Praxis als brauchbar erwiesen, mag sie auch manche Randbereiche ausklammern, die unter den Inschriften mitberücksichtigt werden sollten. Zu denken wäre etwa an Namenseinträge mit Tinte auf Altarplatten — siehe etwa die hochmittelalterliche Platte in der ehemaligen Stiftskirche St. Peter und Paul in Reichenau-Niederzell [R63] Wandkritzeleien mit Tinte oder Farbstiften, wie es sie vor allem in der Neuzeit überaus zahlreich gibt, oder auch an Texte, die man auf Pergamentblätter schrieb, die auf Holz aufgezogen und in Kirchen oder Rathäusern ausgehängt wurden [P30: Wehking - Wulf S. 101]. Trotz weitgehend schreibschriftlicher Herstellung und der damit verbundenen graphischen Beurteilung vornehmlich durch die Paläographie der Buch- und Geschäftsschriften zeigen sie doch ein Streben nach Dauerhaftigkeit und (oder) öffentlicher Mitteilung, das sie im weitesten Sinn den inschriftlichen Denkmälern annähert. Hingegen würde nach der Definition von Kloos die Bearbeitung von Inschriften auf Siegeln und Münzen durchaus in das Arbeitsfeld der Epigraphik fallen. De facto bleiben sie den alten Spezialwissenschaften Sphragistik und Numismatik überlassen — und dies mit gutem Grund, zumal auch ihre Aufnahme in epigraphische Editionen und Corpuswerke im Hinblick auf ihre serielle Produktion im Normalfall unterbleibt. Zu ihrem schriftkundlichen Aspekt — durchaus wünschenswert von epigraphischer Seite! - liegen nur wenige Arbeiten vor [vgl. R118: Michael - Schweder, R79: Kloos, R42: Drös, S75-76: Sydow]. Zu beachten ist freilich, dass die Positiva die Zeit der Entstehung des Typars bzw. des Prägestocks wiedergeben, nicht die Zeit der Abdrucke, die Jahrzehnte, mitunter Jahrhunderte später erfolgen konnten. Ähnliches ist bei der Verwendung von Modeln zur Herstellung von Glockeninschriften zu berücksichtigen. Abgrenzung zur Man sieht, die zuvor gebotenen Definitionen bemühten sich um eine Abgrenzung Paläographie der Epigraphik oder — je nach Grundhaltung — zumindest um eine Standortbestimmung gegenüber der Paläographie und der von ihr zu untersuchenden Schriftäußerungen. Die wissenschaftliche Zuordnung der Schriftzeugnisse auf Wachstäfelchen, Papyrus, Pergament und Papier zur Paläographie und der Inschriften zur Epigraphik ist letztlich Sache des wissenschaftlichen Konsenses, der aus den Begriffen von vornherein nicht hervorgeht. „Paläographie" - nach den griechischen Bestandteilen
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Was ist eine Inschrift?
παλαιός (palaios, alt) und γραφή (graphe, Schrift) - bedeutet an sich nichts anderes als „Lehre von den alten Schriften". Der Ausdruck wird in unserem Sinn - fur die Schrift in den Codices - seit der 1708 erschienenen „Palaeographia Graeca" des Mauriners Bernard de Montfaucon gebraucht [S53]· „Epigraphik" ist seit 1843 als Name der Wissenschaftsdisziplin in Verwendung und wurde 1878 von der Academie Fra^aise aufgenommen. Der Terminus leitet sich vom griechischen επιγραφή (epigraphe, eigentlich eine wortgetreue Übertragung des lateinischen „inscriptio") ab. Nach seinen Wortteilen γράφειν επί (graphein epi, schreiben a u f . . . ) bedeutet er zunächst nur „Aufschrift", d. h. Schrift auf einem Schriftträger (ohne nähere Angabe), und findet sich in diesem Sinn seit dem spätesten 17. Jahrhundert als Ausdruck für „Inschrift". Das lateinische Wort „inscriptio" - das deutsche Wort „Inschrift" ist eine Lehnübersetzung — bedeutete in der Antike „Aufschrift" bzw. „Überschrift", im spätesten Mittelalter begegnet es vereinzelt in unserer Bedeutung, gewinnt aber erst ab dem 16. Jahrhundert entscheidende Verbreitung. Im Mittelalter verwendete Termini sind „titulus", „epitaphium" sowie Verbalformen wie etwa „scriptum", „inscriptum" oder „caelatum" [PI: Favreau S. 13 f.]. Nach Funktion, Schriftträger und Herstellungstechnik kommt zweifellos den inschriftlichen Denkmälern ein anderer Stellenwert zu als den übrigen Schriftäußerungen, wie sie Codex und Urkunde bieten. Inschriften sind jener „Schriftzweig", dem individuelle Merkmale „des Schreibers" vergleichsweise am meisten abgehen. Dieser tritt hinter seiner Arbeit zurück. Nur in Ausnahmefällen — und es sind dies nicht immer die besten Leistungen — kann man da oder dort zur „Person" vordringen. Es ist auch ein anderer Personenkreis, der fur die Herstellung der Inskriptionen verantwortlich war als fiir den schreibschriftlichen Bereich. Es waren Handwerker unterschiedlichen technischen Könnens, ob Steinmetzen, Freskenmaler, Goldschmiede, Mosaizisten und andere, und — zumindest in den früheren Zeiten - vielfach Analphabeten, die nach bereitgestellten Vorlagen gearbeitet haben, wie gelegentliche Missverständnisse erkennen lassen. Über weite Strecken scheinen in den Inschriften auch andere Schriftsysteme auf als in den Textschriften der Codices, nämlich entweder genuin epigraphische Schriften, also Entwicklungen der antiken Kapitalis, oder für den inschriftlichen Bereich adaptierte Schreibschriften (siehe unten S. 52 f.). Ihre eigene, ihnen angemessene Behandlung — die der Entwicklung und Abfolge der Schreibstile nach Zeitabschnitten sowie die Kennzeichnung von Gesamtbild einerseits und Struktur der Einzelformen andererseits — ist erforderlich. Nichtsdestoweniger sollte eine starre gegenseitige Abschließung von Paläo- Verbindungen graphie und Epigraphik — vor etwa hundert Jahren hatte dies Ludwig Traube zur Paläographie schon bedauert [S79, Bd. 1, S. 137] — unter allen Umständen vermieden werden. Gegenseitige Befruchtung und gegenseitiger Austausch zwischen Auszeichnungsschriften in den Büchern und den Inschriften waren beträchtlich, wobei vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, der epigraphische Bereich Nutznießer gewesen ist. Auszeichnungsformen in Codices des Hochmittelalters gehen im Gotisierungsprozess der Schrift voran, die Inschriften folgen nach, während in der Karolingerzeit die alte, wieder aufgegriffene Monumentalschrift der Antike den Weg zur höchsten Auszeichnungsschrift in den Handschriften gefunden hatte. Gotische Minuskel (Textura), Humanistische Minuskel (Minuskelantiqua) und Fraktur hingegen haben ihren Ausgang von der Textschrift des Buches
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Einleitung
genommen [ R 9 7 : Koch]. Ein rein epigraphischer Schriftstrang im eigentlichen Sinn des Wortes lässt sich nur aus der antiken Kapitalis zeichnen bzw. aus dem, was sich daraus im Laufe der Jahrhunderte entwickelte — bis hin zur Gotischen Majuskel. Spielte im Stilisierungsprozess der gotischen Majuskelschrift die Auszeichnungsschrift des Buches — freilich nicht jede, sondern in der Regel nur die höchstrangige — eine wesentliche Rolle, so sind in anderen Fällen Buch- bzw. Schreibschriften in das Medium „Inschrift" eingedrungen und wurden epigraphischen Erfordernissen - mehr oder weniger modifiziert — angepasst. Zu gegebener Zeit wird auf diese Bezüge jeweils zurückzukommen sein. Begriff Die allgemeine E p i g r a p h i k (Inschriftenkunde) umfasst alles, was zur Be„Epigraphik" urteilung eines inschriftlichen Denkmals erforderlich ist. Es geht hierbei - neben Schriftformen im Einzelnen und dem Schriftbild insgesamt - um Sprache und Sprachstil mit seinen Eigenheiten, Formular, gegebenenfalls Metrik und Musikalität, Text- und Quellenanalyse sowie Verfasserschaft bzw. Auftraggeber, Interpretation des Inhalts und Untersuchung des Quellenwertes, historische, kunsthistorische und kulturgeschichtliche Einordnung des Denkmals, weiters Kennzeichnung der verschiedenen Inschriftengattungen sowie ihrer Träger — einschließlich ihres Materials - und ihrer charakteristischen Standorte, Reproduktionsmethoden und anderes mehr sowie schließlich all das, was mit der Edition von Inschriften zusammenhängt (Editionstechnik). Begriff Der Ausdruck I n s c h r i f t e n p a l ä o g r a p h i e ist m. E. für den rein schriftkund„Inschriften- liehen Aspekt und für alles, was den Schriftcharakter und das Schriftbild insgesamt paläographie" betrifft, zweckmäßiger als der umfassendere Begriff „Epigraphik". Der Ausdruck ist durch eine Reihe von Studien schon seit der Zwischenkriegszeit wie etwa „Paläographie der Inschriften . . . " oder „Paleographiedes inscriptions . . . " eingeführt [vgl. R 4 0 : Deschamps, R 1 3 2 : Rauh]. Man versteht darunter ein Teilgebiet der Epigraphik - wahrscheinlich das wichtigste - , aber auch einen Bereich, zumindest einen Randbereich, der allgemeinen Paläographie. Die Aufgabe der Inschriftenpaläographie liegt in der Erfassung der Schriftformen der Inskriptionen und ihrer Entwicklung. Als Voraussetzung für jede gesicherte weitere Interpretation und Beschäftigung mit diesen Quellen befasst sie sich mit Fragen der Datierung und Lokalisierung, in günstigen Fällen, d. h. in materialreichen Phasen, mit der Zuweisung an Werkstätten, gegebenenfalls mit dem „discrimen veri ac falsi", d. h. mit der Frage der Echtheit, also der Authentizität. Sie hat die Stellung der Schriftdenkmäler im Rahmen der gesamten Schriftkunde zu kennzeichnen. Dass dies vielfach in Auseinandersetzung mit der Schrift des Buches, vornehmlich seiner Auszeichnungspartien, zu geschehen hat und künftig noch vermehrt geschehen sollte, sei betont [ R 8 5 : Koch S. 115 ff. und R 9 7 : Koch S. 2 7 0 ff.]. Äußere Neben Material und Erhaltungszustand des Inschriftenträgers ist das graphiMerkmale sehe Bild einer Inschrift d a s entscheidende Kriterium unter den so genannten äußeren Merkmalen, wobei die Terminologie „äußere und innere Merkmale" aus der Urkundenwissenschaft in die Epigraphik übernommen wurde. Alles, was ein Schriftbild bestimmt, ist Inhalt und Aufgabe einer „Inschriftenpaläographie". Ein hierbei zu berücksichtigender Maßnahmenkatalog findet sich in den Arbeiten von Rudolf M. Kloos [ P 1 4 : Kloos S. 95 f.] und Robert Favreau [P2: Favreau S. 59 f.] zusammengestellt. Das Interesse hat zunächst der Einzelform
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Was ist eine Inschrift?
zu gelten. Es geht um die „Struktur" — Kloos spricht von „Morphologie" — der Buchstaben, also den Aufbau der einzelnen Formen und ihre Proportion, ihre Zusammensetzung aus Schäften, Balken, Bögen und Cauden sowie deren Gestaltung, die Strichstärke und Variation der Strichstärken innerhalb einer Form, den Buchstaben anhaftende Zierelemente, um „Buchstabenkombinationen" wie Nexus litterarum, Ligaturen, Bogenverschmelzungen und Bogenverbindungen, Enklaven und Verschränkungen, um das Aussehen von Kürzungszeichen, Worttrennern und Wortabteilungszeichen sowie um die Ziffern und ihre Entwicklung. Eine paläographische Untersuchung beschränkt sich aber nicht auf die Prüfung der Einzelformen. Zu beachten sind lockeres oder dichtes Schriftbild, die Zeilenführung, die Frage, ob „scriptura continua", also fortlaufendes Schreiben ohne Wortabstände, gegeben ist, die Homogenität des Schriftbildes insgesamt sowie die Frage einer oder etwaiger Überarbeitung(en). Zur minuziösen Beschreibung der Einzelformen - Buchstaben wie sonstiger Zeichen — steht seit wenigen Jahren in der von den Mitarbeitern des deutschen Inschriftenwerkes gemeinsam erarbeiteten „Terminologie" ein ausgezeichnetes Hilfsmittel zur Verfügung [ P l l } . Die wichtigsten B e g r i f f e seien im Folgenden - zusammen mit bildlicher Darstellung - in Auswahl zusammengestellt: Majuskelformen sind Buchstaben, die sich in ein (oft nur gedachtes) Zweilinien- Begriffe der schema einschreiben lassen (Großbuchstaben), Minuskelformen sind solche, die Beschreibung sich in ein (oft nur gedachtes) Vierlinienschema integrieren lassen (Kleinbuchstaben). Hierbei ergeben sich Ober-, Nüttel-, und Unterlängen. Majuskelformen wie der Mittellängenbereich der Kleinbuchstaben stehen auf einer (oft nur gedachten) Grundlinie:
A DΗ €
andg
Senkrechte Linien bezeichnet man als Schäfte (Hasten, lat.: hasta), waagrechte als Balken (lat.: trabs). Man spricht hierbei gegebenenfalls von oberem, mittlerem und unterem Balken. Das trapezförmige Α der spätromanischen Majuskel weist vielfach einen mächtigen Kopßalken (Deckbalken) auf. Schrägschäfte (wohl im Allgemeinen besser als die Bezeichnung Schrägbalken) verlaufen diagonal. Sie finden sich bei Ν auch eingezogen. Eine Linie von links oben nach rechts unten heißt linksschräg, eine von links unten nach rechts oben rechtsschräg. Der mittlere Teil des kapitalen Μ zwischen den Außenschäften, die „schräggestellt" sein können, ist der Mittelteil des Buchstabens. Auch er ist zuweilen eingezogen. Gebogene Linien sind Bögen (lat.: sinus). Hierbei spricht man von oberen und unteren Bogenabschnitten. In der Grundform rechts unten angesetzte Striche bei Q und R sowie bei G bezeichnet man als Cauden (lat.: cauda). Sie können - mit beträchtlichen Unterschieden bei den drei Buchstaben - mannigfache Ausprägungen aufweisen (stachelförmig, gerade, gewellt, eingezogen, gerollt u. a.):
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Einleitung
Ε RΗ ΕΗ Ά Α Ν V Ν /Λ Μ Β R H R ϋ α Ο GCX6 Schaft- und Balkenenden, aber auch vielfach das Ende von Bögen werden — einund (oder) beidseitig — im Laufe der Zeiten modifiziert gestaltet. Man spricht von Sporen (Sing.: der Sporn). Dies geschieht unterschiedlich systematisch — eine Frage der niveauvollen Ausgestaltung der Schrift. Sind die Sporen nach einem einheitlichen geometrischen Konstruktionsprinzip streng gestaltet - so vor allem in der antiken „scriptura monumentalis" oder später in antikisierenden Inschriften wird auch der aus dem Buchdruck kommende Begriff der Serifen verwendet. Leicht dreieckförmige Verstärkungen werden schließlich zunehmend von mehr oder weniger stark überstehenden kleinen Strichen (Kopf-, Fuß- bzw. Schlussstriche) abgelöst. Ihr Wachsen und die Ausrundung zwischen Schäften bzw. Balken und Sporen führen zu folgenschweren Veränderungen in der Konsistenz der Balken und Schäfte (siehe unten S. 154), das zunehmende Wachsen der Sporen ist obendrein die Voraussetzung für die Bildung der Abschlussstriche, die — zunächst bei unzialem Ε und bei C - die Gotische Majuskel grundlegend bestimmen:
IIΕ G G ΐΖ G
I !Εe
An Buchstabenverbindungen und Buchstabenkombinationen finden sich, unterschiedlichen Schriftsystemen zuordenbar:
Μ U 5 Ε) Κ ι α
Nexus litterarum:
Λ Λ Ligaturen:
28
ο
Was ist eine
Verschränkungen:
ί
Μ Ν
Inschrift?
ί
Enklaven und über- bzw. untergestellte Buchstaben:
Ε) I έ
%fe"C
Bogenberührungen, Bogenverschmelzungen, Bogenverbindungen:
bo
b
bo
Gelegentlich fanden aus dem handschriftlichen Bereich e-caudata und tironisches et Eingang in die Inschriften. Ersteres entwickelte sich aus der Verbindung ae, wobei das a immer mehr verkümmerte, bis es schließlich nur mehr in Form eines Häkchens auftrat. Wiedergegeben wird es in Transkriptionen mit ? bzw. Das so genannte tironische et, ein Haken ähnlich einer arabischen Sieben, leitet sich aus der Kurzschrift des Tiro, des Freigelassenen Ciceros, ab, und kommt in mittelalterlichen Handschriften sehr häufig zur Anwendung. Es wird in der Epigraphik mit (et) bzw. (ET) wiedergegeben:
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II. Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten 1.
Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
1.1
Die Epigraphik der römischen Kaiserzeit
An die 200.000 uns bekannte lateinische Inschriften aus der Zeit der römischen Antike — über das gesamte Imperium verstreut - begründeten frühzeitig den besonderen Rang und das hohe Ansehen der Epigraphik im Rahmen der Altertumswissenschaft, sind es doch zahlreiche Sparten des öffentlichen und privaten Lebens, in die nur Inskriptionen einen Einblick ermöglichen, „scriptura Eine Inschriftenpaläographie des Mittelalters und der Neuzeit kann nicht monumentalis" darauf verzichten, sich zumindest kurz mit den Grundlagen der antiken Schriftausformung zu befassen. Schließlich ist es die römische Kapitalschrift gewesen, die sich aufgrund ihrer Monumentalität als höchste und ausgewogenste Form epigraphischen Schreibens im Rahmen des lateinischen Alphabets ausgebildet hat („scriptura m o n u m e n t a l i s " ) . Freilich hat es eines langen Prozesses bedurft, bis sich die Schrift der Stadt Rom und ihres Umfeldes aus dem Alphabet der Westgriechen Unteritaliens — wohl über etruskische Vermittlung — entwickelte und unter den miteinander eng verwandten Inskriptionen der Völker der Apenninenhalbinsel und des angrenzenden Festlandsblockes durchsetzte - mit der steigenden Macht Roms zunächst in Italien, dann zumindest im lateinischen Bereich des Imperiums, im Mittelalter und in der Neuzeit im abendländischen Europa und schließlich auf dem gesamten Erdkreis [A2: Jensen, A l : Földes-Papp], Von den ältesten, archaischen Beispielen (7/.6. Jh. v. Chr.) auf der Manios-Spange von Praeneste {A5: Calderini Abb. 7] und auf dem Lapis niger am Forum Romanum [S73: Steffens Taf. 1] ausgehend und über die Inschriften auf den Scipionengräbern (letzte Jahrzehnte des 3- Jh. v. Chr.) [P7: Muzika Taf. V} hat die Kapitalis ihre klassische Ausprägung am Ende der Republik und in der augusteischen Zeit gefunden. Neben der nun erreichten proportionalen Ausgewogenheit der Formen war es die raffinierte und aufwändige Technik des Keilschnitts, also das Einschlagen von Dreiecksfurchen, das - nach Aufgabe des Einmeißeins einfacher, gleichmäßig breiter und tiefer Furchen — die Ausführung unterschiedlicher Furchenbreiten und -tiefen ermöglichte. Dies brachte eine differenzierte Gestaltung jeder einzelnen Form in Verbindung mit „Schatteneffekten" mit sich und bewirkte so im Schriftbild jenes als „klassisch" zu bezeichnende Verhältnis von Spannung einerseits und ausgeglichener Ruhe andererseits. Die römische Kapitalis blieb unter der Voraussetzung einer gekonnten handwerklichen Ausführung in Form und Gestaltung Vorbild einer eleganten und ausgewogenen Monumentalschrift, die den höchsten Anforderungen einer erstrebten Repräsentation Rechnung trug. 30
Antike Voraussetzungen und die frühchristliche
Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
Die antike epigraphische Schrift war nicht nur Basis aller künftigen Inschriften im Bereich des lateinischen Alphabets. Nähe oder Distanz zum antiken Vorbild bestimmten weitgehend das epigraphische Geschehen im Mittelalter und auch noch in der Neuzeit. Im Zeitablauf versuchte man, sich immer wieder an der antiken „scriptura monumentalis" zu orientieren — mit mehr oder weniger Geschick. Dies galt vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, fur die Zeit der Karolingischen Renaissance und die des Humanismus. So weit es Gebiete des ehemaligen Imperium Romanum betraf, hatte man die Beispiele „vor der Tür". An ihnen konnte man sich, wenn man es nur wollte und wenn die intellektuellen Voraussetzungen gegeben waren, orientieren. Rom, das als Sitz des Papstes und der zentralen Kirchenbehörden immer wieder aufgesucht wurde, und Italien als Ziel von an der Antike begeisterten Reisenden sollten für die Rezeption der alten römischen Welt von zentraler Bedeutung sein. Dass dies im Humanismus und in der Renaissance am Übergang hin zur Neuzeit von besonderer Relevanz war, ist bekannt. Dass es durchaus auch früher schon Interessenten gab, zeigt eine Sammlung antiker Inschriften, die ein vielleicht aus Fulda stammender Mönch wohl um 800 in Rom anlegte und die in einer heute in Einsiedeln liegenden Handschrift des 9. Jahrhunderts (Codex Einsidlensis 326) erhalten blieb [S81: Walser], Die monumentale Kapitalis dominierte zunächst in der Architektur, wo sie - Inschrift auf vielfach Widmungs- oder Weiheinschriften — nicht nur Informationen vermittel- dem Sockel der te, sondern vornehmlich Teil der öffentlichen, dann auch der privaten Repräsenta- Trajanssäule tion war. Schließlich fand sie Eingang in Grabdenkmäler gehobenen Anspruchs. Unter zahlreichen graphischen Denkmälern von hoher und höchster Qualität nehmen seit jeher die 113 n. Chr. entstandenen Schriftzeilen auf dem Sockel der zwischen 106 und 118 hergestellten Trajanssäule in Rom (Abb. 1) einen besonderen Rang ein, deren harmonische Ausgewogenheit im Gesamtbild wie in Einzelformen man bis in unsere Zeit bewunderte und zu ergründen versuchte [S55: Muess, P7: Muzika Bd. 1, S60: Ohlsen]. In dieser sechszeiligen Inschrift, die eine Steintafel von 115 cm Höhe und 275 cm Breite voll einnimmt, verringern sich von oben nach unten zu die Buchstabenhöhen von 11,5 cm in den beiden ersten Zeilen verfließend bis 9,75 cm in der letzten Zeile. Ebenso verkleinern sich die Zeilenabstände nach unten zu von 7,5 auf 7 cm. Diese in römischen Monumentalinschriften oft zu findende Verringerung der Buchstabengrößen trägt einerseits der oft größeren Bedeutung des Textanfanges, andererseits — und dies vor allem - dem größeren Abstand des Lesers von den oberen Zeilen Rechnung und wirkt so der bei weiterer Entfernung gegebenen optischen Verkürzung entgegen. Die Buchstaben sind offenkundig ohne Schablonen vorgezeichnet oder vorgemalt worden, wie für das Auge kaum wahrnehmbare Differenzen zeigen, die insgesamt das Schriftbild trotz eines Höchstmaßes an Ausgewogenheit beleben, „frei von der Kälte mechanischer Reproduktion" (P7: Muzika Bd. 1, S. 130) wie etwa vielfach in der Zeit der Renaissance oder in der Moderne.
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
fSTVS Abb. 1: Sockelinschrift der Trajanssäule (113) auf dem Trajansforum zu Rom. SENATVS POPVLVSQVE ROMANVS / IMP(ERATORI) CAESARI NERVAE F(ILIO) NERVAE / TRAIANO AVG . ψ\
» M I T ( V 5 / N ß K J V 5 P/< Λ Η L:X i A I V S . AVCVR' ι\ίί!;ί;.Χ\/ΒΓΛΕ ? PCMilEFXSO^köVlNDiCfMViR . r£VKiAnSHERi^U.Sri SACRATVS UIBfROHEEVSIÄ^HIFKOPHANf :, h l l O C O R V S TA%ÖBOLlATVS i PATERPAIRV/vWIi \ j | P V B I I C A V ^ faVAESYORCANDIlKLVS *t m i . r O R V R B A N V S
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Abb. 3: Weihealtar für den Hercules invictus (149) im Kapitolinischen Museum zu Rom (Ausschnitt). SANCTISSIMO HERCVLI / INVICTO / CORPOR(IS)
^ R R K r O R l VSriAi u V A / X l A .fOMS'VIAMSIVSÜ ΑΝΙΑ
Abb. 4: Grabaltar des Vettius Agorius Praetextatus (384/85) im Kapitolinischen Museum zu Rom (Ausschnitt).
CVSTODIARIOR(VM) / L(VCIVS) CVRTIVS
D(IS) M(ANIBVS) / VETTIVS AGORIVS PRAETEX TATVS
ABASCANTVS CVM / CVRTIO GAVDENTE FIL(IO) /
/ AVGVR P[0]NTIFEX VESTAE / PONTIFEX SOL[IS}
IMM(VNI) A(NNORVM) IUI / . . .
QVINDECIMVIR / CVRIALIS HERC[VL]IS SACRATVS / LIBERO ET ELEVSINIS HIEROPHANTA /...
Niveau - Buchstabenverbindungen hingegen nicht selten in reicher Zahl, häufig gegen Zeilenende zu, wenn es galt, Platz zu sparen. Es sind hierbei oft nicht bloß zwei, sondern auch mehrere Buchstaben miteinander verbunden, sodass sie gelegentlich ein Wort geradezu verschlüsseln [siehe Beispiele bei A5: Calderini S. 7 1 - 7 3 } . Eine voll entwickelte „scriptura monumentalis" wie etwa die auf der Trajanssäule hatte eine derartige Höhe erreicht, dass sie eigentlich keine Weiterentwicklung
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Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
mehr zuließ. Sie konnte sich nur verschlechtern oder verwildern, und sie wurde natürlich immer wieder aufgegriffen und nachgeahmt. Das Datieren kaiserzeitlicher Inschriften nach dem Schriftcharakter allein ist deshalb mit viel Unsicherheit verbunden, da Unterschiede vor allem vom Können und der Sorgfalt der Steinmetzen, auch von modischen Spielereien des einen oder anderen Meisters - vor allem die Serifen betreffend - und regionalen Besonderheiten abhingen [A6: Meyer S. 40 f.]. Die unerschöpfliche Masse an epigraphischen Denkmälern liefert nebeneinander Weiterleben Beispiele verschiedenster Ausprägung. Es gibt solche, die die „scriptura monumentalis" in gutem Niveau bewahrten bzw. zur Anwendung brachten (Abb. 2), solche mit Beibehaltung der Proportionen, jedoch mit geringerer Qualität der Ausführung (Abb. 3) bis hin zu geradezu „rustikalen" Produkten, was Einzelformen — etwa frühzeitig schon eingerolltes G - wie den Gesamteindruck betrifft. Ferner begegnet man auch solchen Schriften, die ganz oder teilweise überhaupt von der „scriptura quadrata" abgingen und schmälere bis schmale Schriftbilder boten (Abb. 4), darunter durchaus Spezimina, denen Qualität nicht abzusprechen ist. All dies ist insgesamt Teil der epigraphischen Realität, wie sie sich heute darbietet, wie sie aber auch frühere Zeiten vor Augen hatten. Es wäre verfehlt, bei römischer Kapitalis immer nur an Schriften in der Formschönheit und Raffinesse der Trajans-Inschrift und vergleichbarer Werke zu denken. Freilich, wenn man im Mittelalter (Karolingische Renaissance), im Humanismus oder in der Neuzeit sich an römischen epigraphischen Vorbildern zu orientieren suchte, hatte man in der Regel die hochniveauige kaiserzeitliche „scriptura monumentalis" im Auge und sah in ihr das erstrebenswerte Ziel. Der Pluralismus an Ausprägungen — unterhalb des höchsten und hohen Niveaus - ist jedoch von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Spätantike, deren inschriftliche Formen in die frühchristliche Epigraphik übergingen und somit wesentliche Voraussetzungen für den Weg ins Mittelalter lieferten. Bevor wir uns der frühchristlichen Zeit zuwenden, sind noch einige vom Bishe- „scriptura rigen vielfach abseits liegende Erscheinungsformen der antiken Epigraphik kurz actuaria" anzusprechen. Bei schmalen, häufig „lockeren" Schreibweisen ohne strenge Ausführung - man könnte von Gebrauchsschriften sprechen - verwendet man den Ausdruck „scriptura a c t u a r i a " , hergeleitet vom Ausdruck „acta", da auf diese p A U t f ^ i UTk' D O N ^ i £ £AV £ v g o •κ £
Abb. 5: Kapitalis (47/48) auf Papyrus aus Oxyrhynchus.
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
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Abb. 6: Weiheinschrift (A. 2. Jh.) im Kapitolinischen Museum, zu Rom (Ausschnitt). ... DECIVS EVTYCHES / DECIDIVS STACHVS / EVSEBES FELICIS / EVSEBES CAES(ARIS) VER(NA) / FLAVIVS ALCIMVS / FELIX ANNI / IVCVNDVS CAES(ARIS) VER(NA) / IVLIVS VICTOR/...
Weise oft Gesetzestexte und Urkunden auf Stein- oder Bronzetafeln kundgetan wurden. Es ist hierbei nicht zuletzt an Schriftausprägungen in hartem Material zu denken, die mancherlei deutliche Gemeinsamkeiten mit Schreibschriften in kanonisierter Kapitalis - man sprach früher von „capitalis rustica" - haben (Abb. 5). Zumindest ab dem frühen ersten nachchristlichen Jahrhundert sind sie deutlich auf Papyri belegt. Gar nicht so selten finden sich Inschriftentafeln, auf denen die monumentale Kapitalis als dominierende Schrift oder als „Auszeichnungsschrift" etwa für die ersten Zeilen Anwendung fand, alles Weitere hingegen in einer Platz sparenden „Schreibweise" ausgeführt war. Ein recht frühes Beispiel für das Nebeneinander der beiden Schriftcharaktere stellen etwa die Fragmente der Fasti Praenestini (4-10 n. Chr.) dar [S25: Diehl Taf. 11]. Aus dem beginnenden 2. Jahrhundert
36
Antike Voraussetzungen und die frühchristliche
Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
Abb. 1: Dipinto (Wahlaufruf in Pompeji, vor 79)· CN (=GNAEUM) HELVIVM / SABINVM AED(ILEM) / D(IGNVM) R(E) P(VBLICA) O(RO) V(OS) F(ACIATIS)
liegt als ausgezeichnetes Exemplum eine von einem Kollegium dem N u m e n des Kaisers gewidmete Tafel vor (Abb. 6). Die ersten sechs Zeilen sind — wenn auch nicht vom größten aller Meister — in „scriptura monumentalis" gearbeitet, darunter sind in „scriptura actuaria" in fünf Rubriken die Mitglieder des Kollegiums genannt. Die ungemein eng gesetzten, sehr schmalen Formen zeigen die Freiheiten, die sich der Steinmetz nahm. Man hat den Eindruck, dass er „geschrieben" hat. Hier g i n g es um Mitteilung von Text, nicht u m Repräsentation. Die Schrägen von links oben nach rechts unten bei Μ , Ν und A, das meist des Mittelbalkens entbehrt, greifen deutlich oben über den anderen Schaft hinaus. Die eine oder andere Form reicht in den Ober- oder Unterlängenbereich - ohne jede Systematik. E, F, L und Τ sind aufgrund ihrer winzigen Balken dem I angenähert. Extrem klein sind die Bögen des Β, Ρ und R . Der eine oder andere Kopfbalken schwingt nach oben aus. Manche Schäfte sind unten entweder konkav verdickt oder stehen auf unsystematisch gesetzten, zum Teil verhältnismäßig großen Tilden, d. h. gewellten Fußstrichen. Die Schattenachse ist stark linksgeneigt, was dazu führt, dass sich etwa das C kopflastig zurücklehnt. Der rechte Schaft des V ist leicht durchgebogen. Nexus litterarum ist häufig gegeben. W i e sehr diese Schreibweise ihre eigentliche oder ursprüngliche Domäne i m Beziehungen Schreibschriftlichen und Zeichnerischen hat, zeigt ihr häufiges Vorkommen schon zum Schreibim ersten nachchristlichen Jahrhundert in pompejanischen Dipinti. M i t dem Pin- schriftlichen sei geschrieben, treten sie in unterschiedlicher Ausführung auf - von Elaboraten mit mancherlei Beziehung zur Kursive (siehe unten S. 38 f.) bis hin zu Produkten von höchster Stilisierung (Abb. 7). In Stein sind Spezimina dieser Ausprägungsart 37
Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Abb. 8: Inschrift im Archäologischen Museum zu Reggio di Calabria (2. Jh.) (Ausschnitt). ... VIC REGINI IVLIENSES O(RDO) P(OPVLVS)Q(VE) PVBLI... / PRIVATIMQVE DVM VIXIT ET .../..STEA DE SE OPTIME MERITAE STATV...
ebenfalls gegeben (vgl. S48: Malion Taf. X I I ; P5: Gray, Abb. 9 und 10), darunter solche von höchster graphischer Qualität, wie ein Beispiel des 2. Jahrhunderts im Archäologischen Museum von Reggio di Calabria zeigt (Abb. 8). Die gleiche Schriftstilisierung ist später in Vergilhandschriften des 5. Jahrhunderts erhalten (vgl. S62: Pal. Society I, Taf. 115, S73: Steffens Taf. 19). Diese Art, eine Schrift zu gestalten, ist nicht weniger gekonnt als die der „scriptura monumentalis". Sie ist nur anders und verdient es nicht, abwertend „Rustica" genannt zu werden. Allerdings - und hierin liegt der große Unterschied - als epigraphische Schriftform ist sie gegenüber der „scriptura monumentalis", also „quadrata" (in verschiedenen Qualitätsstufen), offensichtlich eher eine Randerscheinung geblieben. Sie hat vor allem auch keine nennenswerte Auswirkung auf spätere Zeiten gehabt. Kursives
Für diese Darstellung, die auf die mittelalterliche Epigraphik ausgerichtet ist, ein Nebengleis ist all das, was man unter dem Begriff der K u r s i v e zusammenfassen kann. Doch handelt es sich quantitativ — auch im Epigraphischen — um ein weites Feld. Die Behandlung der kursiven Formen und der Entwicklung von der älteren zur jüngeren römischen Kursive, ebenso der Rolle der Kursive als Mutterboden zur Ausbildung verschiedener buchschriftlicher Formen auf dem Weg der so genannten kalligraphischen Verdichtung ist allerdings Aufgabe der allgemeinen Paläographie. Bereits bei der Besprechung der „scriptura actuaria" war der eine oder andere deutliche Berührungspunkt zum schreibschriftlichen Bereich zu sehen. Dies gilt natürlich in verstärktem Maß für Schriftausformungen, die in graduellen Abstufungen von kapitalen Formen bis hin zur völligen Übernahme der raschen Schreibschrift des täglichen Gebrauchs, wie sie etwa von den Papyri oder von den Wachstäfelchen her bekannt sind, in den epigraphischen Bereich einfließen. Kritzelinschriften - seien es eingeritzte Graffiti, seien es mit
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Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
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Abb. 10: Graffito in Pompeji (vor 79). POMPEIANIS / FEL(ICITER) FELICITER / FAVSTINVM VIGINTI / ROGAMVS
Rötel bzw. Farbe geschriebene oder gemalte Dipinti - finden sich zu allen Zeiten, auch in den Jahrhunderten der römischen Antike. Besonders reich ist der Bestand in den vom Vesuv verschütteten Städten Pompeji und Herculaneum. Die Wände sind voll mit Texten unterschiedlichen Inhalts. Manche folgen der älteren römischen Kursive (Majuskelkursive), d. h. dem Schreibfluss der damals geschriebenen Schrift (Abb. 9). Kursive Formen - F, L und vor allem R - , in eine rüde kapitale Inschrift eingestreut, die fern jeglicher Stilisierung ist, bietet ein weiteres Denkmal, das im Folgenden vorgeführt sei (Abb. 10). Es zeigt das Überstehen schräger Schäfte, Α ohne Mittelbalken oder mit freistehendem schrägen Balken unten. Besonders hinzuweisen ist auf das Ε in Form zweier paralleler Schäfte. Hier hat sich offenkundig auf niedrigstem Niveau eine Ausprägung erhalten, die als Nebenform schon aus Inschriften des 3. Jahrhunderts v. Chr. bekannt ist, die jedoch die Stilisierung zur klassischen Monumentalschrift nicht überdauerte. Dieses Ε gibt es auch in der so genannten „Wachstäfelchenschrift" (vgl. S73: Steffens Taf.5), als Besonderheit zuweilen in rüderen kaiserzeitlichen Inschriften (3. J h . n. Chr.) [vgl. A9: Walser Abb. 119], vornehmlich in Gallien, weswegen es auch „gallisches E " genannt wird [A6: Meyer S. 37 f.]:
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
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Abb. 11: Verfluchungstäfelchen aus dem Amphitheater zu Trier (4. Jh.). ... / IN AbIHTIARO (Amphitheatro?) UESTRO / (DI)ANAM ET MARTEM / UINCULARES UT ME UI/NdICETIS dE qUqU MA / EUSEblUM IN UNGULAS / OBLIGETIS ET ME / UINdICETIS / ...
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Insgesamt ergibt sich bei regellosen Schriftdenkmälern auf unterster Ebene ein Zusammenfließen von Formen, die aus verschiedenen Systemen gespeist sind. Es treffen Elemente der Kapitalis zusammen mit Minuskelformen und solchen der Kursive - Majuskel- wie Minuskelkursive, darunter das gerundete E, das zur Unziale führt. Zu denken wäre etwa an Verfluchungstäfelchen aus Metall aus dem 4. Jahrhundert, die man im Amphitheater in Trier gefunden hat (Abb. 11), aber auch an Steintafeln, wie etwa eine Inschrift in den Vatikanischen Museen, die zweier Kinder gedenkt, die die gleiche Krankheit am gleichen Tag hinwegraffte (Abb. 12). Calabi Limentani spricht hierbei von einer „scrittura quasi comune" (A4, S. 229 f. Nr. 37).
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Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift Verdichtungsschübe innerhalb der älteren Kursive führten zur neben der Kapi- Unziales und talis zweiten großen und niveauvollen Buchschrift, die die Antike hervorbrach- Halbunziales te, nämlich zur U n z i a l e , von deren älterem Typus die frühesten erhaltenen Beispiele aus dem ausgehenden 4. Jahrhundert stammen und überwiegend schon christliche Texte bieten. Es waren dies allmähliche Prozesse, die zumindest im beginnenden 2. Jahrhundert einsetzten, wofür das „fragmentum de bellis Macedonicis", ein kleines Pergamentfragment, Zeugnis ablegt [siehe S 7 1 : Seider II/1 Abb. 14}. So sehr die ausgeprägte Unziale in späterer Zeit als Bestandteil des kapital-unzialen Mischalphabets auf dem Wege zur Gotischen Majuskel eine gewaltige Rolle in der epigraphischen Schrift spielen sollte (siehe unten S. 156 ff.), g i b t es doch keinerlei Inschriften in der Antike oder in der ausgehenden Antike, die dem voll ausgebildeten System der Unziale folgen würden. Z u sehr war die epigraphische Tradition mit der Kapitalis verbunden, in welcher Q u a l i t ä t auch immer. Vereinzelt finden sich einige Inschriften in Mischalphabeten - vornehmlich, wie es scheint, aus dem lateinischen N o r d afrika - mit Anteil der noch nicht „fertigen" Unziale, aber auch mit mehr oder
Abb. 13: Inschrift des Flavius Pudens Pomponianus (3- Jh.) vom Forum in Timgad (Ausschnitt). VOCONTIO / FL(AVIO) PUdENTI POMPO/ NIANO CU ERGA / CIUEIS PATRIAMqUE / PROLIXE ...
Abb. 14: Konstitution des Julian Apostata (362) im Nationalmuseum zu Athen (Ausschnitt). ObORIRI solENT NONNUlf... / CONTROUERsIE qUE NO[... / REIqUIRANT ET / EXTAmEN / IUdlCIIs CElsIORIs TUm AUTEm / qUEdAm NEGOTIA sUNT IN /qUIbUs sUPERFLUUm sIT mO/dERATOREm EXsPECTARE / PROUINCIE qUOd NObls / UUTRUmqUE PENdENTIUS / ...
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
„scriptura Damasiana"
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weniger Einsprengseln aus der Halbunziale. Ihre Entstehung lässt sich auf zwei Inschriften in Stein aus der ersten H ä l f t e des 3. Jahrhunderts im algerischen T i m g a d (Abb. 13 und S 5 4 : Morison S. 6 5 ) sowie einem tunesischen Beispiel aus Makter verfolgen, jetzt im Musee du Louvre zu Paris [S20: C L A Suppl. B d . , Taf. V l l b ] , weiters in einer Konstitution des J u l i a n Apostata aus dem J a h r e 3 6 2 im N a t i o n a l m u s e u m zu Athen ( A b b . l 4 ) . Mit der „scriptura D a m a s i a n a " , genannt nach Papst Damasus ( 3 6 6 - 3 8 4 ) , liegt ein Schriftstil zur zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts vor, wie er in nicht stärkerem Gegensatz zum zuvor Gebotenen stehen könnte. Er ist in zahlreichen Spezimina überliefert, vielfach freilich nur mehr in Fragmenten, die sich in den Katakomben und altchristlichen Heiligtümern R o m s und seiner U m g e b u n g befinden. Papst Damasus hatte für die in der diokletianischen Christenverfolgung zerstörten und hernach wiederaufgebauten Kirchen und Gräber zu Ehren der Märtyrer Tituli gedichtet, die die erste spezifisch christliche Poesie darstellen. Sie sind teils literarisch überliefert, zum Teil noch in epigraphischen Denkmälern erhalten, auf großformatigen, nach der Breitseite beschriebenen Tafeln (Abb. 15). [Vgl. M 3 0 : M E C I, Taf. V und VI.] Für diese Tafeln wurde eigens eine kunstvoll überfeinerte Prunkschrift kreiert. Der päpstliche Geheimschreiber Furius Dionysius Philocalus hat sie entwickelt. Es ist - von der Moderne abgesehen - ein Ausnahmefall, dass der N a m e eines Schriftschöpfers bekannt ist. Die Versuche, diesen Schreiber auch mit vergleichbaren Schriftausprägungen (Initialen) im „Vergilius Augusteus" in Verbindung zu bringen [S58: Nordenfalk S. 2 3 9 ] , einer von zwei Luxushandschriften der Werke Vergils aus dem 5. Jahrhundert in „capitalis elegans", der unter Einfluss der epigraphischen Monumentalschrift stilisierten Buchkapitalis, haben sich nicht recht durchgesetzt [B2: Bischoff S. 82]. Die in „scriptura continua", also ohne Wortabstände angeordnete Schrift, die sich durch ein Höchstmaß an Disziplin auszeichnet, was die Buchstabenabstände, die Einhaltung des Zweilinienschemas und die geringen Zeilenabstände betrifft, ist streng - noch deutlicher als die „scriptura monumentalis" - vom Gesamtbild einer „scriptura quadrata" geprägt. Ein besonderes Merkmal ist der extreme Wechsel von Haar- und Schattenstrichen, wobei die meisten Hasten — in der Proportion wesentlich kürzer als in der „scriptura monumentalis" —, aber auch die Schrägen
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Abb. 15: Scriptura Damasiana (2. H. 4. Jh.) in S. Agnese sulla Nomentana zu Rom (Ausschnitt). A REFERT SANCTOS DVDVM RETVLISSE PARENTES / < A G > N E N CVM LVGVBRES CANTVS TVBA CONCREPVISSET / VTRICIS GREMIVM SVBITO LIQVISSE PVELLAM / SPONTE TRVCIS CALCASSE MINAS RABIEMQ(VE) TYRANNI / VRERE CVM FLAMMIS VOLVISSET NOBILE CORPVS /...
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Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
von links oben nach rechts unten sehr fett ausgeführt sind. Lediglich die Hasten des Ν sowie die linke Haste des Μ - diese ist gelegentlich leicht schräg gestellt — sind als dünne Haarlinien wie die Balken oder die Schrägen der anderen Richtung ausgeführt. Die Hasten und Schrägen weisen keine Serifen auf, sondern sind oben abgerundet und mit kleinen Häkchen in Haarlinien versehen, die sich nach einer oder beiden Seiten umbiegen:
Trotz dieses spielerischen Dekors mutet die Schrift insgesamt steif und schablonenhaft an. Sie kann an Eleganz und Spannung nicht mit der „scriptura monumentalis" mithalten, wenn jene wohl auch Vorbild für diese künstliche Neuschöpfung gewesen sein mag. In den Einzelformen unterscheidet sich deutlich R, dessen Cauda nicht stachelförmig ausschwingt, sondern nach Art eines halben fetten Schrägschaftes gebildet ist. In späterer Zeit hat man diese Art zu schreiben in Rom kurzfristig, doch sichtlich ohne Erfolg, wieder zu beleben versucht (siehe unten S. 82). Die damasianischen Inschriften Roms, obgleich Zeugnisse bereits des Christentums, sind hier mit voller Absicht von den als „frühchristlich" bezeichneten Denkmälern abgehoben und an dieser Stelle besprochen, da sie als fest umrissenes „Kunstprodukt" einen räumlich und zeitlich eng begrenzten Sonderfall darstellen, der sich graphisch auf die Vergangenheit bezieht.
1.2
Die frühchristlichen Inschriften
Die Inschriften der Spätantike werden naturgemäß in zunehmendem Maß von der Frühchristliches christlichen Welt bestimmt - vom Christentum, das im Mailänder Edikt (313) Inschriftenwesen die Freiheit erlangt hatte und in relativ kurzer Zeit die römische Gesellschaft des gesamten Imperiums erfasste und durchdrang. Versuche, graphisch ein eindeutig „christliches" Inschriftenwesen zu kennzeichnen, sind letztlich jedoch nicht so recht von Erfolg gekrönt gewesen {A18: Kaufmann S. 24], Nach Material, Technik und auch Schrift ist kein grundsätzlicher Unterschied zu zeitgenössischen heidnischen Inschriften auszumachen, die freilich zunehmend „verloren" gehen. Nichtsdestoweniger kennzeichnen feste Konturen das „frühchristliche" Inschriftenwesen. Es ist zunächst — nicht anders als in den frühchristlichen griechischen Inschriften - die christliche Thematik und es sind christliche Bezugspunkte, die aus den Texten verschiedenen Inhalts und verschiedenen Zwecks sprechen. Vornehmlich bestimmen aber die zahllosen Grab- und Gedenkinschriften das Bild der frühchristlichen Epigraphik. Die alten Kirchen Roms, die auf eine Tradition bis in die frühchristliche Zeit verweisen können, sind an den Wänden ihrer Vorräume „gepflastert" mit Grabtäfelchen und Tafeln — und anderswo ist es vielfach ebenso. Gerade bei den Grabinschriften verbindet das Formular - bei allen regiona- Grabinschriften len und zeitlichen Modifikationen — diese Denkmalgruppe vielfach. Mag es auch nicht das unmittelbare Thema der vorliegenden Ausführungen sein, so sei es doch kurz in groben Linien angesprochen. Als Beispiel folgt das bevorzugte Schema der
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten frühchristlichen Inschriften Triers, die im R a h m e n der auf 15 Bände geplanten N e u b e a r b e i t u n g von E d m o n d Le Blants „Inscriptions chretiennes de la Gaule" im ersten Band des „Recueil des inscriptions chretiennes de la Gaule" von N a n cy G a u t h i e r vorzüglich nach den verschiedensten Gesichtspunkten aufgearbeitet w u r d e n [ E l , S. 37 ff.]: A) Eingangsformular: hie (in hoc sepulcro, sub hoc tumulo) quiescit (requiescit, iacet, pausat, situs/a est u. a.), N a m e des (der) Toten, mögliche Erweiterungsangaben (geographische H e r k u n f t , Beruf, kirchliche F u n k t i o n , sozialer Status, Altersstufe u. a.). B) Lebensalter: qui (que) vixit (annos habuit, Genetivus qualitatis annorum u. a.), Lebensdauer (nach Jahren, nach Jahren u n d Monaten, nach J a h r e n , Monaten u n d Tagen, nach Lustren, bei ungefährer A n g a b e PLUS MINUS [gekürzt auch PLM}). C) W i d m u n g des Grabes u n d der Inschrift: titulum posuit, Stifter (Eltern, Eheleute, Kinder, Geschwister, sonstige), dolens (pietissimus). D) D a t u m s a n g a b e n : Todestag m i t Einleitungswort (pausat, recessit, obiit, decessit; depositio, dies depositionis). W ä h r e n d in Trier meist kein Todesjahr g e n a n n t ist, sind die Inschriften anderswo oft auch datiert m i t Angabe der Indiktion u n d (oder) der Konsulate bzw. Postkonsulate, wobei in Gallien — etwa im 7. J a h r h u n d e r t merowingische, im Süden des Landes frühzeitig auch gelegentlich westgotische - Königsjahre v o r k o m m e n können. Dass es auch kunstvolle Grabelogien gab, bleibe nicht unerwähnt. So ist etwa aus St. Pierre zu Vienne ein steinernes Fragm e n t eines Textes von 5 7 9 erhalten (jetzt im M u s e u m zu Vienne), dessen gesamten W o r t l a u t eine Handschrift des 9· J a h r h u n d e r t s (Paris, Bibliotheque National de France, Lat. 2 8 3 2 ) überliefert [E15: Descombes N r . 101]. Christliche Symbole
Die christlichen Inschriftentafeln u n d Täfelchen zeichnen sich oft durch bildliehe Elemente aus, durch christliche Symbole, durch die der oder die in den Texten G e n a n n t e weithin sichtbar als Christ(in) ausgewiesen wird. Diese Symbole sind zahlreich u n d regional nicht i m m e r gleich dicht verbreitet. Es g i b t Tauben, Fische, Pfaue, Ö l b ä u m e , Kelche, C h r i s t o g r a m m e u n d die „crux m o n o g r a m matica" (beide m i t und ohne Alpha u n d Omega), einfache lateinische Kreuze, W e i n t r a u b e n , Ölgefäße, Gebäude bzw. Architekturteile u n d anderes m e h r [vgl. E l : Gauthier S. 51 ff.]. Dieser Einbruch des Bildlichen in den inschriftlichen Bereich ist eine deutliche A b k e h r von den traditionellen antiken epigraphischen Ausdrucksformen. Die Inschriften der Christen sind zunächst — vor allem noch in der Zeit des U n t e r g r u n d s — Denkmäler sozial niederer Schichten. Man legte zunächst keinen W e r t auf Repräsentation und die äußere Form u n d hatte auch nicht die M i t t e l hierfür. Der religiöse Inhalt des neuen Glaubens war das E n t scheidende. Als das C h r i s t e n t u m die Gesellschaft insgesamt erfasste, u n d dies bis in die höchsten gesellschaftlichen Schichten, machte sich dies in einer breiteren Palette von D e n k m ä l e r n auch m i t hochstehenden Leistungen bemerkbar, etwa den stadtrömischen Mosaikinschriften in S. Sabina (422—432), S. Maria Maggiore ( 4 3 2 - 4 3 9 ) u n d SS. Cosma e D a m i a n o ( 5 2 6 - 5 3 0 ) , epigraphische „ H i g h l i g h t s " in bester klassischer Tradition (vgl. M E C I, Taf. X X X ) . Insgesamt ist die frühchristliche Epigraphik in die spätantike W e l t m i t ihren generell schwächeren Formen eingebunden, wobei regionale Unterschiede je nach O r t , etwa in der spätantiken Kaiserstadt Trier m i t ihrer H o f h a l t u n g , gegeben sind u n d das N a c h a h m e n von Vorbildern i m m e r wieder auch zu erstaunlichen Leistungen führen konnte. Dies bedeutet, dass Datieren nach rein graphischen Kriterien schwierig ist, dass m a n
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Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
vielfach mit „Faustregeln" operieren und in hohem Maße inhaltliche Kriterien mit heranziehen muss. Die Denkmäler mit ihrem Schriftcharakter - anfangs egal, ob heidnisch oder christlich - sind bestimmt von der sich bildenden uniformen römisch-hellenistisch-orientalischen Reichskultur der späteren römischen Kaiserzeit, die einen Austausch der Völker aus allen Gegenden des Imperiums brachte. Es sind nicht zuletzt die Inschriften mit ihren Namensnennungen, die zeigen, von wo überall her die Menschen kamen, oft aus den entferntesten Gebieten, auch etwa in die linksrheinischen Städte. Wesentlich mehr Menschen als früher, auch sozial tiefere Schichten, nahmen Anteil am öffentlichen und vor allem am wirtschaftlichen Leben. Die angesprochene breite Palette unterschiedlicher Niveaus ist Basis im gra- Graphische phischen Bereich. Außer Frage steht freilich, dass die Kapitalis, wie immer sie Merkmale im Detail aussehen mag, die epigraphische Schrift bleibt. Doch geht vor allem die strenge Disziplin sowohl bei den Einzelbuchstaben wie im Gesamtbild mehr oder weniger verloren, sei es aus mangelndem Können, sei es, weil sie keinen entsprechenden Wert mehr darstellte. Dies bedeutet, dass man sich vielfach auf das Einschlagen bloßer, meist recht unsicherer Furchen beschränkte. Hierbei können Elemente der Abrundung auftreten, bis zum Einstreuen der einen oder anderen unzialen oder halbunzialen Form, die zeigen, dass man nicht mehr imstande war, ein System voll durchzuhalten. Sie sind in diesem Umfeld Elemente „rustikalen" Schreibens. Das mangelnde Einhalten des Zweilinienschemas verbindet sich vielfach mit Elementen der Schreibflüssigkeit, die an kursive Schreibweisen erinnern. Zu denken wäre etwa an das L, dessen Balken immer wieder im breiten Winkel in den Unterlängenbereich hinabreicht:
um Ί G /AU Die Schrift neigt oft zu schmäleren Formen und zu einem lockeren Gesamtbild. Wenn man immer wieder liest, die spätantiken Inschriften seien „von der Actuaria" bestimmt, so etwa Kloos [P6, S. 109}, und wenn er als Actuaria eine speziell stilisierte Schrift beschreibt (S. 100, mit Abbildung S. 99), so wird man dies mit Zurückhaltung aufnehmen müssen. Das Spektrum reicht von Formen einer verwilderten „scriptura quadrata" bis hin zu schmalen Schriftbildern, diese jedoch kaum in der Art einer stilisierten „scriptura actuaria" (vgl. oben S. 35 ff.), nicht im Sinne des früher gebrauchten Begriffs der „scriptura rustica", sondern eher „rustikal". Vielleicht sollte man überhaupt nur mehr von „Kapitalis" sprechen, ohne Termini aus der Zeit der klassischen römischen Epigraphik zu strapazieren — bei Bedarf jedoch die jeweilige Schrift charakterisieren. Im Schmelztiegel der spätkaiserzeitlichen Reichskultur spielte jedoch der griechi- Griechischer sehe Einfluss eine große Rolle, der sich oft auch im Epigraphischen äußerte, wie etwa Einfluss in den Musteralphabeten altchristlicher griechischer Inschriften bei Kaufmann [A18, S. 457} (zur Bedeutung des griechischen Einflusses siehe zusammenfassend Kloos [P6, S. 105 ff., mit Angabe von wichtiger Spezialliteratur S. 12}). Dies betrifft zunächst einmal den Buchstaben A, dessen Balken unterschiedliche Positionen einnehmen kann, schräg nach beiden Richtungen, vor allem aber - und dies kommt offenkundig
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
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Abb, 16: Grabinschrift einer Zita (391) von einem Friedhof an der Via Salaria nova zu Rom. FL(AVIO) TATIANO ET qUINTO / AVR(ELIO) SVMMACO VIRIS / CL[A]RISSIMIS EGO ZITA / LOCVM QVADRIC/SOMV(M) IN B(A)SILIC(A) / ALVA EMI[...
Abb. 11: Fragment (1. H. 5. Jh.) aus der Nekropole St. Matthias zu Trier, jetzt im Rheinischen Landesmuseum zu Trier. [DVLCIS]SIMIS INFANTIB/CVS ...JTIMAE ET ANTO/ [ΝΙΟ FRATJRIBVS QVI H/[IC REQVI1ESCVNT FID/...] LVCIFER F/[...} PO/[SVIT oder SVERVNT]
aus der griechischen Epigraphik - gebrochen auftritt. Bauer [R9, S. 6] sprach sogar von einem „christlichen Buchstaben". Fest steht, dass diese Α-Form im 3· bis 4. Jahrhundert ins lateinische Alphabet eindringt und als Nebenform durch Jahrhunderte erhalten bleibt. Ein fallweiser Graezismus ist das Μ mit parallelen, streng senkrechten Außenschäften und einem Mittelteil, der nicht über die Mitte des Buchstabens herunterreicht. Auch diese Form wird sich in lateinischen Inschriften immer wieder finden, die nicht unmittelbar von der Monumentalis beeinflusst sind. Weitere Gräzismen sind Μ und Ν mit oft stark eingezogenem Mittelteil bzw. Diagonalschaft, Α mit übergreifendem rechten Diagonalschaft, Ε mit etwas kürzerem Mittelbalken und Κ mit langen Schrägbalken. Diese Elemente werden — außer dem seltenen Κ — in lateinischen Inschriften heimisch und tauchen durch die Jahrhunderte immer wieder auf:
ΑΜΑΝΕ Das fragmentarische Epitaph einer Zita (Abb. 16) ist aufgrund der Beamtennennung in das Jahr 391 zu setzen. Der regellose Text bietet eingestreutes unziales Ε und M, letzteres neben dem gespreizten M, halbunziales Q in das Zweilinienschema gehoben, sowie G mit abstehender, nach unten führender Cauda. Unterschiedlichst begegnet der Buchstabe A: ohne Balken, mit horizontalem, schrägem und gebrochenem Balken. Die Bögen des Β berühren einander nicht. Markant ist der nach
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Antike Voraussetzungen und die frühchristliche
Zeit, die Runen und die Ogham-Scbrift
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HIC BENE QVIESCET IN PACE / AMELIVS QVI VIXIT
Abb. 19: Grabinschrift aus der Nekropole St. Matthias zu Trier (2. H. 4- Jh.), jetzt im Rheinischen Landesmuseum zu Trier.
AN/NOS XXXIIII ET MENSIS III / DIES XV RVFA FILIO /
HIC QVIESCIT IN PACE / MARTINA
CARISSIMO TITVLVM POSVIT
DVLCISSIMA / PVELLA QVE VIXIT
Abb. 18: Grabinschrift aus der Nekropole St. Matthias zu Trier (5. Jh.), jetzt im Rheinischen Landesmuseum zu Trier.
AN(NOS) / XVI ET MENSEM) I PATRIS TITV/LVM POSVERVNT
unten weisende Balken des L. Unregelmäßig gegabelte Sporen bei Schäften und Balken zeigen bei aller Regellosigkeit ein gewisses Bemühen des Steinmetzen. Offensichtlich lebten g u t e Traditionen in Zentren wie etwa Trier, für das Gau- Inschriften des thier Steinmetzateliers mit charakteristischen Merkmalen in Schriftstil und For- 4. und 5. Jh. mular festmachen konnte, noch im 4. und 5. Jahrhundert weiter. Zwei Beispiele, die die Verfasserin ins 5. Jahrhundert setzte, mögen dies illustrieren. Sie stammen aus der Nekropole St. Matthias und liegen jetzt im Rheinischen Landesmuseum zu Trier: Abb. 17 und 18. Beide zeigen die Proportion der alten „scriptura quadrata" mit dem Wechsel der breiten runden und der schmäleren Formen, auch R mit jener stachelförmigen Cauda, eine Inschrift (Abb. 17) ist sogar noch um Serifen bemüht. Der zweite, etwas bewegtere Text enthält geschwungene obere Balken bei T, in die Unterlänge reichendes L und schräge Α-Balken. Beide Inschriften weisen Nexus litterarum auf. Dies g i l t auch für die Tafel eines mit 16 Jahren verstorbenen Mädchens, die in die zweite Hälfte des 4. oder in das beginnende 5. Jahrhundert gehört (Abb. 19). Maßgeblich ist hier ein schmales und gestrecktes Schriftbild, das nichtsdestoweniger ein sorgfältiges Arbeiten verrät. Beachtenswert sind u. a. jenes aus dem Griechischen kommende Α m i t gebrochenem Balken sowie Μ mit parallelen Hasten und kleinem Mittelteil. Es g i l t für Trier wie auch für die frühchristlichen Inschriften insgesamt, dass Inschriften es mit fortschreitendem 6. Jahrhundert zu einem weiteren deutlichen Abstieg des 6. und 7. Jh. in der graphischen Form und auch in der Sprache kam. Inschriften des späteren 6. und vor allem des 7. Jahrhunderts weisen im Allgemeinen einen Tiefstand an Qualität, aber auch an Quantität auf, was die Zahl ihres Vorkommens betrifft. Zwei Trierer Inschriften des 6. bzw. 7. Jahrhunderts mögen dies verdeutlichen
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Abb. 20: Fragment (6. Jh.) aus der Nekropole St. Arnold zu Metz, jetzt im Museum zu Metz. —]CIT IN / [PACE ...]ARALAI[.]VS / [—] QVI VIXIT ANNVS / [PLVS MJINVS LX CVI CARA / [—] ET FILI TITVLVM / [POSV]ERVNT
Abb. 21: Grabinschrift aus der Nekropole St. Matthias zu Trier (7. Jh.), jetzt im Rheinischen Landesmuseum zu Trier. NIC (!) QUIESfChristogramm mit Alpha undOmega)C\T IN PAC/E ABBO QUI UIXSIT AN/NOS XXXIII FRATER PROP/TER CARITATE TE/TULU FECIT / (Christogramm mit Alpha und Omega)
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Antike Voraussetzungen und die frühchristliche Zeit, die Runen und die Ogham-Schrift
(Abb. 20 und 21). Die regellos und zum Teil fehlerhaft eingehauenen Buchstaben sind unterschiedlich groß und halten keine Linie ein. Zu achten ist in beiden Texten vornehmlich auf F und L, im zweiten auch auf das runde U sowie auf A mit gebrochenem Balken.
1.3
Die Runen und die Ogham-Schrift
Die Beschäftigung mit R u n e n ist ein ausgeprägter, traditionsreicher, eigener Runen Wissenschaftszweig im Rahmen der Altgermanistik („Runenkunde") mit reicher Literatur [vgl. etwa A24—28]. Er kann keineswegs Thema dieser Ausführungen sein. Doch gibt es einige Assoziationen, die es aus der Sicht frühmittelalterlicher lateinischer Inschriften notwendig machen, wenigstens einen Blick auf diese älteste Schrift der Germanen zu werfen. „Rune" bedeutet in germanischen Quellen zunächst „Geheimnis", dem magische Kräfte innewohnen, die Verengung der Bedeutung auf Schriftzeichen erfolgte erst durch Gelehrte des 17. Jahrhunderts. Mehr als etwa 3.600 Spezimina in Schweden und 1.600 in Norwegen stehen in der sonstigen germanischen Welt geringere Zahlen gegenüber, etwa 90 angelsächsische bzw. 8 0 südgermanische (deutsche) Funde sind bekannt. Die Zeichen befinden sich überwiegend auf beweglichen Objekten (Gebrauchsgegenständen), Zeichen auf Steinplatten - im skandinavischen Bereich erst ab dem 4. Jahrhundert - machen den geringeren Teil aus. Durch die Züge der Wikinger gibt es Funde von Irland im Westen bis zum Ladoga-See und dem Dnjepr-Gebiet im Osten sowie Piräus im Süden. Die Kenntnis der Runen hielt sich in Skandinavien auch im handschriftlichen Bereich und in christlicher Zeit bis ins 15. Jahrhundert, regional bis ins 18./19- Jahrhundert.
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Eine gemeingermanische Reihe von 24 Zeichen bezeichnet man nach den ersten sechs „Buchstaben" als das ältere „Futhark". Die Frage nach der Entstehung dieses „Alphabets" - der Sage nach galt Odin als dessen Schöpfer - hat verschiedene Theorien hervorgerufen. Insgesamt wird man mit Vorsicht annehmen dürfen, dass es sich aus mediterranen Alphabeten herleitete [A25: Düwel], vielleicht des alpinen Bereichs {A2: Jensen], mit dem die Germanen frühzeitig in Berührung kamen, möglicherweise unter Einwirkung vorrunischer Sinnzeichen [A28: Simek], Das „Runenalphabet" dürfte etwa im 1. Jahrhundert n. Chr. entstanden sein, wobei die ältesten Funde aus der Mitte des 2. Jahrhunderts stammen. Jenem älteren Futhark,
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
das man für die Zeit vom 2. Jahrhundert bis etwa 750 ansetzt, gehören die west- und südgermanischen Funde an, während die in Skandinavien und auf den nordatlantischen Inseln meist in die Zeit der Wikinger und danach zu setzen sind. Während auf der britischen Hauptinsel auch Grabsteine und Steinkreuze — etwa das berühmte Ruthwell-Cross [S17: Cassidy] — mit Runeninschriften versehen wurden, sind die deutschen Zeugnisse bewegliche (Klein-)Objekte, die sich in der Zeit der Christianisierung verlieren. Die Zeit etwa nach 750 ordnet man dem so genannten jüngeren Futhark zu, das regional unterschiedlich ausgeprägt war. Die Runenschrift meidet die Rundungen und wird vom Eckigen bzw. (eingeritzten) parallelen Hasten bestimmt, wie etwa bei dem berühmten Stein von Stentoften (Schweden) aus der Mitte des 7. Jahrhunderts (Abb. 22). Das den Runen innewohnende Formgefühl blieb wohl nicht ohne Einfluss auf germanische Inschriften der ausgehenden Völkerwanderungszeit — im lateinischen Alphabet (siehe unten S. 57). Es ist das Streben nach dem Vertikalen und Eckigen, das nicht Abb. 22: Stein von Stentoften (7. Jh.) in zuletzt in den charakteristischen Schaftverlängerungen der Vorhalle der Kirche von Solvesberg. etwa in den Inschriften der Merowingerzeit nachklingt. Dieser gängigen Meinung auf epigraphischer Seite steht die Runenkunde allerdings mit Zurückhaltung gegenüber {A24: Düwel], Die eine oder andere Runenform selbst — wenn auch zum Teil mit anderem Lautwert — findet sich etwa in fränkischen Inschriften dieser Periode wieder. Geringeres Können von „Meistern" dieser Zeit, rüdes Arbeiten, schon manches verunglückte Element in frühchristlichen Inschriften mit der Neigung zu eckigen Gebilden könnte sich mit „runischem" Formgefühl verbunden und die charakteristischen epigraphischen Schriftschöpfungen des 6. und 7. Jahrhunderts - vornehmlich im rheinfränkischen Bereich - beeinflusst haben (siehe unten S. 57 ff.). Ogham-Schrift Ein Spezifikum der Britischen Inseln ist die auf nahezu 400 Grabdenkmälern — meist Memorialinschriften im Genitiv („Stein des/der ...") - der bodenständigen keltischen Bevölkerung erhaltene so genannte O g h a m - S c h r i f t {vgl. etwa A29—31]. Sie unterscheidet sich grundsächlich sowohl vom lateinischen Alphabet, das aus der Zeit der römischen Kolonie Britannien oder von christlichen Missionaren her bekannt war, als auch vom germanischen Futhark der eingewanderten Angeln, Sachsen und Jüten. Die erhaltenen Ogham-Inschriften werden in die Zeit vom 4. bis ins 6. Jahrhundert gesetzt.
B L F S N
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m g n g z r
Vorblick" Das Ogham-Alphabet besteht aus Gruppen von ein bis fünf Strichen, die neben oder über einer Achse (meist der Kante eines behauenen Steines) eingeritzt wurden und Konsonanten bezeichnen, während die Vokale durch Einkerbungen an der Achse bzw. Kante selbst gegeben sind. Diese ältesten Sprachdenkmäler des Altirischen sind häufig in irisch-lateinischen Bilinguen erhalten (Abb. 23). Sie sind überwiegend aus Irland (Munster) bekannt, aber auch aus den keltischen Rückzugsgebieten in Wales, Devon und Cornwall, ansonsten nur vereinzelt, allerdings bis Schottland. Etwa ein Drittel befindet sich im Umfeld von kirchlich-monastischen Zentren [ A 3 1 : NfChathäin],
2.
„Vorblick"
Zur leichteren — wenn auch nur groben - Orientierung über das epigraphische Geschehen in Mittelalter und Neuzeit seien zwei Graphiken an die Spitze gestellt, die Abb. 23: Gedenkstein von Fardel (5.16. die Abläufe der einzelnen Schriftstränge bildlich ver- Jh.)., jetzt im British Museum zu London. deutlichen sollen. Die Erste zeigt die Situation nördlich der Alpen, vornehmlich in Mitteleuropa. Es versteht sich von selbst, dass man mehr oder weniger stark modifizierte Skizzen für die verschiedenen europäischen Regionen erstellen könnte. Wenn hier in einer zweiten Graphik der stadtrömische Bereich gegenübergestellt wird, so deshalb, weil er einerseits vergleichsweise g u t dokumentiert ist und sich andererseits vom mitteleuropäischen R a u m grundlegend unterscheidet. N ö r d l i c h der A l p e n fallen zunächst zwei markante Einschnitte auf, die Schriftstränge die Erneuerungsprozesse der Karolingischen Renaissance und des Humanismus nördlich der markieren. Beide Einschnitte bringen den bewussten Rückgriff auf die Inschrif- Alpen tenkultur der Antike, die Wiederaufnahme der alten Kapitalis und hierbei — je nach Vermögen - der „scriptura monumentalis" als der ausgeprägtesten und höchsten Form. U m 8 0 0 löste sie das durch unterschiedliches Niveau geprägte frühchristliche Inschriftenwesen endgültig ab, in dessen kapitales Grundalphabet nicht selten auch unziale und kursive Formen eingebunden waren. Vor allem aber hatten sich „verwildert" anmutende „fränkisch-merowingische" Elemente ab dem späteren 6. Jahrhundert verstärkt der Inschriften bemächtigt, übrigens Merkmale, die sich auch in anderen Bereichen der von Germanenstämmen überlagerten Zonen des zusammengebrochenen einstigen römischen Reiches finden, etwa bei den Westgoten oder den Langobarden. Die K a p i t a l i s der Karolingerzeit, die in Mitteleuropa bis in die Zeit der Ottonen — freilich im Allgemeinen an N i veau verlierend - fortlebt, ist Ansatzpunkt einer neuen Entwicklung, die über die Epoche der R o m a n i k zur G o t i s c h e n M a j u s k e l führt, einem vornehmlich von der R u n d u n g geprägten kapital-unzialen Mischalphabet. Diese setzt diesseits der Alpen — nach West-Ost-Gefälle — zwischen dem auslaufenden 12. und
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Vorblick" Das Ogham-Alphabet besteht aus Gruppen von ein bis fünf Strichen, die neben oder über einer Achse (meist der Kante eines behauenen Steines) eingeritzt wurden und Konsonanten bezeichnen, während die Vokale durch Einkerbungen an der Achse bzw. Kante selbst gegeben sind. Diese ältesten Sprachdenkmäler des Altirischen sind häufig in irisch-lateinischen Bilinguen erhalten (Abb. 23). Sie sind überwiegend aus Irland (Munster) bekannt, aber auch aus den keltischen Rückzugsgebieten in Wales, Devon und Cornwall, ansonsten nur vereinzelt, allerdings bis Schottland. Etwa ein Drittel befindet sich im Umfeld von kirchlich-monastischen Zentren [ A 3 1 : NfChathäin],
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„Vorblick"
Zur leichteren — wenn auch nur groben - Orientierung über das epigraphische Geschehen in Mittelalter und Neuzeit seien zwei Graphiken an die Spitze gestellt, die Abb. 23: Gedenkstein von Fardel (5.16. die Abläufe der einzelnen Schriftstränge bildlich ver- Jh.)., jetzt im British Museum zu London. deutlichen sollen. Die Erste zeigt die Situation nördlich der Alpen, vornehmlich in Mitteleuropa. Es versteht sich von selbst, dass man mehr oder weniger stark modifizierte Skizzen für die verschiedenen europäischen Regionen erstellen könnte. Wenn hier in einer zweiten Graphik der stadtrömische Bereich gegenübergestellt wird, so deshalb, weil er einerseits vergleichsweise g u t dokumentiert ist und sich andererseits vom mitteleuropäischen R a u m grundlegend unterscheidet. N ö r d l i c h der A l p e n fallen zunächst zwei markante Einschnitte auf, die Schriftstränge die Erneuerungsprozesse der Karolingischen Renaissance und des Humanismus nördlich der markieren. Beide Einschnitte bringen den bewussten Rückgriff auf die Inschrif- Alpen tenkultur der Antike, die Wiederaufnahme der alten Kapitalis und hierbei — je nach Vermögen - der „scriptura monumentalis" als der ausgeprägtesten und höchsten Form. U m 8 0 0 löste sie das durch unterschiedliches Niveau geprägte frühchristliche Inschriftenwesen endgültig ab, in dessen kapitales Grundalphabet nicht selten auch unziale und kursive Formen eingebunden waren. Vor allem aber hatten sich „verwildert" anmutende „fränkisch-merowingische" Elemente ab dem späteren 6. Jahrhundert verstärkt der Inschriften bemächtigt, übrigens Merkmale, die sich auch in anderen Bereichen der von Germanenstämmen überlagerten Zonen des zusammengebrochenen einstigen römischen Reiches finden, etwa bei den Westgoten oder den Langobarden. Die K a p i t a l i s der Karolingerzeit, die in Mitteleuropa bis in die Zeit der Ottonen — freilich im Allgemeinen an N i veau verlierend - fortlebt, ist Ansatzpunkt einer neuen Entwicklung, die über die Epoche der R o m a n i k zur G o t i s c h e n M a j u s k e l führt, einem vornehmlich von der R u n d u n g geprägten kapital-unzialen Mischalphabet. Diese setzt diesseits der Alpen — nach West-Ost-Gefälle — zwischen dem auslaufenden 12. und
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Die epigraphische Schriftentwicklung in Mitteleuropa
SPÄTANTIKE FRÜHCHRISTENTUM germanische Einflüsse
VÖLKERWANDERUNG
lokale Reinigungsversuche KAROLINGISCHE RENAISSANCE Kapitalis der karolingischen Zeit
I I
Romanische Majuskel
lokale/regionale Versuche (12./13. Jh.)
Gotische Majuskel Gotische Minuskel
1400 ι
ι individuelle Versuche Frühhumanistische Kapitalis
Fraktur GoticoAntiqua
RenaissanceKapitalis
HUMANISMUS (um 1500) Humanistische Minuskel
1600
dem vorgerückten 13. Jahrhundert ein und lebt als epigraphische Schrift unangefochten ziemlich exakt bis um 1400. Das 15. Jahrhundert wird durch die im 14. Jahrhundert regional unterschiedlich früh aus dem Buchschriftbereich („Textura") in die Inschriften eingedrungene G o t i s c h e M i n u s k e l bestimmt, die — freilich an Bedeutung abnehmend — vielerorts noch bis ans Ende des 16. Jahrhunderts in einzelnen Werkstätten erhalten bleibt, gelegentlich sogar etwas über 52
„Vorblick"
die Jahrhundertgrenze hinaus. Als Schriften „zwischen" Mittelalter und Neuzeit, meist kurzlebige Schriftversuche, finden sich durch einige Jahrzehnte vielfach sehr eigenwillige frühhumanistische Schreibweisen, im Majuskelbereich in erster Linie die F r ü h h u m a n i s t i s c h e K a p i t a l i s , unter den Minuskelinschriften - jedoch im Wesentlichen auf die alte Passauer Diözese beschränkt - die G o t i c o - A n t i q u a . Die im Zuge der humanistischen Gesinnung um oder nach 1500 auch nördlich der Alpen aufgegriffene K a p i t a l i s - zunächst in der Gestalt der Renaissance-Kapitalis, hernach in mancherlei charakteristischer Modifikation — wird sich zunehmend gegenüber den anderen Schriften durchsetzen und bis zum heutigen Tag ihren führenden Rang behaupten. Freilich trat ihr im deutschen Raum etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts — und bis ins 19· Jahrhundert in reicher Verwendung — für deutschsprachige Texte mit der F r a k t u r ein auf spätmittelalterlichen Bastardschriften beruhender Schriftzweig zur Seite. Den epigraphischen Pluralismus der Neuzeit ergänzt schließlich die h u m a n i s t i s c h e M i n u s k e l , die — vom Buchbereich in Italien ausgehend - vereinzelt ab der Mitte des 16. Jahrhunderts vorkommt, sich jedoch erst ab dem vorgerückten 17. Jahrhundert — allerdings bis zum heutigen Tag — häufiger findet (Minuskelantiqua). Kapitalis und Minuskelantiqua sind gelegentlich auch in der „liegenden" Form — also kursiv (im modernen Sinn) — gegeben. Wesentlich einfacher präsentiert sich die Schriftentwicklung im stadtrömischen Schriftstrang in Inschriftenwesen. Minuskelschriften, wie die Gotische Minuskel oder auch die Ro- der Stadt Rom tunda, die sich vereinzelt zumindest in der oberitalienischen Epigraphik findet, sind im mittelalterlichen Rom nie heimisch geworden. Erst in der Neuzeit gesellt sich die M i n u s k e l a n t i q u a neben die dominierende K a p i t a l i s . Seit der Antike herrschte ungebrochen das kapitale Schreiben, wenn auch in unterschiedlicher Qualität, zuweilen mit stärkeren Rückgriffen auf die antike Ausprägung. Unziale Einsprengsel sind nur vereinzelt zu beobachten. Ab dem Ende des 12. Jahrhunderts zeigen manche Inschriften Gotisierungstendenzen, auch mancherlei Probieren, das in Rom und in Mittelitalien im Laufe des 13- Jahrhunderts eigenwillige vorgotische - oder wenn man will - frühgotische Inskriptionen hervorbringt. Nach ihrem Auslaufen kommt es um 1300 erst zu einem, vorerst freilich „gezähmten", Kanon der G o t i s c h e n M a j u s k e l . Diese lebt bis tief ins 15. Jahrhundert hinein, wo sie dann einen allmählichen Entgotisierungsprozess durchmacht. Im Vergleich zu Mitteleuropa fehlen in Rom die deutlichen Einschnitte und Umbrüche. Ende der zwanziger Jahre des 15. Jahrhunderts finden sich — parallel zur noch verwendeten, allerdings schon auslaufenden Gotischen Majuskel — die ersten Belege der K a p i t a l i s , die in der Ausführung - kaum in der Grundgestalt der Einzelformen - noch manches Gotische an sich haben. Es wird einige Jahrzehnte des Ringens um die Form erfordern, bis nach der Jahrhundertmitte die klassische M o n u m e n t a l i s Fuß zu fassen vermag [R92 und R97: Koch}. Abendländisch-westliches Schreiben bedeutet lateinisches Alphabet. Daher ge- Nähe und hört die Frage von Nähe und Distanz zu den Inschriften der Antike, die man Distanz zu den in weiten Teilen Europas sehen konnte, zweifellos zu den wesentlichen Fragen Inschriften der auch der mittelalterlichen und neuzeitlichen Epigraphik, wobei aus dem anti- Antike ken Erbe vornehmlich die einstige „scriptura monumentalis" als höchste Form inschriftlicher Ausprägung und somit als besonderes Ziel des Interesses maßgeb53
Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Die epigraphische Schriftentwicklung in der Stadt Rom
SPÄTANTIKE FRÜHCHRISTENTUM
FRÜHMITTELALTER
HOCHMITTELALTER
12. J a h r h u n d e r t
Zeit des Probierens Gotisierung unterschiedlich intensiv
I I I I I I I i
13. J a h r h u n d e r t
Gotische Majuskel
1300
1400 ί 1430
Kapitalis l i Renaissance-Kapitalis
1450/60
lieh ist. Größte Nähe zur inschriftlichen Kultur der Antike ist zweifelsohne in jenen Phasen gegeben, in denen man aus „ideologischen" Gründen zum antiken Vorbild griff, wobei zweitrangig ist, wie gekonnt das geschah. Die beiden wichtigsten Perioden — Karolingische Renaissance und Humanismus — waren nicht die einzigen. So griff man etwa in Rom um 1000 für einige Zeit bewusst die alte Tradition wieder auf. Auch nach der Renaissance gab es in Mitteleuropa immer
Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
wieder Rückgriffe auf die Monumentalis. Die größte Entfernung von der antiken Schrift (abgesehen von jenen Phasen, wo man die Kapitalis oder die Majuskelschrift überhaupt aufgegeben hatte und aus dem Buchbereich stammende Minuskelschriften der Epigraphik dienstbar machte) zeigte im Spätmittelalter die von Flächigkeit und Rundungen geprägte Gotische Majuskel, die für gut eineinhalb bis zwei Jahrhunderte praktisch das ganze lateinische Europa beherrschte. U m Missverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich betont, dass es verfehlt wäre, nur in Inschriften mit antikem Vorbild Inskriptionen höchsten Niveaus zu sehen. Professionalität der Ausführung und Ästhetik sind wohl in fast allen Phasen epigraphischen Arbeitens möglich gewesen. Selbst im vorkarolingischen Bereich haben Stilisierungen — zu denken ist etwa an den langobardischen Hofstil — zu Ergebnissen von erster Qualität geführt. Dass dies nicht weniger für die mit dem Buchbereich eng verbundenen insularen Inschriften gilt, sei an dieser Stelle nur kurz vermerkt.
3.
Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
3.1
Die kontinentalen Inschriften des 6.-8. Jahrhunderts
Der Einzug germanischer Völkerschaften in Gebiete des Weströmischen Reiches, ihr Festsetzen und die vorübergehende oder dauerhafte Etablierung von Staatswesen weist im Epigraphischen manch parallele Erscheinung auf, ob es sich um das Frankenreich auf dem Boden Galliens, die Westgoten auf der iberischen Halbinsel oder die Langobarden in Italien handelt. Die neuen Völker stoßen auf ein lateinisches Inschriftenwesen, das in der langen und festen Tradition der spätantiken und frühchristlichen Inskriptionen steht. Es dauerte beträchtliche Zeit, bis sie innerhalb dieser epigraphischen, von der bodenständigen romanischen oder romanisierten Bevölkerung getragenen Schriftkultur eigene Elemente graphischer Ausdrucksformen zur Geltung bringen konnten. Der Höhepunkt sollte — zumindest im west- und südwesteuropäischen Raum — im 7. Jahrhundert liegen, in einer vergleichsweise inschriftenarmen Zeit, in der die traditionelle frühchristliche Epigraphik - wohl weniger stark in Italien - weitgehend zum Erliegen gekommen war oder zumindest stark zurückgedrängt wurde.
3.1.1 Die Inschriften im Frankenreich Im 5. Jahrhundert begannen die Franken mit unterschiedlicher Dichte, das ro- Historisches manisierte keltische Gallien zu überlagern, wobei einer größeren fränkischen Be- Umfeld völkerungsdichte im Norden eine lose Oberschicht in der Mitte und eine nur geringe Bevölkerungszahl im Süden gegenüberstand, der eine Sonderstellung mit größerer antiker Tradition zu behaupten vermochte. Der schließlich einsetzende Verschmelzungsprozess von germanischer und romanischer Oberschicht sowie die katholische Taufe König Chlodwigs (496) führten zu einem dauerhaften Staatswesen, das mit seinen Siegen über die Westgoten, Alemannen und Burgunder nicht
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
wieder Rückgriffe auf die Monumentalis. Die größte Entfernung von der antiken Schrift (abgesehen von jenen Phasen, wo man die Kapitalis oder die Majuskelschrift überhaupt aufgegeben hatte und aus dem Buchbereich stammende Minuskelschriften der Epigraphik dienstbar machte) zeigte im Spätmittelalter die von Flächigkeit und Rundungen geprägte Gotische Majuskel, die für gut eineinhalb bis zwei Jahrhunderte praktisch das ganze lateinische Europa beherrschte. U m Missverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich betont, dass es verfehlt wäre, nur in Inschriften mit antikem Vorbild Inskriptionen höchsten Niveaus zu sehen. Professionalität der Ausführung und Ästhetik sind wohl in fast allen Phasen epigraphischen Arbeitens möglich gewesen. Selbst im vorkarolingischen Bereich haben Stilisierungen — zu denken ist etwa an den langobardischen Hofstil — zu Ergebnissen von erster Qualität geführt. Dass dies nicht weniger für die mit dem Buchbereich eng verbundenen insularen Inschriften gilt, sei an dieser Stelle nur kurz vermerkt.
3.
Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
3.1
Die kontinentalen Inschriften des 6.-8. Jahrhunderts
Der Einzug germanischer Völkerschaften in Gebiete des Weströmischen Reiches, ihr Festsetzen und die vorübergehende oder dauerhafte Etablierung von Staatswesen weist im Epigraphischen manch parallele Erscheinung auf, ob es sich um das Frankenreich auf dem Boden Galliens, die Westgoten auf der iberischen Halbinsel oder die Langobarden in Italien handelt. Die neuen Völker stoßen auf ein lateinisches Inschriftenwesen, das in der langen und festen Tradition der spätantiken und frühchristlichen Inskriptionen steht. Es dauerte beträchtliche Zeit, bis sie innerhalb dieser epigraphischen, von der bodenständigen romanischen oder romanisierten Bevölkerung getragenen Schriftkultur eigene Elemente graphischer Ausdrucksformen zur Geltung bringen konnten. Der Höhepunkt sollte — zumindest im west- und südwesteuropäischen Raum — im 7. Jahrhundert liegen, in einer vergleichsweise inschriftenarmen Zeit, in der die traditionelle frühchristliche Epigraphik - wohl weniger stark in Italien - weitgehend zum Erliegen gekommen war oder zumindest stark zurückgedrängt wurde.
3.1.1 Die Inschriften im Frankenreich Im 5. Jahrhundert begannen die Franken mit unterschiedlicher Dichte, das ro- Historisches manisierte keltische Gallien zu überlagern, wobei einer größeren fränkischen Be- Umfeld völkerungsdichte im Norden eine lose Oberschicht in der Mitte und eine nur geringe Bevölkerungszahl im Süden gegenüberstand, der eine Sonderstellung mit größerer antiker Tradition zu behaupten vermochte. Der schließlich einsetzende Verschmelzungsprozess von germanischer und romanischer Oberschicht sowie die katholische Taufe König Chlodwigs (496) führten zu einem dauerhaften Staatswesen, das mit seinen Siegen über die Westgoten, Alemannen und Burgunder nicht
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
nur ganz Gallien unter seine Herrschaft brachte, sondern auch Nachbarzonen zu integrieren vermochte, wobei der politische Sieg des Frankentums um den Preis der allmählichen kulturellen und ethnischen Assimilierung erfolgte. Dieses für die weitere europäische Geschichte elementare Geschehen ist der Hintergrund, vor dem man die Inschriften graphisch, sprachlich, künstlerisch und inhaltlich in dem Zusammentreffen der beiden verschiedenen Volksgruppen sehen sollte. Epigraphische Wenn man von „fränkischen" oder „merowingischen" Inschriften spricht, so Gegebenheiten denkt man an ein charakteristisches Schriftbild, das sich im Laufe des 6. Jahrim Frankenreich hunderts — vor allem gegen sein Ende zu - verdichtete, im 7. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte und zu Beginn der Karolingerzeit auslief. Einleitend sind einige grundsätzliche Feststellungen erforderlich. Wir befinden uns weiterhin im Bereich des frühchristlichen Inschriftenwesens, besonders, was die Textierung des Grabformulars betrifft, die bei aller Berücksichtigung der zeitlichen und regionalen Modifikationen in den Grundzügen auch Basis der fränkischen Inschriften ist und in ihnen wiederkehrt. Das spätantik-frühchristliche Inschriftenwesen der romanischen Bevölkerung im engeren Sinn mit langer Tradition reißt nicht ab, sondern lebt - freilich an Dichte stark abnehmend - weiter. Je nach regionalem kulturellen Niveau, Anspruch des Auftraggebers, sozialem Umfeld, Leistungsfähigkeit der Werkstätten und Können der Steinmetzen begegnet es von besseren Leistungen bis hin zu einem qualitativ bescheidenen Aussehen, wobei das Niveau mit zunehmender Entfernung von der Spätantike generell absinkt (vgl. oben S. 45 f.). Mit diesem bodenständigen Inschriftenwesen sind die Franken konfrontiert und bringen ihrerseits charakteristische Merkmale ein. Es sind bestimmte Elemente, die Gesamteindruck wie Einzelformen prägen. Es reicht nicht, in diesen Denkmälern, wie es häufig geschieht, bloß einen Tiefstand der Schriftkultur zu sehen. Es ist ein bestimmter Formwille - bei aller oft rüden Ausführung - , der diese Denkmäler prägt. Hat man die Inschriften des Merowingerreiches insgesamt vor Augen, so werden die unterschiedlichen Gegebenheiten klar. Leider müssen wir, um diesen Überblick zu gewinnen, immer noch weitgehend auf die alte Edition der frühchristlichen Inschriften Galliens von Le Blant {A20— 21} - und die paläographische Auswertung durch ihn [R110] - zurückgreifen, da von der modernen — übrigens ausgezeichneten — Neubearbeitung seines Werkes erst drei der geplanten 19 Bände vorliegen [El, E8, Ε15]. Sie gewähren - bis zum Einsetzen der Karolingischen Renaissance - eine bessere Einsicht und die Kenntnis manch regionaler Unterschiede: Bd. 1 („Premiere Belgique") mit den Zentren Trier und Metz, Bd. 8 („Premiere Aquitaine"), das südliche Zentralfrankreich mit den Zentren Bourges, Limoges, Clermont-Ferrand, Cahors und Le Puy, und Bd. 15 („Viennoise du Nord"), Burgund südlich des Genfer Sees mit den Zentren Vienne, Valence, Grenoble und Genf. Die chronologische Einordnung der Inschriften ist vielfach nicht einfach, da sie zu einem beträchtlichen Teil nur mehr fragmentarisch erhalten sind oder überhaupt kein Datum aufweisen; freilich ist dies regional sehr unterschiedlich. Sind die Inschriften der „Belgica prima" nahezu zur Gänze undatiert, weisen die im Burgundischen zahlreiche Zeitangaben auf. Die älteren geben neben der Indiktion Konsulate und Postkonsulate an, die jüngeren nennen die Regierungsjahre der Merowingerkönige. Im Aquitanischen
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Von der Wölkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
finden sich für ältere Beispiele auch Herrscherjahre der westgotischen Könige, die damals noch den Süden Galliens innehatten („Tolosanisches Reich"). War das Schriftbild für den antiken Menschen ein nüchternes, ein intellektuel- Inschrift als Bild les Band, das Mitteilungen machte — mit durchaus verschiedenem Anspruch bis hin zum Bedürfnis nach Repräsentation —, so war im frühchristlichen Schrifttum unter Dominanz des religiösen Aspekts und unter anderen sozialen Bedingungen das Interesse an Form und Repräsentation vielfach zurückgetreten und es hatte das Symbolhafte und Bildliche zugenommen. In einer Welt, in der zumindest der germanische Bevölkerungsteil weitgehend aus Analphabeten bestand, wurde das Grabdenkmal häufig zum „Bild" — mit Rahmung des Textes und Zeilenraster. Ornamentartige Zierelemente - von der vergröberten Übernahme römischen Dekors fHHVNETlTV^y Μ Μ {vgl. A l l : Boppert S. 68 und 75] bis hin zu Motiven, die in der Kunst der Völkerwanderungszeit beheimatet qvi-igpiTBEHiMEMo sind — nehmen oft einen beträchtlichen Teil der Steine EysBAMClsflys ein. Buchstaben waren für viele bloß mystisch-magische Zeichen, die erst durch einen Kundigen zum Tönen geWS^ITEMviViÄlT bracht werden konnten. Aus dem mittelrheinischen Gebiet, eher einer Randzone des Merowingerreiches also, liegt unter den frühchristlichen Denkmälern eine größere Zahl fränkischer Inschriften auf verhältnismäßig engem Raum vor. Nicht zuletzt sie waren es, die aufgrund ihrer recht rüden Ausführung in Anordnung und der differierenden Größe der Buchstaben, in der Regellosigkeit der Zeilenführung - Bauer fasste sie unter dem Begriff „rheinfrän- Abb. 24: Grabinschrift des Badegisel (7. Jh.) kischer Stil" zusammen [R9] - viel zum negativen Ruf aus St. Alban in Mainz, jetzt im Rheinischen der merowingischen Inschriften als Tiefstand der epigra- Landesmuseum zu Mainz. phischen Schriftkultur in Schrift und Sprache beitrugen. + IN HVNC TITVLVM RE/QVIISCIT BENE Ein repräsentatives Beispiel hierfür ist der Stein eines MEMO/RIVS BADEGISELVS / PRESBITER Badegisel, der 1907 bei der Albanskirche in Mainz ge- qVI VIXIT / IN PACI ANNVS / XXXXX funden worden ist und sich jetzt im Mittelrheinischen FELICITER Landesmuseum zu Mainz befindet (Abb. 24). Die Tendenz, das Schwergewicht der Schrift bei der Haste zu sehen, die Tendenz Schriftmerkmale zum Eckigen, die Vorliebe, manch runde Grundform „eckig" aufzulösen und zu gestalten, sind Merkmale, die generell Schriften in frühen, noch „rohen" Phasen des Schreibens — bei noch mangelnder Professionalität — vielfach zu eigen sind und sich bis in die Frühzeit der Inschriften - bis hin zum Lapis niger - zurückverfolgen lassen. Im gegebenen Fall der fränkischen Inschriften wird man jedoch nicht fehlgehen, zusätzlich an den Einfluss der Runen zu denken. Nicht nur, dass vereinzelt die eine oder andere Runenform in den Text eindrang, so etwa Runen-T in Form einer Pfeilspitze im Stein eines Bertisindis und eines Randoald, ebenfalls in Mainz [Al 1: Boppert S. 27} - nicht nur, dass die eine oder andere runenähnliche Form, wenn auch mit anderem Lautwert, Eingang fand, es ist vielmehr in erster Linie das allgemeine, vom Bild der Runen beeinflusste Formgefühl, dem diese Inschriften doch wohl verpflichtet sind. In diesem Rahmen ist zu allererst auf 57
Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Abb, 25: Grabinschrift des Amatus in Crussol (Ardkhe). + HIC IN PACEM / REQVIESCET / BONE MEMO/ RIAE AMAT(V)S / QVI VICXET IN P/ACE PLVS MEN(V)S / ANN(0)S V ET TRAN/SIET DIAE ET TR/ANSIET DIAE ET T/EMPORE SVPRA/ S(CRI)PTO
Abb. 26: Grabinschrift aus Notre-Dame-du-Port (611) in Clermont-Ferrand, jetzt im Musee Bargain zu Clermont-Ferrand. + HIC REQVIESCIT / BONE MEMORIE / REMESTO VIXIT / IN PACE ANNVS XLIII / TRANSIET SVB D(IE) / VI IDVS FEBRV/AR(IA)S ANNV XVI / REGNO D(0)M(IN)I THE/VDOBERTI
die charakteristischen Schaftverlängerungen zu verweisen, die sich bei Franken, Westgoten und Langobarden in gleicher Weise — wenn auch in unterschiedlicher Dichte — finden lassen. Zu erkennen sind sie zunächst und vornehmlich beim Buchstaben E, aber auch mehr oder weniger häufig bei eckigem C und eckigem G, ebenso bei B, D, Ρ und R. In eckiger Auflösung gibt es D und Ο - letzteres in Form eines auf die Spitze gestellten Quadrates oder rautenförmig, seltener als liegendes Quadrat —, zuweilen auch S als Nebenform. Α mit gebrochenem oder schräg liegendem Balken und L mit schräg liegendem, den Schaft schneidenden oder zumindest höher am Schaft ansetzendem Balken, charakteristische Formen, die zum Teil aus dem frühchristlichen Inschriftenwesen stammen, wurden als passend integriert, ebenso Ν und gerades Μ mit parallelen Außenschäften und mit eingezogenen Diagonalschäften, wobei sie sich bei Μ nun auf halber Höhe häufig kreuzen. Das eine oder andere, schon in frühchristlicher Zeit ins kapita-
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
Abb. 27: Steinfragment (7. Jh.) im Museum zu Arles. —}GVEÜiEMI10VE[—J/MDEDA FRVSTRAVI[—] / ORE ΡΙΟ REDDE CRIATVRAM CAELI TER[—] /RI CENERES TV MORTVA MEMBRA LEVAf—1/RETVM PAVPER qVO METALLVM MAT[—] / IREDE VIVA FEGVRAM EXTAM PER IVST[—] / MENORES SOLLEMNEM POPOLI SINIS{—
le Alphabet aufgenommene unziale, halbunziale oder kursive Einsprengsel lebte auch in den fränkischen Inschriften weiter:
Ε t &Μ $ Ρ I A Erste Belege für ein behutsames Eindringen jener Schaftverlängerungen in das frühchristliche Inschriftenwesen Galliens lassen sich für das frühere 6. Jahrhundert finden. Le Blant [vgl. P2: Favreau S. 6 3 ] macht als erstes Beispiel eine Inschrift in Lyon von 5 2 0 dafür geltend. Später erfassten die „germanischen" Elemente in recht unterschiedlicher Intensität und Verbreitung das frühchristliche Inschriftenwesen und bewirkten häufig dessen Umformung. In „Binnengallien", vor allem im Süden des Landes, scheinen sie sich, soweit schon eine Aussage möglich ist, jedoch im Allgemeinen mit mehr Zurückhaltung festgesetzt zu haben (vgl. Abb. 2 5 ) als etwa in der rheinischen Randlage. In viele Inschriften - selbst in solche des 7. Jahrhunderts - haben sie überhaupt keine Aufnahme gefunden, da die Tradition des frühchristlichen Inschriftenwesens dort offenbar zu fest verankert war (vgl. Abb. 26). Wo Schaftverlängerungen maßgebliches Element bei der Stilisierung von Inschriften sind, liegen diese keineswegs nur in rüdem Aussehen vor. Allerdings steht jenes - nach Gray [P5, S. 4 8 ] wohl aus dem 7. Jahrhundert stammende, aber vielleicht doch etwas jüngere - Fragment einer Grabinschrift, das sich heute im Museum zu Arles befindet, sicherlich am oberen Ende dessen, was in diesem graphischen Umfeld möglich war (Abb. 27). Das ungemein regelmäßig, in tadel-
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SchaftVerlängerungen
Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten loser L i n i e n f ü h r u n g gesetzte Schriftbild wird von den schmalen Ε-Formen m i t nahezu systematisierten Schaftverlängerungen — neben den sonst überwiegend breiten Buchstaben - optisch dominiert. Dazu k o m m e n Schaftverlängerungen bei anderen Buchstaben, häufig Nexus litterarum, G m i t flach eingehängter Cauda, mandelförmiges O , recht regelmäßig ausgeführte Sporen an den Schaftenden sowie L m i t hoch a m Schaft ansetzendem Balken. Besonderes Stilisierungsmittel, das sich auch sonst gelegentlich findet, ist das in einem kleinen Dreieck sich verdichtende Auslaufen gekreuzter Schrägschäfte — u n t e n bei V und beim Mittelteil des M.
Abb. 28: Grabinschrift eines Autbertus (784) in St. Martin zu Angers. + HIC REQVIESCIT / BONA MEMO/RIE AVTBERTVS / IN ANNVM XVI / REGNANTE CAROLO / REGE X K(A)L(EN)D(AS) IANCVARII) SI[C 0}BIIT IN / [PACJE AMEN
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KK'.T^Nl
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f K I M ^B/ b5 m&MWS- 1 I N l S T i r V F i D I J iSPt -lÄimtöiö Abb. 29: Mellebaudus-lnschrift (1. H. 8. Jh.) im Hypogee von Dunes (bei Poitiers) (Ausschnitt). + IN D(F, )I NOMINE E[G}0 / (Crux monogrammatica) HIC MEIXEBAVDIS / REVS ET SERWS IE(SV)M CHR(IST)0 / INSTITVI MIHI I(N) SPE/LVNCOLA ISTA VBI / IACITINDIGNI /...
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Echte Schaftverlängerungen — der Einzug von Diagonalschäften bei Μ und Ν ist nicht hierzu zu zählen - k o m m e n über das 8. Jahrhundert hinaus im Betrachtungsgebiet - von abseits liegenden Einzelfällen abgesehen (siehe unten S. 113) - nicht mehr vor. Die letzten im Entwicklungslauf liegenden Beispiele gehören in die frühere Zeit Karls des Großen: Denkmäler, die aus einer Nekropole des 8. Jahrhunderts unter dem Boden der Kirche St. Martin in Angers stammen. Eines davon ist ein Fragment und nennt als Datierung in anno III regnante Karolo regt (770/71), ein weiteres ist das Grab eines A u t bertus und gibt in annum. XVI regnante Carolo rege - also 784 — an (Abb. 28). Die zweite der beiden Inschriften, in bereits recht g u t e m Latein, bietet neben den schmalen, von den Schäften bestimmten Formen in reizvollem Gegensatz schon breites kreisrundes Ο und Q sowie aufgeblähte, kreisförmige, an die Schäfte „angelehnte" Bögen bei Β und R. N e b e n den stark ausgeprägten Schaftverlängerungen bei B, eckigem C, bei Ε und R ist die m i t Zeilenlinien versehene Inschrift vor allem von den stark, zuweilen schwalbenschwanzartig gegabelten Enden von Schäften und Balken, aber auch g e k r ü m m t e n Linien (X, Cauda des R und Q und Schrägbalken des K) bestimmt. Solche Gabelungen sind auch angesetzt an die Ecken des rautenförmigen O , die Spitze des Α und den nur bis zur Buchstabenmitte reichenden Mittelteil des M. Beide Inschriften besitzen Nexus litterarum und kleine eingeschriebene Formen (I bzw. rautenförmiges O). Mancherlei Parallelen weist das gemalte Inschriftenensemble im H y p o g e e von Dunes auf — am Rande eines alten gallo-romanischen Friedhofs an der Straße von Poitiers nach Bourges. Die nach der Inschrift von einem A b t Mellebaudus halb unterirdisch angelegte Grab- u n d K u l t s t ä t t e (Abb. 29) wird in der Literatur allgemein in
Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
das 7. Jahrhundert gesetzt [S21: Coquet S. 78 ff., S37: HeitzJ. Madeleine Braekman [S13, S. 625 ff., vor allem 637] betont die Bedeutung der Anlage für das Wissen um den Grabkult an der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert. Die Schrift ist neben — hier eher gemäßigten — Schaftverlängerungen bei eckigem C, bei Ε und D von breiten Ο und Q bestimmt. Es gibt eckige C- und G-Formen, rautenförmiges Ο mit Gabelungen, einheitliche Behandlung der Sporen und viele Nexus litterarum. Dieses vorkarolingische Inschriftenensemble sollte kaum allzu lange vor der auslaufenden Merowingerzeit angesetzt werden. Mag auch die eine oder andere Form aus Inschriften in Auszeichnungsschriften Inschriften im der zeitgenössischen Codices begegnen, vornehmlich solchen, die ein mehr monu- Stil von Luxeuil mentales Aussehen anstreben [vgl. etwa S20: CLA V 617 und 679], so ist zweifellos die Orientierung an besonderen Merkmalen der Zierschrift eines namentlich zu belegenden Skriptoriums des ausgehenden 7. und früheren 8. Jahrhunderts eine Rarität, die sich von den sonstigen Gegebenheiten deutlich abhebt. Es geht hierbei um die ungemein dekorative Auszeichnungsschrift des Skriptoriums von Luxeuil und zwei Westschweizer Inschriften aus dem Umfeld des Neuenburger Sees; eine von ihnen befindet sich jetzt im Museum der Stadt Yverdon (Abb. 30), die andere im Musee cantonal d'archeologie et d'histoire in Lausanne (Abb. 31). Beide Inschriften, von denen die erste ein überaus geziertes Aussehen bietet, die zweite etwas ungekünstelter gearbeitet ist, sind trotz mancherlei Unterschieden dem Stil von Luxeuil eindeutig verpflichtet [R95: Koch]. Beide Inschriften weisen gestreckte Formen - im Wechsel mit breiteren - auf. Ein gewisser Formenpluralismus bringt eine für die damalige Zeit verhältnismäßig stattliche Anzahl von eingestreuten unzialen Formen (Α, Ε, Η und U) und G mit unterschiedlich eingerollter Cauda. Zu sehen sind ausgeprägte schwalbenschwanzartige oder — so in der gröberen Inschrift - zapfenförmige Sporen. Man erkennt rautenförmiges O, auch mit eingeschriebenem Ring, kopflastiges C, unziales Ε und G, Α mit gebrochenem, den linken Schaft in einem Bogen durchschneidenden Balken, auch verkleinertes unziales A, jenes eigenwillige X, dessen Rechtsschräge sich in einem Bogen zur Mitte herabkrümmt, und anderes mehr, das in Handschriften des Stils von Luxeuil in verblüffender Parallelität wieder begegnet (Abb. 32 und 33). Bei der Herstellung der beiden Inschriften, die nicht von gleicher Hand stammen und auch nicht ein und derselben Werkstatt angehören müssen, muss die Kenntnis jenes in Burgund und darüber hinaus bis nach Oberitalien weit verbreiteten pretiösen Schreibstils vorausgesetzt werden. Es ist anzunehmen, dass ein Schriftkundiger für den jeweiligen Steinmetz eine zumindest grobe Vorzeichnung auf dem Stein vorgenommen hat. In der einfacheren Inschrift sind die Zeilen — durchaus zeittypisch — in „Bändern" angeordnet, die von stark eingefurchten Rillen begrenzt werden. Auch für die zweite Inschrift gab es eine, wenn auch bloß zarte Vorzeichnung von Linien, die allerdings nur als Hilfe für den Steinmetzen dienen sollten. Sie wurden hinterher wieder getilgt und sind nur mehr in wenigen kleinen Resten zu erkennen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Buchstaben nicht „auf' diesen Linien stehend eingehauen wurden, sondern dass die Linien das obere Ende der Buchstaben jeweils bestimmten, sodass die einzelnen Formen von der meist nur mehr imaginären Linie „herunterhängen". Das damalige Inschriftenwesen - sei es in der frühchristlichen Tradition, seien es die „fränki61
Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Abb. 30: Grabstein der Nonne Eufraxia (um 700) im Museum zu Yverdon. + IN D(E)I NOMEN FRAMBERTVS PONERE CVRA/VIT HVNC LABIDEM SUB qVO REQVIESCIT FAMO/LA D(E)I EVFRAXIA MONACHA
Abb. 31: Grabinschrift der Landoalda (um 700) im Musee cantonal d'archeologie et d'histoire zu Lausanne (und Ausschnitte: 0 und A). + SVB TITOLO HUNC / QVIISCET LANDOALDA VI[R}GO / CVIUS ANIMA REQVIEM POS/SEDEAT AETERNAM AMEN / EGO GVNDERICVS PERE/ GRINVS IN TERRA ALIENA FECIT
sehen" Inschriften — ist in den beiden Denkmälern vom Stil jenes Skriptoriums überlagert. Die größere Anzahl an voll integrierten unzialen Formen etwaigem insularen Einfluss zuzurechnen, ist wohl nur möglich, wenn man sie als Relikte in der (frühen) Auszeichnungsschrift des vom Iren Kolumban dem Jüngeren u m 590 gegründeten Klosters Luxeuil annimmt (vgl. im Codex Morgan Ms. 334, fol. l v ; siehe Revue Benedictine 63, Taf. 1). Inschriften des Ob man das „aufgespießte" Q in beiden Inschriften — ein hochgestellter kreis6. Jh. im Wallis runder Buchstabenkörper, in den eine diagonal verlaufende Cauda hineinragt - bis in Inschriften des 6. Jahrhunderts im gleichen burgundischen Bereich zurückführen kann, dessen eigenständiges Königtum 5 34 unter den Schlägen der Franken zusammengebrochen war, bleibe angesichts der vielfach zufälligen Überlieferung dahingestellt, ist jedoch zumindest bedenkenswert [vgl. R 9 5 : Koch S. 26 ff.]. Die hoch angesehene Abtei St. Maurice im Wallis, die der Burgunderkönig Sig i s m u n d 515 gegründet hatte, weist eine Reihe von epigraphischen Denkmälern auf, die vornehmlich in das 6. Jahrhundert gehören. Eine herausragende Rolle
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit Abb. 32: Ms. London, British Museum Add. 11878, fol. lv. INC(I)P(IT) LIBER XXIII / DE MORALIA BE/ATI GREGORI / PAPAE PARS / QVINTA
Abb. 33: Λίί. Paris, Bibliotheque Nationale de France ms. lat. 9427, fol. 223LEG(ENDA) DE VNO CONFESSOREM
mmm spielt hierbei die in die erste Jahrhunderthälfte zu setzende Tafel eines „Rusticus" (Abb. 34) mit einer unvollendet gebliebenen Grabinschrift in der Textierung des frühchristlichen Formulars und mit den charakteristischen Tauben im Giebelfeld. In dem fernen Alpental, das freilich nicht abgeschlossen war, sondern an der Durchzugsstraße aus Gallien nach Oberitalien lag, sieht man eine Inschrift von hoher Ästhetik und Stilisierung, wie sie große Zentren damals kaum mehr in dieser Qualität zustande brachten. Das Schriftbild ist geprägt von den breiten kreisrunden O-Formen neben schmäleren bis schmalen Formen innerhalb einer höchst disziplinierten Zeilenführung zwischen vorgeritzten Linien. Dreieckförmige Sporen — zuweilen leicht gegabelt — sind bei Schäften, Balken und auslaufenden Bögen konsequent gesetzt. Bestimmt wird das Bild durch deutlich ausgeprägte dreieckig ausgefüllte „Kreuzungen" beim Zusammenstoß diagonaler
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
•Vi«, ν. Abb. 34: Grabstein des Mönches Rusticus (6. Jh.) in der Abtei St. Maurice {Wallis). SVB HVNC TETO/LVM REQVIESCIT / BONE
Schäfte — bei Α (sowohl an der Spitze als auch beim gebrochenen Mittelbalken), beim Mittelteil des Μ und bei V. Insgesamt erinnert die hochstehende Inschrift nicht an die römische Monumentalis, Kloos [Q5: DA 33, 5 7 8 } dachte eher an östliche Vorbilder, wie sie in zahlreichen Brechungen ins spätantike und frühchristliche Inschriftenwesen Eingang gefunden haben. Mit Recht wurden diese Walliser Inschriften - in den gleichen Bereich von St. Maurice sind noch weitere, wenn auch weniger sorgfältig gearbeitete, aber wohl ebenfalls dem 6. Jahrhundert angehörende Denkmäler [ F l : CIMAH I, Nr. 11 und 1 2 ] einzuordnen - von den typisch fränkischen Inschriften abgesetzt und in Beziehung eher zum zentralburgundischen und eventuell zum oberitalienischen Raum gebracht. Freilich ist hierbei nicht zu übersehen, dass sie in eine Zeit gehören, in der die charakteristischen merowingischen Elemente sich im gallischen Inschriftenwesen noch nicht oder nur in ersten Anfängen ausgebildet haben. Lediglich ein einziges Denkmal des 6. Jahrhunderts in St. Maurice zeigt in einem Fall eine deutlich ausgeprägte Schaftverlängerung bei Ε in einem Schriftbild, das insgesamt nicht „merowingisch" anmutet [ F l : C I M A H I, Nr. 15]. In einigen weiteren, seltenen Fällen des 6 . - 8 . Jahrhunderts finden sich sehr schwach ausgebildete Schaftverlängerungen — allerdings auch hier nur bei Ε und fast nur im Rahmen von Nexus litterarum [ R 1 0 8 : Koch],
MEMORII / RVSTICVS MONA/CHVS
3.1.2 Die Inschriften auf der iberischen Halbinsel Historisches Umfeld
Nach der entscheidenden Niederlage König Alarichs II. im Jahre 507 gegen die Franken bei Vouille verloren die Westgoten, die seit Mitte des 5. Jahrhunderts in Besiedlungsschüben die von den romanisierten Iberokelten bewohnte iberische Halbinsel in Besitz genommen hatten, nahezu ihr gesamtes Territorium nördlich der Pyrenäen. Sie etablierten ihr Reich auf der Halbinsel, zu dessen politischem und religiösem Zentrum schließlich Toledo wurde (Toledanisches Reich). 575 eroberten sie das Reich der 4 0 9 eingewanderten Sueben, die in Galicien und im Norden des heutigen Portugal saßen. Vertrieben wurden die Byzantiner, die sich unter Justinian in den südlichen Küstenzonen und in der Betica festgesetzt hatten. Die arianisch-militärische Oberschicht der germanischen Westgoten und die römische Zivilbevölkerung kamen recht friedlich miteinander aus. Die Symbiose der beiden Oberschichten und das allmähliche Zusammenwachsen zur spanischen Nation wurden durch den Übertritt der Westgoten zum Katholizismus ( 5 8 9 )
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
entscheidend gefördert. Schon 711 erlag das durch innere Zwistigkeiten geschwächte westgotische Königtum der omaijadischen Expansion in der Schlacht bei Jerez de la Frontera. Die Araber eroberten fast die ganze Halbinsel bis auf den Grenzsaum zum Frankenreich und die kantabrische Hochgebirgsregion im Nordwesten. Dorthin zogen sich die Reste der westgotischen Elite zurück. Von dort aus, von Asturien mit seiner Hauptstadt Oviedo, sollte der jahrhundertelange Kampf der Reconquista seinen Ausgang nehmen. Wie in Gallien befinden wir uns auch auf der iberischen Halbinsel epigraphisch Epigraphische in der frühchristlichen Welt. Die germanische Oberschicht war noch dünner, an- Besonderheiten tike Tradition und Bildung besonders stark ausgeprägt. Eigenheiten im Formular auf der iberischen für die Zeit von 450 bis 700, soweit sie Grabinschriften betreffen, hat Vives [A23, Halbinsel Karte im Anhang] nach Großräumen gekennzeichnet. Was den Zugang zu den Inschriften — so mannigfach sie auch sein mögen, neben den Inschriften des Totengedenkens gibt es auch zahlreiche Weihe- und Gründungsinschriften - vielfach erleichtert, ist die Tatsache, dass sie nicht selten datiert sind und eine Einordnung nach Jahren ermöglichen. Die häufig recht umfangreichen Texte haben zum Teil Datierungen nach dem Kaiser in Konstantinopel samt Indiktionsangabe in jenen Gebieten, die durch Jahrzehnte unter byzantinischer Herrschaft standen. Diese Inschriften - vgl. etwa eine zehnzeilige Inschrift in Carthagena (589/90), die einem gegen die „Barbaren", die Westgoten also, vom „magister militum" in Spanien, Comenciolus, errichteten Befestigungsturm gilt [A15: Hübner Nr. 176, A12: Diehl Nr. 792, A23: Vives S. 362} - repräsentieren „römische" Epigraphik und sollen nicht weiter verfolgt werden. Daneben gibt es Datierungen nach den Sedenzzeiten von Bischöfen, gelegentlich auch allein nach der Indiktion. Von besonderer Bedeutung fiir die vorliegenden Betrachtungen sind jedoch die Datierungen nach den Herrscherjahren der westgotischen Könige, manchmal zusammen mit der Ära, oder die Angabe der Ära allein. Diese „spanische Ära" — in den Texten in der Regel als „Era" geschrieben - hat das Jahr 38 v. Chr. als Epochenjahr, d. h. 38 Jahre sind abzuziehen, wenn man das Inkarnationsjahr erhalten will. Von ihr zu unterscheiden ist die umstrittene, so genannte „Aera cons(ularis)", die sich in einigen wenigen kantabrischen Inschriften vor unserem Betrachtungszeitraum findet [S42: Knapp], Die spanische, in die christliche Welt eingebundene Ära begegnet erstmals im 4. Jahrhundert im Süden, in Merida — also schon in vorgotischer Zeit — und ist zunächst auf die Westhälfte der Halbinsel beschränkt. Diese fiir Spanien so charakteristische Datierungsart - sie ist nicht weniger exklusiv in Datumsangaben von Urkunden und Codices — verbreitet sich schließlich über das ganze Land, ja reicht sogar gelegentlich über den Nordrand der Pyrenäen in das südlichste Frankreich hinüber. Sie steht bis in das späte Mittelalter regional unterschiedlich lang — mitunter sogar bis ins 16. Jahrhundert - in Gebrauch, freilich in den letzten Jahrhunderten zusammen mit dem Inkarnationsjahr, das sich immer mehr als einzige Jahresangabe durchsetzt. Das Tagesdatum wird im Regelfall in der westgotischen Zeit nach den römischen Stichtagen - eingeleitet meist mit (sub) die, letzteres häufig mit bloßem D (mit Kürzungsstrich durchstrichen) gekürzt — angegeben. Bildliche Darstellungen, wie sie die gallischen Inschriften immer wieder auf- Symbole und weisen, allen voran die beiden Tauben, sind auf der iberischen Halbinsel eher graphische selten und erscheinen bald gar nicht mehr. Bestimmend sind das Kreuzzeichen Eigenheiten
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
LITORIVS V
Abb. 35: Grabinschrift eines Li tortus
— häufig in Verbindung mit einer verbalen Invokation — sowie Christogramm (Labarum, Chi-Rho-Zeichen) und die „crux monogrammatica", meist gerahmt von kleinem Alpha und Omega. Im spanischen Bereich — in Inschriften wie vor allem im Handschriftlichen — charakteristische, im Hochmittelalter immer wieder vorkommende Besonderheiten finden sich vereinzelt schon in dieser frühen Zeit: für XL der Nexus X mit oben angeschlossenem kleinen Winkel (L) [vgl. A15: Hübner Nr. 100, A23: Vives S. 189] und das s-förmige, aus dem Griechischen abgeleitete Episemon für die Zahl VI [vgl. A23: Vives Nr. 127 und S. 190]. Gelegentlich findet sich für 1.000 ein langer Schaft mit einem nach Art eines Τ nach links heruntergebogenen Balken [vgl. A l 5: Hübner Nr. 272], später auch als I-Schaft (vgl. unten S. 198). Charakteristisch für diesen Raum sind die so genannten hebraisierenden Kürzungen, d. h. Kontraktionskürzungen, deren Buchstaben zur Gänze oder zumindest überwiegend Konsonanten sind:
Χ τ s
Im Graphischen treten zwei Eigenheiten häufig auf: Die Zahl für 500 innerhalb der Angabe der Era wird meist mit unzialem LITORIVS FA/MVLVS DEI VI/XIT D geschrieben, selbst wenn die Inschrift sonst keine unzialen Formen aufweist. Und kapitales D - für gekürztes die, aber ANNOS PLVS / MINVS LXXV auch sonst — hat vielfach einen stark absackenden Bogen [vgl. RE/QVIVIT IN PACE DIE / Villi etwa A l 5 : Hübner Nr. 2 und 12]. Dies kann zu einer mehr KAL(ENDA)S IVLIAS /AERA oder weniger dreieckigen Gestalt des Buchstabens führen, ja DXXXXVIII (Crux monogrammatica mit bis zu einem griechischen Delta stilisiert sein [vgl. etwa A l 5: Alpha und Omega) Hübner Nr. 117 und 172]. Eine Aufarbeitung des iberischen Materials nach Regionen wäre zweifellos ein Desiderat, ist jedoch unter den gegebenen Bedingungen noch nicht möglich. (510) in S. Maria zu Talaver α de la
Reina.
Inschriften des Die zahlreichen Inschriften der frühchristlichen Tradition zeigen die an anderer 6. und 7. Jh. Stelle beschriebenen Merkmale - auf Basis der Kapitalis. Denkmäler von hoher Qualität (Abb. 35) — vor allem aus früherer Zeit — wechseln sich mit oft recht regellosen Gebilden ab, die zu reichem Nexus litterarum tendieren, der mitunter auch mehr als zwei Buchstaben einbindet. Zu ihnen gehört eine mehrzellige hexametrische, heute verschollene Grabinschrift, einst im Kloster S. Claudius in Leon von 630 (Abb. 36). Hierbei sind Buchstabenverbindungen - etwa T, das aus einem stark verkleinerten Α „herauswächst" — vorgegeben, die in den Inschriften der Zeit nach dem Zusammenbruch des Westgotenreiches — in der „scriptura visigotica", wie sie die Spanier nennen — große Verbreitung finden werden. Besonderen Formenreichtum weist eine der Weihe der Kirche von Mijangos (bei Burgos) gewidmete Inschrift auf (Abb. 37). Durch die Nennung des Königs Rekkared (586—601) ist sie chronologisch gut einzuordnen. Sie ist das älteste Zeugnis der Christianisierung dieses Gebietes. Diese Inschrift, die noch die alte
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Won der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
Abb. 36: Grabinschrift (630) aus dem Kloster S. Claudio zu Leon (verloren). + HAEC T E N E T VRNA TVM VE NERAND(VM) CORPVS VINCENTI ABB(AT)I(S) / SET TVA SACRA TEMET ΑΝΙΜΛ CAEIESTE (!) SACERDOS / REGNVM MVTASTI IN MELIVS CVM GAVDIA VITE / MARTIRIS EXEMPLA SIGNANT QVOD MEMBRA SACRATA / . . .
Abb. 37: Weiheinschrift der Kirche S. Maria zu Mijangos (587-597). ...] CONSACRATVS EST / [LO]CVS S(ANK:(T)E MARIAE / [P]ONTIFICE ASTERIO / SVB D(IE) PR(IDIE) N(0)N(A)S M(A)IAS / XVI GL(ORIOSISSIMI) DOM(INI) N(0)S(TR)I RECCA(REDI)
antike „hedera epigraphica" - ein Efeublatt als Trennzeichen oder als Schlusszeichen am Zeilenende - kennt, wirkt aufgrund der unterschiedlichen Buchstabengrößen und in der mangelhaften Einhaltung der Zeilen recht rüde, ist aufgrund der Formenvielfalt jedoch nicht ohne Reiz. Ungewöhnlich reich ist der Anteil an unzialen Formen, sodass man geradezu von einem kapital-unzialen Mischalphabet sprechen kann. Es sind dies — bei fehlendem kapitalen A — unziales Α in einigen Varianten und Größen, überwiegend mit extrem spitzem „Bogen", D, E, eingerolltes G und sehr breites, beiderseits offenes M. Der Schrägschaft des Ν ist stark eingezogen, die Buchstaben weisen unterschiedlich geformte Sporen auf, der Bogen des Ρ ist offen, die beiden sehr runden Bögen des Β berühren sich nicht, der Bogen des R ist recht klein und seine mächtige Cauda sehr steif, die Diagonal-
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Abb. 38: Grabinschrift des Diakons Reccisvinthus (643) aus Montoro ( Cordoba).
Abb. 39: Weiheinschrift (587) aus dem Kreuzgang der Kathedrale zu Toledo.
+ RECCISVINTHVS / DIACV
S(AN)CTE MARIE / IN CATOLICO DIE PRIDIE /
NVS EA/MVLVS (!) CHR(IST)I /
IDVS APRILIS ANNO FELI/CITER PRIMO REGNI
VIXIT ANNO(S) / PLVS MINV(S)
D(OMI)NI / NOSTRI GLORIOSISSIMI FL(AVII) /
/ NVMERO X X V / RECESSIT IN
RECCAREDI REGIS ERA / DCXXV
+ IN NOMINE D(OMI)NI CONSECRA/TA ECLESIA
PA/CE SVB DIE PRIDIE / IDVS IVLIAS / ERA DCLXXXI
Schäfte des V enden unten in einem Dreieck. Mit einem kleinen Diagonalschaft in halber Höhe am Rücken des Β ist ein Nexus V B gebildet. Als Kürzungszeichen werden Punkte über die jeweiligen Buchstaben gesetzt. An zwei Formen kann man auch Schaftverlängerungen sehen, bei kapitalem Ε und bei R. Die Schaftverlängerungen bestimmen aber das Schriftbild nicht in nennenswerter Weise. Schaftverlängerungen, die an anderer Stelle als germanischer Beitrag bezeichnet wurden (vgl. oben S. 5 9 f.), dringen ab dem 6. Jahrhundert allmählich — allem Anschein nach etwas früher und in der Frühzeit schon dichter als im gallischen Bereich - in die Inschriften der frühchristlichen Tradition ein. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass die einzelnen Traditionsströme immer mehr zusammenwachsen. Höhepunkt ist zweifellos das spätere 6. und das 7. Jahrhundert (vgl. etwa Abb. 38). Eine Inschrift aus der Hauptstadt Toledo (vgl. etwa Abb. 39) — eine Weiheinschrift von 587 - zeigt eine von Schaftverlängerungen und der Betonung der Schäfte geprägte Stilisierung. Es handelt sich um gestreckte, eng gesetzte Formen. Diese Schaftverlängerungen weisen in diesem Schriftdenkmal alle Buchstaben auf, bei denen sie möglich sind. Die Diagonalschäfte des Ν sind stark eingezogen, die Mittelbalken des Α ausschließlich und einheitlich gebrochen, die Bögen des Ρ und R sind sehr klein, die Cauda des R berührt in einigen Fällen nicht den Bogen, die Cauda des G ist vom Bogen getrennt
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
Abb. 40: Gedenkinschrift in Santo Domingo de Silos (1978). CAMINANTE / HACE MAS DE MIL ANOS EN EL SOLAR / DE ESTA ABADIA POR TANTAS RAZONES / ALABADA VN MONGE GLOSO VN CODICE / LATINO CON BALBVCIENTES PALABRAS CASTELLANAS / RECVERDA I CELEBRA TAN TRANSCENDENTAL HECHO / MCMLXXVIII ANO MILENARIO DE LA LENGVA CASTELLANA und reicht in die Unterlänge. Nexus litterarum sind sparsam angewendet. Eine vergleichbare Stilisierung ist allerdings eher die Ausnahme gegenüber breiteren und auch regelloser angeordneten Schriftzeilen. Ein Schriftbild dieses Zuschnitts war offensichtlich die Vorlage für einen reizvollen historisierenden Schriftversuch anlässlich der Tausendjahrfeier des erstmaligen Vorkommens der altkastilischen Sprache in Glossen eines Codex im Königskloster Santo D o m i n g o de Silos (südlich von Burgos) im Jahre 1978. Eine Tafel in kastilischer Sprache gedenkt des Ereignisses (Abb. 40). Allerdings berücksichtigte man offensichtlich nicht, dass 9 7 8 die epigraphische Schrift bereits starke Wandlungen durchgemacht hatte und nur mehr mit starken Abstrichen der des westgotischen Königreiches entsprach.
3.1.3 Die Inschriften auf dem Boden Italiens Weder das Reich des rugischen Heerkönigs Odoaker nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reichs 4 7 6 noch die machtvolle, mit dem Kaiser in Konstantinopel zunächst im Einklang stehende Herrschaft Theoderichs des Großen, in dessen Reich die römische Bildungswelt weiterlebte und Förderung erfuhr, brachten ein eigenes, spezifisch „germanisches" Inschriftenwesen mit sich. Man kann höchstens der Frage nachgehen, ob germanische N a m e n aufscheinen und somit Germanen als Träger von Inschriften genannt sind. Erst die Langobarden, Historisches die 568 nach kurzem byzantinischen Zwischenspiel — 553 hatte Justinian dem Umfeld
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Ostgotenreich ein Ende bereitet und Italien unter seine unmittelbare Herrschaft gebracht — in Italien als Eroberer und Reichsfeinde eingebrochen waren, sollten schließlich auch für die epigraphische Betrachtung von Interesse sein. Die byzantinische Herrschaft wurde auf das Exarchat Ravenna zurückgedrängt, das bis 751 dem Druck der Langobarden widerstand. Das langobardische Königreich hatte sein Zentrum in Pavia und lebte bis 772 fort, als es dem Angriff Karls des Großen zum Opfer fiel. Die halbsouveränen langobardischen Fürstentümer südlich des Apennin hatten über die Mitte des 11. Jahrhunderts hinaus Bestand — bis zum Festsetzen der Normannen in Süditalien. Die Katholisierung der arianischen Langobarden, auch der Einfluss der irischen Mission, als deren maßgeblicher Vertreter Kolumban der Jüngere 612 das Kloster Bobbio gegründet hatte, führten letztlich zu einer Assimilierung von Langobarden und bodenständiger Bevölkerung. Epigraphische Doch bis man von einem in Oberitalien angesiedelten Inschriftenwesen sprechen Gegebenheiten kann, das die stilistische Bezeichnung „langobardisch" verdient, wird es geraume in Italien Zeit, bis etwa 700, dauern. Betrachtet man die Zeit davor, ab dem ausgehenden 5. Jahrhundert, so ergibt sich zunächst nicht die Frage nach Stilen, sondern die nach unterschiedlichen Niveaus. Das Spektrum reicht innerhalb eines dichten Inschriftenwesens von recht guten, ausgewogenen Leistungen über einen weit gestreuten Bereich „rustikalen" Schreibens bis hin zu zahlreichen Graffiti, sowohl im nördlicheren wie im südlicheren Italien. Das funfbändige Tafelwerk von Pietro Rugo [11-5] bietet aufgrund seines Bildmaterials einen recht brauchbaren Überblick. Besondere Zentren wie Rom und Ravenna werden eigens anzusprechen sein. Ebenso ist eine unterschiedliche Qualität in der Textierung der Inskriptionen gegeben. Es gibt neben dem charakteristischen, stereotypen frühchristlichen Grabformular auch weiterhin da oder dort anspruchsvolle metrische Elogien. Was aus Spätantike und Frühchristentum bekannt ist, lebt also weiter. Im Allgemeinen ist wohl auch hier das 7. Jahrhundert die Periode eines zeitweisen Absinkens der Qualität, auch einer mengenmäßigen Reduktion der Denkmäler. Es spiegelt sich darin - so Ottavio Banti [R6, S. 90] - insgesamt der gesellschaftliche Umbruch im Norden Italiens und in der Mitte des Landes, weniger in Gebieten des römischbyzantinischen Einflusses als in langobardischen Gebieten. Im Graphischen ist das kapitale Alphabet in unterschiedlicher Proportion und Ausführung gegeben, was die Einzelformen wie den Gesamteindruck betrifft. Wenn es sich nicht um sehr tiefstehende Produkte handelt, ist das unziale Element so gut wie nicht zu finden — und wenn, dann am ehesten noch E. Die meisten Modifikationen, d. h. Abweichungen von der klassischen Form, gibt es beim Q. Man sieht u. a. Q mit eingestellter Cauda, Q in Form einer Zwei bzw. ein der Unziale nahestehendes Gebilde, das - in einem Zug — offen mit der Cauda ausschwingt (Form einer seitenverkehrten Neun), auch eine oben offene, ins Zweilinienschema gehobene. Manches, das frühzeitig schon in den Inschriften, auch in rustikalem Schreiben, begegnet, wird in Konsolidierungsversuchen im 8. Jahrhundert — in solchen, die noch nichts mit der Karolingischen Renaissance zu tun haben — herangezogen werden. Verwiesen sei etwa auf rautenförmiges Ο oder D mit absackendem Bogen, der horizontal auf der Grundlinie aufliegt [vgl. etwa 14: Rugo IV 18b]. Der gelegentliche Weg hin zu dreieckigen, deltaförmigen Gebilden ist dann nicht mehr weit [vgl. II: Rugo I 42 und 52]:
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
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Zunächst zu einigen Beispielen des 6. Jahrhunderts aus vorlangobardischer Inschriften Zeit. Ein in das J a h r 5 2 1 zu setzendes Grabelogium in neun Distichen — und des 6. J h . dem Todesvermerk m i t depositus sub die ..., wie oft in italischen Grabinschriften jener Jahrhunderte — auf einen Enodius in der Basilika S. Michele zu Pavia atmet noch spätantike Bildung und die Schwülstigkeit spätantiker Rhetorik (Abb. 4 1 ) . Das ausgewogene, verhältnismäßig disziplinierte Schriftbild ist durch eine enge Positionierung schmaler und gestreckter Buchstaben geprägt. Ansatzweise ist das Bemühen um die Setzung von Sporen erkennbar. An Einzelmerkmalen fallen - bedingt durch die enge Anordnung der Formen - die kleinen Bögen bei Ρ und R sowie der kleine obere Bogen des Β auf. Der Balken des Α sitzt sehr hoch — auch über der geometrischen Mitte. Vor allem sei auf die beträchtlichen Abflachungen oben bei Α und unten bei V verwiesen. Das Stück mag indirekt auf die Stilisierung Paveser Inschriften des 8. Jahrhunderts nicht ohne Einfluss geblieben sein [vgl. R 8 0 : Kloos, mit weiterer Literatur}. Gegenübergestellt seien - ebenfalls aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts — zwei Inschriften mit frühchristlichem Formular aus Süditalien, wo die Präferenz für rustikalere Aus-
ENNODIVSXMTiSO/ClSREDrrMrai iHOCPOSViTTVMVLOCORPORiSEXVH^^ C L ARVSPROLEQVIDEHGEf^ROSIOfllPmi QUQSF VNCTVS L AVDVMlVSSn \ iA5ERi»< l\EDDEDlTHOSCAELOWVAC!BV.SlLL£nGVR> ü/imiTFAMAiVlVERECONbJQVIlS QVIDMIR/MSIMÖWKARETPOSI bVSTASU^ OVKONSANCVINEOS MSTlTViTSVP£KI5, ÜVAN TOS BIT:FÖRE'TMVMOEIjEBftARU! |N!CSfLin0CCiDVlCARDINKO(iAW5 " Abb. 41: Grabinschrift des Ennodius (521) in der Basilika S. Michele zu Pavia (Ausschnitt). ENNODIVS VATIS LVCIS REDITVRVS IN ORTV / HOC POSVIT TVMVLO CORPORIS EXVBIAS / CLARVS PROLE QVIDEM GENEROSIOR IPSE PROPINQVIS / QVOS FVNCTVS LAVDVM IVSSIT HABERE DIEM / REDDEDIT HOS CAELO VIVACIBVS ILLE FIGVRIS / ...
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Die epigrapbische Schrift im Wandel der Zeiten
Abb. 42: Inschriftenfragment (527) im Museo Campano zu Capua. CONS DEPOSTICE / RVIOLI VI KALE/NDAS IVNIVAS / CONSVLE MABV/RTIO CONS QVI VI/XIT PLVS MINVS AN/NVS XII
Abb. 43: Inschrift der Leontia (503) in Venosa. + + + / HIC REQVIESCIT / SANCTE MEMO/ RIAE LEONTIA / QVE VIXIT AN(NOS) / PLVS MINVS / LV DEPOSITA / EST SVB DIE V / KAL(ENDAS) FEBR(VARIAS) FL(AVIO) / VOLVSIANO / V(IRO) C(LARISSIMO) CONSS(VLE)
prägungen deutlicher gegeben zu sein scheint. Erstere befindet sich im Museum zu Capua (Abb. 42), die zweite stammt aus Venosa (Abb. 43). Hingewiesen sei in beiden Texten vornehmlich auf die zuvor angesprochene Form des D (im Norden vgl. etwa I I : Rugo I 31), in der ersten Inschrift auf Q als seitenverkehrte Neun, in der zweiten auf Q mit rautenförmigem Buchstabenkörper, im ersten Text auf das in der frühchristlichen Epigraphik häufige Α mit gebrochenem Balken und Μ mit stark eingezogenem Mittelteil. Letzteres mag mit der größeren Nähe zur griechischen Welt zusammenhängen. Es kann nicht überraschen, wenn etwa in Graffiti Mischgebilde von kapitalen Buchstaben und halbunzialen bis hin zu kursiven Formen zu finden sind (vgl. etwa in Porec auf der Halbinsel Istrien {siehe 12: Rugo II 95 und 96]). Q mit eingezogener Cauda, das noch eine wichtige Rolle im späteren langobardischen höfischen Stil spielen wird, ist offenkundig in Inschriften Oberitaliens beheimatet. Es findet sich kaum in zeitgenössischen Inskriptionen südlich des
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit Abb. 44: Grabinschrift (E. 5. Jb.)
des Crescenzio
im Museo Civico zu Como.
B(ONE) M(EMORIE) / HIC REQVIESCET IN PACE / FAMVLVS DEI CRISCENTIO / QVI VIXET IN SECVLO AN/VS PL(VS) M(INVS) LV D(E)P(OSITVS) S(VB) D(IE)
Li m πι TEMI'O VITAE fciSfTVSTVMVffi
Abb. 45: Grabsteinfragment
(540)
im Museo Civico zu Vercelli. [VLTIMA CONCLVDENS PRAESENTIS / TEMPORA VITAE / PRESBITER H]OC PO[SITVS TVMVLO / PER] SECLA Q[VIESCIT / ...]LDO SVPERA[S MERITIS] / REDITVRVS A[D AVRAS / GJRATVS IN OFFIC[IIS ATQVE] / OMNI STRENVVCS ACTV] /
SÄCTV
MAGNANIMVS PV[EOQVE (!) FRA]/TRVM DILECTVS [AMORE] / CORPORES HANC REQ[VIEM] / MERVIT PRO MVNERI [VITAE] / COMMEND ANS SANCTIS AfNI]/ MAM CORPVSQVE FOVENDV[M] / QVI VIXIT IN HOC SECVLO ANN(OS) / PL(VS) M(INVS) LXX D(E)P(OSITVS) S(VB) D(IE) V KAL(ENDAS) IVN(IAS) / P(OST) C(ONSVLATVM) MAVVRTI V(IRO) C(LARISSIMO) CONSVL(E)
Apennin. Im Norden hingegen ist es schon sehr frühzeitig — schon im ausgehenden 5. Jahrhundert — belegt. Auch das überschriftartig über die Texte gesetzte Β und Μ für bonae bzw. beatae memoriae, das in oberitalienischen Inschriften noch lange begegnet, kommt aus frühchristlicher Tradition, wie etwa auf dem Grabstein eines Crescencio im Kommunalmuseum von Como (Abb. 44), einem textlich und graphisch wenig anspruchsvollen Schriftdokument. Altersangabe und Nennung des Todestages mit ANVS PLM (für plus minus) DP SD (für ckpositus sub die) - so
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
insgesamt recht charakteristisch und nicht selten zu finden — kehrt etwa in einer in Hexametern abgefassten Grabinschrift wieder, die nur mehr fragmentarisch erhalten ist (Abb. 45). Charakteristisch ist hierbei die Formung des L für 5 0 in der Altersangabe. Der in den frühchristlichen Inschriften mit in stumpfem Winkel oft nach unten reichende Buchstabe (siehe oben S. 4 5 ) wird innerhalb des Zweilinienschemas gesetzt und etwas gedreht, sodass ein Winkel in Form eines gebrochenen C entsteht. Der eng geschriebene Text in „scriptura continua" mit schlanken, schmalen Formen — insgesamt sehr diszipliniert ausgeführt — weist eingerolltes G , Α mit gebrochenem Balken und Q auf, dessen eingestellte Cauda leicht gegabelt ist. Ravenna
Die Gedenkinschrift des Kirchenpatrons von S. Apollinare in Classe aus dem Jahre 5 4 9 (Abb. 4 6 ) macht deutlich, zu welch hohen Leistungen man im (ost)römischen R a v e n n a imstande war (vgl. zu Ravenna R 3 0 : Cavallo). Die sechszeilige Inschrift mit geringen Zeilenabständen auf einer breiten, im antiken Stil gestalteten Tafel mit kanneliertem Rand, die mit Tagesdatum nach römischem Kalender, Indiktion und Postkonsulaten des Basilius Iunior datiert ist, weist ein Höchstmaß an handwerklicher Qualität auf, das jeden Buchstaben deckungsgleich — einschließlich regelmäßig gesetzter und ausgeführter Sporen — wiedergibt. Es ist zwar keine Inschrift im Charakter der alten klassischen Monumentalschrift, vielmehr erfolgte die Stilisierung auf Basis eng gesetzter schmaler Formen. Lediglich Μ mit gespreizten Außenschäften und bis zur M i t t e reichendem Mittelteil ist ein wenig breiter. Markant ist der Buchstabe A, der oben eine kleine Tilde als Kopfstrichlein aufweist und dessen gebrochener Mittelschaft in einen Zapfen ausläuft, was ein wenig auf griechische Manier hinweisen könnte. Die überaus elegante Inschrift zeigt einen gemäßigten, aber insgesamt systematischen W e c h sel von Haar- und Schattenstrichen. In drei Spitzen auslaufende Punkte etwas oberhalb der Zeilenmitte trennen die meisten Worte und schließen die Zeilen ab. Das Denkmal diente offensichtlich noch im 8. Jahrhundert ( 7 3 1 ) als Vorbild für eine große repräsentative Inschrift, die sich ebenfalls in S. Apollinare in Classe befindet und ein Privileg des Ravennater Erzbischofs Johannes' V. festhält, für das Layout wie auch vielfach für die Einzelformen [13: R u g o I I I Nr. 9 } , wenn auch nicht mehr ganz die gleiche Qualität erreicht werden konnte. Die Inschrift, die nach den Kaisern Leon III. und Konstantin V. mit einer Titelformulierung, aus der wesentliche Teile später in den Kaisertitel Karls des Großen eingehen sollten (In nomine patris et filii et spiritus sancti imperantibus piisimis dominis nostris Leone e Constantino a deo coronatis, pacificis, magnis imperatoribus ... gwernantem Italiam ...), datiert ist, zeichnet sich durch einen nicht mehr überbietbaren „horror vacui" aus, wobei schmälste Buchstaben engst aneinandergereiht sind. Ein Zeugnis vergleichbarer byzantinisch-römischer Schriftkultur aus dem J a h r e 5 6 8 befindet sich im Museo Civico in Albenga, also im ligurischen Küstenbereich [siehe 15: R u g o V 1733- Diese Grabinschrift einer adeligen Dame, in der dem Verletzer des Grabes — ähnlich wie in zeitgenössischen Privaturkunden dem Verletzer des Urkundeninhalts — geistliche Strafen angedroht werden, ist ein wenig lockerer geschrieben und weist - das Gesamtbild bestimmend - etwas breitere O-Formen auf. Diesem Umfeld könnte auch eine von R u g o ins 7. Jahrhundert gesetzte Inschrift aus dem Exarchat [15: R u g o III 6 4 } zuzuordnen sein, die jetzt im Archäologischen Museum von Bologna liegt.
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
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Abb. 46: Maximianus-Inschrift (549) in S. Apollinare in Classe zu Ravenna. + IN HOC LOCO STETIT ARCA BEATI APOLENARIS SACERDOTIS / ET CONFESSORIS A TEMPORE TRANSITVS SVI VSQUE DIAE / QVA PER VIRVM BEAT(VM) MAXIMIANVM EPISCOPVM TRANSLATA EST /...
P1®NN-IIER Abb. 47: Gründungsinschrift der Basilica von Torcello (639) (Ausschnitt). [I(N) N(OMINE) D(OMI)]NI D(E)I N(OSTRI) IE(S)V CHR(ISTI) IMP(ERANTE) D(0MI)N(0) N(OSTRO) HERCACLIO / P(ER)P(ETVO)] AVGVS(TO) A(NNO) XXVIIII IND(ICTIONE) XIII FACTA / [S(AN)C(T)E M]ARIE D(E)I GENET(RICIS) EX IVSS(IONE) PIO ET /... W i e bereits angedeutet, scheint die Zahl der ins 7. Jahrhundert zu setzenden GründungsInschriften deutlich geringer zu sein und auch in ihrer Qualität überwiegend inschrift von unter den guten Leistungen noch des 6. Jahrhunderts zu stehen. Die Gründungs- Torcello inschrift der Basilika von Torcello bei Venedig aus dem Jahre 6 3 9 (Abb. 4 7 ) bietet trotz ihrer Bedeutung und feierlichen Textgestaltung ein extrem rustikales Schriftbild. Einer regellosen Zeilenfuhrung entsprechen eingekratzte Formen, die vielfach Rundungen eckig wiedergeben und somit etwa rautenförmiges Ο und Q setzen. Es g i b t aber auch — wohl mehr gegen Ende des Jahrhunderts und am Übergang zum 8. Jahrhundert - Denkmäler, die wieder in guter Tradition stehen und eine Reihe von Merkmalen aufweisen, die zu dem hinführen, was langobardische Epigraphik genannt wird [vgl. etwa 15: R u g o V 37 und 3 8 } . „Lombard epigraphy is emphatically a court art", stellte Nicolette Gray [ R 6 5 , S. 6 1 } schon vor mehr als einem halben Jahrhundert fest. H o f s t i l ist ein brauch-
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Langobardischer Hofstil
Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
barer Hilfsbegriff hierfür - trotz mancherlei Einwendungen von italienischer Seite [R6: Banti S. 91 ff.}. Man versteht darunter eine stattliche Reihe hochniveauiger und durch zahlreiche graphische Gemeinsamkeiten — bei Einzelformen und insbesondere im Gesamteindruck - sowie durch ein charakteristisches Dekor herausragende Denkmäler, eingebunden in eine breitere epigraphische Landschaft Oberitaliens. Es handelt sich überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, um Denkmäler des hohen Establishments, von Angehörigen der königlichen Familie und der hohen Geistlichkeit. Sie finden sich vornehmlich im Zentralraum des langobardischen Königtums, in Pavia und im lombardischen Umfeld mit Orten wie etwa Mailand und Como, mit Abstrichen auch in Zentren wie Cividale. Die Entwicklung zu diesem Stil erfolgt verhältnismäßig rasch. Er begegnet etwa von der Wende zum 8. Jahrhundert an und lebte bis gegen die Jahrhundertmitte. Vereinzelte Ausläufer finden sich in Inschriften Oberitaliens in einem veränderten Umfeld bis ins 9- Jahrhundert (vgl. unten Abb. 113). Es handelt sich um vielzellige, überwiegend metrische Inskriptionen, Lobpreisungen des (der) Verstorbenen, häufig, wenn auch nicht ausschließlich, auf oft extrem lang gestreckten, nach der Schmalseite beschriebenen Tafeln. Nicht selten sind die Zeilen zentriert angeordnet. Sind hier insgesamt aus der spätantiken christlichen Welt herrührende Traditionen als Basis gegeben, so weisen sie nun zusätzlich ein charakteristisches florales, aus Blüten und Früchten gebildetes Dekor auf. Dieses findet sich an Zeilenenden oder als Füllsel [vgl. 15: Rugo V 36], es ist in Form von breiten Bändern in den Text eingeordnet [vgl. M30: MEC II/3, Taf. 11,1} oder es rahmt auf üppigste Art die gesamte Tafel [vgl. M30: MEC II/3, Taf. IV,8 oder Taf. 11,3]. Schaftverlängerungen, wie sie in besonderer Weise die rheinfränkischen Inschriften der Merowingerzeit und die westgotischen Inschriften aufweisen, sind auch fxir den langobardischen Bereich festzustellen. Sie finden sich in dieser Welt eines starken traditionellen epigraphischen Schrifttums allerdings offenkundig erst deutlich später, sind weniger verbreitet und allem Anschein nach mit mehr Zurückhaltung eingesetzt. Selbst ausgesprochen rustikale Inschriften mit diesen Elementen — sowie mit der Neigung zu eckigen Gebilden — sind eher selten [vgl. — schon für das 8. Jahrhundert - im Raum von Padua II: Rugo 126, für den langobardischen Süden am Monte Gargano 14: Rugo IV 18b], Inschriften, die zum höfischen Stil hinfuhren [vgl. etwa 15: Rugo V 76] und die ihn ausmachen, sind insgesamt gekennzeichnet durch schmale und recht eng gesetzte Formen. Die Aussage von Rudolf M. Kloos [R80, S. 115], dass zunächst noch breitere Formen nach der Jahrhundertmitte durch schmale und gedrängte Buchstaben abgelöst worden seien, lässt sich als grundsätzliche Aussage nicht mit Sicherheit nachvollziehen, vielmehr dürfte die Textmenge für die Proportionen ausschlaggebend gewesen sein und mitunter in ein und demselben Denkmal ein gedrängteres und ein lockeres Schriftbild hervorgerufen haben [vgl. 15: Rugo V 107]. Ovale Buchstabenkörper - so bei der Grabinschrift der Brüder Aldo und Grauso in Beolco, einem Schriftdenkmal von schon guter Qualität des Stils aus dem frühesten 8. Jahrhundert (Abb. 48) - bei Ο und Q, das die nun charakteristische eingestellte Cauda aufweist, machen zunehmend mandel- und tropfenförmigen Gebilden Platz. CunincpertKloos [R80, S. 171 ff] versuchte in einer minuziösen Analyse der Buchstainschrift benformen eine einige Jahrzehnte umfassende Entwicklung der Denkmäler des
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
AM. 48.· Inschrift des Aldo undGrauso (7. Jh.) in Beolco. + GENERE FORMA SENSV OPIBVS / AFFECTVQVE DECORI / HIC DVO QVIESCVNT AEQVI BONITA/TE GERMANI / GRAVSO ALDOQVE SIMVL QVOS / MVNDVS HABVIT CLAROS / QVOSQVE VNVS TRANSITVS / VNO SVB MARMORE CLAVS[IT} / SEVIENS HOS MVGRO PER[EMIT / ...]PROVE DVDVM
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„Hofstils" zu kennzeichnen. Die Tendenz gehe dahin, rustikale, wenn auch hochstilisierte Elemente — Kloos spricht von „unklassischen" Elementen — zunehmend abzubauen und auszumerzen. Dies betreffe vor allem die Schaftverlängerungen. Die Voraussetzung, eine Linie ziehen zu können, erforderte, dass Kloos - im Unterschied zu Gray - die auch sonst vielfach als Fälschung oder Nacharbeitung verdächtigte Grabinschrift des 7 0 0 verstorbenen Königs Cunincpert [ M 3 0 : M E C II/3, Taf. 111,1] aus der Entwicklungsreihe aussonderte - mit guten Gründen, da die Schlagtechnik sich von den sonstigen Inskriptionen deutlich unterscheidet und die Buchstaben in den Proportionen dem klassischen Alphabet zweifellos nahekommen. Die Vorgangsweise von Kloos hat auf italienischer Seite Widerspruch erfahren, insbesondere in einigen Arbeiten von Ottavio Banti [ R 3 - 6 ] . Dieser tritt für die Echtheit und die zeitgenössische Entstehung der CunincpertInschrift ein. Aufgrund der nicht gegebenen Einheitlichkeit im 8. Jahrhundert, so meinte er, sei durchaus im Gefolge der spätantiken Epigraphik eine Richtung mehr im „klassischen Kanon" zu beobachten und demnach innerhalb dieser auch Platz für das fragliche Denkmal um 700. Grundsätzlich wird man mit Begriffen wie „klassisch" und „qualitätvoll" bzw. „unklassisch", „rustikal" oder gar „barbarisch" als Datierungskriterien sehr vorsichtig umgehen müssen, was das Zeichnen von folgerichtigen Entwicklungslinien erschwert. Nichtsdestoweniger erscheint der Ansatz von Kloos für den „Hofstil" — und nur um diesen geht es — nachvollziehbar. Ein Denkmal, das in die frühere Zeit des Stils gehört, ist die Grabinschrift des Weitere Audoald (718) (Abb. 49). Sie weist vor allem noch in reichem Maß die Schaftver- Denkmäler des längerungen bei Ε und F und weniger ausgeprägt bei R auf, teilweise noch die Hofstils beträchtlichen Abflachungen bei A [dies stärker sowie auch bei V in M 3 0 : M E C
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
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Abb. 49: Grabelogium des Audoald (um 718) im Museo Civico zu Pavia (Ausschnitt). + SVB REGIB(VS) LIGVRIAE DVCATVM TENVIT AVDAX / AVDOALD ARMIPOTENS CLARIS NATALIB(VS) ORTVS / VICTRIX CVIVS DEXTERA SVBEGIT NAVITER HÖSTES / FINITIMOS ET CVNCTOS LONGE LATEQVAE DEGENTES / BELLIGERAS DOMAVIT ACIES ET HOSTILIA CASTRA
;· .1 II/3, Taf. 11,2) sowie offene Bögen bei Β und P, die mit kleinen Sporen enden. Das sehr schmale Α verzichtet auf den Mittelbalken oder er liegt sehr hoch, vielfach schräg. Μ mit Sporn und Ν mit stark eingezogenem Schrägschaft findet sich nicht in diesem Stück, wohl aber in anderen [vgl. M30: MEC II/3, Taf. 11,2}. Ο und Q (mit eingestellter Cauda) sind verschieden geformt. Die kleinen Balken des Ε sind pfahlförmig ausgeführt. Zu den besten Leistungen gehört aufgrund ihrer Harmonie in Schrift und Dekor die nur mehr fragmentarisch erhaltene Tafel der Cunincperga, der Tochter des Königs Cunincpert (Abb. 50). In diesem Grabelogium ist der Text nach der Breitseite — und zwar in zwei Kolumnen — gesetzt. Er ist vergleichsweise ein wenig lockerer geschrieben. Die Schaftverlängerungen sind aufgegeben. Ο und Q sind mandel- und tropfenförmig ausgeführt. Der gebrochene Mittelbalken des Α und der Mittelteil des Μ — beide nach innen etwas eingebogen - laufen in einem Zapfen aus. Sporen sind durchgehend ausgeführt, gelegentlich auch ein wenig gegabelt. Die Schrägschäfte des Μ und Ν sind leicht eingezogen, die des V kreuzen sich unten zu einem gegenläufigen Dreieck. Die Abflachungen bei Α und V sind aufgegeben. Bemerkenswert ist das schmale G, dessen Cauda in Form eines Halbschaftes noch innerhalb des Bogens - nicht an dessen Ende — aufragt. Nexus litterarum ist maßvoll benutzt. An das Ende dieses Entwicklungsstranges setzte Kloos [R80, S. 178] Denkmäler, die er im Umfeld des Steines des Bischofs Cumian von Bobbio (t 736 ?) (Abb. 51) sieht, der in der graphischen Gestaltung nicht mehr ganz an die Platte der Cunincperga anschließen kann. Die Fülle des ungemein eng gesetzten Textes brachte es mit sich, dass sogar auf nennenswerte Zeilenabstände verzichtet wurde. Das Ausmerzen „unklassischer" Elemente ist hier weitergeführt. Von
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Von der Völkerwanderung bis in die beginnende Karolingerzeit
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Abb. 71: Evangeliar des hl. Willibrord (um 690), in der Biliotheque Nationale de France zu Paris. IN PRI/N/CIPIO / ERAT UERbUm
Abb. 73 (oben): Inschriftenfragment (8.19. Jh.) in der Cathedral Fratry zu Carlisle. AEF/ITBE Abb. 72 (links): Inschrift (8. Jh.) im Priory Museum zu Lindisfarne. + OS/gYD
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Abb. 74: Goldplatte aus Brandon, jetzt im British Museum zu London (Ausschnitt). S(AN)C(TV)S / EVA/N/GE/LI/ST/A / IO/HA/NNIS
Abb. 75 {links): Steinfragment aus Tarbat (8. Jh.), jetzt im Nationalmuseum zu Edinburgh. [I]N NOM[I/N]E IE(S)U CH[(RIST)I / . . ]U Χ X [,./..]N COMM[E]/MORAT[I]/ONE ...
Abb. 76: Kelch von Ardagh (2. H. 8. Jh.) im Nationalmuseum zu Dublin (Ausschnitt). ...ATHEVS SIMON ...
Phase in diesem Kloster, so ist eine zweite Phase in Jarrow und im Kloster Monkwearmouth, seinem Partnerkloster, deutlich von der Unziale bestimmt, wie Grabinschriften erkennen lassen (Abb. 79). Die Inschriften von höchster Qualität erinnern daran, dass die Unziale in England zunächst eine besondere Rolle spielte und dass Jarrow die Heimat des Codex Amiatinus war, einer der erlesensten unzialen Großhandschriften [S73: Steffens, Taf. 21]. In der dritten Phase seien dann nach dem Vorbild des Lindisfarne-Evangeliars - so Higgitt — die insularen Formen, insbesondere die „Anglosaxon capitals" eingedrungen und hätten von
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
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Die Inschriften der karolingischen Zeit - mit ihren Ausläufern bis etwa 1000 Abb. 113: Inschriftenfragment (9- Jh.). —]T QVI MORIBt—/—} S CVVIIS IN [—/—]S SERVITIO [—/—]MADOLISC[—/—QONTINVIS [—/-]ANNIS LVSTt—/—
Abb. 114: Grabinschrift der Gräfin Berta, Gattin des Herzogs Adalbert (925) in der Kathedrale zu Lucca (Ausschnitt). + HOC TEGITVR TUMVLO COMITISSE CORPVS HVMATV(M) INCLITA PROGENIE ... / UXOR ADALBERTI DVCIS ITALIAE FVIT IPSA REGALIS GENERIS QU ... / NOBILIS EX ALTO FRANCORV(M) GERMINE REGV(M) KAROLVS IPSE PIVS R ...
L F Y J T I P S F M RHF|[\US Ι . E N L H E I S Q.U
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Buchstaben einige Formen besonders auf: Q mit eingestellter gegabelter Cauda, Ν mit stark eingezogenem Diagonalschaft, Μ mit senkrechten Außenschäften und einem bloß bis zur Mitte reichenden Mittelteil, dessen Schrägschäfte sich kreuzen und sich zu einem Dreieck verdichten, R mit offenem Bogen und daran anschließender, sich nach unten verbreiternder Cauda, Ε mit kurzem Balken in Form von sich verbreiternden Keilen sowie die generelle Neigung, Schäfte und Balken oft mehr oder weniger zu gabeln.
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
Mittelitalien
Rom
Das 10. Jahrhundert in Oberitalien bietet meist ein kräftiges, eher enges Schriftbild mit - von Ausnahmen abgesehen [vgl. R 6 5 : Gray Nr. 155 und 157} - einer verstärkten Abkehr von klassischen Schriftelementen. Es setzt sich jene Schreibweise fort, die vielfach schon in Inschriften des vorgerückten 9. Jahrhunderts begegnete. An Einzelmerkmalen treten vermehrt eckiges C, aber auch eckiges G hinzu. Auch vereinzelte unziale Einsprengsel lassen sich in dem einen oder anderen Text ausmachen (vgl. Abb. 114 und M 3 0 : M E C III/l Taf. VI,3). Der m i t t e l i t a l i e n i s c h e Bereich — Kirchenstaat ohne R o m , Adriaküste ließ offenkundig ein Eindringen der Schriftkriterien der Karolingischen Renaissance kaum zu. Wie die Untersuchungen Grays [ R 6 5 , S. 105 f.} schon vor Jahrzehnten ergaben, wirkte jenes rustikale Schreiben („popular inscriptions"), das das 8. Jahrhundert bestimmt hatte, zumindest im 9- Jahrhundert weiter, wenn auch in gewissem Sinne - so Gray - etwas „gebändigt". Die regionalen Traditionen bestimmten offensichtlich das Geschehen. Es ist schwer, nach gemeinsamen Nennern zu suchen, da die meist wenig diszipliniert gebotenen Schriftbilder zu disparat sind. Allerdings lassen sich da und dort lokale Gemeinsamkeiten ausmachen, die auf gleiche Werkstätten hindeuten. An häufig vorkommenden Formen ist vor allem auf G mit nach unten abstehender oder eingehängter Cauda zu verweisen, auf R mit häufig - in der Mittellage — abstehender Cauda, schließlich Μ mit sehr kleinem Mittelteil und häufig kleines O. Der 2 0 0 2 erschienene, einen Teil der Provinz Viterbo betreffende erste Band der IMAI [ G l ] stützt weitgehend den generellen Befund Grays zum mittelitalienischen Bereich [vgl. G l : IMAI 1, S. 5 7 ] und zeigt auch Berührungspunkte — insbesondere beim Buchstaben G - zu den zahlreich vorhandenen zeitgenössischen Graffiti auf. Selbst Inschriften mit Schaftverlängerungen lassen sich finden [siehe G l : IMAI 1, S. 194 f.]. N u r vereinzelt g i b t es offensichtlich gefestigte Inschriften, die Reflexe der Karolingischen Renaissance vermuten lassen. Ein Epitaph in der Kathedrale zu Nepi aus dem 9-Jahrhundert [ G l : IMAI 1, S. 8 0 ] könnte unter dem Einfluss des nicht allzu fernen R o m entstanden sein. Die N e i g u n g , die Bögen bei Β, Ρ und R gelegentlich ziemlich „quadratisch" zu gestalten, könnte darauf hindeuten (siehe unten S. 129). Für den s t a d t r ö m i s c h e n Bereich bedeutete zweifellos die Übersendung des im Frankenreich hergestellten Epitaphs für Papst Hadrian I. (siehe oben S. 105 ff.) eine wesentliche Begegnung mit der Karolingischen Renaissance im Epigraphischen, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Die oft klobigen, ja plumpen Schreibweisen, wie sie noch aus dem 8. Jahrhundert bekannt sind, wurden offensichtlich aufgegeben. In der Folge finden sich Denkmäler von durchaus guter Qualität, die karolingische Kriterien sicherlich im A u g e hatten, ohne ihr Vorbild jedoch erreichen zu können oder zu wollen. Es handelt sich um eine fest gefügte, geordnete kapitale Schreibweise in einer Reihe von steinernen Denkmälern ab den zwanziger Jahren des 9- Jahrhunderts, ebenso in den großen Mosaikzyklen der Zeit bis 855 (S. Caecilia, S. Maria in Domnica, S. Prassede, S. Marco), wobei letztere ein gutes graphisches Niveau erkennen lassen (Abb. 115 und 116). Die allerdings meist recht schmalen Buchstaben im Steinbereich lassen die „karolingischen", d. h. die klassischen Proportionen nicht so recht zur Geltung kommen. An abweichenden Formen findet sich gelegentlich Α mit gebrochenem Mittelbalken,
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Die Inschriften der karolingischen Zeit - mit ihren Ausläufern bis etwa 1000
Abb. 115: Mosaikinschrift (9- Jh.) in S. Maria in Domntca zu Rom (Ausschnitt). ... DOMVS PRIDEM FVERAT CONFRAC... / ...CVS ECCE S W S SPLENDET CEV PHOE.../ MARIA TIBI PASCHALIS PRAESVL HO...
Abb. 116: Mosaikinschrift (9- Jh.) in S. Prassede zu Rom (Ausschnitt). ...ETHRA PLACENTIS HONORE / ...SIM QVI CORPORA CONDENS / ...REATVR ADIRE POLORVM
eingerolltes G , Q mit eingestellter Cauda sowie R mit steifer, nach unten sich verbreiternder Cauda. Eine häufig fast quadratische Gestaltung der Bögen bei B, Ρ und R ist zu beobachten. Wenn Gray [ R 6 5 , S. 9 7 ] - und ihr folgend Kloos [P6, S. 1 2 2 ] — für die Zeit von etwa 8 5 0 bis 8 8 0 eine Reaktion gegen den „classical taste" bzw. einen Bruch konstatierte, so ist zu bemerken, dass die Schrift der Zeit davor ohnehin nur mit Einschränkungen der Karolingischen Renaissance folgte. Bemerkenswert ist - und dies hat Gray zutreffend charakterisiert - ein „classical revival", ein Wiederaufgreifen des klassischen Schreibens, in der Spätzeit des 9. Jahrhunderts. Als Beispiel möge das Grab des Demetrius dienen (Abb. 117). Die klassischen Proportionen bleiben in den stadtrömischen Inschriften des 10. Jahrhunderts weitgehend erhalten, die an Formniveau allerdings beträchtliche Einbußen erleiden. Was die Gestaltung der Einzelformen betrifft, handelt es sich um ein sehr kräftiges, fettes Schreiben, das keinerlei Unterschiede in den Strichstärken kennt (Abb. 118, vgl. etwa auch M 3 0 : MEC I Taf. X V I , 4 [976]). Erst die letzten Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts werden im Geiste neu belebter stadtrömischer Gesinnung die Inschriften mit Geschick wieder an das klassische Niveau heranzuführen versuchen. Dazu siehe unten S. 168 ff.
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Die epigraphische Schrift im Wandel der Zeiten
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R E G N V M
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C A R Μ Ι Ν Α
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Abb. 111: Grabinschrift des Demetrius im Garten der Villa Albani zu Rom (Ausschnitt).
...M REGNVM PERITVRA R[—/—]VS CARMINA LAETA [—/—]VBLIMIA CVLMINA G[—/—]VS QVICQVID OB ESS[—
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