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German Pages 358 Year 2013
Volker Barth Inkognito
Volker Barth
Inkognito Geschichte eines Zeremoniells
Oldenbourg Verlag München 2013
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
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Inhaltsverzeichnis Inkognito oder Wie man nicht als König reist: Eine Einleitung
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I. Die Genese eines Zeremoniells 1. Maske, Krone, Helm . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Götter und Menschen . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Ankunft des Herrschers . . . . . . . . . 1.3 Vom Umgang mit Herrschern im Mittelalter 1.4 Die Entstehung des Rittertums . . . . . . . .
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2. Ritter und Könige . . . . . . . . . . . . . 2.1 König Artus . . . . . . . . . . . . 2.2 Die chevalereske Literatur . . . . 2.3 Anonymität als Erzählstrategie . . 2.4 Die Liebe . . . . . . . . . . . . . 2.5 Der Ritter und der gute Herrscher 2.6 Ulrich von Liechtenstein . . . . .
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3. Zeremonielle Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Aufwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Tradierung eines Zeremoniells . . . . . . 3.3 Maske und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Verkleidungsfeste . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ein Reich zur Bühne, Prinzen drauf zu spielen 3.6 Der Begriff inkognito . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus . . . . . . . 2.1 Gesammelte Zeremonielle . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Zeremoniell als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Reglementierung des Inkognitos 1. Der große Präzedenzfall . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Inkognito im Zeitalter des Absolutismus 1.2 Grenzfälle des Inkognitos . . . . . . . . . . 1.3 Peter der Große . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Weder Zar noch Zimmermann . . . . . . . 1.5 Peter und der Kaiser . . . . . . . . . . . . . 1.6 Die Beweggründe des Inkognitos . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
2.3 2.4
Von der Zeremonialwissenschaft zum Hofrecht . . . . . . Das Inkognito im aufgeklärten Absolutismus . . . . . . .
3. Joseph Graf von Falkenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Joseph II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Nützliche Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Meinen Namen will ich nicht nennen, noch den Rang 3.4 Die Verbürgerlichung des Inkognitos . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach 1. Dynastische Traditionen . . . . . . . . . 1.1 Das Inkognito im 19. Jahrhundert 1.2 Das Inkognito in Bayern . . . . . 1.3 Die Regeln der Königsreise . . . . 1.4 Dienst am Inkognito . . . . . . .
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2. Königliche Rollenspiele . . . . . . 2.1 Inkognitoreiter . . . . . . 2.2 Öffentliche Versteckspiele 2.3 Kunst statt Krieg . . . . . 2.4 Der konstitutionelle König
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3. Ludwig Graf von Berg . . . . . . . . 3.1 Zeremonieller Klärungsbedarf 3.2 Der Weg nach Paris . . . . . . 3.3 Compiègne und Pierrefonds . 3.4 Zusammenfassung . . . . . .
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2. Der unsichtbare König . . . . . . . . 2.1 Auf den Spuren Jeanne d’Arcs 2.2 Savigny in der Schweiz . . . . 2.3 Auflösungserscheinungen . .
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IV. Spuren des Inkognitos 1. Diplomatische Bedenken . . . . . . 1.1 Zurück in Bayern . . . . . . 1.2 Verbotenes Versailles . . . . 1.3 Erzwungenes Versailles . . . 1.4 Unter Aufsicht . . . . . . . 1.5 Sprudelnde Quellen . . . . . 1.6 Orchestrierte Informationen
Inhaltsverzeichnis
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit 3.1 Das Ende des Inkognitos? . . . . . . . 3.2 Die Zeitgeschichte des Inkognitos . . . 3.3 Periodisierungen . . . . . . . . . . . . 3.4 Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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289 289 296 301 308 313
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen . . . . . . . . . . . . Archive . . . . . . . . . . . . Zeitungen . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . Sach- und Ortsregister . . . . Personenregister . . . . . . .
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Inkognito oder Wie man nicht als König reist: Eine Einleitung Multiple Persönlichkeiten Am Abend des 14. Mai 1912 spazierte ein älterer Herr über den Gänsemarkt in Hamburg. Als er von einem Schwächeanfall ergriffen zu taumeln begann, eilten ihm einige Passanten zu Hilfe und verständigten kurz darauf die Polizei. Der Fremde verschwieg Wachtmeister Konietzke von der nahe gelegenen Revierwache 12 seinen Namen und verlangte ins Hotel Hamburger Hof gebracht zu werden. Doch bereits nach wenigen Schritten verlor er das Bewusstsein. Den Vorschriften entsprechend beschlossen Konietzke und ein weiterer hinzugekommener Kollege ihn ins Hamburger Hafenkrankenhaus zu transportieren. Die beauftragte Droschke erreichte das Hospital jedoch nicht mehr rechtzeitig; der Unbekannte verstarb auf dem Weg. Da er keine Papiere bei sich trug, veröffentlichte die Polizei noch in derselben Nacht eine Zirkulardepesche, um die Identität des Fremden in Erfahrung zu bringen: „1,65 groß, graues Haar, dito Schnurrbart, dunkelgrauer Jackettanzug, dunkler Überzieher, schwarzer steifer Hut, Schnürstiefel. Wegen Schlaganfall Hafenkrankenhaus. Auf Transport verstorben.“ Keine zwei Stunden später erschien der Direktor des Hamburger Hofs in der Leichenhalle und informierte die Behörden, dass es sich bei den Toten um einen dänischen Grafen namens Kronborg handle. Im Hotel erfuhren die Gesetzesvertreter jedoch zu ihrer Überraschung, dass der angebliche Graf in Wirklichkeit niemand anderes als Friedrich VIII., der regierende König von Dänemark, war. Der 68-jährige Monarch, der 1906 den dänischen Thron bestiegen hatte, weilte inkognito in Hamburg und reiste unter dem Pseudonym Graf Kronborg in Begleitung seiner Frau Louise sowie drei ihrer acht gemeinsamen Kinder. Die königliche Familie hatte sich zur Kur in Nizza aufgehalten und auf der Rückreise an der Elbe Station gemacht. Der Tod des dänischen Königs gelangte schließlich am Morgen des 15. Mai durch eine Meldung von Wolff ’s Telegraphischem Bureau an die Öffentlichkeit: „hamburg koenig daenemark auf durchreise seit vorgestern hier nachts herzschlag gestorben.“ Am nächsten Tag berichteten nahezu alle lokalen Zeitungen in Sonderausgaben über die sensationelle Geschichte des Graf Kronborg, der mit einer beachtlichen Menge Bargeld in der Tasche unweit einiger stadtbekannter Freudenhäuser zusammengebrochen war. Trotz der angebrachten diplomatischen Zurückhaltung geboten die Reporter den Spekulationen nur vordergründig Einhalt. Die Neue Hamburger Zeitung behauptete mit ihrem
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Inkognito oder Wie man nicht als König reist: Eine Einleitung
Nachruf auf Graf Kronerg, womit sie das Pseudonym kurzerhand eindeutschte, das „Andenken an einen liebenswürdigen Mann, der die Bürde und die Würde seiner Krone gern abstreifte“, aufrechtzuerhalten. Der Hamburgische Correspondent beschrieb einen „Privatmann“, dem es in „strengstem Inkognito“ möglich gewesen sei, „das Treiben der Weltstadt in all seinen Nuancen [. . . ] zu genießen.“1 Das Inkognito des dänischen Königs war jedoch alles andere als ein frivoler und bizarrer Spleen eines allzu sorglosen Monarchen. Es beruhte auf einer Jahrhunderte alten Tradition, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs zwar anachronistisch wirkte, als Zeremoniell jedoch immer noch zum gängigen Repertoire des europäischen Hochadels zählte. Der zeremoniellen Tradition entsprechend reiste der dänische König in aller Öffentlichkeit als Graf. Durch den Zusatz Kronborg, den Namen eines Schlosses in Helsingør, das sich seit Jahrhunderten im Besitz der dänischen Königsfamilie befand, verwies das Pseudonym spielerisch auf die wahre Identität des Reisenden. Das Inkognito Friedrichs VIII. von Dänemark gehörte zum aristokratischen Alltag und unterschied sich allein durch sein unvorhergesehenes Ende von zahllosen anderen Inkognitoreisen vom ausgehenden Mittelalter bis zum anbrechenden 20. Jahrhundert. Das Inkognito bezeichnet einen bewussten und temporären Identitätswechsel. Der Träger nimmt einen anderen Namen an und bekundet so seine Absicht für eine gewisse Zeit eine andere Person sein, eine andere soziale Rolle spielen zu wollen. Es handelt sich um ein meist von regierenden Monarchen und hohen Mandatsträgern initiiertes Zeremoniell, das für ein spezifisches Publikum inszeniert wird und eine klare, oft politische Absicht verfolgt. In einem öffentlichen Identitätsspiel zeigen zeremonielle Versatzstücke wie Kleidung, Titulatur und Dekoration einen freiwillig eingenommenen, niederen sozialen Status an. Das Inkognito beruht somit auf der Annahme, dass die individuelle Identität veränderbar ist und situationsspezifisch angepasst werden kann. Der Träger des Inkognitos erfindet seine Identität eigenmächtig und gestaltet sie zweckgebunden. Seine Anwendung resultiert aus der Überzeugung, dass unterschiedliche Identitäten unterschiedliche Funktionen erfüllen. Daher erinnert es zunächst an die wohl bekannteste Theorie zu multiplen Persönlichkeiten von Königen: Ernst H. Kantorowicz’ 1957 zuerst in englischer Sprache publizierte Studie Die zwei Körper des Königs. Immerhin gehört das Inkognito zu den Privilegien, wenn nicht von Königen, so doch von bekannten und einflussreichen Personen; ein Unbekannter besitzt nicht die Möglichkeit, inkognito zu sein. Kantorowicz analysierte, wie englische Juristen im 16. Jahrhundert eine Doktrin entwickelten, mit deren Hilfe es ihnen gelang 1
Wiborg (2012).
Inkognito oder Wie man nicht als König reist: Eine Einleitung
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auch bei Unfähigkeit, Geisteskrankheit oder Tod des Königs die Stabilität und Kontinuität des Staates zu legitimieren und zu gewährleisten.2 Sie erörterten, dass die Person des Königs aus zwei Körpern bestehe: dem sterblichen Leib (body natural) und dem unsterblichen politischen Körper (body politic). Beim Tod des natürlichen ging der politische Körper auf die Person des neuen Königs über. Der body politic überlagerte und unterjochte alle Defekte und Unzulänglichkeiten des body natural.3 Zur selben Zeit wurde in Frankreich der königliche Körper für bestimmte Zeremonien zweigeteilt.4 Bei Grablegungen verstorbener Könige versinnbildlichte eine dem Sarg vorangetragene EffigienPuppe die politische Unsterblichkeit des Herrschers.5 Die historische Forschung sah in Krönungen, Beerdigungen, Hochzeiten oder Gesandtschaftsempfängen lange Zeit rein ornamentale und daher vernachlässigenswerte Ausschmückungen harter politischer Realitäten. Sie galten als prunküberladene Blendwerke, auf die Historiker nicht hereinfallen durften. In den letzten Jahren ist jedoch ein neues Interesse an zeremoniellen Formen zu beobachten. Es wurde die Forderung laut, die „,weichen‘ Themen der symbolischen Kommunikation“ und die „,harten‘ Themen des politischen Entscheidungshandelns“ in Beziehung zu setzen.6 Kulturgeschichtliche Untersuchungen, die einer strikten Trennung von Realität und Repräsentation zunehmend skeptisch gegenüber standen, beschrieben Zeremonien einerseits als Kommunikationsversuch mit den Untertanen und andererseits als notwendige Sichtbarmachung politischer Ordnung.7 Bereits 1969 hatte Norbert Elias in seiner klassischen Studie zur höfischen Gesellschaft auf die Bedeutung der Interaktion mit dem Publikum verwiesen, die insbesondere Hofzeremonielle kennzeichnete.8 Elias interpretierte höfische Zeremonien als Kommunikationsforen, die Herrschern und Untertanen ihre Stellung im Staatsgefüge mitteilten. Er thematisierte Zeremonien als komplexe Zeichensysteme, die von allen Beteiligten entziffert werden mussten, um daraus politische Botschaften 2 3
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Vgl. Kantorowicz (1990), 16. Siehe auch ausführlich Boureau (2000); Landauer (1997); Rader (2004); Faber (1998); Genet (1997). Vgl. Giesey (1997), 226. „Diese zwei Körper sind in einer Person inkorporiert und bilden einen Körper, nicht zwei verschiedene.“ Kantorowicz (1990), 33. Hervorgehoben im Original. Vgl. Giesey (1997), 224f. Siehe auch Landauer (1997), 220. Vgl. Bercé (1990), 386. Stollberg-Rilinger (2008a), 17. „Durch ihre materielle Handgreiflichkeit, ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit machen diese Symbolisierungen die institutionelle Ordnung, die sie verkörpern, zu einer objektiven Wirklichkeit.“ Stollberg-Rilinger (2008a), 10. „Die praktizierte Etikette ist [. . . ] eine Selbstdarstellung der höfischen Gesellschaft. Jedem einzelnen, voran dem König, wird darin sein Prestige und seine relative Machtstellung durch andere bezeugt.“ Elias (2002), 174. „Repräsentation ist daher auf Öffentlichkeit angewiesen.“ Schwengelbeck (2005), 125.
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Inkognito oder Wie man nicht als König reist: Eine Einleitung
abzuleiten.9 Zeremonien bündelten „die sittlichen Ideen der staatlichen Ordnung“, materialisierten politische Überzeugungen und kommunizierten diese an ein Publikum, welches sie durch Anwesenheit und Akklamation bestätigte.10 Die zeremonielle Praxis avancierte zur „politische[n] Handlung“ und bezeichnete fortan eine „die praktische Politik übersteigernde Kategorie, da sie den Rahmen bestimmt, innerhalb dessen sich politisches Handeln überhaupt vollziehen kann.“11 Das neu erwachte Interesse am Zeremoniell resultierte zudem aus dessen performativen Aspekten, da die Bedeutung eines Zeremoniells erst im Moment der Aufführung generiert wird. Demnach handelte es sich bei einem Zeremoniell um „ein Tun mehr als ein Sein“.12 Durch konkrete Präzedenzfälle schuf es eine „normative Kraft des Faktischen“.13 Trotz beständig zunehmender und geradezu detailversessener Beschreibungen in der Zeremonialliteratur bewahrten sich Zeremonielle ihre performative Flexibilität.14 Sie eröffneten Spielräume für individuelle Ausgestaltung, die insbesondere von regierenden Monarchen instrumentalisiert werden konnten, um situationsspezifische politische Botschaften zu formulieren. Höfische Zeremonielle machten den Staat für seine Subjekte sichtbar; sie zeichneten Herrschaftsbilder, in denen zeremonielle Rangordnungen eindeutige Hierarchien etablierten.15 Diese wurden zum Gegenstand beständiger, oft verbittert geführter Aushandlungsprozesse.16 Je detaillierter Zeremonielle festgelegt waren, desto komplizierter wurde es, die in ihnen symbolisierten Machtabstufungen zu durchbrechen. Die kontinuierliche Ausbreitung zeremonieller Formen erstreckte sich sukzessive bis in die vermeintliche Privatsphäre der Herrscher.17 Diese Entwicklung setzte nahezu zeitgleich mit der Verschriftlichung zeremonieller Praktiken im 15. Jahrhundert ein. Paradebetten in königlichen Schlafzimmern, immer elaboriertere Grußformeln und zunehmend verbindlichere Regeln für Tänze, Bälle und Bankette bezeichneten einen Siegeszug des Zeremoniells, der den Monarchen ihre Rückzugsräume raubte.18 Das Lever Ludwigs XIV., sein all9 10 11 12 13 14
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Vgl. Bauer (1997), 34. Straub (1969), 3f. Paulmann (1999), 403; Frühsorge (1984), 238. Stollberg-Rilinger (2008a), 21. Stollberg-Rilinger (2004), 517. „Jede starre Regel wurde früher oder später durch neue, abweichende Präzedenzfälle obsolet.“ Stollberg-Rilinger (2002), 15. Vgl. Stollberg-Rilinger (2008a), 21. Es kann gerade nicht die Rede davon sein, dass Zeremonielle „das Verhalten des Einzelnen ohne jede individuelle Rücksichtnahme in das Korsett der Etikette“ einschnürten. Beetz (1990), 122. Vgl. Pečar (2003), 249. Vgl. Stollberg-Rilinger (2004), 523. „Der Privatraum erhält eine bestimmte, hervorgehobene Stelle im Zeremoniell, hört auf privat zu sein.“ Paravicini (1997), 23. Vgl. Bauer (1997), 41; Elias (2002), 198.
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morgendlicher Bettempfang verschiedenster Untertanen in penibel festgelegter Form und Reihenfolge, ist wohl das berühmteste Beispiel. Dieser Prozess zwang die höfische Gesellschaft zu kompensatorischen Maßnahmen, zu denen Aufenthalte in Lust- und Jagdschlössern ebenso zählten wie der zeitweise Verzicht auf die angestammte soziale Rolle im Inkognito. Sowohl die Politik als auch die Performanz des Zeremoniells beruhten auf persönlicher Interaktion.19 Je ausgefeilter das Zeremoniell wurde, je deutlicher es Machthierarchien kommunizierte, desto schwieriger wurde es den Beteiligten sich gegenüber zu treten. Dies galt insbesondere für Treffen regierender Monarchen, bei denen zeremonielle Aussagen über die Ranghoheit des Einen gegenüber dem Anderen besonders delikat waren. Daher wurden Herrschertreffen „durch das Zeremoniell eher verhindert als gefördert.“20 Auch hier eröffnete das Inkognito einen Ausweg: Der Zweck des Inkognito bestand nicht darin, daß man unerkannt blieb. Sondern nur darin, daß sich nicht lösbare Fragen des Vortritts oder Tischordnung, etwa wenn eine größere Anzahl gleichrangiger Fürsten zusammentraf, auf diese Art lösen ließ, weil dann wichtige Ceremonien ausgelassen werden durften.21
Das Inkognito implizierte eine den Untersuchungen von Ernst Kantorowicz nicht unähnliche Aufteilung einer Person in mehrere Körper bzw. verschiedene Rollen. Es beruhte auf einer „Trennung der Person von ihrer das Zeremoniell begründenden Funktion“. Der Träger des Inkognitos „schlüpft[e] gleichsam in eine andere Persönlichkeit“.22 Das Inkognito half, praktische Schwierigkeiten, die aus immer mehr mit Bedeutung aufgeladenen und detailverliebteren Zeremoniellen resultierten, aus dem Weg zu räumen. Es bezeichnet nicht das historische Gegenstück zeremonieller Ausdifferenzierung, sondern ein sich im Laufe der Zeit beständig ausdifferenzierendes Zeremoniell. Das Inkognito etablierte sich im ausgehenden Mittelalter als eine höfische Praxis und wurde so wie viele weitere zeremonielle Formen in den folgenden Jahrhunderten zunehmend kodifiziert. Ähnlich wie bei anderen Zeremoniellen erfolgte seine Anwendung situationsspezifisch, praxisorientiert und funktionsbezogen. Auch das Inkognito orientierte sich an illustren historischen Vorläufern, die als Präzedenzfälle legitimierende Kraft besaßen. Es handelt sich um
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Vgl. Stollberg-Rilinger (2002), 3. Paulmann (1999), 37. Straub (1969), 111. Hartmann (1990), 65. „Das Zeremoniell des Staatsbesuchs beruht auf völkerrechtlichen Usancen und zwischenstaatlichen Vereinbarungen. Selbst das Staatsoberhaupt kann sich ihm nicht aus eigenem Recht entziehen.“ Ebd., 65. „Je stärker das Zeremoniell wird, desto notwendiger werden die Transgressionen. Privatheit und Incognito sind Auswege aus zeremonieller Überanstrengung.“ Paravicini (1997), 26.
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ein adelig-höfisches Zeremoniell des freiwilligen und bewussten, temporären und zweckgebundenen Statuswechsels.
Charakteristika des Inkognitos Als flexibles Spiel mit Identitäten ist das Inkognito ein „seiner Natur nach [. . . ] schwer zu fassender Gegenstand“.23 Daher muss es zunächst von anderen Formen der Simulation und insbesondere von der bewussten Vorspiegelung falscher Tatsachen unterschieden werden. Der Eremit, der 1138 in Burgund vorgab, Kaiser Heinrich V. zu sein, oder der falsche Herrscher, der sich ein ganzes Jahr lang als Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen ausgab und 1285 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, gehören nicht zur Geschichte des Inkognitos. Dies gilt auch für den falschen Eduard VI., der 1555 in England auftauchte und behauptete, er sei 1553 gar nicht gestorben. Ähnlich argumentierten diverse falsche Sebastians, die sich in den 1580er und 1590er Jahren in Portugal als König Sebastian vorstellten, von dem man angeblich zu Unrecht glaubte, er habe 1578 das Zeitliche gesegnet. Auch Perkin Warbeck, der sich als der jüngere Sohn Eduards IV. ausgab, oder der falsche Dmitri, der glauben machte, er sei der 1591 von Boris Godunov ermordete Zarewitsch Dmitri Iwanowitsch, der Sohn Iwans IV., und tatsächlich 1605/06 in Russland regierte, sind der Geschichte des Inkognitos fremd.24 Der Hochstapler Pierre Tiercelin, der sich 1765 als „Comte de Tiercelin“ in Paris aufhielt, verwandte ebenso wenig ein Inkognito-Pseudonym wie die falsche „Comtesse de Falckenstein“, die 1780/81 in Straßburg einreiste, auch wenn deren Identität explizit auf die Inkognitoreise Kaisers Joseph II. unter diesem Pseudonym rekurrierte.25 Kluges Etymologisches Wörterbuch verzeichnet unter dem Lemma inkognito „unter anderem Namen, unerkannt“ und gibt an, dass der Begriff aus dem italienisch-lateinischen Sprachraum abstammt.26 Wesentlich expliziter ist der Trésor de la langue française: En parlant de personnages connus ou illustres. Sans se faire connaître, sans révéler sa véritable identité, en usant même d’un faux nom, pour échapper aux règles du protocole ou pour préserver son identité.27
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Wrigley (2002), 209. Vgl. Schwinges (1987), 177–90; Zemon Davis (1998), 64–5. Denis (2008), 423–7. Kluge, Friedrich (Hg.): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin u. a. 24 2002, 441. Trésor de la langue française, Bd. 10, Paris 1983, 23.
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Je älter die herangezogenen Wörterbücher, desto expliziter sind ihre Definitionen des Inkognitos. Sanders Wörterbuch der deutschen Sprache von 1860 bezieht es auf Fürsten und Berühmtheiten, „die sich so lästigen Aufmerksamkeiten und Beachtung entziehen wollen“.28 Die Oekonomische Encyklopädie aus dem Jahre 1783 versteht unter inkognito: [. . . ] ohne erkannt zu seyn, oder auch, ohne sich zu erkennen zu geben; ohne sich für den, der man ist, kund zu geben; ohne für die Person, welche man wirklich ist, erkannt seyn zu wollen.
Zur Anwendung gelange es um „alles beschwerlichen Ceremoniels und Gepräges überhoben zu bleiben, und die Freuden der Gesellschaft mit mehr Freyheit genießen zu können; oder auch aus anderen Gründen.“29 Die Lexika verdeutlichen erstens, dass die Praxis des Inkognitos schon lange vor dem Begriff existierte. Zweitens fällt die Bandbreite der angeführten Merkmale und Definitionskriterien auf. Drittens wird eine zunehmende Reduzierung des Begriffs auf ein schlichtes unerkannt sein deutlich. Bevor der historische Wandel des Inkognitos untersucht werden kann, gilt es daher einige seiner grundlegenden Charakteristika anzusprechen. Es handelt es sich um ein Zeremoniell, das einen befristeten Identitätswechsel anzeigt. Damit ist das Inkognito gleichzeitig Produkt und Beweis des fiktiven Charakters sozialer Rollen, die es kaschieren und temporär entlasten kann. Bei konfliktbeladenen Treffen hochrangiger Persönlichkeiten half es, „Interaktion überhaupt zu ermöglichen“, indem es ostentative Machtdemonstrationen und übliche Ehrenbezeugungen verzichtbar machte, ohne das Zeremoniell außer Kraft zu setzen.30 Das Inkognito unterlag bestimmten Regeln und orientierte sich an tradierten Vorläufern.31 Neben seinem zeremoniellen Status ist als weiteres grundlegendes Kennzeichen des Inkognitos sein ludischer Charakter zu nennen. Das Inkognito bezeichnet ein Identitätsspiel mit verbindlichen Regeln. Johann Huizinga, der in seinem Homo ludens von 1938 den menschlichen Spieltrieb zum Ausgangspunkt aller Kultur erhob, definierte Spiele anhand von Kriterien, die auch auf das Inkognito zutreffen.32 Es bezeichnet ein „freies Handeln”, zu dem niemand gezwungen wird; ähnlich wie andere Spiele betrifft es nicht das „,eigentliche‘
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Sanders, Daniel (Hg.): Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1, Leipzig 1860, 817. Krünitz (1783), 498. Pečar (2003), 251. Diese als „unverletzbare Normen“ zu bezeichnen, trifft jedoch auf das Inkognito genauso wenig wie auf andere Zeremonielle zu, die sich allesamt durch eine gewisse Flexibilität auszeichneten. Ehalt (1981), 413. Bereits laut Friedrich Schiller ist der Mensch „nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Schiller (2005), 355.
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Leben“.33 Das Inkognito meint vielmehr „das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.“ So wie andere Spiele zeichnet es sich durch einen eindeutigen Anfang und Ende, durch eine „Abgeschlossenheit und Begrenztheit“ aus.34 Dieser ludischer Charakter verortet das Inkognito zusätzlich im Bereich des Zeremonienwesens. Denn Zeremonien inszenieren politische Herrschaft und spielen sie einem Publikum wie auf einer Theaterbühne vor: Being the king and playing the king [. . . ] are not essentially different activities. Nor are they essentially the same. Rather, they are mutually dependent activities, sharing a dynamic doctrine of two bodies.35
Ein Inkognito wurde vor einer und für eine Öffentlichkeit aufgeführt. Im Gegensatz zur umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes zielte es nicht darauf ab, unerkannt zu bleiben bzw. seine soziale Identität zu verbergen. Stattdessen benötigte es ein „vielfältiges Publikum“,36 dessen Kenntnis um die Person des Inkognitoträgers Voraussetzung für sein Gelingen war.37 Die angelegte Identität erwies sich nur dann als sinnvoll, wenn sie durch das Verhalten der mit ihr Konfrontierten bestätigt wurde.38 Ein gelungenes Inkognito war ein Ausdruck von Macht. Denn als öffentliches, zeremonielles Spiel zwang es das Publikum mitzuspielen. Das Inkognito setzte nicht nur einen bestimmten Bekanntheitsgrad, sondern auch die nur wenigen Personen vorbehaltene Fähigkeit voraus, Andere dazu zu bringen, die angenommene Identität demonstrativ anzuerkennen. Es verdeutlichte, dass sein Träger die eigene soziale Rolle beherrschte und nicht von ihr beherrscht wurde. Darin ähnelt das Inkognito der freiwilligen Abdankung, mit der es allerdings nicht verwechselt werden darf. „[N]e peut librement refuser le pouvoir que celui qui le possède en sa totalité, donc qui possède aussi celui d’un renoncement radical.“39 Das Ausmaß der Macht spiegelte sich in der zeremoniellen Ausgestaltung des Inkognitos wider. Je größer das politische Gewicht seines Trägers, desto leichter konnte er tradierte Zeremonielle modifizieren und neue Präzedenzfälle schaffen.40 Auch das Inkognitozeremoniell war der symbolische Ausdruck einer idealtypischen Vorstellung von politischer Ordnung. 33 34 35 36 37 38
39 40
Huizinga (1956), 15. Ebd. Wikander (1993), 312, siehe auch 5. Wrigley (2002), 212. Vgl. Bély (1999), 386. „Formen, die von niemand anderem wahrgenommen werden als vom Handelnden selbst, gehören nicht in den Bereich des Zeremoniells.“ Hartmann (1990), 40. „Das was der einzelne ist, erfährt er wie in einem Spiegel zuerst durch die Reaktionen des sozialen Gegenübers auf sein Handeln.“ Alois Hahn zitiert nach Moos (2004a), 4. Hervorgehoben im Original. Le Brun (2009), 247, siehe auch 250. Vgl. auch Sykora (2004), 8. Vgl. Stollberg-Rilinger (2002), 148.
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Das Zeremoniell des Inkognitos musste die temporäre soziale Rolle in ein bestehendes Machtgefüge integrieren. Das konnte nur gelingen, wenn ein rangniederer Status eingenommen wurde. Seine politische Funktion erfüllte das Inkognito allein in Form einer freiwilligen hierarchischen Herabsetzung.41 Diese Demutsgeste bezeugte ein monarchisches Selbstverständnis. Denn im temporären Verzicht auf die eigene Machtposition kamen Bescheidenheit und Volkstümlichkeit zum Vorschein, die als noble Charaktereigenschaften den Herrschaftsanspruch legitimierten. Das Inkognito war keine weltfremde monarchische Attitüde, sondern eine kalkulierte politische Handlung. Zu den charakteristischen Aspekten des Inkognitos gehören auch die untrennbar mit ihm verbundenen Formen der Fiktionalisierung. Indem es eine bestimmte soziale Rolle erfand, war das Inkognito immer auch „Produkt einer Fiktion“.42 Das Inkognito spielte eine fiktive Identität öffentlich vor und erweckte sie zum Leben. Darüber hinaus entwickelte die neue Identität ein fiktionales Eigenleben und brachte eigene Erzählungen hervor, die Spiel und Fiktion gleichermaßen intensivierten. Das Inkognito ist als Resultat einer „literarisch vermittelten Konvention“ zu interpretieren, dessen mystifizierende Fiktionen seine politischen Funktionen verstärkten.43 Es stimulierte die Imagination des Publikums und lud es ein, sich den Charakter und die Geschichte der zur Schau gestellten Person auszumalen. Die so entstehenden Narrative beeinflussten zukünftige Inkognitozeremonielle.44 Nicht nur der König, sondern auch die von ihm im Inkognito eingenommene Rolle waren „une fiction qui jouit d’une autonomie propre“.45 Von diesen Überlegungen ausgehend kann nach Max Weber ein Idealtypus des Inkognitos entworfen werden, auf dessen Grundlage seine historischen Erscheinungsformen zu thematisieren sind. Dabei muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass sich dieser Idealtypus nirgendwo in der Geschichte vollständig wiederfindet. Ebenso wenig bezeichnet er den möglichen Endpunkt einer teleologischen Entwicklung. Vielmehr beschreibt der Idealtypus einen analytischen Standort, zu dem konkrete Beispiele aus der Geschichte des 41
42
43 44 45
„Irritierend war sowohl, wenn Rangniedere mehr Prunk aufwandten, als ihnen zukam, als auch, wenn Ranghohe oder deren Repräsentanten nicht den ihnen angemessenen Glanz entfalten konnten.“ Stollberg-Rilinger (2008a), 301. Wrigley (2002), 211. „Jede institutionelle Ordnung bedarf symbolisch-ritueller Verkörperungen und beruht auf gemeinsam geglaubten Fiktionen.“ Stollberg-Rilinger (2008a), 9. Auch die eingangs angesprochene Theorie der zwei Körper des Königs beruht auf einer gemeinsam geglaubten „Fiktion eines königlichen Superkörpers, der auf geheimnisvolle Weise mit des Königs natürlichem, individuellem Körper verknüpft ist.“ Faber (1998), 182. Wrigley (2002), 210. „To tell a story which ends in recognition is to perform one of the most quintessential of all acts of fictional narration [. . . ].“ Cave (1988), 4. Vgl. Wrigley (2002), 209. Gaehtgens/Hochner (2006), 1. „Über den Weg der Fiktionalisierung können neue Deutungsaspekte für die Ritualforschung erschlossen werden.“ Witthöft (2004), 314.
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Inkognitos in Bezug gesetzt, kontextualisiert und auf ihre historische Variabilität untersucht werden können: Er [der Idealtypus – VB] wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht [. . . ].46
Im Anschluss an Weber kann der historische Idealtypus des Inkognitos folgendermaßen charakterisiert werden: 1. Das Inkognito kommt außerhalb des eigenen Hofes und – mit Ausnahme von Inspektionsreisen im eigenen Herrschaftsgebiet – auch außerhalb des eigenen Territoriums zur Anwendung. Die genauen Modalitäten des Inkognitos werden mit dem Gastgeber situationsspezifisch ausgehandelt. Dieser spricht nach einer erzielten Übereinkunft eine offizielle Einladung aus. 2. Der Inkognitoträger wählt ein Pseudonym für seine Reise. Dieses besteht aus einem Adelstitel, der hierarchisch unterhalb der tatsächlichen sozialen Stellung angesiedelt ist. An diesen fiktiven Titel schließt sich der Name eines Ortes an, der dem eigenen Herrschaftsbereich entstammt. Damit verweist das Pseudonym spielerisch auf die tatsächliche Identität des Inkognitoträgers. 3. Vor der Abreise werden das Inkognito und das verwendete Pseudonym öffentlich angekündigt. Die Öffentlichkeit reagiert auf das Inkognito und kommentiert es während und nach der Reise. 4. Bestimmte zeremonielle Techniken zeigen das Inkognito an. Dazu gehören die Kleidung und der ostentative Verzicht auf Ehrenbezeugungen. Eine Visite beim Gastgeber findet hingegen statt, wobei dieser seinen Gast entsprechend seines im Inkognito angezeigten Status empfängt. 5. Der Gast kann seinen Inkognitostatus flexibel an- und ablegen. Der Wechsel zwischen Offiziellen- und Inkognitostatus spiegelt sich im angewandten Zeremoniell und im Verhalten des Publikums wider.
Zeremonielle Bruchstellen Die Geschichte des Inkognitos führt zu der Frage nach der Beharrungskraft und Anpassungsfähigkeit zeremonieller Formen über Epochengrenzen 46
Weber (1922), 191.
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hinweg. Wie veränderten sich Zeremonielle als Ausdruck politischer Ordnungsvorstellungen im Zuge von Regierungs- oder gar Systemwechseln? Wie konnten sie innerhalb neuer Machtstrukturen refunktionalisiert werden, ohne ihre legitimierende Tradition einzubüßen? Die Zeremonienforschung hat diese Fragen in erster Linie für den Übergang vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit gestellt.47 Diese Epochenschwelle ist auch für das Inkognito relevant. Denn in seiner zeremoniellen Bedeutung entstand der Begriff erst zu Beginn der Frühen Neuzeit. In der Mitte des 16. Jahrhunderts meinte er zunächst in Italien und dann sukzessive in ganz Europa im Unterschied zu seinem lateinischen Ursprung nicht mehr länger unbekannt, sondern ein adelig-diplomatisches Zeremoniell, dessen Formen sich zunehmend verfeinerten und ausdifferenzierten. Im Rahmen zeremonieller Aufwartungen bildeten sich ebenso wie bei Verkleidungsfesten Vorformen des Inkognitos heraus, welche die Hofkultur der Frühen Neuzeit prägten. Allerdings kam es erst am Ende des 17. Jahrhunderts durch die Inkognitoreise Peters des Großen zu einem legitimierenden Präzedenzfall, der das Inkognito endgültig als anerkanntes Zeremoniell etablierte. Ebenso interessant erscheint die Frage nach der Beharrungskraft von Zeremoniellen jedoch für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die radikale Entmachtung der Monarchie in der Französischen Revolution und ihre Restauration durch den Wiener Kongress bezeichnen dramatische, europaweite Brüche politischer Ordnungssysteme. Keine dieser antagonistischen Ordnungen konnte ohne politische Zeremonielle auskommen, welche die veränderten Verhältnisse in symbolisch verdichteter Form kommunizieren mussten. Für die Zeit nach 1815 ist daher zu thematisieren, inwiefern und in welcher Form monarchische Zeremonielle wieder auflebten. Rekurrierten sie dezidiert auf das Ancien Régime, indem sie dessen Formen schlicht wiedereinsetzten, oder passten sie sich den neuen Anforderungen der konstitutionellen Monarchie und des modernen Verfassungsstaats an? Es stellt sich die Frage nach der „persistence of the Old Regime“, nach den politischen, sozialen und kulturellen Kräften, die nicht dem Aufbruch in die Moderne huldigten, sondern versuchten, so viel wie möglich aus den alten Zeiten in die neuen herüberzuretten.48 Anhand des Inkognitos kann untersucht werden, inwieweit „eine Monarchie in der Moderne symbolisch vermittelbar war“.49 Dies erscheint vielversprechend, da in einem Zeitalter, in dem die politische Macht des Monarchen in vielen Bereichen der Kontrolle parlamentarischer Volksvertreter oblag, Zeremonielle ein wichtiges Mittel waren, den eigenen Machtanspruch zu demonstrieren. Sie halfen ein monarchisches Selbstverständnis zur Schau zu stellen, das im 47 48 49
Vgl. Stollberg-Rilinger (2004), 517. Vgl. Mayer (1981), 4. Scholz (2006), 9.
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politischen Alltag inzwischen nicht mehr ohne weiteres akzeptiert wurde. Die desakralisierte und demokratisierte Monarchie des 19. Jahrhunderts beruhte zu großen Teilen auf der „royal performance“.50 In Zeiten, in denen ihre Legitimität von vielen Seiten radikal in Frage gestellt wurde, mussten Monarchen ihre Ansprüche umso dringender zeremoniell festigen.51 Monarchische Zeremonielle waren ein „Medium“ für den „Wandel von der hierarchischen Fürstengesellschaft zum modernen Staatenwesen“.52 In ihnen kann der Spagat nachvollzogen werden, den das postnapoleonische Europa zwischen immer noch göttlich legitimierten Königen und der anbrechenden Volkssouveränität der Verfassungsstaaten zu leisten hatte. Dass die Monarchien des 19. Jahrhunderts nicht „entwurzelt, freigesetzt, akzidentell und überflüssig“ waren, konnten sie den Staatsbürgern am ehesten in öffentlichen Zeremoniellen mitteilen.53 Daher erlebte das Zeremoniell im 19. Jahrhundert eine „Renaissance, die als Antwort auf den Legitimationsdruck der Monarchie in der Moderne gelesen werden kann.“54 Außer in politischen Ursachen lag dies darin begründet, dass Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden, welche die immer mehr ausdifferenzierten Zeremonielle in der Frühen Neuzeit oft zu politischen Blockadeinstrumenten gemacht hatten. Insbesondere bei Monarchentreffen war der logistische und finanzielle Aufwand großer Zeremonien immer weiter angestiegen, ohne dass Präzedenzstreitigkeiten und Konflikte um konkurrierende Machtsymbole verbindlich und einvernehmlich geregelt werden konnten. Im Anschluss an die Napoleonischen Kriege, als die militärischen Notwendigkeiten es nicht mehr erlaubt hatten, mit Herrschertreffen zu warten, bis jedes zeremonielle Detail geklärt war, schaffte der Wiener Kongress alle Rangunterschiede zwischen regierenden Monarchen de facto ab.55 Gleichzeitig hatten Aufklärung und Französische Revolution zu einem neuen Amtsverständnis monarchischer Herrschaft geführt, auf das, auch wenn es von vielen Monarchen keineswegs widerstandslos akzeptiert wurde, in der Außendarstellung Rücksicht zu nehmen war. Das 19. Jahrhundert kennzeichnet eine schleichende, im Ancien Régime noch undenkbare „Trennung von Amt und Person“ des Monarchen.56 Der König galt zunehmend als ein politischer 50 51 52 53 54 55 56
Osta (2006), 181. „[C]ivil and social rituals invigorated the monarchy, cemented the discordant nobilities, and heralded the latest changes in the order of precedence.” Mayer (1981), 137. Stollberg-Rilinger (2002), 26. Dollinger (1985), 334. Schwengelbeck (2005), 125. „Wiederbelebung monarchischer Repräsentationen im 19. Jahrhundert“. Ebd., 123. Vgl. dazu ausführlich Paulmann (1999), 70–7. Auch auf dem Kongress selbst benutzten verschiedene Monarchen das Inkognito. Vgl. dazu Gugitz (1912), 125f. Dollinger (1985), 335.
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Funktionsträger, der ähnlich wie andere Mandatsträger einen bestimmten Auftrag für den Staat erfüllte. Im Anschluss an Kantorowicz wurde die These vertreten, dass nach der Französischen Revolution die zwei Körper des Königs wieder zu einem einzigen verschmolzen. Denn der König mutierte nun von einem von Gott eingesetzten, unverletzlichen und unersetzlichen Souverän zum Staatsmann. Obwohl er mit dem Staat einer zeitlosen Institution diente, verkörperte er keine ewige Ordnung mehr. Staatsmann war er nur, wenn er im Rahmen seines Amtes auftrat und handelte. War dies nicht der Fall, eröffnete sich zumindest die Möglichkeit einer von Amt und Ansehen unabhängigen Privatsphäre.57 Diese neue Vision eines königlichen Privatlebens beeinflusste das Inkognito, das – wie auszuführen sein wird – im 19. Jahrhundert zur „Gepflogenheit“ wurde.58 Es war eines der erfolgreichsten monarchischen Zeremonielle dieser Zeit, obwohl ihre Monarchen sehr verschiedene Vorstellungen davon hatten, was die Monarchie repräsentieren und an Werten vermitteln sollte. Einige Monarchen nahmen die neuen „Alternativen monarchischer Selbstverwirklichung“ durchaus ernst und stürzten sich auf ihre bürokratischen und administrativen Aufgaben.59 Die sprichwörtliche Arbeitsdisziplin Kaiser Franz Josephs I. von Österreich ist dafür ein Beispiel. Franz Joseph vereinte dies mit „Tendenzen des Neoabsolutismus“, die auch Napoleon III. charakterisierten, der sich in Frankreich als vom Volk akklamierter Sozialkaiser generierte.60 In Deutschland kam es unter Kaiser Wilhelm II. zu einer die preußische Tradition intensivierenden „Militarisierung der Monarchie“, in der ein Soldatenkaiser das Volk führen sollte.61 Wiederum andere, jeweils divergierende Selbstverständnisse legten diejenigen Monarchen an den Tag, die bei der Frage nach Persistenz und Anpassung des Inkognitos im 19. Jahrhundert den folgenden Ausführungen als Beispiel dienen. Die Wittelsbacher Könige Maximilian II. und Ludwig II. reisten zwar vergleichsweise wenig, dafür aber größtenteils inkognito. Das Zeremoniell half ihnen, ihre monarchische Identität und Amtsauffassung auszuleben und zu kommunizieren. Es ist daher zu fragen, warum das Inkognito trotz einer europaweit zu beobachtenden „Verbürgerlichung der Monarchie“ ausgerechnet im 19. Jahrhundert öfter als in allen anderen Epochen zur Anwendung kam.62
57 58 59 60 61 62
Vgl. Boureau (2000), 12, 29. Paulmann (1999), 300. Ebd., 341, siehe auch 337. Ebd., 342. Ebd., 340. Dollinger (1985), 338. „Teile des Zeremoniells hat sich das 19. Jahrhundert, das ,bürgerliche‘ Jahrhundert, in einer Unzahl von Varianten angeeignet“. Tenfelde (1982), 63. Vgl. dazu auch Büschel (2006), 64–6, 74.
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Fragestellung und Aufbau Leider hat die historisch-kulturwissenschaftliche Forschung das Inkognito bisher allzu stiefmütterlich behandelt. Zumeist begnügte man sich mit dem Hinweis, dass es „intensivere Erforschung verdiene“.63 Selbst Derek Beales, der Biograf Josephs II., der wie kaum ein anderer Herrscher das Inkognito zum Regierungsprogramm erhob, straft es mit Nichtachtung. Der Leser muss schon in den Fußnoten stöbern, um zu erfahren, dass „incognito seems to be worthy of study, as an aspect of the history of monarchy and also of privacy.“64 So sind die Vorarbeiten, auf welche sich die vorliegende Untersuchung stützen kann, schnell aufgelistet: Für die Frühgeschichte des Inkognitos und seine konzeptuelle Herausbildung im Rittertum und in der Ritterliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts sind die Studien von Susan Crane und Marie-Luce Chênerie grundlegend. Claudia Schnitzers Untersuchung zu Höfischen Maskeraden gibt wertvolle Hinweise zum Inkognito in der Frühen Neuzeit. Daneben haben Richard Wrigley und vor allem Norbert Conrads dem Inkognito ebenso kurze wie instruktive Aufsätze gewidmet. Die einzige Untersuchung, die dem Thema auf circa 150 Seiten einen prominenten Platz einräumt, ist Lucien Bélys La société des princes aus dem Jahre 1999.65 Darüber hinaus stützt sich die vorliegende Studie auf Archivmaterial des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, des Geheimen Hausarchivs der Wittelsbacher sowie verschiedener französischer Archive, in erster Linie die Archives Nationales und das Archiv des französischen Außenministeriums.66 Diese werden durch die zeitgenössische deutschsprachige und französische Presse ergänzt. Dazu kommen vor allem für die Epoche der Frühen Neuzeit verschiedene ediert vorliegende Quellen, wie u. a. die Zeremonialprotokolle des Kaiserhofes in Wien. Eine weitere grundlegende Quellengattung bildet die größtenteils aus dem 18. Jahrhundert stammende Zeremonialliteratur, die sich mit der Kodifizierung und Reglementierung des Inkognitos befasst. Eine ähnlich gewichtige Rolle spielen die im Umfeld nahezu aller Inkognitoreisen produzierten zeitgenössischen, populären Beschreibungen, wie sie beispielsweise in Bezug auf die Reisen Josephs II. in großem Umfang verfasst wurden. Schließlich sind zahlreiche, in vielen Fällen längst kanonisierte literarische Texte zu nennen, 63 64 65 66
Wrigley (2002), 209. Beales (1987), 33, Fußnote 24. Vgl. Crane (1997) u. (2002); Chênerie (1986); Schnitzer (1995) u. (1999); Wrigley (2002); Conrads (2005); Bély (1999). Leider nicht eingesehen werden konnte die von Bély erwähnte Archivmappe zum Thema Inkognito in den französischen Archives Nationales, vgl. Bély (1999), 510, sowie die beiden von Fosca (1944) und Fontaine-Bachelier (2006) untersuchten Berichte des Polizisten Charles Fontaine (vgl. Kap. IV.1.4 bis IV.2.1).
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die durch ihre Beschreibungen und Neuinterpretationen einen großen Einfluss auf die Geschichte des Inkognitos ausübten. Anhand dieser Dokumente wird im Folgenden in einem ersten Teil die Genese des Inkognitozeremoniells vom Mittelalter bis zum Beginn der Frühen Neuzeit untersucht. Denn erst im frühen 16. Jahrhundert verwoben sich verschiedene Entwicklungsstränge zum neuzeitlichen Inkognito. Dazu zählen neben archaischen Maskenritualen und Gepflogenheiten der Gastfreundschaft auch spezifisch christliche Überlieferungen sowie diplomatische Techniken des Hoch- und Frühmittelalters, wie die feierliche Einholung des Herrschers oder Monarchentreffen auf neutralem Boden. Die chevalereske Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts bezeichnet eine ebenso entscheidende Etappe wie das Zeremonienwesen des ausgehenden Mittelalters, das dem Inkognito in verschiedenen Formen den Weg bereitete. Der zweite Teil thematisiert zunächst die Große Gesandtschaft Zar Peters I. (1697/98), die ein Meilenstein für die zeremonielle Ausarbeitung des Inkognitos war. Dieses wurde in der Zeremonialliteratur des 18. Jahrhunderts reglementiert, kodifiziert und teilweise auch wissenschaftlich abgehandelt. Die Monarchen des aufgeklärten Absolutismus griffen systematischer als ihre Vorgänger auf das Inkognito zurück, wie die Reise Kaiser Josephs II. nach Frankreich 1777 verdeutlicht. Zudem erfanden sie mit inkognito durchgeführten Inspektionsreisen ins eigene Territorium eine neue, nachhaltige Spielart eines längst europaweit verbreiteten Zeremoniells. Der dritte Teil widmet sich der Frage nach Kontinuität und Wandel des Inkognitos im 19. Jahrhundert, dessen Geschichte am Bespiel der bayerischen Dynastie der Wittelsbacher erläutert wird. Während der gesamten Frühen Neuzeit hatten sich verschiedene Wittelsbacher Herrscher des Inkognitos bedient, das daher auf eine lange dynastische Tradition verweisen konnte. Trotzdem erließen die bayerischen Könige Ludwig I. und Maximilian II. 1829 und 1857 Reiseverordnungen, die das Inkognito neu regelten und Dienstanweisungen an den Obersthofmeisterstab sowie die bayerische Eisenbahndirektion nach sich zogen. Die Auslandsreisen König Ludwigs II. von Bayern illustrieren die verschiedenen Formen des Inkognitos im 19. Jahrhundert. Der vierte und letzte Teil fragt nach Transformationen und Auflösungserscheinungen des Inkognitos am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Bereits ab den 1870er Jahren zog das Inkognitozeremoniell sich potenzierende diplomatische Probleme nach sich, die zu immer konfuseren, oft improvisierten Anwendungsformen führten. Zur gleichen Zeit veränderte der Begriff graduell seine Bedeutung und bezeichnete immer weniger die zeremonielle Spielart des Inkognitos als ein umgangssprachlich gebrauchtes Synonym für unbekannt bzw. unerkannt. Daher stellt sich abschließend die Frage nach den Modalitäten des Inkognitos in der Zwischenkriegszeit und seiner Neuerfindung nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn spätestens seit den 1970er Jahren benutzten einflussreiche
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Inkognito oder Wie man nicht als König reist: Eine Einleitung
Politiker und hohe Mandatsträger immer öfter zeremonielle Techniken der öffentlichen Zurschaustellung von Privatheit, die – ähnlich wie das Inkognito – neue Gesprächsräume eröffnen und Lösungen für schwelende politische Konflikte aufzeigen sollten. Die vorliegende Arbeit ist die erste Überblicksdarstellung zur Geschichte des Inkognitos. Sie wird in der Hoffnung vorgelegt, detailliertere Untersuchungen anzuregen und neue Diskussionen anzustoßen, die ihre Unzulänglichkeiten beheben werden.
I. Die Genese eines Zeremoniells
1. Maske, Krone, Helm 1.1 Götter und Menschen Der Begriff inkognito bezeichnet die Absicht, die eigene Identität für einen begrenzten Zeitraum gegen eine andere einzutauschen. Dieser ebenso temporäre wie spezifisch individuelle Identitätswechsel wird öffentlich und für ein Publikum vollzogen. Das Rollenspiel des Inkognitos ist nur in Bezug auf eine soziale Umgebung sinnvoll. Der Entschluss, für eine gewisse Zeitspanne eine andere gesellschaftliche Rolle zu beanspruchen, kann aus diversen Gründen und in wechselnden Kontexten gefasst werden. Die Thematik des Inkognitos besitzt somit nicht nur historische, d. h. sich im Laufe der Zeit verändernde, sondern auch dezidiert anthropologische Eigenschaften. Denn das Eintauschen einer sozialen Rolle gegen eine andere lässt sich in nahezu allen Gesellschaften, in den unterschiedlichsten Regionen und den verschiedensten Epochen beobachten. Zu bestimmten Zeitpunkten wird ein zeitlich befristeter Identitätswechsel – auch wenn dieser nur in den seltensten Fällen als Inkognito bezeichnen wird – geradezu eingefordert. Dies ist insbesondere bei sakralen wie profanen Ritualen der Fall, auf die jede Gesellschaft von Zeit zu Zeit rekurriert. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Arnold van Gennep in einer wegweisenden Studie religiöse, spirituelle und mystische Initiationsrituale als Übergangsriten (rites de passage) beschrieben. Van Gennep entwarf ein DreiPhasen-Modell um zu verdeutlichen, wie mit Hilfe eines Rituals ein neuer sozialer Status akquiriert wird. Von besonderem Interesse ist dabei die zweite, die so genannte Liminalphase, innerhalb derer sich der angestrebte Übergang in eine andere gesellschaftliche Rolle vollzieht. Zunächst wird der Einzelne vor den Augen der Gemeinschaft symbolisch seines sozialen Status entbunden und anschließend mittels komplexer ritueller Formen in eine neue soziale Identität überführt. Erst dieser öffentlich vollzogene, rituelle Übergang sichert Legitimation und Akzeptanz der neuen Rolle. Initiationsriten bei Stammesgemeinschaften, z. B. aus Anlass der ersten Menstruation oder der beginnenden Pubertät, Taufe und Erstkommunion in christlichen Gemeinschaften oder Diplom- und Preisverleihungen in zeitgenössischen Gesellschaften zählen zu den bekanntesten Beispielen. Im Verlauf eines genau festgelegten Rituals wird dem Einzelnen eine neue Stellung innerhalb der Gesellschaft zugewiesen. Die Person, auf die das Ritual abzielt, tauscht ihre alte Identität gegen eine neue ein.1 1
Vgl. Van Gennep (1986).
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I. Die Genese eines Zeremoniells
Masken und Kostüme zählen seit jeher zu den meistgebrauchten Instrumenten solcher Identitätswechsel. Bereits viele archaische Gemeinschaften benutzten sie für Fruchtbarkeits- oder Bestattungsrituale. Nur der maskierten Gestalt und gerade nicht der leiblichen Person des Maskenträgers war es möglich, bestimmte, für den sozialen Zusammenhalt notwendige Aufgaben zu bewältigen.2 Der rituelle Gebrauch von Masken und Kostümen ist jedoch keine ausschließliche Charakteristik wenig technisierter oder, in den Worten von Claude Lévi-Strauss, ,kalter‘ Gesellschaftstypen. So hat Emmanuel Le Roy Ladurie in einer klassischen Studie die soziale Funktion des südfranzösischen Karnevals im Mittelalter nachgewiesen.3 Zahlreiche jüngere Arbeiten zur Zeremonienkultur des 19. und 20. Jahrhunderts kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Verkleidung und Mimikry als freiwillige und temporäre Identitätswechsel vor und für die Gesellschaft sind in den unterschiedlichsten Spielarten notwenige Bestandteile menschlichen Zusammenlebens. Schon in der Antike wurde die individuelle Identität, also die angebliche Wesensart des Einzelnen, strikt von seiner sozialen, d. h. nach außen sichtbaren Rolle unterschieden. So kannte die altgriechische Sprache nur ein Wort für die Begriffe Maske und Gesicht.4 Das lateinische persona leitet sich aus dem etruskischen phersu ab, das ebenfalls Maske bedeutet. „Ursprünglich meinte ,Person‘ nur die der Außenwelt zugekehrte Seite.“5 Als Synonym bezeichnete persona rituelle und tragische Masken sowie die Masken der Vorfahren.6 Die Grundbedeutung von persona als Maske wurde also schon früh diversifiziert und erweitert, bis es schließlich auch die Bedeutung Mensch einschloss. Im klassischen Latein war die persona, die „Rolle, die der Mensch in der Welt spielt“.7 Schon lange bevor der Mensch zu Beginn der abendländischen Geschichte hinter seiner Maske hervortrat, dienten die verschiedensten Verkleidungen dazu „magische Handlungen zu begleiten, den Alltag zu verlassen und in ritueller Form von überirdischen Mächten Hilfe für die existenziellen Bedürfnisse zu erflehen.“8 Götter definierten sich nicht zuletzt durch ihre Fähigkeit, für einen gewissen Zeitraum eine andere Gestalt anzunehmen. So blickt nicht nur die westliche Welt auf eine lange Reihe verkleideter Gottheiten zurück, von denen nicht wenige in ihren jeweiligen Kulturkreisen zu Gründermythen avancierten.9 Zeus bezirzte Europa in Gestalt eines Stieres; Jupiter verwandelte sich in
2 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. Warnicke (1996), 574. Vgl. Le Roy Ladurie (1979). Vgl. Frontisi-Ducroux (1992), 248. Rothenbühler (1998), 146; siehe auch Crane (2002), 124. Vgl. Mauss (1950), 348. Rheinfelder (1928), 6. Scholz (2005), 13. Vgl. Wrigley (2002), 210.
1. Maske, Krone, Helm
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Amphitryon, um dessen Frau zu verführen.10 Dionysos und Acheloos trugen beständig die verschiedensten Masken. Der skandinavische Gott Heimdallr, der zum literarischen Vorbild gewisser Ritterromane wurde, durchstreifte die Welt in Form eines anderen, und Rav konnte die babylonische Gottheit Shela nur besiegen, indem er sie durch das Anlegen einer anderen Gestalt täuschte.11 Wenn in Rom oder Athen die Menschen ihren Göttern huldigten, ging dies kaum ohne den Gebrauch von Masken vonstatten. Bei den griechischen Dionysos-Prozessionen musste die Anonymität bestimmter Teilnehmer durch Masken gewahrt werden, was bei Unterlassung zu handfesten gesellschaftlichen Skandalen führen konnte.12 Nur bestimmte rituelle Wesen und gerade nicht der gemeine Mensch besaßen die Fähigkeit, die Götter angemessen zu preisen. Im Gegenzug begleiteten die Götter in den unterschiedlichsten Gestalten die Menschen auf ihren Wegen, und nicht selten waren sie es, welche die schwachen Sterblichen ans Ziel führten. Telemach, der Prinz von Ithaka, suchte seinen Vater in Begleitung der Göttin Minerva, welche die Gestalt des weisen Gefährten Mentor angenommen hatte.13 Für Platon war Athene, auf deren mannigfache Verkörperungen noch einzugehen ist, aufgrund ihrer beständigen Identitätswechsel sogar diejenige Göttin, die „den Menschen alle Kultur gebracht hat“.14 Für den griechischen Philosophen bezeichnete die Suche nach der eigenen Identität nichts weniger als den Ausgangspunkt menschlicher Kultur. Die Frage, welche Rolle man in der Welt einnehmen soll oder spielen will, der Versuch vorgegebene Rollen abzulegen und neue anzunehmen, und damit auch das Inkognito, ist grundlegend für unser Verständnis vom Menschen.15 Neben den Göttern, für die es ein ungleich leichteres Unterfangen ist, kann nur der Mensch seine Identität wechseln und versucht dies aus den verschiedensten Gründen seit dem Beginn der uns bekannten Geschichte. Die schmerzhafte Vergänglichkeit des eigenen Ich und der Versuch die als ureigen erkannte gesellschaftliche Rolle einzunehmen, stehen daher auch keineswegs zufällig am Beginn der Literaturgeschichte. Niemand Geringeres als Homer machte die Vervielfältigung von Identitäten, zu welcher der Einzelne in verschiedenen sozialen Kontexten bewegt wird, zum Leitmotiv eines der ersten Meisterwerke der Literatur: die Odyssee. Der „göttergleiche Odysseus“16 muss 10 11 12 13 14 15 16
Vgl. Zemon Davis (1998), 64. Vgl. Boutet (1989), 1240. „Denn oft gleichen die Götter von fern her kommenden Fremden.“ Homer (2007), 293. Vgl. Frontisi-Ducroux (1992), 245-7. Vgl. Stannek (2001), 7. Braun/Guggerli (1993), 51. „The phenomenon of dissimulation is as widespread as the world and as old as nature itself.“ Zagorin (1990), 1. Homer (2007), 3.
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I. Die Genese eines Zeremoniells
sich auf eine zehn Jahre lange, ereignisreiche Reise durch die damals bekannte Welt begeben, um seine verlorene Stellung als rechtmäßiger König wieder zu erlangen. Dies wird ihm allerdings nur durch die ebenso beständige wie geschickte Hilfe der Göttin Athene möglich, die sowohl sich selbst als auch ihrem verzweifelten Begleiter die verschiedensten Gestalten verleiht, um Odysseus in seine ihm zustehende Position und damit der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. So sind die Götter „keineswegs für alle erkennbar“,17 doch „[l]eicht vermögen die Götter, die droben den Himmel bewohnen / Sterbliche strahlend schön oder hässlich erscheinen zu lassen.“18 Auf der abenteuerlichen Fahrt ist dies auch nötig, um den überforderten Odysseus sicher in die Heimat zurück zu bringen. Athene verwandelt sich sukzessive in die „Gestalt eines Mannes“, „[i]n Gestalt eines Mannes, der hütet die Schafe“, in einen „Herold des klugen Alkinoos“, in die „Tochter des Dymas, des schiffeberühmten“, in ein „junge[s], wasserkrugtragende[s] Mädchen“, in ein Weib, „[e]inem schönen und großen, geschickt in glänzenden Werken“, sowie in eine weitere „Frau“.19 Aber auch Odysseus muss seine Identität beständig wechseln, um das an ihm verübte Unrecht, das ihn seiner sozialen Identität beraubt hat, wieder wett zu machen. Die listige Athene zögert daher nicht, ihn immer wieder neu zu verwandeln: Aber damit niemand erkennt von den Sterblichen allen / Laß ich Dir schrumpfen die schöne Haut der geschmeidigen Glieder / Tilge am Haupt die braunen Haare und leg einen Lumpen / Um dich, daß man mit Abscheu sieht den Mann, der ihn anhat / Und ich mache die Augen dir trüb, die früher so schönen / Daß du unansehnlich erscheinst vor allen den Freiern / Und deiner Frau und dem Sohn, die dir in den Hallen geblieben.20
Vorher schon nimmt Odysseus die Gestalt eines Bettlers und eines jungen Mannes an.21 Doch nicht allein die Göttin verwandelt seine Morphologie, sondern der Held der Erzählung verkleidet sich auch ganz ohne göttliche Hilfe als Knecht und schleicht in die „weite Stadt der feindlichen Männer“.22 Bei noch gefährlicheren Abenteuern transformiert Athene den Odysseus jedoch nicht nur in namenlose Stereotype (Bettler, Greis, junger Mann). Sie überzeugt ihn auch, die Identität bestimmter Personen anzunehmen, um Frau und Königreich zurück zu erobern. Zunächst verwandelt sie ihn in Ares und anschließend in Aithon, einen seiner früheren Gefährten, als der er seiner Frau nach Jahren
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Ebd., 266. Ebd., 268. Ebd., 120, 216, 114, 90, 102, 218, 266 u. 334. Ebd., 221–2. Zur Zurückverwandlung vgl. 267. „Bald an Gestalt einem Bettler gleich, ein andermal wieder / Gleich einem jungen Mann, der schöne Kleider am Leib hat.“ Ebd., 268. „Schlug ihn leicht mit dem Stab und machte ihn wieder zum Greise.“ Ebd., 275, 283. Ebd., 54.
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der Trennung gegenübertritt.23 Die angenommene Identität ist dabei mehr als ein „Täuschungsmittel, etwas, das nur den äußeren Schein wiedergeben soll“.24 Denn allein in der Gestalt seines Freundes kann Odysseus sichergehen, dass Penelope ihm die Frage, ob sie ihn noch liebe, ehrlich beantwortet, anstatt aus Rücksicht auf seine Gefühle zu einer Notlüge zu greifen. Die temporär angelegte Identität verschafft Odysseus einen fundamentalen Vorteil.25 Zwar möchte er Penelope unbedingt den Händen der frevelhaften Freier entreißen. Als seine Frau verlangt er sie jedoch nur zurück, wenn ihre Liebe zu ihm noch Bestand hat. Hier erscheint zum ersten Mal ein Motiv, das bei der Genese des Inkognitozeremoniells eine entscheidende Rolle spielen wird: Das Verlangen um seiner selbst geschätzt und geachtet zu werden und nicht aufgrund einer privilegierten sozialen Stellung. Obwohl die hellenische Welt des Homer gar kein genuines Wort für den einzelnen Menschen besaß, will Odysseus Penelopes Zuneigung als Individuum und nicht als bald wieder regierender König.26 Aber Homer führt noch ein weiteres grundlegendes Motiv ein, das uns in der Geschichte des Inkognitos immer wieder begegnet: Trotz der Verkleidung, trotz einer meisterhaft vorgetäuschten Identität gelingt es oft nicht, das eigene Ich zu überspielen. Denn ein wahrer, edler und außergewöhnlicher Charakter lässt sich nie vollständig verstecken. So erahnt Odysseus’ Vater, mit wem er es zu tun hat, auch wenn er seinen eigenen Sohn hinter der Gestalt des ihm gegenübersitzenden Fremden nicht erkennt: Du selbst hast nicht die richtige Pflege, sondern das Alter / Drückt dich nieder, du starrst vor Schmutz und bist schäbig gekleidet. / Wegen Trägheit läßt dich dein Herr gewiß nicht verkommen / Und nichts knechtisches zeigt sich bei dir und bei deinem Anblick / Deiner Gestalt und Größe; dein Aussehn gleicht einem König.27
Im Finale des „großangelegte[n] Abenteuerroman[s] der Heimfahrt“28 tötet Odysseus seine Feinde, gewinnt Penelope zurück, und das Volk skandiert „er bleibe König auf immer“.29 Vielleicht war es auch nicht anders möglich, denn 23
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„Und wie Odysseus dann, dem Ares gleich, zu den Häusern / schritt [. . . ].“ Ebd., 130. Odysseus zu seiner Frau: „[. . . ] mein rühmlicher Name ist Aithon / Ich bin der jüngere Sohn, doch er war der ältre und beßre.“ Ebd., 319. Vgl. auch Hahn (2004), 55. Rheinfelder (1928), 7. Vgl. Felson/Slatkin (2004), 110. „Incognito“ verschafft Odysseus einen „strategic advantage“. Denn dadurch kann er „interpret her actions from the vantage point of a self-confident suitor“. „Homeric culture scarcely conceived the self outside social roles and, it has been said, had no single generic word for each and every human being.“ Hollis (1985), 217. Homer (2007), 397. Frenzel, Elisabeth (Hg.): Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 6 1983, 558. Homer (2007), 405.
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allein dies ist die ihm vorherbestimmte Rolle. Es sind seine herausragenden menschlichen Qualitäten, die sich auch durch die geschickteste Maskerade nicht völlig verbergen lassen, welche ihn zum König prädestinieren. Am Ende der Irrfahrt fällt die soziale Rolle mit dem natürlichen Wesen des Odysseus in eins. Sein edler Charakter ist jenseits von Geburt und Erbe die wahre Legitimation des König Odysseus. Viele Jahrhunderte später rechtfertigten die Könige des mittelalterlichen Europas genau auf diese Weise ihre Herrschaft, wozu die Vorläufer des Inkognitos das ihre beitrugen. Die Herausbildung individueller Identitäten in der abendländischen Kultur, ohne die das Inkognito nicht entstanden wäre, führte zu der Einsicht, dass nur eine der vielen denkbaren Personen, Masken und Rollen diejenige sei, die dem Wesen jedes Einzelnen entspricht. 300 Jahre später machte Sophokles das Nicht-Erkennen der eigenen Identität zum Leitmotiv eines weiteren Meilensteins der Literaturgeschichte und beschrieb es als Urkatastrophe menschlicher Existenz. Im Gegensatz zu Odysseus gelang es König Ödipus als tragischem Helden jedoch erst viel zu spät seine eigene Identität zu finden: „Unglückseliger! Dass niemals du erkenntest, wer du bist!“30
1.2 Die Ankunft des Herrschers Erst durch das funktionale Spiel mit der eigenen Identität gelang es Odysseus, wieder König zu werden. Die mannigfachen Namen, die der Archetyp des abendländischen Reisenden annahm, besitzen dabei nicht zufällig einen dezidiert mythologischen Hintergrund.31 Auch sie zeigen an, dass der Ausnahmemensch Odysseus durch seine herausragenden Charaktereigenschaften für eine führende Stellung in der Gesellschaft bestimmt ist. Er muss in seine natürliche, seiner wahren Identität entsprechenden Rolle jedoch erst hineinwachsen und sie durch einen Findungsprozess endgültig in Besitz nehmen. Das Schicksal hatte es Odysseus verwehrt, als König zu reisen und die damit verbundenen Vorteile zu beanspruchen. Denn auf Reisen genossen Herrscher seit jeher bestimmte Privilegien. Sie zu beherbergen war Pflicht und besondere Auszeichnung für jeden Untertanen. Gastfreundschaft gegenüber Reisenden und Besuchern ist in wohl allen Gesellschaften als Wert anerkannt und diejenigen, die Odysseus auf seiner Odyssee freundlich und mit offenen Armen empfangen, stellen sich schon bald als alte Freunde heraus, die auch nach Jahren der Trennung nichts von ihrer Treue eingebüßt haben. 30 31
Sophokles (1989), 50. Vgl. Conrads (2005), 596–7.
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Darüber hinaus besitzt die Verköstigung und Beherbergung von Herrschern und Mächtigen eine sozial stabilisierende Funktion. Denn in ihr kommt neben der Gastfreundschaft auch die Anerkennung der Herrschaft zum Ausdruck. Diese so genannte herrschaftliche Gastung war nicht nur in Ägypten, Persien und Rom, sondern auch in Westafrika und im pazifischen Raum eine gängige Praxis, welcher sich niemand verweigern konnte.32 Dazu gehörte zumeist auch die Einholung des Herrschers, die ebenfalls bis in die Antike zurück reicht.33 In diesem Zusammenhang entstanden spezifische zeremonielle Praktiken, in denen sich die außergewöhnliche Stellung des Reisenden widerspiegelte. Zum Hofstab des Herrschers zählten gewisse Amtsträger, die für die Ankündigung, die Vorbereitung und die Organisation der Gastung verantwortlich waren.34 Die Demutsbekundung und die Anerkennung, die dem ankommenden Herrscher durch das Entgegeneilen zum Ausdruck gebracht wird, lassen sich auf religiöse Traditionen zurückführen. „Das Zeremoniell zur Einholung des Monarchen entspricht den Ehrenbezeugungen, die man einst Göttern bei ihrer Epiphanie bereitete.“35 Erst durch das Einzugszeremoniell konnte der in der Fremde Unbekannte zum reisenden König aufsteigen, dessen Identität im Zeremoniell der Einholung offen gelegt und bestätigt wurde. Sowohl der König auf Reisen als auch der Reisende, der sich als König entpuppt, zählen somit zu grundlegenden motivgeschichtlichen Vorläufern des Inkognitos. Sie beeinflussten sich wandelnde Identitäten von Ankommenden und sich etablierende Zeremonielle der Gastfreundschaft gleichermaßen. Zudem bildete sich in der Antike eine weitere, für die historische Entwicklung des Inkognitos ausgesprochen wirkmächtige Tradition heraus: eine spezifisch christliche Form des Umgangs mit Fremden und mit fremden Herrschern. Noch lange bevor der Begriff geprägt wurde, avancierte Jesus von Nazareth zum „most famous incognito king” aller Zeiten.36 Das Leben des Nazareners bietet vielfältige Beispiele für wechselnde Rollen, die einer Person zugeschrieben bzw. von ihr angenommen werden, bevor sie ihrer eigentlichen Identität gerecht wird. Der von seinen Peinigern als König der Juden verspottete Jesus wurde spätestens ab dem Mittelalter zum europäischen Inbegriff unverfälschter herrschaftlicher Tugenden, auch und gerade weil sein Königtum nicht von dieser Welt war. Letzten Endes benötigte er kein Königreich, um König zu sein. Jesus’ Prädestination zur Herrschaft kam – dem
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Vgl. Peyer (1987), 146. Vgl. Fuhrmann (1993), 128. Reudenbach bezeichnet die Einholung als Ereignis, in dem „ein überzeitliches und allgemeingültiges Moment von Herrschaft Ausdruck findet.“ Reudenbach (2011), 61. Vgl. Peyer (1987), 154. Möseneder (1983), 25. Weiser (1999), 3.
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verkleideten Odysseus nicht unähnlich – in seinen Gesten und in seinem Charakter zum Ausdruck. Søren Kierkegaard spricht in diesem Zusammenhang von dem „divine incognito in the Incarnation“.37 Trotz dieser historisch äußerst ungenauen Verwendung des Begriffs handelt es sich hier ebenso wie beim Inkognitozeremoniell keineswegs um eine plumpe Täuschungslist, wie ein Blick ins Alte Testament verdeutlicht. Anders als Odysseus, der seine ihm zustehende Rolle nicht spielen kann und sich verkleiden muss, um sie wieder zu erlangen, nutzt Ahab, der König Israels, die Verkleidung als List, um seine Feinde zu täuschen und die Schlacht siegreich zu bestehen. „Und der König Israels [Ahab – VB] sprach zu Josaphat [König von Juda – VB]: Ich will mich verstellen und in den Streit kommen; du aber habe deine Kleider an.“38 In Hinblick auf das Inkognito ist es zweitrangig, dass die wahre Identität des Jesus von Nazareth diejenige des Sohns Gottes ist. Im Moment des triumphalen Einzugs in Jerusalem am Palmsonntag manifestiert sich nicht nur der theologische Gottessohn, sondern auch der prädestinierte Führer einer sozialen Gemeinschaft. Als Jesus dann am Ende seines irdischen Lebens seiner Bestimmung und seiner Identität am Kreuz gerecht wird, steigt er nicht nur auf sakraler Ebene zum Erlöser der Menschheit auf. Ebenso avanciert er auf profaner Ebene zur Inkarnation eines Herrscherideals, indem er durch die Annahme und das Ausleben seiner ihm eigenen Identität die Verhältnisse für seine Gemeinschaft zum Besseren wendet. In der Nachfolge Jesu wurde das Einswerden mit sich selbst zur Bedingung gerechter Herrschaft. Damit eröffnete sich aber auch die Möglichkeit, durch das temporäre Ablegen der eigenen Identität bzw. die bewusste Annahme einer anderen Identität, die Legitimation und die Anerkennung des eigenen Herrschaftsanspruchs zu überprüfen. Auch dies sollte für das Inkognito eine wichtige Rolle spielen, wofür die Biografie Jesus von Nazareth der okzidentalen Monarchie einmal mehr das archetypische Beispiel lieferte. Genauer gesagt handelt es sich nicht um das Leben, sondern vielmehr um die Auferstehung des Sohnes eines Zimmermanns. Dem Evangelisten Lukas zufolge erschien Jesus am Tag nach Pessach Kleopas und einem weiteren Jünger in Emmaus nahe bei Jerusalem. Allerdings verbarg er seine Identität, und die beiden Jünger erkannten ihn nicht: „[. . . ] nahte sich Jesus zu ihnen und wandelte mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht kannten.“39 Erst im Verlauf der Begegnung wird den Trauernden durch eine unverwechselbare Geste bewusst, wer ihnen gegenüber sitzt. Ebenso wie beim letzten Abendmahl bricht Jesus das Brot. „Da wurden ihre Augen geöffnet,
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Encyclopedia of philosophy, Bd. 3, Detroit 2006, 533. Die Bibel, 1 Könige 22 u. 2 Chronik 29. Die Bibel, Lukas 24, 15–6.
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und sie erkannten ihn.“40 Die einzigartige Geste enthüllt, dass es sich bei dem Fremden um Jesus handelt; jetzt jedoch nicht mehr um Jesus von Nazareth, sondern um Jesus Christus, der im Übergang vom Tod zur Auferstehung seine eigentliche und endgültige Identität erlangt hat. Es sind Worte und Gesten, die nur er, der aufgrund seines Charakters und seiner Fähigkeiten über den Anderen steht und ihnen vorangeht, zum Ausdruck bringen kann. In ihrer Erhabenheit prädestinieren sie ihn dazu, die Gemeinschaft anzuführen.41 Auch in Emmaus verbirgt die äußere Erscheinung die eigentliche Identität des Protagonisten nur unzureichend. Wie wohl die gesamte europäische Geschichte ist auch die Herausbildung des Inkognitos ohne den Rückbezug auf das Christentum nicht zu verstehen. Sowohl in Bezug auf Gastfreundschaft, und damit den Empfang von Reisenden, als auch hinsichtlich der Ausformulierung spezifisch königlicher Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen wurde Jesus von Nazareth europaweit zum Vorbild. Eine der Grundregeln der Benediktinermönche war es, „alle überraschend ankommenden Gäste gleich wie Christus aufzunehmen“.42 Auf das aus dem christlichen Vorbild resultierende herrschaftliche Selbstverständnis und das damit einhergehende königliche Bescheidenheitsideal wird noch ausführlich einzugehen sein. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts sah sich auch der Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux aufgrund seiner großen Popularität gezwungen „inkognito“ zu reisen. „Seine Begleiter sollten Entgegenkommenden weder sagen, daß er bei ihnen sei, noch über ihn sprechen.“43 Wenn auch aus ganz anderen Gründen als der von ihm angebetete Sohn Gottes wollte auch er seine Identität erst bei der Ankunft preisgeben.44
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Die Bibel, Lukas 24, 31. Vgl. Bercé (1990), 229. Fuhrmann (1993), 131. Ohler (2004), 302. Die verspottend als solche bezeichneten Gottesnarren wie Norbert von Xanten oder Franz von Assisi machten es sich zum Selbstauftrag „[n]ackt dem nackten Christus zu folgen.“ „[. . . ] so bedeutet Nacktheit für den Gottesnarr Selbstpreisgabe und Inkognito“. Moos (2004a), 137. Das europäische Verständnis des Begriffs Person „est encore fondamentlement la notion chrétienne“. Mauss (1950), 357. Fürst Wilhelm von Wenden (1382–1436) verließ heimlich als Pilger sein Land. Vgl. Bumke (2002), 284.
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1.3 Vom Umgang mit Herrschern im Mittelalter Von der Antike bis zum Ausgang des Mittelalters existierte das Inkognito weder als Begriff noch als Konzept. Neben anthropologischen Phänomenen wie der Gastfreundschaft sowie Identitätswechseln und Rollenspielen im Rahmen von Ritualen war der Siegeszug des Christentums in Europa eine entscheidende Voraussetzung für die progressive Festschreibung des Inkognitos als Reise-, Begegnungs- und Besuchszeremoniell. Neben diesen Archetypen bietet sich das Hochmittelalter als möglicher Ausgangspunkt einer historischen Darstellung des Inkognitos an. Denn ab dem 9. Jahrhundert wurden zeremonielle Praktiken gezielt für den reibungslosen Ablauf von Herrscherbegegnungen entwickelt. Gerade in der Phase des europäischen Reisekönigtums, vor allem zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert, zogen Ankunft und Einzug von Herrschern sowie der damit verbundene Umgang mit den lokalen Autoritäten sich beständig wiederholende Anforderungen nach sich, die es verbindlich zu regeln galt.45 Dies war umso mehr der Fall, wenn ein Treffen explizit zur Lösung bestehender Probleme anberaumt war. Hier galt es zeremonielle Formen zu etablieren, die sicherstellten, dass latente Konflikte nicht eskalierten. Eine oft praktizierte Vorgehensweise war die Begegnung an einem neutralen Ort. So fanden die Treffen ost- und westfränkischer Könige vom 9. bis zum 13. Jahrhundert zumeist an den Grenzen bzw. an Grenzflüssen statt.46 Insbesondere Zusammenkünfte in der Mitte von Flüssen, also an Orten, die nicht eindeutig zum einen oder anderen Herrschaftsbereich gehörten, zählten zum diplomatischen Instrumentarium. Die Anberaumung im machtpolitischen Niemandsland sollte durch den „Wegfall protokollarischer Schwierigkeiten“ ein Treffen auf Augenhöhe garantieren.47 Die Herrscher traten sich in der Mitte einer Brücke oder auf eigens dafür aufgeschütteten Inseln entgegen. Auf diese Art musste keiner der Beteiligten in das Territorium des Anderen reisen und somit schon im Vorfeld dessen Vormachtstellung symbolisch anerkennen. So trafen sich 842 die Söhne Ludwigs des Frommen auf der Saône-Insel Ansille, um die andauernden Streitigkeiten um die Aufteilung des Reiches in einem Präliminarfrieden beizulegen.48 Aus dem gleichen Grund wurde 859 die Rheininsel Andernach zum diplomatischen Schauplatz.49 921 diskutierten Heinrich I. und Karl der Einfältige in der Mitte des Rheins bei Bonn und demonstrierten so, dass „keine der beiden Seiten eine Vorrangstellung hatte“.50 45 46 47 48 49 50
Vgl. Althoff (2003), 172. Vgl. Voss (1987), 202. Siehe auch Schneider (1977), 5–7. Vgl. Schneider (1977), 13. Vgl. ebd., 9. Vgl. ebd. Siehe auch Voss (1987), 201. Ebd.
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Indem sie sich zum gleichen Zeitpunkt von verschiedenen Ufern aus entgegenfuhren, gelang es beiden, die Stellung des Anderen anzuerkennen, ohne dadurch die eigene Position zu schwächen. Dieser Respektsbeweis ohne den Beigeschmack der Unterwürfigkeit war die Grundlage für den Freundschaftsvertrag, den sie erfolgreich aushandelten.51 Die persönliche Begegnung zweier Souveräne auf neutralem Gebiet war jedoch nur selten das letzte verbliebene Mittel zur Konfliktbewältigung. Obwohl die Anzahl solcher Treffen daher überschaubar ist, gehörten sie schnell zum anerkannten diplomatischen Repertoire.52 Noch im Oktober 1270 trafen sich der böhmische König Ottokar II. und Stephan V. von Ungarn auf einer Donau-Insel zwischen Bratislava und Pottenburg, da es die angespannte Situation keinem der beiden erlaubte, den Anderen in seinem Territorium aufzusuchen.53 Karl VI. von Frankreich und Richard II. von England bedienten sich im Hundertjährigen Krieg ebenfalls dieses Mittels. Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung hätte allein die Anreise zum Kontrahenten eine schwere diplomatische Niederlage bedeutet. Also trafen sie sich am 27. Oktober 1396 im Grenzgebiet beider Staaten zwischen Calais und Ardres. Dieser neutrale Ort ließ die Frage, welcher der beiden Könige den Vorrang über den Anderen genoss, gar nicht erst aufkommen. Allerdings waren die Streitigkeiten so groß, dass es weiterer zeremonieller Hilfsmittel bedurfte, um ein konstruktives Gespräch zu ermöglichen. Daher wurde inmitten des neutralen Begegnungsortes ein Zelt errichtet, dessen Zutritt neben beiden Herrschern nur Personen gestattet war, die von beiden ausdrücklich dazu autorisiert waren. Die bei Zuwiderhandlung angedrohte Todesstrafe verdeutlicht, wie viel von der diplomatischen Absicherung des Schauplatzes abhing. Das Zelt schützte das neutralisierte Terrain vor neugierigen Blicken. Durch den vollständigen Ausschluss der Öffentlichkeit sollte die Atmosphäre zusätzlich entspannt werden. Da jedes Detail neues Misstrauen schüren konnte, vereinbarten die Herrscher darüber hinaus „einfache, knielange Kleider“ anzulegen, um nicht durch das demonstrative Zurschaustellen von Herrschaftsinsignien den Verdacht der symbolischen Überhöhung aufkommen und damit neue Konflikte entstehen zu lassen.54 Erst diese sorgfältig vorbereiteten zeremoniellen Formen machten das Treffen überhaupt möglich. Sie schufen einen temporären, neutralen Ort, in dessen Schutz ein Gespräch unter vier Augen geführt werden konnte. In dieser konstruktiven und so weit wie möglich unbelasteten Atmosphäre gelang es, konkrete Streitpunkte aus dem Weg zu räumen. Dies wiederum machte es möglich, 51 52 53 54
Vgl. Fuhrmann (1993), 124. In einem Untersuchungszeitraum von circa 500 Jahren finden sich lediglich für zwei Treffen ausführliche Berichte. Vgl. Voss (1987), 127. Vgl. Schneider (1977), 13. Marchal (2001), 123.
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üblichere und unbelastete zeremonielle Formen sukzessive wieder einzuführen. Am Ende dieses komplizierten Prozesses erhielt Richard Isabelle, die Tochter Karls, zur Frau, womit der Friedensschluss durch ein starkes Symbol besiegelt war.55 Der symbolische Rückzug ins Private durch die Neutralisierung des Orts und das ostentative Ablegen von Herrschaftszeichen eröffneten neue Räume des Austauschs und der Konfliktbeseitigung. Das zeremonielle Anzeigen eines persönlichen Treffens jenseits machtpolitischer Strukturen half, gegenseitige Sympathie zu signalisieren, ohne in die Rolle des Unterlegenen zu geraten. Der Charakter eines Herrschertreffens konnte durch zeremonielle Gesten bereits im Vorfeld öffentlich signalisiert werden. So war das Entgegengehen im Gegensatz zum Entgegenreiten eine für alle Anwesenden sichtbare Respektbezeugung in Form einer symbolischen und momentanen Aufgabe der eigenen Machtstellung. Dieselbe Geste konnte auch Freundschaft und persönliche Verbundenheit kommunizieren. Als sich der deutsche und der französische König 1147 zum gemeinsamen Kreuzzug trafen, ging Ludwig VII. seinem deutschen Pendant Konrad III. zu Fuß entgegen, „um den inoffiziellen Charakter des Besuchs, die freundschaftliche Geste zu unterstreichen“.56 Auf diese Art demonstrierten beide ihre Einigkeit und den Willen, das angestrebte Ziel gemeinsam zu erreichen. Solche Zeremonielle von Herrschertreffen etablierten sich sukzessive ab dem 9. Jahrhundert. Insbesondere das Einholungs- und Auszugsgeleit gehörte zum festen Kanon bei Besuchen hochrangiger Persönlichkeiten. In christlicher Tradition orientierte sich die feierliche Einholung eines Königs am Einzug Jesu in Jerusalem.57 Es wurde üblich dem Ankommenden eine Delegation an die Grenzen des eigenen Herrschaftsbereichs entgegen zu senden bzw., falls der Reisende eine deutlich höhere Position innehatte, ihm selbst entgegen zu eilen. Die Verweigerung eines solchen Geleits war ein eindeutiger diplomatischer Affront. Dieses hochoffizielle Adventus, wie es die Forschung mit dem lateinischen Begriff bezeichnet, avancierte im Mittelalter zur zeremoniellen Pflicht. Als fester Bestandteil der herrschaftlichen Reise und Ankunft gehört es auch zur Vorgeschichte des Inkognitos. Dem einziehenden Herrscher wurden symbolisch die Schlüssel der Stadt überreicht und lokale Eliten versicherten ihm ihre Ehrerbietung.58 Allerdings war es dem herrschaftlichen Gast ebenso wenig wie seinem Gastgeber möglich, solche zeremoniellen Handlungen zu unterlassen. Diese Option eröffnete sich erst durch das symbolische Aufgeben der eigenen
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Vgl. ebd., 122–3. Voss (1987), 143. Vgl. ebd., 166–7; Drabek (1964), 77. Vgl. Drabek (1964), 8, 27.
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sozialen Stellung im Inkognito, durch das temporäre Ablegen der eigenen Identität. Schon früh in der Geschichte der Herrschertreffen, genauer seit Arnulf im Ostfranken- und Odo im Westfrankenreich, „beinhaltete die Gastgeberrolle bei Zusammenkünften der Herrscher zugleich auch den Ausdruck machtpolitischer Dominanz. Nach dem 10. Jahrhundert ist es im Prinzip nicht mehr zu Begegnungen außerhalb der Grenzgebiete gekommen.“59 Die Ausnahmen von dieser Regel, die bei schwelenden Konflikten nicht mehr befolgt werden konnte, sind bedeutende Vorläufer des Inkognitos. Denn sobald die Frage der Dominanz umstritten war, galt es, zeremonielle Lösungen zu finden, um den diplomatischen Kontakt trotzdem aufrecht zu erhalten. Ein sich gleichzeitig einspielendes und ausdifferenzierendes Reisezeremoniell war dafür unerlässlich. Daher kann festgestellt werden, dass das „Zeremoniell der Hofreisen im Spätmittelalter keinen Änderungen mehr unterworfen war, und in dieser ganzen Periode ein einheitliches Bild ergibt.“60 Das mittelalterliche Reisezeremoniell – und auch darin ist es ein Vorläufer des Inkognitos – enthielt eindeutig spielerische Elemente, die flexibel in den zunehmend kodifizierten zeremoniellen Ablauf integriert werden konnten. Dies verdeutlicht die symbolische Plünderung einziehender Könige. Im deutschsprachigen Raum entstand die Tradition, dass sich der Fürst beim Einzug Teile seiner Habe freiwillig entreißen ließ. Damit wurde in einem Zeremoniell, das der Anerkennung der Herrschaft diente, auch die Pflicht zur Versorgung der Untertanen symbolisch ausgedrückt.61 Mit der Niederlassung von Herrschern an eigenen Höfen und dem Ende des Reisekönigtums mussten Zeremonien erarbeitet werden, die neben dem Empfang von fremden Herrschern auch den täglichen Umgang mit dem eigenen Herrscher funktional organisierten. In diesem Zusammenhang entstand eine höfische Schicht, die einen erheblichen Beitrag zur Genese des Inkognitos leisten sollte: die Ritter.
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Voss (1987), 37. Drabek (1964), 6. „Der deutsche König musste sich also im Zuge all der Handlungen, die zu seiner Erhebung gehörten oder diese umgaben, mehrfach die Wegnahme seines Reittieres und seines Mantels gefallen lassen.“ Drabek (1964), 41. 1377 besuchten 130 verkleidete Bürger den englischen König Richard II. und veranstalteten ein (präpariertes) Würfelspiel, bei dem stets Richard gewann. Vgl. Scholz (2005), 14.
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1.4 Die Entstehung des Rittertums Ab der Mitte des 9. Jahrhunderts, zeitgleich mit den sich ausbildenden Zeremonien der Herrschertreffen, wurde der Begriff Vasallus zunehmend durch Miles ersetzt, der ab dem 10. Jahrhundert ausschließlich bewaffnete und berittene Krieger bezeichnete.62 Dieser soziale Aufstieg von Vasallen und Ministerialen markiert den allmählichen Übergang vom „Kriegertum zum Rittertum“63 , der erst durch die Niederlassung der Herrscher und die Einrichtung von Höfen zu einem Abschluss kam. Ab der Mitte des 11. Jahrhunderts entwickelte sich das Rittertum von Frankreich ausgehend sukzessive in ganz Europa.64 Ab dem 12. Jahrhundert wurden die deutschen Begriffe Herr, Fürst, Ritter untereinander austauschbar, bevor sich der Ritterbegriff ab dem 14. Jahrhundert zur Standesbezeichnung des niederen Adels verfestigte.65 Mit dem Rittertum entstand jedoch nicht nur eine neue soziale Schicht, sondern nach und nach auch ein neues „ethisches Ideal“.66 Denn ein Ritter musste hoch elaborierte Regeln des Anstands und der Etikette beherrschen; er hatte ein untadeliges Verhalten an den Tag zu legen und sollte sich durch herausragende Charaktereigenschaften auszeichnen. Neben kriegerisch-militärischen Werten war dabei die höfische Minnetradition ein wichtiger Bezugspunkt.67 Ritter waren zunächst einmal bedingungslose Diener ihrer Herrscher. Mehr als das, verschrieben sie sich einer bestimmten Aufgabe, der sie sich in idealiter ohne Rücksicht auf Leib und Leben hinzugeben hatten. Die Schlacht und der Zweikampf waren die Gelegenheiten, bei denen der eingeforderte Edelmut nachgewiesen werden konnte. Mit den Kreuzzügen und dem proklamierten Ziel der Befreiung des Heiligen Landes wurde Ende des 11. Jahrhunderts eine große und alle Ritter ansprechende Mission definiert. Es bildete sich ein dezidiert christliches Ritterideal heraus, das den Ritter über seine höfische Anbindung hinaus zum Diener Gottes erhob. Von nun an musste der „höfische Ritter zugleich Gott und der Welt gefallen“.68 Die Miles avancierten zu Miles Christi, und nachdem bedeutende Herrscher die ersten Kreuzzüge persönlich anführten, wandelten sich die europäischen Könige selbst zu Rittern.69 62 63 64 65 66 67 68 69
Vgl. Fleckenstein (2002), 51, 59, 81. Ebd., 60. Vgl. Duby (1988), 34–53. Vgl. Bumke (2002), 66-71; Barthélemy (2007), 10; Duby (1988), 34; Fleckenstein (2002), 93. Huizinga (1975), 88. Vgl. Bumke (2002), 425; Bumke (1964), 99. Bumke (2002), 430. Siehe auch Bumke (1964), 112. Vgl. Fleckenstein (2002), 115–7.
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Im Laufe des Hochmittelalters wurden die Tugenden, welche Ritter und Könige gleichermaßen auszeichnen sollten, zunehmend verschriftlicht und ausformuliert. Ab dem 9. und verstärkt im Laufe des 12. Jahrhunderts entstanden mit den so genannten Fürstenspiegeln die ersten Vorläufer der späteren Zeremonienbücher. Das dort ausgebreitete Tugendpanorama des idealen Herrschers beruhte einmal mehr auf der christlichen Tradition. Der Herrscher war auch jenseits des Krieges dazu aufgerufen, ein Miles Christi zu sein. Gerechtigkeit, Sorge für Arme, Schutz von Witwen und Waisen, das Bestrafen von Frevlern und die Belohnung der Würdigen zeichneten einen guten Herrscher ebenso aus wie der Schutz der Kirche und der Rückgriff auf wohlwollende und selbstlose Ratgeber. Die Weisheit und die Demut des Königs, und gerade nicht das kalkulierte, selbstsüchtige und ostentative Ausspielen seiner Machtposition, sollten gemäß den Fürstenspiegeln eine gerechte Herrschaft und damit den Bestand der Gemeinschaft sicherstellen. Der tugendhafte Charakter des Königs garantierte den sozialen Frieden. Diese Ansicht wurde zur „Grundlage des höfischen Herrscherbildes“.70 Der Begriff Ritter wurde so zum „Schlüsselwort einer neuen Ethik und Ästhetik, zum Programm eines neuen Menschenbildes.“71 In Bezug auf das Inkognito ist dabei weniger wichtig, inwieweit sich dieser ritterliche Idealtyp in der Geschichte tatsächlich wiederfinden lässt. Ebenso wenig kann hier die These von Norbert Elias weiterverfolgt werden, der in der Verhöflichung des Ritters eine entscheidende Etappe für den von ihm konstatierten Zivilisationsprozess sah. In Vielem war der Rittertopos tatsächlich ein „produit chimérique d’un mythe litéraire“.72 Dieser Mythos zielte jedoch auf individuelle Charaktereigenschaften jenseits zugewiesener sozialer Rollen ab und damit auf einen Sachverhalt, der sich für die zeremonielle Ausarbeitung des Inkognitos als grundlegend erweisen sollte. Nicht zuletzt, um die Ritter gegenüber dem sozialen Aufstieg des Bürgertums abzugrenzen, rückten die literarischen Vorlagen zunehmend die aristokratischen Ideale des Rittertums in den Vordergrund.73 Diese sich ausbildenden literarischen Traditionen, auf die noch zurückzukommen sein wird, besaßen einerseits soziale Funktionen und dienten andererseits als Vorlage für öffentliches Handeln. Dies wird im Hinblick auf ritterliche Turniere deutlich, die sich zunächst als literarischer Topos ausbildeten, der seinerseits zur normativen Grundlage tatsächlich abgehaltener Turniere wurde.74 Deren historischer Ursprung liegt wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, als 70 71 72 73 74
Bumke (2002), 383–6, Zitat 385. Bumke (1964), 88. Stanesco (1992), 190. Vgl. Flori (1998), 266. Vgl. Baldwin (1990), 566–7.
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sie sich vom Raum zwischen Flandern und der Champagne nach und nach in ganz Europa ausbreiteten.75 Die populären Ritterturniere fungierten gleichzeitig als militärisches Training, ludisches Vergnügen und festliches Spektakel für das herbeigeströmte Publikum.76 Der Ablauf von Turnieren war genau festgelegt und diente der demonstrativen Zurschaustellung ritterlicher Tugenden. Zudem waren sie wichtige „Impulsgeber für die Entwicklung der Heraldik“ und damit einer langfristig wirksamen Technik der individuellen Identifikation.77 Üblicherweise begann ein Turnier mit der Helmschau, die es dem Publikum erlaubte, die verschiedenen Wettstreiter mit einer Identität zu belegen. Die Wappen, mit deren Hilfe dies möglich wurde, rekurrierten auf die ritterlichen Charaktereigenschaften ihrer Träger. In den Turnierspielen wurde eine, oft eigens für diesen Zweck konstruierte, idealtypische Identität demonstrativ zur Schau gestellt, deren prinzipielle Funktion gerade nicht darin bestand, die soziale Rolle des Wettstreiters anzuzeigen. Denn für die Teilnehmer galt es einerseits, ihre ritterlichen Tugenden im Turnier unter Beweis zu stellen und andererseits das erwartungsfrohe Publikum spektakulär zu unterhalten. Daher war es nur folgerichtig, dass die Ritter für die Dauer des Spiels gezielt andere Identitäten annahmen. Die Kämpfer verkleideten sich als Papst, Kardinal oder auch mit allegorischen Kostümen, z. B. als eine der sieben Todsünden.78 Beim englischen Cheapside Turnier von 1331 erschienen die Teilnehmer „disguised in masks painted with Tartars’ faces and appropriate head-dresses“.79 1334 nahm der englische König Eduard III., obwohl er gar nicht auf der Teilnehmerliste stand, als Monsieur Lyonel am Dunstable Turnier teil. „Mons. Lyonel was clearly no other than the king himself, participating incognito in the manner of the best Arthurian heroes.“80 Lionel, niemand anderes als ein Cousin Lanzelots und ein Ritter der arturischen Tafelrunde, wurde Eduard für die Dauer des Turniers zur erkorenen und vorgespielten Identität. Dadurch, dass er diese auch im Heroldsbuch des Turniers durch einen entsprechenden Eintrag aufrecht erhielt, machte er das Publikum auf seine ritterlichen Tugenden aufmerksam, um so seine Herrschaft zu legitimieren und zu festigen.81 Dieselbe Hoffnung hegte er, als er am Dunstable Turnier des Jahres 1341 erneut als einfacher Ritter teilnahm. Entscheidend ist dabei, dass die temporär angenommene Identität nur dann ihren Zweck erfüll-
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Vgl. Flori (1998), 132–5; Barthélemy (2007), 331. Vgl. Flori (1998), 131. Fleckenstein (2002), 184. Vgl. Vale (1982), 67. Ebd., 70. Ebd., 68. Vgl. ebd., 69.
1. Maske, Krone, Helm
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te, wenn das Publikum die Person hinter der Maske bzw. dem Helm erkannte und so die Möglichkeit besaß, die demonstrierten Tugenden auf diese zu übertragen.82 Ähnlich wie beim Inkognito war der temporäre Identitätswechsel nur dann sinnvoll, wenn die Beobachter gerade nicht getäuscht wurden. Das Ritterturnier war ein Spiel mit Identitäten, das durch eine technische Weiterentwicklung eine neue Qualität erlangte. Der neu entwickelte Topfhelm verdeckte das komplette Gesicht und erschwerte somit die Identifikation des Kämpfenden wesentlich.83 Die Einführung dieses neuen Helmtypus, der den Kopf bei den verletzungsreichen Turnierspielen zusätzlich schützte, anonymisierte den einzelnen Ritter. Er war nun nicht mehr ohne Weiteres erkennbar, sondern musste mit Hilfe von Symbolen identifiziert werden. Daher trugen die Ritter ab dem 12. Jahrhundert immer öfter ein eigenes Wappen, und gleichzeitig wurde der Helmschmuck zu einem festen Versatzstück der Ritterrüstung.84 Laut Michel Pastoureau erlaubte der Helmschmuck „de momentanément devenir autre“.85 Chênerie spricht in ihrer Studie über die Figur des fahrenden Ritters (chévalier errant) an mehreren Stellen vom „incognito assuré par le port du heaume“.86 So ist auf dem Teppich von Bayeux eine Szene dargestellt, in der sich Herzog William der Eroberer erst durch das Öffnen des Helmvisiers seinen Soldaten zu erkennen gibt.87 Indem der Ritter beim Turnier seine Identität spielerisch verschleierte, lenkte er die Aufmerksamkeit des Publikums weg von seiner sozialen Stellung und hin zu seinen persönlichen Charaktereigenschaften. Diese waren es, die nach dem erhofften Turniersieg seine soziale Rolle legitimieren bzw. zu sozialem Auf82 83
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Vgl. Prestwich (2005), 341. Vgl. Barthélemy (2007), 202; Fleckenstein (2002), 175; Flori (1998), 104, 227. Die genaue Datierung des Topfhelms ist umstritten. Barthélemy plädiert für die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts, während Fleckenstein und Flori die Einführung der neuen Ausrüstung am Ende des 12. Jahrhunderts verorten. Letzterer führt dazu einen Bericht aus Rouen aus dem Jahr 1128 an, aus dem hervorgeht, dass der Helm zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschlossen war. „One consequence of the introduction of the helm was that the knight became anonymous.“ Barber/Barker (1989), 152; Barthélemy (2007), 201; Fleckenstein (2002), 98, 175, 180. Im deutschsprachigen Gebiet kam es zu einer Differenzierung von adligem Spangenhelm (mit mehreren vertikalen Schlitzen) und bürgerlichem Stechhelm (mit einem einzigen horizontalen Schlitz). Vgl. Paravicini (1994), 98. „Comme le masque, il permet de momentanément devenir autre, d’expulser ses mauvais instincts, de se charger de certains pouvoirs, de devenir invulnérable ou diabolique le temps d’un rituel ou d’un combat.“ Pastoureau (1988), 134. Chênerie (1986), 125. Vgl. Barthélemy (2007), 75, 184; vgl. auch Fleckenstein (2002). „Around the time of the Norman Conquest, devices on banners and shields served to identify companies in battle, and soon after, they identified single knights in tournaments as well as in battle.“ Crane (2002), 109.
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stieg verhelfen sollten: „Les armes anonymes, l’identité secrète empêchent les reconnaissances qui diminueraient le mérite, préparent la confirmation ou la découverte d’un sang très noble.“88
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Chênerie (1986), 125. „L’incognito du chevalier errant est la condition de ces affrontements; il est assuré par le port du heaume, l’absence – le plus souvent – de tout signe héraldique sur son écu, le changement d’armure éventuel; cet incognito est parfois réciproque, mais plus fréquemment, l’errant seul en bénéficie, car dans la communauté arthurienne, les chevaliers se reconnaissent toujours [. . . ].“ Chênerie (1986), 132, siehe auch 134. „Caché sous son heaume, le héros de la Table Ronde est un chevalier comme un autre; l’incognito tombera chaque fois que le héros aura fait la preuve de sa valeur personnelle [. . . ].“ Chênerie (1986), 126. 1130 nahm die katholische Kirche zum ersten Mal öffentlich gegen Turniere Stellung. Vgl. Fleckenstein (2002), 208.
2. Ritter und Könige 2.1 König Artus Erst im Moment, in dem der siegreiche Ritter seinen Helm abnahm, erkannte das Turnierpublikum dessen Identität. Zudem erhielt es die Bestätigung, dass der tapfere Wettkämpfer seine soziale Stellung zu Recht innehatte. Die Literatur leistete hierfür einen entscheidenden Beitrag, indem sie – ähnlich wie in Homers Odyssee – einen Archetyp etablierte, der dem jeweiligen historischen Kontext angepasst werden konnte. So avancierte die Vorstellung eines einsamen, edlen und (zunächst) unerkannten Ritters im Laufe der Zeit zu einem zentralen Topos der chevaleresken Literatur des europäischen Mittelalters. Diese literarische Gattung erlangte insbesondere für das Männlichkeitsideal ihrer Epoche große Bedeutung und ging mit eindeutigen moralischen Konnotationen einher. Edelmut, Tapferkeit, Bescheidenheit und Treue gegenüber einem Herrscher, dem nicht selten ein großes Unrecht widerfahren war, welches auszugleichen zur Lebensaufgabe der mutigsten und selbstlosesten Untertanen wurde, etablierten sich als unumstößliche Grundsätze ritterlichen Verhaltens. Der Archetypus des ritterlichen Königs und desjenigen Herrschers, dem sich jeder Ritter, der etwas auf sich hielt, mit Leib und Leben verschrieb, war König Artus. Er avancierte zu einer beständig wiederkehrenden, paradigmatischen Figur der Ritterturniere, in die er als Mythos spielerisch mit einbezogen wurde. An einem Turnier des Jahres 1278 nahmen die Ritter in Verkleidung des legendären Königs teil, und auch Ulrich von Liechtenstein, von dem noch die Rede sein wird, ließ seine ihn begleitenden Minneritter Turniere abhalten, die das Leben König Artus’ nachspielten und versinnbildlichten.1 Die historische Existenz des emblematischen Herrschers ist freilich mehr als zweifelhaft. Für Jürgen Wolf ist Artus „kaum mehr als eine positive Chiffre für einen dunklen Fleck in der historischen Erinnerung“.2 Genauer gesagt ließ der englische König Stephan I. die Legende des sagenhaften Herrschers gezielt fabrizieren. Dafür beauftragte er Geoffrey von Monmouth, den Erzdiakon von Oxford und engen Vertrauten des englischen Königshauses, der um das Jahr 1138 eine Historia regum britanniae vorlegte.3 Mit Hilfe dieser epochalen Erzählung, die bereits viele Zeitgenossen für ihren Erfindungsreichtum scharf kritisierten, gelang es den Normannen, ihre erst einige Jahrzehnte alte Herrschaft über das Inselreich in eine lange Traditionslinie einzubetten. Denn Monmouths 1 2 3
Vgl. Barker/Keen (1985), 212; Wolf (2009), 71. Siehe Kap. I.2.6. Wolf (2009), 26. Vgl. ebd., 28.
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Geschichte Englands beginnt im antiken Troja. Von dort verschlägt es einige Teilnehmer der unvergesslichen Schlacht, zu denen ja auch Odysseus zählte, über viele Irrwege auf die Insel. Hier gelingt es Brutus, dem Urenkel des Eneas, der seinerseits laut Monmouth das römische Imperium gründete, Normannen, Sachsen, Pikten, Briten und Schotten zu einem Volk zu vereinen. Zu der ihm gebührenden Größe stieg das Reich allerdings erst unter Artus und seinen von Monmouth beschriebenen spektakulären Kriegserfolgen auf. Dabei erweist sich nicht zuletzt die Geburt des Helden für die Frage nach dem historischen Spiel mit Identitäten von Interesse. Denn Artus’ Vater Utherpendragon hatte sich in Ygerna – selbstredend die schönste Frau Britanniens – verliebt. Diese war allerdings bereits vergeben, und so gelang es ihm nur sie zu schwängern, indem ihn der legendäre Zauberer Merlin in die Gestalt ihres Ehemannes Gorlois von Cornwall verwandelte. Im Moment der Zeugung musste Artus’ Vater, der Bruder des amtierenden Königs Ambrosius, also eine andere Identität annehmen.4 Merlin leistete dabei ganze Arbeit; sein Verwandlungszauber veränderte „den Körper, das Gesicht, die äußeren Zeichen des Ranges und der Herkunft, die Stimme und die ganze Erscheinung.“5 Die Wirkung, die von Monmouths Werk ausging, war außergewöhnlich und die Geschichte des Britischen Königreiches fand reißenden Absatz. Die Anziehungskraft König Artus’ ging bald so weit, dass jeder Herrscher, dem es gelang, sich mit ihm in eine Reihe zu stellen, seine eigene Macht dauerhaft legitimierte. Nur zwei Jahrzehnte später beauftragte Heinrich II. Plantagenet den auf Jersey geborenen Kleriker Wace mit einer Neufassung des Stoffes, die dieser 1155 unter dem Titel Roman de Brut vorlegte.6 Wace veränderte nicht nur so manches Detail der Monmouth’schen Erzählung, sondern lieferte seinen Lesern auch eine genaue Auflistung der Charaktereigenschaften König Artus’ und formulierte somit einen ritterlichen Idealtyp, der in seinen Grundzügen während des gesamten Mittelalters Bestand haben sollte.7 Im Rahmen der Artuslegende, die noch viele Um- und Ausarbeitungen erfuhr,8 wurde es zur guten Gepflogenheit, den mythischen König in eine Reihe von neun idealen Herrschern einzuschreiben. „Sich mit diesem Idealherrscher Artus zu identifizieren, hieß, sich in die Reihe der idealen Herrscher einzuordnen.“9 Danach strebte auch Eduard I., der 1278 das im Süden Englands 4
„Ich werde eine andere Gestalt annehmen und als dritter mit dabei sein.“ „Er hatte sie ja durch seine falsche Gestalt getäuscht, die er angenommen hatte.“ Monmouth (1980), 16, 17, siehe auch 18; vgl. Wolf (2009), 30. 5 Auf dem Rückweg „sah jeder wieder so aus wie gewöhnlich; jeder erhielt seine eigene Gestalt zurück.“ Wace (1980), 64, siehe auch 75–77. 6 Vgl. Wolf (209), 41. 7 Vgl. Wace (1980), 81. 8 Zu den verschiedenen Versionen des 13. Jahrhundert siehe Lupack (2007), 318. 9 Wolf (2009), 80. Die weiteren Herrscher waren: Alexander, Hector, Cäsar (Antike), David,
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gelegene angebliche Artusgrab öffnen und die darin befindlichen Gebeine in einen prachtvollen Schrein umbetten ließ.10 Dies intensivierte den sich seit dem 12. Jahrhundert von England ausgehend in ganz Europa verbreitenden Kult um den mythischen König.11 Artus avancierte allerdings nicht nur zum selbstvergewissernden Gedächtnisort kleiner und großer Herrscher; vielmehr entstand eine „aktiv gelebte Artuskultur“.12 Schon Wace stellte fest: „Nur der galt als höfisch, der Kleidung, Wappen und Waffen trug, wie sie unter den Rittern an Artus’ Hof üblich waren.“13 Die Ritterturniere in Artuskostümen waren bezeichnende Versatzstücke dieser Entwicklung, deren zentraler Bestandteil jedoch eine Einrichtung bildete, die ebenso legendär wie der ihr vorsitzende König wurde: die Tafelrunde.14 Hier trafen sich die edelsten all derjenigen Ritter, die ihr Leben dem Dienste an ihrem König verschrieben hatten und jederzeit dazu bereit waren, unter Aufgabe aller Privilegien die gefährlichsten Abenteuer zu bestehen, um so Macht und Ansehen ihres Herren zu verteidigen. Überall in Europa entstanden solche sich explizit an literarischen Texten orientierende Tafelrunden, in denen der Wertekatalog eines idealen Rittertums in Bezug auf einen imaginären König aus- und vorgelebt wurde. Die erste dieser Tafelrunden ist für das Jahr 1223 auf Zypern belegt, und wie populär das Phänomen gewesen sein muss, bezeugt das bereits 1232 in England ausgesprochene generelle Verbot aller Tafelrunden.15
2.2 Die chevalereske Literatur Literarische Fiktionen bildeten den Ausgangspunkt gelebter Traditionen; in Spiel und Mimikri wurden idealtypische Gesellschaftsordnungen entworfen. „Adel und Ritterschaft [begannen] spätestens gegen Ende des 13. Jahrhunderts die höfische Literatur des 12. Jahrhunderts in Wirklichkeit zu verwandeln, König Artus und seine Tafelrunde nachzuahmen.“16 Ritter waren die entscheidenden Protagonisten dieser im Umfeld der Höfe entstehenden Texte. Die Forschung sieht in der Ritterliteratur, die sich im Hochmittelalter größter Be-
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Josua, Judas Maccabaeus (Altes Testament), Karl der Große und Gottfried von Bouillon (Mittelalter). Vgl. Wolf (2009), 37. Eine Chronologie der Artustexte findet sich bei Lange (1980), 704. Wolf (2009), 79. Wace (1980), 95. Vgl. Wolf (2009), 42; Ranft (1998), 99. Vgl. Fleckenstein (2002), 212; Wolf (2009), 79. 1235 veranstalteten flämische Aristokraten eine Tafelrunde bei Hesdin in Flandern. Vgl. Höfler (1950), 145. Paravicini (1993), 98.
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liebtheit erfreute, eine entscheidende Etappe für die Entstehung des modernen Romans. Denn hier standen individuelle Helden im Mittelpunkt, deren Taten und Schicksale die Leser in ihren Bann zogen. In vielen Erzählungen war der Prototyp eines solchen Helden ein Mitglied der arturischen Tafelrunde, der einsam in fremden Gegenden umherziehend Abenteuer bestand und so seine Ehre bzw. die seines Königs wiederherstellte. Unerkannt bewegte er sich in einer unbekannten Umgebung, tötete Drachen und viele andere furchterregende Monster und forderte die gefährlichsten und ruchlosesten Ritter zum Zweikampf. Mittels seiner freiwilligen Anonymität stellte er seinen Mut auf die Probe und nur durch das erfolgreiche Bestehen der Aufgaben, die ihm das Schicksal auferlegte, konnte er seine untadeligen ritterlichen Tugenden nachweisen.17 Dadurch rechtfertigte er seine privilegierte soziale Stellung in der Heimat. Die chevalereske Literatur des europäischen Mittelalters gehört zu den nachhaltigsten motivgeschichtlichen Vorläufern des sich erst viel später als zeremonielle Form etablierenden Inkognitos: [. . . ] dans nos textes, la visière, l’incognito d’un chevalier errant, cachent toujours un preux, souvent un fils de roi, parfois un être qui a des accointances avec un au-delà surhumain; héros arthurien ou héros du Graal, en eux repose l’espoir d’une chevalerie nouvelle.18
Das Epizentrum der entstehenden und sich in der Folgezeit in ganz Europa rasant verbreitenden Ritterliteratur bildet das französische 12. Jahrhundert und damit eine Zeit fundamentaler politischer und sozialer Krisen. Marie-Luce Chênerie verweist zu Recht auf die gesellschaftliche Funktion dieser Texte, in denen anonymisierte Ausnahmeerscheinungen sich im Moment ihrer öffentlichen Identifizierung in Hoffnungsträger für den Beginn einer neuen Zeit verwandeln. Die Ethik der Ritter, ihre entgegen allen Widrigkeiten vorgelebten, nicht verhandelbaren moralischen Überzeugungen, sollte die Grundlage einer nachhaltigen sozialen Umstrukturierung werden. Wolf-Dieter Lange spricht in diesem Zusammenhang von der „Ablösung der Historie durch die Fiktion“ bzw. von der „bewussten Einbeziehung der Historie als Fiktion“.19 Für die Entstehung des Inkognitos ist es daher zweitrangig, dass sich der edle, einsame und fahrende Ritter ausschließlich in der Literatur und gerade nicht auf den Feldern und in den Wäldern des europäischen Mittelalters findet. In der Realität war ein solcher Lebensstil allein schon aus Kosten- und Sicherheitsgründen nicht praktikabel, worüber sich einige Jahrhunderte später auch ein gewisser Miguel de Cervantes Gedanken machte. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass in der Ritterliteratur die Möglichkeit erdacht wurde, sich eine fiktive Identität eigenmächtig zuzuschreiben. Erst deren Deckmantel 17 18 19
Vgl. Chênerie (1986), 141. Ebd., 558. Lange (1980), 711, 750.
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ermöglichte außergewöhnliche und im täglichen Leben undenkbare Handlungen. Diese ebenso auserkorene wie temporäre Identität wurde in Bezug auf einen untadeligen Idealtypus gewählt: Die Unbekanntheit des Ritters ist eine stehende Fiktion; er heißt ,le blanc chevalier‘, ,le chevalier mesconnu‘, ,le chevalier de la pélerine‘, oder er tritt gar als ein Held aus dem Roman auf und heißt Schwanenritter, oder er trägt das Wappen von Lancelot, Tristan und Palamedes.20
Der Identitätswechsel der Helden der Ritterromane bezeichnet eine neue Etappe in der Entstehungsgeschichte des Inkognitos. Denn er geht weit über eine simple List hinaus, mit der ein unmittelbares, situationsbedingtes und pragmatisches Ziel erreicht werden soll. Anders als Odysseus lassen sich die Ritterhelden nicht von Göttern verwandeln, und sie verkleiden sich auch nicht als namenlose Vertreter eines sozialen Typus. Vielmehr konstruieren sie sich eine temporäre und zweckgebundene Identität, die sich an einem sorgfältig ausformulierten Ideal orientiert. Vor allem aber, und dies ist eine wichtige Vorwegnahme späterer Inkognito-Gepflogenheiten, entspricht die neue Identität im Hinblick auf die soziale Schicht der vorherigen: Der anonymisierte Ritter bleibt ein Ritter. Zumeist ist er aber trotz derselben Schichtenverbundenheit gesellschaftlich tiefer angesiedelt: Vom ruhmreichen und hoch angesehenen Ritter der Tafelrunde steigt er zu einem unbekannten und auf den ersten Blick durchaus gewöhnlichen Vertreter des Rittertums ab. In dem angenommenen Namen kommt seine privilegierte Stellung nicht mehr zum Vorschein. Er ist Ausdruck von Bescheidenheit und verweist damit auf eine dezidiert ritterliche Tugend. In anderen Beispielen fordert der neue Name die Frage nach der tatsächlichen Identität geradezu heraus und verweist bereits auf den Moment, in dem der Ritter sein Visier lüftet und durch die zuvor erbrachten Heldentaten sein ritterlicher Charakter und seine privilegierte soziale Stellung ineinander verschmelzen. Dies gilt für die vielen ,schwarzen‘ und ,unbekannten‘ Ritter ebenso wie für diejenigen, die sich Namen längst verstorbener Helden geben. Für den fahrenden Ritter ist der Identitätswechsel weit mehr als ein Versteckspiel; er ist weniger gezwungen als gewollt, ist notwendiger Bestandteil eines Prozesses, der mit der Etablierung der eigentlichen Identität zum Abschluss kommt.21 Die Thematik des Inkognitos verstärkt daher die These, dass das 12. Jahrhundert einen qualitativen Sprung für die Vorstellung spezifisch individueller Iden-
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Huizinga (1975), 109. „[. . . ] double attraction that the motif of incognito holds for late medieval courts: the motif invites both the invention of similar disguises and the impersonation of literary figures. ,Incognito‘ in its fourteenth-century manifestations encompasses both concealed identity modeled after romance plots and fictive identity borrowed from them.“ Crane (2002), 128.
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titäten markiert.22 Artus, dem König und Vorbild aller Ritter, war ein solches Vorgehen noch fremd, obwohl er die List der Verkleidung durchaus kannte. Sein Vater zeugte ihn in der Gestalt seines Nebenbuhlers, und er selbst änderte seine Identität, als er in einer Notsituation seine Umgebung gezielt täuschen musste. Als Feinde ihm verwehrten, seinen Bruder zu sehen, „ließ er sich den Bart zur Hälfte abrasieren und den Kopf halb kahl scheren, und eine Hälfte des Schnurrbarts ließ er sich abnehmen; so sah er ganz wie ein Vagabund oder Narr aus.“23 Hier verhielt sich König Artus genauso wie Ahab, der König Israels, als er in grauer Vorzeit in die Schlacht zog. Mit der frei gewählten Anonymität der Ritter der Tafelrunde hatten solche Listen kaum etwas gemeinsam. Für die Genese des Inkognitos sind Ahab und Artus in Bezug auf die Verwendung des literarischen Topos eines verkleideten Königs relevant. Dieser zieht sich über Odysseus und die arabischen Erzählungen aus 1001 Nacht bis in die germanischen Epen des Hochmittelalters.24 Der Topos des fahrenden, anonymen Ritters entstand hingegen erst mit den Erzählungen Chrétien de Troyes in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Frankreich. Genau dies war das zentrale Motiv von Chrétiens um 1170 verfassten Erec et Enide.25 Dabei verortet sich der Autor bewusst in einer literarischen Tradition. Denn Erec ist sowohl Sohn eines Königs als auch Ritter der arturischen Tafelrunde: Ich bin der Sohn eines reichen und mächtigen Königs; mein Vater heißt König Lac, die Briten nennen mich Erec; ich lebe am Hof des Königs Artus, gut drei Jahre bin ich bei ihm gewesen.26
Sein Abenteuer beginnt in dem Moment, als er unter der Identität eines einfachen, namenlosen Ritters den Hof Artus’ verlässt. Obwohl er kein geographisches Ziel vor Augen hat, sind seine Absichten eindeutig. Erec will Gefahren suchen und sie meistern, denn nur so kann er zweifelsfrei beweisen, dass er seinen Platz an der illustren Tafel verdient. Nicht seine exponierte soziale Stellung als Thronfolger, sondern seine individuellen Taten, die ihm sein über jeden Zweifel erhabener Charakter ermöglicht, sollen ihn legitimieren. Denn nur dank seiner unanfechtbaren ritterlichen Tugenden kann er die Herausforderungen siegreich bestehen. Die Strafe für Charakterschwäche ist der Tod und um diesem ins Auge sehen zu können ist es unabdingbar, dass seine Gegner 22 23
24
25 26
Zur Forschungsdiskussion, inwieweit Vorstellungen des Individualismus bereits im Mittelalter beginnen, vgl. Crane (2002), 126. Siehe auch Dülmen (1997). Wace (1980), 83. „Da sich ihm kein Zutritt auf andere Weise bot, schnitt er sich die Haare und den Bart ab und stattete sich wie ein Spielmann mit einer Harfe aus.“ Monmouth (1980), 23. „C’était dans les annales germaniques du haut Moyen Âge, chez Liutprand et Crémone, que Camerarius trouvait le premier cas d’une attention maligne, d’un stratagème volontaire du prince déguisé.“ Bercé (1990), 278, siehe auch 279. Vgl. Chênerie (1986), 323. Chrétien de Troyes (1987), 41.
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nicht unter Hinweis auf seine soziale Stellung den Kampf verweigern. Ein eventueller Rückzug des Gegners, motiviert durch die Befürchtung, sich die gesamte Tafelrunde zum Feind zu machen, würde es Erec unmöglich machen, seine Ritterlichkeit unter Beweis zu stellen. Die Anonymität ist der Ausgangspunkt der Abenteuer, und Chrétien de Troyes versichert seinen Lesern immer wieder, dass sie gewahrt bleibt. Zunächst ist da ein guter Freund, „aber Keu kannte ihn nicht, denn an Erecs Waffen unterschied man kein wirkliches Erkennungsmerkmal.“27 Der Held hat seine Insignien abgelegt und ist nichts weiter, nichts mehr, als ein Unbekannter in einer Ritterrüstung. So erleben ihn auch einige Gefährten der Tafelrunde, die ihm nach Verlassen der Burg hinterher reiten: „[...] schon hatten sie Erec eingeholt, aber sie erkannten ihn nicht.“ Chrétien weist ausdrücklich darauf hin, dass der Helm des Helden dazu seinen Teil beiträgt.28 Das Erkennen und Verkennen, das Sehen und das Rätsel um die Identität des Gesehenen sind immer wiederkehrende Motive, anhand derer Chrétien de Troyes die Abenteuerhandlung entfaltet. In Szenen, in denen das Gesicht der Beteiligten nicht durch die Rüstung verdeckt ist, sichern Begleitumstände die Anonymität: „Die beiden Ritter erkannten sich nicht, denn der Mond hatte sich im Schatten einer dunklen Wolke verborgen.“29 Die Unbekanntheit des Helden bzw. dessen in der Forschung immer wieder (zu Unrecht) als solches bezeichnetes Inkognito ist ein zentrales Motiv der chevaleresken Literatur. Das galt nicht nur für Chrétien de Troyes, einem ihrer frühesten und prominentesten Vertreter, der es nicht nur in Erec et Enide, sondern auch in Yvain, in Cligès, in seiner Bearbeitung des Perceval und im Lancelot benutzt.30 Auch andere Autoren rekurrieren auf diesen Topos, so Raoul de Houdenc in La Vengeance Raguidel, Huon de Rotelande in Ipomedon oder der unbekannte Autor des Perlesvaus.31 Die Forschung spricht in Bezug auf diese Texte immer wieder vom Inkognito der Protagonisten. Der Begriff wird dabei allerdings eher umgangssprachlich als analytisch verwendet und nicht ausschließlich auf das bewusste, temporäre und zielgerichtete Ablegen einer etablierten Identität bezogen. J.A. Burlow, der Inkognitomotiven in der chevaleresken Literatur einen Aufsatz widmet, verwendet den Begriff auch, als sich Arcite in Chaucers Knight’s Tale als „a poor labourer“ verkleidet.32
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Ebd., 223. Chrétien de Troyes (1987), 231, siehe auch 233. Ebd., 281. Vgl. Chênerie (1986), 190, 340, 361, 465, 584, 642. Vgl. ebd. 340, 388, 490, 644, 651. Zitiert nach Burlow (1994), 25.
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2.3 Anonymität als Erzählstrategie Die Ritterliteratur entstand als Flucht ins Fiktionale zu einer Zeit, die Vielen nur wenig hoffnungsvoll erschien. Auch damals schon sollten edle, starke und selbstlose Helden die Gesellschaft vor Gefahren schützen. Das Anonymitätsmotiv resultierte aus dem Verlangen, von aufrechten und wohlwollenden Herrschern regiert zu werden, deren Charakter und nicht deren Geburt ihre Herrschaft rechtfertigte. Trotzdem darf dabei nicht übersehen werden, dass der Identitätswechsel des Helden ebenso eine textimmanente Erzählstrategie war, welche die Handlung voranzutreiben half. Ritter mussten gegen Fabelwesen und unaussprechliche Bösewichte kämpfen, wobei sich am Ende alles zum Guten wendete; stand der Ritter mit dem Rücken zur Wand, eröffnete sich ein überraschender Ausweg. Darin überschneidet sich die chevalereske Literatur mit teils zeitgleichen, teils aber auch wesentlich älteren Erzähltraditionen und insbesondere mit dem Märchen.33 In den unterschiedlichsten Spielarten berichten auch diese von verwunschenen Königen und verzauberten Prinzessinnen, also von Herrschern, deren Identität und Legitimität erst durch eine komplexe Handlung etabliert werden muss. So kannte das Mittelalter zahlreiche Variationen des Märchens vom Mädchen mit den abgeschnittenen Händen, in denen der unerkannte Aufenthalt am Prinzenhof zu den festen Bestandteilen gehört.34 In König Drosselbart verkleidet sich ein König als Spielmann und betrunkener Husar, um den Hochmut der Geliebten zu brechen, und enthüllt seine wahre Identität erst, als dieses Ziel erreicht ist. Im Froschkönig verwandelt sich der Frosch durch die Liebe einer Frau zum König zurück. Ob aus Vorsehung, Hexerei oder freiem Willen, die Anonymität des Helden erlaubt der Erzählung sich zu entfalten und stimuliert die Imagination des Lesers. L’incognito, le changement d’identité, la méprise permettent quelques situations savoureuses ou favorisent l’action déjà chez Chrétien, parfois chez Gerbert de Montreuil, mais encore plus dans Méraugis, la Vengeance Raguidel, Hunbaut, Escanor; ce sont des romans d’aventures.35
Chrétien, und auch dies macht ihn zum Meister seines Fachs und zum frühen Vorläufer des modernen Romans, spielt an manchen Stellen sogar gezielt mit der Erwartungshaltung seiner Leser, beschreibt verschiedene mögliche Szenarien und erhöht so die Spannung. In Erec et Enide fordert er seinen Helden geradezu auf, seine Identität zu offenbaren, da die Gefahr zu groß, der Feind zu mächtig scheint. „Jetzt wird Erec mehr als unüberlegt handeln, wenn er sich 33 34 35
„Die Struktur des Artusromans und die des Märchens stimmen erstaunlich genau überein.“ Gier (1987), 446. Vgl. Harf (1980), 38. Chênerie (1986), 644.
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nicht zu erkennen gibt.“36 Allein Erec erweist ihm den Gefallen nicht, und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Das Spiel mit den Identitäten treibt die Handlung voran, und mit der Identitätsfindung erhält sie ein Ziel und einen klaren Abschluss: Incognito bestows power upon characters in stories, enabling them to do things of which they would otherwise have been incapable; and an audience or reader can be relied on to await with interest the moment of identification or unmasking.37
Auch Marie-Luce Chênerie arbeitet dies an mehreren Stellen ihrer gewichtigen Untersuchung der Ritterliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts überzeugend heraus. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, und auch hier unterscheidet sich die chevalereske Literatur von ihren antiken Vorläufern, dass ein individueller Held im Mittelpunkt steht. Dies ist in Ansätzen freilich auch in der Odyssee der Fall. Doch anders als im Meisterwerk Homers wird mit dem In-Eins-Fallen der rechtmäßigen und der anerkannten Identität des Odysseus nicht in erster Linie ein individuelles Schicksal, sondern ein Gemeinwesen, das Königreich Ithaka, gerettet. Am Ende des Ritterromans hingegen bleibt die Gesellschaft ungerecht und gefährlich, allein der siegreiche Ritter hat sein Glück gefunden: Bâtardise, ignorance puis découverte du nom, jeu des surnoms, ou au contraire affirmation d’un nom, incognito (ces trois derniers traits valant aussi pour les héros de la Table Ronde), sont les propriétés et les ressorts favoris du roman arthurien; la fiction valorise ainsi une confirmation ou une réalisation individuelle; elle est en rapport avec le fait que les noms de famille ne se forment et ne deviennent héréditaires qu’à partir du XIIIe siècle, et que ce sont en majorité des patronymes.38
Bei der Frage, ob bzw. inwieweit es sich bei der freiwilligen Anonymität der literarischen Ritter des Hochmittelalters um ein genuines Inkognito handelt, ist es hilfreich, einige Besonderheiten näher zu betrachten. Dies soll in Hinblick auf den etablierten Idealtypus geschehen, wobei insbesondere die Thematik der Täuschung des Gegenübers von Interesse ist. Das Inkognito, so wie es im Laufe der Frühen Neuzeit ausformuliert wurde, kann nur unter der Voraussetzung gelingen, dass sowohl der direkte Ansprechpartner als auch die Öffentlichkeit über die tatsächliche Identität des Fremden informiert sind. In der chevaleresken Literatur ist dies offensichtlich nicht der Fall. Der Ritter führt zumeist ein einsames Dasein unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die erst am Ende der Handlung und völlig überraschend die wahre Identität des Helden erfährt. Chrétien de Troyes steigert die einsame Anonymität seines Helden Erec so weit, dass ihn nicht einmal seine engste Umgebung, d. h. die anderen Ritter der Tafelrunde, erkennt. In mehreren Texten ist die identitäre Isolation der Protago36 37 38
Chrétien de Troyes (1987), 281. Burlow (1994), 26. Chênerie (1986), 682. Das Inkognito ist jedoch immer auch eine narrative Technik des Romans. Vgl. ebd., 687.
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nisten so vollständig, dass sogar beide Teilnehmer eines Zweikampfes anonymisiert auftreten. In Chrétiens Yvain stehen sich sowohl der gute Held als auch sein schurkischer Gegenspieler Gauvain unter vorgespiegelter Identität gegenüber, und keiner der beiden Streiter erkennt den nur allzu bekannten anderen.39 In Raoul de Houdenc Méraugis kämpft der Held sogar zwei Mal mit Gauvain, ohne dass beider Anonymität gelüftet wird.40 Neben dem Ausschluss der Öffentlichkeit ist damit ein zweites fundamentales Kriterium des Inkognito-Idealtyps nicht erfüllt: Die Beteiligten wissen nicht, wer sich hinter der Maske verbirgt, wer der Mann in der Rüstung ist. Die temporäre Identität täuscht tatsächlich, auch wenn ihre Funktion weniger darin als vielmehr in der Ablenkung von der sozialen Rolle besteht. Das Inkognito erfüllt seinen Zweck nur unter der Voraussetzung der Kenntnis derjenigen Personen, für die es angelegt wurde. Dies ist in der chevaleresken Literatur, die es als Erzählstrategie benutzt, um die Handlung fortzuspinnen, nicht der Fall. Um die Spannung aufrecht zu erhalten, kann die Anonymität erst ganz am Ende abgelegt werden. Allerdings hilft bereits diese Vorstufe des Inkognitos, zeremonielle Lasten zu reduzieren. Daher dürfen nicht alle Beteiligten die tatsächliche Identität kennen. So ist es durchaus mit der späteren Inkognitopraxis in Einklang zu bringen, wenn der anonymisierte Ritter am Abend eines langen Tages von einem gutherzigen Menschen beherbergt wird, diesem jedoch seinen wahren Namen verschweigt. Die angenommene Identität gegenüber dem Gastgeber beizubehalten, der ihn mit offenen Armen und oft ohne Entgelt empfängt, erscheint auch moralisch nicht verwerflich. Denn hier handelt es sich um Unbeteiligte und Zufallsbegegnungen, die mit dem Anlass der selbst gewählten Anonymität in keinerlei Verbindung stehen. Sie einzuweihen könnte die Mission sogar gefährden. Viele Jahrhunderte später hielten die aufgeklärten Absolutisten Joseph II. und Friedrich II. ihre königliche Identität in den entlegenen Landgasthäusern, in denen sie gelegentlich ihr Haupt betteten, ebenfalls des Öfteren geheim. Auch Ludwig II. von Bayern hatte auf seinen Inkognitoreisen in die Schweiz kein Interesse daran, seine Identität den Gastgebern zu offenbaren. In der chevaleresken Literatur des Mittelalters erfüllt die Anonymität keineswegs erst in dem Moment ihren Zweck, in dem sie abgelegt wird. Aber im Augenblick, in dem die Gesellschaft erkennt, wer sich unter dem Helm verbirgt, erhalten die vollbrachten Taten ihre wahre Bedeutung. Erst jetzt wird deutlich, warum der Ritter so viele Gefahren heraufbeschwören musste und herausgefordert hat. Daher ist dieser dramatische Moment, der die Abenteuererzählung abschließt und die eigentliche Handlung beendet, meist der des Kampfes, sei 39 40
Vgl. ebd. 366. Vgl. ebd. 377.
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es nun im edlen Duell oder im abschließenden Zweikampf eines Turniers.41 Entweder der besiegte Kämpfer oder das neugierige Publikum fordern den Helden auf, seine Maske fallen zu lassen. Als der Unterlegene den Namen seines Bezwingers erfährt, versteht er, dass seine Niederlage unausweichlich war und keine Schande ist. Allerdings spielt die Ritterliteratur auch mit diesen Motiven und variiert sie. So ist der Held des Prosa-Lanzelot in der Kölner Papierhandschrift zunächst in seiner vollständigen Anonymität auf sich allein gestellt. Im Laufe der Handlung wird seine gewählte Identität jedoch brüchig und sein wahrer Name weiteren Personen bekannt. Der Held, der die Vorteile der Unbekanntheit inzwischen zu schätzen gelernt hat, hält jedoch beharrlich an ihr fest. „Nur für sich selbst und wenige Eingeweihte ist der Narr wieder Lanzelot. Obwohl wiederhergestellt, weigert er sich vorerst, seine frühere Rolle wieder zu spielen, und will nun mit Bewusstsein sein Inkognito wahren.“42
2.4 Die Liebe Anonymität half Rittern, ihre Tugenden zu beweisen und dadurch ihre soziale Stellung zu legitimieren. Sie propagierte ein Modell guter und gerechter Herrschaft. Zu den Antriebsgründen der Anonymisierung gehört jedoch noch ein weiteres zentrales und ausgesprochen wirkmächtiges Motiv, das ebenfalls im Mittelpunkt der chevaleresken Literatur Europas steht: die Liebe. Einmal mehr handelt es sich um einen Topos, der die gesamte Weltliteratur durchzieht. Schon Odysseus wollte nicht nur den Königsthron, sondern auch seine geliebte Frau Penelope zurückerobern. Seine Liebe war eine seiner stärksten Antriebskräfte. Allerdings bleibt die Vereinigung zwischen Odysseus und Penelope seltsam blass; das große Finale der Odyssee ist dem Kampf gegen die Frevler und nicht dem Wiedersehen mit der Geliebten gewidmet. Verstanden als hoch emotionalisierte Bindung zwischen zwei Individuen und nicht als ehrenvolle soziale Existenz, ist die Liebe eine Erfindung des Hochmittelalters. Als Idee der edlen bzw. veredelnden Bindung zwischen Mann und Frau entsteht sie gegen Ende des 11. Jahrhunderts und wird in den folgenden Jahrzehnten durch die chevalereske Literatur zum erstrebenswerten Ideal stilisiert.43 „Zunächst ist alles kaum mehr als ein Spiel, ein literarischer
41 42 43
„[. . . ] quand on demande au héros son nom, le contexte est notamment celui du combat.“ Ebd., 551. Müller (2004), 319. Vgl. Jaeger (1999), 6.
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Begriff.“44 Die Ritterliteratur formulierte diesen Begriff, wobei Chrétien de Troyes erneut eine entscheidende Rolle spielte. Um 1180 veröffentlicht er Le chevalier de la charette, eine der ersten umfangreichen Dichtungen in französischer Sprache überhaupt. Diese Bearbeitung des Lanzelot und GuinevraStoffes orientiert sich an der Artussage. Lanzelot ist ein Ritter der Tafelrunde, der auszieht, um Feinde herauszufordern und Fabelwesen zu besiegen. Damit will er allerdings nicht seinen Platz an der Tafelrunde festigen, sondern die Dame seines Herzen erobern. Durch Chrétien wird die Lanzelot-Erzählung zum „Urtypus aller Rittergeschichten vom Dienst im Namen der Liebe“,45 Lanzelot selbst zum „Prototyp des ritterlich Liebenden“.46 Die aufopferungsvolle Liebe des Ritters motiviert ihn zu Taten, in denen die ritterlichen Tugenden exemplarisch umgesetzt werden. Das Konzept der individualisierten, ritterlichen Liebe rekurriert daher sowohl auf ein bestimmtes Männlichkeitsideal als auch auf ein bestimmtes Gesellschaftsideal.47 Die Liebe des Ritters erfüllt sein Leben und garantiert gleichzeitig soziale Stabilität. Stephen Jaeger spricht von der „social function of ennobling love“.48 Ritterliche Liebe führt zu sozialer Hierarchisierung, da sie der Aristokratie als Abgrenzungsmerkmal von den unteren Gesellschaftsschichten dient.49 Daher kann die Liebe kein Geheimnis sein; sie definiert die Person des Liebenden auch in der Öffentlichkeit. Ein Ritter bekennt sich jederzeit und gegenüber Jedermann zur Dame seines Herzens: Ennobling love is primarily a public experience, only secondarily private [. . . ]. It is a form of aristocratic self-representation. Its social function is to show virtue in lovers, to raise their inner worth, to increase their honor and enhance their reputation.50
Das Motiv der Liebe bzw. des Liebesbeweises durch heldenhafte Taten und bewusst heraufbeschworene Herausforderungen ist eng mit der Entwicklung des Inkognitos verbunden. Denn der Liebende will um seiner selbst geliebt werden und nicht aufgrund materieller oder politischer Privilegien. Diese Überlegung sollte später nicht nur Könige und Prinzen dazu verleiten, ihre Identität zu verbergen, sondern motivierte auch so manchen Ritter, solange als Unbekannter Abenteuer zu bestehen, bis die Herzensdame dank seiner Heldentaten in Liebe zu ihm entbrannte. Nicht angeborene, sondern erworbene Alleinstel44 45 46 47 48 49 50
Ballhaus (2009), 37. „Die höfische Liebe hat als Spiel begonnen und endet als Lebensweise.“ Ballhaus (2009), 60; vgl. auch Huizinga (1975), 98. Ballhaus (2009), 54. Brunner, Horst u. Mathias Herwg (Hg.): Gestalten des Mittelalters. Ein Lexikon historischer und literarischer Personen in Dichtung, Musik und Kunst, Stuttgart 2007, 258. Vgl. Ballhaus (2009), 40. Jaeger (1999), 6. Vgl. ebd., 5. Ebd., 6.
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lungsmerkmale galt es der Angebeteten zu demonstrieren. Das Verbergen der sozialen Identität war dafür ein probates Mittel, wie viele Texte chevaleresker Literatur beweisen. Dennoch ist auch hier die textimmanente Funktion des Liebesmotivs zu beachten. Bereits die Autoren der mittelalterlichen Ritterliteratur kannten das Erzählpotenzial von Verkleidung, Verwechslung und der Aufdeckung von Identitäten genau. In La mort du roi Artu, einer Erzählung aus dem 13. Jahrhundert, lässt sich Lanzelot von einer Dame, die ihn liebt, das Versprechen abringen, als öffentlich erkennbares Zeichen der Zuneigung ihr Armband (sleeve) zu tragen. Da das Herz des Ritters jedoch für eine Andere schlägt, ergeben sich bald allerlei Verwicklungen, die es im Laufe des Textes aufzulösen gilt, bevor Lanzelot seine wahre Liebe realisieren kann. Das sichtbare Liebeszeichen der Dame definiert vorübergehend Lanzelots soziale Identität: „Lancelot’s public identity as a prized and proven chivalric champion rests, in this instance, not on his own name and family identity but on a piece of clothing belonging to a lady.“51 Im Laufe der Literaturgeschichte vermehren sich die Beispiele, in denen gesellschaftliche Hindernisse der reinen, wahren Liebe im Weg stehen. Liebenden, deren Liebe nicht oder noch nicht gesellschaftsfähig ist, bleibt oft nur der Ausweg der Maskierung, Verwandlung und Verstellung: The courtier becomes the master of his every word and act, of his diction and gestures, of the motion of his eyes and the tilt of his head, all of which, when uncontrolled, provide rivals with ammunition against him. [. . . ] Hence the mask and the disguise become major psychic vestments of the courtier.52
Schon bald wurde die kompromisslose Absolutheit ritterlicher Liebe innerhalb des chevaleresken Genres nicht nur zelebriert und fortgeführt, sondern auch persifliert und karikiert. Bereits viele Autoren vor Cervantes erkannten das komische Potenzial einer auf die Spitze getriebenen Vorstellung der Treue und Hingebung. In Chrétien de Troyes Erec et Enide geht die Komplizität des Paares sogar soweit, dass die Figur der Enide jegliche Eigenständigkeit verliert. „Sie hatten genau die gleiche Weise zu denken und passten wunderbar zusammen.“53 Solche Visionen totaler Harmonie schienen einigen Autoren allzu realitätsfern. Sie fragten sich, ob die überschwänglich demonstrierte Treue nicht den einen oder anderen Seitensprung verbergen sollte. So der unbekannte Verfasser des Chevalier aux deux épées: „[. . . ] il trouve dans l’incognito et la méprise le moyen de renouveler avec piquant non seulement le thème de la continence héroïque, mais celui de la fidélité féminine.“54 Auch Huon de Rotelande erzählt in Ipomedon eine gewollt komische Roman51 52 53 54
Burns (2002), 5. Jaeger (1999), 7. Chrétien de Troyes (1987), 87. Chênerie (1986), 575.
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ze. Das temporäre Vorspielen einer konstruierten Identität dient hier nicht der Suche nach gefährlichen Abenteuern; es ist ein Mittel, sich an untreuen Damen zu rächen. Rotelande hinterfragt den Realitätsgehalt des literarischen Rittertypus.55 Solche Vorformen des Inkognitos halfen jedoch nicht nur dem gehörnten Ritter, seine Ehre wiederherzustellen. In vielen Fällen blieb dem Ritter nichts anderes übrig, als seine soziale Rolle vorübergehend abzulegen, in der Anonymität gefährliche Abenteuer zu bestehen und durch Heldentaten die Gesellschaft gleichsam um Vergebung zu bitten. Die verlorene Ehre erforderte, Privilegien temporär abzulegen, um sie anschließend durch ehrenvolle Taten wiederzuerlangen. In Hartmann von Aues Version des Erec verbirgt der Held sein Gesicht unter einem Helm, wechselt seine Identität und kämpft – in den Worten von Jan-Dirk Müller – „inkognito“. Diese „Anonymisierung ist Voraussetzung für die Wiederherstellung seiner Ehre.“56 Dadurch wird neben der Ehre des Helden auch ein angenommener gesellschaftlicher Normalzustand wiederhergestellt, in dem privilegierte Individuen privilegierte Positionen einnehmen. Die Interaktion zwischen genreimmanenten Erzählmustern, individuellen Schicksalen und sozialen Ordnungsvorstellungen ist konstant. Die Ritter der Tafelrunde und ihre Nachfolger waren sowohl individualisierte Helden als auch Modellfiguren einer gesellschaftlichen Ordnung. Die Anonymisierung verhalf den Archetypen einer „nouvelle chevalerie“ ein gerechtes Herrschaftsmodell heraufzubeschwören.57 Die Ritterliteratur bot „dem Fürsten ein Vorbild zur Nachahmung“.58 In diesem Sinne hat Michel Stanesco Recht, wenn er lapidar behauptet, dass im Grunde jeder Ritter ein chevalier errant zu sein hatte.59 Denn die Tugenden und Taten, die den fahrenden Ritter auszeichneten, wurden allen Rittern abverlangt. Für Johan Huizinga führte die „Fiktion des Ritterideals [. . . ] alles auf ein schönes Bild von Fürstenehre und Rittertugend, ein hübsches Spiel edler Regeln zurück, und schuf so wenigstens die Illusion einer Ordnung.“60 Bereits Geoffrey von Monmouth, der die Artussage im Auftrag des englischen Königshauses fabrizierte, hatte mit Hilfe des Liebesmotivs das Bild einer konfliktfreien Gesellschaft gezeichnet. „So wurden die Frauen immer züchtiger und tugendhafter und die Ritter in Folge ihrer Liebe immer tüchtiger.“61 Sein kongenialer Nachfolger Wace sah das nicht anders. Durch Liebe, Selbstlosigkeit
55 56 57 58 59 60 61
Vgl. Gaunt (2000), 54. Müller (2004), 304. Chênerie (1986), 677. Huizinga (1975), 91. Vgl. Stanesco (1992), 190. Huizinga (1975), 87. Monmouth (1980), 38.
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und Tugendhaftigkeit „wurde die Tapferkeit der Ritter gesteigert, und sie vollbrachten im Kampf noch bessere Taten; und auch die Sittsamkeit der Damen wurde gehoben, sie lebten dadurch noch züchtiger.“62 Die Literatur formulierte so Hoffnungen, an denen sich die Gesellschaft orientieren konnte. Gleichzeitig wurden solche Themen in den Texten ludisch verklärt. Die Neuordnung der Gesellschaft kam als spannendes Abenteuer, einfühlsame Liebesbeziehung und als Spiel mit Identitäten daher. Im Mittelpunkt stand der Ritter, der trotz seiner Stärke und Todesverachtung eine „personnage ludique, souvent amoureux et non rarement poète“ war.63 Sein edler Geist spiegelte sich in seinem Körper wider und war letzten Endes weder durch Anonymisierung noch durch Verkleidung vollständig zu verbergen. Auch dies gehört zu den motivgeschichtlichen Vorläufern des Inkognitos. So konnte Erecs zeichenlose Rüstung seinen wahren Charakter nicht verdecken. Allein „durch den Anblick seiner Haltung, seiner Schönheit und seines Aussehens gewann er die Herzen aller für sich.“64 Im Chevalier de la charette erkennt die Königin den anonymisierten Turniersieger Lanzelot an seinen außergewöhnlichen Taten und vermutet zu Recht, dass es sich um ihren Geliebten handelt, der gekommen ist, seine Liebe unter Beweis zu stellen.65 Es ist nur auf den ersten Blick paradox, dass Turniere, in denen Ritter Tugend und Tapferkeit öffentlich demonstrieren sollten, sich besonders für das anonymisierte Auftreten eigneten. In Cligés, ebenfalls von Chrétien de Troyes, veranstaltet König Artus höchstpersönlich ein Turnier, das nicht weniger als vier Tage dauert. Der Held der Erzählung nimmt daran „inkognito“ teil; er wechselt sogar jeden Tag seine Rüstung, um jede Möglichkeit der eindeutigen Identifikation auszuschließen.66 Auch in Marlorys Lancelot nimmt der Held als anonymer Streiter an Turnieren teil und kämpft mit verdecktem, geliehenem oder unbemaltem Schild. Aufgrund seines Bekanntheitsgrades war es notwendig „to ensure that opponents feel free to encounter him as if he were a mere ordinary knight.“67 Solche Narrative trugen entscheidend zur Genese des Inkognitos bei, indem sie verschiedene Topoi zum zentralen Motiv des Identitätsspiels verwoben. Diese rekurrierten wiederum auf eine Jahrhundertelange literarische (Odyssee), religiöse (Christenturm) und politische Tradition (Herrschertreffen). Die Werke Chrétien de Troyes erwiesen sich dafür als ebenso grundlegend wie nachhal-
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Wace (1980), 109. Stanesco (1992), 203. Chrétien de Troyes (1987), 309. Vgl. Baldwin (1990), 576. Tomaryn Bruckner (2000), 19. Siehe auch Baldwin (1990), 566. Vgl. Burlow (1994), 25–6. Burlow definiert das Inkognito allerdings ungenau als „people deliberately conceal their identity from others”. Ebd., 25.
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tig.68 Partonopeu, der Held aus Ipomedon, einer Chrétiens Cligés imitierenden Erzählung, ist beständig „incognito“.69 Renals de Biauju, den Chrétien ebenfalls stark beeinflusste, stellte dasselbe Motiv im späten 12. Jahrhundert in den Mittelpunkt seines Le Bel Inconnu.70 Verbreitung und Erfolg dieser literarischen Vorläufer des Inkognitos waren so groß, dass sie schon sehr früh persifliert und ironisiert wurden. Innerhalb der kleinen literarischen Elite des Mittelalters waren sowohl die Autoren als auch die Leser mit dem Motiv wechselnder Identitäten eng vertraut.71
2.5 Der Ritter und der gute Herrscher Dominique Boutet hält den Lanzelot-Stoff für die „première grande fresque, aux ambitions complexes, de notre littérature“.72 Das zentrale Thema der zahlreichen Bearbeitungen ist die wiederholte Identitätslosigkeit des Protagonisten, der schon zu Beginn seines Lebens ein „enfant sans nom“, ein Findelkind, ist.73 Lanzelots Lebensauftrag besteht darin, seine wahre Identität zu entdecken und sie öffentlich zu etablieren. Erst allmählich stellt sich heraus, dass er der Sohn eines Königs ist und sein rechtmäßiges Königreich zurückerobern muss.74 Als Prototyp des edlen Ritters verkörpert er ein Herrscherideal und damit eine idealtypische politische Ordnung. Spätestens seit Kaiser Konstantin war der ideale Herrscher ein Abbild der ewigen Weltherrschaft Gottes.75 Auch dessen Sohn, der zum Vorbild mittelalterlicher Herrscher in ganz Europa wurde, musste verschiedene Identitäten durchlaufen, um sein Königtum zu errichten. Anna Maria Drabek konstatiert eine „Übertragung der Herrschertugenden vom spätantiken Imperator auf den Himmelskaiser und von diesem wieder auf den Beherrscher des mittelalterlichen Imperiums.“76 Diese spiegelt sich, laut Drabek, auch im Reisezeremoniell der deutschen Herrscher des Spätmittelalters wider. Die Ritterliteratur trug entscheidend dazu bei, im ausgehenden Mittelal68 69 70 71 72 73 74 75 76
Hinzu kommt eine lange, hier nicht weiter vorgestellte Tradition von Tristan-Bearbeitungen. Vgl. Gaunt (2000), 54. Tomaryn Bruckner (2000), 19. Vgl. Lupack (2007), 317–8. Vgl. Gaunt (2000), 54. Boutet (1989), 1240. Ebd., 1230. Dazu muss er sowohl Iweret als auch Dodone, die besten Ritter ihrer Zeit, im Zweikampf besiegen. Vgl. Boutet (1989), 1231. Vgl. Straub (1969), 15. Drabek (1964), 78.
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ter die Vorstellung zu verbreiten, ein Herrscher „should inspire obedience through exemplary behaviour and affection rather than force“.77 Herausragende Charaktereigenschaften, die sich mittels christlich-ritterlicher Tugenden definierten, legitimierten einen guten Herrscher. Dessen Merkmale waren Bescheidenheit, Güte, Selbstlosigkeit und Hingabe sowie, unmittelbar damit verbunden, die ostentative Relativierung der eigenen Privilegien. Das unnachgiebige Beharren auf der eigenen Machtposition gehörte dagegen nicht zum Tugendkatalog. Der König besaß die „capacité de résumer tout un peuple“.78 Vorangetrieben durch die chevalereske Literatur entstand die „schöne Fiktion, dass der König der Beste sei“.79 Darauf aufbauend verfestigte sich, u. a. in den Fürstenspiegeln, die Idee, dass seine Person unbedingt zu schützen sei. Obwohl er der Erste unter den Rittern war, sollte er nicht mehr selbst in die Schlacht ziehen. Herrscher, die wie Heinrich III. trotzdem zu den Waffen griffen, wurden von den Zeitgenossen und späteren Generationen kontinuierlich kritisiert. Seine Ritter hatten die Schlacht für ihn zu schlagen.80 Im Laufe der Zeit wandelte sich der Ritter zum Kavalier.81 Die eingeforderten Tugenden blieben weitgehend dieselben, der Kavalier musste sie jedoch nicht mehr im Kampf unter Beweis stellen. Der martialische Aspekt wurde zunehmend durch immer elaboriertere Höflichkeitsformen ersetzt. Auch diese Entwicklung hatte ihren Ausgangspunkt in der Aristokratie, da sich allein diese ausgesprochen privilegierte Schicht den Luxus leisten konnte, solche Idealvorstellungen im Alltag zu kultivieren. Es stellte sich allerdings die Frage, welche Mittel zur Verfügung standen, bestimmte Identitäten anzunehmen und ausgewählte Charakterzüge auszudrücken. L’idéologie chevaleresque reflétée par la littérature – et aussi par les chevaliers qui sont à la fois les modèles et les imitateurs – s’attache, pour une large part, à des formes que l’on veut traduction de l’être et qui n’en sont souvent que le décor, la parure, parfois les oripeaux, ou les masques.82
Die öffentliche Identität wurde zunehmend zu einer Frage der Entscheidung. Das Menschenbild der Renaissance lehnte es bereits rundheraus ab, sich die eigene Identität von den Umständen aufzwingen zu lassen. Ausgehend von individuellen Überzeugungen galt es vielmehr, sich ein Ideal zu konstruieren und auszuleben. Das Spiel mit Identitäten bzw. die Verweigerung eine Identität als gegeben hinzunehmen war dabei ein zentraler Bestandteil. Laut Huizinga er77 78 79 80 81 82
Graham (2006), 139. Bercé (1990), 228. Alewyn/Sälzle (1959), 18. Vgl. Graßnick (2004), 181. „Der Ritter weicht dem Kavalier.“ Alewyn/Sälzle (1959), 17. Flori (1998), 264.
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schuf sich die soziale Oberschicht im Herbst des Mittelalters „ein schöneres Leben im kostbaren Spiel“.83 Insbesondere Turniere und Ritterspiele erlaubten es, konstruierte Identitäten öffentlich zu demonstrieren und eingeforderte Charakterzüge nachzuweisen. Einerseits waren Turniere gefährlich und erforderten Mut, andererseits blieb das Risiko durch eine immer strenger formulierte Reglementierung überschaubar. Turniere wurden für ein Publikum, d. h. im öffentlichen Raum, veranstaltet und waren somit ideale Kommunikationsplattformen, deren Spektakel dazu stimulierte, die Ereignisse weiter zu erzählen. Als Ritterspiel lud es die Teilnehmer zum Spiel mit Identitäten ein und forderte sie auf, so zu sein, wie es ihnen und anderen gefiel. Die in Szene gesetzte Identität rekurrierte dabei beständig auf die soziale Rolle: In romances from the twelfth century onward, and in tournaments from the thirteenth century onward, disguise is a frequent strategy for presenting the chivalric self. Occasionally these knights in disguise are seeking to conceal themselves from scrutiny and judgement, but in most cases chivalric incognito, as a written motif in romance and chronicle and as a historical practice, amounts to a peculiar kind of self-dramatization that invites rather than resists public scrutiny.84
Im ausgehenden Mittelalter nahmen Herrscher in ganz Europa unter angenommenen Identitäten an Turnieren teil. Der bereits erwähnte englische König Eduard I. wählte dafür auch Kostüme, die den Romanen Chrétien de Troyes entstammten. Er übersetzte die Literatur in die Realität und war damit Bestandteil einer Entwicklung, die sich in den folgenden Jahrzehnten intensivierte: „Incognito“ in its many fourteenth-century manifestations encompasses both concealed identity modeled after romance plots and fictive identity borrowed from them.85
Herrscher festigten ihre Macht, indem sie literarische Topoi auslebten. So wurde Galahad, eine Figur aus der Artussage, zum traditionellen Vornamen der mailändischen Visconti;86 Heinrich VII. ließ seinen erstgeborenen Sohn, den früh verstorbenen Bruder des späteren Heinrich VIII., auf den Namen Arthur taufen. Kaiser Maximilian I. kämpfte nicht nur selbst in Turnieren, sondern inszenierte sich auch in seinen autobiografischen Beschreibungen als Ritter. Das Rittertum war für ihn ein „zentrales, wenn nicht das zentrale Legitimationselement seiner herrschaftlichen Vorrangstellung.“87 Eduard III., dessen Leben voll von fiktiven Identitäten war, beteiligte sich laut dem Chronisten Jean Froissard 1346–1347 anonym an der Belagerung 83 84 85 86 87
Huizinga (1975), 108. Crane (2002), 125. Crane (1997), 66. Vgl. dazu auch Vale (1982), 73. Vgl. Bercé (1990), 262. Die italienische Form von Galahad ist Galeazzo. Krieg (2009), 234. Vgl. auch ebd. 225–8.
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von Calais. Er kämpfte „sans cognissance de ses ennemis, desous le banière monsigneur Gautier de Mauni“ gegen die Franzosen und bewies seinen Soldaten so den Mut ihres Anführers.88 Sir Eustache, sein direkter Gegner auf dem Schlachtfeld, ahnte nicht, wer dieser Gautier de Mauni tatsächlich war. Allerdings zögerte Eduard nicht, ihm diese Information am Abend des Kampfes zukommen zu lassen, wobei er nicht vergaß, die Stärke und Geschicklichkeit Eustaches zu rühmen. Dieser habe sich nicht einmal vom edelsten aller Ritter, dem englischen König, besiegen lassen.89 Einmal mehr fungierte die gewählte Identität als gezielte Kommunikationsstrategie. Die Begebenheit ging von Mund zu Mund und fand Eingang in Froissards Aufzeichnungen. Die vorgespielte Identität hatte ihren Weg von der Literatur aufs Schlachtfeld gefunden, kehrte in die Literatur zurück und wurde dort weiter perpetuiert. Eduards Imitation der Ritterliteratur hatte ihn selbst zu einem „hero of romance“ gemacht.90 Dabei besaß Eduards Identitätswechsel in Calais einen dezidiert ludischen Charakter. Denn bei Gautier de Mauni handelte es sich keineswegs um eine fiktive Person; der englische Walter Mauny war Eduard alles andere als unbekannt. Er heiratete wenig später Eduards Tochter Margaret!91 Dem englischen König gelang es, mittels einer wohlüberlegten, mehrere Personen und Identitäten persiflierenden Frühform des Inkognitos nicht nur seinen eigenen Ruf, sondern auch den seines zukünftigen Schwiegersohns nachhaltig zu stärken.92 In seiner Verehrung und Faszination für die Ritterkultur trieb Eduard III. das Spiel mit Identitäten immer weiter auf die Spitze.93 1348 gründete er den Order oft the garter, den Hosenbandorden, in expliziter Anlehnung an Artus’ Tafelrunde. Der Orden sollte die 300 besten Ritter seines Reiches um ihn vereinen und ist ein gutes Beispiel für die „performative nature of chivalric identity”.94 Bei einem im selben Jahr veranstalteten Turnier in Eltham, bei dem er „a robe decorated with a dozen garters“ trug, lud Eduard zunächst 26 Männer ein, die alle bei der siegreichen Schlacht von Crécy an seiner Seite gekämpft hatten.95 Nahezu zeitgleich entstanden die beiden anderen wichtigsten Ritterorden Europas: der Sternorden (Ordre de l’étoile) Johanns II. von 1351 sowie 1352 der 88 89 90 91 92 93 94 95
Ebd., 131. Vgl. Crane (1997), 68f.; Crane (2002), 131; Prestwich (2005), 279. Siehe auch Worcestre (1969), 347. Crane (2002), 132. Vgl. Prestwich (2005), 337; vgl. auch 340, 343, 346. „Damit inszenierte er seine Tapferkeit als eigenes Verdienst, das er weder seiner Abstammung, seinem königlichen Rang noch seiner Aufmachung verdankt.“ Moos (2004a), 133. „Edward III worked hard to encourage the culture of chivalry.“ Prestwich (2005), 341. Crane (1997), 73. Vgl. Prestwich (2005), 342. Die Schlacht von Crécy zwischen englischen und französischen Truppen fand am 26. und 27. August 1346 statt.
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Knotenbandorden (Ordre du nœud) Ludwigs von Tarent, dem König von Neapel. Im 15. Jahrhundert besaß jeder bedeutende Hof seinen eigenen Ritterorden. Darüber hinaus existierten in Europa circa 200 Rittergesellschaften, die sich in ihren Statuten ausdrücklich auf die Rittermythologie und die Romane der Artuslegende beriefen. Auch sie machten das spielerische Ausleben literarischer Fiktionen zum Programm.96 Diese aus der Literatur entlehnten Identitätsspiele vermischten sich in ihrem ludischen Aspekt mit anderen Formen der Verkleidung und Maskierung. So nahm Eduard III. 1348 in einem „ingenious bird costume“ an einem weiteren Turnier teil. Bei der Schiffsreise auf dem Weg zur Schlacht bei Les Espagnols verkleidete sich der König mit Hilfe eines „beaver hat“.97 Stanesco, der neben Prestwich diese Episode beschreibt, erklärt das Verhalten des Monarchen folgendermaßen: [L]e roi s’amuse tout en s’offrant au regard de son armée. Son apparition à l’avant du navire royal est destinée à la fois à dramatiser la situation, à montrer que la guerre est un jeu, [et] à intensifier l’ardeur combative de ses troupes.98
Einmal mehr erfüllte die Maskerade spezifische Funktionen. Somit zählt auch sie zu den Vorläufern des Inkognitos. Denn obwohl sich die Verkleidung auf keine eindeutig definierte Identität bezog, war sie zweckgebunden, spielerisch und situationsspezifisch.99
2.6 Ulrich von Liechtenstein Das vielleicht bemerkenswerteste Beispiel für die Umsetzung ritterlicher Fiktionen in die politische Realität bietet der steirische Adlige Ulrich von Liechtenstein. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts geboren, hatte der Ministeriale bedeutende politische Ämter (Truchsess, Marschall, oberster Richter) in den Herzogtümern Österreich, Steiermark und Kärnten inne. Die historische Bedeutung Liechtensteins beruht jedoch im Wesentlichen auf seinen Arbeiten als
96 97 98 99
Vgl. Ranft (1989), 93–9; Crane (2002), 134; Crane (1997), 71; siehe auch Höfler (1950), 145. Prestwich (2005), 291. Stanesco (1988), 176. Ganz anders verhielt sich der junge Eduard III. noch an Ostern des Jahres 1331 als er sich in kleiner Begleitung auf eine geheime Reise nach Frankreich begab. Sein Ziel war es Philipp VI. seine Aufwartung zu machen und seine dabei angelegte Verkleidung als Handelsmann diente in der Tat der reinen Geheimhaltung. Das Ziel war seine Identität zu verbergen und diese gerade nicht – auch nicht am Ende der Reise – vor der Öffentlichkeit bloßzulegen. Vale (1982), 62.
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Lyriker und Epiker. So gilt er als der „Verfasser des ersten dt. Ich-Romans“,100 dem wahrscheinlich 1255 geschriebenen Frauendienst.101 Das aus beinahe 2000 Strophen bestehende Werk ist stark an die Liederdichtungen der provenzalischen Troubadours angelehnt und gilt als einziges deutschsprachiges Gegenstück zu diesen südeuropäischen vidas und razos.102 Die Forschung debattiert seit Langem kontrovers, ob dieser Text als die erste genuine deutsche Autobiografie anzusehen ist, nicht zuletzt weil die Faktizität vieler dargestellter Begebenheiten zweifelhaft erscheint. Ein zentraler Topos der in Ich-Form gehaltenen Erzählung ist die Liebe; geschildert wird das Werben um zwei Damen.103 Ulrich von Liechtenstein breitet eine Welt des Rittertums aus, die sich insbesondere durch ludische Aspekte kennzeichnet und in der das Ritterleben in vielerlei Hinsicht einem Spiel mit der Welt gleicht. Er beschreibt das Rittertum als besseres Gegenstück der Realität, als möglichen Ausweg aus den gesellschaftlichen Konflikten seiner Zeit. In Liechtensteins Ritterwelt nimmt das Spiel mit Identitäten einen zentralen Platz ein. Bereits 1224 ritt Ulrich in „grüner Verkleidung“ zum Friesacher Turnier.104 1227 unternahm er mit der Venusfahrt seine erste große Reise.105 Als Venus verkleidet stieg er bei Venedig aus dem Meer, um anschließend in der Rolle der Göttin durch die Lande zu ziehen.106 1240 trat Ulrich eine zweite Reise an, die als Vorläufer des Inkognitos höchstes Interesse verdient: die Artusfahrt. In der Rolle des aus dem Jenseits zurückgekehrten Königs reiste er in tiefstes Scharlachrot gekleidet von der Steiermark aus in Richtung Österreich und Böhmen.107 Damit begab er sich in ein politisch höchst umstrittenes Gebiet, um dessen Hoheit der König von Böhmen und der Herzog von Österreich konkurrierten. Ulrich von Liechtenstein stand auf der Seite Friedrichs II., des österreichischen Herzogs, dessen Tod 1246 er im Frauendienst ausdrücklich beklagt.108 Auf seiner Fahrt forderte der legendäre König Artus die steirischen und niederösterreichischen Adeligen zum spielerischen Kampf auf: Wer drei Speere gegen ihn verstach, wurde in die Tafelrunde aufgenommen. Die neuen Mit100 101 102 103 104 105 106
107 108
Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, 1199. 1257 verfasste er außerdem ein Frauenbuch. Vgl. Zitzenbacher (1958), 18. Vgl. Zitzenbacher (1958), 12; Ulrich von Liechtenstein (1995), 1279. Vgl. Ulrich von Liechtenstein (1995), 1279. Dabei handelte es sich wahrscheinlich um eine Allegorie auf die mythische Rolle des Maikönigs. Vgl. Höfler (1950), 139; Zitzenbacher (1958), 21. Siehe dazu Müller (2010). Vgl. Höfler (1950), 132; Zitzenbacher (1958), 10, 20. Zitzenbachers Schlussfolgerung, Ulrich habe all dies getan um „unerkannt“ zu bleiben, überzeugt angesichts dieser sehr auffälligen Verkleidung nicht. Vgl. Zitzenbacher (1958), 21. Vgl. Höfler (1950), 147; Stanesco (1992), 193; Zitzenbacher (1958), 109. Vgl. Zitzenbacher (1958), 20–9.
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I. Die Genese eines Zeremoniells
glieder nahmen Ritternamen, also selbst gewählte Identitäten, an und begleiten Artus zum österreichischen Herzog. Auf dem Weg hielten sie weitere Turniere ab, so dass die Gefolgschaft beständig anwuchs. Als der Herzog von Österreich von der Wiederkehr Artus’ erfuhr, sandte er ihm Boten entgegen, um ihn willkommen zu heißen.109 Die Artusfahrt war ein spielerischer Identitätswechsel aus „politischen Motiven“.110 Liechtenstein stellte sich öffentlich an die Seite Friedrichs II. Er warb zudem Adelige an, die durch ihre Teilnahme an der Reise die politische Aktion unterstützen.111 In der Rolle des Artus verkörperte Liechtenstein eine durchweg positiv konnotierte Identifikationsfigur; Friedrich wurde nicht von einem Mann mit handfesten eigenen Interessen, sondern von einem über jeden Zweifel erhabenen idealen Herrscher unterstützt. Folgerichtig veranlasste der Herzog die Einholung Artus’ und hieß den Reisenden persönlich in seiner Residenz willkommen. Gemäß dem Spiel und der intendierten politischen Botschaft begrüßte er Artus und nicht Ulrich von Liechtenstein. Das Identitätsspiel wurde von allen Beteiligten aufrechterhalten, nicht obwohl, sondern gerade weil alle die tatsächliche Identität des Reisenden kannten. „Er [der Herzog von Österreich – VB] sprach: ,Seid, König Artus, hier / in meinem Haus willkommen mir.‘“112 Ottokar II., der König von Böhmen, zeigte sich über die Rückkehr des mythischen Königs hingegen alles andere als begeistert und verweigerte ihm die erbetene Einreise in sein Reich.113 Ob Ulrich versuchte, einen Kompromiss auszuhandeln oder die Zustimmung des böhmischen Königs zur Vereinigung Österreichs mit der Steiermark zu erhalten, bleibt ungeklärt. Für beide Anliegen wäre die Rolle des Artus, eines Herrschers, dessen Wunsch jedem Ritter Befehl ist, sicher vielversprechend gewesen. Nach dem Tode Friedrichs unterstützte Ulrich von Liechtenstein Ottokar sogar für einige Zeit, bis er sich um 1260 wieder auf die Seite der Steirer schlug. Insofern gleicht die Artusfahrt einer heiklen diplomatischen Mission; die temporär eingenommene Identität sollte helfen, einen konkreten Konflikt zu lösen. In dieser Hinsicht ähnelt sie dem späteren Inkognitozeremoniell. Insofern spielte sich das Rittertum Ulrich von Liechtensteins nur zum Teil „in einem fiktiven Raum“ ab.114 Die Verkleidung hebelte zwar die soziale Ordnung zeitweise aus, indem die hierarchische Beziehung zwischen Liechtenstein und Friedrich umgekehrt wurde. Sie war jedoch einzig und allein in Hinblick auf ein spezi109 110 111 112 113 114
Vgl. Höfler (1950), 144. Zitzenbacher (1958), 22. Vgl. Höfler (1950), 145. Zitiert nach Zitzenbacher (1958), 115. Vgl. Höfler (1950), 132. Ebd., 131.
2. Ritter und Könige
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fisches politisches Problem sinnvoll. Der Identitätswechsel versuchte dieses zu lösen. „Die Fiktion streng aufrecht [zu] erhalten“, war eine unumstößliche Bedingung für die Aussicht auf Erfolg.115 Ulrich von Liechtensteins Artusfahrt ist diejenige Begebenheit des Mittelalters, die dem Inkognito am nächsten kommt. Denn wichtige Kriterien, wie die Anwesenheit einer Öffentlichkeit, die Bekanntheit der wahren Identitäten, der politische Hintergrund, das Zurückgreifen auf ludische Formen und das allseitige Einlassen auf die Fiktion waren hier erfüllt. Die entscheidende Abweichung bestand in der Wahl der angenommenen Identität. Denn diese war erstens nicht menschlich, sondern mythologisch. Zweitens siedelte sich die gewählte Identität hierarchisch nicht unterhalb, sondern deutlich über der sozialen Rolle des Inkognitoträgers, Ulrich von Liechtenstein, an. Genauso wie das spätere Inkognito hatte auch Ulrichs Identitätswechsel nichts mit einem Versteckspiel zu tun. Die allseitige Kenntnis seiner Identität war vielmehr Bedingung und unterschied sich kategorisch von dem Bestreben anonym zu bleiben. Ganz anders verhielt sich Richard Löwenherz, als er 1192 versuchte, unerkannt durch das Gebiet seines Feindes Herzog Leopold V. zu reisen. Entgegen der Behauptung von Norbert Ohler war er gerade nicht „inkognito“.116 Richard befand sich auf der Flucht und fürchtete um sein Leben. Als er schließlich aufgrund eines kostbaren Ringes, den er trug, dennoch erkannt wurde, bezahlte er dies mit zwei Jahren Gefangenschaft und viel Lösegeld.
115 116
Vgl. ebd., 143. Ohler (2004), 170.
3. Zeremonielle Anfänge 3.1 Die Aufwartung Die literarische Welt der Ritter eröffnete den Fürsten und Adligen des Mittelalters vielfältige Möglichkeiten für politisches Handeln. Sie konnten sich als Miles Christi zum Verteidiger des Christentums stilisieren, im Turnier ihren herrschaftlichen Charakter öffentlich zur Schau stellen und im Rückbezug auf Artus und die Ritter der Tafelrunde die Legitimität ihrer Dynastie zementieren. So kennt das Mittelalter zahllose Beispiele für den „claim of many families to descend from the Knight of the Swan“.1 Der Schwan war das Wahrzeichen Lanzelots. Das königliche Motto Eduards III. lautete: „Hey, hey, the white swan, by God’s soul I am thy man.“2 Als der von 1399 bis 1412 regierende Heinrich IV. Mary de Bonhoun zum Altar führte, wählte er den Schwan als Symbol dieser Verbindung. Wer wollte eine Ehe anfechten, deren Schutzherr Lanzelot hieß?3 Aus der literarischen Fiktion des Rittertums, die auf vielfältige, spielerische Weise in die Realität überführt wurde, entstanden verschiedene Vorläufer des Inkognitos. Das vom Ritterideal ausgehende, komplexe Spiel mit Identitäten wurde beständig politisch funktionalisiert und instrumentalisiert. Die Artusfahrt Ulrich von Liechtensteins zeigt, dass bereits im 13. Jahrhundert wichtige Voraussetzungen für die zeremonielle Ausarbeitung des Inkognitos in der Frühen Neuzeit geschaffen wurden. Liechtenstein blieb zwar zunächst eine Ausnahmeerscheinung. Trotzdem zeugen seine Unternehmungen von der Möglichkeit eines temporären, politisch motivierten Identitätswechsels lange vor dem Beginn der Neuzeit. Das Christentum und die chevalereske Literatur des Mittelalters hatten dafür den Weg geebnet. Beide spielten zudem eine entscheidende Rolle für die europaweite Verbreitung eines Konzepts der individuellen Liebe. Dies individualisierte den Ritter, und bald bestand der Lebenssinn dieses literarischen Topos in einer verabsolutierten Gefühlsbindung zu einer bestimmten Person. Im Zusammenspiel von ritterlichem Charakter und ritterlicher Liebe entstand schließlich der früheste dezidiert zeremonielle Vorläufer des neuzeitlichen Inkognitos: die Aufwartung. Der Begriff bezeichnet den Besuch, die Begrüßung und die erste Begegnung eines Mannes mit seiner auserkorenen Ehefrau. Der Aufwartende bezeugte öffentlich seine Liebe und signalisierte seinen Respekt und seine Aufopferungsbereitschaft gegenüber der Zukünfti1 2 3
Crane (2002), 108. Prestwich (2005), 291. Vgl. Crane (2002), 109, 113f.
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I. Die Genese eines Zeremoniells
gen. Sowohl die öffentliche Liebesbekundung als auch die Lebenssinnstiftung durch den Dienst an einer Dame gehören zu den zentralen Motiven der Ritterliteratur.4 Innerhalb des mittelalterlichen Adels waren diese sorgfältig arrangierten, eine standesgemäße Hochzeit vorbereitenden Aufwartungen von großer Bedeutung. Sie gaben einerseits Anlass, den Kontakt zwischen den Familien des Brautpaares herzustellen und damit die Verhandlungen über die genauen Modalitäten einzuleiten. Andererseits dienten sie als ein erster, wegweisender Test für die zu erwartende Beständigkeit einer als lebenslang gedachten Verbindung. In Bezug auf das Inkognito ist eine bestimmte Spielart der Aufwartung von besonderem Interesse. Denn diese erste Begegnung konnte nicht nur auf offiziellem bzw. angekündigtem Wege stattfinden. Es ging schließlich um weit mehr, als die Tragfähigkeit einer zumeist nach sozialen und finanziellen Kriterien angebahnten und daher dezidiert funktionsgebundenen Beziehung zu erproben. Schließlich durfte die Vermählung keineswegs als arrangierte Familienpolitik, als reines Zweckbündnis oder als funktionaler Auswahlprozess erscheinen. Die Aufwartung musste vielmehr eine natürliche, emotionale Verbundenheit öffentlich anzeigen. Immerhin war der christliche Eheschluss ein auf gegenseitiger Liebe fußendes Bündnis vor Gott; die bis ins Detail geplante Aufwartung sollte beweisen, dass das Paar für einander bestimmt war. Um eine solche Liebe öffentlich nachzuweisen, konnte eine Aufwartung unter Verschleierung der Identität des Aufwartenden arrangiert werden. Dies hatte mehrere Vorteile: Erstens verschaffte sich der zukünftige Bräutigam einen unauffälligen und folgenlosen Eindruck von seiner Braut. Folglich blieb ein Rückzieher ohne diplomatischen Affront möglich. Zweitens gelang es, durch eine solche Aufwartung eine spontane Liebe, eine Liebe auf den ersten Blick zu inszenieren. Bei der Planung und Schließung einer Ehe im Mittelalter spielten die Eheleute je nach Umständen durchaus unterschiedliche Rollen. Insbesondere bei Mitgliedern regierender Familien waren Hochzeiten viel zu wichtig, um sie durch die Gefühlswallungen der sich oft noch im Kindesalter befindlichen Protagonisten zu gefährden. So war die anberaumte Ehe zwischen Kaiser Friedrich II. und Elisabeth von Aragon weniger Hochzeit als vielmehr Weltpolitik, in der für wahre Liebe nicht viel Platz blieb. Um keinerlei Risiken einzugehen, wurde die Ehe daher schon lange vor dem ersten Treffen der Eheleute per Proklamation geschlossen: Zwei Stellvertreter gaben sich anstelle des Brautpaares das JaWort. Es war auch möglich, den Bräutigam durch einen Prokurator zu ersetzen, der manchmal sogar – um allen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Ehe vorzubeugen – einen symbolischer Beischlaf vollzog. Der Prokurator legte sich für 4
Vgl. Warnicke (1996), 570.
3. Zeremonielle Anfänge
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einen Moment neben die Braut und entblößte eines ihrer Körperteile, zumeist ein Stück eines Beines oder eines Arms.5 Diese zeremoniell sorgfältig ausgearbeiteten Formen der indirekten Eheschließung können als ein Grund für die relativ niedrige Zahl der bekannten Inkognito-Aufwartungen angesehen werden. Eine der frühesten Inkognito-Aufwartungen datiert aus dem Jahre 1389, als Isabeau von Bayern mit großem Gefolge in Paris einzog. Dort sollte die Wittelsbacherin ihre durch und durch dynastischen Überlegungen gehorchende und seit langem anberaumte Ehe mit Karl VI. schließen. Der zukünftige Gatte wollte allerdings nicht bis zur offiziellen Vorstellung warten, um seine Frau zum ersten Mal zu sehen. Verkleidet mischte er sich unter die zahlreichen Schaulustigen, um einen Blick auf Isabeau zu erhaschen.6 Der Geleitzug der bayerischen Braut wurde von als Engeln verkleideten Kindern gelenkt, und einige der begleitenden Ritter führten „Saladins Waffengang“ auf.7 Der prunkvoll inszenierte Einzug verdeutlichte das Prestige der Braut und half die Sympathie ihrer zukünftigen Untertanen zu gewinnen. Durch die allegorischen Elemente enthielt die Hochzeit von Beginn an Formen des Spiels und der Mimikry. Bei der anschließenden Vermählungszeremonie erhielt das Paar Geschenke von zwei als Einhörnern und zwei als Mohren verkleideten Personen.8 Karl VI., dem es als König untersagt war am Einzug teilzunehmen, griff auf die Hilfe seines „Getreuen“ Savoisi zurück, um das zeremonielle Verbot zu umgehen. Savoisi besorgte nicht nur ein tüchtiges Pferd, sondern auch die Verkleidung. Jean Markale zitiert Karl in diesem Zusammenhang, leider ohne jegliche Quellenangabe, folgendermaßen: „Steig auf ein gutes Roß, ich werde hinter dir aufsitzen, und wir werden uns so verkleiden, daß man uns nicht erkennen wird, und uns den Einzug meiner Gemahlin ansehen.“9 Karl war vom Anblick der nicht umsonst so genannten Isabeau entzückt und versuchte, sich der Zukünftigen so weit zu nähern, bis ihn die Wächter des Zuges schließlich zurückstießen und sein uneinsichtiges Insistieren mit Prügeln straften, da sie nicht erkannten, wen sie malträtierten. Diese Version gab zumindest Karl selbst am Abend des Tages im großen Kreis zum Besten. Damit erntete er weit mehr als nur das Lachen seiner Zuhörer. Er versicherte vielmehr öffentlich seine Liebe und dass diese ihm wichtiger war als seine soziale Stellung. Solche Anekdoten, die nicht zuletzt die Volkstümlichkeit von Herrschern 5 6 7 8 9
Vgl. Spieß (1997), 25f. „Her husband joined the spectators in disguise to watch her progress through the streets of Paris.“ Warnicke (1996), 578. Markale (1997), 23. Vgl. ebd., 26. Ebd., 25.
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I. Die Genese eines Zeremoniells
thematisierten, fanden unmittelbar Einzug in die zeitgenössische Überlieferung und erreichten so die Öffentlichkeit. In einem Manuskript von 1484 findet sich eine Geschichte über den König von Aragon. Dieser wollte eine seiner beiden Töchter mit dem König von Spanien10 vermählen, ein in dynastischer Hinsicht durchaus einleuchtendes Unterfangen. Der Text berichtet, dass der Aragone „disgised hym as a servaunt“, damit sich der Freier den Schwestern unbemerkt nähern und sich für eine der beiden entscheiden konnte.11 Interessant ist dabei weniger der zweifelhafte Wahrheitsgehalt solcher Berichte als vielmehr ihre funktionale Bedeutung für die emotionale und damit legitimierende Grundlage von Eheverbindungen. Retha M. Warnicke, die eine der wenigen Untersuchungen zu diesem Thema vorgelegt hat, nennt Ludwig II. von Neapel 1399 und Heinrich IV. von Kastilien im Jahre 1454 als weitere Beispiele für Inkognito-Aufwartungen.12 Daniel Nordman berichtet, wie sich Karl IX. versteckte, um seine zukünftige Gemahlin Elisabeth von Österreich dabei zu beobachten, wie sie aus einer Kutsche stieg.13 Yves-Marie Bercé beschreibt, wie Ludwig XIII. sich 1615 als „simple cavalier“ verkleidete, um Anna von Österreichs Einzug in Bordeaux zu verfolgen. Zurecht merkt er an: „La fiction veut que le prince ne réussisse jamais à effacer en lui toute trace de majesté.“14 Funktion und Ablauf einer Inkognito-Aufwartung können am Beispiel Heinrichs VIII. von England verdeutlicht werden. Er besuchte 1539/40 seine zukünftige, vierte Gemahlin Anna von Kleve unter Vorgabe einer falschen Identität.15 Heinrich sandte eine Delegation zu Anna, welche die Grüße und die Hochachtung des Königs übermitteln sollte und die, der zeremoniellen Gepflogenheit entsprechend, vorauseilend angekündigt worden war. Entgegen der offiziellen Ankündigung mischte sich Heinrich selbst unter die Gesandtschaft. Dieser war in den Worten von Charles Wriothesley, des Chronisten von Windsor, „being disguysed with clookes of marble with hoodes, that they should not be known“.16 Der König wechselte also seine Identität und signalisierte einen deutlich niedrigeren sozialen Rang. So verkleidet ging er auf Anna zu „and 10 11 12 13 14
15 16
Gemeint ist wahrscheinlich der König von Kastilien. Wright (1906), 19. Vgl. Warnicke (1996), 579, 581. Vgl. Nordman (1982), 10–2. Siehe auch auch Bercé (1990), 293. Ebd. 1652 arrangiert Ferdinand-Maria von Bayern „sous prétexte de lui porter une lettre ducale“ ein Treffen mit seiner Verlobten Adelaide von Savoyen. Originalquelle zitiert nach Bercé (1990), 294. Roger Boase berichtet über König Johann I. von Aragon, der auch el Cazador, der Jäger, genannt wurde. Als dieser erfuhr, dass „Jeanne de Valois (to whom he had been betrothed but whom he knew only by hearsay) was ill, he crossed the Pyrenees incognito to be by her bedside.“ Boase (1978), 89. Vgl. Warnicke (1996), 567. Zitiert nach Warnicke (1996), 567.
3. Zeremonielle Anfänge
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suddenlie he embraced her and kissed“.17 Anna stieß ihn zurück, worauf der König den Raum verließ und gekleidet „in a cote of purple velvet“ zurückkam. Daraufhin, so Wriothesley, „[they] so talked together lovinglie, and after tooke her by the hand and leed her into another chamber, where they solaced their graces that night“.18 Es ist davon auszugehen, dass Anna die Identität des verkleideten Königs kannte. Die erste Zurückweisung war nichts anderes als ein im kleinen Rahmen inszenierter Charaktertest, der unverzüglich schriftlich festgehalten und kommuniziert wurde. Die Aufwartung bewies, dass Heinrich jenseits politischer Interessen die Richtige für sich auserkoren hatte. Karl-Heinz Spieß überliefert in seiner Untersuchung zu arrangierten Ehen im Mittelalter viele weitere Spielarten von Inkognito-Aufwartungen. Die große Bandbreite verdeutlicht, dass diese sich in einer zeremoniellen Formierungsphase befanden und noch nicht eindeutig und verbindlich kodifiziert waren. In vielen Fällen wurden beim ersten Treffen vor bereits feststehenden Hochzeiten große Gefühlsregungen inszeniert und anschließend verschriftlicht. Das bedeutet zwar nicht, dass alle Gefühle reines Kalkül gewesen wären. Trotzdem besaß die „schicksalhafte Begegnung unter den Augen einer großen Zuschauermenge“ eine wichtige politische Funktion.19 Wie vom Schicksal berührt erblassten zunächst beide, bevor sich eine sichtbare Freude über ihr Glück in ihren Gesichtern spiegelte. Allein schon aus machtpolitischem Kalkül blieb Anna bei dieser ersten Begegnung kaum etwas anderes übrig, als Heinrichs Werben zu erliegen. Der englische König, dessen kaltblütiger Egoismus bei seinen insgesamt sechs Eheschließungen seinen Ruf bis heute prägt, überließ nichts dem Zufall. Im Vorfeld hatte er seinen Hofmaler Hans Holbein d.J. zu Anna und ihrer ebenfalls unverheirateten Schwester geschickt, um deren Porträts anfertigen zu lassen. So verschaffte er sich schon im Vorfeld einen Eindruck. Heinrich VIII. war keine Ausnahme. Julius Bernard von Rohr berichtet in seiner Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der grossen Herren, dass viele Prinzen und Könige Porträts von ihren Auserkorenen anfertigen ließen. Allerdings, so Rohr weiter, trauten sie den Abbildern keineswegs rückhaltlos: Oeffters trauen die Prinzen hierunter den Malern nicht, sondern reisen lieber selbst an den-
17 18
19
Ebd. Ebd. 1536 reiste Jakob V. nach Frankreich, um dort zu heiraten. Adam Abell, ein zeitgenössischer Chronist, berichtet in diesem Zusammenhang von einem Ausflug nach Dieppe. „In a different vestment he came to the duke of Vendôme father of the lady that he should have married. He was known there by his picture.“ 1537 heiratet er Madeleine, die Tochter Franz I., in Paris. Vgl. Cameron (1998), 131, 152f. Spieß (1997), 30. Zur Debatte um die Inszenierung von Gefühlen im Mittelalter vgl. Garnier/Kamp (2010).
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I. Die Genese eines Zeremoniells
jenigen Hof, und sollten sie es auch incognito thun, wo sich ihre ausersehene Braut aufhaelt, und nehmen sie in Augenschein.20
Heinrich VIII. beherrschte das machtpolitische Spiel mit Identitäten. Zudem war er mit der chevaleresken Literatur des Mittelalters vertraut und von der dort beschriebenen Welt der Ritter fasziniert. Sein Vater Heinrich VII., der sein erstes Kind Arthur nannte, erhob die Ritter der Artusromane zum Erziehungsideal. Folglich nahm Heinrich VIII. auch selbst an Turnieren teil. 1510, ein Jahr nach seiner Krönung, trat er dabei „disguised as a stranger knight“ vor das Publikum. Als ein Zuschauer „God save the king“ in die Menge rief, nahm Heinrich seine Verkleidung ab und stellte sich als König zur Schau.21 Durch dieses gezielte politische Kalkül stärkte der 18-jährige Monarch seine Stellung. 1511 feierte er die Geburt seines ersten Sohnes mit einem weiteren Turnier, bei dem ein Kingdom of Noble Heart inszeniert wurde. Er selbst spielte die allegorische Rolle des Cœur Royal. So verkörperte Heinrich das Herzstück eines Königtums, das die Zuschauer als das Seine erkennen sollten. Erst als er 1536 bei einem Lanzenstechen schwer vom Pferd stürzte, beendete er seine Turnierteilnahmen.22 Auch bei anderen höfischen Veranstaltungen wechselte Heinrich VIII. seine Identität. 1513 tanzte er bei einer Masque mit, und auch als 1527 zu Ehren des französischen Gesandten in Schloss Greenwich erneut ein solches Tanzfest zelebriert wurde, legte er ein entsprechendes Kostüm an.23 Shakespeare beschreibt in seinem Historiendrama Heinrich VIII, wie sich der Monarch als Schäfer verkleidete, um mit Anna Boleyn, seiner zukünftigen zweiten Ehefrau, zu tanzen.24 Die Identitätswechsel von Monarchen bildeten einen Topos, der dem Lesepublikum bekannt war. Einmal mehr ist dabei die Faktizität der Beschreibungen in Bezug auf die Genese des Inkognitos zweitrangig. Sie verdeutlichen einerseits, wie geläufig solche Verhaltensweisen waren, und zeigen andererseits, wie sich bestimmte Diskurse eigenmächtig perpetuierten. Denn gleichzeitig entstanden Überlieferungen, die berichteten, wie der verkleidete Heinrich VIII. unerkannt durch die Straßen Londons spazierte, um sich als besorgter Monarch ein authentisches Bild vom Leben der Bevölkerung zu machen.25 Auch dieser Topos durchzieht die Geschichte des Inkognitos.26
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Rohr (1733), 133. Siehe auch Neuber (1995), 253f. Young (1987), 101. Heinrich II. von Frankreich starb 1559 bei einem Turnier. Vgl. Béhar/Watanabe-O’Kelly (1999), 595. Scholz (2005), 25f. Vgl. Shakespeare: Heinrich VIII. (I/4). Vgl. Bercé (1990), 303. Vgl. ebd. Siehe auch Weiser (2003), 1. Auch hier schuf Shakespeare mit Measure for measure ein Meisterwerk dieser Gattung.
3. Zeremonielle Anfänge
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3.2 Die Tradierung eines Zeremoniells Hinsichtlich des Inkognitos markieren die Aufwartungen die zunehmende zeremonielle Ausarbeitung chevaleresker Traditionen. Indem sie gezielt instrumentalisiert wurden, erfüllten sie eine wichtige Funktion beim Übergang hin zu einem neuzeitlich-dynastischen Herrschaftsverständnis. Dabei spielte die Entstehung des Zeremonienwesens im späten Mittelalter eine entscheidende Rolle. In einem wechselseitigen Prozess intensivierten sich die Ausarbeitung und die verbindliche Festschreibung zeremonieller Normen. Dies betraf insbesondere Herrschertreffen. So trafen sich König Johann von Böhmen und Friedrich I. von Habsburg im Oktober 1328, um den Konflikt um den habsburgisch-luxemburgischen Ausgleich zu lösen. Johann ritt Friedrich entgegen und zog als Gruß und Geste des Respekts seinen Hut. Auch Friedrich zog seinen Hut, dies jedoch nur kurz und setzte ihn sofort wieder auf. Johann fühlte sich dadurch „geringgeschätzt“, wie der Chronist von Leoben bemerkte, und sagte eine für diesen Tag vorgesehene weitere Begegnung kurzerhand wieder ab.27 Kleinste Gesten konnten zum Eklat führen. Sowohl der Umgang der Untertanen mit dem eigenen König als auch der mit fremden Herrschern musste daher verbindlich reglementiert werden. Im Zuge des entstehenden Zeremonienwesens tauschten sich die Höfe zunehmend aus und informierten sich gegenseitig über die jeweils angewandten Modalitäten.28 Dies führte zu einer praxisorientierten Tradition der zeremoniellen Legitimation. Damit ging eine progressive funktionale Differenzierung einher. Es entstanden Ämter, deren Inhaber für bestimmte Aufgaben zuständig waren, wie z. B. der Hoffurier, „a direct descendant of those fourriers or quartermasters who had been responsible for the lodging arrangements of later medieval households.“29 Er avancierte zu einem der Hauptverantwortlichen bei der Organisation von Fürstenreisen und damit auch für die spezielle Reiseform des Inkognitos.30 Außerdem wurden ab 1578/1585 in Frankreich (unter Heinrich III.), ab 1603 in England (unter Jakob I.) und ab 1626 in Spanien (unter Philipp IV.) eigene Zeremonienmeister bestellt.31 Die erwähnten Fürstenspiegel waren dafür ein entscheidender Schritt. Ab Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden zudem schriftlich fixierte Hofordnungen, deren erste in Frankreich für das Jahr 1261 bezeugt ist. In England sind Hofordnungen seit 1279, in Burgund seit 1407 und in den deutschen Territori-
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Zitiert nach Schwedler (2008), 318. Vgl. Warnicke (1996), 568. Vale (2001), 142. Hervorhebung im Original. Vgl. Müller (1995), 21. Vgl. Wolf (2006), 158, siehe auch 176. Vgl. auch Cosandey (2009), 282.
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I. Die Genese eines Zeremoniells
en ab der Mitte des 15. Jahrhunderts nachgewiesen.32 Für den deutschen Raum datieren die meisten dieser Schriften allerdings aus dem späten 15. und dann vor allem aus dem 16. und 17. Jahrhundert.33 Nahezu zeitgleich formierte sich eine weitere Textgattung, die ebenfalls als Vorläufer der frühneuzeitlichen Zeremonientexte anzusehen ist: die Kleiderordnungen. Die erste, die im Wortlaut erhalten geblieben ist, wurde 1258 in Spanien verfasst; in Frankreich wurde die erste Kleiderordnung 1279 erlassen. Dazu gesellten sich ab der Mitte des 13. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen auch zunehmend Kleiderverbote.34 Außerdem etablierten sich im ausgehenden Mittelalter bestimmte Formen der Etikette und zeremonielle Gepflogenheiten bei höfischen Festen. Dazu zählen auch vielfältige Verkleidungsbankette, auf die noch zurückzukommen sein wird. Laut Christian Horn erfuhr das Zeremoniell durch sie „seine grundlegende Reflexion“.35 Als ähnlich wirkmächtig erwies sich der weiterhin praktizierte königliche Einzug, der ab dem 14. und 15. Jahrhundert großen, zeremoniell reglementierten Festen glich.36 Michel Stanesco konstatiert eine „dramatisation ludique générale“.37 Barbara Stollberg-Rilinger hält die Zeremonialdiarien, in denen die täglichen Zeremonien schriftlich festgehalten wurden, für den Beginn des neuzeitlichen Zeremonienwesens. Als erstes führte sie die päpstliche Kurie im Jahre 1500 ein, von wo aus sie sich sukzessive an den europäischen Fürstenhöfen verbreiteten.38 Das Cérémonial officiel, ein französisches Zeremonienbuch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, gibt einen im April 1557 am Hof Heinrichs II. verfassten Text als ältestes überliefertes Hofzeremoniell an. Dort wird folgende Definition zu Grunde gelegt: „[. . . ] l’étiquette ou le cérémonial est la forme, l’expression de la hiérarchie officielle.“39 Folgerichtig sei als eigentlicher Erfinder des Hofzeremoniells Ludwig XIV. anzusehen, der im April 1695 „arrêta définitivement l’ordre des préséances“.40 In einer solchen verkürzten Definition, die das Zeremoniell auf die hierarchische Abfolge der Ämter reduziert, findet das Inkognito freilich keinen Platz. Folgerichtig wird es im Cérémonial officiel nicht erwähnt. Auch andere Zeremo32 33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Ahrens (1991), 75. Vgl. Müller (1995), 40. Vgl. Bumke (2002), 173–5. Horn (2004), 59. Vgl. Bumke (2002), 294ff. Stanesco (1988), 178. Vgl. Stollberg-Rilinger (2000), 15. Le Cérémonial officiel (1865), 7. Ebd., 8. Im Dezember 1548 beauftragte Heinrich II. Jean du Tillet, den Greffier du parlement, ein „receuil de rangs“ zu erstellen. Fogel (1989), 189. Vgl. auch Cosandey (2009), 281.
3. Zeremonielle Anfänge
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nienschriften thematisierten das Inkognito nicht. Dies ist insofern verständlich, als das Inkognito ,offiziellere‘ Zeremonien außer Kraft setzte. Genau wie bei anderen Zeremoniellen wurde jedoch auch die Praxis des Inkognitos im Laufe der Zeit tradiert und durch Kleidung, Gesten, Symbole und Redewendungen kommuniziert. 1432 beauftragte Herzog Philipp der Gute den französischen Adligen Bertrandon de la Bocquière, seinen Ratgeber (conseiller) und Schildträger (écuyer), das Osmanische Reich zu bereisen, um die Möglichkeiten eines Türkenfeldzuges auszukundschaften. Zu diesem gefährlichen Unterfangen verkleidete sich de la Bocquière, indem er sich den „landesüblichen Bedingungen“ anpasste, um nicht aufzufallen.41 Es fand also kein „inkognito“42 , keine Form der zeremoniell geregelten Begegnung statt, sondern eine durch die Angst um das eigene Leben motivierte Täuschung. In ihrer Studie zu Identitätskonzepten im Hundertjährigen Krieg, die sich als eine der wenigen explizit dem Inkognito widmet, schlägt Susan Crane folgende Definition vor: „[I]ncognito is a continuum of visible signs through which knights perform and manipulate their identity.“43 Das Ziel besteht darin, die soziale Stellung öffentlich zu legitimieren, zu festigen und wenn möglich zu steigern.44 Auch Peter von Moos konstatiert in seiner Untersuchung zum mittelalterlichen Kleid, [. . . ] daß Verkleidung und Inkognito nicht notwendig Fälschungen sind; sie können auch als episodische geheime Kodierung Aufmerksamkeit und Neugier auf sich ziehen und so die Signalfunktion des Kleides erst recht ins Bewusstsein rufen.45
Trotzdem scheint es sinnvoll den Begriff inkognito, dessen diffuse umgangssprachliche Verwendung die Analyse erheblich erschwert, erst ab dem Beginn der Frühen Neuzeit zu verwenden. Denn einerseits erhielt er, wie noch zu zeigen sein wird, erst im 16. Jahrhundert seine heutige Bedeutung. Andererseits 41 42 43 44
45
Matschke (2004), 118. Ohler (2004), 129. Crane (2002), 133. Siehe auch Crane (1997), 70. „The pivotal function of chivalric incognito, then, is to establish or revise the perception of others concerning the disguised knight’s merits. That is, incognito is not significantly selfconcealing and self-protecting but the reverse: the disguised knight draws the curious and judgmental eye and stands clear of his past to be measured anew.“ Crane (2002), 132. Siehe auch Crane (1997), 70. „[. . . ] chivalric dress and disguise seek to move from one public estimation to a higher one.“ Crane (2002), 139. „Incognito does conceal information, but does so only temporarily in order to focus attention on the judgement of present actions without regard for lineage, past achievements, or past failures.“ Crane (1997), 67. „In all these cases, chivalric incognito is a public act, one of definition and redefinition that speaks to onlookers.“ Crane (2002), 129. Inkognito: „concentrating the public eye on the moment of action in order to establish an identity independent of affiliations with the past.“ Crane (2002), 130. Moos (2004a), 133.
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I. Die Genese eines Zeremoniells
verfestigte sich das Inkognito erst ab diesem Zeitraum in einem geregelten, wenn auch immer wieder modifizierbaren und modifizierten Ablauf. Als Zeremoniell bewahrte es sich seine Flexibilität und ist daher oft schwer zu fassen. Ab dem ausgehenden Mittelalter formte sich jedoch ein Korpus von Texten, der notwendige Bestandteile der praktischen Umsetzung eines Inkognitos reglementierte. Insofern ist dem ersten Teil der Aussage von Norbert Conrads, der als einer der Einzigen dem Inkognito eine eigene, kleinere Untersuchung gewidmet hat, ebenso zuzustimmen, wie deren zweiter Teil modifiziert werden muss: Gleichwohl unterlag der Umgang mit dem eigenen Namen einem historischen Wandel, wobei man annehmen darf, daß die spielerische Distanzierung vom eigenen Rang und Namen eine ausgesprochen neuzeitliche Verhaltensweise ist.46
Die chevalereske Literatur, das Turnierwesen und die spätmittelalterlichen Aufwartungen, aber auch Personen wie Eduard III. von England oder Ulrich von Liechtenstein zeugen vom Gegenteil.
3.3 Maske und Spiel Die angesprochenen Spielarten der spätmittelalterlichen Aufwartung können in dreifacher Hinsicht als Vorläufer des frühneuzeitlichen Inkognitos gedeutet werden. Mischte sich der zukünftige Gemahl anonym unter die schaulustigen Beobachter eines Einzugs oder aber – ebenso anonym – unter die Mitglieder einer in seinem Namen abgesandten Delegation, handelte es sich erstens um ein bewusstes Spiel mit Identitäten. Dieses gehorchte, zweitens, bestimmten zeremoniellen Formen, die sich im Laufe der Zeit zunehmend ausdifferenzierten. Der Ablauf eines herrschaftlichen Einzugs oder der Umgang mit einer offiziellen Gesandtschaft eines fremden Fürsten waren keineswegs beliebig. Folgerichtig unterlag auch die ludische Anonymisierung der eigenen Identität und die dadurch angelegte, temporäre Rolle bestimmten Spielregeln. Drittens schließlich waren Aufwartungen immer auch mit einem Ortswechsel verbunden. Die angenommene Identität kam außerhalb des eigenen Hofes zum Tragen. Das Inkognito entwickelte sich zu einem immer klarer definierten, ludischen Reisezeremoniell. Durch die Verwendung eines oft im Vorfeld der Reise kommunizierten Pseudonyms wurden Beteiligte und Öffentlichkeit aufgefordert, sich auf das Identitätsspiel einzulassen. Die Kenntnis der eigentlichen Identität des Inkognitoträgers war dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Alle europäischen Höfe praktizierten solche herrschaftlichen Identitäts46
Conrads (2005), 592.
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spiele, die durch zeremonielle Elemente strukturiert wurden und nur gelingen konnten, wenn sich alle Anwesenden demonstrativ an ihnen beteiligten. Dies betraf keineswegs nur den Besuch fremder Fürsten, obwohl diese für das Reisezeremoniell von besonderem Interesse sind. Herrscher wechselten ihre Identität auch für die Mitglieder des eigenen Hofs. Vielfältige Formen der höfischen Maskerade tradierten und institutionalisierten spezifische und situationsbezogene Zeremonielle. Sie gaben den Untertanen die Gelegenheiten den Umgang mit verschiedenen, temporären Identitäten ihres Souveräns zu verinnerlichen. Deswegen gehören auch die verschiedenen höfischen Maskeraden zu den Vorläufern des Inkognitos. Das temporäre Ablegen angestammter Rollen eröffnete neue Handlungsräume; veränderte Verhaltensweisen wurden für einen begrenzten Zeitraum legitimiert. Höfische Verkleidungsfeste, die schon früh zu den festen Bestandteilen der höfischen Kultur gehörten, setzen bestimmte zeremonielle Reglementierungen zeitweilig außer Kraft. Masken modifizierten soziale Strukturen und politische Machtverhältnisse. Trotzdem gab es auch bei einer Maskerade – insbesondere gegenüber dem maskierten Herrscher – verbindliche Regeln: In den Maskeraden überwogen die zeremoniellstützenden Tendenzen gegenüber den -unterwandernden bei weitem. Bei den Verkleidungsdivertissements handelte es sich um ,verkleidetes Zeremoniell‘.47
Ähnlich wie das Inkognito beeinflusste die Maske den sozialen Rang des Maskierten. Auch hier wussten alle Beteiligten, wer sich hinter der Maske verbarg. Erst daraus bezog die Veranstaltung ihren Reiz. Die Maskerade rekurrierte auf etablierte Herrschaftsstrukturen, indem sie diese zeitweilig karikierte.48 Höfische Maskeraden bereiteten dem zeremoniellen Identitätsspiel des Inkognitos den Weg. Claudia Schnitzer benutzt den Begriff in ihrer Untersuchung von frühneuzeitlichen Verkleidungsformen analytisch ungenau und reduziert ihn auf eine bestimmte Spielart der Maskerade. Auffällig ist jedoch, dass Schnitzer ihn erstens dezidiert als Zeremoniell begreift und, zweitens, darin keineswegs den Versuch sieht, die eigene Identität zu verbergen. Zu Recht interpretiert Schnitzer das Inkognito als ebenso freiwilliges wie temporäres Ablegen einer sozialen Rolle: Angebote, die selbst verordneten Distinktionsmaßnahmen von höfischer Seite aus ohne eigentlichen Verstoß gegen die Ordnung zeremoniellintern zu unterlaufen, bietet das Hilfskonstrukt des Inkognitos, mit dem sich ein verändertes Verhalten verbinden kann, wenn rangniedrigere Kleider angelegt werden.49 47 48 49
Schnitzer (1999), 3. Die soziale Stellung einer Person ist nie als solche erkennbar, sondern bedarf immer äußerer Zeichen. Vgl. ebd., 7. Ebd., 8.
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Schnitzer unterscheidet zwei grundlegende Formen der höfischen Maskerade. In der Maskierung ohne Veränderung der Kleidung werden lediglich Teile des Gesichts durch eine Maske verdeckt. Der Identitätswechsel wird symbolisch angedeutet und mittels eines singulären Attributs kommuniziert. Die Maske fordert alle Beteiligten auf, sich so zu benehmen, als wüssten sie nicht, welche Person sich hinter ihr verbirgt. Dies zog komplexe Umgangsformen nach sich, die sich an der eigentlichen Identität des Maskenträgers orientierten. Auch dem maskierten Souverän galt es, zeremoniell tradierte Formen der Unterwürfigkeit und des Respekts entgegen zu bringen, die sich allerdings von offizielleren Anlässen unterschieden. Die Anwesenden durften sich gerade nicht so benehmen, als handle es sich um einen beliebigen Fremden. Genau dies erforderte die zweite Form der Maskerade: Die Maskerade mit ,falschen‘ Kleidern, bei der – zusätzlich zur Maske – auch die habituelle Kleidung durch ein Kostüm ersetzt wurde. Einmal mehr versteckte dieses keineswegs die Identität des Kostümierten, was im kleinen Kreis der aristokratischen Höfe ohnehin kaum möglich gewesen wäre. Die Aufgabe des Kostüms bestand vielmehr darin, den zeremoniellen Spielraum im gegenseitigen Umgang zu markieren. Denn hier verkörperte der Kostümierte einen bestimmten sozialen Typus, dem mittels ausgewählter Gesten, Handlungen und Diskurse zu begegnen war. Verschiedene Maskierungen zogen verschiedene Umgangsformen mit dem Maskierten nach sich. Daher unterlag auch das Maskenspiel bestimmten zeremoniellen Versatzstücken und ist somit als Vorläufer und Verhandlungsplatz des Inkognitos anzusehen. Auch Schnitzer interpretiert Maske und Kostüm als Divertissement-Variationen des Inkognitos. Bei diesem „Verkleidungsinkognito“50 war es besonders wichtig, Gesten, Körperhaltung und Sprachduktus der angenommenen Rolle anzupassen: Dem auf die Bekleidung rekurrierenden Verhaltensdecorum kommt im Zusammenhang mit dem Inkognito und der rollenadäquaten Umsetzung von Kostümierungen besondere Bedeutung zu.51
Jede Maskierung galt es performativ auszugestalten und umzusetzen, wobei sich der Aufwand des Rollenspiels nach dem Grad der Maskierung richtete. Wurde lediglich eine Maske angelegt, blieb der dem sozialen Stand entsprechende Habitus nahezu unverändert. Die Maske modifizierte in erste Linie die Anredeformeln. Eine vollständige Kostümierung erhöhte die performativen Anforderungen, die sich der gespielten sozialen Rolle anzupassen hatten. Ähnlich wie beim Inkognito mussten dabei niedere soziale Stellungen verkörpert werden. Der maskierte Herrscher stieg symbolisch von seinem 50 51
Ebd., 38. Ebd., 20. Hervorhebung im Original.
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Thron; hochrangige Adlige verwandelten sich in Bauern, Fischer oder einfache Handwerker. In der Maskerade persiflierte sich die höfische Gesellschaft selbst und imaginierte ein für sie schmeichelhaftes Leben ihrer Untertanen. Eine gelungene Darstellung förderte das soziale Prestige. „Um überzeugend zu wirken, mußte sich der inkognito Auftretende herrscherlicher Gesten enthalten und einen der Rolle angemessenen Habitus annehmen, d. h. das herrscherliche Verhaltensdecorum durch das bürgerliche ersetzen.“52 Eine Identität nur zu symbolisieren, reichte nicht aus. Es galt, sie einzunehmen und vorzuspielen, um Andere zu bewegen, sich auf das Identitätsspiel einzulassen. Um als Spiel erkennbar zu bleiben, durfte die Maske die wahre Identität ihres Trägers nicht verbergen. Das Ziel bestand nicht in einer Täuschung, sondern in einer raffinierten, jederzeit durchschaubaren Scheintäuschung.53 Ein wesentlicher Reiz dieser Verkleidungsspiele lag folgerichtig im spielerischen Versuch den Verkleideten anhand bestimmter Merkmale zu enttarnen. Nicht sein Kostüm, sondern sein Habitus sollte ihn verraten. Eine gelungene höfische Maskerade zeichnete sich ähnlich wie ein gelungenes Inkognito dadurch aus, dass der Maskenträger seine Identität durch kleine Hinweise in Sprache und Gestik zu erkennen gab.
3.4 Verkleidungsfeste Richard Alewyn und Karl Sälzle konstatierten schon 1959 lapidar: „Im Fest erreicht die höfische Gesellschaft ihre gültige Form.“54 Höfische Feste versinnbildlichten die monarchische Gesellschaft und etablierten zunehmend detailversessene Hofzeremonielle. Vom Ausgang des Mittelalters bis zur Mitte des 16. Jahrhundert lässt sich nicht nur für die verschiedenen Spielarten der höfischen Maskerade, sondern auch in Bezug auf das Inkognito ein ebenso schleichender wie signifikanter Übergang beobachten: Die Maske ändert sich. Statt der Götter und Helden wählt man Hirten und Bauern. Man sucht nicht mehr die Erhöhung, sondern den Austausch des Selbst, die Flucht in das Fremde, Ferne, Unverbindliche.55
Die wohl elaborierteste Spielart der höfischen Maskerade stellte die englische Court masque dar. Bei diesen prestigeträchtigen Tanzveranstaltungen war der Monarch nicht nur Gastgeber, sondern beteiligte sich in vielen Fällen auch 52 53 54 55
Ebd., 39. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., 44. Siehe auch Schnitzer (1995), 281. Alewyn/Sälzle (1959), 14. Ebd., 15.
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selbst. So tanzte Heinrich VIII. 1513 bei einer Masque und veranstaltete 1527 in Schloss Greenwich eine weitere zu Ehren des französischen Gesandten, bei der er abermals das Tanzbein schwang.56 1548 trat sein Nachfolger Eduard VI. in einer Masque als Mohr verkleidet auf und demonstrierte die Lust des englischen Königshauses an der Selbstverstellung.57 Unter Königin Elisabeth I. sind für den Zeitraum zwischen 1559 und 1589 nicht weniger als 60 Masques belegt.58 Die englische Court masque entwickelte sich aus den älteren Vorläufern des disguise und der mummings, wie sie im 14. und 15. Jahrhundert praktiziert wurden. Aber auch an den Höfen Italiens, Burgunds und Frankreichs entstanden Maskentänze, die daher zu den Charakteristika des europäischen Adels zu Beginn der Frühen Neuzeit zählen.59 Im deutschsprachigen Raum wurde das so genannte Karussell (carisell) besonders populär. Insbesondere an protestantischen Höfen wurden dafür verschiedene „Nationalkostüme“ verwendet. Mit Mohren, Türken, Römern und Ungarn gehörten sowohl zeitlich als auch räumlich distanzierte Personengruppen zu den populärsten Kostümtypen.60 Jedes Verkleidungsspiel besaß bestimmte politische Funktionen. „Its [the Masque’s – VB] heart is the appearance of a group of noble personages dressed in elaborate disguise to celebrate a particular occasion and honour their monarch.“61 Es handelte sich um „politische Instrumente“, mit denen der Herrscher Macht und Reichtum symbolisierte.62 Gleichzeitig demonstrierte der maskierte Monarch seine Volkstümlichkeit und seinen Sinn für Humor. Auch wenn den maskierten Tanzfesten jeder martialische Einschlag fehlte, rekurrierten sie auf die Tugendhaftigkeit der Ritter. Die am Hof anwesenden Kavaliere sollten diese durch formvollendetes Verhalten nachweisen. Höfische Maskeraden entwickelten sich aus mittelalterlichen Turnieren und beide Veranstaltungstypen waren zu Beginn der Frühen Neuzeit ausgesprochen populär. Alan Young konstatiert in seiner Studie zu den Turnieren der Tudorzeit, dass die Court masque „obviously owes much to the tradition of tournament spectacle.“63 Im Gegensatz zum Turnier war bei der Masque, einer extrem selektiven, der Aristokratie vorbehaltenen Veranstaltung, nur ein handverlesenes Publikum zugelassen.64 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. Scholz (2005), 25f. Vgl. ebd., 28. Vgl. Braun/Guggerli (1993), 37. Siehe dazu auch Butler (2008). Vgl. Braun/Guggerli (1993), 35. Vgl. Watanabe-O’Kelly (1992), 47, 51. Lindley (1984), 1. Braun/Guggerli (1993), 36. Young (1987), 42. Young (1987) verortet den Höhepunkt der Court masques in den Jahren von 1629 bis 1640, also in der Regierungszeit Karls I.
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Elisabeth, die Tochter Heinrichs VIII., bediente sich neben der Masque auch weiterer Festkulturen, um ihrer Monarchie den gebührenden Glanz zu verleihen. Ab 1581 ließ sie jedes Jahr ein Lanzenstechen bzw. ein so genanntes Ballienrennen veranstalten. Bei diesen Weiterentwicklungen der traditionellen Turniere kämpften Ritter um eine Ehrendame, die niemand anders als die Königin selbst war.65 Einmal mehr festigte das Spiel die königliche Stellung. 1593 trat Robert Cary, ein in Ungnade gefallener Verwandter von Elisabeth I., bei einem Turnier als „Sir Unknown“ auf und versuchte so, die Gunst der Monarchin zurück zu gewinnen.66 Auch Jakob I., Elisabeths Nachfolger auf dem englischen Thron, förderte die englische Turniertradition. Noch im frühen 17. Jahrhundert veranstaltete er Turniere, bei denen Artus und Merlin zu den Teilnehmern gehörten. Die Zahl der Verkleideten unter den wettstreitenden Kämpfern nahm im Vergleich zum Mittelalter sogar zu.67 Dies galt auch für maskierte Feste am portugiesischen Königshof, welche auf die Artussage rekurrierten.68 Die französischen Magnificences verwoben ebenfalls Turnier und Maskerade im Rahmen vorgespielter Identitätswechsel. So griff der französische König Karl IX. 1564 in Bayonne ein verzaubertes Schloss an, das von Teufeln und anderen furchterregenden Wesen bewacht wurde, denen der Prinz von Condé zusammen mit fünf weiteren Rittern zur Seite stand.69 Dieser Prinz war ein bedeutender Hugenottenführer aus der Jugend des Königs, der während seiner gesamten Regierung die Hugenotten in blutigen Religionskriegen bekämpfte. Das Fantasiespektakel kommunizierte eine eindeutige politische Botschaft. In Schweden wurde 1561 ein Turnier anlässlich der Krönung Eriks XIV. veranstaltet. Ein Turnier in Wien im Jahre 1571, dem ersten an einem deutschsprachigen Hof, zelebrierte die Hochzeit Erzherzogs Karl, wobei die kostümierten Teilnehmer den mythologischen Streit zwischen Juno und Zeus nachspielten.70 Die Vorreiterrolle bei der Verfeinerung und Entwicklung der Turniertradition kam jedoch den italienischen Höfen zu. Laut Behar und Watanabe-O’Kelly markiert eine Veranstaltung in Florenz im Jahre 1579 das „beginning of the tournament opera“.71 Circa 50 Jahre später verbreitete sich diese Mischform aus Turnier und Maskerade auch nördlich der Alpen. In Dänemark wurde 1596 ein Ringrennen – auch dies ein Wettbewerb mit Pferden und Lanzen – im Rahmen der Feierlichkeiten zur Krönung Christians IV. orga-
65 66 67 68 69 70 71
Vgl. Béhar/Watanabe-O’Kelly (1999), 609. Young (1987), 73. Vgl. Béhar/Watanabe-O’Kelly (1999), 613. Vgl. Bercé (1990), 263. Vgl. Béhar/Watanabe-O’Kelly (1999), 604. Vgl. ebd., 598, 627. Ebd., 614–8.
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nisiert.72 So kennzeichnen verkleidete Turniere und Maskeraden die gesamte Frühe Neuzeit. Noch zwischen 1717 und 1734 sind 30 Turniere im deutschen Raum nachgewiesen, von denen die meisten in München stattfanden. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts verebbte diese Tradition. Eine weitere für die Herausbildung des Inkognitos charakteristische Spielart des höfischen Festes waren die so genannten Verkleidungsbankette. Ähnlich wie die rigidere und elaboriertere Masque standen sie in der Tradition der Turniere. Hier wurden zumeist große Festtafeln aufgetragen, zu denen die geladenen Gäste verkleidet erschienen. Sie mimten allerdings keine spezifischen Individuen, sondern bestimmte Bevölkerungs- bzw. Berufsgruppen. Gelegentlich nahm auch der Monarch teil. Christian Horn beschreibt am Beispiel des Kurfürstentums Sachsen, dass es sich bei Verkleidungsbanketten „um eine ernst zu nehmende, tief mit der politischen Wirklichkeit verknüpfte Angelegenheit handelte.“73 Ähnlich verhielt es sich mit so genannten Königreichen, einer Variation der Verkleidungsbankette, die der Herrscher bzw. das Herrscherpaar leitete. Dieser kostümierte sich als mythischer König oder als König eines imaginären Königreichs. Auf diese Weise wurde ein harmonischer und ausgelassener Staat nachgespielt, in dem der Souverän seine Untertanen großzügig mit Speis und Trank verwöhnte. „Königreiche waren wirklichkeitskonstituierende Inszenierungen und dienten der Durchsetzung des absolutistischen Machtdispositivs.“74 Claudia Schnitzers Befund einer „Inkongruenz von realer Würde des Trägers und seiner einen anderen Rang bezeichnenden Kleidung“ trifft somit nur eingeschränkt auf das Königreich, wohl aber auf Verkleidungsbankette und so genannte Wirtschaften zu.75 Letztere zeichneten sich dadurch aus, dass der König, zumeist mit seiner Gemahlin, den Hausherren eines Landgasthofes spielte. In entsprechenden Kostümen empfingen sie ihre Gäste, die sich ebenfalls in rangniederer Verkleidung an die Tafel setzten und die Gastfreundschaft ihrer Wirte genossen. Verkleidungsbankette, Königreiche und Wirtschaften, aber auch Bauernhochzeiten und Schlittenfahrten bezeichnen elaborierte Herrschaftstechniken.76 Es gab zahlreiche mögliche Spielarten, und um den Reiz der 72 73 74
75 76
Vgl. ebd., 630. Horn (2004), 67, siehe auch 59. Ebd., 73. Nicht selten bot dabei die Ankunft eines fremden Herrschers einen willkommenen Anlass. So am 13. Januar 1673, als Prinz Georg von Dänemark das Schloss in Dresden besuchte. Vgl. ebd., 64ff. Vgl. Schnitzer (1995), 291. Vgl. Pečar (2003), 392. Deswegen wurden sie mit viel Aufwand und im großen Kreis veranstaltet. Christina Schmücker, die Wirtschaften am Wiener Hof anhand der überlieferten Zeremonialprotokolle analysiert hat, berichtet von durchschnittlich zwischen 60 und 80 geladenen Gästen. Schmücker (2007), 437.
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Veranstaltungen zu erhöhen, bemühten sich viele Herrscher um immer neue Variationen. Für die verschiedenen Verkleidungsbankette gilt daher Ähnliches wie für das Hofzeremoniell insgesamt: Sie mussten einerseits auf tradierte Formen zurückgreifen, um die Veranstaltungen als gängiges höfisches Instrumentarium auszuweisen. Andererseits eröffneten diese Feste gewisse zeremonielle Freiräume, die eigenmächtig gefüllt werden konnten. Die einzelnen Höfe experimentierten im Rahmen bestehender Regeln, wobei insbesondere die Anwendung an bedeutenden Höfen neue Zeremonielle legitimierte. Erst die Autoren der Zeremonienbücher des 18. Jahrhunderts bemühten sich, die vielen verschiedenen Spielarten zu klassifizieren und zu systematisieren. Julius Bernard von Rohr berichtet in seiner Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der grossen Herren von vier Formen herrschaftlicher Verkleidungsbankette. Bei der städtischen Variante mimen die Gäste Vertreter bürgerlicher Berufe und Handwerker. In der ländlichen Version treten sie als Schäfer, Bauern etc. auf. Die internationale Spielart des Verkleidungsbanketts zeichnet sich durch die im Kostüm evozierte Anwesenheit verschiedener Nationen aus. Die Bauernhochzeit, in der ein verkleidetes Brautpaar symbolisch verheiratet wurde, interpretiert Rohr schließlich als Ableger des ländlichen Verkleidungsbanketts.77 1751 befand Johann Christoph Gottsched, dass die Monarchen mit den Wirtschaften die „süszigkeit des privatstandes schmecken“ wollen.78 Sicherlich bezeichneten Verkleidungsfeste immer auch Ruhepausen von den täglichen Pflichten. Der Wiener Hof veranstaltete Wirtschaften und Bauernhochzeiten „meist zu Fasching“.79 Ähnlich wie der Karneval verbanden verkleidete Hoffeste ausgelassene Unterhaltung mit einer politischen Botschaft. Als am 11. November 1662 der sächsische Kurfürst eine Wirtschaft anlässlich der Hochzeit seiner Tochter veranstaltete, musste das Brautpaar einen Mohr und eine Mohrin spielen. Das gesellige Vergnügen verband sich mit einer symbolischen Erniedrigung des Thronfolgers, der zu Respekt für den regierenden Fürsten und zur Bescheidenheit im Hinblick auf die zukünftigen Aufgaben gemahnt wurde.80 Inwieweit alle Verkleidungsfeste zeremoniellen Zwängen unterlagen, macht Bonnets Histoire générale de la danse sacrée et prophane von 1724 deutlich: „[. . . ] ceux qui ont établi le bal masqué, n’ont pas manqué d’y joindre quelques pré-
77 78 79 80
Vgl. Schmücker (2007), 437. Siehe dazu auch Kap. 5.2. Zu den verschiedenen Spielarten der Wirtschaften siehe Schnitzer (1995), 305. Zitiert nach Schmücker (2007), 436. Ebd., 437. Vgl. Horn (2004), 76.
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ceptes, & des régles [sic!] pour y conserver un ordre convenable aux mœurs de la nation.“81 Bonnet spielt vor allem auf sexuelle Ausschweifungen an, zu denen die Anonymisierung durch die Maske Vorschub leisten konnte. Nicht nur deswegen mussten Zeremonienregeln die Er- und Einhaltung einer ordre convenable absichern. Maskierungen hoben soziale Hierarchien nicht auf, sondern veränderten sie zeitweise. Beim Maskenball ebenso wie beim Inkognito, das eng mit den höfischen Verkleidungsfesten verbunden ist, diente eine gewisse Eleganz im Umgang mit der angenommenen Rolle als Distinktionsmerkmal: Il est de la prudence d’un Prince & des grands Seigneurs, quand ils veulent courir le bal incognito ou à l’ordinaire, d’être masquez noblement, & toujours d’un air qui les distingue du commun.82
Bonnet beschreibt, wie die Maskerade durch bestimmte Attribute zum Inkognito erweitert werden konnte. Letzteres emanzipierte sich jedoch zunehmend und kam vor allem außerhalb maskierter Veranstaltungen zur Anwendung. Auch bei unmaskierten Bällen spiegelte sich das Inkognito in der Kleidung wider: „Ce n’est pas qu’un Cavalier n’y puisse aller par curiosité, incognito, c’est-à-dire enveloppé d’un manteau, & une Dame en écharpe [. . . ].“83 Als Heinrich I., der Prinz von Condé, sich am 14. August 1572 in Brüssel mit Maria von Kleve vermählte, erschien auch Johann von Österreich, der spätere Statthalter der Niederlande, zum Ball. „In einen Mantel gehüllt“ und somit inkognito, wollte er die Braut beim Tanz beobachten, ohne mit seiner Anwesenheit politische Aussagen zu verbinden. Immerhin handelte es sich um eine Doppelhochzeit, in der sich auch der König von Navarra und Marguerite de Valois, die zukünftige Königin Margot, das Ja-Wort gaben. Eine offizielle Anwesenheit hätte daher einen großen diplomatischen und zeremoniellen Aufwand erfordert.84 Je höher der soziale Rang, desto aufwändiger war das Inkognito. Für den regierenden König reichten Schal oder Mantel bei Weitem nicht aus, um es anzuzeigen: Le Roi qui se plaisoit quelquesfois à courre le bal incognito, fut à celui du Président de N. . . avec un cortège de trois Carossées de Dames & de Seigneurs de la Cour; toute la Livrée étoit en surtout gris, pour n’être pas reconnue.85
Bonnets Tanzgeschichte verdeutlicht, wie sich das Inkognito im Laufe des 16. Jahrhunderts zunehmend als eigenständige zeremonielle Form etablierte. Gerade bei Bällen erlaubte es auf bestimmte Konventionen zu verzichten, ohne 81 82 83 84 85
Bonnet (1724), 148. Ebd., 152. Ebd., 116. Hervorhebung im Original. Vgl. Hess (1996), 58; Bonnet (1724), 119. Ebd., 150.
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die Etikette zu missachten. Als ein von Bonnet nicht näher charakterisierter „Marquis de B. . . “ von einer ebenfalls unbekannten Dame zum Tanz aufgefordert wurde, „il s’en excusa autant qu’il put, disant qu’il n’étoit pas en habit décent, & qu’étant incognito, il ne pouvoit répondre à l’honneur qu’elle lui faisoit [...].“86 Allerdings weist die Anekdote gewisse Unstimmigkeiten auf. Denn das durch die Kleidung signalisierte Inkognito ermöglichte dem Marquis insbesondere den Tanz mit solchen Damen, mit denen dies normalerweise nicht angebracht gewesen wäre. Das Inkognito diente hier wohl als ebenso stilvolle wie versöhnliche Ausrede. Bei solchen Beispielen darf allerdings nicht vergessen werden, dass sie bereits von den Zeitgenossen erzählerisch verarbeitet wurden. Ihr Unterhaltungswert zwingt einerseits, die Faktizität der Überlieferung kritisch zu hinterfragen. Andererseits verdeutlichen sie den öffentlichen Charakter des Inkognitos. Viele Inkognitoanekdoten fanden Eingang in die populäre Imagination. Mezeray verweist in seiner Histoire de France auf den französischen König Karl VI. Dieser erschien am 29. Januar 1393 verkleidet auf einem Maskenball der Duchesse de Berry in deren Pariser Palais de Gobelins. Als ein Feuer ausbrach, rettete die Duchesse, die als einzige die Maskerade des Königs durchschaut hatte, den Monarchen aus den Flammen.87 Offensichtlich handelt es sich hier um eine Legende. Es ist ebenso unwahrscheinlich, dass der König allein zum Ball ging, wie dass einzig die Duchesse seine Verkleidung durchschaute und ihn ohne Hilfe aus einer Feuersbrunst rettete. Die Erzählung erzeugt Sympathie für einen König, der sich nicht durch gängige Konventionen von seinem Willen abbringen lässt.
3.5 Ein Reich zur Bühne, Prinzen drauf zu spielen Martin Dinges beschreibt Kleidung völlig zu Recht als „Mittel zur Verwischung von Grenzen“.88 Sie verändert Identitäten und soziale Rollen. Dies nutzte auch der angehende Bürgermeister von Bordeaux, Michel de Montaigne, als er sich 1580, ein Jahr vor seiner Wahl, in Augsburg aufhielt. Er hoffte durch eine in seiner Kleidung angezeigte, freiwillige Anonymisierung zeremoniellen Zwängen, welchen die offizielle Reise auf früheren Stationen unterlegen hatte, zu entgehen und so authentischere Eindrücke einer ausländischen Gesellschaft zu erlangen.89 86 87 88 89
Bonnet (1724), 120. Hervorhebung im Original. Bonnet beruft sich auf Mezeray, Histoire de France, Bd. 4. Vgl. Bonnet (1724), 153f. Dinges (1992), 56. Vgl. Conrads (2005), 593.
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Als im selben Jahr die ersten beiden Bände seiner Essays erschienen, fand sich darin auch ein Text mit dem Titel Du démentir, in dem Montaigne lapidar bemerkt: „ [. . . ] la dissimulation est des plus notables qualités de ce siècle“.90 Der Schein wurde immer mehr zur Wahrheit: „Notre vérité de maintenant, ce n’est pas ce qui est, mais ce qui se persuade à autrui.“91 Prominente Zeitgenossen des südfranzösischen Essayisten lieferten dazu einen nachhaltigen literarischen Beitrag. Viele Helden ihrer Erzählungen mussten ihre Identitäten wechseln, sie gegen Imposteure verteidigen und zurückerobern. Die Suche nach sich selbst und der Kampf um die erstrebte Identität wurden zur Geschichte eines Lebens. Solche Narrative folgten anderen Mustern als die der fahrenden Ritter des Mittelalters, auf die Miguel de Cervantes in den Jahren 1605 und 1615 seinen großartigen Abgesang anstimmte. Don Quijotes Überzeugung, dass der Wechsel zwischen anonymen und einsamen Rittern auf der einen und dem strahlenden Herrscher auf der anderen Seite ebenso plötzlich wie fließend vonstatten gehen könne, war zu Beginn des 17. Jahrhunderts überholt. Selbst sein treuer und nur wenig weltmännischer Knappe Sancho Panza hegte seine Zweifel, wenn sein ritterlicher Herr ausführte: Merke dir, Sancho, mein Freund, das Leben des fahrenden Ritters birgt tausenderlei Verhängnis und Bedrängnis, doch jederzeit kann er auch König und Kaiser werden, das beweist das Beispiel vieler Ritter, deren Geschichten mir mehr als geläufig sind.92
Der Ritter, der sich als „Sohn eines hochtrefflichen Königs“ entpuppte,93 hatte ausgedient. Das Erkennen, Kommunizieren und Verschleiern von Identitäten erforderte inzwischen wesentlich komplexere Mechanismen. Ein willkürlicher Namenswechsel und insbesondere klar erkennbare Fantasienamen waren nicht mehr ohne Weiteres möglich. Als Don Quijote nach einem heldenhaft bestandenen Abenteuer kurzerhand beschloss, seinen Namen von ,Ritter von der traurigen Gestalt‘ in ,Ritter von den Löwen‘ zu ändern, gelang es ihm damit nicht, seine Identität zu wechseln; zu groß war sein Ruhm aus dem zehn Jahre zuvor erschienen ersten Band. Die öffentliche Identität ging bei illustren Personen der frei gewählten voraus, und es galt auf sie Rücksicht zu nehmen. Da half auch Quijotes trotzige Begründung nichts: „Darin folge ich dem alten Brauch der fahrenden Ritter, die ihren Namen änderten, wann immer es ihnen beliebte oder passte.“94 Ungleich schicksalhafter verliefen die identitären Wechselbäder in William Shakespeares Historiendramen. In Richard II. (1597) machte sich der königliche Protagonist erst in Anbetracht von Gefangenschaft und Tod bewusst, dass 90 91 92 93 94
Montaigne (1965), 428. Siehe auch Groebner (2004), 155. Montaigne (1965), 427. Cervantes (2008), Bd. 1, 138. Ebd., 205. Cervantes (2008), Bd. 2, 152.
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er nicht in allen Augen Gottes Stellvertreter auf Erden verkörperte. Zuvor hatte er noch selbstsicher proklamiert: „Der Odem ird’scher Männer kann des Herrn / Geweihten Stellvertreter nicht entsetzen.“95 Sein zu Allem entschlossener Gegenspieler Bolingbroke, der zukünftige Heinrich IV., belehrte ihn schon bald eines Besseren. In Anbetracht seines nahenden Untergangs sehnte sich der gefangen gesetzte Richard geradezu nach einem Identitätswechsel: „Oh, wär ich meinem Gram / Gewachsen oder kleiner als mein Name! / Daß ich vergessen könnte, was ich war, / Oder nicht gedenken, was ich nun muss sein!“96 Mit seiner königlichen Würde war ihm auch seine Identität verloren gegangen: „[. . . ] ich habe keinen Namen / Noch Titel, ja bis auf den Namen selbst / [. . . ] Daß ich so viele Winter durchgelebt / Und nun nicht weiß, wie ich mich nennen soll!“97 Was Richard II., der sein Leben im Tower von London aushauchte, von seiner Identität schließlich blieb, war nicht mehr als der beständige Zweifel an ihr. Aller monarchischen Insignien beraubt, verweigerte er sich jedoch beharrlich dem Gedanken, dass sein Königtum allein auf ornamentalem Beiwerk beruhte: „Gott schütz den König! wenn ich’s gleich nicht bin; / Und amen! doch bin ich’s nach Gottes Sinn.“98 Drei Jahre später, nachdem auch Heinrich IV. in einem Drama wiederauferstanden war, wandte Shakespeare sich dessen Sohn Heinrich V. zu. Dieser wurde teils vom Schicksal, teils von durchtriebenen Beratern zum Spiel mit Identitäten gezwungen. Im Unterschied zu Richard wusste Heinrich jedoch, dass die Königsrolle immer auch ein Rollenspiel implizierte: „Ein Reich zur Bühne, Prinzen drauf zu spielen, / Monarchen, um der Szene Pomp zu schaun!“99 Sein Schicksal nahm zunächst jedoch einen anderen Lauf. In die Wirren des Hundertjährigen Krieges verwickelt, fand er sich bald in bedenklicher numerischer Unterlegenheit bei Azincourt dem französischen Heer gegenüber. Am Vorabend der Schlacht, die nichts Gutes ahnen ließ, überlegte er, wie er die Stimmung seiner Truppen unbemerkt erkunden könne, um bei der Motivationsrede am nächsten Morgen die passenden Worte zu finden. Bereits sein Vater hatte sich 1591 als Bauer verkleidet aus dem Feldlager in Compiègne geschlichen.100 So beschloss auch Shakespeares Heinrich V. sich zu verkleiden und sich anonym unter die Soldaten zu mischen. Denn: „Ich denke, der König ist nur ein Mensch, wie ich bin.“101 Für Heinrich unterschied allein 95 96 97 98 99 100 101
Shakespeare (1988a), 119. Ebd., 127. Ebd., 139. „Daß er mir zeige, welch Gesicht ich habe, / Seit es der Majestät verlustig ist.“ Ebd., 140. Ebd., 137. Shakespeare (1988a), 343. Siehe dazu auch Bercé (1990), 272. Vgl. ebd., 292. Shakespeare (1988a), 395.
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die zeremonielle Bürde den König vom gewöhnlichen Menschen. In so mancher Hinsicht war das Zeremoniell ein schwerer Ballast: Wieviel Behagen muss ein König missen, / Des sich der einzle freut? / Was hat ein König, das dem einzlen fehlt, / Als allgemeine Zeremonie nur? [. . . ] Und wäre Zeremonie nicht, so hätte / Ein solcher Armer, der mit Plackerei / Die Tage abrollt und mit Schlaf die Nächte, / Vor einem König Vorrang und Gewinn.102
Heinrichs Taktik ging auf, er blieb unerkannt und sprach vor dem Kampf in die Seele seiner Soldaten. Seine Armee schlug die Franzosen vernichtend, er ehelichte die französische Prinzessin Katharina und hatte damit beste Aussichten, den Thron Frankreichs zu erben. Die Verkleidungslist des Königs hatte ihm das Herz seiner Untertanen geöffnet. Shakespeare lässt den einfachen Soldaten Williams bestätigen, dass er nur aus Unkenntnis der wahren Identität seines Gegenübers diesem seine unverfälschten Gedanken offenbarte: „Eure Majestät kam nicht in eigner Gestalt, Ihr erschient mir nur wie ein gemeiner Mensch, die Nacht, Eure Kleidung, Euer schlichtes Betragen kann es bezeugen.“103 Sowohl Richard II. als auch Heinrich V. sind keine Beispiele für ein genuines Inkognito. Im ersten Fall war der Identitätswechsel nicht freiwillig, im zweiten Fall nicht öffentlich. Beide Dramen zeigen jedoch, dass Fragen der Identität bzw. das Spiel mit Identitäten in der Literatur einerseits virulent blieben, sich andererseits aber auch veränderten. Sie standen zunehmend in Bezug zur Herrschaftsausübung und damit auch zu Fragen des Zeremoniells. Die Identitätswechsel eines Herrschers wurden nicht nur am Hof, sondern auch in einer sich beständig fortführenden Erzähltradition ausgehandelt und ausdifferenziert. 1665, einige Jahrzehnte nach Montaigne, Cervantes und Shakespeare, veröffentlichte der weniger berühmt gewordene Casper Stieler Der Vermeinte Printz, einen Text, der von einer „Zeremonialverhinderung durch Identitätsverkennung“ berichtet.104 Stieler imaginiert einen König von Sizilien, dessen Tochter, sein einziges Kind, ihm aufgrund der Rechtslage nicht auf den Thron folgen darf. Daher beschließt er sie als Mann zu verkleiden und von nun an Floridor zu nennen. Als sich Orgille, die Prinzessin von Neapel, in Floridor verliebt, nimmt das Verwechslungsspiel seinen Lauf. Dies erlaubt Stieler mehrere Inkognitomotive zu thematisieren. Mittels einer Inkognitoaufwartung hofft Orgille ihren zukünftigen Bräutigam kennen zu lernen. Anschließend reist der ebenfalls involvierte Alfons, der Erbprinz von Kastilien, inkognito an den sizilianischen Hof.105 Stielers Text ist ein weiteres Beispiel, wie populär solche königlichen Verwechslungsspiele und mit ihnen bestimmte Versatzstücke des Inkognitos bei 102 103 104 105
Ebd., 399f. Ebd., 418. Neuber (1995), 262. Vgl. ebd., 253–6.
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den Lesern waren. Literarische Fiktionen und praktizierte Zeremonien beeinflussten sich beständig.
3.6 Der Begriff inkognito Vom Hochmittelalter bis zum Beginn der Frühen Neuzeit lassen sich viele historische und literarische Vorläufer ausmachen, die sich im 16. und 17. Jahrhundert zu der immer verbindlicher definierten Zeremonie des Inkognitos verfestigten. Ritterliteratur, Turniere, Aufwartungen und diverse Formen von Verkleidungsbanketten, die allesamt in reziproken Beziehungen zu verschiedenen literarischen Gattungen ihrer Zeit standen, thematisierten, differenzierten und elaborierten temporäre Identitätswechsel als soziale und politische Praktiken. Dabei sind nahezu alle diese motivgeschichtlichen Wegbereiter des Inkognitos im höfischen Umfeld zu finden. Es ist daher nicht eindeutig zu entscheiden, ab welchem Zeitpunkt der Begriff inkognito, in analytischer Abgrenzung zu diesen Vorläufern, angebracht scheint. Die Etymologie des Begriffs liefert hier wichtige Hinweise. Inkognito stammt vom lateinischen incognitus ab und fand sukzessive Einzug in die romanischen Sprachen. Etymologische Wörterbücher suggerieren, dass der Begriff zuerst im Italienischen verwendet wurde.106 Allerdings bedeutete er zunächst ausschließlich unbekannt, wie Dante Alighieris Göttliche Komödie aus dem frühen 14. Jahrhundert verdeutlicht. Dante benutzt den Begriff inkognito zuerst im Purgatorio in einer Beschreibung der Natur: „Sie machte mit dem Reiz von tausend Düften / Dort ein Gemisch von unbekannter [incognito] Süße.“107 Anschließend verwendet er den Ausdruck auch im Paradiso: „Und keinen Glauben schenkt dem Beispiel, welches / Nur eine unbekannte [incognita] Wurzel hätte / Und keinen anderen Gründen, die nicht leuchten.“108 In beiden Fällen geht incognito/incognita nicht über die Bedeutung von unbekannt hinaus; es bezeichnet noch nicht den späteren, zeremoniellen Gebrauch des Inkognitos. Die ersten bekannten Texte, in denen inkognito einen bewussten, temporären und zweckgebundenen Identitätswechsel bezeichnet, datieren aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Der Begriff entsteht also wesentlich später als die Ritterliteratur des Hochmittelalters, jedoch ungefähr zeitgleich mit den beschriebenen, in ganz Europa nachzuweisenden frühneuzeitlichen Vorläufern. Die Aufwartungen Heinrichs VIII., die Masque der englischen Tudors, verkleidete Turniere in Schweden und den habsburgischen Landen, die franzö106 107 108
Vgl. Barbier (1932), 96; Conrads (2005), 596. Dante: Göttliche Komödie, 7. Gesang, Vers 80/81. Dante: Göttliche Komödie, 17. Gesang, Vers 140–2.
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sischen magnificences oder auch das theatrale Spektakel der – von Behar und Watanabe-O’Kelly als solchem bezeichneten – italienischen „tournament opera“ datieren allesamt aus dem 16. Jahrhundert. Spätestens 1532 wurde inkognito in Italien in zeremonieller Hinsicht verwendet: A di 20, domenega El nel venir zoso di Conseio a la scala era il cardinal di Medici vestito incognito con monsignor Valier e do altri che stava a veder venir zoso conseio E la sera fo a dormir da una cortesana chiamata la Zaffelta [. . . ].109
Ein avviso, eine handschriftliche Zeitung, die am 21. Januar 1588 in Venedig erschien, berichtet, dass ein Edelmann „incognito“ mit der Postkutsche nach Mailand gereist sei, um sich dort mit dem Gouverneur zu treffen.110 Dies ist nicht nur bemerkenswert, da hier der Begriff eine zeremonielle Reisetechnik beschreibt. Vor allem handelt es sich um den ersten Nachweis eines grundlegenden Kriteriums des Inkognitos: Die Reise unter der gewählten Identität ist öffentlich bekannt. Inkognito meint hier nicht mehr das Unbekannte im Sinne Dantes, sondern eine zeremoniell funktionalisierte Form des Bekanntseins. Eine 1591 in Ferrara erschienene Schrift belegt, dass der im Italienischen inzwischen eingebürgerte Begriff keineswegs nur auf Vorkommnisse in Italien bezogen wurde: Henrico III. figliuolo d’Henrico eletto Re di Polonia, vdita la morte del Fratello si parte incognito di Polonia, incontrato dal Serenissimo di Ferrara à Spilimbergo, riceuuto in Venetia Realmente.111
Dieses Beispiel verweist auf die europäische Verbreitung des Inkognitos. Immerhin reiste Heinrich III. von Polen über Italien nach Frankreich und damit quer durch den Kontinent. Paul Barbier, der die Entstehungsgeschichte des Inkognitobegriffs für das Französische untersucht hat, bestätigt, dass der Ausdruck aus dem Italienischen 109
110
111
Sanuto, Marino: I Diarii. Hg. von Rinaldo Fulin, Bd. 57 (Jahr 1532), Venedig 1903, 111f. Es handelt sich um Kardinal Ippolito de’ Medici (1511–1535), der sich auf dem Weg nach Wien zur Vorbereitung des Türkenfeldzugs inkognito in Venedig aufhielt. Ich bedanke mich bei Cornel Zwierlein, der mir diese und die folgenden beiden Quellen zur Verfügung gestellt hat. Archivio di stato di Mantova, Archivio Gonzaga 1994. („Da Turino s’hà che quel Duca iscusatisi con Mons.r de Pugni non poter rilassiare le Piazze del Marchesato di Saluzzo per certe rispetti. era ritornato al suo Rè, al quale da piu saputi non uien‘ creduto che ditta restitutione habbia da seguire per alcun‘ tempo uolontariamente. Che sua A. era per passare i Monti a recuperare alcune terre del suo patrimonio tenute da heretici et che dal Go.re di Milano fossero stati spedite 6 colonnelli per assoldar noue genti per seruitio del ditta Altezza, la quale alcuni affermano per cosa certa che un gentilhuomo sia uenuto incognito in posta a Milano ad abbocarsi con quello Go.re dal quale giongesse alle 3 hore et alli 7 se ne partisse di ritorno a Turino“). Hervorhebung von mir. Le vite de’ Re di Francia, Ferrara 1591, f. B4v. Hervorhebung von mir.
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eingebürgert wurde. Mit der hier angedeuteten Chronologie übereinstimmend, nennt er das Jahr 1581 als ersten überlieferten Nachweis. Er zitiert aus den Négoc[iations] du Levant: „Le Moscovite . . . est nagueres passé par celle ville incognito pour aller trouver le pape . . . [.]“112 Auch in diesem Beispiel bezeichnet inkognito das temporäre Ablegen zeremonieller Pflichten. Für die deutsche Sprache ist die Etymologie von inkognito leider noch unerforscht. Conrads gibt als frühesten ihm bekannten Beleg das Jahr 1668 an, nicht ohne hinzuzufügen, dass es „verwunderlich“ wäre, wenn sich nicht noch frühere Belege fänden.113 Auch das Deutsche Fremdwörterbuch von 1913 nennt das 17. Jahrhundert, in dem es allerdings noch in der dem Italienischen entlehnten Bezeichnung „all’incognito“ verwendet worden sei: „Das Wort ist in Hofkreisen aufgekommen und wird zunächst nur von Fürstlichkeiten gebraucht, die auf Reisen unerkannt bleiben wollen.“114 In der Selbstbiographie des Burggrafen Fabian zu Dohna, der 1621 starb, berichtet dieser von einer Begebenheit aus dem Jahre 1580: Es kam auch der Printz von Conde dasselbe Jahr persönlich nach Lautern, doch wollt er unerkannt sein, dann er heimblich aus Frankreich gekommen. Die Ursach war wol, zu werben und in Frankreich zu ziehen, dieweil ihme der König seine Gouvernement in Picardie genommen.115
Die Rede ist von Fürst Heinrich von Condé und dessen Versuch, ein Söldnerheer anzuwerben. Hier ist gerade nicht von inkognito, sondern von unbekannt die Rede. Einerseits war das finanzielle Werben um Soldaten eine diplomatisch höchst knifflige Angelegenheit, die nicht offen vollzogen werden konnte. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass die angeworbenen Söldner nicht erfuhren, wer ihr zukünftiger Kriegsherr tatsächlich war. So muss die Frage, ob Dohna den Begriff unbekannt im wörtlichen Sinne verwendete, mit dem Begriff inkognito verwechselte oder aber das italienische inkognito mit unbekannt ins Deutsche übersetzen wollte, offen bleiben. Der polyglotte, weit gereiste und mit der höfischen Welt aufs Engste vertraute Graf in Diensten der Kurpfalz könnte jedoch ein Hinweis auf denjenigen Personentyp sein, der bei den Transferprozessen, die den Begriff inkognito im Laufe der Frühen Neuzeit in ganz Europa verbreiteten, eine entscheidende Rolle spielte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts findet sich inkognito häufig in französischen Texten und damit in der für diese Zeit maßgeblichen Sprache der diplomatischen, aristokratischen und höfischen Welt.116 Barbier verweist in 112 113 114 115 116
Barbier (1932), 97. Auslassungen im Original. Conrads (2005), 596. Schulz, Hans: Deutsches Fremdwörterbuch, Straßburg 1913, 294. „[. . . ] daneben [existiert die italienische Bezeichnung – VB] all’incognito.“ Ebd. 294. Krollmann (1905), 31. Vgl. Barbier (1932), 96.
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diesem Zusammenhang auf Vaugelas, der den Begriff 1647 quasi idealtypisch definierte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde inkognito im Sinne eines zeremoniell angezeigten Identitätswechsels gebraucht: Depuis quelques annees nous avons pris ce mot des Italiens pour exprimer une chose, qu’ils ont les premiers introduite fort sagement, afin d’éviter les ceremonies ausquelles les grands sont sujets quand ils se font connoistre . . . Aujourd’huy toutes les nations se servent d’une invention si commode, et empruntent des Italiens, et la chose, et le mot tout ensemble. Nous disons, il est venu incognito, il viendra incognito, non pas qu’en effet on ne soit connu, mais parce qu’on ne le veut pas estre. Mais ce qui est digne de remarque, c’est que si nous parlons d’une femme, ou d’une princesse, nous ne laisserons pas de dire, elle vient incognito, et non incognita, et si nous parlons de plusieurs personnes . . . , nous disons aussi, ils viennent incognito, et non pas incogniti; parce que incognito se dit en tous ces exemples adverbialement, comme qui diroit incognitamente, et ainsi il est indeclinable. Seulement il seroit à desirer que la pluspart des François qui prononcent ce mot, ne missent point l’accent sur la derniere syllable disant incognitò, au lieu de dire incògnito, en mettant l’accent sur l’antepenultime.117
Das Dictionnaire der französischen Akademie definiert den Begriff 1694 folgendermaßen: Terme transposé purement de l’italien, qui se dit des grands qui entrent dans une ville, qui marchent dans les rues sans pompe, sans cérémonies, sans leur train ordinaire et sans les marques de leur grandeur. Exemples. Ce prince a passé par la France incognito. Les Grands d’Italie ne sont pas bien aises qu’on les salue quand ils marchent incognito.118
Conrads berichtet, leider ohne Quellenangabe, dass sächsische Prinzen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts „gerne Incognito-Namen [benutzten], in denen der Geburtsort des Fürsten aufschien.“119 Dies ist ein weiterer Hinweis, dass das Inkognito zu diesem Zeitpunkt in vielen Teilen Europas als Zeremoniell etabliert war. Dass Herzog Albrecht von Sachsen bei seiner Reise ins Heilige Land 1476 einen Inkognitonamen verwendet hätte, wie es Sigmund von Birken überliefert, hält Conrad dagegen für nicht glaubwürdig. Birkens Text von 1677 kann eher als Beweis einer willkürlichen Rückdatierung einer zu dieser Zeit bereits gängigen Praxis gelten. Bereits einige Jahre zuvor, 1668, hatte Sigmund von Birken seinen Brandenburgischen Ulysses vorgelegt, in dem er den Begriff inkognito im zeremoniellen Sinne verwendete.120 Damit stellte er das Inkognito auch in eine spezifisch literarische Tradition. Denn der explizite Bezug auf Odysseus war ein Charakteristikum der deutschsprachigen Reiseliteratur des 17. Jahrhunderts.121 Die Ausformung des Inkognitobegriffs im Laufe des 16. Jahrhunderts bis hin zu dessen endgültiger Festschreibung im 17. Jahrhundert wird durch ande117 118 119 120 121
Ebd., 96. Hervorhebungen von mir, Auslassungen im Original. Zitiert nach Bercé (1990), 281. Hervorhebungen im Original. Conrads (2005), 595. Vgl. ebd., 596. Vgl. ebd., 591.
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re, zeitgleiche Wortbildungen bestätigt. Die Forschung hat nachgewiesen, dass sich die Vorstellungen von Identität und Individualität zu Beginn der Frühen Neuzeit dramatisch wandelten.122 Im 16. Jahrhundert machten falsche Diplomaten stärker als je zuvor die internationale Politik unsicher und verliehen so auch der Debatte um individuelle Identitätsnachweise neue Brisanz.123 Ebenfalls im 16. Jahrhundert prägten viele europäische Sprachen simultan den Ausdruck Scharlatan.124
3.7 Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff inkognito ab der Mitte des 16. Jahrhunderts sukzessive in verschiedene europäische Sprachen Einzug hielt. Ab dieser Epoche wurde er nicht länger in der viel älteren Bedeutung von unbekannt verwendet, sondern bezeichnete eine zeremonielle Praxis. Diese kam vor allem in aristokratischen und diplomatischen Milieus zum Tragen und bezog sich auf Reisen öffentlich bekannter, nahezu ausschließlich männlicher Personen. Die Inkognitoreisenden veränderten für einen begrenzten Zeitraum spielerisch ihre soziale Stellung und damit ihre gesellschaftliche Identität. Ähnlich wie andere Zeremonielle verbreitete sich das Inkognito im ausgehenden Mittelalter von Oberitalien nach Frankreich und anschließend über die deutschsprachigen Gebiete bis nach England. So wie das Zeremoniell der Einholung, das Adventus, rekurrierte es auf wesentlich ältere, schon seit der Antike gebräuchliche Techniken, die zu Beginn der Frühen Neuzeit verändert und neu ausgehandelt wurden.125 Die historische Genese des Inkognitos beschreibt keinen gradlinigen, auf die spätere Verwendung des Zeremoniells zulaufenden Entwicklungspfad. Es handelt sich vielmehr um einen komplexen Prozess, innerhalb dessen sich diverse, oft nebeneinander existierende und teilweise voneinander unabhängige Phänomene zu einer zweckgebundenen, situationsspezifischen und am Beginn dieser Formierungsphase nicht abzusehenden zeremoniellen Form verfestigten. Dazu zählt der archaische Brauch der Gastfreundschaft ebenso wie die rituelle Verwendung von Masken in der Antike. Insbesondere die Europa nachhaltig prägende christliche Tradition ist kaum zu überschätzen. Denn das 122 123 124 125
Vgl. dazu ausführlich Dülmen (1997). Vgl. Groebner (2004), 153. Gleichzeitig mit den Identitätspapieren entsteht die Figur des Hochstaplers. Vgl. Groebner (2004), 152. Vgl. Eliav-Feldon (1999), 205. Vgl. Tenfelde (1982), 58.
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Leben Jesu von Nazareth lieferte nicht nur ein intensiv rezipiertes ethisches Herrschaftsideal, zu dem auch demonstrative Bescheidenheit und der zeitweilige Verzicht auf Machtinsignien gehörten. Darüber hinaus avancierte Jesus, dessen Vorbild nachzueifern Pflicht jedes Christen war, zum Paradebeispiel eines in bestimmten Situationen notwendigen Identitätswechsels, wie u. a. die Episode in Emmaus belegt. Zudem begannen Herrscher des Hochmittelalters sich zur Lösung schwieriger Probleme in Grenzgebieten bzw. auf neutralem Boden zu treffen. Mittels zeremonieller Versatzstücke, die den momentanen Verzicht auf Machtpositionen symbolisierten, entwickelten sie zielgerichtete politische Verfahrensweisen. Diese wurden im Laufe der Zeit zeremoniell weiterentwickelt und ausdifferenziert.126 Mindestens ebenso einflussreich wie diese sozialen, religiösen und politischen Phänomene waren einige literarische Motive, die ausgehend von Homers Odyssee in unzähligen Spielarten die gesamte Literaturgeschichte durchziehen. Narrative von wechselnden Identitäten, erstrebten, vorenthaltenen oder freiwillig angenommenen sozialen Rollen, öffentlich vorgespielten Verstellungen und gezielt eingesetzten identitären Täuschungsmanövern lieferten fiktionale Vorbilder für reale Handlungsoptionen. Für die Vorgeschichte des Inkognitos erwies sich insbesondere die ab dem 12. Jahrhundert entstehende chevalereske Literatur als einflussreich. Erzählungen von fahrenden Rittern, die aus Treue zu ihrem Herrscher oder aus Liebe zu ihrer Herzensdame ihre Identität veränderten, um in temporärer Anonymität ihre Ziele zu erreichen, konstruierten ein ausgesprochen positiv konnotiertes Vorbild für öffentlich zur Schau gestellte Rollenbilder. In der Folge überführten bedeutende Höfe, inspiriert von emblematischen Herrschern wie Eduard I. oder Eduard III., solche literarischen Leitmotive allmählich in zeremonielle Formen. Die ab dem 14. Jahrhundert praktizierte Aufwartung unter verstellter oder vorgespielter Identität ist für das Inkognito besonders relevant. Hier wurde eine aufrichtige Liebe mittels kurzfristiger Identitätswechsel inszeniert. Die spielerischen Elemente, die dabei bereits zur Anwendung kamen, traten in den vielfältigen Verkleidungsspielen, die regelmäßig an Höfen in ganz Europa veranstaltet wurden, offen zu Tage. Solche Begebenheiten wurden systematisch kommuniziert und schriftlich festgehalten. In Anlehnung an und unter dem Gebrauch von bekannten literarischen Motiven entstanden so Praktiken und Darstellungen, die zwar noch kein genuines Inkognito bezeichnen, jedoch bereits Elemente des späteren Inkognito enthielten. Nicht zuletzt in dezidierter Abgrenzung zu solchen Zeremonien und Erzählungen entstand ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in Italien der Be126
Solche Praktiken existierten jahrhundertelang neben dem sich ausbildenden Inkognito weiter. Vgl. Vec (2001), 109.
3. Zeremonielle Anfänge
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griff inkognito. Dieser wurde zunächst noch in seiner italienischen Form als all’incognito übernommen, bevor ihn u. a. die deutsche und die französische Sprache zügig adaptierten. Die zeremonielle Ausarbeitung und Kodifizierung des Inkognitos erfolgte – wie im Folgenden darzustellen ist – jedoch erst im 17. und 18. Jahrhundert.
II. Die Reglementierung des Inkognitos
1. Der große Präzedenzfall 1.1 Das Inkognito im Zeitalter des Absolutismus Spielcharakter, zeremonielle Ausarbeitung und Funktionsgebundenheit sind grundlegende Kriterien des Inkognitos. Dabei ist die Festschreibung des Terminus inkognito vor dem Hintergrund eines sich verändernden Verhältnisses von Herrschaft und Öffentlichkeit zu sehen. Da das Auftreten des Herrschers sowohl für sein persönliches Prestige als auch für die Legitimität des Staates an Bedeutung gewann, wurde das Hofzeremoniell immer weiter ausdifferenziert. Insofern bezeichnet der europäische Absolutismus, der den Monarch zu einer durch und durch öffentlichen Figur machte und sukzessiv Gelegenheiten abschaffte, in denen er seine Herrscherrolle ablegen durfte, paradoxerweise eine entscheidende Etappe in der Geschichte des Inkognitos. Dies verdeutlicht ein Blick auf den prominentesten Vertreter dieser Epoche: Ludwig XIV. Der französische König, der sich in der ersten Hälfte seiner langen Regierung beständig auf Reisen befand, bediente sich allerdings nur selten des Inkognitos. Immerhin war das öffentliche Auftreten des absolutistischen Monarchen „ein Geschenk des Königs an das Volk.“1 Als Zeichen guter Herrschaft bewies es, dass der König keinen Grund hatte, seine Herrschaftspraktiken vor den Untertanen zu verbergen.2 Die öffentliche Zurschaustellung der eigenen Herrschaft beruhte jedoch keineswegs auf der Prämisse, dass der Monarch der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig war. Jean Bodin, der große Theoretiker absolutistischer Herrschaft, sah im Volk nichts anderes als „une beste à plusieurs testes“. André du Chesne, der Historiograf des Sonnenkönigs, beschrieb es gar als „animal fantasque, cher et fascheux à gouverner“.3 Das detailversessene Hofzeremoniell des Absolutismus strukturierte den Tagesablauf des Herrschers. Durch die praktische Umsetzung einer auf theoretischer Ebene ausgearbeiteten Legitimation der Herrschaft zeigte es Machtstrukturen und Hierarchien am Hofe an: Der vordergründig-praktische Sinn allen Zeremoniells lag danach in der Regelung des Vortritts, der ,Präzedenz‘, also in der zu jedem Augenblick sichtbaren Feststellung des jeweiligen Vorrangs einer Person sowie der Art und Weise, die diesem Vorrang auf jeder Rangstufe entsprechende Ehrerbietung auszudrücken.4
Im Zeremoniell kam eine hierarchisch strukturierte, als unveränderbar vor1 2 3 4
Möseneder (1983), 29. Vgl. ebd., 37. Ebd., 38. Kruedener (1973), 60.
102
II. Die Reglementierung des Inkognitos
gestellte Weltordnung zum Ausdruck, die sich mittels der Person des Königs direkt auf Gott bezog. Jede Veränderung des Zeremoniells war daher äußerst delikat: „Der absolute Herrschaftsanspruch des Fürsten zeigte sich [. . . ] in [. . . ] einer streng am Zeremoniell orientierten Hofhaltung.“5 Ludwig XIV. trieb diese Idee in Versailles auf die Spitze.6 Es soll an dieser Stelle genügen, auf das Lever, das zeremonielle Aufstehen des Königs, hinzuweisen. Nach dem persönlichen Pagen des Monarchen betrat als erster der Grand chambellan, der Großkämmerer, das königliche Schlafgemach. Dieser regelte die sechs zeremoniell äußerst komplexen Entrées, die den Tagesbeginn des Königs strukturierten: a) entrée familière b) grand entrée: officiers de la chambre et de la garderobe c) première entrée: Vorleser des Königs d) entrée de la chambre: officiers de la chambre, grand-aumônier e) cinquième entrée: privilegierte Personen f) sixième entrée: legitime und illegitime Söhne, surintendants du bâtiment7
Das Hofzeremoniell war die „kultische Verklärung des Fürsten“.8 Als König von Gottes Gnaden stand er im Mittelpunkt allen Zeremoniells, das sich im Laufe der Zeit von einer „verkörperte[n] Herrschaftspraxis“ zu einer „kommunizierte[n] Herrschaft“ wandelte.9 Das Zeremoniell kommunizierte die Allgegenwart des Staates und die Aufrechterhaltung der Ordnung. Es rekurrierte selbst dann auf den Herrscher, wenn dieser nicht persönlich anwesend war. In Versailles wurde ein um 1700 gefertigtes Herrschaftsporträt Ludwigs XIV. verwendet, „das bei Abwesenheit des Monarchen im Thronsaal als Referenzpunkt für die Einhaltung der Etikette diente.“10 Karl Möseneder definiert das Zeremoniell daher folgendermaßen: Das Zeremoniell ist eine Sichtbarmachung eines inneren Verhältnisses zu einer Instanz mittels äußerer Zeichen; zugleich ein Bild, fähig zur Belehrung und Erinnerung an eine Verpflichtung.11
Die Entstehung und Ausdifferenzierung des Inkognitos kann als Reaktion auf sich potenzierende zeremonielle Zwänge angesehen werden. Maskenbälle, maskierte Hoffeste und Verkleidungsbankette waren Orte, in denen das Zeremoniell zwar nicht aufgehoben, jedoch verändert und erleichtert wurde. Auch andere höfische Unterhaltungsformen wie Jagden, Spiele und Hoffeste erfüllten diese Ventilfunktion. 1662 veranstaltete Ludwig XIV. ein Ringrennen, bei dem die 5 6 7 8 9 10 11
Freist (2008), 24. Vgl. dazu ausführlich Duindam (2003); Levron (1965). Elias (2002), 143. Siehe dazu ausführlich Levron (1965). Kruedener (1973), 61. Freist (2008), 8. Ebd., 88. Siehe auch Wolf (2006), 157. Möseneder (1983), 77.
1. Der große Präzedenzfall
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Reiter ihr Geschick mit der Lanze bewiesen. Etwa 800 kostümierte Teilnehmer konkurrierten als Römer, Perser, Türken, Indianer und Amerikaner vor den Massen am Pariser Place du Caroussel. Dem Sonnenkönig gelang es, die Völker der Welt symbolisch in seiner Hauptstadt zu versammeln.12 Während verschiedenste Verkleidungsformen innerhalb des Hofes zeremonielle Freiräume eröffneten, entwickelte sich das Inkognito immer mehr zu einer dezidierten Reisezeremonie: Die systematischste Lösung freilich war das ,Inkognito‘, das eigens zu diesem Zweck erfunden wurde. Es bedeutet nicht etwa ,unerkannt‘, sondern ,ohne Zeremoniell‘. Sein Funktionswert stieg daher mit dem sozialen Rang. Es wurde hauptsächlich bei Reisen in Anspruch genommen, um den zahlreichen und unerhört zeitraubenden zeremonialen Verpflichtungen und möglicherweise politischen Komplikationen zu entgehen, die jedes Betreten eines fremden Herrschaftsgebietes und jeder Besuch eines fremden Hofes sonst unweigerlich mit sich brachte.13
Ein Reiseinkognito verlangte, den Herrscher des durchquerten Gebietes zu informieren. Der Hofstab kümmerte sich um die Organisation der Reise und die Umsetzung des Inkognitozeremoniells. Gemäß des Herrschaftsverständnisses des Absolutismus unterschied sich der inkognito reisende König eindeutig von einem Privatmann. Ein absoluter König wie Ludwig XIV. war, in den Worten von Matthew Wikander, „never offstage“.14 Der Pyrenäenfriede von 1659 verdeutlicht die verschiedenen Identitäten eines Monarchen. In diesem komplizierten und langwierigen Friedensschluss beendeten Frankreich und Spanien ihren 1635 begonnenen Krieg. Die Situation zwischen beiden Mächten war äußerst angespannt; nicht zuletzt aus zeremoniellen Gründen waren Friedensverhandlungen nur auf neutralem Terrain möglich. Daher beschloss man, sich auf der Fasaneninsel im Fluss Bidasoa im unmittelbaren Grenzgebiet beider Länder zu treffen und griff damit auf die mittelalterliche Tradition der Friedensschlüsse in einem machtpolitisch nicht eindeutig verortbaren Gebiet zurück.15 Zunächst teilten die Verhandlungsführer die 120 Schritt lange und 40 Schritt breite Insel in der Mitte, wobei die Südhälfte unter spanischer, die Nordhälfte unter französischer Verwaltung stand.16 Auf der Grenzlinie wurde „auf gemeinsame Kosten ein Pavillon errichtet“.17 Je drei Säle mit zugehöriger Galerie
12 13 14 15 16 17
Vgl. Watanabe-O’Kelly (1992), 106. Kruedener (1973), 113. Wikander (1993), 151. „Ein ,Privat‘leben gab es am Hofe – auch für den Fürsten – nicht.“ Kruedener (1973), 61. Noch heute wird die Insel im halbjährlich wechselnden Rhythmus vom französischen Hendaye und der spanischen Stadt Irún verwaltet. Vgl. Rahn (1997), 181f. Siehe auch Paulmann (1999), 44. Federn (1922), 543.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
befanden sich auf der französischen und in exakt gleicher Anordnung auf der spanischen Seite. In der Mitte führte [. . . ] ein offener Gang zu einem verschlossenen dunkeln [sic!] Zimmer; dann kam der gemeinsame Konferenzsaal, in den man nur durch die Galerien von beiden Seiten gelangen konnte. Zwei Schiffbrücken führten von jedem Ufer zur Insel; hohe Bretterzäune, die längs und quer von dem Gebäude zum Ufer liefen, verhinderten, dass irgendjemand es umgehen oder anders als von seinem Lande aus betreten konnte.18
Der Zugang und die Ansicht der Verhandlungszonen waren aufs Äußerste reglementiert; die Anordnung beruhte auf dem Prinzip der strikten Gleichbehandlung beider Delegationen. Darüber hinaus wurde der Ort zusätzlich zeremoniell abgesichert. Erst indem Frankreich und Spanien ihr Hofzeremoniell drastisch reduzierten, ermöglichten sie die Friedensgespräche. Am 13. August 1659 begannen die von Kardinal Mazarin, dem regierenden Minister Frankreichs, und dem spanischen Minister Luis Méndez de Haro geleiteten Verhandlungen: Zwei Tische waren in dem Konferenzsaal aneinander gestellt, die sich an der Grenze berührten, vor jedem Tisch stand ein Lehnstuhl; so konnten die beiden Minister einander gegenüber sitzen, und doch jeder im eigenen Lande bleiben. Es war der höchste Triumph des ungebrochenen Prestige.19
Das jeweils 60 Mann starke Gefolge, das beide Seiten mitbrachten, verdeutlicht den zeremoniellen Aufwand. Die Verhandlungen zogen sich in mehreren Sitzungen durch den gesamten August und kamen erst im November 1659 zu einem erfolgreichen Abschluss. Obwohl der Friedensvertrag bereits am 7. November unterzeichnet worden war, fand die 25. und letzte Sitzung erst am 12. November statt. Sie war „dem Abschied, den gegenseitigen Glückwünschen und dem Austausch von Geschenken gewidmet“.20 Der Vertrag zwang Spanien zu einigen Gebietsabtretungen und erklärte die Pyrenäen zur neuen Grenze zwischen beiden Staaten. Vor allem aber zementierte er den Frieden durch ein starkes Symbol: Ludwig XIV. sollte die spanische Infantin Maria Theresia, die Thronfolgerin, heiraten. Die Verhandlungen um die Hochzeit zwischen Ludwig XIV. und der Tochter Königs Philipp IV. waren Teil des Friedensschlusses. Erst nachdem der Marschall de Grammont mit einer französischen Delegation am 17. Oktober 1659 nach Madrid gereist war, um im Namen Ludwigs XIV. um die Hand der Königstocher anzuhalten, konnte der Friedensvertrag unterzeichnet werden. Allerdings fand die Trauung erst am 3. Juni 1660 in der spanischen Kathedrale von Fuenterrabia statt. Der Bräutigam Ludwig glänzte dabei durch 18 19 20
Ebd. Ebd., 543. Ebd., 555.
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Abwesenheit. An seiner Stelle nahm Luis Méndez de Haro, der spanische Verhandlungsleiter des Pyrenäenfriedens, Maria Theresia symbolisch zur Frau. „Nur Mademoiselle wohnte mit einigen französischen Damen incognito dieser Feier bei.“21 Ludwig lernte seine Braut erst am 6. Juni bei einem bereits verabredeten Treffen beider Familien kennen, das ebenfalls auf der Fasaneninsel anberaumt wurde. Allerdings besuchte Anna von Österreich, die Mutter des Sonnenkönigs, die spanische Delegation Philips IV. bereits am Tag nach der Stellvertreterhochzeit. „Heimlich hatte Ludwig XIV., der seine Frau endlich zu sehen wünschte, sich als Kavalier unter das Gefolge seiner Mutter gemischt und wurde natürlich bemerkt.“22 Diese Inkognito-Aufwartung, die niemanden über die Identität des französischen Königs im Unklaren ließ, wiederholte sich am nächsten Tag in elaborierter Form. Wie vereinbart ritt Ludwig XIV. an den Fenstern des Konferenzsaales vorbei und zeigte sich seiner Zukünftigen.23 Beide Male wurde eine angebliche Ungeduld Ludwigs inszeniert, die seine persönliche Zuneigung jenseits diplomatischer Interessen symbolisierte. Zwei Tage später schworen Ludwig und Philipp IV. auf das Evangelium, die ausgehandelten Verträge einzuhalten.
1.2 Grenzfälle des Inkognitos Die zeremoniellen Reglementierungen nahmen im Absolutismus derart zu, dass sie politisches Handeln immer weiter erschwerten. Im Pyrenäenfrieden musste das Zeremoniell bereits vor neugierigen Blicken geschützt werden. Ein vorübergehender, zeremoniell angezeigter Identitätswechsel eröffnete daher einen Ausweg. Obwohl sich der Begriff zu diesem Zeitpunkt bereits etabliert hatte, ist oft nicht eindeutig auszumachen, wann es sich um ein genuines Inkognito handelte. Als ein entscheidendes Kriterium kann gelten, dass die Identität des Inkognitoträgers allseits bekannt sein musste. Als im März 1710 Frankreich und seine Kriegsgegner in Gertruydenberg den Frieden verhandelten, bestanden die Holländer darauf, dass die beiden französischen Unterhändler „inkognito“ anreisten. Daraufhin verkleidete sich der eine als Kavalier, der andere verzichtete darauf, seine Prunkwaffen anzulegen. Saint-Simon, der diese Begebenheit in seinen Memoiren überliefert, bezeichnet dies einerseits als „ruse [List]“ und versichert andererseits: „Cela ne cachoit ni leurs noms, ni leur caractère.“24 21 22 23 24
Ebd., 563. Siehe auch Dulong (1986), 190. Federn (1922), 564. Vgl. Dulong (1986), 194. Zitiert nach Bély (1983), 442.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Als Hugues de Lionne, der französische Abgesandte in Madrid, als Kaufmann verkleidet versuchte, die spanische Verhandlungstaktik für den Pyrenäenfrieden auszukundschaften, handelte es sich eindeutig nicht um ein Inkognito.25 Hugues agierte als Spion, dessen Mission nur gelingen konnte, wenn er unerkannt blieb. Als hingegen 1680 Johann Friedrich von Calenberg starb und Herzog Ferdinand Albrecht I. von Braunschweig-Wolfenbüttel inoffiziell zur Beerdigung erschien, kann dies durchaus als Inkognito interpretiert werden. Die Streitigkeiten zwischen beiden Dynastien verhinderten eine offizielle Teilnahme an der Trauerfeier. Seine Inkognito-Anwesenheit, die bemerkt werden sollte, bezeichnete einen ersten Schritt zur Versöhnung, ohne dass er dadurch von seiner offiziellen Verhandlungsposition abrückte.26 Auch Prinz Eugen befand sich 1690 inkognito in München, als er auf einem Fest von Max II. Emmanuel „keine ceremoniellen Schwierigkeiten“ hervorrufen wollte.27 Schwieriger zu beurteilen ist das Verhalten Augusts II. von Sachsen, einem weiteren Prototyp des absolutistischen Herrschers. Er legte seine Titel als Kurfürst von Sachsen und späterem König von Polen zeitweise ab, wenn er seine Mätressen aufsuchte.28 Der veränderte Status erlaubte ihm ein Verhalten, das er als König nicht ohne weiteres an den Tag legen konnte. Währenddessen nahm das Hofzeremoniell im 17. Jahrhundert bedrohliche Ausmaße an. Als Leopold 1658 nach Frankfurt reiste, um zum römisch-deutschen Kaiser gewählt zu werden, befanden sich nicht weniger als 430 Personen in seinem Gefolge. Auf der Fahrt zum ungarischen Landtag 1681 begleiteten ihn über 660 Personen.29 Der notwendige zeremonielle Aufwand, um die politische Stellung des Herrschers zu versinnbildlichen, drohte Reisen unmöglich zu machen. Das Zeremoniell schränkte die Handlungsfähigkeit des Monarchen zunehmend ein.30 Zur gleichen Zeit war die englische Monarchie mit ungleich schwereren Problemen konfrontiert. Die Revolutionen des 17. Jahrhunderts bedrohten ihre Existenz, wie die Hinrichtung Karls I. 1649 unmissverständlich verdeutlichte. Noch zehn Jahre zuvor, 1637/38, hatte Anthonis van Dyck den König in voller Pracht als Mitglied des Hosenbandordens (Order of the garter) porträtiert. Im 25 26 27 28 29 30
Vgl. Schnitzer (1999), 40. Vgl. Bepler (1995), 194f. Straub (1969), 293. Vgl. Schnitzer (1999), 40. Sein Vater, Kurfürst Johann Georg III. von Sachsen (1680–1691), reiste 1684 inkognito nach Venedig. Vgl. Johnson (2011), 139. Vgl. ebd., 67. Bereits seit 1664 fuhren die habsburgischen Kaiser nicht mehr mit großem Gefolge zum Reichstag nach Regensburg. Das dafür notwendige Zeremoniell war schlicht zu aufwändig geworden. Unter Karl VI. drohte das Zeremoniell sogar die Staatskasse zu sprengen. Vgl. Conrads (2005), 602.
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April 1646, vier Jahre nach dem Beginn des Bürgerkrieges, umzingelten die Truppen des Parlaments Karls Zufluchtsort in Oxford, in dem er sich nach mehreren militärischen Niederlagen verschanzt hatte. Am 27. April suchte er sein Heil in der Flucht, welche dank einer „heavy disguise“ zunächst auch gelang.31 Diese Anonymisierung hatte nichts mit einem Inkognito gemein. Karl spielte nicht mit seiner Identität, sondern kämpfte ums nackte Überleben. Seine Stellung als König gab er damit de facto auf. Seine zweijährige Tochter Henriette Anne wurde als Junge verkleidet außer Landes gebracht, und auch ihr älterer Bruder, der spätere Karl II., floh auf das Festland.32 Nachdem Karl I. am 30. Januar 1649 in London enthauptet worden war, trauerte sein Sohn ein Jahr lang öffentlich um seinen Vater, indem er violette Kleider anlegte.33 Dieser Rückgriff auf die dynastische Tradition des Hauses Stuart half ihm, im Exil seinen königlichen Status zu wahren. Nach mehreren erfolglosen Versuchen segelte er im Juni 1650 schließlich nach Schottland. Die Schotten akzeptierten ihn jedoch nicht ohne Weiteres als König, sondern knüpften ihre Unterstützung an vielfältige Bedingungen. Im Oktober 1650 reagierte der 20jährige Thronfolger auf die Aufforderung, seine Gemächer zu wechseln, mit einem überstürzten Ritt aufs Land. „[. . . ] two days later he was found in a filthy cottage sleeping on a straw mattress, exhausted and afraid.“34 Letzten Endes einigte man sich und Karl wurde am 1. Januar 1651 in Scone zum König von Schottland gekrönt.35 Der anschließende Feldzug, um sein englisches Königreich zurück zu erobern, geriet jedoch zum militärischen Desaster. Am 3. September 1651 traf er auf die Truppen Cromwells, die ihn bei Worcester vernichtend schlugen.36 Wie seinem Vater fünf Jahre zuvor blieb auch Karl nur die Flucht. Diese sollte zu einer der berühmtesten Episoden im Leben des Königs werden, die er schnell als schillernde biografische Legende instrumentalisierte. Mit Hilfe der letzten verbliebenen Gefährten verkleidete er sich als Förster, schnitt sich die Haare und schwärzte sein Gesicht mit Ruß.37 Nachdem der erste Versuch, aus der Gegend südlich von Birmingham unerkannt zu entkommen, scheiterte, verbarg sich der als Förster verkleidete König im Wipfel einer Eiche. Dies bildete den Auftakt einer sechswöchigen Flucht, die ihn schließlich aufs Festland führte: The young king quickly disguised himself as a common servant and spent the next six weeks hiding in priest’s holes, sleeping in oak trees, and living out the legend of the incognito king.38 31 32 33 34 35 36 37 38
Keay (2008), 1. Vgl. ebd., 76. Vgl. ebd., 48. Ebd., 56. Vgl. ebd., 54–7; Ollard (1979), 82. Vgl. Ollard (1979), 84; Keay (2008), 59; Weiser (2003), 1. Vgl. Ollard (1979), 85. Weiser (1999), 43. Brian Weiser spricht in diesem Zusammenhang von „one of the most
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Entgegen der Meinung Brian Weisers handelte es sich hier genauso wenig um ein Inkognito wie bei der Verkleidungsflucht Karls I. aus Oxford. Im erneuten Exil pendelte Karl II. zwischen Frankreich, den Vereinigten Niederlanden und den Spanischen Niederlanden. Insbesondere der Aufenthalt im Land seines Cousins Ludwig XIV. verdeutlicht den Unterschied zwischen erzwungener Verkleidung und freiwilligem Inkognito. Denn diesmal weilte Karl als gekrönter und aus Sicht der europäischen Monarchen legitimer König in Frankreich. Der französische Hof sah sich gezwungen, diesem Umstand im Zeremoniell Rechnung zu tragen, wofür sich das Inkognito als geeignetes Mittel erwies: Crucial to such an arrangement being feasible was that the prince had declared his visit to France to be ,incognito‘, and so rather than being a full state visit with the complete panoply of ritual – starting with a royal entry into Paris – it was an informal visit by one prince to another. Since claiming incognito status was common practice – indeed most visits between members of royal families in the seventeenth century (other than those in which a marriage was involved) were conducted in this manner – it implied no dishonour to either party.39
Auch wenn Karls Versteck in der Eiche nichts mit einem Inkognito zu tun hatte, ist es für dessen Geschichte von Belang. Denn die Episode wurde literarisch verarbeitet, zur Legende ausgeschmückt und politisch instrumentalisiert. Karl schämte sich seiner Flucht keineswegs und begann bereits in Paris von ihr zu erzählen.40 Insbesondere nach seinem Regierungsantritt 1660 thematisierte er sein sechswöchiges Abenteuer immer wieder. „That Charles was extremely careful to give fabricated accounts of his adventures we have abundant evidence.“41 Richard Ollard geht davon aus, dass der König gezielt die englischen Zeitungsberichte seiner Flucht las und auf sie zurückgriff, um seine Darstellung glaubwürdiger zu machen. Samuel Pepys, Tagebuchautor und Präsident der Royal Society, berichtet ebenfalls von der Episode. Er traf den König im Oktober 1680 zwei Mal in Newmarket und auch 29 Jahre nach den Geschehnissen versuchte Karl noch, deren Überlieferung zu beeinflussen.42 Er beauftragte sogar Robert Streater mit einem Gemälde seiner Flucht. Thomas Toft, ein Töpfer aus Staffordshire, fertigte Teller an, auf denen das Gesicht des Königs aus einer dicht belaubten Eiche hervorlugt.43 Vor allem aber führte Karl den Oak Apple day als nationalen Feiertag ein. Karl romantisierte seine prekäre Situation und verklärte sie mit großem Aufwand zum Mythos. Die Geschichte versinnbildlichte, wie der gewiefte König seine Häscher an der Nase herum führte. Zudem illustrierte sie die königliche
39 40 41 42 43
famous myths of monarchy: the incognito king“. Weiser (2003), 1. Siehe auch Ollard (1979), 85; Keay (2008), 59. Keay (2008), 60. Vgl. ebd., 59. Ollard (1966), 138. Siehe auch Ollard (1979), 85. Vgl. Ollard (1979), 85. Vgl. ebd., 86. Ein solcher Teller befindet sich im Metropolitan Museum of Art in New York.
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„loyalty to his people“, denn Karl war schließlich zurückgekommen und befreite England – aus seiner Sicht der Dinge – von seinen Feinden.44 Umgekehrt bewies die Legende aber auch die Loyalität des Volkes zu seinem König. Die Personen, die ihm trotz der angedrohten Todesstrafe auf seiner Flucht geholfen hatten, belohnte er reichlich, und einige von ihnen erhielten das Recht, sich drei Eichen auf das Familienwappen zu malen. Die Legende um die Royal Oak, die sich bis heute in Schiffsnamen der Royal Navy und Namen von Pubs in ganz England fortspinnt, stärkte das restaurierte englische Königshaus. Such a presentation of kingship was reassuring to a nation that feared an increasingly distant ruler as epitomized by two related phenomena: the evil counsellor and the bureaucratization of government.45
Diese Episode steht dabei keineswegs isoliert. Sie verbindet sich mit vielen ähnlichen Erzählungen der Literatur des 17. Jahrhunderts und betrifft insofern die Geschichte des Inkognitos. Denn auch hier rekurriert die politische Funktion auf eine spezifische literarische Tradition. Indem sie sich spannender narrativer Strukturen bedient, wird einerseits ihre Verbreitung gesichert und andererseits die Glaubwürdigkeit der Darstellung durch den Wiedererkennungswert verbürgt. Anschließend wird die politische Aussage erneut literarisch verarbeitet und weiter tradiert: Leurs aventures commençaient chaque fois par une longue chasse au cours de laquelle le prince, séparé de ses compagnons, s’égarait et cherchait refuge avec la nuit dans une cabane de paysans, où on ne le reconnaissait pas.46
1.3 Peter der Große Im Jahr 1700 veröffentlichte John Dunton seine Briefsammlung The Art of Living Incognito. Darin beschreibt er seinen bewussten Rückzug aus der Welt und verkündet seine „Resolution of Living Incognito, proposing to my self the most intimate pleasure this World can give“.47 Dunton verweist auf illustre Vorläufer, die sich des Inkognitos bedient hätten. Karl II. und sein Versteck in der Eiche werden ebenso erwähnt wie Jakob I., der Großvater Karls II., wobei er in bei44 45
46 47
Ebd., 86. Weiser (2003), 2. „Many of the tales of incognito kings [. . . ] attracted readers because they allayed fears of the evil counsellor.“ Ebd., 46; „The gospel relates the most famous story of the incognito king. These tales suggest that just as Jesus Christ had to take on flesh to forgive mankind, Charles needed to don a coarse shirt to reconcile himself with his people.“ Ebd., 48. Bercé (1990), 276. Dunton (1700), A2f.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
den Fällen davon ausgeht, dass seine Leser mit den entsprechenden Episoden vertraut sind: „The story of King James the First, Riding to his Nobles behind a Miller, (who took him for a poor Farmer) is sufficiently known [. . . ]“.48 Insbesondere bezieht sich Dunton auf Zar Peter den Großen, der nur zwei Jahre zuvor von einer langen Inkognitoreise quer durch Europa zurückgekehrt war.49 Wie gesehen, blickte das Inkognito am Ende des 17. Jahrhunderts bereits auf eine lange Tradition zurück. Peter reiste jedoch als erster großer europäischer Herrscher über einen längeren Zeitraum inkognito und avancierte daher zu einem wirkmächtigen zeremoniellen Präzedenzfall. Im Anschluss an die Reise des Zaren etablierte sich das Inkognito als eine auf höchster machtpolitischer Ebene legitimierte Zeremonie. Peters Große Gesandtschaft aus den Jahren 1697/98 entsprach in vieler Hinsicht dem Idealtyp einer Inkognitoreise, wie sie das 18. Jahrhundert definierte. Ihre Bedeutung für die Geschichte des Inkognitos ist daher kaum zu überschätzen. Zar Peter I., der von 1682 bis 1721 als Zar und Großfürst von Russland und von 1721 bis 1725 als erster Kaiser des Russischen Reiches regierte, verließ zu Beginn des Jahres 1697 für eineinhalb Jahre unter dem Pseudonym Petr Michajlow seine Heimat. Dies machte ihn zum ersten russischen Zaren überhaupt, der in Friedenszeiten und zu anderen als militärischen Zwecken ins Ausland reiste.50 Iwan IV. hatte im 16. Jahrhundert seinen Regierungssitz fluchtartig und keineswegs freiwillig verlassen müssen, und vor ihm hatte sich nur Großfürst Isjalaw von Kiew außerhalb seines Herrschaftsraumes aufgehalten, als er 1075 Heinrich IV. besuchte. Im Russischen Reich grenzte das Überschreiten der Landesgrenzen an Landesverrat.51 Peter informierte zunächst am 6. Dezember 1696 die russischen Behörden über die Große Gesandtschaft.52 Deren Ziel bestand in der Festigung alter Freundschaften und in der Liebe für die der ganzen Christenheit gemeinsamen Angelegenheiten zur Schwächung der Feinde des Kreuzes des Herrn, des türkischen Sultans, des Krimchans und aller muselmanischen Horden.53
Unmittelbar darauf wurde die Große Gesandtschaft den europäischen Höfen angekündigt, wozu der Zar Oberstleutnant Adam Weide vorausschickte.54 Mit dem römisch-deutschen Kaiser, den Königen von England und Dänemark, 48 49 50 51 52 53 54
Ebd., 4. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., 4. Vgl. auch Wrigley (2002), 210. Vgl. Donnert (1989), 51; Peter der Große in Westeuropa (1991), 22. Vgl. Troyat (1981), 95. Vgl. ebd.; Wittram (1964), 130f. Peter der Große in Westeuropa (1991), 23. Siehe auch Vallotton (1978), 142; Wittram (1964), 131; Hennings (2008), 522. Vgl. Peter der Große in Westeuropa (1991), 39. Eine Kopie der russischen Ankündigung der Großen Gesandtschaft befindet sich in dem zu einem Museum umgewandelten Wohnhaus Peters in Zaandam (Het Czaar Peterhuisje).
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dem Papst, den Holländischen Staaten, dem Kurfürst von Brandenburg und dem Dogen von Venedig wurden diejenigen Herrscher offiziell benachrichtigt, denen die Gesandtschaft ihre Aufwartung machen wollte.55 Bereits im Januar 1697 war nicht nur Amsterdam, sondern auch Stockholm, denn das schwedische Riga lag ebenfalls auf der Reiseroute, informiert.56 Die aus über 250 Personen bestehende Gesandtschaft verließ Moskau am 10. März 1697.57 Die Teilnehmer bildeten drei Gruppen, die der Erste Gesandte Franz Jakowlewitsch Lefort, der Zweite Gesandte Fedor Aleksejewitsch Golowin sowie der Dritte Gesandte Prokofij Bogdanowitsch Wosnizyn, die jeweils ihre eigene Suite von Adligen, Kammerdienern, Pagen und weiteren Bediensteten mitführten, leiteten.58 Ferner waren – neben Dienstleuten aus verschiedenen Bauern- und Handwerksberufen – Geistliche, Ärzte, Dolmetscher, Staatssekretäre, Zobelfänger sowie vier Zwerge mit ihren Dienern mit von der Partie. 62 Soldaten und einige Kalmyken, Tataren und Mongolen dienten als Begleitschutz. Zusätzlich schickte Peter 35 von ihm ernannte „Volontäre“ mit, die allesamt aus dem Adel stammten und die Militärwissenschaften und das Seewesen im Ausland studieren sollten. Diese teilten sich in drei ungleiche Zehnerschaften auf, deren zweite von einem gewissen Petr Michajlow geleitet wurde.59 Dabei handelte es sich um niemand anderen als Peter Aleksejewitsch, den Herrscher des Russischen Reiches. Dieser reiste gerade nicht als „allerdurchlauchtigster und allermächtigster großer Gosudarj, Zar und [. . . ] Selbstherrscher über das Große und Kleine und Weiße Russland.“60 Peter wechselte seine Identität für die Dauer der Reise; er beschloss vom Zaren zum unbekannten Untergebenen Petr Michajlow abzusteigen. Ein solcher Identitätswechsel war keineswegs neu für ihn. Bereits in Moskau war Peter als „Bombardier“, „Rotmistr“ und „Kaptein“ zeitweilig entschwunden, um wenig später als offizieller Herrscher wieder aufzutauchen.61 Dass er dies jedoch außerhalb seiner Landesgrenzen und im Rahmen einer offiziellen, diplomatischen Gesandtschaft tat, bezeichnet etwas qualitativ Neues. Reinhard Wittram ist zuzustimmen, wenn er diese Inkognitoreise des Zaren als etwas „Unerhörtes in Russland“ charakterisiert.62 In Hinblick auf ihre Bedeutung und ihren Aufwand gilt dies auch für Mittel- und Westeuropa. 55 56 57 58 59
60 61 62
Vgl. Wittram (1955), 374; Peter der Große in Westeuropa (1991), 39. Vgl. Vallotton (1978), 125. Vgl. Troyat (1981), 98. Vgl. Hennings (2008), 523. Vgl. Neumann-Hoditz (1983), 45. Laut Donnert bestand die Gefolgschaft aus 260 Personen, „dazu ein paar Zwerge und ein Affe.“ Donnert (1989), 42. Siehe auch Vallotton (1978), 125; Wittram (1955), 376; Wittram (1964), 132. Neumann-Hoditz (1983), 45. Siehe auch Peter der Große in Westeuropa (1991), 22. Wittram (1964), 132. Wittram (1955), 376.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Wie der Ankündigungstext verdeutlicht, verfolgte Peter das ehrgeizige Ziel eines gesamteuropäischen Bündnisses aller Fraktionen des christlichen Glaubens gegen das Osmanische Reich und dessen Sultan, den Kalifen des Islam. Es ist daher ausgesprochen bemerkenswert, dass er diese schwierige diplomatische Mission gerade nicht in seiner Eigenschaft als Zar erfolgreich abzuschließen hoffte. Statt sich mit hoch komplizierten und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verbindlich geregelten Fragen des Zeremoniells, mit dem die europäischen Fürsten einen russischen Zar willkommen heißen würden, auseinanderzusetzen, reiste der Zar als „Pjotr Michajlow, Urjadnik (Unteroffizier) des Preobraschenskij-Regiments“.63 Die offizielle, vorauseilende Ankündigung der Reise und die Verwendung eines Pseudonyms bezeichnen zwei grundlegende Charakteristika eines idealtypischen zeremoniellen Inkognitos. Die Formulierung eines klaren politischen Ziels erfüllt ein drittes Kriterium des etablierten Idealtyps. Dies reichte für ein genuines Inkognito jedoch nicht aus. Zudem mussten die Mitglieder der Gesandtschaft, die selbstverständlich wussten, um wen es sich bei Petr Michajlow tatsächlich handelte, dem Identitätsspiel in ihrem Verhalten Rechnung tragen. Folgerichtig war es dem Gesandtschaftspersonal laut Bericht eines schwedischen Diplomaten unter Androhung der Todesstrafe verboten, das Inkognito des Zaren zu missachten.64 Dazu zählte neben dem Verzicht auf jede Vorzugsbehandlung auch, den Zaren keinesfalls mit diesem Titel anzusprechen.65 Anders verhielt es sich jedoch innerhalb des Russischen Reiches, und dies unterscheidet Peters Reise vom Idealtyp des Inkognitos. Denn in Russland funktionierte das Inkognito des Zaren nicht als offenes Versteckspiel, sondern als tatsächliches Verstecken. Der Zar verhängte während der gesamten Reise eine „Informationssperre“ über die Gesandtschaft.66 In Moskau war es streng verboten, von der Reise des Zaren zu sprechen oder zu schreiben.67 „Man hütete die Fiktion, daß der Czar [. . . ] fortfuhr in Moskau zu regieren; auf Reisen ging ja nur ,Petr Michajlov‘“.68 Im eigenen Land wurde der Schein gewahrt, dass der Herrscher stets gegenwärtig sei. Dies geschah ungeachtet der Tatsache, dass Zeitungen in ganz Europa ausführlich von Peters Reise berichteten. Da diese Blätter in Russland jedoch nicht zugänglich waren und kein eigenständiges Pressewesen existierte, hatte diese Fiktion durchaus Aussicht auf Erfolg. So berichtete der Altonaer Relations-Courier im August 1698: „Se. Czaarisch
63 64 65 66 67 68
Neumann-Hoditz (1983), 45. Vgl. Wittram (1964), 138. „[. . . ] unter Androhung der Todesstrafe war es verboten Peter als Zaren anzusprechen.“ Massie (1982), 155. Peter der Große in Westeuropa (1991), 22. Vgl. Wittram (1964), 133. Ebd., 132.
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Majest. Reise dergestalt wissen zu verbergen [. . . ] / also daß man nicht mercken können / ob der Czar zugegen sey / oder nicht.“69 Der Zar tat ein Übriges, um das Identitätsspiel des Inkognitos aufrecht zu erhalten. Er benutzte während der Reise ein eigenes Siegel für seine Korrespondenz, das ebenfalls das Inkognito ludisch verklärte, indem es seine eigentliche Identität in Form eines Rätsels gleichsam anzeigte. Sein Text lautete: „Mein Rang ist der eines Schülers, und ich brauche Lehrmeister.“70 Seine Briefe nach Moskau unterzeichnete er mit Petr Michajlow.71
1.4 Weder Zar noch Zimmermann Peter der Große war 24 Jahre alt, als er die Reise antrat; er sollte über 18 Monate im Ausland verbringen.72 Von Moskau führte ihn sein Weg nach Nordwesten; über die Stationen Twer, Wyschnij Wolotschok, Nowgorod und Pleskau gelangte er nach Riga, der ersten größeren Station seiner Reise. Hier kam es auch zu den ersten Komplikationen. Sowohl die lokalen Autoritäten als auch der Zar selbst waren unsicher, wie der tägliche Umgang mit dem Inkognito vonstatten gehen sollte. Wenig konsequent zeigte sich Peter immer wieder ungehalten, wenn ihm die schwedischen Subjekte, welche die Bewohner Rigas seit der Eroberung durch Gustav II. Adolf im Jahre 1621 waren, nicht den notwendigen Respekt zollten. Die Situation eskalierte, als Peter ohne Erlaubnis die Festungsanlagen der Stadt besichtigte. Dies war strengstens verboten, wie ihm die Wachen auf ebenso schroffe wie eindeutige Weise klar machten: Am schwersten wiegt der Vorwurf, man habe, obwohl man von der Anwesenheit des Czaren in der Gesandtschaft wusste, geflissentlich keinerlei Rücksichten geübt und sein offizielles Inkognito dazu benutzt, ihm die vollkommenste Nichtachtung zu beweisen.73
Dass dieser Zwischenfall drei Jahre später der Auslöser für den Großen Nordischen Krieg (1700–1721) gewesen sei, in dem sich unter anderem Russland und Schweden gegenüberstanden, ist getrost ins Reich der Fabel zu verweisen. Er wurde jedoch durchaus zur öffentlichen Rechtfertigung des Krieges herangezogen.74 Die Modalitäten und die Konsequenzen des zaristischen Inkognitos 69 70 71 72 73 74
Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 43, siehe auch 68. Troyat (1981), 96. Eine Vergrößerung des Stempels befindet sich im Museum von Peters Wohnhaus in Zaandam. Vgl. Peter der Große in Westeuropa (1991), 22. Vgl. Donnert (1989), 44; Neumann-Hoditz (1983), 56. Wittram (1964), 137. Vgl. Hennings (2008), 518. Siehe dazu auch Roosen (1980), 463, 469; Wittram (1964), 137; Wittram (1955), 380.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
waren den Beteiligten unvertraut und nicht ausreichend geregelt. Neben dem Umgang mit Petr Michajlow betraf dies die Unterbringung der Gesandtschaft. Immerhin galt es, 250 Personen zu beherbergen und zu verpflegen. Die Leipziger Post berichtete Anfang Mai 1697 über Peters Aufenthalt in Riga: „Der Czaar soll in Person / iedoch incognito dabey gewesen seyn / und sich verkleidet.“75 Auch dies zeigt, dass zu diesem frühen Zeitpunkt der Reise der öffentliche Umgang mit Peters Inkognito noch nicht feststand. Die Presse erfuhr relativ schnell davon und scheute sich nicht, darüber zu berichten. Erst im 18. und dann vor allem im 19. Jahrhundert unterrichteten Monarchen die Presse im Vorfeld gezielt von Inkognitoreisen. Das Inkognito erwies sich vor allem dann als problematisch, wenn Personen intervenierten, die nicht eingeweiht waren bzw. – so wie die Wächter der Festungsanlagen von Riga – nicht wussten, wie sie damit umzugehen hatten. Der brandenburgische Hof verstand weit besser, dass Peter trotz des Inkognitos nicht als unbedeutender Untertan behandelt werden wollte. Auch wenn man den Reisenden nicht als Zar titulierte, achtete man darauf, dass es ihm bei Gesandtschaftsempfängen an nichts mangelte. Der brandenburgische Zeremonienmeister Johann von Besser, der für die zeremonielle Umsetzung des Inkognitos am Hof der Hohenzollern verantwortlich zeichnete, kommentierte dies mit einem gewissen Zynismus. Besser notierte ins Hofprotokoll, dass die Gesandtschaft mit so viel Pracht empfangen worden sei, [d]aß, wenn gleich ihr hoher Principal, den sie vorstellte, Ihre Czarische Majest. Selbst persönlich zugegen gewesen wäre, oder es mit ansehen sollen, man doch dieselbe nicht herrlicher und prächtiger einholen und aufnehmen können.76
Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, der ab 1701 als preußischer König Friedrich I. regierte, nahm die Sache nicht nur mit Humor, sondern verstand es auch vorzüglich, im Rahmen der Spielsituation einige Respektbezeugungen für den Zaren einzustreuen. Auf die temporäre Identität Petr Michajlows Rücksicht nehmend, erkundigte er sich bei einem offiziellen Empfang bei Franz Lefort, der als Erster Gesandter der ranghöchste Besucher war, nach der Gesundheit des in Russland gebliebenen Zaren.77 Im Wissen um die Anwesenheit Peters gelang ihm so ein besonders raffinierter zeremonieller Trick. Dieser sollte bald eine gewisse Tradition erlangen, da er auf elegante Art die Kenntnis des Inkognitos, die Bereitschaft es zu respektieren und das Verständnis seines ludischen Charakters kommunizierte. Das Inkognito lebte von den zeremoniellen Formen, die es zum Ausdruck brachten. Die Kleidung zählte dabei zu den auffälligsten; sie fungierte nie als 75 76 77
Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 44. Ebd., 74f. Vgl. Massie (1982), 159.
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Verkleidung, sondern als spielerische Auskleidung des Inkognitos. So berichtete der Altonaer Relations-Courier am 27. Juli 1697 aus Berlin: „[. . . ] und ist der Czar selber dabey / welcher aber incognito seyn will. Er ist einen Tag eher als die Gesandtschaft allhier angekommen / und gehet im Teutschen Habit.“78 Die deutsche und keineswegs die für einen russischen Unteroffizier typische Kleidung, die Peter während seines Aufenthalts in Brandenburg anlegte, verdeutlichen den ludischen Charakter des Unterfangens. Das äußerst flexible Inkognito schränkte den Zar zu keinem Zeitpunkt in seiner Handlungsmacht ein. Bei Bedarf konnte er es jederzeit vorübergehend ablegen. Als Peter Anfang Juli 1697 an einer Jagd teilnahm, gestand er an deren Ende – wohl auf mehrfache, spielerische Nachfrage – öffentlich ein, dass er „der grosze Herr were“.79 Die Leipziger Extraordinair-Zeitung veröffentlichte am 24. August einen Bericht eines Empfangs, welcher der Gesandtschaft in Hildesheim bereitet wurde. An deren Anschluss hätten „die Herren Gesandten ihre Dancksagung abgelegt / und die Czaarische Majestät sich zu erkennen gegeben“.80 Als Peter Anfang August 1697 in Zaandam eintraf, war er bereits ein halbes Jahr unterwegs und seine Inkognitoreise zu einem europäischen Großereignis geworden. Der Zar entschloss sich im Haus von Gerrit Kist zu wohnen, einem Schmied, den er in Moskau kennen gelernt hatte. Die dort logierende Witwe eines seiner Arbeiter wurde kurzerhand ausquartiert und dafür finanziell entlohnt.81 Die Unterkunft im Hause eines Handwerkes stimmte mit Peters Inkognitostatus überein. Allerdings strömten bereits am nächsten Tag so viele Schaulustige vor das Anwesen, dass der Zar es während der Woche, in der er es bewohnte, kaum verließ.82 Für das kleine Zaandam war die Anwesenheit eines Zaren – Inkognito hin oder her – ein Großereignis, dem die Bevölkerung seit Wochen entgegenfieberte. Henri Troyat berichtet, dass ein Zaandamer, der in Russland lebte, seinen Landsleuten eine detaillierte Beschreibung des Zaren geschickt hatte, mit deren Hilfe der Inkognitoreisende identifiziert werden sollte.83 Trotzdem gelang dies nicht auf eindeutige Art und Weise, wie aus einem Brief des Neffen General Leforts hervorgeht: Wir taten, was wir konnten, um ihn zu verstecken, aber alle wissen es jetzt. Gerüchte darüber sind derart verbreitet, daß das ganze Volk zusammenläuft, sobald es auch nur einen Mos-
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Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 49. Zitiert nach Wittram (1964), 146. In Bezug auf Peters Aufenthalt in Preußen schreibt Wittram: „Gelegentlich warf der Zar das Inkognito auch gänzlich ab.“ Wittram (1955), 387. Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 51. Vgl. Massie (1982), 165. Vgl. Peter der Große in Westeuropa (1991), 119. Vgl. Troyat (1981), 107.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
kowiter sieht, im Glauben, es sei Seine Majestät der Zar. In Holland ist es bei hohen Strafen verboten, Zeitungsartikel zu drucken, in denen der Name Seiner Majestät erwähnt wird.84
Der Bürgermeister von Zaandam sah sich aufgrund dieser Vorkommnisse schließlich zu der Anordnung genötigt, dass „berühmte Personen, die unerkannt bleiben wollen“, nicht weiter zu stören seien.85 Dies zeigte jedoch nur wenig Wirkung, und so entschloss sich Peter nach nur einer Woche, ins weitaus größere und anonymere Amsterdam überzusiedeln.86 Peter wollte während seines Aufenthalts in den Vereinigten Niederlanden die Techniken des modernen Schiffbaus erlernen, um sie auch in seiner Heimat zur Blüte zu bringen. Dies war Teil eines groß angelegten Modernisierungsprogramms, mit dem der Zar Russland enger an Europa anzubinden hoffte. Auf Anfrage des Zaren und mit freundlicher Unterstützung des Amsterdamer Bürgermeisters erhielt Peter von der Ostindischen Kompanie eine Einladung, auf einer ihrer Werften zu arbeiten. Diese war ausgestellt auf „eine hochgestellte Persönlichkeit, die sich hier inkognito aufhält“.87 Peters Lehrmonate im niederländischen Schiffbau wurden schnell zur weit verbreiteten Legende, deren Überlieferung mit Vorsicht zu genießen ist. Fest steht, dass Peters freiwillige Herabstufung zum Handwerkslehrling ihn keineswegs davon abhielt, offizielle Ehrenbezeugungen entgegen zu nehmen. In Zaandam wurde sogar zu seinen Ehren ein Scheingefecht zur See veranstaltet. Peter nahm auf einem der Schiffe an der gespielten Schlacht teil, zu deren Beginn der illustre Gast durch eine Reihe Salutschüsse begrüßt wurde.88 Die Nürnberger Zeitung informierte am 11. September 1697 aus Amsterdam ihre Leser von einem für den Zar veranstalteten Feuerwerk, bei dem ein Triumphbogen mit Mars- und Herkules-Statue errichtet wurde. Das Wappen und auch der Name des Monarchen fanden sich ebenfalls in der verwendeten Symbolik wieder.89 Das verwendete Zeremoniell demonstrierte, dass Peter für die Dauer der Feier sein Inkognito abgelegt hatte. Dies gilt auch für eine große Festtafel, die Lefort am 21. Dezember 1697 für den Bürgermeister von Amsterdam veranstaltete.90 Der Übergang zwischen offiziellem Status und Inkognito erwies sich einmal mehr als ausgesprochen flexibel. In Utrecht hinderte das Inkognito Peter nicht daran, mit Wilhelm III., dem König von England, zusammenzutreffen, dessen Bekanntschaft er im Folgenden intensivierte.91 84 85 86 87 88 89 90 91
Brief vom 2.9.1697. Zitiert nach Vallotton (1978), 497. Massie (1982), 166. Vgl. Neumann-Hoditz (1983), 50. Massie (1982), 169. Vgl. ebd. Vgl. Peter der Große in Westeuropa (1991), 53. Vgl. Vallotton (1978), 135. Wilhelm war ab 1672 Statthalter der Niederlande, ab 1689 König von England, Schottland und Irland. Vgl. Massie (1982), 178.
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Immer wieder wechselte Peter zwischen seiner Rolle als Zar, als Unteroffizier der russischen Armee und als Lehrling im Schiffbau hin und her. Er verwandelte sich problemlos von Peter I. in Petr Michajlow und wieder zurück. Die Nürnberger Zeitung teilte ihren Lesern am 12. September in einem Bericht aus Utrecht mit, dass der Zar „in Schiffers-Habit“ dort angereist sei.92 Henry Vallotton überliefert, dass Peter in Harlem während der Durchfahrt durch den Hafen sein Gesicht verhüllt habe.93 Insgesamt ist es – nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Glaubwürdigkeit der Quellen – schwierig, die exakten zeremoniellen Bestandteile des Inkognitos zu identifizieren. Der Empfang der Gesandtschaft bei den Generalstaaten, zu der die Provinzen der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande ihre Vertreter entsandten, verdeutlicht die Modalitäten des Inkognitos. Peter reiste mit ausgewählten Mitgliedern seiner Gesandtschaft inkognito nach Den Haag. Statusgemäß schlug er die ihm angebotene, noble Unterkunft aus und quartierte sich im Gasthaus „Oud Doelen“ ein, wo er angeblich auf einem Bärenfell schlief.94 Der Empfang fand am 5. Oktober 1697 statt. Drei Gesandtschaftsmitglieder, wahrscheinlich die ersten Gesandten Lefort, Golowin und Wosnizyn, wurden von 48 niederländischen Abgeordneten empfangen. Die drei Russen trugen Medaillons mit dem Porträt Peters auf der Brust. Peter, der die Szene beobachten und den Dialog belauschen wollte – immerhin handelte es sich um ein wichtiges diplomatisches Treffen auf höchster Ebene –, verbarg sich in einem Nebenzimmer. Laut Robert Massie war er als „Edelmann im europäischen Stil“ gekleidet und trug einen blauen Anzug, eine blonde Perücke sowie einen Hut mit zwei Federn.95 Anscheinend verzögerte sich der Empfang jedoch, so dass Peter den Raum aus Ärger über die Verspätung kurzerhand verlassen wollte. Trotz seines Inkognitos konnte es der Zar nicht hinnehmen, dass man ihn warten ließ. Da der einzige Ausgang jedoch durch den Empfangsraum führte, forderte Peter die Vertreter der Generalstaaten auf, sich umzudrehen. Diese verweigerten jedoch unter Hinweis auf das Zeremoniell dem Herrscher den Rücken zuzuwenden. Peter zog daraufhin seine Perücke über das Gesicht und verließ auf diese Art den Saal.96 Der genaue Ablauf des missglückten Empfangs ist in der Forschung umstritten.97 Es kann jedoch festgehalten werden, dass die Abgeordneten von der Anwesenheit und der Identität Peters wussten. Aufgrund der kleinen Abordnung konnte Peter nicht im Empfangsraum sein. Die Anwesenheit eines 92 93 94 95 96 97
Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 54. Vgl. Vallotton (1978), 133. Vgl. Troyat (1981), 109; Vallotton (1978), 133. Vgl. Massie (1982), 179. Dieser bezieht sich auf Churchills Werk über Marlborough. Vgl. ebd.; Vallotton (1978), 134; Troyat (1981), 109. Vgl. die unterschiedliche Überlieferung bei Troyat (1981), 109.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Unteroffiziers inmitten der drei Gesandtschaftsleiter war zeremoniell nicht zu rechtfertigen. Verwirrend ist der überstürzte Abgang Peters, der durch eine Verspätung nicht ausreichend motiviert scheint. Ein Unteroffizier hätte unbegrenzt zu warten gehabt, für einen Zar war jedes Warten völlig ausgeschlossen. So kann die Szene – wie bereits vorherige Ereignisse der Reise – als Hinweis darauf interpretiert werden, dass die genauen Erfordernisse eines Inkognitos nicht eindeutig geklärt waren. Peter versuchte, das Spannungsverhältnis zwischen Inkognito und den dem offiziellem Status eines Zaren entsprechenden Unterwerfungsgesten beim Durchqueren des Saals zu lösen, indem er die Abgeordneten aufforderte sich umzudrehen. Solange sie ihn nicht sahen, entstanden keine zeremoniellen Konflikte. Als diese sich weigerten, verhüllte Peter konsequenterweise sein Gesicht. Auf jeden Fall war Peter I. von Russland nicht das einzige gekrönte Haupt, das sich des Inkognitos bediente. Die Nürnberger Zeitung berichtete am 4. September 1697, einen Monat vor dem Empfang aus Den Haag, dass einige deutsche Souveräne, darunter die Fürsten von Nassau-Saarbrücken, von HessenKassel und von Anhalt-Zerbst, so lange inkognito in der Stadt zu bleiben gedachten, bis der Zar und der König von England eintrafen.98 Inwieweit das Inkognito situationsspezifische Verhaltensweisen erforderte ohne dabei den politischen Handlungsspielraum einzuschränken, verdeutlicht Peters Abstecher nach England. Er übersiedelte im Januar 1698 für einige Monate auf die Insel, um u. a. seine gerade erst in Utrecht geschlossene Bekanntschaft mit Wilhelm III. zu intensivieren. Die Große Gesandtschaft verblieb in den Niederlanden; Peter wurde auf seiner Reise nach London, wo er den englischen König mehrmals treffen sollte, von einem 27-köpfigen Gefolge begleitet.99 Der Zar segelte auf der Yorke, einem königlichen Flaggschiff unter dem Kommando von Admiral Mitchell. Auf der Themse wechselte er in ein anderes Boot der königlichen Flotte, wobei Mitchell auf ausdrücklichen Wunsch Peters den Zar weiter begleitete.100 Peter verbrachte die ersten Tage seines Aufenthalts in einem schlichten Haus in der Norfolk Street. Dort empfing er am 14. Januar 1698 die Visite Wilhelms III. sowie einen Tag später die des sich ebenfalls gerade in London aufhaltenden dänischen Prinzen Georg.101 Auch in England war der Inkognitoaufenthalt des Zaren alles andere als ein
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Vgl. Peter der Große in Westeuropa (1991), 54. Vgl. Neumann-Hoditz (1983), 53; Donnert (1989), 47–8; Troyat (1981), 115. Vgl. Massie (1982), 181, 185. Vgl. Barany (1986), 1–16, 312. „Ce camouflage devait éviter des complications diplomatiques, mais ce n’était qu’un incognito partiel, car pour des entretiens politiques avec ses hôtes Pierre était bien obligé de reprendre son titre de tsar de Russie.“ Mieck (1998), 321. Georg von Dänemark war der Prinzgemahl der späteren Königin Anne Stuart.
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Geheimnis.102 So schrieb Narcissus Luttrell, Sammler, Historiker und für kurze Zeit auch Parlamentsmitglied, am 11. Januar 1698 in sein Tagebuch: Yesterday the Czar of Moscovy was brought from Greenwich in his Majesties barge, and at the present lyes incognito at a house joyning to the water side in Norfolk Street; he cares not to be same [seen], and when he came out of Admiral Mitchells ship, which brought him over, he caused all the seamen to goe under deck.103
Auch dies unterstreicht den flexiblen, teilweise widersprüchlichen Charakter des Inkognitozeremoniells. Während Peters Status bei der Überfahrt noch dem eines russischen Unteroffiziers entsprach, gab er diesen bei der Ankunft vorübergehend auf. Ohne sein Inkognito offiziell abzulegen, bat er sich bestimmte Ehrenbezeugungen seitens seiner Begleiter aus. Auch in England legte Peter Wert darauf, dass das Inkognito keinerlei Formen annahm, die mit mangelndem Respekt gegenüber dem russischen Zar verwechselt werden konnten. Dies bezeugt ein Brief von J. Ellis an Lord Williamson vom 14. Januar. Auch bei den gemeinsamen Mahlzeiten gab es trotz des Inkognitos zeremonielle Grenzen, welche der Zar nicht überschreiten wollte: The Czar is very much incognito here, and above all things desires to be so. All his servants sit at table with him, except his cook and one more; and it is no difficult thing to see him at table, to one that will wait there as one of the servants ordered to attend; but if anyone takes particular notice of him, he will rise from table and retire as he has done once or twice already. The King visited him this morning in Lord Romney’s coach, before he went to the Parliament to pass bills.104
Um solche Grenzbereiche des Inkognitos auszuloten, gilt es einerseits Peters eigenwilligen Charakter zu berücksichtigen sowie andererseits die Tatsache, dass er auf keinerlei zeremonielle Erfahrungswerte zurückgreifen konnte. Trotzdem war das Inkognitozeremoniell zu keinem Zeitpunkt beliebig. Dies anerkannte auch Wilhelm III., der nicht in seiner königlichen Karosse bei Peter zum Besuch vorfuhr, sondern in derjenigen Lord Romneys. Der englische König konnte nicht offiziell bei einem gewöhnlichen Russen einkehren. Streng genommen war Wilhelm daher bei seiner Visite in der Norfolk Street ebenfalls inkognito. Dabei handelte es sich nicht um eine kurzfristige Improvisation, sondern um einen sorgfältig vorbereiteten zeremoniellen Schachzug. Denn im Vorfeld waren Bertie, der Zweite Kämmerer (vice chamberlain) seiner Majestät, sowie abermals Admiral Mitchell bei Peter vorgefahren, um, wie vermutet werden kann, die Visite des englischen Königs vorzubereiten.105 Naturgemäß interessierte sich auch die englische Presse für den Aufenthalt des Zaren. Sie unterrichtete ihre Leser über das Tagesprogramm Peters und 102 103 104 105
Vgl. Barany (1986), 17. Luttrell zitiert nach Loewenson (1962), 434. Ebd., 435f. Vgl. ebd., 434.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
wies auch immer wieder darauf hin, dass er „incognito“ in London weilte.106 Der schon erwähnte Luttrell, der in mehreren Tagebucheinträgen auf Peters Inkognito zu sprechen kam, berichtet von verschiedenen Maskenbällen, an denen der inkognito reisende Zar teilnahm. Am 21. Januar 1698 erschien der „Czar among them [den Gästen – VB] incognito in a butcher’s habit.“107 Das Inkognito ermöglichte Peter private Audienzen mit gekrönten Häuptern und vergnügliche Veranstaltungen im Rahmen der hohen Londoner Gesellschaft gleichermaßen. Zusätzlich konnte er auf eigene Faust und weitgehend unbehelligt durch die englische Hauptstadt streifen. Am 23. Januar besuchte er den Kensington Palace und am 6. Februar besichtigte er die Sternwarte.108 Auch mehrere Besuche im Londoner Tower sind belegt.109 Das Londoner Publikum bestaunte ihn zwar bei seinen Theaterbesuchen, respektierte aber seine angelegte Identität.110 Ganz Europa wusste, wer hier durch London spazierte. Die Braunschweiger Zeitung berichtete ihren Lesern: „[. . . ] er fähret täglich incognito durch diese Stadt“.111 Lediglich bei einem Abstecher in die altehrwürdige Universitätsstadt Oxford wurde er von einer großen Menge Schaulustiger gestört und musste seinen Besuch abbrechen.112 Zu diesem Zeitpunkt war er bereits nach Deptford umgezogen, um auch die englischen Schiffsbauwerften ausgiebig zu inspizieren. Dort residierte er im Haus des Juristen und Schriftstellers John Evelyn, wo er am 15. Februar den Bischof von Salisbury empfing.113 Am 2. März ließ es sich der englische König nicht nehmen, eine große Flottenparade mit anschließendem Manövergefecht abzuhalten, bei welcher der Zar als Ehrengast zugegen war. Dieser stattete im Gegenzug dem englischen König am 18. April eine letzte Visite ab, bevor er am 2. Mai in die Niederlande zurückreiste.114 Bereits zwei Wochen nach seiner Rückkehr nach Amsterdam, am 15. Mai 1698, brach Peter auch hier die Zelte ab und reiste über Leipzig, Dresden und Prag nach Wien, der wichtigsten Station der Großen Gesandtschaft. Er hatte viele Visiten empfangen, die verschiedensten Einrichtungen besucht und beinahe sechs Monate auf niederländischen Werften das Handwerk des Schiff-
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The Post Boy zitiert nach Loewenson (1962), 438; siehe auch 436. Zitiert nach Loewenson (1962), 437. An anderen Stellen benutzt Luttrell auch den Begriff „incognito“. Loewenson (1962), 436f. Dabei ließ er sich von Hofmaler Sir Godfrey Kneller porträtieren. Vgl. Massie (1982), 186; Troyat (1981), 115. Vgl. Loewenson (1962), 440. Siehe auch Massie (1982), 185. Vgl. Massie (1982), 186. Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 57. Vgl. Loewenson (1962), 442. Vgl. Massie (1982), 187. Vgl. ebd., 190f.; Vallotton (1978), 136f.
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baus erlernt.115 Schiffsbaumeister Gerrit Pool ließ es sich nicht nehmen, dem gewöhnlichen Arbeiter Michajlow ein anerkennendes Diplom auszustellen.116 Dies war bereits das zweite, das er auf seiner Reise erhielt. Denn zuvor war Petr Michajlow bereits in Preußen ein Diplom für Artilleriewesen zuerkannt worden.117
1.5 Peter und der Kaiser Wien sollte eigentlich die erste Station der Großen Gesandtschaft werden.118 Immerhin bestand deren diplomatisches Ziel in einem gesamteuropäischen Bündnis gegen das expandierende Osmanische Reich. Kaiser Leopold I., der seit 40 Jahren auf dem Thron saß, war neben Ludwig XIV., gegen den Leopold gerade zehn Jahre lang den Pfälzischen Krieg (1688–1697) geführt hatte, der stärkste Mann in Europa. Im Westen von den Bourbonen unter Druck gesetzt, bedrohten die Türken sein Reich im Osten. 1683 führte Leopold den so genannten Großen Türkenkrieg, an dessen Ende er 1699 Ungarn zurückeroberte und Österreichs Status als Großmacht zementierte. Vor Peters Großer Gesandtschaft hatten nur zwei Abordnungen aus Moskau den Weg nach Wien gefunden, das Russland nicht als gleichberechtigte Macht anerkannte und keine ständigen diplomatischen Beziehungen mit ihm unterhielt.119 Zusätzlich zum zaristischen Inkognito erschwerten fehlende zeremonielle Vorläufer den Empfang der Gesandtschaft. Die Komplikationen begannen bereits mit den Modalitäten des feierlichen Einzugs in Wien, der erst am 26. Juni 1698, nach drei Tagen intensiver Debatten, stattfinden konnte. Peters Inkognito war zusammen mit dem Wunsch, den Kaiser möglichst schnell persönlich zu treffen, im Vorfeld angekündigt worden. Dies geht aus dem habsburgischen Zeremonialprotokoll zu Peters Visite hervor, einer der wichtigsten frühneuzeitlichen Quellen zur Geschichte des Inkognito: Bei dieser grossen gesandtschafft ist der Czar in Moscau selbst all’ in cognito gegenwertig gewesen, und so wohl Vor- alß gleich nach Beschehenen einzug ein großes Verlang(en) gezeigt, Ihro Kay: May. zuseh(en) auch diese seine Begierd dem Kayl. Herren Obrist Hoffmeisteren durch den Hoff-Cammer Rhat Barati zu verstehen gegeben.120 115 116
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Vgl. Massie (1982), 193; Vallotton (1978), 144. Vgl. Massie (1982), 181; Troyat (1981), 101. Eine Abschrift des holländischen Schiffbaudiploms der Ost-Indischen-Kompanie vom 15. Januar 1698 findet sich im Museum des Wohnhauses Peters in Zaandam. Vgl. Neumann-Hoditz (1983), 48; Vallotton (1978), 127. Vgl. Hennings (2008), 522f. Vgl. ebd. 520. Zeremonialprotokoll zitiert nach Schlöss (1994), 417.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Der Wiener Zeremonienmeister wusste, dass der Besuch aus Moskau für ihn mit viel Arbeit und ebenso viel Kopfzerbrechen verbunden war. Alle Versuche, Peters Status zumindest während der Begegnung zu offizialisieren, schlugen fehl. Peter, inzwischen 26 Jahre alt, wurde im „Königegg’sche[n] Gartenpalast in Gumpendorf “ untergebracht.121 Kaiser Leopold beauftragte mit Thomas Graf Tschernin, dem Vize-Kanzler von Böhmen, einen hochrangigen Diplomaten, Peter dort aufzusuchen und mit ihm die Modalitäten des Inkognitoempfangs zu vereinbaren.122 Das Zeremonialprotokoll beschreibt unmissverständlich, dass der Zar sich gegenüber Tschernin „in nichts anders ausgelaßen, alß d(aß) er ehistens gern Ihro Kayl. Mtt all’ incognito sehen mögte.“123 Ansonsten gab er sich aber durchaus flexibel, da er weder als Zar noch als Inkognitoreisender in der Lage war, seine Bedingungen zu diktieren. Schlöss zitiert in diesem Zusammenhang eine nicht eindeutig identifizierte Quelle, die vom Wunsche des Zaren berichtet, „gern Ihro Majestät all’incognito zu sehen, [. . . ] nichts zu prätendieren, sondern alles derselben anheimzustellen, wie Sie ihn tractieren wolle.“124 Außerdem versprach er: „Er würde auch von negotien nicht das geringste anbringen.“125 Das Treffen sollte also zunächst nicht für konkrete Verhandlungen über den Umgang mit dem Osmanischen Reich genutzt werden. Diese Versicherung war notwendig, da außenpolitische Fragen dieses Stellenwerts auf keinen Fall ohne detaillierte Vorbereitung und ohne die Anwesenheit hochrangiger diplomatischer Ratgeber diskutiert werden konnten. Das Treffen sollte lediglich einen ersten, persönlichen und freundschaftlichen Kontakt ermöglichen. Das erste Treffen fand am 29. Juni 1698 in der Favorita, der Sommerresidenz des Kaisers, statt.126 Damit waren immerhin acht Tage seit der Ankunft der Gesandtschaft am 21. Juni vergangen, was die Schwierigkeiten verdeutlicht, sich auf ein für beide Seiten akzeptables Zeremoniell zu einigen.127 Im Auftrag Peters vereinbarte Lefort den genauen Ablauf mit Graf Tschernin. Das Treffen sollte in einem Saal im ersten Stock des Sommerschlosses stattfinden, den Kaiser und Zar zur gleichen Zeit von entgegengesetzten Seiten betreten würden. Der Rolle von Gast und Gastgeber entsprechend, sollte Peter vom Garten über 121 122 123 124 125 126 127
Ebd. 149–151. Vgl. Hennings (2008), 534. Schlöss (1994), 419. Ebd. 152. Ebd. 154. Vgl. dazu ausführlich Massie (1982), 198; Schlöss (1994), 152; Hennings (2008), 535; Wittram (1964), 163. Siehe auch Conrads (2005), 604. Dabei hatte bereits der Sächsische Kurprinz dem Geburtstag der Kaiserin im Komödienhaus der Favorita inkognito beigewohnt, wie aus den Zeremonialprotokollen der Jahre 1739–40 hervorgeht. Vgl. Pečar (2003), 173.
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eine Treppe, Leopold jedoch von einem Innenraum her in den Saal eintreten. Anschließend würden sich beide entgegen gehen und sich genau in der Mitte des Saales, „auf der Höhe des fünften Fensters“, begegnen.128 Dies blieb allerdings graue Theorie, denn der 26-jährige Zar durchquerte den Raum wesentlich schneller als der 58-jährige Kaiser, so dass Peter den vereinbarten Treffpunkt überschritt und das sorgsam ausgearbeitete Protokoll unmittelbar zu Beginn verletzte. Der Empfang geschah „umb ein fenster nähender alß die mitte“, wie im Protokoll festgehalten wurde.129 Die Unterredung, der allein Lefort als Übersetzer beiwohnte, dauerte nicht länger als 15 Minuten, verlief jedoch ausgesprochen zufriedenstellend. Lefort zeigte sich geradezu enthusiastisch, dass sich die Monarchen sogar als „Bruder“ bezeichneten. Aus Peters Sicht entsprach diese Titulatur Moskauer Gepflogenheiten und Leopold gelang eine freundschaftliche Geste, die keine implizite Anerkennung der Gleichberechtigung beider Herrscher beinhaltete.130 Peter missachtete das Protokoll allerdings noch ein weiteres Mal: Im Anblick des Habsburgers nahm er, anders als vereinbart, seine Kopfbedeckung ab und entblößte sein Haupt als Zeichen des Respekts. Der Kaiser, der dem Zar „gleich angetragen auffzusezen“, blieb damit jedoch erfolglos und entschied sich daraufhin ebenfalls seinen Hut abzunehmen, so dass „also Beede Unbedeckter gebliben.“131 Für Hennings beweist dies, dass „here, in private, neither monarch competed over status“.132 Er arbeitet überzeugend heraus, wie innerhalb des Zeremoniells für die Große Gesandtschaft sorgfältig der Eindruck vermieden wurde, Kaiser Leopold empfinge einen gleichrangigen Gast. Denn dies wäre als Präzedenzfall für die Besuche anderer Herrscher höchst problematisch gewesen. Allein das Inkognito erlaubte es Peter, den Kaiser zu treffen, ohne als Untergebener behandelt zu werden. Das Treffen konnte hochrangige diplomatische Verhandlungen zwar keineswegs ersetzten, diese durch einen freundschaftlichen, persönlichen Austausch zwischen beiden Souveränen jedoch inoffiziell eröffnen. Aus russischer Sicht gelang Peter durch sein Inkognito sogar eine Quasi128 129
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Massie (1982), 198. Schlöss (1994), 423. Die Geste einem sozial höher gestellten Gesprächspartner demonstrativ zu schnell entgegen zu gehen, kann dabei durchaus als tradierte diplomatische Technik angesehen werden. So berichtet eine englische Quelle aus dem Jahr 1673, dass „protocols of receiving a social superior advised that the host ought to ,hasten his pace‘ as he went out to meet his superior guest.“ Zitiert nach Dillon (2010), 76. Beim Empfang der Gesandtschaft bezeichnet er den Zaren als „geliebten Bruder“ (beloved brother). Hennings (2008), 535. Schlöss (1994), 423. Auch diese Geste Peters beruhte auf einer russischen zeremoniellen Tradition. „The Russian ambassadors who visited James I in 1614, for example, would not put on their hats, no matter how often or emphatically he insisted on it, since Russian court protocol made it improper to keep one’s hat on in the presence of the Tsar.“ Dillon (2010), 79. Hennings (2008), 536.
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Anerkennung der machtpolitischen Äquivalenz von russischem Zar und römisch-deutschem Kaiser. Durch seine ausholenden Schritte kam er Leopold über die Mitte des Saales hinaus entgegen, was als zeremonielle Unterwerfungsgeste zu deuten ist. Durch das Absetzen des Hutes zwang er Leopold gleichsam, dasselbe zu tun, wollte er nicht herablassend und hochmütig erscheinen und so die diplomatischen Beziehungen strapazieren. Anstatt solche zeremoniellen Feinheiten ernst zu nehmen, hat die Forschung ebenso lange wie hartnäckig orientalisierende Stereotype eines launischen, willkürlichen und unberechenbaren Zaren tradiert. So spekuliert Henri Troyat bei der Frage nach der Kopfbedeckung: „[. . . ] nervös nahm er seinen Hut ab und setzt ihn wieder auf, bis ihn sein Gesprächspartner bat, ihn aufzubehalten.“133 Die Kopfbedeckung fungierte auch als zeremonielles Mittel und Instrument der persönlichen Kontaktaufnahme, als Peter am 8. Juli den römischdeutschen König Joseph traf, Leopolds erstgeborenen Sohn aus dritter Ehe und designierten Thronnachfolger.134 Nachdem der „Czar all’ incognito stehet, und auff alle weiß Verlanget, seine Persohn möglichst zu bedecke(n) und sich in keinen Caeremoniali auffzuhalten“, musste auch dieses Treffen sorgfältig vorbereitet werden.135 Im Hinblick auf das Zeremoniell erwies sich dies einmal mehr als ausgesprochen kompliziert. Joseph war im zarten Alter von neun Jahren seinem Vater als ungarischer König gefolgt und trug seit 1690 zudem den Titel eines römisch-deutschen Königs. Vor allem aber handelte es sich um den designierten Kaiser, der allerdings erst 1705 gekrönt werden sollte. Die Frage der Rangordnung besaß daher zeremonielles Konfliktpotenzial und wurde deswegen auf ebenso elegante wie bemerkenswerte Weise umgangen. Peter und Joseph vereinbarten, sich zufällig zu begegnen. Der Augarten, der Park des Favorita-Schlosses nahe des Wiener Zentrums, war dafür der ideale Ort: Und ist es sonsten dahin abgeredt worden, daß Ihro Mtt der König und der Czar in der grossen alleé des augartens welche auff oder mit den Thüren des gartengebäus correspondirt, einander Begegnen sollten.136
Erneut zog der Zar entgegen den vorherigen Absprachen seinen Hut. Dies konnte er mit seinem Inkognito, das einen deutlich niedrigeren sozialen Rang anzeigte, durchaus rechtfertigen. Ein einfacher Soldat konnte im Anblick eines Königs keineswegs seinen Kopf bedeckt lassen. Ebenso wie sein Vater sah sich auch Joseph gezwungen, sein Haupt vor dem offiziell Untergebenen zu entblößen:
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Troyat (1981), 116. Vgl. Jöchner (1995), 482; Wittram (1955), 401. Schlöss (1994), 431. Ebd. 439–41.
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[. . . ] da man aber Vernahmen, daß der Czar unbedeckter war, habe sie auch den hut abgethan [. . . ] hat der Czar eine etwas tiefere reverenz alß Ihro Mayt gemacht [. . . ]. Sie seint ohngefehr eine halbe Vietlstund beysammen geblieben, ohne sich zubedecken.137
Der einzige Begleiter Lefort fungierte erneut als Dolmetscher und abermals titulierten sich die beiden Monarchen mit „Bruder“.138 Inwieweit Peter in seinem Identitätsspiel reüssierte, demonstrierte er auch am 3. Juli 1698, seinem Namenstag, als er seine Gesandtschaft ein großes Fest mit 500 geladenen Gästen zu seinen Ehren veranstalten ließ.139 Höhepunkt des Abends war ein großes „Feyerwerck“, als dessen krönender Abschluss die Buchstaben „V.Z.P.A.“ stellvertretend für „Vivar Czar Petrus Alexiowiz“ in den Wiener Nachthimmel geschrieben wurden.140 Die russische Gesandtschaft ehrte ihren offiziell in Moskau verbliebenen Zaren, von dem alle Gäste und die zeitungslesende Öffentlichkeit wussten, dass er sich mitten unter ihnen befand. Der Spielcharakter des Inkognitos kam schließlich am 21. Juli im großen Stil zum Tragen, als das Kaiserpaar für Peter eine Wirtschaft veranstaltete.141 Dies war nach Peters Maskeraden in London das zweite Mal, dass er sich im Rahmen der Großen Gesandtschaft verkleidete. Wie erläutert zählten Wirtschaften schon länger zum festen zeremoniellen Divertissementbestand der europäischen Höfe und insbesondere des Habsburger Kaiserhofs. Die Wirtschaft für Peter den Großen wurde allerdings als einzige außerhalb der Faschingswochen veranstaltet, was ihren besonderen Status verdeutlicht.142 Sie bezeichnete auch eine der ganz seltenen Gelegenheiten, bei denen sich Kaiser und Zar gemeinsam weiten Teilen des Hofes zeigten. Einmal mehr eröffnete das Spiel mit Identitäten das persönliche Gespräch, indem eventuelle Rangstreitigkeiten von vorneherein ausgeschlossen wurden. Auch darin zeigt sich die von Schnitzer konstatierte „starke funktionale Übereinstimmung [der Verkleidungsbankette – VB] mit dem Inkognito“.143 Als Wirte dieser Wirtschaft empfing das Kaiserpaar seine Gäste in einem Festsaal im Erdgeschoss der Favorita, den sie zu diesem Zweck mit Malereien, Spiegeln und Blumen dekorieren ließen. Peter genoss als Ehrengast das Privileg, sein Kostüm selbst wählen zu dürfen.144 Aus der ihm überreichten „lista der nationen“ wählte er die friesische aus und kleidete sich mit der „tracht ei137 138 139 140 141
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Ebd. 441. Ebd. 443. Vgl. Hennings (2008), 534; Schlöss (1994), 155–7. Schlöss (1994), 445. Vgl. dazu ausführlich Schmücker (2007), 442ff., 449; Schnitzer (1995), 308ff.; Hennings (2008), 531ff.; Massie (1982), 199; Peter der Große in Westeuropa (1991), 155; Wittram (1964), 163. Vgl. Schmücker (2007), 438. Schnitzer (1995), 321. Vgl. Schmücker (2007), 441.
126
II. Die Reglementierung des Inkognitos
nes friesischen bauers“.145 Als Begründung gab er an, dass er dieses Kostüm aus Holland mitgebracht hätte.146 Die anderen männlichen Gäste bekamen ihr Kostüm ebenso zugelost wie ihre weibliche Begleitung für den Abend. Bei Letzterem machte auch Peter keine Ausnahme, und sein Los viel auf Johanna von Thurn, die als friesische Bäuerin an seiner Seite saß. 80 geladene Gäste sowie 40 „knecht[e] und dirne[n]“ nahmen an der Wirtschaft teil, die sich nach dem Tanz im Erdgeschoss zum Bankett in den ersten Stock verlagerte.147 Die Sitzordnung sah vor, dass Peter neben seiner friesischen Bäuerin an sechster Position zur Linken der Kaiserin Platz nahm, welche mit ihrem Gatten am Kopfende saß. Unmittelbar zur Rechten des Kaiserpaars befanden sich ein Jude und eine Jüdin, zur Linken Marktschreierin und Marktschreier. Die weiteren Nationen saßen sich in antagonistischen Paaren gegenüber – Spanier und Franzosen, Römer und Griechen, der friesländische und der holländische Bauer usw. –, wobei die ebenfalls repräsentierten Moskowiter den Polen zugeordnet waren.148 Zwei „der böhmischen sprach“ kundige Edelknaben bedienten den Zaren.149 Zwei Mal jedoch wurde ihm das Privileg zuteil, dass der kaiserliche Wirt sich selbst erhob und ihm, „wie gebräuchig“, nachschenkte.150 Einige Mitglieder der Großen Gesandtschaft, darunter Franz Lefort, mimten die Diener der verkleideten Gäste. Lefort betonte: Aber wir unterliessen nicht auf das Zierlichste (le plus proprement), wie es nur irgend möglich war, in unserer Kleidung zu erscheinen. Alle am Gastmahle gegenwärtigen waren unter sich gleich; es bestand nicht die geringste Rangordnung.151
Das Spiel mit den Identitäten erreichte seinen Höhepunkt, als der Wirt den friesischen Bauern aufforderte, mit ihm auf die Freundschaft zwischen Kaiser und
145 146 147 148
149 150 151
Ebd., 455. Vgl. Schnitzer (1995), 326; Schlöss (1994), 154; Schmücker (2007), 455–7. Schmücker (2007), 455. Allerdings war die Anordnung nach Nationen immer wieder durch andere Gäste unterbrochen. Dazu zählten u. a.: Schäfer, Soldat, Indianer, Nürnberger Bräutigam, Pilger, Jäger sowie ein Sklave. Ein Schema der Sitzordnung findet sich bei Hennings (2008), 532. Siehe auch Schmücker (2007), 456–60. Im Zeremonialprotokoll steht unter „frißländischer Baur“ „Der Groß Czaar von Moscau“. Schmücker (2007), 458. Zitiert nach Schmücker (2007), 456. Die Anrede gegenüber dem Zaren ist im Protokoll nicht erwähnt. Vgl. Schmücker (2007), 444. Ebd., 455. Zitiert nach Posselt (1866), 495. „Das höfische Zeremoniell war keinen Augenblick außer Kraft gesetzt.“ Peter der Große in Westeuropa (1991), 156. Wie aus dem Zeremonialprotokoll der Wirtschaft hervorgeht, drapierten sich alle auf das Prunkvollste: „[. . . ] und insbesonderheit das Hohe Frauen-Zimmer mit den fast unschätzbahren reichbeschmuckten Kleydern / jedoch jedwederer nach Brauch und Arth seiner vorstellenden Nation [. . . ].“ Schmücker (2007), 461.
1. Der große Präzedenzfall
127
Zar zu trinken.152 Auch hier war die allseitige Kenntnis der Identitäten die Bedingung, dass diese politische Geste im entpolitisierten Raum ihre Wirkung entfalten konnte. Ohne die osmanische Frage auch nur zu erwähnen, ebnete die Wirtschaft den Weg, sie in einer produktiven Atmosphäre zu diskutieren. Außerdem milderte sie die Spannungen, die aus den schwierigen Verhandlungen zum offiziellen Empfangszeremoniell der Gesandtschaft resultierten. Dieses hatte auch exakt einen Monat nach der Ankunft immer noch nicht zelebriert werden können. Die Wirtschaft „lessened the tension resulting from the negotiations about state ceremonies.“153 Drei Tage später, am 24. Juli 1698, trafen sich Kaiser und Zar erneut und tauschten eine Viertelstunde lang Komplimente aus. Am darauffolgenden Tag verabschiedete sich der Zar, wiederum inkognito, von der kaiserlichen Familie.154 Auffällig ist, wie Jan Hennings nachgewiesen hat, dass die Treffen, bei denen keine politischen Inhalte zur Sprache kamen, jeweils zu Zeitpunkten anberaumt wurden, an denen sich die diplomatischen Gespräche an einem toten Punkt befanden.155 Wie schwierig sich diese gestalteten, verdeutlicht die Tatsache, dass der offizielle Empfang der Großen Gesandtschaft beim Kaiser erst am 28. Juli, einen Tag vor der Abreise der Russen, erfolgte.156 Das beim Empfang anzuwendende Zeremoniell war weit mehr als ornamentales Beiwerk; es musste die Verhandlungsergebnisse symbolisieren und kommunizieren.157 Das hierarchische Verhältnis von Kaiser und Zar bezeichnete dabei den neuralgischen Punkt. Es ging u. a. um die zu verwendende Titulatur und die Überreichung der Geschenke der Moskowiter an den Kaiser. Dessen Berater hatten gefordert, Leopold die Gaben zu Füßen zu legen. Die Unterhändler der Gesandtschaft lehnten dies ab, da sie fürchteten, dadurch könnten die Geschenke wie Tributzahlungen wirken. In Bezug auf den offiziell in Moskau gebliebenen Zaren, der dem Empfang inkognito beiwohnte, wurde vereinbart, dass der Kaiser sich nach dessen Gesundheit erkundigen und dabei seinen Hut berühren, ihn jedoch nicht abnehmen solle. Der Gesandtschaftssprecher Lefort würde daraufhin versichern, dass alles zum Besten stünde.158 Immer wieder wird der ludische Charakter des Inkognitos deutlich. Es handelte sich um ein Spiel „[that] invited everybody to pretend that he was ab-
152 153 154 155 156 157 158
Vgl. Lünig (1719), Bd. 1, 159. Siehe auch Hennings (2008), 533. Hennings (2008), 533. Vgl. Schlöss (1994), 159. Vgl. Hennings (2008), 538. Auch die Unruhen in Russland, die Peters Herrschaft bedrohten, konnten daran nichts ändern. Vgl. Hennings (2008), 527. „Sie liesßen sich mit dem praedicat excellenz und in tieffem respect von allem tractieren.“ Zeremonialprotokoll zitiert nach Körbl (2007), 596. Vgl. Hennings (2008), 528, 531; Schlöss (1994), 150.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
sent“.159 Die Spielregeln waren mit größter Sorgfalt im Vorfeld ausformuliert worden. Dies wurde auch am Namenstag des Kaisers, dem 3. Juli, deutlich, als Peter inkognito die Wiener Oper besuchte, was ebenfalls detailliert im Zeremonialprotokoll festgehalten wurde: [. . . ] wobei auch der Czar mit seiner gesandtschaft all’incognito erschienen, für welche man eine Logia Hinten gegen der Galeria Zugericht, Worinn(en) die 3. gesante und der Czar Hinter Ihn(en), (damit er nicht gesehen sollte werden) geseßen, und zwischen den(en) durchgeschauet [. . . ].160
Auch ein gewisser „Cardinal Colonits“ war laut Protokoll „all’ incognito erschienen“, was verdeutlicht, dass diese zeremonielle Spielart nicht ausschließlich dem Zaren vorbehalten war.161 Das zaristische Inkognito nahm verschiedene Formen an, wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt des fünfwöchigen Aufenthalts in Wien abgelegt.162 Es kam auch zum Tragen, wenn Peter – ähnlich wie in England und den Niederlanden – die Sehenswürdigkeiten der Stadt aufsuchte. Die Bemerkung im Theatrum Europeum von 1707, dass er „täglich sich verkleidet / um nicht erkannt zu werden“, ist dabei irreführend.163 Vielmehr wollte Peter zu erkennen geben, dass er nicht erkannt werden wollte. Gerade im öffentlichen Raum bestand jedoch die Gefahr, dass sich der eine oder die andere nicht auf das Identitätsspiel einließ. Immerhin berichteten die Zeitungen in ganz Europa seit Monaten ausführlich von der Reise des Zaren. Ein Bericht der Nürnberger Zeitung illustriert die Spaziergänge des Zaren im kleinen Gefolge: Er gieng stets mit blossem Haupt / hatte ein schlechtes braunes Camisol an / worunter man diese hohe Person nicht gesucht hätte; es ist ihm alle Ehre / widerfahren und angethan worden.164
Die Bewohner Wiens wussten, dass der russische Zar in ihrer Stadt weilte und sich insbesondere für die Stätten der türkischen Belagerung interessierte.165 Auch die Inkognitotreffen mit dem Kaiser wurden der Öffentlichkeit keineswegs verheimlicht. Die Leipziger Zeitung schilderte die erste Begegnung der beiden Monarchen im Detail. Sie beschrieb nicht nur, wie Peter „gantz incognito / in des Grafen Thomä Tschernin / der als Kayserl. Commissarius bey ihm war / Kutschen mit 2. Pferden begab“,166 sondern auch den scheinbaren Zwischenfall, bei dem der Zar „in Ansehung seiner starcken Schritte“ dem Kai159 160 161 162 163 164 165 166
Hennings (2008), 526. Schlöss (1994), 429. Ebd., 431. Vgl. Hennings (2008), 541. Zitiert nach Schnitzer (1995), 326. Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 60. Vgl. Schlöss (1994), 155. Zitiert nach Peter der Große in Westeuropa (1991), 60.
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ser zu weit entgegen kam. Die gezielte Weitergabe dieser nur einem kleinen Personenkreis zugänglichen Information legt nahe, dass es sich hier um sorgfältig durchdachte Öffentlichkeitsarbeit handelte. Die Leser erfuhren ebenso, dass sich die beiden als Bruder bezeichneten und „der Kaiser nöthigte den Czaar sich zu bedecken / so er auch thäte / aber bald den Hut wieder abnahm.“167 Die Beraterstäbe erlaubten, dass die Information durchsickerte, wobei die Topoi Bruder, Hut und zu schnelles Entgegengehen im Mittelpunkt standen. Über die schwierigen Verhandlungen des offiziellen Gesandtschaftsempfangs wurde hingegen genauso der Mantel des Schweigens gebreitet wie über die außenpolitischen Absprachen zur Osmanischen Frage.168
1.6 Die Beweggründe des Inkognitos Das Inkognito leistete Peter dem Großen während seiner Europareise, besonders aber in Wien, große Dienste.169 Es machte ihn keineswegs zum müßiggängerischen Privatmann, sondern ermöglichte ihm – ganz im Gegenteil – vielfältige Aktivitäten, die seinen politischen Absichten zu Gute kamen. Der Zar wollte sein Land modernisieren und es als gleichberechtigte europäische Großmacht etablieren. Moderne Schiffbautechniken, mit deren Hilfe Russland zu einer führenden Seemacht aufsteigen sollte, waren dafür unerlässlich. In Amsterdam gelang es Peter, sich diesbezüglich einen detaillierten Einblick zu verschaffen. Vor allem aber tauschte er sich mehrmals mit den wichtigsten Männern Europas aus, ohne in der Öffentlichkeit als Vertreter einer zweitrangigen Macht zu erscheinen. Durch das Inkognito wurde dabei das staatsmännische Zeremoniell nicht verletzt. Immerhin konnte der Kaiser den Zar nicht mit allen Ehren empfangen, ohne damit einen Präzedenzfall zu schaffen, auf den sich andere Monarchen in der Folge berufen konnten. Ein offizieller Empfang des Zaren wäre einer offiziellen Aufnahme Russlands ins europäische Konzert der Mächte gleichgekommen.170 In der Frühen Neuzeit besaß das Zeremoniell eine legitimierende Funktion.171 Einmal angewendet, ermöglichte es verschiedenen Höfen sich darauf zu beziehen, es selbst anzuwenden und seine Anwendung ihnen gegenüber einzufordern. So waren bei den Kammerfesten am Wiener Hof, einem Bestandteil der jährlichen Feierlichkeiten, auswärtige Gesandte und Botschafter nur inkogni167 168 169 170 171
Ebd., 61. Vgl. Hennings (2008), 538–42. Peter bediente sich auf seinen Reisen nach Karlsbad 1711 und 1712 erneut des Inkognitos unter dem Pseudonym eines „contre-amiral Pierre Michailow“. Mieck (1998), 21. Vgl. dazu ausführlich Hennings (2008), 515, 524–9, 536ff. Vgl. auch Roosen (1980). Laut Wolf wirkte das Zeremoniell „comme une loi“. Wolf (2006), 151.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
to willkommen. Um Präzedenzstreitigkeiten zu vermeiden, durften sie von der Bühne aus zusehen, jedoch nicht selbst teilnehmen.172 Das komplizierte Zeremoniell erschwerte Monarchentreffen, die deshalb immer seltener wurden. Daher ist es bemerkenswert, dass sich Peter der Große und Leopold I. nicht weniger als vier Mal in nur fünf Wochen begegneten. Ohne das Inkognito wäre dies nicht möglich gewesen: The language of hierarchy represented in the public ceremonies contradicted the language of brotherhood represented at the private meetings, and both conflicted with the language of practical politics represented in the negotiations about the Ottoman war.173
Die Forschung hat die Bedeutung des Inkognitos für Peters Große Gesandtschaft lange Zeit verkannt.174 Immer wieder ist es als Spleen eines ebenso seltsamen wie despotischen Herrschers beschrieben worden.175 Eine gewisse Orientalisierung ist unverkennbar, wenn Troyat bemerkt: „Doch was für ein seltsames Verhalten für einen Herrscher! Diese Russen kamen wirklich vom Ende der Welt, und ihre Einfälle widersprachen aller Vernunft.“176 Der Zar durchbrach sein Inkognito keineswegs „nach Laune und Gefallen“.177 Auch andere Erklärungen sind ebenso voreilig wie vorurteilsbeladen. Es ist schlicht falsch, dass Peter „auf Prunk und das Hofzeremoniell“ keinen Wert gelegt habe oder „aus einfacher Wissbegier“ nach Europa gereist sei.178 Der Zar suchte mit seinem Inkognito weder die Freiheiten eines Privatmannes, noch schlüpfte er in „die Rolle des einfachen Mannes, einmal um darin Spaß zu haben, ein andermal um Dinge gründlich kennenzulernen“.179 Allerdings bleiben einige Facetten des Inkognitos Peters des Großen ungeklärt. Dazu zählen auch die Unstimmigkeiten über den verwendeten Inkognitonamen, die tiefere Ursachen haben als Transkriptionsschwierigkeiten aus dem
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175 176 177 178 179
Vgl. Pečar (2003), 172. Hennings (2008), 544, siehe auch 539. Eine frühe und bemerkenswerte Ausnahme war dabei Thomas Macauley. Dieser sprach von Peters Inkognitoreise als „an epoch in the history, not only of his country but of our’s, and of the world’s.“ Zitiert nach Barany (1986), 69. „Pierre se moquait des raffinements protocolaires et choquait le monde diplomatique par ses actions spontanées.“ Mieck (1998), 320. Troyat (1981), 99. Wittram (1955), 377; „Peter selbst hat das Inkognito nicht überall eingehalten, er durchbrach es unterwegs je nach Laune und Gefallen.“ Wittram (1964), 133. Schippan (1996), 22. Vgl. auch Massie (1982), 143f. Schlöss (1994), 150. Siehe auch Peter der Große in Westeuropa (1991), 43. „Das Inkognito hatte seine Schattenseiten, aber es war die einzige Form, in der Peter sich die Freiheit sichern konnte, deren er für seine Zwecke und zu seinem Wohlbefinden bedurfte.“ Wittram (1964), 157. „[. . . ] all das, was den Czaren zum Czaren machte – zeitweilig gering zu achten, ohne den Kern zu verlieren.“ Wittram (1964), 132.
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Kyrillischen.180 Problematischer ist die bereits unmittelbar von den Zeitgenossen betriebene Legendenbildung, die von der Forschung nur allzu oft unkritisch übernommen wurde. So versichert Troyat seinen Lesern, Peter sei als „Piter Timmermann“ in Oostenburg angestellt gewesen.181 Damit stößt er letzten Endes ins selbe Horn wie Albert Lortzing mit seiner komischen Oper Zar und Zimmermann von 1837. „The incognito took odd forms, if one is to believe contemporary accounts that the tsar, who was six feet seven inches tall, sometimes lifted up a dwarf to cover his face.“182 Solche Legenden dürfen jedoch nicht einfach als unglaubwürdige Quellen abgetan werden. Sie kommunizieren vielmehr ein bestimmtes Herrscherbild. Dabei sind die Geschichten, die sich um das Inkognito ranken, Teil einer langen Erzähltradition. Welche Aufgabe erfüllte eine Anekdote, in der Peter einem „gewissen Cornelius“183 oder auch einem gewissen „Albertzoon Black“ eine Ohrfeige gibt, als dieser zu nahe an ihn heran tritt?184 Hier wird das Bild eines starken und unabhängigen Herrschers gezeichnet, das auf seine politische Funktion zu untersuchen ist und nicht darauf, wie der Geschlagene hieß oder ob es eine solche Ohrfeige je gegeben hat.
180 181 182 183 184
Vgl. Troyat (1981), 96, 101; Donnert (1989), 45; Vallotton (1978), 125; Peter der Große in Westeuropa (1991), 22; Hennings (2008), 523. Troyat (1981), 108. Hennings (2008), 524. Troyat (1981), 106. Vallotton (1978), 131.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus 2.1 Gesammelte Zeremonielle Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich das Inkognito als ein Zeremoniell etabliert, das dem Adel vorbehalten war und hauptsächlich auf Reisen angewandt wurde. Mit der Großen Gesandtschaft Zar Peters I. von 1697/98 hatte – obwohl Russland gerade erst begann zur europäischen Großmacht aufzusteigen – ein wichtiger europäischer Herrscher einen viel beachteten Präzedenzfall geschaffen, der die Verwendung des Inkognitos auf höchster diplomatischer Ebene legitimierte. Das Journal de la réception du duc de Mantoue verdeutlicht, welche zeremoniellen Versatzstücke das Inkognito zu diesem Zeitpunkt auszeichneten. Im April 1704 reiste Karl IV. Ferdinand von Gonzaga, der letzte Herzog von Mantua (1665–1708), nach Paris, um seine Hochzeit mit Susanne Henriette von Lothringen zu arrangieren.1 Ein Jahr zuvor war Anna Isabella von Modena, seine erste Frau, gestorben, und die geplante zweite Ehe mit der Tochter des Herzogs von Elbeuf erforderte die Zustimmung des französischen Königs. Um die anstehenden Verhandlungen nicht durch eine offizielle Visite und den damit verbundenen zeremoniellen Anforderungen zu belasten, beschloss Karl inkognito zu reisen.2 Zunächst ließ er seinen Abgesandten Truzzi Erkundigungen einholen, ob der Hof in Versailles eine Inkognitovisite empfangen würde. Ludwig XIV. hatte keine Einwände und beauftragte Baron de Breteuil mit den notwendigen Vorkehrungen. Karl reiste unter dem Pseudonym eines Marquis de San Salvador. Im Auftrag des französischen Königs begleiteten Baron de Gergy, ein französischer, und Marquis Monteleon, ein spanischer Delegierter, den Herzog auf seinem Weg von Mailand über Lyon nach Paris.3 Baron de Gergy ordnete an, dass Karl IV. Ferdinand auf den einzelnen Reisestationen zwar mit Kanonenschüssen und Geschenken willkommen geheißen, jedoch kein öffentlicher Empfang für ihn und sein immerhin 83-köpfiges Gefolge veranstaltet werden durfte. Die lokalen Autoritäten befolgten die Regeln des Identitätsspiels und verrieten zu keinem Zeitpunkt, dass sie wussten, wer sich hier als Marquis de San Salvador ausgab. Allerdings legten sie das Inkognitoze1 2 3
Im Französischen wird Karl zumeist als Charles III gezählt. Vgl. Journal de la réception du duc de Mantoue (1704), 155. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 157.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
remoniell durch die Kanonenschüsse durchaus großzügig aus. Dies setzte sich in Paris fort, wo Ludwig XIV. Karl das Palais de Luxembourg zur Verfügung stellte, das zu diesem Zweck unter großen Kosten neu möbliert worden war. Die Unterbringung in einem Gebäude der königlichen Familie widersprach eigentlich dem Inkognito. Ludwig ließ sich jedoch vom Argument Breteuils überzeugen, dass diese „ferait connaître à l’Europe entière la reconnaissance qu’Elle [Ludwig – VB] conservait de sa [Karls – VB] fidelité“.4 Auf diese Weise steigerte Ludwig XIV. die politische Wirkung des Inkognitos, da die von Breteuil treffend vorhergesagte „attention du public“ die öffentliche Kommunikation der königlichen Geste sicherstellte.5 Breteuil befand, dass Karls incognito [était – VB] la plus extraordinaire chose qui ait encore été vue en ce genre, car rien n’est assurément plus singulier qu’un inconnu qui traîne à sa suite deux hommes avec un caractère public d’envoyés des deux premières couronnes de l’Europe.6
Auf Grund des Inkognitos fuhr Karl IV. bei seinem Besuch in Versailles nicht mit der Kutsche vor, sondern ließ sich in einem Stuhl über den Schlosshof tragen. Die königliche Garde marschierte nicht zum Empfang auf, es fanden keine öffentlichen Ehrenbezeugungen statt, und bei Tisch wurde der Gast nicht von den Offizieren des Königs bedient. Während der gesamten Visite titulierte und behandelte der französische Hof Karl als Marquis de San Salvador.7 Die persönliche Unterredung Karls IV. mit Ludwig XIV. zu organisieren, erwies sich für Breteuil als besonders kompliziert. Bei seiner Vorbesprechung mit dem französischen König verwies er hinsichtlich der bereits beim Inkognito Peters des Großen virulenten Frage der Kopfbedeckung auf zeremonielle Vorläufer und damit auf Präzedenzfälle. Der dänische Thronfolger Friedrich, der spätere Friedrich IV., hatte 1693 trotz seines Inkognitos unter dem Pseudonym Graf von Scharvemburg seinen Hut beim Gespräch mit Ludwig XIV. aufbehalten.8 Breteuil brachte auch die Möglichkeit ins Spiel, ähnlich wie bei Zar Peters Aufenthalt in Wien, ein zufälliges Treffen zu arrangieren. Beides lehnte Ludwig ab. Stattdessen sollte Karl unbedeckt auf den französischen König zugehen, der ihm nicht entgegengehen und seinen Hut demonstrativ neben sich auf den Tisch legen würde. Als der so empfangene Marquis de San Salvador auf dem Weg zum Speisesaal sich seines Status entsprechend hinter dem König einord4 5 6 7 8
Ebd., 158. Ebd., 158. Siehe auch 170 Ebd., 158. Vgl. Journal de la réception du duc de Mantoue (1704), 159, 163–4, 183-9. Siehe auch Bély (1999), 487f. Vgl. dazu Breteuils Mémoire pour le roi, in: Journal de la réception du duc de Mantoue (1704), 160–8. Vgl. auch Langen (2002), 148. Bély (1999), 480, gibt hingegen das Pseudonym „Comte d’Oldenbourg“ an. Unter diesem Pseudonym hielt sich Friedrich anscheinend inkognito in Venedig auf. Vgl. Johnson (2011), 129f.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
135
nete, erwies dieser ihm die Ehre, sich neben ihn zu gesellen, wodurch er, ohne das Inkognito zu verletzen, die Verbundenheit der beiden Souveräne signalisierte.9 Die vorauseilende Anfrage, die Organisation durch eigens dafür bestimmte Personen und die Annahme eines Pseudonyms gehören zu den idealtypischen Kriterien des Inkognitos. Die Titulatur, die abgesetzte Kopfbedeckung sowie die Modalitäten der Unterbringung und des Empfangs setzten das Inkognito zeremoniell um und zeigten es an. Unter Rückgriff auf Präzedenzfälle an anderen Höfen verständigte man sich über den detaillierten Ablauf der Visite und erarbeitete ein für alle Beteiligten verbindliches Zeremoniell. Dieses wurde anschließend, wie im Falle des Journal de la réception du duc de Mantoue, schriftlich festgehalten und tradiert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts blickten die europäischen Höfe auf eine Jahrhundertealte Zeremonientradition zurück, die weit über das Inkognito hinausging. Die Bedeutung des Zeremonienwesens war im Laufe der Frühen Neuzeit beständig angewachsen und erreichte im Absolutismus ihren Höhepunkt. Nun entstanden in kurzen Abständen die großen Standardwerke der sich formierenden Zeremonialwissenschaft. Autoren wie Lünig, Stieve, Rohr, Du Mont oder Rousset ordneten überlieferte Zeremonielle, klassifizierten sie nach bestimmten Gesichtspunkten und machten sie einer Öffentlichkeit jenseits der Höfe zugänglich. Das höfische Zeremonienwesen wurde normiert, kodifiziert und festgeschrieben. Diese ersten Werke versuchten jedoch keine Analyse des Zeremonienwesens. Es handelte sich um ausführliche und detailverliebte Beschreibungen der verschiedensten in der Vergangenheit praktizierten Zeremonien. Die zumeist chronologisch angelegten Darstellungen zeigten legitimierende Traditionslinien auf. Einerseits stehen diese Zeremonienschriften daher in der Kontinuität der Fürstenspiegel, Kleiderordnungen, Manierbücher und Zeremonialprotokolle des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit.10 Andererseits unterscheiden sich die im frühen 18. Jahrhundert verfassten Schriften deutlich von diesen Vorläufern. Denn sie zielten auf eine dezidierte Zeremonialwissenschaft ab, auf einen Nachweis der Legitimationskraft und der politischen Notwendigkeit des Zeremoniellen. Volker Bauer sieht in Friedrich Wilhelm von Winterfelds Teutsche und 9
10
„[. . . ] l’incognito étant bien mieux marqué quand on ne se couvre point“. Journal de la réception du duc de Mantoue (1704), 168; „l’incognito permettant ces sortes d’,improvisate‘“. Ebd., 185. Auf der Rückreise übernachtet Karl in Fontainebleau auf Grund des Inkognitos bei seinem „envoyé“. Ebd., 195. Vgl. Stannek (2003), 336. Dazu kamen frühe Vorläufer, wie der 1558 in Italien posthum veröffentlichte Galateo overo de’costumi von Giovanni Della Casa (1503–1556), der 1597 auch ins Deutsche übersetzt wurde.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Ceremonial-Politica von 1700 das Erstlingswerk der entstehenden Zeremonialwissenschaft.11 Für Miloš Vec ist Gottfried Stieves 1715 veröffentlichtes Europäisches Hof-Ceremoniel, das bereits 1723 in einer überarbeiteten Auflage erschien, das erste Beispiel für die Systematisierung des Zeremoniells im Kontext der Frühaufklärung.12 Stieve definiert Zeremonien als eine unter den Souverains, oder ihnen gleichenden Personen, ex Pacto, Confuetudine, Possessione eingeführte Ordnung, nach welcher sie sich, deren Gesandten und Abgesandten, bey Zusammenkünften zu achten haben, damit keinem zu viel noch zu wenig geschehe.13
Stieve hebt auf die politische Funktion des Zeremoniells ab und unterstreicht, dass kleinste Details größte Bedeutungen entfalten. Er interpretiert Kleidung, Gesten und Körperhaltung als zeremonielle Fixpunkte politischer Botschaften. Denn das Zeremoniell betrifft alle dasjenige was man ratione 1. Stellung des Leibes, v.g. Reverentz, Kniebeugung, 2. Der Kleidung, v.g. Trauer-Habit, Burgundische Kleidung, 3. Des Gehens, Sitzens und Stehens, v.g. zur Rechten oder zur Lincken, ist. Voran oder hinten nach, etc. zu thun gewohnet oder genöthiget ist.14
Es ist gleichermaßen überraschend und bezeichnend, dass Stieve das Inkognito nicht erwähnt. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt geläufig und durch einen wichtigen Präzedenzfall legitimiert war, nahm es eine Sonderstellung im zeremoniellen System ein. Denn das Inkognito bezeichnete eine Art Antizeremoniell, das half, aufwendigere und offiziellere Zeremonien zu umgehen. Stieve interessierte sich hingegen durchaus für zeremonielle Probleme, die Zusammenkünfte von hohen Herren mit sich brachten. So kommt er implizit auf das Inkognito zu sprechen, indem er erläutert, dass Treffen zwischen zwei Herrschern „manchesmahl mit besondern, manchesmahl wiederum fast ohne alle Ceremonien, vorgenommen wurden.“15 Zudem ließen sich viele Zusammenkünfte nachweisen, bei denen das gängige Zeremoniell keine Anwendung fand, ohne dass sich daraus besondere Konflikte ergaben. Solche entstünden nur, wenn Herrschertreffen in „ordinären Zeitungen, als auch in denen Monathlichen Journals aufgemercket zu finden“ seien.16 Damit thematisiert Stieve das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Bekanntmachung und zeremoniellem Geheimnis. Das Inkognito bot als öffentlich gespieltes Geheimnis eine Möglichkeit, diese Spannung aufzulösen. 11
12 13 14 15 16
Vgl. Bauer (1997), 72. Winterfeld referiert darin allerdings zu großen Teilen Zeremoniendarstellungen aus Matthäus Merians zwischen 1633 und 1738 in 21 Bänden erschienenen deutschsprachigen Theatrum Europaeum. Vgl. Vec (1998), 24–33, besonders 26f. Vgl. ebd., 43. Stieve (1723), 2. Zitiert nach Bauer (1997), 77. Siehe auch Rahn (1997), 179. Stieve (1723), 165. Ebd., 173.
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1719/20 legte Johann Christian Lünig mit den zwei Bänden seines Theatrum Ceremoniale die erste zeremonialwissenschaftliche Abhandlung vor, die das Inkognito explizit anspricht. Die Schrift verstand sich als Historisch- und Politischer Schauplatz aller Ceremonien, deren Ursprung für Lünig in nichts anderem als „der menschlichen Wollust“ lag.17 In der Vorrede seiner Abhandlung offenbarte er seine kritische Distanz zur Legitimität und Notwendigkeit von Zeremonien: Ceremonien sind Gebräuche, wodurch diejenigen, welche von der göttlichen Vorsehung über das gemeine Glück anderer Menschen sind erhoben worden, Ihre Hoheit und Vorzug wollen verehret wissen.18
Im gesamten Text betont Lünig, die entscheidende Funktion von Zeremonien bestünde darin, die gesellschaftliche Ordnung zu sichern und zu erhalten. „Es würde in Ermangelung dergleichen Reglements eine grosse Unordnung entstehen, welche doch in Societate humana & civili möglichst zu evitieren.“19 Damit unterstreicht er den restriktiven Charakter von Zeremonien, die das „führnehmste Behauptungs-Mittel des ganzen Polizey-Wesens“ seien.20 Anders als Stieve versteht Lünig das Inkognito dezidiert als Zeremoniell und rekonstruiert, genau wie bei anderen Zeremonien, mehrere konkrete Fälle. Allerdings erwähnt er als ältestes Beispiel Zar Peters des Großen gerade einmal 20 Jahre zurückliegende Inkognitoreise nach Wien. Lünig verweist ebenso auf Peters „Submission“ wie auf die Tatsache, „daß er nur incognito und als ein particulierer Prinz zum Kayser gekommen“.21 Insbesondere die Episode um die aufzusetzende oder abzulegende Kopfbedeckung erörtert er detailliert.22 Außerdem berichtet Lünig, wie der Kurfürst von Köln 1706 unter dem Pseudonym eines Marquis von Franchimont inkognito an den französischen Königshof reiste. Damit thematisiert er eine weitere Variante des Inkognitos, da der Besucher offiziell als alter Freund vorgestellt und dadurch der Verzicht auf offizielle Empfangszeremonien begründet wurde: „Sie sollten an dem königlichen Hofe nicht fremde thun / und dannenhero auch keine Ceremonien erwarten, weil sie daselbst gleichsam zuhause wären.“23 Als der bayerische Kurfürst Max II. Emmanuel drei Jahre später ebenfalls nach Versailles reiste, entstanden im Vorfeld erhebliche Streitigkeiten über das angebrachte Zeremoniell. Einmal mehr eröffnete das Inkognito einen Ausweg, und es wurde vereinbart alle Visiten im Rahmen des offiziellen Aufenthalts „zu 17 18 19 20 21 22 23
Lünig (1719), 1. Ebd., 4f. Ebd., 1334. Ebd. Ebd., 157. Vgl. ebd., 480. Siehe dazu auch Jöchner (1995), 471. Lünig (1719), 229.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Vermeidung allen Nachtheils, incognito aufzuführen“. So gelang es dem bayerischen Kurfürst, „unter dieser Masque ein und das andere mahl mit dem König ins geheim zu conferiren.“24 Auch in diesem Fall ermöglichte das Inkognito diplomatische Gespräche in politischen Krisenzeiten. Immerhin war Bayern von österreichischen Truppen besetzt, und Max II. Emmanuel residierte erst wieder 1715, nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, als Kurfürst in Bayern. 1709 half das Inkognito sowohl den abgesetzten bayerischen Kurfürst als auch dem regierenden französischen König aus dem hierarchisch-herrschaftlichen Dilemma und erwies sich schließlich als die einzige Möglichkeit, sich ohne Preisgabe dynastisch-monarchischer Prinzipien an einen Tisch zu setzen.
2.2 Das Zeremoniell als Wissenschaft Nur wenige Jahre später, 1728/29, veröffentlichte Julius Bernard von Rohr die nächste gewichtige deutschsprachige Abhandlung zum Zeremonienwesen. Rohrs Werk unterscheidet sich allerdings deutlich von Stieve und Lünig, denn es beruht auf einer größeren Anzahl von Beispielen und versucht, diese nicht nur nachzuerzählen, sondern sie mit wissenschaftlichen Methoden zu analysieren. Rohr unterteilt seine Ceremoniel-Wissenschaft in zwei Bände, die sich mit „Privat-Personen“ und mit „grossen Herren“ beschäftigen. Die Ceremoniel-Wissenschaft der grossen Herren rekurriert explizit auf Lünig und verdeutlicht, dass sich nicht nur Zeremonielle, sondern auch die ihnen gewidmete Literatur fortwährend auf Vorläufer bezogen. Im Unterschied zu Lünig kommt Rohr schon zu Beginn auf verschiedene, durch Kleidung angezeigte Formen des Identitätswechsels und ihrer politischen Funktionen zu sprechen: Im übrigen ist aus der alten und neuen Historie bekannt, daß einige kluge Regenten, aus besonderer Politique, ihre Fürstlichen Kleider zu Zeiten mit ganz geringen verwechselt, und hiedurch theils zur Abend-Zeit in ihren Fürstlichen Residenzen, theils und vornehmlich aber an auswärtigen Oertern ihres Landes, eines und das andere ausgekundschafftet und erfahren, welches ihnen sonst als Landes-Regenten, wenn sie in ihrer größten Pracht angethan gewesen wären, nimmermehr, oder doch vielleicht nicht so bald, nicht so vollständig und accurat würde zu Ohren gekommen seyn.25
Diese Technik neugieriger Herrscher bezeichnet für den Zeremonialwissenschaftler Rohr kein Inkognito, was im Hinblick auf Monarchen des aufgeklärten Absolutismus noch von Interesse sein wird. Obwohl der Herrscher Rang und Namen aus dezidiert politischen Gründen ablegt, sind zwei – auch von Rohr als solche verstandene – grundlegende Kriterien des Inkognitos nicht erfüllt: 24 25
Ebd. Rohr (1733), 33.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
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Die wahre Identität des Inkognitoträgers ist den Beteiligten nicht bekannt und die Begegnung des Regenten mit seinen Subjekten verläuft ohne jegliche Zeremonien. In Rohrs Interpretation enthält diese Form der Anonymisierung keine ludischen Elemente; der Versuch, authentische Informationen zur akkuraten Herrschaftsausübung zu erlangen, ist kein Spiel, auf das sich die Untertanen bewusst einlassen. Die Verkleidung soll die Identität tatsächlich verbergen. Daher verwendet Rohr den Begriff inkognito erst im Abschnitt über das Reisen: Vor der Reise erwehlen sie diejenigen Cavaliere und andere Bediente, die sie auf die Reise mitnehmen wollen, und reguliren, nachdem sie entweder öffentlich ihrem Stande gemäß, oder, wie es mehrmals zu geschehen pflegt incognito reisen wollen, oder nach den unterschiedenen Endzwecken, die sie sich bey ihrer Reise vorgesetzt, eine größere oder kleinere Hofstatt.26
Als erster Zeremonialwissenschaftler versteht Rohr das Inkognito nicht als die Aufhebung, sondern als eine spezielle Spielart des Zeremoniells. Stärker als Stieve und Lünig insistiert er auf der Funktion des Inkognitos, durch das politische Konflikte vermieden bzw. entschärft werden können. So etwa wenn Territorien durchquert werden sollen, mit deren Herrschern man keinen guten Umgang pflegt: Wo sie es aber nicht ändern können, so reisen sie zwar durch, aber nur incognito, lassen sich bey Hofe nicht melden, und schicken auch keinen Cavalier nach Hofe, um ein Compliment daselbst bey der Herrschaft abzulegen.27
Rohr geht stillschweigend davon aus, dass der tangierte Herrscher über die Inkognitofahrt informiert ist. Aber auch bei persönlichen Zusammenkünften reduziert das Inkognito politisches Konfliktpotenzial: Zu Vermeidung mancherley Präcedenz-Streitigkeiten haben die grossen Herren ein Mittel gefunden, nehmlich, unter einem angenommenen Charakter, oder incognito sich aufzuführen; jedoch wollen der Wohlstand, die Umstände und vorfallenden Begebenheiten nicht allemahl verstatten, sich solches Mittel zu bedienen [. . . ].28
Auch für Rohr stellt die Gesandtschaft Zar Peters I. den entscheidenden Präzedenzfall dar, der eine weitaus ältere Praxis legitimierte. Die römisch-deutschen Kaiser erlaubten keinem Monarchen, sich auf ihre Stufe zu stellen, und Kaiser Leopold machte auch bei Zar Peter keine Ausnahme: Also konnte anno 1698 der zu Wien anwesende Moscowitische Czaar Peter Alexowicz nicht anders als incognito und ohne Ceremonien den Roemischen Kayser, die Kayserin und den Roemischen Koenig Josephum sehen und besuchen.29
26 27 28 29
Ebd., 126. Ebd., 129. Ebd., 358. Rohr zitiert nach Paulmann (1999), 54. Rohr kommt in diesem Zusammenhang auch ausführlich auf die in der Favorita für Peter gegebene Wirtschaft zu sprechen, die er damit ebenfalls als Hofzeremoniell beschreibt. Dabei überliefert er auch Leopolds – alias des
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Das Rollenspiel des Inkognitos entdramatisierte politische Konflikte und verhinderte, dass diese persönlichen Treffen im Weg standen. Dieses grundlegende Motiv des Inkognitos führte zu seiner äußerst flexiblen, durch und durch praxisorientierten Anwendung. Es stellte sicher, dass „der Haupt-Zweck der angestellten Zusammenkunft, durch den Verdruß der Ceremonielle, nicht gehindert werde.“30 In diesem Sinne beschreibt Rohr den Besuch Kurfürst Max II. Emmanuel und dessen Bruders Prinz Ferdinand 1717 in Wien. Während Max mit pompösem Zeremoniell empfangen wurde, verliefen die Audienzen des politisch weit weniger bedeutenden Ferdinand „incognito“. Daher musste Ferdinand mit einem Quartier in der bayerischen Gesandtschaft vorlieb nehmen, während sein Bruder Max auf Kosten des Hofes logierte. Indem das Inkognito den bayerischen Prinzen zum unbekannten Besucher herabstufte, vermied es eine heikle und herabsetzende Demonstration der Standesunterschiede.31 Nicht nur die deutschsprachige Zeremonienliteratur verzeichnete in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Entwicklungsschub. 1739 veröffentlichten Jean Du Mont und Jean Rousset das französischsprachige Le Cérémonial diplomatique in den Niederlanden. Ganz im Sinne der deutschen Zeremonialwissenschaft betonten auch sie, dass „le Cérémonial se règle ordinairement sur le passé“.32 Du Mont und Rousset stellten in erster Linie Beispiele aus anderen Texten (v.a. Godefroy33 und Lünig) neu zusammen, so dass ihr Werk im europäischen Vergleich als Rückschritt anzusehen ist. So wie ihre Kollegen sahen auch sie in der Reise Peters des Großen den Archetyp des Inkognitos und gaben eine ausführliche „Relation de la visite, que le Czar rendit incognito à l’Empereur Leopold, lorsque la grande Ambassade de Moscovie se trouva à Vienne en 1698.“34 Diese ist besonders in Hinblick auf die offizielle Ankündigung des Inkognitos bemerkenswert: Le Czar fit enfin savoir sous main au Ministre [. . . ] qu’il se trouvait incognito dans la suite de l’Ambassade, & qu’il souhaitoit comme un bon Allié & Confederé de Sa Majesté Impérial,
30 31
32 33
34
Wirts – Toast auf den angeblich in Moskau verbliebenen Zaren. Vgl. Rohr (1733), 826. Siehe auch Schnitzer (1995), 326f. Rohr (1733), 359. Vgl. ebd., 374. Immerhin lag die österreichische Besetzung Bayerns im Spanischen Erbfolgekrieg gerade erst drei Jahre zurück. In Rohrs Ausführungen zu den Themenbereichen Besuche, Kleidung und Trauer taucht der Terminus inkognito hingegen bezeichnenderweise nicht auf. Du Mont/Rousset (1739), 1. Vgl. Godefroy (1649), Bd. 1 u. 2. Der Begriff „inkognito“ wird von Godefroy nicht benutzt. Im Band 1 erwähnt er jedoch, dass Heinrich II. von Frankreich und seine Frau Katharina von Medici im September 1548 jeweils „incognuë“ gegenseitig den Einzug des Ehepartners in Paris beobachtet hätten. Godefroy (1649), 849. Du Mont/Rousset (1739), 512.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
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d’être admis à l’audience incognito, & sans la moindre Cérémonie. L’Empereur reçut cette nouvelle avec beaucoup de plaisir.35
Das Cérémonial diplomatique verdeutlicht, inwieweit mittelalterliche Traditionen, wie z. B. die Inkognito-Aufwartung, in der Frühen Neuzeit fortgeführt wurden. So stattete Kaiser Leopold 1666 seiner zukünftigen Gattin Margarita Theresa von Spanien noch vor deren offiziellen Einzug (entrée publique) in Wien einen Besuch ab. Die Hochzeit war längst zwischen beiden Höfen vereinbart worden. Die „petite suite“ des Kaisers bestand, wie aus der Liste von Du Mont und Rousset hervorgeht, aus nicht weniger als 22 Personen sowie einer „grand nombre des Postillons“. Bei der Ankunft wurde zunächst der GrandMaître vorgeschickt, um der zukünftigen Kaiserin die „premiers compliments“ zu machen. „[P]our rester incognito“ blieb Leopold währenddessen im Hintergrund. „[Il – VB] se mêla parmi les autres Seigneurs de la Cour.“36 Da einige Delegationsmitglieder Margaritas Hand küssen durften, trat auch der Inkognitokaiser nach vorn. Als er sich zur ausgestreckten Hand hinabbeugte, schrie die zukünftige Kaiserin in Liebe verzückt auf und warf sich Leopold zu Füßen. Das Inkognito hatte – ähnlich wie 130 Jahre zuvor bei Heinrich VIII. – eine arrangierte Hochzeit in eine spontane Liebe verwandelt, welche die Tragfähigkeit der Beziehung beweisen und die zukünftige Stabilität des Staates sichern sollte.37
2.3 Von der Zeremonialwissenschaft zum Hofrecht Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts löste die entstehende „Hofrechtsgelahrtheit“ die Zeremonialwissenschaft sukzessive ab.38 Dies ist insofern bemerkenswert, da nun weniger auf konkrete Vorläufer rekurriert, sondern vielmehr nach einem übergreifenden rechtlichen Status des Zeremoniells gefragt wurde. Diese Schriften bezeichnen die Anfänge des modernen Staatsrechts, das im 19. Jahrhundert den Rechtsstatus der Monarchien prägte. 1754/55 erschien ein Meilenstein dieser neuen Gattung: Carl Friedrich von Mosers Teutsches Hof-Recht in zwölf Büchern. Darin geht Moser auch hinsichtlich des Begriffs inkognito weit über seine Vorgänger hinaus. Er ist der erste Au35 36 37
38
Ebd. Ebd., 534. Hervorhebung im Original. Du Mont und Roussel kommen auch auf den sieben Jahre zuvor geschlossenen Pyrenäenfrieden zu sprechen. „Quelque momens après le Roi de France y arriva aussi incognito, avec les Principaux Seigneurs de la Cour; le Roi pour n’être pas d’abord reconnu, avoit ôté exprès son Cordon bleu.“ Du Mont/Rousset (1739), Bd. 2, 364. Bauer (1997), 71.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
tor der Zeremonialliteratur, der eine Definition wagt. Dafür thematisiert er das Inkognito zunächst im Kapitel „Von dem Betragen des Regenten gegen Fremde“ und führt aus, wie „das immer mehr Mode werdende Reisen al incognito [. . . ] vielmehr heut zu Tage die Zusammenkünfte grosser Herrn weniger kostbar [macht]“. Anschließend stellt er fest: „Ohne Ceremoniel werden die al incognito kommende oder sehr ungleich geringere Gäste tractirt, oder wo zu vermeidung beederseitigen Anstosses solches ausdrücklich verbeten wird.“ Moser, der systematisch die italienische Bezeichnung al incognito verwendet, betont die pragmatisch motivierte Anwendung des Inkognitos, das Kosten und logistischen Aufwand reduzierte, aufwändigere Zeremonielle entproblematisierte und situationsspezifische Freiräume eröffnete. Moser widmet dem Inkognito sogar einen eigenen Abschnitt („Von dem Besuchen al incognito“): Wo aber auch dieses nicht angeht [Zusammenkünfte an einem neutralen Ort – VB], wird das sogenannte Incognito beliebt. Jedoch nicht nur in diesen einzigen, sondern auch in folgenden Fällen wird das Incognito gerne angenommen. 1. Wann man überhaupt unangenehme Anmuth- und Anforderungen im Ceremoniel besorgen muss und sich dadurch derselben entledigen will. 2. Wann man die Kosten, so eine Reise unter dem angebohrenen Character erforderte, dadurch zu ersparen gedenkt. 3. Wann ein Herr überhaupt kein Freund von dem theatralischen Wind und Dampf der Höfe ist, der am meisten regirt und der Himmel voller Geigen hängt, wann Fremde da seynd. 4. Wann ein Herr wirklich unbekannt seyn will.39
Insbesondere der vierte Punkt von Mosers Aufzählung ist diskussionswürdig. Denn indem Moser auch das tatsächliche Unbekanntsein als Inkognito bezeichnet, führt er es als Zeremoniell in gewisser Weise ad absurdum. Moser stellt es als ein mögliches Extrem auf einer breiten Skala verschiedener Spielarten dar, innerhalb derer die Formen und Funktionen des Inkognitos stark variieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich hier nicht um ein dezidiertes Zeremonienbuch, sondern vielmehr um ein Teutsches-Hof Recht handelt. Moser versucht mehr, als verschiedene Aufenthaltsbedingungen an unterschiedlichen Höfen zu erläutern. Er verbrieft das Recht, unerkannt zu bleiben, und damit die Hoheit des Herrschers über die eigene Person. Innerhalb der Abhandlung bleibt diese vierte Variante des Inkognitos die Ausnahme. Moser vervollständigt seine Liste durch ein Kapitel zu den „Merkmalen des Incognito“, die er in drei Kategorien unterteilt: „Daß und ob ein Herr
39
Moser (1754), 265f. Die Oekonomische Encyklopädie führte 1783 noch eine weitere Kategorie ein: „Halb incognito zu seyn, heißt, wenn ein vornehmer Herr zwar äusserlich einen geringen Nahmen annimmt und führt, aber doch die Ehrenbezeigung, als: Bedeckung bey der Einholung, Visite und Wache annimmt.“ Krünitz (1783), 498.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
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incognito da seye, erkennt man 1. an seiner Person, 2. an dem betragen des Hofes gegen ihn, und 3. in seinem Betragen gegen den Hof.“40 In allen Fällen ist die Kenntnis der tatsächlichen Identität eine notwendige Bedingung des Inkognitos. Nur durch dieses Wissen kann der Umgang mit dem Inkognitoträger reguliert werden. Mosers vierter Punkt, das tatsächliche Unerkanntbleiben, wird im Folgenden nicht mehr aufgegriffen. Stattdessen gliedert der Autor die drei etablierten Erkennungsmerkmale weiter, was die für das 17. und 18. Jahrhundert so charakteristische zeremonielle Ausdifferenzierung verdeutlicht: I. An seiner Person ist eine der Haupt-Merckmale, wann ein Herr unter einem anderen Character und Nahmen, als den er eigentlich ordentlicher Weise führet, ankommt. Hiebey ist zu mercken: 1. Daß der Titul allemahl geringer seyn müsse, als den er öffentlich führet. 2. Daß zu dem Namen mehrenteils der Nahme einer Provinz oder Statt von dem Gebiet des Herrn genommen werde. 3. Chur-Fürsten und Fürsten reisen gemeiniglich unter dem Titul eines Grafen, oft auch diese nur unter dem Nahmen eines Edelmanns.41
Moser kodifiziert gebräuchliche Verfahrensweisen des Inkognitos. Er systematisiert eine Praxis und erklärt sie zur verbindlichen Regel. Die symbolische Verringerung der eigenen Existenz wird zum Ausgangspunkt eines zeremoniellen Rollenspiels, für das die Kenntnis um die wahre Identität des Inkognitoträgers die Bedingung ist. Das verwendete Pseudonym bezeugt den ludischen Charakter des Inkognitos, indem der fingierte Herkunftsort auf die tatsächliche Identität verweist. Die Tatsache, dass keiner dieser Punkte absolut zwingend ist, verdeutlicht die Flexibilität des Inkognitos: 4. Zuweilen führt ein Herr seinen angeborenen Character und ist doch al incognito da, weil er nehmlich sagt und sich ausbedingt, daß er incognito da sein wolle.42
Bei dieser eher humorlosen Variante entsteht das Inkognito allein durch die bekundete Bereitschaft aller Beteiligten, sich darauf einzulassen. Der Identitätswechsel bedarf keinerlei äußerer Zeichen. Dennoch erfordert auch diese Spielart des Inkognitos bestimmte Verhaltensweisen: II. Das Betragen des Hof gegen einen al incognito anwesenden Gast äussert sich darinn, daß er 1. nicht solenn empfangen wird, 2. er bekommt kein Ceremoniel, 3. die militarischen Ehren-Bezeugungen gegen ihn werden unterlassen, 4. er bekommt keine solenne Visiten und Gegen-Visiten,
40 41 42
§7 Merkmale des Incognito. Moser (1754), 265–70. Siehe auch Conrads (2005), 599; Stannek (2003), 336. Moser (1754), 267. Ebd.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
5. die Staats-Bedienung bey der Tafel wird nicht gegen ihn beobachtet, 6. er wird nicht leicht in das Schloß logirt, wann ihm gleich sonst diese Ehre zu Theil worden wäre.43
Das Inkognito ersetzt bestimmte zeremonielle Formen durch andere, die – trotz einer flexibleren Auslegung – ebenso verbindlich sind: III. In Absicht auf den Hof bemerckt man bey einem Gast al incognito, daß er 1. seine Ankunft nicht zu dem Ende vermelden läßt, um das Recht der ersten Visite zu erlangen, sondern er bittet zugleich bey der Notification um Audienz oder Erlaubniß nach Hof zu kommen. 2. Weil er gekommen ist, um die Späne des Ceremoniels zu vermeiden, so verlangt er auch keins, als in der Mittel-Proportion zwischen seinem wahren, dem Hof bekannten und dem angenommenen Stand, folglich 3. gibt er auch denen Visiten, welchen er sonst wegen der Rang-Streitigkeiten keine hätte geben können, oder wegen seiner angeborenen Würde geben wollen, wie er dann auch 4. in vilen Neben-Umständen sich herunter läßt; z.E. mit dem nicht-Fahren in Hof.
Der zeremonielle Aufwand des Inkognitos verhält sich proportional zum tatsächlichen sozialen Status des Gastes. Dabei erweitert die spielerisch vollzogene Demutsgeste die Zahl der möglichen Ansprechpartner. Trotzdem bringt das Inkognito auch bestimmte Einschränkungen mit sich, die Moser im Kapitel „Wann? wo? Und wie weit das Incognito erlaubt seye?“ anspricht. Hier setzt er sich mit den Schriften Johann Stephan Pütters auseinander, dessen Bewertung des Inkognitos er dezidiert widerspricht: In der Art wie grosse Herren und Gesandten an anderen Orten sich einfinden können, ist ebenfalls einem allgemeinen Gebrauch gemäß, daß einem jeden frey stehet, in der Stille (al incognito) oder einen öffentlichen Einzug zu halten [. . . ].44
Im Unterschied zu seinem rechtsgelehrten Widersacher postuliert Moser, dass „der Gebrauch keineswegs allgemein seye“.45 Für ihn steht das Inkognito nicht jeder Person zu jedem Zeitpunkt zur freien Verfügung. Er führt Reichstage oder Kanzler-Wahlen als Anlässe an, bei denen das Inkognito nicht vorgesehen ist. Moser verweist außerdem darauf, dass Personen, deren Rang niederer als der des Besuchten ist, das Inkognito ebenfalls nicht zusteht. Damit stellt er das Inkognito zum ersten Mal explizit als Privileg dar. Auch sollten Fürsten den Empfang eines Inkognitobesuchs verweigern, „wann ein benachbarter Fürst, von welchem man weiß, daß er es in anderen Sachen an keinem Aufwand mangeln lässt, ihnen al incognito die Cour machen wolle“.46 Moser erkennt beim Inkognito durchaus die Gefahr einer potenziellen Herabsetzung des Besuchten. 43 44 45 46
Ebd., 267f. Moser (1754), 267. Moser bezieht sich auf den Staatsrechtler und Publizisten Johann Stephan Pütter (1725–1807). Moser (1754), 268. Ebd.
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Immer wieder unterstreicht er, dass das Inkognito nicht den Verzicht auf alles Zeremoniell bedeutet: In der Stille und al incognito ist nicht einerley. In der Stille ankommen, ist, nach dem Hof-Gebrauch, ohne Einhohlung und, nach Beschaffenheit der Personen, Orts und Umstände, ohne militärische offentliche Ehren-Bezeugungen ankommen. Wie sehr dies von dem Incognito unterschiden seye, ist aus Zusammenhaltung mit dem vorhergehenden §pho klar.47
Als erster Autor liefert Moser eine theoretische Grundlage für die überlieferte Praxis, wobei er grundlegende Prämissen formuliert: Das Inkognito muss weniger aufwändig als andere Begegnungszeremonielle sein; die Identität des Inkognitoträgers ist bekannt; beide Seiten rekurrieren während der gesamten Begegnung ausschließlich auf die im Inkognito angezeigte Identität. Die „Beobachtung des Incognito“ ist für Moser entscheidend: Das Incognito wird von beyden Seiten, des Wirths so wohl als des Gasts nicht so streng beobachtet, als das ceremoniel gegen eine Person von dem Stand, unter welchem der fremde verborgen ist, erforderte. Der junge Hof weiß es, wer der fremde Graf oder Cavalier ist, er soll es nur nicht sagen oder sich mercken lassen, daß er es weiß.48
Trotz seiner Aussage, es handle sich auch dann um ein Inkognito, „wann ein Herr wirklich unbekannt seyn will“, beschreibt Moser die bewusste Identitätstäuschung nicht mit dem Terminus inkognito. Im Kapitel „Von der Kleidung bey Hofe überhaupt“ thematisiert er herrschaftliche Rollenspiele, die erst im aufgeklärten Absolutismus ihren Höhepunkt erreichten: Es ist nichts unbekanntes, daß manche Regenten Belieben getragen, in ganz geringer oder sie doch unkenntlich machender Kleidung sich zu verbergen und auf diese Weise geheime Reisen zu thun, oder auch in der Residenz an öffentlichen Orten, in Wirthshäusern, auf Promenaden [etc.] sich einzufinden, um die Urtheile ihrer Unterthanen über ihre Regierung, Hof und bediente zu erfahren; welcher Gebrauch wenigstens dazu nüzet, daß sie manche theure und ihnen wohl sonst unbekannt gebliebene Wahrheiten und Nachrichten freymüthig genug gesagt bekommen; wie vil es aber in der That selbst hilft, ist eine andere Frage.49
Für Moser, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts schreibt, hat sich das Inkognito bereits zum meistverbreiteten Reisezeremoniell entwickelt.50 Er konstatiert, dass die Inkognitoreise in juristisch-zeremonieller Hinsicht ebenso bedeutsam wie der Inkognitoempfang geworden ist. Das Inkognito sei nicht mehr länger an die Höfe gebunden, die Inkognitoreise kann „ausserhalb des Landes, oder nur 47 48
49 50
Ebd., 269. Ebd., 270. Siehe auch Stannek (2001), 179. An anderer Stelle (§5) heißt es bei Moser: „Es unterscheiden sich solche gar mercklich von den geheimen Reisen, auf welchen man seinen wahren Stand vollkommen und auf alle nur mögliche Weise zu verbergen sucht.“ Moser (1755), 593. Moser (1754), 422. Er berichtet, dass Reisen von Herrschern zu seiner Zeit „meist incognito“ stattfanden. Moser (1755), 589.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
blosse Lust-Reisen innerhalb desselben“ sein.51 Bereits zu diesem Zeitpunkt war es durchaus üblich, das Inkognito öffentlich anzuzeigen, so wie es im 19. Jahrhundert zum Regelfall wurde: [. . . ] wie geheim solche Reisen seyen, [wird – VB] daraus erhellet, wann man in allen Zeitungen ließt: Der und jener Herr seyen unter dem Namen eines Grafen von N.N. incognito allhier angelangt.52
Das Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus verstärkte diese Tendenz; das öffentlich angekündigte Inkognito wurde zum Normalfall der Herrscherreise. Dafür zeichnete das sich verändernde Verständnis monarchischer Pflichten genauso verantwortlich wie der Aufstieg des Bürgertums, das dem sich in höfischen Zeremoniellen manifestierenden aristokratischen Standesdünkel zunehmend skeptisch gegenüberstand. So wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts kaum neue Kleiderordnungen erlassen, da diese immer weniger mit einer sich zunehmend mobilisierenden und diversifizierenden Gesellschaft vereinbar waren.53 Diese Tendenz prägte auch die Höfe des aufgeklärten Absolutismus: „Für aufgeklärte Herrscher, welche täglich Uniform anstelle der Gala-Garderobe trugen und sich selbst als erste Diener ihres Staates verstanden, wurde das Incognito etwas Alltägliches.“54
2.4 Das Inkognito im aufgeklärten Absolutismus Die Zeremonialwissenschaft des 18. Jahrhunderts zeugt sowohl von der europaweit gestiegenen Bedeutung des Zeremoniells als auch von der Notwendigkeit, diesem bestimmte Grenzen zu setzen. Denn je elaborierter ein Zeremoniell war, desto mehr Konfliktpotenzial barg es in sich. Schließlich handelte es sich nicht um eine ornamentale Verzierung politischer Macht, sondern um deren Beweis, 51 52
53
54
Ebd., 592. „Von dem Reisen al incognito ist, so vil die Merckmale des Incognito betrifft, schon im ersten Band p. 265 fqq. umständliche Meldung geschehen, daher ich hier nur anmercke, daß diese Verschweigung der wahren Würde und Standes auf Reisen, so wohl wegen der geringeren Kosten, als auch (und zwar offt einzig darum) zu Vermeidung aller Ceremoniel-Streitigkeiten je länger je allgemeiner wird. Dem ohngeachtet ist richtig, daß ein al incognito reisender Herr niemahlen so unbekannt bleibt, daß ihm nicht die seiner Geburt und Stand gebührende Ehren-Bezeugungen und Höflichkeiten wiederführen, obgleich ohne den Dunst des grossen Ceremoniels und wie geheim solche Reisen seyen, [wird – VB] daraus erhellet, wann man in allen Zeitungen ließt: Der und jener Herr seyen unter dem Namen eines Grafen von N.N. incognito allhier angelangt.“ Moser (1755), 593. Die letzte umfassende bayerische Kleiderordnung datiert aus dem Jahr 1730. Vgl. Dinges (1992), 74. Roche spricht von einer „espèce de révolution vestimentaire qui connaissent les classes populaires urbaines au XVIIIe siècle.“ Roche (1989), 381. Conrads (2005), 598.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
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Manifestation und Kommunikation für die Subjekte dieser Macht. Gleichzeitig konnten zeremonielle Abweichungen von den Gepflogenheiten anderer Herrscherhäuser die Autonomie der eigenen Herrschaft bekräftigen. Im Kapitel über Trauerzeremonielle berichtet Rohr, dass Ludwig XIV. in schwarzer Kleidung trauerte, die Dogen von Venedig sich hingegen während der Trauerphasen in Rot kleideten, um die Unsterblichkeit der Lagunenrepublik anzuzeigen.55 Obwohl während der Trauer „alle Musique und Frölichkeit auf ein ganzes Jahr eingestellt“56 wurde, drohte auch dieses Zeremoniell auszuufern. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts beschränkten Trauerordnungen den zeremoniellen Aufwand und limitierten insbesondere den Prunk der Begräbnisse. 1716 wurde Grafen in einer bayerischen Trauerordnung schwarze Kutschen und schwarz verkleidete Pferde beim Trauerzug verboten.57 Während den zeremoniellen Privilegien des Adels zunehmend Grenzen gesetzt wurden, insistierten die europäischen Herrscherhöfe umso mehr auf ihre dynastisch-zeremoniellen Traditionen. In einem Zeitalter zunehmender Kritik an ihrer Machtfülle festigten Zeremonielle den Herrschaftsanspruch. In einer Doppelbewegung wurden sie in ihrer Quantität reduziert und in ihrer Qualität aufgewertet. Eine Folge davon war die vermehrte Verwendung des Inkognitos im 18. Jahrhundert.58 Bei Herrschertreffen erwies es sich als immer komplizierter, die Zeremonielle beider Höfe miteinander in Einklang zu bringen. Als 1732 der preußische König Friedrich Wilhelm I. Kaiser Karl VI. in Prag besuchte, führte die Frage, ob der Kaiser dem König die Hand reichen solle, zu Konflikten.59 Verzichtete der Kaiser damit auf seine hierarchische Überlegenheit oder etablierte er gar einen Präzedenzfall, auf den sich andere Herrscher berufen und so die hierarchische Gleichstellung mit dem römisch-deutschen Kaiser reklamieren konnten? Das habsburgische Zeremonialprotokoll thematisierte das Problem: Bey solcher zusammenkunfft die Hand Ihme umb so weniger geben könnten, alss ein solches res Summa consequentia und dero allerhöchsten Kayserl. Authorität nachtheilig, übrigens aber auch Bey denen Königen in Frankreich und Engelland eines grossen aufsehens ursach wäre.60
Nachdem der preußische König ebenso wenig akzeptierte, dass ihm der Kaiser demonstrativ den Handschlag verweigerte, blieb keine andere Lösung, als sich weit entfernt von den neugierigen Augen der Öffentlichkeit auf einem Landgut 55 56 57 58 59 60
Vgl. Rohr (1733), 330. Siehe auch Mosers Ausführungen zum „Königlich-Preußischen Trauer-Reglement, de dato Berlin 1. Junii 1740“. Moser (1755), 92. Rohr (1733), 336. Vgl. Baur (1975), 75. Vgl. Conrads (2005), 603. Vgl. Biskup (2012), 91. Mikoletzky (1952), 273.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
zu treffen. Friedrich Wilhelm I. blieb daher zunächst „all’incognito“ in Prag, was zu nachhaltigen Verstimmungen zwischen beiden Herrschern führte.61 Um derartige Zwischenfälle zu vermeiden, wurde das Inkognito im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Gepflogenheit. Selbst die katholische Kirche benutzte es als diplomatisches Instrument. Als Karl VI. auf einer Reise in Linz weilte, empfing er Leopold Anton Freiherr von Firmian, den Erzbischof von Salzburg, in einer Privataudienz. Da der Bischof sich jedoch außerhalb seiner Diözese aufhielt, blieb er beim Treffen inkognito.62 Aber auch für private Vergnügen wechselten Bischöfe zeitweilig ihre Identität. Das habsburgische Zeremonialprotokoll aus den Jahren 1723–24 berichtet vom Opernbesuch des Erzbischofs von Wien, wo er „alß ein freind oder gast all’ incognito darinnen gewesen“.63 Vor allem aber avancierte das Inkognito zu einer festen Institution auf dem internationalen diplomatischen Parkett; Botschafter und Emissäre wurden an den verschiedenen Höfen zunehmend inkognito empfangen.64 Dies ermöglichte einerseits informelle Sondierungsgespräche und erlaubte andererseits bestimmte Gesten der Aufmerksamkeit. Als sich im August 1719 die Erzherzogin Maria Josepha mit dem sächsischen Kurprinz Friedrich August – dem späteren August III. – vermählte, fanden die Feierlichkeiten in Dresden und Wien statt. In Dresden nahm der türkische Botschafter inkognito am Empfang teil, was die Anwesenheit des Osmanen trotz des gespannten Verhältnisses zu den Habsburgern möglich machte.65 Zu gleicher Zeit berichtet das habsburgische Zeremonialprotokoll von einer Opernaufführung in Wien, bei welcher 61 62 63 64
65
Ebd. Vgl. auch May (1985), 64. Vgl. Mikoletzky (1952), 275. Pečar (2003), 347. Das diplomatische Inkognito etablierte sich sukzessive im Laufe des 17. Jahrhunderts. So schrieb Monsieur Chanut, der französische Botschafter am schwedischen Hof, am 9. Januar 1649 seinem Kollegen Monsieur de Bregy, dem französischen Botschafter am polnischen Hof: „Il est vray Monsieur, que je voudrois que ce fust au temps de cette ceremonie qui se fera au mois d Aoust que vous eussiez les loisir & la liberté de passer en cette Cour ou le nom d’incognito n’empechera pas que vous ne soyez estimé comme vous le meritez [. . . ].“ Archives Diplomatiques, Série Correspondance politique, Sous-série Suède, cote 16 (Corresp. de Chanut avec la Cour et divers), [folio 66]. Ich bedanke mich bei Cécile Peter, die mir diese Quelle zur Verfügung gestellt hat. 1679 empfing Ludwig XIV. die Inkognitovisite des spanischen Botschafters. Vgl. Bély (1999), 479, siehe auch 505. Auch James Francis Edward Stuart, den seine Anhänger als Jakob III. titulierten, erhielt während seines französischen Exils mehrere Inkognitobesuche von Botschaftern: „Moreover they [Jakob III. und sein Hof – VB] received visits from foreign ambassadors, generally but not always incognito, and even had one formal visit from the King of Spain in 1700.“ Corp (2011), 166. Hervorhebung im Original. „Das Zeremoniell zu entfalten war gewiss auch ein wesentlicher Teil des Gesandtenwesens als solchem und nicht nur Ornament. Aber wenn es schnell gehen mußte oder besonders Wichtiges drängte, wich man doch auf das ,Inkognito‘-Zeremoniell aus oder traf sich ,in loco tertio‘, um die Präliminarien zu vereinfachen.“ Vec (2001), 109. Vgl. Pečar (2003), 195f.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
149
„der päpstliche Herr nuntius und venetianische Botschafter in publico, der ferner Erzbischoff von Salzburg aber incognito unter denen Damen sitzend beygewohnet haben.“66 Der Diplomat und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibnitz konstatierte lakonisch, dass „formalia anjetzo pro essentialibus gehalten zu werden beginnen“.67 1700 reiste er inkognito nach Wien, da er von seinem Dienstherrn keine Akkreditierung erhalten hatte, und auch 1701 unternahm er eine „kleine tour nach Hambourg incognito“.68 Die Forschung hat das diplomatische Inkognito bisher völlig vernachlässigt.69 Ähnlich wie die Monarchen benutzten es auch Diplomaten, um zeremonielle Probleme zu umgehen. Das Inkognito löste Konflikte, die sich aus der zeremoniellen Ausdifferenzierung des monarchischen Prinzips einerseits und den Anforderungen eines zunehmend bürokratisierten Staatswesens andererseits ergaben.70 Insbesondere auf Reisen konnte der monarchische Selbstanspruch zeremoniell kaum mehr umgesetzt werden. Das Inkognito rechtfertigte den Verzicht auf monarchisches Zeremoniell an einigen Reisestationen, ohne dabei das monarchische Prinzip zu schwächen. Rees und Siebers kommen bei ihrer Untersuchung von Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reichs zu einem ähnlichen Ergebnis: Die stetig abnehmende Zahl der Reisebegleiter verweist ungleich stärker auf die Zurückdrängung höfisch-repräsentativer Elemente als etwa der für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts fast schon habituell gewordene Gebrauch des Inkognito.71
Dafür zeichnete auch ein Generationenwechsel in den Herrscherhäusern verantwortlich, was an Maria Theresia von Österreich und ihrem Sohn Joseph II. exemplarisch verdeutlicht werden kann. Ein Jahr vor ihrem Tod schrieb Maria Theresia an Erzherzogin Marie Beatrix: Vous devez être parée et habillée partout, l’incognito ne portant que pour l’extérieur et éviter des chicanes, admis le caractère ineffaçable des princes royaux doit paraître avec décence partout [. . . ].72
Maria Theresia sah im Inkognito in erster Linie eine pragmatische Notlösung; wenn möglich sollte das volle Zeremoniell zur Anwendung kommen.73 Erkun-
66 67 68 69 70 71 72 73
Ebd., 346. Zitiert nach Stollberg-Rilinger (2002a), 3. Sellschopp (2005), 69, siehe auch 71, 78, 81. In einer neueren Geschichte der diplomatischen Immunität wird das Inkognito überhaupt nicht angesprochen. Vgl. Frey/Frey (1998). Vgl. dazu Bély (1999), 546, der das Inkognito vor allem als Krisensymptom der Monarchie interpretiert. Siehe auch Einleitung. Rees/Siebers (2005), 31. Brief vom 23.08.1779. Arneth (1881), 379. Siehe auch Beales (1987), 254. Beales’ Interpretation ist daher nicht zuzustimmen. Er schreibt in Bezug auf Maria-There-
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
dungsreisen im eigenen Land unter Verwendung eines Pseudonyms waren für sie genauso unvorstellbar wie offizielle Staatsreisen unter vorgespielter Identität. Andere europäische Herrscher ihrer Zeit teilten diese Auffassung bereits nicht mehr. Schon vor seinem Regierungsantritt 1733 reiste August III., der Sohn Augusts des Starken, unter dem Pseudonym eines „Comte de Lusace“ (Graf von Lausitz) inkognito durch Zentraleuropa und wurde dabei nur von einem italienischen Jesuiten begleitet.74 Kurfürst Karl Albrecht von Bayern, der spätere Kaiser Karl VII., bediente sich 1741 auf einer Reise der Identität eines Grafen von Fugger.75 Christian VII. (1766–1808), der König von Dänemark und Norwegen, reiste 1768/69 inkognito als Prinz von Travendahl durch Europa.76 König Georg III. von England gab sich 1773/74 als „Count of Dublin“ aus.77 Großherzog Paul und seine Gemahlin besuchten Wien 1782 als „Comte et Comtesse du Nord“ inkognito und bestanden darauf, nur mit diesen Namen am Habsburgerhof angesprochen zu werden.78 Herzog Carl Eugen von Württemberg verließ zwischen 1783 und 1791 mehrmals inkognito seinen Hof, um seinen eigenen Geburtstagsfeierlichkeiten zu entgehen. Begleitet von über zwanzig Personen, nutzte er die Gelegenheiten jedoch auch für politische Gespräche.79 1770 reiste Luise Friederike (1722–1791), die Herzogin von MecklenburgSchwerin, inkognito unter dem Pseudonym einer „Gräfin von Grabow“, einer Ortschaft in der Nähe von Schloss Ludwigslust, der Hauptresidenz der Herzöge von Schwerin, nach Paris. Geheimrat Graf von Bassewitz, der für die Reiseplanung verantwortlich zeichnete, notierte dazu: Die Annehmung eines Privat-Namens auf Reisen ist ohnehin jetzo fast bey allen hohen Herrschaften gewöhnlich. Obgleich dabey nicht verborgen bleibet, wer Sie eigentlich sind; so erhalten Sie dadurch gleichwohl den Vortheil und die Ersparnis, daß es keiner förmlichen HofHaltung bedarf.80
Insbesondere für finanzschwache Fürsten war die Aussicht, die Kosten einer
74 75
76 77 78 79 80
sia: „She exploited what seem to have been elaborate conventions enabling the ruler and her family to appear incognito more or less when they pleased.“ Beales (1987), 33. Tollet (1997), 825. Vgl. Conrads (2005), 607. Moser überliefert hingegen ein anderes Inkognito-Pseudonym. „Chur-Fürst Carl Albrecht von Bayern reißte als Chur-Prinz, unter dem Nahmen eines Grafen von Trausnitz.“ Moser (1755), 30. Für weitere Beispiele für Inkognitoreisen im 18. Jahrhundert siehe May (1980), 71. Vgl. Langen (2002), 145. Vgl. Wrigley (2002), 211. Beales (2009), 126–32. Siehe dazu auch Du Coudray (1782). Vgl. Uhland (1968) 20, 40. Pro Memoria des Grafen von Bassewitz an Herzog Friedrich. Schwerin, 14.5.1770. Ich bedanke mich bei Ulrike Wendt, die mir diese Quelle zur Verfügung gestellt hat. Vgl. Wendt (2012), 321.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
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Auslandsreise in einem überschaubaren Rahmen zu halten, ein wichtiger Beweggrund für ein Inkognito. Als der schwedische König Gustav III. (1771–1792) 1783 inkognito nach Frankreich reiste, übernachteten er und sein Begleiter auf dem Weg in einer Kirche, deren Priester glaubte, zwei schwedische Edelleute zu beherbergen. Am nächsten Morgen reiste Gustav unter dem Namen „Sparre“ inkognito weiter.81 Wesentlich bekannter sind die Inkognitoreisen Gustavs unter dem Pseudonym eines „Graf von Haga“. Sie folgten ganz ähnlichen Vorgaben wie die Inkognitoreisen Prinz Heinrichs von Preußen als „Graf von Oels“.82 Sowohl Gustav als auch Heinrich reisten nach Paris, wobei Letzterer 1784 vom französischen Botschafter Graf d’Esterno im Namen Ludwig XVI. eingeladen wurde. Unter dem „angenommenem Namen Prinz von Öls“ wurde er nur von Adjutant Leutnant Tauentzien und einer kleinen Dienerschaft begleitet.83 Allerdings bestimmte er Friedrich Melchior Grimm, den bevollmächtigten Minister für Sachsen-Gotha in Paris, zu seinem Reisemarschall. Dieser organisierte Heinrichs Aufenthalt in der französischen Hauptstadt und kümmerte sich insbesondere darum, dass die französische Presse von dem Inkognitobesuch erfuhr. „Der Graf von Öls war bald eine bekannte Figur in Paris, eine gefeierte Erscheinung in den aristokratischen Salons der Weltstadt“, und die Presse spekulierte ausgiebig darüber, ob der Besuch des Bruders Friedrichs des Großen nicht doch eine diplomatische Mission bezeichnete.84 Genau wie bei seinem Aufenthalt in Basel bestand Heinrich auch in Paris darauf, in einem Gasthaus zu übernachten. Ludwig XVI. befahl Intendant Graf Angivillers, Heinrich bei seinen Besichtigungsausflügen zu begleiten. Als er am 22. August 1784 auch bei der Visite in Versailles auf sein Inkognito insistierte, erwies ihm der französische König in einer diplomatischen Geste die besondere Ehre eines Aufmarschs der Schlossgarden.85 Logistische Überlegungen und diplomatische Beweggründe motivierten Inkognitoreisende ebenso wie die Hoffnung, authentischerer Einblicke in eigene und fremde Herrschaftsbereiche zu erlangen. Auch das Inkognito des 18. Jahrhunderts zeichnete sich dabei durch vielfältige literarische Verarbeitungen aus, die sich in eine lange Tradition einschreiben. So wurden die angeblich anonymen Erkundungsgänge des von 1513 bis 1542 regierenden schottischen Königs Jakob V. bis hin zu Walter Scott im 19. Jahrhundert kontinuierlich tradiert.86
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Brief an Baron von Brekow vom 3.10.1783. Gerds (1996), 5. Vgl. auch Bély (1999), 530f. Vgl. Griep (2002), 154. Vgl. Krauel (1901), 4, siehe auch 5. Ebd. Vgl. ebd., 13. Kurz vor der Ankunft Heinrichs war Gustav III. von Schweden als Graf von Haga in Paris. Ebd., 14. Vgl. Cameron (1998), 334; Scott (1843), Bd. 1, 206. Siehe auch Kap. III.1.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Ähnliches gilt für The King and the Cobbler, eine Erzählung aus dem 17. Jahrhundert, die ausgesprochen populär war und immer wieder umgearbeitet wurde. „[. . . ] the king, usually Henry VIII, tours his capital incognito to learn his subjects’ views and hears the truth from a merry cobbler, whom he subsequently rewards.“87 Wie leicht sich solche Erzählungen mit anderen Gattungen, wie z. B. dem Märchen, vermischten, verdeutlicht ein Reisebericht, den Corneille Le Bruyn 1702 in London veröffentlichte. Le Bruyn beschreibt einen osmanischen Sultan in klassisch orientalisierender Art: He often takes a Fancy of walking Incognito along the Streets, to see whether what he has enjoyn’d, be duly executed, and in café he finds to the Contrary, he punishes the Deliquents upon the very Spot [. . . ].88
Im spielerischen Umgang mit Identitäten eröffnete das Inkognito vielfältige Möglichkeiten, es zur Legende auszuschmücken. Beispielsweise konnten Herrscher inkognito an Orten auftauchen, an denen ihre Anwesenheit nicht vorgesehen war. Der türkische Botschafter Hatti Mustafa Efendi berichtete nicht ohne Stolz, dass sich bei seinem feierlichen Einzug in Wien am 13. Mai 1748 sogar das neugierige Kaiserpaar inkognito unter die Menge gemischt habe.89 Dies ist nicht nur aufgrund Maria Theresias überlieferter Skepsis für das Inkognito unwahrscheinlich. Hatti Mustafa Efendi versuchte durch diese Erzählung vielmehr, einer im Niedergang begriffenen Institution – dem Einzug des Botschafters – neuen Glanz zu verleihen. Vor allem im aufgeklärten Absolutismus erlebte das Inkognito, nicht zuletzt durch die Narrative, zu denen es verarbeitet wurde, einen Höhepunkt. Im Unterschied zu Maria Theresia von Österreich und Friedrich Wilhelm I. von Preußen standen deren Söhne Joseph II. und Friedrich II. prunkvollen Zeremoniellen immer kritischer gegenüber. So erließ der 28-jährige Thronfolger Friedrich am 4. April 1740, zwei Monate vor dem Tod seines Vaters, folgende Kabinettsorder: [. . . ] daß weder bei der Durchreise von Bürgerschaft oder Magistraten öffentliche Ehrenbezeigungen, Ausrückungen, Bewillkommnungen und Losbrennungen eines Geschützes, noch in denjenigen Orten, wo ich übernachten werde, einige Beleuchtung, Musik oder andere Festies auch nicht bei Kavaliers, in deren Schlössern ich übernachten werde, geschehen sollen.
Damit nicht genug, wurde der zukünftige König im selben Dokument noch deutlicher: [. . . ] daß bei Vermeidung dero Ungnade sich niemand unterstehen soll, dieselbe (=S.M.) mit Aufzügen, Ehrenpforten, Paradierung der Bürgschaft, Läutung der Glocken, Lösung des 87 88 89
Kelly (2008), 210. Le Bruyn (1702), 105. Vgl. Yerasimos (1999), 74.
2. Zeremonialliteratur und aufgeklärter Absolutismus
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Gewehrs, Blasen von den Türmen, auch andere Ceremonien zu incommodieren, sondern dieselbe damit gänzlich zu verschonen.90
Zeremonien waren nicht nur zur unnützen Last verkommen, sondern wurden geradezu unter Strafe gestellt. Aus der Perspektive des aufgeklärten Monarchen hielt der zeremonielle Prunk die Führungskräfte des Staates von der Erfüllung ihrer Pflichten ab. Friedrich II. erhob das Inkognito damit in Preußen von der zeremoniellen Ausnahme zum Regelfall. Er wollte auf „jede Art von Repräsentation“ verzichten, verfügte dies in Kabinettsordern und symbolisierte es seinen Subjekten durch den demonstrativen Verzicht auf eine feierliche Königskrönung.91 Als er am 23. August 1740 von Kehl aus den Rhein überquerte und Straßburg besuchte, stieg er im Gasthaus „Zum Raben“ ab, was nichts „mit einem schlecht verhüllten Inkognito“ zu tun hatte.92 Martin Dinges konstatiert eine zunehmende, europaweite Distanzierung vom höfischen Protokoll seit dem Tod Ludwigs XIV. im Jahre 1715. Das Inkognito war Bestandteil einer Entwicklung, die dazu führte, dass sich ab der Jahrhundertmitte „Bereiche relativer Privatheit des Fürsten“ herausbildeten. Insbesondere der preußische und der österreichische Hof erprobten „Modelle demonstrativer Einfachheit“.93 Im Gegensatz zu seinen blaublütigen Kollegen hielt es Friedrich auf manchen Reisen nicht einmal mehr für nötig, seine Identität durch ein aus seinem Herrschaftsbereich entlehntes Pseudonym anzuzeigen. So reiste er im Juni 1755, nachdem er im Herzogtum Kleve Truppen inspiziert hatte, durch Holland, wo er zum ersten Mal Henri de Catt, seinen späteren Vorleser und Sekretär, traf. Catt konnte davon nichts ahnen, als sich ihm der angebliche „Kapellmeister des Königs von Polen“ vorstellte.94 Catt traf eine Person „im zimtbraunen, goldverbrämten Anzug“, wie er sich gleich zu Beginn seiner später veröffentlichten Gespräche Friedrichs des Großen mit Henri de Catt erinnert. „Er trug eine schwarze Perücke, Gesicht und Anzug waren voll von spanischem Schnupftabak“, und allem Anschein nach handelte es sich um keinen „besonders hochstehende[n] Mann“.95 Wie sie so zwischen Amsterdam und Utrecht auf einem Hausboot ins Gespräch kamen, klagte der anonyme Reisende, dass Könige im Allgemeinen „den Genuß der Freundschaft nicht kennen“. Catt, der behauptet, erst am nächsten Morgen die wahre Identität des Reisenden erfahren zu haben, antworte auf die Frage, ob er Deutschland kenne, dass er „besonders gerne [. . . ] Preußen und den König von Preußen se90 91 92 93 94 95
May (1985), 66. Siehe auch Frevert (2012), 66. „Prunkwagen und Galacoupés kamen bei den Inspektionsreisen nicht zum Einsatz.“ Leithold (2011), 244. Vgl. Hubatsch (1973), 42. Ebd., 51. Dinges (1993), 102f. Kunisch (2004), 311. Catt (1885), 1.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
hen“96 würde, was als geschickter Schachzug und als Hinweis darauf zu werten ist, dass die Identität Friedrichs doch nicht so geheim war, wie Catt behauptet. Einmal mehr generierte das Inkognito seine eigenen Legenden.97
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Ebd., 3. Friedrich plauderte mit Catt auch über seine Inkognitoreise nach Straßburg. Er habe den „Namen eines reichen Böhmen“ angenommen und sei als „Graf du Four“ lediglich von einem gewissen Algarotti begleitet gewesen. Vgl. Catt (1885), 5. Schon bei einer früheren Reise nach Kleve hatte Friedrich befohlen ihn nicht „mit Zeremonien zu incommodieren“. Laut Hubatsch diente das Inkognito dazu von seinen „Aufgaben nicht abgelenkt zu werden und vor allem auch die Untertanen in ihrer Arbeit nicht zu unterbrechen.“ Hubatsch (1973), 50, 43. Er wollte auf Reisen „keine Zeremonien und Gelärme mit Aufzügen, Turmblasen, Schießen, Ansprachen, Blumen-, Kalmus- oder Gras-Streuen und dergleichen.“ Hubatsch (1973), 42.
3. Joseph Graf von Falkenstein 3.1 Joseph II. Das Inkognito des aufgeklärten Absolutismus resultierte aus sich verändernden Vorstellungen von den Pflichten eines Herrschers. Der habsburgische Kaiser Joseph II., der häufig unter dem Pseudonym eines Grafen von Falkenstein seinen Hof verließ, verkörpert dies exemplarisch. Joseph benutzte das Inkognito sowohl für Auslandsreisen als auch für Inspektionsreisen innerhalb der habsburgischen Lande. Jede Reise wurde konsequent in der Presse angekündigt, und die sich verbreitende Vorstellung eines Kaisers ohne überzogene Allüren trug maßgeblich zu seiner Popularität bei. Das Inkognito bezeichnete – nicht nur für Joseph II. – einen „durchaus gängige[n] Teil eines neues Regierungsstils“.1 Damit stieß er allerdings nicht immer auf Verständnis. Als Joseph 1767 Papst Clemens XIII. in Rom aufsuchte, weigerte sich dieser einen Grafen von Falkenstein zu empfangen. Joseph II. blieb nichts anderes übrig, als sein Inkognito beim Betreten des Vatikans abzulegen.2 Ähnlich wie sein preußisches Pendant Friedrich II. gab auch Joseph gleich zu Beginn seiner Regierung den Staatsbeamten klare Anweisungen hinsichtlich des anzuwendenden Zeremoniells. 1783, drei Jahre nach dem Tod seiner Mutter Maria Theresia, forderte er die Minister explizit auf, „ohne Rücksicht auf Rang oder Zeremonie die Geschäfte zu behandeln“.3 Bereits 1765, ein Jahr nachdem er in Frankfurt am Main zum römisch-deutschen Kaiser gekürt worden war, hatte er eine „Denkschrift über den Zustand der österreichischen Monarchie“ verfasst. Hier erklärte er die Inkognitoreise in die eigenen Länder zur Pflicht eines verantwortungsbewussten Herrschers und erhob das Inkognito damit zur Staatsräson: Pour les voyages, je les trouve de nécessité absolue pour un souverain, et il est indispensablement nécessaire, que politiquement, civilement et militairement on aille voir soi-même ce qui se fait. [. . . ] les ministres [. . . ] qui faisaient croire aux souverains qu’ils gouvernaient avec gloire et dirigeaient par eux-mêmes les rênes du gouvernement, alors qu’ils n’avaient rien vu ni appris que par des yeux d’autrui [. . . ]. Moi, au contraire, je crois que son devoir est toute autre chose, et qu’il doit prendre le train d’un particulier pour ne pas faire plus de mal par ses voyages à ses peuples, que le bien qu’ils pourraient tenir de sa présence. Il n’est donné qu’aux
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May (1985), 60. Siehe dazu auch Conrads (2005), 604, 607. „Meinen Namen aber sollt ihr nie erfahren / ich verlass mich drauf, daß ihn hier jeder kennt.“ Vers aus Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter (1963), zitiert nach May (1985), 74. Vgl. ebd., 73. Zitiert nach Berbig (1981), 248.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
grands de changer d’être, ils peuvent devenir petits et particuliers quand il leur plait; les autres en revanche, ils ont beau vouloir, ils resteront toujours particuliers.4
Joseph erkannte im Inkognito ein Privileg, dessen sich der Herrscher zum Wohle seiner Subjekte bedienen musste. Ein von Derek Beales veröffentlichtes Zitat Josephs II. belegt, dass der Kaiser – ganz im Gegensatz zu seiner Mutter – das Inkognito sogar für ein Mittel hielt, sein Ansehen zu steigern: I believe that in the eyes of sensible men a very natural, very simple style of conduct, founded on my system of the most perfect incognito, cannot possibly injure the reputation that, perhaps quite gratuitously, I have already acquired in the world [. . . ].5
Joseph kann als geradezu reisewütiger Monarch beschrieben werden. Er verbrachte beinahe ein Drittel seiner Regierungszeit außerhalb seiner Residenz.6 1768 besuchte er das Banat im heutigen Rumänien; ein Jahr später fuhr er quer durch Italien, nach Böhmen und nach Mähren. Dort soll er in Slavíkovice (Rousínov) einem Bauern beim Pflügen geholfen haben, eine Szene, die unmittelbar darauf als Denkmal ausgestaltet wurde. 1773 führten ihn seine Wege erneut ins Banat, weiter nach Siebenbürgen und ins gerade erst erworbene Galizien, das er 1787 erneut als Graf von Falkenstein besuchte.7 Im Mai 1781 teilte er bei seiner Reise durch die Niederlande mit, dass er keine Empfänge wünsche; als er 1780 Katharina II. in Russland besuchte, übernachtete er in Mohilew am Dnjepr als Graf von Falkenstein bei einem Kaufmann.8 Es ist erstaunlich, wie wenig Beachtung die Forschung diesen Inkognitoreisen geschenkt hat.9 Sie werden immer wieder erwähnt, wobei die Autoren stillschweigend davon auszugehen scheinen, dass die Bevölkerung tatsächlich nicht wusste, wer dieser Graf von Falkenstein war. Dies scheint allein aufgrund der Häufigkeit von Josephs Reisen unter diesem Pseudonym unwahrscheinlich. Wie genau sollte die Geheimhaltung funktionieren, wann genau der mährische Bauer erfahren, wer ihm beim Pflügen geholfen hatte? Wie sollte nach einer solchen Aufdeckung das Geheimnis am nächsten Ort gehütet werden? Die wohl berühmteste Reise Josephs II., die ihn 1777 nach Frankreich führte, 4 5
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Arneth (1881), 359. Siehe auch May (1980a), 82. Vgl. Beales (1987), 370. „His refusal to stand on ceremony or to insist on his rank was notorious. It went with his determination to travel, and sometimes to socialise, incognito.“ Beales (2009), 669. Vgl. Dunk (2008), 90; May (1980a), 82. Vgl. May (1980a), 83; Beales (1987), 509. „When the emperor had turned up incognito as Count Falkenstein, sometimes unexpectedly, in Rome, Venice, Naples, Paris and St. Petersburg, rulers had gone out of their way to fête him.“ Beales (2009), 223. Hervorhebung im Original. Vgl. Roegiers (1980), 85; May (1980b), 103. Siehe auch Kunisch (2004), 496ff. Von den erwähnten Ausnahmen abgesehen, geht Beales auf die Bedeutung des Inkognitos für Joseph II. nicht näher ein. Er erwähnt lediglich: „He [Joseph II. – VB] considered it positively beneficial that the ruler should travel incognito.“ Beales (1987), 172.
3. Joseph Graf von Falkenstein
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verdeutlicht die Modalitäten des kaiserlichen Inkognitospiels, das nicht als Täuschungsmanöver misszuverstehen ist.10 Dies beweist nicht zuletzt das gewählte Pseudonym. Wie Moser bereits im Teutschen Hofrecht forderte, reiste der Kaiser als Graf. Den keineswegs fiktiven Namenszusatz Falkenstein hatte er sorgfältig ausgewählt. Linksrheinisch, im Norden der heutigen Pfalz gelegen, gehörte Falkenstein seit 1667 zu Lothringen, bevor es durch die Heirat Maria Theresias mit dem dortigen Herzog Franz Stephan (ab 1745 Kaiser Franz I.) habsburgisch wurde. Zur Zeit Josephs II. bezeichnete Falkenstein das letzte Territorium, das den Habsburgern vom lothringischen Erbe geblieben war. Das Pseudonym Graf von Falkenstein zeigte nicht nur die wahre Identität Josephs spielerisch an, sondern kann auch als ebenso spielerisches Festhalten am lothringischen Erbe seiner Mutter interpretiert werden. Einige französische Kommentatoren, welche Josephs Frankreichreise interessiert beobachten, sprachen zwar von „Falckenstein“,11 verstanden aber durchaus, dass der Reisende „wirklich etwas mehr sey, als ein Graf von Falkenstein.“12 Ein anonymer Berichterstatter aus Deutschland brachte es auf den Punkt: Dieser Name ist nicht Verstellung, nicht Erdichtung, nicht Affectation; er ist dem hohen Reisenden eigen. Dieser ist so wahr Graf von Falkenstein, als Grosfürst von Siebenbürgen u. Marggraf von Mähren [. . . ].13
Graf Philipp von Cobenzl, der 1792 Kaunitz als Staatskanzler nachfolgte, und Graf Joseph Colloredo-Mels und Wallsee, kaiserlicher Hofkriegsrat und Feldmarschallleutnant, begleiteten Joseph auf der mehrmonatigen Reise. Der Ingenieur-Hauptmann Bourgois fungierte als Reisemarschall, und zudem befanden sich der „Herr Leibchirogus von Brambilla, Herr Cabinetscanzelist Knecht, ein Mundkoch [und – VB] einige Leiblaquayen“ im 24-köpfigen Gefolge.14 Die Anwesenheit hochrangiger Staatsdiener zeigt, dass es sich um keine Vergnügungsreise handelte. Deren diplomatischer Anlass bildete das Erbe der Kurpfalz, deren Kurfürst Maximilian III. Joseph kinderlos zu sterben drohte.15 „Das Publicum war durch öffentliche Nachrichten vorbereitet und aufmerksam gemacht.“16 Joseph informierte die Bevölkerung vorab, und der Kaiser 10
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Vgl. zur Reise allgemein Wagner (1965), 222; Paulmann (1999), 54; Dunk (2008), 91. „Joseph insisted as usual on preserving the strictest incognito. It was essential, he said, that he should be able to see sights and institutions without giving prior warning, ,in their natural state‘.“ Beales (1987), 368. Duval-Pyrau (1777), 17. Siehe auch Simpré (1778). Anthologische Beschreibung (1778), 6. Ebd., 7. „Falkenstein, zum Unterschiede anderer Graf- und Herrschaften dieses Namens, am Donnersberg genannt“. Ebd. Anthologische Beschreibung (1778), 17. Siehe auch Duval-Pyrau (1777), 17; Wagner (1980), 100. Maximilian starb am 30. Dezember 1777. Anthologische Beschreibung (1778), 16.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
machte sich am 1. April 1777 auf den Weg, der ihn über München, Stuttgart, Straßburg und Nancy nach Paris führen sollte. Die im darauf folgenden Jahr anonym veröffentlichte Anthologische Beschreibung dieser Reise verdeutlicht, wie schnell sie literarisch verarbeitet wurde. Angeblich, so der Bericht, blieb die Abreise aus Wien „sogar von dem größten Theile seines Hofes unbemerkt“. „Übrigens deckte das Incognito den hohen Reisenden die ersten Tage so streng, daß er in manchem Orte bis nach schon geschehener Durchreise unerkannt geblieben ist.“17 Diese Aussagen gehören bereits zu den sich schnell verbreitenden Legenden. Als der Inkognitokaiser in Augsburg ankam, erwartete ihn eine Menschenmenge. Auf dem Weg zum Hotel „Drei Mohren“, in dem später auch Napoleon III. auf seiner Inkognitoreise durch Bayern residierte, zog Joseph vor den Anwesenden den Hut. Dem Inkognito treu bleibend, schlug er die ihm angebotene Kutsche aus und stieg in eine Mietdroschke (un de remise).18 Auch in Stuttgart übernachtete er dem Inkognito entsprechend in einem Gasthof, wurde aber, so wie im Vorfeld verabredet, vom Herzog empfangen.19 Carl Eugen, der von 1737 bis 1793 in Württemberg regierte, zog genauso wie der Kaiser politischen Nutzen aus dem Treffen. Dies bezeugt das anonym veröffentlichte, wahrscheinlich aber von Friedrich Schiller verfasste Gedicht Auf die Ankunft des Grafen von Falkenstein. Der Autor verehrt „Josephs theuren Heldennamen“, denn er „Durchreiste schwäbische Provinzen / Nicht als Monarch; als Menschenfreund!“ Dabei vergaß er nicht zu erwähnen, wem diese Ehre zu verdanken war: „Dir, Carl, verdanken diese Scene / Dein Hof, dein Volk und deine Söhne.“20 In Rastatt traf sich Joseph mit Karl Friedrich, dem Markgraf von Baden, und nutzte auch diese Etappe zu politischen Gesprächen.21 Nirgends blieb die Reise geheim, und in Pforzheim wurde der Graf von Falkenstein genauso von den Schaulustigen erwartet wie in Luneville, Metz, Nancy und Reims.22 Als er am 18. April 1777 die französische Hauptstadt erreichte, konnte von der Ankunft eines Unbekannten keine Rede sein. Joseph wohnte in der Residenz seines Botschafters, sein Gefolge im Hotel de Tréville in der Rue de Tournon, dessen Besitzer zu seinem Leidwesen verboten wurde, durch Schilder auf die Anwesenheit des Kaisers hinzuweisen.23 Seine Zeit in Paris verbrachte Joseph mit einem ausgedehnten Besichtigungsprogramm. Dazu zählten Krankenhäuser und Waisenhäuser genauso wie Kanäle und Fabriken. Als der Kaiser 17 18 19 20 21 22 23
Ebd., 17, 19. Vgl. Duval-Pyrau (1777), 18. Vgl. Anthologische Beschreibung (1778), 22. Schiller (1983), 443f. Das Gedicht ist in der Schiller Nationalausgabe unter der Rubrik „Zweifelhaftes und Unechtes“ abgedruckt. Vgl. Anthologische Beschreibung (1778), 25. Vgl. ebd., 24; Duval-Pyrau (1777), 23. Vgl. Du Coudray (1777), 77.
3. Joseph Graf von Falkenstein
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sich bei einer dieser Gelegenheiten eine Liste der verschiedenen Dienstgrade der Arbeiter erbat, wurde diese an den Namen Falkenstein adressiert.24 Der Kaiser suchte Inspirationen und Innovationen für seinen eigenen Staat. Nach seiner Rückkehr änderte er das Reglement des Offizierstöchterinstituts in Sankt Pölten nach französischem Vorbild;25 in Wien ließ er das Alte Krankenhaus nach Vorbild des Pariser Hôtel Dieu umbauen und 1784 neu eröffnen.26 Joseph vernachlässigte auch die politischen Anliegen der Reise nicht. Er stattete diversen Ministern seine Visite ab und besuchte auch mehrmals das von Ludwig XVI. 1774 wieder eingesetzte Pariser Parlament.27 Bei dessen ersten Besuch forderte ihn der Parlamentspräsident Étienne François d’Aligre respektvoll auf, Platz zu nehmen, was Joseph jedoch unter Bezug auf sein Inkognito verweigerte. „Er aber sich nur an der Schranke des Hofes hielt und also dem Procesieren zuhörte.“28 Obwohl die Pariser Bevölkerung um seine Identität wusste, weigerte sich Joseph hartnäckig, die Privilegien eines Kaisers in Anspruch zu nehmen. Dies gilt für seine Besuche in der Pariser Oper wie für die im Louvre. Als ein – wahrscheinlich von Ludwig XVI. zu seiner Sicherheit abgestellter – General die versammelte Menschenmenge auflösen wollte, lehnte Joseph dies strikt ab.29 Er entwickelte vielmehr verschiedene Techniken, um den Herbeigelaufenen, die ihm vielerorts zujubelten, aus dem Weg zu gehen.30 „Wenn Er fuhr, so erwartete Ihn die Kutsche auf einem bestimmten Platze; Er machte Umwege, um dieselbe wieder zu erreichen.“31 Trotz der vielen überlieferten Quellen ist es schwierig, den Wahrheitsgehalt solcher Anekdoten zu evaluieren. Selbst innerhalb einzelner Texte wechselt der Informationsgehalt, was zu vielfältigen Widersprüchen führt. Dies verdeutlicht eine Passage aus der Anthologischen Beschreibung der Reise des Herrn Grafen von Falkenstein nach Frankreich 1777: So getreu blieb der ausserordentliche Fremde dem Incognito, dem Er sich einmal ergeben hatte, von Anfang bis zum Ende seines Aufenthaltes in Paris, daß es dem neugierigsten und aufmerksamsten Einwohner meistens schwer, ja unmöglich war, ihn da, wo er war, eher zu entdecken, als bis er sich wieder von einem solchen Orte entfernt hatte. Oefter als einmal geschah es, daß Er vor Palästen und Häusern, wo Ihn das Volk häufig und sehnsuchtsvoll erwartete, sich durch dasselbe hindurchzubringen wusste, ohne erkannt zu werden, wozu Ihm
24 25 26 27 28 29 30 31
Vgl. Wagner (1965), 229–34. Vgl. ebd., 236. Vgl. Dunk (2008), 92. Siehe auch May (1980a), 84; Wagner (1965), 101. Vgl. Duval-Pyrau (1777), 71. Anthologische Beschreibung (1778), 60. Vgl. Duval-Pyrau (1777), 54, siehe auch 69. Vgl. Du Coudray (1777), 60. Anthologische Beschreibung (1778), 76.
160
II. Die Reglementierung des Inkognitos
die Einfachheit des Kleideranzugs, dessen er sich zu bedienen, und des Gefolges, welches Er sich selbst zu erlauben pflegte, die gewünschten Dienste that.32
Eine mögliche Erklärung des Widerspruchs zwischen jubelnden Menschenmengen und angeblicher Geheimhaltung einer Reise, von der die Presse ausführlich berichtete, bietet der ludische Charakter des Inkognitos. Immer wenn sich die Bevölkerung darauf einließ, gelang die spielerische Geheimhaltung. Kleidung und Gesten des Kaisers dienten nicht der Anonymisierung, sondern dem öffentlichen Anzeigen der Spielsituation. Joseph hatte seine Inkognitokleidung speziell in Paris anfertigen lassen, die, so der Kaiser, „dans le genre le plus modeste, le plus simple et le plus naturel“ gehalten war.33 Wie aus einer detaillierten Beschreibung seines Auftretens deutlich wird, betraf dies nicht die Qualität des Materials, sondern den demonstrativen Verzicht auf jegliche Machtinsignien: Er war nämlich gewohnt, ein Kleid zwar vom feinsten Tuche, aber ohne Borten oder Galonen, Rock und Weste gemeiniglich überein, die Beinkleider schwarz, weiche Stiefeln, den Hut ebenfalls ohne Galone auch ohne Federn nur mit einer einfachen schwarzen Cocarde, und das Haar, wie gewöhnlich, nur mit einer einzigen Locke auf jeder Seite zu tragen. Seine Bedienten giengen einförmig gekleidet, in einem tuchenen Ueberrock, einer bodierten Scharlachweste und einem goldbodirten Hute.34
Noch vor den vielen Attraktionen der Hauptstadt führte Josephs Weg zum Königshof nach Versailles, dem er am 19. April 1777, dem Tag nach seiner Ankunft – „ainsi qu’il est d’usage“ – seine Aufwartung machte.35 Auch hier beachtete er sein Inkognito mit aller Sorgfalt. Er legte Wert darauf, das Schloss zu Fuß zu betreten und nicht, wie für einen Kaiser selbstverständlich, mit einer Prachtkutsche einzufahren.36 Damit beachtete er die von Carl Friedrich von Moser ausformulierte Regel, das Inkognito durch das „nicht-Fahren in Hof “ anzuzeigen. Selbst gegenüber Marie Antoinette, die ja nicht nur Königin von Frankreich, sondern auch seine leibliche Schwester war, benutzte Joseph II. sein Pseudonym. Schließlich konnte er sich nicht als Kaiser titulieren lassen, da das Fehlen eines entsprechenden Zeremoniells seinen machtpolitischen Status relativiert hätte: „L’Empereur garda scrupuleusement l’incognito, pendant son séjour dans notre Capitale; il ne fut présenté à la Cour que sous le nom de Comte de Falckenstein.“37 32 33 34 35 36
37
Ebd., 74-5. Wagner (1965), 222. Anthologische Beschreibung (1778), 75. Du Coudray (1777), 3. „Wenn Er in Versailles war, gieng Er nur zu Fuß nach Hof.“ Anthologische Beschreibung (1778), 77. „Son premier soin était de lever les difficultés du cérémonial.“ Duval-Pyrau (1777), 40. Du Coudray (1777), 29.
3. Joseph Graf von Falkenstein
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Eine Anekdote belegt, welche zeremonielle Gratwanderung Joseph vollführte. Außerdem wird deutlich, wie vertraut der französische Hof mit Fragen der zeremoniellen Etikette war. Bei einem Kartenspiel, das die Königin mit einigen Hofdamen veranstaltete, stand der als Graf von Falkenstein anwesende Kaiser hinter einem Stuhl der um den Tisch verteilten Damen. Als er dabei einen Moment lang seine Hände auf eine Rückenlehne legte (posées), rügte ihn Madame Adélaïde: „Monsieur le comte, il paroît que vous oubliez furieusement votre incognito.“ Damit traf sie den Nagel auf den Kopf, denn dem Kaiser von Österreich wäre eine solche Handhaltung durchaus gestattet gewesen, während es sich ein unscheinbarer Graf nicht ohne Weiteres erlauben konnte, es einer der Hofdamen der Königin von Frankreich derart an Respekt fehlen zu lassen. Joseph befreite sich jedoch elegant aus der zeremoniellen Falle: „Ce prince reprit vivement: c’est qu’on l’oublie aisément auprès de vous, madame . . . “.38 Erneut kommt der ludische Charakter des Inkognitos zum Vorschein. Durch das Abstützen seiner Hände unterbrach Joseph für einen kurzen Moment das Spiel, worauf ihn der spielerische Vorwurf der Hofdame aufmerksam machte. Während das Inkognito als Zeremoniell dezidierte öffentliche Funktionen besaß, diente es in einem von der Öffentlichkeit abgeschiedenen, monarchischen Kreis nicht zuletzt als amüsanter Zeitvertreib. Das Inkognito war ein vorzügliches Mittel, durch spielerische Verstellung und Selbstpersiflage die Stimmung zu lockern und persönliche Beziehungen zu pflegen. Über den Inhalt der Gespräche, die Joseph am französischen Hof führte, ist nur wenig bekannt. Wagner berichtet von einer „sehr erfolgreichen Einmischung Josephs in die Eheangelegenheiten des französischen Königspaares“.39 Kurz vor der Abreise des Grafen von Falkenstein stattete ihm Ludwig XVI. einen demonstrativen Besuch ab. Dieser erfolgte den zeremoniellen Konventionen entsprechend unter dem Pseudonym eines „Vicomte de Paris“ und damit inkognito.40 Josephs Rückreise führte ihn inkognito über die Normandie und die Bretagne sowie die gesamte Atlantikküste bis nach Bayonne und von dort über Toulouse und Carcassonne die Rhône hinauf nach Lyon. Als er am 19. Juni erfuhr, dass die Stadt Rochefort große Feierlichkeiten für seine Ankunft vorbereitete, erklärte er den lokalen Autoritäten, „daß, wenn man ihm nicht erlauben wollte, gänzlich incognito zu seyn, Er blos durchreisen würde [. . . ]“.41 Seine politische Korrespondenz, wie etwa einen Brief an Graf Dominikus von Kaunitz, 38 39 40 41
Duval-Pyrau (1777), 74. Auslassung im Original. Die Begebenheit wird auch überliefert von Du Coudray (1777), 29. Wagner (1980), 100. Duval-Pyrau (1777), 87. Laut Bély wird die Inkognito-Gegenvisite von Ludwig XVI. als „comte de Paris“ nur in einer Quelle erwähnt. Bély (1999), 518. Anthologische Beschreibung (1778), 110.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
den habsburgischen Gesandten in Madrid, unterzeichnete er mit Joseph Falkenstein.42
3.2 Nützliche Narrative Sowohl Joseph II. als auch Ludwig XVI. profitierten vom Aufenthalt des Grafen von Falkenstein in Frankreich. Die Kommentatoren geizten nicht mit Lobhudeleien auf das Königspaar, das eine neue Freundschaft mit dem früheren Erzfeind Österreich initiiert hatte. Insbesondere Marie Antoinette wurde dies hoch angerechnet.43 Ähnlich wie der Großen Gesandtschaft Zar Peters I. folgte die Presse den Wegen des Habsburgers auf Schritt und Tritt. Viele der schnell veröffentlichten, detaillierten Reiseberichte erwähnen die Presseberichterstattung, liefern allerdings nur selten konkrete Beispiele.44 Alexandre Jacques Du Coudray erwähnt einen Bericht des Mercure de France vom Mai 1777 und zitiert einen ausgesprochen interessanten, leider jedoch undatierten Brief aus dem Journal des Dames.45 Letzterer verdeutlicht, wie sehr auch die Öffentlichkeit inzwischen die Spielregeln des Inkognitos beherrschte. Die Bevölkerung empfing Joseph nicht zuletzt deshalb so enthusiastisch in Paris, weil sie wusste, dass sein Inkognito kein Täuschungsmanöver war: Beaucoup de Princes ont voyagé incognito & cet incognito a toujours été une affiche de plus. M. le Comte de Falckenstein fait se cacher avec modestie, parce que cela lui est commode, & se fait deviner sans trahir le mystère dont il a fait choix.46
Die zahlreich veröffentlichten Texte zur Inkognitoreise verdeutlichen das Ausmaß des öffentlichen Interesses. Indem sie auf etablierte Erzähltraditionen rekurrieren, generieren sie ihre eigenen Legenden. Neben faktischen Beschreibungen liefern die Reiseberichte zahlreiche Anekdoten, deren Wahrhaftigkeit äußerst zweifelhaft erscheint. Abbé Duval-Pyrau unterschied bereits im Titel seiner Schrift nicht mehr zwischen journal und anecdotes. Zahlreiche Begebenheiten, die stark an wesentlich ältere Texte erinnern, durchziehen die Erzählung. Geschildert wird ein ebenso intelligenter wie schlitzohriger König, 42 43 44 45
46
Vgl. Duval-Pyrau (1777), 101. Siehe auch Anthologische Beschreibung (1778), 114. Für eine Karte der Reiseroute siehe Österreich zur Zeit Josephs II. (1980), o.S. Vgl. Du Coudray (1777). Er widmete seine Reisebeschreibung der Schwester Josephs II. Vgl. Duval-Pyrau (1777), 62; Du Coudray (1777), 103. Vgl. Du Coudray (1777), 49. Du Coudray spezialisierte sich geradezu auf Beschreibungen von Inkognitoreisen. Auch der Reise Pauls I. und seiner Gemahlin als Comte et Comtesse du Nord widmete er einen eigenen Bericht. Vgl. Du Coudray (1782). Du Coudray (1777), 99. Zeitungsbericht von Inkognitoreisen waren schon seit Langem üblich. Vgl. u. a. Dunton (1700). Siehe auch. Wrigley (2002), 210.
3. Joseph Graf von Falkenstein
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der sich unter das Volk mischt, um dessen unverfälschte Meinung zu hören, und dabei immer wieder spielerisch mit seinem Inkognito kokettiert. So berichtet Duval-Pyrau von einem Pariser Kutscher, der zum Palais Royal eilt, als sich herumspricht, dass der habsburgische Kaiser dieses gerade besichtigt. Als ein Fahrgast seine Kutsche mieten will, weist er diesen brüsk mit dem Hinweis zurück, der Kaiser müsse nun jeden Moment das Palais verlassen. Am Ende stellt sich heraus, dass der anonyme Fahrgast niemand anderes als der Kaiser ist.47 Dieser sieht sich gezwungen, seine Identität preiszugeben. Denn der Kutscher, der nicht müde wird, den Kaiser in den höchsten Tönen zu loben, weigert sich, den Ort zu verlassen, ohne Joseph gesehen zu haben. Es ist bemerkenswert, wie Duval-Pyrau immer wieder selbst am Wahrheitsgehalt seiner Erzählungen zweifelt. Obwohl er seinen Lesern versichert, alle Anekdoten überprüft zu haben, verweist er an mehreren Stellen auf die zweifelhafte Authentizität einiger Episoden.48 Die populäre Aufbereitung von faktischen und fiktiven Begebenheiten charakterisiert die literarische Umsetzung der Reise. So stellen verschiedene Texte gleiche Begebenheiten unterschiedlich dar. Du Coudray überliefert in seinen Anecdotes intéressantes et historiques bewusst mehrere Versionen. Erzählt wird von Personen, die von der Anwesenheit des Kaisers gehört haben und an bestimmten Orten der Stadt auf ihn warten. Während des Wartens treffen sie einen bescheiden gekleideten und ausgesprochen liebenswürdigen Mann, den sie nicht als den Kaiser erkennen.49 Diese Anekdoten sind für das Inkognito aus mehreren Gründen von Interesse. Zunächst zeigen sie, dass die Erzähltradition des Inkognitos berücksichtigt werden muss. Die Narrative, die sich beständig um die verschiedenen Formen des Inkognitos ranken, sind von Anfang an untrennbar mit ihm verbunden. Sie können weder als ornamentales Beiwerk noch als (un)erwünschter Nebeneffekt gelten. Die literarische Verarbeitung des Inkognitos bildet vielmehr einen wichtigen Bestandteil seiner politischen Funktion. Sie instrumentalisiert das Inkognito, indem sie bestimmte Charaktereigenschaften des Inkognitoträgers betont. Nicht nur bei Joseph II. wird auf die Volkstümlichkeit des Kaisers, seine Popularität und seine Bescheidenheit abgehoben. Diese positiven Eigenschaf-
47 48 49
Vgl. Duval-Pyrau (1777), 84. Siehe auch Du Coudray (1777), 37f. Vgl. Duval-Pyrau (1777), 91. Sowohl Duval-Pyrau als auch Du Coudray berichten von einer Landgaststätte auf dem Weg nach Paris, deren Angestellten auf den Kaiser warten, ihn jedoch bei seiner Ankunft nicht erkennen, da er viel weniger Gepäck bei sich trägt, als sie es von einem Kaiser erwarten. Der Wirt bittet den unbekannten Gast nicht zu lange zu verweilen, da er bald den Kaiser bewirten soll. Der Wahrheitsgehalt des Vorfalls scheint mehr als zweifelhaft, beide Autoren waren mit Sicherheit nicht Augenzeugen der Szene. Das beweist, dass populäre Ausschmückungen der Kaiserreise schnell verbreitet und weitergegeben wurden. Vgl. Duval-Pyrau (1777), 31; Du Coudray (1777), 4f.
164
II. Die Reglementierung des Inkognitos
ten werden unmittelbar in präzise politische Tugendbilder übersetzt und als Qualitäten eines guten Herrschers beschrieben. Bei Joseph steht die im Inkognito ausgedrückte Bescheidenheit stellvertretend für einen umsichtigen und solide wirtschaftenden Staatsmann. „Er haßt den Hofzwang, den [sic!] Pracht, das Ceremoniel, und allen Ueberfluß mehr, als daß er sie suchte; in seinem Wohnzimmer siehet es aus, wie beym Privatmann.“ Joseph ist als unkorrumpierbarer Herrscher „unempfindlich gegen eitlen Ruhm“, er „verachtet die kriecherischen Schmeichler“.50 Nur als ein von vornherein gelüftetes Geheimnis konnte das Inkognito diese Wirkung entfalten: [. . . ] so fand er doch täglich Mittel, seine Grösse zu verhüllen und das Incognito zu geniessen, durch dessen Hilfe er fortfahren konnte, die Menschen von allen Ständen zu beurtheilen und sich dennoch deren Anbetung in der Stille zu erwerben.51
Die Bescheidenheit des Kaisers charakterisierte den vorausdenkenden Staatsmann und erschien in diesen Texten nie als Geiz. Josephs edler Charakter hinderte ihn daran, vom Schicksal seiner Untertanen unberührt zu bleiben, wenn er sich anonym unter sie mischte. „In der Freygebigkeit schien Er oft das Incognito vergessen zu haben; Er war hierinn mehr kaiserlich, als gräflich [. . . ]“.52 Solche Gesten der Großzügigkeit transformierten den Graf von Falkenstein wieder in Kaiser Joseph II. Mit Hilfe des Inkognitos stellte er nicht nur seinen Charakter, sondern auch seine Herrscherqualitäten unter Beweis. Das Inkognito bewies, dass sich Joseph der mit seiner privilegierten Position verbundenen Gefahren wohl bewusst war: Der Herr Graf behauptete die Rolle eines Unbekannten, welche Er in Paris angenommen oder vielmehr schon dahin gebracht hat, die ganze Zeit seines Aufenthalts daselbst vortrefflich, mit einer so bewundernswerten Bescheidenheit und Klugheit, daß ganz Frankreich sein Betragen nicht genug rühmen und erheben kann.53
Die mit vielfältigen Anekdoten durchsetzten, schillernden Reiseberichte präsentierten einen edlen und klugen Kaiser, der sich unentwegt um seine Untertanen sorgt. Ohne Scheu vor Übertreibungen fabrizierten sie heroisierende Abbilder idealer Herrschaft. Du Coudray bekennt im Avertissement zu seinem Text, dass er dem Leser sowohl wahrheitsgemäße Beschreibungen (receuil de faits) als auch Lobgesänge auf den „Comte de Falckenstein“ bieten werde. Der letzte Teil der Anthologischen Beschreibung besteht nahezu ausschließlich aus Huldigungen an den Graf von Falkenstein, die, so der Autor, von den verschiedensten Zeitgenossen mehr oder weniger spontan verfasst worden seien. So ließ 50 51 52 53
Anthologische Beschreibung (1778), 12. Ebd., 76. Ebd., 80. Ebd., 72.
3. Joseph Graf von Falkenstein
165
es sich ein gewisser „M. Bouteille de Manosque en Provence“ nicht nehmen, eine Ode à l’Empereur / Qui voyage incognito zu verfassen. Ce n’est pas l’appareil du trône / Qui des Rois fait la majesté: Le mérite, & non la couronne, / Donne à leur auguste personne / L’empreinte de la royauté [. . . ] Ainsi, n’importe qu’il se nomme / Comte, Baron, Duc: quel qu’il soit, Toujours on trouve le grand homme / Sous l’incognito d’un grand Roi.54
Auch für Herr Saurin zeichneten die Tugenden des kleinen Mannes den großen Monarchen aus. Er dichtete lakonisch: „Et plus vous cachez l’Empereur / Plus Vous faites admirer l’Homme.“55 Die literarische Verarbeitung des Inkognitos betonte beständig, dass die angenommene Identität den edlen Charakter des Herrschers nicht verdecken konnte. Wie schon Odysseus gelang es auch Joseph nicht, seine natürliche Befähigung zur Herrschaft hinter einer unstandesgemäßen Kleidung zu verbergen: O le bon Prince, ô l’agréable Maître! Qui ne veut au Public se montrer ni paroître; Malgré qu’il cache à tous son esprit & son cœur, Ses talens, ses vertus, on a su les connoître. Comte de Falckenstein! Illustre Voyageur! Chacun se dit tout bas: vous êtes l’Empereur.56
Solche Beispiele ließen sich nahezu beliebig vermehren.57 Sie illustrieren die politische Instrumentalisierung des Inkognitos, die nicht zuletzt deswegen so erfolgreich war, weil sie auf Jahrhundertealten literarischen Topoi fußte.58 54 55 56
57
58
Du Coudray (1777), 75. Siehe auch Anthologische Beschreibung (1778), 85. Anthologische Beschreibung (1778), 90. Hervorhebungen im Original. Du Coudray (1777), 11. „Vous ordonnez sur Vous qu’on garde le silence; / Mais en vain vous voulez voyager inconnu, / Prince, trop d’éclat vous devance, / Et c’est celui de la Vertu.“ Du Coudray (1777), 15. „Il crut en se déguisant mieux, / Se mieux soustraire à leur hommage. / Il se trompa [. . . ] Des rayons, malgré lui, s’échappant de nuë / Qui le tenoit enveloppé, / De tout œil attentif, par cet éclat frappé, / La Majesté du Dieu fut bientôt reconnue.“ Du Coudray (1777), 24. „Et se montre entouré de ses seules vertus. / C’est en vain qu’il prétend cacher un rang illustre.“ Du Coudray (1777), 26. „Ainsi le vrai mérite & la simplicité / Ne sauroient échapper à la célébrité.“ Du Coudray (1777), 70. Dazu kommt eine ebenfalls nicht zu vernachlässigende visuelle Umsetzung in Form von Zeichnungen und Bildern der Reise. Vgl. „Description d’un Tableau consacré à la gloire du Roi & de M. le Comte de Falckenstein, sur son voyage en France.“ Du Coudray (1777), 80ff. Siehe auch LWL-Westfälisches Landesmuseum, Portraitarchiv Diepenbroick: C-570234 PAD (= Bildnis Kaiser Josephs II. als Graf Falkenstein, 1777); C- 600983 PAD (= Kopfbüste Kaiser Josephs II. Anonyme Radierung, wahrscheinlich 1777); C-600984 PAD (= Bildnis Kaiser Josephs II. Kupferstich und Radierung von Johann Heinrich Lips, 1777). Johann Elias Schlegel, der seit 1743 als Privatsekretär des Sächsischen Gesandten in Kopenhagen war, schrieb ein Gedicht über den Kurfürst Friedrich Christian von Sachsen und dessen Inkognitoreisen, das dem bekannten Muster folgt: „Aus Deinen Tugenden Augusts Geschlecht erkannt [. . . ] / Umsonst hast Du an Dir der Hoheit Glanz versteckt / Dein Mund hat Dich verhehlt; dein Wesen Dich entdeckt. / Dich mußte, wer Dich sah, als Königssohn,
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Eine seiner letzten großen Reisen führte Joseph II. Ende Mai 1781 wiederum als Graf von Falkenstein in die südlichen und die Vereinigten Niederlande.59 Einmal mehr sollte „the strictest incognito [. . . ] enable me to admire its singular beauties, make me appreciate the worth of liberty and give me a tincture of commercial and naval affairs.“60 Joseph besichtigte Häfen, Krankenhäuser, Strafanstalten und die Universität von Leiden, wo er überall von Schaulustigen beobachtet wurde. In Amsterdam empfing ihn der Bürgermeister, und der Graf von Falkenstein hielt sogar eine kurze Ansprache. In Zaandam schließlich besuchte er das Haus, in dem Peter der Große 80 Jahre zuvor inkognito gewohnt hatte. Nicht nur diese Geste, sondern auch die beständigen Anspielungen auf die Große Gesandtschaft verdeutlichen, wie sehr diese dem Inkognito zum Vorbild wurde.61 Im Laufe seiner vielen Reisen verschmolzen die Figur des Kaisers Joseph II. und die des Grafen von Falkenstein. Der Graf wurde zum alter ego des Kaisers, zu dem Herrscher, der er eigentlich wäre, wenn ihn das belastende Zeremoniell der Kaiserkrone nicht daran hindern würde: [E]s hat ihm beliebet, die Reise, von welcher hier die Rede ist, unter dem Schleyer des sogenannten Incognito, und auf derselben von keiner andern seiner Würden und Vorzüge Gebrauch zu machen, als von der niedersten unter denen, die er besitzet. [. . . ] Wir werden ihm daher auch in dieser Beschreibung diesen Namen und Charakter lassen.62
Nach dem Tod Josephs II. am 20. Februar 1790 wurde Leopold II. zum Kaiser des römisch-deutschen Reiches gekrönt. Er setzte die Tradition seines Bruders fort und bediente sich regelmäßig des Inkognitos, um als „Markgraf von Burgau“ seine Lande zu bereisen. Genau wie Joseph II. musste er sich dabei den Verzicht auf ostentative Ehrenbezeugungen ausdrücklich erbitten.63
59
60 61 62 63
begrüßen, / Und konnte Deinen Stand aus Deinem Herzen schließen.“ Schlegel (1766), 139. Vgl. dazu ausführlich Dunk (2008). Auch Ludwig XVI. erkannte den politischen Nutzen solcher Selbststilisierungen. Der König gab systematisch Texte und Gemälde in Auftrag, die ihn mit seinem für seine sprichwörtliche Volkstümlichkeit bekannten Vorgänger Heinrich IV. verglichen. Insbesondere die „visite incognito d’Henry IV au meunier Michau“ wurde dabei immer wieder thematisiert. Vgl. Chèry (2010), Absatz 31. Joseph zitiert nach Beales (1987), 252. Vgl. Dunk (2008), 101. Siehe auch Du Coudray (1777), 2; Duval-Pyrau (1777), 14. Anthologische Beschreibung (1778), 7. Der letzte Satz der Schrift lautet: „Joseph II. heutiger römischer Kaiser; Graf von und zu Falckenstein.“ Ebd., 132. Vgl. May (1985), 67. Siehe auch Conrads (2005), 607.
3. Joseph Graf von Falkenstein
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3.3 Meinen Namen will ich nicht nennen, noch den Rang Aufgeklärte Absolutisten wie Friedrich der Große und Joseph II. erhoben das Inkognito zum Herrschaftsprinzip und kommunizierten es systematisch an die Öffentlichkeit. Die Presse und die zahlreichen literarischen Verarbeitungen machten das Publikum mit dem Inkognito vertraut, und die Bewohner europäischer Hauptstädte wie Paris, London und Wien gewöhnten sich an die Inkognitoanwesenheit wichtiger Herrscher. Im Zuge dieser Entwicklung hielt der Begriff inkognito Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch. Viele ab der Mitte des 18. Jahrhunderts veröffentlichte Lexika widmeten dem Begriff eigene Lemmata. Das zwischen 1732 und 1754 von Johann Heinrich Zedler veröffentlichte Grosse vollständige Universallexicon aller Wissenschafften und Künste definierte ihn folgendermaßen: Incognito seyn heisset / wenn ein vornehmer Herr sich vor eine Privat-Person ausgiebet / damit er verborgen bleiben möge. Es hat seine Gradus, denn halb incognito seyn / ist wenn ein grosser Herr zwar äusserlich einen geringen Namen / jedoch die Ehren-Bezeugungen als Escorte bey der Einholung / Visite und Wache annimmt; oder wenn er alles dergleichen abschläget und sich gar nicht zu erkennen gibet.64
Diese Definition beschränkt sich auf zeremonielle Aspekte und spricht die Bandbreite der verschiedenen Inkognitospielarten an. Mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit setzt sie voraus, dass der Leser zwischen Erkannt-Sein und Sich-zu-erkennen-Geben zu unterscheiden weiß und somit die zeremoniellen Anforderungen des Inkognitos versteht. Denn das Sich-gar-nichtzu-erkennen-Geben des Inkognitos beruht auf der Voraussetzung, dass man bereits erkannt ist. Auch die ungleich berühmter gewordene Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Leser mit den zeremoniellen Gepflogenheiten des Nicht-Erkannt-Sein-Wollens vertraut sind: INCOGNITO, adv. (Gram. & Hist. mod.) terme purement italien, qui signifie qu’un homme est dans un lieu, sans vouloir y être connu. Il se dit particulièrement des grands qui entrent dans une ville, & qui marchent dans les rues sans pompe, sans cérémonie, sans leur train ordinaire, & sans les marques de leur grandeur. Les grands en Italie ont coutume de se promener dans la ville incognitò, & ils ne sont pas bien – aisés qu’on les salue dans ces occasions. Ce n’est pas absolument qu’ils veuillent qu’on les méconnoisse, mais c’est qu’ils ne veulent point être traités avec les cérémonies, ni recevoir les honneurs dûs à leur rang. Quand les chevaux des carrosses des princes, des cardinaux & des ambassadeurs, n’ont point de houppes qu’ils appellent fiocchi, & que les rideaux des carrosses qu’ils nomment bandinelle,
64
Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 14, Sp. 607.
168
II. Die Reglementierung des Inkognitos
sont tirés, ils sont censés être incognitò, & l’on n’est point obligé de s’arrêter, quand ils passent, ni de les saluer. Les cardinaux vont aussi sans calotte rouge, quand ils veulent être incognitò. [. . . ] Quand des princes voyagent, & veulent éviter les formalités & les discussions du cérémonial, ils gardent l’incognitò, & prennent un autre nom que leur titre de souveraineté; ainsi quand le duc de Lorraine vint en France, il y parut sous le nom de comte de Blamont.65
Mit der Kleidung, dem Vermeiden pompösen Zeremoniells und dem Gebrauch von Pseudonymen werden wichtige Charakteristika angeführt. Die wenigen, relativ willkürlich ausgewählten Beispiele verweisen auf die flexible und situationsspezifische Anwendung des Inkognitos. Trotz seiner zunehmenden Kodifizierung in der Zeremonialwissenschaft passte es sich dem jeweiligen Zweck an. Es sicherte den Verzicht auf bestimmte Zeremonielle zeremoniell ab und legitimierte so das Zeremonienwesen. Jenseits solcher zeremoniellen Feinheiten führte die Bandbreite der Inkognitoreisen, -begegnungen und -aufenthalte, die alle mehr oder weniger weit im öffentlichen Raum stattfanden, auch dazu, dass das Inkognito im Sprachgebrauch trotz steigendem Bekanntheitsgrad diffus blieb. Immer öfter bezeichnete der Begriff weniger eine zeremonielle Verklärung als eine tatsächliche Verkleidung und Unkenntlichmachung. Hier liegen die Ursprünge der bis heute vorherrschenden umgangssprachlichen Verwendung des Terminus inkognito, infolge dessen es in Rückbezug auf seine lateinische Wurzel und in Abwendung von seiner zeremoniellen Praxis mehr und mehr im Sinne von unbekannt benutzt wurde. Die Literatur des 18. Jahrhunderts spiegelt die zunehmende Variabilität des Begriffs wider.66 Bereits 1700 hatte John Dunton das Inkognito – trotz des Hinweises auf Peter den Großen – als persönlichen Rückzug aus der Welt beschrieben. „What if the World’s a Stranger to your Rank and Person?“67 Bei seinen Überlegungen zu Geschichte und Gebrauch des Inkognitos kam Dunton zu dem überraschenden Ergebnis: „[. . . ] ’twas first Practic’d in Paradice“.68 Für ihn bezeichnete es nicht zuletzt einen ursprünglichen Zustand frei von Pflichten und Lasten. Dunton benutzte das Inkognito als Metapher einer meditativen oder mystischen Weltabgewandtheit. Antoinette Bouignon verwandte es in seiner 1703 in London veröffentlichten Schrift The light rises in darkness sogar ausschließlich in einem religiösen Kontext.69 65 66
67 68 69
Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Bd. 8, 652. Viele verschiedene Beispiele finden sich bei Schulz, Hans (Hg.): Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 1: A–K, Berlin 1913, 294f., sowie Littré. Émile (Hg.): Dictionnaire de la langue française, Bd. 4, Paris 1957, 863f. Dunton (1700), A2. Ebd., 2. Vgl. Bouignon (1703).
3. Joseph Graf von Falkenstein
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Johann Musäus thematisierte das Inkognito in seinen Physiognomischen Reisen, einem 1778/79 veröffentlichten satirischen Roman, ähnlich wie Dunton als „Spiel meines Inkognito“, um das Verhältnis von Welt und Individuum zu charakterisieren. Die Erzählung handelt von einem Reisenden, der sich verkleidet, um nicht erkannt zu werden, und dreht sich um Fragen der Physiognomie und des Erscheinungsbildes. Sie thematisiert das Spannungsverhältnis von Schein und Sein. Wilhelm Ludwig Wekhrlin hingegen verlegte das Inkognito in den Orient. In Das graue Ungeheuer (1784) erkundet der verkleidete Harun-al-Raschid unter einem Pseudonym sein Volk, das ihn schon bald erkennt.70 Der anonyme Autor von The nabob: Arpasia ignoriert in seiner 1786 veröffentlichten Schrift im Kapitel „The incognito“ das skizzierte Zeremoniell vollkommen. Der Begriff dient ihm lediglich als Chiffre.71 Zu dieser diffusen Begriffsverwendung trugen weitere literarische Motive des Inkognitos bei. Louis-Sébastien Mercier behandelt in seinem utopischen Roman L’An 2440. Rêve s’il en fut jamais von 1771 das Thema der idealen Erziehung des Fürsten, die, um erfolgreich zu sein, durch und durch unfürstlich erfolgen muss. Der Thronfolger soll fern des Hofes inmitten von Bauern und Bürgern aufwachsen, um so die Arbeit und die Produkte seines Volkes unvermittelt kennenzulernen. „Der Infant sieht alles mit eigenen Augen: er geht in die Hütte des Landmanns, ißt an seinem Tische, gesellet sich zu seinen Arbeitern, lernet ihn hochachten.“72 Merciers Forderung, der Fürst solle ein Verständnis von „natürliche[r] Gleichheit“ entwickeln, zieht sich durch die europäische Literaturgeschichte.73 Auch in Goethes Wilhelm Meister spielt das Motiv des Königssohns eine wichtige Rolle. Der letzte Satz der Lehrjahre lautet: „[. . . ] du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.“74 Friedrich Schiller beschreibt im Demetrius-Fragment einen Fürst, der nicht weiß, dass er ein solcher ist. Jean Paul nahm sich des Motivs in seinem letzten, ebenfalls Fragment gebliebenen Roman Komet an, verwandelte es jedoch in eine Satire. Die Hauptfigur ist ein Apothekersohn, der sich zuerst für einen Heiligen und dann für einen Fürsten hält. Standesgemäß reist er mit einer tragbaren Residenzstadt übers Land.75 Auch in seiner Romanbiographie Hesperus oder 45 Hundposttage (1795–98) ironisiert Jean Paul das Inkognito. Hier ist von einem Fürst die Rede, der „Maskentänze und
70 71 72 73 74 75
Vgl. Wekhrlin (1784), 227. Vgl. Autor of The nabob: Arpasia (1786). Zitiert nach Müller (1982), 72. Ebd., 73. Ebd., 78 Vgl. ebd., 89.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Inkognito-Reisen und gemeine Sitten liebte, und der nur des Ministers geistige Masken und Inkognito-Reisen verwünschte.“76 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewann der komödiantische Aspekt des Inkognitos in der Literatur die Oberhand. 1793 persiflierte F. W. Ziegler in seinem Lustspiel Das Inkognito den aufgeklärten Absolutismus. Gleich zu Beginn jubelt der Kammerdiener des fiktiven Fürsten: „Weil Eure Majestät nicht als König, sondern als Privatmann reisen, so liegt alles ohne Hülle, in seiner wahren Gestalt vor Eurer Majestät Augen.“ Der König antwortet erzürnt: „Schweig: die Majestät habe ich in der Residenz gelassen.“77 Der König erklärt dem etwas begriffsstutzigen Diener sein Vorhaben „[w]ohltätig gegen Unglückliche, und gerecht gegen noch unbelohnte Verdienste zu seyn.“78 Zieglers König legt sukzessive alle Herrschaftsinsignien ab. Am Ende des Stückes erscheint er „ohne Kaputrock, in Hannövrischer Garde Uniform, mit Stern, und Orden, den Hut in der Hand, daß man seinen kahlen Kopf sieht“.79 Doch schon bald verfängt sich der Monarch im eigenen Identitätsspiel. Als er von einem Militär nach seinem Namen gefragt wird, weiß er zunächst keine Antwort und erfindet nur zögerlich den wenig passenden Namen „Kohlbach“.80 Natürlich wird bald bekannt, wer dieser Kohlbach eigentlich ist, und die Bürger fordern ihn auf, in die Amtsgeschäfte des Städtchens einzugreifen. Der König erwidert hilflos: „Herr Major, ich will inkognito bleiben.“ Woraufhin dieser nachfragt: „Ganz wohl! Aber welchen Karakter nehmen Eure Majestät [. . . ] an?“ Die Antwort des Königs, der mit dem Inkognito bei seinen Untertanen auf Ignoranz und Unverständnis stößt, zieht die hehre Idee aufgeklärter Absolutisten ins Lächerliche, denn der neue Charakter des Königs soll der „eines Menschen“ sein.81 Wenige Jahre später brachte Gioachino Antonio Rossini das Inkognito als Verwechslungskomödie auf die Opernbühne. In seinem 1816 in Rom uraufgeführten Il barbiere di Siviglia verwandelt sich der Protagonist Graf Almaviva zuerst in den bürgerlichen Lindoro und anschließend in einen Kavalleristen und einen Musiklehrer. Als „incognito amante“82 will er seine Liebste erobern. Für ihn steht fest: „Meinen Namen will ich nicht nennen, noch den Rang.“83
76 77 78 79 80 81 82 83
Paul (1996), 750. Ziegler (1793), 12f. Ebd., 14. Ebd., 128. Ebd., 50. Ebd., 130f. Rossini (2008), II, 11. Ebd., I, 6.
3. Joseph Graf von Falkenstein
171
3.4 Die Verbürgerlichung des Inkognitos Für Monarchen des 18. Jahrhunderts gehörte die Inkognitoreise zum zeremoniellen Repertoire. Gleichzeitig bezeichnete inkognito in der Literatur und im Sprachgebrauch ein immer inkongruenteres Motivcluster. Während die Zahl der adligen Inkognitoreisen weiter anstieg, verwendeten auch bürgerliche Schichten zunehmend den Begriff.84 Die sich intensivierende Verbürgerlichung des Inkognitos ist symptomatisch für den generellen Aufstieg des Bürgertums im Zeitalter der Aufklärung.85 Ähnlich wie andere Adelsprivilegien vereinnahmten insbesondere wohlhabende Bürger auch das Inkognito und nutzten es für ihre Auslandsreisen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die so genannte Grand Tour, eine längere Bildungsreise ins Ausland, welche immer mehr junge Bürgersöhne im 18. Jahrhundert meist nach Frankreich und vor allem nach Italien führte. Junge Adlige hatten solche Reisen schon im 16. und 17. Jahrhundert unternommen. Gleichzeitig nahmen immer mehr Adlige auf ihren Inkognitoreisen eine dezidiert bürgerliche Identität an. Während Joseph II. 1777/78 als Graf von Falkenstein Frankreich durchquerte, reiste Prinz August von Sachsen-GothaAltenburg inkognito nach Italien, wo ihn Papst Pius VI. empfing. Das Pseudonym des 30-jährigen Prinzen bezog sich jedoch nicht auf einen Ort aus seinem dynastischen Gebiet und gab auch keinen niederen Adelstitel (z. B. Graf) an. Stattdessen zog es Prinz August vor, sich als Herr Hartmann, ein angeblicher Kaufmann aus Berlin, auszugeben.86 Trotzdem unterschied sich auch Augusts Inkognito grundlegend von anderen Formen des Identitätswechsels. So reiste Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade 1775 ebenfalls nach Italien und nahm dafür den Titel eines
84
85 86
Dabei scheinen die Anfänge des bürgerlichen Inkognitos zumindest innerhalb der großen europäischen Metropolen weiter zurück zu liegen. Heyl beschreibt, wie das Inkognito bereits im späten 17. Jahrhundert in London, „wenn man sich in der Großstadt umherbewegte“, angewendet wurde. Ab dem späten 18. Jahrhundert bezeichnete es dann ein sich „verbreitendes Phänomen“. Heyl (2004), 313f. Auch in Paris lässt sich eine ähnliche Chronologie beobachten. So ist bei einem kolorierten Kupferstich aus dem Jahre 1689 nicht eindeutig zu bestimmen, ob es sich um ein adliges oder aber ein bürgerliches Inkognito handelt (Homme de qualité allant incognito par la ville), siehe Titelbild. Ein offensichtlich vom gleichen Kupferstecher und dem gleichen Koloristen bearbeitetes Bild (Homme de qualité en habit galonné), das dieselbe Person in anderer Kleidung zeigt, verstärkt diesen Eindruck. Vgl. Stannek (2003), 342. Stannek datiert den Stich, der von Nicolas Arnoult stammt, auf das Jahr 1687; die Kolorierung datiert laut Bildunterschrift aus dem Jahr 1693. Beide Bilder tragen die Signatur J.D. de S. Jean. Laut Roche brachte das „incognito vestimentaire“ im 18. Jahrhundert neue Freiheiten mit sich. Roche (1989), 384. Vgl. Zapperi (1999), 61.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Graf Mazan, einem Städtchen in der Nähe von Avignon, an.87 Sade hoffte so, der französischen Justiz zu entkommen, die ihn nach einer Anklage durch zwei Prostituierte 1772 in Marseille in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte. Wie bei der Flucht Karls II. nach der Schlacht von Worcester besaß auch dieser Identitätswechsel nichts Spielerisches oder Zeremonielles und bezeichnet daher kein Inkognito. Weniger eindeutig ist der Fall von François Antoine de Chevrier, einem Schriftsteller aus Nancy. Er berichtet in einem Brief an einen M. Gouvest von einem Aufenthalt „incognito à Francfort, sous le nom de M. Martin“.88 Es wird nicht deutlich, ob die Reise freiwillig oder aber erzwungen war, z. B. um vor Gläubigern oder dem Gesetz zu flüchten. Aber auch hier verwendete ein Vertreter des Bürgertums einen durch und durch bürgerlichen Namen, um bei einem Auslandsaufenthalt seine Identität und die damit verbundenen Anforderungen zu verändern. Solche Motive lagen auch dem Inkognito der Grand Tour zu Grunde. Im Zuge dieser Bildungsreisen, die oft viele Monate dauerten, bot das Inkognito eine Vielzahl interessanter Optionen. Immerhin sollte der Umgang mit fremden Kulturen und unbekannten Sprachen die Persönlichkeit junger Männer formen.89 Dafür war das Inkognito, das eine Veränderung von Kleidung und Habitus erforderte, ein probates Mittel. Die Behauptung eines niederen sozialen Status half, soziale Distinktionsmerkmale zu beobachten und zu erlernen. Während im 16. und 17. Jahrhundert Kleider- und Hofordnungen soziale Stellung und öffentliches Auftreten immer verbindlicher aufeinander bezogen hatten, charakterisiert sich das 18. Jahrhundert durch eine gegenläufige Entwicklung.90 Zwar blieb Kleidung ein Zeichen von politischer Macht und sozialem Einfluss. „[The] costume of a prince [. . . ] reflected his greater political power.“91 Dies war jedoch, wie das Beispiel der aufgeklärten Absolutisten zeigt, nur noch bei bestimmten Gelegenheiten der Fall. Im Zeitalter der Aufklärung, das nicht mehr die stillschweigende Akzeptanz sozialer Hierarchien, sondern deren eigenverantwortliche Umgestaltung einforderte, stellte sich die Frage nach der Wahl der eigenen Identität immer dringlicher. Antje Stannek fasst die Erleichterungen und Vorzüge des Inkognitos auf einer Grand Tour in vier Punkten zusammen. Erstens schonte es die Reisekasse. Es ermöglichte billigere Unterkünfte, sparte teure Gastgeschenke und erlaubte so, die Reise zu verlängern. Zweitens half das Inkognito zunehmend verbindlichere zeremonielle Anforderungen zu umgehen. Insbesondere der Aufenthalt 87 88 89 90 91
Vgl. ebd., 61f. Chevrier (1774), I–IV. Vgl. Stannek (2001), 13. Vgl. ebd., 333. Ebd., 334.
3. Joseph Graf von Falkenstein
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an Höfen war zeremoniell extrem kodifiziert und jeder Fauxpas drohte, Konsequenzen nach sich zu ziehen. Das Anlegen einer bürgerlichen Identität ließ solche Probleme erst gar nicht entstehen. „Dies dürfte der Grund sein, weshalb Väter ein Inkognito gerne in ihren Instruktionen vorschrieben.“92 Drittens intensivierte das Inkognito die Kontakte zu anderen sozialen Schichten. Das aufgeklärte Bildungsideal, das der Grand Tour zugrunde lag, verlangte nach Teilnahme. Der Reisende sollte fremde Sitten und Gebräuche nicht nur erlernen, sondern auch erleben. Die Reise diente der „Erfahrung fremder Lebenswelten“.93 Das Inkognito erleichterte den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung erheblich.94 Wie schon Montaigne bemerkt hatte, erlaubte es einen authentischeren Einblick in fremde Kulturen. Viertens schließlich umging das Inkognito die politischen Konsequenzen der Anwesenheit am Hof. Insbesondere Stanneks letztes Kriterium trifft jedoch eher auf den hohen und niederen Adel als auf Vertreter des Bürgertums zu. Ohne seine zeremoniellen Spielarten näher zu untersuchen, definiert sie das Inkognito als ein „peculiar kind of accepted social status“.95 Im Rahmen einer Grand Tour wurde es durch eine bestimmte Kleidung offiziell angezeigt. Darin erweist es sich spezifischer als andere Formen des Inkognitos, welche die anzulegende Kleidung, wenn überhaupt, nur sehr vage vorgaben. Die Kleidung bei einer inkognito vollzogenen Grand Tour musste leicht erkennbar sein. Ein besonderes Kleidungsstück, das zumindest symbolisch das Gesicht verhüllte, zeigte es an und forderte dazu auf, sich auf die Spielsituation einzulassen. „The traveler wore a sort of cape, called the pèlerine, which announced his unofficial status.“96 Die Identität des Reisenden war dabei durch persönliche Bekanntschaften, Empfehlungsbriefe oder das Vorsprechen bei den örtlichen Behörden bekannt.97 Falls dies nicht der Fall war, symbolisierte die pèlerine immerhin, dass die vorgegebene Identität nicht der tatsächlichen entsprach.98 Allerdings barg die Grand Tour gewisse Gefahren. Weit ab von der Heimat 92
Ebd., 177. Leibetseder kommt dagegen zu dem Schluss, dass auch bei der Grand Tour Familiennetzwerke, Ehrungen sowie Status und Rang des Reisenden eine wichtige Rolle spielten. „Allenfalls das vom reichsunmittelbaren Hochadel gepflegte Inkognito stellt hier eine Ausnahme dar.“ Leibetseder (2004), 206. 93 Stannek (2001), 178. Dieses Motiv findet sich zwar schon länger in der Reiseliteratur, erreichte aber erst im 18. Jahrhundert allgemeine Anerkennung. Vgl. dazu Sigmund von Birkens Brandenburgischer Ulysses von 1669. 94 Vgl. Stannek (2003), 335. „While travelling incognito, they learned the legal, moral, and social standards of a society, from the outside looking ‘in’”. Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd. Hervorhebung im Original. 97 „Yet it is wrong to assume that travelling incognito meant travelling without being known.“ Stannek (2003), 335. 98 Dies war nicht nur ausreichend, um das Inkognito anzuzeigen, sondern ermöglichte
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
konnte der Reisende nicht wie selbstverständlich davon ausgehen, dass sein Inkognito akzeptiert und respektiert wurde. Eine prunkvolle Reisestaffage, deren Inkognito nur durch einen einfachen Umhang angezeigt wurde, erhöhte das Risiko eines Überfalls. Einige Kommentatoren forderten ihre sich für die Reise rüstenden Leser deswegen nachdrücklich dazu auf, bei der Grand Tour keine übertrieben ostentative Kleidung zu tragen.99 Zudem erhob sich so manche kritische Stimme in Bezug auf das Inkognito bei der Grand Tour. War es im feindlichen Ausland nicht sinnvoller, die dort anerkannten sozialen Privilegien auszuleben, um so anderen Widrigkeiten zu trotzen? Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge gehört zu den prominentesten Verfechtern dieser Meinung, wie er in seinem 1788 veröffentlichten Über den Umgang mit Menschen deutlich machte: Ich rathe niemand, sich auf Reisen fremde Namen zu geben; man kann dadurch, ehe man sich’s versieht, in große Verlegenheit gerathen, und selten ist es nöthig und nützlich, ein solches Incognito zu beobachten.100
Norbert Conrads interpretiert das neuzeitliche Inkognito rundheraus als Folgeerscheinung der Grand Tour. Die Reisenden erfanden sich eine „neue, fingierte Existenz“, mit deren Hilfe sie „aller Aufmerksamkeit und dem lästigen Protokoll“ entgingen.101 Goethes Italienreise hilft, das bürgerliche Inkognito auf seine aristokratischen Wurzeln zu prüfen. Diese Reise bezeichnet keine Grand Tour im klassischen Sinne, da der Dichter sein Inkognito nicht wirklich freiwillig anlegte. Unzufrieden mit seiner Stelle am Hof von Karl August von SachsenWeimar-Eisenach ergriff er 1786 die Gelegenheit zur Flucht nach Italien. Als Teil eines dezidierten Selbstfindungsprozesses ist die heimliche Abreise auf den ersten Blick kaum als Inkognito zu bezeichnen. Dennoch erfüllt sie einige seiner idealtypischen Kriterien. Johann Wolfgang von Goethe reiste unter dem Pseudonym Johann Philipp Möller. Dieser Reisename kann als spielerische Identitätsandeutung gelesen werden, da Goethe ihn aus seinem eigenen und aus dem Vornamen seines Dieners Philipp Seidel zusammensetzte. Es gibt sogar einige Hinweise, dass Goethe
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100 101
auch einen fließenden Statuswechsel zwischen Inkognito und offiziellem Besuch. Stannek (2001), 178. Dieser Ratschlag ist vor dem Hintergrund einer sich rapide wandelnden Gesellschaft zu sehen, bei der es schwächeren sozialen Schichten immer mehr möglich wurde, ihren Ansehensstatus durch äußere Zeichen zu verbessern. Insbesondere das Bürgertum lebte seinen steigenden Reichtum durch ein Konsumverhalten aus, das vormals dem Adel vorbehalten geblieben war. „Der Adel fiel hingegen – im Bewusstsein einer anderweitigen Hoheit – unter Bürgerlichen durch das Tragen einfacher Kleidung auf.“ Stannek (2001), 179. Knigge (1993), 264. Conrads (2005), 591.
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auch einen Pass mit diesem Namen besaß.102 In Italien stellte er sich durchwegs als Johann Philipp Möller vor, behauptete 32 Jahre alt (tatsächlich war er sechs Jahre älter) und von Beruf Maler zu sein. Er unterschrieb auch seine Korrespondenz mit diesem Namen, wobei er teils auf Italienisch mit Giovanni Filippo Moeller, teils auf Französisch mit Jean Philippe Moeller zeichnete.103 Wie damals üblich, wurde Möllers Aufenthalt in den Zeitungen unter der Rubrik „Ankunft von Hotelgästen“ bekannt gemacht.104 Die wahre Identität des Reisenden sprach sich bald herum, und somit war auch Goethes Inkognito ein öffentliches. Dem Schriftsteller ermöglichte es, aus den Zwängen des Hoflebens auszubrechen und neue soziale Beziehungen zu knüpfen. So wurde er in die deutsche Künstlerkolonie in Rom aufgenommen, zu der unter anderem Wilhelm Tischbein und Karl Philipp Moritz gehörten. Für die Bezeichnung der Reise als Inkognito spricht zudem, dass Goethe seine Kleidung der neuen Identität anpasste. Sie markierte eine soziale Position, die deutlich unterhalb seiner Stellung in Weimar angesiedelt war.105 Mit Pseudonym, Kleidung, Öffentlichkeit und Funktionalität sind mehrere Bedingungen des Inkognitos erfüllt. Goethe selbst bezeichnete es als solches, wie sein Reisetagebuch verdeutlicht. Am 8. November 1786 notierte er auf der Strecke zwischen Ferrara und Rom: Mein wunderliches und vielleicht grillenhaftes Halbinkognito, bringt mir Vorteile, an die ich nicht denken konnte. Da sich jedermann verpflichtet, zu ignorieren wer ich sei, und also auch niemand mit mir von mir reden darf, so bleibt den Menschen nichts anderes übrig als von sich selbst oder von Gegenständen zu sprechen, die ihnen interessant sind [. . . ].106
Deutlich wird nicht nur die Suche nach authentischen Erfahrungen, welche auch die Grand Tour kennzeichnete. Obwohl Goethe sich unerlaubt von seinem Amt entfernt hatte, charakterisiert sich auch dieses Inkognito durch seinen ludischen Charakter. Es zwang seine Ansprechpartner geradezu, sich auf das Spiel einzulassen. Goethe war sich dessen bewusst: Damit es mir denn aber doch mit meinem beliebten Inkognito nicht wie dem Vogel Strauß ergehe, der sich für versteckt hält wenn er den Kopf verbirgt, so gebe ich auf gewisse Weise nach, meine alte These immerfort behauptend.107
Genau diese Einstellung legte er nicht nur auf der Reise, sondern auch in Rom an den Tag. Der bekannte Autor des Werther weigerte sich schlicht und ergreifend, zu seiner angestammten Identität zurück zu kehren: „Kaum war ich in
102 103 104 105 106 107
Vgl. Zapperi (1999), 39, 52. Vgl. ebd., 54, 57. Vgl. ebd., 40. Vgl. ebd., 41–3. Goethe (1992), 156. Ferrara bis Rom, 23.11.1786. Ebd., 168.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
Rom angekommen als ich erkannt wurde doch führ ich mein Incognito durch, sehe nur die Sachen und lehne alle anderen Verhältnisse ab.“108 Die Gratwanderung zwischen Inkognito und Verstellung kann auch anhand Goethes Zeitgenossen Friedrich Schiller untersucht werden. Im September 1782 floh Schiller aus Stuttgart, nachdem ihn der württembergische Herzog Carl Eugen wegen der Uraufführung der Räuber 14 Tage ins Gefängnis hatte werfen lassen. Auf seiner Flucht bediente sich Schiller des willkürlich gewählten Pseudonyms Dr. Ritter, das keinerlei Anspielung auf seine Identität enthielt. Unter diesem Namen tauchte er von Dezember 1782 bis Juli 1783 im Wohnhaus des Ritterguts Bauerbach bei Meiningen auf, wo ihn Henriette von Wolzogen beherbergte.109 Der Öffentlichkeit, die Schiller auch als Dr. Ritter mied, blieb dieser Aufenthaltsort unbekannt. Er wollte unerkannt bleiben, und somit bezeichnet diese Flucht ebenso wenig ein Inkognito wie das Verhalten des Kronprinzen Don Karlos, an dem er während dieser Zeit arbeitete. Dieser wandelte „[u]m Mitternacht in den gewölbten Gängen / der königlichen Burg, in Mönchsgestalt“ als „abgeschiedne[r] Geist des Kaisers“.110 Im ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitete sich das Inkognito als Reiseform immer weiter. Seine zunehmende Ironisierung in der Literatur kann als Reaktion auf diesen Sachverhalt gelten. Goethe selbst leistete mehrere Jahre vor seiner Inkognitoreise einen Beitrag dazu. In Der Triumph der Empfindsamkeit, einer 1778 uraufgeführten dramatischen Grille in sechs Akten, amüsierte er sich über die vielen Könige, die keine sein wollten: Es ist eine rechte Not, seitdem die großen Herren auf das Incognito gefallen sind. Man weiß gar nicht mehr, woran man ist. Sonst wurden sie Monate lang voraus angekündigt [. . . ]. Jetzo, eh’ man sich’s versieht, sind sie einem auf dem Nacken. Wahrhaftig, das letzte Mal hat er mich in der Nachtmütze überrascht. [. . . ] Wenn mir ein Fremder auf der Treppe begegnet, wird mir’s immer bang’; ich denke gleich es ist wieder einmal ein König oder ein Kaiser, der seinen gnädigen Spaß mit uns treiben kommt.111
Die dramatischen politischen Umwälzungen am Ende des Jahrhunderts erzwangen aber auch wesentlich ernstere monarchische Selbstverleugnung als das Inkognito. Zwei Jahre nach Beginn der Französischen Revolution sah sich Ludwig XVI. zu einer Reise gezwungen, die nichts mehr mit einem Identitätsspiel gemeinsam hatte. Um der Guillotine zu entkommen, floh er am 21. Juli 1791 als Diener verkleidet aus Paris, wurde jedoch in Varennes erkannt und verhaftet.112 Der König reiste als M. Durand, der Intendant einer Baronin von 108 109 110 111 112
Ebd., 58. Vgl. http://www.klassik-stiftung.de. Siehe auch Zapperi (1999), 7. Schiller (2001), 202. Goethe (1987), 1. Akt. Vgl. Torpey (2000), 25ff.; Bercé (1990), 406. Malettke benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff „inkognito“. Ludwig XVI. habe sein Inkognito in Varennes gegenüber einer ihm bekannten Person sogar gezielt „gelüftet“. Malettke (2008), 246.
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Korff; seine Frau Marie-Antoinette gab sich als Madame Rochet, die Gouvernante der Kinder der Baronin, aus. Obwohl es ihnen gelang, Pässe auf diese Namen zu erwerben, führte die Reise nicht an das erhoffte Ziel. Die französische Nationalversammlung hatte Reisen ins Ausland längst verboten, und mit der Revolution brach eine neue Epoche in der Geschichte der Identität – und damit auch des Inkognitos – an. Obwohl die Revolutionäre noch im September 1791 den Pass abgeschafft hatten, führten sie ihn am 30. Januar 1792 definitiv wieder ein. Die erste französische Republik wurde zur Wasserscheide für die Definition von Fremden und Staatsbürgern.113 Spielerische Identitätswechsel hatten in diesem Konzept keinen Platz.114
3.5 Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Inkognito von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als Zeremoniell reglementiert, kodifiziert und festgeschrieben wurde. Innerhalb dieses Zeitraums kam es zunehmend öfter zur Anwendung und avancierte im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus schließlich zum meist benutzten Reisezeremoniell des Hochadels. Ähnlich wie in den Epochen zuvor ging die zeremonielle Anwendung des Inkognitos Hand in Hand mit seiner literarischen Ausarbeitung, die sich ebenfalls progressiv intensivierte. Gegen Ende der Frühen Neuzeit traten, angeregt von der quantitativen Zunahme des Zeremoniells, die komischen und komödiantischen Motive des Inkognitos in den Vordergrund, das in der Literatur immer öfter ironisiert wurde. Außerdem trugen die literarischen Bearbeitungen entscheidend dazu bei, dass der Begriff inkognito Einzug in den Sprachgebrauch hielt. Am Ausgangspunkt dieser Entwicklung stand nicht zuletzt der europäische Absolutismus als ein Herrschaftsprinzip, innerhalb dessen sowohl das höfische als auch das diplomatische Zeremoniell nie da gewesene Ausmaße annahmen und immer komplexere Anforderungen nach sich zogen. Das Inkognito er113 114
Vgl. Denis (2008), 242, 301. Siehe auch Torpey (2000), 41. Dies verdeutlichen auch die Reisen des späteren französischen König Louis-Philippe (1830–1848) in den Jahren seines durch die Französische Revolution erzwungenen Exils. Zwischen April 1793 und Oktober 1796 reiste er durch mehrere europäische Staaten und verwendete dabei eine ganze Reihe von Pseudonymen. Nach Basel reiste er mit einem schweizer Pass unter dem Namen „Kembel“. Im schweizerischen Bremgarten gab er sich als Herr „Chabos“ aus. In Hamburg benutzte er die Pseudonyme „Ludovick“, „Comines“ und „Müller“. Nach Kopenhagen reiste er mit einem dänischen Pass als „Nils-Peter Jansen“. Castries verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff „incognito“. Castries (1972), 63, 69. Vgl. Teyssier (2010), 60f.; Castelot (1994), 50f., 64; Castries (1972), 62–4, 67, 72.
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II. Die Reglementierung des Inkognitos
öffnete sowohl bei Friedensverhandlungen, wie etwa beim Pyrenäenfrieden (1659), als auch bei Hochzeitsvorbereitungen Möglichkeiten, das zwischen den Höfen immer schwieriger zu vereinbarende Zeremoniell zu reduzieren und zu vereinfachen. Dabei knüpften die angewendeten Versatzstücke des Inkognitozeremoniells an wesentlich ältere, teilweise mittelalterliche Traditionen an. Vor allem aber lieferte die Große Gesandtschaft (1697/98) des russischen Zaren Peter I. den entscheidenden Präzedenzfall, der das Inkognito zu einer, auch im Rahmen bedeutender europäischer Höfe, anerkannten Reisetechnik erhob. Peter nutzte seine mehr als einjährige Inkognitoreise quer durch Europa nicht nur um die Techniken des modernen Schiffbaus persönlich in Augenschein zu nehmen, sondern verfolgte auch dezidiert politische Ziele wie z. B. ein europäisches Bündnis gegen das Osmanische Reich. Seine dafür zeitweilig angelegte Identität eines einfachen Unteroffiziers ermöglichte es ihm, sich mit einflussreichen Herrschern wie Wilhelm III. von England oder Kaiser Leopold I. zu treffen, ohne dass dafür ein logistisch und finanziell aufwendiges Zeremoniell mobilisiert werden musste, das durch Fragen der Präzedenzregelung und Ranghierarchie diplomatische Konflikte heraufzubeschwören drohte. Unmittelbar im Anschluss an die Große Gesandtschaft begann die im Entstehen begriffene Zeremonialliteratur die Modalitäten von Peters Inkognito aufzuzeichnen und qualifizierte sie als legitimierenden Prototyp. Autoren wie Winterfeld, Lünig und Stieve, vor allem aber die um eine genuine Zeremonialwissenschaft bemühten Julius Bernhard von Rohr und Carl Friedrich von Moser stellten nicht nur historische Zeremonien aus Höfen in ganz Europa zusammen, sondern analysierten die theoretischen Grundlagen von inzwischen seit Jahrhunderten praktizierten Zeremoniellen und damit auch des Inkognitos. Insbesondere die Monarchen des aufgeklärten Absolutismus, die sich als erste Diener ihres Staates neu erfanden, nutzten das Inkognito und kommunizierten mit seiner Hilfe einen neuen Regierungsstil. Die unterschiedlichen Ansichten von Sinn und Funktion höfischer Zeremonielle der habsburgischen Kaiserin Maria Theresia und ihres Sohnes Joseph II. illustrieren dies ebenso wie die im Umfeld seines Regierungsantritts erlassenen Anweisungen Königs Friedrich II. von Preußen hinsichtlich des in Zukunft anzuwendenden Zeremoniells. Die Reise Joseph II. nach Paris 1777 verdeutlicht exemplarisch den Stellenwert und den Gebrauch des Inkognitos in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die beständige, öffentlich kommunizierte Sympathie des Monarchen für seine Untertanen und die Sorge für das einfache Volk bezeichneten ein Regierungsprogramm, das auf den Charakter des Herrschers abhob und sich bewusst von der Staatsauffassung des Hochabsolutismus distanzierte. Wie wirkmächtig die Kommunikationsstrategie des Inkognitos sein konnte, zeigen sowohl die ständigen Kommentare und Beschreibungen zu Josephs
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Reise in der Presse als auch die meist unmittelbar nach der Rückkehr des Kaisers veröffentlichten Reiseberichte. Befördert von solchen Ereignissen, widmeten die Autoren der ebenfalls in dieser Epoche entstehenden großen Universallexika dem Begriff inkognito eigene Einträge. So kommt es zu dem paradoxen Befund, dass, obwohl das Inkognito im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert zeremoniell sorgsam ausgearbeitet und festgeschrieben wurde, seine literarische und umgangssprachliche Verwendung immer diffuser erscheint. Neben der angesprochenen literarischen Thematisierung ist dafür auch die Verbürgerlichung des Inkognitos als Grund anzusehen, die mit der zunehmenden Verbürgerlichung des Adels einherging.
III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
1. Dynastische Traditionen
1.1 Das Inkognito im 19. Jahrhundert Das höfische Zeremonienwesen hatte nach der Französischen Revolution keineswegs ausgedient. Nach 1789 wurden tradierte Zeremonielle nicht abgeschafft, sondern in neue Formen überführt. Die Frage nach der Persistenz aristokratischer Traditionen bzw. deren Anpassungsprozessen nach dem Ende des Ancien Régime stellt sich auch für das Inkognito, das im 19. Jahrhundert – wie im Folgenden darzustellen sein wird – öfter als in allen vorangegangenen Epochen zur Anwendung kam. Zu den dafür ausschlaggebenden Gründen zählen einerseits die politisch und gesellschaftlich neu definierte Position des Hochadels in Folge der revolutionären Umwälzungen in Europa. Andererseits trug die Eisenbahn, welche schon bald zum meistgebrauchten Transportmittel avancierte, entscheidend dazu bei, dass Reisen von Staats- und Regierungschefs sowie von Familienmitgliedern adliger Dynastien beinahe ausschließlich unter dem zeremoniellen Deckmantel des Inkognitos stattfanden. Gustave Flaubert definierte in seinem posthum veröffentlichten Dictionnaire des idées reçues das Inkognito als „Costume des princes en voyage“1 , und tatsächlich reisten die Monarchen des 19. Jahrhunderts nur selten nicht inkognito. Die temporär angenommene Identität rechtfertigte den Verzicht auf Feierlichkeiten, Empfänge und Ehrenbezeugungen an den einzelnen Reisestationen, ohne dadurch das monarchische Prinzip in Frage zu stellen. Zumeist legten die Reisenden ihr Inkognito unmittelbar nach der Ankunft wieder ab, so dass sie unter ihrer herkömmlichen Identität bzw. in ihrer offiziellen Position aus dem Zug oder dem Dampfschiff stiegen. Die anhaltende Popularität des Inkognitos im 19. Jahrhundert spiegelt sich nicht zuletzt in der Literatur wider, wobei die Autoren noch mehr als im 18. Jahrhundert mit Hilfe dieses Begriffes die verschiedensten Motive thematisierten. So betitelten Achim von Arnim und Clemens Brentano ein Gedicht aus ihrem Zyklus Des Knaben Wunderhorn (1805–1808) mit Inkognito, in dem sich drei Unbekannte an einer Wirtsfamilie vergreifen.2 1807 veröffentlichte Heinrich von Kleist sein an Molière angelehntes Amphitryon, in dem Jupiter
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Flaubert (1997), 50. Ein gutes Beispiel dafür sind die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, vgl. Barth (2007). „Es kamen drey Diebe aus Morgenland, Die geben sich für drey Grafen aus.“ Arnim/ Brentano (1987), 200.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
und Merkur ihre Gestalten wechseln.3 Drei Jahre später ließ er seinen Michael Kohlhaas „in Verkleidung eines thüringischen Landgrafen“ und „unter einem fremden Namen“ in eine Gaststätte einkehren, um dort Martin Luther zu treffen.4 Ludwig Börne berichtet von Heinrich Heine, der „oft inkognito reiste (er führte sogar wie ein Gauner doppelte Pässe mit falschem Namen)“5 , und in Franz Grillparzers König Ottokars Glück und Ende (1825) lamentiert Rudolph I.: „Was sterblich war – ich zog es aus – ich bin der König nur, der niemals stirbt.“6 Zur gleichen Zeit verkleidete Georg Büchner sein Liebespaar Leonce und Lena (1836) als zwei Automaten, die „in effigie“ verheiratet und erst anschließend erkannt werden.7 Aber auch im 19. Jahrhundert diente das Inkognito, dessen Funktionsweise immer mehr Lesern geläufig war, vor allem zur Komödie. Thomas Quincey bearbeitete in The Incognito or Count Fritz-Hum einen Stoff Friedrich Launs, in dem ein Fürst inkognito in eine Provinzstadt reist. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass der unter Pseudonym Reisende gewettet hat, mit diesem Trick die Tochter eines Stadtrates zu heiraten, was ihm zunächst auch gelingt, bevor der nicht zuletzt in den örtlichen Zeitungen verbreitete Schwindel auffliegt. Vor Gericht gestellt argumentiert der Prinz, dass er sich nie für den Souverän ausgegeben hätte, sondern lediglich für einen Count Fritz-Hum.8 Das Inkognitomotiv belustigte auch Joseph von Eichendorff, der sich an drei letztlich unvollendeten Fassungen eines Puppenspiels mit dem Titel Das Inkognito versuchte. Ausgangspunkt ist ein König, der das „[e]ntsetzlich Geschrei, das man Vivat nennt“, nicht länger ertragen will.9 Eichendorff bringt das Inko3 4 5 6 7
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Jupiter verwandelt sich in Amphitryon, Merkur in Sosias, wobei sowohl Amphitryon als auch Sosias zusätzlich auch selbst auftreten. Vgl. Kleist (2002). Vgl. Kleist (2003), 43. Börne (1964), 164. Zitiert nach Straub (1969), 15f. Büchner (2003), III,3. „Valerio: Aber weiß sie auch, wer Sie sind? Leonce: Sie weiß nur daß sie mich liebt.“ Ebd., III,1. Honoré de Balzac verwendet den Begriff inkognito in mehreren Erzählungen, wobei er sowohl seine zeremonielle als auch seine umgangssprachliche Bedeutung benutzt. Siehe u. a.: Les chouans (1829), Maître Cornelius (1831), Un début dans la vie (1842), Honorine (1844), Modeste mignon (1844). Die Heldin von Eugène Sues Erfolgsroman Les mystères de Paris (1842/43) ist die Tochter eines Inkognito-Prinzen. In seinem ersten historischen Roman The Prince and the Pauper (1881) schrieb Mark Twain die Geschichte zweier Jungen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der Bettelknabe Tom Canty und der Sohn Heinrichs VIII., der spätere Eduard VI., ähneln einander wie eineiige Zwillinge. Sie beschließen ihre Rollen zu tauschen, um die Lebenswelt des anderen kennenzulernen. Vgl. Quincey (1862), 19. „König: [. . . ] Entsetzlich Geschrei, das man Vivat nennt / Man kann nicht treten vor Kompliment / Das halt der Teufel aus, Gott Sapperment! / Da werf ich von mir Kron, Zepter und Talar, / Will auch ein Mensch sein ganz und gar.“ Eichendorff (1980) 321. Für die entsprechenden Passagen der 2. und 3. Fassung vgl. ebd. 329f., 343f.
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gnito gleichsam idealtypisch auf den Punkt. Als der Bürgermeister einer Kleinstadt, die der König inkognito besuchen will, nicht versteht, was genau nun von ihm erwartet wird, erklärt ihm sein Gehilfe: Das nennt man so diplomatisch mein Bester: Der König nennt Graf sich und lächelt ein wenig, Wir aber verneigen uns untertänig Und lächeln und tun, als ob wir’s glauben Er tut, als glaubt’ er, daß wir’s glauben Uns so aus Lächeln und solchem Glauben Und Gegenglauben, an die niemand glaubt, Bestehen die Staaten überhaupt.10
In der dritten Fassung treibt Eichendorff das Spiel auf die Spitze und lässt das Volk den inkognito reisenden König zum König proklamieren.11 Die Forschung sieht auch in Eichendorffs Unstern-Fragment aus den 1830er Jahren eine „Geschichte vom ewigen Inkognito, zu dem jeder bewusstere Mensch auf seiner Lebensreise gezwungen sei.“12 Weniger als Zwang denn als Privileg interpretierte es hingegen Theodor Fontane 1882 in L’Adultera: „Das Beste des Lebens, das wisse er aus eigener Erfahrung, sei das Inkognito.“13 Das literarische Inkognito bezeichnet jedoch auch im 19. Jahrhundert weit mehr als den Ausgangspunkt gesellschaftskritischer Komödien. Dafür steht das Werk Walter Scotts exemplarisch, bei dem sich historische und romaneske Absichten wie bei keinem anderen Autor vermischten. 1828/29 nahm er sich in seinen Tales of a Grandfather König Jakob V. von Schottland (1513–1542) an und schrieb dessen historisch zweifelhafte Inkognitospaziergänge als „Goodman (the tenant, that is) of Ballengiech“ in eine lange schottische Herrschertradition ein.14 Laut Scott zeigte Jakob „most of the qualities of a wise and good prince“.15 Der schottische Nationalpoet stellte des Königs verkleidete Inspek10 11 12
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Ebd., 323. Für die entsprechenden Passagen der 2. und 3. Fassung vgl. ebd. 330f., 344f. Vgl. ebd., 357. Stöcklein (1963), 139; Stöcklein spricht in Bezug auf Eichendorff allgemein von einer „Inkognito-Dichtung“, 138. „Das Inkognito legte falsche Spuren, das Inkognito ließ die Identität verschwimmen. Es entgrenzte das gesellschaftlich festgelegte Leben und ließ dabei die Grenzen doch intakt. Ein multipel gewordenes Ich konnte im Inkognito seine Identität erhalten“. Ehlich (1997), IX. Fontane (1969), 223. Scott (1843), Bd. 1, 206. Jamie Cameron hat in diesem Zusammenhang das narrative Element und dessen Funktion klar herausgearbeitet. „Add together the later chroniclers’ idea of ,puir man’s king’ and Abell’s tale of a 1536 royal visit in disguise to the court of the Duke of Vendôme, and it becomes apparent how Sir Walter Scott could tell stories about ,the guidman of Ballengeich [sic!]‘.“ Cameron (1998), 334. „[. . . ] James V of Scotland, who conducted his own surveys of public opinion incognito in the character of the Gudeman of Ballinbreich [sic!]“. Ollard (1979), 86. Ollard verwechselt anscheinend diesen Namen mit dem schottischen Schloss Ballinbreich in Fife. Vgl. auch Kap. II.2.4. Scott (1843), Bd. 1, 203.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
tionsreisen in die Tradition seines Vaters Jakob IV. Denn „once upon a time” hatte dieser die Gewohnheit of going about the country disguised as a private person, in order that he might hear complaints which might not otherwise reach his ears, and, perhaps, that he might enjoy amusements which he could not have partaken of in his avowed royal character.16
Dies sollte nicht nur den ebenso edlen wie unverwechselbaren Charakter der schottischen Könige beweisen, sondern auch, wie Scott unumwunden zugab, „help to enliven our story“.17 Folgerichtig sah Scott in Karl II., dessen angebliches Inkognito schnell zur Legende geworden war, den „last scion of a royal line“.18 Die Flucht des von Cromwell bedrohten englischen Königs interpretierte Scott als „most precarious, perilous, and fatiguing series of flight, concealment, and escape, that has ever been narrated in history or romance.“19 Der Übergang von Historie zu Fiktion erwies sich als fließend, und für Scott erfüllten beide ähnliche Funktionen. Bereits 1819 hatte er in Ivanhoe das Zeitalter der Ritter mit politischem Impetus romantisch verklärt. Das Inkognitomotiv war dabei allgegenwärtig. So weigert sich der anonym angetretene Protagonist nach dem Sieg bei einem Turnier den Turniermarschällen seine Identität preiszugeben. Diese gestehen es ihm zu, denn unter den sonderbaren Gelübden, durch die sich Ritter in jenen Zeiten des Rittertums oft zu binden pflegten, war keins gewöhnlicher, als bis zur Vollendung irgendeines Unternehmens unbekannt bleiben zu wollen.20
Der eigentliche Kampf gilt einer Bande von Frevlern, zu denen auch Maurice de Bracy gehört, den Ivanhoe im Zweikampf besiegt. Auch er verlangt die Identität des Siegers zu erfahren, da er sich als Ritter nie einem Unbekannten ergeben und stattdessen lieber den Tod in Kauf nehmen würde.21 In Scotts Erzählung nehmen die Enthüllungen kein Ende; der mächtige schwarze Ritter entpuppt sich als Richard Löwenherz, der muntere Bogenschütze Locksley als
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Ebd., 206. Ebd. Scott (1843), Bd. 3, 305. „His escape, however, so long delayed, and effected through so many difficulties, has been often commemorated as a brilliant instance of fidelity.“ „It seemed as if the Prince’s escape from a search so vigorously prosecuted was altogether impossible; but the high spirit of a noble-minded female rescued him.“ Denn laut Scott verschafft ihm eine gewisse Flora MacDonald einen falschen Pass und verkleidet ihn als Frau. Der König versteckt sich anschließend in einer Höhle inmitten einer Räuberbande, die ihn schnell erkennt; „[. . . ] recognising the Prince, for whom they had repeatedly ventured their lives, in the miserable suppliant before them, they vowed unaltered devotion to his cause.“ Scott (1843), Bd. 3, 308, 310. Scott (1843), Bd. 3, 313. Scott (2008), 107. Vgl. ebd., 353.
1. Dynastische Traditionen
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Robin Hood.22 Um die historische Chronologie kümmert sich Scott dabei wenig, versäumt es aber nicht, das Bild des idealen Herrschers zu zeichnen. „Der glänzende doch nutzlose Charakter des romantischen Ritters war in Richard [Löwenherz – VB] vollkommen verwirklicht.“ Scott beschrieb, wie er mit den Tugenden eines echten Staatsmannes vereint werden konnte.23 Auch den englischen Monarchen des 19. Jahrhunderts war das Inkognito nicht fremd. 1821 reiste König Georg IV. als Graf von Lüneburg nach Preußen und bat den dortigen Hof, auf alle Ehrenbezeugungen zu verzichten.24 Als König Friedrich Wilhelm III. 1825 inkognito den französischen Hof besuchte, konferierten der preußische und der französische Monarch absichtlich an einem ovalen Tisch. Das Fehlen eines eindeutigen Kopfendes und des damit verbundenen privilegierten Sitzes durchbrach die hierarchische Ordnung.25 Das Inkognito blieb im 19. Jahrhundert verspielt und situationsbezogen; die Grenzen zu anderen Formen von Identitätswechseln waren fließend. In Russland hielt sich hartnäckig die Legende, Zar Alexander I. habe seinen Tod 1825 nur vorgetäuscht, um endlich das friedliche Leben eines Privatmannes genießen zu können. Er habe den Namen Fjodor Kusmitsch angenommen und sei erst 1864 in Tomsk verstorben.26 Kein geringerer als Leo Tolstoj veröffentlichte 1905 ein Tagebuch des Fjodor Kusmitsch.27 Darin spielt der Ich-Erzähler gleichzeitig mit seiner Identität und mit seinen Lesern und erwähnt – die Frage, ob es sich um seinen Vater handelt, bewusst offen lassend – die Reisen des späteren Zaren Paul I. als Comte du Nord. Bereits 1836 zirkulierten Texte, die vom Wiederauftauchen des Zaren berichteten. Alexanders angeblicher Rückzug aus der Öffentlichkeit war kein Inkognito, hilft jedoch dessen Grenzen zu definieren. Ähnlich verhält es sich bei Erzherzog Johann von Habsburg, der 1889 offiziell aus der kaiserlichen Familie austrat und fortan den bürgerlichen Namen Johann Orth führte. Auch dies bezeichnete kein Inkognito, wie sein Zeitgenosse Felix Stoerck, Professor der Rechte an der Universität Greifswald, 1903 bestätigte: 22 23 24
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27
Vgl. ebd., 489. Ebd., 497. Dass der historische Richard nicht wie im Roman „inkognito“ in England einzog, sondern mit Fahnen und großem Geleit, tat dem keinen Abbruch. Vgl. ebd., Nachwort. Dieser Bitte wurde allerdings nicht entsprochen. Paulmann (1999), 224. 1855 schreibt das Wiener Oberhofmeisteramt bzgl. zukünftiger Monarchenbesuche am Hof: „Sollte der fremde Souverän incognito reisen oder sich die Ehrenbezeigungen während der Reise verbitten, so wird doch, falls nicht auch dagegen ausdrücklich protestirt wird, am Hoflager in Wien das für die Ankunft und den Aufenthalt daselbst angegebene Zeremoniell eingehalten.“ Zitiert nach Paulmann (1999), 299. Vgl. ebd., 235. Auch Marie-Pierre Rey, die 2009 dem Zaren eine große Biografie gewidmet hat, sieht sich nicht in der Lage, dieses Narrativ eindeutig ins Reich der Fabel zu verweisen. Rey (2009), 489ff. Vgl. Tolstoj (1961).
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
In der Annahme bürgerlichen Standes und bürgerlichen Namens lag nicht etwa die Absicht, zeitweilig ein vom Zeremonialrecht enthebendes Inkognito anzunehmen, sondern diejenige allseitiger und planmäßiger Entziehung aus der übergeordneten Familiengewalt des Kaisers von Österreich.28
Johann Orth nutzte seine neue Freiheit für einen ausgedehnten Segeltörn, bei dem er 1890 an der Südspitze des amerikanischen Kontinents in Seenot geriet und für immer verschollen blieb. Die Identitätswechsel Elisabeths von Österreich verliefen dagegen weit weniger dramatisch. Aufgrund ihrer immensen Popularität beauftragte sie von Zeit zu Zeit ihre Friseuse für sie aus dem Zug zu steigen und die Kaiserin zu mimen, damit „Sisi“ unbemerkt in der Menge entschwinden konnte.29
1.2 Das Inkognito in Bayern Ebenso wie die Habsburger bedienten sich auch die bayerischen Wittelsbacher in ihrer langen Geschichte immer wieder des Inkognitos. Anhand dieses Adelsgeschlechts soll im Folgenden der Gebrauch, die Bedeutung und die Funktionen des Inkognitos im 19. Jahrhundert exemplarisch untersucht werden. Denn die Wittelsbacher bezeichnen nicht nur die älteste, sondern neben Habsburgern und Hohenzollern auch eine der bedeutendsten Dynastien im deutschsprachigen Raum. Sie benutzten das Inkognito über Jahrhunderte und konnten somit auf eine lange dynastische Tradition der Inkognitoreisen zurückblicken. Vor allem aber erließen verschiedene Wittelsbacher Herrscher in den Jahrzehnten nach der Gründung des Königreichs Bayern (1806) eigene Reiseverordnungen, die sich gezielt mit dem Inkognitozeremoniell auseinandersetzten. Diese Dokumente ermöglichen es, die Persistenz und die Veränderbarkeit des Inkognitos im 19. Jahrhundert in Hinblick auf eine spezifische dynastische Tradition und unter wechselnden politischen Vorzeichen zu hinterfragen. Bereits 1389 zog Isabeau von Bayern mit großem Gefolge in Paris ein, wobei König Karl VI. sie inkognito beobachtete. Der bayerische Kurfürst FerdinandMaria und seine Gemahlin waren im April 1667 auf ihrer Reise nach Turin inkognito.30 Max II. Emmanuel reiste 1709 inkognito nach Frankreich und 1717 28
29 30
Stoerk (1903), 16. Genauso verhielt es sich bei dem toskanischen Erzherzog Leopold Ferdinand, der den bürgerlichen Namen Johann Wölfling annahm. Rehm sieht in diesem Namenswechsel das juristische Gegenteil des Inkognito. „[. . . ] bürgerlicher Familienname (Gegensatz: Inkognitoname).“ Rehm (1904), 289. Vgl. Vogel (1998), 50. Als sie 1898 in Genf ermordet wurde hielt sie sich dort unter dem Pseudonym einer „Gräfin von Hohenems“ auf. „Aus denselben finanziellen Gründen, aus welchen er die Reise incognito machte, unterliess er trotz der dringendsten Bitten seiner Gemahlin einen Besuch an dem verwandten
1. Dynastische Traditionen
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offiziell nach Wien, wobei sein ihn begleitender Bruder Ferdinand inkognito blieb. 1716 besuchte der Wittelsbacher Kurprinz und spätere Kaiser Karl Albrecht im Alter von 18 Jahren Italien. Er bediente sich der Identität eines Graf von Trausnitz, einer Burg bei Landshut im Familienbesitz der Wittelsbacher. Sein Inkognito hatte er vorauseilend angekündigt und wurde auf den Reisestationen entsprechend empfangen. Obwohl auch finanzielle Überlegungen dieses Inkognito motiviert hatten, reiste er mit einem Gefolge von 67 Personen und mit 45 Koffern Gepäck. Er wollte die bayerischen Beziehungen zum Vatikan verbessern, und der Papst empfing ihn gemäß seines Inkognitos, nicht ohne politisch vielsagend zu verkünden, nur „wider seinen Willen“ auf das offizielle Empfangszeremoniell zu verzichten.31 1829 brach Amalie von Leuchtenberg, die Enkelin König Maximilians I. Joseph von Bayern, nach Brasilien auf, wo sie die zweite Ehefrau von Kaiser Peter I. werden sollte. Das Reisejournal des Grafen Friedrich von Spreti verdeutlicht die Einzelheiten dieser Inkognitoreise. Amalie reiste als Herzogin von Santa Cruz, und so verlief die Abreise aus München „ohne Ehrenbezeugungen“. Auf den Reisestationen übernachtete sie systematisch in Gasthöfen, wobei in Mainz als besondere Ehre „zwei Posten vor dem Hotel“ Stellung nahmen.32 Das Inkognito erlaubte auch hier kleine Aufmerksamkeiten, und als die Reisegesellschaft schließlich in Ostende ankam, wurde sie von einer großen Menschenmenge erwartet. Erst bei Betreten der dort vor Anker liegenden kaiserlich-brasilianischen Fregatte und damit brasilianischen Staatsbodens, verwandelte sich die bayerische Prinzessin in die zukünftige brasilianische Kaiserin. „Von heute an, also den Tag, wo die Kaiserin die brasilianische Fregatte betrat und somit auch eigentlich ihr Reich betreten hatte, wurde die in Brasilien übliche Etikette eingeführt.“33 Zur Mitte des 19. Jahrhunderts besaß das Inkognito bereits eine lange Tradition im Hofzeremoniell der Wittelsbacher. 1581 hatte Herzog Wilhelm V. eine Zeremonienordnung am bayerischen Hof erlassen, die sich deutlich an Vorbildern aus Burgund und Spanien orientierte.34 Darin bildete Bayern keine Ausnahme, da kein einziger deutscher Hof ein genuin eigenes Zeremoniell
31
32 33 34
Turiner Hofe, konnte er sich noch weniger zu einer Reise nach der ewigen Stadt entschliessen.“ Doeberl (1990), 303. Freller (2007), 157. Zur Reise allgemein vgl. 151ff. Siehe auch Conrads (2005), 607; Moser (1755), 30. 1754 reiste die Hohenzoller Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth „inkognito, um Kosten zu sparen“ nach Italien. Freller (2007), 162. Spreti (2008), 75, 85. In Augsburg übernachtete die Prinzessin im Hotel „Drei Mohren“. Vgl. dazu Kap. II.3.1 u. IV.1.1. Vgl. Spreti (2008), 107. „Während unserer Reise auf dem Festlande wurde die brasilianische Etikette noch nicht eingeführt.“ Spreti (2008), 75. Vgl. Wolf (2006), 166. Hartmann nennt das Jahr 1589, vgl. Hartmann (1990), 92. Siehe dazu auch Klingensmith (1993), 118–20.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
hervorbrachte.35 Diese Zeremonienordnung wurde in den folgenden Jahrhunderten innerhalb des bayerischen Hofes beständig weiterentwickelt und ausdifferenziert und besaß durch die Festschreibung von Präzedenzfällen legitimierende Kraft. Sie regelte die zeremonielle Ordnung am Hof sowie den zeremoniellen Umgang mit eigenen und fremden Herrschern und war auch in Hinblick auf die Reisen des Monarchen verbindlich. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts ergänzte König Maximilian II. (1848–1864) das inzwischen fast 300 Jahre alte bayerische Hofzeremoniell um dezidierte, von nun ab für alle Mitglieder des Hauses Wittelsbach gültige Reisebestimmungen. Dieses Dokument, das der König am 23. Mai 1857 erließ,36 beweist einerseits, dass Fragen der Etikette und des Zeremoniells auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch große Bedeutung besaßen. Andererseits zeigt es auch, dass Zeremonielle innerhalb konstitutioneller Monarchien neuer Regelungen bedurften. Diese unterschieden sich in mancher Hinsicht vom Ancien Régime, rekurrierten jedoch beständig auf dynastische Vorläufer. Immerhin handelte es sich beim Zeremonienwesen um einen der wenigen Bereiche, in denen den Königshäusern des 19. Jahrhunderts eine weitgehende Autonomie erhalten geblieben war. Maximilians Nachfolger auf dem bayerischen Königsthron übernahmen dessen „Bestimmungen über Reisen im Allgemeinen“ ohne jede Veränderung. Maximilians Reiseverordnung formulierte verbindliche „Normen über das Verhalten der Behörden bei den Reisen von Prinzen und Prinzessinnen des Königlichen Hauses, dann auswärtiger Allerhöchster und höchster Herrschaften“.37 Der Abschnitt „Reisen der Prinzenp[aare] des königl. Hauses“ besagte, dass bei allen Reisen von Mitgliedern des Hauses Wittelsbach „jedesmal die besonderen Allerhöchsten Befehle Seiner Majestät des Königs zu erholen“ seien.38 In seiner Eigenschaft als Familienoberhaupt behielt sich der König das Privileg vor, über die Reisemodalitäten aller Wittelsbacher zu entscheiden. Die höfisch-dynastischen Familiengesetze, welche diese Reiseverordnung ergänzte, wurden nachträglich sogar zum Bestandteil der bayerischen Verfassung von 1818. Denn am 5. August 1819 wurde das „Königliche Familien-Statut“ erlassen, welches, wie der Staatsrechtler Joseph Pözl ausführte, den bayerischen Verfassungsgesetzen zuzuordnen ist.39 Dem konstitutionellen Monarchen, da35 36
37 38 39
Vgl. Hartmann (1990), 97. Vgl. GeHAW Hofstäbe – Obersthofmarschall (im Folgenden abgekürzt mit Hof.Ober) 470: Bestimmungen über Reisen im Allgemeinen. Die dort aufbewahrte Abschrift datiert vom 28.5.1857. Vgl. ebd. Ebd. Abschnitt A I. Vgl. Pözl (1869). Laut Schulze hat das Bayerisches Familienstatut vom 5. August 1819 „unverkennbar den sämmtlichen neuern Hausgesetzen der regierenden Familien zum Vorbild gedient“. Schulze (1862), X.
1. Dynastische Traditionen
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mals noch Maximilian I. Joseph, oblag das Recht und die Pflicht den juristischen Status der königlichen Familie vor der und für die Öffentlichkeit zu verbürgen. Das Hofrecht des 19. Jahrhunderts gehörte nicht nur in Bayern zu den durch die Verfassung geregelten Rechtsverhältnissen konstitutioneller Monarchien. Dies begründete sich nicht zuletzt aus seiner Herleitung aus der Zeremonienliteratur der Frühen Neuzeit. Der einleitende Satz des Ceremonial-Buchs für den Königlich Preußischen Hof von 1877 lautete: Das vorliegende Buch ist nicht etwa ein Lehrbuch, sondern eine Compilation längst vorhandener und thatsächlich am Königlich Preußischen Hofe dauernd zur Geltung gelangter Vorschriften [. . . ].40
Das hier extrem detailliert aufgeführte Hofrang-Reglement wurde bis ins Jahr 1688 zurückgeführt. Auch Carl Ernst von Malortie, der Reisemarschall des Königs von Hannover, berichtet in seinem Hof-Marschall, der 1866/67 bereits in einer dritten, deutlich erweiterten Auflage erschien, dass im Zeremoniell „der Geist des Ritterthums und die Mode des Hoflebens zu der Annahme gewisser Formen geführt“ habe.41 Im Ceremonial-Buch für den Königlichen Preußisch Hof wird immer wieder explizit auf Julius Bernhard von Rohrs Zeremonienbuch von 1728 verwiesen, und Hermann Schulze, Professor der Rechte in Breslau, bezeichnete 1862 Johann Jakob von Moser, den Verfasser des Teutschen Staats-Rechts (1737–1754) und Vater von Carl Friedrich von Moser, dem Autor des Teutschen Hof-Rechts von 1754/55, als „Vater des deutschen Staatsrechts“.42 In einer spezifisch deutschen Entwicklung avancierte das „ius praecedentiae“ zu einem „Bestandteil des öffentlichen Rechts“.43 Die zeremonielle Inszenierung höfischer Hierarchien wurde zum Bestandteil einer verbindlichen Rechtsordnung.44 Allerdings existierte in der Mitte des 19. Jahrhunderts keine anerkannte Theorie des Fürstenrechts. Für den Staatsrechtler Hermann Schulze regelte es die freiwillige Unterordnung des Fürsten unter den Staat.45 Hermann Rehm, Professor der Rechte im damals deutschen Straßburg, vertrat die gegenteilige Auffassung: „Die fürstliche Familie besitzt ein vom Staat unabhängiges
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42 43 44
45
Ceremonial-Buch (1877), III. Malortie (1866/67), II, 1. Laut Malortie beruht das „Zeremoniell-Recht“ entweder auf Verträgen oder auf einer überlieferten Tradition; gerade in Bezug auf Letztere sei eine Nichtbeachtung mit der „Idee einer Beleidigung“ verbunden. Malortie (1866/67), II, 2. Schulze (1862), X. Vgl. auch Gottwald (2009), 167. Schenk (2003), 23. Vgl. Stollberg-Rilinger (2002b), 130; Stollberg-Rilinger (2002a), 7; „Das sog. Monarchische Prinzip war der philosophische Treibanker, mit dem man der neuen Instabilität – an der die Verschiedenheit der Verfassungsverhältnisse in den einzelnen Staaten und zu verschiedenen Zeiten wenig änderte – Herr zu werden hoffte.“ Dollinger (1985), 328. Vgl. Gottwald (2009), 99, 140.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
Recht an der Krone.“46 In einer jüngeren Untersuchung argumentiert Jürgen Hartmann, dass ab 1815 das Hofzeremoniell „nahezu völlig dem Staatsrecht [entglitt]“. Trotzdem verbürgten es verschiedene Verfassungen als alleiniges Recht der Krone.47 Insbesondere das eigene Familienrecht, zu dem auch die Reisebestimmungen gehörten, verblieb dem Monarchen als eines der wichtigsten Rechtsprivilegien.48 Das „Königliche Familien-Statut“ der Wittelsbacher postulierte nichts weniger, als dass „[a]lle Glieder des königlichen Hauses [. . . ] der Hoheit und Gerichtsbarkeit des Monarchen untergeben“ waren.49 In Bezug auf die Reisemodalitäten seiner Familie behielt es sich der König sogar vor, den Bewegungsradius der einzelnen Familienmitglieder zu bestimmen. „Kein Prinz und keine Prinzessin des königlichen Hauses darf ohne ausdrückliche Erlaubniß des Königs in einen fremden Staat sich begeben.“50 Das Familien-Statut verdeutlicht exemplarisch, wie sich monarchische Elemente durch die Verfassung im Staat verankerten und zu dessen integralen Bestandteilen gehörten. Das höfische Zeremoniell des 19. Jahrhunderts bezeichnet weit mehr als einen Atavismus aus dem Ancien Régime. Das Statut der bayerischen Königsfamilie sicherte dem Monarchen das durch die Verfassung verbürgte Recht zu, „seinen Hofstaat, jenen der Königin, des Kronprinzen, der königlichen Witwen und der Appanagierten in der königlichen direkten Linie zu ernennen“.51 Die bayerische Verfassung stellte den König sogar in manchen Bereichen explizit außerhalb des Gesetzes. Dies betraf das Privatvermögen des Königs, der diesbezüglich „in seinen Dispositionen an die Vorschriften der bürgerlichen Gesetze nicht gebunden“ war.52 Abschließend betonte das Familienstatut noch einmal explizit, dass „nicht nur sämmtliche Mitglieder Unseres Hauses [. . . ], sondern auf dessen Beobachtung auch sämmtliche Staats-Ministerien und übrige Landesstellen angewiesen sind.“53 Auf solchen rechtsverbindlichen dynastischen Grundlagen beruhte auch das Inkognito des 19. Jahrhunderts, das allerdings weder im Ceremonial-Buch für den Königlichen Preußisch Hof noch in Malorties Hof-Marschall explizit erwähnt wird. Ältere Reisetraditionen wie Einholung und Auszugsgeleit
46 47 48 49 50 51 52 53
Rehm (1904), 7. Vgl. Hartmann (1990), 12. Vgl. Gottwald (2009), 2. Pözl (1869), 8 (§2). Ebd., 10 (Titel IV §2). Des Weiteren bedurften die Mitglieder der Königsfamilie der Einwilligung des Monarchen bei Hochzeiten (Titel I §1). Ebd., 14 (Titel VII, §1.). Ebd. (Titel VIII, § 2). Ebd., 17.
1. Dynastische Traditionen
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beschreiben diese Werke hingegen detailliert.54 Malortie begründete die Erweiterungen seiner dritten Auflage (1866/67) gegenüber der ersten von 1846 mit den grundlegenden Veränderungen, welche die Organisation königlicher Reisen inzwischen erfahren hatte. Durch die exponentielle Zunahme von Eisenbahnreisen musste der Hannoveraner Reisemarschall sich nun systematisch mit der königlichen Eisenbahnverwaltung absprechen.55 Zudem wurden königliche Reisen und mit ihnen das Anzeigen von Identitäten nationalstaatlich bürokratisiert. Das Reichspassgesetz vom 12. Oktober 1867 verpflichtete alle Staatsbürger sich jederzeit gegenüber den Behörden ausweisen zu können. Dies betraf prinzipiell auch die Mitglieder der königlichen Häuser. Juraprofessor Rehm erklärte allerdings 1904 in seinem Modernen Fürstenrecht, dass das Recht, einen Inkognitonamen zu benutzen, davon unberührt blieb: Allein zur Zeit des Erlasses des genannten Gesetzes bestand schon das Recht des Inkognitos der Mitglieder des landesherrlichen Hauses gegenüber den Organen der Fremden- und Sicherheitspolizei. [. . . ] Der Angehörige der regierenden Familie muss auf polizeiliches Erfordern nicht seinen Familiennamen angeben, sondern darf sich auch gegenüber der Fremdenpolizei seines Inkognitonamens bedienen, diesen in den Meldezettel einschreiben u.s.w.56
Dieses Recht auf eine Inkognitoidentität kam in der Praxis durchaus zur Anwendung. Dies geht aus einer Anweisung des französischen Polizeiministers von 1818 an die Präfekten der einzelnen Departements hervor: Quelquefois des personnes d’un haut rang, pour voyager incognito, prennent un autre nom que le leur. Aucune enquête ne doit être faite à ce sujet, à moins qu’elle ne soit autorisée par une circonstance grave.57
Inkognitoreisen nahmen im 19. Jahrhundert nicht nur zu, sie wurden – mehr als das – rechtlich verbrieft. So kam „Prinzessinnen eines Staates ein Inkognitorecht in anderen Staaten nur zu, wenn sie sich in Begleitung des Souveräns jenes ersten Staates befinden.“58 Die eingeheiratete Kronprinzessin Stephanie von Österreich entschloss sich, im Jahr 1900 aus der Habsburgerfamilie auszuscheiden, um sich mit Graf Lonyay zu vermählen. Fortan unterlag sie dem bürgerlichen Recht. Als sie sich entsprechend ihrer adligen Gewohnheit unter einem anderen Namen in ein Fremdenbuch eintrug, teilte ihr die örtliche Polizei mit, „daß sie mit Rücksicht
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Vgl. Ceremonial-Buch (1877), 24. Siehe auch „Ordnung der Feierlichkeiten bei der am 31. Mai 1873 stattfindenden Einholung Sr. Majestät des Schahs von Persien“ Ebd., 273f. Vgl. Malortie (1866/67), I, 59. Rehm (1904), 444. Zitiert nach Noiriel (1998), 97. Ebd., 283. Hervorhebung im Original.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
auf den Verlust ihrer Mitgliedschaft im österreichischen Kaiserhause das Recht des Inkognitos der Angehörigen souveräner Häuser eingebüßt habe.“59 Sowohl bei offiziellen als auch bei Inkognitoreisen mussten die Mitglieder herrschender Familien verschiedenste höfische Ämter und staatliche Dienststellen informieren. Für die Wittelsbacher galt dies, wie Maximilians Bestimmungen über Reisen im Allgemeinen besagten, u. a. [w]enn dieselben [Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses – VB] in dienstlicher Eigenschaft oder incognito oder unter fremden Namen reisen, ihre Reiseroute aber durch die Staatsministerien zur Kenntnis der betreffenden Behörden bringen lassen [. . . ].60
Je nach Länge des Aufenthalts hatten sich die „Vorstände der Orte, Distrikt- und Kriegspolizei-Behörden, Regierungspräsident, Landrichter, Stadtcommissär, Bürgermeister zum Empfang in Amtskleidung einzufinden“61 bzw. der „oberste Polizeibeamte die Aufwartung der Behörden anzubieten“.62 Auch bei einer Inkognitoreise mussten sich sorgfältig ausgewählte Vertreter verschiedener staatlicher Behörden zur Verfügung halten. Die für die jeweilige Reise vorgesehenen Regelungen galten entlang der gesamten Reiseroute. Für das Zeremoniell bedeutete dies, dass das Inkognito nicht nur bei Abfahrt und Ankunft wirksam wurde, sondern auch während der Reise des Monarchen zu beachten war. Damit erfuhr auch eine gewisse Improvisationspraxis, welche die Geschichte des Inkognitos durchzieht, eine Verrechtlichung. Denn der reisende Monarch besaß das nunmehr verbriefte Recht, sich erst an Ort und Stelle für ein bestimmtes Zeremoniell, für einen bestimmten Umgang mit bestimmten Repräsentanten des Staates zu entscheiden. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass während der Reise das Inkognito vorübergehend aufgehoben werden konnte, ohne dadurch den zeremoniellen Status der gesamten Reise zu verändern. Abschnitt III der Reisevorschriften des Hauses Wittelsbach verdeutlicht, dass die Verrechtlichung des Inkognitos dessen ludischen Charakter keineswegs unterdrückte. Es handelte sich weiterhin um ein gespieltes Geheimnis. Die informierten Behörden sollten sich so verhalten, als würden sie die Identität des Reisenden nicht kennen: Wenn dieselben [Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses – VB] incognito reisen und die Reiseroute nicht zur Kenntnis der Staatsministerien bringen, oder die ihnen zukommenden Ehrenbezeugungen ausdrücklich ablehnen, findet gar kein Empfang statt. Hiezu sind auch Spazierfahrten zu rechnen.
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61 62
Ebd., 283, siehe auch 255. Zur Kronprinzessin Stephanie von Österreich siehe Stoerk (1903), 10. Hof.Ober 470: Normen über das Verhalten der Behörden bei den Reisen von Prinzen und Prinzessinnen des Königlichen Hauses, dann auswärtiger Allerhöchster und höchster Herrschaften, Absatz A.II. Ebd. Absatz A.II, 1. Ebd. Absatz A.II, 2.
1. Dynastische Traditionen
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Ein Bediensteter der Polizeibehörde muß jedoch, sobald dieselbe von der Durchreise oder Ankunft Kenntnis erlangt, an der Anhaltsstelle, jedoch nur in Civilkleidung, bereit sein, um für die Ordnung und Weiterbeförderung Sorge zu tragen und etwaige Wünsche entgegenzunehmen.63
Die Bürokratisierung der Reiseformen erhöhte die Notwendigkeit, mit der zeremoniellen Identität des Reisenden vertraut zu sein. Denn sie zog protokollarische Zwänge nach sich, welche die Höfe im 19. Jahrhundert detaillierter als jemals zuvor regelten. Sobald die Reise nicht offiziell angekündigt wurde, was keineswegs mit einer Geheimhaltung gegenüber den Behörden zu verwechseln ist, machte sich der Staat durch den Verzicht auf Dienstkleidung gleichsam unsichtbar. Der Beamte in Zivilkleidung kann zudem als eine Reaktion auf die geradezu vorhersehbare Anwesenheit eines schaulustigen Publikums angesehen werden. Auch die Reisen fremder Souveräne erforderten staatliche Vorbereitungen. Eine Durchfahrt ausländischer Potentaten ohne vorauseilende Ankündigung war aus Gründen der Diplomatie und der Sicherheit nicht denkbar. Einmal mehr galt es dafür die „allerhöchsten Befehle Seiner Majestät des Königs“ einzuholen:64 Reisen dieselben incognito ohne Bekanntgabe ihrer Reiseroute oder mit ausdrücklicher Ablehnung aller Ehrenbezeugungen, ist von einem Empfang Umgang [sic!] zu nehmen und es hat nur die sub A.III. bezeichnete Anwesenheit eines Polizeibediensteten einzutreten.65
Fremde Souveräne mussten durch die Vertreter des diplomatischen Korps offiziell mitteilen, dass ihr Herrscher seine Reiseroute nicht bekannt gab. Nach der offiziellen Bestätigung, die Reise nicht zur Kenntnis zu nehmen, überprüften und sicherten Beamte des durchreisten Territoriums die vorgesehene Strecke.66
1.3 Die Regeln der Königsreise Wie wichtig dynastische Traditionen auch im 19. Jahrhundert blieben, verdeutlicht die Tatsache, dass Maximilian II. in den von ihm erlassenen „Normen über das Verhalten der Behörden bei den Reisen von Prinzen und Prinzessinnen des Königlichen Hauses, dann auswärtiger Allerhöchster und höchster Herrschaften“ explizit auf das unmittelbare dynastische Vorgängerdokument Bezug nahm. Denn Maximilians Vater, König Ludwig I. von Bayern (1825– 1848), hatte am 26. Mai 1829 „Normen für die Feierlichkeiten bei Reisen Ihrer 63 64 65 66
Ebd. Absatz A.III. Ebd. Absatz B.I. Ebd. Absatz B.III. Vgl. ebd. Absatz C.I.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
Königlichen Majestäten“ verordnet, die Maximilian II. zwar erweiterte, jedoch auch ausdrücklich bestätigte. Die Vorschriften Ludwigs I. betrafen insbesondere Inkognitoreisen. Maximilian übernahm sie in erster Linie, um diese spezielle Form königlicher Reisen in der von ihm erlassenen Reiseordnung verbindlich zu regeln.67 Zunächst erläuterte er jedoch diejenigen Modalitäten, welche bei Reisen des Königs „ohne Verbietung des feierlichen Empfanges“ anzuwenden waren. Zu den obligatorischen Bestandteilen offizieller Zeremonien am Ankunfts- und Abfahrtsort zählten: 1) Glockengeläute 2) Abfeuerung der Geschütze 3) Ausrücken der Landwehr 4) Aufstellung der Schuljugend 5) Abhalten von Anreden 6) Ausschmückung der Strassen mit Fahnen, Laub- und Blumengewinden 7) Aufwartung aller Staats, Kirchen, Gemeinde- und Militärbeamten68
Um darüber hinaus „Festessen, Festbälle, Festtheater“69 veranstalten zu dürfen, bedurften die lokalen Autoritäten einer eigens einzuholenden Erlaubnis des Königs. Zudem mussten ausgewählte Staatsrepräsentanten, getreu dem bereits seit dem Mittelalter tradierten Zeremoniell der Einholung, den regierenden Monarchen an den Grenzen ihres Zuständigkeitsbereichs erwarten und bis zum Zielort begleiten.70 Außerdem wurde das Ausrücken und „Spalier machen“ der Garnison, der Landwehr oder der Kavallerie für jeden Reisetyp detailliert festgelegt. Je nach Ankunftsort sollte den reisenden Herrschaften „eine komplette Eskadron [. . . ] bis auf eine Stunde entgegenreiten“.71 Auch bei der Abreise wurde der Monarch entweder während einer Stunde oder aber bis an die Zuständigkeitsgrenzen der Behörden begleitet. An jedem Aufenthaltsort mussten im Moment der Abreise „Einhundert und ein Kanonenschüsse gelöst werden“.72 Ein solches Zeremoniell symbolisierte den Status des Reisenden. Aber auch 67 68 69 70 71 72
„Mit Bezugnahme auf die oben sub A.II.2 gegebene Hinweisung wird für Abschrift der Norm II über die Feierlichkeiten bei Reisen S. Majestät des Königs angefügt.“ Ebd. Hof.Ober 470: Normen für die Feierlichkeiten bei Reisen Ihrer Königlichen Majestäten. Vorschrift I. Ebd. Vgl. ebd. So z. B. „[b]ei Fahrten auf der Eisenbahn oder zu Wasser an der ersten Halt- oder Landungsstelle im Kreise.“ Ebd. Ebd. Ein sehr ähnliches Zeremoniell wurde bereits im Heiligen Römischen Reich angewendet. „Zwei Ratsherren reiten dem Kaiser mit Musik entgegen, Einzug mit Glockengeläut und Kanonenschüssen, Ehrenpforten, Ehrensäulen, Parade der Bürgerkompanie, Spalier der Bürgerschaft, der Torschlüssel wird auf Samtkissen übergeben, der Kaiser nimmt im Rathaus Quartier und gewährt dort Audienzen, die Stadt überreicht dem Kaiser ein wertvolles Geschenk, Feuerwerk usw. Dies alles natürlich nur, wenn es sich nicht um eine
1. Dynastische Traditionen
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für das Gefolge des reisenden Herrschers traf es eindeutige Regelungen, die auf die hierarchische Stellung der Beamten im Staat abhoben. Das Zeremoniell veranschaulichte die staatliche Ordnung: Der Höchstkommandierende, dann der Stadt- und resp. der im Range nächst folgende Commandant, nebst dem Platzmajor und Platzadjutanten sollen Ihre Majestäten an der Barriere empfangen und hereinbegleiten, wobei der Höchstkommandierende rechts, der im Range nächstfolgende Commandant links, der Platzmajor und Platzadjudante aber vor dem Wagen zu reiten haben.73
Die hier symbolisch angezeigte Ordnung besaß politische wie staatsrechtliche Gültigkeit. Der Monarch stand im Mittelpunkt des Zeremoniells und an der Spitze des Staates, was sowohl auf sorgfältig überlieferten dynastischen Traditionslinien als auch auf in der Verfassung geregelten politischen Strukturen beruhte. Dem bayerischen König bei der Ankunft am Reiseziel den „Schlüssel der Stadt“74 zu überreichen, rekurrierte einerseits auf eine seit dem Mittelalter praktizierte zeremonielle Geste und illustrierte andererseits, dass der König das von der Verfassung eingesetzte Staatsoberhaupt war. Das bayerische Reisezeremoniell entsprach dem Staatsverständnis einer konstitutionellen Monarchie. Mit dem König und seinem Gefolge trafen herausragende Vertreter des Staates ein, die nicht nur von zuständigen Staatsbehörden, sondern auch von repräsentativen Institutionen der Gesellschaft empfangen werden mussten. Alle „Staats, Kirchen, Gemeinde- und Militärbeamten“ hatten sich am Ankunftsort einzufinden.75 Das mit Demutsgesten durchsetzte Empfangszeremoniell kommunizierte die Treue zum König und die Anerkennung seiner politischen Herrschaft. Das Zeremoniell bewies die Gültigkeit des Herrschaftsanspruchs ebenso wie die Funktionalität des Staates. Daher musste auch die lokale Schuljugend am Ankunftsort erscheinen. Sie verkörperte die Zukunft des Staats und damit die unbefristete Akzeptanz des monarchischen Prinzips. Geehrt wurde nicht nur der König, sondern das Königtum als staatstragende Institution. Die von Ludwig I. 1829 erlassenen Vorschriften für königliche Reisen, die sein Sohn Maximilian II. 1857 bestätigte, regelten darüber hinaus verschiedene Formen des Inkognitos. Vorschrift II besagte: Wenn Seine Majestät der König zwar als König, doch mit Untersagung der Feierlichkeiten, z. B. zu einem Sommeraufenthalte oder aus sonstig irgend einem Anlasse zu reisen geruhen, so hat der oben sub I. bezeichnete festliche Empfang zu unterbleiben [. . . ].76
73 74 75 76
Durchreise handelt, „bei welcher um der Schnelligkeit des Vorankommens willen das Inkognito vorgeschützt wurde.“ Berbig (1981), 238f. Hof.Ober 470: Normen für die Feierlichkeiten bei Reisen Ihrer Königlichen Majestäten. Vorschrift I. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vorschrift II. A.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
Der König konnte bei jeder Reise frei entscheiden, unter welcher Identität er reisen wollte. Auch wenn er auf seine Königswürden verzichtete, bedeutete das keinesfalls, dass an den einzelnen Reisestationen kein Empfang stattfand. Welche Staatsvertreter ihn am Ankunftsort willkommen hießen, hing zunächst davon ab, ob es sich um eine Kreisstelle, einen Regierungssitz, den Sitz eines Appellationsgerichtes oder einen Bischofssitz handelte bzw. allein ein Oberpostamt oder gar nur das Bahnamt den Geltungsbereich des Staates markierte. Neben den Vorständen dieser Behörden mussten sich auch der Oberkommandierende der örtlichen Landwehr, der Bürgermeister und der Dorfpfarrer pflichtgemäß einfinden.77 Da der König seinen zeremoniellen Status jederzeit verändern konnte, hatten sich die Delegierten ständig zu seiner Verfügung zu halten. Zudem mussten sie das fortwährende Bedürfnis seiner Untertanen ihm zu huldigen – denn als solches erscheint es in den Reisevorschriften – immer wieder kanalisieren. Auch dabei wurde implizit von einem anwesenden Publikum ausgegangen. „Eine Aufwartung findet nur statt, wenn sie besonders Allerhöchst zugelassen wird, und darf auch eine Bereitstellung hierfür nur erfolgen, wenn sie eigens befohlen ist.“78 Folgerichtig durften auch keine Salutschüsse abgegeben werden, und zwar „weder von Seite des Militär, noch von Seite der Gemeinden oder Privaten“.79 Durch Ehrenbezeugungen für den König wurde die Ordnung des Staates symbolisch anerkannt. Sie konnten daher nie völlig unterbleiben, mussten sich jedoch dem zu beachtenden Zeremoniell anpassen.80 Der König konnte „ohne Verbietung des feierlichen Empfanges“ (Norm I), „zwar als König, doch mit Untersagung der Feierlichkeiten“ (Norm II) oder „mit Untersagung auch d. sub Ziff. II Vorgeschriebenen“ (Norm III) reisen.81 Unter Norm I reiste der König als König. Die Vorschriften II und III hingegen bezeichnen implizit verschiedene Spielarten des Inkognitos, obwohl der Begriff nicht expressis verbis benutzt wird. Norm IV eröffnete dem König sogar die Möglichkeit sein Amt zeitweise abzulegen: Wenn Seine Königl. Majestät die Norm IV für eine Reise bestimmen, so hat während letz-
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81
Vgl. ebd. Ebd. Vorschrift II.B. Ebd. „An Orten, wo übernachtet wird, sollen 2 Ehrenposten aufgestellt werden, aber keine Ehrenwache soll aufziehen – außer an Orten, wo Sommeraufenthalt genommen wird – wenn es nicht ausdrücklich untersagt wird.“ Ebd. Im letzten Falle hatten allein die Vorsitzenden der jeweiligen Staatsbehörden zu erscheinen, Ehrenposten wurden genauso wenig aufgestellt, wie Salutschüsse abgeschossen wurden. Vgl. ebd.
1. Dynastische Traditionen
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terer kein Empfang, selbst nicht einmal von Seiten des Distrikts- oder Lokalpolizeibeamten stattzufinden.82
Diese letzte Regelung ist, obwohl der König dezidiert nicht als König reiste, kaum mehr als Inkognito zu bezeichnen. Denn diese Norm hebt sowohl das Zeremoniell als auch den ludischen Charakter des Identitätswechsels nahezu vollständig auf.
1.4 Dienst am Inkognito Maximilians II. „Normen über das Verhalten der Behörden bei den Reisen von Prinzen und Prinzessinnen des Königlichen Hauses, dann auswärtiger Allerhöchster und höchster Herrschaften“ ist die letzte Reiseverordnung, welche die bayerische Königsfamilie erließ. Weder Ludwig II. noch Prinzregent Luitpold noch der nur kurz regierende Ludwig III. hielten es für notwendig, diese Bestimmungen zu modifizieren. Das Dokument illustriert, welche Anforderungen die regierende Dynastie an den Staat stellte. Wie genau die Staatsdiener die Reisen von Mitgliedern der königlichen Familie organisierten, geht daraus jedoch nicht hervor. Dies verdeutlicht die Dienstanweisung für die Durchführung von Sonderzügen Allerhöchster und Höchster Herrschaften der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen.83 Diese trat zwar erst am 1. April 1907 in Kraft, ist jedoch für die Reisen der Familie Wittelsbach im gesamten 19. Jahrhundert relevant. Denn erstens handelt es sich um die einzige Dienstanweisung dieser Art, die bis zur Abschaffung der Monarchie im Jahre 1918 erlassen wurde. Zweitens ist, ähnlich wie bei den Zeremonienbüchern der Frühen Neuzeit, davon auszugehen, dass es sich hier um nachträglich kodifizierte Praktiken handelte, die bereits lange vor ihrer Verschriftlichung im bayerischen Herrscherhaus üblich waren. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkten sich die zeremoniellen Anforderungen der Monarchie auf das modernste Verkehrsmittel seiner Zeit aus. Die bayerische Königsfamilie hatte bereits 1844, nur neun Jahre nach Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecke in Bayern, über die Anschaffung eines eigenen Eisenbahnwagens nachgedacht. Zwischen 1855 und 1862 gab Maximilian II. insgesamt neun Salonwagen in Auftrag, die fortan in diversen Zusammenset-
82 83
Ebd., Vorschrift IV. Vgl. K.B. Staatseisenbahnen: Dienstanweisung für die Durchführung von Sonderzügen Allerhöchster und Höchster Herrschaften. Gültig vom 1. April 1907, München 1907 (im Folgenden abgekürzt mit DBM Dienstanweisung). Ich bedanke mich beim DB-Museum in Nürnberg, das mir dieses Dokument zur Verfügung gestellt hat.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
zungen den königlichen Hofsonderzug bildeten.84 Nach der Lokomotive und den Salonwagen wurde der Zug durch den „sechsachsigen Salonwagen Nr. 8, der auf beiden Längsseiten das bayerische Wappen trägt, dem vierachsigen Salonwagen Nr. 7 für das Gefolge, dem Küchenwagen und einem dreiachsigen Salonwagen für den Reisekommissär“ vervollständigt.85 Ludwig II., der Sohn König Maximilians II., ließ den Hofzug 1865 durch einen Terrassenwagen ergänzen.86 Die Dienstanweisung für das bayerische Eisenbahnpersonal von 1907 ist eine der wenigen Quellen, welche die pragmatische Umsetzung von Inkognitoreisen illustriert. Denn hier fassten mit der Umsetzung des monarchischen Zeremoniells beauftragte Beamte ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit zusammen, um sie zur Richtschnur für die Zukunft zu machen. Bereits der erste Paragraf verdeutlicht exemplarisch, wie sich das Inkognito im Laufe des 19. Jahrhunderts etabliert und gegen andere Reisezeremonielle durchgesetzt hatte: „Die Reisen Allerhöchster und Höchster Herrschaften sind, soweit nicht anders bestimmt ist, als Incognito-Reisen zu behandeln.“87 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen die Behörden, solange nicht andere Zeremonien eigens angeordnet wurden, automatisch von einem Inkognito aus. Daher nahm die Zahl von Inkognitoreisen im 19. Jahrhundert exponentiell zu und kann nicht eindeutig evaluiert werden. Aus Sicht der Eisenbahnbeamten war der pragmatische Nutzen, den das Inkognito mit sich brachte, kaum zu überschätzen, da jeder zeremonielle Empfang an den Bahnhöfen zunächst einmal unterblieb. Zudem reduzierte das zum Normalfall gewordene Inkognito das mitreisende Personal auf das strikte Minimum.88 In Bezug auf Fahrpläne und dienstliche Anweisungen im Rahmen königlicher Sonderzüge durften „Mitteilungen hierüber ohne ausdrückliche Genehmigung an andere Persönlichkeiten oder die Presse nicht gemacht werden.“89 Die sensible Entscheidung,
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89
Vgl. Schlim (2001), 143f. DBM Dienstanweisung, 7. Besondere Bestimmungen für Sonderzüge des bayerischen Staatsoberhauptes, §12 (1). Vgl. Bartelsheim (2009), 11, siehe auch 7–10. Die genaue Zusammenstellung des königlichen Hofzugs geht aus den Quellen nicht hervor. Die Verbindung von Eisenbahn und Monarchie wurde an einigen Bahnhöfen durch einen eigenen Warteraum für die königliche Familie besonders deutlich. DBM Dienstanweisung, 3. Allgemeines, §1 (2). Aus Gründen der Sicherheit: „[. . . ] der Wagenwärter hat auch beim Übergang des Zuges auf fremde Linien stets bis zur Ankunft am Reiseziel beim Zuge zu verbleiben.“ DBM Dienstanweisung, 4; Allgemeines, §6 (4). „Auf allen vom Sonderzuge berührten Stationen haben die Stationsvorsteher persönlich anwesend zu sein und zwar bei Incognito-Reisen in Dienstuniform, bei offiziellen Reisen in Galauniform.“ DBM Dienstanweisung, 5, Allgemeines, §7 (3). DBM Dienstanweisung, 4. Allgemeines, §5.
1. Dynastische Traditionen
201
wie und wann die Öffentlichkeit von der Reise erfuhr, lag allein im Ermessen des königlichen Hauses. Ein Schreiben der Generaldirektion der bayerischen Eisenbahnen von 1876 belegt, dass Ludwig II., der regierende bayerische König, bei seinen Inkognitofahrten nicht den königlich-bayerischen Hofzug, sondern gewöhnliche Waggons benutzte: Bei den Reisen, welche seine Majestät der König in den letzten Jahren wiederholt im strengsten Incognito machten, wurden zur thunlichsten Bewahrung desselben nur solche Wagen verwendet, welche dem allgemeinen Verkehr dienen. [. . . ] Die Benutzung dieser Wagen brachte manche Unzukömmlichkeiten mit sich [. . . ]. Der k. Oberstallmeisterstab hat deshalb [. . . ] die Herstellung eines eigenen Service-Wagens und eines passenden Wagens für das Gefolge in Anregung gebracht.90
Ähnlich wie das Inkognitozeremoniell den Monarchen zwang, seine Herrschaftsinsignien abzulegen, mussten die Bahnbeamten auf ihre Uniformen verzichten. „Die Sonderzüge regierender Fürsten sind [. . . ] in schwarzem Anzug und hohem Hut zu begleiten.“91 Die bürgerlich-zivile Kleidung verschleierte symbolisch die monarchische Identität des Reisenden. Der im Inkognitozeremoniell erzwungene Verzicht auf Ehrenbekundungen beabsichtigte jedoch keineswegs das Publikum fernzuhalten, das zumeist durch die Presse über die Reise und die Identität des Reisenden informiert war. Abschnitt II §17 der „Dienstanweisung für die Durchführung von Sonderzügen Allerhöchster und Höchster Herrschaften“ verdeutlicht dies. Er bekräftigte ausdrücklich, dass die Öffentlichkeit am Bahnhof zugelassen werden sollte, und zwar „sowohl bei Incognito- als auch bei offiziellen Reisen.“92 Vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts erwies sich das Publikum für ein gelungenes Inkognito als unabdingbar. Während es sich zu Beginn der Frühen Neuzeit noch um eine geringe, handverlesene Zahl von Betrachtern an den jeweiligen Höfen gehandelt hatte, fand das Inkognito im 19. Jahrhundert ein medial vermitteltes Massenpublikum in Form von Zeitungslesern und Volksaufläufen an den Bahnhöfen. Abschnitt IV der Dienstanweisung, der die „Verständigung der Mili90
91
92
Zitiert nach Bartelsheim (2009), 36. Für das komplette Dokument siehe: „Akten des Königlich Bayerischen Handels-und Arbeitsministerium (148–1872, Rep. Nr. 4, Akte 6904 „Eisenbahnwagen für den allerhöchsten Hof “). Ich bedanke mich beim DB Museum Nürnberg, das mir dieses Dokument zur Verfügung gestellt hat. Die angesprochenen Wagen wurden wahrscheinlich auch für Ludwigs Reisen in die Schweiz und nach Frankreich benutzt. Ein spezieller Inkognitozug wurde jedoch nie gebaut. DBM Dienstanweisung, 4. Allgemeines, §6 (1). „Außer dem Lokomotivpersonal ist dem Sonderzug in der Regel nur ein Zugführer und ein Wagenwärter beizugeben, die Galauniform zu tragen haben.“ Ebd., 4, Allgemeines, §6 (2). Ebd., 8, Besondere Bestimmungen für Sonderzüge des bayerischen Staatsoberhauptes, §17 (2).
202
III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
tärdienststellen und der Verwaltungsbehörden“ betrifft, zeigt, wie viele Staatsdiener in die Vorbereitung und die Durchführung einer Inkognitoreise eingebundenen waren: (1) Von allen Incognito-Reisen des bayerischen Staatsoberhauptes [. . . ] haben Kenntnis zu geben a) die Eisenbahndirektoren, soweit sie durch die Reisen berührt werden, den Kreisregierungen, Kammern des Innern, b) die Bahnstationen, an deren Sitz sich Garnisonen, Bezirkskommandos oder Dienstverwaltungsbehörden befinden, den Garnisonsältesten, Bezirkskommandeuren und Dienstverwaltungsbehörden und zwar auch dann, wenn die Stationen ohne Aufenthalt durchfahren werden.93
Situationsspezifische Anweisungen empfingen die Beamten der bayerischen Eisenbahn vom königlichen Obersthofmeister und seinem Stab.94 Dieser gehörte zu den vielen höfischen Amtsträgern, die quasi parallel zum Beamtenapparat des Staates existierten. Als Hofbeamte unterschied sie die Verfassung explizit von anderen Staatsbeamten. Die auffallende Übereinstimmung von Positionen und Funktionen dieser dem König persönlich unterstehenden Hofdiener verdeutlicht die Kontinuität des Zeremonienwesens seit dem Ancien Régime. Der Hofstab bildete einen wichtigen Bestandteil des monarchischen Selbstverständnisses der Wittelsbacher. Noch mitten im Ersten Weltkrieg kodifizierte der Obersthofmeisterstab die verschiedenen Zuständigkeitsbereiche des Hofstabs bei Reisen des Königs. Abermals wurden dabei bereits lange existierende Praktiken verschriftlicht. Absatz 3 der „Instruktion des Obersthofmeisterstabes vom 12.11.1915“ bestätigte zunächst, dass „die Ausarbeitung der Reiseordnung in Zusammenarbeit mit dem Reisemarschall“ zu erfolgen hatte. Absatz 4 machte noch einmal deutlich, wie schwer die Hierarchien am Hof wogen und wer das Zepter in der Hand hielt: Über Anzahl und Auswahl des Gefolges und der Dienerschaft teilen die Hofstellen ihre Vorschläge rechtzeitig dem Obersthofmeister mit, welcher hierüber die Allerhöchste Willensmeinung einholt und ungesäumt den Hofstellen bekannt gibt.95
Die verschiedenen höfischen Reisezeremonielle des 19. Jahrhunderts illustrieren nicht zuletzt die parallele Existenz von modernem Verfassungsstaat und vormoderner Monarchie. Dies ist auch bei den im Folgenden zu thematisierenden Inkognitoreisen des Wittelsbachers und bayerischen Königs Ludwig II. zu bedenken. Denn sein Selbstverständnis als regierender Souverän bezog er nicht nur aus einer nostalgischen Rückschau auf eine Jahrhunderte lange dy-
93 94 95
Ebd., 11, Verständigung der Militärdienststellen und der Verwaltungsbehörden, §24 (1). Vgl. Prem (1988), 108. Siehe auch DBM Dienstanweisung, Berichtigung No 2, Verteilung der für das Personal gespendeten Geldgeschenke. Zitiert nach Prem (1988), 109.
1. Dynastische Traditionen
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nastische Tradition, sondern auch durch die für das 19. Jahrhundert äußerst fortschrittliche bayerische Verfassung. Deren Paragraf 1 lautete: Der König ist das Oberhaupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie unter den von Ihm gegebenen in der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde festgesetzten Bestimmungen aus. [. . . ] Seine Person ist heilig und unverletzlich.96
96
Pözl (1869), 3.
2. Königliche Rollenspiele 2.1 Inkognitoreiter Nach dem überraschenden Tod seines Vaters wurde Ludwig von Wittelsbach im Alter von 18 Jahren am 10. März 1864 als Ludwig II. zum bayerischen König gekrönt. In seinen 22 Regierungsjahren bis zu seinem Tod 1886 reiste König Ludwig ausgesprochen wenig. Seine Wege führten ihn weder nach Berlin oder Wien noch nach London, St. Petersburg, Karlsruhe oder Stuttgart.1 Neben einigen Reitausflügen nach Tirol bereiste er, abgesehen von einem kurzen Abstecher an den Rhein unmittelbar zu Beginn seiner Regierung, lediglich zwei ausländische Staaten: Frankreich und die Schweiz. Beiden Ländern stattete er je drei Besuche ab, wobei er jedes Mal inkognito reiste. Ludwig II. eignet sich wie kein anderer Vertreter der Dynastie der Wittelsbacher, um die Spielarten und die Modalitäten des Inkognitozeremoniells im 19. Jahrhundert zu verdeutlichen. Denn anders als seine Vorgänger Maximilian I. Joseph, sein Urgroßvater, und Ludwig I., sein Großvater, konnte er systematisch auf die Eisenbahn als neues Transportmittel zurückgreifen. Im Vergleich zu seinem Vater Maximilian II., der für einen regierenden König ebenfalls wenig reiste, bediente sich Ludwig II. weit öfter des Inkognitos. Vor allem aber veränderte Ludwig die zeremoniellen Versatzstücke des Inkognitos beständig und versuchte sie so weit wie möglich den Zwecken und Zielen seiner Reisen anzupassen. Am Beispiel seiner Besuche in Frankreich und der Schweiz, aber auch anhand verschiedener Aufenthalte innerhalb des bayerischen Staatsgebietes ist es daher einerseits möglich, die Entwicklung des Inkognitos nachzuzeichnen. Andererseits illustriert die zunehmend eigenwillige und kontroverse Auslegung durch Ludwig II., wie das Inkognito als Herrschaftszeremoniell gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend an seine funktionalen Grenzen stieß. Die Frage nach dem bei seinen Reisen anzuwendenden Zeremoniell, die es im Folgenden zu thematisieren gilt, stellte sich Ludwig jedoch bereits vor seinem Regierungsantritt. Immerhin hatte er sich als Kronprinz an die Reisebestimmungen des Hauses Wittelsbach zu halten und musste für jede Reise die Erlaubnis und die Vorgaben Maximilians II., des regierenden Königs und Familienvorstandes, einholen. Im Gegensatz zu seiner Regierungszeit liegt für Ludwigs Kronprinzenzeit kein Itinerar vor.2 Festzuhalten ist aber, dass sich der junge Ludwig – mit Aus1 2
Vgl. Böhm (1922), 363. Vgl. Rall/Petzet/Merta (1986).
206
III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
nahme von Teilen der österreichischen Alpen – beständig in Bayern aufhielt. Außer einigen kleineren Inlandsreisen, auf die er seinen Vater begleitete, beschränkte sich der Radius des Thronfolgers auf die verschiedenen Aufenthaltsorte der königlichen Familie sowie Reitausflüge in deren Umgebung. Allerdings führte ihn bereits 1854, kurz nach seinem neunten Geburtstag, ein solcher Reitausflug über die Grenzen seines Heimatlandes ins nahe gelegene Innsbruck. Im Anschluss an den Ausritt notierte er im November 1854 in sein Tagebuch, das er getreu der dynastischen Tradition seit seiner frühesten Jugend führte, dass er „vergnügt über das gelungene Incognito“ gewesen sei.3 Ludwig war also bereits im Kindesalter mit dem Inkognito vertraut. Er hatte den Ausritt bewusst nicht als Kronprinz unternommen. Der begeisterte Reiter Ludwig wollte vielmehr die Kunstsammlung von Erzherzog Ferdinand II. auf Schloss Ambras besichtigen. Damit lag bereits Ludwigs erstem Inkognito ein Motiv zu Grunde, das auch viele seiner späteren Reisen charakterisierte: die Kunst. Das Inkognito des neunjährigen Ludwig bezeichnet keinen Spleen eines überprivilegierten Kindes. Gemäß den Reisevorschriften der Wittelsbacher war es dem Obersthofmeisterstab offiziell angezeigt worden. Die Behörden kannten den Weg, den Ludwig einschlug, und in Innsbruck wartete ein Wagen auf ihn. Hoflakai Seitz war vorausgeschickt worden, um den Thronfolger am Abend sicher nach Bayern zurück zu begleiten. Gastgeber Erzherzog Ferdinand II. war über Ludwigs Inkognitoausritt ebenso informiert wie die verschiedenen diplomatischen Vertretungen in Bayern.4 Der Ausflug stand durchaus in der Tradition der Wittelsbacher. 1858, im zehnten Jahr seiner Regierung, unternahm König Maximilian II. eine lange Inkognitowanderung durch das bayerische Voralpenland. Begleitet wurde er von seinem auch als Reisemarschall fungierenden Flügeladjutanten Ludwig von der Tann, Oberst Graf Pappenheim, Hauptmann Baron Leonrod, Graf Ricciardelli, Franz von Kobell, Friedrich Bodenstedt und Wilhelm Heinrich Riehl, dem Oberredakteur für Preßangelegenheiten des königlichen. Hauses.5 Der König wanderte in „grauen Pantelot und runden Sommerhüten“; Frack und Zylinder hatte er ausdrücklich untersagt.6 „Wer nicht wusste, daß der König sich unter uns befand,“ kommentierte Friedrich Bodenstedt „hätte uns leicht für eine Kunstreitertruppe halten können.“7 3 4 5
6 7
Merta (1991), 255. Vgl. Reichold (2003), 28. Vgl. Rattelmüller (1960), 5. Sowohl Bodenstedt als auch Riehl schrieben Berichte über die Reise; das Werk von Rattelmüller beruht weitestgehend auf diesen beiden Dokumenten. Von der Tann wurde 1864 zum Generaladjutant König Ludwigs II. ernannt und begleitete diesen u. a. 1867 nach Paris. Rattelmüller (1960), 8. Ebd., 11.
2. Königliche Rollenspiele
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Der Zweck der Reise bestand darin „gründlich zu lernen“, und so besichtigte die kleine Gesellschaft eine Geigenfabrik und suchte gezielt den Kontakt mit der Bevölkerung. Daher ähnelte die Wanderung monarchischen Inspektionsreisen des 18. Jahrhunderts.8 In den Akten wurde sie als „Fußreise Sr. Majestät“ dokumentiert, obwohl der König und seine Begleiter wesentlich mehr ritten als wanderten.9 Verschiedene königliche Equipagen und nicht weniger als 42 Pferde begleiteten die Wandergesellschaft, die sich neben offizieller Kleidung auch alle offiziellen Ehrungen verbeten hatte. Die Bevölkerung ließ sich dennoch zu vielfältigen spontanen Huldigungen hinreißen, improvisierte festliche Empfänge und pflanzte Blumen im Schriftzug des königlichen Namens entlang der Wege.10 Auch die literarische Verarbeitung der Wanderung entsprach dem Inkognito. Sie lieferte vielfältige Anekdoten, die den König als volkstümlich, humorvoll und großherzig beschrieben. So soll Maximilian bei Prien am Chiemsee von einem Passanten gefragt worden sein, wann nun endlich der König käme. Als Max antwortete „Ich bin der König“, glaubte dieser ihm nicht.11 Die Geschichte ist nahezu identisch mit Erzählungen von der Reise Josephs II. als Graf von Falkenstein nach Frankreich. Friedrich Bodenstedt analysierte lapidar: „Er hat gewiß noch keinen König gesehen und kann sich einen solchen ohne Krone und Szepter nicht denken.“12 Der Inkognitoausritt von Kronprinz Ludwig konnte somit auf jüngste dynastische Vorläufer verweisen.13 Er sollte sich für Ludwigs Reisen in Hinblick auf das Motiv (Kunsterlebnis) und die zeremonielle Form (Inkognito) als richtungweisend herausstellen. Alle späteren, besonders im ersten Regierungsjahrzehnt des Königs ausgesprochen zahlreichen Reitausflüge unterlagen dem Inkognitozeremoniell, für dessen Umsetzung der königliche Hofstab verantwortlich zeichnete. Dieser informierte auch die verschiedenen diplomatischen Vertretungen. So konnte Ompteda, der Hannoverische Gesandte in München, seinen Korrespondenzpartnern berichten, dass Ludwig Reitausflüge im „strengsten Inkognito und nur in Begleitung eines Reitknechts“ unternehme.14 Das Inkognito stellte königliche Reisen unter das monarchische Prinzip, auch wenn das Motiv der Reise kein monarchisch-staatsmännisches war. Für Ludwig avancierte es im Laufe der Zeit zum nahezu ausschließlichen Rei8 9 10 11 12 13 14
Vgl. ebd., 8, 21. Maximilian „suchte [. . . ] ja geradezu den Verkehr mit den Leuten.“ Ebd., 61. Ebd., 7. Vgl. ebd., 14, siehe auch 8–11. Ebd., 53. Ebd., 54. Rattelmüller ist nicht zuzustimmen, wenn er die Fußreise Maximilians als die „erste und einzige ihrer Art“ bezeichnet. Rattelmüller (1960), 7. Zitiert nach Häfner (2008), 46.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
sezeremoniell. Schon die ersten Biografen des Königs thematisierten, wenn auch ohne analytische Schärfe, den ebenso temporären wie schwer zu greifenden Übergang vom öffentlichen König zum einsamen Reiter und Wanderer. Georg Jakob Wolf schrieb 1922 über Ludwigs Ausritte nach Österreich: „In Tirol war er sozusagen nicht mehr König, sondern ein vornehm reisender Privatmann.“15 Dies mag de facto so gewesen sein, trifft aber auf Grund des Inkognitos in zeremonieller Hinsicht gerade nicht zu. Denn auch Ludwigs Inkognitoreisen bezeichnen öffentliche Ereignisse. Allerdings finden sich viele Beispiele, wie der König versuchte, seine Reisen vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Walter Rummel überliefert den Ärger des Königs, als die Presse seine Reisepläne verbreitete. Ludwig habe sogar explizite Anweisungen gegeben, dies zu unterbinden.16 Obwohl Ludwigs Inkognito in einer langen dynastischen Traditionslinie steht, verklärt es die Forschung hartnäckig zum pathologischen Symptom. „Der Drang nach Einsamkeit war sicher damals schon krankhaft, aber ein vermögender Privatmann wäre dabei keineswegs sonderlich aufgefallen.“17 Auch in den Augen maßgeblicher Zeitgenossen durfte Ludwig nur ein öffentlich-konstitutioneller König sein. Ludwig von der Pfordten, der Vorsitzende des bayerischen Ministerrats, schrieb im Oktober 1865 über das königliche Rollenverständnis an Kabinettschef Pfistermeister. Dieser sollte Ludwig klar machen, daß er von einem ganz irrigen Gesichtspunkt ausgeht. Ein König ist eben kein unabhängiger Privatmann; darum darf er gar manches nicht tun, was diesem frei steht. Wenn ein König seine Stellung nur vom Gesichtspunkt eines unabhängigen Privatmannes auffasst, ist er schon auf dem Wege ein solcher zu werden.18
Trotz Verfassungsprivilegien und dynastischer Tradition konnte ein temporärer Rückzug aus der öffentlichen Königsrolle für den bayerischen Herrscher problematisch werden. Selbst einem abgedankten Monarchen stand dies nicht ohne Weiteres zu, da er Teil der regierenden Familie und damit des Hofes und des konstitutionellen Staates blieb. Heinz Gollwitzer schreibt in seiner monumentalen Biografie über Ludwigs Großvater, den 1848 abgedankten Ludwig I.: Auch nach seinem Thronverzicht konnte sich ein weiterhin im Hof- und Staatshandbuch auf-
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Wolf (1922), 196. Vgl. Rummel (1919), 21. Rummel, der leider kein konkretes Beispiel nennt, ist der einzige Autor, der dies erwähnt. Zudem ist seine Quellenedition aufgrund fehlender Angaben problematisch. Es ist aber richtig, dass bei einzelnen Reisen Ludwigs verschiedentlich Versuche unternommen wurden, Termine und Ziele der Reisen vor der Presse geheim zu halten. Kraus (1983), 577f. Brief von der Pfordten an Pfistermeister vom 22.10.1865. Zitiert nach Franz (1933), 90. Siehe auch Franz (1938), 326.
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geführter, mit einem Einkommen aus der Zivilliste bedachter und mit eigener Hofhaltung ausgestatteter Exmonarch nicht in einen Privatmann verwandeln.19
2.2 Öffentliche Versteckspiele Ludwigs erste Reise als König führte ihn drei Monate nach seinem Regierungsantritt in den bayerischen Kurort Bad Kissingen. Dort traf er, sorgsam von der Öffentlichkeit abgeschieden, das österreichische Kaiserpaar, das württembergische Königspaar sowie die russische Zarenfamilie, allerdings ohne ihr Oberhaupt Zar Alexander II. Das zwanglose Monarchentreffen im schicken Kurort erinnerte in vielerlei Hinsicht an dynastische Gepflogenheiten des Ancien Régime. Da Ludwig keine Antrittsbesuche in den europäischen Hauptstädten abstattete, traf er in Bad Kissingen zum ersten Mal mit gleichrangigen Herrschern zusammen.20 Er verbrachte immerhin vier Wochen (19. Juni bis 15. Juli 1864) mit seinen blaublütigen Kollegen. Gemäß der bayerischen Verfassung, dem königlichen Familienstatut und den von seinem Vater erlassenen Reisevorschriften bestimmte er das anzuwendende Zeremoniell im Vorfeld der Reise persönlich. Am 6. Juni 1864 informierte er das Gesamtministerium, dass er nach Bad Kissingen zu reisen gedenke, und befahl die entsprechenden zeremoniellen Vorkehrungen zu treffen.21 Auf der Reise nach Kissingen und zurück wünsche Ich im Hinblick auf die Landestrauer nach Vorschrift IV empfangen zu werden und nur bei der Ankunft in Bamberg, woselbst ich zu dinieren gedenke, sowie bei der Ankunft in Kissingen soll Nr. III der Reisevorschriften in Anwendung treten.22
Ludwig musste zunächst die Landestrauer um seinen am 10. März verstorbenen Vater berücksichtigen. Das offizielle Andenken an den toten Monarchen verhinderte bestimmte Ehrbezeugungen und öffentliche Empfänge von vorneherein.23 Dem Zeremoniell der Wittelsbacher entsprechend trauerte der baye19 20 21 22 23
Gollwitzer (1987), 723. Mit Ausnahme des österreichischen Kaiserpaares, das Ludwig auf Grund der familiären Bindung schon länger kannte. Vgl. Ministerium des Äußeren (in Folgenden abgekürzt mit MA) 99731, 6.6.1864. Allerdings plante Ludwig zu diesem Zeitpunkt noch am 14. Juni 1864 abzureisen. MA 99731, 06.06.1864. Hervorhebung im Original. Im 19. Jahrhundert blieben die zeremoniellen Formen der Trauer sehr detailliert geregelt. So trauerte der preußische Hof vier Wochen um Maximilian II. und beachtete dabei genau festgelegte „Abstufungen von tiefer zu weniger tiefer Trauer“. Ceremonial-Buch für den Königlich Preussischen Hof . XI. Trauer-Reglement (1905), 20. Carl Ernst von Malortie beschreibt in seinem Hof-Marschall die verschiedenen Phasen als „Landestrauer, Tiefste
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rische Staat sechs Monate lang um seinen toten Regenten, wie Ludwig II. als amtierendes Staatsoberhaupt angeordnet hatte. Der junge König betrat erst am 1. Oktober 1864, nach Ablauf der Landestrauer, offiziell die Münchner Residenz.24 Durch Vorschrift IV. verordnete der König zusätzlich, dass „kein Empfang, selbst nicht einmal von Seiten des Distrikts- oder Lokalpolizeibeamten stattzufinden“ habe.25 Dies stellte die Reise unter das Inkognito. Nur auf der Zwischenstation in Bamberg erlaubte er durch Vorschrift III dem Regierungspräsidenten, ihm die Aufwartung zu machen. Salutschüsse mussten aber auch hier unterbleiben. Da diese Regelungen sich lediglich auf die An- und Abreise bezogen, den Aufenthalt selbst, dessen genaue Dauer zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, jedoch nicht betrafen, gab Ludwig auch hierfür entsprechende Anweisungen. Kurz und prägnant teilte er dem Gesamtministerium mit, dass er auch während seines Aufenthalts in Kissingen nicht wünsche, „daß die Beamten der Umgegend von Kissingen sich zu Aufwartungen melden.“26 Damit zeigte er auch für die Zeit im Kurort das Inkognito offiziell an. In Anbetracht der Landestrauer wurde das Monarchentreffen in Kissingen durch das Inkognito überhaupt erst möglich. Ludwig II. organisierte die Reise gemäß der dynastischen Tradition und den konstitutionellen Bestimmungen. Darüber hinaus musste er sein Reisezeremoniell aber auch auf das Zeremoniell derjenigen Monarchen abstimmen, die er in Kissingen zu treffen gedachte. Dies galt umso mehr, als das österreichische Kaiserpaar auf seinem Weg zum Kurort die bayerische Hauptstadt besuchte. Deswegen erkundigte sich Ludwig wahrscheinlich schon vor seinen Mitteilungen an das Gesamtministerium nach den Reisemodalitäten Kaiser Franz Josephs und seiner Gemahlin.27 Am 7. Juni, einen Tag nachdem er sein eigenes Reisezeremoniell festgelegt hatte, unterrichtete ihn das Ministerium, dass das österreichische Kaiserpaar wahrscheinlich am 16. Juni in München ankommen würde. Auch die Habsburger reisten im strengsten Inkognito und baten den bayerischen Hof alle „Empfangsfeierlichkeit“ zu vermeiden.28 Ludwig konnte auch deswegen nicht vor ihrer Ankunft abreisen, da Kaiserin Elisabeth eine Cousine des bayerischen Königs war. Daher verschob Ludwig seine Abreise auf den „18. oder 19.“29 und empfing seine Gäste am 16. Juni ohne Zeremo-
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Hoftrauer, Tiefe Trauer, Dritte Trauer, Vierte Trauer“. Vgl. Malortie (1846), 184. Vgl. dazu auch Frühsorge (1984), 260. Vgl. Possart (1901), 4. Hof.Ober 470. Vorschrift IV. MA 99731, 6.6.1864. Vgl. BayHStA Gendarmerie – Korps – Kommando (im Folgenden abgekürzt mit GendKK) 1069, 17.6.1863. MA 99731, 7.6.1864. Ebd.
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niell in der Residenz.30 Ludwig traf schließlich am 19. Juni 1864 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Otto und 25 weiteren Personen inkognito in Bad Kissingen ein.31 Da laut Familienstatut alle Mitglieder der königlichen Familie in Begleitung des Familienoberhaupts denselben zeremoniellen Status wie der König besaßen, weilte auch Kronprinz Otto inkognito in Bad Kissingen. Kurz darauf reiste Ludwig ebenfalls unter Verzicht auf offizielle Empfänge und Ehrungen nach Bad Schwalbach und an den Rhein. Außerdem ritt er im November 1864, genau zehn Jahre nach seinem ersten Ausflug, erneut inkognito nach Innsbruck.32 Die Presse kommentierte diese Reisen des Königs ausgiebig. In Anbetracht der bevorstehenden Neuordnung Deutschlands wunderten sich die Kommentatoren über deren fehlenden politischen Hintergrund. Da sich die Forderungen nach offiziellen Antrittsbesuchen in Wien und in Berlin häuften, sah sich Ludwig Mitte Mai 1865 schließlich zu einer öffentlichen Stellungnahme gezwungen. Von der Pfordten, der Vorsitzende des Ministerrates, formulierte ein Zirkular, das ohne weitere Einzelheiten erklärte: „[D]er König könne keine Reisen unternehmen, da er absolute Ruhe in diesem Jahre nötig habe.“33 . Das Itinerar zeigt hingegen, dass der scheinbar schwächelnde Ludwig zu dieser Zeit ausgedehnte Bergtouren unternahm und dabei öfters in seinen Berghütten übernachtete.34 Der Verweis auf die schlechte Gesundheit war eines der wenigen Argumente, das es ihm erlaubte, die öffentlich-repräsentative Rolle eines konstitutionellen Königs temporär abzulegen.35 Nur fünf Monate später setzte sich Ludwig zunächst über Tölz, den Vorderriss und Partenkirchen ins Allgäu ab, um von dort am 19. Oktober 1865 unangekündigt in die Schweiz zu reisen. Fern aller politischen Absichten wollte er die Schauplätze der Tell-Sage, dem historischen Ort der Schweizer Unab-
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Vgl. Nöhbauer (1986), 208. Vgl. ebd. Im Vergleich zu einer offiziellen Königsreise war diese Zahl durchaus bescheiden und entsprach dem angewandten Zeremoniell. Vgl. Rall/Petzet/Merta (1986), 179. Franz Merta hat anhand des von ihm erstellten Itinerars des bayerischen Königs gezeigt, wie sehr Ludwigs Handeln durch ein zyklisches Verständnis von Zeitabläufen geprägt war. Auch wenn hier nicht näher auf diesen Sachverhalt eingegangen werden kann, ist dies ein wichtiger Hinweis auf Ludwigs monarchisches Selbstverständnis. So spiegelte auch im französischen Hochabsolutismus der Tagesablauf des von Ludwig verehrten Ludwig XIV. zwischen Lever (Aufstehen) und Coucher (zu Bett gehen) den natürlichen Ablauf der Gestirne und damit eine natürliche Ordnung wider. Franz (1933), 86. Vgl. Rall/Petzet/Merta (1986), 179f. Ludwig benutzte diesen Vorwand immer wieder. Am 22. Mai 1865 schrieb Kabinettssekretär Pfistermeister an den königlichen Leibarzt Geheimrat Franz Xaver von Gietl, der schon Ludwigs Vater medizinisch betreut hatte, und warnte den Arzt, dass der junge König eine Geisteskrankheit vorschützen wolle, um sich dauerhaft in die Schweiz abzusetzen. Vgl. Nöhbauer (1986), 217.
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hängigkeit, mit den Beschreibungen in Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) vergleichen.36 Nachdem sein Reiseverhalten in der Öffentlichkeit bereits kritisch kommentiert worden war, informierte Ludwig die Presse diesmal gezielt falsch. Am Tag der Abreise berichtete die Allgemeine Zeitung, dass der König morgen zur österreichischen Kaisermutter nach Salzburg fahre.37 Das Blatt musste sich jedoch bereits in der Abendausgabe revidieren. Dort erfuhr der Leser, dass der König nicht nach Salzburg, sondern in die bayerische Riss reise, um anschließend einige Tage in Berchtesgaden zu verbringen.38 Noch am Vorabend der Reise ließ Ludwig Schillers Drama, das er an diesem Abend zum ersten Mal auf der Bühne sah, „auf seinen Befehl“ in München aufführen.39 Die Inszenierung diente ihm als sorgfältig geplante Ouvertüre zu einer mit gezielten Erwartungen verbundenen Reise. Dies verdeutlicht ein Brief an Richard Wagner, dem er eine Woche vor der Abreise einen „kleinen Ausflug ins Gebirge im strengsten incognito“ ankündigte.40 Aus zeremonieller Sicht war dies zumindest ungenau. Zwar waren Teile des Hofstabes in das Vorhaben eingeweiht, dem Staatsapparat wurde die Reise jedoch verheimlicht. Anders als in Bad Kissingen zeigte Ludwig sein Inkognito nicht offiziell an. Seine erste Schweizreise bezeichnet kein öffentliches Spiel mit Identitäten, sondern ein Versteckspiel vor der Öffentlichkeit. Bereits die frühesten Biografen des Königs schilderten diese Reise als frühes Symptom einer späteren Geisteskrankheit und bemühten dabei wiederholt den Begriff inkognito. Dies gilt nicht nur für Friedrich Lamperts nur vier Jahre nach Ludwigs Tod veröffentlichte Biografie,41 sondern auch für die Karl von Heigels von 1893: Jedenfalls durch die Dichtung angeregt, machte er damals einen Ausflug in die Schweiz. Unter angenommenen Namen. Unvermutet reiste er ab, seufzen X. und Y., und inkognito! Da haben wir wieder ein Symptom [für Geisteskrankheit – VB].42
Auch Ludwigs Gefolge, das lediglich aus seinem Kammerlakaien Seitz und einem weiteren Diener bestand, entsprach nicht den zeremoniellen Gepflogen-
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Ludwigs Begeisterung für Schiller entstand bereits an seinem 13. Geburtstag, als der Kronprinz eine Werkausgabe des Dichters geschenkt bekam. Im Alter von 15 Jahren kaufte er sich von seinem für einen königlichen Prinzen äußerst bescheidenem Taschengeld eine Statuette Wilhelm Tells. Vgl. Wilk (1989), 13. Siehe auch Nöhbauer (1986), 213. Sophie Friederike Dorothea Wilhelmine von Bayern (1805–1872) wurde durch ihre Heirat zur Erzherzogin von Österreich. Vgl. Allgemeine Zeitung 19.10.1865, Beilage, 4. Allgemeine Zeitung 19.10.1865, 8. Siehe auch Petzet (1995), 30; Wolf (1922), 99. Brief vom 12.10.1865. Strobel (1936), Bd. 1, 199. Hervorhebung im Original. Siehe auch Merta (1991), 255. Vgl. Lampert (1890), 55. Heigel (1893), 165.
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heiten des Inkognitos.43 Ludwig reiste zunächst nach Luzern und von dort nach Brunnen am Vierwaldstätter See.44 Während die bayerische Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, wo sich ihr König aufhielt, berichtete die Schwyzer Zeitung vom 24. Oktober bereits von dessen Ankunft. „Er [Ludwig II. – VB] kam montags incognito von Luzern her.“45 Ludwig logierte im Gasthof Rössli, dessen Betreiber Fridolin Fassbind noch Jahre später seine Gäste in einem Werbeprospekt informierte, dass „König Ludwig II. incognito mit einem Begleiter u. seinem Kammerlaquai Hr. Seits [sic!]“ bei ihm Quartier bezogen hatte.46 Fassbind erzählte, wie er, nachdem er die wahre Identität des Reisenden durchschaut hatte, dem hohen Herren sein bestes Zimmer anbot. Obwohl es Ludwig vorzog, in einem gewöhnlichen Gästezimmer zu bleiben, avancierte Fassbinds bestes Zimmer fortan zur „Fürstensuite“.47 Ludwig zeigte sich von seiner Reise begeistert, und auch das Schweizer Publikum wertete den königlichen Besuch durchaus positiv. Am 2. November 1865, einen Tag nach Ludwigs Abreise, ergriffen einige Bewohner des Kantons Uri die Initiative und wollten den bayerischen König, der sie offiziell nie besucht hatte, sogar zum Ehrenbürger machen.48 Die bayerische Öffentlichkeit spekulierte hingegen weiter über den Aufenthaltsort ihres Königs. Am 21. Oktober, zwei Tage nach Antritt der Reise, berichtete die Allgemeine Zeitung, dass Ludwig sich in der Riss aufhalte und im Jagdhaus von Herzog Max, dem Vater seiner Cousine Elisabeth von Österreich, nächtige. Er hätte sich auf der Reise nirgendwo aufgehalten und keine Aufwartungen entgegen genommen und kehre am nächsten Tag nach Hohenschwangau zurück.49 Die sich widersprechenden Informationen erwiesen sich als idealer Nährboden für Gerüchte. Die unerklärte Abwesenheit des Königs wurde noch Jahre später gezielt für Kritik an Ludwig instrumentalisiert, wobei viele falsche Details hinzuimaginiert wurden. 1875, immerhin zehn Jahre nach der Reise, erschien ein Artikel eines gewissen E. Reclus in der US-amerikanischen Zeitschrift The Galaxy. An Illustrated Magazine of Entertaining Reading, in dem der Autor ein Treffen Ludwigs mit einem in Bayern weilenden Schweizer Studenten erfindet. Ludwig zeigt sich verwundert und bestürzt, dass sein Gesprächspartner kaum etwas von Wilhelm Tell weiß, und lässt seiner Bewunderung für 43 44 45 46 47 48 49
Da es sich bei der Reise nicht um ein offiziell angezeigtes, den zeremoniellen Gepflogenheiten entsprechendes Inkognito handelte, wurde sie nicht in den Akten verzeichnet. Vgl. Böhm (1922), 364. Schwyzer Zeitung, 24.10.1865, zitiert nach Nöhbauer (1986), 216. Erst aus dieser Quelle erfuhr die bayerische Bevölkerung von Ludwigs Reiseziel. Zitiert nach Nöhbauer (1986), 216. Blunt (1986), 50. Vgl. Schäffer (2005), o.S. Ludwig lehnte das Ansuchen mit der Begründung ab, dass eine Ehrenbürgerschaft für einen regierenden König nicht angemessen sei. Vgl. Allgemeine Zeitung, 1.11.1865, Beilage, 4.
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den Schweizer Nationalhelden freien Lauf. Anschließend stiehlt sich Ludwig mit einem Trick aus dem Zugriff von der Pfordtens und entschwindet in die Schweiz.50 Ludwigs wenige Reisen leisteten noch zu seinen Lebzeiten einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Imagination eines Königs, den seine Untertanen im Laufe der Jahre immer weniger und schließlich gar nicht mehr zu Gesicht bekamen. Reclus’ Text, der Ludwig in völliger Verkennung der Tatsachen zum deutsch-nationalen Frankreichhasser stilisiert, zeigt, dass dabei oft politische Gründe ausschlaggebend waren.51 Schon lange vor Ludwigs Tod kursierten die wildesten Gerüchte über angebliche Reisen des Königs. So schrieb Paul Haufingen in seiner Biografie Ludwig II. König von Bayern. Sein Leben und Ende, die 1886, im Todesjahr des Königs, bereits in dritter Auflage erschien: „Oft machte er [Ludwig II. – VB] wirklich Reisen, die er im strengsten Inkognito ausführte und die ihn nach Wien und Paris führten, wo er einige Male insgeheim weilte.“52
2.3 Kunst statt Krieg Nur ein halbes Jahr später konnte die öffentliche Kritik Ludwig II. erneut nicht davon abhalten, in die Schweiz zu reisen. Der Anlass der Reise ließ diesmal die Wellen der Empörung noch weit höher schlagen: Richard Wagners 53. Geburtstag.53 Wagner, den Ludwig erst im Mai 1864 kennenlernte, hatte einige Zeit auf Kosten des bayerischen Königs in einer großzügigen Villa unweit der Münchner Residenz logiert. Der steigende Einfluss des Komponisten auf den König führte zu massiver, öffentlicher Kritik an Wagners Anwesenheit in München, so dass der Komponist am 6. Dezember 1865 auf Druck von Ministern, Parlament und Öffentlichkeit Bayern schließlich verließ.54 Ludwig mietete ihm auf Kosten der königlichen Zivilliste eine Villa im Schweizer Triebschen, in der er ihn vom 21. bis zum 24. Mai 1866 besuchte.55 Zu diesem Zeitpunkt war der seit Langem latente Konflikt zwischen Preußen und Österreich offen ausgebrochen. Dies drohte auch für das Königreich 50 51 52 53 54 55
Vgl. Reclus (1875a), 533. Vgl. ebd., 535. „Louis wished to crush once and for all his hereditary enemy, and reconstruct the holy empire of Barbarossa.“ Haufingen (1886), 77. Ludwig reiste zwei Mal nach Paris und kein einziges Mal nach Wien. Vgl. Gutmann (1985), 266. Vgl. Hilmes (2007), 140. Riezler charakterisiert die Reise als „abenteuerliche Sühnefahrt nach Triebschen“ und bietet damit ein aussagekräftiges Beispiel für die vielfältigen, impliziten Anspielungen, die große Teile der Ludwig-Forschung kennzeichnen. Riezler (1923), 301.
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Bayern, nach den beiden Großmächten drittgrößter deutscher Staat, schwerwiegende Auswirkungen zu haben. Nachdem Preußen Anfang Mai 1866 seine Truppen mobilisiert hatte, stand der Krieg unmittelbar bevor.56 Für den 21jährigen Ludwig bedeutete dies die erste Bewährungsprobe seiner jungen Regierung. Als König war er oberster Kriegsherr einer Armee, die auf Seiten Österreichs gegen Preußen in den Krieg ziehen sollte. Damit oblag es ihm, die Mobilmachung des bayerischen Heeres für den ersten Krieg unter seiner Herrschaft anzuordnen. Diese befahl er für den 21. Mai und legte sie damit exakt auf den Tag seiner später geplanten Abreise in die Schweiz. Drei Tage bevor er Bayern verließ, am 18. Mai 1866, schickte er einen Vertrauensmann, den Fürsten von Thurn und Taxis, nach Triebschen, um Wagner seinen Besuch anzukündigen. Ludwig wusste, dass die Geburtstagsvisite auf die entschiedene Ablehnung seiner Minister stoßen würde. Aus ihrer Sicht war an die Reise schon deswegen nicht zu denken, da der König am 22. Mai den bayerischen Landtag eröffnen sollte.57 Die Öffentlichkeit erwartete eine Rede, die eines Staatsoberhauptes am Vorabend eines richtungsweisenden militärischen Konflikts würdig war. Ludwig führte sein Kabinett hingegen erneut in die Irre und teilte noch am Tag seiner Abreise schriftlich mit, dass er keineswegs verreisen wolle!58 Auch Ludwigs zweite Reise in die Schweiz unterlag nicht dem Zeremoniell des Inkognitos. Allerdings benutzte der bayerische König hier zum ersten Mal eine Technik, die für das Inkognito charakteristisch ist: Er verwendete ein Pseudonym. Auch der vorausgeschickte Fürst von Thurn und Taxis reiste nicht unter seinem Namen. Er nannte sich „Melot“, nach einer Figur aus Wagners Tristan und Isolde. Thurn und Taxis kündigte seinerseits nicht den König von Bayern an, sondern einen gewissen „Walther von Stolzing“, den Protagonisten der Meistersinger. Diese Namen bezeichnen zwar keine klassischen Inkognitopseudonyme, besaßen jedoch immerhin einen ludischen Aspekt, indem sie die Identität des Reisenden gleichzeitig verbargen und offen legten. Denn Wagner befand sich mitten in der Arbeit an dieser Oper, die erst am 21. Juni 1868 in München uraufgeführt wurde.59 Nur Wagners engstes Umfeld wusste von der Entstehung des Werkes und kannte bereits die Namen der dort auftretenden Figuren. Von einem genuinen Inkognito kann vor allem deswegen keine Rede sein, da Ludwig in aller Heimlichkeit nach Triebschen reiste. In Begleitung seines Reitknechts Joseph Völkl ritt er zunächst zum oberbayerischen Bahnhof Bie-
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Vgl. Nöhbauer (1986), 217. Vgl. dazu auch Gebhardt (1986), 50. Vgl. Botzenhart (2004), 105. Vgl. Wilk (1989), 20; Chapman (1955), 145.
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ßenhofen und bestieg dort einen Zug in Richtung Schweiz.60 Die bayerischen Zeitungen veröffentlichten höchst widersprüchliche Informationen über Dauer und Ziel des königlichen Aufenthalts. Auch über die Gründe einer Reise zu diesem völlig unangebrachten Zeitpunkt spekulierten sie ausgiebig. Die Kommentatoren fragten sich, ob der König rechtzeitig zur Landtagseröffnung zurück sein werde. Aber auch am 22. Mai, dem Tag der anberaumten Eröffnung, lagen der Allgemeinen Zeitung keine eindeutigen Informationen vor. Als diese Meldung vom 22. in der Ausgabe des 23. Mai veröffentlicht wurde, war bereits klar, dass Ludwig den Landtag nicht wie vorgesehen eröffnet hatte.61 Erst am Donnerstag, den 24. Mai, wurde die Reise in die Schweiz im „strengsten Inkognito“ öffentlich.62 Unmittelbar darauf versuchte die Presse, die Situation zu beruhigen. Die Allgemeine Zeitung berichtete am nächsten Tag auf der Titelseite von einem Telegramm des Königs aus Schloss Berg, indem er ankündigte, den Landtag am nächsten Vormittag persönlich zu eröffnen.63 In der Beilage des gleichen Tages stand jedoch zu lesen, dass die Eröffnung auf den nächsten Montag verschoben worden sei, wobei logistische und zeremonielle Probleme als Gründe angeführt wurden: „Die Vorbereitungen, Druck der Thronrede, Berufung des großen Cortége [sic!], der Offizierscorps, konnten nicht so schnell bewirkt werden.“64 Ludwig ließ sich von all dem nicht beirren und pochte nach seiner Rückkehr aus der Schweiz auf seine konstitutionellen Rechte. Er erklärte, dass er die vom Kabinett ausgearbeitete Thronrede noch nicht genehmigt hatte, und verschob die Eröffnung um weitere zwei Tage. Damit hatte er die Geduld der Presse überstrapaziert: Wir schwebten hier in Gefahr einen kleinen Nachtrag zu der leidigen Richard-Wagner-Episode zu erleben. Unserm König seinen Geschmack für Wagners Musik und Person zu verargen ist gewiß ungebührlich; doch schüttelten zu der Schweizerreise des jungen Fürsten in diesen ernsten Tagen auch solche Leute den Kopf, die sonst über jene Privatneigungen billig denken. Auch daß gerade in dieser Zeit, wo uns das Beten näher liegt als das Singen, Wagner’sche Opern im Hoftheater zu glänzenden Musteraufführungen gelangen sollten, fiel einigermaßen auf [. . . ].65
Immerhin versuchte die Presse die Gemüter dahingehend zu beruhigen, dass der König zugesichert habe, nun erst einmal in der Hauptstadt zu verbleiben. „Damit werden die mancherlei unliebsamen Gerüchte hoffentlich verstummen.“66 60 61 62 63 64 65 66
Zu den Tagebuchaufzeichnungen Ludwigs während der Reise siehe Evers (1986), 105. Vgl. Allgemeine Zeitung, 23.5.1866, Beilage, 5. Allgemeine Zeitung, 24.5.1866, 2. Vgl. Allgemeine Zeitung 26.5.1866, 1. Allgemeine Zeitung 26.5.1866, Beilage, 1. Allgemeine Zeitung, 27.5.1866, 3. Allgemeine Zeitung, 27.5.1866, 3.
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Schließlich wurde erst am 27. Mai 1866 ein feierlicher Gottesdienst in der Münchner Michaelikirche zelebriert. Anschließend fuhren der König und die Abgeordneten zwischen Spaliertruppen durch die von der Bevölkerung gesäumten Straßen zur Eröffnung des Landtags. Entgegen den Gepflogenheiten waren dabei keine Hochrufe aus dem Publikum zu hören, und als der König den Landtag betrat, wurde er vom Plenum mit einem missbilligenden Zischen empfangen.67 Dieser „eiskalte“ Empfang bezeichnet als offene und öffentliche Kritik am König einen außergewöhnlichen Vorgang.68 Ludwig informierte in seiner Rede die Bevölkerung offiziell von der Mobilmachung.69 Weiter ließ er verlauten: „Ich vertraue auf Ihre und des ganzen bayerischen Volkes Vaterlandliebe und Hingebung an den Monarchen.“70 In Folge seines zweiten Aufenthalts in der Schweiz avancierten die Reisen des Königs vom Kuriosum zum Politikum. Die Öffentlichkeit fragte sich, inwieweit Ludwig II. seine monarchischen Pflichten vernachlässige. Drei Wochen nach seiner Rückkehr aus Triebschen am 24. Mai 1866 sah sich Polizeichef Sigmund Heinrich Pfeufer veranlasst, den König über den wachsenden Unmut in der Bevölkerung zu informieren. Am 16. Juni schrieb er an Kabinettssekretär Franz Seraph von Pfistermeister, dass die Bewohner verschiedener bayerischer Regierungsbezirke zwei Jahre nach Regierungsantritt immer offener einen Besuch ihres Königs einforderten. Das Zirkular des Vorjahres, mit dem Ludwig die erwartete Rundreise durch sein Königreich mit der Begründung verschoben hatte, dass „der Leibarzt diese [sic!] Reise dringend widerraten habe“, habe, so Pfeufer, große Enttäuschung hervorgerufen.71 „Im ganzen Lande freute man sich auf die bereits im vorigen Jahre offiziell angekündigte Rundreise Sr. Majestät des Königs [. . . ].“72 Insbesondere die bayerische Pfalz erwarte die Visite des Monarchen. Zugleich wurden Ludwigs häufige Abwesenheiten aus München immer schärfer kritisiert.73 Der Polizeichef zeigte sich über diese Entwicklung äußerst besorgt. Ludwig hingegen forderte Pfeufer lediglich auf, ihn auch in Zukunft über die Erwartungshaltung der Bevölkerung auf dem Laufenden zu halten. Wenige Tage später kämpften bayerische Truppen an der Seite Österreichs im Krieg von 1866 gegen Preußen. Der König fungierte zwar offiziell als oberster Kriegsherr der bayerischen Armee, den Truppenoberbefehl führte jedoch Feldmarschall Prinz Karl von Bayern, der Bruder seines Großvaters. Ludwig
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Vgl. Allgemeine Zeitung, 28.5.1866, Beilage, 4. Botzenhart (2004), 106. Vgl. Allgemeine Zeitung, 28.5.1866, 8. Allgemeine Zeitung, 28.5.1866, 8. Franz (1933), 97. Ebd. Vgl. ebd., 98.
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gab lediglich eine öffentliche Erklärung ab, in der er sein Volk ermutigte, auf kommende Opfer vorbereitete und an seine Königstreue appellierte: „Das bayerische Volk ist mit mir in edler Opferwilligkeit, in bewährter Treue und Hingebung.“74 Anstatt mit gutem Beispiel voran zu gehen und sein Hoflager in der Münchener Residenz oder gar in der Nähe der Schlachtfelder einzurichten, verlegte er es nach Schloss Berg am Starnberger See.75 Das erneute, demonstrative Fernbleiben von der Hauptstadt wurde allgemein als „befremdlich“ empfunden.76 Immerhin war die königliche Distanz zur Armee schon länger Gegenstand von Kritik. Polizeichef Pfeufer hatte bereits am 22. September 1865 Sekretär Pfistermeister informiert, „die allgemeine Volksstimmung kritisiere, dass der König seine Armee nicht besuche“.77 Daher stattete Ludwig am 24. und 25. Juni 1866 dem Oberkommando des Heeres einen überraschenden Blitzbesuch ab, der allerdings völlig überhastet und unvorbereitet war und genauso desaströs verlief wie der Krieg selbst. Denn als er am Sitz des Militärkommandos in Bamberg ankam, verlegte dieses gerade seinen Standort. Bei dem sich rapide verändernden Frontverlauf war an einen feierlichen Empfang des Königs gar nicht zu denken, und Ludwig, der gekommen war, um seine Truppen zu unterstützen, bekam diese gar nicht zu Gesicht.78 Über die genauen Modalitäten des kurzen Abstechers nach Bamberg, der strikter militärischer Geheimhaltung unterlag, ist kaum etwas bekannt. Da der König in Bamberg nicht erwartet wurde, ist davon auszugehen, dass nicht einmal die Militärführung über die kurzfristige Entscheidung des Königs ausreichend unterrichtet war. Fest steht hingegen, dass es sich um die einzige Reise Ludwigs II. handelt, die in keinerlei Hinsicht dem Inkognito unterlag. Wenige Wochen später verlor Bayern an der Seite seines Bündnispartners Österreich den Krieg. Anstatt sich der nun fälligen Neuordnung Deutschlands zu widmen, teilte Ludwig am 28. Oktober 1866 aus Schloss Hohenschwangau seinem Gesamtministerium mit, dass er am 6. November eine längere Reise nach Nord- und Südtirol antreten wolle, die er eventuell bis nach Italien ausdehnen werde. Mit der Vorankündigung glaubte er, seinen politisch-konstitutionellen Pflichten Genüge geleistet zu haben: Damit dieser Ausflug keinen nachtheiligen Einfluß auf die Erledigung der Staatsgeschäfte ausüben kann, gebe ich von demselben Meinem Gesamt-Ministerium in vertraulicher Weise jetzt schon Kenntnis.79
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Lampert (1890), 63. Dort findet sich der Abdruck der gesamten Rede. Vgl. Böhm (1922), 99. Botzenhart (2004), 104. Brief Pfeufer an Pfistermeister vom 22.09.1865. Zitiert nach Franz (1933), 96. Vgl. Nöhbauer (1986), 209. MA 99731, 28.10.1866.
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Die Minister sollten ihm alle wichtigen Schriftstücke bis zum Vorabend der Abreise übermitteln. Außerdem befahl ihnen Ludwig darauf zu achten, dass die Reise nicht „in weiteren Kreisen“ bekannt werde, denn er wolle einmal mehr im „strengsten Incognito“ reisen.80 Das Gesamtministerium zeigte sich bestürzt und antwortete am folgenden Tag mit einem Schreiben, das von nicht weniger als sechs Ministern, darunter auch dem Ministerratsvorsitzenden von der Pfordten, unterzeichnet war. Da die Friedensverhandlungen mit Preußen und die „Commissions-Verhandlungen“ in Frankfurt wegen Auseinandersetzung des „Bundes-Eigenthums“ anstünden, sei an eine längere Abwesenheit des Königs im Moment gar nicht zu denken. Täglich ergäben sich neue Entwicklungen, die schnelle und weit reichende Entscheidungen erforderten, und deswegen erlaube die Situation „keinen Ausflug“.81 Ludwig zeigt sich schließlich einsichtig und Johann von Lutz, damals noch einfaches Mitglied des Kabinettssekretariats, meldete von der Pfordten am 2. November aus Hohenschwangau, dass der König seine Reisepläne aufgegeben habe.82
2.4 Der konstitutionelle König Nur acht Tage später, am 10. November 1866, brach König Ludwig II. von Bayern zur längsten Reise seines Lebens auf. Einen Monat lang fuhr er über mehrere Stationen durchs bayerische Franken, das als Kriegsschauplatz besonders unter der militärischen Auseinandersetzung des Sommers gelitten hatte. Die seit Langem geforderte Rundreise konnte nach dem verheerenden Krieg nicht mehr länger aufgeschoben werden. Ludwig beschrieb seine Motive in einem Brief an Richard Wagner vier Tage vor der Abreise: Ich will mit einem Mal den Dunstkreis der Gehässigkeit, die Wolken der Bosheit und falschen Kunde, welche die Leute geschäftig um meine Person zu verbreiten suchen, auseinanderjagen, daß mein Volk erfährt, wer ich bin.83
Zwar, so Ludwig weiter, falle es ihm nicht leicht, „aus der so wohlthuenden Einsamkeit heraus zu treten“, aber „Handeln hilft jetzt einzig.“84 Auch diesmal waren die Reisemodalitäten kurz vor der Abreise noch nicht geklärt. Der König ging sogar von einer „kleine Reise“ aus, die lediglich den Auftakt für die
80 81 82 83 84
Ebd. MA 99731, 29.10.1866. Vgl. MA 99731, 2.11.1866. Brief an Wagner vom 6.11.1866. Zitiert nach Nöhbauer (1986), 211. Brief Ludwig an Wagner vom 6.11.1866. Strobel (1936), Bd. 2, 101.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
„große Rundreise“ des nächsten Sommers bilden sollte.85 Einigkeit herrschte hingegen darin, dass die Reise via Regensburg nach Bayreuth, Hof und Bamberg führen und anschließend über Kissingen, Aschaffenburg und Würzburg bis nach Nürnberg fortgesetzt werden sollte. Daher wurden acht Eisenbahnwaggons mit Effekten, 93 Pferde- und 17 Staatskarossen für den König und sein 119 Personen umfassendes Gefolge vorausgeschickt.86 Obwohl es sich um eine offizielle und mit großem Aufwand verbundene repräsentative Reise eines konstitutionellen Königs handelte, unterlag auch sie dem Zeremoniell des Inkognitos. Ludwig informierte seinen Hofstab, dass die Frankenreise ähnlich wie seine Reise nach Bad Kissingen „in strengstem Incognito nach Nro. 4 der allerhöchsten Reisevorschriften“ erfolgen würde.87 Dieses Inkognito bezog sich jedoch ausschließlich auf die verschiedenen Durchgangsstationen der königlichen Eisenbahnreise. Es lieferte die zeremonielle Rechtfertigung, dass der König nicht an jedem Bahnhof anhalten und die Ehrenbekundungen der lokalen Autoritäten entgegennehmen musste. Daher reiste der König trotz Inkognito in seinem Hofzug mit dem königlich bayerischen Wappen.88 Ludwig absolvierte während der vierwöchigen Reise ein dicht gedrängtes Programm. Er legte Kränze nieder, besichtigte die Schlachtfelder des unlängst beendeten Krieges, besuchte verwundete Soldaten im Krankenhaus, inspizierte Fabrikanlagen, ging ins Theater und war Gastgeber zahlreicher Empfänge, Bälle und anderer Feierlichkeiten.89 Damit erfüllte er die Rolle des konstitutionellen Königs, der dem Staat symbolisch vorstand und ihn in der Öffentlichkeit repräsentierte. Auf den Nebenschauplätzen der Reise entledigte das Inkognito Ludwig von allen zeremoniellen Lasten. Dies erwies sich als umso wichtiger, als auch am Tag der Abreise das genaue Programm an den verschiedenen Aufenthaltsorten noch nicht geregelt war. Die Presse spekulierte erneut über den Ablauf der Reise, und die Allgemeine Zeitung meldete noch am Abreisetag, dass der König seiner Hauptstadt nur „einige Tage“ fernbleibe würde.90 Bereits am nächsten Tag berichtete sie von „sehr umfassenden Vorbereitungen“ in allen größeren Städten Frankens.91 Ludwig kam am 11. November 1866 in Bayreuth an und fuhr unter gro85 86 87
88 89 90 91
Ebd., 100. Vgl. Nöhbauer (1986), 210; Kobell (1894), 97; Lampert (1890), 68. Nöhbauer (1986). Es sollten also „kein Empfang, selbst nicht einmal von Seiten des Distrikts- oder Lokalpolizeibeamten“ stattfinden.“ Hof.Ober 470: Normen für die Feierlichkeiten bei Reisen Ihrer Königlichen Majestäten. Vgl. Bartelsheim (2009), 35. Vgl. dazu ausführlich Lampert (1890), 68ff. Siehe auch Chapman (1955), 116. Allgemeine Zeitung, 10.11.1866, Beilage, 4. Allgemeine Zeitung, 11.11.1866, Beilage, 4.
2. Königliche Rollenspiele
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ßem Jubel des zahlreich anwesenden Publikums durch die Stadt. Der König gab sich „tief ergriffen“,92 und die Presse erhob die Reise schnell zum „Triumphzug“.93 In Bamberg empfing ihn sein Patenonkel Otto, der ehemalige König von Griechenland. Ludwig nahm eine Militärparade ab, besuchte das örtliche Krankenhaus und amüsierte sich am Abend auf einem zu seinen Ehren veranstalteten Ball.94 Die Allgemeine Zeitung glaubte immer noch zu wissen, dass der König schon in den nächsten Tagen zurückkehre, und so war auch zehn Tage nach der Abreise die Dauer des Aufenthalts ungeklärt.95 In Schweinfurt kam es zum ersten kleineren Zwischenfall. Die geschniegelt und gebügelt aufgestellten Schulkinder brachen „in Weinen aus“, als der Zug des Königs ohne anzuhalten durch den Bahnhof fuhr.96 Dies war eine Konsequenz des königlichen Inkognitos, von dem die lokalen Behörden anscheinend nicht informiert worden waren.97 Die demonstrative königliche Sorge um die Armee und die Opfer des Krieges bildete eines der Hauptanliegen der Frankenreise.98 Die Zeitungen veröffentlichten täglich neue Listen mit den Namen der gefallenen bayerischen Soldaten, und so stand Ludwigs zweiter Aufenthalt in Bad Kissingen mit dem Besuch der Schlachtfelder unter einem ganz anderen Stern als das beschauliche Monarchentreffen des Sommers 1864. Folgerichtig war die Stadt bei Ludwigs Ankunft nicht beflaggt. Die zahlreichen Schaulustigen empfingen den Monarchen mit einem den Umständen angemessenen verhaltenen Applaus.99 Zu den offiziellen Pflichten gehörte auch ein Treffen mit dem Großherzog von Darmstadt, das in Aschaffenburg stattfand.100 Ludwig reiste wie gewohnt inkognito an und lud seinen blaublütigen Kollegen am Abend zu Schillers Kabale und Liebe ins Theater.101 Die fränkische Hauptstadt Nürnberg war die letzte 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101
Allgemeine Zeitung, 12.11.1866, Beilage, 4. Allgemeine Zeitung, 14.11.1866, Beilage, 4. Vgl. Allgemeine Zeitung, 18.11.1866, Beilage, 4. Vgl. Allgemeine Zeitung, 20.11.1866, 1. Vgl. Allgemeine Zeitung, 22.11. 1866, 3. Vgl. auch Lampert (1890), 118. Neben dem Krankenhausbesuch in Bamberg besuchte Ludwig die Schlachtfelder bei Bad Kissingen. Vgl. Allgemeine Zeitung, 21.11.1866, 3. Vgl. Nöhbauer (1986), 212. Vgl. Allgemeine Zeitung, 24.11.1866, Beilage, 4. Vgl. Allgemeine Zeitung, 25.11.1866, Beilage, 4. Ludwig erwies Theaterdirektor Hahn dabei die Ehre ihn in seine Loge zu bitten, wobei es sich der Direktor nicht verkneifen konnte zu berichten, dass er sich selbst in jungen Jahren an der Rolle des Mortimer versucht hatte. Damit hatte er die Schillerbegeisterung des Königs jedoch unterschätzt, der Hahn huldvoll einlud einige Stellen zum Besten zu geben. Als der Direktor im Vortrag immer wieder nach dem genauem Wortlaut suchend stockte, ergänzte Ludwig die fehlenden Passagen wie selbstverständlich aus dem Gedächtnis. Für die Allgemeine Zeitung war damit der Beweis erbracht, „daß seine Majestät im Land am meisten schillerfest ist.“ Allgemeine Zeitung, 29.11.1866, Beilage, 4.
222
III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
Station der Reise. Bei seiner Ankunft erwartete Ludwig ein „kolossal gekröntes L, aus hunderten von Gasflammen“.102 Am Abend wurde zu seinen Ehren Meyerbeers L’Africaine im Theater gegeben, ein Stück, das Ludwig noch auf anderen Reisen genießen sollte. Die Anwesenheit des Königs garantierte ein volles Haus. Um 6 Uhr waren alle Räume schon so dicht besetzt, daß etliche später kommende Damen sich zu turnerischen Wagnissen unter allgemeiner Heiterkeit entschließen mußten, um zu den Sperrplätzen im Parkett zu gelangen.103
Ludwig blieb „trotz sichtbar im Husten auftretenden Unwohlseyns“ bis zum Ende, und so war der Abend für fast alle Beteiligten ein voller Erfolg. Allein einem „israelitische[n] Handelsmann“ wurden die Fensterscheiben eingeworfen, da dieser sein Haus im Gegensatz zu den anderen Bewohnern Nürnbergs nicht festlich beleuchtet hatte.104 Ludwig spielte seine Rolle als konstitutioneller König so lückenlos, dass es für die bayerischen Minister eine Freude sein musste. In den Augen der Presse verwandelte sich Ludwig in einen Bürgerkönig ohne zeremonielle Allüren: Wir bezweifeln, ob seit der Einführung der strengen Hoftoilette durch Louis le Grand, der nur mit dieser athmen zu dürfen glaubte, ein König je in solch gemischter Gesellschaft als Ballgast aufgetreten ist, und im vollen Sinn des Wortes diese so zu beleben wusste [. . . ].105
Tatsächlich gab sich der König in Nürnberg durchaus zugänglich, gewährte Audienz um Audienz und versprach schon im nächsten Sommer wiederzukommen. „Er muthet seiner Gesundheit viel zu, denn er glaubt nichts versäumen zu dürfen was zur Repräsentation seiner Regentenwürde gehört.“106 Er nahm sogar in der Uniform eines Marschalls die große Truppenparade ab. Nur bei einem improvisierten Ausritt nach Fürth und Erlangen legte er das Inkognito vorübergehend wieder an.
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Allgemeine Zeitung, 28.11.1866, Beilage, 4. Ludwig wendete sich, für ihn absolut außergewöhnlich, direkt an seine Nürnberger Untertanen und teilte ihnen in einer kurzen Rede ohne konkrete politische Inhalte mit, dass er sich „gefreut [habe – VB] nach Nürnberg zu kommen und sich vorgenommen [habe – VB] alle Wunden, die leider der letzte Krieg geschlagen, zu heilen.“ Allgemeine Zeitung, 2.12.1866, Beilage, 4. Allgemeine Zeitung, 2.12.1866, Beilage, 4. Allgemeine Zeitung, 2.12.1866, Beilage, 4. Allgemeine Zeitung, 4.12.1866, 2. Allgemeine Zeitung, 4.12.1866, Beilage, 4.
3. Ludwig Graf von Berg 3.1 Zeremonieller Klärungsbedarf Nach der österreichisch-bayrischen Niederlage im Krieg von 1866 erhob Ludwig die liberale Fraktion, die dem preußisch-kleindeutschen Kurs Bismarcks aufgeschlossen gegenüberstand, zur Führungskraft im bayerischen Parlament. Am 31. Dezember 1866 ernannte Ludwig II. Fürst Chlodwig zu Hohenlohe Schillingsfürst zum Außenminister und Vorsitzenden im Ministerrat; am Neujahrstag 1867 beförderte er Johann Freiherr von Lutz zum Leiter seines Kabinettssekretariats. Zudem gab der König am 22. Januar 1867 völlig überraschend seine Verlobung mit Prinzessin Sophie Charlotte von Bayern bekannt, der jüngeren Schwester der österreichischen Kaiserin Elisabeth.1 In Anbetracht der bevorstehenden Neuordnung Deutschlands erwarteten das Kabinett und die politische Öffentlichkeit, dass der König sich auf seine Amtsgeschäfte konzentriere. Stattdessen schrieb Ludwig am 31. März 1867, dem Vorabend der Gründung des Norddeutschen Bundes durch Bismarck, an seine frühere Erzieherin Sybilla Meilhaus: Da nun endlich die lästigen Kammern vertagt sind und dringende Fragen nicht vorliegen, gedenke ich kurz vor Palmsonntag München zu verlassen, um mit dem Bruder meiner Braut (Karl-Theodor) eine kleine Reise nach Italien im strengsten incognito zu unternehmen, ich ersuche Dich, nichts davon zu sagen. – Rom ist das Reiseziel, ich habe vor die Charwoche daselbst zuzubringen, vielleicht mache ich auch einen kleinen Ausflug nach Neapel, was jetzt von Rom aus in einigen Stunden erreicht werden kann.2
Ludwig hatte diese Pläne bereits am 21. März 1867 seinem Tagebuch anvertraut und kam am 1. April an derselben Stelle erneut auf sie zu sprechen.3 Nun wollte er die Reise im strengsten Inkognito über Italien sogar bis nach Jerusalem ausdehnen. Er informierte auch seine Verlobte, ohne sie allerdings dazu einzuladen.4 Er plante vielmehr, von seiner Mutter und Sophies Bruder Karl-Theodor begleitet zu werden.5 Den Dienstweg befolgend, unterrichtete Lorenz von Düfflipp, der im September 1867 Lutz als Kabinettssekretär ablöste, den neuen Ministerratsvorsitzenden Hohenlohe von den Plänen des Königs. Dieser konnte angesichts der politischen Situation der Reise keinesfalls zustimmen. Kurz zuvor hatte der 1 2 3 4 5
Hohenlohe teilte dies am 29. Januar 1867 offiziell dem bayerischen Landtag mit. Haasen (1995), 73. Hervorhebung im Original. Vgl. Evers (1986), 126. Siehe auch Rall (1963), 176. Vgl. Chapman (1955), 128. Vgl. Nöhbauer (1986), 207.
224
III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
französische Kaiser Napoleon III. die Festung Luxemburg als Kompensation für den Machtzuwachs Preußens gefordert, was von Bismarck mit einer unverhohlenen Kriegsdrohung beantwortet worden war.6 So schrieb Hohenlohe am 5. April persönlich an König Ludwig II. von Bayern und drückte unter Hinweis auf die „Gefahr eines Kriegs mit Frankreich“ seine „große[n] Bedenken“ aus.7 Obwohl der König zunächst nachgab, war die Angelegenheit damit noch nicht erledigt.8 Noch am Tag des offiziellen Verzichts des Königs berichteten die Münchner Neuesten Nachrichten von der geplanten Italienreise.9 Nachdem sein Kabinett schon zum zweiten Mal eine Reise nach Italien verhindert hatte, stellte sich für Ludwig die Frage nach der Entscheidungshoheit bei Reisen des Königs immer dringender. Daher befahl er unmittelbar nach seinem Verzicht auf die Italienreise, gezielte Nachforschungen anzustellen, und im April 1867 verfasste ein nicht namentlich genannter Mitarbeiter einen „Vortrag Reisen S. Majestät des Königs außer Landes betreffend“.10 Der anonyme Autor erläuterte, dass der König keineswegs verpflichtet sei, einen offiziellen Antrag für seine Reisen zu stellen, da dafür im Hause Wittelsbach keine Präzedenzfälle überliefert seien. Im Falle grundsätzlicher Bedenken des Kabinetts existiere kein tradiertes Prozedere, und auch die bayerische Verfassung mache dem König keinerlei Reisevorschriften. Ludwig war nicht der erste bayerische König, der sich mit diesem Problem konfrontiert sah. Der Berichterstatter legte seinem Schreiben einen „Vortrag“ König Maximilians II. an sein Gesamtministerium vom 29. September 1863 bei, der verdeutlicht, dass Ludwigs Reisepläne für einen Wittelsbacher keineswegs ungewöhnlich waren. Maximilian gab in diesem Vortrag konkrete Anweisungen, wie die politischen Geschäfte während eines zeitlich unbefristeten Aufenthalts des Königs zu führen seien, wobei auch er, so wie sein Sohn vier Jahre später, nach Italien reisen wollte. In seiner Abwesenheit hatten die Ministerien die Geschäfte zu leiten. Falls durch besondere Ereignisse eine Entscheidung des Königs unumgänglich würde, entschied die Ministerversammlung unter Vorsitz des Dienstältesten durch einfache Stimmenmehrheit. Maximilian betonte, dass selbst ein militärischer Konflikt kein ausreichender Grund sei, damit der König seine Reise vorzeitig beende. „Sollten Unruhen im Lande ausbrechen, ermächtige Ich meinen Ministerrath alle erforderlichen Vorkehrungen zu tref6
7 8 9 10
Die europäischen Mächte und insbesondere England hatten daraufhin auf eine internationale Konferenz zur friedlichen Beilegung des Konflikts gedrängt. Diese LuxemburgKonferenz trat Anfang April 1867 in London zusammen. MA 99731, 5.4.1867. „Mit Rücksicht auf die politische Lage habe ich mein Reiseprojekt vorläufig aufgegeben.“ Ebd., 8.4.1867. Ludwig wolle seine Hauptstadt für sechs Wochen verlassen und dabei u. a. seinen Großvater Ludwig I. in Rom besuchen. Vgl. Gebhardt (1986), 95. MA 99731, ohne genaues Datum.
3. Ludwig Graf von Berg
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fen.“11 Dies betraf ausdrücklich auch die Führung der Truppen. Während einer Reise des Königs sollten die anfallenden Akten wöchentlich an die königliche Kanzlei übergegeben werden.12 Die Anweisungen seines Vaters sicherten Ludwig formell gegen zukünftige Einsprüche seiner Minister ab. Allerdings war seine nächste Reise – wiederum im strengsten Inkognito – nicht mehr als ein kurzer Ausflug. In Begleitung seines Bruders Otto und seines Flügeladjutanten Sauer besichtigte er vom 31. Mai bis zum 2. Juni 1867 die thüringische Wartburg.13 Die Identität des Besuchers sprach sich schnell herum, und Ludwig erbat sich, den berühmten Sängersaal alleine besichtigen zu dürfen. Seinem Tagebuch vertraute er an, wie er die situative Einsamkeit nutzte, um sich „in die Zeiten des gottvollen Ritterthums“ zu versetzen.14 Trotz des Inkognitos trug er sich mit seinem Namen ins goldene Besucherbuch ein, verbrachte jedoch die Nacht in einem Eisenacher Gasthof. Am nächsten Tag erklomm er inkognito den Hörselberg und fuhr am Abend wieder zurück nach München.15 Nur wenige Monate später, im Juli 1867, unternahm der König eine Reise, bei der ihn das Inkognito vor viel größere protokollarische Probleme stellte. Denn sein Besuch der Weltausstellung in Paris stand im Schatten der äußerst angespannten politischen Lage in Europa. Aufgrund der Veränderungen in Deutschland rechnete insbesondere die französische Bevölkerung mit einem Krieg gegen Preußen.16 Das Königreich Bayern war als zweitgrößter deutscher Staat ein wichtiger potenzieller Bündnispartner für Napoleon III., so dass Ludwigs Besuch in Paris eine heikle diplomatische Mission bezeichnete.17 Die politischen Berichte der bayerischen Gesandtschaft in Paris verdeutlichen dies. Bereits zu Beginn des Jahres berichtete Gesandtschaftsleiter Pergler von Perglas, dass hochrangige französische Regierungsvertreter vermehrt ihre Sympathie für Bayern bekundeten und das süddeutsche Königreich aufforderten, auf die „conservation et consolidation de son autonomie“ bedacht zu sein.
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Ebd. „Für Krankheit und sonstige Verhinderungs-Fälle bestimme ich als Stellvertreter meinen Staatsminister und zwar 1. des königlichen Hauses und des Äußeren 2. der Justiz [. . . ].“ Ebd. Die Liste reicht bis Nummer sieben. Bestimmt wurde außerdem, dass „Staatsrathsitzungen“ unter Vorsitz des Prinzen Luitpold stattzufinden hatten. Vgl. Baumgartner (1981), 79; Evers (1986), 185; Petzet (1986), 35; Nöbauer (1986), 212; Chapman (1955), 141. Evers (1986), 181, siehe auch ebd., 199, sowie Röckl (1920), 33. Im Hörselberg befand sich der Eingang zur Venusgrotte, deren Reizen Wagners Tannhäuser erlag. Vgl. Petzet (1980), 35; Böhm (1922), 365. Vgl. Barth (2007), 200. Zwar hatte Bayern nach der Niederlage ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen geschlossen, dieses war aber nicht öffentlich bekannt gemacht worden.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
Aus der französischen „Antipathie“ gegen Preußen machten sie keinen Hehl.18 Im Januar 1867 ließ sogar Kaiserin Eugenie den bayerischen Gesandten wissen, dass sie hoffe, Ludwig auf der Weltausstellung kennen zu lernen.19 Als die Exposition universelle am 1. April 1867 ihre Tore öffnete, hatte sich die Lage nicht entschärft. In London fand die Luxemburg-Konferenz noch keine Lösung für den deutsch-französischen Konflikt um das Großherzogtum, und in Paris musste die Route des Kaiserpaares zur Eröffnung der Weltausstellung aus Angst vor Attentaten abgeändert werden. Die französische Bevölkerung forderte eine Umbildung der französischen Regierung.20 Bayern hatte seine Teilnahme an dem internationalen Großereignis bereits seit 1863 vorbereitet, und nun begann die bayerische Gesandtschaft die Möglichkeit eines Parisbesuchs des bayerischen Königs zu evaluieren.21 Duc de Trochu, der erste Kammermeister der Kaiserin, antwortete am 2. Mai 1867 auf die Anfrage der bayerischen Gesandtschaft, dass Prinz und Prinzessin Adalbert von Bayern in Kürze im „plus strict incognito“ nach Paris reisen und im Hôtel de Bade absteigen würden. Sie hatten Trochu bereits kontaktiert, um trotz des Inkognitos dem französischen Kaiser ihre Aufwartung machen zu dürfen.22 Dieses Beispiel war nicht nur deshalb aussagekräftig, da es sich um Mitglieder der Familie Wittelsbach handelte. Es bestätigte zudem, dass ein eventuelles Inkognito Ludwigs ein Treffen mit Napoleon III. nicht verhinderte. Der französische Kaiser empfing das bayerische Prinzenpaar am Tag seiner Ankunft in Paris und erschien dem Inkognito entsprechend in seiner „Toilette de matin“.23 Die bayerische Gesandtschaft informierte sich zudem über das Reisezeremo18 19 20
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Politischer Bericht der bayerischen Gesandtschaft Paris (in Folgenden abgekürzt mit Po.Be.Bay.Ge.P.), Bericht Perglas vom 9.1.1867. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 22.1.1867. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 2.4.1867. Gleichwohl war der Bevölkerungsandrang auf dem Ausstellungsgelände überwältigend. Der bayerische Gesandte nutzte die Gelegenheit, um die bayerischen Ausstellungskommissare Liebig und Schwab persönlich dem Kaiser vorzustellen. Vgl. MA 78645; Ministerium des Handels (im Folgenden abgekürzt mit MH) 8486, 8487, 8488, 9486. Der Vorstand der bayerischen Kommission, Haindl, reiste bereits im Februar 1866 nach Paris und verhandelte über die bayerische Ausstellungsfläche. Die Vertreter der kleineren deutschen Staaten besprachen mehrmals die Bildung einer Zentralkommission für das so genannte dritte Deutschland, die jedoch letzten Endes nicht zustande kam. Das Königreich Wilhelms I. stellte sich in Paris dem internationalen Publikum als „Prusse et Etats d’Allemagne du Nord“ vor. Vgl. Bayerische Gesandtschaft Paris (im Folgenden abgekürzt mit Bay.Ge.P.) 523, 2.5.1867. Die Gesandtschaft leitete diese Information mit dem ausdrücklichen Hinweis auf das „plus strict incognito“ des bayerischen Prinzenpaares am 11. Mai nach München weiter. Vgl. Bay.Ge.P. 519, 11.5.1867. Po.Be.Bay.Ge.P., 14.5.1867. Der Kaiser hatte im Verlauf des kurzen Gesprächs Adalbert sogar offiziell an den französischen Hof eingeladen. Der Prinz schlug die Einladung jedoch aus.
3. Ludwig Graf von Berg
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niell anderer Monarchen und insbesondere des preußischen Königs. Freiherr von Perglas meldete am 5. Juni, dass Wilhelm I. soeben in Paris eingetroffen sei, und, nach Aufgabe seines Inkognitos mit der Ankunft am Bahnhof, als offizieller Staatsgast in den Tuilerien logiere.24 Der König von Belgien hatte sein Inkognito hingegen auch nach der Ankunft zunächst beibehalten und nahm erst bei seiner zweiten Inkognitovisite bei Napoleon III. eine Einladung an den Hof an, womit er sein Inkognito offiziell wieder ablegte.25 Der russische Zar Alexander II., der sich offiziell in Paris aufhielt, benutzte das Inkognito nur, um – einige Tage nachdem er ein Attentat im Bois de Boulogne unverletzt überstanden hatte – das neue Abwassersystem der Pariser Katakomben zu besichtigen.26 Trotzdem erwies sich die zeremonielle Umsetzung eines eventuellen Inkognitos des bayerischen Königs als kompliziert und überforderte selbst den Ministerratsvorsitzenden und Außenminister Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst. Dieser teilte Perglas in einem Privatschreiben vom 25. Juni 1867 mit, dass die Reise des Königs noch „zweifelhaft“ sei. Trotzdem bitte er um vertrauliche Auskünfte zu folgenden Fragen: 1.: Sind Einladungen an andere Souveräne ergangen, wenn ja an welche? 2.: Muss ein Souverän, der nicht eingeladen ist, incognito reisen? 3.: Ist es zweckmäßig für den König nach Paris zu reisen (incognito oder offiziell)? 4.: Welche Etikette ist in dem einen oder anderen Fall üblich?27
Hohenlohe betonte ausdrücklich: „Selbstverständlich meine ich mit incognito nicht en cachette.“ Er selbst glaubte, dass „eine Reise des Königs unter anderem Namen, mit Aufenthalt im Gasthof, aber mit Besuch in den Tuilerien, wohl das Passendste“ sei.28 Auch dem höchsten bayerischen Staatsbeamten waren die Modalitäten eines längeren und international beobachteten Inkognitoaufenthalts nicht geläufig. Perglas antwortete seinem Vorgesetzten, dass keine formellen Einladungen an fremde Souveräne ergangen waren. Sie seien vielmehr aufgefordert worden, ihre Absicht zu bekunden, worauf im Regelfall eine offizielle Einladung seitens des französischen Hofes erfolgte. Perglas bestätigte jedoch, dass der bayerische König bei einem offiziellen Besuch unter derselben Etikette wie sein preußisches Äquivalent empfangen werden würde, was der seit dem Wiener Kongress üblichen diplomatischen Praxis entsprach.29 Ludwig II. würde, genau wie Wilhelm I., an der Grenze begrüßt und in die Hauptstadt begleitet werden, wo ihn der Kaiser mit Truppen und in Uniform erwarte. Der bayerische König wäre gezwungen, Audienzen zu erteilen und Empfänge zu be24 25 26 27 28 29
Vgl. Bay.Ge.P. 843, 5.6.1867. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 17.5.1867. Vgl. Jordan (1996), 294. Bay.Ge.P. 523, 25.6.1867, Hohenlohe an Perglas. Ebd. Vgl. dazu ausführlich Paulmann (1999), 77.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
suchen, und müsse daher unbedingt mit dem entsprechenden Gefolge anreisen. Im Gegensatz dazu könne ein Inkognito solche Unliebsamkeiten auf elegante Art umgehen: Käme der König aber incognito, so würde der kaisl. Hof die Reise und Ankunft ignorieren, obwohl auch der Incognitobesuch vom Gesandten in geeigneter Weise angezeigt werden müßte. Nach seiner Ankunft würde der König sein incognito in so weit ablegen, um unverzüglich den Hof besuchen zu können, es erfolgen dann Einladungen, Hofequipagen [. . . ] werden zur Verfügung gestellt, im Uebrigen wird das Incognito respektiert. Die Lasten des Aufenthaltes werden geringer, und wird weniger Anlaß für Ordens-Verleihungen sein.30
Der bayerische Gesandtschaftschef betonte, dass auch eine Inkognitoreise den König nicht von allen zeremoniellen Pflichten befreie. Vor allem ein Antrittsbesuch beim Kaiserpaar sei unabdingbar. Für Perglas hing die Entscheidung „welche Reise zweckmäßiger wäre, die als König oder incognito“, einerseits von den politischen und persönlichen Erwägungen des Königs und andererseits von der eventuellen Anwesenheit anderer Herrscher ab. Falls das österreichische Kaiserpaar „zugleich mit denselben incognito“ wäre, „wird der König nicht anwesend sein wollen“.31 Perglas kam persönlich [zu – VB] der Ansicht, daß der Incognito Besuch den beiderseitigen Interessen entsprechen könnte, nur die Unterlassung eines Besuchs würde übel verstanden werden u. zu beklagen sein.32
Für Ludwig könne der Inkognitobesuch des Königs von Württemberg als „précédent“ dienen.33 Dessen Inkognitoreise vermeldete der offizielle Gesandtschaftsbericht aus Paris nur einen Tag später und informierte, dass Karl I. im Hôtel Bristol übernachte.34 Einer Inkognitoreise Ludwigs schien somit nichts im Weg zu stehen. Doch bereits Anfang Juli 1867 verkomplizierte sich die Situation erneut. Perglas bestätigte zwar die Inkognitoreise des Württembergischen Königs, fügte jedoch hinzu, dass dieser sich nun doch entschlossen habe, sein Inkognito mit der Ankunft am Gare de l’Est abzulegen.35 In Anbetracht der politischen Lage bemühte sich Napoleon III. demonstrativ um den Württemberger, der als Souverän des drittgrößten deutschen Staates ebenso ein potenzieller Bündnispartner war wie der König von Bayern. Napoleon III. besuchte Karl I. sogar
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MA 99731, 28.6.1867. Hervorhebung im Original. Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 29.6.1867. Vgl. ebd., 6.7.1867. Die französische Presse berichtete, dass der Kaiser am 17.7. ein großes Gala-Diner für seinen Gast veranstalten würde. Vgl. La Presse 16.7.1867, 2.
3. Ludwig Graf von Berg
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noch am Tag seiner Abreise in dessen Hotel und verabschiedete ihn betont herzlich.36 Inzwischen war auch Ludwigs Großvater in Paris eingetroffen. Der hoch betagte Ludwig I. reiste ebenfalls inkognito und wohnte im Hôtel du Rhin.37 Perglas ließ dessen Enkel wissen: „On espère généralement à Paris que Votre Majesté daignera l’honneur de sa visite – le meilleur accueil lui est réservé.“38 Zu allem Übel verbreitete inzwischen auch die französische Presse Gerüchte über Ludwigs möglichen Besuch. „On attend, paraît-il, le roi de Bavière, ce jeune monarque poète, dont la devise pourrait être: Amour et Tannhäuser!“39
3.2 Der Weg nach Paris Während die bayerischen Minister immer mehr auf die Visite pochten, schien der König alles andere als begeistert. Ludwig hielt seinen Hofstab hin und Sekretär Johann von Lutz, das Bindeglied zwischen Hof- und Staatsapparat, zeigte sich in einem Brief an Hohenlohe von den königlichen Attitüden zunehmend genervt: [. . . ] begann ich neuerdings für die Reise zu plädieren, hatte aber lange Zeit keinen Erfolg – doch ja! Ich hatte Erfolg, nämlich den, daß ich mich am entscheidenden Orte sehr unangenehm machte. Nach und nach aber scheinen doch die Gründe für die Reise einigen Eindruck gemacht zu haben und es besteht jetzt die Hoffnung, daß sie beschlossen und ausgeführt wird. Einen definitiven Bescheid konnte ich jedoch bis jetzt noch nicht erlangen. [. . . ] Daß aber die Reise, wenn sie überhaupt gemacht wird, jedenfalls in tiefstem Incognito ausgeführt und das Incognito in Paris nicht weiter aufgegeben wird, als ganz absolut nöthig, glaube ich jetzt schon mit ziemlicher Gewissheit als die Absicht Seiner Majestät bezeichnen zu dürfen.40
Am selben Tag, als Lutz von Ludwigs Unentschlossenheit berichtete, erkundigte sich der König nach den genauen Modalitäten einer Inkognitoreise, wobei er betonte, dass der französische Hof noch nicht offiziell informiert werden dürfe.41 Währenddessen lief die Korrespondenz zwischen der bayerischen Gesandtschaft in Paris, dem Münchner Außenministerium und dem Kabinettsse36 37 38 39
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Vgl. La Gazette de France 20.7.1867, 2. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 6.7.1867. Ebd. Le Figaro 5.7.1867, 2. Im gleichen Artikel wird auch von „musiciens barbus“ berichtet, die gekommen seien, um unbekannte Stücke von Richard Wagner zu spielen. Die bayerische Sektion habe sich unterdessen langsam, aber sicher in eine „brasserie concert“ verwandelt, was die Commission impériale, die kaiserliche Ausstellungskommission, zu einem offiziellen Einschreiten veranlasst habe. MA 99731, 13.7.1867. Hervorhebung im Original. Vgl. Böhm (1922), 368. Siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 52.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
kretariat in Schloss Berg auf Hochtouren. Der französische Umgang mit dem Inkognito Ludwigs I. avancierte dabei immer mehr zum Schlüsselargument: Le Roi arrivant incognito devra avec empressement demander à aller visiter Leurs Majestés. Il est après maître de ses actions. L’Incognito du Roi Louis I est absolument respecté. Cela n’a pas empêché Sa Majesté d’accepter un dîner à la Cour Jeudi prochain [. . . ] qu’il aurait aussi pu refuser.42
Während Ludwig I. seinem Inkognito entsprechend ohne Etikette am kaiserlichen Hof empfangen wurde, berichteten die bayerische und die französische Presse ausführlich von dessen Parisaufenthalt.43 Die Münchner Neuesten Nachrichten meldeten, dass der Ex-Monarch für acht Tage in Begleitung seines Hofmarschalls Freiherr Laroche in der französischen Hauptstadt weile.44 Ludwig I. war am Abend des 12. Juli in Paris angekommen, besuchte bereits am nächsten Morgen die Ausstellung und gönnte sich in der bayerischen Sektion ein „nationales Frühstück mit Bier“.45 Der Ex-Monarch wohnte im Hotel und reiste inkognito unter dem Pseudonym eines Graf von Spessart, wodurch er ebenso traditionsgemäß wie spielerisch seine wahre Identität anzeigte.46 Ludwig II. erkundigte sich immer wieder bei Lutz, inwieweit das Inkognito seines Großvaters respektiert werde und ob es neben einem Empfang am Hof noch andere zeremonielle Zwänge nach sich ziehe.47 Zu diesem Zeitpunkt hatte Perglas den königlichen Reiseentschluss dem französischen Hof bereits offiziell angezeigt. Nachdem sowohl die Presse als auch die französischen Behörden inzwischen fest mit der Parisvisite rechneten, konnte sie ohne nähere Begründung kaum mehr abgesagt werden. Le Roi Louis I a dîné hier à la cour en habit. Le Roi a porté la légion d’honneur l’Empereur le St. Hubert. J’ai annoncé ce matin à la Cour l’arrivé et le séjour du Roi à Paris incognito. En réponse à Votre demande il me semble que de les emporter pouvait être fort agréable au Roi pour occasions éventuels, n’engageant cependant à rien.48 42 43 44 45 46
47
48
Bay.Ge.P. 1531. Ohne genaues Datum, jedoch zweifelsfrei zwischen dem 13. und 16.7.1867. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 13.7.1867. Vgl. Münchner Neueste Nachrichten 13.7.1867, 2. Allgemeine Zeitung, 15.7.1867, 5; Bayerischer Kurier 21.7.1867, 1; Le Constitutionnel 14.7.1867, 1. Vgl. auch Böhm (1922), 366f. Als Graf von Spessart wurde Ludwig I. vom französischen Kaiser empfangen, wobei er von Hofmarschall Laroche und Freiherr von Perglas begleitet wurde. Vgl. Le Constitutionnel 15.7.1867, 3; Münchner Neueste Nachrichten 16.7.1867, 2; Allgemeine Zeitung 17.7.1867, 2. „Die Unverwüstlichkeit und Unermüdlichkeit des Königs Ludwig I. werden ihn hier, wenn er Paris und Umgebung noch eine Woche so durchstöbert, fast ebenso bekannt und populär machen, als er es in München und im Hochland ist.“ Allgemeine Zeitung 19.7.1867, 6 Vgl. MA 99731, 16.7.1867. Siehe auch ein Telegramm Hohenlohes an Perglas: „Sa Majesté désir savoir si les rapports du Roi Louis Ier avec la cour impériale se bornent à la réception qui a eu lieu et si du reste l’incognito est entièrement gardé?“ Bay.Ge.P. 1531, 16.7.1867. Bay.Ge.P. 1531. Ohne Datum, wahrscheinlich 17.7.1867.
3. Ludwig Graf von Berg
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Die Pariser Gesandtschaft und das Münchner Außenministerium hatten sich jedoch immer noch nicht über die genauen Modalitäten verständigt. Vor allem galt es zu regeln, wann der bayerische König beim französischen Kaiser vorstellig werden sollte, wobei Lutz dem König immer wieder versicherte, dass er ansonsten in Paris seinen Aktivitäten nachgehen könne „ohne irgendwie behelligt zu sein“.49 Gegenüber Hohenlohe betonte Perglas jedoch: „Non abstant l’incognito le Roi et sa suite ne doivent manquer d’avoir avec eux uniformes et décorations.“50 Denn auch der Herzog von Weimar habe sich im letzten Moment entschieden, sein Inkognito während seines Aufenthalts in Paris zu wahren. Trotzdem habe er in Paradeuniform an einer Ehrenrevue für den osmanischen Sultan teilgenommen, und daher müsse auch Ludwig seine Galauniform einpacken.51 Ludwig informierte erst am 18. Juli 1867 aus Schloss Berg sein Gesamtministerium von den allerhöchsten Reiseplänen: Hauptsächlich aus politischen Gründen, und um nichts zu versäumen, was der Stellung Bayerns förderlich werden könnte, beabsichtige Ich in der nächsten Zeit Paris zu besuchen und zu diesem Behufe künftigen Sonnabend hier abzureisen. Indem Ich Meinem Gesamt-StaatsMinisterium hiervon Kenntnis gebe, füge Ich bei, daß ich die Anordnung getroffen habe, daß sämtliche Vorlagen der Ministerien an Mich täglich nachgesendet werden.52
Als eines der letzten Details war schließlich auch die Kleiderfrage geklärt worden. Ludwig sollte sich seinem Inkognito entsprechend in „Morgentoilette“ auf die beinahe 24-stündige Zugfahrt begeben.53 Somit konnte Hohenlohe die französische Gesandtschaft in München über die Reise des Königs informieren und das Reisezeremoniell offiziell anzeigen: S.M. Bavaroise voyagerait incognito, mais, après son arrivée à Paris, Elle serait disposée à adopter pour Elle les mêmes règles d’étiquette que celles qu’a suivies récemment le Roi de Wurtemberg. [. . . ] M. le Prince de Hohenlohe s’est hautement félicité avec moi de la résolution prise par le Roi et de sa prochaine visite à Leurs Majestés Impériales. Il m’a exprime le regret personnel qu’il éprouve de ce que les règles de l’incognito l’empêchent d’accompagner son souverain.54 49 50 51 52 53 54
MA 99731, 16.7.1867. Lutz befand, dass die „Anwesenheit incognito“ von Ludwig I. den Inkognitobesuch seines Enkels erleichtern würde. Bay.Ge.P. 1531, 17.7.1867. Vgl. MA 99731, 17.7.1867. „Der Herzog von Weimar, der das Incognito bewahrte, hat der Revue für den Sultan in Uniform beigewohnt.“ MA 99731, 18.7.1867. Siehe auch MH 9486. Laut Böhm bestand Ludwigs Begleitung aus Sauer, Lutz, Brochier, Grünwald, drei Dienern und einem Friseur. Vgl. Böhm (1922), 366. MH 9486, ohne Datum. Archives du Ministère d’affaires étrangères (Im Folgenden abgekürzt mit) AMAE, Bavière, Correspondance politique 243, 18.7.1867. Der Bericht beginnt folgendermaßen: „Le Prince de Hohenlohe m’a annoncé hier soir, et confirmé ce matin même, la nouvelle positive du départ du Roi pour la France. Ce n’est qu’hier que Sa Majesté a fait connaître à son premier Ministre qu’Elle comptait quitter Munich le samedi, 20 juillet, à 10 heures du
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
Inzwischen berichtete auch die bayerische Presse über die anstehende Inkognitoreise. Gleichzeitig zirkulierten Gerüchte, der König reise auf Grund der angespannten politischen Situation zu einem kurzfristigen Treffen mit dem österreichischen Kaiser Franz Joseph nach Bad Ischl.55 Am 19. Juli, dem Vorabend der Abreise, teilte die bayerische Gesandtschaft dem französischen Außenministerium offiziell mit, dass König Ludwig II. von Bayern inkognito unter dem Pseudonym eines Graf von Berg nach Paris reise. Begleitet werde er von Ludwig von der Tann, dem Generaladjutant des Königs, Flügeladjutant Sauer, Kabinettssekretär Lutz sowie einigen Bediensteten. Der König habe außerdem eine Visite beim Kaiser erbeten. Am 20. Juli, als Ludwig II. seit acht Uhr morgens im Zug saß, wurden schließlich die bayerischen Gesandtschaften der zu durchquerenden Staaten in Stuttgart und Karlsruhe informiert.56 Damit wusste neben den bayerischen und den französischen Behörden auch die Öffentlichkeit auf beiden Seiten des Rheins, wer als Graf von Berg inkognito an die Seine reiste.57 Die Mehrzahl der bayerischen und der französischen Zeitungen glaubte nicht an einen politischen Hintergrund der Reise. Einzig La Situation sah darin ein „Ereignis von unberechenbarer politischer Tragweite“.58 Jedoch besaß kein Blatt verlässliche Informationen. Die Münchner Neuesten Nachrichten konnten lediglich vermelden, dass der König circa acht Tage in Paris verbringe.59 Daher wurde spekuliert, ob die Reise an die Seine nicht doch neue europäische Koalitionen vorbereite. Der in Compiègne herausgegebene Le Progrès de l’Oise berichtete am Tag der Abreise Ludwigs: On va plus loin, d’après les bruits accrédités au-delà du Rhin, les voyages des rois de Wurtemberg et de Bavière à Paris, se rattacherait à des projets de lutte contre l’ambition absorbante de la Prusse. Tout cela est bien vague.60
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soir, pour se rendre directement à Paris. La suite du Roi serait, à ce qu’il paraît, peu nombreuse puisqu’elle se composerait uniquement de M. le général de Tann, aide de Champ et commandant général de Munich, de M. de Lutz, chef du Cabinet de S.M., et d’un officier d’ordonnance. [. . . ] Je sais, du reste, que Votre Excellence est informée des intentions du Roi par M. de Perglas à qui M. de Lutz les communique directement et en dehors de M. le Ministre des Affaires Etrangères.“ Vgl. Münchner Neueste Nachrichten 19.7.1867, 3; siehe auch Münchner Neueste Nachrichten 18.7.1867, 2. Vgl. Bay.Ge.P. 523, 19.7.1867. Vgl. Bayerische Gesandtschaft Karlsruhe 13, 20.6.1867; Bayerische Gesandtschaft (im Folgenden abgekürzt mit Bay.Ge.St.) Stuttgart 15, 20.7.1867. Vgl. Bay.Ge.P. 523, 20.7.1867, Hohenlohe an Freiherr Cajetan von Tautphoeus: „Die Abreise des Königs ist nunmehr definitiv auf morgen anberaumt.“ Siehe auch Brief Trautmanndorff an Beust vom 19.7.1867, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Bayer. Gesandtschaft – Italien – Nr. 7, zitiert bei Hüttl (1986), 494. Zitiert nach Schad (2000), 40. Siehe auch Hüttl (1986), 155. Vgl. Münchner Neueste Nachrichten 22.7.1867, 2. Le Progrès de l’Oise 20.7.1867, 1.
3. Ludwig Graf von Berg
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Als Ludwig bereits im Zug saß, telegrafierte der bayerische Gesandtschaftsbeamte in Stuttgart an Hohenlohe und fragte, ob er sich dem Inkognito entsprechend in Zivilkleidung an den Bahnhof begeben solle, wo der königliche Sonderzug im Laufe des Nachmittags erwartet wurde. Er informierte den Außenminister, dass er gemäß dem Inkognito davon absehen würde, den König aus Stuttgart hinauszubegleiten. Stattdessen habe er einen hohen Eisenbahnbeamten als „Reisekommisär“ in den Zug beordert.61 Einige Aspekte der Inkognitoreise wurden erst im letzten Moment improvisiert. So telegrafierte Kabinettssekretär Lutz am Morgen der Abreise, wenige Stunden bevor der König in Straßburg französischen Boden betrat, an Freiherr von Perglas nach Paris und forderte ihn nachdrücklich auf, die Formalitäten des Grenzübergangs zu regeln.62 Zudem gab Lutz präzise Anweisungen, wie Perglas Ludwig II., der um 8.50 Uhr abends eintreffen sollte, am Bahnhof zu empfangen habe. „N’allez pas au devant de lui, mais recevez le en habit à la gare.“ Bei jedem Zwischenhalt telegrafierte Lutz die neusten Informationen an Hohenlohe in München und an Perglas in Paris.63 Währenddessen kündigte der bayerische Ausstellungskommissar, Paul Braun, Frédéric Le Play, dem Generalkommissar der Exposition universelle de 1867, den Inkognitobesuch des Königs an.64 Das täglich erscheinende Programme quotidien der Weltausstellung berichtete detailliert von der Reise des bayerischen Königs.65 Über die Modalitäten seines Inkognitos unterrichtete es seine Leser jedoch falsch: Le roi de Bavière [Ludwig I. – VB] est venu hier matin au Champ-de-Mars, et a visité les expositions de marine anglaise et française, ainsi que celles du ministère de la guerre et de la Société de secours aux blessés militaires. [. . . ] Sa Majesté était accompagnée de la commission royale de Bavière, et a paru charmée de ce qu’elle voyait. [. . . ] C’est demain, à 8 ½ du soir, qu’arrive le roi régnant de Bavière. L’incognito de Sa Majesté ne se lèvera qu’à la gare, où elle sera reçue par la commission royale et les envoyés de l’Empereur.66
Unmittelbar nachdem Ludwig II. in Paris eingetroffen war, bestätigte die französische Presse seine Anwesenheit und teilte ihren Lesern auch das Pseudonym
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65
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Bay.Ge.St. 15, 20.7.1867. Vgl. Bay.Ge.P. 523, 20.7.1867, Lutz an Perglas. Dabei verlief die Kommunikation nicht immer reibungslos. Vgl. Bay.Ge.P. 523, 21.7.1867. Paris, 21.7.1867 Paul Braun (Commissariat de Bavière pour l’Exposition universelle de 1867). „Ludwig II. kommt heute Abend am Gare de l’Est an, Braun wird Le Play informieren, wann der König zum ersten Mal die Ausstellung besuchen will.“ Vgl. Archives Nationales (im Folgenden abgekürzt mit AN) F/12/2983. Vgl. außerdem L’Étendard 14.7.1867, 1; Bayerischer Kurier 16.7.1867, 1; Bayerischer Kurier 18.7.1867, 2; Bayerischer Kurier 20.7.1867, 1; Le Moniteur universel 20.7.1867, 1; L’Opinion Nationale 20.7.1867, 1; La Presse 20.7.1867, 3. Programme quotidien 20.7.1867, 2.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
mit, unter dem der bayerische Monarch reiste.67 An seinem ersten Abend in Paris vertraute Ludwig die Impressionen der Reise seinem Tagebuch an: Am Sonnabend, den 20. Juli, letzter Tag in Berg, gestern Ritt um den See. – Um ½ 8 Uhr fort zu Pferde [. . . ] nach Mühltal (mit schwerem Herzen) endlich in Gauting, 10 Uhr mit dem Zug fort, Reise nach Paris angetreten, weg vom deutschen Mondenglanz, den deutschen Eichen, weit draußen im fernen Land, nach 23 stündiger, langer Fahrt endlich in (in d. Jungfrau von Orleans gelesen, Überblick der französischen Geschichte) Paris angelangt, eine neue Welt in den folgenden Tagen thut sich dem freudig erstaunten Blicke auf, und Alles kann er leisten der menschliche Geist.68
Fast alle Pariser Zeitungen des nächsten Tages vermeldeten Ludwigs Inkognitoankunft, seinen Aufenthalt im Hôtel du Rhin und seine Absicht, den Kaiser zu treffen.69 Einige Journalisten schienen bei Ludwigs Ankunft am Pariser Gare de l’Est vor Ort gewesen zu sein. So wusste L’Étendard, dass Hans von Bülow, „celebre pianiste, gendre de Wagner“, ihn ebenso erwartet hatte wie einige bayerische Weltausstellungskommissare, wobei sie das „strict incognito“ des Königs respektiert hätten.70 Aber auch Falschmeldungen machten die Runde. La Gazette de France war sich sicher, dass Außenminister Hohenlohe den König ebenso begleite wie „un lieutnant general, conseiller d’Etat, et de trois conseiller d’Etat, membres du cabinet royal“.71 Im Gegensatz zu ihrem Gatten Napoleon III. weilte Eugenie de Monthijo, auf deren Bekanntschaft sich Ludwig im Briefwechsel mit den Wagners gefreut hatte, nicht in Paris. Da Queen Victoria wie angekündigt die Weltausstellung nicht besuchte, hatte der Kaiser Eugenie nach England geschickt, um die Verbundenheit der beiden Großmächte zu demonstrieren. Auch Eugenie, die am 22. Juli über Rouen und Le Havre auf die Isle of Wight fuhr, reiste inkognito, ließ dies vorher in der Presse ankündigen und verzichtete so auf offizielle Empfänge.72 67 68 69 70 71
72
Vgl. Le Constitutionnel 21.7.1867, 3. Siehe auch Allgemeine Zeitung 21.7.1867, Beilage, 4; Bayerischer Kurier 23.7.1867, 1; Bayerischer Landbote 24.7.1867, 3. Eintrag vom 24.7.1867. GeHAW Kabinettsakten König Ludwig II. (im Folgenden abgekürzt mit KA.Lud.) 70. Siehe auch Evers (1986), 182. Vgl. stellvertretend Le Monde 22.7.1867, 4; Münchner Neueste Nachrichten 24.7.1867, 1, 2. Siehe auch Böhm (1922), 368. L’Étendard 23.7.1867, 1. La Gazette de France 23.7.1867, 2. Die Allgemeine Zeitung aus Augsburg griff dies belustigt auf und schrieb am 21. Juli: „Die Journale sind sehr geneigt seinem Besuch eine politische Bedeutung beizulegen, da viele glauben, dass Ludwig mit Hohenlohe und 3 Staatssekretären da sei.“ Allgemeine Zeitung 24.7.1867, 6. François Ducuing, Herausgeber einer der eigens aus Anlass der Weltausstellung verlegten Zeitungen, bewies ein gutes Gespür wenn er urteilte: „Le roi Louis II est jeune, je le répète; il est destiné à voir bien des choses, auxquelles nous désirons qu’il soit préparé.“ Ducuing (1867), 249. Das Osborne House auf der Isle of Wight war eine der bevorzugten Residenzen von Queen Victoria. Vgl. La Gazette de France 21.7.1867, 2; La Gazette de France 23.7.1867, 2; Le Constitutionnel 23.7.1867, 3. Queen Victoria bediente sich selbst bisweilen des Inkognitos; so u. a. bei einer Reise in die Schweiz 1868. Als Pseudonyme benutzte sie alternierend „Coun-
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Die französische Presse, der Ludwigs Interesse für die Kaiserin nicht entgangen war, schlussfolgerte kurzerhand, dass der bayerische König bis zur Rückkehr Eugenies in Paris bleiben würde.73 Getreu der im Vorfeld getroffenen Absprachen stattete Ludwig schon am Nachmittag nach seiner Ankunft Napoleon III. eine Visite ab. Laut Perglas war der König von der freundlichen Aufnahme sehr befriedigt. Eingeladen vom Kaiser, was sehr graziös war, fuhren Seine Majestät mit Ihm und dem König von Portugal um 4 Uhr mit einem kaisl. Dampfboote nach Bilancourt zur Besichtigung der dortigen agricolen Ausstellung, speisten nach 7 Uhr im Hotel du Rhin, und wohnten der Vorstellung „Don Carlos“ in der großen Oper bei. Nachdem der König vom Kaiser vernommen hatte, daß die Kaiserin erst am Samstage den 27. nach Paris zurückkehren werde, verlängern Seine Majestät Ihren Aufenthalt in Paris, um die Kaiserin zu sehen. Die Verleihung des Hubertus-Ordens, in Diamanten, an den kaiserl. Prinzen hat der König dem Kaiser mitgetheilt, der dieselbe sehr gut aufnahm.74
Weder Ludwigs Tagebuchaufzeichnungen noch die Presseberichterstattung auf beiden Seiten des Rheins überliefern den Inhalt des Gesprächs zwischen den beiden Monarchen.75 Der einzige Hinweis findet sich im Tagebuch Hohenlohes mehrere Wochen nach der Begegnung. Auf Nachfrage erfuhr der Außenminister vom König, dass Napoleon III. ihn aufgefordert habe, sich nicht zu tief mit Preußen einzulassen.76 Im Schutzmantel des Inkognitos verhandelten die Monarchen wichtige politische Fragen. Napoleon gab sich zudem durch das Angebot von kaiserlicher Jacht und kaiserlicher Loge überaus zuvorkommend. Die Allgemeine Zeitung argumentierte daher zu Unrecht, dass das Inkognito der Grund für die politische Ergebnislosigkeit des Treffens gewesen sei: Er verharrt hier in strengstem Incognito zum Leidwesen der ,Situation‘, die ihre Leser schon lange auf diese Reise als ein Ereignis von unberechenbarer politischer Tragweite aufmerksam gemacht hatte.77
Le Figaro rückte hingegen die bekannten künstlerischen Vorlieben des bayerischen Königs in den Mittelpunkt. Am 25. Juli meldete die Zeitung, dass Ludwig, „celui qui protège les arts en général et Richard Wagner en particulier“, die Ausstellung besichtigt habe und „s’est surtout occupé des beaux-arts“.78 Die Presse hatte sich auch auf dem Ausstellungsgelände an die Fersen des Grafen von Berg
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tess of Kent“, „Countess of Lancaster“ oder „Countess of Balmoral”. Vgl. Hibbert (2000), 432f. Vgl. La Liberté 23.7.1867, 3. MA 99731, 23.7.1867. Eintrag vom 24.7.1867. Vgl. KA.Lud. 70. Siehe auch Evers (1986), 182. Vgl. außerdem Bayerischer Kurier 26.7.1867, 1, 2; Le Moniteur universel 23.7.1867, 1; Le Moniteur universel 24.7.1867, 1; Programme quotidien 24.7.1867, 3; La Gazette de France 24.7.1867, 2; L’Étendard 24.7.1867, 3. Eintrag vom 5.8.1867. Vgl. Curtius (1907), Bd. 1, 256. Allgemeine Zeitung 26.7.1867, 6. Le Figaro 25.7.1867, 2.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
geheftet.79 Das gut informierte Programme quotidien der Weltausstellung berichtete, dass Ludwig bei seinem Rundgang durch die Exposition universelle, seinem Inkognito entsprechend, nur von einem bayerischen Kommissar begleitet wurde. Das Inkognito befreite Ludwig jedoch nicht völlig von seinen monarchischen Pflichten. Dazu gehörte die Verleihung des Hubertusordens in Diamanten, der höchsten Auszeichnung des bayerischen Staates, an den gerade einmal neunjährigen französischen Kronprinzen, den er noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Streng genommen hatte Ludwig sein Inkognito in diesem Moment abgelegt, da ein Graf von Berg keine bayerischen Staatsorden verleihen konnte. Ebenso unterlag Ludwigs Ausflug mit Napoleon III. und dem portugiesischem König keinem eindeutigen zeremoniellen Status. Die Berichte von Perglas zeigen, wie fließend offizielle und inoffizielle Anlässe auf der Inkognitoreise ineinander übergingen: Seine Majestät haben heute Mittag Besuche bei den portugiesischen Majestäten gemacht, empfingen dann den Prinzen Albrecht von Preußen (Vater) und konnten erst gegen 4 Uhr die Ausstellung besuchen, wo im reservierten Garten die bayerische Musik spielte. [. . . ] Der erste Eindruck der Ausstellung auf den König schien ein sehr günstiger zu sein, wie ich mich selbst überzeugen konnte. Der König ist heute Abend ins Theater lyrique, die kaisl. Loge haben S. Majestät zur Verfügung, und morgen zu einer Parthie mit dem Kaiser eingeladen nach Compiègne.80
Zu den Pflichten des bayerischen Königs während seines Inkognitoaufenthalts in Paris zählte auch die logistische Hilfe für den spektakulärsten Weltausstellungsbesucher. Der türkische Sultan Abdülaziz hatte seinen Besuch in der französischen Hauptstadt angekündigt, und dessen Reise quer durch Europa stand seit Wochen auf den Titelseiten. Auch Abdülaziz reiste inkognito, legte dies aber an den einzelnen Reisestationen ab. Da Nürnberg eine dieser Stationen war, schlug Hohenlohe seinem König vor, Prinz Adalbert als Empfangskomitee abzustellen. Da Adalbert gerade inkognito in Paris weilte, konnte Ludwig den entsprechenden Befehl sogar persönlich geben. Einige Tage später nahm schon Stunden vor der Ankunft des Sultans eine riesige Menschenmenge den Nürnberger Bahnhof in Besitz. Hohenlohe notierte am 24. Juli 1867 in sein Tagebuch: „Der Zug konnte lange nicht auf den richtigen Platz kommen, um dem Sultan das Aussteigen auf dem Teppich vor dem Prinzen zu ermöglichen.“81 Einige Schaulustige kletterten sogar auf die Waggondächer.82 79 80 81 82
Vgl. Programme quotidien 23.7.1867, 3, u. 26.7.1867, 3. MA 99731, 23.6.1867. Curtius (1907), Bd. 1, 252, siehe auch 251. Vgl. L’Étendard 27.07.1867, 1; La Presse 27.07.1867, 2. Ludwig befahl, dass das Schloss in Nürnberg zur Verfügung von Prinz Adalbert gestellt werde, um dort einen Empfang für den Sultan zu geben. Die Frage nach den genauen Modalitäten eines eventuellen Inkognitos des Sultans sei hingegen noch nicht geklärt. Vgl. MA 99731, 23.6.1867.
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3.3 Compiègne und Pierrefonds Am 24. Juli 1867 lud Napoleon III., der weiterhin dem bayerischen König seine demonstrative Aufmerksamkeit schenkte, Ludwig und den König von Portugal zu einem gemeinsamen Ausflug nach Compiègne und dem nahe gelegenen Schloss Pierrefonds ein.83 Der portugiesische König Luis aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha besaß, ähnlich wie sein bayerischer Namensvetter, ein „temperamento de literato“, spielte Violine und übersetzte Shakespeare.84 Die beiden Könige, die sich bei ihrem ersten Treffen gegenseitig sympathisch gewesen waren, befanden sich im gleichen Alter und hatten auch ihre Regierung beinahe gleichzeitig angetreten.85 Luis fuhr nicht zum ersten Mal nach Compiègne und hegte gemischte Erinnerungen an diesen Ort. Hier hatte er 1861 vom Tod seines Bruders Peter V. erfahren, dessen Nachfolge er kurz darauf antrat.86 Ludwig II. hingegen, und daher lud ihn Napoleon dorthin ein, verband mit Compiègne nur positive Gefühle. Hier war 1430 Jeanne d’Arc gefangen genommen worden, über die Ludwig auf seiner Zugfahrt nach Paris gelesen hatte. In Pierrefonds restaurierte der französische Architekt Eugène Viollet-le-Duc seit mehreren Jahren das mittelalterliche Schloss nach modernsten Gesichtspunkten, was Ludwig ebenfalls interessieren musste. Die drei Staatsoberhäupter wurden von Fürst Anton von Hohenzollern-Sigmaringen und seinem Sohn Leopold begleitet. Leopolds Kandidatur für die spanische Thronfolge bot Bismarck drei Jahre später den gesuchten Anlass zum Krieg gegen das französische Kaiserreich. Napoleon III. umgarnte 1867 den bayerischen König, um den drohenden Krieg gegen Preußen noch zu verhindern. Ludwig beschäftigte der Ausflug jedoch aus anderen Gründen wie er noch am Abend in sein Tagebuch notierte: Mittwoch, Ausstellung, 12 Uhr mit Napoleon, König v. P. 2 Hohenzollern mit der Bahn nach Compiègne, (Jungfrau v. Orleans) zu Wagen durch herrlichen Park nach dem Schlosse Pierrefonds, (Mahnen an dt. Königsburg Markes) u. an d. Wartburg, prachtvolles Schloß, interessante Rüstungen genau alle Theile besehen, zurück [durch – VB] prächtigen Park Regenschauer, vor dem Schlosse in Compiègne Regiment defiliert, [. . . ] frohgestimmt durch den genußbringenden Tag, noch in d. letzten Akte d. Afrikanern.87 83 84 85 86 87
Vgl. Böhm (1922), 369; La Gazette de France 22.7.1867, 2; Le Pays 25.7.1867, 3, La Gazette de France 31.7.1867, 2; La Presse 19.7.1867, 2. Serrão (o.J.), 69. Luis wurde 1838 geboren und regierte von 1861 bis zu seinem Tod 1889. Vgl. Le Progrès de l’Oise, 27.7.1867. Eintrag vom 24.7.1867. KA.Lud. 70. Siehe auch Evers (1986), 182. Die „Königsburg Markes“ wird am Ende des 1. Aufzug von Wagners Tristan und Isolde erwähnt: „Das ganze Schiff ist von Rittern und Schiffsleuten erfüllt, die jubelnd über Bord winken, dem Ufer zu, das man, mit einer hohen Felsenburg gekrönt, nahe erblickt.“ Wagner (2003), 41. Ludwig erwähnte diesen Eindruck noch ein zweites Mal in einem Brief an Cosima Wagner vom
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
Napoleon III., der tags zuvor drei Wagen und 16 Pferde vorausgeschickt hatte, reiste genauso wie Ludwig inkognito nach Compiègne.88 Der Kaiser beauftragte General Lepic, Räume im Schloss bereit zu halten.89 Am Bahnhof empfingen der Präfekt des Département de l’Oise und der Bürgermeister ihre Gäste, wobei alle Beteiligten ein dem Zeremoniell entsprechendes „Habit de ville“ angelegt hatten.90 Als Zeichen der Trauer um Maximilian von Habsburg trug der französische Kaiser zusätzlich violette Handschuhe.91 Der Staatstrauer und dem Inkognito entsprechend hatte der Kaiser von den lokalen Autoritäten „aucune invitation en ville“ erhalten.92 Als die Gesellschaft um 13.45 Uhr am Bahnhof ankam, wurde sie von einer jubelnden Menschenmenge begrüßt.93 Trotz des Inkognitos war der Bahnhofssaal mit einem von kaiserlichen Bienen durchsetzten, grünen Samt ausgeschlagen.94 Die Gäste fuhren ohne Empfang direkt zum Schloss Pierrefonds, wo sie Viollet-le-Duc erwartete, der sie eine Stunde lang über die Anlage führte. Anschließend begutachteten sie eine Militärparade im Schlosspark, zu dem das Publikum keinen Zutritt hatte.95 Nach der Parade wurden die Gäste verköstigt.96 Beim Auszug aus dem Saal standen die Truppen Spalier und spielten zu
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8. August 1867. In der Forschung wird heute davon ausgegangen, dass das Schloss von Pierrefonds ein wichtiges Vorbild zu Ludwigs Neuschwanstein wurde. Vgl. Petzet (1995), 50. L’Africaine ist eine 1865 uraufgeführte Oper von Giacomo Meyerbeer, die Ludwig bereits während seine Frankenreise in Nürnberg gesehen hatte. Vgl. Le Progrès de l’Oise 27.7.1867, 2; L’Echo de l’Oise 26.7.1867. Brief General Lepic an den Régisseur du plais vom 23.7.1867. Vgl. Archives Chateau Compiègne. Correspondance 1867. Ich bedanke mich beim Schlossarchiv von Compiègne, das mir diese Quelle zur Verfügung gestellt hat. Le Progrès de l’Oise, 27.7.1867. Vgl. Le Progrès de l’Oise, 27.7.1867. Der von Napoleon III. protegierte Maximilian von Habsburg war am 19.7.1867 in Mexiko auf Befehl von Benito Juarez hingerichtet worden. L’Echo de l’Oise, 26.7.1867. Vgl. L’Echo de l’Oise, 26.7.1867; L’Étendard 26.7.1867, 1. Vgl. Le Progrès de l’Oise, 27.7.1867. Vgl. L’Echo de l’Oise 26.7.1867; Le Progrès de l’Oise 27.7.1867. Marta Schad berichtet von einer besonderen Begebenheit, die hier zumindest erwähnt werden soll: „Im Rahmen der Parade eines Husarenregiments wurde ein historisches Ereignis aus dem Jahr 757 nachgestellt. Damals hatte der Bayernherzog Tassilo III. mit unzähligen Eiden dem fränkischen Herrscher seine Vasallentreue schwören müssen.“ Schad (2000), 41f. Dabei verfälscht sie einen Hinweis von Nöhbauer. Dieser erwähnt eine „Parade eines Husarenregiments in jenem Compiègne, wo der unglückliche Bayernherzog Tassilo III. im Jahre 757 durch unzählige Eide dem fränkischen Herrscher seine Vasallentreue schwören musste.“ Nöhbauer (1986), 223. Im Schlossarchiv von Compiègne findet sich keine nähere Information zu der Parade. Es kann jedoch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass nicht auf die aus bayerischer Sicht demütigenden Ereignisse von 757 angespielt wurde. Auf Grund des Inkognitos des Kaisers wurden nur wenige Gäste dazugeladen. Die Runde umfasste circa 30 Personen, zu denen u. a. die Generäle Rollin, Reille und Lepic sowie Baron Morio de l’Isle und Emmanuel Viollet-le-Duc zählten. Vgl. L‘Echo de l’Oise, 26.7.1867.
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Ehren des portugiesischen Königs dessen „air national“.97 Auf Grund des Inkognitos Ludwigs II. verzichteten die Gastgeber hingegen auf die bayerische Hymne. Als die Gesellschaft gegen zehn Uhr nach Paris zurückkehrte, begaben sich Ludwig und sein neuer portugiesischer Freund direkt in die Oper, um noch die beiden letzten Akte von Meyerbeers L’Africaine in der von Napoleon zur Verfügung gestellten kaiserlichen Loge zu genießen.98 Der bayerischen Presse entging die gegenseitige Sympathie der Könige nicht. „Der Verkehr der beiden jungen Souveräne von Bayern und Portugal hat den Charakter ungewöhnlicher Herzlichkeit angenommen.“99 Ludwig ließ es sich am nächsten Morgen nicht nehmen, als Graf von Berg bei dem in den Tuilerien logierenden offiziellen französischen Staatsgast vorzufahren, wobei ihm Luis das „bande royale des trois ordre militaires portugais“ überreichte.100 Dessen Gemahlin erwiderte noch am gleichen Nachmittag die Höflichkeitsvisite und besuchte Ludwig in dessen Hotel. Nicht nur bei der Pflege freundschaftlicher Beziehungen erfüllte der König seine konstitutionellen Pflichten. Die Allgemeine Zeitung unterrichtete ihre Leser, dass Ludwig „mit seinem Kabinett“101 arbeite und den täglichen Aktenverkehr nicht vernachlässige. Erst danach gönnte sich der Graf von Berg eine kleine Einkaufstour durch die Stadt, die insofern erwähnenswert ist, da Napoleon III. genau zu diesem Zeitpunkt zu einer Überraschungsvisite bei Ludwig vorfuhr. Der Kaiser musste unverrichteter Dinge wieder kehrt machen, und bezeichnenderweise berichteten nur die bayerischen, nicht aber die französischen Blätter von diesem Malheur. Ludwigs Inkognito stellte sicher, dass daraus keine diplomatischen Komplikationen entstanden.102 Nachdem der König am frühen Nachmittag des 25. Juli die Inkognitovisite Prinz Albrechts von Preußen entgegengenommen hatte, zog es ihn gegen 15 Uhr auf das Ausstellungsgelände. Ministerialrat Braun und der bayerische Konsul Schwab begleiteten ihn.103 Aber auch die Presse folgte seinen Erkundungsgängen, und La Liberté berichtete, dass Ludwig jeden Tag volle sechs Stunden in der Ausstellung verbringe und die Exponate „avec le plus 97 98
99 100 101 102 103
Vgl. L‘Echo de l’Oise 26.7.1867; Progrès de l’Oise 27.7.1867. Vgl. L‘Echo de l’Oise 26.7.1867. „Der Kaiser, der bei diesem Anlaß [Ausflug nach Compiègne – VB] eine ungemeine Liebenswürdigkeit und Gesprächigkeit entwickelt haben soll.“ Allgemeine Zeitung 28.7.1867, 5. Siehe auch La Gazette de France 27.7.1867, 2; L’Étendard 26.7.1867, 1; Le Monde 26.7.1867, 4; Le Constitutionnel 28.7.1867, 3. Siehe auch Kobell (1889), 39–41. Allgemeine Zeitung 27.7.1867, 7. La Gazette de France 26.7.1867, 1. Allgemeine Zeitung 27.7.1867, 7. Vgl. Allgemeine Zeitung 27.7.1867, 7. Münchner Neueste Nachrichten 26.7.1867, 3 u. 28.7.1867, 1. Vgl. Allgemeine Zeitung 27.7.1867, 7. Siehe auch Böhm (1922), 370, der Ludwig in Paris sogar selbst gesehen haben will.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
d’assiduité“ inspiziere.104 Laut seinem Tagebuch interessierten Ludwig insbesondere die Nationalpavillons der außereuropäischen Teilnehmerstaaten:105 Donnerstag mehrere Stunden in der Ausstellung zugebracht, ,Welt‘ geschaut, in ägyptischen Tempel, dem Hause des Sultans u. Königs [. . . ] orientalische Märchenpracht, mexikanischer Tempel, erhält dadurch unvergesslichen Eindrücke, später zu Tische, théâtre comique Oper „Mignon“ nach Wilhelm Meister bearbeitet. Finde in diesen Tagen spät zur Ruhe, das rege Treiben auf den boulevards kennengelernt. Freitags besonders die Maschinen betrachtet, [. . . ] Militärisches, im russischen Restaurant, sehr interessant, lange noch d. Ausstellung genossen, nach Tische im Odéon Athalie v. Racine gesehen u. im théâtre de variété: „la biche au bois“ Nachricht erhalten Onkel Otto † – Sonnabend wieder in d. Ausstellung hauptsächlich zu den europäischen Erzeugnissen, den herrlichen Gemälden, Frühstück im bayerischen Restaurant (Bild von Berg, Hohenschwangau) Minarett bestiegen, Burgruine, Musik d. Russen, [. . . ], Haus v. Gustav Wasa, Tags zuvor in d. Tuilerien gefahren abends: la Granduchesse de Gerolstein, Großfürst Constantin zu mir, herrlich wie immer, lange noch mit Perglas gesprochen, sehr spät zur Ruhe.106
Besonders ein maurischer Pavillon, der vom Berliner Architekten Karl von Diebitsch entworfen worden war, begeisterte Ludwig. Nach dem Ende der Exposition universelle de 1867 gelangte das Gebäude über einige Umwege auf das böhmische Schloss Zbirow, von wo es Ludwig 1876, immerhin neun Jahre später, durch einen Mittelsmann kaufen und nach Schloss Linderhof transportieren ließ. Am Fuße der bayerischen Alpen wurde es durch Münchner Handwerksfirmen restauriert und im Schlosspark wiedererrichtet.107 Zu diesem Zeitpunkt stand das Datum der Abreise immer noch nicht fest. Ludwig hatte weder die französische Kaiserin Eugenie getroffen noch die Zeit gefunden, um einen Abstecher zu dem von ihm so sehr geschätzten Schloss von Versailles zu machen.108 Beides verhinderte schließlich der Tod König Ottos von Wittelsbach, der von 1832 bis 1862 als König von Griechenland regiert hatte und am 26. Juli 1867 in Bamberg an den Folgen der Masern verstarb.109 Otto, der zweite Sohn Ludwigs I., war der Taufpate des bayerischen Königs.110 Die beiden hatten sich auf Ludwigs Frankenreise zum letzten Mal gesehen, und als regierender König und Familienvorstand der Wittelsbacher musste er bei
104 105 106
107 108 109 110
La Liberté 28.7.1867 3; La Liberté 1.8.1867, 4. Siehe dazu ausführlich Barth (2007). Eintrag vom 24.7.1867. KA.Lud. 70. Siehe auch Programme quotidien 26.7.1867, 3; L’Étendard 26.7.1867, 2. Für das genaue Theaterprogramm Ludwigs siehe Evers (1986), 276f. Zu Ludwigs Einkäufen in Paris vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 55. Vgl. dazu ausführlich Barth (2003). „S.M. Louis II emportera de Paris le regret de n’avoir pu visiter Versailles et Fontainebleu.“ Vgl. Programme quotidien 31.7.1867, 3. Vgl. AMAE, Bavière, Correspondance politique, 26.7.1867. Siehe auch La Gazette de France 28.7.1867, 2; L’Étendard 27.7.1867, 1; La Presse 30.7.1867, 2. Vgl. Böhm (1922), 372. Siehe auch Le Constitutionnel 29.7.1867, 3.
3. Ludwig Graf von Berg
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den Trauerfeierlichkeiten anwesend sein.111 Trotzdem vermeldete La Patrie genauso wie einige bayerische Zeitungen, dass der König zumindest noch bis zur Rückkehr der Kaiserin in Paris bleibe.112 Der bayerische Außenminister Hohenlohe, der mit den Amtsgeschäften besser vertraut war, notierte die Nachricht vom Tod Ottos in sein Tagebuch und fügte wenig sensibel hinzu: „Das wird mir wieder viel zu tun geben.“113 Der für den folgenden Montag angesetzte Gottesdienst in der Münchner Theatinerkirche ließ dem König nur noch den Sonntag, bevor er sich auf die 24-stündige Rückreise begab. Ludwig nutzte den Tag, um in kleiner Begleitung die bekanntesten Pariser Sehenswürdigkeiten aufzusuchen: Sonntag d. 28. Juli mit Tann u. dem Consul in das [sic!] Louvre gefahren, herrliches Schloß, Gemäldegalerien, viele Erinnerungen an die Zeit der Könige – dann hôtel de ville gesehen, nôtre dame vorbei [an] holder cathedrale, nach dem bois de boulogne zu Ausstellung, noch lange dort, bei den Spaniern, später zu Tisch [. . . ] schön noch u. heiter die letzten Stunden zugebracht, fort theils zu Wagen theils zu Fuß mit dem Consul zur Eisenbahn, ½ 9 Uhr fort voll der besten Eindrücke im Großen und Ganzen, lange rastlose Fahrt [. . . ].114
Bis zuletzt wurde Ludwigs Inkognitoreise auf beiden Seiten des Rheins von der Presse aufmerksam beobachtet. Die Reise hatte weder zu diplomatischen Zwischenfällen noch zu politischen Ergebnissen geführt. Die Bemühungen Napoleons III. blieben letzten Endes erfolglos. Trotzdem spekulierten einige Blätter, ob es nicht doch zu Absprachen gekommen sei: „Bien que ce prince se trouve à Paris incognito, il a eu de fréquentes entrevues avec l’Empereur.“115 Tatsächlich trafen sich die beiden Staatsoberhäupter öfter als geplant. Sowohl die bayerische Gesandtschaft in Paris als auch das Münchner Außenministerium verfolgten die französische Berichterstattung genau. Den Diplomaten fiel besonders ein Artikel aus La Liberté auf, der Ludwigs Inkognito wohlwollend beurteilte und auf dessen pragmatische Vorteile verwies: L’incognito qu’il a gardé lui permettait de faire ainsi avec fruit ces fréquentes visites, le cortège officiel étant plutôt une gêne qu’un moyen de pouvoir examiner utilement toutes les merveilles qui contient cette énorme Exposition.116
Auch als Graf von Berg erfüllte Ludwig seine königlichen Pflichten. So beantwortete er einen an den König gerichteten Bittbrief einer gewisse Catherine Hesselschwert, die ihm am 24. Juli 1867 aus Lyon schrieb. Ludwig ließ der seit 111 112 113 114 115 116
Vgl. AMAE, Bavière, Correspondance politique 243. Programm der „Leichen-Feier“ König Ottos. Ohne Datum. Die Nachricht von La Patrie wurde von Le Monde 28.7.1867, 4, weitergegeben. Vgl. Münchner Neueste Nachrichten 29.7.1867, 3. Eintrag vom 26.7.1867. Curtius (1907), Bd. 1, 253. Eintrag vom 29.7.1867 (?). KA.Lud. 70. Programme quotidien 31.7.1867, 3. Po.Be.Bay.Ge.P., La Liberté, ohne Datum.
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
elf Monaten kranken und erwerbslosen Frau 40 Francs zukommen.117 Die französischen Organisatoren der Weltausstellung nahmen es mit dem Inkognito hingegen genauer als der bayerische König. Da Ludwig II. nie offiziell die Exposition universelle betreten hatte, wurde er trotz seiner vielen Besuche in der Rubrik „Souverains et Prince Etrangers à l’Exposition de 1867“ des offiziellen Abschlussberichts nicht erwähnt.118
3.4 Zusammenfassung Nachdem die beiden ersten Teile die Genese und die Reglementierung des Inkognitozeremoniells bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beschreiben, fragt der dritte Abschnitt der vorliegenden Untersuchung nach Bestand und Wandel des Inkognitos nach der Epochenschwelle der Französischen Revolution. Inwieweit war dieses überwiegend dem Hochadel vorbehaltene Zeremoniell von der nach 1789 ganz Europa kennzeichnenden politischen und gesellschaftlichen Modernisierung betroffen? Für das Inkognito stellt sich diese Frage nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer zunehmenden Bürokratisierung von Identitäten in Form einer rechtlich verbrieften, national definierten Staatsbürgerschaft. Auf welche Weise versuchte der Adel höfische Traditionen in die neue Zeit zu retten und Zeremonielle wie das Inkognito den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen? Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Inkognito im 19. Jahrhundert nicht nur weiter existierte, sondern sogar mehr als jemals zuvor zur Anwendung kam. Dafür können zwei Gründe genannt werden: Erstens führte die rapide Verbreitung der Eisenbahn zu einer exponentiellen Zunahme des Inkognitos. Denn es erlaubte an den einzelnen Reisestationen auf Ehrenbezeugungen und Feierlichkeiten zu verzichten, ohne dadurch das monarchische Prinzip zu desavouieren. Das Inkognito bekräftigte die Notwendigkeit eines monarchischen Zeremoniells, ohne es zur vollen Entfaltung zu bringen. Dies erleichterte die Reise nicht nur, sondern erlaubte es dem Monarchen zweitens auch, die öffentliche Kritik an kostspieligen und aufwändigen Zeremoniellen im Keim zu ersticken. Das Beispiel der bayerischen Dynastie der Wittelsbacher hilft, die Persistenz des Inkognitos im 19. Jahrhundert zu erläutern. Zum einen blickte diese 117 118
Vgl. Bittbriefe (Bay. Gesandtschaft Paris 3975); Brief von Catherine Hesselschwert, Lyon, 24.7.1867, Dankschreiben vom 12.8.1867. Ludwigs Inkognitoausflug nach Compiègne und Pierrefonds wurde ebenfalls in den Akten nicht erwähnt. Vgl. AN, Souverains et Prince Etrangers à l’Exposition de 1867, O/5/97, O/5/2305, O/5/2306.
3. Ludwig Graf von Berg
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ebenso alte wie bedeutende Dynastie auf eine lange Inkognitotradition zurück. Diese reichte von Isabeau von Bayern im 14. Jahrhundert über die bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria und Maximilian II. Emmanuel im ausgehenden 17. Jahrhundert bis zum Wittelsbacher Kurprinz und späteren Kaiser Karl Albrecht im 18. Jahrhundert. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts brach Amalie von Leuchtenberg, die Enkelin König Maximilians I. von Bayern, inkognito nach Brasilien auf. Zum anderen eignen sich die Wittelsbacher um die Geschichte des Inkognitos im 19. Jahrhundert zu untersuchen, da dieses Adelsgeschlecht weitreichenden politischen Veränderungen unterworfen war. Die Aufwertung zum Königreich (1806) bzw. die Abwertung durch die Eingliederung ins preußische Kaiserreich (1871) wirkten sich auch auf die Verwendung des Inkognitos aus. Vor allem aber erließen die Wittelsbacher Könige im 19. Jahrhundert neue, den veränderten Umständen angepasste Reiseverordnungen, mit denen sie ihre dynastisch-zeremonielle Tradition anpassten und weiterführten. Dies gilt für die Normen König Ludwigs I. von 1829 ebenso wie für die Bestimmungen über Reisen im Allgemeinen, die König Maximilian II. 1857 festlegte. Diese Regelungen betrafen insbesondere das Inkognito, dessen praktische Umsetzung durch die bayerischen Staatsbeamten und die Mitglieder des Hofstabes die Dienstanweisung für die Durchführung von Sonderzügen (1907) und die Instruktionen des Obersthofmeisterstabes (1915) verdeutlichen. Die Reisen König Ludwigs II., die auf dieser dynastischen Tradition basierten, illustrieren die Motivationen und Modalitäten des Inkognitos im 19. Jahrhundert exemplarisch. Ludwig übernahm die Reisebestimmungen seiner Vorgänger auf dem bayerischen Thron ohne Veränderungen und seine Reitausflüge als Thronfolger zeigen, dass er von Kindesbeinen an mit dem Inkognito vertraut war. Als König benutzte er es nahezu ausnahmslos für seine In- und Auslandsreisen. Diese demonstrieren die verschiedenen Spielarten des Inkognitos im 19. Jahrhundert. In Bad Kissingen verhalf das Inkognito Ludwig II. zu einer ungestörten Bäderreise im Stile der Monarchentreffen des Ancien Régime. Auf seinen ersten beiden Reisen in die Schweiz diente es ihm als Vorwand, um sich aus persönlichen Vorlieben und entgegen politischer Notwendigkeiten kurzfristig aus seinem Staat zu entfernen. Bei seiner Frankenreise 1866, die als typisch für die Inkognitoreise eines regierenden Monarchen im 19. Jahrhundert anzusehen ist, verringerte das Inkognito die zeremoniellen Pflichten eines konstitutionellen Königs. Das abschließende Kapitel thematisierte den Besuch Ludwigs II. auf der Pariser Weltausstellung von 1867. Denn er verdeutlicht die komplizierten diplomatischen Aushandlungsprozesse einer Inkognitoreise, die in einer angespannten politischen Situation und unter genauer Beobachtung der Öffentlichkeit stattfand. Einerseits wird ersichtlich, wie verbreitet das Inkognito in der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich war. Andererseits veranschaulichen die bayerisch-
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III. Das Inkognito im Hause Wittelsbach
französischen Verhandlungen um Ludwigs Parisbesuch, wie viele Akteure die genaue Vorbereitung involvierte und dass auch erfahrene Diplomaten wie der bayerische Ministerratsvorsitzende und Außenminister Hohenlohe nicht mit dem genauen Prozedere eines Inkognitobesuchs vertraut waren. Ungeachtet der Tatsache, dass die Bemühungen Napoleons III. um den bayerischen König letztendlich ergebnislos blieben, ermöglichte das Inkognito auch im 19. Jahrhundert diplomatische Treffen auf höchster Ebene. Daher ähnelt Ludwigs Besuch als Graf von Berg in vielerlei Hinsicht der Reise Josephs II. an die Seine als Graf von Falkenstein beinahe 90 Jahre zuvor. Beide Inkognitoreisenden standen unter ständiger Beobachtung der Öffentlichkeit; sie trafen sich zu mehreren Gesprächen mit dem jeweiligen französischen Souverän, deren Inhalt nicht überliefert ist; und sie nutzten ihr Inkognito für Stadtbesichtigungen und Ausflüge, die unmittelbar literarisch verarbeitet wurden. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegt die zeremonielle Tradition deutlich die notwendig gewordenen Anpassungsprozesse. Wie in den folgenden Kapiteln auszuführen sein wird, trat die zeremonielle Ausgestaltung des Inkognitos in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg jedoch zunehmend in den Hintergrund. Das immer öfter auch umgangssprachlich gebrauchte Wort inkognito avancierte zum Sammelbegriff für die verschiedensten Formen von Identitätswechseln.
IV. Spuren des Inkognitos
1. Diplomatische Bedenken 1.1 Zurück in Bayern Ludwigs Inkognitoreise nach Paris prägte sein Bild in der Öffentlichkeit. Sie wurde breit rezipiert und nahm bereits in einer der ersten Biografien des bayerischen Königs einen prominenten Platz ein. Karl von Heigel glaubte allerdings, sich dafür vor seinen Lesern rechtfertigen zu müssen: „Damit sollen jene Pariser-Spaziergänge nicht verteidigt werden; sie waren ihm nachteilig und bekehrten nicht einen Franzosen.“1 Ähnlich wie viele Zeitgenossen kritisierte auch Heigel die fehlende politische Initiative des Königs. Die Reise avancierte zum Ausgangspunkt eines Narratives, das Ludwig II. als zögernd, weltfremd und selbstbezogen schilderte. Noch 1940 thematisierte der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf Ludwigs Parisreise in Das Leben meiner Mutter: Unangesagt und inkognito als Graf von Berg fuhr er zur Weltausstellung nach Paris, wo auch sein kunstsinniger Großvater weilte und allgemein gefeiert wurde. Frankreich suchte Bayern für seine zukünftige Politik zu gewinnen. Napoleon III. empfing den jungen König, der seit der Niederlage von 1866 nichts mehr für Preußen übrig hatte, und zeigte ihm die Prachtbauten der Bourbonen. Ein Taumel erfaßte Ludwig beim Anblick dieser Schlösser, dieser Gärten und Wasseranlagen. Er begeisterte sich für das Haus Bourbon und wurde ein geradezu heftiger Freund alles Französischen.2
Diese Bourbonen-Begeisterung wurde bereits zu Ludwigs Lebzeiten zur Frankreichmanie und nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 zunehmend zum Krankheitssymptom uminterpretiert.3 In der Euphorie der deutschen Nationalstaatsgründung wirkte die Affinität des bayerischen Königs zum französischen Grand siècle fehl am Platz. Ludwig selbst kommentierte die Reise gegenüber seinen Korrespondenzpartnern jedoch ganz anders. Die zahlreichen Meldungen der bayerischen Presse, wonach der König ausschließlich positive Eindrücke aus Paris mitgenommen habe, treffen nicht zu.4 Ein Brief an Cosima Wagner verdeutlicht, dass Ludwig die französische Hauptstadt durchaus nuanciert bewertete: O welch wohltuende Ruhe nach den Tagen der Hast, des Weltgeräusches, wie ich sie jüngst im modernen Babylon erlebte; und doch bereue ich nicht die dort zugebrachte Zeit; denn unter manchem Unangenehmen, ja höchst Zuwiderem, habe ich doch viel Interessantes und Schönes gesehen. [. . . ] Einen wahren Abscheu flössten mir die schlechten, sittenverdorbenen und 1 2 3 4
Heigel (1893), 345. Graf (1992), 44. Vgl. GeHAW Ministerium des Königlichen Hauses (im Folgenden abgekürzt mit MKH) 200. Vgl. Böhm (1922), 372.
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IV. Spuren des Inkognitos
allen Geistes baaren Stücke ein, die ich in den Theatern sah, wo möglich noch mehr denn je ist mir das französische Volk, seine Sprache und vor Allem die Napoleonische Parvenu-Herrschaft zuwider und verhasst. [. . . ] Herrliches bietet die Ausstellung, das ist nicht zu leugnen, es grenzt an das Wunderbare, sehr rathe ich der theuren Freundin, sie nicht zu versäumen; ohne Ermüdung war ich 6–7 Stunden en suite in der Ausstellung, die ich sehr genau mir besah.5
So wie die übrigen elf Millionen Besucher faszinierte die Exposition universelle den bayerischen König durch ihre exotisierte Vergangenheit und hoch technisierte Zukunftswelt.6 Die Stadt Paris stieß Ludwig in ihrer überbordenden Modernität hingegen ab. Der König ließ keinen Zweifel daran, dass das „genuss-süchtige Volk mit seiner greulichen Sprache und unsinnigen Höllenspektakel“ ihm das „sonst schöne und interessante Paris gründlich verleidet hatte.“ Vom politischen Kontext der Reise sprach Ludwig genauso wenig wie von der demonstrativen Freundlichkeit Napoleons III.7 Stattdessen blieb ihm das mittelalterliche Schloss Pierrefonds in Erinnerung, und in München setzte er die Lektüren zu Jeanne d’Arc fort.8 Der plötzliche Tod seines Patenonkels Otto hatte Ludwig gezwungen, Paris zu verlassen, und trotz seines Inkognitos oblag es der bayerischen Gesandtschaft, die verfrühte Rückkehr zu erklären. Deshalb wurde Freiherr von Perglas bereits am Tag nach der Abreise Ludwigs beim Kaiserpaar vorstellig, wobei sich Napoleon nicht nachtragend zeigte. Er erwies dem bayerischen Gesandten sogar die Ehre einer „promenade en voiture“. So kam zu guter Letzt auch Perglas zu dem Schluss, dass Ludwigs Inkognitoaufenthalt in Paris ein „plein succès“ gewesen sei.9 Trotzdem war mit Ludwigs Rückkehr der Problemfall Inkognito für die bayerische Gesandtschaft noch keineswegs vom Tisch.10 Denn nun plante der Bruder des Königs inkognito nach Paris zu reisen. Perglas wurde Mitte August 1867 darüber informiert, dass Otto im „strengsten incognito“ unter dem Namen eines „Grafen von Wittelsbach“ in Begleitung von Major Freiherr von Schleitheim und Oberleutnant von Branca eintreffen werde. Als er am 22. August in Paris ankam, stieg er im Hotel Bristol ab und besichtigte in den folgenden Tagen die Stadt und die Weltausstellung.11 Anfang September empfing der Kaiser den
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10 11
Schad (1996), Brief 175 vom 8. August 1867. Vgl. dazu Barth (2007). Schad (1996), Brief 175. Vgl. Rall (1963), 178. Po.Be.Bay.Ge.P., 30.7.1867. Der Aufenthalt „a été fort remarqué dans le public de Paris“, wobei insbesondere das intensive Interesse des Königs für die Weltausstellung positiv aufgefallen sei. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 2.10.1867. Dort findet sich auch die Nachricht, dass die Königin von Holland ebenfalls inkognito anreisen werde. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 27.8.1867.
1. Diplomatische Bedenken
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bayerischen Königsbruder und übermittelte via Otto und Perglas abermals seine „vive sympathie“.12 In Anbetracht der sich zuspitzenden politischen Lage ging Napoleons Suche nach Bündnispartnern unvermindert weiter. Nachdem sowohl der bayerische als auch der württembergische König die napoleonischen Offerten ausgeschlagen hatten, intensivierte der Kaiser seine Beziehungen zu Österreich. Dazu bot ihm die Weltausstellung keine Gelegenheit, da Kaiser Franz Joseph wegen der offiziellen Staatstrauer um seinen in Mexiko erschossenen Bruder Maximilian nicht nach Paris reiste. Die beiden Monarchen verabredeten daher ein Treffen in Salzburg. Auch der Kaiser und seine ihn begleitende Gemahlin bedienten sich des Inkognitos, das auf der An- und Abreise beachtet und während des Aufenthalts in Salzburg abgelegt werden sollte.13 Wieder einmal wurde die Presse vorher informiert. Am 17. August 1867 berichtete der Moniteur universel, die offizielle Staatszeitung des Second Empire, dass der Kaiser inkognito nach Salzburg zu seinem österreichischen Kollegen reisen werde.14 Verschiedene andere französische Blätter spekulierten schon seit mehr als einer Woche über eine mögliche Reise Napoleons.15 Nach der Gründung des Norddeutschen Bundes teilten jedoch nur wenige Beobachter die Meinung von L’Étendard, das geplante Treffen „n’aura rien de politique“.16 Außenminister Hohenlohe informierte den König am 4. August über Napoleons Reise nach Salzburg, die er „wegen [der – VB] mexikanischen Katastrophe“ unternehme. Daraufhin bestellte ihn Ludwig nach Schloss Berg, wo er sich während der anschließenden Audienz „sehr liebenswürdig“ zeigte. Hohenlohe notierte in sein Tagebuch: Beim Weggehen sprach er noch über Paris, erzählte, daß der Kaiser ihn gewarnt habe, sich nicht zu tief mit Preußen einzulassen und entließ mich dann mit Grüßen an meine Frau, der er ein Bukett schickt.17
Zudem ließ Ludwig über seine Gesandtschaft anfragen, ob ihn der französische Kaiser trotz des Inkognitos auf seiner Durchreise in München besuchen würde. In der am 12. August von Perglas übermittelten Antwort verwies Napoleon ausdrücklich auf sein Inkognito und schloss ein offizielles Treffen kategorisch 12
13 14 15 16 17
Ebd., 2.9.1867. Auch die Kaiserin sendete herzliche Grüße und richtete aus, dass „elle avait été charmée“. Sie hatte Ludwig zwei Wochen zuvor in dessen bayerischer Heimat kennen gelernt. Vgl. Doeberl (1900), 479. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 17.8.1867. Vgl. La Liberté 21.7.1867, 1; La Gazette de France 28.7.1867, 2; La Gazette de France 1.8.1867, 2. L’Étendard 2.8.1867, 1. Eintrag vom 5.8.1867. Curtius (1907), Bd. 1, 256.
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IV. Spuren des Inkognitos
aus. Stattdessen schlug er vor, dass der König ihn auf dem bayerischen Teil der Zugfahrt begleite, wobei Ludwig ebenfalls inkognito wäre. „Il est bien vrai que le voyage se fait dans le plus strict incognito néanmoins Leurs Majestés éprouvaient plaisir de rencontrer le Roi.“18 Das Inkognito ermöglichte es Napoleon nicht zuletzt in aller Ruhe Augsburg zu besichtigen. Immerhin hatte der französische Kaiser seine Schulzeit im schwäbischen Exil verbracht. Die bayerische Gesandtschaft in Paris, das bayerische Außenministerium und das französische Quai d’Orsay waren mit der Organisation der Reise betraut. Der bayerische Zeremonienmeister Baron de Moy sollte den Kaiser von Ulm nach Salzburg, also durch das gesamte bayerische Territorium, begleiten.19 Eine durchgängige, offizielle Begleitung des Kaisers war unerlässlich, da der König von Württemberg, dessen Gebiet Napoleon ebenfalls durchquerte, ähnliche Vorkehrungen getroffen hatte und zudem den Kaiser zwischen Stuttgart und Ulm persönlich zu eskortieren gedachte.20 Obwohl das Kaiserpaar Stuttgart erst gegen 22.30 Uhr erreichte, begleitete es der württembergische König wie verabredet nach Ulm, wo Zeremonienmeister Moy zustieg und zusammen mit dem Kaiser bis nach Augsburg reiste. Der kaiserliche Sonderzug fuhr dort gegen halb ein Uhr nachts in den Bahnhof ein, und das Kaiserpaar verbrachte die Nacht im Hotel „Drei Mohren“. Am nächsten Morgen besuchte der Kaiser den Gottesdienst und besichtigte anschließend im offenen Wagen die Stadt. Sowohl am ehemaligen Haus seiner Mutter als auch am Sankt Anna-Gymnasium, das er zwischen 1821 und 1823 besucht hatte, warteten die Schaulustigen bereits seit mehreren Stunden.21 Um elf Uhr Vormittags kehrte Napoleon an den Augsburger Bahnhof zurück, wo ihn Ludwig II., der direkt aus Schloss Berg gekommen war, bereits erwartete.22 Die beiden Monarchen trafen um 12.20 Uhr in München ein; der Inhalt der auf der kurzen Reise geführten Gespräche ist nicht überliefert. Allem Anschein nach kam es erneut zu keinerlei politischen Absprachen. Am Münchner Hauptbahnhof wurde der Kaiser seinem Inkognito entsprechend nicht offiziell empfangen. Stattdessen bestiegen einige Mitglieder der königlichen Familie den Zug und begleiteten den inoffiziellen Staatsgast bis nach Rosenheim. Dazu zählten neben Prinz und Prinzessin Adalbert, dessen Bekanntschaft das Kaiserpaar bereits bei deren Inkognitoaufenthalt in Paris gemacht hatte, auch die Gattin des Herzogs Max in Bayern, der Mutter der österreichischen Kaiserin Elisabeth, deren Sohn Karl Theodor und dessen jüngere Schwester Sophie Charlotte, die Verlobte des bayerischen Königs. Außerdem waren Mitglieder 18 19 20 21 22
Bay.Ge.P. 1531, 12.8.1867. Vgl. GendKK 1071. Vgl. Po.Be.Bay.Ge.P., 17.8.1867. Vgl. AMAE, Bavière, Correspondance politique 243, 21.8.1867. Vgl. ebd.
1. Diplomatische Bedenken
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der französischen Gesandtschaft, der Münchener Stadtkommandant und einige Staatsminister eingeladen worden. Im Gegensatz zu dieser kleinen Delegation verließ Ludwig den Zug bereits in Prien am Chiemsee.23 Das Treffen zwischen Napoleon III. und Franz Joseph von Österreich führte zu keinen konkreten Ergebnissen.24 Auf Napoleons Rückreise von Salzburg traf Ludwig, nachdem er seine diplomatischen Pflichten auf dem Hinweg erfüllt hatte, den Kaiser nicht mehr.25 Da Napoleon durch seine Gesandtschaft mitgeteilt hatte, dass er auch auf dem Rückweg sein Inkognito gewahrt wissen wollte, verbot Ludwig zunächst sogar seinem Ministerratsvorsitzenden und Außenminister Hohenlohe, sich an seiner Stelle zum Münchner Bahnhof zu begeben. Als die französische Gesandtschaft den Kaiser davon unterrichtete, lud Napoleon Hohenlohe jedoch ausdrücklich ein, ihn im Zug zu begleiten. Diese persönliche Einladung war mit dem Inkognito durchaus vereinbar, und die französische Gesandtschaft in Bayern stellte in ihrem Abschlussbericht zu Recht fest: „Suivant le désir exprimé par l’Empereur l’incognito a été strictement observé.“26
1.2 Verbotenes Versailles Der Tod seines Patenonkels Otto und die daraus resultierende vorzeitige Abreise aus Paris hatten Ludwig daran gehindert, diejenige Sehenswürdigkeit zu besichtigen, die ihm am meisten am Herzen lag: das Schloss von Versailles.27 Daher richtete er eine offizielle Anfrage an das Kabinett und beauftragte Fürst von Hohenlohe zu prüfen, ob ein kurzer Ausflug nach Versailles in kleinster Be23 24
25 26 27
Vgl. ebd. Siehe auch Po.Be.Bay.Ge.P., 17.8.1867. Vgl. ebenfalls Richter (1985), 149; Nöhbauer (1986), 207. Es kam lediglich zu einer vagen Verabredung zwischen beiden Seiten, dass ein weiteres Ausbreiten Preußens in Deutschland verhindert werden sollte. Jérôme Napoleon, der Neffe des französischen Kaisers, äußerte sich folgendermaßen zu dem Treffen zwischen Napoelon III. und Franz Joseph: „[. . . ] échange d’un procès verbal non signé de conversations assez insignifiantes rédigées par Mr de Beust dans un français douteux où il est surtout question d’une entente vague et d’une conduite commune en Orient.“ Zitiert nach Böhm (1922), 177. Friedrich Ferdinand von Beust war der Außenminister Österreich-Ungarns. Der König bot ihm lediglich eine Übernachtung in bayerischen Staatsgemächern an, worauf der Kaiser jedoch verzichtete. Vgl. Böhm (1922), 179. AMAE, Bavière, Correspondance politique 243, 23.8.67. Siehe auch Böhm (1922), 179; Richter (1985), 10. Kurz nach der Rückkehr aus Paris verlieh er seiner Enttäuschung gleich zwei Mal in seinem Tagebuch Ausdruck. Zwischen dem 29. Oktober und dem 6. November notierte er zunächst „Verlangen Versailles zu sehen“ und am 7. November dann explizit: „Nicht wie vorgehabt nach Versailles“. Evers (1986), 164. Vgl. auch Wörwag-Parizot (1995), 44; Des Cars (1975), 186.
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IV. Spuren des Inkognitos
gleitung und im strengsten Inkognito durchführbar sei. Daraufhin schrieb der Ministerratsvorsitzende am 20. November an das Hofsekretariat des Königs: Ich wüßte kein politisches Bedenken, welches einem kurzen Ausfluge S.M. nach Versailles entgegenstünde. [. . . ] Die Befürchtung, daß die Reise S.M. in einem antinationalen Sinne gedeutet werden könnte, dürfte schwerlich irgendwo und von irgend Jemand gehegt werden. Ob S.M. aber Allerh. Ihr Incognito in Versailles in einer Weise wahren könne, daß der Aufenthalt dem französischen Hofe nicht bekannt würde, vermag ich nicht zu beurtheilen; wäre dies möglich, dann hätte ich durchaus kein Bedenken, wenn S.Maj. den Besuch am kaisl. Hofe unterlassen; wird aber S. Maj. erkannt, wird sofort an den Kaiser berichtet, so dürfte die Unterlassung eines Besuches wohl als eine Unhöflichkeit aufgefasst werden.28
Hohenlohe glaubte, dass eine Visite beim Kaiser vor allen Dingen dann notwendig sei, „wenn S. Majestät die jetzt bestehenden günstigen Beziehungen zum kaisl. Hofe erhalten wissen wollen.“29 In Bezug auf das Inkognito hielt sich Hohenlohe wie schon bei den Reisevorbereitungen im Sommer 1867 in seiner mit großem diplomatischem Geschick formulierten Antwort bedeckt. Letzten Endes kam die Reise 1867 nicht zustande. Drei Jahre später war es an Hohenlohe, eine Reise des Königs nach Versailles vorzuschlagen. Auf Wunsch des bayerischen Kabinetts sollte Ludwig II. zusammen mit den anderen deutschen Monarchen der Gründung des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses beiwohnen. Die Minister erwarteten vom bayerischen König, dem Souverän des nach Preußen zweitgrößten deutschen Staates, dass er dem preußischen König Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone antrage. Ludwig weigerte sich jedoch hartnäckig und nicht einmal Bismarck konnte den bayerischen Monarchen überreden, obwohl er ihm sogar das Trianon im Park des Schlosses zur Verfügung stellte. Im Nachhinein wunderte sich der Reichskanzler: „Das hätte ich auch nicht gedacht, daß ich einmal den Haushofmeister von Trianon spielen würde.“30 Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches brachte Bayern den weitgehenden Verlust seiner staatlichen Souveränität und veränderte damit auch Ludwigs Stellung als König nachhaltig. Er musste seine politische Rolle ebenso wie sein königliches Selbstverständnis neu definieren. Auf seinen Reisen hatte er bereits verschiedene Modelle erprobt. Die Aufenthalte in Bad Kissingen und Bad Schwalbach standen ganz in der Tradition des Ancien Régime: längere, luxuriöse, sorgfältig von der Öffentlichkeit separierte Zusammenkünfte einer kleinen höfisch-monarchischen Gruppe an einem mondänen Ort. Die Reisen in die Schweiz 1865 und 1866 hatte Ludwig als Künstlerkönig unternommen: Mit minimaler Begleitung verfolgte er ungeachtet aller politischen Zwänge ästhetische Ziele. Die Frankenreise nach dem verlorenen Krieg von 1866 entsprach hinge28 29 30
MA 99731, 20.11.1867. Ebd. Zitiert nach Böhm (1922), 289. Siehe auch Kobell (1899), 36.
1. Diplomatische Bedenken
253
gen voll und ganz der Rolle eines konstitutionellen Königs. In einer ständigen Abfolge offizieller Empfänge und Visiten repräsentierte der König den Staat und diente ihm als Integrationsfigur. Auf allen diesen Reisen kam das Inkognito in den verschiedensten Spielarten zur Anwendung. Ludwig interpretierte es dabei äußerst großzügig, instrumentalisierte es opportunistisch und setzte sich teilweise über die zeremonielle Definition hinweg. Erst im Vorfeld der Reise nach Paris 1867 entdeckte Ludwig das offizielle, auf höchster diplomatischer Ebene organisierte Inkognito als ein Mittel, politische Pflichten zu minimieren und private Vergnügen zu maximieren. Während Napoleon III. für ein gemeinsames Bündnis gegen Preußen warb, besichtigte er in aller Ruhe das Schloss Pierrefonds; während der Kaiser ihn eigens in seinem Hotel aufsuchte, spazierte er ungestört über die Weltausstellung und durch die Straßen von Paris. Sein Inkognito sicherte ihn gegen mögliche diplomatische Konsequenzen ab, denn niemand konnte von einem Graf von Berg einfordern, dass er die politischen Pflichten des bayerischen Königs erfülle. Trotzdem konnte der politische Kontext für eine Reise zum Schloss von Versailles nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 nicht ungünstiger sein. Die verheerende Niederlage und die Gefangennahme Napoleons III. erlebten große Teile der französischen Nation als Demütigung, und die anschließende Pariser Kommune war eine weitere traumatische Erfahrung, die das Land noch lange spaltete. Der Besuch des bayerischen Königs, der im Namen aller deutschen Fürsten Wilhelm I. schriftlich die Kaiserkrone angetragen hatte, die dieser im Spiegelsaal von Versailles symbolisch entgegengenommen hatte, bezeichnete ein äußerst heikles diplomatisches Manöver. Dessen ungeachtet teilte Ludwig 1873 dem Schriftsteller Felix Dahn in einer Audienz offen mit: „[. . . ] es ist mein glühendster Wunsch, dorthin [nach Versailles – VB] zu gehen.“31 Im August desselben Jahres informierte er Lorenz von Düfflipp, dass er noch im Laufe des Jahres inkognito nach Versailles zu reisen gedenke. Düfflipp unterrichtete das bayerische Ministerium des Königlichen Hauses und des Äußeren und erkundigte sich bei Gideon von Rudhart, dem neuen Leiter der bayerischen Gesandtschaft in Paris. Dieser machte in seinem Antwortschreiben vom 28. August 1873 keinen Hehl daraus, dass er das Reisevorhaben bei dem derzeitigen „Haß“ der Franzosen für ausgesprochen risikoreich hielt. Wenn überhaupt sei es nur realisierbar, falls der König „incognito“ reise, was der Autor in Anbetracht der Umstände für „nahezu unmöglich zu erreichen“ hielt.32 Daraufhin versuchte Düfflipp, den König von seinen Plänen abzubringen, stieß damit jedoch auf taube Ohren. Obwohl sein eigener Hofstab offensichtlich nicht bereit war, die königlichen Befehle in die Tat umzusetzen, gab Ludwig 31 32
Dahn (1895), 309. Bay. Gesandtschaft 523. Vgl. auch Böhm (1922), 375.
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IV. Spuren des Inkognitos
sein Vorhaben nicht auf. Stattdessen schrieb er am 7. September 1873 an seinen Generaladjutanten Ludwig von der Tann, der ihn bereits 1867 nach Paris begleitet hatte. Der König betonte zunächst die Bedeutung, die das Schloss von Versailles für ihn besaß: Mein lieber General von der Tann! Ich schreibe Ihnen in einer Angelegenheit, die mir ganz außerordentlich am Herzen liegt. – Seit vollen 6 Jahren bin ich von mächtiger Sehnsucht erfüllt einen Reiseplan auszuführen, dessen Verwirklichung bisher leider unmöglich war, den ich aber noch in diesem Monat auszuführen fest entschlossen bin. Was Mekka dem gläubigen Mohamedaner, was Jerusalem dem wahren Christen ist, das ist ,Versailles‘ für mich. Und dahin wünsche ich von Ihnen begleitet zu werden.
Anschließend machte der König den nicht praktikablen und politisch völlig unrealistischen Vorschlag, dass von der Tann die Reise nach Versailles hinter dem Rücken des Hofstabes und des bayerischen Kabinetts für ihn organisiere. Die Reise sollte vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden, was Ludwig wie schon bei seinen Reisen in die Schweiz 1865 und 1866 aus zeremonieller Sicht zu Unrecht als Inkognito bezeichnete: [. . . ] ich verlasse mich fest darauf, daß Sie vor Antritt derselben gegen niemanden etwas von dieser Reise, die ich im strengsten Incognito zurücklegen will, verlauten lassen; sie wird ungefähr 10 Tage in Anspruch nehmen u. nicht vor dem 23. d. M. angetreten werden. – Wenn auch Düfflipp z. B. wegen des jetzt dort herrschenden deutschen Hasses Vorstellungen zu machen sich genöthigt hält, so glaube ich doch mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß wenn die Reisedispositionen mit Klugheit u. Vorsicht getroffen werden, auf den Stationen von meiner Durchfahrt nichts bekannt wird u. an Ort u. Stelle, umso mehr da die Nationalversammlung vertagt ist, nun mehr Ruhe als im Sommer herrscht, nichts zu befürchten sein wird. – In Ihre Hände mein lieber General lege ich vertrauensvoll diese Sache, die mir so sehr am Herzen liegt, lassen Sie Düfflipp gehen und nehmen Sie die Angelegenheit persönlich in die Hand. Bedenken Sie, daß Sie noch nie Gelegenheit hatten mir, Ihrem König, wenn Sie Alles richtig einleiten, eine so große Freude zu machen als die Erreichung dieses meines Lieblingswunsches ist, u. daß ich es Ihnen nie, nie vergessen werde! – Ich erwarte einen Brief von Ihnen in Linderhof zu erhalten, wohin ich mich am 10ten begebe, u. danach am 14ten verlassen werde. Ihr Urlaubsgesuch habe ich vorläufig offiziell genehmigt, da ich nicht wollte, daß der Kriegsminister noch mein Cabinetchef von der Sache etwas erfahren. Ende des Monats kehre ich jedenfalls zurück, so daß Sie die vorgehabte Reise sodann, wenn Sie wollen, unverzüglich antreten können. Wollen Sie sofort unter der Hand die Fahrpläne studieren, und mir sobald als möglich geeignete Vorschläge unterbreiten, ich glaube daß es vielleicht am besten sein dürfte, Starnberg wie anno 67 bei Nacht zu verlassen, Paris nicht zu besuchen könnte ich mich entschließen, wenn dies durchaus räthlich sein sollte; nach ,Versailles‘ aber muß ich, muß ich, auf Ihre Klugheit u. Ihren guten Willen verlasse ich mich felsenfest, ernstlich, u. erfüllt von unerschütterlichem Vertrauen rufe ich Ihnen zu, indem ich die Worte des Psalm auf Sie anwende: ,In te, Domine speravi; non confundar in aeternum.‘33
33
KA.Lud. 07.09.1873. Hervorhebung im Original. Der erwähnte Psalm 71,1 lautet in der deutschen Übersetzung: „Auf Dich, o Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt. In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden.“
1. Diplomatische Bedenken
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Von der Tann erfüllte das in ihn gesetzte königliche Vertrauen nicht. Er wandte sich vielmehr umgehend an Freiherr von Perglas. Da dieser inzwischen nicht mehr als Leiter der bayerischen Gesandtschaft in Paris fungierte, handelte es sich um eine private und nicht um eine offizielle Anfrage. Perglas zeigte sich über den Reiseplan des Königs ebenso bestürzt wie Düfflipp. Zudem versetzten ihn in den nächsten beiden Tagen zwei weitere Schreiben von Rudhart zusätzlich in Alarmbereitschaft. Perglas’ streng vertrauliches Antwortschreiben vom 10. September 1873 an Rudhart, seinen Nachfolger als Pariser Gesandtschaftsleiter, verdeutlicht exemplarisch das diplomatische Dilemma, in welches die geplante Inkognitoreise den königlichen Hofstab, das Münchner Außenministerium und die bayerische Gesandtschaft in Paris stürzte: Verehrtester Legationsrath, die Mitteilungen, welche Eure Hochwohlg. mir in Ihrem geschätzten Briefe vom 8. + 9. diesen Monats zu machen die Güthe hatten, haben – ich gestehe es Ihnen offen – schwere Sorgen in mir hervorgerufen. Bei der Vertraulichkeit Euer Hochwohlg. mit den obwaltenden Verhältnissen glaube ich es nicht nötig zu haben, die Gefahren näher zu beleuchten, welche, wenn Seine Majestät die bewussten Gedanken früher oder später zur Ausführung zu bringen gedächte, Allerhöchstderselben hieraus in persönlicher und politischer Beziehung erwachsen würden. Bei der vertraulichen Natur Ihres Briefes kann ich, solange Sie denselben nicht als einen offiziellen betrachtet wissen wollen, von diesem Inhalt weder unmittelbar Seiner Majestät noch auch gegenüber Herrn von Eisenhart einen Gebrauch machen: Umso weniger möchte ich aber unterlassen, Sie, verehrtester Herr Legationsrath, auf die schwere Verantwortlichkeit aufmerksam zu machen, welcher jedermann unterliegen würde, der bei einem derartigen Vorgang in amtlicher Stellung mitzuwirken veranlasst wäre. Meiner Ansicht nach würden Sie sich daher verpflichtet sehen müssen, falls die Ausführung des Gedankens erneuert werden sollte, hiervon Ihrem vorgesetzten Staatsministerium ungesäumt vorgängige Aussage zu erstatten.34
Das Schreiben beweist, dass Adolph von Pfretzschner, der neue Staatsminister des Äußeren und Vorsitzende des Ministerrats, zu diesem Zeitpunkt noch nichts von Ludwigs Plänen wusste. Die Korrespondierenden hielten Ludwigs Vorhaben für derart delikat, dass sie sogar davor zurückscheuten, es auf dem offiziellen Dienstweg weiterzugeben. Perglas riet dem Legationsrat, dem König erst im äußersten Fall mit einem Machtwort des Kabinetts zu drohen: [. . . ] Ich möchte es demgemäß in Ihrem und meinem Interesse für das Gerathenste halten, wenn Sie Herrn von Düfflipp im Nachgange Ihres Schreibens vom 28. vor. Monats in einem weiterem Briefe, zu welchem Sie die Beweggründe wohl leicht finden können, mittheilen würden: Sie hätten bei wiederholten, reiflichen Erwägungen der Sache die Überzeugung gewonnen, daß wenn die Ausführung des bewussten Gedankens noch in der Allerhöchsten Intention gelegen sei und Sie zu dessen etwaiger Ausführung Aufträge erhalten sollten, Sie es bei der
34
Bay.Ge.P. 523, 10.9.1873. August von Eisenhart war 1870–1876 der Sekretär König Ludwigs.
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IV. Spuren des Inkognitos
obwaltenden eminenten Gefahr für Ihre Pflicht erachten müssten, dem Staatsminister des Äußeren sofortige Mittheilung zu machen. Hierbei könnten Sie noch anführen: Sie glauben sich hierzu gegebenenfalls umso mehr verpflichtet zu fühlen, als, wie Sie die Sache beurtheilen, dieselbe bei ihrer ernsten Natur wohl geneigt wäre, den Minister zu einer Kabinettsfrage zu veranlassen. [. . . ] Noch gebe ich mich übrigens der Hoffnung hin, welche Sie auch in Ihrem Briefe aussprechen, dass der Kelch an uns vorüber geht.35
Der spätestens seit Ludwigs Reise mit den zeremoniellen Implikationen eines Inkognitos vertraute Perglas hielt es nicht für notwendig, auf Ludwigs Vorstellung eines „strengsten Inkognito“ überhaupt einzugehen. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass es aus den verschiedensten Gründen unmöglich war, eine Auslandsreise des Königs geheim zu halten. Doch auch als Düfflipp am nächsten Tag noch einmal beim König vorsprach, hielt dieser unverändert an seinem Vorhaben fest. Düfflipp, der sich inzwischen auch mit von der Tann ausgetauscht hatte, meldete Rudhart am 12. September: „Projekt soll trotz aller Bedenken zur Ausführung gebracht werden.“ Der Diplomat solle sich darauf einstellen, die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Rudhart beschwor Düfflipp am 14. September, dass es in den „allerh[öchsten] Interessen“ sei, den König von der „Reise nach Versailles abzuhalten“. Falls dies wider Erwarten doch nicht gelänge, würde er selbst Ludwig II. begleiten, weigere sich jedoch jegliche „Verantwortung“ zu übernehmen.36 Obwohl Ludwig schließlich auf die Reise verzichtete, beschäftigte das Thema den königlichen Hofstab und den bayerischen Staatsapparat noch bis in den Monat Oktober. Aber auch das französische Außenministerium war über die Pläne des Königs, die dieser unbedingt geheim halten wollte, informiert. Rudhart hatte bei einer Audienz den französischen Außenminister Albert Duc de Broglie auf die Reisepläne des bayerischen Königs angesprochen. Weit gelassener als seine bayerischen Kollegen betonte Broglie in diplomatischer Höflichkeit, dass ein solcher Besuch durchaus „im normalen Geschäftsgang verlaufen“ wäre.37
1.3 Erzwungenes Versailles Ein Jahr später hatte Ludwig II. von Bayern sein Vorhaben, nach Versailles zu reisen, immer noch nicht aufgegeben. 1874 plante er sogar seinen Geburtstag in dem französischen Schloss zu verbringen. Abermals wandte er sich an Lorenz von Düfflipp, obwohl dieser doch bereits zu Beginn des Jahres 1870 von August 35 36 37
Ebd. Ebd., 12.9.1873 Brief Rudharts an Perglas vom 10. Oktober 1873. Vgl. Bay.Ge.P. 523, 10.10.1873.
1. Diplomatische Bedenken
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Eisenhart als Sekretär des Königs abgelöst worden war, und beauftragte ihn zusammen mit General von der Tann die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Der König vergaß nicht hinzuzufügen, dass beide die ein Jahr zuvor in sie gesetzten Hoffnungen bitter enttäuscht hatten. Da die Reise 1873 am Widerstand der Ministerien gescheitert war, wollte Ludwig diesmal eventuelle politische Bedenken gar nicht erst entstehen lassen. Am 17. Juni 1874, mehr als zwei Monate vor der anvisierten Abfahrt, schrieb er an von der Tann: Mein lieber General Freiherr von der Tann! [. . . ] Den Hofrath von Düfflipp habe ich bei Gelegenheit des letzten Vortrages beauftragt, bezüglich der Reise nach Versailles, nach deren Ausführung ich mich mächtig sehne, Näheres mit Ihnen zu besprechen. – Sehr viel liegt mir daran, daß Sie recht bald dem Fürsten Hohenlohe im bewußten Sinne schreiben; u. ihn [wissen] lassen, weder der preußischen, noch bayerischen Regierung, weder Rudhart, noch dem französischen an meinem Hofe beglaubigten Gesandten von meinem Reiseplan Mittheilung zu machen; sollte es nur z. B. in Hohenlohes Pflicht liegen, was allerdings sehr zuwider wäre, seine Regierung von meiner Reise Anzeige zu erstellen, so hoffe ich mit Bestimmtheit, daß es im letzten Moment geschehe, so daß mein Vorhaben nicht in die Öffentlichkeit dringt, u. so vereitelt wird. – Ganz bestimmt glaube ich, daß eine Bearbeitung des Ministers Pfretzschner, wenn sie mit noch so großer Eile u. noch so beharrlich betrieben wird, nicht vom gewünschten Erfolge begleitet sein wird. Unmöglich kann ich vergessen wie ganz und gar taktlos und ängstlich er sich im vorigen Jahre in derselben Angelegenheit benahm.38
Ludwig fürchtete in erster Linie das öffentliche Bekanntwerden seiner Pläne. Nach den Diskussionen um seine Reise nach Paris 1867 und die unterbliebene Reise nach Versailles 1871 war neben den politischen Bedenken seines Kabinetts auch die öffentliche Meinung ein gewichtiger Faktor. Anstatt diese durch die offizielle Ankündung einer Inkognitoreise schon im Vorfeld zu beschwichtigen, startete Ludwig jedoch den wenig aussichtsreichen Versuch, die Planung und die Organisation der Reise auf einen kleinen Personenkreis zu begrenzen. Dazu zählte neben Düfflipp und von der Tann auch Fürst von Hohenlohe. Der frühere bayerische Ministerratsvorsitzende war von Bismarck inzwischen zum deutschen Botschafter in Paris und damit zum wichtigsten deutschen Diplomaten in Frankreich berufen worden. Die Bedeutung der inzwischen von Gideon von Rudhardt geleiteten bayerischen Gesandtschaft war deutlich gesunken. Trotzdem war Ludwigs Hoffnung, eine Reise nach Versailles ohne das Wissen seines eigenen Gesandtschaftsleiters durchzuführen, völlig unrealistisch. Wie bereits 1873 scheiterte der Plan einer geheimen Reise kläglich. Am 4. August 1874 wandte sich die bayerische Gesandtschaft in einem nicht unterzeichneten Schreiben an den bayerischen Außenminister und Ministerratsvorsitzenden von Pfretzschner. Der Autor teilte mit, dass ihn Hohenlohe persönlich davon unterrichtet habe, dass der König in der zweiten Augusthälfte 38
KA.Lud. 425, 17.6.1874. Hervorhebung im Original.
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IV. Spuren des Inkognitos
für circa acht Tage „incognito“ nach Versailles reisen wolle. Obwohl Ludwig Hohenlohe unmissverständlich befahl davon „gegen Niemanden“39 etwas verlauten zu lassen, bat der Botschafter seine diplomatischen Kollegen aus der bayerischen Gesandtschaft um Rat. Zudem schrieb er an Düfflipp und von der Tann und forderte sie auf, anders als 1873, zunächst auf den Reisewunsch des Königs einzugehen. Denn Hohenlohe glaubte, dass Ludwig – wenn überhaupt – nur durch größten politischen Druck umzustimmen wäre. Deswegen hielt es der deutsche Botschafter in Paris in „diesem Stadium der Angelegenheit“ für unumgänglich, Reichskanzler Otto von Bismarck zu informieren. Auch Bismarck sah in dem Vorhaben einen „höchst bedenkliche[n] Reiseplan“, glaubte aber nicht, ihn noch vereiteln zu können.40 Die Versicherung Düfflipps, dass die Reise im „strengsten Inkognito“, in Begleitung einer kleinen Dienerschaft und ausschließlich zur Besichtigung von Paris und Versailles stattfinden würde, konnten weder den deutschen Reichskanzler noch die Diplomaten in Paris besänftigen.41 Mit vereinten Kräften gelang es ihnen immerhin, den König zu überzeugen, dass es unerlässlich sei, den französischen Staat offiziell in Kenntnis zu setzen. Hohenlohe zögerte jedoch den französischen Präsidenten Patrice de Mac Mahon zu unterrichten, da er, wie die bayerische Gesandtschaft in Paris Minister von Pfretzschner berichtete, immer noch hoffte, Ludwig von der Reise abzubringen.42 Erst mit diesem Schreiben der Pariser Gesandtschaft erfuhr der bayerische Regierungschef vom Reisevorhaben seines Königs. Von Pretzschner reagierte erbost und beschwerte sich am 7. August in einem Brief an Rudhart, dass weder von der Tann noch andere Mitglieder des königlichen Hofstabs mit ihm gesprochen hätten. Von Pfretzschner habe dem König inzwischen mehrmals seine Bedenken vorgetragen, Ludwig jedoch „keinesmal“ auf sein Vorhaben verzichtet. Zudem erkundigte sich der bayerische Ministerratsvorsitzende, ob bereits Absprachen mit Graf Édouard Lefebvre de Béhaine, dem Sekretär der französischen Gesandtschaft in Berlin, getroffen worden seien. Von Pfretzschner betonte ausdrücklich, dass er auch nach reiflicher Überlegung die 1873 unternommenen Maßnahmen, „welche Allerhöchstdenselben [Ludwig II. – VB] sicherlich noch in sehr lebhafter Erinnerung stehen“, nicht wiederholen wolle.43 Ohne diese Maßnahmen näher zu charakterisieren, begründete er dies damit, dass diesmal „eventuell“ das Placet Reichskanzler Bismarcks vorliege und von Pfretzschner damit sein „Hauptargument“ verlöre. Damit wird deutlich, dass Ludwigs Reise im Herbst 1873 nicht an der bayerischen, sondern an der 39 40 41 42 43
Bay.Ge.P. 523, 4.8.1874. Hervorhebung im Original. Ebd. Hervorhebung im Original. Vgl. Bay.Ge.P. 523, 4.8.1874. Vgl. ebd. Ebd.
1. Diplomatische Bedenken
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preußischen Regierung gescheitert war. Otto von Bismarck unterband die Reise persönlich, ohne dass seine Intervention schriftliche Spuren in den bayerischen Archiven hinterließ. Nach der Reichsgründung von 1871 benötigte der bayerische König de facto die Erlaubnis des deutschen Reichskanzlers um ins Ausland zu reisen.44 Erst die Diskussionen um Ludwigs Reisevorhaben im Sommer 1874 verdeutlichen, welche Kreise seine Vorjahrespläne gezogen hatten. Von Pfretzschner bestätigte unmissverständlich, dass er genauso wie vor einem Jahr bereit sei, mit seinem Rücktritt zu drohen, falls der König an seinen Plänen festhalte. Wenig optimistisch orakelte er, dass Ludwig bei der Wahl zwischen einem ungeliebten Regierungschef und der Gelegenheit endlich nach Versailles reisen zu können, nicht lange zögern würde. Dazu kam es jedoch nicht. Denn anders als 1873 sah Bismarck diesmal keine Möglichkeit, „S.M. von dem höchst bedauerlichen Reiseplan abzubringen“.45 Von Ludwigs Entschlossenheit überzeugt, veranlasste er stattdessen die aus seiner Sicht notwendigen Maßnahmen. Zunächst wurde Gideon von Rudhardt, der von Juli 1871 bis August 1877 die bayerische Gesandtschaft in Paris leitete, kurzerhand in den Urlaub geschickt.46 Zwar behielt der bayerische Staat auch nach der Reichsgründung das Recht eigene diplomatische Vertretungen im Ausland zu unterhalten.47 Deren Mitarbeiter wurden jedoch in den Rang von „Geschäftsträgern“ zurückgestuft; die letztendliche diplomatische Entscheidungskompetenz lag bei der deutschen Gesandtschaft.48 Diese nahm sich daher das Recht, die Inkognitoreise des bayerischen Königs nach Paris zu organisieren und zu beaufsichtigen. Bismarck wollte die Handlungshoheit in dieser heiklen diplomatischen Angelegenheit nicht den bayerischen Behörden überlassen. Immerhin war Ludwigs Verhältnis zu seinen Beamten äußert angespannt. Stattdessen sollte Fürst von Hohenlohe, der Ludwig seit vielen Jahren kannte und ein relativ gutes Verhältnis zu ihm pflegte, sich des Königs in Paris annehmen. Folgerichtig sollte Ludwig nicht in einem Pariser Hotel, sondern in der deutschen Gesandtschaft übernachten.49 Das französische Außenministerium am Quai d’Orsay zeigte sich über Ludwigs beabsichtigten Besuch alles andere als begeistert. Im Vergleich zum
44 45 46 47 48 49
Ebd., 7.8.1874. Zitiert nach Böhm (1922), 377. Vgl. Reiser (1968), 32. Siehe auch Böhm (1922), 377. Vgl. Kaltenstadler (1971), 715. Reiser (1968), 28, 30. Vgl. Böhm (1922), 375–7. Siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 76. Diese zitiert aus Akten des französischen Außenministeriums: „En somme, tout semble calculé, dans la manière de présenter les faits, pour établir le caractère exclusivement fantaisiste de l’inspiration à laquelle a cédé le Roi en dérogeant à ses habitudes de retraite solitaire.“ Vgl. auch Bay.Ge.P. 523, 9.8.1874.
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IV. Spuren des Inkognitos
üblichen diplomatischen Umgangston fiel die Reaktion auf die Nachricht der deutschen Gesandtschaft ausgesprochen scharf aus: On sera ravi d’être le plus tôt possible débarrassé de la lourde responsabilité qui pèse sur l’administration. Sous quelque rapport qu’on considère le voyage du roi, on doit loyalement reconnaître qu’en ce moment il aurait été préférable qu’il n’eût pas lieu.50
1.4 Unter Aufsicht Selbst die offen ablehnende Haltung des französischen Außenministeriums konnte Ludwig nicht umstimmen. Der bayerische König stieg am Abend des 20. August 1874 in einen Sonderzug nach Paris und blieb bis zum Abend des 27. in der französischen Hauptstadt. Ähnlich wie im vorhergehenden Jahr sprachen zwei Gründe für die Wahl dieses Zeitraums: Erstens befand sich die französische Nationalversammlung im Sommerurlaub; die Legislaturperiode war unterbrochen, und die Mehrzahl der Parlamentsmitglieder hatte Paris verlassen. Dies half, öffentliches Aufsehen zu vermeiden. Zweitens feierte Ludwig II. am 25. August 1874 seinen 29. Geburtstag. Der für die Symbolik der Zeiten äußerst sensible König, der insbesondere gegen Ende seines Lebens seine verschiedenen Aufenthaltsorte während des Jahreszyklus rigoros plante und auf beinahe mystische Art verklärte, wollte diesen besonderen Tag in dem für ihn so bedeutungsschwangeren Schloss verbringen.51 Die Meldung des Bayerischen Kuriers, dass der König seinen Geburtstag wie jedes Jahr auf Schloss Hohenschwangau feiern würde, war nur eine von vielen Fehlinformationen, die im August des Jahres 1874 zirkulierten.52 Weit mehr als bei früheren Reisen wurden der Presse Informationen systematisch vorenthalten. Die Zeitungen ahnten die Reise nach Versailles umso weniger, als am Tag vor Ludwigs Abfahrt der österreichische Kaiser in München angekommen war.53 Ludwig II. hatte Franz Joseph und dessen Sohn, den Kronprinz Rudolph, zuvor in Starnberg getroffen. Die Monarchen waren zu einem kurzen Aufenthalt nach Schloss Berg gefahren, bevor Ludwig die Habsburger nach Possenhofen begleitete, von wo Franz Joseph mit seinem Gefolge nach München fuhr, um von dort auf die Isle of Wight weiter zu fahren.54 Dies war weder der bayerischen noch der französischen Presse entgangen, und als bekannt wurde, dass Ludwig das bayerische Territorium verlassen hatte, entstanden bald Ge50 51 52 53 54
Zitiert nach Fontaine-Bachelier (2006), 104. Vgl. allgemein Rall/Petzet/Merta (1986). Vgl. Bayerischer Kurier 21.8.1874, 4. Vgl. Le Constitutionnel 21.8.1874, 2. Vgl. Münchner Neueste Nachrichten 22.8.1874, 1.
1. Diplomatische Bedenken
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rüchte, der König würde Franz Joseph via Paris nachreisen, um den Aufenthalt dort gemeinsam zu verbringen.55 Erst fünf Tage nach Ludwigs Abreise meldete die Süddeutsche Post: Der König von Bayern ist plötzlich, von der Begegnung mit dem Kaiser von Österreich weg, nach Paris abgereist, ohne dass man hier wusste, welches sein Reiseziel sei. Nicht einmal das Ministerium hatte eine Ahnung davon und erfuhr erst durch den Telegraphen aus Paris die Ankunft des Königs.56
Obwohl die Presse kaum über Informationen verfügte, wiederholte sie unaufhörlich dass die Reise erstens, im strengsten Inkognito, und zweitens, ausschließlich zu künstlerischen Zwecken erfolge. Immer wieder versicherte man, dass Ludwig mit dem Aufenthalt keinerlei politische Absichten verbinde.57 Seinem Inkognito entsprechend reiste Ludwig wie schon 1867 unter dem Pseudonym eines Grafen von Berg und wurde auch in den Presseberichten so bezeichnet.58 So wie andere französische Zeitungen hatte Le Figaro Ludwigs Pseudonym bereits einen Tag vor seiner Ankunft veröffentlicht, und lediglich La Liberté erwartete die Visite eines „Comte de Bary“.59 Le Figaro, der von allen französischen Blättern am besten informiert schien, berichtete exklusiv, dass Ludwig seinen Geburtstag in Versailles verbringen würde.60 Ludwig reiste in kleinster Begleitung. Lediglich Oberstallmeister Graf Maximilian von Holnstein, der Generaldirektor der königlich-bayerischen Eisenbahn Schamberger und vier Diener waren mit von der Partie. Zudem fuhr ein Mitarbeiter der deutschen Gesandtschaft dem König bis an die deutschfranzösische Grenze entgegen. Seinem Inkognito entsprechend trug er einen einfachen Reiseanzug mit einem kleinen, runden Hut sowie eine „grand macfalane“.61 Charles Fontaine, auf den noch einzugehen sein wird, beschrieb Ludwigs Erscheinung folgendermaßen: Le roi Louis de Bavière est d’une taille peu commune. Il est fort, très large d’épaules; il porte la tête très haute, et passe souvent la main dans sa chevelure, qui est abondante et frisée. Il a la figure très pleine, les yeux petits, gris et enfoncés. La barbe est châtain-clair. Il a la moustache et le fer à cheval. La démarche du roi est toute particulière. En marchant, il frappe beaucoup du pied, jette la jambe droite de côté et fait un mouvement des hanches qui semblerait indiquer
55 56
57 58 59 60
61
Vgl. La Presse 23.8.1874, 1, 2; La Gazette de France 24.8.1874, 3. Süddeutsche Post 25.8.1874, 1. Als Ludwig II. bereits im Zug nach Paris saß, spekulierte die bayerische Presse immer noch über dessen eigentliches Reiseziel. Vgl. Bayerischer Kurier 22.8.1874, 3. Vgl. Bayerischer Kurier 23./24.8.1874, 4. Vgl. Süddeutsche Post 23.8.1874, 3; Bayerischer Landbote 23.8.1874, 1, 3. La Liberté 22.8.1874, 1. „[V]enu en France pour un motif assez bizarre“, lebe er seine allseits bekannte Begeisterung für Frankreich aus; „comme on [le] sait d’un caractère romanesque, et la musique de Wagner l’occupe beaucoup plus que la politique“. Le Figaro 24.8.1874, 1. La Gazette de France 23.8.1874, 3.
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IV. Spuren des Inkognitos
chez lui, le fonctionnement du bas du corps s’opère difficilement. Pendant tout le séjour à Paris le roi a porté la même toilette qu’à son arrivé: un paletot sac, en drap bleu, et un pantalon de même couleur. Il porte à sa chemise trois fleurs de lys d’or qui servent de boutons, et qui ont au moins trois centimètres de longueur.62
In Begleitung zweier Gesandtschaftsangestellter empfing Hohenlohe Ludwig am Pariser Gare de l’Est. Obwohl sich auch einige Schaulustige eingefunden hatten, kam es zu keinen Zwischenfällen.63 Dies lag nicht zuletzt daran, dass auch die französische Polizei die Ankunft des Königs erwartete. Die Süddeutsche Post sprach sogar von 20 bis 30 französischen „Polizeidienern“, womit, wie die Gazette de France richtig stellte, die Brigade de gardiens de la paix gemeint war.64 Die einigen aufmerksamen Beobachtern auffallende Abwesenheit des bayerischen Gesandtschaftsleiters Rudhardt wurde durch eine plötzliche Erkrankung erklärt.65 Hohenlohe begleitete Ludwig unmittelbar in die deutsche Botschaft in der Rue de Lille am linken Ufer der Seine.66 Rudolf Lindau, der den Aufenthalt wenig später in einem Artikel für die Zeitschrift Die Gegenwart detailliert beschrieb, berichtete: „Der König von Bayern hatte den Entschluß zur Reise so schnell gefaßt, daß sein Incognito am ersten Abend wenigstens ein vollständiges war.“67 Dieses literarische Manöver sollte das Interesse für den Reisebericht steigern. Hohenlohe schrieb dagegen noch am selben Abend in diplomatischer Mission beruhigend nach München, dass die französische Presse Ludwigs Ankunft „in taktvoller Weise besprochen“ habe.68 Dies verdeutlicht die Meldung von Le Constitutionnel: Ce souverain, qui ne peut pas manquer de recevoir en France l’hospitalité la plus courtoise et la plus chaleureuse, pourra apprécier les efforts virils d’une nation résolue à réparer ses malheurs, en dépit des ses dissensions. Notre pays, en restant fidèle à ses traditions, saura mériter l’estime et la sympathie de son hôte auguste. [. . . ] C’est un amateur éclairé des arts est un littéraire distingué.69
Da Bismarck Hohenlohe beauftragt hatte, den König in Paris zu begleiten, 62
63 64 65 66
67 68 69
Fosca (1940), 43f. François Fosca veröffentlichte 1944 in Paris und Genf ein heute kaum mehr zu findendes Buch mit dem Titel Louis II de Bavière inconnu. Dieses stützt sich in weiten Teilen auf die Berichte von Charles Fontaine, die ausführlich zitiert werden. Siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 67. Vgl. Süddeutsche Post 26.8.1874, 2; Münchner Neueste Nachrichten 23.8.1874, 2. La Gazette de France 23.8.1874, 3; siehe auch Süddeutsche Post 26.8.1874, 2. Außerdem war der Bahnhofschef anwesend. Vgl. L’Évènement 23.8.1874, 1; La Gazette de France 23.8.1874, 3. Vgl. Curtius (1907), Bd. 2, 131f. Eintrag vom 22.8.1874. Siehe auch Süddeutsche Post 26.8.1874, 2; Münchner Neueste Nachrichten 23.8.1874, 2; L’Évènement 23.8.1874, 1; Le Moniteur universel 23.8.1874, 2; La Gazette de France 23.8.1874, 3. Siehe außerdem Bainville (1985), 164. Zitiert nach Böhm (1922), 379. Bay.Ge.P. 523, 21.8.1874. Le Constitutionnel 22.8.1874, 1.
1. Diplomatische Bedenken
263
wurde der bayerische Gesandtschaftsleiter Gideon von Rudhardt das erste politische Opfer der Reise König Ludwigs II. von Bayern. Seine diplomatische Stellung war nach seiner Rückkehr nach Paris stark geschwächt, und er erhielt keine Einladungen mehr zu Diners beim französischen Präsidenten.70 Für Rudolf Lindau, den Pressereferent der deutschen Botschaft in Paris, avancierte die Reise des bayerischen Königs hingegen zum Karrieresprungbrett.71 Der am 10. Oktober 1829 geborene Sohn eines preußischen Justizkommissars hatte seine Ausbildung u. a. am Pariser Lycée Bonaparte genossen und bereits in seiner Jugend als Diplomat im Fernen Osten gearbeitet. Durch Veröffentlichungen in der prestigeträchtigen Revue des Deux Mondes begann er früh eine erfolgreiche literarische Karriere. Nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als Berichterstatter im Krieg von 1870/71 unterhielt er hervorragende Verbindungen zur französischen Presse und insbesondere zu Le Figaro, so dass angenommen werden kann, dass er dem Blatt gezielt Informationen zuspielte. Die übereinstimmende Betonung des durch und durch unpolitischen Charakters der Reise, wodurch potenzielle diplomatische Konflikte bereits im Vorfeld entschärft werden sollten, war das Ergebnis sorgfältiger Pressearbeit. Lindau pflegte zudem nicht nur ein enges Verhältnis zu seinem Vorgesetzten Hohenlohe, sondern auch zu Ludwigs Begleiter Graf von Holnstein, dem er 1878 als Referent der Presseabteilung in die Politische Abteilung des Auswärtigen Amtes folgte.72 Obwohl Ludwig allen offiziellen Anlässen gezielt aus dem Weg ging, war sein einwöchiger Parisaufenthalt diplomatisch äußerst heikel. Er erforderte außer einer ununterbrochenen Beaufsichtigung durch die Pariser Gesandtschaft auch eine systematische und sorgfältige Pressearbeit. Für den französischen Staat brachte die Visite des bayerischen Königs in erster Linie einige Sicherheitsbedenken mit sich. Deswegen wurde Ludwig, wie aus den Akten der Pariser Préfecture de Police hervorgeht, während seines Parisaufenthalts durchgehend von Charles Fontaine, einem französischen Polizeibeamten, überwacht.73 Sein am 31. August 1874 eingereichter, offizieller Abschlussbericht zählt zu den wichtigsten Quellen der königlichen Inkognitoreise.74 Fürst Hohenlohe, 70 71 72 73 74
Vgl. Reiser (1986), 32. Lindau war offiziell Attaché für Handelsangelegenheiten, sollte aber in erster Linie das Verhältnis zur Presse steuern. Vgl. Naujoks (1972), 317. Vgl. Hillenbrand (2007), XIII. Vgl. Archives de la Préfecture de Police (im Folgenden abgekürzt mit APP), Ba 1.120, 29.8.1874. Siehe dazu ausführlich Fosca (1944). Zwischen dem 31. Juli und dem 3. Oktober 1874, also während der Ferien der Nationalversammlung und damit auch während der Reise Ludwigs erhielt das bayerische Außenministerium keine politischen Berichte aus Frankreich. Vgl. Politische Berichte aus Frankreich (im Folgenden abgekürzt mit Po.Be.Fr.) 1874. Die Berichte des Pariser Polizeipräfekten für das Jahr 1874 fehlen im APP.
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IV. Spuren des Inkognitos
dessen Tagebuchaufzeichnungen eine weitere wichtige Quelle darstellen, hielt es jedoch nicht für angebracht, den französischen Polizisten zu erwähnen.75 Während die Behörden auf beiden Seiten des Rheins in Alarmbereitschaft versetzt waren, genoss der König unbeschwert seinen Aufenthalt. „Heute früh hat er sich ein Bad bestellt und als besonderen Spaß das Frühstück in dem kleinen türkischen Kabinett neben dem Bad [genommen].“76 Am Nachmittag des 22. August 1874 ging es dann „im strengsten Incognito“ endlich nach Versailles.77 Die Besichtigung des Schlosses gestaltete sich allerdings schwieriger als erwartet. Immerhin war die Residenz Ludwigs XIV. zu diesem Zeitpunkt auch der Sitz der sich in der Legislaturpause befindenden französischen Nationalversammlung. Schloss und Parlament wurden von unterschiedlichen Behörden verwaltet und so führten zwei verschiedene Personen Ludwig über die Anlage. Während Monsieur Baze, der Quästor der Assemblée nationale, das königliche Inkognito respektierte und Ludwig mit „Sire“ ansprach, befolgte Commandant Gandry, der für den Schlossbereich zuständige Régisseur du palais, diese Regel nicht. Er titulierte den Graf von Berg durchgängig mit „Majesté“.78 Trotzdem berichtete die Allgemeine Zeitung: Überhaupt muß anerkannt werden, dass die Haltung der französischen Beamten und der französischen Presse dem König gegenüber den höchsten Erwartungen entspricht, welche man bei Gelegenheit der Incognito-Reise des Souveräns einer befreundeten Nation zu stellen berechtigt wäre.79
1.5 Sprudelnde Quellen Der Begleitpolizist Fontaine betont in seinen Berichten, dass der deutsche Botschafter Hohenlohe nachdrücklich auf die Einhaltung des Inkognitos drängte. Insbesondere jeder Kontakt mit der Öffentlichkeit sollte so weit wie möglich vermieden werden.80 Der Graf von Berg musste davon nicht eigens überzeugt werden. Am 23. August 1874 bewunderte er neben der Concièrgerie, der Sorbonne, dem Panthéon und der Sainte Chapelle auch „verschiedene andere Merkwürdigkeiten“ und wollte schließlich die nicht fertig gestellte neue Oper von Charles Garnier besichtigen. Dort hieß ihn der Inspecteur des travaux
75 76 77 78 79 80
Vgl. Curtius (1907), Bd. 2, 132ff. Eintrag vom 22.8.1874. Curtius (1907), Bd. 2, 132. Münchner Neueste Nachrichten 25.8.1874, 3. Fosca (1944), 53–5. Siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 70. Allgemeine Zeitung 26.8.1874, 4. Vgl. Fosca (1944), 41.
1. Diplomatische Bedenken
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du monument willkommen.81 Das Musée de Cluny, „in welchem am Sonntag ein ungemein zahlreiches Publikum verkehrte, ohne die Anwesenheit des königlichen Gastes zu bemerken“, war ebenfalls Teil der Visite.82 Erst am Abend kam es zu einem kleinen Zwischenfall, den Hohenlohe in seinem Tagebuch überliefert: Als wir an den Invalidendom kamen, wollten wir eben aussteigen, als der König erfuhr, daß der Kommandant, nicht der Gouverneur ihn erwartete. Da er nun gegen solche Empfangsfeierlichkeiten einen ganz besonderen Abscheu hat, so ließ er umkehren und fuhr in scharfem Trabe nach Hause.83
Am Abend ging Ludwig seinen Gewohnheiten entsprechend ins Theater.84 Am 24. August, dem Vorabend seines Geburtstags, brach er zusammen mit Holnstein und dem unvermeidlichen Fontaine erneut nach Versailles auf, um dort die Nacht zu verbringen. Auf dem Weg dorthin erkundigte sich Holnstein vorsichtig, ob es für den König nicht doch denkbar sei, einen offiziellen Empfang in der deutschen Botschaft zu geben. Die Antwort war eindeutig: Unterwegs schlug ihm dieser [Holnstein – VB] vor, am anderen Tage ein Diner in der Botschaft zu gestatten, bei welchem die Mitglieder der Botschaft zugezogen werden sollten. Der König ging aber darauf nicht ein, sondern erklärte, dann wolle er lieber ganz in Versailles bleiben und gar nicht nach Paris zurückkehren, worauf Holnstein den Gegenstand nicht weiter berührte.85
Außer der französischen Polizei in Gestalt von Charles Fontaine heftete sich auch die französische Presse an Ludwigs Fersen. Die verschiedensten Blätter berichteten täglich über die Inkognitoreise des bayerischen Königs. Insbesondere dessen Ausflug nach Versailles bot sowohl der französischen als auch der bayerischen Presse einigen Gesprächsstoff.86 Trotzdem hoffte Ludwig gerade hier, etwas von der ersehnten Ruhe zu finden. Als Graf von Berg besichtigte er die Grands Appartements ebenso ausführlich wie ungestört und begab sich anschließend ins Hôtel des Réservoirs, das Ludwig XIV. seinerzeit für seine Maitresse Madame de Pompadour errichten ließ. Dort dinierte und übernachtete der bayerische König.87 Am Morgen seines Geburtstages kam es dann zum Höhepunkt der zweiten Frankreichreise König Ludwigs II. von Bayern. Auf Befehl von Eugène Cail81 82 83 84 85 86 87
Vgl. Curtius (1907), 132. Siehe auch Bayerischer Kurier 28.8.1874, 1; La Liberté 25.8.1874, 2. Für eine Beschreibung von Ludwigs Einkäufen siehe Fontaine-Bachelier (2006), 81. Bayerischer Kurier 28.8.1874, 1. Die Menschenmenge störte Ludwig jedoch sehr, wie Charles Fontaine notierte. Vgl. Fosca (1944), 73. Eintrag vom 24.8.1874. Curtius (1907), Bd. 2, 132. Vgl. ebd. Siehe auch Fosca (1944), 77; Fontaine-Bachelier (2006), 78–80. Eintrag vom 24.8.1874. Curtius (1907), Bd. 2, 132. Vgl. La Presse 24.8.1874, 1; Le Moniteur universel 24.8.1874, 2; Allgemeine Zeitung 25.8.1874, 1. Vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 75, 82.
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IV. Spuren des Inkognitos
laux, dem französischen Minister für öffentliche Arbeiten, nahmen die Schlossbediensteten die weltberühmten Brunnen im Park von Versailles in Betrieb und ließen für den Graf von Berg die so genannten großen Wasser, die Grands eaux, spielen.88 Fontaine berichtet, dass der König allerdings gewisse Ängste gehegt habe, diesen Wunsch mit einer offiziellen Anfrage gezielt auszusprechen.89 Immerhin drohte jede offizielle Anfrage seinen Inkognito-Status in Frage zu stellen. Während am Abend auf dem Münchner Marienplatz ein Geburtstagskonzert zu Ehren des Königs erklang, stolzierte dieser um elf Uhr vormittags durch den Schlosspark von Versailles. „Man hatte eine sichere Stunde gewählt, um den Zudrang einer neugierigen Volksmenge zu vermeiden.“90 Der Directeur des Eaux, Monsieur Dufrayer, leitete das Spektakel, zu dem trotz der frühen Stunde einige Dutzend Schaulustige erschienen waren. Der aufmerksame Charles Fontaine bemerkte, dass, obwohl hier nur ein Graf von Berg zu sehen war, die Menge beim Anblick Ludwigs artig die Hüte absetzte.91 Einmal mehr war auch die französische Presse anwesend: On nous assure que la population versaillaise s’est dispensée d’aller assister à ce spectacle et que le souverain étranger, notre hôte, s’y est trouvé à peu près seul, si nous en exceptons, le personnel de sa suite et quelques étrangers qu’avait attirés la curiosité.92
Am Nachmittag kam es schließlich zu einem eilig improvisierten, circa 45-minütigen Treffen des bayerischen Königs mit dem französischen Außenminister Louis Duc de Decazes. Hohenlohe, der nachhaltig beim widerwilligen König für diese Unterredung geworben hatte, gelang es also zumindest zeitweise, den König zur politischen Räson zu bringen. Zwei Gründe machten dieses Treffen letzten Endes unumgänglich. Erstens wusste die französische Regierung von dem Aufenthalt Ludwigs, verhielt sich durchaus konziliant und hatte die nötigen Vorkehrungen getroffen, um einen reibungsfreien Ablauf sicherzustellen. Immerhin wurde mit Charles Fontaine sogar, auch wenn dies bei Weitem nicht nur aus der Sorge um gute Gastfreundschaft motiviert war, ein eigener Beamter für den bayerischen König abgestellt. Eine Höflichkeitsvisite bei einem hohen Regierungsmitglied war dafür eine auf diplomatischem Parkett übliche Gegenleistung. Dass diese dem Außenminister und nicht dem Regierungschef Mac Mahon abgestattet wurde, lag in der Tatsache begründet, dass Letzterer sich nicht in Paris aufhielt, was außer dem königlichen Geburtstag und den Ferien der Nationalversammlung ein weiterer Grund für den gewählten Reisetermin gewesen war. Diese auch unter dem zeremoniellen Deckmantel des Inkognitos
88 89 90 91 92
Vgl. L’Univers 25.8.1874, 4. Vgl. Fosca (1944), 46. Münchner Neueste Nachrichten 26.8.1874, 1. Vgl. Fosca (1944), 81. Siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 83. La Presse 27.8.1874, 1.
1. Diplomatische Bedenken
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unumgängliche, kurze Visite erfüllte die minimalen offiziellen Notwendigkeiten der Reise. Zweitens wäre ein demonstrativer Verzicht auf eine Unterredung besonders negativ aufgefallen, da sich der Wohnsitz des französischen Außenministers, das Petit Trianon, im Park des Schlosses von Versailles befand. Dort fand das Treffen auch statt. Selbst dem Graf von Berg fiel kein überzeugender Grund ein, um auf den kurzen Spaziergang zum Schlossannex zu verzichten. Ähnlich wie 1867, als ihn der französische Kaiser Napoleon III. in Morgentoilette empfangen hatte, spiegelte sich das Inkognito diesmal im Ort des Empfangs wider, dessen Wahl nicht nur aus pragmatischen Überlegungen resultierte. Während ein bayerischer König im Amtssitz des Außenministeriums am Quai d’Orsay empfangen werden musste, konnte der inkognito reisende Graf von Berg dem Reisezeremoniell entsprechend in der eher privaten Atmosphäre am Wohnort des Ministers willkommen geheißen werden.93 Am Abend seines Geburtstags fuhr Ludwig zurück nach Paris und ging wie immer ins Theater. An den beiden darauf folgenden Tagen besichtigte er das Schloss von Fontainebleau, einige weitere Pariser Sehenswürdigkeiten, wie den Louvre und eine Trachtenausstellung im Palais de l’Industrie, tätigte kostspielige Einkäufe und fuhr noch einmal an den Invalidendom, der ihm offensichtlich keine Ruhe ließ.94 Am Abend des 27. August, kurz vor seiner Abreise, überreichte er dem Präfekten des Departements de la Seine, ganz nach aristokratischer Tradition, eine Spende von 4000 Francs für die Armen von Paris.95 Seinen Auftrag bis zuletzt gewissenhaft ausführend, begleitete Charles Fontaine den König bei dessen Abreise bis an die französisch-deutsche Grenze. Der Graf von Berg hatte die diskrete Zurückhaltung des französischen Polizisten wohlwollend aufgenommen und schien mit der Beachtung seines Inkognitos alles in allem zufrieden. Als sich die beiden an der Grenzstation voneinander verabschiedeten, verlieh ihm Ludwig für seine Bemühungen den bayerischen Verdienstorden.96
93
94 95 96
Der Inhalt des Gesprächs zwischen Ludwig, dem französischen Außenminister und dem am Morgen nachgekommenen Hohenlohe ist nicht überliefert. Vgl. Eintrag vom 28.7.1874. Curtius (1907), Bd. 2, 131; Münchner Neueste Nachrichten 27.8.1874, 2; Bayerischer Kurier 27.8.1874, 4; Le Moniteur universel 27.8.1874, 3. Vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 90–5. Vgl. Münchner Neueste Nachrichten 30.8.1874, 2. Siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 86. Vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 106.
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IV. Spuren des Inkognitos
1.6 Orchestrierte Informationen Auch die zweite Frankreichreise des Grafen von Berg führte weder zu politischen Ergebnissen noch zu diplomatischen Konflikten. Während Ludwig 1867 die Offerten Napoleons III. höflich ignorierte und dessen Werben um ein bilaterales Bündnis widerstand, bestand die Schwierigkeit der Reise von 1874 vor allen darin, keine negativen Reaktionen seitens der französischen Öffentlichkeit zu provozieren. Trotz der delikaten Umstände kam es weder auf diplomatischer Ebene noch in der Presse zu einem Eklat. Neben durchaus verständnisvoll-beschwichtigenden Kommentaren zur Reise des bayerischen Monarchen fanden sich allerdings einige französische Presseberichte, die zwar nicht offen feindselig, jedoch in einem sarkastisch-süffisanten bzw. ungläubig-staunenden Ton gehalten waren. Le Constitutionnel amüsierte sich, dass man in München lange nicht genau gewusst hatte, wo sich der eigene König befand. Einige hatten – in deutlicher Verkennung der königlichen Interessen – einen Besuch der Schlachtfelder bei Metz gemutmaßt, andere glaubten er sei zum österreichischen Kaiser auf die Isle of Wight gereist.97 Nachdem Ludwigs Ankunft in Paris publik geworden war, spekulierten verschiedene französische Blätter, der König bliebe zumindest solange in der Hauptstadt, bis Marschall Mac Mahon aus dem Urlaub zurückkehre.98 La Presse hingegen beurteilte die aus dem Inkognito resultierende diplomatische Situation genau richtig. Ludwig „a voulu laisser à son voyage de Paris son véritable caractère de voyage de touriste. [. . . ] il aurait rendu une visite au maréchal de Mac Mahon et dès lors ce voyage prenait un caractère politique que le souverain de Bavière voulait absolument éviter.“99 Am Tag nach Ludwigs Abreise begab sich Hohenlohe zu Mac Mahon, um ihm im Namen der deutschen Diplomatie zu erklären, warum es dem bayerischen König nicht möglich gewesen war, zumindest noch einen Tag auf den französischen Regierungschef zu warten. Immerhin war Ludwigs Abreise am Vorabend von Mac Mahons Rückkehr diplomatisch nicht gerade feinfühlig. Auch der wieder nach Paris zurückgekehrte bayerische Gesandtschaftsleiter Rudhart beeilte sich einige Tage später, Mac Mahon zu treffen, wobei dieser diplomatisch konziliant sein Verständnis äußerte für „die politischen Gründe, die es ihm [Ludwig – VB] besser erscheinen ließen, mir aus dem Wege zu gehen“.100 Rudhart war sein erzwungener Abzug aus Paris während des Aufenthalts des 97
98 99 100
Vgl. Le Constitutionnel 27.8.1874, 2, und 28.8.1874, 2, 3; Le Moniteur universel 28.8.1874, 3. „Le roi Louis a gardé un complet incognito, durant son sejour au milieu de nous, et n’a jamais reçu aucun personnage officiel.“ L’Évènement 29.8.1874, 1. Vgl. L’Évènement 24.8.1874, 1; Le Constitutionnel 25.8.1874, 2. La Presse 29.8.1874, 1. Reiser (1968), 32. Siehe auch Böhm (1922), 383.
1. Diplomatische Bedenken
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bayerischen Königs sauer aufgestoßen. Noch am Tag seiner Rückkehr an die Seine schrieb der Legationsrat vertraulich an den ebenfalls von seinem Ausschluss von den Reisevorbereitungen wenig begeisterten Minister von Pfretzschner. Laut Rudhart kann es nur als ein wahres Wunder gehalten werden, dass der Aufenthalt Seiner Majestät des Königs in Paris und Versailles ohne Störung vor sich gehen konnte [. . . ]. Seine Majestät nicht entfernt zu ahnen scheinen, welchen Eindruck er auf einen Theil der Franzosen hervorgebracht hat.101
Des Weiteren sprach Rudhart von „böswilligen Artikeln“ in der französischen Presse, die Pretzschner, wie er in seinem Antwortschreiben mitteilte, „bald gefälligst“ zu sehen wünschte.102 „Böswillig“ war in Anbetracht der nur drei Jahre zurückliegenden deutschen Besatzung und der daraus resultierenden Demütigung des französischen Nationalstolzes ein durchaus übertriebener Ausdruck. Einige Blätter ließen sich lediglich zu dem einen oder anderen Seitenhieb hinreißen. So z. B. La Presse: Le roi de Bavière va visiter successivement toutes les anciennes résidences impériales, tous les châteaux des environs de Paris. Il a visité avant-hier Fontainebleau. Ces jours-ci, il doit examiner en détail le musée du château de Saint-Germain-en-Laye. Il est un palais pourtant que sa Majesté de Bavière ne pourra visiter en France. C’est celui de Saint-Cloud. Ses alliés les Prussiens y ont mis bon ordre!103
Andere Zeitungen, wie L’Événement, kritisierten vor allem, dass die Versailler Wasser nicht nur für einen deutschen Fürsten, sondern noch dazu auf Kosten der französischen Staatskasse geflossen waren: Enfin, le roi Louis de Bavière demande que, par faveur spéciale, nous fassions jouer les grandes eaux de Versailles à son intention. Pardon, sire, mais je croyais que vous aviez touché votre part de cinq milliards dont M. de Bismarck nous a si lestement débarrassés! Votre Majesté ne pourrait-elle prendre quelques billets de mille sur cette forte somme pour faire jouer les grandes eaux à ses frais? Ce serait bien juste, il me semble. Mais non, nous ne savons rien refuser à nos ennemies. Le roi Louis de Bavière aura ses grandes eaux sur notre pauvre cassette!104 101 102 103 104
Bay.Ge.P. 523, 29.9.1874. Ebd., 3.10.1874. Hervorhebung im Original. La Presse 28.8.1874, 3. Das Schloss St. Cloud wurde im Krieg 1870/71 von den Deutschen zerstört. L’Évènement 28.8.1874, 1. Der Artikel beginnt folgendermaßen: „Nous sommes décidément un peuple de bien bons enfants. Le roi Louis de Bavière vient nous rendre visite pour examiner nos curiosités historiques ou artistiques. Nous lui livrons toutes les curiosités dont nous disposons. Il veut voir nos musées; nous lui ouvrons nos musées. Il veut connaître nos bibliothèques et nos collections; nous lui faisons faire toutes les connaissances qu’il désire!“ Die angesprochene Summe von fünf Milliarden bezieht sich auf die deutschen Reparationsforderungen an Frankreich. Vgl. dazu auch den Artikel von Edmond About in Le XIX e siècle. „La France ne doit rien a un prince dont les sujets ont bombardée et pilée en 1870, sans provocation ni grief légitime, car depuis la fondation du royaume de Bavière par Napoléon Ier, nous n’avons fait aucun mal aux Bavarois. La France n’attend
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IV. Spuren des Inkognitos
Es gibt jedoch einige Hinweise, dass die letztendlich glimpflich verlaufende Berichterstattung der französischen Presse auch auf eine sorgfältig orchestrierte Pressearbeit der deutschen Botschaft in Paris, für die Rudolf Lindau verantwortlich zeichnete, zurückzuführen ist. So zitierte der Bayerische Kurier die Allgemeine Zeitung, welche sich wiederum auf ein nicht namentlich genanntes französisches Blatt stützte, mit der Aussage, die Reise Ludwigs wäre „in diesem Augenblick besser unterblieben“, eine Aussage, die sich beinahe wörtlich in den Akten des Bayerischen Außenministeriums findet.105 L’Illustration war der Meinung, dass Ludwig „vient visiter notre ville comme un musulman va à la Mecque“, und benutzte damit genau den gleichen Ausdruck, den Ludwig zu Beginn seiner Reiseplanungen gegenüber General von der Tann gebraucht hatte.106 Lindaus geschickter Umgang mit der französischen Presse trug maßgeblich dazu bei, dass Ludwigs zweite Parisreise in Frankreich nicht zur nationalen Provokation hochstilisiert wurde.107 Immerhin zeigte die nur ein Jahr später von Bismarck in der deutschen Presse heraufbeschworene Krieg-in-Sicht-Krise, wie angespannt das deutsch-französische Verhältnis tatsächlich war. Während der Großteil der französischen Presse den etwas seltsamen bayerischen König zumeist belächelte, mehrten sich im Deutschen Reich die „Zweifel an der Wahrhaftigkeit des nationalen Patriotismus“ des Königs.108 Versailles hatte Ludwig II. von Bayern so stark beeindruckt, dass er schon Mitte September 1874 mit dem Gedanken spielte, gleich noch einmal dorthin zu fahren. Die französische Presse hatte die abermalige Reise sogar schon ihren Lesern mitgeteilt und war dabei soweit gegangen, ein genaues Ankunftsdatum anzugeben.109 Abermals korrespondierten Pfretzschner und Rudhart
105 106
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rien du roi Louis, il ne peut rien pour notre service, car il s’est livré pieds et poings liés à la Prusse, et il ne plus un satellite de l’astre qui brille à Berlin. Sans doute il est en paix avec nous, comme toute la Confédération germanique; il est donc libre d’aller et de venir sur le territoire français et même de contempler, en amateur du pittoresque, les ruines que ses soldats y ont laissées. Mais qu’une autorité française lui fasse les honneurs du pays et qu’à la politesse obligée on ajoute de bonnes grâces et des faveurs exceptionnelles, voilà ce que l’esprit national ne saurait voir sans étonnement.“ Le XIX e siècle 29.8.1874, 1. Bayerischer Kurier 29.8.1874, 1. L’Illustration 29.8.1874, 3; „[. . . ] c’est un Versailles romantique dont il veut doter la Bavière, obéissent ainsi au mot si fin qu’il disait hier: Je ne suis pas le roi soleil, moi, je suis le roiclair-de-lune.“ Le Figaro 29.8.1874, 2. Derselbe Artikel erschien auch in Le Constitutionnel. Vgl. Prinz (1993), 45. Lampert (1890), 143f. Siehe auch Le Constitutionnel 29.8.1874, 2; Curtius (1907), Bd. 2, 133. Eintrag vom 31.8.1874. Ludwigs anscheinend fehlender Patriotismus wurde schließlich auch als ein Symptom seiner Geisteskrankheit interpretiert. Vgl. MKH 200. Vgl. Bay.Ge.P. 523, 29.9.1874. Genannt werden die französischen Blätter Le Fou vom 26.9.1874 und Le Petit Journal vom 28.9.74. Am 3. Oktober teilte Pfretzschner Rudhart mit, dass er aus vertraulicher Quelle erfahren habe, dass der König den Plan für eine erneute Reise nach Paris im Herbst des Jahres aufgegeben habe. Vgl. ebd. 3.10.1874.
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besorgt über die nicht enden wollenden Reisegelüste ihres Monarchen. Zwar ließ Ludwig diesen Plan ebenso schnell wieder fallen, wie er ihn aufgebracht hatte. Doch spätestens ab diesem Zeitpunkt nahmen die Gerüchte um tatsächliche, angebliche und durch und durch fiktive Reisen des Königs kein Ende mehr. Cosima Wagner erfuhr aus der Zeitung, dass Ludwig unmittelbar nach der nächsten Wagner Aufführung in Bayreuth nach Indien reise, und noch Jahre später berichtete der französische Schriftsteller und Mitglied der Académie française Maurice Barrès seinen Lesern, wobei er behauptete, sich auf Tatsachen zu stützten, dass der bayerische König als einsamer Inkognitoreisender im Pariser Stadtteil Montmartre geweilt habe, um dort in seinem Lieblingscafé von der allzu anstrengenden Politik auszuspannen.110
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„In der Zeitung steht die Nachricht, daß der König bloß die Aufführungen in Bayreuth abwarte, um eine Regentschaft einzusetzen und eine Reise nach Indien vorzunehmen.“ Wagner (1976), 855. Eintrag vom 2.10.1874. In Maurice Barrès: L‘ennemi des lois. Vgl. Fosca (1940), 35.
2. Der unsichtbare König 2.1 Auf den Spuren Jeanne d’Arcs Am 22. August 1875 nahm Ludwig II. von Bayern eine große Truppenparade vor der Münchner Feldherrnhalle ab. Es war die letzte, welcher der noch nicht einmal 30-jährige König in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Armee vorstand. 14 000 Soldaten defilierten unter dem militärischen Kommando Generals von der Tann, Ludwigs Generaladjutant und treuen Reisebegleiters, durch die Straßen der Hauptstadt. Nach vielen Jahren übte sich Ludwig bei dieser Gelegenheit wieder einmal in seiner Rolle als konstitutioneller König. In der Uniform eines Marschalls gekleidet zeigte er sich seinem Volk, stand auf symbolische Weise der Armee und damit dem bayerischen Staat vor und erfüllte so die ihm von der Verfassung auferlegten Pflichten eines Königs von Bayern.1 Aber auch dieses öffentliche Gebaren blieb Episode. Zwei Tage später veröffentlichte die Allgemeine Zeitung eine erst kurz vor Redaktionsschluss eingetroffene Meldung: Wie wir vernehmen, ist seine Majestät der König heute Abend mit dem Pariser Schnellzug im strengsten Incognito mit dem Oberststallmeister Grafen v. Holnstein sowie dem Generaldirectionsrath Schamberger über Straßburg nach Reims zu mehrtägigem Aufenthalt abgereist. Se. Maj. wird Freitag Nachts wieder in Schloß Berg zurückerwartet.2
Wie bereits ein Jahr zuvor verreiste der bayerische König gerade zu dem Zeitpunkt, als seine Subjekte damit beschäftigt waren, die Feierlichkeiten für Ludwigs am 25. August anstehenden Geburtstag zu organisieren. Zum dritten und letzten Mal in seinem Leben zog es den König nach Frankreich. Gottfried Böhm, ab 1898 Vorstand des Geheimen Hausarchivs der Wittelsbacher, geht davon aus, dass die Truppenparade allein dazu diente „der öffentlichen Meinung vorher eine Konzession zu machen, um sich ihre stillschweigende Zustimmung zu dieser neuen, ihr so sehr widersprechenden Fahrt zu sichern.“3 Die internationale Presse wusste auffallend früh Bescheid.4 Die Nachrichtenagentur Correspondance Wetzstein informierte ihre Kunden noch am Tag 1
Vgl. Böhm (1922), 384. Allgemeine Zeitung 24.8.1875, Beilage, 5. 3 Böhm (1922), 384. 4 Immerhin hatte Ludwig nicht einmal die Wagners über das genaue Ziel seiner Reise informiert. Vgl. Wagner (1976), 931. L’Univers verkündete am Morgen des königlichen Geburtstags Ludwigs Abreise und spekulierte, dass er sich wahrscheinlich zwei Wochen in Reims aufhalten werde. Vgl. L’Univers 25.8.1875, 3. Diese Meldung erschien auch im Moniteur universel. Zwischen dem 10. August und 16. Oktober 1875, also während der Ferien der Nationalversammlung und damit auch während Ludwigs Reise nach Reims, 2
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der königlichen Abreise und La Presse berichtete einen Tag später von einer Reise im „strict incognito“ nach Reims.5 Wie bereits ein Jahr zuvor versäumte Le Figaro nicht darauf hinzuweisen, dass der Reise keinerlei politische Motive zu Grunde lägen: „Les lettres et les arts lui paraissent préférable à la politique.“6 Erneut kümmerte sich die deutsche Botschaft in Paris um die Organisation. Die bayerische Gesandtschaft und ihr Leiter Gideon von Rudhart wurden wie 1874 geflissentlich übergangen.7 Dafür war das französische Außenministerium über diesen kurzen, abzüglich der An- und Abreise gerade einmal eineinhalb Tage dauernden Ausflug unterrichtet. Die lokalen Autoritäten waren angewiesen worden „[de] respecter scrupuleusement l’incognito“.8 Im Gegensatz zum Archiv des französischen Außenministeriums hat Ludwigs kurzer Geburtstagsausflug nach Reims in den Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs keine Spuren hinterlassen. Deutlich wird jedoch, dass Ludwig die europäischen Gepflogenheiten des Inkognitozeremoniells inzwischen kaum mehr beachtete. Die Ankündigung der Reise gegenüber den französischen Behörden resultierte neben der Furcht vor politischen Komplikationen vor allem aus der Hoffnung, weitestgehend in Ruhe gelassen zu werden. Von einem freiwilligen, öffentlichen Spiel mit der eigenen Identität konnte kaum mehr die Rede sein. In demonstrativer Gleichgültigkeit wählte Ludwig, entgegen jeder Inkognitotradition, den Namen eines seiner Reisebegleiter als Pseudonym und reiste kurzerhand als Comte Holnstein.9 Die französische Regierung hegte dieselben Bedenken wie ein Jahr zuvor und stellte erneut Charles Fontaine zur Aufsicht des bayerischen Königs ab.10 Damit hatte Ludwig II. ein beinahe schon eingespieltes Team an seiner Seite. Denn wie 1874 begleiteten ihn neben Holnstein und Fontaine auch Eisenbahn-
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erhielt das bayerische Außenministerium keine politischen Berichte aus Frankreich. Vgl. Po.Be.Fr. 1875. Die Berichte des Pariser Polizeipräfekten fehlen im APP für das Jahr 1875. Vgl. Le Moniteur universel 25.8.1875, 2; vgl. La Presse 26.8.1875, 3. Von dort – so die Meldung – würde der König zu einem noch nicht bekannten Strandbad im Westen Frankreichs weiterreisen. Es wurde ebenfalls bekannt, dass Ludwig in minimaler Begleitung unterwegs sei; lediglich Holnstein und Schamberger seien, neben dem einen oder anderen Diener, mit von der Partie. Vgl. Le Moniteur universel 26.8.1875, 1. La Liberté 27.8.1875, 2. Vgl. Böhm (1922), 384f. Akten des französischen Außenministeriums zitiert nach Fontaine-Bachelier (2006), 109. Vgl. auch Hommel (1980), 15f. Allerdings erhielt Außenminister Decazes noch am 24. August eine Depesche, die ihn aus ungenannter Quelle fälschlich darüber informierte, dass Ludwigs Architekt, der nicht namentlich genannt wurde, bereits zwei Tage zuvor in die Hauptstadt der Champagne gereist sei: „Le désir de faire des recherches artistiques aurait seul determiné le voyage du roi.“ Vgl. ebd. Vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 114. Bezeichnenderweise wurde dieses Reisepseudonym zwar in der französischen, nicht aber in der bayerischen Presse bekannt gegeben. Dieser reichte am 30. August, vier Tage nach Ludwigs Abreise aus Reims, abermals einen detaillierten Bericht über den königlichen Aufenthalt ein. Vgl. Fosca (1940), 114ff.
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direktor Schamberger sowie Rudolf Lindau, der Pressereferent der deutschen Botschaft in Paris, der den König an der deutsch-französischen Grenzstation Avricourt erwartete. Trotzdem war Ludwigs Reise alles andere als gut vorbereitet. Lindau versuchte sogar, den bayerischen König nach Schloss Pierrefonds, an dem Ludwig bereits 1867 Gefallen gefunden hatte, oder alternativ an das Loire-Schloss Chambord umzuleiten, um dem internationalen Katholikenkongress, der gerade in Reims zusammentrat, aus dem Weg zu gehen.11 Immerhin konnte die Anwesenheit des katholischen Königs aus Bayern, dessen angespanntes Verhältnis zum protestantischen Kaiser des Deutschen Reichs allseits bekannt war, in der französischen Öffentlichkeit durchaus als politische Geste interpretiert werden. Wie gewohnt ließ sich Ludwig von solchen Bedenken nicht abhalten, und als er in Reims ankam, waren die lokalen Autoritäten trotz der Kenntnis des französischen Außenministeriums nicht auf seinen Besuch vorbereitet. „On a été très surpris, à Reims, de l’arrivée subite du Roi. L’incognito a été très recommandé, et les dépêches adressés à la gare respiraient un certain mystère.“12 Ludwigs Reisebegleiter hatten mehrere Zimmer im besten Hotel am Platz, dem Lion d’Or, direkt gegenüber der Kathedrale reserviert.13 Ludwig zog es jedoch vor, in ein kleines Zimmer im ersten Stock umzuziehen, und verwies durch diese demonstrative Geste der Bescheidenheit auf seinen Inkognitostatus.14 Am nächsten Morgen stand der königliche Besuch auf den Titelseiten der Lokalpresse. Der Courier de la Champagne, der detailliert berichtete, betonte, Ludwig sei eigens zur Teilnahme am Katholikenkongress angereist.15 Auch Le Figaro bestätigte, dass der König definitiv am Kongress der Œuvres ouvrières catholiques teilnehme.16 Ludwig hatte hingegen nichts dergleichen im Sinn. Für ihn bezeichnete Reims den Inbegriff einer monarchischen Tradition, innerhalb derer er seine eigene Herrschaft verortete. Hier war der Merowinger Chlodwig als erster König der Franken am Ende des 5. Jahrhunderts getauft worden, womit die christlich-monarchische Tradition in Europa ihren Anfang genommen hatte. Der französische Name Clovis wandelte sich im Laufe der Jahrhunder11 12
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Vgl. La Gazette de France zwischen dem 24. und dem 27.8.1875. Siehe auch Fosca (1940), 115; Fontaine-Bachelier (2006), 111. Le Figaro 26.8.1875, 2. So erfuhr der Reimser Bahnhofschef erst im letzten Moment durch eine, leider nicht präzisierte, Indiskretion von der Ankunft des Comte Holnstein. Vgl. ebd. Siehe auch Fosca (1940), 119. Zu der abendlichen Stunde, es war gegen 20 Uhr, herrschte am Bahnhof der Provinzstadt allerdings kaum Betrieb. Vgl. Schad (2000), 42ff.; Kobell (1894), 223f. Siehe auch Allgemeine Zeitung 27.8.1875, Beilage, 5. Vgl. Le Figaro 26.8.1875, 2; Le Figaro 27.8.1875, 2. Vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 114; Kobell (1894), 223. Vgl. ebd., 116. Vgl. Le Figaro 25.8.1875, 2.
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te zum Königsnamen Louis, dem deutschen Ludwig. Von der Krönung Heinrichs I. 1027 in der Kathedrale von Reims hatte sich die Krönungstradition bis hin zu den Bourbonen Ludwig XIV., Ludwig XV. und Ludwig XVI. fortgesetzt. Letzterer war der Taufpate und Namensgeber Ludwigs I., des Großvaters Ludwig II.17 Hier in Reims ruhte, wie Schiller in seiner Jungfrau von Orleans so treffend formulierte, der „Staub des heil’gen Ludewig“.18 Zudem wurde 1429 Karl VII. in Reims zum französischen König gekrönt, nachdem er mit Hilfe Jeanne d’Arcs die englischen Truppen geschlagen hatte.19 Die Jungfrau von Orléans nahm in der Vorstellungswelt des bayerischen Königs seit Jahren einen privilegierten Platz ein. Friedrich Schillers Jungfrau von Orléans (1801) kannte er nahezu auswendig, und Karl Friedrich Gottlob Wetzels Trauerspiel Jeanne d’Arc (1817) hatte der bayerische König bereits bei seiner ersten Frankreichreise als Lektüre im Gepäck.20 Noch kurz vor der Abreise hatte er sich bei seinem Hofstab erkundigt, ob in den letzten Jahren Stücke zum Thema Jeanne d’Arc in Paris auf die Bühne gebracht worden seien.21 Ähnlich wie im vergangen Jahr in Versailles wollte Ludwig II. auch 1875 in Reims eine ihm eigene, monarchisch verklärte Vorstellungswelt erkunden. Am Morgen des 25. August 1875, seinem 30. Geburtstag, besichtigte Ludwig „auf das Eingehendste“ die Kathedrale von Reims und ihren spektakulären Kirchenschatz.22 Anschließend begab er sich auf den kurzen Weg zur Kirche Saint Remy, die dem heilig gesprochenen Bischof gewidmet war, der Clovis getauft hatte. Unmittelbar daneben befand sich das erzbischöfliche Palais, der Veranstaltungsort des Katholikenkongresses, der genau an diesem Tag eröffnet wurde. In den so genannten Krönungssaal, der bereits für den Kongress dekoriert war, konnte Ludwig gar nicht erst eintreten.23 Inzwischen hatten sich auch 17 18
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Vgl. Raithel (2006), 312; Evers (1986), 126. Schiller (2002), 15. La Liberté berichtete im Zusammenhang mit Ludwigs Visite in der Champagne: „Le passé lui plait plus que le présent et, pour lui, la royauté suprême, c’est la poésie.“ La Liberté 27.8.1875, 2. Vgl. Baumgartner (1981), 20; Nöhbauer (1986), 225. Wetzels Jeanne d’Arc wurde am 4. und 6. Mai 1876 als Separataufführung für Ludwig gegeben. Vgl. Wilk (1989), 266. Vgl. ebd., 272. In einem Tagebucheintrag von 1866 hatte Ludwig sogar einen königlichen Eid auf die nach ihrem Geburtsort oft als Pucelle de Domremy bezeichnete Jungfrau geschworen. Eintrag vom 27.2.1866. Vgl. Evers (1986), 133. „Diese unglückliche Heldin beschäftigte vielfach die Gedanken des Königs.“ Kobell (1894), 224. Anschließend wollte er die berühmten Kirchenfenster betrachten, wozu er über einen der Türme in die Galerie der Kathedrale aufsteigen musste. Dabei kam es zu einem ersten, kleineren Zwischenfall: „Il est même monté dans les galeries bleues qui se trouvent à la hauteur de la première rosace; mais, pris d’une sorte de vertige, il est bientôt descendu.“ Le Courrier de la Champagne 27.8.1875, 2. Der König zeigte sich von all dem äußerst überrascht und erkundigte sich erst jetzt bei seinen Begleitern über den anstehenden Kongress. Vgl. Fosca (1940), 124, 128, 134; siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 118.
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die ersten Schaulustigen in den Straßen von Reims angesammelt. Das einsame Wandeln durch die französische Geschichte fand ein schnelles Ende: Hier war das Incognito nicht mehr vollständig gewahrt, und an den Zugängen der Kirche hatten sich kleine Scharen Neugieriger angesammelt, die sich indes jeder Kundgebung enthielten.24
Der letzte Satz dieses Artikels der Allgemeinen Zeitung kann als gezielte Beruhigung der bayerischen Zeitungsleser gedeutet werden. Nach der neuerlichen Inkognitoreise in das Land des Erbfeindes sollten keine neuen Debatten um das königliche Nationalgefühl und Ludwigs Verhältnis zu Frankreich entfacht werden. Das Blatt berichtete weiter, dass die kleine Reisegesellschaft zum Abschluss des Besichtigungsprogramms auf einen Hügel vor die Tore der Stadt fuhr, um die schöne Aussicht auf Reims und die umliegende Champagne zu genießen.25 Es verschwieg hingegen, dass Ludwigs Begleiter ihn zu diesem Abstecher angetrieben hatten, um nach der unfreiwilligen Begegnung mit dem Katholikenkongress nicht in ein weiteres diplomatisches Fettnäpfchen zu treten. Denn Ludwig war nicht der einzige illustre Gast des Hotels zum Goldenen Löwen. Gleichzeitig mit dem bayerischen König nächtigte dort General Marquis de Fontanges du Couzon, der in den folgenden Tagen das Kommando der 12. Division der französischen Armee übernehmen sollte. Der General empfing daher während des gesamten Tages hochrangige militärische und zivile Besucher, denen die kleine bayerische Delegation aus diplomatischen Gründen tunlichst aus dem Weg gehen wollte. Deshalb hatte Ludwig bereits die morgendliche Messe in der Kathedrale versäumt, da er erst gegen Mittag das Hotel unbemerkt verlassen konnte.26 Am Abend erlebte Ludwig sogar eine wahre Schrecksekunde. Ohne vorherige Ankündigung marschierten die Officiers de la 132e ligne en grande tenue unter dem Kommando des Colonel Chauchart in Begleitung einer Menschenmenge auf das Hotel zu. Für einen kurzen Moment befürchteten Ludwigs Begleiter, dass die französische Armee wegen des ehemaligen Kriegsgegners und Kaiserproklamateurs aus Bayern anrückte. Letzten Endes handelte es sich jedoch lediglich um eine Ehrenbezeugung für den neuen Kommandanten Fontanges.27 Die unbegründete Befürchtung illustriert den Kontext der königlichen Inkognitovisite. Die Bevölkerung der Stadt wusste, um wen es sich bei dem angebli24 25 26
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Allgemeine Zeitung 29.8.1875, Beilage, 4; 22.8.1875. Kobell (1894), 223f. Vgl. Allgemeine Zeitung 29.8.1875, Beilage, 4. Vgl. La Presse 28.8.1875, 2. Aus demselben Grund konnte der bayerische König nicht vor 17 Uhr in den Goldenen Löwen zurückkehren, da erst am späten Nachmittag, wie Fontaine im Auftrag Holsteins erkundet hatte, die Visiten des Generals nachlassen würden. Vgl. Fosca (1940), 120–3; siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 116–9. Vgl. Le Figaro 27.8.1875, 2.
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IV. Spuren des Inkognitos
chen Comte Holnstein tatsächlich handelte, und Charles Fontaine, der für die Sicherheit des bayerischen Besuchers verantwortlich zeichnete, zeigte sich offen besorgt. Wie er in seinem Bericht schildert, versammelten sich vor dem Hotel immer mehr Menschen, die teilweise ein offen feindliches Verhalten an den Tag legten. Die Niederlage von 1870/71 war auch in der Champagne äußerst präsent und das hartnäckig kursierende Gerücht, der König halte sich wegen des Katholikenkongresses in der Stadt auf, verstärkte die feindselige Stimmung. Wie Charles Fontaine pflichtgetreu berichtete, erinnerte sich die Bevölkerung lebhaft, dass deutsche Soldaten im letzten Krieg den Pfarrer von Reims erschossen hatten.28 Der königliche Besucher wurde, wie ein Artikel des Courrier de la Champagne verrät, inzwischen sogar von einem zweiten Sicherheitsagenten begleitet.29 Anscheinend hatten die lokalen Behörden Fontaine noch einen zusätzlichen Polizisten zur Seite gestellt. Zudem warnte der Commissaire général de Reims Fontaine ausdrücklich, Ludwig noch einmal in die Nähe des Veranstaltungsorts des Katholikenkongresses fahren zu lassen. Dies würde, so der Kommissar, ohne Zweifel feindselige Demonstrationen heraufbeschwören.30 Fontaine selbst beurteilte die Situation ebenfalls äußerst kritisch: [. . . ] tout cet imbroglio de Reims qui met en émoi le clergé, la police, la presse locale, les partis politiques. [. . . ] Bref, les esprits étaient tellement montés pour me faire craindre quelques manifestations dans le cas où le séjour à Reims se serait prolongé.31
Als Ludwig am Morgen des 26. August den Zug zurück in seine bayerische Heimat erreichen wollte, warteten circa 20 bis 30 Personen vor seinem Hotel. Charles Fontaine sah sich gezwungen, zwei leere Wagen als Ablenkungsmanöver Richtung Zentrum ausfahren zu lassen, um den König sicher zum Bahnhof zu bringen.32 Getreu seinen Reisegewohnheiten hatte Ludwig II. bereits am Vortag bei der Besichtigung der Kathedrale 500 Francs für die Armen von Reims gespendet. Der Reimser Bischof, Monseigneur Langénieux, war daraufhin eigens zum Hotel des Königs geeilt, um sich für die Spende zu bedanken.33 Ludwig hatte sich jedoch geweigert, die Visite entgegenzunehmen. Als dies nach der Abreise des Königs bekannt wurde, offenbarte sich in einem Artikel 28
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Vgl. Fosca (1940), 137f. Die in Le Figaro publizierte Meldung, die Bevölkerung habe „montré la plus discrète reserve“, kann daher als Beispiel einer gelungenen aktiven Pressepolitik der deutschen Botschaft interpretiert werden, für die genau wie 1874 Rudolf Lindau verantwortlich zeichnete. Le Figaro 27.8.1875, 2. „[. . . ] suivie de deux agents“. Le Courrier de la Champagne 27.8.1875, 2; La Presse 28.8.1875, 2. Siehe auch Fontaine-Bachelier (2006), 123. Vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 120. Fosca (1940), 146. Der zweite Teil des Zitats stammt ohne exakte Quellenangabe aus Fontaine-Bachelier (2006), 121, und findet sich nicht bei Fosca. Vgl. Fontaine-Bachelier (2006), 121. Dieser hatte auch den Katholikenkongress eröffnet. Vgl. Le Figaro 26.8.1875, 2.
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des durchaus zurückhaltenden Courrier de la Champagne, wie sehr der bayerische König mit seinem 36-stündigen Aufenthalt die lokalen Empfindlichkeiten strapaziert hatte: Il a fait preuve, en cette circonstance, tout au moins, de tact et de réserve. Il s’est souvenu, peut-être, des hauts faits des Bavarois à Bazeilles, et il a compris combien il nous serait pénible de le recevoir, autrement qu’en voyageur ordinaire. Le départ s’est effectué sans rien de remarquable. On voit, qu’en somme, l’incident n’est pas de nature a fortement émotionner le monde politique. Si M. de Bismarck éprouve quelques mécontentements des marques d’attachement ostensible dont le roi de Bavière fait montrer vis-à-vis la religion catholique, l’irascible et redoutable chancelier ne saurait nullement nous en rendre responsable. Là est l’essentiel.34
2.2 Savigny in der Schweiz Nach seiner Rückkehr aus Reims zog sich König Ludwig II. von Bayern, der sich bereits seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 nur noch sporadisch seinen Untertanen gezeigt hatte, systematisch aus dem öffentlichen Leben zurück. In den elf Jahren bis zu seinem Tod am 13. Juni 1886 isolierte sich Ludwig progressiv von seinen Mitmenschen. Die drei Tage vor seinem 30. Geburtstag abgehaltene Truppenparade in München blieb die letzte Gelegenheit, bei der das Volk seinen König zu Gesicht bekam.35 Bereits einen Monat zuvor, im Juli 1875, hatte er sich schlicht geweigert, sowohl den sächsischen König Albert als auch den deutschen Kaiser Wilhelm I. bei ihren Besuchen in München zu empfangen.36 Ab 1883 ließ er selbst seine jeweiligen Kabinettssekretäre kaum noch vor, so dass einige handverlesene Diener schließlich seinen letzten Kontakt zur Außenwelt bildeten.37 Auch die außergewöhnlichsten Ereignisse konnten den König nicht aus seiner Reserve locken. Selbst als 1880 die Dynastie der Wittelsbacher mit großen Fest- und Staatsakten ihren 800. Geburtstag feierte, zog es das regierende Familienoberhaupt Ludwig vor, auf Schloss Berg zu bleiben. Als Richard 34
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Le Courrier de la Champagne 27. 8.1875, 2. Siehe auch Le Figaro 27.8.1875, 2. Die Gerüchte um Ludwigs Teilnahme am Katholikenkongress führten in Zeiten deutsch-französischer Erbfeindschaft und preußischem Kulturkampf mit der katholischen Kirche zu unnötigen Missverständnissen. Noch am Tag nach Ludwigs Abreise vermeldete Le Moniteur universel, immerhin das offizielle Organ der französischen Regierung, dass der bayerische König tatsächlich an einer Sitzung des Kongresses in Reims teilgenommen habe. Vgl. Le Moniteur universel 27.8.1875, 2. Die Spekulationen um die Teilnahme des bayerischen Königs an dem Kongress führten zu einem heftigen Streit zwischen mehreren lokalen Zeitungen in Reims. Vgl. Le Courrier de la Champagne 27.8.1875, 2; La Champagne 28.8.1875, 2. Vgl. Herre (1986), 266; Petzet (1995), 12; Merta (1991), 262. Vgl. Botzenhart (2004), 94. Vgl. ebd., 199.
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IV. Spuren des Inkognitos
Wagner ihn 1876 bat nicht inkognito, sondern „als König ihres Sie anbetenden, nur durch Sie zu beglückenden Volkes“ zur Eröffnung des neuen Festspielhauses nach Bayreuth zu reisen, ließ Ludwig durch Lorenz von Düfflipp ausrichten, dass ihm dies „nicht im Traume einfällt“.38 Spätestens seit der Reise nach Reims 1875 bezeichnet Ludwigs Inkognito kein traditionsverhaftetes Reisezeremoniell eines konstitutionellen Königs mehr. Gegen Ende seiner Regierung enthob der bayerische König den Begriff zunehmend seiner zeremoniellen Bedeutung. Anders als bei seinen Reisen nach Franken 1866 und Paris 1867 handelte es sich nicht mehr um ein öffentliches Identitätsspiel. Von nun an sollte das Inkognito Ludwigs Identität dezidiert vor der Öffentlichkeit verbergen. Deshalb gab er seinen kurzfristig gefassten Entschluss, im Sommer 1878 zur Weltausstellung nach Paris zu reisen, schnell wieder auf. Von den Höhen seiner Berghütte am Schachen schrieb er seiner ehemaligen Erzieherin: Recht fatal ist es für mich, daß z.Z. eine Reise im vollständigsten incognito nach Paris zur Weltausstellung fast unmöglich ist, der Marschall konnte nicht gut umgangen werden u. dies ist mir unangenehm. Herrlich muß es jetzt dort sein, mein Vetter Wilhelm von Hessen [. . . ] schrieb mir sehr entzückt u. sehr ausführlich [. . . ].39
Bei dem angesprochenen Marschall handelte es sich um den französischen Regierungspräsidenten Patrice de Mac Mahon, den Ludwig bereits 1874 mit seiner Abreise aus Versailles demonstrativ gemieden hatte. Damals erfüllte er immerhin durch das kurze Gespräch mit Außenminister Decazes die Minimalanforderung eines zeremoniellen Inkognitos. Vier Jahre später war er dazu nicht mehr bereit. Ein „vollständigstes Inkognito“ bedeutete für den König – in deutlicher Verleugnung der ihm wohl bekannten zeremoniellen Tradition – inzwischen nichts anderes als das vollständige Unerkannt-Bleiben. Erst im Frühjahr 1881 packte den so heimattreuen König erneut das Reisefieber. Aus seiner Korrespondenz mit Joseph Kainz, einem Schauspieler seines Hoftheaters, geht hervor, dass er im Oktober 1881 in dessen Begleitung nach Spanien reisen wollte.40 Neben der Alhambra hatte er die Stätten von Schillers Don Carlos als Reiseziel ausersehen.41 Auch diesmal war der Hofstab von den Reiseplänen des Königs alles andere als begeistert. Hofsekretär Ludwig von Bürkel gab sich größte Mühe, Ludwig von der Reise abzuhalten. Schließlich gelang es ihm, mit dem Hinweis auf die fortgeschrittene Jahreszeit, die bereits vertrock-
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Petzet (1970), 227. Brief vom 29.8.1878. Haasen (1995), 96. Hervorhebung im Original. Siehe auch FontaineBachelier (2006), 126. Vgl. KA.Lud. 382. Vgl. Gregor-Dellin (1986), 21; Nöhbauer (1986), 218; Schad (2000), 46.
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nete Vegetation und das angeblich dort ausgebrochene Fieber, den bayerischen König von seinen Plänen abzubringen.42 Allerdings erzielte der Hofsekretär damit nur einen Teilerfolg. Denn obwohl Ludwig auf sein eigentliches Reiseziel Spanien verzichtete, hielt er am „Praeambulum“ der Reise fest. In Vorbereitung auf die Orte des Don Carlos plante er genau wie 1865, die Schauplätze des Wilhelm Tell inmitten der Schweizer Alpen aufzusuchen.43 Joseph Kainz sollte ihm Schillers Texte vor Ort rezitieren, um so das Kunst- und Naturerlebnis zu vollenden.44 Der bayerische König blieb vom 27. Juni bis zum 14. Juli 1881 in der Schweiz.45 Neben dem Schauspieler begleiteten ihn elf weitere Personen: Eisenbahndirektor Schamberger, Marstallfourier Karl Hesselschwerdt, drei Kammerdiener, zwei Mundköche und vier zusätzliche Hofbeamte.46 Ludwig hatte bereits im Briefwechsel mit Kainz immer wieder betont, dass er keine „taktlosen Zudringlichkeiten“ durch die Öffentlichkeit wünsche, und versuchte den Aufenthalt so weit wie möglich geheim zu halten.47 Er ließ für sich und Kainz sogar eigene Reisepässe auf den Namen Marquis de Savigny und Josef Didier anfertigen.48 Ludwig verlieh sich also durchaus traditionsgemäß einen niederen Adelstitel, und Kainz behielt immerhin seinen Vornamen. Trotzdem handelte es sich keineswegs um das spielerische Anzeigen der eigenen Identität mittels eines Inkognitopseudonyms. Denn Savigny und Didier waren die beiden Protagonisten in Victor Hugos Drama Marion de Lhorme. Sie buhlen um
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Vgl. Beyer (1900), 35. Siehe auch KA.Lud. 382. Brief Kainz an Ludwig vom 14.6.1881. Ludwig II. zitiert nach Blunt (1986), 163. Siehe auch Nöhbauer (1986), 218. Nägele spricht in diesem Zusammenhang von Ludwigs allgemeiner „Stilisierung der realen Umwelt zu Theaterfiguren“. Nägele (1995), 109. Der Schauspieler Kainz stand erst seit Kurzem in der Gunst des Königs. Ludwig hatte ihn im Münchner Hoftheater in der Rolle des Didier aus Victor Hugos Marion de Lhorme gesehen und kurz darauf – wahrscheinlich durch die Vermittlung Bürkels – persönlich kennen gelernt. Vgl. Wilk (1989), 274. Vgl. Nöhbauer (1986), 220–2; Schlim (2001), 16–20; Wolf (1922), 205–11; Schad (2000), 47–9. Vgl. Schäffer (2005), o.S. Siehe auch Blunt (1986), 163. Brief Ludwig an Kainz. Zitiert nach Beyer (1900), 36f.; dieser zitiert aus Die Gartenlaube 27 (1886). Siehe auch Wolf (1922), 203f. Vgl. KA.Lud. 382. Brief Kainz an Ludwig vom 24.6.1881. Vgl. Wolf (1922), 208. Mit diesen Namen trugen sie sich auch ins Gästebuch am Rütli ein. Die eigens angefertigten Reisepässe bezeichnen einen rein symbolischen Akt. Wie Gerard Noiriel für Frankreich nachgewiesen hat, waren die Behörden der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert nicht angehalten, die Pässe der Reisenden zu kontrollieren. Staatsrechtlich war es Mitgliedern regierender Familien auch ohne offizielles Schriftstück ausdrücklich erlaubt, ein Pseudonym zu führen. Vgl. Noiriel (1998), 97. Siehe auch Kap. III.1.2. Zudem zählte mit Schamberger, der Direktor der bayerischen Eisenbahnen zu den Mitgliedern der Reisegesellschaft, so dass angenommen werden kann, dass dieser sich im Falle eines Falles mit den Schweizer Behörden auseinander gesetzt hätte.
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IV. Spuren des Inkognitos
die Liebe der Marion, die im Laufe der Handlung u. a. „incognito“ nach Blois reist, und werden am Ende des Stücks beide hingerichtet.49 Trotzdem war die für die Reise gewählte Identität das Produkt eines literarischen Spiels und kann somit als Ludwigs letzte Inkognitovariante gelten.50 Anders als bei der zeremoniellen Auslegung des Inkognitos spielte die Öffentlichkeit beim schlichten Versuch unerkannt zu bleiben jedoch nicht mit. So erwartete ihn die Schiffsmannschaft des telegrafisch vorbestellten Salondampfers am Vierwaldstätter See in Galauniform und der Kapitän sprach ihn durchgängig mit „Majestät“ an.51 Das Luzerner Tagblatt informierte seine Leser unmittelbar nach der Ankunft Ludwigs am 28. Juni 1881. Die bayerische Presse, die keine Mitarbeiter vor Ort hatte, gab diese Berichte mit mehreren Tagen Verspätung an ihre Leser weiter, wobei sie sich um eine konziliante Darstellung bemühte. So versicherte die Allgemeine Zeitung, dass das „einfache und leutselige Benehmen des Königs gegenüber jedermann sehr gepriesen [wird].“52 Ludwig wohnte mit seinen Begleitern in einer Villa am Axenstein unweit von Brunnen. Diese gehörte Adelrich Benzinger, einem Landammann des Kantons Schwyz und damit Mitglied der Schweizer Regierung. Auch dies verdeutlicht, wie unbekümmert Ludwig II. inzwischen mit dem Inkognito umging. Letzten Endes war die letzte Auslandsreise des bayerischen Königs nur in einer Hinsicht typisch für das Inkognito: Sie wurde literarisch verarbeitet und dabei beständig fiktionalisiert. So habe Ludwig schon auf der Anfahrt die Angst vor Tunneln und Attentaten geplagt, und der König sei auf seinen Wanderungen in der Schweiz beständig von hinter Büschen versteckten Schaulustigen beobachtet worden.53 Conrad Beyer, dessen Buch über Ludwigs dritte Schweizreise 1900 bereits in der dritten Auflage erschien, beruft sich in seinen Schilderungen auf persönliche Gespräche mit Joseph Kainz und berichtet von Ludwigs Besuch in einem Fotoatelier: „Ich mahnte das Incognito zu wahren. Aber der König lächelte und rief: Ah bah! Après nous le deluge!“54 Wie die Bilder bezeugen, hat der Besuch tatsächlich stattgefunden. Das angebliche Zitat ist in 49
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Hugo (1979), 193. „Moi, le premier de France, en être le dernier! Je changerais mon sort au sort d’un braconnier.“ Hugo (1979), 258. Ludwig hatte in Vorbereitung der Reise das Stück am 30. April, 4. und 10. Mai 1881 in Separatvorstellungen, in denen Kainz den Didier gab, für sich aufführen lassen. Vgl. Perfall (194), 241; Hommel (1963), 51. Vgl. Wolf (1922), 205; Blunt (1986), 163; Schad (2000), 47; Beyer (1900), 38. Schäffer (2005), o.S. Siehe auch Beyer (1900), 39. Allgemeine Zeitung 2.7.1881, 6. In anderen Meldungen wurde vor allem von den diversen Ausflugszielen des Königs berichtet, wobei auffällt, dass im Vergleich zu früheren Reisen die Leser eher sporadisch informiert wurden. Vgl. u. a. Allgemeine Zeitung 12.7.1881, 4. Vgl. Blunt (1986), 164; Beyer (1900), 86. Andere berichten von einem „König Alkohol“, der „etliche Körbe mit jeweils 200 Flaschen Wein, dazu reichlich Cognac und Likör“ mit in Schweiz gebracht habe. Lewandowski (1996), 163. Beyer (1900), 165.
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Anbetracht von Ludwigs Auslegung des Inkognitos jedoch ins Reich der Legende zu verweisen.55
2.3 Auflösungserscheinungen Wie die letzten Reisen König Ludwigs II. von Bayern zeigen, ergibt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Bezug auf das Inkognito ein paradoxer Befund. Einerseits blieb es das von Vertretern des Hochadels und Mitgliedern regierender Dynastien meist gebrauchte Reisezeremoniell, zu dem es sich nach der Französischen Revolution sukzessive entwickelt hatte. Insbesondere bei Reisen mit der Eisenbahn, die auch in monarchischen Kreisen schnell zum bevorzugten Transportmittel avancierte, bezeichnete das Inkognito nicht länger eine Ausnahme, sondern den Regelfall. Die Dienstanweisung für die Durchführung von Sonderzügen Allerhöchster und Höchster Herrschaften der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen aus dem Jahr 1907 verdeutlicht, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar jede Reise, solange es das regierende Familienoberhaupt nicht explizit anders anordnete, als Inkognitoreise behandelt wurde. Ein Ende dieser Entwicklung bzw. eine Änderung dieses Prozederes war selbst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zunächst nicht in Sicht, wie aus der Instruktion des Oberhofmeisterstabes des Hauses Wittelsbach von 1915 hervorgeht. Andererseits trug diese schleichende zeremonielle Entkernung des Inkognitos auch zu seinem Niedergang bei. Denn im Rahmen von Eisenbahnreisen wurde das Inkognito zwar ebenso wie in früheren Jahrhunderten vorauseilend angezeigt und öffentlich kommuniziert. Es spiegelte sich jedoch kaum mehr in konkreten zeremoniellen Versatzstücken wider. Stattdessen verzichtete der Inkognitoträger einfach auf prunkvolle Zeremonielle wie Empfänge, Feierlichkeiten oder besondere Dekorationen an den Bahnhöfen. Eine ausdrückliche zeremonielle Umsetzung des Inkognitos lässt sich am Ende des 19. Jahrhunderts außer in Bezug auf die Kleidung der Reisenden nur noch in Ausnahmefällen beobachten. „Ein Inkognito bezog sich jetzt bei regierenden Monarchen der Großmächte, wenn sie sich im Ausland aufhielten, in der Regel nur auf die Anreise, nicht die Ankunft am Ort oder den Aufenthalt selbst.“56 Das Inkognito reduzierte sich zunehmend auf einen rein rhetorischen Akt, der den nahezu vollständigen Verzicht auf das Zeremoniell rechtfertigen sollte, ohne dadurch das monarchische Prinzip, also die Legitimität monarchischer Herrschaft, zu relativieren. Die sich intensivierende Beschränkung auf die schlichte Behauptung eines Inkognitos minimierte die Notwendigkeit, 55 56
Die beiden Fotografien finden sich u. a. in Nöhbauer (1986), 222. Paulmann (1999), 299.
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es performativ umzusetzen. Diese allmähliche Auflösung des Inkognitos als Zeremoniell ging Hand in Hand mit einer sich verändernden Interpretation des Inkognitobegriffs, die sich mehr und mehr an der umgangssprachlichen Bedeutung des Worts als unbekannt und immer weniger an seiner dynastischzeremoniellen Tradition orientierte. Diese Entwicklung spiegelt sich im Gebrauch des Inkognitos durch Ludwig II. wider und gipfelte in seinen letzten beiden Auslandsreisen nach Reims 1875 und in die Schweiz 1881. Das Inkognito verlor immer mehr seine politische Funktion, auf Grund derer es in der Frühen Neuzeit erst als Zeremoniell kodifiziert worden war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bestand seine Aufgabe nicht länger darin, besonders delikate Treffen zwischen Staatsmännern zu realisieren, ohne dabei im Vorfeld diplomatische Grundsatzdiskussionen führen zu müssen. Es sollte – ganz im Gegenteil – immer öfter den vollständigen Verzicht auf solche Treffen ermöglichen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert bezeichnete das Inkognito kaum noch ein öffentliches Spiel mit Identitäten als vielmehr den Versuch, die eigene Identität so gut und so lange wie möglich vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Dies verdeutlicht der vermehrt zu beobachtende Verzicht auf ein genuines Inkognitopseudonym. Falls die Reisenden überhaupt noch solche Pseudonyme benutzten, erschien ihre Wahl oft beliebig und unabhängig von der zeremoniellen Tradition. Ludwig reiste 1875 als Graf Holnstein nach Reims und zeigte dadurch seine Identität keineswegs spielerisch an. Der von ihm benutzte Name eines seiner Reisebegleiter sollte vielmehr Verwirrung stiften und die französische Öffentlichkeit über die Identität des Reisenden im Unklaren lassen. Ähnliches gilt für Ludwigs Schweizreise 1881 als Marquis de Savigny. Der einem Werk Victor Hugos entlehnte Name ließ ebenfalls keinen Rückschluss auf seine Stellung als bayerischer König zu, sondern reflektierte die mit der Reise verbundenen privaten, dezidiert unpolitischen Absichten. Auf Grund dieser Entwicklung führte das Inkognito anders als in der Frühen Neuzeit zunehmend zu diplomatischen Problemen. Lokale Autoritäten reagierten gereizt auf den im Zeitalter zunehmender Medienöffentlichkeit fast immer bekannt werdenden Versuch politisch-diplomatische Gepflogenheiten zu umgehen. Ebenso zeigte die lokale Bevölkerung oft wenig Verständnis für den im Inkognito zum Ausdruck kommenden Versuch, unbehelligt zu bleiben. Insbesondere in politisch angespannten Situationen, wie der zwischen Deutschland und Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg, drohten dadurch handfeste Konflikte zu entstehen. Die Geschichte des Inkognitos im Hause Wittelsbach, in die sich auch die oft eigenwilligen Reisen Ludwigs II. einschreiben, verdeutlicht das allmähliche Ende der zeremoniellen Inkognitotradition. Dies zeigt das Beispiel von Therese Prinzessin von Bayern (1850–1925), der einzigen Tochter des Prinzregenten Luitpold von Bayern (1866–1912), der nach Ludwigs Tod auf Grund der
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Regierungsunfähigkeit von dessen jüngerem Bruder Otto die Regentschaft übernahm. Die wissenschaftlich interessierte Prinzessin, welche sowohl die Geografische Gesellschaft als auch die Bayerische Akademie der Wissenschaften 1892 zum Ehrenmitglied ernannten, begab sich bereits ab den 1870er Jahren auf längere Forschungsreisen ins Ausland. Damit ihr monarchischer Status sie nicht in ihrer wissenschaftlichen Arbeit einschränkte, reiste sie stets in kleiner Begleitung und verzichtete so weit wie möglich auf ihren offiziellen Titel. So befanden sich auf ihrer Fahrt durch Russland 1882 teils drei, teils fünf Personen in ihrem Gefolge. Drei Jahre später veröffentlichte sie ihre Erlebnisse unter dem Pseudonym Th. von Bayer, mit dem sie alle Schriften signierte. Im Vorwort der der Königinmutter Marie von Bayern gewidmeten Schrift erläutert sie, dass sie die Reise „ohne Empfehlungsschreiben von Gesandtschaften oder hochgestellten Persönlichkeiten einfach mit unseren gräflichen, beziehungsweise freiherrlichen Pässen“ angetreten habe.57 Dies sei notwendig gewesen, um sich möglichst authentische Eindrücke von der russischen Bevölkerung zu verschaffen. „Aber diese Art zu reisen war die einzige, welche uns die Sicherheit bot, daß wir die Zustände sahen und über sie hörten, wie sie wirklich sind.“58 Obwohl Thereses Reise sich durch den vollständigen Verzicht auf jegliches Zeremoniell auszeichnet, illustriert sie die Veränderungen des Inkognitos am Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre durch die Hoffnung auf unverfälschte Erkenntnis motivierte, freiwillige Aufgabe statusbedingter Privilegien entsprach den Inkognitobeweggründen, wie sie u. a. die Monarchen des aufgeklärten Absolutismus antrieben. Obwohl Therese auf ein genuines Pseudonym verzichtete, kann die Wahl ihres Schriftstellernamens als ludische Verklärung ihrer Identität interpretiert werden. Trotzdem bestand der Zweck ihres temporären Identitätswechsels darin, unerkannt und unbekannt zu bleiben, und unterscheidet sich daher nachhaltig von der zeremoniellen Auslegung des Inkognitos. Wie so oft in der Geschichte des Inkognitos blieben jedoch auch am Ende des 19. Jahrhunderts die Übergänge fließend. Dies verdeutlichen die Reisen von Rupprecht Prinz von Bayern (1869–1955), dem Sohn Ludwigs III. und damit dem Neffen von Prinzessin Therese. Er unternahm 1896 eine Bildungsreise in den Vorderen Orient sowie 1898 nach Indien und Ceylon, wobei ihn jeweils nur ein Adjutant begleitete. 1900 fuhr er nach Ägypten und in den Jemen, bevor er seine Rundreise über Peking und Japan bis in die USA fortsetzte. In seinen 1906 veröffentlichten Reise-Erinnerungen aus Ost-Asien kommt er zwar nicht explizit auf den zeremoniellen Status seiner Reisen zu sprechen. Deutlich wird jedoch, dass Rupprecht einerseits versuchte, allen zeremoniellen Pflichten aus dem Weg zu gehen, andererseits aber sich für jede Hilfestellung der lokalen Au57 58
Bayer (1885), V. Ebd. VI.
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toritäten, die bestens über seine Identität Bescheid wussten, dankbar erwies. So beschrieb er, wie man ihm „[a]llüberall [. . . ] mit der größten Aufmerksamkeit“ entgegen kam, und bedankte sich bei den Gesandtschaften in Peking und Tokio, dem deutschen Generalkonsul in Schanghai und dem Generalgouverneur von „Niederländisch-Indien“ für die vielfache Unterstützung.59 Bei seiner Reise nach Südosteuropa wurde ihm sogar ein „kaiserlicher Adjutant“ zugeteilt.60 Nahezu zeitgleich mit solchen Weiterentwicklungen des Inkognitos durch Mitglieder regierender Familien lassen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch auch Inkognitoreisen beobachten, die sich weiterhin an der zeremoniellen Tradition orientierten. So hielt sich der englische König Eduard VII. zwischen 1905 und 1910 mehrfach inkognito in Paris auf. Dies entsprach, wie Johannes Paulmann ausführt, einerseits den persönlichen Vorlieben des Monarchen und resultierte andererseits aus der 1904 zwischen Frankreich und England besiegelten Entente cordiale. Außerdem kann Eduards Inkognito auch als eine genuin monarchische Auslegung eines Aufenthalts im republikanischen Frankreich gelten.61 Als Eduard auf einer Kreuzfahrt von Malta nach Neapel von der Royal Navy geleitet wurde, teilte er den neapolitanischen Hafenbehörden kurz vor seiner Ankunft offiziell mit, dass er „inkognito“ anreise. Auf Sir Charles Edward Ponsonby, welcher der Szene beiwohnte, wirkte dieses Inkognito „rather absurd, as no other human being in the world could come with eight battle ships, four cruisers, four destroyers and a dispatched vessel“.62 Gerade weil seine zeremoniellen Formen um die Jahrhundertwende immer diffuser und unsystematischer erschienen, blieb das Inkognito in ganz Europa ausgesprochen populär und weit verbreitet. Bis ins entfernte Australien berichteten Zeitungen von den vielfältigen Inkognitonamen europäischer Monarchen. Königin Victoria reiste als „Countess of Balmoral“, „Countess of Lancaster“ oder „Countess of Kent“;63 die portugiesische Königin als Markgräfin von Villarosa, die ehemalige Königin von Neapel als Herzogin von Castra, der belgische König als Graf Ravenstein, der Prinz von Bulgarien als Graf Murany, der schwedische Thronfolger als Graf Carlsberg, die spanische Königin als Gräfin von Toledo und der portugiesische König als Graf de Barcellos.64 Peter II. von Brasilien reiste 1870/71, 1876 und 1887 unter seinem bürgerlichen Namen Pedro de Alcântara durch Europa. „He traveled in strict incognito,
59 60 61 62 63 64
Rupprecht Prinz von Bayern (1906), VIII. Rupprecht Prinz von Bayern (1923), 174. Vgl. Paulmann (1999), 347. Dollinger (1985), 350. Hibbert (2000), 432. Vgl. „Borrowed Names“, Launceston Examiner 3.11.1898, 2; „When Royalty is Incognito“, The Day 16.1.1899, 1; „Incognito“, The Coburg Leader 9.3.1901, 3.
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styling himself ,D. Pedro d’Alcântara‘ [sic!], and he insisted on being treated with informality, refusing to stay anywhere except in hotels.“65 Obwohl sich der brasilianische Kaiser auf Grund seiner portugiesischen Abstammung durchaus als europäischer Herrscher charakterisieren lässt, bleibt außerdem festzuhalten, dass sich das Inkognito gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht mehr ausschließlich auf den europäischen Hochadel beschränkte. Die Weltreise Kal¯akauas, des Königs von Hawaii (1874–1891), im Jahre 1881 ist allerdings das einzige Beispiel einer Inkognitoreise eines außereuropäischen Herrschers. Begleitet wurde der letzte hawaiianische König lediglich von William N. Armstrong, seinem Staatsminister für Einwanderungsfragen, und seinem Kammerherrn Colonel C.H. Judd.66 Auch Kal¯akaua hoffte auf seiner Reise, von der Begegnung mit anderen Staaten und Völkern zu lernen. Gleichzeitig wollte er – und daher wählte er Armstrong als einen seiner Begleiter aus – auswanderungswillige Arbeitskräfte anwerben, um so die Wirtschaft seines bevölkerungsarmen Inselreichs anzukurbeln. Für das Inkognito entschied er sich jedoch vor allem aus finanziellen Gründen. Wie Armstrong in seinem erst nach dem Tod des Königs veröffentlichten, teilweise äußerst kritischen Reisebericht beschreibt, wollte Kal¯akaua das Recht der Hawaiianer, ihren König auf dessen Kosten auf seinen Reisen zu begleiten, unterlaufen: In order to prevent a large retinue of his loyal native and white subjects from following him in his tour, at his own great expense, he announced that he would travel incognito under the title of Prince. His sister, the Princess Liliuokalani, now the ex-Queen of Hawaii, was by royal proclamation designated as Regent during his absence.67
In einem offiziellen Schreiben kündigte er sein Inkognito auf diplomatischem Wege den Regierungen seiner auserkorenen Reisestationen offiziell an. Als Pseudonym wählte der als Prinz reisende König den ebenso sinnfälligen wie von der europäischen Inkognitotradition losgelösten Namen „alii Kalakaua“.68 Die Presse kommentierte die Aufsehen erregende Reise des aus europäischer Sicht so exotischen Herrschers ausgiebig, und seine Gastgeber verzichteten trotz des Inkognitos nur selten auf offizielle Ehrenbekundungen. So residierte der hawaiianische König in Tokio im Sommerpalast des japanischen Kaisers und wurde in Wien mit einem offiziellen Empfang willkommen geheißen. Kal¯akaua fand an den uneingeforderten Ehrungen ebenso Gefallen wie an der ständigen Improvisation auf den einzelnen Reisestationen: We were ready to be satisfied if we received the slightest greeting; and, in order to avoid any embarrassment, had our incognito dress at hand, so that we could quickly jump into it. At 65 66 67 68
Barman (1999), 236; siehe auch 364. Vgl. Wernhart (1987), 26. Armstrong (1904), 6. Wernhart (1987), 27.
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IV. Spuren des Inkognitos
no time did the King make any formal announcement to the court of any country that he intended to visit it; in short, we travelled modestly, so as to avoid a snubbing.69
Trotz der beschriebenen Auflösungserscheinungen des zeremoniellen Inkognitos gegen Ende des Jahrhunderts und ungeachtet des für die europäischen Gastgeber außergewöhnlichen Reisenden verdeutlicht Kal¯akauas Reise, dass die tradierten Regeln des Inkognitos zumindest in diplomatischen Kreisen nach wie vor Gültigkeit besaßen. So berichtete der österreichische Botschafter in Berlin nicht ohne eine gewisse Verwunderung, dass der König von Hawaii zu seinem Besuch in der deutschen Hauptstadt „nicht nur incognito, sondern auch ganz unerwartet“ eingetroffen sei und somit offensichtlich die übliche vorauseilende Ankündigung unterlassen hatte.70 In Paris zeigte sich die französische Regierung verstimmt, dass der König, trotz seines nur kurzen Aufenthalts an der Seine, es nicht für nötig befand, dem französischen Präsidenten seine Aufwartung zu machen. Dies lag allerdings an seinem Begleiter Armstrong, der mit den zeremoniellen Gepflogenheiten des Inkognitos weit weniger vertraut war als die europäische Diplomatie: „I advised the King to assume his incognito and pay no attention to the French court.“71
69 70 71
Armstrong (1904), 13. Wernhart (1987), 33. Armstrong (1904), 258. Vgl. auch Wernhart (1987), 32, 35. Der japanische Hof fand hingegen eine andere Regelung: „The King, while in Tokio, said he would like to visit a common inn of the country, but etiquette forbade the guest of the Emperor from entering one in Tokio. In the distant city of Osaka, however, it was arranged that he should, incognito, visit and dine in one of them.“ Armstrong (1904), 82.
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit 3.1 Das Ende des Inkognitos? Der Erste Weltkrieg markiert für das Inkognito eine Epochenschwelle. In den Pariser Vorstadtverträgen versuchten die Siegermächte eine dauerhafte Friedensordnung zu verankern, die auf einer Gemeinschaft demokratisch legitimierter Nationalstaaten beruhte. In einer Zeit, die den Wiederaufbau politisch und wirtschaftlich zerrütteter Kriegsgesellschaften erforderte, blieb für die öffentliche Zurschaustellung konstruierter Identitäten kaum Platz. Zudem hatte der Weltkrieg die gesellschaftliche Position des Adels nachhaltig geschwächt. Sein seit der Aufklärung andauernder gesellschaftlicher Niedergang intensivierte sich nach 1918. In Siegerstaaten wie England und Frankreich diskreditierten die großen Kriegsanstrengungen aller sozialen Schichten und die sich auf breiter Front durchsetzenden Prinzipien einer Leistungs- und Partizipationsgesellschaft geburtsgebundene, traditionelle Privilegien immer stärker. Dies betraf auch das höfisch-monarchische Zeremoniell des Inkognitos. Einige Verliererstaaten des Krieges schafften im Rahmen ihrer demokratisch-gesellschaftlichen Neuordnung den Adel sogar rundheraus ab. Das österreichische Parlament verabschiedete am 3. April 1919 das Adelsaufhebungsgesetz, das den Adel zwang, „seine äußeren Ehrenvorzüge, sowie bloß zur Auszeichnung verliehene, mit einer amtlichen Stellung, dem Beruf oder einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Befähigung nicht im Zusammenhange stehenden Titel“ (§1) aufzugeben. In Deutschland enthob die Weimarer Reichsverfassung durch Artikel 109 den Adel ebenfalls aller Standesvorrechte. In Preußen beschloss die verfassungsgebende Landesversammlung am 23. Juni 1920 das Preußische Gesetz über die Aufhebung der Standesvorrechte des Adels und die Auflösung des Hausvermögens. Der bayerische König Ludwig III. floh gegen Ende des Jahres 1918, kurz nach dem Ausbruch der Novemberrevolution, aus München. Der letzte Wittelsbacher König dankte zwar nie formell ab, verzichtete jedoch am 13. November 1918 in einer schriftlichen Erklärung, die der bayerische Ministerrat am darauf folgenden Tag veröffentlichte, offiziell auf seinen Thron.1 Das bayerische Staatsgrundgesetz vom 4. Januar 1919 verfügte, „daß alle Vorrechte der Geburt und des Adels, sowie Titel, die keine Berufsbezeichnung sind, aufgehoben werden.“ Die am 14. August desselben Jahres erlassene Bayerische Verfassung prokla1
Vgl. Horn (2010), 279; Machtan (2008), 256.
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mierte in Paragraf 15, dass Adelsbezeichnungen fortan nur noch als Teil des Namens geführt werden durften.2 Damit schaffte Bayern zusammen mit den anderen deutschen Staaten die Monarchie als Herrschaftssystem genauso ab wie den Adel als eigenständige gesellschaftliche Gruppe. Die Mitglieder ehemals regierender Dynastien verloren alle staatsrechtlichen Privilegien. Lediglich private Vergünstigungen wie das Erbrecht blieben bestehen. „Der Monarch wurde tatsächlich Privatier, er behielt seine Stellung als Chef des Hauses und erhielt als ,pensionierter‘ Monarch vielfach eine staatliche Rente.“3 Diese Entwicklung machte das Inkognito nicht nur als Reise-, sondern auch als adeliges Rückzugszeremoniell, das dezidiert private Bereiche eröffnete, überflüssig. Der zum Privatmann degradierte König bedurfte fortan weder beim volkstümlichen Umgang mit den ehemaligen Untertanen noch für den zeitweiligen Rückzug aus der Öffentlichkeit einer spezifischen zeremoniellen Absicherung, als welche das Inkognito Jahrhunderte lang fungiert hatte. Trotzdem kam das Inkognito auch nach 1918 in monarchischen Kreisen noch vereinzelt zur Anwendung. So reiste König Albert I. von Belgien (1909– 1934) gelegentlich im eigenen Land inkognito. „Dabei spazierte er manchmal in eine Herberge vor Ort, um dort mit seinen oftmals ahnungslosen Landsleuten zu sprechen.“4 1925 begab sich Alberts Frau Elisabeth, die als geborene Elisabeth Gabriele in Bayern aus der Dynastie der Wittelsbacher stammte, „inkognito“ nach Schweden. Ihr Sohn Leopold, der von 1934 bis 1951 als König Leopold III. von Belgien regierte, verwendete bei Reisen teilweise das Pseudonym „Herr Philipp“, womit er auf seinen zweiten Vornamen anspielte.5 Das Beispiel des Fürstentums Monaco veranschaulicht, wie das Inkognito vom Ende des 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert sowohl kontinuierlich angewendet als auch progressiv seiner zeremoniellen Tradition enthoben wurde. Bezeichnenderweise erwies sich das Inkognito in einer vergleichsweise kleinen, um internationale Sichtbarkeit bemühten Monarchie, in der im Unterschied zu anderen europäischen Ländern die monarchische Staatsform nach 1918 nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde, als besonders beharrlich. Fürst Albert I. von Monaco (1889–1922) reiste öfters inkognito als „comte de Marchais“.6 Das Schloss von Marchais, im französischen Département Aisne, hatten seine Eltern 1854 als Nebenresidenz gekauft. Sein Sohn Prinz Ludwig II., der von 1922 bis 1949 als Fürst von Monaco regierte, besaß einen diplomatischen Reisepass auf den Namen „comte de Thorigny“. Die in der Normandie 2 3 4 5 6
Kuchinke (1994), 411f. Klein (2010), 171; siehe auch 153–5. Balfoort u. a. (o.J.), 46. Ebd. 52. Ich bedanke mich bei Thomas Fouilleron, Directeur des archives et de la bibliothèque im Palais princier de Monaco, der mir die folgenden Informationen zur Verfügung gestellt hat.
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit
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gelegene Grafschaft Torigni [sic!] gelangte durch die Heirat der Prinzessin Louise-Hippolyte mit Jakob IV. von Matignon, Graf von Torigni, 1715 in Besitz der monegassischen Fürstenfamilie. Prinzessin Charlotte (1898–1977), die legitimierte uneheliche Tochter von Ludwig II., benutzte ebenfalls das Pseudonym „comtesse de Marchais“.7 Ihr Gatte, Graf Pierre de Polignac (1895–1964), seit 1920 Pierre Grimaldi, Prinz von Monaco, besaß einen diplomatischen Reisepass auf den Namen „comte Jean de Pierre“.8 Sein Sohn Rainier, der von 1949 bis 2005 regierender Fürst von Monaco war, nahm 1953 an der Tour de France automobile unter dem Namen Louis Carladès teil.9 Die Grafschaft von Carladès in der Auvergne war durch den Vertrag von Péronne von 1641 mit dem französischen König Ludwig XIII. in den Besitz der Grimaldis gelangt. Grace Kelly (1929–1982), die durch ihre Hochzeit mit Rainier III. 1956 zur Prinzessin Gracia Patricia von Monaco avancierte, besaß einen diplomatischen Reisepass auf den Namen „comtesse de Rosemont“.10 Das elsässische Rosemont war durch die Hochzeit von Louise d’Aumont-Mazarin mit dem Erbprinz von Monaco 1777 in den Besitz des Fürstentums gelangt. Ihr Sohn Prinz Albert, seit 2005 Albert II. von Monaco, besaß in seiner Jugend ebenfalls einen Reisepass auf den Namen „Albert de Rosemont“.11 Auch jenseits der Monarchie fand der Begriff inkognito im 20. Jahrhundert Verwendung. In der Umgangssprache etablierte er sich als Synonym für unbekannt. Trotzdem beschäftigten sich einige Schriftsteller immer noch mit der zeremoniellen Bedeutung des Inkognitos. So veröffentlichte William Le Queux 1918 seinen Roman The King’s Incognito. Being the Romance of a Royal Court. Wie der Untertitel suggeriert, verfolgt die Erzählung vor allem romantische Motive. Der Roman eröffnet jedoch mit einer im Pariser Hotel Ritz situierten Szene, in der sich ein gewisser Henri Véron als „Henri, King of Moldavia“ zu erkennen gibt.12 Der Versuch des fiktiven Königs seine Identität vor der Öffentlichkeit zu verbergen, den Le Queux hier als inkognito paraphrasiert, verweist aber auch darauf, dass die zeremonielle Bedeutung des Begriffs immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Selbst namhaftere Schriftsteller nahmen es mit der zeremoniellen Auslegung des Inkognitos nicht sehr genau. Thomas Mann lässt Klaus Heinrich, den Protagonisten seines Romans Königliche Hoheit (1909), zum Abschluss seiner Erziehung auf eine längere, deutlich an die Grand 7 8 9 10 11
12
Vgl. Archives du Palais de Monaco, C 938, livrets de la Croix rouge française, carte de groupe sanguin. Vgl. Archives du Palais de Monaco, C 950/2. Vgl. Paris-Match 261 (27.3.–3.4.1954), 45. Vgl. Archives du Palais de Monaco, C 1167. Vgl. Archives du Palais de Monaco, C 1512. Weitere Hinweise zum Inkognito im Fürstentum Monaco finden sich unter den Signaturen A 827, C 525, C 610, C 639, C 646, C 684, C 697. Le Queux (1918), 9.
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Tour erinnernde Bildungsreise ins Ausland aufbrechen. Der Großherzog des imaginären Kleinstaates Grimmburg besucht „auch die schönsten Länder des Südens, inkognito, unter einem Decknamen von romanhaftem Adelsklang.“13 Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bemühte schließlich auch Marcel Proust in seinem monumentalen Hauptwerk A la recherche du temps perdu das Inkognito. Die Stelle aus dem ersten Band des Zyklus, Du côté de chez Swann, der 1913 veröffentlicht wurde, lässt erkennen, wie selbst ein mit der aristokratischen Welt bestens vertrauter Autor den Begriff schleichend seiner zeremoniellen Bedeutung enthob. Insofern steht Prousts Romanfigur Swann, ein vermögender Lebemann und enger Freund des englischen Thronfolgers, stellvertretend für den Verlust des Adels über die Inkognitohoheit: Pendant bien des années, où pourtant, surtout avant son mariage, M. Swann, le fils, vint souvent les voir à Combray, ma grand’tante et mes grands-parents ne soupçonnèrent pas qu’il ne vivait plus du tout dans la société qu’avait fréquentée sa famille et que sous l’espèce d’incognito que lui faisait chez nous ce nom de Swann, ils hébergeaient — avec la parfaite innocence d’honnêtes hôteliers qui ont chez eux, sans le savoir, un célèbre brigand — un des membres les plus élégants du Jockey-Club, ami préféré du comte de Paris et du prince de Galles, un des hommes les plus choyés de la haute société du faubourg Saint-Germain.14
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwand das zeremonielle Motiv des Inkognitos nahezu vollständig hinter seiner umgangssprachlichen Bedeutung. Gleichzeitig erfuhr der Begriff insbesondere in der Literatur immer neue Interpretationen und Verwendungsweisen. Diese Entwicklung kann als Resultat der seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden zeremoniellen Entkernung des Inkognitos angesehen werden. Da eine systematische Begriffsverwendung nicht mehr zu erkennen ist, sollen einige Buchtitel genügen, um das bis heute zu beobachtende Ausfransen des Inkognitobegriffs zu illustrieren. Während die Niederländerin Jo van Ammers-Küller in der Zwischenkriegszeit noch einen Roman vorlegte, dessen deutsche Übersetzung mit Prinz Inkognito (1934) betitelt war, schrieb Adolf Koelsch nach dem Zweiten Weltkrieg das populärwissenschaftliche botanische Sachbuch Der Herr der Welt inkognito. Von der Größe der Natur, ihrem Lustgarten und dessen Eigentümern (1974). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts veröffentlichte Ludwig Bemelmans seine autobiografische Fiktion How to travel incognito (2001) und im selben Jahr erschien bei Milton Bradley (MB-Spiele) das Brettspiel Inkognito. Agententreff in Venedig. Jill Bradley interessierte sich 2004 mit Die Lady liebt incognito für das erotische Potenzial des Wortes, genauso wie Lindsay Gorden 2011 in ihrer Kurzgeschichtensammlung Am liebsten inkognito. Der Schauspieler und Moderator Christian Ulmen berichtete der Öffentlichkeit 2008 mit Inkognito. Ein Praktikant will nach oben von seinen Erfahrungen in der freien Wirtschaft. 13 14
Mann (2004), 133. Proust (1946), 28.
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Aus umgekehrter Perspektive hatte Klaus Doppler bereits 2006 mit seinem Unternehmensführer Inkognito. Führung von unten betrachtet den Begriff in einem ähnlichen Zusammenhang verwendet. Aber auch in den Wissenschaften ist der Inkognito-Begriff inzwischen nahezu vollständig von seiner zeremoniellen Tradition losgelöst. Selbst in James H. Johnsons kenntnisreicher Studie Venice Incognito. Masks in the Serene Republic (2011), die sich mit Maskeraden und Identitätskonstruktionen im Venedig des 18. Jahrhunderts beschäftigt, erfährt der Leser nur in einem kurzen Kapitel von der zeremoniellen Spielart des Inkognitos. Obwohl Johnson dessen zeremonielle Bedeutung durchaus kennt, benutzt er den Begriff im Titel rein umgangssprachlich. Dies gilt umso mehr für Incognito. The Secret Lives of the Brain (2011), den Bestseller des Neurowissenschaftlers David Eagleman. Dessen Studie zu Wahrnehmungsmustern des menschlichen Gehirns lässt keinerlei Bezug zum zeremoniellen Inkognito erkennen. Während verschiedenste literarische Gattungen das Inkognito konstant erweitern, verändern und neu erfinden, zeigt sich auch in anderen Bereichen, dass der zeremonielle Gebrauch des Inkognitos im 20. Jahrhundert größtenteils zum Erliegen kam. Dies gilt selbst für die Diplomatie, eine der genuinen Geburtsstätten des Inkognitos. Immerhin verband sich dessen Genese aufs Engste mit dem Anliegen, besonders heikle politische Probleme schneller und mit geringerem Aufwand zu lösen, als dies im Rahmen offizieller diplomatischer Treffen und dem damit verbundenen Zeremoniell möglich gewesen wäre. Das sich im frühen 20. Jahrhundert europaweit durchsetzende Konzept des Staatsbürgers, dessen Individualität nach administrativ-bürokratischen Gesichtspunkten definiert und festgeschrieben wurde, trug erheblich zum diplomatischen Niedergang des Inkognitos bei. Ein personengebundener und nicht übertragbarer Identitätsnachweis in Form eines Reisepasses machte jeden Bürger eindeutig erkennbar und zweifelsfrei identifizierbar. Um für die Behörden jederzeit erfassbar zu bleiben, konnte der Einzelne seine Identität im 20. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres temporär gegen eine andere eintauschen. Der Staatsbürger besaß kein Recht auf den ludischen Identitätswechsel des Inkognitos. Stattdessen wurden Personen, die ihre Identität eigenmächtig veränderten, zunehmend kriminalisiert und als Betrüger gebrandmarkt. Erich Wulffen definiert in seiner 1910 veröffentlichten Studie Gauner- und Verbrecher-Typen den Betrüger als jemanden, der versucht, „sich für eine andere Person aus[zu]geben“.15 Eine besondere Spielart dieses Typus stellt der Hochstapler dar. Unter bewusster Vorspiegelung falscher Tatsachen konstruiert er eine temporäre Identität, um materielle Vorteile zu erlangen. Der Hochstapler, der 15
Wulffen (1910), 1.
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IV. Spuren des Inkognitos
als Verbrechertypus und gesellschaftliches Schreckgespenst vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Konjunktur hatte, benutzte in vielen Fällen eine fingierte adelige Identität. Zwar unterschied er sich eindeutig vom Inkognitoträger, da seine gewählte Identität kein gespieltes Geheimnis, sondern einen tatsächlichen Täuschungsversuch bezeichnete. Zudem gaukelte diese Identität eine höhere soziale Stellung vor. Gegenüber ihren Opfern benutzten Hochstapler jedoch systematisch bestimmte, an das Inkognito erinnernde Bescheidenheitstechniken, um ihre behauptete Identität zunächst zu verschleiern. Die Opfer sollten den angeblichen Prinzen, der sich, anscheinend um nicht aufzufallen, hinter einer anderen Identität verbarg, selbstständig entlarven, um ihm anschließend umso bereitwilliger den Geldbeutel zu öffnen. Mit dieser Masche sorgte unter anderem Harry Domela in den 1920er Jahren für Furore. Nach seiner Verhaftung avancierte er sogar zum Medienstar und schrieb noch im Gefängnis seine Memoiren, die er 1927 unter dem Titel Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela veröffentlichte.16 Betrügern und Hochstaplern das Handwerk zu legen zählte zu den Aufgaben von Diplomaten. Die Kontrolle und restriktive Ausstellung von Reisepässen erwies sich dabei als ein probates Mittel. Immerhin handelte es sich um ausgesprochen mobile und zumeist transnational operierende Personen. Berufsdiplomaten wie Walter Zechlin, der ehemalige Leiter der Pressestelle des Auswärtigen Amtes in Berlin, der 1932/33 als deutscher Botschafter nach Mexiko entsandt wurde, thematisierten in diesem Zusammenhang noch in der Zwischenkriegszeit das Inkognito. Zechlin analysierte es dabei sowohl unter bürokratischen als auch unter zeremoniellen Gesichtspunkten: Das Staatsoberhaupt selbst ist die einzige Person jedes Landes, die keinen Paß besitzt oder braucht. Auch wenn er inkognito reist, wird er eines solchen nicht bedürfen, besonders wenn es sich um das einfache (simple) Inkognito handelt, was bedeutet, daß es sich um eine inoffizielle Reise unter Verzicht auf die einem fremden Staatsoberhaupt zustehenden Ehrenbezeugungen und Feierlichkeiten handelt, während ihm alle sonstigen Erleichterungen und Rücksichten, z. B. Stellung eines Salonwagens, zuteil werden. Bei strengem Inkognito (strict), wobei auf seinen Charakter als Staatsoberhaupt keine Rücksichten zu nehmen wären, könnte allenfalls die Ausstellung eines Passes in Frage kommen, bei dem dann meistens der Name der Dynastie oder irgendein solcher aus dem großen Titelvorrat des Monarchen genommen wurde.17
Die Beispiele, die Zechlin im Anschluss an diese Passage anführt, lassen allerdings erkennen, dass er das Inkognito in erster Linie als Relikt des 19. Jahrhunderts ansieht. Zudem überträgt er die von ihm etablierten Kriterien nicht systematisch auf seine Fallbeispiele. Zechlin überliefert einerseits die Frank16 17
Vgl. Domela (1927). Siehe auch Claßen (1988), 128–39. Zechlin (1935), 99.
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit
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reichreise des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. als Graf Ruppin, die bereits Theodor Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg verewigte. In deren ersten Band, Die Grafschaft Ruppin (1862), in dem sich Fontane seiner Heimatstadt widmet, schreibt er zu Beginn des zweiten Kapitels: „Friedrich Wilhelm III., wenn er im Auslande reiste, liebte es, unter dem Namen eines ,Grafen von Ruppin‘ sein Inkognito zu wahren.“ Andererseits erwähnt Zechlin Napoleon Bonaparte, der bei seiner Rückkehr aus dem desaströsen Russland-Feldzug unter der fingierten Identität eines Monsieur de Rayneval, für die er sich extra einen Pass ausstellen ließ, in Warschau weilte.18 Dieser zweite Fall bezeichnet eindeutig kein Inkognito, da es sich anders als bei dem preußischen König nicht um einen ludischen, öffentlichen Identitätswechsel handelte, sondern um eine durch die Fluchtsituation notwendig gewordene Verstellung. Für die diplomatische Praxis des 20. Jahrhunderts spielte das Inkognito bestenfalls eine marginale Rolle. Jürgen Hartmann erwähnt es in seiner Studie zu Staatszeremoniellen und beschreibt es als terminus technicus, der weitgehend ohne praktische Auswirkungen bei offiziellen Reisen von Diplomaten verwendet wird. „Zwischen dem notifizierten Ende seiner Mission und der endgültigen Ausreise hält sich der Missionschef inkognito im Lande auf.“19 Diese Technik rekurriert durchaus auf eine diplomatische Tradition aus der Frühen Neuzeit. So war es für neu in der Republik Venedig berufene Botschafter üblich, in der Nacht vor ihrem Amtsantritt die Messe im Kloster der Insel Santo Spirito zu hören. Als der Marquis de Durfort 1759 diesem Brauch folgte, begab er sich deshalb inkognito auf die Insel.20 In anderen Handbüchern, die im 20. Jahrhundert weltweit für die Ausbildung von Diplomaten benutzt wurden, taucht der Begriff inkognito hingegen nicht auf. J. de Szilassys Traité pratique de diplomatie moderne von 1928 erwähnt ihn ebenso wenig wie Jean Serres’ Manuel pratique de protocole von 1982. Auch Satow’s Diplomatic Practice, das 2009 in sechster Auflage erschien und seit Langem als Standardhandbuch der Diplomatie gilt, kommt nicht auf das Inkognito zu sprechen.21 18
19 20 21
Vgl. Zechlin (1935), 99. „Caulaincourt travelled under his name as Duc de Vicence. Napoleon appeared upon their passports as his secretary, under the name of Monsieur de Rayneval.“ Nicolson (1946), 3. Hartmann (2 1990), 261. Vgl. Johnson (2011), 136. Vgl. Szilassys (1928); Serres (1982); Satow’s Diplomatic Practice (6 2009). Die erste Ausgabe des Satow, die 1917 in London erschien, erwähnt es hingegen noch im Rahmen eines kurzen Eintrags zum Thema „Foreign sovereign travelling incognito“. Dort heißt es: „If, however, a sovereign travels incognito in the territories of a foreign state, he can only claim to be treated as a private individual; but if he declares his identity, then he becomes entitled to all the immunities pertaining to his rank as sovereign.“ Satow (1917), 6. Im Dictionnaire diplomatique, das die Académie Diplomatique Internationale ab 1933 herausgab, findet sich im ersten Band ebenfalls ein sehr knapp gehaltenes Lemma „Incognito“.
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IV. Spuren des Inkognitos
Ähnlich wie Literatur und Diplomatie bietet auch der im 20. Jahrhundert neue Dimensionen erreichende Kult um internationale Stars des Showgeschäfts kein vielversprechendes Untersuchungsfeld für eine Zeitgeschichte des Inkognitos. Allzu augenscheinliche Gemeinsamkeiten erweisen sich schnell als irreführend. Michael Jackson, der sich oft verkleidete, um zumindest für eine gewisse Zeit im öffentlichen Raum unerkannt zu bleiben, reihte sich damit keineswegs in eine Inkognitotradition ein. Denn genauso wie viele andere bekannte Persönlichkeiten versuchte er seine Identität gezielt zu verbergen und inszenierte sie – anders als auf der Bühne – gerade nicht auf ludische Weise für ein Publikum. Auch das Beispiel des dänischen Kronprinzen Frederik, der sich unter dem Alias Jens Peter Hansen ein eigenes Facebook-Profil einrichtete, zählt nicht zu den zeitgenössischen Spielarten des Inkognitos. Immerhin rekurrierte der Prinz jedoch auf einen bürgerlichen Namen und relativierte damit seinen sozialen Status. Für George Clooney, der von Zeit zu Zeit als Arnold Schwarzenegger in Hotels eincheckt, gilt dies hingegen offensichtlich nicht.22
3.2 Die Zeitgeschichte des Inkognitos Auch im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert spielt die Geschichte des Inkognitos vor allem auf der politischen Bühne, allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn weit mehr als in den nach 1918 etablierten Republiken erwies sich das Inkognito in totalitären Regimen, die in vielen Staaten Europas in der Zwischenkriegszeit entstanden, als völlig unzeitgemäß. Weder die Faschisten in Italien, Spanien oder Ungarn noch die deutschen Nationalsozialisten hegten irgendein Interesse, ihre Identität spielerisch zu wechseln.23 Sie strebten
22 23
Dies wird allerdings nicht als zeitgenössische diplomatische Praxis beschrieben. „Lorsque de hautes personnalités se déplacent en pays étranger, elles renoncent ainsi aux marques qui s’attachent à leur rang, lorsqu’elles séjournent à l’étranger sous leur titre véritable. Le secret doit être observé par courtoisie.“ Vgl. Académie Diplomatique Internationale (1933), 1110. Karl Kraus erwähnt das Inkognito im Zusammenhang mit seiner Teilnahme am ersten Pan-Europa Kongress 1926 in Wien. Dort wurde ihm die „Inkognitologe des Großen Konzerthaussaales“ zugewiesen, wodurch, wie er ironisch anmerkte, sein „Inkognito noch sicherer gewahrt“ gewesen sei. Kraus (1927), 82. Vgl. Gropp (2011), 9. Eine Ausnahme stellt das totalitäre Regime der Demokratischen Volksrepublik Korea nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Sowohl Kim Il-sung als auch sein Sohn und Nachfolger Kim Jong-il inszenierten mehrere Reisen, die auf inkognito-Techniken rekurrierten. Auf anscheinend privaten Autofahrten nahmen sie bereitwillig unbekannte Passanten mit, die sie über ihre Identität im Unklaren ließen. „Tales of one or the other Kim giving average citizens a ride are common in the Text, and the story plays out here in familiar fashion: the
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit
297
den rückhaltlosen Zugriff des Staates auf seine Bürger an und verklärten ihre politischen Führer in endloser medialer Aufbereitung. Beides ließ keinen Platz für alternierende Identitäten.24 Die Leitfiguren der Regime mussten jederzeit sichtbar sein und charakterisierten sich durch fortwährende Präsenz. Freiwillige Identitätswechsel widersprachen sowohl ihrer Weltsicht als auch ihrer politischen Botschaft. Dies verdeutlicht das Beispiel Heinrich Himmlers. Im Gegensatz zu anderen Nazischergen, wie z. B. Adolf Eichmann, deren oft erfolgreiche Fluchtversuche unter fingierten Identitäten nichts mit einem Inkognito gemein haben, lässt seine erfolglose Flucht am Kriegsende und der an seine Festnahme anschließende Selbstmord erkennen, wie Führungspersonen des NS-Regimes letzten Endes sowohl aufgrund ihrer politischen Karriere als auch ihrer ideologischen Überzeugung unfähig waren, ihre Identität gezielt zu verändern: So blieb ihm nur das gefälschte Soldbuch, das ihn als Feldwebel Heinrich Hitzinger auswies, wobei schon der gewählte Name seine innere Hemmung erahnen lässt, seine Identität tatsächlich zu verleugnen. Was die äußere Maskerade anbelangte, so hatte er sich zwar Zivilkleidung und eine Augenklappe, aber nicht einmal eine andere Brille besorgt. Er war bis zuletzt als der erkennbar, der er nun einmal war: Heinrich Himmler.25
Hans-Ulrich Wehler bezeichnet Himmlers Verhalten zwar ungenau aber nicht völlig zu Unrecht als „kümmerliche[s] Inkognito“.26 Die Episode zeigt nicht nur die eindeutigen Unterschiede zum zeremoniellen Inkognito eines trotz der lebensbedrohlichen Situation halbherzigen Fluchtversuchs. Sie beschreibt vor allem die politisch bedingte Unfähigkeit von Führungspersonen totalitärer Regime ihre Identitäten zu alternieren, spielerisch zu verändern und pragmatischen Erfordernissen anzupassen. Die Geschichte des Inkognitos im 20. Jahrhundert betrifft daher in erster Linie die westliche Welt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu anderen Zeremoniellen, wie z. B. Friedensschlüsse auf neutralem Boden, setzte das Inkognito seine unterbrochene Tradition nicht einfach fort. Wie beschrieben waren Herrschertreffen in der Mitte von Flüssen oder auf Inseln seit dem Hochmittelalter ein gängiges diplomatisches Instrument, das einen wichtigen Beitrag zur Genese des Inkognitos leistete.27 Noch 1807 trafen sich Napoleon und der russische Zar Alexander I. auf einem Floß in der Memel, um den
24
25 26 27
woman improbably fails to recognize who has picked her up, the cadre wrings his hands over her irreverence, and the Leader chuckles indulgently.“ Myers (2011), 124. Benito Mussolini reiste vor seinem Regierungsantritt vom 7. bis zum 17. März 1922 inoffiziell nach Deutschland, wobei das Auswärtige Amt ebenso wie die italienische Botschaft in Berlin informiert waren. Er traf sich dabei u. a. mit Wirth, Stresemann, Rathenau und Theodor Wolff. Vgl. De Felice (1966), 233–7. Longerich (2008), 756. Wehler (2010), 110. Vgl. Kap. I.1.3.
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IV. Spuren des Inkognitos
Frieden von Tilsit auszuhandeln. Dadurch wurde das „halsstarrige Zeremoniell scheinbar ausgeschaltet“.28 Über 150 Jahre später traten sich die Verhandlungspartner der rhodesischen Verfassungskonferenz von 1975 auf einer Brücke über dem Sambesi gegenüber, um jenseits territorialer Hoheitsrechte die Zukunft eines neuen Staates zu entwerfen.29 In Bezug auf das Inkognito sind solche Kontinuitätslinien weit weniger stringent. Das Inkognito erfand sich vielmehr neu, ohne dass der Begriff dabei verwendet wurde. Es erlebte seine Wiedergeburt in einer sich verändernden Form des öffentlichen Auftretens von Politikern, die sich vor allem seit den 1970er Jahren beobachten lässt. Denn nun entstanden neue Formen einer in der Öffentlichkeit zur Schau gestellten Privatheit und Vertraulichkeit. Politische Machthaber traten auf eine bis dahin unbekannte Weise betont locker auf und ließen jegliche zeremonielle Allüren bewusst beiseite. Hohe Staatsmänner kleideten sich bei bestimmten politischen Treffen auffallend alltäglich und verzichteten bei ausgewählten Anlässen demonstrativ auf feierliche Empfänge und etablierte Etikette. Protokollarische Zwänge wurden so weit wie möglich umgangen und auf ein Minimum reduziert. Die Geschichte dieser Entwicklung ist allerdings noch nicht geschrieben und kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Die Forschung hat für diesen Themenkomplex bisher lediglich stichprobenartige Vorarbeiten geliefert; die relevanten Archive sind auf Grund der Sperrfristen teilweise noch nicht zugänglich. Zwei Beispiele sollen im Folgenden Ausgangspunkte einer möglichen Geschichte des Inkognitos im 20. und 21. Jahrhundert skizzieren. 1942 gründete US-Präsident Franklin Delano Roosevelt einen „presidential weekend retreat“ in Catoctin Mountain, Maryland, der unter dem Namen Camp David internationale Bekanntheit erlangte. Zunächst allerdings bezeichneten der Präsident und seine Vertrauten die weitläufige Anlage noch als „Shangri-La“ in Anlehnung an das Tibetanische Kloster in James Hiltons Roman Lost Horizon (1933).30 Im Vorwort zur einzigen Geschichte dieses Präsidentendomizils bezeichnet David Eisenhower, der Enkel des gleichnamigen Präsidenten, der in Begleitung seines Großvaters viel Zeit auf dem Landsitz verbrachte, diesen als bewusst angelegtes „getaway from ,history‘“.31 Der USamerikanische Präsident nutzte die Macht seines Amtes um sich zeremonielle Freiräume zu schaffen und tat es damit dem britischen Premierminister gleich, der seit 1921, beginnend mit David Lloyd George, über einen offiziellen Landsitz in Chequers in der englischen Grafschaft Buckinghamshire verfügt. Bei
28 29 30 31
Rahn (1997), 187. Vgl. Schneider (1977), 2. Nelson (1995), 2. Ebd., IX.
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit
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russisch-sowjetischen Staatsführern gehörte der Besitz einer auch für politische Treffen genutzten, privaten Datscha schon länger zur zeremoniellen Tradition. Einen ersten Höhepunkt erlebte Camp David bei dem Treffen zwischen USPräsident Dwight D. Eisenhower und dem sowjetischen Regierungschef Nikita Sergejewitsch Chruschtschow 1959. Nachdem Verhandlungen der amerikanischen und sowjetischen Außenminister in Genf keine Ergebnisse gebracht hatten, lud Eisenhower sein sowjetisches Pendant zu einer „informal conversation“ auf den Landsitz ein.32 Dies wurde allgemein als „special distinction“ gewertet und der schnell herauf beschworene „spirit of Camp David“ bezeichnete die Hoffnung, dass eine persönliche, ungezwungene und betont unzeremonielle Begegnung zur Entspannung des sich intensivierenden Ost-West-Konflikts beitragen würde.33 1978 lud US-Präsident Jimmy Carter den ägyptischen Präsidenten Anwar asSadat und den israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin nach Camp David. In einer 13-tägigen Zusammenkunft verhandelten sie einen möglichen Friedensplan für den Nahen Osten. Diese Gespräche führten schließlich zum ägyptisch-israelischen Friedensvertrag von 1979 und brachten Sadat und Begin noch 1978 den Friedensnobelpreis ein. Einmal mehr wurde hier eine private Begegnung in ungezwungener Atmosphäre inszeniert, die es möglich machen sollte, durch informelle Gespräche im kleinen Kreis neue politische Lösungen zu erarbeiten. Diesmal hatten die US-amerikanischen Gastgeber sogar ein eigenes Pressezentrum auf dem Gelände installiert, so dass die Welt über die angeblich so abgeschiedene Zusammenkunft fortlaufend informiert wurde. Jimmy Carter trug demonstrativ Freizeitkleidung – er „set the style in dress, wearing a pair of faded blue jeans“ – und betonte durch sein bewusst anti-zeremonielles Auftreten den intimen Charakter des politisch hoch sensiblen Treffens.34 Obwohl der Begriff in Camp David nie verwendet wurde, weisen beide Treffen strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Inkognito auf. Denn sie wurden initiiert nachdem offizielle politische Gespräche zu scheitern drohten bzw. bereits gescheitert waren. Durch zeremonielle Versatzstücke, die den einvernehmlichen Verzicht auf jedes Zeremoniell kommunizierten, wurden neue Räume für einen produktiven Dialog geschaffen. Die Wahl des Ortes und die damit einhergehende Kleidung zielten darauf ab, mögliche Kompromisse zumindest thematisierbar zu machen, ohne dass diese, wie bei einem offiziellen Treffen großer Delegationen, zwangsläufig als verbindliche Aussagen galten. Die Teilnehmer und Organisatoren dieser den persönlichen Aspekt betonenden, informellen Treffen kommunizierten diese systematisch an die Öffentlichkeit. Ähnlich wie beim Inkognito handelte es sich um sorgfältig in32 33 34
Ebd., 42. Ebd. 43, 44. Ebd. 114.
300
IV. Spuren des Inkognitos
szenierte politische Zeremonielle mit einer klar definierten Funktion in einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Raum. Die Protagonisten änderten zwar dabei nicht ihre Identität, verwiesen jedoch auf ihre Privatsphäre und lenkten die Aufmerksamkeit von ihrem Amt und ihrem Titel ab. Die Neuerfindung des Inkognitos nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem Namen und veränderten Vorzeichen kann auch am Beispiel des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl beschrieben werden. Als dieser Ende Mai 1988 auf Einladung Erich Honeckers, des Generalsekretärs der SED, zu einer Privatreise in die DDR aufbrach, bei der er von keinen Journalisten begleitet wurde, hatte dies freilich nichts mit einem Inkognito zu tun. Denn Kohl nutzte die Reise zu keinerlei politischen Gesprächen. Zudem wurde sie in Westdeutschland nur wenig und in Ostdeutschland gar nicht öffentlich kommentiert.35 Anders verhält es sich mit Kohls ungleich bekannter gewordenen Reise in den Kaukasus vom 14. bis zum 16. Juli 1990. Im Rahmen der Verhandlungen um die deutsche Einheit hatte Michail Gorbatschow, der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, den deutschen Bundeskanzler in seine Heimatregion eingeladen. Dies begründete er auf einer Pressekonferenz kurz vor Abflug: „Im Kaukasus sei die Luft herrlich und mache die Gedanken klar.“36 Auch in diesem Fall sollte der private Gesprächsrahmen neue Verhandlungspositionen ermöglichen. Hans Klein, dem als Bundesminister für besondere Aufgaben die Leitung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung oblag, beschrieb die Begegnung mit dem Slogan „Politik ohne Krawatte“ und berichtet in seinem Buch Es begann im Kaukasus, wie das „äußere Erscheinungsbild [. . . ] die gelockerte Atmosphäre“ widerspiegelte.37 Unmittelbar vor dem gemeinsamen Spaziergang am Abend des ersten Tages legten beide Staatsmänner demonstrativ informelle Freizeitkleidung an, die in Form von Kohls dunkelblauer Strickjacke schnell Berühmtheit erlangte. Alle anderen Delegationsmitglieder blieben hingegen in Anzug und Krawatte, wodurch es dem Kanzler und dem Generalsekretär gelang, „ein Bild großen Einvernehmens [zu] vermitteln“.38 Dieses wurde durch die anwesenden Kameramänner des deutschen und des sowjetischen Fernsehens in der ganzen Welt verbreitet. Der ebenfalls anwesende Vize-Kanzleramtschef Horst Teltschik befand: „Fast ist es, als hätten sich Freunde hier oben getroffen, um gemeinsam ein paar Stunden in dieser wilden Naturlandschaft zu verbringen.“39 Genau dieses Bild zu inszenieren und zu kommunizieren war die eigentliche Aufgabe des Treffens. Denn die dargestellte persönliche Bindung zwischen beiden 35 36 37 38 39
Vgl. Schönfelder/Erices (2007). Teltschik (1991), 326. Klein (1991), 204. Siehe auch die Bildunterschrift des Fotos am Anfang des Buches. Teltschik (1991), 331. Siehe auch Klein (1991), 211. Teltschik (1991), 331.
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit
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Regierungschefs sollte jegliche Bedenken gegen die sich abzeichnende Wiedervereinigung Deutschlands zerstreuen. Der anscheinend so private und betont anti-zeremonielle Spaziergang erfüllte eine eindeutige politische Funktion, indem er gezielt von den offiziellen Ämtern der beiden plaudernden älteren Herren ablenkte. „Das Sensationelle ist, so befindet ein deutsches Delegationsmitglied, daß an der Art und Weise, wie die beiden miteinander umgehen, nichts Sensationelles mehr ist.“40 Sowohl Teltschik als auch Klein betonen in ihren Memoiren nicht nur die politische Bedeutung des Treffens, sondern auch dessen gezielte Inszenierung für eine weltweite Medienöffentlichkeit: Unser kleiner Spaziergang mit der fröhlichen Plauderei während der kurzen Rast am Waldrand ist – obwohl dabei kein Wort über die Vereinigung Deutschlands, den Abzug der sowjetischen Truppen oder die NATO fällt – ein Teil der Verhandlungen. Ein wichtiger sogar. Und es geht dabei nicht mehr bloß um Atmosphärisches und zwischenmenschliche Beziehungen. Die Fernsehbilder und Pressefotos dieser Szenen werden um die Welt geschickt. Vor allem aber in alle Teile der Sowjetunion.41
Die Begegnung im Kaukasus beruhte daher auf zeremoniellen Techniken, die für die Geschichte des Inkognitos eine wichtige Rolle spielen. Die Kleidung, der Ort der Zusammenkunft, die Kommunikation mit der Öffentlichkeit, die kleine Begleitung und der dezidierte Verzicht auf offizielle Anreden sowie Verweise auf die politischen Ämter der Gesprächspartner verorten das Treffen zwischen Kohl und Gorbatschow in der Traditionslinie des Inkognitos. Zwar fehlen mit der Verwendung eines genuinen Pseudonyms und der vorauseilenden Ankündigung zwei idealtypische Bestandteile. Dennoch illustriert es eine gewisse Renaissance des Inkognitozeremoniells im 20. Jahrhundert. Die inzwischen auf G8-Gipfeln und Schweizer Wirtschaftsforen überall zu beobachtende Tendenz eines bewusst informellen und anti-zeremoniellen Auftretens einflussreicher Staatsmänner zeigt, dass die Techniken des Inkognitos auch in der Gegenwart politische Spielräume eröffnen.
3.3 Periodisierungen Die für das 20. Jahrhundert skizzierte Entwicklung verdeutlicht die Komplexität und die Anpassungsfähigkeit des Inkognitos. Seit der Genese dieses Zeremoniells im ausgehenden Mittelalter lassen sich zu jedem Zeitpunkt verschiedene, nebeneinander existierende Spielarten beobachten. Obwohl besonders im Laufe des 18. Jahrhunderts unterschiedliche Akteure und Autoren das Inkognito reglementierten, kodifizierten und festschrieben, führte dies nie zu einer einzi40 41
Klein (1991), 205. Ebd., 213.
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IV. Spuren des Inkognitos
gen, kanonischen Form. Denn seine prinzipielle Funktion bestand immer darin, aufwendigere und verbindlichere Zeremonielle zeitweise durch informellere Umgangsformen zu ersetzen. Daher charakterisiert sich das Inkognito primär durch eine auffallende Flexibilität. Der pragmatische Zweck eines Inkognitos behielt stets die Oberhand über seine zeremonielle Tradition. Daher scheint es am Ende dieses historischen Abrisses angebracht, noch einmal die grundlegenden Definitionskriterien des zeremoniellen Inkognitos Revue passieren zu lassen. Die Kenntnis der Identität des Inkognitoträgers bleibt dabei entscheidend. Identitäre Täuschungsversuche, wie die Verkleidung auf der Flucht oder die Verstellung zum Zwecke der Spionage, gelten ebenso wenig als Inkognito wie Fälle von vorgetäuschter, simulierter oder fiktiver Herrschaft. Andere Formen der Verstellung sind ebenfalls vom Inkognito zu unterscheiden. Dazu zählt die in der Frühen Neuzeit äußerst angesehene Technik der dissimulatio. Sie sollte die innersten Gedanken verbergen, ohne dabei das Gegenüber zu belügen.42 Ein gelungenes Inkognito ließ dagegen die Identität seines Trägers durchscheinen, damit sich die zur Schau gestellten Tugenden wie Bescheidenheit und Volkstümlichkeit auf diesen übertrugen. Anders als bei der dissimulatio bestand die Gefahr einer Lüge dabei nicht, da die tatsächliche Identität allseits bekannt war. Jon R. Snyder stellt in seiner beeindruckenden Geschichte dieser rhetorisch-diplomatischen Verstellungsform fest, dass sie der Aufmerksamkeit der Historiker lange Zeit entgangen sei. „[D]issimulation has persistently escaped the gaze of history, striving to remain covert, incognito, and unspoken.“43 Obwohl dieser Befund auch auf das Inkognito zutrifft, fällt auf, wie unreflektiert Snyder den Begriff benutzt. Ähnlich wie Johnson in Venice Incognito verwendet auch dieser ausgewiesene Fachmann historischer Identitätskonstruktionen inkognito als umgangssprachliche Metapher, um die Aufmerksamkeit der Leser zu steigern. Neben der kategorischen Abgrenzung von jeglichen Täuschungsversuchen kennzeichnet sich das Inkognito durch seinen dezidiert ludischen Charakter. Es handelt sich um ein Identitätsspiel, dessen ohnehin flexible Regeln im Laufe der Geschichte variierten. „Im Prinzip war das Inkognito ein Spiel, das davon lebte, dass die Gesprächspartner die Regeln des Inkognito anerkannten, auch wenn ihnen die wahre Identität des Reisenden durchaus bewusst war.“44 Ohne 42 43 44
Vgl. Snyder (2009), 6. Ebd., 4. Jochen Bepler (ohne Quellenangabe) zitiert nach Freller (2007), 12. Im vorausgehenden Absatz schreibt Freller: „Häufig legten sich die reisenden Mitglieder der Hocharistokratie ein ,offizielles‘ Inkognito zu. In einem stillschweigenden Übereinkommen wurden auf diese Weise der wahre Status des Reisenden inoffiziell angezeigt und so die Annehmlichkeiten der Kontaktaufnahme zu den ausländischen Würdenträgern ermöglicht, gleichzeitig aber auf den Verhaltenskodex und die damit verbundenen Kosten einer offiziellen Fürstenreise verzichtet.“
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit
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die zu jedem Zeitpunkt etablierte Identität des Inkognitoreisenden konnte diese Spielsituation nicht entstehen. Ausgehend von der bekannten Identität und dem daraus resultierenden Spielcharakter von Inkognitozeremoniellen können die in der Einleitung etablierten idealtypischen Definitionskriterien abschließend überprüft werden.45 Dabei fällt auf, dass nur selten alle Kriterien gleichzeitig erfüllt wurden. So kommt das Inkognito zwar durchaus vor allem auf Reisen außerhalb des eigenen Herrschaftsgebietes zur Anwendung. Allerdings nutzten es Monarchen des aufgeklärten Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenso häufig für Inspektionsreisen ins eigene Land. Im 19. Jahrhundert verstärkte die zum Normalfall avancierte Inkognitoreise mit der Eisenbahn diese Entwicklung. Zudem war es zumindest vereinzelt auch am eigenen Hof praktikabel. Absolutistische Herrscher wie August II. von Sachsen bedienten sich des Inkognitos um ihre Mätressen aufzusuchen.46 Für die Verwendung eines Pseudonyms, dem zweiten Kriterium des Inkognito-Idealtypus, lassen sich ebenso verschiedene Ausnahmen beobachten. Zar Peter I., der mit seiner Großen Gesandtschaft (1697/98) das Inkognitozeremoniell in Europa legitimierte, reiste ohne genuines Pseudonym. Mit dem bürgerlichen Namen Petr Michajlow gab er sich weder einen niedrigeren Adelstitel noch rekurrierte er spielerisch auf seine Herkunft. Wie und wann sich die beschriebene Reglementierung des Inkognitopseudonyms durchsetzte, ist daher weiter zu untersuchen. Gleiches gilt für die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende, mit der zeremoniellen Entkernung des Inkognitos einhergehende, freiere Verwendung bzw. der völlige Verzicht auf Pseudonyme. Auch für das dritte idealtypische Kriterium, die vorauseilende Ankündigung des Inkognitos, finden sich Ausnahmen. Peter der Große verheimlichte seine Reise Ende des 17. Jahrhunderts ebenso vor seinen Untertanen wie Friedrich II. von Preußen im 18. und Ludwig II. von Bayern im 19. Jahrhundert. Trotzdem handelt es sich bei der öffentlichen Bekanntmachung um eines der beständigsten Versatzstücke des Inkognitos, dessen reibungsloser und erfolgreicher Ablauf nicht durch uneingeweihte Personen gestört werden sollte. Zudem zielte das Inkognito immer darauf ab, dass die Öffentlichkeit die positiven Eigenschaften der fiktiven Identität auf den Inkognitoträger übertrug. Der Einsatz bestimmter zeremonieller Techniken charakterisierte als vierter Bestandteil des Idealtyps jedes Inkognito. Deren Auswahl und Verwendung variierte jedoch stark. Dies gilt für die im Gespräch verwendete Titulatur (Sir, Bruder, edler Freund usw.) ebenso wie für reduzierte Ornamente (z. B. weniger 45 46
Vgl. Einleitung, Abschnitt 2. Vgl. Schnitzer (1999), 40. Ob ihm das andere Vertreter des Absolutismus, wie z. B. Ludwig XIV. in Frankreich, gleichtaten, bleibt zu untersuchen.
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IV. Spuren des Inkognitos
dekorierte Empfangssäle, Kutschen47 etc.). Insbesondere in Bezug auf die verwendete Kleidung, die in allen Epochen ein Inkognito zeremoniell anzuzeigen half, bleiben Fragen offen. Welche Kleidungsstücke symbolisierten das Inkognito? Wie kamen solche Regelungen zustande, wie wurden sie tradiert und verändert? Auch für die flexible An- und Ablegung des Inkognitos, das letzte idealtypische Kriterium, finden sich kaum Ausnahmen. Diese Flexibilität war der entscheidende Vorteil des Inkognitos gegenüber allen anderen Zeremoniellen und kann als eine der Hauptursachen für seine Langlebigkeit angesehen werden. Die Gewichtung der einzelnen Kriterien wirkt sich nachhaltig auf die Beurteilung des Inkognitos im 19. und 20. Jahrhundert aus. Je strenger sie angewendet werden, desto deutlicher erscheint der Bruch nach der Französischen Revolution und erneut nach dem Ersten Weltkrieg. Trotz der Verbürgerlichung der Grand Tour gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich das Inkognito nicht im Bürgertum, sondern blieb auch im 19. Jahrhundert weitgehend dem Adel vorbehalten. Erst im 20. Jahrhundert fand es durch die betont privaten Treffen hoher Mandatsträger ein Anwendungsfeld jenseits des Adels. Die Aufmerksamkeit für die literarische und umgangssprachliche Verwendung des Begriffs beeinflusst die historische Darstellung des Inkognitos ebenfalls stark. Einerseits verstärkte die ständige literarische Verarbeitung sowohl den ludischen Charakter als auch den öffentlichen Status des Inkognitos. Andererseits erschweren die vielen sprachlichen Bedeutungsschöpfungen die Definition des zeremoniellen Inkognitos. Dies gilt selbst dann, wenn, wie beim Kaukasustreffen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, der Begriff inkognito nicht explizit verwendet wird. So gilt Kohls Strickjacke als Symbol einer persönlichen Freundschaft, als Zeichen einer genuin privaten Unterredung, als Bestandteil einer äußerst geschickten Verhandlungsstrategie und als Symbol des friedlichen Zustandekommens der deutschen Wiedervereinigung. Heute hängt sie als Exponat im Deutschen Historischen Museum in Berlin und belegt damit die Entstehung neuer Diskurse im Umfeld des Inkognitos. Dementsprechend ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, die Geschichte des Inkognitos zu periodisieren. In Bezug auf die Begriffsgeschichte erscheint das Inkognitozeremoniell als ein circa dreihundert Jahre langes lexikalisches
47
Die Oekonomische Encyklopädie verzeichnet unter incognito: „Wenn in Italien die Kutschpferde der Prinzen, der Cardinäle und der Ambassadeure, keine Quasten (fiocchi) aufhaben, und wenn die Kutschenvorhänge (bandinelli) zugezogen sind, so ist solches ein Zeichen, daß diese Herren incognito fahren; und alsdann braucht niemand, wenn sie vorbey fahren, stille zu stehen, oder den Hut abzunehmen. Wenn die Cardinäle ohne rothe Calotte erscheinen, so ist solches ebenfalls ein Zeichen, daß sie incognito seyn wollen.“ Krünitz (1783), 498.
3. Inkognito im 20. Jahrhundert: Epilog und Fazit
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Zwischenspiel. Bis ins 16. Jahrhundert wurde das aus dem Lateinischen zunächst ins Italienische übernommene Wort inkognito ausschließlich im Sinne von unbekannt gebraucht. Erst gegen Mitte des 16. Jahrhunderts erhielt es seine zeremonielle Bedeutung als öffentliches Identitätsspiel.48 Obwohl sich in der Literatur von Anfang an vielfältige Variationen finden, überwog das zeremonielle Verständnis des Begriffs bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Erst ab diesem Zeitpunkt begann sich der umgangssprachliche Gebrauch durchzusetzen, so dass inkognito im 20. Jahrhundert vor allem als Synonym für unerkannt gebraucht wurde.49 Lucien Bély sieht im 18. Jahrhundert die Blütezeit des Inkognitos. Er schreibt die Geschichte eines kontinuierlichen Aufstiegs und einer beständigen Ausarbeitung bis zum Ende der Frühen Neuzeit. Das Inkognitozeremoniell sei gegen Ende des 17. Jahrhunderts perfektioniert worden, bevor es das darauffolgende Jahrhundert „porta à la hauteur d’un art“. Dadurch habe die Anzahl der Inkognitoreisen einen historischen Höchststand erreicht.50 In Bezug auf seine Quantität bezeichnet jedoch das von Bély nicht thematisierte 19. Jahrhundert die intensivste Phase des Inkognitos. Auch hinsichtlich des politischen Einflusses des Inkognitos ergibt sich ein abweichendes Periodisierungsschema. Die für die zeremonielle Festschreibung des Inkognitos so bedeutende Große Gesandtschaft Peters I. führte zu keinen konkreten politischen Ergebnissen. Peter verfehlte sein Ziel einer europäischen Allianz gegen das Osmanische Reich. Bemerkenswert ist zudem, dass dieser für das Inkognito so bedeutende Präzedenzfall von einem zu dieser Zeit noch zweitrangigen europäischen Monarchen initiiert wurde. Peter der Große benutzte das Inkognito als Mittel zum politischen Aufstieg. Die nachhaltigsten politischen Konsequenzen zeigte das Inkognito noch vor seiner Kodifizierung im 18. Jahrhundert. Dies belegen die Vorformen des Inkognitos bei den englischen Königen Eduard I., Eduard III. und Heinrich VIII., vor allem aber der Pyrenäenfrieden von 1659. Die volkstümliche Popularität Inkognitoreisender in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wäre demnach als erster Schritt einer sich beständig professionalisierenden Selbstdarstellung zu sehen, die im 20. Jahrhundert in Form einer systematischen Selbstvermarktung hoher Mandatsträger ihre Fortsetzung gefunden hat. Joseph II., Jimmy Carter und Helmut Kohl erkannten in der sorgfältig inszenierten Zurschaustellung einer angeblichen Privatsphäre das eigentliche politische Potenzial des Inkognitos. 48 49 50
Vgl. Kap. I.3.6. Die dritte Auflage des Duden Fremdwörterbuchs von 1974 definiert das Inkognito als „Verheimlichung der Identität einer Person, das Auftreten unter fremden Namen“. Dafür fehlt allerdings eine solide Forschungsgrundlage. Es steht zu vermuten, dass weitere, bisher noch nicht untersuchte Beispiele zu neuen Periodisierungen und anderen geografischen Schwerpunkten führen könnten. Bély (1999), 386; siehe auch 469, 510.
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IV. Spuren des Inkognitos
Selbst bei der Periodisierung des Inkognitos im Hinblick auf seine Reglementierung als Zeremoniell besteht Klärungsbedarf. Immerhin ist der Absolutismus diejenige Epoche, in der höfische Zeremonielle den größten Stellenwert besaßen. Deren konkrete Ausgestaltung hing trotz aller Traditionsverbundenheit von der Entscheidung des Monarchen ab. So nahm der im französischen Exil aufwachsende englische Thronprätendent James Francis Edward Stuart, den seine Anhänger als Jakob III. titulierten, nach dem Tod seines Vaters 1701 den Inkognitostatus unter dem Pseudonym eines „Chevalier de Saint George“ für sich in Anspruch. Ludwig XIV., der Jakob als legitimen Erben des englischen Throns ansah, befahl seinen Untergebenen ihn mit diesem Titel anzusprechen.51 Damit trug der französische König sowohl der höfischen Zeremonietradition als auch seinem politischen Kalkül Rechnung. Solche kurzfristigen, eigenwilligen Festlegungen des Zeremoniells stießen jedoch bei sachverständigen Hofbeamten zunehmend auf skeptische Ablehnung. Baron de Breteuil, der Introducteur des ambassadeurs Ludwigs XIV., forderte zu Beginn des 18. Jahrhunderts vehement die einheitliche Behandlung aller Inkognitovisiten am französischen Hof. Anlässlich des Inkognitos des siebenbürgischen Prinzen Franz II. Rákóczi schrieb er 1713 in seinen Memoiren: Je lui répondis que l’incognito doit enlever toute prétention de cérémonie et qu’il faut ou toute cérémonie ou toute incognito, et que les mezzo termine qu’on a voulu souvent introduire dans les incognito ont produit mille tracasseries et toujours des mécontentements pour les princes qui avaient voulu des demi-cérémonies, qu’ainsi il faut que cet incognito soit parfait.52
Die Flexibilität des Inkognitos überstieg jedoch die Selbstherrlichkeit absoluter Monarchen und Breteuils Aufzeichnungen können nur bedingt als Initialzündung für eine eindeutige Reglementierung des Inkognitos im 18. Jahrhundert gelten. Johann Christian Lünig, der mit seinem Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum eine der bedeutendsten Kodifizierungsarbeiten vorlegte, beschrieb den komplexen Zusammenhang von Maskerade und Inkognito. Denn bei einem Verkleidungsfest wurde das Inkognito angezeigt, indem sein Träger gerade keine Maske trug: Beym Carneval, wenn Käyserl. Maj. ein so genanntes Festa di Camera in masquierter Gestalt, dahin nur Cammer-Herren kommen, anstellen, und einige fremde Ministros, oder denen sie sonst gnädig sind, mit dabey haben wollen, pflegen sie ihnen sagen zu lassen, daß sie in Mänteln ohne Masques dabey erscheinen und zusehen mögen; das heißt so viel, als wenn sie incognito da wären.53 51 52
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Vgl. ebd. 501. Zitiert nach Bély (1999), 502f. Hervorhebung im Original. Bereits 1704 hatte sich Breteuil darüber beschwert, dass der dänische Thronfolger bei seiner Inkognitovisite 1693 seinen Hut aufbehalten durfte: „[. . . ] car on fit trop de cérémonie pour un incognito, ou on n’en fit pas assez s’il fut reçu comme prince héritier de la couronne.“ Journal de la réception du duc de Mantoue (1704), 168. Siehe auch Kap. II.2.1. Lünig (1719), 300. Moser erwähnt diesen Umstand ebenfalls: „In den Nachrichten eines
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James Johnsons Untersuchung von Maskeraden in Venedig zeigt jedoch, dass die ausgesprochen komplexe Kodifizierung des Inkognitos im 18. Jahrhundert ebenso viele zeremonielle Fragen aufwarf, wie sie beantwortete. Bereits Montesquieu hatte hinsichtlich der Lagunenstadt festgestellt, dass „the mask is not a disguise but an incognito“.54 Wie feinfühlig und detailversessen die Unterschiede waren, verdeutlicht der Inkognitobesuch des russischen Thronfolgers. Der spätere Paul I. reiste 1782 als Comte du Nord in Begleitung seiner Gemahlin inkognito durch halb Europa und besuchte auch die Serenissima.55 Entgegen Lünigs Kodifizierung sah der Thronprätendent keinen zeremoniellen Widerspruch zwischen Maske und Inkognito: Whenever they appeared in public, Paul wore a scarlet tabàro with a baùta and mask, which delighted the locals. Maria wore a Venetian zendà, the black chiffon veil that covered the head and face.56
Laut Johnson trugen jedoch nicht alle Inkognitogäste Venedigs eine Maske.57 Wann eine Maske ein Inkognito anzeigte, intensivierte oder aufhob, war nicht verbindlich geregelt. Insofern bedarf die Annahme einer kontinuierlich zunehmenden, zeremoniellen Reglementierung des Inkognitos fallspezifischer Untersuchungen. Letzten Endes bestand die Aufgabe des Inkognitos darin, zeremonielle Freiräume zu eröffnen. Insofern ist die Interpretation des 18. Jahrhunderts als Blütezeit, da nun das Inkognito am rigidesten reglementiert wurde, geradezu paradox. Unter Berücksichtigung dieser Einwände scheint es sinnvoll, vor der Mitte des 16. Jahrhunderts von einer Formierungsphase des Inkognitozeremoniells zu sprechen. Über mehrere Jahrhunderte liefen verschiedene Entwicklungsstränge nebeneinander her, bevor sie sich zu Beginn der Frühen Neuzeit zum zeremoniellen Inkognito verwoben. Dazu zählen archaische Masken ebenso wie antike Rituale und bestimmte christliche Tugenden. Darauf aufbauend ga-
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Gesandten am Kayserlichen Hof unter K. Leopolden lieset man den besondern Umstand: ,Wann Kayserl. Majest. Ein so genannten Festo di Camera in masquirter Gestalt, dahin nur Cammer-Herrn kommen, anstellen und einige fremde Ministros, oder denen sie sonst gnädig sind, mit dabey haben wollen; pflegen sie ihnen sagen zu lassen, daß sie in Mänteln ohne Masque dabey erscheinen und zusehen mögen, welches so vil heißt, als incognito da seyn.‘“ Moser (1754), 423. Zitiert nach Johnson (2011), 140. Vgl. dazu Kap. II.2.4. Johnson (2011). 132. „In the eighteenth century, Venetians used the term incognito to designate notables who had temporarily changed their names or altered their appearance. They were not necessarily disguised. Venetian incognito countenanced the fiction of anonymity.“ Ebd. 135. „Venetian incognito did not signify an identity concealed. It signified an identity unavowed and therefore not taken as known.“ Ebd. 134.
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IV. Spuren des Inkognitos
ben die chevalereske Literatur und die Ausdifferenzierung des höfischen Zeremonienwesens die entscheidenden Impulse für die Genese des Inkognitos. Das 17. und 18. Jahrhundert bezeichnen die Kernphase des Inkognitos. Peters Große Gesandtschaft legitimierte das Inkognito europaweit, das von der Zeremonialliteratur des 18. Jahrhunderts festgeschrieben und weiterentwickelt wurde. Zudem erfanden aufgeklärte Absolutisten mit der Inkognitoinspektionsreise ins eigene Territorium eine wirkmächtige, neue Spielart. Deren Reglementierung und Umsetzung gilt es weiter zu untersuchen. Insofern muss die Frage, ob Joseph II. von Österreich und Friedrich II. von Preußen die Inkognitotradition der Frühen Neuzeit zu ihrer Vollendung brachten oder aber eine neue Phase in der Geschichte des Inkognitos einläuteten, an dieser Stelle offen bleiben. Im 19. Jahrhundert wurde das Inkognito öfter angewendet als jemals zuvor, gleichzeitig jedoch in seiner zeremoniellen Ausgestaltung zunehmend limitiert. Die Frage nach seinem Stellenwert hängt daher mehr als bei anderen Epochen von den zu Grunde gelegten Bewertungskriterien ab. Zwischen den Weltkriegen verschwand das zeremonielle Inkognito, abgesehen von einigen literarischen Ausnahmen, nahezu vollständig. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde es schließlich weniger wiederentdeckt als vielmehr neu erfunden. Minimalistische, demonstrativ anti-zeremonielle Versatzstücke wie Strickjacken, fehlende Krawatten, offene Hemdknöpfe und demonstrative Freizeitkleidung wie Jeans bezeichnen neue politische Kommunikationsformen, deren Geschichte noch zu schreiben ist.
3.4 Offene Fragen Diese divergierenden Periodisierungen erfordern neue Interpretationsansätze. Lucien Bély beschreibt das Inkognito als Symptom einer sich in der Frühen Neuzeit intensivierenden Krise der Monarchie: Le recours à l’incognito est le signe même de ce gout pour les chemins buissonniers où le promeneur peut redécouvrir la nature. Peu à peu l’idée de Cour se vide de son efficacité et la majesté royale de sa substance. [. . . ] L’incognito signifie une humiliation de cette gloire qui devient embarrassante et de ce cérémonial qui semble une barrière politique.58
Bély erklärt die Verbreitung des Inkognitos als Reaktion auf den allmählichen Niedergang der Monarchie als politischer Institution. Folgerichtig verortet er seinen Höhepunkt im späten 18. Jahrhundert, kurz bevor die Französische Revolution den Frontalangriff auf die Monarchie und ihre Zeremonielle einleitete. 58
Bély (1999), 546.
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Auch in Bezug auf die Ritterliteratur des 12. Jahrhunderts ist die Genese des Inkognitos als Reaktion auf eine zeitgenössische Krisensituation beschrieben worden. Unbekannte, das Inkognito vorwegnehmende Helden sollten marode Monarchien vor dem Zusammenbruch bewahren. Allerdings fällt die Entstehung des Inkognitozeremoniells im 16. und 17. Jahrhundert keineswegs in eine Krisenepoche europäischer Monarchien, sondern in einen Zeitraum, in dem die Monarchie als Staatsform kaum grundsätzlich hinterfragt wurde. Dagegen befanden sich höfisch-monarchische Zeremonielle durchaus in der Krise. Denn sie wurden derart ausufernd und kostspielig, dass sie schließlich – wie beispielsweise die Reisen der Habsburger Kaiser zum Reichstag – gar nicht mehr praktikabel waren.59 Das Inkognito eröffnete einen zeremoniellen Ausweg aus diesem Dilemma und beweist damit die kreative Anpassungsfähigkeit von Monarchien. Insbesondere die Herrscher des aufgeklärten Absolutismus, die dem Inkognito neue Funktionen gaben, taten dies keineswegs als Reaktion auf eine vermeintliche Krise monarchischer Herrschaft, sondern als vernunftgeleitete Weiterentwicklung eines nach wie vor alternativlosen politischen Systems. Für das 19. Jahrhundert erscheint das Inkognito eher als Krisensymptom der Monarchie. Denn im Zeitalter bürokratisierter Nationalstaaten sahen sich prunkvolle Zeremonielle heftiger Kritik ausgesetzt. Das auf sein zeremonielles Minimum reduzierte Inkognito bezeichnete hier eine Alternative, da es auf öffentliche Befindlichkeiten Rücksicht nahm, ohne das monarchische Prinzip in Frage zu stellen. Das Inkognito des 19. Jahrhunderts war ebenso Zeichen monarchischer Beharrlichkeit wie Waffe in einem langwierigen und letzten Endes erfolglosen Rückzugsgefecht. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb es ein öffentliches, zeremonielles Spiel, das auf der etablierten, monarchischen Identität des Reisenden beruhte. Um Regeln, Funktion und Ablauf besser zu verstehen, müssen Themenkomplexe untersucht werden, die in der vorliegenden Darstellung nur angedeutet werden konnten. So fällt auf, inwieweit das Inkognito ein genuin männlich konnotiertes Zeremoniell bezeichnet. Die überlieferten Beispiele berichten zumeist von männlichen Inkognitoträgern in Form von regierenden Monarchen. Bély spricht jedoch zwei interessante Ausnahmen an.60 Zum einen Sophie von Hannover (1630–1714), die hier nicht zuletzt deswegen von Belang ist, da sie als Tochter Friedrichs V. von der Pfalz aus dem pfälzischen Zweig der Wittelsbacher stammte. Sie reiste unter anderem mit einem 200 Mann starken Gefolge
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Vgl. Kap. II.1.2. Er erwähnt außerdem das Inkognito der Herzogin von Württemberg als „Comtesse de Justin“. Bély (1999), 523.
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IV. Spuren des Inkognitos
inkognito nach Rom sowie unter der angenommenen Identität einer Madame de Osnabrück inkognito nach Frankreich.61 Zum anderen kommt Bély auf Christina von Schweden zu sprechen, die von 1632 bis zu ihrer Abdankung 1654 regierte. Christinas Beispiel ist nicht nur ungewöhnlich, weil es sich um eine Frau handelt. Vor allem benutzte sie das Inkognito erst nach ihrer Abdankung, wobei ihrer Inkognitoreise auf Grund der ihr zugeschriebenen politischen Bedeutung große Aufmerksamkeit zu Teil wurde.62 Zudem ist Christinas Reise bemerkenswert, da es sich um das einzige Inkognito handelt, bei dem ein Reisender sein Geschlecht veränderte, denn Christina reiste größtenteils als Mann verkleidet. Sie durchbrach ihre Identität nicht nur im Inkognito, sondern auch mittels der Travestie. Als Pseudonym wählte sie den Titel „Graf von Dohna“.63 Daher stellt sich die Frage nach den gender-spezifischen Grenzen des Inkognitos. Immerhin beruhte dessen Genese in der Ritterliteratur auf eindeutigen Geschlechtszuschreibungen. Ein Ritter anonymisierte sich öffentlich, um eine geliebte, ihn passiv erwartende Frau zu erobern. Dies erforderte dezidiert männlich konnotierte Tugenden wie Mut und Risikobereitschaft, die sich mit anderen ritterlichen Charaktereigenschaften wie Bescheidenheit oder Volkstümlichkeit verbanden. Auf solche Tugenden rekurrierte das Inkognito von Monarchen, das folglich als spezifisch maskulines Zeremoniell zu untersuchen wäre. Zudem verdient die Frage nach der Rolle des Inkognitos für die Entstehung von spezifisch individuellen Identitäten mehr Aufmerksamkeit. So können die skizzierten drei begriffsgeschichtlichen Phasen, die für jede europäische Sprache gesondert zu untersuchen wären, als Anzeichen einer zunehmenden Individualisierung interpretiert werden. Seit Langem wird kontrovers diskutiert, ob der Ursprung des modernen Individuums bereits im Mittelalter, wofür u. a. die Ritterliteratur als Argument dient, oder aber erst in der Renaissance, also zeitgleich mit der Genese des zeremoniellen Inkognitobegriffs, zu suchen ist. Die Geschichte des Inkognitos ist Bestandteil der „Erfindung des Ich“ (Richard van Dülmen) und kann daher zu deren Verständnis beitragen.64 61 62
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Dort wurde sie auch von Ludwig XIV. empfangen, wobei sie ihren zeremoniellen Status durch einen schwarzen Schal anzeigte. Vgl. Bély (1999), 472–7. Die Reise selbst folgte dabei hinsichtlich der Begleitung und den zeremoniellen Versatzstücken dem etablierten Schema. Die Gründe der ehemaligen Regentin sind hingegen nicht eindeutig zu evaluieren. Die Suche nach politischen Bündnispartnern mischte sich mit der vagen Hoffnung auf eine eventuelle Wiedereinsetzung. Vgl. Franklin (1912), 65. Vgl. die verschiedenen Positionen bei Dülmen (2001); Porter (1997), 2f., 8; Gier (1987), 443; Schulze (2001), 557. Hollis bezeichnet „the idea that we construct our own social identity“ als moderne Vorstellung von Persönlichkeit. Hollis (1985), 230. James Johnson hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Autoren wie Stephen Greenblatt oder Natalie Zemon Davis
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Ebenso bleibt zu untersuchen, ob das Inkognito ein genuin europäisches Phänomen darstellt. Immerhin imitierten die beiden einzigen außereuropäische Inkognitoträger, der osmanische Sultan Abdülaziz und der hawaiianische König Kal¯akaua, bewusst die europäische Tradition.65 Inwieweit unterlag das Inkognitospiel spezifisch europäischen Regeln? Es finden sich Beispiele des Inkognitos in nahezu allen europäischen Staaten und der europäische Hochadel, die Trägerschicht des Inkognitos, definierte sich bewusst jenseits nationaler Grenzen.66 Insofern steht die eingangs gestellte Frage nach der Definition des Inkognitobegriffs auch am Ende dieser Untersuchung. Denn die Geschichte des zeremoniellen Inkognitos verdeutlicht nicht zuletzt, dass das Inkognito nicht nur in Bezug auf seine Geschlechterspezifik, die Entstehung des modernen Individuums oder die Frage nach einer genuin europäischen Konstruktion individueller Identitäten großes Potenzial für zukünftige Forschungen besitzt.
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bereits über „promise and limits of altering one’s identity in attempt to chart the historical development of selfhood“ gewichtige Arbeiten vorgelegt haben. Johnson (2011), XIII. Dies gilt auch für Peter II. von Brasilien. Vgl. Kap. IV.2.3. Das Inkognito illustriert somit auch die „Internationalität der adelig-höfischen Kultur: Sie war im gesamten Abendland grundsätzlich anwendbar und verständlich. Ihre Grenzen waren weniger territorial als sozial bestimmt [. . . ].“ Kintzinger (2003), 341. Gerade hier wäre eine systematische Untersuchung wünschenswert. Lucien Bély berichtet, wie er seine Inkognito-Beispiele „au hasard des lectures“ gefunden habe; ein Befund, der in mancher Hinsicht auch für die vorliegende Darstellung zutrifft. Bély (1999), 470.
Danksagung Viele Freunde und Kollegen haben mir bei der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung geholfen. Mein Dank gilt in erster Linie Prof. Dr. Hans-Peter Ullmann vom Historischen Institut der Universität zu Köln. Er hat verschiedene Versionen des Textes Korrektur gelesen und mir viele wertvolle Anregungen zur konzeptionellen und argumentativen Anlage gegeben. Für Informationen, Ratschläge und vielfältige weitere Unterstützung möchte ich mich außerdem bei folgenden Personen bedanken: Erich Adami, Jean Boutier, David Cannadine, Thomas Fouilleron, Friederike Kuntz, Cécile Peter, Sebastian Rojek, Wolfgang Schieder, Caroline Serck-Hanssen, Verena Steller, Hillard von Thiessen, Ulrike Wendt und Cornel Zwierlein. Meine Eltern, Therese und Wolfgang Barth, haben das Manuskript vor der Drucklegung von vielen Fehlern befreit. Der anonyme Gutachter des Oldenbourg Verlags hat wertvolle Hinweise geliefert. Cordula Hubert und Julia Schreiner vom Oldenbourg Verlag haben die Entstehung dieses Buches durch ein sorgfältiges Lektorat und eine umsichtige Betreuung gefördert. Die Diskussionen innerhalb der vom Centre de recherche du château de Versailles finanzierten Forschergruppe „Voyageurs européens à la cour de France au temps des Bourbons (1594-1789)“ haben mir v.a. für die Kapitel zum 18. Jahrhundert entscheidende Anregungen gegeben. Den Reaktionen auf mein Forschungsprojekt bei Präsentationen auf dem Workshop „The Influence of Personal Relationships between Statesmen on the History of Politics (1815–1914)” am Deutschen Historischen Institut in London, auf der Tagung „European Constitutional Monarchies“ in Kopenhagen sowie im Rahmen verschiedener Veranstaltungen an der Universität zu Köln verdanke ich ebenfalls wichtige Verbesserungsvorschläge. Alle Fehler und Unzulänglichkeiten, die trotz der zahlreichen Unterstützung im Text verblieben sein mögen, sind selbstverständlich allein mir geschuldet.
Abkürzungsverzeichnis AMAE AN APP Bay.Ge.P. Bay.GE.St. BayHStA DBM GeHAW GendKK Hof.Ober KA.Lud. MA MH MKH Po.Be.Bay.Ge.P. Po.Be.Fr.
Archives du Ministère d’affaires étrangères, Paris Archives Nationales, Paris Archives de la Préfecture de Police, Paris Bayerische Gesandtschaft Paris Bayerische Gesandtschaft Stuttgart Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München DB Museum, Nürnberg Geheimes Hausarchiv der Wittelsbacher, München Gendarmerie – Korps – Kommando Hofstäbe Obersthofmarschall Kabinettsakten König Ludwig II. Ministerium des Äußeren Ministerium des Handels Ministerium des Königlichen Hauses Politische Berichte der bayerischen Gesandtschaft Paris Politische Berichte aus Frankreich
Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Archive Archives départementales de la Marne, Châlons-en-Champagne Le Courrier de la Champagne, Reims Le Messager de la Champagne, Reims Le Progrès de la Marne, Reims Archives départementales de l’Oise, Beauvais Le Progrès de l’Oise, Compiègne L’Echo de l’Oise, Compiègne Archives du Ministère d’affaires étrangères, Paris Allemagne, Ambassade d’Allemagne à Paris, 1864–1920, Protocole – Série A – Corps diplomatique: 3 Bavière, Affaires diverses politiques, 1860–1868: 10 Bavière, Correspondance politique, Origines à 1871: 242, 243 Consuls étrangers, Allemagne 1873–1894, Protocole – Série B – Corps consulaire: 44 Missions spéciales étrangères, Protocole – Série E – Traités et conventions: 177 Voyage de Prince étrangers voyageant en France et vice-versa 1777–1868, Protocole – Série C – Cérémonial – Cérémonies: 176 Voyages de personnalités étrangères, 1869–1912, Protocole – Série E – Traités et conventions: 145 Archives Nationales, Paris F/12/2983 O/5/97, 2285, 2305-6 Archives de la Préfecture de Police, Paris Série Ba 1, 120 (= Prince Hohenlohe-Schillingsfürst) Série Ba 1, Ba 71 (= Ambassade d’Allemagne) Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Ministerium des Äußeren: 50287; 50950; 78645; 83598; 99731; 99733 Bayerische Gesandtschaft Italien (Turin-Rom-Neapel): 7; 3361 Bayerische Gesandtschaft Karlsruhe: 13 Bayerische Gesandtschaft Paris: 517; 518; 519; 523; 524, 526; 531; 533; 538; 539; 540; 545; 547; 548; 549; 550; 568; 572; 576; 578; 776; 778; 780; 843; 1137; 1531; 3975; 4679; 5779; 5811; 6977; 10241; 10563; 11314; 11445; 11582; 11583 Bayerische Gesandtschaft Stuttgart: 15 Gendarmerie – Korps – Kommando: 1069, 1070, 1071 Ministerium des Königlichen Hauses: 15910; 15912 Ministerium des Handels: 9486; 9487; 9488
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Register Sach- und Ortsregister Adelsaufhebungsgesetz (Österreich) 289 Adventus 38, 95, siehe auch Einholung des Herrschers Ambras (Schloss in Innsbruck) 206 Amsterdam 111, 116, 120, 129, 153, 166 Andernach (Insel im Rhein) 36 Ansille (Insel in der Saône) 36 Aschaffenburg 221 Aufwartung 19, 64, 69–75, 78, 90f., 96, 105, 111, 141, 160, 194, 196, 198, 210, 213, 226, 288 Augsburg 158, 250 Avricourt 275 Azincourt 89 Bad Ischl 232 Bad Kissingen 209, 211f., 220f., 243, 252 Bad Schwalbach 211, 252 Bamberg 218, 220f., 240 Bayreuth 220, 271, 280 Begegnung an einem neutralen Ort 27, 36–39, 297f., siehe auch Pyrenäenfriede von 1659 Berg (Schloss am Starnberger See) 216, 218, 230f., 234, 249f., 273, 279 Berlin 211 Bießenhofen 216 Blois 282 Brunnen am Vierwaldstätter See 213, 282 Camp David 298f. Chambord (Schloss) 275 Chequers, Buckinghamshire 298 Chevalereske Literatur 45, 47–51, 55–57, 60f., 69f., 78, 91, 308–310 Compiègne 89, 232, 236–242 Court masque 81f., 84, 91, siehe auch Maskerade/höfische Den Haag 117 Deutsches Kaiserreich, Gründung
252
Diplomatie 27, 82, 95, 123, 148, 152, 167, 207, 288, 294, 304, siehe auch Inkognito/Diplomatie dissimulatio 302 Ehrenwache 198 Einholung des Herrschers 33, 38, 95, 145, 192f., 196 Einzug von Herrschern 36, 76, 78 Emmaus 34f., 96 Falkenstein 157 Favorita (Schloss) 122, 124f., 139 Ferrara 92, 175 Fürstenspiegel 41, 61, 75, 135 Fürstentum Monaco 290 Gertruydenberg 105 Götter 28f. Grand Tour 171–174, 292, 304 Große Gesandtschaft 110, 133, 178, 303, 305, 308 Großer Nordischer Krieg 113 Hamburg 9f. Harlem 117 Helsingør 10 Het Czaar Peterhuisje 110, 113, 121, 166 Hildesheim 115 Hochstapler 293f. Hofbeamter 202 Hoffurier 75 Hofordnung 75f. Hohenschwangau (Schloss) 218, 260 Hosenbandorden 63, 106 Inkognito 114 – Bilder 165f., 171 – Diplomatie 129, 148f., 195, 232, 257, 262, 293, 295
350
Register
– Eisenbahn 183, 193, 199–202, 205, 216, 220, 233, 238, 241f., 260, 262, 283, 303 – Gender 309 – Idealtypus 17f. – Kleidung 39, 49, 86f., 114, 117, 120, 128, 136, 138, 140f., 153, 160, 163, 168, 170–175, 206, 226, 230f., 233, 238, 261f., 267, 283, 287, 298–301, 304, 306–308, 310 – Kopfbedeckung/Hut 9, 75, 117, 123f., 127, 129, 134f., 137, 158, 160, 170, 201, 206, 261, 304, 306 – Kostenersparnis 142, 146, 150, 172, 188f., 287 – Oper 51, 128, 159, siehe auch Oper – Vatikan 51, 155, 189, siehe auch Kirche, katholische, Päpstliche Kurie, Papst, Vatikan – Zeremoniell 94, 133, 135, 144, 215 Innsbruck 206, 211 Isle of Wight 234, 260, 268 Jerusalem 223 Jungfrau von Orleans (Schiller-Drama) 234 Karlsruhe 232 Katholikenkongress Reims 1875 275–279 Kirche, katholische 44, 148, 171 Kleiderordnung 76, 135, 146 Kostüm 28, 42, 47, 62, 74, 80–85, 103, 125 Lever 102 Linderhof (Schloss) 240 London 167 Luxemburg 224, 226 Luzern 213 Märchen 52 Mainz 189 Mantua 92, 133 Maske 28f., 32, 43, 54f., 79–81, 86, 95, 170, 307 – Maskentanz 82 Maskenball siehe Maskerade Maskerade 32, 64, 74, 83f., 87, 120, 125, 169, 293, 297, 307 – höfische 79–83, 102, 306 Miles Christi 40f., 69
Mohilew 156 München 106, 158, 250, 260, 289 Nancy 158 Neuschwanstein (Schloss) 237 Niederländische Ostindische Kompanie 116 Nürnberg 220–222, 236 Oper 148, 170, 216, 235, 237, 239f. Ostende 189 Oxford 107f., 120 Päpstliche Kurie 76 Palais de Luxembourg 134 Palais Royal (Paris) 163 Papst 42 Paris 14, 167, 188, 223–242 Pierrefonds 237–242, 248, 253, 275 Place du Caroussel (Paris) 103 Possenhofen 260 Prien am Chiemsee 207, 251 Pyrenäenfriede von 1659 103, 105f., 141, 178, 305 Rastatt 158 Reims 273–280 Reisemarschall 151, 157, 191, 193, 202, 206 Riga 111, 113f. Ritterliteratur siehe Chevalereske Literatur Rom 175f. Rosenheim 250 Salzburg 249–251 Schlacht von Crécy 63 Schweinfurt 221 Schweiz 211 Scone 107 Slavíkovice 156 Spiegelsaal von Versailles 252f. Starnberg 260 Stockholm 111 Straßburg 153f., 158, 191, 233, 273 Stuttgart 158, 176, 232f., 250 Tafelrunde 47, 49, 63, 65 Tell-Sage 211, 213 Topfhelm 43, 249 Trauer 107, 136, 147, 209, 238, 241 Triebschen 214f., 217
Personenregister Turin 188 Turnier 41f., 62, 64–66, 74, 78, 82f., 91f., 186 Ulm 250 Utrecht 116, 118, 153 Vatikan 111 Verkleidungsbankett 76, 84f., 91, 102, 125 – Königreich 84 – Wirtschaft 84f., 125, 139 Versailles 102, 133f., 137, 151, 160, 240, 251–267, 276, 280 Vierwaldstätter See 282
Vorderriss
351
211–213
Wartburg 225, 237 Weltausstellung 183, 225f., 233f., 236, 239–243, 247–249, 253, 280 Wien 22, 83–85, 92, 120–129, 134, 137, 139–141, 148, 150, 159, 167, 189, 211 Wiener Kongress 19f. Worcester 107 Zaandam 115f., 166 Zeremonialdiarium 76 Zeremonienmeister 75
Personenregister Abdülaziz, osmanischer Sultan 231, 236, 311 Adalbert, bayerischer Prinz 226, 236, 250 Adelheid, portugiesische Königin 286 Ahab, israelitischer König 34, 50 Albert, sächsischer König 279 Albert I., belgischer König 290 Albert I., monegassischer Fürst 290 Albert II., monegassischer Fürst 291 Albrecht, preußischer Prinz 236, 239 Alcântara, Pedro de (Pseudonym) siehe Peter II., brasilianischer Kaiser Alexander I., russischer Zar 187, 297 Alexander II., russischer Zar 209, 227 Aligre, Étienne François d’ 159 alii Kalakaua (Pseudonym) siehe Kal¯akaua, hawaiianischer König Ammers-Küller, Jo van 292 Angivillers, Charles Claude Graf von 151 Anna Isabella von Modena 133 Anna von Kleve 72f. Armstrong, William N. 287 Arnim, Achim von 183 Arnulf, ostfränkischer König 39 Artus 45–47, 50, 59, 65f., 83 Athene 29f. August, Prinz von Sachsen-Gotha-Altenburg 171
August II., sächsischer Kurfürst, polnischer König 106, 303 August III., sächsischer Kurfürst, polnischer König 148, 150 Aumont-Mazarin, Louise d’ 291 Ballengiech (Pseudonym) siehe Jakob V., schottischer König Balmoral, Countess of (Pseudonym) siehe Victoria, englische Königin Balzac, Honoré de 184 Barcellos, Graf de (Pseudonym) siehe Karl I., portugiesischer König Barrès, Maurice 271 Bassewitz, Carl Friedrich Graf von 150 Bayer, Th. von (Pseudonym) siehe Therese, bayerische Prinzessin Begin, Menachem 299 Béhaine, Édouard Lefebvre Graf de 258 Benzinger, Adelrich 282 Berg, Ludwig Graf von (Pseudonym) siehe Ludwig II., bayerischer König Bernhard von Clairvaux 35 Berry, Duchesse de 87 Bertie, Peregrine 119 Besser, Johann von 114 Beust, Friedrich Ferdinand von 251
352
Register
Bismarck, Otto Fürst von 223f., 237, 252, 257–259, 262, 270 Bocquière, Bertrandon de la 77 Bodenstedt, Friedrich 206f. Bodin, Jean 101 Böhm, Gottfried 273 Börne, Ludwig 184 Bouignon, Antoinette 168 Bracy, Maurice de 186 Branca, von, Oberleutnant 248 Braun, Paul 233, 239 Brentano, Clemens 183 Breteuil, Louis Nicolas Baron de 133f., 306 Broglie, Albert Duc de 256 Büchner, Georg 184 Bülow, Hans von 234 Bürkel, Ludwig von 280f. Burgau, Markgraf (Pseudonym) siehe Leopold II., römisch-deutscher Kaiser Caillaux, Eugène 266 Carl Alexander, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach 231 Carl Eugen, württembergischer Herzog 150, 158, 176 Carladès, Louis (Pseudonym) siehe Rainier III., monegassischer Fürst Carlsberg, Graf (Pseudonym) siehe Gustav V., schwedischer König Carter, Jimmy 299, 305 Cary, Robert 83 Castra, Herzogin von (Pseudonym) siehe Marie, Königin von Neapel Catt, Henri de 153f. Cervantes, Miguel de 48, 57, 88, 90 Charlotte, monegassische Prinzessin 291 Chaucer, Geoffrey 51 Chauchart, Colonel 277 Chesne, André du 101 Chevrier, François Antoine de 172 Chlodwig (Clovis), fränkischer König 275f. Chrétien de Troyes 50–54, 56f., 59f., 62 Christian IV., dänischer König 83 Christian VII., dänischer König 150 Christina, schwedische Königin 310 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 299 Clemens XIII., Papst 155 Clooney, George 296
Cobenzl, Philipp Graf von 157 Colloredo-Mels und Wallsee, Joseph Coulaincourt, Armand de 295 Cromwell, Oliver 107, 186
157
Dahn, Felix 253 Dante Alighieri 91f. Decazes, Louis Duc de 266, 274, 280 Della Casa, Giovanni 135 Didier Baze, Jean 264 Didier, Josef (Pseudonym) siehe Kainz, Joseph Diebitsch, Karl von 240 Dmitri Iwanowitsch, Zarewitsch 14 Dohna, Burggraf Fabian zu 93 Dohna, Graf von (Pseudonym) siehe Christina, schwedische Königin Domela, Harry 294 Du Coudray, Alexandre Jacques 162, 164 Du Mont de Carleskroon, Jean 135, 140f. Dublin, Count of (Pseudonym) siehe Georg III., englischer König Düfflipp, Lorenz von 223, 253–258, 280 Dufrayer, Directeur des Eaux 266 Dunton, John 109, 168f. Durfort, Jean Baptiste Marquis de 295 Duval-Pyrau, Abbé 162f. Dyck, Anthonis van 106 Eduard I., englischer König 46, 62, 96, 305 Eduard III., englischer König 42, 62–64, 69, 78, 96, 305 Eduard VI., englischer König 14, 82, 184 Eduard VII., englischer König 286 Eichendorff, Joseph von 184f. Eichmann, Adolf 297 Eisenhart, Johann August 255, 257 Eisenhower, Dwight D. 299 Elias, Norbert 11, 41 Elisabeth, belgische Königin 290 Elisabeth, österreichische Kaiserin 188, 210, 213, 223, 228, 249 Elisabeth I., englische Königin 82f. Erik XIV., schwedischer König 83 Esterno, Philippe Antoine Comte d’ 151 Eugen Franz, Prinz von Savoyen-Carignan 106 Eugenie, französische Kaiserin 226, 234f., 240 Evelyn, John 120
Personenregister Falckenstein, Comtesse de (Pseudonym) 14 Falkenstein, Graf von (Pseudonym) siehe Joseph II., römisch-deutscher Kaiser Fassbind, Fridolin 213 Ferdinand Albrecht I., Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern 106 Ferdinand, bayerischer Prinz 140, 189 Ferdinand II., österreichischer Erzherzog 206 Ferdinand-Maria, bayerischer Herzog 72, 188, 243 Firmian, Leopold Anton Freiherr von 148 Flaubert, Gustave 183 Fontaine, Charles 261–267, 274, 277f. Fontane, Theodor 185, 295 Fontanges du Couzon, Marquis de 277 Fosca, François 262 Four, Graf du (Pseudonym) siehe Friedrich II., preußischer König Franchimont, Marquis von (Pseudonym) siehe Joseph Clemens von Bayern, Kölner Kurfürst Franz I., französischer König 73 Franz Joseph I., österreichischer Kaiser 21, 210, 228, 232, 249, 251, 260f. Franz von Assisi 36 Franz I., römisch-deutscher Kaiser 157 Franz II. Rákóczi, siebenbürgischer Prinz 306 Frederik, dänischer Kronprinz 296 Friedrich Christian, sächsischer Kurfürst 165 Friedrich I., österreichischer Herzog 75 Friedrich II., österreichischer Herzog 65f. Friedrich II., preußischer König 54, 151, 153–155, 167, 178, 303, 308 Friedrich II., römisch-deutscher Kaiser 14, 70, 152 Friedrich III., brandenburgischer Kurfürst 114 Friedrich IV., dänischer König 134 Friedrich V., pfälzischer Kurfürst 309 Friedrich VIII., dänischer König 9f. Friedrich Wilhelm I., preußischer König 147, 152 Friedrich Wilhelm III., preußischer König 187, 295 Froissard, Jean 62f.
353
Fugger, Graf von (Pseudonym) siehe Karl VII., römisch-deutscher Kaiser Gandry, Commandant 264 Garnier, Charles 264 Gautier de Mauni (Pseudonym) siehe Eduard III., englischer König Gennep, Arnold van 27 Geoffrey von Monmouth 45f., 58 Georg, dänischer Prinz 84, 118 Georg III., englischer König 150 Georg IV., englischer König 187 Gergy, Baron de 133 Gietl, Franz Xaver von 211 Godefroy, Theodore 140 Godunov, Boris 14 Goethe, Johann Wolfgang von 169, 174– 176 Golowin, Fedor Aleksejewitsch 111, 117 Gorbatschow, Michail 300f., 304 Gottsched, Johann Christoph 85 Grabow, Gräfin von (Pseudonym) siehe Luise Friederike, Herzogin von Mecklenburg-Schwerin Gracia Patricia, monegassische Prinzessin 291 Graf, Oskar Maria 247 Grillparzer, Franz 184 Grimm, Friedrich Melchior 151 Gustav II. Adolf, schwedischer König 113 Gustav III., schwedischer König 151 Gustav V., schwedischer König 286 Haga, Graf von (Pseudonym) siehe Gustav III., schwedischer König Hansen, Jens Peter (Pseudonym) siehe Frederik, dänischer Kronprinz Hartmann (Pseudonym) siehe August, Prinz von Sachsen-Gotha-Altenburg Hartmann von Aue 58 Harun-al-Raschid 169 Haufingen, Paul 214 Heine, Heinrich 184 Heinrich, preußischer Prinz 151 Heinrich I., ostfränkischer König 36, 276 Heinrich I., Prinz von Condé 86, 93 Heinrich II., englischer König 46 Heinrich II., französischer König 74, 76, 140 Heinrich III., englischer König 61
354
Register
Heinrich III., französischer König 75 Heinrich III., polnischer König 92 Heinrich IV., englischer König 69, 89 Heinrich IV., französischer König 166 Heinrich IV., kastilischer König 72 Heinrich IV., römisch-deutscher Kaiser 110 Heinrich V., englischer König 89f. Heinrich V., römisch-deutscher Kaiser 14 Heinrich VII., englischer König 62, 74 Heinrich VIII., englischer König 62, 72– 74, 82, 91, 141, 152, 184, 305 Henriette Anne, englischer Prinzessin 107 Hesselschwerdt, Karl 281 Hesselschwert, Catherine 241 Himmler, Heinrich 297 Hitzinger, Heinrich (Pseudonym) siehe Himmler, Heinrich Hohenems, Gräfin von (Pseudonym) siehe Elisabeth, österreichische Kaiserin Hohenlohe Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 223, 227, 229–231, 233–236, 241, 244, 249, 251f., 257–259, 262, 264–268 Hohenzollern-Sigmaringen, Fürst Anton von 237 Hohenzollern-Sigmaringen, Leopold von 237 Holbein d.J., Hans 73 Holnstein, Comte (Pseudonym) siehe Ludwig II., bayerischer König Holnstein, Maximilian von 261, 263, 265, 273f., 277 Homer 29, 31, 33, 35, 45, 53, 96 Honecker, Erich 300 Hugo, Victor 281, 284 Huizinga, Johan 15, 58, 61 Huon de Rotelande 51, 57f. Isabeau von Bayern 71, 188, 243 Isjalaw, Großfürst von Kiew 110 Iwan IV., russischer Zar 14, 110 Jackson, Michael 296 Jakob I., englischer König 75, 83, 109, 123 Jakob III., schottischer Gegenkönig 148, 306 Jakob IV., schottischer König 186 Jakob V., englischer König 73 Jakob V., schottischer König 151, 185 Jeanne d’Arc 237, 248, 273–279
Jérôme Napoleon 251 Jesus von Nazareth 33f., 38, 96, 109 Johann, böhmischer König 75 Johann, österreichischer Erzherzog 187f. Johann I., aragonesischer König 72 Johann II., französischer König 63 Johann Friedrich, Fürst von Calenberg 106 Johann Georg III., sächsischer Kurfürst 106 Johann von Österreich, Statthalter der Niederlande 86 Joseph Clemens von Bayern, Kölner Kurfürst 137 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 14, 22f., 54, 124, 139, 149, 152, 155–179, 207, 244, 305, 308 Juarez, Benito 238 Judd, C.H. 287 Kainz, Joseph 280–282 Kal¯akaua, hawaiianischer König 287, 311 Kantorowicz, Ernst H. 10, 13, 21 Karl, bayerischer Prinz 217 Karl, österreichischer Erzherzog 83 Karl August, Herzog von Sachsen-WeimarEisenach 174 Karl der Einfältige, französischer König 36 Karl Friedrich, badischer Markgraf 158 Karl I., englischer König 82, 106–108 Karl I., portugiesischer König 286 Karl I., württembergischer König 228, 231, 250 Karl II., englischer König 107–109, 172, 186 Karl IV. Ferdinand, Herzog von Mantua 133f. Karl VI., französischer König 37, 71, 87, 188 Karl VI., römisch-deutscher Kaiser 106, 147f. Karl VII., französischer König 276 Karl VII., römisch-deutscher Kaiser 150, 189, 243 Karl IX., französischer König 72, 83 Karl-Theodor, bayerischer Herzog 223, 250 Katharina II., russische Zarin 156
Personenregister Kent, Countess of (Pseudonym) siehe Victoria, englische Königin Kierkegaard, Søren 34 Kim Il-sung 296 Kim Jong-il 296 Kist, Gerrit 115 Klein, Hans 300f. Kleist, Heinrich von 183 Kneller, Sir Godfrey 120 Knigge, Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr 174 Kobell, Franz von 206 Kohl, Helmut 300f., 304f. Konietzke (Wachtmeister) 9 Konrad III., römisch-deutscher König 38 Konstantin, römischer Kaiser 60 Kraus, Karl 295 Kronborg, Graf (Pseudonym) siehe Friedrich VIII., dänischer König Kusmitsch, Fjodor (Pseudonym) siehe Alexander I., russischer Zar Kyrill, bulgarischer Prinz 286 Lancaster, Countess of (Pseudonym) siehe Victoria, englische Königin Langénieux, Benoit 278 Lanzelot 42, 55–57, 59f., 69 Laroche, Freiherr, bayerischer Hofmarschall 230 Laun, Friedrich 184 Le Bruyn, Corneille 152 Le Play, Frédéric 233 Le Queux, William 291 Le Roy Ladurie, Emmanuel 28 Lefort, Franz Jakowlewitsch 111, 114f., 117, 122, 125–127 Leibnitz, Gottfried Wilhelm 149 Leonrod, Hauptmann Baron 206 Leopold Ferdinand, toskanischer Erzherzog 188 Leopold I., römisch-deutscher Kaiser 106, 121–123, 126, 130, 139–141, 178 Leopold II., belgischer König 286 Leopold II., römisch-deutscher Kaiser 166 Leopold III., belgischer König 290 Leopold V., österreichischer Herzog 67 Lepic, Louis Joseph Napoleon 238 Leuchtenberg, Amalie von 189, 243 Lévi-Strauss, Claude 28 Lindau, Rudolf 262f., 270, 275, 278
355
Lionne, Hugues de 106 Lloyd George, David 298 Lonyay, Elemer Graf 193 Lortzing, Albert 131 Louis-Philippe, französischer König 177 Louise-Hippolyte, monegassische Prinzessin 291 Ludovika Wilhelmine, bayerische Prinzessin 250 Ludwig der Fromme, fränkischer König 36 Ludwig von Tarent, neapolitanischer König 64 Ludwig I., bayerischer König 23, 195–197, 205, 208, 224, 229–231, 240, 243, 276 Ludwig II., bayerischer König 21, 23, 54, 199–202, 205, 207–212, 215–244, 247– 271, 273–284, 303 Ludwig II., monegassischer Fürst 290 Ludwig II., neapolitanischer König 72 Ludwig III., bayerischer König 199, 285, 289 Ludwig III., hessischer Großherzog 221 Ludwig VII., französischer König 38 Ludwig XIII., französischer König 72 Ludwig XIV., französischer König 12, 76, 101–105, 108, 121, 133f., 138, 147f., 151, 153, 211, 264f., 276, 303, 306, 310 Ludwig XV., französischer König 276 Ludwig XVI., französischer König 159, 161f., 166, 176, 276 Lüneburg, Graf von (Pseudonym) siehe Georg IV., englischer König Lünig, Johann Christian 135, 137–140, 178, 306f. Luis I., portugiesischer König 235–237, 239 Luise Friederike, Herzogin von Mecklenburg-Schwerin 150 Luitpold, bayerischer Prinzregent 199, 225, 284 Lusace, Comte de (Pseudonym) siehe August III., sächsischer Kurfürst, polnischer König Luttrell, Narcissus 119f. Lutz, Johann von 219, 223, 229–233 Mac Mahon, Patrice de 258, 266, 268, 280 MacDonald, Flora 186 Malortie, Carl Ernst von 191, 193, 209
356
Register
Mann, Thomas 291 Marchais, Comte de (Pseudonym) siehe Albert I., monegassischer Fürst Marchais, Comtesse de (Pseudonym) siehe Charlotte, monegassische Prinzessin Maria Christina, spanische Königin 286 Maria Josepha, österreichische Erzherzogin 148 Maria Theresia, österreichische Erzherzogin und Titularkaiserin 149, 152, 155, 157, 162, 178 Maria Theresia, spanische Infantin 104f. Marie Antoinette, französische Königin 160, 177 Marie, bayerische Königin 223 Marie, Königin von Neapel 286 Matignon, Jakob IV. von, Graf von Torigni 291 Max, bayerischer Herzog 213 Max II. Emmanuel, bayerischer Kurfürst 106, 137f., 140, 188, 243 Maximilian I., mexikanischer Kaiser 238, 249 Maximilian I. Joseph, bayerischer König 189, 191, 205, 243 Maximilian I., römisch-deutscher Kaiser 62 Maximilian II., bayerischer König 21, 23, 190, 195–197, 199f., 205–207, 209, 224, 243 Maximilian III. Joseph, pfälzischer Kurfürst 157 Mazan, Graf (Pseudonym) siehe Sade, Donatien-Alphonse-François Marquis de Mazarin, Jules Kardinal 104 Medici, Ippolito de’ 92 Meilhaus, Sybilla 223 Melot (Pseudonym) siehe Ludwig II., bayerischer König Méndez de Haro, Luis 104f. Mercier, Louis-Sébastien 169 Merian, Matthäus 136 Merlin 46, 83 Meyerbeer, Giacomo 222, 237, 239 Mitchell, Admiral 118f. Möller, Johann Philipp (Pseudonym) siehe Goethe, Johann Wolfgang von Montaigne, Michel de 87, 90, 173 Monteleon, Marquis 133
Montesquieu, Charles de 307 Morio de l’Isle, Baron 238 Moritz, Karl Philipp 175 Moser, Carl Friedrich von 141–145, 157, 160, 178, 191, 306 Moser, Johann Jakob von 191 Moy, Baron de, Zeremonienmeister 250 Murany, Graf (Pseudonym) siehe Kyrill, bulgarischer Prinz Musäus, Johann 169 Mussolini, Benito 297 Mustafa Efendi, Hatti 152 Napoléon Eugène Louis Bonaparte, französischer Kronprinz 236 Napoleon I., französischer Kaiser 295, 297 Napoleon III., französischer Kaiser 21, 158, 224–228, 230, 234–239, 241, 244, 248–251, 253, 267 Norbert von Xanten 36 Nord, Comte du (Pseudonym) siehe Paul I., russischer Zar Odo, westfränkischer König 39 Odysseus 29–32, 34, 46, 49f., 53, 55, 94, 165 Ödipus 32 Oels, Graf von (Pseudonym) siehe Heinrich, preußischer Prinz Oldenbourg, Comte d’ (Pseudonym) siehe Friedrich IV., dänischer König Ompteda, Christian Friedrich Theodor von 207 Orth, Johann (Pseudonym) siehe Johann, österreichischer Erzherzog Osnabrück, Madame de (Pseudonym) siehe Sophie, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg Otto I., griechischer König 221, 240f., 248, 251 Otto, bayerischer Prinz 211, 225, 248f., 285 Ottokar II., böhmischer König 37, 66 Pappenheim, Oberst Graf 206 Paris, Vicomte de (Pseudonym) siehe Ludwig XVI., französischer König Paul I., russischer Zar 150, 162, 187, 307 Paul, Jean 169 Pepys, Samuel 108
Personenregister Pergler von Perglas, Maximilian Joseph 225, 227–231, 233, 236, 240, 248f., 255f. Peter der Große, russischer Zar 19, 23, 110–131, 133f., 137, 139f., 162, 166, 168, 178, 303, 305, 308 Peter I., brasilianischer Kaiser 189 Peter II., brasilianischer Kaiser 286, 311 Peter V., portugiesischer König 237 Petr Michajlow (Pseudonym) siehe Peter der Große, russischer Zar Pfeufer, Sigmund Heinrich 217f. Pfistermeister, Franz Seraph von 208, 211, 217f. Pfordten, Ludwig von der 208, 211, 214, 219 Pfretzschner, Adolph von 255, 257–259, 269f. Philipp, Herr (Pseudonym) siehe Leopold III., belgischer König Philipp III., burgundischer Herzog 77 Philipp IV., spanischer König 75, 104f. Philipp VI., französischer König 64 Pierre, Comte Jean de (Pseudonym) siehe Polignac, Pierre Graf de Pius VI., Papst 171 Platon 29 Pözl, Joseph 190 Polignac, Pierre Graf de 291 Pompadour, Madame de 265 Ponsonby, Sir Charles Edward 286 Pool, Gerrit 121 Proust, Marcel 292 Pütter, Johann Stephan 144 Quincey, Thomas
184
Rainier III., monegassischer Fürst 291 Raoul de Houdenc 51, 54 Ravenstein, Graf (Pseudonym) siehe Leopold II., belgischer König Rayneval, Monsieur de (Pseudonym) siehe Napoleon I., französischer Kaiser Rehm, Hermann 188, 191, 193 Reille, André Charles Victor 238 Renals de Biauju 60 Ricciardelli, Graf 206 Richard II., englischer König 37, 39, 67, 88–90, 186f. Riehl, Wilhelm Heinrich 206
357
Ritter, Dr. (Pseudonym) siehe Schiller, Friedrich Rohr, Julius Bernard von 73, 85, 135, 138– 140, 147, 178, 191 Rollin, General 238 Roosevelt, Franklin Delano 298 Rosemont, Albert de (Pseudonym) siehe Albert II., monegassischer Fürst Rosemont, Comtesse de (Pseudonym) siehe Gracia Patricia, monegassische Prinzessin Rossini, Gioachino Antonio 170 Rousset de Missy, Jean 135, 140f. Rudhart, Gideon von 253, 255–259, 262f., 268–270, 274 Rudolph, österreichischer Kronprinz 260 Rudolph I., römisch-deutscher Kaiser 184 Ruppin, Graf von (Pseudonym) siehe Friedrich Wilhelm III., preußischer König Rupprecht, bayerischer Prinz 285 Sadat, Anwar as- 299 Sade, Donatien-Alphonse-François Marquis de 171 Saint George, Chevalier de (Pseudonym) siehe Jakob III., schottischer Gegenkönig San Salvador, Marquis de (Pseudonym) siehe Karl IV. Ferdinand, Herzog von Mantua Santa Cruz, Herzogin von (Pseudonym) siehe Leuchtenberg, Amalie von Sauer, Flügeladjutant 225, 231f. Savigny, Marquis de (Pseudonym) siehe Ludwig II., bayerischer König Schamberger, Eisenbahn-Generaldirektor 261, 273–275, 281 Scharvemburg, Graf von (Pseudonym) siehe Friedrich IV., dänischer König Schiller, Friedrich 158, 169, 176, 212, 221, 280f. Schlegel, Johann Elias 165 Schleitheim, Freiherr von, Major 248 Schulze, Hermann 190f. Schwab, Konsul 239 Schwarzenegger, Arnold (Pseudonym) siehe Clooney, George Scott, Walter 151, 185f. Sebastian, portugiesischer König 14 Seitz, Hoflakai 206, 212f.
358
Register
Shakespeare, William 74, 88–90, 237 Sigmund von Birken 94 Sophie Charlotte, bayerische Prinzessin 223, 250 Sophie Friederike Dorothea Wilhelmine, österreichische Erzherzogin 212 Sophie, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg 309 Sophokles 32 Sparre (Pseudonym) siehe Gustav III., schwedischer König Spessart, Graf von (Pseudonym) siehe Ludwig I., bayerischer König Spreti, Friedrich Graf von 189 Stephan I., englischer König 45 Stephan V., ungarischer König 37 Stephanie, österreichische Kronprinzessin 193f. Stieler, Casper 90 Stieve, Gottfried 135–139, 178 Stolzing, Walther von (Pseudonym) siehe Ludwig II., bayerischer König Streater, Robert 108 Sue, Eugène 184 Susanne Henriette von Lothringen 133 Tann, Ludwig von der 206, 231f., 241, 254–258, 270, 273 Tassilo III., bayerischer Herzog 238 Tauentzien, Bogislav Friedrich Emanuel Graf 151 Tautphoeus, Cajetan von 232 Telemach 29 Teltschik, Horst 300f. Therese, bayerische Prinzessin 284f. Thorigny, Comte de (Pseudonym) siehe Ludwig II., monegassischer Fürst Thurn und Taxis, Maximilian Karl Fürst von 215 Thurn, Johanna von 126 Tiercelin, Pierre 14 Tillet, Jean du 76 Timmermann, Piter (Pseudonym) siehe Peter der Große, russischer Zar Tischbein, Wilhelm 175 Toft, Thomas 108 Toledo, Gräfin von (Pseudonym) siehe Maria Christina, spanische Königin Tolstoj, Leo 187 Trausnitz, Graf von (Pseudonym) siehe Karl VII., römisch-deutscher Kaiser
Travendahl, Prinz von (Pseudonym) siehe Christian VII., dänischer König Trochu, Duc du 226 Truzzi, Abgesandter 133 Tschernin, Thomas Graf 122, 128 Twain, Mark 184 Ulrich von Liechtenstein
45, 64–67, 69, 78
Vaugelas, Claude Favre de 94 Vicence, Duc de (Pseudonym) siehe Coulaincourt, Armand de Victoria, englische Königin 234, 286 Villarosa, Markgräfin von (Pseudonym) siehe Adelheid, portugiesische Königin Viollet-le-Duc, Eugène 237f. Völkl, Joseph 215 Wace 46f., 58 Wagner, Cosima 237, 247, 271 Wagner, Richard 212, 214–216, 219, 225, 229, 234f., 237, 261, 280 Warbeck, Perkin 14 Weber, Max 17f. Weide, Adam, Oberstleutnant 110 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 169 Wetzel, Karl Friedrich Gottlob 276 Wilhelm, hessischer Prinz 280 Wilhelm I., preußischer König, deutscher Kaiser 226f., 252f., 279 Wilhelm II., deutscher Kaiser 21 Wilhelm III., englischer König 116, 118, 178 Wilhelm V., bayerischer Herzog 189 Wilhelm von Wenden, Fürst 36 Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth 189 William der Eroberer, normannischer Herzog 43 Winterfeld, Friedrich Wilhelm von 135, 178 Wittelsbach, Graf von (Pseudonym) siehe Otto I., bayerischer König Wölfling, Johann (Pseudonym) siehe Leopold Ferdinand, toskanischer Erzherzog Wolf, Georg Jakob 208 Wolzogen, Henriette von 176 Wosnizyn, Prokofij Bogdanowitsch 111, 117 Zechlin, Walter 294f. Ziegler, F. W. 170