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German Pages [292] Year 2000
bShlauWien
Literatur und Leben Band 55
»In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...« Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns
Herausgegeben von Primus-Heinz Kucher und Luigi Reitani
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Die Herausgeber danken Frau Isolde Mayer für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung von Textstellen aus dem Nachlaß Ingeborg Bachmanns. Abdruckgenehmigung der folgenden Gedichte: Die Welt ist weit / Früher Mittag / Ausfahrt / Thema und Variationen / Abschied von England / Brief in zwei Fassungen / Herbstmanöver / Die gestundete Zeit / Anrufung des Großen Bären / In Apulien / Römisches Nachtbild / Erklär mir, Liebe / Von einem Land, einem Fluß und den Seen / Lieder auf der Flucht / Böhmen liegt am Meer © Piper Verlag GmbH, München 1978. Gedruckt mit der Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie durch die Forschungskommission der Universität Klagenfurt
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufriahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich I S B N 3-205-99166-4
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Druck: Plöchl, A-4042 Freistadt
Inhalt 7
Primus-Heinz Kucher, Luigi Reitani Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns: Annäherungen.
Österreichische Schriftstellerinnen zu Ingeborg Bachmann 37 38 41
Gerhard Kofler Helga Glantschnig Elisabeth Reichart
Interpretationen 47
Primus-Heinz Kucher Ein flüchtiger Traum vom Unermeßlichen. Ingeborg Bachmanns Gedicht Die Welt ist weit.
61
Anton Reininger Das Gedicht Ausfahrt. Politische Utopie oder existentialistische Poetik?
73
Arno Rußegger Das Unbesagte. Zu Bachmanns Gedicht Abschied von England.
88
Kurt Bartsch Ingeborg Bachmanns Herbstmanäver.
96
Hermann Dorowin Die schwarzen Bilder der Ingeborg Bachmann. Ein Deutungsvorschlag zu Die gestundete Zeit.
109 Johann Sonnleitner Ingeborg Bachmanns Gedicht Früher Mittag. 121
Hubert Lengauer Stadt-Vedute und Ich-Geschichte: Ingeborg Bachmanns Große Landschaft bei Wien.
136
Giorgio Manacorda Das Gewicht der Wiederholung. Zu Thema und Variation.
151
Rita Svandrlik Thematisierungen der Schrift. Uber Bachmanns Brief in zwei Fassungen.
164
Maria Teresa Mandalari Ein Dialog mit der Macht: Ingeborg Bachmanns Anrufung des Großen Bären.
τη 2
Luigi Reitani Der Tarantelbiß. Zum Gedicht In Apulien.
184
Antonella Gargano Wahrnehmung und Symbolik: Bachmanns Römisches Nachtbild.
192
Robert Pichl Ingeborg Bachmanns Erklär mir, Liebe.
200
Neva Slibar Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Ingeborg Bachmanns Gedichtzyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen.
219
Giuseppe Dolei Zwischen Flucht und letzter Zuflucht. Bachmanns Lieder auf der Flucht.
243
Fabrizio Cambi Ein Ich zwischen Scheitern und Annäherung ans Wort: Böhmen liegt am Meer.
253
Hans Höller »Schallmauer« und »In Feindeshand«. Zwei späte unveröffendichte Gedichte von Ingeborg Bachmann.
264
Maria Behre Ingeborg Bachmanns Gedicht Enigma - ein letztes Gedicht als Neuanfang.
2 79 Ausgewählte Arbeits- und Forschungsliteratur 290 Register
Primus-Heinz Kucher - Luigi Reitani
Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns Annäherungen1
i.
Ingeborg Bachmanns literarischer Rang und Ruhm wird heute vorwiegend mit ihrem Prosawerk und im besonderen mit dem Projekt Todesarten in Zusammenhang gebracht, das seit den 8oer Jahren unübersehbar im Vordergrund des Forschungsinteresses steht2. Im Vergleich dazu ist der lyrische Anteil am Gesamtwerk sichtlich ins Hintertreffen geraten, wenngleich auch zu ihm beachtenswerte Studien, Einzelinterpretationen und vielleicht das Interessanteste - gattungsübergreifende, narrativ-lyrische intratextuelle Deutungs- und Lektürevorschläge vorgelegt worden sind.3 Vor dem Hintergrund des zunächst leisen, dann aber fulminanten und von Mißverständnissen begleiteten Eintritts der Bachmann in die literarische Öffendichkeit, der bekanntlich im Zeichen der Lyrik gestanden ist, muß dieses Verhältnis auf dem ersten Blick als ein paradoxes erscheinen. Ein Verhältnis, das gegen das Selbstverständnis der Autorin längere Zeit zu problematischen Zuschreibungen, ja Frontenbildungen (Lyrikerin versus ι 2
Die Abschnitte 1-2 und 12 haben P.- Η. Kucher zum Verfasser, 3-11 stammen von L. Reitani. Vgl. dazu die Angaben von Otto Bareiss: Bibliographie zu »Malina». In: Andrea Stoll (Hg.): Ingeborg Bachmanns Malina. Frankfurt a. M . 1992, S. 323-354 oder die Bachmann-Beiträge in H. 3/4 (1997) von Modern Austrian Literature (MAL) von G . Brokoph-Mauch, D. Dollenmayer und M . Tzaneva.
3
Vgl. Ute Maria Oelmann: Deutsche poetologische Lyrik nach 194 j . Ingeborg Bachmann, Günther Eich, Paul Celan. Stuttgart 1980, '1983; Hans Höller: Ingeborg Bachmann: Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus. Frankfurt a. M . 1987, '1993, bes. Kap. I, in dem programmatisch von »Vorschlägen zu einer neuen Lektüre der Gedichte« die Rede ist und der Akzent auf die »geschichtliche G e stalt der Bilder und sprachlichen Gesten« gesetzt wird. Ebd., S. 13; vgl. auch seine Anm. 1, S. 292, die wesentliche Stimmen und Positionen aus der Kritik bis in die 70er Jahre zusammenfassend refereriert. Zu den lyrisch-narrativen Verschränkungen vgl. U. M . Oelmann: Lyrisches Sprechen und narratives Sprechen im Werk der Ingeborg Bachmann bzw. H. Höller: Eine Kriminalpoetik der Moderne. Malina in der Lyrik Ingeborg Bachmarms. Beide in: Dirk Göttsche, Hubert Ohl (Hgg.): Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk. Würzburg 1993, S. 55-62 bzw. S. 81-91. Zu Lyrik-Interpretationen vgl. weiters die Angaben von O . Bareiss in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Ingeborg Bachmann. = TEXT + KRITIK, 5. Aufl. 1995, S. 189-192, sowie die Eintragungen bei Wulf Segebrecht u. a. (Hg.): Fundbuch der Gedichtinterpretaionen. Paderborn/München/Wien 1997 und den Interpretationen bei Maria Behre, Ria Endres -.Abschied vom Gedicht? Zur Lyrik Ingeborg Bachntanns (Aachen 1996; zu: Die gestundete Zeit; Herbstmanimer; An die Sonne; Reklame; Das erstgeborene Land; Nebelland; Exil und Enigma).
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Erzählerin) geführt hat. Erst neuere Arbeiten bemühen sich um eine Uberwindimg dieser nicht besonders fruchtbaren Opposition, indem sie poetologisch-thematische Konstanten genauer herausarbeiten oder das Drama des schreibenden Ich als Prozeß der Opferung und Tilgung von biographischer Stimme in den Bildern des Werkes zur Sprache bringen, das mit dem Absagegedicht Keine Delikatessen zwar an eine Zäsur, nicht aber an einen Endpunkt gelangt ist.4 Jedenfalls darf daran erinnert werden, daß mit den beiden Bänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956) Ingeborg Bachmann, so bereits zahlreiche Zeitgenossen, mehr als bloß einen unverwechselbaren Tonfall, eine eigene Ausdrucksform in die Lyrik, eine die traumatische Geschichtserfahrung intensiv reflektierende Bildsprache eingebracht hat: Es gehe, so in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung, vor allem um eine neue Sprache, die eine »neue Gangart« aufweisen und darauf abzielen müsse, die »Zeit zu repräsentieren, und etwas zu repräsentieren, für das die Zeit noch nicht gekommen ist«*. Und dies ist ihr zu einem Zeitpunkt geglückt, als das Terrain der deutschsprachigen Lyrik durch mächtige Instanzen und gewichtige Beiträge durchaus unterschiedlicher Ausrichtung - man denke nur an die Gleichzeitigkeit des späten Gottfried Benn und Bertolt Brecht, an die Autorität Wilhelm Lehmanns oder an die Gruppe 47-Lyrik mit Günther Eich und Wolfgang Weyrauch - aufgeteilt und abgesteckt wurde. Neue lyrische Stimmen waren dabei einem spürbaren Maß an Skepsis und paternalistischem Dünkel ausgesetzt, nicht zuletzt deshalb, weil das ästhetische Entfaltungspotential jener Leitfiguren teils bereits ausgeschöpft war, teils kaum mehr erneuerbar schien.6 Bachmanns spezifischer Rückgriff auf Modelle und Formen der deutschen Lyriktradition sowie ihre Art der Aneignung vielfältiger Anregungen aus dem europäischen Symbolismus, ihre Form der produktiven Anverwandlung poetischer Verfahrensweisen der lyrischen Moderne?, hat dagegen eine eigenwillige, wegweisende Symbiose mit einem neuen Engagement-Begriff, aber auch mit Themen der Existential- und der 4
Vgl. dazu v. a. die Beiträge im Sonderband der Reihe TEXT + KRITIK ZU Ingeborg Bachmann (1984) hg. von Sigrid Weigel, München 1984 (künftig zit. SB. 1984), ζ. B. der Beitrag von Rita Svandrlik: Asthetisierungund Asthetikkritik in der Lyrik Ingeborg Bachmanns, ebd., S. 28-49.
5
Vgl. I. Bachmann: Fragen und Scheinfragen. In: W i y S. 196.
6
Vgl. dazu: Gustav Zürcher: »Welche Hoffnung-wenn
es so beginnt« Politische Lyrik aus den Nachkriegsjah-
ren. In: Literaturmagazin 7: Nachkriegsliteratur. Hg. von Nicolas Born und Jürgen Manthey. Reinbek 1977, S. 318-340; Friedhelm Kröll: Profil der Gruppe 47: Ideologie der Ideologielosen. In: kürbiskern 2/1978, S. n r - 1 2 7 , oder Klaus Schuhmann: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek 1995, bes. S. 302-310. Zur Stellung Benns vgl. den Abschnitt Die Institution Benn von Friedhelm Kröll. In: Ders.: Anverwandlungen
der klassischen Modernemarkant absetzen< rührt auch der leise und zweifelnde Ton an Enzensbergers Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer, das zwar als »neues« Gedicht anerkannt wird, als eines, das die überraschende Fähigkeit besitzt, »uns unglücklich machen [zu] können« ( W Ι\ζ 2 ίο), dem aber doch trotz des »Rucks«, den es auslöst und trotz seiner guten »Gesinnung« Bachmann mit unausgesprochener Vorsicht begegnet. Vorbehaltslos dagegen ihre Aufnahme der Nelly Sachs, deren Vers »Außer sich geraten/ mit dem Feuerhelm ...« das Bindeglied herstellt zwischen ihr, Eich, Sachs und Celan, dem sie, beginnend mit der Todesfuge hin zu Engßihrung jene Qualitäten zuspricht, auf die es auch ihr selbst ankommt: allen voran den Verzicht auf einen heroischen »gewaltsamen Entwurf, auf die erpreßte Autorität« zugunsten eines abtastenden, leisen, wirklichkeitswunden und spurensetzenden Betretens eines neuen »Geländes« (WIV, 215-16), das sich nicht an den Markt, wohl aber an die aufmerksamen Leserinnen wendet. Es ist dies eine Haltung, in der auch Michael Hamburger vor nicht allzu langer Zeit die zeidose Gegenwärtigkeit von Lyrik verankert hat.2*
23 Vgl. Mechthild Oberle: Liebe ab Sprache und Sprache als Liebe. Die sprachutopische Poetologie der Liebeslyrik Ingeborg Bochmanns. Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1990, bes. S. 289, wo u. a. als >Ergebnis< festgehalten wird: »Das Gedicht, das Liebe als Sprache und Sprache als Liebe verwirklicht, vertritt und weckt den Anspruch des Menschen auf eine veränderte Wirklichkeit...« 24 Vgl. P. Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegdeutschen. In: Ders.: Strömungslehre I., S. 11-43. Femer dazu: Walter Hinck: Magie und Tagtraum. Das Selbstbild des Dichters in der deutschen Lyrik. Frankfurt a. Μ ./Leipzig 1994, S. ^ηηί. 25
Vgl. Michael Hamburger: Das Uberleben der Lyrik. In: Sprache im technischen Zeitalter 98/1986, S. 82-86, bzw. ders.: Das Überleben der Lyrik. Berichte und Zeugnisse. München 1993, S. 238-244.
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3· Zu den auffälligsten Momenten der poetischen Sprache Bachmanns zählt gewiß ihre ausgefeilte Technik der Iteration, die ihren Texten oft den Stempel zirkulärer Form aufdrückt. Diese Technik stützt sich vorwiegend auf die anaphorische Wiederholung, nimmt mitunter aber auch eine kontrapunktische Gestalt an, in der die anfängliche Feststellung in ihr Gegenteil gekehrt wird oder eine signifikante semantische Abweichung erfährt. Die Kreisform des ästhetischen Verfahrens legt daher eine Art »horizontale« Lektüre nahe, findet sich nämlich in den meisten Gedichten der Autorin weder eine progressive noch »vertikale« Bewegung, sondern eine synoptische Nebeneinanderstellung, die vom Leser ein beständiges Einhalten abverlangt. Dieser Technik entsprechend, vertraut Bachmann sehr oft (vor allem in der Anrufung des Großen Bären) einer »geschlossenen« poetischen Form, weshalb es nicht wundert, daß sich I. Bachmann sehr oft einer klassischen Strophenform bedient: des Vierzeilers mit Kreuzreim und starker alternierender Betonung, der zudem eine Geschmeidigkeit hinsichtlich Akzentsetzimg und metrischer Form anbietet. Er ermöglicht ihr, aus dem elegischen Ton des funfhebigen Jambus in jenen des Volkslieds oder in den epischen der Ballade hinüberzuwechseln, aber auch einen »magischen« Rhythmus aus kurzen Trochäen anzuschlagen. Allen diesen so unterschiedlichen poetischen Genres und metrischen Möglichkeiten liegt der Vierzeiler als autonome Einheit zugrunde, als in sich abgeschlossenes »Klangbild«. Kennzeichnend in dieser Hinsicht ist etwa die vollkommene Abstimmung des strophischen Aufbaus auf die syntaktische Einheit: jeder "Vierzeiler konvergiert mit einem Satzgefüge. Jede Strophe bringt somit ein Bild zur Entfaltung, auch auf akustischer Ebene. Als Beispiel sei hier nur auf die erste Strophe von Harlem verwiesen: Von allen Wolken lösen sich die Dauben, der Regen wird durch jeden Schacht gesiebt, der Regen springt von allen Feuerleitern und klimpert auf dem Kasten voll Musik (W 1,113)
Thema ist hier der Regen in der Großstadt, genauer im »schwarzen« New Yorker Harlem-Viertel. Das Wortmaterial ist klar umrissen; ein einziges Substantiv, der Regen, trägt die Syntax der Strophe und ist in jeder Zeile präsent: implizit in der ersten, emphatisch mit anaphorischer Wiederholung in den mittleren, grammatikalisch in der letzten. Weisen die Mittelzeilen mit ihren Anspielungen auf Schächte und Leitern einen beschreibenden, abbildenden, in der Wirklichkeit eines großstädtischen Viertels
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verankerten Charakter auf, so nimmt mit dem Verb »klimpern« das bildliche Ensemble eine metaphorische Valenz an: Der Regen auf Harlem wird zum musikalischen Ereignis. Die zweite Strophe verstärkt diese Metaphorik über die Worte »Regenrhythmen« und »Regenblues« und verschmilzt die semantischen Felder »Regen« und »Musik« zu einer übergreifenden Synthese, in welcher der Regen zum Sinnbild eines mythischen, rauschhaften Ereignisses mit dionysischen Zügen wird (nicht von ungefähr erscheinen im ersten Vers die Wolken als Fässer). Zu diesem Bild trägt entscheidend das metrische und phonetische Strophengefuge bei. Der elegische Gang aus jambischen Fünfhebern mit abwechselnd männlicher und weiblicher Kadenz, musterhaft seit Rilkes Der Panther, nimmt im letzten Vers über die Alliterationen auf den betonten Silben eine synkopierte Wendung an. Phonetische Parallelismen und die Wiederholungen drücken der Strophe einen feierlichen Charakter auf, zu dem auch die Verwendung der offenen Diphthonge in den Assonanzen beisteuert. Der Vierzeiler spielt sich selbst Musik: eine elegisch-feierliche synkopierte, bluesähnliche Musik. Zusammenfassend: Das Gedicht »sieht« und »hört« den Regen auf Harlem niederprasseln, die Wahrnehmungsform ist allerdings weder impressionistisch noch naturalistisch. Das »Klangbild« der Strophe läßt ein mythisches Vorkommnis zutage treten. Die Metapher ist dabei absolut: der Regen auf Harlem ist nicht wie »Musik«, sondern er ist Musik - eine dionysische Musik, dazu bestimmt, bald zu verstummen (»Die Regenrhythmen unterwandert Schweigen«). Wohnt aber diesem mythischen Regen nicht ein Moment der Erlösung inne? Läßt sich das Klangbild der Strophe nicht auf eine konkrete soziale Wirklichkeit beziehen? Gibt es in dieser Urbanen Landschaft keinen menschlichen Akteur? Das Wort »Regen« gibt darauf vielleicht kryptisch eine Antwort: Rückwärts gelesen läßt das bekannte Palindrom das Wort »Neger« durchschimmern.
4· Die mythische Re-Formulierung der Wirklichkeit über »Klangbilder« wird von Bachmann als ein wichtiges Verfahren einer nicht-naturalistischen Poetik begriffen, die unverkennbar eine Nähe zu Rilkes Maxime im Malte - »leb lerne sehen« - aufweist.26 Allerdings geht Bachmann einen Schritt über Rilke hinaus, indem sie ihre Bilder von jedem Vorwand, die Realität abzubilden, freischreibt. »Die Imagination hat keinen imitativen Instinkt«, hatte bereits Eluard festgehalten; die Sprache der Poesie steht daher nicht im Sold der Wirklichkeit.
26 Vgl. Rainer Maria Rilke: Die Außeichnungen des Malte Laurich Brigge. (1910) Frankfort a. Μ . 1978, S. 9.
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Zurückkehrend zur Frage nach dem Verhältnis zur Tradition wird deutlich, daß die Idee der Strophe als »Klangbild« in einem illustren Traditionszusammenhang steht, der im 19. Jahrhundert bereits mit Heine, Platen oder Mörike in verschiedener, sich ergänzender Form seinen Höhepunkt erreicht und in der Musikalität Eichendorffs oder Brentanos stete Nahrung gefunden hatte. Andrerseits ist unübersehbar, daß Ingeborg Bachmann aus dieser Form lyrischen Sprechens eine sehr moderne Idee von der Autonomie des poetischen Signifikanten ableitet. Ihr Verhältnis zum romantischen Lied ist nämlich gebrochen durch eine ästhetische Sensibilität, die sich den avantgardistischen Strömungen, im besonderen demfranzösischenSurrealismus, verdankt. Die Musikalität der Strophe ist daher nicht als zu erreichende Dimension zu verstehen, sondern als strukturelles Vehikel und bedeutungsstiftender Faktor. Nicht das Bild löst sich demnach in der Musikalität der Strophe auf, sondern es ist die Musik des strophischen Signifikanten, die das semantische Bild bestimmt, ein Verfahren, das zum Teil an Trakl erinnert.27 Diese Bewußtheit der Autonomie des poetischen Signifikanten ist präsent in der Art, in der die Bachmann den Vierzeiler der romantischen Liedform umschreibt. Nimmt man das Reimsystem von Anrufung des Großen Bären hinzu, wird man eine Tendenz feststellen können, das Wort im Reim zu »neutralisieren«, damit es sich an keiner Stelle als »gewichtig« herausstelle. Den Reim bilden vielmehr wiederholt Präpositionen, Adverben, Partikel oder Partizipialformen. Bewußt meidet die Autorin die Reimbindung von Wörtern mit konzeptueller Bedeutung - die petrarkistische Lexik des Endverses, wie sie sich in einer jahrhundertelangen Tradition herausgebildet hatte -, aber sie experimentiert auch nicht, weder mit transgressiven Reimen wie Heine noch mit Neologismen oder Fremdmaterial wie Benn. Vielmehr versucht Bachmann die Reime zu entsemantisieren und deren phonetische Valenz herauszustreichen. In diesem Sinn ist der Reim von seiner Funktion der semantischen Akzentuierung des Wortes weitgehend befreit und trägt in erster Linie zum gesamten »Klangbild« der Strophe bei. Nahezu vergebens wird man daher im Werk Bachmanns dem Faszinosum des raren, des pretiösen Ausdrucks, dem Bennschen Südwort, nachspüren, der »semantischen Emotion« einer Vokabel. Weit entfernt, eine Ausdünnung der grammatikalischen Verbindungen, eine elliptische oder nominale Bauform anzuwenden, expliziert die Schriftstellerin die syntaktischen Verbindungen durch die metrisch-rhythmische Struktur. Insgesamt hebt dabei das poetische Gewebe nicht so sehr das einzelne Wort als vielmehr die Aussage hervor.
27 Vgl. Gian Luigi Beccaria: L'autonomia del Signifikante. Figure del ritmo e deüa stntassi. Dante, Pascoli, D'Annunzio. Torino: Einaudi '1989, S. 57.
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5· Aus dem bisher Ausgeführten wird deudich, wie sehr sich Bachmann auf einer Benn diametral entgegengesetzten Ebene bewegte, der ja in seinem berühmten Essay Probleme der Lyrik (1951) unter anderem den Wert des einzelnen Wortes gefeiert hat. Verbindet auch beide ein Rückgriff auf liedhafte deutsche Formen, so könnte ihr jeweiliger Bezug zur Tradition nicht verschiedenartiger sein. Die Musikalität der Strophe wird von der Schriftstellerin als Erweiterung des Bedeutungshorizontes verstanden und nicht als Rückzug des poetischen Wortes auf sich selbst. Das Verhältnis zur Tradition ist bei Bachmann keineswegs das einer passiven Anverwandlung, es führt vielmehr die Problematisierung seiner Formen vor. Im Unterschied zu Benns Statische Gedichte und zur »Naturlyrik« ihrer Zeit will die klassische Strophe nicht mehr eine Zeidosigkeit der poetischen Struktur über die Stummheit und Vergänglichkeit der Geschichte zelebrieren. Bachmann stellt vielmehr die traditionellen Formen der deutschen Lyrik als kommunikative Vehikel auf die Probe. In dieser Re-Lektüre der Tradition ist Bachmann natürlich kein Einzelfall; es genügt hier, auf den frühen Celan und seinen Band Mohn und Gedächtnis hinzuweisen. In ähnlichem Sinn sind auch die zahlreichen Zitate aus dem reichen Vermächtnis der europäischen Lyrik zu sehen, die ebenfalls einem Bewußtsein der Krise verpflichtet erscheinen. »Wir, befaßt mit der Sprache«, so Bachmann in Münk und Dichtung, »haben erfahren, was Sprachlosigkeit und Stummheit sind - unsre, wenn man so will, reinsten Zustände! Und sind aus dem Niemandsland wiedergekehrt mit Sprache, die wir fortsetzen werden, solang Leben unsre Fortsetzung ist« ( W I V , 60). Das Wort, das der Stummheit entspringt (bei Celan ist im Meridian ebenfalls vom Wort an der Grenze zum Verstummen die Rede)28, das Wort, das, wie bereits Eluard schrieb, »große weiße Ränder« aufweist, ist das Wort, das sich seiner ethischen Verantwortung stellt und dies mit einem utopischen Entwurf versucht. Sein entgegengesetzter Pol ist das »Gerede«, »das Wort, das Drachen sät«. Daher durchzieht die Reflexion über den falschen Gebrauch der Sprache auch das Gesamtwerk der Autorin. Der Reduktion der Sprache auf das Klischee und die stereotype Formel hält Bachmann das Wort als Garanten der »Wahrheit« entgegen: »Gunst aus Laut und Hauch«. In Reklame ζ. B. wechseln sich die falschen tröstenden Worte der Werbesprache mit einem monologischen Gestammel ab, das den Sinn des menschlichen Schicksals eindringlich befragt.
28 Vgl. Paul Celan: Der Meridian. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt a. M . 1983, Bd. 3, S. 187-202, bes. S. 197.
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6.
Bachmanns Sprachreflexion geht auf die Bekanntschaft mit dem Werk Wittgensteins zurück. Die Lektüre seines Tractatus logico-philosophicus (1922) parallel zu ihrer Dissertation über Heidegger (1949) wird für die Autorin zu einem entscheidenden Anstoß für ihre poetologische Reflexion.2' Dabei geht es ihr nicht um eine Uberführung einzelner Thesen in die Sprache der Lyrik, sondern um einen zentralen theoretischen Problemansatz, der sich nur durch die poetische Praxis auflösbar erweist. In gewisser Weise faßt das Werk Wittgensteins für die Bachmann grundlegende Fragestellungen der Zeit unmittelbar nach dem Krieg zusammen. Wenn nämlich - so die Autorin in ihren beiden Essays über den Philosophen - im Zeitalter der Technik und des Fortschritts die Welt nur mehr mittels der >positivenWarum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts ?< Ist Heideggers Sprachlosigkeit dem Sein gegenüber nicht auch die Sprachlosigkeit Wittgensteins?« (WIV, 113) Indem Bachmann diese Fragen stellt, will sie keineswegs die tiefen Differenzen zwischen den beiden Philosophen zum Verschwinden bringen. Im Gegenteil, sie beeilt sich festzuhalten, daß der Tractatus die grundlegenden Ideen der Heideggerschen Ontologie untergräbt und spricht, ausgehend von ihrer Dissertation, der Heideggerschen Philosophie die Fähigkeit ab, rationale Erkenntnisse zu vermitteln. Aus der Sicht des »Wiener
29 Zu diesen Aspekten vgl. in der italienischen Diskussion v. a. die Arbeiten von Fabrizio Cambi, ζ. B. Matrici heideggeriane nella lettura di Ingeborg Bachmann. Pisa: Nistri Litschi 1990; neuerdings auch: Paolo Chiarini: Heidegger e laformazione dellapoetica di Ingeborg Bachmann. In: studi germanici, 2-3/1996, S. 389-396, sowie Barbara Agnese: Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns. Wien 1996.
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Kreises« erweist sich nämlich Heideggers Denken als ein Gebäude, das auf logisch irrigen Annahmen beruht. Trotzdem fällt auf, daß in ihren Schlußfolgerungen Bachmann in gewissem Sinn ihre eigene Kritik an Heidegger zurücknimmt, indem sie seiner Philosophie zugesteht, essentielle Punkte der emotionalen Sphäre des Menschen zu berühren: »Die Grunderlebnisse, um die es in der Existentialphilosophie geht, sind tatsächlich irgendwie im Menschen lebendig und drängen nach Aussage. Sie sind aber nicht rationalisierbar.«?0 Wohl nicht zufallig steht dies in nächster Nähe zu ihrem Hinweis auf die berühmte Schlußaussage des Tractatus·. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« (Satz 7). Es hat hier fast den Anschein, als hätte die Schriftstellerin Wittgenstein vor dem kontrastiven Hintergrund der Existentialphilosophie lesen wollen. Eine Grunderfohrung beider Philosophien ist gewiß für die Bachmann von zentraler Bedeutung, und zwar die Erfahrung der Moderne, das Gefühl der beängstigenden Unerklärbarkeit der Welt, ein Gefühl, das vor dem unmittelbaren Hintergrund der barbarischen Ereignisse des Krieges auch um eine historische Dimension aufgeladen wurde. Metaphysik wird aus diesem Blickwinkel zurückgeführt auf die Sehnsucht, eine emotionale Erfahrung zu rationalisieren. Im Radioessay über Wittgenstein wird dieses Bedürfnis trotz seiner unaufhebbaren logischen Mängel als »Lebensgefiiihl« in nächster Nähe zur Kunst erklärt (WIV, 111-12). Freilich will das Kunstwerk nicht logisch argumentieren und ist daher immun den Irrtümern der Metaphysik gegenüber. In diesem Sinn mündet schließlich die wechselseitige Lektüre Heideggers und Wittgensteins in ihre spezifische Poetologie ein. Der Literatur und im besonderen der Lyrik kommt jene Aufgabe zu, welche die Metaphysik nicht leisten kann, die aber das Werk Wittgensteins implizit einfordert, d. h. »die Entgrenzung«, die Überschreitung der Grenzen der positivistischen Sprache, der mystische Zugang zur Wahrheit: »Dem Bedürfnis nach Ausdruck dieses anderen Wirklichkeitsbereiches, der sich der Fixierung durch eine systematisierende Existentialphilosophie entzieht, kommt jedoch die Kunst mit ihren vielfältigen Möglichkeiten in ungleich höherem Maß entgegen« (KA, 130). Mit diesen Schlußfolgerungen in ihrer Dissertation und mit dem zitierten Baudelaire-Sonett Le gouffre nahm Bachmann unwissemlich eine der verschlüsseltsten Aussagen des späten Wittgenstein auf, und zwar jene, wonach man Philosophie eigentlich nur dichten könne.?1 Das vielzitierte Diktum, daß die Grenzen meiner Sprache [...] die Grenzen meiner Welt (bedeuten) (Satz 5.6.) verkehrt sich bei Bachmann in die Feststellung »Keine neue Welt ohne neue Sprache« ( W I V 132). Vor diesem Hintergrund erscheint das ambitiöse Programm ihrer Frankfurter Vorlesungen erst im richtigen Kon30 Vgl. I. Bachmann: Die Kritische Aufrahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers. Hg. von R. Pichl, München/Zürich 1985, S. 129. Künfitg zit. mit der Sigle KA. 31 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Frankfurt a. M. 1977, S. 53.
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text und kann in der Utopie das Ziel der Literatur verkünden. Literarische Wferke seien somit »Stücke der realisierten Hoffiiung auf die ganze Sprache, den ganzen Ausdruck für den sich verändernden Menschen und die sich verändernde Welt« (WΙ\ζ 268).
7·
Ein so absolut verstandener Charakter der Kunst, der »Wahrheit, die dem Menschen zumutbar« ist, auch einzufordern habe, verleiht den Gedichten der Autorin zwangsläufig eine programmatische poetologische Dimension. Der Primat der Kunst führt bei Bachmann in der Tat zu einer fast schon obsessiven Legitimation der Rolle des Dichters und der Idee des Schönen^. In einem ihrer vielgedeuteten Gedichte, in Mein Vogel, greift die Dichterin auf ein klassisches Mythologem zurück, auf die Eule, eine Art von »poetischem Uber-Ich« (Höller), bei dem sich das lyrische Subjekt Trost und Inspiration holt: »Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe/ mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe!/ Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir« (WI, 96). Gewöhnlich Sinnbild der Weisheit und Wachsamkeit leitet die Eule ihre symbolische Wertigkeit davon ab, eines der wichtigsten Attribute der Göttin Pallas Athene zu sein, die in mythologischen Darstellungen wiederholt in Gestalt dieses Vogels auftritt. Beide, Vogel und Pallas Athene, stehen für verschiedene Bereiche, und Bachmann nützt gerade die immanenten Zweideutigkeiten dieses Mythologems, den Reichtum der Anspielungen und Bezüge, ohne es auf eine bestimmte Bedeutung hin auflösen zu wollen. In diesem wie in anderen Fällen greift die Autorin zwar auf die Tradition zurück, modifiziert jedoch die Wertigkeit der verwendeten Bilder, so daß mit gewissem Recht von einer »gebrochenen« Metapher gesprochen werden kann, deren ursprünglicher Sinnbezug durch andere Elemente Erweiterung oder Verfremdung erfährt. Einzig der Kontext vermag eine Annäherung an ihre Bedeutung e r b r i n g e n . " Im vorliegenden Fall bezieht die gesamte metaphorische Konstellation ihr semantisches Potential aus der Beziehimg, die sich zwischen dem lyrischen Ich und dem Mythologem des Vogels entwickelt. Er erscheint wie eine ideale Projektion in einem Prozeß mühsamer Selbstverwirklichung, der sich vor dem Hintergrund einer »verheerten
32
Kritisch dazu neuerdings Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. Münc h e n / W e n 1998, bes. im Abschnitt >Das Gedicht will schön sein< (mit Bezug auf Bachmanns An die Sonne), S. 1 1 - 1 4 .
33
Vgl. dazu auch Albert Berger: »Das alte Haus der Sprache«.Traditionssprache und Sprachinnovation in der österreichischen Lyrik seit 1945. In: Z G B , Beiheft 3/1996, S. 5 - 1 8 , bes. S. 11, wo Berger mit Bezug auf Mein Vogel meint, hier sei »die Macht der ehrfürchtigen Tradition spürbar«.
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Welt« (V 1) abspielt. Im lyrischen Ich vollzieht sich das Erreichen einer Bedingung intellektueller Produktivität, verdichtet im Bild des Harzes, das die Erde »verspinnt« (V 33), parallel zum Flug in »herrlicher Ruhe« (V 38), mit der jene Eule den Turm, »den der Wächter verließ« (V. 4), erreicht. Hans Höller hat in seiner Deutung gezeigt, wie die anaphorische Textkonstruktion vor allem den mühsamen Prozeß exponiert, der zur Uberwindung der auf den Weg gelegten Hindernisse führt: »Das einleitende >Wenn< mit seinen Wiederholungen am Beginn und innerhalb der Strophen imitiert grammatisch die Konzentration auf die Bedingungen und das Sich-Erobern neuer Bedingungen, wobei das immer neue Ansetzen die Anstrengung, die Unbeirrbarkeit und Zielbewußtheit zum Ausdruck bringt.«}* Die Emphase, die die poetische Aktivität umgibt, hat ihren Grund demnach in den Schwierigkeiten, welche sich jener auf dem eingeschlagenen Weg entgegenstellen. Der Rückgriff auf kodifizierte Bilder des »Dichterberufs«, um Hölderlin zu paraphrasieren - der übrigens in der stilistischen Feinstruktur des Textes durchschimmert - , erfolgt über einen semantischen Kontext, in dem die Bedingungen des Dichtens selbst als ungewiß und problematisch erscheinen: Der Wert der Kunst läge in ihrer Aufgabe, Herausforderung zu sein, »was immer auch geschieht«. Die elitäre Position des Dichters, der sich vom »Dunstkreis, den das Gelichter bewohnt« befreit, um einen höheren, fruchtbareren Beobachtungsstandort zu erreichen, zielt hier nicht auf Verweigerung, sondern auf Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Das Ich stellt sich nicht »außerhalb«, sondern »über« die Geschichte.
8.
Indem sie in ihre Gedichte zahlreiche metaphorisierte Bildbereiche der Natur einarbeitet, die jedoch mit einer ausdrücklich negativen Konnotation versehen sind, kehrt Bachmann die Topoi der österreichischen und deutschen Naturlyrik der 50er Jahre, die sich als von der Geschichte verschont gebliebenen Räume gerieren, in ihr Gegenteil." Gerade in einer desolaten Landschaft, die von der Gewalt der Elemente heimgesucht wird, oder in Topoi einer elegischen »winterlichen« Lyrik, bot sich die Natur als Metapher für die Negativität geschichtlicher Prozesse an. Innerhalb dieses Systems läßt sich eine Neigung dazu feststellen, Geschichte als ununterbrochene Folge von dramatischen und ruinösen Ereignissen darzustellen, die ihren vorläufigen Endpunkt in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges findet, wie dies ζ. B. im Gedicht Psalm aufzuspüren ist: 34 Vgl. H . Höller: I. Bachmann, S. 48. 35 Vgl. dazu u. a. Johann Strutz: Die Trägheit der Metaphernsprache. Zur traditionalistischen Lyrik derfiinfziger
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In der Nachtgeburt der Schrecken sucht das Geschmeiß nach neuer Nahrung. Zur Ansicht hängt karfreitags eine Hand am Firmament, zwei Finger fehlen ihr, sie kann nicht schwören, daß alles, alles nicht gewesen sei und nichts sein wird ... (W I, 54)
Diese negative und apokalyptische Vision der Geschichte bedingt die Vorstellung des Dichters auf der ewigen Flucht vor dem Nichtauthentischen, die sich im wiederholt verwendeten Bild der »Ausfahrt« niederschlägt. 36 Zugleich impliziert diese Geschichtsauffassung eine Geste des Widerstands und eine tiefe Sehnsucht nach Wahrheit, man denke nur an das Gedicht Exil (1957) mit seiner beeindruckenden negativen Vermessung des Standorts des Ich: Ein Toter bin ich der wandelt gemeldet nirgends mehr unbekannt im Reich des Präfekten überzählig in den goldenen Städten und im glühenden Land abgetan lange schon und mit nichts bedacht Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang der ich unter Menschen nicht leben kann (...) (WI, 153)
Der Entfremdung in der geschichdichen Realität steht noch einmal und einzig die Sphäre der Kunst gegenüber. Jene entfremdete Realität wird verkörpert durch das »Reich des Präfekten«, und dies ist das Territorium der Fachsprachen, die im Sinne Wittgensteins den Sinn außerhalb der Welt lassen, ein Territorium, das zugleich von eiJahre. In: Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei, Hubert Lengauer (Hgg.): Literatur der Nachkriegszeit und der 50er Jahre m Österreich. Wien 1984, S. 207-222. 36 Vgl. Ulrich Thiem: Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns. Köln 1972,8.46-5 2.
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ner täuschenden Opulenz (»goldene Städte«) und einem »grünenden Land« geprägt erscheint, denen gegenüber das lyrische Ich sich nicht weniger entfremdet fühlt und auf seiner Distanz zu jeder rettenden, romantischen Anschauung der Natur besteht. Der Dichter ist in diesen Bedingungen derjenige, der »unter Menschen nicht leben kann« und dem nur wenige Güter wie ζ. B. der Klang bleiben. Im zweiten Teil läßt das berühmte Bild von der Sprache als Wolke - »Ich mit der deutschen Sprache/ dieser Wolke um mich/... treibe durch alle Sprachen ...« - schlußendlich seinen Platz dem Regen, welcher mit seinen Tönen das (tote) Ich »in hellere Zonen« trägt. Die Kunst als Herausforderung der Wirklichkeit, Kunst als Utopie, erscheint hier allerdings nur möglich um den Preis eines drastischen Verzichts: dem auf Leben. Der Status des Künstlers ist damit der einer >posthumen< Existenz, der Dichter ist »ein Toter der wandelt«37.
9In Mein Vogel wird diese Bedingtheit in der Form einer schmerzhaften Trennung zwischen Eros und Intellekt vorgeführt. In seiner fünften Strophe wird unübersehbar das Thema der Widerständigkeit gegen die Sinne entwickelt, das mögliche symbolische Korrespondenzen im Bildkomplex Eule-Pallas vermuten läßt (Virginität der Göttin, der Schleier als Chiffre der Enthaltsamkeit, aber auch der Kunst). Zudem taucht hier das Problem des Verlustes einer Komponente des Ich auf, das auf dramatische Wfeise auch im Gedicht Erklär mir Liebe wiederkehrt und mit Bezug auf die Kluft zwischen Kunst und Leben ein zentrales Thema der Literatur des 20. Jahrhunderts moduliert. Bei Bachmann gewinnt diese Thematik insofern einen besonderen Akzent, als der Verlust der erotisch-existentiellen Sphäre einen irreparablen Charakter annimmt. Und die ästhetische Konstruktion vermag den Erlebnisbereich, das Leben, nicht mehr zu kompensieren oder zu ersetzen. In diesem Kontext scheint es gerechtfertigt, auf einen Aufsatz von Benn hinzuweisen, der jener mythologischen Pallas-Figur gewidmet ist. In ihm setzt sich Benn nämlich mit jener literarischen Tradition auseinander, welche die Idee vertritt, die Göttin müsse Orest von seinem Mord freisprechen. Pallas wird dabei zum Symbol für den fortschreitenden Riß zwischen dem Menschen und der Natur, für jenen Prozeß, den Benn mit dem Ausdruck »Zerebralisation« belegt. Auch die Kunst, so Benn, stünde unter dem Zeichen der Pallas: »Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt. Dies ist eine fundamentale Tatsache von heute, wir müssen uns mit ihr abfinden. [...] Nicht nur 37 Zur Thematisierung des Ich vgl. auch G. Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik. Bd. Π, S. 759^
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abfinden: anerkennen, verteidigen die oresteische Epoche, die Welt als spirituelle Konstruktion, als transzendentale Apperzeption, die Existenz als geistigen Aufbau, das Sein als einen Traum von Form«.}8 Vor diesem Bennschen Hintergrund gelesen, erhält das Gedicht Mein Vogel den Charakter einer programmatischen Umkehr. Die Autorin sieht keine Möglichkeit mehr, »sich ab[zu]finden« mit den Schizophrenien der Wirklichkeit. Die Entfremdung des Ich in der orestischen Ära - oder anders gesagt in der Wittgensteinschen Epoche der »Welt als Tatsachen«, der tautologischen wissenschaftlichen Sprache - erscheint ästhetisch nicht mehr überbrückbar: Sie bleibt bestehen als unbeugsames Faktum, das die Kunst nur zum Ausdruck, nicht aber zur Aufhebung bringen kann. Das Drama der Ichaufspaltung in eine erotisch-emotionale und in eine rationale Komponente, in eine weibliche und männliche Konstellation, verwandelt sich hierbei in eine elegische Klage nach einen verlorengegangenen ursprünglichen, unitären und androgynen Zustand den Archetypus der inzestuösen Geschwisterbeziehung, der das Gesamtwerk der Bachmann durchzieht. Außerhalb der Geschichte, in einem mythischen und märchenhaften Raum, kommt die Liebe zwischen Geschwistern ohne tiefe Schmerzerfahrung aus. Im fünften Gedicht des Zyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen wird dieser ursprüngliche Liebesmythos, der so sehr an Musils »anderen Zustand« erinnert, in einer Reihe von metamorphen Figurationen gefeiert. Eros und Natur greifen ineinander und stehen in schroffem semantischen Gegensatz zu jenen Bildern der Natur, die von der Geschichte geprägt und die als desolate Landschaft gegenwärtig sind. An keiner Stelle nimmt demnach die Lyrik Bachmanns idyllische Form an, und das ihr eigentümlichste Register ist wohl das der Elegie. Die »reine Größe« (WIV, 276) der Liebe wird nicht an sich besungen, sondern als Ideal, an dem die Wunden des Lebens zu messen sind. In Das Spiel ist aus werden ζ. B. kindliche Phantasien im Zeichen der Desillusionierung sichtbar gemacht. Märchen, Tagträume und unbewußte Wunschvorstellungen als Signale der Utopie zielen darauf ab, die Sinnlosigkeit und den Schrecken der Existenz anzuzeigen, und trotzdem verflüchtigen sie sich im Angesicht der Wirklichkeit. Die Wichtigkeit des Märchenrepertoirs scheint aus jener Phänomenologie utopischer Zustände abgeleitet zu sein, die Ernst Blochs grandiosem Werk Das Prinzip Hoffnung zugrunde liegt und die sich Ingeborg Bachmann in den 50er Jahren angeeignet hat. Die existentialistische Kritik der Autorin konnte auf diese Weise ihren Ausweg in einer Utopievorstellung finden, die zugleich einen Ankerplatz fur das Wagnis des poetischen Wortes anbot. Verkörpert die Welt »das Reich des Präfekten«, den Ort der un38 Vgl. G. Benn: Palks. In: Ders.: GW. hg. von D. Wellershoff, Bd. i: Essays, Reden, Vortrage, S. 365-366.
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vermeidbaren Dissoziation des Ich, wobei sein erotisch-emotionaler Anteil zum Untergang bestimmt erscheint, so übernimmt die Poesie die Aufgabe, jenes »noch-nicht« der Utopie (Bloch) zum Ausdruck zu bringen. Hans Höller hat am Beispiel des Zyklus Anrufung des Großen Bären gerade daraufhingewiesen, wenn er schreibt, daß »in den utopischen Bildern und Zeichen das versammelt [erscheint], was die Menschen in ihrer bisherigen Geschichte gegen die entfremdete Welt aufgeboten haben: Natur, Religion, Volksmärchen und utopische Volksfeste, Liebe, Spiel und Arbeit, sie bilden den Schatz an Vorstellungen, Klängen, Farben und Bewegungen zur Versinnbildlichung des augenblicklichen Anbruchs einer erlösten Welt«'?. Dem Wort, das sich selbst in ästhetizistischen Ritualen feiert, in der autistischen »Artistik« der Form, der »monologischen« Poesie (Benn), stellt Bachmann ein Sprechen entgegen, das »mit seinem ganzen Wesen auf ein Du gerichtet« ist (WR^ 276), eine Poetik der »wahrnehmenden« Immagination, des Sehens und Hörens als Kategorien dieser Immagination. In Anrufung des Großen Bären wird die italienische Landschaft der metaphorische Ort dieser poetischen Entzündung, die der Erfahrung des Leidens erwächst: »Und als ich mich selber trank/ und mein erstgeborenes Land/ die Erdbeben wiegten/ war ich zum Schauen erwacht.«
10. Die ungewöhnliche Komplexität dieser intellektuellen Haltung wird einmal mehr im Gedicht Anrufung des Großen Bären sichtbar. Als eines derfruchtbarstenMythologeme findet sich das Bild des Großen Bären bereits in Homers Illias (XVHI, 487-89) sowie im Buch Hiob (38, 32), ferner in zahlreichen Texten der europäischen Literatur, man denke nur an den berühmten Anfang der Ricordanze von Giacomo Leopardi.40 Auch aus diesem Grund stieß das Gedicht sofort auf das Interesse unterschiedlichster Interpreten, wie ζ. B. des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt, der die Anrufung zu jenen Texten rechnete, die, neben den berühmten Gedichten von Sappho und Goethe, als originär »mythenstiftend« anzusehen sind. Gerade aber ein Blick auf die überlieferten Bilder vermag deutlich zu machen, in welcher Weise das Mythologem bei Bachmann
J9 Vgl. H. Höller: I. Bachmann, S. 55. 40 Vgl. Giacomo Leopardi: Ricordanze. In: Ders.: Gesänge, Dialoge und andere Lehrstücke. Ubersetzt von Hanno Helbling und Alice Vollenweider. München 1978, S. 155^: »Vaghe stelle dell'Orsa, io non credea/ Tornare ancor per uso a contemplarvi/ Sul paterno giardino scintillanti...« Deutsche Fassimg ebd.: Gestirn des Bären! daß ich so von neuem/ dein zaubervolles Leuchten hier betrachte/ wie damals, über unserm alten Garten...«
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Veränderung erfährt: hin zu einer Geschichtlichkeit des poetischen Bildes, um die bekannte These Walter Killys aufzugreifen .4' Zunächst einmal gilt es klarzustellen, daß die »Anrufung« eher den juridischen Sinn der »Anrufung des Gerichts« hat als den des Gebets.^2 Auch handelt es sich nicht um eine funktionale Apostrophe zu einem lyrischen Monolog, wie es bei Leopardi der Fall ist. Der Text entfaltet sich denn auch auf drei verschiedenen Perspektiven: In der ersten Strophe wendet sich ein kollektives Subjekt, ein »wir«, das mit den Hirten identifizierbar ist, an den Bären und gebraucht dabei eine Imperativische Form. Es handelt sich nicht um einen Ruf nach Hilfe, wohl aber um eine Aufforderung. »Das >komm herab< in Ingeborg Bachmanns Gedicht«, so Hans Höller, »bedeutet nicht Kniefall, sondern Aufforderung an die außermenschliche Macht, die den Menschen heimsucht mit Schlägen, sich zu stellen, es bedeutet, eine Gewalt zu belangen, vor der die Menschen belanglos sind.«« Die Haltung der Hirten dem Wolkenpelztier gegenüber wird durch das Verb »mißtrauen« präzisiert. Kein Vertrauen also, Voraussetzung jeder Verehrung, wird diesem »großen Bären« entgegengebracht, im Gegenteil, das lyrische »wir« bekräftigt sein »wachsam« sein in der Ausübung der übertragenen Aufgabe angesichts der Gefahr, die aus jener Konstellation Sternzeichen-Raubtier erwachsen kann. Andrerseits zögern die Hirten nicht einzubekennen, daß sie sich unter dem Joch des Bären befinden, »gebannt«, ein Zustand, der gleichermaßen eine Faszination wie einen dämonischen Einfluß zum Ausdruck bringt. Alles andere als Ausdruck der Bewunderung sind aber die Worte, die am Schluß der Apostrophe der Hirten stehen, dieses »alter Bär«, ein eher ehrenrühriges Pendant zum feierlichen »großen Bären« des Gedichtsanfangs. Wie Höller bemerkt hat, findet sich in dieser Strophe ein Echo jenes Pathos, mit dem sich der goethesche Prometheus an Zeus wendet. Wenn schon nicht eine Herausforderung, so ist die Anrufung der Hirten wenigstens eine mutige Auseinandersetzung mit jener Macht, die sie in Abhängigkeit hält. In der zweiten Strophe erscheint die Perspektive umgedreht. Das Wort ergreift nun der Bär, der zynisch mit der Welt sein Spiel treibt. Gemeinsam ist beiden Strophen die Uberlagerung der beiden dem Bären zugeordneten semantischen Felder als Sternzeichen und als Raubtier. Die Attribute, Substantiva und Verben aus dem animalischen Bereich (zottig, Pfoten, Krallen, schnauben, Tatzen etc.) verschmelzen mit solchen, die auf die kosmische Konstellation anspielen. Diese wechselseitige semantische Durchdringung erreicht ihren Höhepunkt in den beiden Komposita »Sternaugen« und »Ster-
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Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Das Wort der Dichtung. Mythos und Logos. In: Gestalt und Gedanke, i960, S. 90-128, bzw. Walter Killy: Wandlungen des lyrischen Bildes. Göttingen 1961.
42 Vgl. H . Höller: I. Bachmann, S. 58-63. 43 Ebd., S. 60.
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nenkrallen«, die zugleich dem metrischen Aufbau der Strophe eine rhythmische Pause aufewingen und eine Art Refrain erzeugen, zu dem auch die phonetische Verdoppelung durch den identischen Reim beiträgt. Die beiden Worte, die jeweils einen Vers ergeben, bilden in der ersten Strophe eine Unterbrechung der Apostrophe. Wo der Diskurs der Hirten abbricht, rückt das mythische Bild des Sternzeichen-Raubtiers nach. In der zweiten Strophe wird dieses zum Protagonisten der Weltgeschichte schlechthin (»von den Tannen im Anfang/ zu den Tannen am Ende«). Sein Spiel mit der Erde und mit den »Schuppen«, welche für die Menschen stehen, erscheint um so schrecklicher, als es nach außen hin den unschuldigen Schein eines zeitvertreibenden Haustieres annimmt. Mit der Veränderung der Perspektive ändert sich aber auch die Sprache: Die ausgreifenden Trochäen der ersten Strophe machen einer elementaren Parataxe Platz, die ins Elliptische reicht (V 12-13), die einen durch Satzzeichen aufgebrochenen Rhythmus aufweist und ein Vokabular, das auch das umgangssprachliche Register einschließt wie z. B. im Verb »zupacken«. Die Sprache des Bären unterscheidet sich von jener der Hirten, ein Wechselgesang zwischen dem Schlächter und dem Opfer, wie Walter Jens festgehalten hat. 44 In der dritten und vierten Strophe ist eine weitere Akzentverschiebung, diesmal nach außen hin, anzutreffen. Die Worte »Fürchtet euch oder furchtet euch nicht!«, die wiederholt als Einräumung gelesen wurden, stellen eigendich einen paradoxen Imperativ dar, der nach dem Evangeliumswort den Hirten in der Weihnachtsnacht zugesprochen wird (Lukas, 10,2). Was darauf folgt, ist jedoch nicht die frohe Botschaft, sondern ein parodistisches Schaubild, in dem die drohende Konstellation zum Buden-Raubtier mutiert ist. Die Szene, die mit ihrer ironischen Einfärbung an die Tanzbären Heines erinnert, setzt jenes Wort Gottes herab, mit dem er sich im Buch Hiob an den Menschen wendet, der es gewagt hat, ihn anzurufen: »Kannst du [...] den Bären am Himmel samt seiner Jungen herauffiihren?« Der hieratische alttestamentarische Tonfall wird hier durch einen beißenden Zynismus ersetzt. Der Gott, der den Bären an der Leine fuhrt, ist im Gedicht Bachmanns ein blinder Mann eines Dorfjahrmarktes. Mit Bezug auf den »Klingelbeutel« und die österlichen Lämmer werden geschichdiche religiöse Formen wie leere Exorzismen der Lächerlichkeit preisgegeben. Nahezu beiläufig, mit einem umgangssprachlichen Register, fuhrt die vierte Strophe die apokalyptische Vision des Bären über seine Drohung, sich von seiner Leine loszureißen und das Universum zum Einsturz zu bringen, ein. Rita Svandrlik meint, in diesem Bild des bachmannschen Bären eine Figuration des biblischen Leviathan lesen zu 44 Vgl. W Jens: Marginalien zur modernen Literatur. Drei Interpretationen. In: Martin Heidegger zum 70. Geburtstag. Pfullingen 1959, S. 2 2 5 - 2 3 1 .
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können, dem bekanntlich Arno Schmidt 1947 eine moderne, auf Hobbes fußende Gestaltung gegeben hat.« In Wirklichkeit liegt die mythopoetische Kraft der Anrufimg des Großen Bären im Ausdruckspotential des Bildes, das nicht eindeutig auf ein bestimmtes Konzept zurückzuführen ist. Wie bereits angemerkt, entzieht sich die Lyrik der Schriftstellerin jedem Versuch symbolischer Dechiffrierung; und so verbirgt die Dichte der Bilder keine aufzudeckenden Rätsel, eher baut sie auf eine assoziative Lektüre. Trotzdem erscheint Svandrliks Deutung in einem wesendichen Punkt plausibel: Der angerufene apokalyptische Bär faßt ein Übel zusammen, das nicht metaphysischer Natur ist, denn die kritische, ja verspottende Auseinandersetzung mit den exorzistischen Ritualen bedingt eine Anerkennimg des Übels als historisches Faktum. Wohl nicht zufällig hat Ingeborg Bachmann am Ende ihrer Frankfurter Vorlesungen über das Gedicht Engführung von Celan angemerkt, »daß die Sterne für Paul Celan Menschenwerk sind, das Menschenwerk gemeint ist« (W Ι\ζ 216). Ein Sinnbild, das mit einigen Modifikationen wohl auch auf das Gedicht der Bachmann anwendbar erscheint. In diesem Zusammenhang ist schließlich auf den Radioessay über Simone Weil aufmerksam zu machen, der ungefähr zeitgleich zum Erscheinen des Gedichtbands gesendet wurde. In diesem Essay erläutert Bachmann mit Emphase Weils Idee vom »Großen Tier«, die Piatons Politea entstammt, aber bei ihr als »abstoßend« für alles steht, »was Macht ausübt und Macht ausgeübt hat« (WIV^ 149). Für Weil bestünde die wahre Religiosität darin, den abstoßenden, schrecklichen Charakter der »Großen Tiere« zu erkennen, sich aber ihren Ritualen zu verweigern. Denn, so Bachmann weiter, indem sie Weil zitiert: »Der Dienst des falschen Gottes ... läutert das Böse, indem er das Grauen davor beseitigt. Wer ihm dient, dem scheint nichts mehr böse, außer den Verfehlungen im Dienste. Der Dienst des wahren Gottes aber läßt das Grauen vor dem Bösen bestehen, ja er steigert noch seine Heftigkeit« (WIV, 149-150). Die Verbindungen zwischen den Vorstellungen Weils und dem Text der Anrufung sind offenkundig. Der herausfordernde Gestus verdunkelt das Böse des Bären keineswegs, sondern bildet es in seiner vollen schrecklichen Mächtigkeit ab. In diesem Sinn erweist sich Bachmann auch als Vertreterin einer modernen Poetik des Erhabenen, welche die Größe des Menschen in der Herausforderung erblickt, die dieser den ihm übergeordneten Mächten entgegenschleudert. Wenn Gott »fehlt« und die Geschichte vom Bösen heimgesucht wird, wenn der Mensch sich selbst entfremdet ist, dann bleibt es dem poetischen Gesang vorbehalten, die Wahrheit zu bezeugen. Die Abwesenheit Gottes in der Welt - eine Idee, welche Bachmann mit Weil und Wittgenstein teilt kehrt sich in der mystischen Transzendenz des Wort um. Jedes Gedicht ist daher gewissermaßen »Anrufung«: Gebet und Urteilseinforderung zugleich. 45 Vgl. R. Svandrlik: Asthetisierung, S. 35.
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II.
In dieser Vorstellung vom poetischen Wort ist dennoch jene grundlegende Antinomie eingeschlossen, welche die Autorin zum schmerzhaften Abschied von der Lyrik als Ausdrucksform bringen wird. Es handelte sich dabei, wie bereits festgehalten, um eine aufsehenerregende, radikale Entscheidung, die mit beeindruckender Konsequenz verwirklicht wurde. Nur nach mehrfacher Aufforderung erlaubte Ingeborg Bachmann 1968 den Abdruck einiger weniger von ihren späten Gedichten, die vermudich um 1964 fertiggestellt worden waren; ein neuer Band kam zu den zwei vorausgegangenen allerdings nicht mehr hinzu. Die Gründe für dieses konsequente Schweigen, das andere Ausdrucksformen bedingte, ist mehrmals Gegenstand von Nachforschungen und Spekulationen gewesen. Uber solche hat sich freilich auch die Dichterin selbst unmißverständlich in einem Interview 1963 geäußert und festgehalten, keine Gedichte mehr schreiben zu wollen seit dem Moment, als sie wußte, jederzeit welche schreiben zu können, »auch wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe« (Gul, 40). Uber die möglichen Bedeutungen dieser Erklärung hinaus, die wohl auch als polemische Antwort auf den Vorwurf, ihr würden keine Gedichte mehr gelingen, gedacht war sowie als scharfe Abgrenzung zum »literarischen Markt« und seiner »kulinarischen« Erwartungen, sollte man festhalten, daß sie die grundlegende Frage von der »Notwendigkeit« lyrischen Schreibens zur Sprache brachte. Genau diese Fragestellung zeigt sich im Rückblick als die, die ihre gesamte poetische Produktion in den 50er Jahren bewegt hat. Und sie ist von einer besonderen Spannung zwischen ethischer Wahrheit bzw. Notwendigkeit und ästhetischer Schönheit geprägt. Keineswegs zufallig ist in den Frankfurter Vorlesungen, Weil aufgreifend, von »Poesie wie Brot« die Rede, von einer Poesie, die »scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht« (W Ι\ζ 196) sein müsse. In welchem Ausmaß, müssen wir uns fragen, hat dann das Vermächtnis der Tradition und der Form des Verses jene Hypothek gebildet, die später zur Denunzierung und offenen Ablehnung der eigenen Texte als »Delikatessen« (WIV, 172-173) geführt hat? Rekapituliert man nochmals die Entwicklungsstränge der Bachmannschen Lyrik vom kritischen Gebrauch der Formen und »klassischen« Motive (ζ. B. in Früher Mittag) hin zur apokalyptischen Vision der Geschichte in Anrufung des Großen Bären und zur Zertrümmerung der Syntax (ζ. B. Schallmauer), um nur drei Beispiele auch aus den folgenden Interpretationen zu zitieren, dann wird man eine zunehmende Radikalisierung des ethischen Moments, der Idee der »Notwendigkeit« feststellen, die zugleich eine ebenfalls ansteigende Distanznahme zur Tradition mit sich bringt. Von diesem Blickpunkt aus gesehen nimmt das lyrische Werk der Bachmann einen Celan verwandten Neigungswinkel an, und ihr innerhalb der Nachkriegsliteratur so einzigartiger dialogischer Austausch in den 50er Jahren bestätigt dies nur. Mit dem Abrücken vom Reim
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und von der strengen Form des Vierzeilers geht eine drastische Verringerung jenes Ausdrucksmittels einher, das mehr als jedes andere - wenn auch in der erwähnten »gebrochenen« Art - die Lyrik der Dichterin mitbestimmt hat: jenes der Metapher. Die linguistische Textur der wenigen Gedichte aus den 6oer Jahren zieht andere Formen vor; dazu gehören vor allem das intertextuelle Spiel, das auch ein kennzeichnendes Element des 1bdesarten-Zy\dus werden wird. Und so bleibt letztlich ihrer Prosa die Aufgabe vorbehalten, jene Heratisforderung des Wortes als Anrufung, Klage und Anklage weiterzuspinnen, die wohl den außergewöhnlichsten Beitrag Ingeborg Bachmanns zur deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts ausmacht.
12. Die nachfolgenden zwanzig Interpretationen, denen drei Texte österreichischer Schriftstellerinnen (Kofler, Reichart, Glantschnig) vorangestellt sind, versuchen sich der Vielgestaltigkeit, aber auch poetologischen Konstanten im lyrischen Werk Bachmanns zu stellen. Erstmals kommen dabei Interpretationen weniger beachteter bzw. selten gedeuteter Gedichte wie Die Welt ist weit, Abschied von England, Thema und Variation oder Brief in zwei Fassungen neben »bedeutenden«, klassischen Kompositionen sowie neben den großen Zyklen zu stehen und zu Wort. Mag das Spektrum auf dem ersten Moment auch zufällig und anfechtbar wirken, so darf es doch eine gewisse Repräsentativität, und zwar nicht nur im traditionellen Sinn, fur sich in Anspruch nehmen: Gedichte aus allen Schaffensphasen vom Frühwerk bis hin zum Nachlaß sind vertreten; selbstverständlich wären Interpretationen zu einigen weiteren Gedichten denkbar und wünschenswert gewesen. Die ohnedies nicht erreichbare Ausgewogenheit konnte allerdings nicht das Anliegen des Bandes sein. Vielmehr bemüht er sich um Kontextualisierungen, um Korrespondenzen innerhalb des Gesamtwerkes und über dieses hinaus, wovon zahlreiche Bezugnahmen auf Zeitgenossen (Benn, Celan, Bobrowski, Fühmann) in den Interpretationen Zeugnis legen, oder mit anderen Worten: um ein Nachzeichnen der Möglichkeit und Problematik lyrischen Sprechens in der Moderne, insbesondere >nach Auschwitz·«, in einer Gesellschaft konsumistischer Entfremdung und alltäglicher Mordschauplätze.46 Die Blickwinkel und die methodisch-heuristischen Zugänge sind dabei naturgemäß sehr unterschiedlich, aber keineswegs unvereinbar. Im Gegenteil, sie konvergieren in mehrfacher Hinsicht und bekräftigen bzw. akzentuieren in der genauen Analyse, was in Standardtexten zur Lyrik von Ingeborg Bachmann mitunter bloß bündig oder paradig46 Vgl. dazu auch Helmut Böttiger: Orte Paul Celans. Wien 1996, S. 90.
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matisch zur Diskussion gestellt, in Thesen gefaßt werden kann: daß ihr Sprechen sowohl in einer großen, hymnischen klassischen Tradition steht und gleichzeitig den traumatischen Erfahrungen dieses Jahrhunderts zutiefet verpflichtet ist, darauf reagiert und die Kategorie der Geschichtlichkeit auch auf der Ebene der Sprache ernst nimmt, insofern, als »vor jeder Erkenntnis ein neues Denken wie ein Sprengstoff den Anstoß gab« und alle Konflikte letztlich für den Schriftsteller »in den Konflikt mit der Sprache« einmünden ( W Ι\ζ 191)47 Weiters bestätigen die Interpretationen eindrucksvoll, wie unzulässig es wäre, das Bild einer lyrischen Bachmann von dem einer Prosa-Bachmann abzusetzen. Sie unterstreichen demgegenüber geradezu leitmotivisch die Notwendigkeit, die poetologischen Texte (Frankfurter Vorlesungen, Entwürfe, Reden etc.) als heimliche Achsen ihres Schreibens insgesamt und die Prosa in engerem Bezug, in dialogischer Korrespondenz zu vielen Themen der Lyrik zu begreifen. Die Mehrzahl der hier versammelten Arbeiten sind zunächst auf einem Symposium im November 1993 an der Universität Udine vorgetragen worden. Für diese Publikation haben in fast allen Fällen die Verfasserinnen eine sorgfältige Be- bzw. Überarbeitung vorgenommen. Frau Behre und die Texte der Schriftstellerinnen sind zum ursprünglichen Kreis später hinzugestoßen; leider haben wir andrerseits den Verlust der bekannten und verdienstvollen Bachmann-Übersetzerin Μ. T. Mandalari (t 1997) zu beklagen. Abschließend sei an dieser Stelle an jenen gedankt, die zum Entstehen dieses Sammelbandes beigetragen haben, in erster Linie den Beiträgerinnen selbst, darüber hinaus aber auch den genannten Institutionen, die durch Unterstützungen die Drucklegung ermöglicht, sowie den Mitarbeiterinnen am Institut für Germanistik, die bei der Erstellung der Druckvorlage, insbesondere Frau Andrea Kopeinig, mitgewirkt haben.
47 Vgl. S. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 237: »eine Lyrik, die weder Pathosformeln noch den Traditionsbezug auf die klassische Moderne scheute und dabei ein Bewußtsein zum Ausdruck brachte, das sich als Synthese von Schuld- und Opferbewußtsein darstellt.«
Gerhard Kofier
Ingeborg Bachmann daran gewöhnt, mich hinten anzustellen hörte ich nur undeutlich ihre worte vom lesepult: »hier ist immer krieg.« Jetzt, da ich selber vom lesepult aus das gleiche etwas anders sage, schaue ich immer wieder in die letzten reihen, wer mich da hinten überhört aus schlechter gewohnheit denn ich will da vorne nicht allein sitzen. (1978, Erstveröffentlichung: kürbiskern H. 1/1978)
Helga Glantschnig
Ich gehejedenTagan ihr vorbei, fast
Zuerst die Stimme, die Stimme habe ich im Ohr, wie sie die Gedichte liest, monoton, kaum Hebungen, Senkungen, distanziert, fast kühl, spröd und herb, einige Sätze, Zeilen haften im Gedächtnis, Titel eher, beim Durchblättern, jetzt, nach etlichen Jahren, springt die Eismetaphorik ins Aug', Stellen, die ich augenblicklich mit dem Bleistift markiere, wie diktiert. Weil möglicherweise, ja, weil der in Malina als väterliches Exekutionsfeld/Mordstätte auftauchende Platz des Wiener Eislaufvereins mir die Möglichkeit bietet, kräftig den Kopf auszulüften, hier, in dieser Stadt schwungvoll zu überwintern, Figuren werfend, erprobend, mich im Eistanz versuchend über Wasser zu halten. Die Bewegung auf dem Eis, die alles übertrifft, was Bewegung heißt. Die von der Erdenschwere befreit, den Fuß beflügelt, vogelgleiche Beschwingtheit. Also setze ich an diesem Zipfel an, an diesem Eiszipfel, tangential, partiell, ohne Anspruch, ihr, den Gedichten, gerecht werden zu wollen, zu können, und schon rutsche ich aus beim Lesen, wie es auf dem glatten Element immer möglich, halte mich an Satzzipfeln fest, ihrer verführerischen Wirkung, Stimulans. »... Im Ölzweig wollte ich den Schnee erwarten/ im Mandelbaum den Regen und das Eis ...« »... In diesen Tagen steh ich auf mit den Birken/ und kämm mir das Weizenhaar aus der Stirn/ vor einem Spiegel aus Eis ...« »... Leute, wir bringen das Schiff durchs Eis,/ ich halte den Kurs, den keiner mehr weiß ...« Die ersten Kontakte mit dem dichterischen Werk, die fast schon zwanzig Jahre alt sind, meine Ausgabe des kombinierten Bandes Die gestundete Zeit und Anrufung des Großen Bären stammt aus dem Jahr 1977, waren mehr von der Faszination an der Person geprägt, von der Tatsache des gemeinsamen Geburtsortes, identifikationsstiftend. Später habe ich ausreichend Prosa verschlungen, Gefühl von Seelenverwandtschaft. Der Weg verläuft mittlerweile nicht mehr so schnurgerade. Ich habe vor nicht allzulanger Zeit in Klagenfurt-Annabichl das Grab, dann in Rom die mir bekannten Adressen aufgesucht, und in Wen, wo ich nicht zu Besuch bin, nun schon seit über zehn Jahren an der Peripherie des Ungargassenlandes wohne, sind mir die Anschriften geläufig, aber etwas sträubt sich, jetzt, beim Wederlesen, protestiert. Dieser Bachmann-Ton. Dieser Zug zum Tiefeinnigen, Bedeutsamen, Fatalistischen, Moralischen auch. Dieser klassische Bilderschatz und dieser Gelehrsamkeit sowie das
Ich gehe jeden Tag an ihr vorbei, fast
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Fehlen von Ironie, was mir allgemein gesagt auffällt, aufstößt, ohne daß sich etwas am Respekt und an der Wertschätzung mindert. Mir geht es nicht um wahre Sätze, allerdings glaube ich, daß die Wahrheit... Der sich flüchtig zeigende Kern. Ebenso ist der Notwendigkeit zuzustimmen, von den großen Themen zu reden. Von Liebe und Sehnsucht beispielsweise, was fur manche als überwunden gilt, ist man doch klüger, emanzipierter, nicht mehr bereit, sich ernsthaft darauf einzulassen. Der Drang nach Grenzüberschreitung, der Sog ins Extreme. Die Sehnsucht nach einem brisanten Erzittern, einer lebensgefahrlichen Überschwemmung. Diese maßlose Glückssuche. Diese Idee des Absoluten. Dieses Bestehen auf der Unmöglichkeit von Liebe. All diese selbstgewählten und aufgezwungenen Polaritäten. Aufschwung und Absturz, Aufwallung und Abkühlung, vieles davon kenne ich, doch irritiert mich das tendenzielle Festhalten am Entweder-Oder bzw. der Wille, die Ordnung des Gegensätzlichen zu überwinden. Der Erlösungs- und Rettungsgedanke als utopische Vorstellving - frei von Eis - ist mir fern. So etwas wie Glück existiert für mich nur augenblickshaft, als Momentereignis, kurzfristiger Durchbruch, um wieder ausgelöscht zu werden, sich anderwärts zu formieren, was auch im Alltäglichen, Banalen der Fall ist. Geht es nicht eher darum, daß im Wechsel und Widerstreit der Oppositionen, von Fülle und Mangel, von Aufglühen und Erlöschen Existenz sich herstellt. Daß das eine vom Kontrast zum anderen lebt. Das Leben. Das sich auf einer Eisfläche ereignet einerseits. So unbeschwert man sich darauf bewegen kann, wenn die Decke fest und sicher ist, so sehr ist man ihr ausgeliefert, wenn sie poco a poco bricht. Die dünne Kruste der Oberfläche, die nicht mehr hält, die Gefahr, im bedrohlichen Chaos der Wirklichkeit zu versinken, im verborgenen Strom des Lebens andrerseits. »... In den Zeitungen lese ich von der Kälte / und ihren Folgen, von Törichten und Toten, / von Vertriebenen, Mördern und Myriaden / von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt...« Diese frostige Atmosphäre des politischen Lebens, die Kälte der Nachkriegszeit, die überhand nimmt. Eine Phase zunehmenden Kalt- und Finsterwerdens. » . . . Sie schlägt den Erdplan auf, verschweigt die Ziele, / sie trägt die Zeit als eine Eiszeit ein ...« Eis: die feste Form, das Festgelegte, Unbewegliche, Erstarrte, Härtere, Harte, das Abgetötete. »... Ich aber liege allein / im Eisverhau voller Wunden ...« »... Nicht daß ich schlief: wach war ich, / zwischen Eisskeletten sucht* ich den Weg...« Wasser: die flüssige Form, das Lebendige, Bewegliche, Fließende, das Gestaldose.
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Helga Glantschnig
»... Das Eiskorn lös vom zugefrornen Aug, / brich mit den Blicken ein, / die blauen Gründe auch, / schwimm, schau und tauch ...« Wunsch nach Auflösung, Erlösung, daß das Erstarrte zerbricht, zerspringt, ins Fließen gerät. »... Ein Wohlklang schmilzt das Eis. / Ο großes Tauen!...« Mittlere Temperaturen kennt sie nicht. »... Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe, / mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe!/ Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir...« Die Eule, Symbol der Weisheit, lebenslänglicher Gefährte, fungiert als Waffe und Schmuck zugleich, zum einen paradoxe Steigerung, zum anderen Verweis auf die Unvereinbarkeit von Intellekt und Sinnlichkeit, Schreiben und Leben, Verweis auf den Preis, den man zu bezahlen hat, wenn die Worte ans Licht kommen. Die Energie, die einfließen muß, um sich zu entzünden, um das eisige Element der Sprache zum Schmelzen zu bringen, funkenschlagend. Ob sie jemals auf dem Platz des Eislaufvereins? - unverfroren von Konzerthaus und Inter-Continental flankiert, nicht fiktiv, weder auf Bücher, Bad noch Schreibmaschine angewiesen, von einem Cape, oder was man dafür hält, umhüllt, dachte ich mir unlängst, als ich in die Ungargasse ..., um auf der Höhe der Beatrixgasse abzubiegen. Verszeilen in folgender Reihenfolge zittert aus: Nord und Süd Tage in Weiß Die blaue Stunde Herbstmanöver Von einem Land, einem Fluß und den Seen Lieder auf der Flucht Curriculum vitae Lieder auf der Flucht Lieder auf der Flucht Mein Vogel
Elisabeth Reichart
Schwester und Bruder
Immer wieder kreist Ingeborg Bachmanns Lyrik um die Liebe, die unerfüllt bleibt, wie in dem Gedicht ERKLÄR MIR, LIEBE, mit Zeilen wie diesen: »Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander/ durch jedes Feuer gehen./ Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts«; - ein hofflungsloseres Bild für die Unmöglichkeit von Liebe läßt sich schwer finden. Ich las Ingeborg Bachmanns Gedichte zum ersten Mal während einer langen, mühsamen Zugfahrt von Linz nach Bukarest im Alter von achtzehn Jahren. Der Zug war überfüllt, Kinder schrien, Frauen fluchten, Männer streckten ihre Beine in den Gang, zu allem Uberfluß blieben wir auch noch in einem Schneesturm stecken. Niemand kümmerte es, daß ich eine Platzkarte hatte. Entweder ich teilte meinen Sitz mit dem aufdringlichen Mann, der von seinen Saufkumpanen angestachelt und geschoben wurde, oder ich verzichtete darauf. Ich weiß nicht mehr, bei welchem Gedicht es war, daß ich meinen Unmut über den Stehplatz und meine Umgebung vergaß und nicht einmal merkte, wie der Zug weiterfuhr. Ich erinnere mich jedoch, daß ich aufatmete, als ich das Gedicht D A S SPIEL IST AUS las. Von heute aus gesehen verstehe ich dieses Aufatmen nicht mehr ganz. Vielleicht lag es daran, daß es das einzige Gedicht ist, in dem die Liebe fast eine Lebensmöglichkeit hat, die Liebe zwischen Schwester und Bruder. Und es ist ein Gedicht, das die anarchistische Widerstandskraft der Kinderreime für sich beansprucht. Aber das ist nur eine Seite dieser Lyrik. Und offensichtlich habe ich während der Zugfahrt nur diese aufgenommen. Heute faszinieren mich die in ihm enthaltenen Widersprüche, die es mitMusils Gedicht Isis UND OSIRIS gemeinsam hat, das ebenfalls von einem Geschwisterpaar handelt und dessen letzte Zeile »Und er frißt ihr Herz und sie das seine« Ingeborg Bachmann auch in ihrem Romanfragment D E R FALL FRANZA zitiert. Neben dieser Parallele fällt mir eine weitere auf: Auch in D E R FALL FRANZA nimmt eine Schwester bei ihrem Bruder Zuflucht. Doch das Spiel ist lange aus. Der Bruder kann die Schwester nicht mehr von den Verwüstungen durch ihren Ehemann retten. Einzig das Wüstenzelt hat immer noch magische Kräfte.
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Elisabeth Reichart
Das Spiel ist aus
Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floß und fahren den Himmel hinunter? Mein lieber Bruder, bald ist die Fracht ru groß und wir gehen unter. Mein lieber Bruder, wir zeichnen aufs Papier viele Länder und Schienen. Gib acht, vor den schwarzen Linien hier fliegst du hoch mit den Minen. Mein lieber Bruder, dann will ich an den Pfahl gebunden sein und schreien. Doch du reitest schon aus dem Totental! und wir fliehen zu zweien. Wach im Zigeunerlager und wach im Wustenzelt, es rinnt uns der Sand aus den Haaren, dein und mein Alter und das Alter der Welt mißt man nicht mit den Jahren. Laß dich von listigen Raben, von klebriger Spinnenhand und der Feder im Strauch nicht betrügen, iß und trink auch nicht im Schlaraffenland, es schäumt Schein in den Pfannen und Krügen. Nur wer an der goldenen Brücke für die Karfunkelfee das Wort noch weiß, hat gewonnen. Ich muß dir sagen, es ist mit dem letzten Schnee im Garten zerronnen. Von vielen, vielen Steinen sind unsre Füße so wund. Einer heilt. Mit dem wollen wir springen, bis der Kinderkönig, mit dem Schlüssel zu seinem Reich im Mund, uns holt, und wir werden singen:
Schwester und Bruder
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Es ist eine schöne Zeit, wenn der Dattelkern keimt! Jeder, der fällt, hat Flügel. Roter Fingerhut ist's, der den Armen das Leichentuch säumt, und dein Herzblatt sinkt auf mein Siegel. Wir müssen schlafen gehn, Liebster, das Spiel ist aus. Auf Zehenspitzen. Die weißen Hemden bauschen. Vater und Mutter sagen, es geistert im Haus, wenn wir den Atem tauschen. Nur in der Kinderphantasie ist der Himmel befahrbar, gelingt die Flucht aus dem Totental, gibt es Zauberworte, eine Karfunkelfee und einen Kinderkönig. Gerettet werden hier utopische Momente, aber vor allem die poetische Imagination. Gleichzeitig trägt dieses Gedicht, das Ingeborg Bachmann an den Anfang ihres zweiten Gedichtbandes Anrufung des Großen Bären gestellt hat, jedoch den Titel: D A S SPIEL IST AUS. Welches Spiel? Das der Phantasie? Das Spiel Kindheit? Und was beginnt, nachdem das Spiel aus ist? Der Ernst einer inzestuösen und verbotenen Schwester-Bruder-Liebe? Das Gedicht läßt diese Möglichkeiten offen. Aus dem lieben Bruder der ersten Strophe wird in den letzten Zeilen ein Liebster. Dieser Widerspruch zwischen hochschwingender Phantasie und realer Bedrohung kennzeichnet zugleich jede Strophe des Gedichts - einerseits die traumhafte Kinderwelt, in der sich Bruder und Schwester ein Floß bauen, um damit den Himmel hinunterzufahren, andererseits der bittere Nachsatz, daß die Fracht zu groß wird und sie untergehen werden. In der zweiten Strophe sind die Fluchtphantasien des Ichs bereits kleiner geworden. Sie finden nur noch auf dem Papier statt. Doch selbst diese kindliche Phantasie ist gefährdet. Bedrohlich klingt es, mitten aus dieser Spielwelt heraus, wenn das Ich den Bruder vor den Minen warnt. (Nebenbei bemerkt: Die Landminen sind noch immer eine Bedrohung, vor allem fur Kinder.) Der Phantasie wird die kriegerische Realität gegenübergestellt, wie in einem Wechselgesang. Und selbst dort, wo das Ich in der Kinderwelt zu bleiben versucht, sind, kaum wurde die Karfunkelfee angerufen, die Zauberworte mit dem letzten Schnee im Garten zerronnen. Dieser Wechselgesang zwischen dem, was sein könnte, und dem, was ist, gibt dem Gedicht neben der spielerischen Oberfläche einen traurigen Grundton. Ich hatte nie einen Bruder, aber ich habe mir als Kind oft einen gewünscht Mit ihm, stellte ich mir vor, wären die Grenzen meiner Mädchenwelt weniger eng. Mit ihm, glaubte ich, wäre ich sicher, wenn die Schatten zu Geistern werden. (Mit einem Bruder an meiner Seite wäre sicher auch die Zugfahrt damals angenehmer gewesen, denke ich heute. Wenn er neben mir gesessen wäre, hätten mir die immer näher rückenden Män-
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Elisabeth Reichart
ner nicht meinen Platz streitig machen können. Wunschdenken. Es soll Brüder geben, die sich mit den Männern gegen die Schwester verbünden. Ein Phantasiebruder tut das nie!) Dieses intime Gedicht, in dem ein manchmal kindliches, manchmal weises Schwester-Ich ein Bruder-Ich anspricht, mit ihm singt, mit ihm eins ist gegen die Eltern, weckt diese alte Sehnsucht immer wieder in mir. Es hält meine Erinnerung an mich wach, an die Phantasien der Kindheit, an den Klang mancher Worte, denen ich als Erwachsene leider nur noch in der Literatur begegne.
Primus-Heinz Kucher
Ein flüchtigerTraum vom Unermeßlichen Ingeborg Bachmanns Gedicht Die Welt ist weit
Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land, und der Orte sind viele, ich habe sie alle gekannt, ich habe von allen Türmen Städte gesehen, die Menschen, die kommen werden und die schon gehen. Weit waren die Felder von Sonne und Schnee, zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See. Und mein Mund war weit und voll Stimmen an meinem Ohr und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor. Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus, mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus. Die Fahrt ist zu Ende, doch bin ich mit nichts zu Ende gekommen, jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen, jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt, in jedem Schatten zerriß mein Gewand. Die Fahrt ist zu Ende. Noch bin ich mit jeder Ferne verkettet, doch kein Vogel hat mich über die Grenzen gerettet, kein Wasser, das in die Mündung zieht, treibt mein Gesicht, das nach unten sieht, treibt meinen Schlaf, der nicht wandern will... Ich weiß die Welt näher und still. Hinter der Welt wird ein Baum stehen mit Blättern aus Wolken und einer Krone aus Blau. In seine Rinde aus rotem Sonnenband schneidet der Wind unser Herz und kühlt es mit Tau.
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Primus-Heinz Kucher
Hinter der W e l t wird ein Baum stehen, eine Frucht in den W i p f e l n , mit einer Schale aus G o l d . L a ß uns hinübersehen, w e n n sie im Herbst der Z e i t in G o t t e s H ä n d e rollt!
I.
Im Jahrgang 1952 der Zeitschrift Stimmen der Gegenwart, in der im Jahr zuvor Celans Todesfuge zum Abdruck gekommen war", findet sich zum ersten und zu Lebzeiten der Autorin auch zum einzigen Mal der Zyklus Ausfahrt in seiner ursprünglichen Gestalt veröffendicht2. An zweiter Stelle steht dort das Gedicht, das ohne Titel mit der Verszeile Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land... einsetzt und im folgenden Gegenstand unseres Interpretationsversuches werden wird. Der Kurzkommentar in der Werkausgabe verweist wohl auf den Erstdruck und auf die Positionierung des Gedichts in den Stimmen, um im Anschluß daran lapidar zu bemerken, »Das Gedicht wurde nicht in D I E GESTUNDETE Z E I T aufgenommen«. Das wäre zunächst nichts Ungewöhnliches, würde der Kommentar, der fast durchwegs auf die Typoskripte Bezug nimmt, nicht den Umstand verschweigen, daß das Gedicht ursprünglich, bzw. in wenigstens einer Bearbeitungsphase, als Teil des berühmten Ausfahrt-Gedichts gedacht war. 3 Aufgenommen wurden dagegen die anderen vier Texte des ursprünglich fünfteiligen Zyklus: Aurfahrt; Abschied von England, Paris und Wie Orpheus spiel ich - letzteres allerdings mit dem neuen, den programmatischen Charakter herausstreichenden Titel Dunkles zu sagen versehen. Es wäre ein leichtes, dem Ton des Werkkommentars zu folgen und den Schluß zu ziehen, das Gedicht Die Welt ist weit habe einer nochmaligen Uberprüfung durch die Autorin nicht standgehalten und sei aus diesem Grund aus der Gestundeten Zeit gefallen.
ι
Vgl. Stimmen der Gegenwart 1951. Hg. im Auftrag der Gesellschaft für Freiheit der Kultur von Hans Weigel. Wien 1951, S. 132-133. Derselbe Jahrgang enthält auch einen in der Werkausgabe fehlenden Erzähltext von I. Bachmann, und zwar: Die Mannequins des Ibykus, ebd., S. 74-77.
2
Vgl. ebd., Jahrgang 1952, S. 50. Im Jahrgang 1952 kamen ferner der Zyklus Zur Zeit der Kriege von Erich Fried, Gedichte von Christine Lavant, Friederike Mayröcker oder Heimrad Bäcker zum Abdruck, Texte und Autoren, die dokumentieren, daß die österreichische Lyrik dieser Jahre trotz traditionalistischer Stimmen (Hermann Lienhard oder Herbert Zand ζ. B.) in einer Um- und Aufbruchsphase begriffen war.
3
Vgl. I. Bachmann: W I , S. 637f. Im Nachlaß (ONB, Cod. Ser. 25.094-25.202, 27. Beilage, Bl. 129), und das wäre der Klärung halber nachzutragen, schließt die Typoskriptfassung direkt an den ersten Teil von
Ein flüchtiger Traum vom Unermeßlichen
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Selbst wenn diese Vermutung stimmen sollte, wofür das Ergebnis zu sprechen scheint, lohnt es sich weiterzufragen. Zunächst danach, welche Form lyrischen Sprechens dem Gedicht eigen ist, ob dieses im Kontext des Zyklus eine bestimmte Richtung zu vertreten hatte - Natur und Welt als existentialistisches oder als geschichtliches Gelände z. B.4? Daran schließt die Frage an, ob bzw. inwiefern es mit den anderen des Zyklus in Beziehung steht, vor allem aber, ob es über eine besondere Semantik, einen Sprechergestus mit dem vorangehenden Azufabrt-Text, auch nach seiner Abnabelung von ihm, verknüpft bleibt. In weiterer Folge stellt sich die Frage, ob globalere Sichtweisen der Kritik auf das Gedicht übertragbar sind, etwa das von Lothar Baier, der die Ausfahrt-Gruppe über das linguistische Inventar - »leitmotivische Vokabeln« - als ineinandergreifend wahrgenommen hat, oder jenes von Böschenstein, der im Zyklus eine wiederkehrende dualistische »Struktur von Bedrängnis durch verfallende Zeit und Festigkeit des utopischen Fernziels« erblickt.5 Oder bewegt sich dieses Gedicht bereits auf jene »Ambivalenz der Bildsphären« (Görtz) zu, die Gefahr laufe, als »ziellose Zweideutigkeit« (Bürger) drohende Sprachlosigkeit durch sprachliche Formeln noch einmal zu bannen?6 Und worin könnten schließlich die Probleme und Unwägbarkeiten einer versuchten, abgebrochenen bzw. aus welchen Gründen auch immer nicht zustande gekommenen Überarbeitung, wie diese für die anderen vier des Zyklus nachweisbar ist, gelegen haben.
Π.
Es handelt sich hier um Aspekte, die durchaus Grundfragen der Lyrik Bachmanns ansprechen. Ein erster Blick auf das Gedicht läßt bereits zwei kennzeichnende Momente in den Vordergrund treten. Das erste ist das Moment der Komposition, das eine tradiAusfahrt an. Der Abstand zur vorangehenden Strophe (ident dem zwischen anderen Strophen) und die offenbar später eingefugte handschriftliche Gliederungsmarkierung [Π] lassen den Schluß zu, dieses Gedicht als ursprünglich integralen Teil des Ausfahrt-Gedichtes zu sehen. 4
Vgl. dazu H. Höller: Ingeborg Bachman, bes. S. 34:»... Natur erscheint als geschichtliches Gelände, und lyrisches Sprechen erhält seine Souveränität aus der Verbindung eines wachen, geistesgegenwärtigen Blicks auf die Situation mit der existentialistischen Unbedingtheit des allein auf sich selbst gestellten
5
Vgl. Lothar Baier: Protest und Abkehr. Notizen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns (1964). Zit. nach Koschel, Weidenbaum (Hgg.): Kein objektives Urteil, S. 82-95, bes. S. 87. Femer: Bernhard Böschenstein: Ingeborg
Handelns...«
Bachmann. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Die deutsche Lyrik 1945-1975. bes. S. 257. 6
Düsseldorf 1981, S. 254-263,
Vgl. Franz Josef Görtz: Zur Lyrik der Ingeborg Bachmann. In: Tu K, Nr. 6, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 1980, S. 28-39, bes. S. 35 bzw. Christa Bürger: Ich undwir. Ingeborg Bachmanns Austritt aus der ästhetische Moderne. In: T u K SB 1984, S. 7-27, bes. S. 9f.
5°
Primus-Heinz Kucher
tionalistische, zu Beginn der fünfziger Jahre keineswegs ungewöhnliche Haltung reflektiert und Verankerung in der Tradition lyrischen Sprechens zu erkennen gibt. Genuin lyrische Bauformen, wenngleich unbekümmert durchmischt, charakterisieren den Aufbau des Gedichts. Die strophische Gliederung hält zum Beispiel an der Idee symmetrischer Einheiten fest; die sichtbare Dreiteilung der fünf Strophen, wobei die erste in zwei Fünfzeiler weiter teilbar wäre, zählt zu den gängigsten Kompositionsformen überhaupt. Im Ausfahrt-Zyklus kehrt sie in den Gedichten Fall ab, Herz und Paris wieder, auch mit der bei Bachmann durchaus auffälligen Tendenz zur Verknappung in den Mittel- oder in den Schlußstrophen. Der im Ansatz präzisen äußeren Rahmung korrespondiert eine metrische Komposition nach innen in Rhythmus und Reim. Fünf- und sechshebige jambische Verszeilen (i. Strophe) wechseln mit trochäischen Fünf- und Sechshebern in Strophe zwei und drei, mal mit männlicher, mal mit weiblicher Kadenz ab, womit wir eine Strophenform vorfinden, die als elegische, Georg Heym nachgebildete, gilt?. Konsequenter hält Bachmann hingegen das Reimschema - aa, bb, den Paarreim - bis zur dritten Strophe durch, ausgenommen die jeweils allein stehende Anfangszeile von Strophe zwei und drei. In den letzten beiden Strophen tendiert das Gedicht trotz rudimentären Kreuzreims allerdings zur Auflösung der Reimstruktur. Auf der metrischen Ebene präsentiert sich das Gedicht somit als eines, das seine Zugehörigkeit zur Tradition gebundenen lyrischen Sprechens zunächst anklingen läßt, in der Folge aber davon abrückt. Das zweite auffällige Moment konstituiert sich über die Bildlandschaft. Aus vertrauten, auf Einverständnis zielenden Sphären entwickelt, rekurriert diese Bild-Landschaft auf ein sprachliches Material sowie auf eine Form des Sprechens, das geprägt ist von einfachen und klaren Schlüsselworten: Avissagen, Feststellungen, Bilanzierungen. Vor dem Leser ersteht eine Art ursprüngliche Daseins-Geographie, die auf spontane Konvergenz, auf Wiedererkennen abzielt. Eine Landschaft, welche die Leitworte >LandStadtMensch< um ein linguistisches Inventar bereichert, das >Ursprünglichkeit< und >Fülle< signalisiert, zum Beispiel in Worten wie Felder, Sonne, Schnee, Mund, Stimme oder Ohr, eine Form der Exposition, wie sie auch in einigen prominenteren Gedichten der Autorin, ζ. B. in Früher Mittag, anzutreffen ist. Zu diesem Daseins-Inventar treten Sinnbezirke, die zum Grundbestand des Zyklus überhaupt zählen wie >Wasser< (Ausfahrt), >Licht< (Paris, Die gestundete Zeit), >Vogel< (Abschied von England, Herbstmanöver) oder >BaumDie Weite der Welt< und die Anstrengung des Ich, deren Erfahrungsfülle zu bewältigen als der erste [entspricht Str. 1]; >die Fahrt ist zu EndeHinter der Welt.. .< als der dritte [Str. 4-5]. Mit dem Ubergang vom ersten Grundmotiv - Die Weite der Welt - in das zweite - Die Fahrt ist zu Ende - verdichtet sich der Modus des Sprechens. Die Bildlandschaft wird allegorischer, die Beziehungen zwischen Sprache und Welt nehmen eine komplexere Form an, entziehen sich logischer Benennung, um 8
Der Wortlaut des Gedichts ist folgender: Zwischen Schlaf und Träumen/ In üppigen Wiesen/ Wandert mein Blick auf / In die unendlichen Höhen./ Welch ein schäumendes Leben! / Wolke auf Wolke entschwebt/ W i e die glühenden Stunden,/ Die balde schon, ach, versinken / Mitten ins dunkle Weh / Des moorigen Teiches. / Nichts regt sich in mir, / Denn durch die sengende Hitze / Bin ich in Ruhe geworfen. / Tag folgt a u f l a g . / Meine Augen sehen sie immer, / Die goldene Sonne. / Einmal wird sie bleiben, / Dort wo ein Schatten aufwölkt. / Bitterlich ist das \fersäumen. Zit. nach: O N B , Nachlaß, zit., 1 1 . Beilage, Bl. 6 2 5 7 ; auch in: I. Bachmann: W I , S. 627, wo allerdings V 8 (Die werden versinken) und V 1 1 (Durch die sengende Hitze) geringfügige Modifikationen aufweisen, die möglicherweise von unterschiedlichen Typoskriptfassungen herrühren.
9
Vgl. Schillers Werke.
Nationalausgabe. Zweiter
Siegfried Seidel. Weimar 1 9 9 1 , S. 102. 10 Vgl. ebd., S. 197.
Band. "Ieil Π Α . Gedichte hg. von Norbert Oellers und
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Primus-Heinz Kucher
im dritten Teil auf der Ebene des Sprechers nochmals die Ebene zu wechseln: das lyrische Ich, das noch im Vers »Ich weiß die Welt näher und still« [2. 22] seine Instanz als autonome und wissende behauptet hat, geht in eine impersonale, zugleich aber kollektivere Instanz auf [unser Herz, Z. 27]. Diese Instanz wird mit einem auf Zukünftiges gerichteten, Imperativischen Mandat ausgestattet, das erst in der Lage scheint, die gerade getroffenen Feststellungen in eine Vision einer neuen, noch imbekannten Realität zu übersetzen, in den Mythos eines »anderen ZeitaltersWirklichkeit< und Wahrnehmendem.3° Dem >Ich< kommt im Rahmen der vorgeführten Szenerie nicht mehr bloß ein aktiver Part zu, sondern es wird seinerseits von Dingen, die sich zu verselbständigen scheinen und Eigendynamik an den Tag legen (»aus meinen Träumen gelöst, wagten sich Sonnen heran«), in den Blick genommen. So umfaßt das inszenatorische Spiel (»doch alles war wieder fort/ wenn dein Tag begann«) sowohl die >objektive< als auch die >subjektive< Welt.31 Die formale Artistik in Abschied von England bedingt auf inhaltlicher Ebene eine Verdoppelung der Wirklichkeitsbegriffe. Die Wirklichkeit >ersten Gradeszweiten Grades< entsteht durch Zuschreibung von Bedeutung, Sinn und Wert gegenüber der ersten. Obwohl es keine allgemeingültigen Richtlinien für diese Zuschreibungen gibt und geben kann, bilden die zwei Wirklichkeitsbegriffe im Normalfall für jeden von uns daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält.« 28 Ebd., S. 225. 29 Ebd., S. 237: »Aber wird von der Dichtung nicht [...] immer wieder das Ich hervorgebracht werden, einer neuen Lage entsprechend, mit einem Halt an einem neuen Wort? Denn es gibt keine letzte 'Verlautbarung. Es ist das Wunder des Ich, daß es, wo immer es spricht, lebt; es kann nicht sterben - ob es geschlagen ist oder im Zweifel, ohne Glaubwürdigkeit und verstümmelt - dieses Ich ohne Gewähr!« 30 Ebd., S. 233, wo sie literarische Auflösungserscheinungen des Subjektiven ins Objektive bei Marcel Proust, Ernst Robert Curtius und Hans Henny Jahnn referiert und kommentiert. 31
Ebd., S. 227, wo mit Bezug auf Dostojewskij von einem inszenierten »Versteckspiel mit dem Ich« die Rede ist, »das versteckt werden muß, um sich besser preisgeben zu können«.
32 Vgl. dazu: Paul Watzlawick: Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. Wien 1992, S. 34fr.
Das Unbesagte
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eine bewußtseinsmäßige Einheit. Ingeborg Bachmann nun initiiert deren Infragestellung und bricht die gewohnten Vermittlungs- und Ausdrucksmodi zwischen Mensch und Welt auf, auch solche, auf die sie selbst für den Aufbau ihres Gedichts zurückgegriffen hat. Einzelzeilen, Verse, Strophen, Reime (»geschlossen« - »begossen«; »Eichenblatt« - »satt« bzw. »Statt«; »heran« - »begann«) u. ä. dienen insofern zur Sprachkomposition, als sie aufgrund ihrer (herkömmlichen) Genrespezifik das Modellhafte, Manipulative der angewandten literarischen Kunstgriffe sinnfällig machen. Damit soll einerseits die Verfremdung von längst der Gewohnheit (und damit dem Un- bzw. Unterbewußten) unterliegenden Erlebnis- und Wahrnehmungsformen vollzogen, andererseits aber auch das Experiment unternommen werden, mit Hilfe der Dichtung eine je gegenwärtige Balance zu finden zwischen den Sinnen und dem Verstand: Was aber möglich ist, in der Tat, ist Veränderung. Und die verändernde Wirkung, die von neuen Werken ausgeht, erzieht uns zu neuer Wahrnehmung, neuem Gefühl, neuem Bewußtsein. 33
Allerdings zählt es zu den bittersten Einsichten Bachmanns, daß man insbesondere als Frau den gesellschaftlich sanktionierten Wahrnehmungs- und Ausdrucksschablonen (die, wie gesagt, als poetologische, gattungstechnische oder narrative Kunstgriffe in Erscheinung treten) nicht ohne Konsequenzen entgehen kann, die mitunter sogar bis zur sinnbildlichen Ermordung reichen, wie es die Schlußsequenz des M«//we-Romans drastisch unspektakulär demonstriert. Andererseits offenbaren die (thematischen, motivischen, formalen) Baugesetze in Bachmanns Werken gerade infolge ihrer evidenten, oft allzu groben Ausgewiesenheit das Eingeständnis, daß Literatur erst dank derartiger Konventionen innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes funktionieren und wirkungsmächtig werden kann.
3· Erfahrung und Erkenntnis (d. h. Kognition) sind verbunden mit einem retrospektiven Verhältnis zu sich selbst. Ingeborg Bachmann hielt Gedichte für besonders geeignet, »daß sie das Gedächtnis schärfen« und folgerte daraus, »daß, wer Gedichte schreibt, Formeln in ein Gedächtnis legt, wunderbare alte Worte fiir einen Stein und ein Blatt, verbunden oder gesprengt durch neue Worte, neue Zeichen für Wirklichkeit [...]«.34 Was für uns Selbstbewußtsein darstellt, ist daher im Grunde ein ästhetisches, fiktives Ge33 I. Bachmann: Fragen und Scheinfragen, WIV, S. 195. 34 Dies.: Wozu Gedichte, ebd., S. 303.
Arno Rußegger
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bilde; jedes Ich hat Entwurfcharakter35, und zwar in dem Sinn, daß wir, um uns als Menschen konstituieren zu können, eine Ubersetzung leisten müssen von Handlungen und Vorkommnissen in ein Bedeutungssystem, das unseren kognitiven Fähigkeiten überhaupt zugänglich ist. In der Psychologie gibt es dementsprechende Theorien, die von einem permanent ablaufenden inneren Gespräch ausgehen?6, dem sogenannten SelfTalk; dabei werden prozeßhaft durch ein »sich beobachtende[s], mit sich redendefs] und im Selbstgespräch seine Welt aufrechterhaltende [s] Ich« 3 7 sowohl das Ich in der Bedeutung eines »kategoriale[n] Topos«' 8 als auch das So-und-so-Sein der Welt zusammenkonstruiert. Das geschieht jedoch auf eine Weise, daß der Sinn für andere unmittelbar unzugänglich bleibt. Um intersubjektiv bedeutsam werden zu können, muß das Ergebnis des inneren Selbstgesprächs erst quasi >übersetzt< werden, wobei sozio-kulturell geprägte Repräsentationsformen (das sind beispielsweise die oben erwähnten verschiedenen Kunstgriffe eines Gedichts oder eines Romans) zur Anwendung kommen. Wenn also das Verhältnis eines jeden Menschen zu seiner Wirklichkeit von vornherein ein fiktives ist und das (vermeintlich) Reale als Erfundenes gedacht werden kann, dann ergibt sich also für die dargestellte Wirklichkeit der Literatur eine doppelte Fiktivität, und die Literatur, die auf der H ö h e konstruktivistischer Einsichten ist, wäre eine Literatur, die die Tatsache ihrer Konstruiertheit ausspricht, d.h. rückbezüglich ist. 39
Es ist fraglich, Ingeborg Bachmanns Literatur diese Höhe zugestehen zu wollen. Die lyrischen Bilder, die sie baut, sind jedenfalls Funktionen des >GeistesWirklichkeit< bei genauem Hinsehen erweist, und durchbrechen dessen virtuelle Ordnung, um vermöge ihrer ästhetischen Kraft neue, nicht-lineare, nicht-chronologische, nicht-kausale Ordnungen herzustellen. Die fiktive(n)
35 Dies.: Das schreibende leb, ebd., S. iiyf.: »Ich weiß nicht, ob es eine Untersuchung des Ich und der vielen Ich in der Literatur gibt, bekannt ist mit keine, und obwohl ich mich nicht imstande fühle, eine regelrechte oder gar erschöpfende Untersuchung anzustellen, meine ich, daß es da viele Ich gibt und über Ich keine Einigung - als sollte es keine Einigung geben über den Menschen, sondern nur immer neue Entwürfe.« 36 Vgl. hierund im folgenden: Siegfried J. Schmidt: Der Kopf, die Welt, die Kunst. Konstruktivismus als Theorie und Praxis. Wien/Köln/Weimar 1992, S. 2ioff. 37 Ebd., S. 213. 38 Ebd., S. 215. 3 9 Rolf Breuer, in: Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glaubeni Beiträge zum Konstruktivismus. München 51985, S. 139.
Das U η besagte
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Welt(en), die Bachmann in ihren Texten hervorgebracht hat, rufen einen Eindruck des Pseudo-Realen hervor, das transparent bleibt im Hinblick auf die jeweils zugrundeliegenden schriftstellerischen Methoden, es zu erzeugen. Die Einbuße an Unmittelbarkeit der Erfahrung wird kompensiert durch den utopischen Entwurf einer Kunst, die bisher ungekannte Erfahrungsräume erschließt. Dies meinte das >Unbesagte< (der ursprünglich letzten Verszeile), das heißt das, worauf es in der (schlechten) Normalsprache keinen referentiellen Bezug gibt bzw. was sich auf alles bisher Ungesagte bezieht: Unser Verlangen macht, daß alles, was sich aus Sprache schon gebildet hat, zugleich teilhat an dem, was noch nicht ausgesprochen ist, und unsere Begeisterung für bestimmte herrliche Texte ist eigentlich die Begeisterung für das weiße, unbeschriebene Blatt, auf dem das noch Hinzuzugewinnende auch eingetragen scheint.40 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie (aber auch Konsequenz) seitens Ingeborg Bachmanns, daß ausgerechnet der Teil des Gedichts, in dem explizit thematisiert wird, was noch nicht mit Bedeutung belegt worden ist bzw. nicht mit Bedeutung belegt werden kann (wofür es sozusagen nur einen Self-Talk, einen primären, aber keinen sekundären, zu veröffendichenden Text gibt), letztlich überhaupt der Tilgung anheimfällt. In dem Gedicht gibt es nicht eine Welt der Objekte, die einer Welt der (sprachlichen) Zeichen, die jene ab-bilden, gegenübersteht; die beiden Bereiche gehen so ineinander über, daß sich die Strukturen der Sprache einerseits und des Lebens andererseits als zwei unendliche Systeme von Korrelationen, in denen es unabhängige Bedeutungen nicht gibt, komplementär zueinander verhalten. Die poetischen Elemente bestimmen sich gegenseitig; in dem großen Komplex der Dichtung gibt es keine einzige unabhängige Variable, sondern nur wechselseitige Abhängigkeiten.·*1 Für die Ästhetik des vorliegenden Gedichts bedeutet das, daß in der individuellen Auseinandersetzung der Autorin mit ihren Erlebnissen/Erinnerungen ein primärer Text entsteht, der nie zu Papier gebracht wird, in dem aber das Ich als Ort der Weltkonstruktion und -entwürfe ins 40 I. Bachmann: Literatur ab Utopie, W Ι\ζ S. 158. 41 Vgl. R. Musil: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 1528?.: »Eine Dichtung enthält einen solchen Reichtum von aufeinander bezogenen, durchaus nicht immer eindeutigen Gedanken und Gefühlen, daß sie immer mehr ist als ihre Interpretation, und gerade dieses nicht mehr Zurückübersetztwerdenkönnen, das Nichtumkehrbare des Prozesses ist es, was dem Kunstwerk sein eigenes Leben gibt, das Organische, Gewordene, Unausdrückbare und die Unerschöpflichkeit seiner Wirkungen. Die Summe dieser geistigen Beziehungen ist ganz unbestimmt [...]«
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Recht gesetzt wird; und ein sekundärer Text/*2 der uns in jenen alternativen Wortlauten vorliegt, von denen eingangs die Rede gewesen ist. Von einem Gesichtspunkt aus, der die Bedingtheit und Geschlossenheit erkennender Systeme ins Kalkül zieht, könnte man es heute als ein Mißverständnis ansehen, wenn Bachmanns Sinn für traditionelle, bildungsbürgerlich-literarische Gestaltungsformen in den fünfziger Jahren als moderner Klassizismus gerühmt wurde, während es ihr eher um die Entwicklung ideologiekritischer (De)Codierungsmethoden mit poetischen Mitteln gegangen sein dürfte. Daß sie gegen Ende der sechziger Jahre aufhörte, Gedichte zu verfassen, ist vielleicht auch dem Umstand zuzuschreiben, daß für sie kein ausreichender Reiz mehr gegeben war, an weiteren Formen lyrischer Ich-Konstruktion zu arbeiten.
4· Das England in dem frühen Gedicht jedoch erweist sich als durchaus widerspenstiges Modell, an dem sich das Gedicht-Ich in seinem Selbstverständnis abzuarbeiten vermag: Letzteres distanziert sich von allem als seinem Gegenüber, während es in der Funktion eines Dichters/einer Dichterin »verzweifelt unter dem Zwang [steht], die ganze Welt zu der seinen machen zu müssen««. Dieser innere Konflikt (»War ich je hier?«) zeigt sich schon am Verhältnis zum Land selbst, das als personifiziertes »Du« angesprochen wird, sich jedoch (»schweigsam«) von allem Anfang an der Neuangekommenen verschließt. Da ist nichts, was es auf den ersten Blick hin zu sein scheint. Die Ankunft ist eigentlich ein Abschied, das Betreten des Landes ein Höhenflug, die Natur ein traumhafter Spuk, die Landschaft als solche eine Projektion fiir das »Land meiner Seele«. Allein die von selten des Ichs im nachhinein als Ab- und Ausweisung gewertete Zuwendimg (»Durch die Straßen flatterten die großen grauen Vögel/ und wiesen mich aus.«) macht deutlich, daß >Wirklichkeit< stets mehr bedeutet als eine unwillkürliche Reaktion auf äußere Reize und mehr als die Summe aller wahrnehmbaren bzw. sichtbaren Fakten - ein Gedanke, der durch den bereits bekannten, in der Wiederholung jedoch in eine Frage gefaßten Vers »Meerhauch und Eichenblatt?« ergänzt wird, weil die inzwischen erfolgte Öffnung der Augen erst recht zur Hinterfragung dessen, was es zu sehen gibt, führt. Wie in ihrer berühmten Dankesrede anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, läuft die Vorstellung von einer wahreren Art des Sehens darauf hinaus, sagen zu können:
42 Vgl. diesbezüglich die Unterscheidung von »Text« und »Kommunikat« bei S. I. Schmidt: Der Kopf, S. 211. 43 I. Bachmann: Fragen und Scbemfragen, W I V , S. 193.
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Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfell äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwege bringen: daß uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen.44 E s sei an dieser Stelle noch einmal auf die geschlossenen Augen zu Beginn des Gedichts hingewesen, die der ursprünglichen Detailhafrigkeit der Wahrnehmungen jedoch keinerlei Abbruch tun; im Gegenteil, denn so wird klar, daß in jeder (rezeptiven) Wahrnehmung (und insbesondere im Sehen) zugleich ein (produktiver) Vorgang des Auswählens/Konstruierens stattfindet, da wir nur bestimmte Teile aus dem Gesamteindruck, den uns optische Wirklichkeiten) vermitteln, mit uns in Verbindung b r i n g e n . « Bei einer Interpretation wie der vorliegenden kann es kaum darauf ankommen, was der >tatsächliche< Inhalt des Gedichts ist, sondern eher darauf, wie es dazu kommt, daß etwas dafür gehalten wird;«6 jede bestimmte, ausschließliche Form von Kunstverständnis (auch eine literaturwissenschaftliche!«) hielt Ingeborg Bachmann für ein »Vorbeugungsmittel gegen die Kirnst, um sie unschädlich zu machen« 48 . Jeder einzelne, jede Epoche tritt mit andren Schlüsseln an ein Dichtwerk heran und erschließt sich etwas anderes; ein Text wie Abschied von England ist in dieser Hinsicht ein widerspruchsvolles Asthetikum an sich, das es so wenig gibt wie das Ding an sich in der Welt der Wirklichkeit. 4 ' Die psychophysischen Gehalte eines Bewußtseins können daher als Symbole für die jeweilige eigene Befindlichkeit gelten. Im Falle des Gedicht-Ichs haben die Hoffnun44 Dies.: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, ebd., S. 275. 45 Vgl. John Berger: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Deutsch von Axel Schenck. Reinbek 11984, S. 9: »Wir sehen niemals nur eine Sache für sich, sondern nehmen vielmehr die Beziehungen zwischen den Dingen und uns wahr. Unser Blick ist ständig aktiv, ständig in Bewegung, richtet sich ständig auf Dinge um uns herum und setzt so fest, was uns jeweils gegenwärtig ist. Bald nachdem wir sehen können, wird uns bewußt, daß man auch uns sehen kann. Der Blick des anderen verbindet sich mit dem unsrigen und macht es erst so ganz glaubwürdig, daß wir Teil der sichtbaren Welt sind.« 46 Vgl. das von Ingeborg Bachmann affirmativ übernommene Zitat aus La Coscienza di Zeno von Italo Svevo: »Die Vergangenheit ist immer neu: Sie verändert sich dauernd, wie das Leben fortschreitet. Teile von ihr, die in "Vergessenheit gesunken schienen, tauchen wieder auf, andere wiederum versinken, weil sie weniger wichtig sind. [...] So erscheint die Vergangenheit bald lang, bald kurz. Bald klingt sie auf, bald verstummt sie. In die Gegenwart wirkt nur jener Teil des Vergangenen hinein, der dazu bestimmt ist, sie zu erhellen oder zu verdunkeln.« Vgl. I. Bachmann: Das schreibende Ich, W I V S. 229. 47 Vgl. ebd., S. 182f. bzw. S. 266f, bes. S. 267 : »Aber warum entzieht sich die Literatur auf eine so verhängnisvolle Weise immer der Literaturforschung, warum bekommen wir sie nicht zu fassen, wie wir sie fassen möchten, [...]?!« 48 Ebd., S. 199. 49 Vgl. R. Musil: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. i52of.
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gen, Sehnsüchte (»ich war von deinem Himmel so hoch gehoben«), Zweifel (»War ich je hier?«) und Leid (»von meinen Tränen begossen«) zur Folge, daß ständig Icb-Arbeit geleistet werden muß, um das in jedem Augenblick fragile Selbstbild instand zu halten. Die Bilder der Lyrik Ingeborg Bachmanns sind etwas ganz anderes als eine synonyme Bezeichnung für Metaphorik. Sie sind nicht Ausdruck eines fingierten Wort-ObjektBezugs, sondern resultieren aus einem Selbstbezug der Worte (in den fünfziger Jahren nannte man das Hermetismus). Ihre Bilder umfassen jene Dimension eines literarischen Werkes, in welcher der mediale Status von Sprache/Schrift berücksichtigt wird und sogar zur Hervorbringung von neuen, die Begriffsebene übersteigenden Bedeutungen genützt wird. Fundamental ist in diesem, wenn auch dialektischen Sinne die Fiktionalität sämtlicher Phänomene; Bilder und Begriffe werden zu analogischen Gestaltungsweisen. Statt einer hierarchisch gegliederten Syntax auf der Grundlage von geordneten und ordnenden chronologischen Abläufen folgen bildliche Darstellungsmuster dem Nebeneinander wechselhafter Beziehungen und halten an der sinnlichen Einheit einer Erscheinung fest, auch wenn man diese (noch) nicht terminologisch exakt fassen kann. Der Sprache entzieht sich ihr Material: das heißt, die Ent-Sprechungen der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung entsprechen auf einmal nicht mehr, so daß der historische Vorrat an Bildern allein nicht ausreicht, die Gegebenheiten der modernen Gesellschaft zu fassen. Das Bild/Wort (als Zeichen für etwas) löst sich aus seiner Bindimg an bestimmte Orte bzw. Kontexte (es geht in unserem Fall längst nicht mehr um einen Abschied vom buchstäblichen England), verflüchtigt sich, verliert seine Präsenz und damit auch seine Bindung an traditionelle Konnotationen und akzeptierte Werte. Die Grenzen und Identitäten von dem, was »England« oder »Land meiner Seele« genannt wird, verschwimmen (»seh ich, an deiner Statt«); daß damit durchaus eine neue Bedrohimg verbunden sein kann, ist in der Vorstellung enthalten, letzteres erliege »Unter den Schlangen des Meers«. Das autoreferentielle System von verbalen Vexierungen, auf das es in moderner Literatur wesentlich ankommt, tritt in Abschied von England als zirkuläre, nahezu symmetrische Struktur des Gedichts hervor, die an der Anfangs- und Endzeile leicht zu erkennen ist; es umfaßt auch Variationen und Wiederholungen (»[...] meine Augen geschlossen« - »Meine Augen sind offen.« bzw. die Verszeile »[mit] Meerhauch und Eichenblatt« als Aussage- und Fragesatz), Wortspiele und Neologismen (»Alles blieb ungesagt« - »Alles bleibt unbesagt«) sowie Zitate und Selbstzitate (man beachte die häufige Schiffs-, Meeres- und Traumsymbolik). Besondere Aufmerksamkeit verdient darüber hinaus die allein stehende, dadurch betonte Zeile »Ich wollte nicht gesehen werden«; hier versucht das Gedicht-Ich seine Position als einziges Bezugszentrum al-
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ler geschilderten Phänomene gegen andere Blickverhältnisse (und gegen die damit verbundenen Prozesse des Verobjektiviertwerdens) abzusichern. Indem (einseitig!) die Oberhoheit über den Blick beansprucht wird (was eine Utopie darstellt), wird die subversive Tätigkeit des Dichtens gegen die Vereinnahmung durch überindividuelle/gesellschaftliche Machtstrukturen zum Ausdruck gebracht. Das Gedicht ist weder bloßes ästhetisches Abbild der Wirklichkeit, noch naiver Gegenentwurf dazu, obgleich Dichtung die Entzifferung und Beschreibung der in der gewohnten Alltäglichkeit immer unbemerkter ablaufenden Geschichte des Subjekts übernimmt (was nichts anderes heißt, als daß sie gewisse Züge des Self-Talks annimmt). Wenn Ingeborg Bachmann das allgemein vertraute Denkmodell einer Dichotomie von objektiver Realität und Subjektivität, von Anschein und Bedeutung distanziert in den Raum diskursiver Sinnstiftung stellt, dann werden fur sie die Dinge des >Realen< bereits vor jeglichem Wahrgenommenwerden zu Bildern, sozusagen ohne poetisches Zutun und gemäß ihrer eigenen Bestimmung.
Kurt Bartsch
Ingeborg Bachmanns Herbstmanöver
Herbstmanöver Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem Sommergeld in den Taschen liegen wir weder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht, wie den Vögeln, zustatten. Vorüber, am Abend, ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors, wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug. In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte und ihren Folgen, von Törichten und Toten, von Vertriebenen, Mördern und Myriaden von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt. Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt, schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht im Regen das freudlose Sterben der Blätter. Laßt uns eine Reise tun! Laßt uns unter Zypressen oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen, die nicht ihresgleichen haben! Laßt uns die unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen! Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht, mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause. Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.
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Bei ihrem Eintritt in die literarische Öffentlichkeit, bei der ersten Lesung vor der Gruppe 47 und bei Aufnahmen für den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) Hannover, stellte sich Ingeborg Bachmann 1952 mit Gedichten vor, deren Grad der Reife fur eine Debütantin nachgerade sensationell empfunden wurde. Erst seit dem Erscheinen der vierbändigen Werkausgabe von 19781 beziehungsweise seit der Möglichkeit des Einblicks in den literarischen Nachlaß der Autorin wissen wir von einem vorangegangenen Entwicklungsschritt. Dem Blick auf die frühe Lyrik der Bachmann zeigt sich ein Ich, das geprägt ist von »Lastbewußtsein« (I, 626) und vom »dunklen Schatten«2 der geschichdichen Erfahrung von Faschismus und das sich daher ausweglos ausgesetzt sieht.3 Und diese Erfahrung endädt sich eruptiv in drastischen Bildern. Kurz gesagt, gilt für diese Gedichte die Dominanz von expressiver Unmittelbarkeit über Gestaltungswillen. Der Lyrik, die Bachmann 1952/53, bei den erwähnten Anlässen, vor allem auch in ihrer ersten Gedichtsammlung Die gestundete Zeit (1953) veröffentlicht, bleibt die genannnte Erfahrung eingeschrieben, dem Gefühl der Ausweglosigkeit wird jedoch mit einem ausgeprägten Auf- und Ausbruchs- sowie Widerstandswillen begegnet, ein »leidenschaftlich militanter Ton«4 wird angeschlagen, um neue Ausdrucksmöglichkeiten, insbesondere um eine neue Bildhaftigkeit wird gerungen. Das gilt auch für das Gedicht Herbstmanöver (1,36), das die Autorin im November 1952 im NWDR Hannover erstmals öffendich vortrug, bei dieser Gelegenheit übrigens ebenso noch ohne Titel wie beim Erstdruck in der Zeitschrift »Wort und Wahrheit« 1953 (vgl. 1,640/644). Von der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft ist Herbstmanöver wenig beachtet wordenS; Das mag damit zusammenhängen, daß es bei einem oberflächlichen Vergleich mit anderen Gedichten der Sammlung Die gestundete Zeit weniger herausfor-
1 2
Nach dieser Ausgabe wird auch im folgenden im Text zitiert: I. Bachmann: Werke (W) I - I V Das von Hans Höller hervorgehobene Bild des »dunklen Schattens« gehört zu der in der Lyrik von Bachmann zwischen etwa 1944 und 1950 dominierenden, durchaus der Tradition verpflichteten Kälte-, Einsamkeits- und Nachtmetaphorik. Vgl. H. Höller (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann - Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. Wien/München 1982. Vgl. auch die Zusammenstellung dieser beherrschenden Bildvorstellungen in Bachmanns früher Lyrik bei K . Bartsch: Ingeborg Bachmann. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 1997, S. 39 ff.
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Vgl. ζ. B. Formulierungen wie »wir werden nicht bestehen« (1,12) oder »Ich kann in keinem W e g mehr einen W e g sehen« (1,13).
4 5
Diesen erkennt an der Lyrik der Gestundeten Zeit Rita Svandrlik: Asthetisierung undAsthetikkrittk, S. 30. Rupert Hirschenauers Einzelinterpretation - R. H.: Ingeborg Bachmann: Herbstmanöver. In: Wege zum Gedicht. Hg. von R. H. und Albrecht Weber. München/Zürich 1965, S. 399 -402 - ist kaum erwähnenswert; Interessantes und Gewichtiges zum Gedicht Herbstmanöver findet sich gelegentlich in größerem Kontext, wie ζ. B. in Ausführungen über das »Verhältnis des Dichters zur Schönheit« bei U . M . Oelmann: Deutschepoetologiscbe Lyrik nach 1945, S. 6 ff.
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dernd wirkt. Die Gleichgewichtigkeit und äußerliche Gleichförmigkeit der drei Strophen - einem ersten Blick mag sogar entgehen, daß die dritte einen Vers mehr als die beiden anderen umfaßt - deckt die Unregelmäßigkeit von Metrum und Rhythmus zu, Enjambements (besonders V 1-2 und V 11-12) setzen zwar Akzente, die allerdings aufgrund der Reimlosigkeit wiederum nicht übermäßig stark zur Wirkung kommen können, Genitivmetaphern irritieren zwar etwas - »Spreu des Hohns« wohl mehr als »Herbstmanöver der Zeit« - , fallen aber quantitativ nicht sehr ins Gewicht. Mithin ein eher unspektakuläres Gedicht, seiner Autorin jedoch zweifelsohne nicht unwichtig. Denn daß sie es bei der erwähnten Rundfunklesung zwischen die Gedichte Alle Tage und Früher Mittag und in der Anthologie Die gestundete Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft des Titelgedichts einreihte, dürfte nicht zufällig sein, verleiht ihm vielmehr einen besonderen Stellenwert. Dem gilt es nun nachzufragen. Mit dem ersten Satz, »Ich sage nicht: das war gestern«, schlägt die Autorin bereits das zentrale Thema nicht nur des gegenständlichen Gedichtes, sondern ihres ersten Lyrikbandes insgesamt an: Herbstmanöver ist ein Zeitgedicht. Das Eingangs-Statement stellt einen programmatischen intertextuellen Bezug zu Hugo von Hofmannsthals Erstlingsdrama Gestern her, dessen Protagonist mit seiner hemmungslosen Sinnenfreudigkeit ganz auf ein Heute ausgerichtet ist: Das Gestern lügt, und nur das Heut ist wahr! Laß dich von jedem Augenblicke treiben, Das ist der Weg, dir selber treu zu bleiben6
Die vorerst proklamierte Einstellung, »Für immer ist dies Gestern hingeschwunden«?, erfährt im Verlauf des Dramas eine Umkehrung zu der Einsicht, daß das Gestern »ist, so lang wir wissen, daß es war«9. Die finale Erkenntnis des Hofmannsthalschen Dramas, Resultat eines Bewußtseinsprozesses, wird im Gedicht der Bachmann bereits als Voraussetzung formuliert. In einem 1955 veröffentlichten Text über ihr Gedicht Die große Fracht antwortet die Autorin auf die selbstgestellte Frage, »wozu Gedichte«: »Wenn Gedichte ein Beweis zu nichts sein sollten, müßten wir uns dran halten, daß sie das Gedächtnis schärfen« (W IV, 303). Bachmann besteht hier wie eingangs von Herbstmanöver und bis zu ihren letzten Werken und Interviews mit 6 7 8
Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch. Bd 3: Dramen 1. Hg. von Götz Eberhard Hübner, Klaus Gerhard Pott, Christoph Michel. Frankfurt a. M. 1982, S. 13. Ebd. Ebd., S. 34.
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Nachdruck auf der Auffassung von Lyrik, dann von Literatur insgesamt als »Gedächtnis«, als Ort der Erinnerung .9 Das »Gedächtnis« und die Erinnerungsarbeit sind stets gefährdet. Das Gedicht Herbstmanöver thematisiert denn auch durchgehend die Opposition von Ringen um bewußtes Wahrnehmen und Erkennen einerseits, Verdrängen und Täuschen andererseits. Die Gefährdungen sind umschrieben mit dem »Sommergeld« (V 2), dem »Fluchtweg nach Süden« (V] 4), in ein Touristikparadies mit vorprogrammierten Erlebnissen - eigene Wahrnehmung nicht vorgesehen (V. 17-20) - , dem »traumsatten Marmor« (V. 7) und seiner glatten, blendenden Schönheit, der Illusion von »Frieden« (V 14), dem »Nicht zu Hause«-Sein (V. 23). Die »Wahrheit« allerdings - wie es Bachmann in ihrer Kriegsblindenpreisrede 1959 fordern wird - »ist dem Menschen zumutbar« (W Γ\ζ 275): das »Sommergeld« ist »wertlos« - Betonung durch Enjambement (V 1-2) - , die Flucht nach Süden steht nicht zu, wäre eine Aporie wie die Fluchten des Protagonisten der wenige Jahre nach Herbstmanöver verfaßten Erzählung Das dreißigste Jahr, der sich in einem geschlossenen, also ausweglosen Kreislauf zwischen Wien und Rom und W e n bewegt, der Krieg ist, entsprechend der im Gedicht Alle Tage (W1,46) und bis zum Roman Malina immer wieder vertretenen Auffassung Bachmanns, zu einem alltäglichen Zustand im privaten wie im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen geworden, die selbstgenügsame Kunst ist Lüge. Poetologisch gesehen ist Herbsmanöver eine scharfe Zurückweisung der morbiden, realitätsentrückenden Verfallenheit an das Schöne, wie sie August Platen in seinem Gedicht Tristan geradezu zelebriert, auf das Bachmann hier anspielt. Herbstmanöver ist eine Absage an ästhetische »Delikatessen«10, an Kalligraphie, also an das selig in sich ruhende schöne Gedicht, an Part pour l'art.11 Ebenso wie das Gedicht Früher Mittag, das mit Johann Wolfgang Goethes König in Thüle, Wilhelm Müllers Lindenbaum und Joseph von Eichendorßs Mondnacht herausragende Beispiele des Volkslieds beziehungsweise der volkstümlichen Ballade gewissermaßen verfremdend zitiert und aufhebt, wendet sich Herbstmanöver gegen das herkömmliche Lyrikverständnis und insbesondere gegen die verharmlosende Rezeption der klassisch-romantischen Tradition. Bachmann hat in einem Gespräch auch einmal vehement »Widerspruch« angemeldet gegen die Klassifizierung ihrer Gedichte als
9
Vgl. dazu besonders auch Andrea Stoll: Erinnerung und Scbreibprozeß. Zur ästhetischen Relevanz subjektiver und kollektiver Erinnerungformen im Werk Bachmanns. In: Göttsche - Ohl (Hgg.): Ingeborg Bachmann Neue Beiträge zu ihrem Werk, S. 2 25 ff.
10 Vgl. das 1963 entstandene Gedicht Keine Delikatessen, W I , 172 f. 11
Vgl. d a z u U . M . Oelmann: Deutschepoetologische Lyrik (= Anm. 5), die diese Absage der Autorin in einen größeren Kontext stellt.
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»Naturlyrik«." »Von der Natur«, so meinte die Autorin, werde »dem lyrischen Ich etwas zugespielt«, sie »liefere nur die Gegenstände, Stichworte, Vokabeln«, jedenfalls keinen Zufluchtsort Und so fungiert Natur in ihrer Lyrik zwar als Bildspender, der Bezug auf den Bildempfänger aber verrückt die Wahrnehmung, entrückt in andere Wirklichkeitsbereiche: »Sommergeld«, »Spreu des Hohns«, »Herbstmanöver der Zeit«. Diese Bildkonstruktionen sind irritierend: So bleibt zwar »Spreu« im Bildbereich des Herbstes, aber wieso »Hohn«, worauf deutet es? Die manchmal gewaltsam wirkenden und daher auch oft kritisierten Genitivmetaphern'J sind zweifellos eine Modeerscheinung der Lyrik um 1950 - die Gedichte des von Bachmann hochverehrten Paul Celan aus dieser Zeit, die 1952 in Mohn und Gedächtnis veröffendicht wurden, wimmeln geradezu von solchen Metaphern - , sie sind aber auch dichtungsgeschichtlich als Widerspruch zu verstehen gegen eine Metaphorik, ebendie von der klassisch-romantischen Tradition her vertraute, die zur Bildsprache der Werbung geworden ist und gewissermaßen »Sonnenuntergänge« anbietet »zu verbilligten Preisen« (V ΠΙ, 3). Gegen eine Metaphorik, die »natürlich« erscheinen will, wird eine gesetzt, die das Kalkül erkennen läßt, verfremdet und daher auch zu irritieren vermag. Das Gedicht Herbstmanöver ist, so sagte ich, eine Absage an Flucht aus der Realität, Illusion und blendende, blind machende Schönheit. Es ist auch eine Absage an das \fergessen des »Gestern«. Im »Herbstmanöver der Zeit« verbietet sich das Verdrängen. Diese Metapher vom »Herbstmanöver der Zeit« verdient größere Aufmerksamkeit. Ihre Bedeutung liegt auf der Hand: In Verbindung mit der Metapher »Spreu des Hohns« bildet sie den V. I, 3, der als V. ΙΠ, 9 nicht nur wiederholt wird, sondern zugleich einen markanten Schlußakzent setzt. Dem nicht genug, verwendet die Autorin den Bildspender dieser Metapher nachträglich, um dem Gedicht seinen Titel zu geben. Der Begriff »Manöver« entstammt dem militärischen Wortschatz, bezeichnet die Vorbereitung auf eine kriegerische Auseinandersetzung, das Proben für den Ernstfall, muß aber im Kontext des Gedichts auch als Hinweis auf einen latenten Kriegszustand verstanden werden. Denn durch das Bestimmungswort »Herbst« wird der Ubergang in den Zustand der »Kälte« (V 9) angezeigt, wie ihn die zweite Strophe als gegebenen apostrophiert Es ist die gesellschaftliche Kälte eines Immer-Kriegs-Zustandes im Sinne des Gedichtes Alle Tage oder - zwei Jahrzehnte später - des Romans Malina, eines Zustandes, dessen Wahrnehmung zu verweigern verbreiteter Wunsch ist: Von »Frieden« (V 14) wird geredet, obwohl die Nachrichten von »Toten«, »Vertriebenen«, »Mördern«
12 Vgl. I. Bachmann: Wirmüssen wahre Sätzefinden,S. 32. 1 j Vgl. ζ. B. Hans Egon Holthusen: Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Ingeborg Bachmanns. In: Kein objektives Urteil, S. 34.
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(V. i o - i i ) beherrscht sind. Ein zweifelhafter Frieden, der es erlaubt, den Bettler zu ignorieren, das heißt gesellschaftliche Ausgrenzung, einen Krieg auf einer anderen Ebene als zwischen Völkern, ein Frieden, der aber auch nicht verhindern kann, daß die Realität den Wahrnehmungsverweigerer einholt, und sei es nur durch den »Anblick« absterbenden Laubes (V 15-16). Der »Herbst« ist das Heute, in dem das »Gestern« fortwirkt. Das Heute des Gedichts, das ist 1952, das ist-wie es im Gedicht Früher Mittag heißt - »sieben Jahre später« (W 1,44), das ist sieben Jahre nach dem Krieg, denn - mit Worten Bachmanns aus der Erzählving Unter Mördern und Irren - »>Nach dem Krieg< - dies ist die Zeitrechnung« (W Π, 159). 1952 ist das Entstehungsjahr von Herbstmanöver ebenso wie der Gedichte Früher Mittag, Gestundete Zeit, Alle Tage. Ehemalige Größen des nationalsozialistischen Terrorsystems, die »Henker von gestern« (WI, 44) sind wieder in gesellschaftliche Machtpositionen aufgerückt und haben Reputation zurückgewonnen, ihr »Schatten« Chiffre für Faschismus bei Bachmann- droht, um das Bild aus Früher Mittag aufzugreifen, die »Hoffnung« des Neubeginns nach dem politischen, militärischen und ideologischen Zusammenbruch des Nationalsozialismus »sieben Jahre später« erneut oder noch immer zu »versengen« (WI, 45). Von diesen Überlegungen her läßt sich auch die irritierende Metapher von der »Spreu des Hohns« verstehen. Der Bildspender kommt aus dem Vorstellungsbereich des Herbstes, bezeichnet den Abfall bei der Verarbeitung eines Ernteproduktes. Im Bild der Bachmann verschiebt sich die Bedeutung. Das lyrische Ich fühlt sich dem Abfall von Hohn, das heißt von bitterer, kalter, ja eisiger und verletzender Verachtung'5 als herrschendem gesellschaftlichem Klima ausgesetzt. Der »Herbst« steht mithin bildlich für den zeitlichen Moment, in dem Bachmann die Gestundetheit der Zeit erkennt. Nur scheinbar »tut« diese »Wunder« (V ΙΠ, 6), heilt sie alle Wunden. Das Vergessen der »unbeantworteten Briefe an das Gestern« (V ΠΙ, 5) kann nicht von Dauer sein, die Vergangenheit läßt sich nur scheinbar verdrängen: Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht, mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause. (V 22-23)
Der letzte Halbvers ist verräterisch doppeldeutig. Denn das »Nicht-zu-Hause-Sein« bedeutet zwar auf einer ersten Ebene schlicht ein Nicht-(an)treffbar-Sein, Ignorieren der Wahrheit, auf einer weiteren aber jenseits des Klischees vom Unbehaustsein der Nachkriegsgeneration die Befindlichkeit derer, die der verantwortungsvollen Ausein14 Vgl. dazu Bartsch: Bachmann (= Anm. 2), S. 39. 15 So die Definition von »Hohn« im Duden.
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andersetzung mit der geschichtlichen Wirklichkeit zu entfliehen versuchen und deshalb »nicht zu Hause« und heimados sind, aber vor allem auch derer, die nicht Herr in ihrem Hause sind, weil sie ihre Vergangenheit nicht als integrierenden Bestandteil ihrer Persönlichkeit zur Kenntnis nehmen wollen. Herbstmanöver ist getragen von dem Bewußtsein der Autorin, daß die Zeit gestundet ist, und zwar sowohl in subjektiv existentieller Hinsicht die Zeit für den einzelnen als auch geschichtlich. Nur scheinbar formuliert die dritte Strophe mit dem dreifachen »Laßt uns ...!« einen Appell, dies zu verdrängen. Das Ich befindet sich schließlich »schlaflos« (V 24). Rupert Hirschenauer ist vehement zu widersprechen, wenn er gerade im Hinblick auf die mit dem Suffix »-los« gebildeten Adjektive, von »zynisch-sarkastischen Tönen«, »Verzweiflung«, »verdammt in alle Ewigkeit« spricht.'6 Im Gegensatz zu »wertlos« (V 1) und »freudlos« (V 16) ist »schlaflos« bei Bachmann durchaus nicht nur negativ konnotiert. Es ist in ihrem Verständnis geradezu das Amt des Dichters, sich nicht dem Schlafen hinzugeben. Das Gedicht Holz und Späne gipfelt in dem Appell »Seht zu, daß ihr wachbleibt« ( W 1 , 4 0 ) , im Appell, sich nicht einlullen zu lassen von der Sprache des Klischees, der Werbung, der Ideologie, vielmehr das dichterische Wort dagegenzusetzen. Diesem Widerstand verdankt sich eine Poesie, die, Bachmanns Ausführungen in den Frankfiirter Vorlesungen zufolge, gebraucht wird wie »Brot«: Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können. Wir schlafen ja, sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen. (W IV, 197 f.) In Umkehrung des Appells von Kandaules an Gyges in Friedrich Hebbels Tragödie Gyges und sein Ring - »Nur rühre nimmer an den Schlaf der Welt« 1 ' - fordert Bachmann wie auch sonst häufig vor allem in ihrer Lyrik zur Wachsamkeit auf und befindet sich damit in Gesellschaft ihrer Zeitgenossen Use Aichinger, die bekanndich »zum Mißtrauen« aufgefordert hat, mit Günter Eich, dessen Hörspiel Träume zum Wachen appelliert und den Bachmann in ihren Vorlesungen als »schlaflos Ausgesetzten« ( W Ι\ζ 203 - Hervorhebung von Κ Β.) bezeichnet, oder besonders auch mit Paul Celan, von dem sie Verse aus Zähle die Mandeln ebenfalls in den Vorlesungen mit eigenwilligen Umstellungen zitiert: »Mache mich bitter, zähle mich zu den Mandeln, zähl mich dazu ... was bitter war und dich wacbhielt« ( W Ι\ζ 215 - Hervorhebimg von Κ. B.). Wachen und wahrnehmen ist schmerzvoll, aber der der Wahrheit verpflichtete Dichter hat es 16 R. Hirschenauer: Ingeborg Bachmann·. Herbstmanöver (= Anrn. 5), S. 402. 17 Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. (Histor.-krit. Ausgabe.) Bd. ΙΠ. Berlin 1901, S. 336.
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auf sich zu nehmen (vgl. W I V , 275), auch wenn - wie im gegenständlichen Gedicht noch kein utopisches Moment ins Blickfeld rückt, aber es ist wohl in Ingeborg Bachmanns Augen schon eine Ausrichtung auf ein Utopisches, das sich für sie immer mit Literatur verbindet, nämlich daß der Dichter wachbleibt, wahrnimmt und erkennt »auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit« und gegen die Zeit.
Hermann Dorowin
Die schwarzen Bilder der Ingeborg Bachmann Ein Deutungsvorschlag zu Die gestundete Zeit
Die gestundete Zeit Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald mußt du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Armlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fallt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung. Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage.
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Kein Gedicht ist mit dem Namen Ingeborg Bachmanns verbunden wie dieses, keines hat wie dieses zum Entstehen ihres frühen Ruhms beigetragen, keines hat wohl auch so viele Mißverständnisse ausgelöst und - stellvertretend für alle - soviel Kritik über sich ergehen lassen müssen. Als Titelgedicht ihrer ersten Buchpublikation gilt Die gestundete Zeit noch heute als emblematdsch für eine Generationserfahrung, ist, wie Hans Höller sagt, »Teil unserer Geschichtsschreibung« geworden.1 Mehr als zwanzig Jahre nach seiner Entstehung bekennt auch Hilde Spiel: Ich liebe das Titelgedicht des Bandes Die gestundete Zeit, weil es alles enthält, was sich in anderen Gedichten Ingeborg Bachmanns findet, und durch seine Fülle und Dichte eben mehr. Was ergreift uns denn an einem Werk der Lyrik? Die Vielfalt der möglichen Assoziationen, die Eindringlichkeit der Aufrufe, die an uns ergehen mitzuschauen, mitzudenken, mitzuempfinden, verwandte Erlebnisse heraufzubeschwören, so lange bis dieses Wortgeflecht ein Teil von uns geworden ist.2 Man muß Hilde Spiels emphatischem Werturteil nicht zustimmen, um doch in seiner Begründung einige wichtige Elemente zu finden. Denn die »Vielfalt der möglichen Assoziationen« gehört ebenso zum Geheimnis der Wirkung dieses Gedichts wie sein heroischer Appellcharakter. Peter Rühmkorf evoziert im Rückblick die Neuigkeit, die dieser Stil bedeutete, dieses »gespannte und dennoch leidenschafüiche Verhältnis zu Welt und Wirklichkeit«, als bedeutenden Schritt hinaus über die vorherrschende Tendenz einer »kopflosen Zeitund Wirklichkeitsflucht«}, die sich etwa in der damals modischen Naturlyrik äußerte. Freilich antwortete ein Teil der Kritik auf die Vieldeutigkeit der Bilder mit der Beliebigkeit der Auslegungen, die, auch wenn sie mit lobenden Urteilen verbunden waren, dem Gedicht doch mehr schadeten als nützten. Prompt traten die Gegner auf den Plan, die Bachmann nun ihrerseits, wohl auch in Verwechslung des Werks mit den darauf nistenden literaturkritischen Diskursen, Beliebigkeit der Bilder, »bedauerlichen Traditionalismus« (Görtz), pauschale Geschichtsfeindlichkeit (Thiem) und insgesamt eine unklare Perspektive nachsagten .4
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Vgl. H. Höller: Ingeborg Bochmann, S. 15 Vgl. Hilde Spiel: Das Neue droht, das Alte schützt nicht mehr. In: FAZ, 10. 8.1974.
3
Vgl. P. Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen (i960). In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur aus Methoden. Frankfurt a. M. 1972,Bd. 2,S. 1-27; S. 14, S. 11.
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Eine Blütenlese der Bachmann-Huldigungen veranstaltete schon 1971 Peter Conrady: Fragwürdige Lobrednerei. Anmerkungen zur Bachmann-Kritik. In: TuK H. 6/1971, S. 48-55, dessen eigene Ausführungen eine Gegenoffensive der Nörgler einleiteten. U. Thiems gründliche und im Detail ergiebige Studie Die
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Die unfruchtbare Kontroverse wäre vermeidbar gewesen, hätte man sich an Peter Szondis Erkenntnis gehalten, daß die Mehrdeutigkeit eines Gedichts seiner Präzision dienen kann und daß in solchen Fällen »die Alternative der Deutungen eine der Sache selbst« ist.5 Mehrdeutigkeit ist, so gesehen, das Gegenteil von Unklarheit oder Verschwommenheit; sie erfordert nur ihrerseits Präzision von seiten des Lesers, denn es gilt ja, die verschiedenen Sinnebenen des Textes klar und deudich zu definirieren, um ihr Zusammenwirken beschreiben zu können. Es kann also nicht unsere Aufgabe sein, eine historisch-zeitgebundene Lesart gegen eine existentielle bzw. psychologische auszuspielen oder umgekehrt, sondern zunächst jede für sich am Text zu prüfen. Erst nach einer solchen heuristischen Trennung der Deutungsebenen können wir uns der Frage zuwenden, ob schon in diesem frühen Gedicht eine dritte, poetologische Ebene als Trägerin der für Ingeborg Bachmann so wesentlichen sprachutopischen Perspektive deren Einheit wiederherstellt.6 In der Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt stehen zwei Sätze, die unserem Gedicht als Motto dienen könnten: Man braucht den Kindern nicht mehr zu sagen, daß Frieden ist. Sie gehen fort, die Hände in ausgefransten Taschen und mit einem Pfiff, der sie selber warnen soll.7
Eine Warnung also, an sich selbst zu allererst gerichtet, diesem Frieden nicht zu trauen, denn »es kommen härtere Tage«. Am Horizont zeigt sich drohend die Möglichkeit eines neuen, dritten, vielleicht noch schlimmeren Krieges. Das angesprochene Du, das wir sicher als Ich-Instanz betrachten können, wird zunächst in eindringlichen kurzen Sätzen - Peter Härtling vergleicht sie mit Paukenschlägen8 - vom Ernst der Lage überzeugt, die ihm keinen anderen Ausweg als die Flucht läßt. Jedem einzelnen dieser Sätze zur Lage entspricht in der dritten Strophe ein Imperativ, der jede Widerrede, jeden Zweifel entkräftet, welcher aus der Antithese der zweiten Strophe - in Härtlings Deu-
Bildspache der Lyrik Ingeborg Bachmanns. Diss. Köln 1972, bringt sich selbst durch ideologiekritischen Übereifer 11m ihre besten Ergebnisse. Ahnliches gilt für Franz Josef Görtz: Zw Lyrik der Ingeborg Bachmann. In: TuK H. 6/1971, S. 28-38; S. 34, wenn ihr »bedauerlicher Traditionalismus« vorgehalten wird. 5
Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. Vorrede zu >Hölderlin-StudienPhoinix< in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. München 1979. Stefan George: Werke. Ausgabe in vier Bänden. München 1983. Bd. i,S. 114. Vgl. auch Der Herr der Insel, Bd. 1, S. ηιί.·. »Gescheiterte nur hätten ihn erblickt / Denn als zum erstenmal die weissen segel / Der menschen sich mit günstigem geleit /Dem eiland zugedreht sei er zum hügel / Die ganz teure Stätte zu beschaun gestiegen · / Verbreitet habe er die grossen schwingen / Verscheidend in gedämpften schmerzenslauten.« 10 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit. München 1978. 11 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. 2 Bde. Hg. v. Günter Mieth. München/Wien 1970, Bd. 1, S. 308.
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des synthetischen Bildes abtragen, dürfte der Zugang zur >richtdgen Bedeutung·«, wenn je es diese geben sollte, versagt bleiben. Versuchen wir dennoch eine vorläufige mögliche Auslegung, die wir später einer Revision unterziehen wollen: Es scheint, als wäre der Engel im Kampf gegen das Böse unterlegen, als hätte ihn das ikonologische Attribut seiner Macht, das Schwert, enthauptet und den Sieg davongetragen. Nicht der Engel ist schrecklich, um an Rilkes zweite Duineser Elegie zu erinnern, nicht der Schutzgeist hat das Land verlassen, sondern dieses hat jenen vernichtet und sich damit jeder möglichen Rettung, jedes Beistandes begeben. Dennoch begräbt der Engel den Haß (das Schwert). Die Agenten der mythologischen und ikonologischen Relationen werden auf stringente Weise invertiert. Die Genetivmetapher »Schüssel des Herzens« speist sich aus der metaphorischen Konnotierung, die das Herz als Gefäß imaginiert. Hier wird erstmals das lyrische Subjekt oder auch der Leser als Adressat angesprochen und damit in die apokalyptische Vision (geschwärzte Erde, enthaupteter Engel) eingebunden. Der bereits in der ersten Strophe angeschlagene Tenor der Hoffnung setzt sich fort im folgenden allein stehenden Vers, der eine neue Bildqualität, nämlich die allegorische Personifikation von Abstrakta, einbringt; der Schmerz scheint sich zu verflüchtigen, der Hoffnung Raum gegeben. Die Katastrophe wird als beendet und überwunden repräsentiert, das Bild der wiedererwachenden Natur legitimiert den optimistischen Blick in die Zukunft, so könnte der Gehalt des ersten Teiles resümiert werden. Die in der ersten Fassung graphisch abgesetzten beiden folgenden Strophen, die sich metrisch und durch die Verslänge deutlich abheben, bilden das Zentrum des Textes. Die »sieben Jahre« in dem oben als Parallelstelle zitierten Prosatext sind auf die nazistische Diktatur in Osterreich zu beziehen. Auffällig ist, daß auch Brecht in dem Gedicht Mit Beschämung die magische Sieben einsetzt, um die Dauer der nazistischen Gewaltherrschaft zu benennen: »Sieben Jahre aßen wir das Brot des Schlächters. / Sieben Jahre schmiedeten wir ihm die Kriegskärren. / Ein besiegtes Volk, zogen wir aus / zu besiegen andere Völker.«12 »Die Henker von gestern« sind aber sieben Jahre später noch immer am Werk; diese Zeitspanne umfaßt nun unmißverständlich die Nachkriegszeit von 1945 bis 1952. »>Nach dem Krieg< - dies ist die Zeitrechnung«, heißt es in der Erzählung Unter Mördern und Irrend. Der existentielle Schock des Nazismus und des Krieges prägt die Zeiterfahrung, entwickelt sich zu einem negativen Zentrum der Erinnerung, die obsessiv immer wieder zu diesem traumatischen Einschnitt zurückkehrt. Bachmann versuche in diesen beiden Strophen, so Holthusen, »mit zart parodierenden Mitteln sich an das Geheimnis jenes geschichtlichen Unheils, das sich zu unseren 12 Bertolt Brecht: Gesammelte Gedichte. Frankfurt '1978. Bd 3, S. 943. 13 Ingeborg Bachmann: Unter Mördern undlrren. In: W H , S. 159-186, hier S. 159.
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Lebzeiten unter deutschem Himmel ereignet hat, heranzutasten«.1« Auf einen Kommentar zur signifikanten, kryptischen Formulierung vom Geheimnis des geschichtlichen Unheils, das sich ereignet habe und keine Täter und Opfer und daher keine Schuld kennt, sei hier verzichtet, das bemühte Schicksal impliziert Schuldlosigkeit und Ohnmacht. Es wäre hier zutreffender, bei der zitierenden Anverwandlung kanonisierter lyrischer Texte nicht von Parodie zu sprechen, die ja meist einen komischen Effekt impliziert, sondern von Kontrafaktur, die »charakteristische Merkmale der Vorlage übernimmt, allerdings nicht, um diese herabzusetzen, sondern um ihr kommunikatives Potential und ihre Struktur für die Formulierung der eigenen Botschaft auszunützen«^. Die beiden, zum Teil wörtlich zitierten Texte, Müllers Der Lindenbaum und Goethes Der König in Thüle, der in drei Fassungen vorliegt und sowohl im Urfaust als auch im Faust. Der Tragödie erster Tbeil von Gretchen gesungen wird, handeln von unbedingter Liebe und der maßlosen Trauer über ihren Verlust, vom Glück und seiner Bedrohung. Der neue Kontext löst nun die ursprünglichen semantischen Referenzen vollkommen auf und arrangiert die zerstückelten Zitatfragmente völlig neu, wobei sowohl die geschichtliche Distanz als auch die semantisch gegenläufige Differenz das Bewußtsein vom eminenten Verlust vermitteln, ohne diesen explizit zu artikulieren. Der ins Präsens gesetzte Vers »Die Augen gehen dir über« hält nicht nur den Zorn über den deprimierenden Gang der Geschichte fest, sondern auch die Trauer über den endgültigen Verlust einer durchs Zitat revozierten Welt. Der Brunnen im vierten Vers wird hier völlig ins Metaphorische gewendet und erfordert wohl den Verweis auf ein weiteres Gedicht, nämlich Hofmannsthals Weltgeheimnisl6. »Der tiefe Brunnen weiß es wohl«, was die Nachkriegsgeneration allzu rasch verdrängt und wovon in der Poesie nicht die Rede sein sollte. Die Chiffre für die Tiefe der Vergangenheit erhält hier im Kontext der sieben Jahre die historische Konkretheit. Der Brunnen ist nicht unergründlich, hier wird nicht ein Weltgeheimnis geahnt, sondern dem Schrecken, der verdrängten unerträglichen Wahrheit ins Auge geblickt. Der Mann, der das Weltgeheimnis begriff und es dann verlor, »redet' irr und sang ein Lied«. Diese ästhetische Sublimierungsleistung ist hier hingegen äußerst gefährdet, vom Verstummen bedroht. Der goldene und heilige Becher, aus dem der König bis zu seinem Tode die »Lebensglut« trinkt, in Goethes Ballade Symbol unbedingter Liebe und des im emphatischen Sinn begriffenen Lebens, ist in die Hände der Henker von gestern gefallen und damit profaniert. 14 Hans Egon Holthusen: Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Ingeborg Bochmanns. In: Kein objektives Urteil, S. 24-52, hier S. 29. 15 Theodor Verweyen, Gunther Witting: Parodie, Kmtrafaktur und andere Schreibweisen. In: Literaturlexikon. Hg. v. Walther Killy. Gütersloh, München 1988-1993, Bd. 14, S. 193-196, hier S. 194. 16 Hugo von Hofmannsthal: Gedichte. Dramen 1.1891-1898. Hg. v. B. Schoeller in Beratung m. R. Hirsch. Frankfurt 1979 (= Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 20.
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Im Schlußteil des Gedichtes wird die Hermetik der Bezüge zunehmend gelockert. Der anaphorische Einsatz »Schon ist Mittag« stellt die Verbindung zur ersten Strophe her. Dorn, Eisen und Fahne können hier als Pars pro toto des Martialischen gelesen werden. Die Wiederaufrüstung, das Wettrüsten im kalten Krieg ist voll im Gang, die Waffen werden geschmiedet und geschärft. Rätselhaft bleiben die Katachrese, daß das Eisen sich nicht im Feuer, sondern in der Asche krümmt, und die Anspielung auf den Prometheus-Mythos, der wiederum dem schon oft beobachteten Strukturmuster der Inversion des Materials gehorcht, so daß der Adler, Werkzeug göttlicher Rache gegen die menschliche Hybris, an den Felsen gekettet wird. Picasso hat diese Veränderung der Rollenverteilung, die symbiotische Entdifferenzierung der Identitäten so formuliert: »Es ist schrecklich, daß man selber Adler und Prometheus ist; beides in einer Person, derjenige, der zerfleischt, wie der andere, der zerfleischt wird.« 1 ' Die ätherische Flamme, Sinnbild göttlicher Fähigkeiten, mit der Prometheus den Menschen das Leben einhauchte, ist ohnehin erloschen. Diese Inversion des Mythos bedeutet den endgültigen Sturz der Götter durch den hybriden Menschen und verweist auf den enthaupteten Engel. Legte man jedoch den angeschmiedeten Adler auf diese Lesart fest, so würde eine weitere intratextuelle Referenz eliminiert, die durch die Asche und auch durch den »uralten Traum« als Tertium comparationis begründet scheint. Die Asche erlaubt es, den Bogen zum Märchenvogel, zum Phönix zu schlagen, der, wie erwähnt, auch in der Gestalt des Adlers imaginiert wurde. Nimmt man eine äquivalente Beziehung zwischen den beiden mythologischen Bildern an, die durch die wiederholte synkretistische »Arbeit am Mythos« legitimiert scheint, so würde dies ein Fortschreiten von der mythischen, oben in den Kreislauf der Natur eingebetteten Regeneration des Wundervogels zu seiner Ankettung und Fesselung fuhren und somit das Ende des uralten Traums bedeuten; d. h., die Geschichte würde als fortschreitende Katastrophe ausgelegt werden. Der Engel blickt nicht zurück auf die Geschichte als Leidensgeschichte, sondern die Menschheit ist nun vollkommen sich selbst überlassen.18 Die nazistische Barbarei und die darauffolgende, alle Hoffnungen enttäuschende Restauration verkehren nun auch die kosmische Ordnung: nicht mehr der Himmel schwärzt die Erde, sondern Deutschlands Erde schwärzt den Himmel. Die paradoxe 17 Zitiert nach Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt 11986, S. 679. 18 Vgl Walter Benjamin: Uber den Begriff der Geschichte. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Hgg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser. Frankfurt 1980, Bd 1,2, S. 691-704, hier S. 697f.: Der Engel der Geschichte »hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfugen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her [...]. Das was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
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grammatische Vertauschung von Subjekt und Objekt ist also nicht als billiger Effekt, wie dies Bachmann vorgeworfen wurde, sondern in Analogie zu den vorangegangenen Inversionen des literarischen und mythischen Materials und damit als konsequenter Ausdruck der Negativität zu lesen. Dieses apokalyptische Szenario mündet in die Allegorie der erblindeten Hoffnung, die Paradoxie des Bildes dürfte auf einen weiteren literarischen und kunstgeschichtlichen Kontext verweisen, nämlich auf Baudelaires viertes Sp/eew-Gedicht1' und auf ein allegorisches Gemälde von Puvis de Chavannes, das in der Erzählung Das dreißigste Jahr beschrieben wird: Sein Zimmer ist schon ausgeräumt, aber einiges liegt herum, von dem er nicht weiß, was damit geschehen soll: Bücher, Bilder, Prospekte von Küstenlandschaften, Stadtpläne und eine kleine Reproduktion, von der ihm nicht einfällt, woher er sie hat. >L'esperance< heißt das Bild von Puvis de Chavannes, auf dem die Hoffnung, keusch und eckig, mit einem zaghaft grünendem Zweig in der Hand, auf einem weißen Tuch sitzt. Im Hintergrund hingetupft - einige schwarze Kreuze; in der Ferne - fest und plastisch - eine Ruine; über der Hoflhung - ein rosig verdämmernder Streif Himmel, denn ist es Abend, es ist spät, und die Nacht zieht sich zusammen. Obwohl die Nacht nicht auf dem Bild ist - sie wird kommen! Uber das Bild der Hoffnung und die kindliche Hoflhung selbst wird sie hereinbrechen und sie wird diesen Zweig schwärzen und verdorren machen. Aber das ist nur ein Bild. Er wirft es weg.20
Philippe Jullian deutet den Titel L'Esperance als Ausdruck revolutionärer Hoffnungen, die an die Pariser Kommune von 1871 geknüpft wurden.21 Die geschichtsphilosophisch- reflexiven Strophen evozieren in ihrem Fortgang die zunehmende Bedrohung jeglichen utopischen Potentials, die anfängliche Zuversicht auf einen Neubeginn, der die Schrecken des Nazismus aufarbeitet und überwindet, schwindet angesichts der Perpetuierung des Unheils völlig. Die durch die unermeßliche geschichtliche Gewalt
19 Charles Baudelaire hat die allegorische Tradition in der Lyrik rehabilitiert; in der zweiten und letzten Strophe des vierten Sp/ee«-Gedichtes imaginiert er die Hoffnung als Gefangene in einem feuchten Käfig: »Quand la terre est change en un cachot humide, / Ou l'Esperance, comme une chauve-souris, / S'en va battant les murs de son aile timide / Et se cognant la tete ä des plafonds pourris; //[...] - Et de longs corbillards, sans tambours ni musique, / Defilent lentement dans notre ame; / - >Espoir, Vaincu, pleure, et L'Angoisse atroce, despotique, / Sur mon crane incline plante son drapeau noir.« In: Les fleurs du mal et autrespoemes. Paris 1964, S. 96. 20 Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr. In: W H , S. 94-137, hier S. 97. 21 Puvis de Chavannes: Hoffnung. U m 1871. Ö l auf Leinwand, 70 χ 82. Louvre, Paris. Vgl. Philippe Jullian: Der Symbolismus. Köln 1974, S. 242.
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zerstückten mythologischen Bilder lassen sich kaum zu neuen homogenen Einheiten ordnen, denen in der Allegorese ein stringenter Sinn unterlegt werden könnte. Nichtsdestotrotz wird nun der Leser aufgefordert, der endgültigen Vernichtung jeglicher Hoffnung Einhalt zu gebieten und auf eine Veränderung hinzuarbeiten, selbst wenn diese Möglichkeit noch einmal in Frage gestellt scheint, da die Katastrophe zu weit fortgeschritten sei: Deutschlands Erde schwärzt nunmehr den Himmel22; angesichts dessen verschlägt es einem endgültig die Sprache, der Vogel Wunderbar, der Märchenvogel, angekettet, ist endgültig verstummt: »Das Unsägliche«, das aber gesagt werden muß, geht übers Land: Es ist nicht mehr früher Mittag, »schon ist Mittag«. Bachmanns sowohl elegische als auch zornige Anklage könnte auch als Antwort auf den verordneten Optimismus über den Gang der Geschichte gelesen werden, den Brecht im Nachkriegsgedicht Nimm Platz am Tisch verkündet: »Nimm Platz am Tisch, du hast ihn doch gedeckt / Von heute ab wird auch die das Kleid tragen, die es genäht hat. / Heute, mittag um zwölf Uhr // Beginnt das goldene Zeitalter.«2' In der Aufnahme des Gedichtes durch die Kritik und die Literaturwissenschaft scheinen sich die distanzierenden und positiven Urteile die Waage zu halten. Vor Brechts kritischem Blick hatten lediglich die beiden gereimten Strophen Gnade gefunden.2+ Für Christa Bürger sind das »Unsägliche« und das »Unsagbare« offensichtlich austauschbare Vokabeln, ebenso beliebig gerät dann ihre kritische Interpretation des Textes und der historische Bezug des Gedichts, dem sie eine »ambivalente Haltung gegenüber der Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit« unterstellt.2* Lothar Baier bemängelte, daß durch die Vielzahl der Bezüge die Einheit des Gedichtes bedroht wäre, der Zusammenhang erst von außen hergestellt werden könnte: Der Tonfall entgeht auch oft nicht der Gefahr, formale Gliederungen zu verwischen und heterogene Bedeutungen von vorneherein einzufarben. Das Gedicht Früher Mittag ist in mehrere geschlossene Einheiten aufgeteilt, deren Zusammenhang erst von außen herangetragen werden muß. [...] weiterhin werden die Vorzeichen bekannter Motive vertauscht, nicht Prometheus, sondern der Adler ist an den Felsen geschmiedet. Geht man der Richtung nach, deren Ziel so aufwendig angesteuert zu sein scheint, so verflüchtigt sich die plötzlich aufleuchtende Konzentration: >Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht.< 2 2 Vgl. »Es ist kein Geld im Haus. Keine Münze fallt mehr ins Sparbuch. \£>r den Kindern spricht man nur in Andeutungen. Sie können nicht erraten, daß das Land im Begriff ist, sich zu verkaufen und den Himmel dazu, an dem alle ziehen, bis er zerreißt und ein schwarzes Loch freigibt. [...] 23 Bertolt Brecht: Gesammelte Gedichte, Bd. 3, S. 961. 24 Vgl. Gerhard Wolf: An einem kleinen Nachmittag. Brecht liest Bachmann. In: G. W.: Im deutschen Dichtergarten. Lyrik zwischen Mutter Natur und Vater Staat. Darmstadt/Neuwied 1985, S. 97-119. 25 Ch. Bürger: Ich und wir, S. 7-27, hier S. 12.
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Johann Sonnleitner
Satz, Bild und Gegenstand sind vollständig auseinandergefallen. Nur das abstrakte Subjekt verhindert, daß die Aussage in die Trivialität der Phrase abrutscht. Weder Protest noch Präzision zeigen sich, sondern lediglich die Absicht der Autorin, etwas zeigen zu wollen. 26
Eine behutsam kommentierende Lektüre, die die Bedeutungen nicht nur über die durch die Tradition festgeschriebenen Konnotationen, sondern auch über die textinternen Bezüge und Relationen erschließt, vermag durchaus den vorgeblich fehlenden Zusammenhang zu konstituieren und die Vielschichtigkeit und Bedeutungsvielfalt als Widerstand gegen jene Leser und Kritiker wahrzunehmen, die sich auf eine Aussage des Gedichtes kaprizieren. Die Behauptung, daß im Vers >Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht< Satz, Bild und Gegenstand auseinanderfielen, kann ich nicht nachvollziehen, sondern als konsequente allegorische Ausdeutung der Geschichte als Unheilsgeschichte begreifen, wie sie Hans Höller in seiner knappen Interpretation des Gedichtes nahelegt2?. Wo das Sprechen, die Fähigkeit, den Schrecken zu benennen, bedroht ist, setzt der Rekurs auf das tradierte literarische und mythologische Material ein28, dessen Fragmente neu montiert werden und der vor dem Verstummen bewahrt.
26 Lothar Baier: Protest und Abkehr. Notizen zur Lyrik Ingeborg Bochmanns. In: Kein oljektives Urteil, S. 89. 27 H. Höller: Ingeborg Bachmann, S. iqff. 28 Walther ΚΆ\γ: Elemente der Lyrik. München 1 9 8 3 , 8 . 1 2 5 : » [ . . . ] die durch die präfigurierte Allegorie angebotenen Bilder werden genützt, um die stürmische Unabsehbarkeit der Gefühle zu vermitteln. Sie gewähren eine Zeichensprache, wo die unvermittelte Sprache versagen will. Sie gewähren einen Halt, gerade weil sie nicht erst erfunden, sondern der Tradition entnommen werden.«
Hubert Lengauer
Stadt-Vedute und Ich-Geschichte Ingeborg Bachmanns Große Landschaft bei Wien
Vorsatz und Rahmen In der Literatur des 19. Jahrhunderts, besonders auch in der österreichischen, entwickelt sich eine Traditionslinie von Texten, in denen Landschaft oder Ländlichkeit eine hervorragende Rolle spielt. Th. W. Adorno hat dieser Traditionslinie kompensatorische Funktion zugeschrieben und sie als »jenes ideologische Komplement« bezeichnet, welches der »vorwaltende Urbanismus« aufsaugt, weil es »dem städtischen Wesen willfahrt und doch die Stigmata der Marktgesellschaft nicht auf der Stirn trägt«.1
Stadt-Veduten Diese »Komplementarität« tritt freilich über weite Strecken der Kulturgeschichte als Opposition zwischen urbaner Zivilisation einerseits und völkischer, regionaler, völkischnationaler oder Heimat-Literatur anderseits auf. Die Repräsentanten der »Wiener Moderne« (nimmt man Hermann Bahrs Entdeckung der Provinz einmal aus) hatten mit dem Regional-Landschaftlichen wenig im Sinn. Von ihnen schreibt Adorno in seinem Kapitel über Landschaftsästhetik mit kongenialer Raffinesse: So hat der polemische Genius in Karl Kraus, vielleicht in Ubereinstimmung mit dem modern style etwa Peter Altenbergs, dem Kultus großartiger Landschaft sich verweigert, offenbar kein Glück am Hochgebirge empfunden, wie es ungeschmälert wohl nur dem Hochtouristen zuteil wird, dem der Kulturkritiker mit Grund mißtraute. 2
Gegen diese Tradition des Kultus der Landschaft, die in Tourismus und künstliche Folklore abgewandert ist, könnte eine andere gesetzt werden, die einer »Urbanen Zivilisation«, welche sich selbst nicht negiert und aufs Land flüchtet, sondern ihre eigene ι 2
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2 i974, S. ioi. Ebd., S. 109.
Hubert Lengauer
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Geschichte bedenkt. Ingeborg Bachmanns G e d i c h t Große Landschaft bei Wien steht in dieser Tradition; andere Texte der Autorin weisen d a r a u f h i n , w i e bewußt sie a u f g e n o m m e n wird. In der Erzählung Das dreißigste Jahr etwa heißt es mit Anspielung auf einen Grund-Text dieser Linie, Adalbert Stifters Blick vom St.
Stephansturme:
Es ist die Frage, ob man lieben muß, was man nicht lieben mag, aber die Stadt ist schön und ein umständlicher Dichter stieg auf den Turm von St. Stephan und huldigte ihr.3 E s ist bei I n g e b o r g Bachmann allerdings nicht nur diese Stadt, die für den poetischen E n t w u r f g e n o m m e n wird, diese aber in anderer W e i s e als R o m (Was ich in Rom sah und hörte, Essay, 1 9 5 5 ) , als Berlin (Ein OrtfiirZufdUe,
Rede, 1964), P r a g (Prag, Jänner
1964,
Gedicht) oder gar Klagenfurt (Jugend in einer österreichischen Stadt«, Erzählung, 1959).+ E s sind also nicht nur heimatkundliche Interessen zu berücksichtigen. 3
Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr, WH, S. 127; die längere Passage im Umkreis des Zitats liest sich streckenweise wie eine Prosa-Paraphrase des Gedichts: »Stadt ohne Gewähr! Laßt mich nicht von irgendeiner Stadt reden, sondern von der einzigen, in der meine Ängste und Hoffnungen aus so vielen Jahren ins Netz gingen. W e eine große, schlampige Fischerin sehe ich sie noch immer an dem großen, gleichmütigen Strom sitzen und ihre silbrige und verweste Beute einziehen. Silbrig die Angst, verwest die Hoffnung. [...] Strandgutstadt! Denn Länder wurden an sie geschwemmt und Güter aus anderen Ländern: die Kreuzstichdecken der Slowaken und die pechigen Schnurrbärte der Montenegriner, die Eierkörbe der Bulgaren und ein aufsässiger Akzent aus Ungarn. Türkenmondstadt! Barrikadenstadt! Soviel zerbröckelter Stein, soviele hohle Wände sind da, daß man es flüstern hört von langher, von weither.[...] Beim Schwarzwasser der Donau und dem schmutzigen Ol in der Weite. [...]«
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Die Stadtlandschaften von Rom und Berlin, sagt Hans Höller, »repräsentieren im Werk Ingeborg Bachmanns zwei extreme Möglichkeiten der geschichtlichen Erfahrung: Rom steht für den utopischen Aspekt, Berlin für den traumatischen.« Vgl. H. Höller: Ingeborg Bachmann. Das Werk, S. 191; Prag, wahrscheinlich auch W e n und Klagenfurt scheinen auf einer anderen emotionalen Ebene zu liegen, einem Raum, der »zu Hause« oder auch manchmal »Haus Osterreich« benannt ist: »[...] zuhause, wo zwischen der Moldau, der Donau und meinem Kindheitsfluß alles einen Begriff von mir hat. [...]« »Es ist lebens- und werkgeschichtlich alles andere als zufallig«, schreibt Höller in seiner Analyse der Büchner-Preis-Rede, »daß Ingeborg Bachmann von Berlin nach Prag gereist ist, und daß dort eines ihrer schönsten Gedichte, Prag Jänner 1964, entstand: ein Gedicht, das die rettende Erinnerung von Heimat beschwört, eine Kinderwelt vor den späteren Zerstörungen.« Ebd., S. 212.
Stadt-Vedute und Ich-Geschichte
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Große Landschaft bei Wien
Auf die »urbane« Traditionslinie bezogen, erscheint mir das Gedichts als eine späte, wahrscheinlich letzte pathetische Lektüre und Beschreibung der Stadt-Landschaft, ein schon im Titel proklamiertes Bekenntnis zur ästhetischen Kategorie des Erhabenen. Das tritt am schärfsten dann heraus, wenn man das Gedicht neben Gerhard Ruhms unprätentiöse Kurze Beschreibung der Umgebung Wiens. Montage stellt:6 schon vor vielen jahrhunderten lebten menschen in unserm heutigen wien/ [...] der horizont. er ist elastisch und dauerhaft. er wird für möbel bei brückenbauten und fassdauben verwendet, von der stirne tropft der schweiss. [...] hoch auf dem kahlenberg zu stehen, hat noch keiner bereut! [...] der mensch ist ein nützliches der. [...] das junge reh heisst kitzier, zarte knospen und zarte blumen. das reh gibt uns einige eigenschaften: scheu, empfindsam, flink, naschhaft; musik und lateinische spräche. die Städter fahren hinaus, um die gute luft zu gemessen, dann sind sie gebrauchsfähig und werden abgeführt.
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I. Bachmann: W I , S. 59-61. So geschehen in: Wien im Gedicht. wird hier Rühm zitiert.
Hg. von Gerhard C. Krischker. Frankfurt/Leipzig, S. 79-85; daraus
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Das Pathetisch-Erhabene ist bei Gerhard Rühm nicht vergessen, aber nur mehr - tongue in cheek - als Karikatur und wohl vermengt mit kleinen Verdrehungen und Anzüglichkeiten denkbar: das wiener becken. die hohe wand ist ein beliebtes ausflugsziel. unsre berge sind zum teil riesig hoch und schrecklich steil, und du schauerst unentwegt, wo ein mensch den gamsbart trägt, (ei, du glaubtest im gesicht.) [...] sonntag für sonntag ziehen lachende volkskörper mit gefüllten rucksäcken in die herrliche bergweit. was gibt es dort? erholungsorte. die biene wohnt im bienenstock. der mann wohnt im eierstock, vom ei zur biene: 21 tage. [...] die Schenkel kommen an die bauern zurück und werden als mastfutter verwendet, der mensch ist dick genug, um die erde zu ernähren. An Ingeborg Bachmanns Gedicht hat wohl, im Gegensatz dazu, der positive Bezug zur Tradition und die melancholische Brechung beeindruckt: Bei der Tagung der Gruppe 47 im Mai 1953 in Mainz erhält Ingeborg Bachmann den Preis der Gruppe 47 für die Gedichte »Große Landschaft bei Wien«, »Die große Fracht«, »Holz und Späne«, und »Nachtflug«.' In der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebenen Gemeinschaftsarbeit zur Gruppe 47 heißt es dazu, mit Berufung auf die starke Autorität des »Spiegel«-Artikels, Sinn und Thematik der meisten Gedichte Ingeborg Bachmanns blieben unbestimmt, schwebten in der »Unschlüssigkeit eines überwuchernden Gefühls« (Spiegel), sie vermittelten den
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Vgl. A. Hapkemeyer (Hg.): Ingeborg Bachmann. Bilder aus ihrem Leben, S. 47.
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Stadt-Vedute und Ich-Geschichte
Eindruck von »Trauer und Klage um das Verlorene; das Gefühl des Absterbens; Angst vor dem Unheimlichen einer mechanisierten Welt; die Vereinsamung des Menschen; Feindlichkeit der Zeit und Erlösung in Schlaf und Traum .. .« 8 Ganz so falsch ist das gewiß nicht, es läßt sich aber manches präziser fassen. Unzweifelhaft steuert das Gedicht - wie der Rom-Essay auch - auf Tod und Verwesung zu (»So sind auch die Fische tot und treiben/den schwarzen Meeren zu, die uns erwarten«), doch wird nur der zur Geschichtsvision überhöhende Schluß als Beleg für die Behauptung zitiert. Daran mag wieder, bewußt oder unbewußt, der Anklang an Hyperions SchiksaaMed von Hölderlin beteiligt sein, der diese Überhöhung bewirkt. Ingeborg Bachmann biegt allerdings den letzten Vers mit entschiedener Wendung davon weg: durch die (synästhetisch oder paradox) behauptete »Reflexion« (als Metapher mit »optischer« Basis) des »Falls« im »Gehör«, durch die Wahrnehmimg also und das Bewußtsein von der Katastrophe der Geschichte, in der die Menschen nicht - wie bei Hölderlin - »blindlings« hinabstürzen. Es geht also auch hier - wie in »Rom« - um das »Sehen« und »Hören« von Geschichte. Die Türme der Ebene rühmen uns nach, daß wir willenlos kamen und auf den Stufen der Schwermut fielen und tiefer fielen, mit dem scharfen Gehör für den Fall
bei Hölderlin hieß es: Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, W i e Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab.'
8 9
Vgl. Gruppe47. TEXT & KRITIK; Sonderband München 1980, S. 102, Zitat aus dem »Spiegel«. Friedrich Hölderlin: Werke und Briefe. 2 Bde. Hg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1969, Bd. 1, S. 44.
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Das ganze Gedicht ist einerseits selbst historisch konkreter, als das eine pauschale Einschätzung des melancholischen Tons bezeichnen kann; die Vedute zeigt eine deutliche historische Schichtung. Zum andern offeriert das Gesamtwerk von Ingeborg Bachmann noch unausgeschöpfte Möglichkeiten der Kommentierung. Durch sie kann vermieden werden, daß die Analyse zu schnell in die Topoi der traditionellen Bachmann-Forschung einbiegt, in der die »lyrische Sprache [...] zur Flucht in eine überhistorische, >zeidose< Vergegenwärtigung« gedeutet wird.10 Die von der Barock-Kulisse erzeugte Epiphanie der dritdetzten Strophe mag solche Einschätzungen begünstigen: »Es hebt der Wind die Barockgirlanden auf, / es fällt von den Stiegen das Puttengesicht, / es stürzen Basteien in dämmernde Höfe, / von den Kommoden die Masken und Kränze ...II Nur auf dem Platz im Mittagslicht, mit der Kette / am Säulenfuß und dem vergänglichsten Augenblick / geneigt und der Schönheit verfallen, sag ich mich los / von der Zeit, ein Geist unter Geistern, die kommen.« Ebenso jene Syntax des »es ist« (»Es hebt. [...], es fällt [...], es stürzen [...]«), die aus der Rede Ein Ort für Zufälle bekannt ist und die anonyme Faktizität (faktische Anonymität) der Geschichte suggeriert. Vor einer solchen Verallgemeinerung kann aber noch über die offensichtlichen »Stufen« der geschichdichen Schwermut gesprochen, auf jene die Schwermut verursachenden Stufen der Geschichte im Gedicht zurückgegangen werden. Die dargestellte und inhaltlich differenzierte Geschichte (wie wir sie zunächst einmal hypothetisch unterstellen) ist selbst wieder nur ein Teil des Texts; es erscheint sinnvoll, Momente der Darstellung davon abzuheben. Damit sind gemeint: zitierte sprachliche und literarische Elemente, die verwendet werden und ihre eigene interne Dynamik, ihren eigenen geschichtlichen Assoziationsraum entfalten. Die eben angedeutete Hölderlin-Analogie rechne ich dazu, und es ist belanglos (und eine entsprechende Recherche wird hier auch gar nicht angestrebt), ob Zitate oder Anspielungen bewußt eingesetzt oder unbewußt dem zur Verfügung stehenden literarischen Fundus entnommen sind. Sie stammen, um mit dem Gedicht (5. Strophe) zu reden, vom Feld der Ernten »reifer Kulturen /[...] vorm Untergang«. Ob sie alle verbrieft sind (im positivistischen Sinn), sei für die momentane Betrachtung dahingestellt bzw. in den Wind geschlagen. Das integrative »Ich« des Gedichts, das sich diese Elemente aneignet und über sie gestalterisch, aber nicht zwingend verfügt, provoziert als sein Gegenüber ein lesendes, deutendes »Ich«, das selbsttätig Spuren sucht und ihnen nachgeht.
10 Manfred Jurgensen: Das Bild Österreichs in den Werken Ingeborg Bachmanns, Th. Bernhards und Peter Handkes. In: Für und wider eine österreichische Literatur. Hg. von Kurt Bartsch, Dietmar Goltschnigg, Gerhard Melzer. Königstein/Ts. 1982, S. 152-174; zit. S. 152.
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Einige der Darstellungsmomente haben also ihre Geschichte »nach hinten«, wie etwa der quasi-homerische Musen- bzw. Geisteranruf zu Beginn, der den magischen Raum auftut, andere »nach vorn«, in das spätere Werk der Ingeborg Bachmann hinein. Von ihnen wird später noch die Rede sein.11 Allerdings sind auch die altväterisch-antikischen Teile - wie »Torso« (»des Grüns«), »Iris« (»des Öls«) (2. Strophe) - nicht einfältig gesetzt, sondern geben (hier in der für die 50er Jahre charakteristischen Genetivmetapher) die sinistre Seite der Phänomene preis, die Beschädigung und Brunnenvergiftung; das Wort »Statuenwälder« funktioniert (aus dem Kontext mit den »Bohrtürmen«, den Iris-Statuen) semantisch ähnlich. In einer Klammer, die zu den beiden letzten Strophen reicht, wird die Öl-Metaphorik noch einmal aufgegriffen und transformiert in den anderen, christlich-mythischen Bereich, auch dort ist Heillosigkeit und Trostlosigkeit (»das Ol will nicht brennen, wir haben / alle davon getrunken - wo bleibt /dein ewiges Licht?«). Die Fische hingegen haben die letzte Ölung schon hinter sich, könnte man ökologisch-melancholisch vermuten, »und treiben / den schwarzen Meeren zu, die uns erwarten«. Aus der Erzählung Das dreißigste Jahr harm jedoch noch eine andere Assoziation beigezogen werden: Laßt mich nicht von irgendeiner Stadt reden, sondern von der einzigen, in der meine Ä n g ste und Hoffnungen aus so vielen Jahren ins N e t z gingen. W i e eine große, schlampige Fischerin sehe ich sie noch immer an dem großen, gleichmütigen Strom sitzen und ihre silbrige und verweste Beute einziehen. Silbrig die Angst, verwest die Hoffnung. [...] Strandgutstadt!"
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Die Geister der Geschichte finden sich, das hat Ingeborg Bachmann wahrscheinlich nicht gewußt, es hätte sie und Christa Wolf möglicherweise aber gefreut, auch in einer Traumvision der Karoline von Günderrode: »ein Traum Ich kam an eine dunkle Hole da schliefen die vergangnen Zeiten u die grossen Geister der Vorwelt einen tiefen Schlaf Und sie konten nicht erwachen ob sie auch wollten denn sie waren gebant an diesen finstem Ort, u umgeben mit Nacht u Schlummer. Und sie machten allerlei gewaltsame Bewegungen [...] Und ich ward gewahr dass es die Schiksale dieser Zeit, die Begebenheiten der Gegenwart seien, die so gewaltig an dieser Hole vorüber rauschten [...] Gewaltig u immer gewaltiger rauschte drausen der Umflug der Zeiten, mächtig war ihr Fortschreiten immer ängstlicher strebten die Geister der Vergangenheit zu erwachen, vergeblich! des Zaubers Kraft umschlang sie fest u fester, sie sanken zurük zum betäubenden Schlummer.« Aus dem Nachlaß. Zitiert nach: Neue Zürcher Zeitung, 12. 3.93, S. 51 (Rezension der Historisch-kritischen Ausgabe).
12 I. Bachmann: Das dreißigste Jahr. Vgl. Anm. 3.
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Der Kranich, der Fischeverzehrer, scheint mehrfach vom Tod bedroht. Er ist der Vogel Apollos, aber auch der Aphrodite, der Athene und Artemis heilig, ein Bote der Götter, ein Bewohner der Insel der Seligen,'3 er formt im Flug Buchstaben bzw. inspiriert den Gott Hermes durch seine Flugfiguren zur Erfindimg der Buchstaben.'4 Hier, im Text, vollendet er, tönender als die Welle, seinen Bogen im flachen Schilf der Gewässer. Er gehört mit dem Dichter und Götterfreund Ibykus auch zur deutschen literarischen Tradition, ist bei Schiller Zeuge des Mordes am Dichter.'5 Was es mit den Mannequins des Ibykus, einem Text von Ingeborg Bachmann aus dem Jahr 1949, publiziert in der »Wiener Tageszeitung« und wegen »geringer Eigenart« nicht würdig befunden fur die Werkausgabe, auf sich hat, wäre in diesem Zusammenhang noch zu klären.'6 Der Kranich ist jedenfalls auch, und dies beträfe nun die »Darstellungsgeschichte nach vorn«, ins Werk der Ingeborg Bachmann, ein Bewohner des Undine-Gebiets, jenes Bildkomplexes von Mann und Frau, flüssig und fest, Reflexion und Verstummen (Verschwinden) bei Ingeborg Bachmann. Er »führt an ein Rinnsal, wen nach Ausweg verlangt«, heißt es zu diesem Umschlag-Platz in der ersten Strophe. »Nirgends gewährt man wie hier, vor den ersten Küssen / die letzten [...]« Undine wird bei ihrem Abgang {Undine geht, 1961) den Menschen, den Ungeheuern, sagen: Und wenn eure Küsse und euer Samen von den vielen großen Wassern - Regen, Flüssen, Meeren - längst abgewaschen und fortgeschwemmt sind, dann ist doch der Name noch da, der sich fortpflanzt unter Wasser, weil ich nicht aufhören kann, ihn zu rufen, Hans, Hans ...
Und später: Eis gibt keine Fragen in meinem Leben. Ich liebe das Wasser, seine dichte Durchsichtigkeit, das Grün im Wasser und die sprachlosen Geschöpfe (und so sprachlos bin ich auch bald!), mein Haar unter ihnen, in ihm, dem gerechten Wasser, dem gleichgültigen Spiegel, der es mir verbietet, euch anders zu sehen. Die nasse Grenze zwischen mir und dir ... '7
Von einem ihrer Liebhaber namens Hans heißt es: »der war ganz anders als alle ande13 Vgl dazu Erika Tunner: Von der Unvermeidbarkeit des Schiffbruchs. In: Kein objektives Urteil, S. 417-431. 14 Vgl. Robert von Ranke-Graves: Die weiße Göttin. Sprache des Mythos. Reinbek/Hambg. 1985, S. 260. 15 Nur bei den Kelten bedeutet er Krieg und Tod, Knauserei, Gemeinheit oder gar »böse Weiber«, vgl. J. C. Cooper: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole. Leipzig 1986, S. 97. 16 Vgl. Bachmann: WIV, S. 405-406. 17 I. Bachmann: Undine geht, W H , S. 253-254.
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ren und er hieß Hans, ich liebte ihn. In der Lichtung traf ich ihn, und wir gingen so fort, ohne Richtung, im Donauland war es, er fuhr mit mir Riesenrad, im Schwarzwald war es, unter Platanen auf den großen Boulevards, er trank mit mir Pernod.«' 8 »Durch Staub und Wolkenspreu / schleift den Mantel, der unsre Liebe deckte, das Riesenrad« (3. Strophe). Auch die Reflexion an der Grenzschicht zwischen Wasser und Luft, der Spiegel des Narziß, die Grenzlinie der Undine, ist hier als Bildvorstellung angelegt: »im Wasser / sinken die Bälle, vorbei an der Kinderhand / bis auf den Grund / und es begegnet / das tote Auge dem blauen, das es einst war« (6. Strophe). Undine sagt: »Nie hat jemand so von sich selber gesprochen. Beinahe wahr. Beinahe mörderisch wahr. Ubers Wasser gebeugt, beinah aufgegeben. Die Welt ist schon finster, und ich kann die Muschelkette nicht anlegen. Keine Lichtung wird sein. Du anders als die anderen. Ich bin unter Wasser. Bin unter Wasser. Und nun geht einer oben und haßt Wasser und haßt Grün und versteht nicht, wird nie verstehen. Wie ich nie verstanden habe.«1' In diesen Dialog der Texte mischt sich seit dem Roman Malina eine weitere Stimme, die das Thema variiert, jene, welche die Legende der »Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« erzählt.20 Gegen Schluß des Romans wird diese Legende, in eigenartiger Antizipation einer möglichen »Todesart«, wiederaufgenommen: Es war einmal eine Prinzessin, es sind einmal die Ungarn heraufgeritten aus dem ins U n erforschbare reichenden weiten Land, es war einmal an der Donau und es zischelten die Weiden, es war einmal ein Strauß Türkenbund und ein schwarzer M a n t e l . . . Mein Königreich, mein Ungargassenland, das ich gehalten habe mit meinen sterblichen Händen, mein herrliches Land, jetzt nicht mehr größer als meine Herdplatte, die zu glühen anfängt [...] Ich muß aufpassen, daß ich mit dem Gesicht nicht auf die Herdplatte fidle, mich selber verstümmle, verbrenne, denn Malina müßte sonst die Polizei und die Rettung anrufen, er müßte die Fahrlässigkeit eingestehen, ihm sei da eine Frau halb verbrannt.
In Malina wird aber auch ein rätselhaftes Bild des Gedichts Große Landschaft bei Wien wiederaufgenommen: »Wir aber mündeten längst, vom Sog / anderer Ströme ergriffen, wo die Welt / ausblieb und wenig Heiterkeit war« (letzte Strophe). Im späten Roman eröffnet eine Passage aus dem düstern Alptraum-Kapitel vom »dritten Mann«, dem Vater, eine Perspektive zurück auf das Gedicht:
18 Ebd., S. 258. 19 Ebd., S. 262-263. 20 I. Bachmann: W I E , S. 62-70und später, gegen Schluß des Romans, S. 334-335. Marlies Janz hat hier die Verbindung zu Paul Celan als gewissermaßen biographischer »Quelle« der Le-
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Es ist vor dem Schwarzen Meer, und ich weiß, daß die Donau ins Schwarze Meer münden muß. Ich werde münden wie sie. Ich bin alle Ufer gut hinuntergekommen, aber vor dem Delta sehe ich, halb vom Wasser bedeckt, einen feisten Körper, ich kann aber nicht ausweichen und bis in die Mitte des Flusses waten, weil der Fluß hier zu tief und zu weit ist und voller Wirbel. Mein Vater hat sich vor der Mündung im Wasser versteckt, er ist ein riesiges Krokodil, mit müden herabhängenden Augen, das mich nicht vorbeilassen wird. [...] Ich habe nur die Wahl, von ihm zerrissen zu werden oder in den Fluß zu gehen, wo er am tiefsten ist. Ich bin vor dem Schwarzen Meer im Rachen meines Vaters verschwunden. Ins Schwarze Meer sind aber drei Blutstropfen von mir, meine letzten, gemündet.21
Was der Roman Malina vor allem ist: eine »Ich-Geschichte«, eine Geschichte der Spaltungen, Konflikte, des Todes ausdifferenzierter Ich-Teile, ist das Gedicht im Ansatz. Uber diese Ich-Teile, die von den späteren Werken her in größerer Ausführlichkeit bekannt sind, schiebt sich hier, immer freilich vermittelt durch dieses wahrnehmende Ich aus »Verstand und sinnlicher Unmittelbarkeit«22, eine Art geistesgeschichtlicher Etüde. Sie beginnt mit dem in Parenthese gesetzten Vers: »(Und ihren Atem spür ich nicht mehr auf den Wangen.)« (3. Strophe), einem negierten Hofmannsthal-Vers aus den Terzinen also (»Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: /Wie kann das sein, daß diese nahen Tage / Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? // Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, / Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: / Daß alles gleitet und vorüberrinnt. / / Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, / Herüberglitt aus einem kleinen Kind / Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. [.. .]«),23 aus einem Schlüsselgedicht des Fin de siecle. Unmittelbar davor ist von »Dissonanzen ... wenig cantabile« die Rede, die seither die neue Musik bestimmen: Sollte hier von Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern die Rede sein, so sind (abermals davor) die Tänze, die wir nicht mehr spielen, wahrscheinlich jene der Walzer- und Operetten-Ära, die das Klischee-Bild des alten Osterreich musikalisch repräsentieren. Gilt es dann, mit dem Nachklang vom letzten Satz des Tractatus von Ludwig Wittgenstein, »weiterzugehn und zu schweigen«?
gende hergestellt; Barbara Kunze diejenige zu Algernon Blackwood als textlicher; vgl. Barbara Kunze: Ein Geheimnis der Prinzessin von Kagran: Die ungewöhnliche Quelle zu der »Legende« in Ingeborg Bachmanns Malina. In: Kein objektives Urteil, S. 516-530; Barbara Kunze setzt für die Lektüre dieser Quelle 1969 als Terminus post quem an. 21
I. Bachmann: Malina, W H I , S. 223-224.
22 H. Höller: I. Bachmann, S. 205. 2 3 Hugo von Hofmannsthal: Gedichte. Dramen I. G W in 10 Einzelbänden, S. 21.
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Man kann dies, das möglicherweise Zufällige dieser Assoziationen einmal konzediert, nach einem Blick auf das gleichzeitige essayistische Werk der Ingeborg Bachmann, nicht gänzlich ausschließen. Schließlich heißt es auch: träum dein Geschlecht, das dich besiegt, träum / und wehr dennoch mystischer Abkehr im Protest. / Mit einer Hand gelingen Zahlen / und Analysen, die dich entzaubern. / Was dich trennt, bist du. Verström, / komm wissend wieder, in neuer Abschiedsgestalt.
Genauigkeit und Seele, Mathematik und Mystik (Musil); Analyse und unabweisbare Traum-Realität des Erotischen, Sexuellen (»träum dein Geschlecht«), oder Analyse der allgemeinen Erkenntnis kommen als begriffliche Deutungsmuster in Frage. Die »mystische Abkehr«, die Mystifikation, die im Protest abzuwehren sei, kommt im Essay Ludwig Wittgenstein - Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte, der im Juli 1953 publiziert wurde, zur Sprache. Vorausgegangen ist im Frühjahr 1953 ein Radio-Essay zum Wiener Kreis, Logischer Positivismus - Philosophie als Wissenschaft; im Umkreis des Themas steht ein verschollener, »durch Briefunterlagen dokumentierte [r] Radio-Essay mit dem Titel Logik als Mystik (1953)·24 Die große Landschaft - »diesseits« - ist, wie man sieht, reich und groß bevölkert. Auch »Asiens Atem« war einmal diesseits, in der ersten Fassimg des Gedichts. In keiner Fassung ist dieser pathetischeste Teil des Texts, allein stehend und die Kontinente definierend, eine Erfindung des Gedichts. Die Abendland-Apokalyptiker der frühen 50er Jahre mag die untergangsträchtige Anspielung betört haben, weil sie ein Dejä-vuErlebnis und zeitgenössische Ängste vermittelte. Ingeborg Bachmanns Gedicht verbrieft selbst ästhetisch »reifer Kulturen Ernten vorm Untergang« und weiß dies dem Wind noch zu sagen. Uber die Jahrhunderte (gegen die Türken 1683, gegen die russische Knute 1848, gegen den Bolschewismus nach 1933 und nach 1945) war die Bestimmung dieser Grenze eine geläufige Wendung. Ingeborg Bachmann hätte sie bei Ferdinand Kürnberger lesen können, dem Motto-Spender für die Erstfassimg von Wittgensteins Tractatus, einer Lieblingslektüre ihrer Heldin in Malina. (»Malina hat mir die schönsten Bücher geschenkt, das verzeiht mir mein Vater nie, und unlesbar sind alle geworden, das hat ja so
24 Vgl. I. Bächmann: W I \ ^ S . 406; zu den Musil-Essays »Ins Tausendjährige Reich« und »Der Mann ohne Eigenschaften«, weiters vgl. ebd., S. 374 und 380 und Heide Seidel: Ingebarg Bachmann und Ludwig Wittgenstein. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 98/2 (Juni 1979), S. 267-282.
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kommen müssen, es ist keine Ordnung mehr, und ich werde nie wieder wissen, wo der Kürnberger und wo der Lafcadio Hearn gestanden sind«, wird es im Roman heißen.)2* Kürnberger, das sei hier exkursorisch vermerkt, nimmt allerdings die Wendung von der bei W e n verlaufenden Grenze Asiens zum Anlaß, die politischen Schematisierungen des späten 19. Jahrhunderts österreichisch-masochistisch zusammenzufassen: Wie bis an die Halden der Türkenschanze die asiatische Steppenflora reicht, so reicht in unsern Geist jener asiatisch-slawische Geist hinein, welcher, schwach zur Staatenbildung und auf der niedrigen Stufe von Stamm und Familie befangen, so schwer über das Persönlich-Sinnliche hinauskommt, so unempfindlich für die kompakte, aber geisterhafte Solidarität der Dinge ist, dagegen so überempfindlich für Person und Persönchen [...] diese ganze erzundeutsche Art, die objektive Wirklichkeit zu einem phantastischen Schattenspiel des persönlich-willkürlichen Beliebens herabzuwürdigen - ist leider die österreichische.26 Den Österreichern schreibt er - wie hätte Ingeborg Bachmann dies gelesen? - ins Stammbuch: Euer ewiges Bedürfiiis, liebenswürdig zu sein und den Charmanten zu spielen [...] das ist der slawische Blutstropfen in euch, die Buhlerei, die wollüstige Sinnlichkeit, das Weibertemperament, die Weiberschwachheit und Weiberweichheit. Ein weibisches Volk seid ihr, kein männliches. Nennt euch nicht Deutsche.2? Weder Weibertemperament noch slawisches Blut hätte Ingeborg Bachmann von sich gewiesen; von Prag aus definiert sie 1964 noch einmal, mit ähnlich großer, die Kontinente definierender Geste, ihr »zu Hause«: [...] zuhause, wo zwischen der Moldau, der Donau und meinem Kindheitsfluß alles einen Begriff von mir hat.
25 I. Bachmann: W I E , S. 183-184. 26 Ferdinand Kürnberger: Gesammelte Werke. Hg. von Otto Erich Deutsch. Bd. Π, München 1911 (GWII), S. 302-303.
27 F. Kürnberger: Der Reklamemvolfin der Schafhürde. GW Π, S. 297.
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[...] Unter den berstenden Blöcken meines, auch meines Flusses kam das befreite Wasser hervor. Zu hören bis zum Ural.28 Einige weitere Jahre später läßt sie die »Elisabeth Matrei« ihrer Erzählung Drei Wege zum See in ähnlich imperialer Geste in die Kärntner Landschaft blicken und weit über das Sichtbare hinaus phantasieren: Auf dem Steilhang, der zur Autobahn abfiel am plötzlichen Ende des Weges 7, legte sich Elisabeth nieder, [...] sie hatte nie solchen Durst gehabt und hätte den See trinken mögen, zu dem sie einfach nicht hinunter kam, aber sie mußte sich wohl abfinden mit dem Gedanken, und sie kam auch, wie über so vieles, über den See hinweg, sie nahm das Dreiländereck ins Aug, dort drüben hätte sie gerne gelebt, in einer Einöde an der Grenze, wo es noch Bauern und Jäger gab, und sie dachte unwillkürlich, daß sie auch so angefangen hätte: An meine Völker! Aber sie hätte sie nicht in den Tod geschickt und nicht diese Trennungen herbeigeführt, da sie doch gut miteinander gelebt hatten, immer natürlich in einem Mißverständnis, in Haß und Rebellion [...]'' Hier (und an der folgenden Stelle noch stärker) greifen »Ich-Geschichte« der »Elisabeth Matrei« und Habsburg-mythographische Sentimentalität schon beinah unerträglich ineinander: Auf dem Höhenweg 1 kam sie wieder zur Zillhöhe mit den Bänken, und sie setzte sich einen Moment, schaute kurz auf den See hinüber zu den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slawonien, Kroatien, Bosnien, sie suchte wieder eine nicht mehr existierende Welt, da ihr von Trotta nichts geblieben war, nur der Name und einige Sätze, seine Gedanken und ein Tonfall.3°
28 I. Bachmann: Prag Jänner 64, WI, S. 169. 29 I. Bachmann: W Π, S. 444. 30 Ebd., S. 429.
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Letzte Wende Die politische Gegenwart tut immer noch ein übriges mit den Texten. Ich versage mir an dieser Stelle Reflexionen über den möglichen Zusammenhang von kaiserlich-königlich-habsburgischer Sentimentalität und gegenwärtiger Außenpolitik. Ich weiche aus, allerdings auf einen ähnlich gelagerten Fall: Heinz Czechowskis Gedicht Leopoldsberg aus dem »Wende«-Jahr 1989. Es trägt das Motto: »Asiens Atem ist jenseits. Ingeborg Bachmann«. Der bedeutungsschwangere Satz wird im Gedicht wiederholt: Asiens Atem istjenseits. Hier Erinnere ich mich an das, Wozu kein Erinnern Mehr nötig ist: an das, Was jetzt fern ist, an die Verflechtungen der Gewesenen Zeit. 31
Auch hier, an diesem Ort, werden die Verluste in der Geschichte aus der Gegenwart bilanziert: Wir sind nicht mehr, Was wir waren, wir waren nicht, was wir sind: blind Tasten wir nach den Gläsern.
»Hier«, so heißt es unmittelbar davor, Reden wir über Heiner Müller; Ich bin der Tod und Komme aus Ostberlin, Der Tod muß ein Wiener sein, der Tod Ist ein Meister aus Deutschland.
31 Heinz Czechowski: Mein Venedig. Gedichte und andere Prosa. Berlin 1989, S. 60-62, hier S. 61. Das Gedicht ist auch abgedruckt in: Wien im Gedicht (Anm. 6).
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Auch die Celan-Reminiszenz (die Todesßige hätte ursprünglich in Wien in der Zeitschrift »Der Plan« publiziert werden sollen) schließt an die Große Landschaft bei Wien an, wie bewußt, sei dahingestellt; zu den Verlusten seit dem Uberströmen der DDR-Flüchtlinge aus Ungarn zählt nach Czechowski einer, der gerade hier sichtbar ist und sogar (mit einer Geschichte von Anna Seghers) DDR-Literaturtradition repräsentiert: Die Geschichte, Eingeschrieben M i t Maschinengewehrsalven In den Putz vom Karl-Marx-Hof und Moritaten, Uberliefert Aus Josephinischem Zeitalter: Alles Vergebliche Mündet dort, W o die 7 Ihre Schleife beschreibt: Gaststätte ENDSTATION,
Alle Straßen, so hatte es bei Trakl geheißen, »münden in schwarzer Verwesung«; die Straßenbahn Nr. 7 mündet allerdings nicht beim Wiener Zentralfriedhof, wie Czechowski das andeuten will. Hier irrt der Dichter. Es ist die Linie 71. Alles Vergängliche ist freilich nur ein Gleichnis. Wir wollen aber pathetisch, nicht pedantisch enden, mit Czechowski (dem Schluß seines Gedichts), Bachmann und einem dritten Mann, Ludwig Wittgenstein, der uns schon aus ihrem Gedicht bekannt ist: W i r setzen uns auseinander, W i r haben uns auseinandergesetzt. A m Ende Erhebt sich das Schweigen Uber so vieles, Von dem nicht mehr Z u reden sein wird.
Giorgio Manacorda
Das Gewicht der Wiederholung Zu Thema und Variation (1953)
Thema und Variation In diesem Sommer blieb der Honig aus. Die Königinnen zogen Schwärme fort, der Erdbeerschlag war über Tag verdorrt, die Beerensammler kehrten früh nach Haus. Die ganze Süße trug ein Strahl des Lichts in einen Schlaf. Wer schlief ihn vor der Zeit? Honig und Beeren? Der ist ohne Leid, dem alles zukommt. Und es fehlt ihm nichts. Und es fehlt ihm nichts, nur ein wenig, um zu ruhen oder um aufrecht zu stehen. Höhlen beugten ihn tief und Schatten, denn kein Land nahm ihn auf. Selbst in den Bergen war er nicht sicher - ein Partisan, den die Welt abgab an ihren toten Trabanten, den Mond. Der ist ohne Leid, dem alles zukommt, und was kam ihm nicht zu? Die Kohorte der Käfer schlug sich in seiner Hand, Brände häuften Narben in seinem Gesicht und die Quelle trat als Chimäre vor sein Aug, wo sie nicht war. Honig und Beeren? Hätte er je den Geruch gekannt, er wär ihm längst gefolgt! Nachtwandlerischer Schlaf im Gehen, wer schlief ihn vor der Zeit?
Das Gewicht der Wiederholung
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Einer, der alt geboren wurde und früh ins Dunkel muß. Die ganze Süße trug ein Strahl des Lichts an ihm vorbei. Er spie ins Unterholz den Fluch, der Dürre bringt, er schrie und ward erhört: die Beerensammler kehrten früh nach Haus! Als sich die Wurzel hob und ihnen pfeifend nachglitt, blieb eine Schlangenhaut des Baumes letzte Hut. Der Erdbeerschlag war über Tag verdorrt. Unten im Dorf standen die Eimer leer und trommelreif im Hof. So schlug die Sonne zu und wirbelte den Tod. Die Fenster fielen zu, die Königinnen zogen Schwärme fort, und keiner hinderte sie, fortzufliegen. Die Wildnis nahm sie auf, der hohle Baum im Farn den ersten freien Staat. Den letzten Menschen traf ein Stachel ohne Schmerz. In diesem Sommer blieb der Honig aus.
Onirische Dolmen Die Gedichte der Ingeborg Bachmann sind steinerne Konkretionen des Unbewußten. Wie aneinandergereihte Steine stehen die Verse beieinander. Sie bilden kein in sich geschlossenes Mosaik, kein friedsames Bild, das einheidich, klar und beruhigend ist. Der Leser fühlt eine dunkle Unruhe, ohne daß er genau zu sagen wüßte, warum. Die Literaturkritik hat versucht, dies zu erklären (vielleicht wollte sie auch nur beruhigen): man
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Giorgio Manacorda
hat von Surrealismus gesprochen, von Expressionismus, von Analogien zur metaphysischen Malerei, besonders zu De Chirico. Ich will hier nicht dem Glaubwürdigkeitsgrad dieser Forschungshypothesen nachgehen. Viel eher möchte ich mich auf die Feststellung beschränken, daß die Schwierigkeiten beim Lesen der Gedichte der Bachmann nie »literarischer« Art sind, da es nicht ihre Absicht ist, literarisch zu experimentieren. Ihre scheinbare Unverständlichkeit ist keinem poetologischen Programm anzulasten. Termini wie »Projekt« oder auch »Labor« treffen nicht auf sie zu. In dem, was sie schreibt, liegt eine innere Notwendigkeit. Und diese Notwendigkeit berührt sie so stark, daß manche Bilder in ihren Gedichten geradezu ans Häßliche grenzen, als ob ihr nicht daran gelegen wäre, die Verse zu polieren oder das Beste aus dem Garten der Inspiration hervorzuholen. Ihre Poesie kann man keineswegs anmutig nennen, doch ist sie mit jener unverhofften und unvorherzusehenden Grazie in Berührung gekommen, die den ungeschliffenen, den nicht poetischen Bildern innewohnt, die wie Felsblöcke auf dem Papier zu stehen kommen. Bachmann gräbt keine Edelsteine aus. Auch bearbeitet sie sie nicht: sie holt ans Tageslicht, was sie findet - scheinbar ohne den Dingen eine bestimmte Ordnung zu geben. Präziser ausgedrückt, sie sprengt die ererbte (literarische) Ordnung und beginnt - fast könnte man sagen: versuchsweise - Stein um Stein in eine Beziehung zueinander zu bringen. Wir haben es mit einer ursprünglichen Art der Ordnung zu tun, mit der Ordnung der Wiederholung. Ohne Wiederholung ist keine Ordnung möglich: indem sie sich in der Wiederholung versucht, stößt sie, wie ein Kind, auf den Keim der Form. Von den Gedichten des ersten Buches, die dem Schema der Wiederholung folgen, möchte ich nur an Die große Fracht und Die gestundete Zeit erinnern. Man stößt auf etwas Primitives, als hörte man einer elementaren Trommelmusik zu: »standen die Eimer leer und trommelreif« (V 37-38). Die erklärte musikalische Struktur von Thema und Variation - das Gedicht, das ich zu analysieren beabsichtige - hat nichts Leichtes, ist nicht kantabel. Es geht hier allein darum, den onirischen Dolmen1 ihren Platz zuzuweisen.
Das Gewicht der Wiederholung
Das Thema wird von den beiden Eingangsstrophen des Gedichtes eingeführt: zwei Vierzeiler gereimter Verse nach dem ABBA-Schema:
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Dolmen: prähistorische Grabkammem aus Steinplatten, frz.-breton. Ursprungs.
Das Gewicht der Wiederholung
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»Thema« In diesem Sommer blieb der Honig aus. Die Königinnen zogen Schwärme fort, Der Erbeerschlag war über Tag verdorrt, die Beerensammler kehrten früh nach Haus. Die ganze Süße trug ein Strahl des Lichts in einen Schlaf. Wer schlief ihn vor der Zeit? Honig und Beeren? Der ist ohne Leid, dem alles zukommt. Und es fehlt ihm nichts. W i r haben es mit einem elffüßigen Vers a maiore zu tun, regelmäßig auf der sechsten und der zehnten Silbe betont. Die elfte unbetonte Silbe fehlt. Es liegt der ziemlich seltene Fall eines achtfußigen stumpfen Siebensilbers vor, dem ein stumpfer Fünfsilber folgt. Die Gedichtform, auf die I. Bachmann Bezug nimmt, ist also das Sonett. Wie ich bereits im Fall der Große(n) Fracht einmal Gelegenheit hatte anzudeuten2, bedeutet Sonett im Provenzalischen Melodie, Motiv. W i e in Die große Fracht beginnt das Gedicht auch hier mit der Einführung des Themas, aber (und nun zitiere ich mich selbst) »in der große(n) Fracht ist das Thema in den ersten drei Elfeilbern enthalten (zwei davon sind vom metrischen Standpunkt aus mit denen aus Thema und Variation identisch), und jeder Vers beinhaltet ein in sich geschlossenes Motiv, leitet je eine neue Strophe ein und beschließt sie auch: eine musikalische Symmetrie, in der die Reprise des Themas die Ausführung oder die Variation einrahmt und abschließt. Im vorliegenden Fall haben wir es vielleicht eher mit einer Ausführung als mit einer Variation zu tun. I. Bachmann spielt ja nicht mit den möglichen Refraktionen eines Themas, ganz anders als im Gedicht Thema und Variation, wo dieses Anliegen ganz eindeutig ist, sondern es geht ihr hier um das strenge Abwickeln eines Diskurses«}. Während ich diese Überlegungen zu Die große Fracht anstellte, habe ich mich gefragt, ob sie auch auf Thema und Variation hätten zutreffen können. Was war mit dem Verb »spielen« gemeint, das ich, nicht von ungefähr, in Anführungszeichen gesetzt habe? Heute neige ich eher dazu, Die große Fracht als ein Spiel mit der Form zu betrachten, mit ihrer durch die Wiederholung dreier Verse bedingte Strukturvariation des Sonetts, stärker jedenfalls als Thema und Variation, wo die Variationen wenig nach Spiel
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Vgl. G . Manacorda: Ingeborg Bachmann. In: Anna Chiarloni, Ursula Isselstein (Hgg.): Poesia Tedesca del Novecento. Torino 1990, Piccola Biblioteca Einaudi 524, S. 205-209, bes. S. 207.
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Ebd.
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aussehen (das Spiel mit der Virtuosität), sondern vielmehr auf die Sicherstellung irgendeiner Wahrheit ausgerichtet zu sein scheinen, ganz gleich, ob die metrischen Schemata dabei überzogen werden, ob auf sie ganz verzichtet wurde, so wie auf die Regelhaftigkeit der literarischen Formen überhaupt, in diesem Fall auf die kanonische Form des Sonetts. Bachmann hat in einem einzigen Gedicht zustande gebracht, was Rilke mit Sonette an Orpheus einem ganzen Gedichtzyklus anvertraut hat: die allmähliche Preisgabe der geschlossenen Form, präziser ausgedrückt, die Auflösung der Form des Sonetts von innen her, da es den Möglichkeiten des Sagens und der Dringlichkeit des Themas nicht mehr genügte. In diesem Sinn geht Die große Fracht den umgekehrten Weg: I. Bachmann verformt die herkömmliche Struktur, indem sie ihr durch die Wederholung der Elemente eine übermäßig geschlossene Form verleiht: Das Gedicht baut auf immer wiederkehrenden Klangfiguren auf. Vielleicht kann man sogar behaupten, daß Bachmanns Die große Fracht sich mit dem Thema der Wiederholung auseinandersetzt, so wie sich das Gedicht, das wir jetzt vornehmen, mit dem der Variation.
Der Angelpunkt des Gedichtes Im Fall von Thema und Variation ist das Problem nicht minder schwerwiegend. Es ist im Gegenteil sogar komplexer. Das Variationsschema ähnelt anfangs dem Schema, das der große(n) Fracht zugrunde liegt: aus der Reprise eines Teils des Themas entsteht eine Strophe: »Variation« Und es fehlt ihm nichts, nur ein wenig, um zu ruhen oder um aufrecht zu stehen. Höhlen beugten ihn tief und Schatten, denn kein Land nahm ihn auf. Selbst in den Bergen war er nicht sicher - ein Partisan, den die Welt abgab an ihren toten Trabanten, den Mond. D e r ist ohne Leid, dem alles zukommt, und was kam ihm nicht zu? Die Kohorte der Käfer schlug sich in seiner Hand, Brände häuften Narben in seinem Gesicht, und die Quelle trat als Chimäre vor sein Aug, wo sie nicht war.
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Honig und Beeren? Hätte er je den Geruch gekannt, er war ihm längst gefolgt. Nachtwandlerischer Schlaf im Gehen, wer schlief ihn vor der Zeit? Einer, der alt geboren wurde und früh ins Dunkel muß. Die ganze Süße trug ein Strahl des Lichts an ihm vorbei. Er spie ins Unterholz den Fluch, der Dürre bringt, er schrie und war erhört: die Beerensammler kehrten früh nach Haus! Als sich die Wurzel hob und ihnen pfeifend nachglitt, blieb eine Schlangenhaut des Baumes letzte Hut. Der Erdbeerschlag war über Tag verdorrt. Unten im Dorf standen die Eimer leer und trommelreif im Hof. So schlug die Sonne zu und wirbelte den Tod. Die Fensterfielenzu, die Königinnen zogen Schwärme fort, und keiner hinderte sie, fortzufliegen. Die Wildnis nahm sie auf, der hohle Baum im Farn den ersten freien Staat. Den letzten Menschen traf ein Stachel ohne Schmerz. In diesem Sommer blieb der Honig aus. Die Variation geht vom letzten Motiv des »Themas« aus - genau gesagt, von der zweiten Hälfte des letzten Elfsilbers. Aus »Und es fehlt ihm nichts« entsteht die erste Strophe. Genauso verhält es sich mit der Reprise der ersten Halbzeile des achten Verses so-
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wie mit der zweiten Halbzeile des siebten, die zusammen einen ganzen Satz ergeben (»Der ist ohne Leid, / dem alles zukommt«), aus dem die zweite Strophe hervorgeht. Es sei mir an dieser Stelle eine Überlegung zur Bedeutung des Enjambements füir das Thema dieses Gedichtes gestattet. Während wir in der ersten Quartine auf keine Enjambements stoßen, haben wir in der zweiten Quartine davon zwei: »Die ganze Süße trug ein Strahl des Lichts / in einem Schlaf« und »Der ist ohne Leid / dem alles zukommt«. Wie wir gleich sehen werden, weist das erste Enjambement eine bedeutungsstarke Unregelmäßigkeit auf. Doch bleiben wir vorerst beim zweiten Enjambement, das größere formale Implikationen mit sich fuhrt. Hier ist das Spiel der Variation äußerst subtil und fast ausschließlich visuell wahrnehmbar. Läßt man die beiden Halbverse aufeinander folgen (wie in »Variation«), so ergibt sich ein Elfsilber a maiore; doch wenn wir aus den beiden Halbversen eine einzige Zeile machen könnten, hätten wir auch in »Thema« einen Elfsilber, der syntaktisch perfekt ist und sich zu dem der »Variation« spiegelbildlich verhält: »Dem alles zukommt, der ist ohne Leid.« Der Satz wird umgedreht, der Vers jedoch bleibt gleich, ebenso der Inhalt. Die Mikrostruktur des Verses verweist auf den Bau des gesamten Gedichtes. In »Variation« wird die Verssequenz des »Themas« umgedreht: I. Bachmann beginnt mit dem letzten Vers des »Themas« und rückt dann bis zum Eingangsvers vor, der das Gedicht spiegelbildlich abschließt. Außerdem ist es von Bedeutung, daß durch die Verkettung der beiden Halbverse zu einem Elfsilber das Enjambement in der Variation aufgehoben wird, was auf den Wunsch verweisen könnte, die Ordnung wiederherzustellen. Doch kehren wir zur Gedichtanalyse zurück. Mit der ersten Halbzeile des siebten Verses: »Honig und Beeren?«, die auch zum »Thema« gehört, stoßen wir auf einen Hiatus in der regelmäßigen Reprise des Themas: die Wiederholung kommt zwar an den Anfang der Strophe zu stehen, doch zeigt sie sich unfähig, aus dieser Stellung heraus einen aussagestarken Diskurs auszulösen, also eine Strophe zu erzeugen. Die dritte Strophe der »Variation« endet in einem einzigen Vers, wenngleich es sich um einen langen, ja um den längsten Vers des gesamten Gedichtes handelt - so, als ob er der Kürze des ersten die Waage halten wollte. In den darauffolgenden Strophen steht das Thema nicht mehr am Anfang: die Form ist lockerer geworden. Die »Variation« besteht aus sieben Strophen, denen die Schlußklausel folgt. Die vierte ist also die zentrale Strophe, der Angelpunkt des Gedichtes. Wir haben es hier mit der ersten Strophe zu tun, die ohne Reprise einer aus dem »Thema« stammenden Halbzeile beginnt (er steht im zweiten Vers und ist die zweite Halbzeile des sechsten Elfsilbers: »wer schlief ihn vor der Zeit«), Wie wir gleich sehen werden, enthält der erste Vers dieser Strophe jedoch die erste markante, sinnträchtige Wiederaufnahme des eigendichen Themas. Hier wollen wir nur festhalten, daß die Strophe, die in »Varia-
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üon« einerseits eine offenere Form einfuhrt, andererseits auch auf eine neue Verengung hinweist: der vorletzte Vers greift den fünften Vers des »Themas« wieder auf, doch handelt es sich hier zum ersten Mal um die Wiederholung des ganzen Verses.
Die Wiederaufnahme des Elfsilbers
Die Preisgabe der strophischen Regelmäßigkeit erfolgt gleichzeitig mit der Wiederherstellung der metrischen Regelmäßigkeit (auf die ja bereits die Aufhebung des Enjambements im Eingangsvers der zweiten Strophe der Variation verwiesen hatte). Von strophischer Regelmäßigkeit zu sprechen ist allerdings nicht ganz zutreffend. Die Strophen der »Variation« sind ja in der Tat alle unregelmäßig. Besser wäre es daher, von einem Verzicht auf die Regelmäßigkeit im Geneseprozeß der Strophen, oder noch genauer, von der Preisgabe eines unflexiblen Schemas in der Ausführung der Variation zu sprechen, die in dem Augenblick notwendig wird, in dem I. Bachmann die Gewißheit des Verses zurückgewinnen und sich mit größerer Dringlichkeit des Themas vergewissern will, in dem sie sich eine größere Formfreiheit zugesteht, was sie vermudich dazu nötigt, sich auf das Cantabile, auf die Regelmäßigkeit des Elfsilbers zu stützen. Vom strukturellen Standpunkt aus gesehen, wird die Reprise des Themas von nun an sehr frei gehandhabt. Die Wiederaufnahme des Elfsilbers scheint diese große kompositorische Freiheit zu ermöglichen und zu gewährleisten: der vierte Elfsilber des »Themas« (»die Beerensammler kehrten früh nach Haus«) steht in der Mitte der fünften Strophe der »Variation«, die dann vom dritten Elfsilber (»der Erdbeerschlag war über Tag verdorrt«) abgeschlossen wird. In der sechsten Strophe findet keine Reprise des Themas statt, allerdings sieht es nur so aus, da in Wirklichkeit der Vers, der die vorausgehende fünfte Strophe beschließt, auf chiffrierte und versetzte Art die sechste einleitet. Wenn dem tatsächlich so ist, wie wir gleich sehen werden, stehen wir vor einer verkappten Wiederaufnahme des Schemas, die die Ausführung der ersten drei Strophen der »Variation« geregelt hatte: ein Vers aus dem »Thema« am Strophenanfang. Es handelt sich also nur um eine scheinbare Freiheit. Nach der großen Formfreiheit in der vierten Strophe scheint Bachmann wieder zur Regelmäßigkeit zurückkehren zu wollen. Der zweite Elfsilber des »Themas« (»Die Königinnen zogen Schwärme fort«) ist der zweite Vers der letzten Strophe, und der erste Elfsilber des gesamten Gedichts steht isoliert an dessen Ende. Die ganze »Variation« scheint somit um die zentrale Strophe zu kreisen, in der größte stilistische Freiheit mit größter Sinnverdichtung zusammenfällt, um dann allmählich zu einer Regelmäßigkeit des Aufbaus zurückzufinden: nahtlos schließt sich denn der Kreis in der Ubereinstimmimg des Incipits und der Schlußklausel.
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Aber schließt sich der Kreis wirklich und endgültig, oder ist dies nur ein vorläufiger Zustand ? Der letzte Elfsilber ist der erste Vers des Themas: alles ist von ihm ausgegangen und von ihm könnte alles erneut ausgehen - das Thema kehrt wieder, eine neue Variation ergibt sich. Das Thema ist dasselbe, die Variation potentiell eine andere. Doch geschieht dies nicht ständig in der Dichtung? Handhabt der Dichter nicht immer, bewußt oder unbewußt, Variationen ein und desselben Themas? Thema und Variation handelt, unter anderem, von der Dichtung, und zwar insofern, als Bachmann, dem Inhalt zuvorkommend, die Form als erste aussagen lassen wollte: meine Dichtung ist die Variation eines Themas, das nie endende Wiederaufgreifen ein und desselben Sinngefiiges. Welches?
Die Unfruchtbarkeit Die ersten vier Elfisilber des »Themas« beschreiben eine trostlose Landschaft: Bilder der Unfruchtbarkeit. Der Sommer bringt weder Honig noch Erdbeeren hervor; dem Leben entspringt keine Süße, mag es auch noch so vielversprechend sein (dieselbe Aussage begegnet uns übrigens in Die große Fracht). Keine Früchte weit und breit. Die Dürre ist ausweglos: »die Quelle / trat als Chimäre vor sein Aug« (V. 19-20). Angesichts dieser Wüste können die Menschen nicht anders, als sich der Welt zu entziehen und nach Hause zurückzukehren. Doch ist das alles? Wenn dem so wäre, wäre die Lektüre dieses Gedichtes hürdenlos und ohne große Überraschungen. In der Tat stellt uns bereits die zweite Quartine vor die ersten Schwierigkeiten. Außer den beiden expliziten Fragen (»Wer schlief ihn vor der Zeit?« und »Honig und Beeren?« V 6-7) kann man weitere Fragen stellen: Was bedeutet, daß ein Strahl des Lichts in einen Schlaf dringt und eine ganze Süße trägt? Und wer ist derjenige, dem nichts fehlt? Um uns in einer Antwort zu versuchen, müssen wir auf das zweite Enjambement zurückkommen. Der einzige Satz des »Themas«, der sich in der »Variation« nicht wiederholt, lautet: »Die ganze Süße trug ein Strahl des Lichts / in einen Schlaf« (V 5). Ein Satz, der sich in der Reprise (anders als in den anderen Fällen) auf die Wiederholung des Elfsilbers beschränkt. Somit geht »in einem Schlaf« verloren und wird durch »an ihm vorbei« ersetzt. In der Variation wird also der Verlust der Süße und des Lichts angezeigt. Vom Strukturellen her ist es allerdings von Bedeutung, daß das entscheidende Wort »Schlaf« weggefallen ist. Bestimmte Verluste innerhalb eines Gedichts sind nie zufällige Verluste. Außerdem ist der Schlaf eine Voraussetzung für den Traum, und der Dichter träumt mehr als jeder andere (sogar mit offenen Augen) die Träume aller Menschen. Es ist also einigermaßen verdächtig, daß Bachmann das Lexem Schlafübergangen hat. Bei erneuter Lektüre des Gedichts fällt uns sofort auf, daß Schlaf am Anfang
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der vierten Strophe der Variante auftaucht, kurz bevor die Wiederholung einsetzt, die es betroffen hätte. Das Lexem steht somit nicht hinter, sondern vor Die ganze Süße, was, wie bereits angedeutet, von der üblichen Handhabung der Wiederholungen abweicht. Der Schlafsteht vor »Wer schlief ihn vor der Zeit«, in derselben Reihenfolge, also, wie im »Thema«, wo »in einem Schlaf« den ersten Teil des Elfsilbers bildet, der mit »Wer schlief ihn vor der Zeit« endet Dazu kommt jetzt, daß »Schlaf« in neuer Konstellation im Eingangsvers der vierten Strophe wiederkehrt: »Nachtwandlerischer Schlaf im Gehen, / wer schlief ihn vor der Zeit?« Wie im sechsten Vers des »Themas«, wird auch hier, wenngleich nicht im selben Vers, dem Substantiv Schlaf das dazugehörige Verb schlafen zugeordnet. Der Schlaf kehrt also zweimal wieder und wird beide Male durch das Verb verdoppelt. Daß nun die Reprise des Themas nicht erfolgt, ist also von nicht zu übersehender, zentraler Bedeutung für dieses Gedicht. Kann man vielleicht sogar behaupten, daß das Lexem trotz allem keineswegs verschwunden ist? Mir scheint, daß der Schlaf, auch ohne zitiert zu werden, am Anfang der »Variation« auftaucht, so, als ob er das Thema auf unterschwellige Weise erneut betonen wollte: »Und es fehlt ihm nichts, nur ein wenig, / um zu ruhen oder um aufrecht zu stehen.« Was fehlt, um zu ruhen, wenn nicht der Schlaf? Oder um aufrecht zu stehen - schwerlich ist dies ist nur körperlich gemeint, da die Bedeutung tiefer liegt: Man kann nicht aufrecht stehen, wenn man nicht schläft, weil der Schlaf und also der Traum die Weichen stellt, um bis zu jenem Sinn vorzustoßen, der es uns ermöglicht zu überleben. Wir haben es demnach mit einem Abhandenkommen zu tun, das, wie jede Vedrängung, äußerst vielsagend ist Doch handelt es sich meines Erachtens nach nicht um eine Verdrängung, sondern viel eher um eine Verschiebung: so wie wir unbewußt die Symptome verschieben, die ein existentielles Unbehagen anzeigen, so wird das Schlüsselwort diese Gedichtes ausgesprochen, verborgen, um dann dort wieder aufzutauchen, wo wir es am wenigsten erwarten. Variation ist demnach nicht nur ein musikalischer oder formaler Begriff, sondern ein substantieller Begriff, die Chiffre schlechthin. Wenn der Schlaf das eigendiche Thema ist, so ist die Variation die Art und Weise, in der das Thema sich verändert, verschwindet und wiederauftaucht: Variation bedeutet Verschiebung. Bleiben wir bei der Funktion des Schlafes. Nehmen wir uns die beiden Verse der zweiten Quartine des »Themas« vor: »Die ganze Süße trug ein Strahl des Lichts / in einem Schlaf. Wer schlief ihn vor der Zeit?« Wenden wir uns zunächst der zweiten Halbzeile des zweiten Verses zu. Bachmann stellt sich die Frage, wer den Schlaf »vor der Zeit« geschlafen hat. Was meint sie nun mit dieser mehrdeutigen Aussage: »vorzeitig«, »zur falschen Zeit« oder gar »außerhalb der Zeit«, in einer nicht zeitlichen Dimension. Letzteres scheint mir die einzig sinnvolle Interpretation zu sein. So, als ob es sich um einen Schlaf handelte, der vor der Erschaffung der Zeit geschlafen worden ist,
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in einem Raum, in dem die Zeit von keiner Bedeutung ist. »Vorzeitig« würde den Begriff a quo bedingen, was, wie mir scheint, nicht gegeben ist; »zur falschen Zeit« impliziert einen richtigen Zeitpunkt, von dem auch nicht die Rede ist. »Vor der Zeit«, hingegen, verweist auf einen Schlaf, der der Geburt vorausgegangen war: Schwer wäre sonst sowohl das einzig positive Moment des Gedichtes zu erklären, jener Sonnenstrahl, der den Schlaf mit seiner ganzen Süße erhellt, als auch die Einbuße des Schlafes in der Reprise. Der glückliche, strahlende und süße Schlaf vor der Geburt ist auf immer abhanden gekommen und verschwunden. Jener Schlaf verwandelt sich in der »Variation« in einen »nachtwandlerischen Schlaf im Gehen«. Eine Möglichkeit, das Leben schlafend zu verleben (erleben?) und sich wiewohl im Raum, so doch außerhalb der Zeit zu bewegen. Im Lauf unserer Existenz wappnen wir uns mit Verteidigungsstrategien und schieben den Schlaf zwischen uns und den Schmerz. Wir bewegen uns wie Schlafwandler fort und versuchen umsonst, uns in den paradiesischen Zustand des Schlafes zurückzuversetzen, der dem Leben vorausgegangen ist. Vielleicht können wir Thema und Variation als ein Gedicht über die Schlaflosigkeit begreifen, wenngleich keine schlaflose Nacht beschrieben wird. Es sagt uns vielmehr, daß das Leben nichts anderes als ein Zustand schmerzlicher Schlaflosigkeit ist, vor dem man sich nur schützen kann, wenn man im wachen Zustand schläft. Dieses Gedicht erträumt den Schlaf.
Der Partisan Eine sarkastische Frage ist die dritte Reprise des Themas: »Honig und Beeren?« Das »er« kennt noch nicht einmal ihren Duft. Die Welt hat ihm nie Gelegenheit geboten, sich dieser Früchte zu erfreuen, sonst wäre er zumindest ihrem Geruch gefolgt Er wird dazu gezwungen, in einer Landschaft des Schattens umherzuirren, in Höhlen zu kriechen und sich dort zu verstecken, wild vor Wut, ausgeschlossen zu sein (»denn kein Land nahm ihn auf«, V 12). Er ist unsicher, schutzlos, wo immer er auch ist, sogar in den Bergen, wo er sich versteckt hält. Er versteckt sich, weil er ein Partisan ist, weil er teilgenommen hat (preso parte), weil er gegen die Welt Partei ergriffen hat, weil er den Mut hatte, zu fühlen, zu denken und sogar zu sagen, was keiner zu äußern wagt: daß die Welt die Hölle ist. Diese Waghalsigkeit trägt ihm die Strafe ein: die Welt hat ihn »an ihren toten Trabanten, den Mond« (V 15) abgegeben. Der Partisan hat sich mit seiner Gesinnung die Nacht, die Schatten, den Mond und somit den Tod eingehandelt. Er war ja »Einer, der alt geboren wurde« (V. 26), und daher früh sterben muß (»und früh ins Dunkel muß«, V 27). Er ist alt geboren, keine Begeisterung kommt ihn an: auf der Haut seiner Seele zeichnen sich sogleich die Verletzungen der Zeit (und der Unwirt-
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lichkeit) ab. Kaum geboren, hat er zu sterben begonnen. Die zentrale Strophe in »Variation« enthält eine grundlegende Opposition. Der Kontrast Licht/Schatten erfaßt in diesem Gedicht nur das, was entweder nach oder vor dem Leben existiert. Er betrifft nur die Welt außerhalb der Zeit: strahlend ist der Zustand vor der Geburt, dunkel ist der Tod. Das Leben, die wirkliche Welt hat an der Aussagekraft des Lichts nicht teil: sie ist in ein neutrales und gleichförmiges Hell getaucht. Wie aus den letzten beiden Versen der vierten Strophe ganz deutlich wird, geht das Licht, das die »ganze Süße« trug, am Partisanen vorbei, ohne ihn zu streifen. Die Reprise sagt uns klar und deudich, daß jene Süße, die wir vor der Zeit gekannt haben, nicht von dieser Welt ist. Es nimmt also nicht Wunder, daß die Wut des Partisanen in der fünften Strophe der »Variation« voll zum Ausbruch kommt: »Er spie ins Unterholz den Fluch, / der Dürre bringt, er schrie / und ward erhört: / die Beerensammler kehrten früh nach Haus!« (V 30-3 3). Die Macht der Verfluchten! Er wurde erhört, die Felder sind verdorrt, die Bienen haben keinen Honig mehr erzeugt. Er trägt die Schuld daran. Der Unglückselige nimmt das ganze Übel der Welt auf sich. Er zwingt die Bauern, mit leeren Eimern heimzukehren, mit jenen Eimern, auf denen sogar die Sonne den Tod wirbelte. Aus diesem Grund schließen sich alle Fenster vor ihm: »kein Land nahm ihn auf«. Doch mir scheint, daß damit noch mehr ausgesagt ist: Der Tod vereint den Mond (»den toten Trabanten«) und die Sonne (sie »wirbelte den Tod«), den Tag und die Nacht (wie auch den Sommer, der so unfruchtbar ist wie der Winter) im undifferenzierten eintönigen Licht des Todes zu Lebzeiten.
Die Haut der Seele Bis zur Besessenheit wiederholt das Gedicht, daß das Leben reiner Schmerz ist. Die Reprise der zweiten Halbzeile des siebten Verses aus dem »Thema« gekoppelt mit dem ersten Halbvers des achten spricht es deudich aus: »Der ist ohne Leid, / dem alles zukommt« (V 16). In der »Variation« wird dieser Vers sarkastisch durch die Frage ergänzt: »und was kam ihm nicht zu?« (V 17). Man hat ihm nichts verweigert, er hat alles bekommen: »Die Kohorte / der Käfer schlug sich in seiner Hand, Brände / häuften Narben in seinem Gesicht« (V 17-19). Insektenheere haben ihm die Hände zerfressen und Feuerbrände sein Gesicht zernarbt. Die Beschreibung einer Aggression, die es auf die Haut abgezielt hat, unsere feinnervigste Abrenzung zur Außenwelt hin. Ich glaube, daß man zu Recht behaupten kann, daß unsere erste Berührung mit der Welt über die Haut erfolgt. Sofort nach der Geburt reagiert die Oberfläche unseres Körpers auf die äußeren Einflüsse und auf das Verhalten der anderen Lebewesen: Die Luft tut weh, als ob sie voller Nadeln wäre - oder voller Bienen.
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Bei näherer Lektüre der fünften Strophe wird ganz deutlich, daß diese Besessenheit der Haut vom Bild der Baumwurzel bekräftigt wird. Die Wurzel verwandelt sich in eine Schlange, gleitet weg und läßt auf dem Boden ihre Haut zurück. »Als sich die Wurzel hob / und ihnen pfeifend nachglitt, / blieb eine Schlangenhaut des Baumes letzte Hut« (V. 34-37). Die Schlangenhaut entspricht der Baumrinde und die Baumrinde der Schlangenhaut: In jedem Fall handelt es sich um die äußere Verkleidung lebendiger Wesen, um ihre letzte Abwehr (»letzte Haut«). Warum habe ich nun weiter oben behauptet, daß der letzte Vers der fünften Strophe in Wahrheit der erste der sechsten ist: die Rede von der Wurzel und der Schlangenhaut endet ja bereits mit dem vorletzten Vers, genau gesagt, mit »letzte Haut«. Der darauffolgende Vers (»Der Erdbeereschlag war über Tag verdorrt«) steht zusammenhanglos da (vielleicht eine kleine Verfremdungsstrategie) und gehört vom Sinn her zur nächsten Strophe: Der verdorrte Erdbeerschlag bestimmt die Bauern heimzukehren, ins Dorf, wo die zur Ernte bestimmten Eimer leer stehen. Im Dorf, wo man den Hauch des Todes verspürt, da die Ernte ausgeblieben ist, werden die Fenster als Zeichen der Trauer oder der Verzweiflung geschlossen. Nun ist es wohl ganz deutlich, daß der erste Vers der siebten Strophe der letzte der sechsten ist: Die Fenster, die geschlossen werden, haben mit den Bienen nichts zu tun. Kommen wir auf die Wurzel und die Schlange zurück. Das metamorphe Element scheint das »er« nicht in Mitleidenschaft gezogen zu haben, doch ist die Aggression in diesem Gedicht, wie wir gesehen haben, vor allem kutaner Art. Pflanzen, Tiere und menschliche Wesen besitzen nur eine fadenscheinige Hülle, die sie vor der Außenwelt abschirmt und von ihr trennt - eine Haut, die avisgewechselt wird, die nie dickwandiger wird, wie die Schlangenhaut, die abgestreift wird, wenn sie alt und spröde ist, um einer neuen Haut Platz zu machen, die anfällig und verwundbar ist. Als ob Bachmann sagen wollte, daß die Wandlungsprozesse, die Metamorphosen (unser Altern), denen wir ausgesetzt sind, die Feinnervigkeit unserer Haut keineswegs abzuschwächen oder abzuhärten vermögen: so, als ob wir uns ohne Ende zu häuten hätten, um endlos verwundbar zu bleiben. Alle Lebewesen dieser Erde teilen das gleiche Schicksal, das Schicksal des Schmerzes und des Todes.
Der Stachel Die Bienen, der Honig, die Erdbeeren, der Sommer. Mit der fünften Strophe fuhrt Bachmann eine klare Unterscheidung ein: auf der einen Seite der Mensch, auf der anderen die Natur. Die Natur ist nun aber nicht mehr mentale Landschaft, bloßer Widerschein oder Metapher der Stimmung des Autors. Am Anfang dieses Gedichts diente
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sie dazu, die Gefühllosigkeit und die destruktive Unfruchtbarkeit des »er« zu spiegeln und wiederzugeben. In der Mitte der fünften Strophe der »Variation« beginnt die Natur, ihr eigenes Leben zu leben. Der Baum, einem lebenden Wesen gleich, hebt eine Wurzel, als wäre es ein Bein oder ein Fuß. Die Wurzel wird zu einem Tier. Als erstes kann man bemerken, daß zwischen Pflanzen und Tieren kein Unterschied gemacht wird. Diese Erkenntnis veranlaßt Bachmann, in der letzten Strophe vom Neid fur die Bienen zu sprechen, die von der Wildnis aufgenommen worden sind (niemand hat sie daran gehindert, uns würde man es verwehren, falls wir in den Urzustand zurückkehren wollten), aufgenommen vom hohlen Baum: »den ersten freien Staat«. Den Bienen ist es erlaubt, in die vollkommene Symbiose mit dem Baum zurückzufinden. Ist es zu gewagt, wenn ich behaupte, daß der Baum, der die Bienen aufnimmt, hohl ist wie ein Leib, wie der Mutterleib der Natur, aus dem metamorphisch die Schlange »erwächst«, jene Natur, zu der wir nicht zurückkönnen? Was ist der erste »freie Staat« nicht anders als der Zustand vor der Geburt? Das Insistieren auf der von der Welt verübten kutanen Aggression bestätigt, wie mir scheint, die amniotische Aufschlüsselung des Schlafs und seiner schlafwandlerischen Verteidigungsstrategie. Der Schlaf im wachen Zustand ist eine zusätzliche Haut der Seele, ein Regressionsersatz. Die wirkliche Regression ist ja nur den Tieren zugänglich, den unfruchtbaren Bienen, die gleichzeitig töten und erretten können: »Den letzten Menschen traf / ein Stachel ohne Schmerz.« Ohne Schmerz. Der Schmerz endet mit dem Tod. Der einzige Unterschied, der zwischen dem »er« und den übrigen Lebewesen besteht, wird jetzt unmißverständlich: den Bienen ist eine glückliche Heimkehr in die Natur gestattet, dem Partisanen bleibt nur die unglückliche Regression, ihm bleibt nur der Tod. Das Gedicht endet nicht umsonst mit der Eingangsmetapher der Unfruchtbarkeit. Selbst der beste Teil des Lebens, der Sommer, ist unfruchtbar: kein Honig, keine Süße. Süße, Honig und Licht gehören allein dem Zustand vor der Zeit an. Das letzte menschliche Wesen, der Partisan, der auf den Mond ausgewiesen wurde und außerhalb der Zeit lebt, weil er schlafwandelt, ist wohl niemand anderes als der Dichter selbst. Der Dichter findet durch den Stachel einer Biene den Tod, durch ein Wesen, daß Süße erzeugen kann, doch durch den Sommer unfruchtbar geworden ist Es mutet wie Selbstmord an, ein bewußtes Suchen nach Frieden. Durch die plausible Identifizierung des Dichters mit der Biene scheint der Kernpunkt des poetischen Schaffens angesprochen zu werden: Die vorherrschende Angst verweist auf die dichterische Unfruchtbarkeit, auf die Angst, nicht mehr fähig zu sein, Honig abzusondern, gleichbedeutend mit der ursprünglichen Nahrung, dem Sinn der Dinge. Alle menschlichen Wesen sind in der Lage, Sinn abzusondern. Doch die Dichter sind vor allen anderen dazu fähig. Wenn das
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nicht mehr geschieht, oder wenn die Furcht aufkommt, daß es nicht mehr geschehen könnte, dann bleibt nur der Tod. Der Dichter gibt sich den Tod durch den Stachel seines unfruchtbaren Doppelgängers. Deutsch von Ursula Bavaj
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Thematisierungen der Schrift Uber Bachmanns Brief in zwei Fassungen
Brief in zwei Fassungen
Rom im November abends besten Dank das glatte Marmorriff die kalten Fliesen die Gischt der Lichter eh die Tore schließen der Klang mit dem erfrorne Gläser springen der Singsang den sie aus Gitarren wringen eh sie die Schädel in die Münzen stanzen auf die Arena mit Zypressenlanzen! der Holzwurm ist bei mir zu Usch gesessen wie wohl ein Blatt aussieht das Raupen fressen? Und Herbst in Nebelland die bunten Lumpen der Wälder unter großen Regenpumpen ob es die Käuzchen gibt das lodeswerben die Drachen die in warmen Sümpfen sterben das Segel schwarz den Unglücksschrei der Raben den Nordwind um die Wasser umzugraben das Geisterschiff die Halden und die Heiden schuttüberhäuft das Haus die Trauerweiden verschuldet und vertränt am Strom aus Särgen den Wahnsinn den sie aus der Hefe bergen Immer und Nimmermehr gemischt zum Trank dein wehes Herz vergötternd alle Leiden vernichtet und verloren liebeskrank... Nachts im November Rom Einklang und Ruh der Abschied ohne Kränkung ist vollzogen die Augen hat ein reiner Glanz beflogen die Säulen wachsen aus den Tamarinden ο Kümmel den die blauen Töne binden! es landen Disken in den Brunnenmitten
Rita Svandrlik
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sie drehen sich zu leichten Rosenschritten wollüstig dehnen Katzen ihre Krallen der Schlaf hat einen letzten Stem befallen der Mund entkommt den Küssen ohne Kerben der Seidenschuh ist unverletzt von Scherben rasch sinkt der Wein durch dämmernde Gedanken springt wieder Licht mit seinen hellen Pranken umgreift die Zeiten schleudert sie ins Heute die Hügel stürmt die erste Automeute vor Tempeln paradieren die Antennen empfangen Morgenchöre und entbrennen für jeden Marktschrei Preise Vogelrufe ins Pflaster taucht die Spiegelschrift der Hufe die Chrysanthemen schütten Gräber zu Meerhauch und Bergwind mischen Duft und Tränen ich bin inmitten - was erwartest du?
Ich hoffe, daß niemand, wenn das möglich wäre, die Hand heben möchte, von der Frage beunruhigt: Was will uns der Dichter hier sagen? Aber welcher Beobachtungen sind wir denn fähig, was könnte denn hervorgehen aus einer Beschäftigung mit diesem Gedicht. (Ingeborg Bachmann, Frankfurter Vorlesungen) Brief in zwei Fassungen, ein Titel, der in seiner Nüchternheit selbstironisch und paradox klingt; soll die Bezeichnung »Brief« für einen lyrischen Text ein ambivalentes Licht auf das Gedicht werfen? Ein Vergleich des Titels mit den Uberschriften berühmter literarischer Episteln verstärkt den Eindruck einer ungewöhnlichen sachlichen Einengung: Normalerweise wird nämlich in den Überschriften der Autor oder der Herkunftsort erwähnt, was auf den beschreibenden Charakter des Briefes deutet. Wenn dagegen der Adressat im Titel erscheint, wird der kommunikative Aspekt der Mitteilung hervorgehoben: die Botschaft soll nicht ohne Resonanz bleiben, sie wartet auf eine Antwort.1 ι
Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine veränderte (»zweite«) Fassung der italienischen Version »Una scrittura speculare.
borg Bochmann, S.
201-212.
Brief in zwei Fassungen (1956)«. In: L .
Reitani
(Hg.)·. La lirica di Inge-
Thematisierungen der Schrift
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Es gibt ein Fragment von Ingeborg Bachmann, das sich spiegelbildlich zu diesem Gedicht verhält: Das Gedicht an den Leser. Das Gedicht verfaßt hier einen Brief an seinen Adressaten - einen Brief, von dem wir nur eine fragmentarische, aber keine zweite Fassung haben - , um zu beteuern, daß die Mitteilung, die Bewegung auf den anderen zu, das Ziel der Schrift ist, »obwohl der Ort, von dem aus gesprochen wird, in eine fatale Einsamkeit verlegt ist« (Ι\ζ 203). So erscheint der Verweis auf die Celansche Metapher der Poesie als Flaschenpost gut getroffen.2 Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiß nicht immer hoffnungsstarken - Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. 3
Als Titel des Gedichtes selbst wird aber in diesem Fall - Brief in zwei Fassungen - die Schrift als solche thematisiert und die Suche nach größerer Genauigkeit, nach Vervollkommnung, wobei die zwei Fassungen ohne hierarchische Rangordnung nebeneinader bestehen bleiben und auf einen offenen, mehrdeutigen Text hinweisen. Dieses Offenbleiben könnte aber auch einer Schwierigkeit im Ausdruck entspringen, worauf einige Elemente des Textes deuten. Das Gedicht ist in zwei Strophen von je zweiundzwanzig Zeilen geteilt, die jambischen Fünfheber folgen größtenteils dem Paarreim+, der erste Vers wird mit dem letzten der ersten Strophe gereimt, vielfach werden Alliterationen und Assonanzen verwendet, wie diejenige zwischen dem Versende der ersten und der letzten Zeile der zweiten Strophe. Die sich überstürzende Aneinanderreihung von Bildern kulminiert in keinen Hauptsatz, in der ersten Strophe gibt es nur ein finites Verb im Hauptsatz (Z. 8), dafür endet dieser Vers mit einem Gedankenstrich, während ansonsten die InterAus der unübersehbaren Literatur zur Gattung >Brief< möchte ich hier erwähnen Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes. Hgg. von Anita Runge und Lieselotte Steinbrügge, Stuttgart 1991. Anke Bennholdt-Tbomsen, ζ. B., geht in ihrem Aufsatz: Zur Geschichtlichkeit des Uebesbrieß. Eine dissonante Dokumentation aus dem Jahre 1930, S. 193-224, von dem Einfall einer Berliner Zeitung aus, die im Jahre 1930 Schriftstellerinnen dazu aufforderte, die Vitali tat des Liebesbriefes zu demonstrieren: zwei Autoren, Erich Kästner und Joachim Ringelnatz, antworteten mit der Zusendung von Gedichten. 2
Mechtild Oberle: Liebe ab Sprache und Sprache als Liebe, S. 68.
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Paul Celan: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: GW, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1983, S. 185-186.
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Für dieses Gedicht muß man feststellen, daß semantisch signifikante Elemente zum Endreim verwendet werden; für viele andere Orte der Bachmannschen Lyrik wurde das Gegenteil festgestellt: Luigi Reitani spricht von einer »Entsemantisierung« der Reime. (Vgl. Luigi Reitanis Nachwort zur von ihm besorgten italienischen Ausgabe der Anrufung des Großen Bären·. Invocazione all'Orsa Maggiore. Milano 1994, S. 177.)
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punktdon mit Ausnahme von zwei Ausrufungszeichen, zwei Fragezeichen und einmal Auslassungspunkte gänzlich fehlt. Eine metrisch geschlossene Strukturierung, eine ständig weiterdrängende Bewegung steht also im starken Kontrast zur syntaktischen Unabgeschlossenheit und zur Offenheit auf der Bedeutungsebene. Die Gattung des Briefes wird nicht nur im Titel evoziert, sondern auch in beiden Strophenanfängen, mit der Angabe des Ortes und der Zeit, auch wenn es sich um kein präzises Datum handelt. Geradezu banal wirkt die Danksagung, die vor der üblichen Nennung des Anlasses von den sich aufdrängenden Bildern unterbrochen wird. Von keinem Element kann man feststellen, es sei eindeutig römisch, »Zypressen«, »Arena« lind »Gitarren« vermitteln jedenfalls den Eindruck einer südlichen Landschaft, die aber, wie so oft bei Bachmann, durch die Kälte, das scharfe Gestein, durch ihre aggressive Dissonanz durchaus unharmonisch und anti-idyllisch wirkt. Die Angabe des Monats November könnte auf eine Zeit des Gedenkens an die Toten weisen, aber in diesem ersten Versblock bleibt die Atmosphäre trotz Erwähnung der »Schädel« und der »Zypressen« sehr dynamisch und vital, gar nicht der Vergänglichkeit frönend, sondern in all der von Feindseligkeit zeugenden Fremdheit ganz der Gegenwart verschrieben. Die angesprochene Dissonanz wird in den Zeilen 4 und 5 lautlich nachgebildet. Das in einem Brief am Anfang zu erwartende »Ich« tritt in indirekter Form (»bei mir«) erst in der achten Zeile auf, und zwar dort, wo ein zweiter Block beginnt, der durchgängig von Bildern der Vergänglichkeit in nordischer und romantischer Tradition geprägt ist Wie wenn sie vor der geschilderten Härte eines südlichen Herbstabends die Flucht ergriffe, bewegt sich die lyrische Situation weg von den Räumen unter freiem Himmel: Bei sich zu Hause ist das lyrische Ich auch nicht allein, sondern in Gesellschaft eines sonderbaren und unbequem mahnenden Gastes, eines Holzwurms. Unklar bleibt, ob dieses Haus in Rom zu vermuten ist, auf jeden Fall wird in einen Gegenraum übergeleitet (eine Uberleitung, die durch den Gedankenstrich veranschaulicht wird); ein »Nebelland« des verinnerlichten Raumes, wo anfangs mit den »großen Regenpumpen« noch der aggressive Ton der Eingangsbilder beibehalten wird, um dann in eine warme, liquid weiche und konturlose Landschaft des Wahnsinns und des Todes einzumünden. Völlig menschenleer und außerhalb der Geschichte wirkt diese Landschaft mythisch; mythische Bilder des Todes werden von Naturelementen und Tieren getragen, eingeleitet durch die rationalistische, aufklärerische Frage nach deren Existenz. Die Frage nach der Existenz des »Todeswerbens« erhält natürlich keine Antwort, doch die Anreihung der märchenhaften Beispiele eines solchen wird durch das Bild einer annähernd menschlichen Wirklichkeit unterbrochen: ein Haus, das in materieller und ethischer Sicht zerstört ist, steht an einem »Strom aus Särgen«. In der darauffolgenden Zeile scheint wieder jenes kollektive und impersönliche »sie« auf, das wir schon aus der römischen Szene kennen; diesmal ist die durchgeführte Handlung nicht so hef-
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tig und gewaltsam, jedoch radikal paradox: aus der Tiefe - des Stromes? - wird der Wahnsinn geborgen, als wäre er ein Schatz. Zwei Zeitadverbien aus dem trivialen Liebesdiskurs bilden den Trank eines unglücklich liebenden »du«; Trauer und Schmerz werden somit individuell und menschlich, die Unpersönlichkeit, die in den Zeilen davor herrscht, steigern diesen Effekt aufe höchste. Während die selbstzerstörerische Verlorenheit den semantischen und laudichen Raum prägt, ist die Zuweisung zu einem Subjekt ambivalent, das Du kann selbstdialogisch gesehen werden, oder die Gemeinsamkeit von Ich und Du in der Liebeskrankheit meinen*, oder die Ununterscheidbarkeit schlechthin, die in den Auslassimgspunkten endet. Eine unterbrochene erste Fassung des Briefes, ohne Schlußpunkt: diese Unabgeschlossenheit mildert Kummer und Trauer der letzten Zeilen6. Auf die ganze Strophe rückblickend, kann man zwei gegensätzliche Haltungen gegenüber dem Tod feststellen: eine Haltung der amusischen Verwertung der Vergangenheit, die durch emotionale Kälte und Verhärtung Abstand hält; auf der anderen Seite eine trunkene »cupio dissolvi«: Bilder der Vertikalität (»Riff«, »Zypressenlanzen«) und der Versteinerung kontrastieren mit Bildern des Flüssigen und des Strömens. Dementsprechend findet man in den ersten Zeilen finite Verben, wenn auch in Nebensätzen, gegen Strophenende häufen sich aber Partizipialformen, auffällig oft jene mit dem Präfix »ver-«. Das Nebelland nimmt auch mehr Raum als die südlich-antike Landschaft ein, als ob der fortschreitende Abend mit der Intensivierung der Liebeskrankheit nach dem nördlichen Szenario verlangen würde. In der ersten Fassung scheinen die beiden existenziellen Einstellungen sich unversöhnlich gegenüberzustehen, doch ein neuer Ansatz in der zweiten Strophe und der Tempuswechsel (»Nacht«) bringen unvermutet »Einklang und Ruh« mit sich und leiten zu einer Idylle über, in der ein schmerzloser Abschied eine harmonische Bilderreihe der Versöhnung einführt: Menschenwerk entspringt aus Pflanzenwurzeln, Licht, Rein5 6
M. Oberle: Liebe ab Sprache und Sprache ab Liebe, S. 74. Aber es kann auch als Unmöglichkeit gesehen werden, eine gültige Form zufinden,wie Christa Wolf sie für das Fragment Der Fall Franza feststellt, indem sie in ihrer empathischen Lektüre gerade den Mangel an Distanz als originelle Leistung der Bachmannschen Schreibweise hervorhebt: »Die Bachmann aber ist jene namenlose Frau aus Malina, sie ist jene Franza aus dem Romanfragment, die ihre Geschichte einfach nicht in den Griff, nicht in die Form kriegt. Die es einfach nicht fertigbringt, aus ihrer Erfahrung eine präsentable Geschichte zu machen, sie als Kunstgebilde aus sich herauszustellen. Talentmangel ? Der Einwand entfallt, jedenfalls an diesem Beispiel. Es ist allerdings schwer begreiflich, daß ihr Rang als Künstlerin sich eben auch darin offenbart, daß sie die Erfahrung der Frau, die sie ist, nicht in »Kirnst« ertöten kann. Ein Paradox, ο ja. »Authentisch« - auch so ein Wort aus der Kunstsprache - nur sein können, indem sie auf den Abstand, den bestimmte Formen geben, verzichtet.« (Ch. Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung. Kassandra. Darmstadt 1983, S. 151). So kann der Brief als Problemaüsierung des Abstandes gesehen werde.
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heit, die Farbe Blau und runde Formen bestimmen die Bilder, der Abschied der Liebenden hinterläßt keine Wunden (Z. 32-33). Mit dem Ende der Nacht kommt der Umschwung, der diesmal zu keinem Szenenwechsel führt. Der Wein (Z. 34) steht im Gegensatz zum Trank, der am Ende der ersten Strophe zwei unvereinbare Zeitdimensionen »mischte«, Vergessen und Vernichtung verheißend?: Wenn der Wein auch durch (noch/schon) dämmernde Gedanken willenlos »sinkt«, handelt es sich hier um kein Gemisch, sondern um einen klaren Wein, der eingeschenkt wird, »Nacht«, »Wein« und »Gedanken« verweisen auf eine dionysische Dimension der Erkenntnis, die in derselben Sektion der Anrufung im Gedicht Unter dem Weinstock mit dem Vers »Die Nacht muß das Blatt wenden« angesprochen wird.8 Am Höhepunkt der Nacht gewährt der Erkenntnisprozeß eine unmittelbare Konfrontation mit der Realität?: Die Dämmerung weicht schlagartig vor dem »springenden« Tageslicht zurück, das raubtierartig die Gegenwart (das »Heute«) als Alleinherrscherin einsetzt. Das Motiv der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Vergangenheit kommt in den an Pasolinis Kulturkritik erinnernden Bildern der großstädtischen Modernisierung zum Ausdruck, die Erscheinungen der modernen Technik betrachten die Natur als Jagdbeute10; während in den Anfangszeilen das menschliche Element, obgleich in Form eines unpersönlichen und kollektiven »sie« präsent war, werden in den letzten Zeilen zwar menschliche Handlungen genannt, von den Subjekten derselben gibt es aber keine sprachliche Spur, Handlungsträger sind nämlich die technischen Gegenstände selbst Rom und November stehen für die Beziehung zur Vergangenheit, zur Geschichte, eine Beziehung, die im Kollektiv mißlungen ist und im einzelnen Individuum, ausgelöst durch einen Abschied, zur Selbstaufgabe fuhren kann: eine Uberwindung im Zeichen des Dionysischen geht auf Kosten einer Integration der Vergangenheit. Ein Verzicht auf diese Integration hieße aber auch Verzicht auf Selbsterkenntnis und Ausdruck: »Wenn Gedichte ein Beweis zu nichts sein sollten, müßten wir uns dran halten, daß sie das Gedächtnis schärfen« (WIV, 303). Die letzten vier Zeilen wenden sich von der vertikalen Dimension himmelwärts ab (Z. 37-40), sie steigen hinunter zur Erde und in die Tiefe, um die Schärfung des Gedächtnisses - ein poetologisches Hauptanliegen der Autorin - zu ermöglichen; in der viertletzten Zeile wird die »Schrift« (nicht nur der 7
Maria Chiara Mocali:
Ingeborg Bochmann e l'Italia. Firenze, maschrftl. (tesi di laurea)
1987-88, verweist
auf das Gedicht Palm von G . Beim und liest diese Zeilen auch als Antwort auf Benn. Vgl. ferner: G . Benn: GWf Bd. 1, S. 142-143. 8
Vgl. Luigi Reitani in der von ihm besorgten italienischen Ausgabe der Anrufimg, a.a.O., S. 154-155.
9 Vgl. dazu auch meinen Beitrag Astbetisiertmg und Ästhetikkritik, S. 28-49. 10 Vgl. Pier Paolo Pasolini: Le Ceneridi Gramsci. Milano 1957; Teilpublikation ab 1952 in Zeitschriften wie Paragone, Nuovi Argomenri, Officina und Botteghe oscure. Letztere war bekanntlich auch ein Publikationsforum der Bachmann in Italien.
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»Tisch« xind das »Blatt«) ausdrücklich genannt, in einer für Bachmanns Werk nicht weiters belegten Variante: »Spiegelschrift«. An anderen Stellen erscheint jedoch ein »Spiegel« in unmittelbarem Zusammenhang mit der »Schrift«, dem »Abschied« und dem »Tod«. Der Abschied ist ein Leitmotiv der Bachmannschen Lyrik, da es so häufig um Ausfahrten, Aufbrüche und Abfahrten geht. »Um das Fürchten zu lernen«, um eine Neugründung möglich zu machen oder wenigstens den Wunsch danach wachzuhalten, muß man ausziehen: Ich verweise hier auf die Gedichte Ausfahrt, Abschied von England, auf das Titelgedicht Die gestundete Zeit, und, aus der Anrufung, auf den Zyklus Von einem Land, dem Fluß und den Seen und vor allem auf Tage in Weiß, weil in letzterem der »Spiegel« mit »dem Malen« eines Wortes in Verbindung gesetzt wird. In diesen Tagen steh ich auf mit den Birken und kämm mir das Weizenhaar aus der Stirn vor einem Spiegel aus Eis. [...] U n d w o ich die Scheibe behauch, erscheint, von einem kindlichen Finger gemalt, wieder dein N a m e : Unschuld! N a c h so langer Zeit. In diesen Tagen schmerzt mich nicht, daß ich vergessen kann und mich erinnern muß. ( W I , 112)
Die Farbe »Weiß« des Titels ist mehrdeutig, sie bezeichnet sowohl eine Winterlandschaft wie auch ein Jenseitsland, das vom lyrischen Ich im Fluge erreicht wurde, mit einem Totenhemd als Kleidung. So wird zwar auf ein Jenseits verwiesen, das aber mitnichten ein Schattenreich ist, wie ja schon der Titel besagt; eher handelt es sich um ein Utopia, in dem das Weiß, die Kälte und das Eis die Eigenschaften des unschuldigen, »unbeschriebenen« Landes bezeichnen. Die erste Zeile leitet mit »aufstehen« (das auch an »auferstehen« erinnert) sofort einen Neubeginn ein, in dem das Ich zu einer unschuldigen und kindlichen Schrift findet: es malt die Worte auf einen Spiegel, der zuerst aus Eis ist, also blind und leblos, später aber durch den Hauch des Ich zum Leben erwacht"; das Ergebnis, eine Erinnerung ohne Schmerz, sticht scharf innerhalb von 11 Vgl. Ute M. Oelmann: DeutschepoetologischeLyrik 91.
nach 194;, S. 16 f; weiters Oberle: Liebe ab Sprache,
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Bachmanns Werk ab, wo aufgefordert wird, den stets schmerzhaften Erinnerungsprozeß als notwendige Voraussetzung fur die Kirnst zu verstehen. Der utopische Gehalt des Komplexes »Weiß« erscheint verstärkt durch die Verbindung mit der »reinen Größe« par excellence, der Liebe: »Bis zur Weißglut lieb ich«. Im alltäglichen Sprachgebrauch steht »Weißglut« für äußersten Zorn, für das Gegenteil also von Liebe, doch das Wort selbst verbindet Konträres, Weiß und Rot der Glut, und beschreibt doch eine natürliche Erscheinung. So ist im Gegenraum des unbeschriebenen Landes der Poesie (der »Albatros« steht in der Baudelaireschen Tradition) die Verbindung und Umkehrung von Leben und Tod möglich. Im Vergleich zu Brief in zwei Fassungen entwirft das Gedicht Tage in Weiß mit dem triumphierenden Endvers: »Ich lebe und höre von fern seinen Schwanengesang«12 eine reine Utopie, die eine gelungene Uberwindung des »fabelhaften« und glanzvollen Kontinents darstellt, obwohl bei Bachmann der Kontinent immer für die unerläßliche Gegenwart steht (Salz und Brot, Die Zikaden). Im römischen Gedicht finden die Spannungen keine Uberwindung, sie bleiben nebeneinander bestehen in den beiden Fassungen, die sich eben spiegelbildlich zueinander verhalten und im spiegelschrifdichen Verfahren »Meerhauch und Bergwind«, »Duft und Tränen« »mischen«. Wenn wir nun die »römischen« Bilder aus anderen Texten berücksichtigen1?, können wir das Gesamtbild abrunden, das sich uns durch die dem lyrischen Text eigene Synthese darstellt: Viele Bilder sind nämlich schon im Prosatext Was ich in Rom sah und hörte (1954) zu finden; hier treten auch die drei Elemente - Abschied, Spiegel, Schrift - in engstem Zusammenhang auf. Auch im Prosatext ist die Rede von Säulen, Brunnen, Hügeln, Tempeln, dem römischen Himmel, der Katze, den Mauern, den Zypressen, Friedhöfen und Scherben (des Testaccio), den Marktschreien (auf dem Campo de' Fiori), die Atmosphäre ist jedoch völlig anders: die Monumente sind von der modernen
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Diese so utopische Existenzform weist auf eine Definition von »Leben« voraus, wie sie das Ich in Malina ausspricht: »Das was man nicht leben kann« ( W ΙΠ, 292).
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Erinnert sei auch an die Fragmente [Ferragosto] und [Zugegeben] ( W I V , 336—337 und 340-341). In der Erzählung Das dreißigste Jahr ist Rom der Ort, der die Flucht aus der Heimat als Illusion entlarvt. In diesem R o m stehen menschliche Beziehungen im Mittelpunkt, nicht anders als in W e n . Auch in diesem Text kommt das Motiv der unabgeschickten Briefe oder ihrer kommunikativen Unzulänglichkeit zum Ausdruck. In Bachmanns nichtfiktiver Korrespondenz aus der Zeit des Briefe treten dieselben Motive der poetischen Texte ohne Überhöhung auf: »Momentan ist Schirokko und man geht besser nicht aus und sieht niemand, so unberechenbar ist alles, heute früh habe ich mein Bett mit dem U b e r verwechselt und gedacht, ich sei drin ertrunken, wahrscheinlich weil ich mich gestern abend in ihn stürzen wollte. Das ist aber nur eine römische Momentaufnahme - es gibt auch bessere Momente, aber leider gar nichts, womit ich Dich heute unterhalten könnte ...«(Brief an Oswald Döpke, 1957, zit. aus Du, H . 9/1994, S. 38.)
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Stadt umgeben, zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt es keinen Bruch, die zwei Dimensionen fließen ineinander"* und so wird auch der Abschied leicht: Auf dem Bahnhof Termini sah ich, daß in Rom die Abschiede leichter genommen werden als anderswo. Denn die fortfahren, lassen denen, die bleiben, einen Gepäckschein auf Sehnsucht zurück. A n dem Bahnhof grenzt ja ein Rest der Diokletiansmauer, und gegen die neue schwebende Glaswand gestochen erscheinen drei Zypressen in einer unmißverständlichen Schrift. Das Klassische ist das Einfachste, und alte und neue Texte vertreten es gleich g u t ( W IV, 3 2 - 3 3 )
Symbolisch gesehen, gewinnt die Stadt Rom ihre ästhetische Relevanz aus dem Nebeneinander von alten und modernen Texten, die in gleichem Maße wirksam und klassisch sind, da sie Antinomien vermitteln können. Während jedoch im Gedicht »Meeresluft lind Bergwind« »Duft und Tränen« »mischen«, stehen sich im Prosatext gerade diese beiden Elemente gegenüber: W e n n mir Hören und Sehen verging in Rom, kam der Schirokko und hatte über den Adlerwind aus den Bergen gewonnen. ( W IV, 33)
Der Wüstenwind bringt ein »falsches Licht«, »Unglücke« und Besinnungslosigkeit mit sich; überhandnehmen kann er aber nur, wenn das Ich seinem Amte, die Wirklichkeit zu erfassen, nicht nachkommt, wenn es also vergißt, daß »uns die Augen zum Sehen gegeben sind« (WIV, 34)15. Das Ich muß sich der Herausforderung stellen und die alten und neuen Texte lesen, jene unmißverständliche natürliche Schrift (der Zypressen), die auf der Glaswand erscheint. »Hören« und »Sehen« erhalten ihre zentrale Stelle in diesem Prosatext schon durch den Titel; die Fähigkeit, über die Oberfläche hinaus und durch sie hindurch zu gehen, stellt die einzige Kraft dar, die der Mensch dem gewalt-
14 In [Ferragosto] heißt es: »Die Faszination: Rom als offene Stadt, keine ihrer Schichten kann als abgeschlossen betrachtet werden, sie spielt alle Zeiten aus, gegeneinander, miteinander, das Alte kann morgen neu sein und das Neueste morgen schon alt. Die Vitalität Roms als Faszination, die Utopie, ein messaggio.« (W Ι\ζ S. 337.) 15 Vgl. Christa Wolf: Die zumutbare Wahrheit. Prosa der Ingeborg Bachmann. In: Lesen und Schreiben. Aufiätze und Prosastäke. Darmstadt/Neuwied 1972, S. 1 2 1 - 1 3 4 . Und Hans Höller: Ein utopischer Ort im Ich und ein traumatischer. Rom und Berlin bei Ingeborg Bachmann. In: »II confronto letterario«, Quaderni del dipartimento di lingue e letterature straniere moderne dell'Universita di Pavia, Supplemente al numero 14, 1991, S. 39-50, hier S. 43; und H. Höller, Ingeborg Bachmann. Das Werk, S. 191 f. Das Motiv des Abschieds mit seinen weitfuhrenden Implikationen scheint mir bislang zu wenig Aufmerksamkeit erhalten zu haben.
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tätigen Gang der Geschichte entgegensetzen kann. Überall in Rom sind die Spuren der Gewalt sichtbar, die in zahlreichen Bildern aktualisiert werden; die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen, Vergangenheit und Gegenwart sind nicht getrennt: »In Rom sah ich im Ghetto, daß noch nicht aller Tage Abend ist« (WIV, 30). Auf dem Platz, wo Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen starb, Campo de' Fiori, brennen wieder die Feuer der Markdeute, die die Abfälle »vor den Augen«, d. h. vor der Statue des Philosophen, verbrennen. Im Unterschied zu den heutigen Menschen weiß und sieht »der Mann auf dem Sokel«, wie weit die Flammen »reichen und wonach sie schlagen [...] und widerruft dennoch nicht« (WIV, 30-31). Das »Sehen«, wo andere nicht sehen, das Sehen im Dunkel, in der Dämmerung und »im Dunstkreis« bildet bei Bachmann eine poetologische Konstante: (Die große Fracht, Psalm, Mein Vogel, An die Sonne, Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, Frankfiirter Vorlesungen16)·, in Brief in zwei Fassungen kommt das »Sehen« als solches nicht vor, als symbolische Dimension ist es im Motiv des Abschieds und der Distanz enthalten. Die drei römischen Sequenzen des Gedichts (Zeilen 1-7; 23-34; 35~44) evozieren drei unterschiedliche Modalitäten des Abschieds und der für die Poesie unentbehrlichen Distanz (»der Tod« in Tage in Weiß). Wir werden konfrontiert mit der kalten, gefühllosen und gewaltsamen Distanzierung des »Novemberabends«, mit dem »Abschied ohne Kränkung« der jeden Schmerz verklärenden Nacht, mit dem alles zurücklassenden Morgen, an dem Träume, Gefühle, die Vergangenheit »ins Heute geschleudert« und doch in »die Spiegelschrift« »getaucht« werden. Das Abschiedsmotiv verweist auf einen weiteren, äußerst poetologischen Text: Undine geht; die besondere Gangart dieses Textes bewegt sich zwischen den beiden Polen des »Gehens« und des »Kommens«, endlos'7: Wir standen auf einem Nordbahnhof, und der Zug ging vor Mittemacht. Ich winkte nicht; ich machte mit der Hand ein Zeichen für Ende. Für das Ende, das kein Ende findet. Es war nie zu Ende. (W Π, 258)
Als literarische Verkörperung der Kunst (»Die Undine ist keine Frau, auch kein Lebewesen, sondern, um es mit Büchner zu sagen, >die Kunst, ach die Kunst.«< Gul, 46) nimmt sich Undine vor, »anders zu sehen« (W Π, 254) und zu »hören«; die »Gleich-
16 Vgl. H. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 148 f. 17 Auch hierzu bietet sich eine Stelle aus [Ferragosto] an: »Das Kommen und Gehen und Wiederkommen - die Utopie in Permanenz, das geistige Heimatgefüihl, das man hier empfindet, tritt an die Stelle des Gefühls von physischer Heimatlosigkeit, das in der Welt zunimmt« (IV 337).
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gültigkeit« des Wasserspiegels scheint dies zu »verbieten«, doch bewegt sich Undine spiegelbildlich zwischen völliger Hingabe und gesuchter Distanz.'8 In Undine geht stellt der (Wasserspiegel jene Grenzlinie dar, die utopisch an dem Diesseits und Jenseits (Oben und Unten) der Grenze teilhat. Die von Undine erwähnte »nasse Grenze zwischen mir und mir« (W Π, 254) erinnert uns sowohl an die letzte Zeile von Brief in zwei Fassungen wie auch an das schon zitierte Fragment [Das Gedicht an dm Leser]: Was hat uns voneinander entfernt? Seh ich mich in dem Spiegel und frage, so seh ich mich verkehrt, eine einsame Schrift und begreife mich selbst nicht mehr. In dieser großen Kälte sollten wir uns kalt voneinander abgewandt haben, trotz der unstillbaren Liebe zueinander? (W IV, 307)-» An dieser Stelle überwiegen die negativen Züge der »einsamen Schrift«, das Ich selbst sieht nämlich sein eigenes Spiegelbild als Schrift in dem Moment, als sich das Du von ihm abwendet. Die Selbstfindung des Ich, also des Gedichts, kann nur in der Beziehung zum Du gelingen. Auch hier hat der Abschied - der im Text mit dem Verweis auf Orpheus und Euridike auch den Tod meint - eine Spiegelschrift zur Folge.20 Das Ich weiß, daß es die Erwartungen des Du enttäuscht hat und sucht nach den Worten, die ihm die Zuwendung des Geliebten zurückerobern sollen: Die Leidenschaft der Anrufung des Du erinnert stark an die Formulierungen Undines. In Undine geht und in [Das Gedicht an den Leser] sind Liebesdiskurs und poetologischer Diskurs aufs engste verwoben, und zwar vergleichsweise in einem persönlicheren Dialog als im Brief, in dem das Ich und das Du (das Gedicht und der Leser) nur in der letzten Zeile erwähnt werden. Von diesen verschiedenen Variationen der Matrix »Spiegelschrift/Abschied« möchte ich zu Brief in zwei Fassungen zurückkehren, um den Kontext der Spiegelschrift hervorzuheben: »ins Pflaster taucht die Spiegelschrift der Hufe«. Es handelt sich um eine gewichtige, erdverbundene Schrift, die sich von der gewöhnlichen »Menschenschrift«
18 Maria Behre: Ingebarg Bachmmns > Undine gebt< als Sprache einer besonderen Wahrnehmung. In: GöttscheOhl (Hgg.): Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk, S. 63-79,
S· 68.
19 Dieser Passus legt nahe, daß die »Spiegelschrift« ihre Umkehrung von einer Persönlichkeitsspaltung ableitet (Malina), die auch an das berühmte Gedicht Das Spiegelbild von Annette v. Droste-Hülshoff erinnert. Zum Doppelgängermotiv bei Droste-Hülshoff vgl. Uta "Ireder: II re nero. Saggi di letteraturafemmmile tedesca. Roma, Editori Riuniti 1993, S. 89-108. 20 Zu diesem Fragment vgl. M. Ch. Mocali: Portare lapietra afiorire, owero >deüapoesiaitalienische< Kompositionen enthält und nicht von ungefähr mit dem Gedicht Das erstgeborene Land eingeleitet wird: ein Titel, der mit einer kühnen Formulierung das Italienerlebnis der Dichterin metaphorisch zum Ausdruck bringt. Im Unterschied zu diesen Gedichten nimmt aber In Apulien keine von der Tradition der deutschen Italienliteratur kanonisierte Landschaft wieder auf. In der Tat war Apulien kaum jemals Ziel der klassischen italienischen »Tour« gewesen, die vorsah, sich von Neapel direkt nach Sizilien einzuschiffen, ohne sich weiter ins Landesinnere vorzuwagen, das als unsicher und gefährlich galt. Daher fehlt die apulische Landschaft in den berühmteren deutschen Reiseberichten: bei Goethe wie bei den Romantikern, bei Grillparzer oder bei Nietzsche. Es wäre aber voreilig anzunehmen, Apulien wäre in der deutschen Literatur völlig absent gewesen.1 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist im Gegenteil ein Interesse für diese Region festzustellen, das gerade auf die vom Rückstand geprägten Lebensbedingungen des italienischen Südens gründete. Im Zeichen Rousseau spürten deutschsprachige Reisende in Apulien einer archaischen und primitiven Welt nach und sahen sich gerade von jenen Erscheinungen angezogen, die die Literaten klassischen Geschmacks von dieser Gegend ferngehalten hatten: Höhlenwohnungen, eine karge Landschaft, volkstümliche Religiosität und nicht zuletzt das Phänomen der »Tarantati« - auf das ich später zurückkommen werde - , ein Phänomen, das bereits im 17. Jahrhundert die Aufmerksamkeit von Historikern und Forschern (wie ζ. B. dem berühmten Jesuiten Athanasius Kircher) erregt hatte.2 Zu diesen eigendich nicht weit verbreiteten Erfahrungen gesellte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entdeckung der romanisch-apulischen Architektur, die im vielleicht berühmtesten Werk eines deutschen Reisenden über Apulien gipfelte: Die Apulischen Landschaften des Historikers Ferdinand Gregorovius, 1874 2 1 1 1 1 1 e r s t e n Mal erschienen. Diese Erfahrungen und Berichte wurden noch im 20. Jahrhundert von Kasimir Edschmid weiter tradiert, dessen Bücher über Italien lange Zeit eine Standardlektüre für deutsche Reisende auf der Halbinsel darstellten.'
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Vgl. Teodoro Scamardi: La Puglia nella ktteratura di viaggio tedesca. J. H. Riedesel F. L. Stolberg F. Gregorovius. Lecce 1987; ders.: Viaggiatori tedeschi in Puglia nel Settecento. Fasano 1988.
2
Vgl. J. H. von Riedesel: Reise durch Sizilien und Großgriechenland. Zürich 1771 (Nachdruck mit Einführung und Anmerkungen von A. Schulz: Berlin 1965); F. L. Graf zu Stolberg: Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien undSiciUen. Königsberg/Leipzig 1794 (Nachdruck Bern 1971).
3
Vgl. vor allem den Roman: Das Südreich. Roman der Germanenzüge. Wien 1933; ferner: Italien. Hirten, Helden und Jahrtausende. Frankfurt 1941.
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Innerhalb der deutschsprachigen Literatur ist also auch ein Apulienbild aufzufinden, das zwar am Rande der bekannteren Italiendichtung bleibt, das aber Züge aufzuweisen scheint, die Ingeborg Bachmann nicht ganz fremd gewesen sein dürften. Es ist vor allem anzunehmen, daß die Dichterin die Bücher Kasimir Edschmids kannte, dem sie auch mit großer Wahrscheinlichkeit persönlich begegnet war. Schließlich muß daran erinnert werden, daß Hermann Hakel und Gerhard Fritsch - zwei österreichische Autoren, die zu Ingeborg Bachmann in enger Beziehung standen (es war Hakel, der als erster Gedichte von Ingeborg Bachmann in seiner Zeitschrift Lynkeus 1948/49 herausbrachte) - sich während des Zweiten Weltkriegs in Apulien aufgehalten haben. Insbesondere hatte Hakel, nach einer Haftzeit in Alberobello, länger als ein Jahr im Alliiertenbüro für Palästina in Bari gearbeitet. Dies alles hätte aber 1955 einen deutschsprachigen Leser nicht hindern können, sich angesichts des Titels skeptisch zu fragen: »Apulien. Wo ist das eigendich?« Auf diese Frage antwortet Ingeborg Bachmann in einem Fragment gebliebenen Text mit einer Reihe von Informationen, die zugleich einen Zug ins Ironische verraten: Apulien findet man auf einer italienischen Landkarte, es ist eins der unbekannteren Teile Italiens, ein altes Land, Teil Großgriechenlands, Langobardenstraße, diffus in seinen Zeugnissen, Sandsteinbarock in Lecce, Gotik in Trani und Bari, griechische Kirchen in Gallipoli, heute verwuchert und nur noch lichtüberströmt, ein Bauernland, und ein Land der kleinen Häfen, der frutti di mare, Austernbänke von Täranto, die Deutschen sind selten bis [hier] her gekommen, aber Platen [...] klassische Italienwege fuhren nicht dorthin. [ W I V , 305]
Diese synthetische Charakterisierung Apuliens hat freilich nur am Rande mit den Elementen der apulischen Landschaft zu tun, die im Gedicht zum Vorschein kommen. Im Text wird ausschließlich auf das Bauernland Bezug genommen, dem die Bilder der Armut und dem Aspekte des Volkstümlichen entnommen werden, und zwar anhand von Ausdrücken, welche die konkrete, geschichdiche Realität des Landes mehr anklingen lassen, als sie tatsächlich beschreiben. Dem agrarischen Alltag gehören die Olivenbäume, der Mohn, der Esel, der Büffel, die Felder, die Höhlenstädte und der Troglodytentag an. Eher als auf die berühmten »Trulli« von Alberobello, ist dies wahrscheinlich eine Anspielung auf die in den Stein der sogenannten »Gravine« gehauenen Höhlensiedlungen an der Grenze zur Lucania, oder aber auf die berühmten »Sassi« Materas, einer Stadt in jener Region, die früher zu Apulien gehört hat. Diese bis in die 50er Jahre bewohnt gewesenen Höhlenwohnungen beeindruckten natürlich die Besucher und stellen ein wiederkehrendes Thema der Reiseliteratur über Apulien dar.+ 4
Vgl. T. Scamardi: La Puglia nella letteratura di viaggio tedesca, S. 26.
Der Tara ntelbiß
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Dem Bereich der heidnischen und katholischen Riten gehören letztendlich im Gedicht die Madonnen, das Lämmerblut, das Schlangenei, der Fisch und natürlich die Taranteln an. Die im Gedicht verwendete Technik ist aber kaum als beschreibende aufzufassen. Wenige Pinselstriche fugen sich vielmehr zu einer Skizze, die in symbolischen und essentiellen Zügen stilisiert wird. Die rhetorische Figur, die diesem Vorgang entspricht, ist die Synekdoche. Ein Teil steht hier für das Ganze. Gleichzeitig werden alle konkreten, im Text aufscheinenden Elemente der apulischen Realität in metrischen, syntaktischen und rhetorischen Gestaltfiguren strukturiert und insofern mit einem zusätzlichen Sinn beladen. Jedenfalls wirkt das Apulienbild, das sich insgesamt aus dem Gedicht ergibt, dem Paradigma des Primitivismus und der Ursprünglichkeit des Landes verpflichtet, wie es in seinem Doppelaspekt von wirtschaftlichem Elend und magischen Ritualen von der deutschsprachigen Tradition rezipiert wurde. Andererseits muß daran erinnert werden, daß in den 50er Jahren die sogenannte »Questione meridionale«, die Probleme des Südens aufgriff, im Mittelpunkt einer heftigen Debatte stand. 1945 erschien das Buch, das mehr als jedes andere das Bild des italienischen Mezzogiorno der Nachkriegszeit prägen sollte: Carlo Levis Cristo si efermato ad Eboli, das bald auch ins Deutsche übersetzt wurde.5 In diesem Buch, in dem das dörflich Leben in Lukanien im Zentrum steht, deckte Levi eine rituelle und magische Dimension der bäuerlichen Bevölkerung auf, die bald zum Gegenstand von intensiven ethnologischen Forschungen wurde. In diesem Zusammenhang muß zumindest die Pionierleistung von Ernesto De Martino erwähnt werden, der zwischen 1948 und 1961 grundlegende einschlägige Studien, darunter Sud eMagia (1959), publizierte. Seine auf Feldforschungen im Landesinneren Lukaniens, Kalabriens und des südlichen Apuliens beruhenden Arbeiten haben den volkstümlichen Aberglauben des Südens in einer neuen Sicht analysiert, insbesondere hinsichtlich der Funktion der Bestattungsriten sowie der magischen Darstellungen von Krankheit und Eros. Auch dem Phänomen des Tarantelbisses widmet De Martino seine Aufmerksamkeit in einer Untersuchung, die zu den wahrscheinlich bedeutendsten ethnologischen Studien der letzten Jahrzehnte zählt.6 Bis zu welchem Grad Ingeborg Bachmann über die Forschungen von De Martino Bescheid wußte, ist heute schwierig festzustellen. Eine direkte Beeinflussung erscheint unwahrscheinlich und würde zum besseren Verständnis des Gedichtes auch wenig beitragen. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist eine grundsätzliche Konkordanz der österreichischen Schriftstellerin mit dem Interesse für die archaischen Lebensformen 5 6
C.Levi: Christus kam nur bis Eboli. Wien 1947. Übers, von H. Hohenemser-Steglich. Ernesto De Martino: La terra delrimorso. Milano 1961.
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im Süden Italiens. Auf Ingeborg Bachmann wirkt die apulische Landschaft nicht viel anders als auf Levi oder De Martino, nicht zuletzt durch die Vermittlung einer präzisen deutschsprachigen literarischen Tradition. Was hier im Gedicht zählt, sind nicht so sehr die konkreten Lebensbedingungen dieser Region, sondern ihre Interpretation durch absolute Symbole. Apulien ist für Bachmann ein »Name«, der eine aus Elend und Unterdrückung bestehende Welt evoziert, die sich jedoch aufgrund ihrer magischen und rituellen Aspekte zu rehabilitieren vermag. An diesem Punkt angelangt, dürfen wir festhalten, daß das Gedicht wenig mit einer direkten Erfahrung der apulischen Wirklichkeit zu tun hat. W e der Großteil der modernen Dichtung, ist auch das Gedicht Bachmanns keine Erlebnisdichtung und will diese auch nicht nachahmen. In der Erklärung des Titels weist Bachmann auf folgendes hin: Natürlich war ich in Apulien; aber In Apulien ist etwas anderes, löst das Land auf in Landschaft, und fuhrt sie zurück auf das Land, das gemeint ist. Es gibt wunderschöne Namen für die Ursprungsländer, die versunken und die erträumten, Atlantis und Orplid. »Apulien« ist ein wunderschöner Name - ich glaube nicht, daß sich jemand entschließen könnte, Le Puglie zu sagen, das italienische Wort trifft es nicht, es ist geographisch. [ W Ι\ζ 305]
Wir haben also nicht ein naturalistisches Gedicht vor uns oder die Beschreibung einer geographischen Realität, sondern wir treffen auf eine geistige Landschaft oder, um einen französischen, vielleicht exakteren Ausdruck zu gebrauchen, auf ein paysage moral. Tatsächlich zeigt sich Ingeborg Bachmann in keinem ihrer Werke interessiert daran, die Atmosphäre eines Ortes naturalistisch oder impressionistisch wiederzugeben. Wie auch in anderen Texten, ζ. B. im Roman Malina, hat die Topographie für Bachmann zumeist einen symbolischen Wert. Die Namen der Orte suggerieren Assoziationen, fassen metaphorische Konstellationen zusammen, stellen Archetypen dar. In einem Abschnitt aus den Frankfiirter Vorlesungen heißt es dazu: Weil der Dichtung in Glücksfällen Namen gelungen sind und die Taufe möglich war, ist für die Schriftsteller das Namensproblem und die Namensfrage etwas sehr Bewegendes, und zwar nicht nur in bezug auf Gestalten, sondern auch auf Orte, auf Straßen, die auf dieser außerordentlichen Landkarte eingetragen werden müssen, in diesen Adas, den nur die Literatur sichtbar macht. Diese Landkarte deckt sich nur an wenigen Stellen mit den Karten der Geographen [...] Aber andererseits: auf all unseren Fahrten, wo sind wir wirklich gewesen? Im Bordell von Dublin und auf dem Blocksberg, auf den finnischen Gütern des Herrn Puntila und in den Salons von Kakanien - dort waren wir vielleicht wirklich. [W Ι\ζ 239-40]
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Das Apidien der Ingeborg Bachmann ist also in erster Linie eine literarische Wirklichkeit - nicht auf den Landkarten zu suchen, sondern auf dem Atlas der Symbole und der literarischen Formen. Das Gedicht ist in sechs Strophen gegliedert, von denen jede mit einem Punkt endet. Abgesehen von der letzten, besteht jede Strophe aus einem einzigen Satzgefüge. Die einzelnen Verse wiederum entsprechen fast immer einem geschlossenen Teilsatz (mit Ausnahme der Verse 7 und 18) und werden - mit einer einzigen Unregelmäßigkeit (Vers 7) - immer von einem Interpunktionszeichen eingegrenzt. Strophenmaß und syntaktische Artikulierung werden somit fast perfekt aufeinander abgestimmt. Diese formale Kompaktheit findet sich auch auf der Inhaltsebene wieder. Jede Strophe entwirft ein bestimmtes Bild, das sich in den einzelnen Versen gesondert artikuliert. Zu seiner Wirkung trägt auch die metrische und rhythmische Struktur bei. Es handelt sich um Vierzeiler mit männlicher Kadenz in den äußeren und weiblicher in den inneren Versen, die durch einen Blockreim (abba) verbunden werden. Das Versmaß ist trochäisch, mit wenigen Unregelmäßigkeiten. Während aber die letzten drei Verse Vierheber sind, hat der erste Vers acht Hebungen. In dieser Weise variiert Bachmann ein Schema, das mit der Verborgenheit Mörikes berühmt geworden war und auch Trakl bevorzugte: den Vierzeiler mit Blockreim und trochäischen Vierhebern. Neu bei Ingeborg Bachmann ist jedoch die Verdoppelung des Eingangsverses, der ein Achtheber wird, und an Das Grab von Busento Platens erinnert. Aus dem Ganzen ergibt sich eine sehr markante rhythmische Struktur, die durch häufige Alliterationen zusätzlich verstärkt wird (wie ζ. B. in der zweiten Strophe: Kinder / Krippen; Fliegen / Fraß; in der dritten: Schmerz / Schlaf; in der vierten: Schnüre/ stickten; klingenden / Gewand; in der sechsten: trunken / unter, was fast ein Binnenreim ist). Daß dieses komplexe rhythmische Gerüst auch die Semantik der Bilder mitstrukturiert, wird in der zweiten Strophe offensichdich, wo der Klang der Trommeln durch die Metrik wirkungsvoll gesteigert wird. Die Aggressivität des Trochäus dient gleichzeitig dazu, die Härte der existentiellen Bedingungen fühlbar zu machen, während in den darauffolgenden Strophen der ungestüme Rhythmus Träger einer utopischen Vision wird. Mit anderen Worten: Die Vierzeiler entwickeln nicht nur Bilder, sondern auch Klangbilder. Jede Strophe erarbeitet mit extremer Dichte und auf verschiedenen Ebenen - der phonetischen, der syntaktischen, der rhythmischen und der metrischen - ein besonderes Bild nach einer Kompositionstechnik, die Ingeborg Bachmann in ihrem zweiten Gedichtband virtuos anwendet. Das Raffinement dieses Gedichts beschränkt sich aber nicht nur auf seine metrische Gestalt. Auffallend ist eine klare Gliederung des Gedichts in zwei Teile, mit dem Ubergang des Verbmodus von Indikativ auf Konjunktiv ab der dritten Strophe: eine Artikulierung, die bei der Lektüre vor Augen gehalten werden muß.
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Im ersten Vierzeiler zeigt sich dem Leser das zentrale Bild des Mohns, das sich im gesamten Bogen des Gedichts mehrmals wiederholt. Der Mohn erwächst hier aus dem Licht und ist auch Quelle des Lichts. Dieser Prozeß ist aber auch ein Prozeß der Zerstörung, weil er das Ol, das benötigt wird, verbrennt. Es kommt dabei nicht klar hervor, um welches Ol es sich handelt: denn es könnte auf das Ol des Mohns selber angespielt werden, jedoch das Verb »fangen« läßt eher auf etwas Außeres schließen, das nur durch Anstrengung erhalten wird, das hieße dann das Ol der Oliven, der wichtigste Ertrag der Region. Phonetisch tragen der herbe Laut einiger Konsonanten (»t«, »ck«) und die Alliteration des »s« (Schüttet/ Samen/ aus) zu einer gewissen Härte bei. Der metaphorische Wert der Landschaft bleibt trotzdem imbestimmt und hängt im Grunde von der Interpretation ab, die man dem Mohn beikommen läßt. Auch in Apulien, wie in anderen südlichen Regionen, wurde der Mohn als Anästhetdkum verwendet. Mohn-Tee diente zur Beruhigung und als Schlafmittel, und in dieser Funktion wurde er besonders den Kindern verabreicht. Es scheint also eine zusätzliche Bezugnahme auf Aspekte der apulischen Lebensweise auf. Aber natürlich wissen sowohl die Literatur als auch die darstellenden Künste über die Symbolik dieser Blume Bescheid. Traditionsgemäß ist der Mohn die Blume des Morpheus und wird mit der Kraft des Schlafes und des Vergessens in Zusammenhang gebracht. Mit dieser Konnotation erscheint er zum Beispiel in den Hymnen der Nacht von Novalis. Metonymisch steht der Mohn zudem für das Opium. Im Titel des berühmten Gedichtbandes Paul Celans (1952) steht der Mohn dem Gedächtnis gegenüber und somit einer zentralen Funktion der Lyrik nach Ingeborg Bachmann.' In einem Gedicht Gerhard Fritschs mit dem Titel Mohn, aus dem Jahre 1952, ist diese Blüte das Symbol einer auffälligen, jedoch trügerischen und illusorischen Schönheit, durch die sich die Erde selbst zerstört. »Was bleibt/«, schreibt Fritsch, »ist die schwarze Kapsel / bitteren Gifts.« 8 Auch in der Malerei ist der Mohn Symbol einer berückenden und sich selbst genügenden Schönheit; man denke nur an Klimts Mohnfeld, auf dem die Mohnblume das tragende Element einer Landschaft ist, die sich in der Reinheit ihrer Farben ertränkt. Andererseits lassen sich die von der Schriftstellerin benützten Metaphern schwer verstehen, wenn von ihrer traditionellen Bedeutung ausgegangen wird. Bei Bachmann besteht kein Symbolsystem, das einseitig interpretierbar wäre. Vielmehr geht die Autorin
7
»Wenn Gedichte ein Beweis zu nichts sein sollten, müßten wir uns dran halten, daß sie das Gedächtnis schärfen« ( W I V 303). Vgl. A. Stoll: Erinnerung und Schreibprozeß. Zur ästhetischen Relevanz subjektiver und kollektiver Erinnerungsformen int Werk Bachmanns. In: Göttsche, Ohl (Hgg.): Ingebarg Bachmann Neue Beiträge zu ihrem Werk, S. 2 25.
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Gerhard Fritsch: Gesammelte Gedichte. Hg. von R. Urbach. Salzburg 1978, S. 126.
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frei mit den Bildern der Tradition um. Nur der Kontext bestimmt von Mal zu Mal die Bedeutung der Metapher. Auch kann in einem Gedicht ein Bild verschiedene Bedeutungen annehmen. In diesem Zusammenhang wird von Bildbrechung gesprochen, die ein typisches Verfahren der Autorin darstellt.' Daher erscheint es unmöglich, das Bild des Mohns eingleisig aufzulösen, und es mit einem konkreten Referenten in Verbindung zu bringen. Der absolute und suggestive Wert der Metapher hängt gerade von ihrer Unbestimmbarkeit ab. Der Mohn läßt an Droge denken, an Vergessen, an den Schlaf, aber auch an eine auffällige Schönheit, die vielleicht unfruchtbar ist und auf Kosten der Erde erblüht. Zu bemerken sei hier noch, daß der Mohn in der ersten Strophe erscheint und in der letzten verschwindet, gemäß einer symmetrischen und kreisförmigen Vorgangsweise, nach der die Autorin oft arbeitet. Noch bevor man diese letzte Strophe im Detail analysiert, kann man feststellen, daß das Sterben des »trunkenen« Mohns hier sicherlich mit einem positiven Wert behaftet ist. Wenn diese Bemerkung stimmt, könnte man also antithetisch das Auftauchen des Mohns zwischen den Olivenbäumen als ein dramatisches, fast dämonisches Ereignis interpretieren. Der Lebenszyklus löst sich in einer selbstgenügenden Schönheit auf. Diese Hypothese scheint vom zweiten Vierzeiler bestätigt, der mit dem ersten eben eine Einheit bildet und auf eine Wirklichkeit hinweist, zu der die darauffolgenden Strophen im Gegensatz stehen. Hier wird der landschaftlichen Schönheit das Elend der Behausungen entgegengestellt. Rückblickend schlägt sich also das Licht der Felder mit den Lebensbedingungen der bodenständigen Bevölkerung. Vielleicht läßt sich genau in diesem Sinne verstehen, was die Autorin mit Bezug auf den treibenden Faktor des Gedichts im zuvor erwähnten Fragment meint: Ich bin nicht sicher, ob es noch in Apulien oder schon in Lukanien war, als ich aus dem Zugfenster sah, in einen Olivenhain, auf einen riesigen Mohnteppich, [der] bis an den H o rizont lief. In einem solchen Moment zündet man sich eine Zigarette an, oder man drückt sich an die Waggonwand, weil einer vorbei will. [ W I V , 306]
Auch in diesem Abschnitt erscheint das Mohnfeld zweideutig. Wenn es einerseits Faszination verrät, scheint es andererseits ein tiefes Unbehagen zu erzeugen. Jedenfalls können die Klangbilder der Strophen nicht in präzise Symbole aufgelöst werden. Nur eine vergleichende und »horizontale« Lektüre des gesamten Gedichts vermag die semantische Tragweite der Bilder aufzuhellen.
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Vgl. C. Heselhaus: Ingeborg Bachmanns gebrochene Symbolik. In: Ders.: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Göll, S. 444-449.
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In der zweiten Strophe bereiten die lautmalerischen Wiederholungen des Trommelschlags - unbestimmte, drohende Ankündigung eines Ereignisses - und der Farbkontrast zwischen dem weißen Brot und den schwarzen Lippen das dramatische Bild der von den Fliegen angegriffenen Kinder vor. Der Gebrauch des Wortes Futterkrippen neben »Kindern« läßt natürlich die Assoziation zum Bild der christlichen Krippe aufkommen. Wie öfters in den Gedichten Bachmanns, wird auch hier ein idyllischer Topos in sein Gegenteil umgekehrt. Weiter ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, daß das Bild dieser Strophe sehr an die Beschreibung der Sassi Materas in Crista si efermato adEboli erinnert. Im Buch Levis berichtet die Schwester des Erzählers von ihrem kurzen Aufenthalt in der lukanischen Stadt, indem sie das Gewicht besonders auf die Armut der Einwohner und vor allem auf die Lebensbedingungen der Kinder legt: Ich sah Kinder auf der Türschwelle in Schmutz unter der glühenden Sonne sitzen mit halbgeschlossenen Augen unter roten geschwollenen Lidern; die Fliegen setzten sich auf die Augen, aber sie rührten sich gar nicht, sie verjagten sie nicht einmal mit den Händen. Ja die Fliegen krochen ihnen über die Augen, und sie schienen es nicht zu spüren. Es war Trachom.10
Zusammenfassend: Die ersten zwei Strophen sind gekennzeichnet durch eine mehrdeutige, nicht reizlose dämonische Verschwendung von Schätzen der Natur, die mit den prekären Lebensbedingungen und dem Leiden der Bevölkerung kontrastiert. Ab der dritten Strophe verändert sich das Sprachregister. Der neunte Vers des Gedichts leitet einen hypothetischen Satz ein, der sich in den darauffolgenden zwei Strophen weiterentwickelt. In diesen Strophen hat der Konjunktiv einen Optativen Wert. Die grammatikalische Gestalt, die von der rhythmischen Phrasierung akzentuiert wird, skizziert eine »Gegenwelt« nach einer typischen Vorgangsweise Ingeborg Bachmanns. Der Konjunktiv ist hier ein Zeichen für den »Möglichkeitsinn«, nach einer berühmten Stelle aus Der Mann ohne Eigenschaften Musils, der in bezug auf die »Möglichkeitsmenschen« meint, daß sie »in einem feineren Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumereien und Konjunktiven« leben. »Das Mögliche«, schreibt Musil weiter, »umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.«" 10 Vgl. C. Levi: Christus kam nur bis Eboli, S. 86. 11 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: GW, Bd. I, S. 16.
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Die Wirklichkeit »als Aufgabe und Erfindung« zu behandeln, aufgrund eines »bewußten Utopismus«, gehört sicherlich zum poetischen Programm Ingeborg Bachmanns, synthetisch in der oft zitierten Formel zusammengefaßt, daß »wir im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen unsere Möglichkeiten erweitern« [WIV, S. 276]. Dieser Poetik folgen auch die Klangbilder, die InApulien entwickelt werden. In der dritten Strophe wird die Helle der Felder utopisch in den Troglodytentag der Höhlenstadt versetzt. Der Mohn ist nun vom Schmerz im Schlaf verbraucht, bis er nicht mehr imstande ist, zu brennen. Seine dämonische Komponente verblaßt. Die rhetorische Figur der Inversion, aufgrund welcher es nicht der Mohn (Opium) ist, der den Schmerz tilgt, sondern umgekehrt der Schmerz, der den Mohn umbringt, ist hier kein pures stilistisches Mittel. Wenn der Mohn unter anderem betäubende Schönheit bedeutet, ist seine Rolle diejenige, Elendsbedingungen zu mildern, wenn er auch in dieser Funktion sich selbst vernichtet. In der vierten Strophe scheint die sprichwörtliche apulische Trockenheit durch eine Lebhaftigkeit - die Tiere und Menschen mit einbezieht und sogar die Behausungen verschönert - besiegt worden zu sein. In der fünften Strophe verwandeln sich auch die Madonnen von abstrakten religiösen Wesen in Ammen, während die rituellen Früchte der Erde zu »Geschenken« werden. Die rhetorische Aufzählung - der »Katalog« der Geschenke der Arbeit und der Natur - beschwört hier eine erlöste Welt herauf, jenes »noch-nicht« der Utopie (Bloch), das sich so oft in den Bildern der Anrufung des Großen Bären niederschlägt. In der letzten Strophe kehrt das Verbmodus zum Indikativ zurück. Das emphatische »endlich« am Beginn des Verses, das schon in der vorhergehenden Strophe durchklang, zeigt jedoch an, daß wir uns noch im Warteraum der Utopie befinden. Eine Utopie, die diesmal realisierbar scheint. Die Oliven werden gepreßt, das Ol rinnt, der »trunkene« Mohn verschwindet, und dabei sind es gerade die Taranteln, die ihn überwältigen, jenes Getier, das die volkstümliche Tradition stark mitbestimmt. Das Gedicht wird somit mit einem Bild beschlossen, das direkt mit dem Aspekt der »magischen« apulischen Welt in Verbindung steht und das seit dem 18. Jahrhundert die deutschsprachigen Reisenden angezogen hatte: der Tarantelbiß. Dieses Phänomen, das im Salento verbreitet war, einer Gegend in der Provinz Lecce, und teilweise in das katholische Heiligenfest des St. Paulus in Galatina eingegangen ist, bezieht sich auf den psychischen Zustand eines von der Tarantel gebissenen Menschen und die darauf folgenden »Behandlungen«. Personen, die vorgaben, von der Tarantel gebissen worden zu sein - die sogenannten »Tarantati« - , erlebten einen Krisenzustand, der von einer starken Melancholie oder von epileptischartigen Krämpfen gekennzeichnet war. Die »Heilung« erfolgte durch einen rituellen Tanz: Es wurden Musikanten herbeigeholt, und der von der Tarantel »Gebissene« tanzte mehrere Tage lang, von
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Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Anders gesagt hatte der Rhythmus der Musik die Aufgabe, einen Ausbruch an manischen Gebärden hervorzurufen, der bis zum Aufheben des psychischen Blocks andauerte. Es ist anzunehmen, daß auch die »Tarantella«, der in ganz Süditalien verbreitete Volkstanz, dessen Name eben auch von der Tarantel stammt, ihren Ursprung in dieser Musiktherapie hat. Eines der merkwürdigsten und faszinierendsten Merkmale der »Tarantati« bestand in der Tatsache, daß der Tanz oft darstellende, pantomimische Formen annahm. Einfache Bauern oder Tagelöhner, darunter sehr oft Frauen, die allesamt von den schrecklichen Lebensbedingungen auf dem Land gezeichnet waren - verwandelten sich durch den Tanz und die Darbietung eines reichen symbolträchtigen Rituals in mächtige Könige und Phantasiegestalten aus einer Märchenwelt. Der utopische Charakter dieser, den Theorien Ernst Blochs nahen »verkehrten Welt«, in welcher der Tanz und die Musik an die Stelle der Plage und der Unterdrückung treten, kommt ganz deutlich hervor. Im Gedicht Bachmanns überwältigen die Taranteln den Mohn. Gewissermaßen scheinen das Tier und die Blume zwei antithetische Figuren zu sein. Mit ihrem Biß rufen die Taranteln die Krankheit hervor, aber auch den Tanz und die Musik, durch die die Leidenden mächtig werden und der Schmerz aus der Welt verschwindet. Die ethnologische Lesart der südlichen Lebensbedingungen vermischt sich hier mit grundlegenden Prinzipien der Poetik Bachmanns. Die Musik ist für sie in der Tat eine dionysische und rituelle Kunst, die zum Paradigma der ästhetischen Tätigkeit genommen wird. Auch die Literatur muß sich in diesem Sinn in Rhythmus und Musik auflösen. Und erinnern denn eigentlich nicht auch die Klangbilder von In Apulien mit ihrem trochäischen Rhythmus an den Sechsachteltakt der Tarantella? Versuchen wir nun abschließend die Fäden unserer Ausführung miteinander zu verknüpfen. Weitab von dem Versuch, ein folkloristisches Bild eines abgelegenen Winkels im italienischen Süden darzubieten, hat Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht die Kontraste zwischen einer Wirklichkeit der materiellen und geistigen Misere und einer utopischen Sicht, die sich auf die volkstümliche Phantasie stützt, entworfen. Darüber hinaus ist In Apulien auch ein Gedicht über den Wert und die Funktion der Schönheit. Denn wie viele andere Texte Bachmanns stellt dieses Gedicht eine Reflexion über die Funktion der Kunst dar. In diesem Sinn scheint im Text ein Signal auf, daß noch nicht berücksichtigt wurde: die Trunkenheit des sterbenden Mohns. »Trunken« ist ein typisch Bennscher Ausdruck: »trunken« ist für Gottfried Benn die Kunst in ihrem dionysischen Moment. Auch diese Adjektivierung könnte die Hypothese bestätigen, daß der Mohn eine faszinierende und gleichzeitig sterile Schönheit repräsentiert, jener Asthetizismus Benns, von dem sich Bachmann angezogen fühlte und den sie zugleich ab-
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lehnte. Der Mohn stirbt, aber sein Tod ist in bestimmter Weise eine Sublimierung, eine letzte Rettung der Schönheit, die nur innerhalb der Utopie ihre Legitimation zu finden scheint. Wenn im Text sich auch die unfruchtbare und vielleicht giftige Schönheit mit dem Mohn identifiziert, ist ihr Spiegelbild die Tarantel. Der symbolische Paradigmenwechsel Celans zwischen Mohn und Gedächtnis, zwischen verklärender Schönheit und schmerzender Erinnerung verwandelt sich bei Ingeborg Bachmann in eine »metaphorische« Konstellation, in der der Mohn durch das Tier aus dem Aberglauben überwältigt und gleichzeitig gerettet wird. Sein Biß fuhrt zu Krankheit, aber bedingt indirekt auch den rituellen Tanz, bei dem die Schönheit zu ihrem Recht kommt und die Welt sich auf den Kopf stellt. Solch ein Biß ist der Biß der Kunst: der Biß einer Poesie, die auf die Kraft und auf den Wert der Utopie besteht. Deutsch von Konstanze Czerny
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Wahrnehmung und Symbolik: Bachmanns Römisches Nachtbild Römisches Nachtbild Wenn das Schaukelbrett die sieben Hügel nach oben entfuhrt, gleitet es auch, von uns beschwert und umschlungen, ins finstere Wasser, taucht in den Flußschlamm, bis in unserem Schoß die Fische sich sammeln. Ist die Reihe an uns, stoßen wir ab. Es sinken die Hügel, wir steigen und teilen jeden Fisch mit der Nacht. Keiner springt ab. So gewiß ist's, daß nur die Liebe und einer den andern erhöht.
Das im Februar 1955 in »Akzente« veröffentlichte und anschließend in die Sammlung Anrufung des Großen Bären (1956) aufgenommene Gedicht Römisches Nachtbild verspricht eine reale Landschaft, deren konkretes Bild bestimmt ist durch die sieben Hügel und einen schlammigen Tiber. Mit den sieben Hügeln beginnt das Gedicht und mit ihnen wird auch sein zweiter Teil eingeleitet - »Es sinken die Hügel« - , während der Hinweis auf den Fluß ebenfalls zweifach erscheint - zunächst als dunkles Wasser und gleich darauf als Flußschlamm. Doch die beiden einem exakt bestimmten geographischen Raum zugehörigen Ausdrücke können, selbst mit ihrem zweifachen Auftreten, den Ort nicht als Mittelpunkt des Gedichtes ausweisen. Ein nur scheinbarer Mittelpunkt ist auch das in den Rahmen der römischen Nacht verlegte Liebesmotiv, das erst
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in den beiden letzten Zeilen in Form einer unanfechtbaren Botschaft deutlich wird, jedoch in dem vom Text implizierten Bild des Paares das ganze Gedicht durchzieht. Zweifellos ist das »wir« als unteilbares lyrisches Subjekt eindeutig präsent, was auch in der Umarmung angedeutet wird, die symbolisch in der Schaukel ihren Ausdruck findet. Und doch geht Ingeborg Bachmanns Gedicht nicht in der Beschreibung eines Ortes auf, ganz gewiß nicht in den Elementen eines nur allzu bekannten geographischen Rahmens, aber auch nicht in deren mit dem Thema der Liebe oder eines möglichen erotischen Imaginären verbundenen märchenhaften Neuinterpretation. Wenn also Römisches Nachtbild nicht das vom Auge und Herzen Wahrgenommene beschreibt, wenn es nicht darauf aus ist, eine Begebenheit im Rahmen einer mythisierten Natur wiederzugeben, so ergibt sich daraus, daß der wahre Mittelpunkt des Gedichtes wohl der Vorgang der Wahrnehmung selbst ist. Es ist daher kein Zufall, wenn dieses Gedicht im selben »Akzente«-Heft neben einem Text wie Was ich in Rom sah und hörte steht, denn hier stellt der Gegenstand Rom eine Art Versuchsfeld dar, einen m ö g lichen Ort< zur Überprüfung »eine[r] reale[n] Verbindung zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen« 1 . Zur Verdeutlichung dieses neuen Bezugssystems - Christa Wolf spricht von einem »Blick, der das allzu Feste, Starre aufzulösen und das scheinbar Schwache zu festigen scheint«, von einer »Teilnahme«, die sich der Beobachter herausnimmt, von >>höchste[r] Subjektivität, aber keine[r] Spur von Willkür« 2 - gibt es in Römisches Nachtbild, das also als lyrische Variante zum Prosatext zu lesen ist, diese Schaukelbewegung, die den Aufbau des Gedichtes bestimmt. Da die Schaukel zum Anziehungspunkt wird, in dem das lyrische Ich/Wir zusammenfließt und aufgeht, kommt es notwendig zu einer >Verselbständigung< des Motivs. In dieser Verschiebung des Mittelpunktes läßt sich eine Schreibgeste ausmachen, ähnlich wie sie auch dem Gedicht Schatten Rosen Schatten zugeschrieben worden ist: »Die leitende Motivik ist nicht mehr dem Ich zugeordnet, sondern das Ich wächst vielmehr aus dieser Motivik heraus.«' Man könnte also von einem gestischen Merkmal sprechen, »insofern, als sich in Bachmanns Gedicht das Schwergewicht vom lyrischen Ich auf die leitende Motivik verlagert«! Eine überraschend ähnliche Thematisierung dieser Pen-
1
So Ingeborg Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen, indem sie Ernst Robert Curtius zitiert (I. Bachmann: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung. In: WTV, S. 233). Vgl. diesbezüglich Hans Höller, der den poetologischen Inhalt des Essays über Rom unterstreicht. Ders.: Ingeborg Bachmann, S. 191-208.
2
Christa Wolf: Die zumutbare Wahrheit. In: Fortgesetzter Versuch. Aufsätze Gespräche Essays. Leipzig 1973, S. 248 und S. 249.
3
Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textanalyse, Einführung. Epik und Lyrik. Bern/Stuttgart/Wien 1990, S. 106-171.
4
Ebd.
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delbewegung (ebenfalls in Form eines Liebesgedichtes) findet sich in einem 1952 in Mohn und Gedächtnis erschienenen Gedicht von Paul Celan: Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt, zwischen Immer und Nie, stößt dein Wort zu den Monden des Herzens und dein gewitterhaft blaues Aug reicht der Erde den Himmel. Aus fernem, aus traumgeschwärztem Hain weht uns an das Verhauchte, und das Versäumte geht um, groß wie die Schemen der Zukunft. Was sich nun senkt und hebt, gilt dem zuinnerst Vergrabnen: blind wie der Blick, den wir tauschen, küsst es die Zeit auf den Mund.5
Auch hier hat die Nacht die Funktion, die Verflechtung von Dunkelheit und Liebe zu evozieren, und so wird das anfängliche »du« gleich darauf in einem verabsolutierten »wir« aufgefangen. Aber wenn der Gedanke der abwechselnden Bewegung, des SichHebens und Sich-Senkens gleich ist, dominiert bei Celan unbestreitbar die historische Dimension mit dem Wiederauftauchen der Vergangenheit, die in ihren quasi archäologischen Schichtungen gesehen wird: »Aus fernem, aus traumgeschwärztem / Hain weht uns an das Verhauchte«, »das Versäumte geht um«, »Was sich nun senkt und hebt, /gilt dem zuinnerst Vergrabnen«. Ingeborg Bachmanns Nocturno isoliert dagegen ein Element, das zwar auch bei Celan, wenn auch am Rande, erscheint: »und dein gewitterhaft blaues / Aug reicht der Erde den Himmel«, sagt Celan, und die hier gezogene Linie - genauer müßte man wohl von einer Bahn, einem Vektor sprechen - wird bei Bachmann zu einem tief eingegrabenen Strang, der sich, die dynamische Perspektive betonend, in zwei Bewegungen teilt, nach unten - »bis in unsrem Schoß / die Fische sich sammeln« - und nach oben - »wir steigen und teilen / jeden Fisch mit der Nacht«. In beiden Gedichten enthält das Bild der Schaukel natürlich ganz offenkundig den Gedanken der Fruchtbarkeit, wie es in der kleinen vormykenischen Statue der Phedre a
S
P. Celan: G W I , S . 57.
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la balanqoire zum Ausdruck kommt, in der die Schwingung zu chthonischen Kulten und ländlichen Ritualen in Beziehung stand.6 Aber in ihr sind auch andere Bedeutungsschichten vorhanden, die mehr mit dem biologischen Fluß des menschlichen Lebens zusammenhängen, mit all den wahrscheinlichen erotischen Inhalten bis hin zur Polarität Leben/Tod', ja bis zur Erinnerung an den alten Glauben, der ihrer schwingenden Bewegung eine magische und therapeutische Wirkung zuschreibt8 Uber die Ubereinstimmung von symbolisch-bildlichen Inhalten der Schaukel bei Bachmann und Celan hinaus liegt die Bedeutungsdifferenz zu Römisches Nachtbild gerade in der Perspektive, ja in der Gleichzeitigkeit der Perspektiven, die zu Beginn durch ein »auch« angezeigt wird. Denn indem der Schaukelrhythmus unterbrochen und dessen Bewegung zerlegt wird, erfaßt und blockiert dieses »auch« in einer nahezu unmöglichen kubistischen Gleichzeitigkeit der Sicht »den Sehenden« und »das Gesehene«. Die Umkehr der Raumkategorien, die in Das Spiel ist aus durch die spielerische Funktion möglich ist und es einem Floß ermöglicht, den Himmel hinunterzufahren - »Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floß / und fahren den Himmel hinunter?«!" _ überträgt hier auf den Gegestand der Betrachtung - die sieben Hügel - die Bewegung des Betrachters - »nach oben entfuhrt« - . Dieselbe Umkehr der Perspektive hatte Kafka in Kinder auf der Landstraße (1913) dargestellt: Ich hörte die Wagen an dem Gartengitter vorüberfahren, manchmal sah ich sie auch durch die schwach bewegten Lücken im Laub. W e krachte in dem heißen Sommer das H o l z in ihren Speichen und Deichseln! Arbeiter kamen von den Feldern und lachten, daß es eine Schande war. Ich saß auf einer kleinen Schaukel, ich ruhte mich gerade aus zwischen den Bäumen im Garten meiner Eltern. Vor dem Gitter hörte es nicht auf. Kinder im Laufschritt waren im Augenblick vorüber; Getreidewagen mit Männern und Frauen auf den
6
Vgl. Nadia Fusini: La luminosa. Genealogia di Fedra. Milano 1990, S. 76-77: »für den vorhellenischen Kultus deutete diese regelmäßige Schwingung in halber Höhe, vor und zurück« - so faßt Fusini die Interpretation der schaukelnden Phädra zusammen - »auf eine Art Ekstase hin. Es war doch trotz allem ein Flug, ein Zum-Himmel-Steigen, eine Annäherung an Sonne und Mond, auch wenn die Bewegung verhalten war« (ebd., S. 140).
7
Unter dem Stichwort »Schaukel« bringt das Herder-Lexikon der Symbole u. a.: »Vor allem in Indien symbolisiert sie den Auf- und Untergang der Sonne, den Rhythmus der Jahreszeiten und den ewigen Kreislauf von Tod und Geburt, gelegentlich auch die harmonische Verbindung von Himmel und Erde« (Herder-Lexikon. Symbole Herder-Lexikon. Freiburg/Basel/Wien 1978, S. 140). Vgl. auch das Stichwort »swinging« in: Ad de Vries: Dictionary of Symbols and Imagery. Amsterdam/London 31984, S. 452.
8
Vgl. das Stichwort »schaukeln« in Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. VII, Berlin/Leipzig 1935-36, S. 1017-1019.
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I. Bachmann: Das Spiel ist aus. In: W I , S. 82.
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Garben und rings herum verdunkelten die Blumenbeete; gegen Abend sah ich einen Herrn mit einem Stock langsam spazierengehn, und ein paar Mädchen, die Arm in Arm ihm entgegenkamen, traten grüßend ins seitliche Gras. Dann flogen Vögel wie sprühend auf, ich folgte ihnen mit den Blicken, sah, wie sie in einem Atemzug stiegen, bis ich nicht mehr glaubte, daß sie stiegen, sondern, daß ich falle, und fest mich an den Seilen haltend, aus Schwäche ein wenig zu schaukeln anfing. Bald schaukelte ich stärker, als die Luft schon kühler wehte und statt der fliegenden Vögel zitternde Sterne erschienen.10
Kafkas Text, der übrigens gerade von der Erfahrung des Sehens und Hörens ausgeht, hält Schwindelgefiihl und Sinnentrug in einem Bild fest. In Ingeborg Bachmanns Römisches Nachtbild ist die Umkehrung der Bahn eher die geographische Linie einer neuartigen Haltung den Dingen gegenüber, in der der Wahrnehmungsprozeß einem - man könnte sagen - biologischen Rhythmus folgt. So zeichnet die systolische und diastolische Bewegung, mit der die Fische gesammelt und der Nacht einverleibt werden, in der absoluten Perfektion einer räumlichen Gestaltung ein Bild von äußerster lyrischer Suggestion und zugleich ein ästhetisches Prinzip. Der Fisch, der in Was ich in Rom sah und hörte als Graffito und Sinnbild eines katakombenhaften Roms erscheint", wird im Gedicht seinem ursprünglichen Element wieder zurückgegeben. Er »gehört« wieder »den Netzen« wie in Nachlflug (1953)", wird von neuem - hier aber in ewiger Wiederholung - zu einer Form von Natürlichkeit und Vitalität wie in Nebelland (1954) in der Metamorphose der Geliebten, die im Winter stumm als Fisch zu den Fischen hinabsteigt - »Im Winter ist meine Gehebte / unter den Fischen und stumm«1'. Denn die zeitliche Chiffre, in der Ingeborg Bachmanns Römisches Nachtbild gebettet ist, ist in der Schwingung der Schaukel eingeschlossen - wie bei Celan in der Schwingung des Pendels - , aber dann weitet die Grammatik des Gedichtes, die Wahl des Präsens und die Verwendung des »wenn« - fest wie in einem Dialog mit Celans »wenn« - mit einem zweifelsfreien »Keiner springt ab« die Dauer ins Unendliche aus und macht die Bewegung im Raum unendlich wiederholbar.
10 Franz Kafka: Kinder auf der Landstraße. In: Gesammelte Werke, Bd. IV: Erzählungen, hg. von von M . Brod, Frankfurt a. Main 1976, S. 21-24. 11
I. Bachmann: Was ich in Rom sah und härte. In:
S. 33: »Die Wege senken sich in die Katakomben.
Ein Zündholz wird angeritzt. Seine Flamme dehnt sich nach den Sinnbildern. Für einen Augenblick erscheinen: Fisch, Pfau und Taube, Anker und Kreuz, Speise und Trank.« 12 »Indiens Gewürze und Seiden aus Japan / gehören den Händlern / wie die Fische den Netzen« (I. Bachmann, W I , S. 52). 13 I. Bachmann: W I , S. 105. 14 Ulrich Thiem weist in seiner Analyse von Römisches Nachtbild mit Recht auf den Passus aus Das dreißig-
Wahrnehmung und Symbolik: Bachmanns Römisches Nachtbild
Diese Geste, mit der die Fische aufgenommen und mit der Nacht wieder geteilt werden, zeichnet so den unendlichen, halbkreisförmigen Verlauf des konkretes Bildes (»gleitet es auch [...] ins finstere Wasser« / »wir steigen«) und des gedachten Bildes nach (»So gewiß ist's, daß nur die Liebe / und einer den anderen erhöht«) und legt zugleich eine symbolische Einheit zwischen Natur und Mensch fest, quasi eine weitere Verwandlung, die ewig umkehrbar ist. Eine ähnliche Verflechtung von vegetaler Metamorphose und Osmose-Bewegung läßt sich in einem Gedicht von Johannes Bobrowski im Zyklus Russische Lieder, das kurz nach Römisches Nachtbild entstand, nachweisen: Maryna von einem Turm über die Landschaft der Felsen hinab singend, drei Flüsse unter den Füßen ihr, aber Nachts und des Winds Schatten im Flug.
stejabr hin: »Er dachte - wenn jemand versteht, was das heißt! [...] Und als er dachte und dachte und wie auf einer Schaukel hoch und höher flog, ohne Schwindelgefuhl, und als er sich den herrlichsten Schwung gab, da fühlte er sich gegen eine Decke fliegen, durch die er oben durchstoßen mußte. Ein Glücksgefähl wie nie zuvor hatte ihn erfaßt, weil er in diesem Augenblick daran war, etwas, das sich auf alles und aufs Letzte bezog, zu begreifen. Er würde durchstoßen mit dem nächsten Gedanken! Da geschah es. Da traf und rührte ihn ein Schlag, inwendig im Kopf; ein Schmerz entstand, der ihn ablassen hieß, er verlangsamte sein Denken, verwirrte sich und sprang von der Schaukel ab. Er hatte seine Kapazität zu denken überschritten oder vielleicht konnte dort kein Mensch weiterdenken, wo er gewesen war« (I. Bachmann: W Π, S. 107). Es liegt auf der Hand - wie Thiem implizit andeutet - , daß die unendliche Bewegung des »Keiner springt ab« in der Erzählung eine Unterbrechung durch ein identisches semantisches Feld erfahrt: »sprang von der Schaukel ab«. »Hier« - fährt Thiem fort - »stehen die Bewegungen des >Steigens< und >Fallens< in einem akzentuierten Spannungsverhältnis zueinander, hier geht es auch deutlich genug um die utopistische Problematik, indem die Frage des >Grenzen< des Denkens aufgeworfen wird.« Aber dann erweisen sich Thiems Schlußfolgerungen gerade im Hinblick auf die utopische Komponente von Römisches Nachtbild als unscharf: »Daß den Liebenden im Römischen Nachtbild das Scheitern erspart bleibt, liegt nicht etwa daran, daß im Gedicht ein utopisches Gegenbild errichtet würde; hier steht überhaupt nicht die utopische Problematik im Mittelpunkt, sondern allein der lyrische Augenblick. Für einen lyrischen Augenblick wird im Lebensraum des Südens der völlige Einklang möglich: Einklang von >Steigen< und >Sinken< in der Schaukelbewegung, Einklang des einen mit dem anderen in der Liebe, Einklang der Liebenden auf der einen Seite der >Schaukel< mit dem Lebensraum auf der anderen« (U. Thiem: Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns, S. 160-162).
Antonella Gargano
igo
Schöne Geliebte, mein Baum, dir i m G e z w e i g h o c h mit offener Schläfe g e g e n den M o n d schlaf ich, begraben in meine Flügel.
Schlaf ich du reichst mir ein Salzkorn, geschöpft im imbefahrenen M e e r , ich gebe dir wieder einen T r o p f e n R e g e n aus d e m Lande, w o keiner weint.'5
A u f diese W e i s e wird die B a c h m a n n s c h e G e s t e , m i t der die Fische a u f g e n o m m e n u n d m i t der N a c h t w i e d e r geteilt w e r d e n , in ihrer utopischen B e d e u t u n g verstärkt. In der D i a l e k t i k v o n L i e b e u n d T o d - i n d e n Liedern aufder
Flucht ( 1 9 5 6 ) h e i ß t e s : » D i e L i e b e
hat einen T r i u m p h und der T o d hat einen«16 - triumphiert hier ohne Z w e i f e l die L i e b e als h i s t o r i s c h e E r f a h r u n g u n d als p e r s ö n l i c h e s E r l e b n i s d e s » w i r « . D e r a u s d e n
Liedern
auf der Flucht z i t i e r t e V e r s - » D i e L i e b e h a t e i n e n T r i u m p h u n d d e r T o d h a t e i n e n , / d i e Z e i t u n d d i e Z e i t d a n a c h . / W i r h a b e n k e i n e n . « - ist a l s o u m k e h r b a r i n » W i r h a b e n e i n e n « in d e m Augenblick, w o die utopische G e s t e in der G e w i ß h e i t gipfelt, m i t der der E n d v e r s f o r m u l i e r t ist.'7 D i e p l ö t z l i c h e U m k e h r h a t , i n d e m sie d u r c h e i n e n V e r g l e i c h das B i l d v o m Ä u ß e r e n e i n e s o p t i s c h e n E i n d r u c k s ins I n n e r e e i n e r R e f l e x i o n v e r l e g t , a n s c h e i n e n d d i e r ö m i s c h e
15 Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke, hg. von E. Haufe, Bd. I: Die Gedichte. Berlin 1987, S. 137. 16 I. Bachmann: Lieder auf der Flucht. In: W I , S. 147. 17 Hermann Weber stellt zwar das Fehlen eines eindeutigen transzendentalen Bezugrahmens fest, forciert jedoch den Sinn dieser utopischen Geste und der Verwendung einer fraglos christlichen Symbolik wie der der Fische und ihrer Verteilung, indem er das gesamte Gedicht in das Schema einer »biblischchristlichen Metaphorik« preßt. Der Gedanke der »Erhöhung« wird auf der Grundlage eines sehr herbeigezogenen Zitats aus dem Johannesevangelium interpretiert, wo es als »Bild des heilbringenden >Aufstiegs< Jesu zum Vater (>anschaulich< im Kreuz)« erscheint, während »die Liebenden [...] ihre >Auferstehung< aus dem Wasser, dem Schlamm [feiern]« (Hermann Weber: An der Grenze der Sprache. Religiöse Dimension der Sprache und biblisch-christliche Metaphorik im Werk Ingeborg Bachmanns. Essen 1986, S. 155-156).
Wahrnehmung und Symbolik: Bachmanns Römisches Nachtbild
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Landschaft weit hinter sich gelassen. Aber gerade hier entdeckt man Rom als keineswegs zufallige Kulisse fiir das Ausprobieren eines Wahrnehmungsprozesses, da sich der Ring über der Bachmannschen »reinen Größe« der Liebe und zugleich über der Ewigkeit einer Landschaft wieder schließt. Die sieben Hügel und der Tiber sind dann keineswegs banal, sondern werden wie Schlamm, Wasser und Fische zu Elementen der Geschichte und der Vergangenheit und somit in den Lebenszyklus einbezogen. Und wenn man das vielfache Bild betrachtet, in dem diese »absolute Größe«' 8 enthalten ist, scheint sich noch eine andere ästhetische Lehre aus Ingeborg Bachmanns Gedicht zu ergeben. Das Sehfeld schwebt wie die Schaukel in der Luft, steigt in die Höhe und streift beim Abstieg das Wasser oder den Flußschlamm, aber nie die Erde. Wie Italo Calvino in seinen Lezioni americane (Amerikanische Vorlesungen) scheint Ingeborg Bachmann also »für Leichtigkeit« einzutreten1', indem sie ihre Art, die Welt zu sehen, »in ein allegorisches Bild der Leichtigkeit« (der Ausdruck stammt ebenfalls von Calvino20) konzentriert.
18 I. Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. In: W I V , S. 276: »Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe.«
19 Italo Calvino: Lezioni americane. Seiproposteper ilprossimo millennia. Milano 1988, S. 5. 20
Ebd., S. 18.
Robert Pichl
Ingeborg Bachmanns Erklär mir, Liebe
Erklär mir, Liebe Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind, dein imbedeckter Kopf hat's Wolken angetan, dein Herz hat anderswo zu tun, dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein, das Zittergras im Land nimmt überhand, Sternblumen bläst der Sommer an und aus, von Flocken blind erhebst du dein Gesicht, du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, was soll dir noch geschehen Erklär mir, Liebe! Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad, die Taube stellt den Federkragen hoch, vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft, der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt das ganze Land, auch im gesetzten Park hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt. Der Fisch errötet, überholt den Schwärm und stürzt durch Grotten ins Korallenbett. Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion. Der Käfer riecht die Herrlichste von weit; hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch, daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern, und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch! Erklär mir, Liebe!
Ingeborg Bachmanns Erklär mir, Liebe
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Wasser w e i ß zu reden, die W e l l e n i m m t die W e l l e an der H a n d , im W e i n b e r g schwillt die Traube, springt und fällt. So arglos tritt die Schnecke aus dem H a u s !
E i n Stein w e i ß einen anderen zu erweichen!
Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann: sollt ich die kurze schauerliche Z e i t nur mit G e d a n k e n U m g a n g haben und allein nicht Liebes kennen und nicht Liebes tun? M u ß einer denken? W i r d er nicht vermißt?
D u sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn ... Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen. K e i n Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.
D a s G e d i c h t Erklär
mir, Liebe a u s d e m Z y k l u s Anrufung
des Großen
Bären i s t u m 1 9 5 4
e n t s t a n d e n . L e i d e r finden s i c h d a z u i m l i t e r a r i s c h e n N a c h l a ß d e r A u t o r i n w e d e r V o r stufen n o c h P a r a l i p o m e n a , die eine exaktere D a t i e r u n g des Textes e r m ö g l i c h e n w ü r d e n . 1 I m V e r g l e i c h z u j e n e n G e d i c h t e n , d e n e n d i e B a c h m a n n f o r s c h u n g s c h o n früh d e n A u s s a g e w e r t poetologischer M a n i f e s t e z u g e s p r o c h e n hat2, ζ. B . d e m T i t e l g e d i c h t rufung
des Großen
Bären,
Mein
Vogel, Landnahme
e t c . , w u r d e Erklär
mir, Liebe
An-
bisher
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ι
Der einzige vorliegende Textzeuge Cod.Ser.Nr. 25.131, Blatt Ν 3280/Κ1482 ist ein "Iyposkript in Reinschrift.
2
Vgl. die bis heute grundlegende systematische Interpretation der unter diesem Aspekt einschlägigen Gedichte bei U. M. Oelmann: Deutschepoetologische Lyrik nach 194;, S. 1-103.
3
Als Interpretationen, die entweder das Gedicht für sich oder zumindest in einem größeren thematischen Zusammenhang ausführlich behandeln, seien hervorgehoben: Rudolf Hagelstange: Ingebarg Bachmann, Erklär mir, Liebe. In: Dieter E. Zimmer (Hg.): Mein Gedicht. Begegnungen mit deutscher Lyrik. Wiesbaden 1961, S. 8-10. - Karl Krolow: Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik. München 1963, S. 58-61. - Jörg Hienger: »Erklär mir, Liebe«. In: Jörg Hienger und Rudolf Knauf (Hgg.): Deutsche Gedichte von Andreas Gryphius bis Ingeborg Bachmann. Eine Anthologie. Göttingen 1969, S. 206-209.~~ Cornelia Stoffer-Heibel: Metaphernstudien. Versuch einer Typologie der Text- und Themafunktionen der Metaphorik in der Lyrik Ingeborg Bachmanns, Peter Hüchels und Hans Magnus Enzensbergers. Stuttgart 1981 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 96), S. 135-142. - Christa Wolf: Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung. Berlin und Weimar '1988, S. 168-172. - M. Oberle: Liebe als Sprache und Sprache als Liebe, S. 4-12.
194
Robert Pichl
erstmaligen Lektüre des Textes die mit Ingeborg Bachmanns Werken gemeinhin assoziierte »Problemkonstante« in fast plakativer Art zu präsentieren scheint, so daß man geneigt sein könnte, die Deutung als in der wissenschaftlichen Diskussion »ohnehin evident« abzuhaken: Unschwer erkennt man als Thema das schmerzliche Bewußtsein des intellektuellen Menschen, daß sich seine gesellschaftsbedingt rationale, zweckgebundene Lebenshaltung aufgrund der gestörten zwischenmenschlichen Vermitdungsfahigkeit mit der ersehnten individuellen Verwirklichung in einer spontanen, gefuhlsbestimmten Findung des Du nicht vereinbaren läßt. Beim subtileren Nachvollziehen dieser Thematik in der konkreten Erlebnissituation des Gedichtes wirft der schon im Titel suggerierte Dialog des lyrischen Ich aber sofort mehrere Fragen auf: Können dem lyrischen Ich und seinem fiktiven Gesprächspartner geschlechtsspezifische Rollen zugeschrieben werden, wie das aufgrund unserer Erfahrung mit dem Bachmannschen CEuvre wohl zu erwarten wäre? Also: spricht ein männlicher Liebessuchender mit der unerreichbaren Geliebten, oder umgekehrt? Oder spricht einer von beiden die zur Allegorie personifizierte Liebe selbst an?t Versuchte man, diese Fragen bloß auf der Denotatsebene des Textes zu klären, würde der erste Abschnitt des Gedichtes dem darin angesprochenen Du eindeutig männliche Züge zuweisen: das konventionelle Grüßen durch Lüften des Hutes und die Signale rationaler, gefuhlsferner Tätigkeit (»dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein«; V 4 , »dein Herz hat anderswo zu tun«; V 3). Somit wäre eine weibliche Sprecherin vorauszusetzen, wobei »Liebe« als affektive Anrede des männlichen Geliebten zu deuten wäre. Das ganze Gedicht wäre dann als Klage über den liebesunfähigen Partner mit resignativer Schlußkonsequenz zu verstehen. Der logische Bruch tritt allerdings in der langen, den Mittelteil des Gedichtes bildenden Exempelreihe spontaner Liebesbezeigungen in der Natur auf, wo das lyrische Ich beim Beispiel des Käfers klagt »hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch, daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern, und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch« (V ζ 1-23). Dies wirkt aber im Kontext einer solchen Deutung zwangsläufig sinnwidrig. Läßt man das gleiche Experiment von einem männlichen Sprecher ausgehen, der von der geliebten Frau eine Erklärung für seine existentiell unmögliche Liebeserfullung fordert, wird die innere Logik durch dieselbe Du-Anrede des ersten Abschnitts, die mit dem Du der Geliebten nicht identisch sein kann, zerstört. Dasselbe kontextuelle Problem bliebe in dieser geschlechtspolarisierenden Konfiguration auch dann bestehen, wenn die Liebe als Allegorie angesprochen würde. 4
Vgl. ähnliche Überlegungen bei Christa Wolf: Kassandra, S. \ηοί., und bei Mechthild Oberle: Liebe ab Sprache, S. 5f. (mit weiteren Verweisen in Fußnote 11).
Ingeborg Bachmanns Erklär mir, Liebe
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Diese gleich am Anfang durch die unklare Signifikanz der Personalpronomina erzeugte Verwirrung5 findet ihr Pendant am Ende des Gedichts in dem offensichtlich die Schlußkonsequenz enthaltenden Bild des Feuersalamanders. Auf den ersten Blick bietet sich ebenfalls eine resignative Deutung an: Der intellektuelle Mensch, auf den »ein andrer Geist« zählt (V 35), bedarf keiner weiteren Erklärung seines Problems. (Man beachte die drei Punkte, mit denen die Antwort des fiktiven Gesprächspartners abbricht!) Nachdem sich das lyrische Ich in einer langen Vergleichsreihe in zunehmender Emphase über die ihre Liebe spontan vermittelnden Naturwesen geäußert hat, nimmt es in der Identifikation mit dem Fabelwesen, das von den Liebesflammen nicht betroffen, aber auch nicht zerstört werden kann, seine existentielle Außenseiterrolle offenbar als ebenfalls naturgegeben zur Kenntnis.6 Und doch regt gerade die mythische Aura, die den Salamander von den übrigen genannten Naturwesen deutlich abhebt, sein im Kontext des Gedichts fast rätselhaft wirkender Symbolcharakter, den Leser zu weiteren Überlegungen an. Versuchen wir nun, diese Aporien in einer schrittweisen exemplarischen Analyse aufzuklären. Schon der Aufbau des Gedichtes erinnert an rhetorische Dispositionen des epideiktischen Genus, der »Lob-« bzw. »Trauerrede«.7 Das Exordium, verbunden mit einer Art Narratio, veranschaulicht in paradigmatischen Details das gesellschaftlich normierte Lebensprofil des Intellektuellen: das konventionelle Grüßen, die Mehrsprachigkeit als Zeichen der Bildung und weitläufigen Kompetenz und - von der Redewendung »mit dem Kopf in den Wolken stecken«8 her konnotierbar - die spekulative Geistestätigkeit. Bei all diesen Selbstartikulationen der intellektuellen Persönlichkeit aber findet keine essentielle zwischenmenschliche Kommunikation statt, da das »Herz anderswo zu tun« hat (V 3). Die existentielle Disharmonie wird unterstrichen durch Bilder des inneren Unbeteiligtseins, mit dem der Mensch auf die Schönheit des Sommers reagiert (»von Flocken blind erhebst du dein Gesicht«; V 7) und seine zum Verhaltensschema erstarrten Gefühle auslebt (»du lachst und weinst und gehst an dir zugrund«; V 8), so daß er sein Leben als ziellose Eintönigkeit empfinden muß (»was soll dir noch geschehen« - V 8). Die unausgesprochen als höchste Vollendung zwischenmenschlicher Kommunikation anerkannte Liebe bleibt in dieser Lebensform ausgespart. In diesem Bewußtsein verlangt der Sprecher nach einer seinem Wesen adäquaten, also nach einer rationalen Problemlösimg. An dieser Stelle liegt es nun nahe, die Du-Anrede des ersten Abschnitts als Selbstanrede des lyrischen Ich zu begreifen, das, im rationalen Denken befangen, in Form der rhe-
5
Christa Wolf spricht treffend von einer »Grammatik der vielfachen gleichzeitigen Bezüge«, ebd., S. 171.
6
So etwa bei J. Hienger: Erklär, S. 2of.
7
Grundsätzliches bei Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 51976, S. 25 (§ 43).
8
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 30. Leipzig i960, Sp. 1286.
ig6
Robert Pichl
torischen Apostrophe von der Liebe als personifiziertem Abstraktem (oder, um mit den Worten der Dichterin zu sprechen, als »reiner Größe«)', eine Erklärung für seinen schmerzlichen Zustand fordert. Diese schon im Titel exponierte Forderung »Erklär mir, Liebe« bildet die kompositorische Schlüsselstelle des Textes, formuliert als rhetorische Propositio das Redeziel und gliedert in dreifacher, refrainartiger Wiederholung den weiteren Redeablauf bis zur Problemlösung. In der folgenden Argumentatio führt das lyrische Ich eine zunächst scheinbar willkürlich ausgewählte, jedoch inhaltlich und formal gesteigert angeordnete Reihe lebender und unbelebter Naturwesen an, von denen jedes in der ihm wesenseigenen Art seine Liebe vermittelt. Der Sprecher konturiert in dieser Exempelreihe, die insgesamt wie ein Preislied auf die Liebe als ein sich in ihrer Spontaneität und Selbstverständlichkeit konstituierendes Ordnungsprinzip der Natur wirkt10, gleichsam empirisch und in zunehmender Schärfe seine eigene kommunikatdonsgestörte und liebesunfähige Existenz als widernatürliche Außenseiterposition und bringt nach der dritten, dringenden Erklärungsforderung sein Problem in Form der rhetorischen Refutatio, dem Aufzeigen der zu widerlegenden gegnerischen Meinung, auf den Punkt: Ist dem von der Ratio geprägten intellektuellen Menschen tatsächlich die Liebe verwehrt? Ist er unwiderruflich einem dualistischen Prinzip von Denken und Gefühl unterworfen? Müßte nicht, gerade aller logischen Gesetzmäßigkeit zufolge, auch er als einzig fehlendes Glied in dieses die ganze Natur umfassende Ordnungssystem der Liebe integrierbar sein? Die vordergründig klare und subjektiv enttäuschende Antwort der Liebe wird nun in ihrer vollen Bedeutung erst aus ihrer resultierenden Funktion in der Diskursabwicklung begreifbar, die sich an den von der Forderung »Erklär mir, Liebe« markierten Schlüsselstellen als Verknüpfung mehrerer Ebenen erweist: Die bewußte Thematisierung der unerfüllten Liebessehnsucht ist ebenso bewußt mit der Thematisierung des sprachlichen Vermittlungsproblems als deren Ursache verbunden, zugleich aber gekoppelt mit der unbewußten paradigmatischen Demonstration dieser gestörten Vermittlung und ihrer Folgen im Redevorgang selbst. Signale für diese Semantisierung der sprachlichen Form sind etwa die kontextuelle Unklarheit der Du-Anrede am Gedichtanfang, ebenso die an sich widersinnige Forderung einer rationalen Erklärung für rational Unerklärbares, be-
9
W I V , S. 276.
10 Vgl. Stoffer-Heibel: Metaphernstudien, S. i^L· »Die Auswahl der verschiedenen Repräsentanten der einzelnen Naturbereiche, Gattungen und Arten erscheint systemlos [...] Es wird suggeriert, daß die Natur bis ins unwichtigste Detail betroffen ist. Die Nennung [...] korrespondiert daher mit der Absicht, den Gesamtbereich der Natur zu erfassen.«
Ingeborg Bachmanns Erklär mir, Liebe
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sonders aber der stilistische Duktus in der Exempelreihe: Die mit der Anthropomorphisierung der Naturwesen begründete Metaphorik wird bis zu einem Punkt vorgetrieben, wo sie, aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wirklichkeitsrelation, aus der rationalen Perspektive des Sprechers nur mehr einen phraseologischen Aussagewert hat, die intendierte empirisch-analogische Beweisfunktion des Exempels eigentlich zunichte macht und sie nur mehr in stereotyper Bildlichkeit andeutet, nämlich in dem emphatisch abschließenden Oxymoron: »Ein Stein weiß einen andern zu erweichen« (V 29).11 Mit diesem Phraseologismus korrespondiert nun die bezeichnenderweise nicht von der Liebe (als allegorischer Figur) selbst ausgesprochene, sondern vom lyrischen Ich als deren Problemlösung referierte Antwort auf seine entscheidende Frage: »Du sagst, es zählt ein andrer Geist auf ihn ...« (V 3 5), ein nach neopositivistischer Sprachauffassung klassisches Beispiel für eine Leerformel (in der Begriffsverwendung von Ernst Topitsch)12, die dem Fragenden die negative Lösimg seines Problems als fraglos gültigen Sachverhalt manifestieren soll. Man könnte nun, wie es einige Interpreten auch tun, den Verzicht des lyrischen Ich auf weitere Erklärungen zugunsten der Vorstellung vom Feuersalamander, dem die Flammen nichts anhaben können, als resignierte Anerkennung des schon früher genannten dualistischen Existenzprinzips deuten, das dem in seiner Gedankenwelt eingeschlossenen Intellektuellen in dem mit Leid und Gefahr verbundenen Spiel der Emotionen die persönliche Unangreifbarkeit, freilich um den Preis der Gefühllosigkeit, garantiert.'3 Man könnte auch, dem deutlichen intertextuellen Bezug auf Gaspara Stampas Sonett Per un nuovo amore folgend, den Salamander als Symbol des zwar inmitten der absoluten Liebe lebenden, jedoch nicht zu deren individueller Erfüllung gelangenden Menschen
11
Über den für die Metaphorik der Gegenwartsliteratur typischen Wandel des traditionellen analogischen Modellcharakters zu einem innovatorisch-hypothetischen und die damit zugleich veränderte kognitive Funktion der Metaphern informiert im Rahmen eines ausführlichen Forschungsberichtes Cornelia Stoffer-Heibel: Metaphernstudien, S.
i-ioij bes. S.
ioof. Sie verfolgt allerdings dann in ihrer Interpretation
des Gedichtes die semantische Besonderheit der in Vers 29 »wörtlich genommenen [...] habitualisierten Redensart« nicht in dieser Richtung weiter, sondern erkennt darin nur einen »Verfremdungseffekt«, der »der Intensivierung der Aussage dient«; ebd., S. 139. 12 Vgl. Ernst Topitsch: Über Leerformeln. Zur Pragmatik des Sprachgebramhs in Philosophie und politischer Theorie. In: Ders. (Hg.): Probleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift fur Victor Kraft. Wien igäo, S. 20ifif. 13
Vgl. J. Hienger: Erklär, S. 209, und Ch. Wolf: Kassandra, S. 123. Interessante Hinweise auch bei K. Bartsch: Ingeborg Bochmann, '1997, S. 68f.
198
Robert Pichl
deuten."» Schließlich hat man auch von einer verzweifelten Flucht des von der rationalen Erklärung enttäuschten Fragenden ins utopische Gedankenbild gesprochen.'? In jedem Fall würde damit die unbefriedigende Lebensform des Intellektuellen in ihrer existentiellen Zwangsläufigkeit bestätigt. Eine plausiblere Deutung scheint aber möglich, wenn das Schlußbild der Rede von der gezeigten Semantisierung des Redevorgangs selbst her begriffen wird: Dem lyrischen Ich ist im Zuge seiner Aufzählung metaphorischer Exempel gleichsam unbewußt eine neue sprachliche Kompetenz, nämlich ebenjene der bildhaften Andeutung erwachsen, die ihm zugleich eine Dimension überrationalen Erkennens eröffnet.16 So wird ihm in der phraseologischen Antwort der Liebe nicht nur die sachliche Insuffienz der Leerformel, sondern damit zusammenhängend auch jene seiner eigenen Forderung nach einer rationalen Erklärung fiiir das Irrationale klar. Das lyrische Ich erkennt, daß die Gedankensprache weder sein Lebensproblem noch dessen Lösung wesensgerecht artikulieren, sondern nur systemimmanent, d. h. tautologisch, formulieren kann.1? Es verzichtet daher auf weitere Erklärungen und wendet in seiner Replik nunmehr bewußt das die Grenzen des Rationalen überschreitende Vermittlungsmedium der bildhaften Andeutung an (»Ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen«; V 36, 37). Man erinnert sich hier unschwer an Wittgensteins Satz aus dem »Tractatus logico-philosophicus« 6.522: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« Der vom Feuer unbeschädigte bzw. sogar darin lebende Salamander ist ein seit der Antike bekanntes, mit zahlreichen mythischen (und mystischen) Bedeutungen besetztes Symbol bzw. Emblem.'8 Gerade deshalb ist er zwar aus dem empirischen Kontext der früher angeführten Exempel aus der Natur ebenso abgehoben wie das Oxymoron vom »Steinerweichen«, doch setzt er, an dieses anknüpfend, in der Art seiner bildhaften Andeutung die Exempelreihe gleichsam ins Utopische fort. Aufgrund der dem lyrischen Ich nun bewußt gewordenen Fähigkeit, Irrationales irrational, d. h. bildhaft zu artiku-
14 Vgl. M. Oberle: Liebe als Sprache, S. iof. 15 Vgl. Manfred Jurgensen: Ingeborg Bochmann. Die neue Sprache. Bern/ Frankfurt a. Μ./ Las Vegas 1981, S. 36. 16 Vgl. C. Stoffer-Heibel: Metaphernstudien, S. ioof. 17 Vgl. L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 6.126. 18 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. VI. Berlin/Leipzig 1934/35, SP- 457ff·; ferner Ad de Vries: Dictionary of Symbols and Imagery. Amsterdam/London '1981, S. 398; Udo Becker: Lexikon der Symbole. Freiburg/Basel/Wien 1992, S. 246; Arthur Henkel und Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. u. 17. Jahrhunderts. Ergänzte Neuausgabe. Stuttgart 1976, Sp. 739^
Ingeborg Bachmanns Erklär mir, Liebe
199
lieren, rückt dieses Irrationale auch in seinen erweiterten Erkenntnishorizont. Das Symbol des schmerzlos durch die Flammen gehenden Salamanders muß daher nicht auf die Bedeutung einer empirisch evidenten existentiellen Ausgeschlossenheit des Intellektuellen von der Liebe reduziert werden, sondern wird vielmehr, wenn man den Redediskurs konsequent verfolgt hat, als Idealvorstellung eines Lebens des Intellektuellen in und mit der Liebe ohne existentiellen Substanzverlust, also als utopisches Fernziel jener zu Beginn des Gedichts so schmerzlich vermißten existentiellen Harmonie zwischen der intellektuellen Persönlichkeit und ihrer Umwelt begreifbar. In dieser Deutung aber vermag das Symbol auf die zentrale Stelle aus Ingeborg Bachmanns Kriegsblindenrede vorauszuweisen: Eis ist auch mir gewiß, daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es in der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt. 19
Ein explizite, verbindliche Lösung des Lebens- und Liebesproblems ist im Gedicht Erklär mir, Liebe nicht ausformuliert. Aber in welchem Werk Ingeborg Bachmanns gibt es verbindlich ausformulierte Lösungen?
19 w i y s . 276.
Neva Slibar
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen Ingeborg Bachmanns Gedichtzyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen
I
Da zieht einer aus - in märchenhafter Manier1 -, um das Fürchten zu lernen aus einem Land, wo der Tod und Tote, Mörder und Gemordete zum Alltag gehören: Während die Alten im Sterben liegen, begatten die Bauernsöhne in stummer Triebhaftigkeit die Mägde, deren Unschuld längst verloren ist. Im zweiten Gedicht des Zyklus Ingeborg Bachmanns Von einem Land, einem Fluß und den Seen heißt es: Die Alten liegen in den dumpfen Stuben, das Testament im Arm, im zweiten Schlaf, und ihre Söhne zeugen wortlos Söhne mit Mägden, die der Gott als Regen traf.2
ι
Vgl. Märchen, von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. In: Kinder- und Hausmärchen, ges. G e brüder Grimm. München 1984, S. 51-62.
2
Meine Deutung steht in deutlichem Gegensatz zu Manfred Jurgensens Interpretation. Zwar sind die Beschreibungen der heimatlichen Landschaft tatsächlich Sprachgemälde von sinnlicher Präsenz, jedoch wird hier gerade keine heimatliche Idylle beschworen. Jurgensen fuhrt aus: Ein natürlicher Eros herrscht in diesen Skizzen dörflicher Gemächlichkeit, Leben und Tod werden gleichermaßen ab Ärmliche Erfüllung gezeichnet. (Manfred Jurgensen: Ingeborg Bachmann. Die neue Sprache. Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1, S. 20). Die an Bernhard erinnernde, wenn auch nicht radikalisierte, sondern in der Wertung schillernde Darstellung der Dumpfheit dörflichen Lebens wird durch die davor und danach evozierten Bilder (die Statik der Natur und die Klischeehaftigkeit des Lebens in der zweiten Strophe, die bereits lautlich Gewaltsamkeit assoziierenden Adjektive und Verben der dritten - ungeheuer, zerreißen, scheuern, erklirren, dann der Ekel angesichts des Dunggeruch und der Fliegentrauben in der fünften und das tötende »Gerede« in der sechsten, intensiviert durch den Reim zerpflückt - verrückt) sowie durch die unterdrückte Aggressivität der Landbevölkerung in den Liedern ΠΙ, VI, VII und IX eindringlich vermittelt. Die vierte Verszeile dieser Strophe bringt über die in diesem Lied intensiv präsente Bibelmotivik hinaus auch noch Anklänge an antikes Sagengut: Zeus nähert sich seinen Auserwählten auch in Form von Naturphänomenen; die Doppelbedeutung des Verbs »treffen«, wörtlich »mit einem Schlag, Stoß erreichen, verletzen« und übertragen »begegnen« verdeutlicht die Ambiguität, daß nämlich die Mägde zum einen vom Gott Beglückte und zugleich der Fruchtbarkeit machtlos Ausgelieferte sind.
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
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Das dritte Lied illustriert, wie die Geschichte der Gewalt in die Volksüberlieferung Eingang gefunden hat: Die Geister treiben nicht nur ihr nächdiches Unwesen, sie stiften auch zu Brandlegung und Mord an (TU, 5-14)3. Die Beschreibung des Schlachttages im sechsten Abschnitt beschwört den Schmerz angesichts der persönlichen Scham und des gemeinschaftlichen Schuldigwerdens, mit einem deutlichen historischen Bezug auf das kollektive »Vergessen« der Verbrechen im Nationalsozialismus, worauf das Selbstzitat intensivierend verweist (VI, 25).+ Der Maskenzug im siebenten Gedicht endet in einem makabren Kehraus: die verirrte Kugel einer Freudensalve tötet, im dunklen Wald wird der Erschossene verscharrt (VH, 17-20). Und zuletzt, im neunten Gedicht, ersticht der Knecht die Amsel und kreuzigt sie - d. h. das Symbol der Schwester, der Sängerin, der Vertrauten der zentralen Er-Figur - ans Tor (IX, 22-26), an die traditionelle Schwelle zu einem anderen Leben.5 Angesichts all dieser Gewalttätigkeit, gleichsam in ahnender Vorwegnahme der durchdringenden Angst- und Verzweiflungsthematik des Todesarten-Zyklus, der in dem vielzitierten Satz gipfelt, Die Gesellschaft ist der allergrößte Mordschauplatz. (WΙΠ, 276), was gilt es da noch zu lernen? Denn die ersten beiden Verse des Zyklus lauten - in einer bereits metrisch aufgerauhten Abwandlung zum Märchentitel: Von einem, der das Fürchten lernen wollte,/ undfortging aus dem Land, von Fluß und Sem.6 Schlägt hier doppelte Ironie durch, sowohl in Hinblick auf die tödliche Enge der dörflichen Welt, wie auch - für den heutigen Leser - auf der Folie des Spätwerks? Ruft man sich die zahlreichen Märchenhelden und -heldinnen ins Gedächtnis, die in die Welt ziehen, weil sie verstoßen wurden und bzw. oder ihr Glück suchen wollen, dann
3
Die römische Ziffer bezieht sich auf die Gedichtnummer im Zyklus, die arabischen Ziffern bezeichnen die Verszeilen.
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Es handelt sich um eine Aufnahme und verknappende Variation der Verse 17 und 22 (die Augen geben dir über./ Die Augen täten dir sinken.) aus dem Gedicht Früher Mittag ( W 1 , 4 4 ) . Der Bezug zum Nationalsozialismus wird dadurch deutlich signalisiert. Eine interessante ineinanderprojizierte Variante gibt es im Nachlaß, Nr. 5591, datiert und durchgestrichen 2.XI.45, Winter 45, Die Augen sinken mir über/ (?) vom Sterbelicht,/vom Dunkel und Tod der Tage.
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Symbolisiert wird dieses archaische Utopia durch das HtrtenLmd, Verse 23,24: er starrt ins Licht und überrascht die Amsel/ am Ausgang in das letzte Hirtenland.
6
Der tänzerische Daktylenrhythmus des Märchentitels (Märchen, von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: jpαχχχχχχχχχχχ) wird vom pulsierenden, schlagenden Jambenmetrum abgelöst, wobei sich der Relativsatz des Märchentitels in der zweiten Verszeile erweitert findet, die zugleich das einzige Mal im Zyklus auf seinen episierenden Titel Bezug nimmt. Aufgerauht und seiner leichtfüßigen Klanglichkeit enthoben wird Bachmanns Titelvariation auch durch die Haltungsänderung des »Helden«: Zielstrebigkeit und Absichtsbewußtsein, ausgedrückt in den beiden Verben wollte und fortging, gehen dem traditionellen Märchenhelden, wie es Lüthi ausfuhrt, entweder ab oder sie erreichen das Gegenteil (vgl. Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. München 1976, S. 38,51,55 und 6off.).
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Neva Slibar
signalisiert bereits die Wahl dieses einen Märchens oder zumindest einer seiner Varianten' zu Beginn des Gedichtzyklus eine besonders kritische und skeptische Haltung, eine die Figur selbst, ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft in Frage stellende Position. Ambivalent ist freilich auch dieser spezifische Märchenheld: Er, ein dummer und fouler jüngerer Bruder, ein Sohn, mit dem der Vater gestraft ist, wird in die Welt geschickt, um nicht weiteren Schaden anzurichten, und er selbst macht es sich zur Lebensaufgabe, das Gruseln zu lernen.8 Sein Mangel, der ihn von der Gesellschaft abhebt, seine Unfähigkeit, das Unheimliche, Bedrohliche, Abnorme und Numinose zu erfahren, seine Dumpfheit, erweist sich als seine Stärke. Dem Ubernatürlichen und Beängstigenden begegnet er menschlich und praktisch, er zwingt ihm seine eigenen Gesetze auf, weil er dessen Handlungsrahmen ignoriert, oder, wie Rita Svandrlik feststellt: das tatkräftige, entschlossene Subjekt desAuflrruchs [ist] durch ein sehr scharfes Bewußtsein gekennzeichnet: es mußjede Erstarrung in Konventionen wahrnehmen und dagegen handelnDer aktive Märchenheld erlöst durch seine Unbeeinflußbarkeit das verwunschene Schloß und erhält die Prinzessin zur Frau. An die Gruselmotivik dieses Märchens schließt das Gedicht ΠΙ in seinen ersten vier Strophen an, in der Beschreibung der verfallenden, jedoch durch ihren Spuk - es geistern darin drei Verbrecher —fiirdie Menschen immer noch bedrohlichen Burg; keine Erlösung vom unheilvollen Bannspruch wird im Gegensatz zum Märchen in Aussicht gestellt, die Menschen werden zu Mitwissern und Beobachtern degradiert (ΙΠ, 15-16)'° eine Rolle, die in den späteren Strophen, in der »Unterweisung« durch die Nacht (ΓΠ, 17-28) ihre negative Konnotation verliert. In Entsprechung zur Märchenmotivik werden im Gedicht I zwei Motivlinien miteinander verschränkt, die fiiir den Zyklus zentrale des Aufbruchs und die der samaritanischen und messianischen Berufung, die zugleich als Motivation für den Abschied der Zentralgestalt »Er« dienen": In der siebenten und achten Verszeile heißt es in
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Aufechluß über die Geschichte, die verschiedenen Motiwerflechtungen und Varianten im europäischen Raum gibt das Handwörterbuch des deutschen Märchens, hg. v. Johannes Boke, Band Π, Berlin und Leipzig 1934, Stichwort »Fürchten lernen« S. 300?.
8
Vgl. Kinder- und Hausmärchen, S. 51.
9
R. Svandrlik: Asthetisierung undAsthetikkritik. TuK, SB, 1984, S. 3 2.
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Derart massiv wie in diesem Gedicht findet man schauerromantische Elemente im 1952 gesendeten Frühgedicht Vision ( W I , 19), worin sich die Fahrt eines Geisterschiffes ebenso fatal auswirkt. Elemente der Schauerromantik finden sich nicht nur in Bachmanns Lyrik, sondern auch in ihrer Prosa, vgl. dazu Neva Slibar: Angst, Verbrechen, das Unheimliche - Genre- und Motwujmvandlungen der Angstliteratur in Ingeborg Bachmanns Spätprosa. In: Göttsche-Ohl (Hg.): IngeborgBacbmann, S. 167-185.
11
Abhängig davon, ob man die Verszeilen 1/7,8 auf die nächstfolgenden Verszeilen bezieht oder auf die Strophen 4 und 5, bzw. ob der Ort, wo die Lämmer weiden, noch in heimatlichen Landen oder in der Fremde angesiedelt wird, lassen sich zwei entgegenstrebende Deutungen konstruieren, wobei bei der erstgenannten die Flucht vor heimatlichen Gefahren akzentuiert wird, bei der zweiten, wie bereits angeführt, der messianische Impetus vorherrscht.
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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
einer durchaus traditionellen Tiermetapher, die verfremdet wird durch den Neologismus Fixsternblick,2:
Doch er erfuhr, daßwo die Lämmer-weiden,/schon
Wölfe mit den Fixsternblicken
stehen. W i e der Messianismus der männlichen Zentralfigur konventionalisiert erscheint durch die gängige Tiermetapher und zudem noch durch die davor angesprochene Konformität der Lebenswege (Die Lose ähneln sich, die Odysseen.), so verniedlichen und ironisieren die Natur- und Dorfmetaphern der vierten und fünften Strophe den Widerstandsgestus (etwa Er schüttelte und trat die tauben Nüsse,/ den Hummeln schlug er schärfre Töne vor). Offen bleibt, ob der Steinschlag in Anlehnung an das Bibelwort den Aufbrechenden zum Ziel hat, oder ob seine Aktivität - es wird eine gängige Wendung variiert aufgenommen'* von der Natur zwar weitergereicht wird, jedoch darin auch verhallt. In der Wiederaufnahme einer Kombination von Märchen- und Bibelmotivik (die sieben [sie!] Steine verwandeln sich in sieben Brote - V i 1) wird der aufrührerische Impetus abgemildert und aufgefangen. Die Wandlungsfähigkeit dieser »Steine des Anstoßes« - und vielleicht der Vertreibung - in Grundnahrung (die, wie es im Gedicht V, Vers 10 heißt, auch noch geteilt werden kann) läßt an jene drei Steine denken, die der Ichfigur im dritten
Malina-Ka-
pitel von der höchsten Instanz ( W Ι Π , 230) zufallen. Das Märchengestalten eigene Vermögen, Leidvolles, Gefahrenvolles ins Gegenteil zu verkehren, und/oder das der
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Eine Entsprechung zum Fixstemblick der Wölfe gibt es im neunten Gedicht (EX/i): Es kommt der Bruder mit den Weißdornaugen. Aus der Zuordnung eines positiv konnotierten Substantivs zum negativen (Fixsternblick-Wolf) und umgekehrt (Weißdornauge-Bruder) entsteht eine rückwirkende Ambivalenz: Uber den unmittelbaren Bezugskontext wird auf den jeweiligen Neologimus zurückverwiesen, wobei der Akzent beim Erstgenannten auf die wörtliche Bedeutung des Fixierens, Anstarrens, um damit das Opfer über den Blick in die Gewalt zu bekommen (wie etwa auch im Gedicht Abschied von England - W I , jo), gesetzt wird, während bei der späteren Neubildung die Redewendung (ein Dorn im Auge) aktiviert wird, womit die Sehstörung, das Leiden am Sehen mitvermittelt wird. (Doppeldeutig in ihrer positiv-negativen Wertigkeit sind auch die aus demselben Bildbereich stammenden Komposita Sternenaugen/Sternenkralkn aus dem Gedicht Anrufimg des Großen Bären, das dem Zyklus unmittelbar folgt - W1,95.) Im ersten Teil seines ζ. T. hermetischen Aufsatzes, betitelt Augenleiden, geht Klaus Inderthal zwar nicht auf diese spezifische Stelle ein, sondern bemüht sich um eine Darstellung der komplexen Beziehungen zwischen Auge/Blick/Sehen/Bild und Sprache im philosophischen Kontext (Ders.: Über Grenzen. Notizen zu Ingeborg Bochmanns Lyrik. In: J. C. Schütze [Hg]: Die Fremdheit der Sprache. Studien zur Literatur der Moderne. Argumente-Sonderband Nr. 177, Hamburg 1988, S. 117-134). - Susanne Bothner deutet die Weißdornaugen hingegen im Anschluß an die Merlin-Sage, worin sich der Magier von seiner jungen Geliebten in eine Weißdornhecke verzaubern läßt. Weiß ab Todesfarbe bezieht sich auf den Tod der Schwester, verzaubert in die Amsel, der Dorn, durchaus zweideutig gebraucht, auf den säßen Stachel der Liebe wie deren Untergang, (S. 254). In diesem Sinne wäre Weißdornauge eher eine Parallelbildung zum Fixsternblick. Vgl. Susanne Bothner: Ingeborg Bachmann: Derjanusköpfige Tod. Frankfurt a. Μ ./Bern/New York 1986, S. 103, vgl. auch Deutung der Sternsymbolik S. 95 - im Sinne meiner Deutung der Weißdornaugen als Verbindung von Liebe und Leiden-und S. 323).
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Die Wendung »den Karren aus dem Dreck ziehen«.
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Zentralgestalt des Gedichts gewogene Schicksal (die Verse 9 und 10: Erfühlte seine Welle ausgeschrieben,/eh sie ihn wegtrug und ihm Leid geschah?* könnten darauf verweisen) relativieren noch zusätzlich den selbstbestimmten Handlungsraum des Er, wie er in der Modifikation des Märchentitels bereits in den ersten beiden Verszeilen ausgemessen wird. Die nächtliche Flucht, dieses konfrontationslose, traumhafte »Entweichen«, gliedert sich zwar ein in die häufige Nachtsymbolik und vielgedeutete Aufbruchsthematik der Bachmannschen Lyrik, jedoch kommen im Vergleich zur Beschwörungs- und Widerstandsgestik des ersten Lyrikbandes, wie in der Regel konstatiert wird, hier verhaltenere, kaum radikale Töne auf. Der Rückzug auf das Traumwandlerische des Märchens deutet den Weg in eine Innenwelt an. Die Verszeilen 19 und 20 (er tauchte durch den Duft und streute Krumen/ im Gehn für den Verlornen hinter sich.) schließen zugleich den Kreis zur ersten Strophe über das Motiv von Spurenlegung und Spurenfindung bzw. -zählung sowie über das Geschwistermotiv des Märchens von Hansel und Gretel. Neben der Natur-, Bibel- und Märchenmotivik läuft explizit oder konnotiert antikes mythologisches Bildungsgut, hier im Bild des hinter dem Er gehenden Verlomen die Sage von Orpheus und Eurydike - in der Umkehrung jener Zeilen aus Bachmanns Jugendgedicht Ängste: Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge'*. Die Heimkehr im Frühlicht, woran dann das zweite Gedicht anschließt, dürfte weniger eine säkularisierte Auferstehung andeuten als eine komplementäre Bildung zur Bildverschränkung von Ausfährt und Dämmerung darstellen und läßt eher einen märchenhaften Rahmen mitdmaginieren.'6
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Die akzentuierte Aufbruchsthematik - im Gegensatz zur betonten Abschiedmotivik des davorgehenden Das Spiel ist aus (WI, 82,83), die in den Gedichten IX und X dominiert - des ersten Gedichts im Zyklus stellt einen deutlichen Konnex zum ersten Gedichtband dar. Die Intensivierung gelingt Ingeborg Bachmann mit der Verflechtung von verschiedenen Traditionen entnommenen Aufbruchssituationen, jener des Märchens (I/i), jener des Christentums (1/7,8) und schließlich jener der antiken Sagenwelt (1/6). Das Bild der Welle, durch Bezugnahme auf die in Vers 6 erwähnten Lose und Odysseen dem letztgenannten Motivbereich zuzuzählen, wird in den Kontext binnenländischer Gewässer (I/i 1: sie sprang im See auf) übertragen, wodurch der Eigenwert ihres Symbolgehalts unterstrichen wird. Kein reines Pars pro toto für das zwar geliebte, jedoch persönlichkeitsauflösende Meer (vgl. etwa die Deutung Bothners, S. 359) ist es, sondern neben der Konnotierung des Unbewußten, Traumgebundenen wird deutlich - bereits in den unpublizierten Jugendgedichten, etwa in Nachlaßnummer 6171: Da warst die kühle, silberbelle Welle,/Die noch im Dümmer mich, und Schlafumspült, oder 154: So fand ich mich, als seine letzte Welle/ Um mich entglitt/ Und sah erschauernd seine Helle/ Verdunkeln sich im Augenblick, und im Gedicht Die unirdische Welle, Nachlaßnr. 6170 - die Beziehung zum individualisierenden männlichen Element hergestellt. In der Welle findet sich das traditionell Weibliche und Männliche gleichsam gepaart - als Vorwegnahme der Gedichte IV und V (vgl. dazu: die Welle ist ausgeschrieben - Schreiben gehört dem Vater, seiner symbolischen Ordnung zu, das Schwingen der Wiege deutet auf eine Amme, Sternbild und Schleier sind gleichfalls männlich/weiblich besetzt).
15 16
Vgl. S. Bothner: Derjanusköpfige Tod, S. 103. Vgl. zu >Ausfahrt< und >Dämmerung< H. Höller: I. Bachmmn, S. 30.
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Das lyrische Ich, dem im Kontrast zum aktiven Er im ersten Gedicht die Funktion des Beobachtenden und Beschreibenden, des (Er)Zählenden übertragen wird, bleibt geschlechdich unzugeordnet, denn die Selbstverständlichkeit, womit das sprechende Ich als weibliches (im Rahmen der Bruder-Schwester-Motivik) verstanden wird, glaubt man zum einen aus dem Anfangsgedicht des Bandes Das Spiel ist aus, zum anderen rückwirkend aus dem angedeuteten Hänsel-und-Gretel-Motiv und vor allem aus den Liedern IX und X erschließen zu können. Auch akzentuiert der Titel Die Geschwisterin einem der Entwürfe zum Zyklus diese Thematik. Gerade die letzte Strophe mit ihrer im Ton und Sprachduktus deutlich abgehobenen Aufforderung an ein mehrdeutiges Du (Erinnre dich!) fungiert nicht nur als überleitende Ansage der folgenden Lieder, sondern läßt in Verbindung mit der paradoxen letzten Verszeile (Was ich vergaß, hat glänzend mich berührt.) die Annahme zu, ich und er seien die zwei, durchaus in konventioneller Rollendualität und Funktionstrennimg agierenden Seiten eines lyrischen Subjekt-Objekts, die in den Worten Rita Svandrliks Konkretisierung der Auseinandersetzung von inneren Kräften, von verschiedenen Ich-Komponenten,8. Die Frage nach der Identität der lyrischen und der redenden Figuren entdeckt eine wesendiche Thematik dieses Gedichtzyklus; verhalten und kryptisch - mit Märchen und Mythen entnommener Metaphorik - klingen zwei Grundmöglichkeiten der Ichspaltung1!' (auf mehrere Persönlichkeitsanteile sowie in eine weibliche und männliche Komponente) bereits im ersten Gedicht, in den Verszeilen 23/24 an (er tauchte durch den Duft und streute Krumen/ im Gehn fur den Verlornen hinter sich). Über die subtile Handhabung der Personalpronomina ist ein zunehmendes Auseinanderstreben in geschlechtsgebundene Ich-Teile, in Bruder und Schwester, zu beobachten, die im IX. Gedicht, im in der direkten Rede wiedergegebenen Gespräch der beiden kulminiert; diese endgültige Differenzierung scheint indes aufhebbar in der Wiederherstellung des paradiesischen Zustande der Einheit, in der musischen Verführung zur Liebe, signalisiert durch die Welt der Märchen von 1001 Nacht, dem Wunschtraum der Menschen, fliegen zu können (0 sing und web den Teppich aus den Liedern,/und flieg auf ihm mit mir noch heute fort!) sowie in der dem Gailtal verpflichteten Naturmetaphorik des Honigs (Halt mit mir Rast, wo Bienen uns bewirten). Auch das Wir in den Gedichten ΙΠ/25,26, IV, V und VII ist verschiedenen Zeiten, Identitäts- und Bewußtseinsstufen wie auch durchaus konträren Ich-Erfahrungen, nicht imbedingt jedoch verschiedenen Subjektgruppen, zuzuordnen: Dem deutlich die
17
Nachlaßnummer 6108.
18
R. Svandrlik: Asthetisierung und Ästhetikkritik, S.32.
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Ausfuhrlicher geht Hans Höller auf die verschiedenen Ich-Realisationen ein, vgl. ders.: I. Bacbnumn. Das Werk, S. 43,46.
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Bachmannschen Zeitgenossen einschließende uns in ΠΙ/23,24 (Es schwemmt uns wieder/ ins Kellerland der kalten neuen Zeit) entsprechen die Strophen 4-7 des poetologischen Gedichts VII, die in euphorischem Selbstverständnis die junge Generation von den Alten abgrenzen. Die pessimistische Gestimmtheit in den angeführten Versen des Gedichts ΠΙ wird bereits durch die darauffolgende Zeile und den (von der Nacht oder der Dichterinstanz ausgesprochenen?) Appell in Vorwegnahme des hymnischen und programmatischen Tones in V H und davor IV aufgelöst (So such im Höhlenbild den Traum vom Menschen!). Etwas plakativ wirkt dann das jubilierende Wir in Gedicht IV die hymnische Feier paradiesischer Naturverbundenheit und Wandelbarkeit, wobei Ich und Du auf der Wordautebene zunächst auch geschlechtlich ungeschieden bleiben und erst intertextuell zu sondern sind.20 Den allmählichen Ubergang vom ungeschiedenen urzeitlichen Wir zum gegenwärtigen bildet das historische in V/17-20. Was hier für die ersten Personen Singular und Plural lediglich angedeutet werden kann, ließe sich ebenso eindringlich anhand der zweiten und besonders der dritten exemplifizieren. Die Paradoxalität der letzten Zeile (Was ich vergaß, hat glänzend mich berührt.) klärt auch rückwirkend die zunächst resignatdv klingende Vergeblichkeit der Spurensicherung in der vierten (denn, so Gott will, wirdtieder Wind verwehn!) und vierundzwanzigsten Zeile. Spurenverwischung, sich Verlieren und Vergessen - Märchenhelden lernen nicht, stellt Max Lüthi fest - ist die Basis für Erinnerung als epiphanieartige Erkenntnis, als Heimkehr in Seelenräume, wobei die Kindheits- und Jugendlandschaft durchaus nicht verklärt, sondern als zerbrochene Idylle dargestellt oder, präziser gesagt, auch die Landschaft gedoppelt wird: zum einen die Anti-Idylle (Svandrlik) des geographischen Raums, der Beobachtung und Abgrenzung, jenes Landes, von dem es in der zweiten Strophe des letzten Gedichts heißt Im Schaumkraut badet er die wehen Augen;/ kalt und entzaubert sieht er, was er sah, zum anderen jenes Herzland einer imaginierten, fiktionsbesiedelten und phantasiegeprägten Kindheit, keiner realen, die sich zum Traum wandelt, in Bachmanns meistzitierten Versen dieses Zyklus21: Beim Untergang des schönsten aller Länder/sind wir's, die es als Traum nach innen ziehn.
20
Zur Annahme, das Ich sei männlich, fuhrt der intertextuelle Vergleich, etwa Vers 2 du gingst im Fuchspelz - Vers 4 des Gedichts Nebelland, W I , 105; Vers 16 (Wir werden niemalsfrei!):diese pessimistische Einsicht erinnert an Malinas Uberzeugungen; Verse 19/20 (Und niemand sag ich, was du mir bedeutest die sanfte Taube einem rauhen Stein!) - Verse 17/18 Vielleicht kann ich mich einmal erkennen/ eine Taube einen rollenden Stein ... aus dem Gedicht Wie soll ich mich nennen?, W I , 20; die letzte Strophe scheint die Legende der Prinzessin von Kagran vorwegzunehmen.
21
Vgl. etwa Beatrice Angst-Hürlimann: Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen. Zum Problem der Sprache bei Ingeborg Bachmann. Zürich 1971, S. 94. Ferner: Waltraud Mittich: Die Lyrik der Ingebarg Bachmann. Utopie und Sprachverzweiflung. Diss, masch. Padova 1971-1972, S. 79; H. Höller: I. Bachmann, S. 37. TheoMechtenberg: Utopie als äthetische Kategorie, S. 109.
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Π
Die Distanz von der geliebten Kärntner »Landschaft«, wie sie mit ihrer Sozialstruktur, d. h. der dörflichen »Welt« in der Bildlichkeit des »Landes« aufscheint, und deren Ambiguisierung konturiert sich deudicher auf dem Hintergrund der unveröffentlichten Jugendlyrik sowie einiger Stellen aus der Felician-Briefprosa. Zum einen wird dadurch, etwa in der Briefstelle aus Arzl22, datiert 8. X. 45, ein direkter Konnex im Wortlaut zum späteren Gedichttitel und -thema hergestellt: Ich bin fern der lieben Stadt, dem lieben Land und den Seen2*, und es klingen bereits in diesen frühen Texten Konstanten an, wenn etwa in demselben Brief Fernweh und Heimweh in seltsame Nähe geraten und austauschbar werden 2 ! Zum anderen überrascht und erstaunt der poetische Qualitätssprung: Während in einer Reihe von Jugendgedichten, das plakativste und traditionellste ist wohl jenes mit dem Titel An Kärnten25, ein hymnisches, in konventionellen Bildern schwelgendes Gestalten dominiert, das ein noch ungebrochenes, durchaus unkritisch verherrlichendes Verhältnis zum Land spiegelt, in einer Erlebnislyrik, die sich vor allem an der sommerlichen Schönheit der Natur begeistert26, wächst in den darauffolgenden etwa zehn Jahren nicht nur eine kritisch-skeptische Haltung gegenüber jegli-
22
In der Nähe von Innsbruck, wo sich Ingeborg Bachmann zum Studium aufhielt.
23
Nachlaßnummer 5530, diese Stelle wird auch bei Susanne Bothner, S. 109, zitiert.
24
Nach dem zitierten Satz lautet die Stelle: Selbst mein Heimweh darum ist eigentümlich und unausgeprägt. [...] Das macht, daß ich wieder Unruhe im Blut habe, Fern-weh anstatt Heimweh, und Hunger. Nachlaßnummer 5530/5529.
25
Nachlaßnummer 5727, veröffentlich in der Kärntner Kulturzeitschrift Die Brücke 1987.
26
Vgl. dazu die Naturbeschreibungen in W 1 , 6 2 7 (das Jugendgedicht mit dem signifikanten Titel Im Sommer) sowie die Texte auf Blatt (Nachlaßnummer) 5551, 5542,6248 (Göttliches), 5826 hs (Frühling, Ein Tag) und in der Felician-Briefprosa Nachlaßnummer 5548, datiert 25. Mai 1945: Liebster!/Das Land ist ein Wunder. Ich liebe das stille Tal, den Fluß, die Berge und Wiesen. Diese Pracht! Ein Glanz von Margueriten war um mich, Kuckucksnelkenlicht, hohes, dichtes Gras, erstickt von den gelben Straßen des Hahnenfußes. Vielleicht hast Du meine Hand nach dieser Alargueritenblume gezogen. In diesem Kontext, noch dazu durch die Nennung des Erlebnisortes, gehört auch das unveröffentlichte Gedicht, Nachlaßnummer 5728, datiert Sommer 44, An der Gail·. 1.) Denkst Du wohl noch daran ? Ein Sommertag voll Blumenfulle Einsamer Weg und tiefe Stille Und eines Vogels heitre Bahn. 2.) Es stand die Erde still Als wir so Wang' an Wange hingen Und nur die Wellen leise gingen In ewig süßem Sommerspiel.
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chem Heimatbegriff und Beheimatetsein zu, sondern vor allem die Fähigkeit, ein dichtes, Vieldeutigkeit generierendes, keinesfalls abgegriffenes oder begrifflich einliniges Bilder- und Bedeutungsnetz zu schaffen. In diese Richtung, zu einem Irisieren und Oszillierender Sprache und ihrer Bilder, hervorgerufen durch das Verschmelzen von bis zum Widersprüchlichen gehenden Kontrasten und Spannungen, verweist bereits das Gelegenheitsgedicht Hüttenspruchfiirdas Ladinzenhaus aufder Obervellacber-Alm, Sommer 1949, wovon die letzte der drei Strophen lautet: Endlich! Ein Tor ist gefallen und offen. Wenn du gehst, bleibst du da, köstlichen Spruch noch im Mund. Behalt ihn. Dein Dank ist die Stunde und schreibt den Grund. Neu ist der Weg, und dein Segel heißt: Hoffen. 28
Das paradoxale Sprechen und die sich gebräuchlicher Schiffsmetaphorik bedienende Aufbruchsthematik nimmt den später, in Italien vermudich 1954 bis 195629 geschriebenen Gedichtzyklus vorweg; hilfreich ist jedoch in erster Linie die genaue Lozierung, die Susanne Bothners Befunde bestätigt: Der geographische Bezugspunkt von LFS, ΠΙ ist vermutlich die Khünburg in der Nähe von Hermagor, die drei Seen zu Beginn des Zyklus ähneln dem Pressegger See bei Obervellach, wo Ingeborg Bachmann in der Jugendzeit regelmäßig ihre Schulferien verbrachte, eine ländliche Gegend mit Hügeln, der Gail im Tal und zahlreichen Bienenkörben. (FS,X).3°
Überdies ist hinlänglich bekannt, daß die Großeltern väterlicherseits in Obervellach Nr. 2x3" lebten. Die Identität des Flusses legt auch eine Notiz aus den Entwürfen fest, die Bothner jedoch nicht zitiert. Es wird der slowenische Name der Gail - Zila/Sila - an-
3.) Und heiß glänzte der Sand. Die Stunden sind so schnell vergangen Die Luft fing an sich zu entspannen Unmerklich war der Tag verbrannt. 27
Vgl. U. Thiem: Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns, S. 6.
28 29
ONB, Nachlaßnummer 320, signiert und datiert: Ingeborg Bachmann, 12.8.1949. Vgl. dazu die handschriftliche Notiz Nachlaßnummer 6112 (auch von Bothner, S. 244, zitiert): Für Hans Werner Henze/[...] Geschrieben in einem andern Land./im 'November 1954 und Januar 1956.
30
Vgl. S. Bothner: Derjanusköpfige Tod, S. 249.
31
Vgl. I. Bachmann: Bilder aus ihrem Leben. Hg. v. A. Hapkemeyer, München/Zürich 1983, S. 16.
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geführt, wohl da dieser um vieles klingender und einem lyrischen Kontext angemessener ist.'2 Primär auf die eruierbare Geo- und Topographie dürfte zurückzuführen sein, wenn in der Forschung die Meinung vorherrscht, der Zyklus sei unter den Gedichten Bachmanns besonders stark autobiographisch geprägt.» Tatsächlich erwecken die im Nachlaß erhaltenen Verse34, die Felician-Briefprosa, vor allem jedoch die in diesem Zusammenhang vielzitierte, 1952 für den Rundfunk verfaßte biographische Notiz den Eindruck einer - im Gegensatz zur Stadt Klagenfurt - tiefen Bindung an jenen Kärntner Landstrich: Ich habe meine Jugend in Kärnten verbracht, im Süden, an der Grenze, in einem Tal, das zwei Namen hat - einen deutschen und einen slowenischen. Und das Haus, in dem seit G e nerationen meine Vorfahren wohnten - Österreicher und Windische - , trägt noch heute einen fremdklingenden Namen. S o ist nahe der Grenze noch einmal die Grenze: die Grenze der Sprache - und ich war hüben und drüben zu Hause, mit den Geschichten von guten und bösen Geistern zweier und dreier Länder; denn über den Bergen, eine W e g stunde weit, liegt schon Italien. Ich glaube, daß die Enge dieses Tals und das Bewußtsein der Grenze mir das Fernweh eingetragen haben. ( W I V S. 3 0 1 )
Die zentrale Stellung des fünften Gedichts im Zyklus, das wie ein ins Lyrische transponiertes Echo dieses Bekenntnisses zur Grenze, Entgrenzung und Grenzüberschreitung klingt, reflektiert wohl nicht nur das akute Gestaltungsbewußtsein der Dichterin, sondern transportiert auch die emotionale Gewichtigkeit jenes D r e i l ä n d e r e c k s " , das die unverwechselbare Spezifik der geliebten Landschaft ausmacht. Denn die Darstellung des dörflichen Lebens in seiner Verbundenheit mit Natur und Kirche, mit Bräuchen und Mythen, in den Verrichtungen des Alltags mag zwar äußerst suggestiv wirken, sie bleibt jedoch allgemein, seltsam vage und durchaus in eine andere, ähnliche Landschaft
32
Vgl. S. Bothner: Derjanusköpfige Tod, S. 243. Ihre Abschrift unterscheidet sich in wenigen Details von meiner der Nachlaßnummer 6107: Im Land der tiefen Seen/ Ins (?) Land fallen Libellen ein/Im Land der tiefen Seen war immer Sommer./[...] und die Libellen schwärmten (?) vom Glück. Wie hieß der Fluß? Wir standen bis zum(?) Knie/Der Fluß hieß Sila [oder: Zila] [...].
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Der ganze zweite Band ist, den Worten Beickens folgend, bestimmt durch eine stärkere Auseinandersetzung des lyrischen Ich »mit seiner lebensgeschichtlichen Herkunft, Entwicklung und Zukunftsperspektive«. Vgl. Peter Beicken: Ingeborg Bachmann. München 1988, S. 95.
34
Vgl. dazu auch A. Hapkemeyer: Ingeborg Bachmann. Entwicklungslinien in Werk und Leben, S. 19: »Eine
35
Vgl. dazu W ΠΙ S. 99,100 und S. 358.
Gedichtsammlung über Kärnten, die sie der Familie zu Weihnachten 1944 überreicht...«
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transponierbar. Wenn folglich Hapkemeyer in seiner Darstellung von Leben und Werk der Dichterin von der Entstehung einer »geistigen Autobiographie der eigenen Jugendjahre in Versen«36 spricht, dann wiederholt er damit vor ihm Konstatiertes: Bothner verweist auf »ein chiffriertes, autobiographisches Utopia, kulminierend im Zyklus »Von einem Land, einem Fluß und den Seen«n, Höller sieht bereits im ersten Gedicht des zweiten Bandes »erste Zeichen für geheime >Interferenzen zwischen Autor und Ich1 Trionfi< I Der Palmzweig bricht im Schnee, die Stiegen stürzen ein, die Stadt liegt steif und glänzt im fremden Winterschein. Die Kinder schreien und ziehn den Hungerberg hinan, sie essen vom weißen Mehl und beten den Himmel an. Der reiche Winterflitter, das Mandarinengold, treibt in den wilden Böen. Die Blutorange rollt. Π Ich aber liege allein im Eisverhau voller Wunden. Es hat mir der Schnee noch nicht die Augen verbunden.
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Die Toten, an mich gepreßt, schweigen in allen Zungen. Niemand liebt mich und hat für mich eine Lampe geschwungen! m Die Sporaden, die Inseln, das schöne Stückwerk im Meer, umschwommen von kalten Strömen, neigen noch Früchte her. Die weißen Retter, die Schiffe - ο einsame Segelhand! deuten, eh sie versinken, zurück auf das Land. IV Kälte wie noch nie ist eingedrungen. Fliegende Kommandos kamen über das Meer. Mit allen Lichtern hat der Golf sich ergeben. Die Stadt ist gefallen. Ich bin unschuldig und gefangen im unterworfenen Neapel, wo der Winter Posilip und Vomero an den Himmel stellt, wo seine weißen Blitze aufräumen unter den Liedern und er seine heiseren Donner ins Recht setzt. Ich bin unschuldig, und bis Camaldoli rühren die Pinien die Wolken; und ohne Trost, denn die Palmen schuppt sobald nicht der Regen;
Giuseppe Dolei
Zwischen Flucht und letzter Zuflucht
ohne Hoffnung, denn ich soll nicht entkommen, auch wenn der Fisch die Flossen schützend sträubt und wenn am Winterstrand der Dunst, von immer warmen Wellen aufgeworfen, mir eine Mauer macht, auch wenn die Wogen fliehend den Fliehenden dem nächsten Ziel entheben. V Fort mit dem Schnee von der gewürzten Stadt! Der Früchte Luft muß durch die Straßen gehen. Streut die Korinthen aus, die Feigen bringt, die Kapern! Belebt den Sommer neu, den Kreislauf neu, Geburt, Blut, Kot und Auswurf, Tod - hakt in die Striemen ein, die Linien auferlegt Gesichtern mißtrauisch, faul und alt, von Kalk umrissen und in Ol getränkt, von Händen schlau, mit der Gefahr vertraut, dem Zorn des Lavagotts, dem Engel Rauch und der verdammten Glut! VI Unterrichtet in der Liebe durch zehntausend Bücher, belehrt durch die Weitergabe wenig veränderbarer Gesten und törichter Schwüre -
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eingeweiht in die Liebe aber erst hier als die Lava herabfuhr und ihr Hauch uns traf am Fuß des Berges, als zuletzt der erschöpfte Krater den Schlüssel preisgab fiir diese verschlossenen Körper Wir traten ein in verwunschene Räume und leuchteten das Dunkel aus mit den Fingerspitzen. VII Innen sind deine Augen Fenster auf ein Land, in dem ich in Klarheit stehe. Innen ist deine Brust ein Meer, das mich auf den Grund zieht. Innen ist deine Hüfte ein Landungssteg für meine Schiffe, die heimkommen von zu großen Fahrten. Das Glück wirkt ein Silbertau, an dem ich befestigt liege. Innen ist dein Mund ein flaumiges Nest für meine flügge werdende Zunge. Innen ist dein Fleisch melonenlicht, süß und genießbar ohne Ende. Innen sind deine Adern ruhig und ganz mit dem Gold gefüllt, das ich mit meinen Tränen wasche und das mich einmal aufwiegen wird. Du empfängst Titel, deine Arme umfangen Güter, die an dich zuerst vergeben werden.
Giuseppe Dolei
Zwischen Flucht und letzter Zuflucht
Innen sind deine Füße nie unterwegs, sondern schon angekommen in meinen Samdanden. Innen sind deine Knochen helle Flöten, aus denen ich Töne zaubern kann, die auch den Tod bestricken werden ... vm ... Erde, Meer und Himmel. Von Küssen zerwühlt die Erde, das Meer und der Himmel. Von meinen Worten umklammert die Erde, von meinem letzten Wort noch umklammert das Meer und der Himmel! Heimgesucht von meinen Lauten diese Erde, die schluchzend in meinen Zähnen vor Anker ging mit all ihren Hochöfen, Türmen und hochmütigen Gipfeln, diese geschlagene Erde, die vor mir ihre Schluchten entblößte. Ihre Steppen, Wüsten und Tundren, diese rasdose Erde mit ihren zuckenden Magnetfeldern, die sich hier selbst fesselte mit ihr noch unbekannten Kraftketten, diese betäubte und betäubende Erde mit Nachtschattengewächsen, bleiernen Giften und Strömen von Duft untergegangen im Meer
224 und aufgegangen im Hümmel die Erde! IX Die schwarze Katze, das Ol auf dem Boden, der böse Blick: Unglück! Zieh das Korallenhorn, häng die Hörner vors Haus, Dunkel, kein Licht! X Ο Liebe, die unsre Schalen aufbrach und fortwarf, unseren Schild, den Wetterschutz und braunen Rost von Jahren! Ο Leiden, die unsre Liebe austraten, ihr feuchtes Feuer in den fühlenden Teilen! Verqualmt, verendend im Qualm, geht die Flamme in sich. XI Du willst das Wetterleuchten, wirfst die Messer, du trennst der Luft die warmen Adern auf; dich blendend, springen aus den offnen Pulsen lautlos die letzten Feuerwerke auf: Wahnsinn, Verachtung, dann die Rache, und schon die Reue und der Widerruf.
Du nimmst noch wahr, daß deine Klingen stumpfen, und endlich fühlst du, wie die Liebe schließt:
Giuseppe Dolei
Zwischen Flucht und letzter Zuflucht
mit ehrlichen Gewittern, reinem Atem. Und sie verstößt dich in das Traumverlies. Wo ihre goldnen Haare niederhängen, greifst du nach ihr, der Leiter in das Nichts. Tausend und eine Nacht hoch sind die Sprossen. Der Schritt ins Leere ist der letzte Schritt. Und wo du aufprallst, sind die alten Orte, und jedem Ort gibst du drei Tropfen Blut. Umnachtet hältst du wurzellose Locken. Die Schelle läutet, und es ist genug. ΧΠ Mund, der in meinem Mund genächtigt hat, Aug, das mein Aug bewachte, Handund die mich schleiften, die Augen! Mund, der das Urteil sprach, Hand, die mich hinrichtete! xm Die Sonne wärmt nicht, stimmlos ist das Meer. Die Gräber, schneeverpackt, schnürt niemand auf. Wird denn kein Kohlenbecken angefüllt Mit fester Glut? Doch Glut tut's nicht. Erlöse mich! Ich kann nicht länger sterben. Der Heilige hat anderes zu tun; er sorgt sich um die Stadt und geht ums Brot. Die Wäscheleine trägt so schwer am Tuch; bald wird es fallen. Doch mich deckt's nicht zu.
226 Ich bin noch schuldig. Heb mich auf. Ich bin nicht schuldig. Heb mich auf. Das Eiskorn lös vom zugefrornen Aug, brich mit den Blicken ein, die blauen Gründe such, schwimm, schau und tauch: Ich bin es nicht. Ich bin's. XIV Wart meinen Tod ab und dann hör mich wieder, es kippt der Schneekorb, und das Wasser singt, in die Toledo münden alle Töne, es taut, ein Wohlklang schmilzt das Eis. Ο großes Tauen! Erwart dir viel! Silben im Oleander, Wort im Akaziengrün Kaskaden aus der Wand. Die Becken füllt, hell und bewegt, Musik. XV Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, die Zeit und die Zeit danach. Wir haben keinen. Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. Doch das Lied überm Staub danach wird uns übersteigen.
Giuseppe Dolei
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Dem Zyklus Lieder auf der Flucht (LaF) fällt das traurige Privileg zu, den zweiten und letzten Band der Bachmannschen Gedichte Anrufung des Großen Bären (1956) zu beschließen. Dabei stellt sich umgehend folgende Frage: War sich die Autorin bewußt, daß dieser Zyklus eine tiefe Zäsur fur ihr Schaffen bedeuten würde, das sich gerade in jenen Jahren üppig entfaltet hatte und das nun plötzlich von einer radikalen Krise heimgesucht wurde? Zu Recht ist angemerkt worden1, daß diese Zäsur nicht bloß mit dem Wechsel in ein anderes literarisches Genre, in das der Prosaerzählung und in den epischen TodesartenZyklus, dem die Autorin fortan verpflichtet bleiben sollte, zusammenhängt. In Wirklichkeit greifen nämlich die bedeutendsten Texte ihrer Prosa mit unverändertem Engagement die tragenden Themen ihrer lyrischen Welt auf, wogegen die verstreuten Gedichte aus der Periode 1957-67 selbst dort, wo sie die Meisterschaft im Umgang mit dem Vers unter Beweis stellen, mehr als deutlich die Gründe der lyrischen Aporie aufzeigen. Vergegenwärtigen wir uns zunächst aber die Aussage der Autorin selbst: »Ich habe aufgehört, Gedichte zu schreiben, als mir der Verdacht kam, ich >könne< jetzt Gedichte schreiben, auch wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe.«2 Allerdings bleibt die Frage, weshalb der Dichterin das Bedürfnis Gedichte zu schreiben denn abhanden gekommen war und die Notwendigkeit stärker in den Vordergrund trat, die »Angriffe und Expeditionen in die eine Richtung«} fortzusetzen, und sich dabei der Form der Prosa zu bedienen. In den Frankfurter Vorlesungen, die nicht zufällig in jene Jahre der Wende fallen und Probleme der zeitgenössischen Poesie thematisieren, ruft Ingeborg Bachmann mit leidenschaftlicher Anteilnahme den Fall Hofmannsthal ins Gedächtnis zurück, das traumatische Ende einer ungewöhnlich reichen lyrischen Produktion. Werden die Schlußfolgerungen jener Krisis - die Zurückweisung des Asthetizismus - auch mit historischer Distanz gezogen, so gewinnt die Krise durch die Form der Kontextualisierung und den Modus ihrer Erscheinung an dramatischer Aktualität. Über die literarischen Moden und Strömungen hinaus, die bis zur Jahrhundertmitte eine mehr oder weniger lineare Entwicklung der Literatur zu gewährleisten schienen, lenkt Ingeborg Bachmann die Aufmerksamkeit auf das akute Drama der literarischen Existenz, welches nicht im proklamierten »Ende der Literatur« besteht, sondern in der prekären Frage nach der Möglichkeit des Uberlebens eines Dichters von Rang. Immer hat dieser das Gewicht der Verantwortung getragen, den Anspruch nämlich, die ganze Wirklichkeit in seine poe1
Vgl. Ch. Bürger: leb und wir, TuK, S. 7 - 2 7 , hier S. 15t.
2
Vgl. I. Bachmann: Gul, Interview mit Kuno Raeber, Jänner 1963, S. 40.
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Ebd., S. 40.
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tische Welt hineinzunehmen; immer wird ihn daher das Schuldgefühl bedrängen, einer solchen Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Gerade angesichts einer Wirklichkeit, in der »die Realitäten von Raum und Zeit [ ] aufgelöst [sind], die Wirklichkeit [ ] ständig einer neuen Definition [harrt], weil die Wissenschaft sie gänzlich verformelt hat«·*, droht die Last einer solchen Verantwortung dem Dichter unerträglich zu werden, wenn er nach einer Rechtfertigung seiner Existenz sucht. Hier legt Ingeborg Bachmann ihren Finger in die offene Wunde. Im Licht der tragischen Folge von Konversionen und Widerrufen, Suiziden und einer Neigung zum Verstummen (von Tolstoj zu Gogol, Kleist bis Grillparzer, von Mörike zu Brentano) verliert die »Krisis Hofmannsthal« die sakrale Aura des Unwiederholbaren und schlägt um in eine mehr denn je aktuelle Warnung. Die Aufzählung von Ursachen, die den modernen Autor zu extremen Entscheidungen verleiten könnten, gestaltet sich zunehmend persönlicher, d. h., in die Geschichte des Scheiterns anderer mengt sich die mögliche Geschichte des eigenen Scheiterns: Und all diese Widerrufe, die Selbstmorde, das Verstummen, der Wahnsinn, Schweigen über Schweigen aus dem Gefühl der Sündhaftigkeit, der metaphysischen Schuld, Schuld an der Gesellschaft aus Gleichgültigkeit, aus Mangel.5 Dieses Gefühl der Schuld muß eine bedeutende Rolle für die Entscheidimg der Dichterin, in die unerforschten Pfade der Prosa zu »übersiedeln«6 gespielt haben. Der persönliche Erfolg ist nicht ausschlaggebend, wenn das Schreiben von Gedichten zu einem »Schreiben ohne Risiko«? zu werden droht, wenn der Vers nicht mehr eine der Zeit, der epochalen Signaturen angemessene Sprache zu gewährleisten imstande ist Schwierige Zeiten trotz Milderung des Klimas des »Kalten Krieges«. Doch Ingeborg Bachmann fühlt sich nicht verurteilt zur epigonalen Wehklage, wie sie von vielen Seiten angestimmt wurde: zu diesen bezieht sie unmißverständlich Distanz. Klar und bestimmt weist sie auch die sprachlichen Experimente zurück, die sich in technischer Fertigkeit erschöpfen und vom Wunsch diktiert scheinen, die als unübertreffbar geltende M o derne (Kafka, Joyce, Proust) nachzuahmen. Jede wirklich neue Sprache setze neue Erfahrungen durch den Schriftsteller voraus, der im Grunde nur die Ausdrucksmöglichkeiten seiner Problemkonstante durchexperi-
4
I. Bachmann: Fragen und Scheinfragen·, W I V , S. 188.
5 6
Ebd., S. 188. Von einem »Übersiedeln« spricht die Autorin ausdrücklich im Interview mit Walter Höllerer vom 31. 10.1962. In: Gul, S. 38. Ebd., Interview mit K. Raeber, S. 40.
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mentiert, einer Konstante, die sich nur dort zeige, »wo, vor jeder formulierbaren Moral, ein moralischer Trieb groß genug war, eine neue sittliche Möglichkeit zu begreifen und zu entwerfen«.8 Diese heikle Aufgabe ist es, die Bachmann ihrer Prosa abverlangt, und sie ist sich dabei der Schwierigkeit bewußt, eine authentische Sprache zufinden,die in der Lage ist, das von der Gaunersprache des herrschenden Diskurses abgestumpfte Publikum zu erreichen. Als sich nach zehn Jahren dieser Vorsatz der Frankfurter Vorlesungen im weitgespannten Roman Malina (1971) verwirklicht, fühlt sich die Autorin zu einer ausgewogenen Bilanz der Debatte über das Dilemma Poesie-Prosa veranlaßt: U m ein wirkliches Gedicht schreiben zu können, braucht man keine langjährigen Erfahrungen, keine Fähigkeit, zu beobachten. Ein sehr reiner Zustand ist das, in dem nur die Sprache eine Rolle spielt [...] Was sich anhäuft an Gesehenem, Erlebtem, eben das, was man mit dem hilflosen W o r t »Erfahrung« bezeichnet, das macht einen eines Tages fähig, Prosa zu schreiben.»
In den Blickwinkel der Bachmann geriet allerdings eine undankbare Wirklichkeit: der Prozeß der politischen Restauration, der sich mit der Vermassung der Gewohnheiten und Sprache verschmolz, eine Amalgierung, welche auch Pasolini zu erleiden hatte. Indem das wichtigste Instrument der Kommunikation käuflich wird, entzieht die Vermassung dem subversiven Potential des Wortes entscheidende Kraft. Die Feststellung Wittgensteins, wonach es ohne eine neue Sprache keine neue Wirklichkeit geben könne, schlägt dramatisch um in die Wahrnehmung der Unmöglichkeit, eine neuen Sprache ohne vorausgehende Veränderung der politisch-sozialen Wirklichkeit zu erschaffen: »Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.«10 Die Sprache, die der drohenden Korruption standhalten sollte, wurde zur Gefährtin der wohl wichtigsten »Problemkonstante«: der bis zur Bessessenheit gewissenhaften Analyse von Prozessen der Gewalt, insbesondere von Todesarten als den legalisierten Ritualen unserer Gesellschaft. Der Prosa kam dabei die Aufgabe zu, die Götzenbilder des Marktes und die nivellierenden Konventionen herauszufordern, um den Menschen im Versuch beizustehen, die Augen offen zu halten für die Wahrheit, »die dem Menschen zumutbar«" ist, aber auch für die Hinterhalte der organisierten Lüge. Und wie steht es mit der Lyrik? 8
Vgl. I. Bachmann: Fragen und Scheinfragen, W. IV, S. 191.
9
Vgl. Interview mit Veit Möller, 25. Jänner 1971, in: GuI, S. 133.
10 I. Bachmann: Fragen und Scheinfragen, W. Ι\ζ S. 185. 11
Vgl. I. Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, W. Ι\ζ S. 275-77·
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Die wenigen, aber prägnanten Gedichte, die verstreut im Schatten der Prosa entstehen, zielen nicht darauf, das vom Schicksal gezeichnete und der universellen Leere entgegengehaltene Ich zu verherrlichen.12 In der durch die Beleidigungen der Geschichte hervor gerufenen existentiellen Leere geht das lyrische Ich seinem Untergang entgegen, verurteilt zu Exil und Tod (Exil), angeekelt vom ganzen Arsenal der rhetorischen Kunstpraxis. Diesem Ich bleibt am Ende nur die Fähigkeit, sich an einige wenige Schlüsselwörter aus seiner poetologischen Lehrzeit festklammern zu können: Hunger, Schande, Tränen, Finsternis (Keine Delikatessen). Es ist daher nicht abwegig, im Licht dieser eschatologischen Tendenz den unmittelbar vorangehenden Zyklus zu interpretieren. Die Lieder auf der Flucht gewinnen nämlich aus diesem Blickwinkel die Funktion eines Abschieds vom kämpferischen und doch unverbindlichen Subjektivismus der vorangehenden Lyrik. Es ist kein Zufall, daß diesen Liedern die Aufgabe zukommt, als gleichsam letzte Synthese die Chiffren der Bachmannschen lyrischen Welt zusammenzuführen: den Süden Italiens, die Flucht und die Liebe. Letztere wird vorsichtshalber unter den Schutz eines hohen Patrons gestellt: Wer könnte besser als Francesco Petrarca die echte Kraft der Liebe verbürgen? Die als Motto zitierte Terzine aus den Trionfi soll die archetypische und überirdische Universalität der Liebe ins Gedächtnis rufen, die das moderne Subjekt nur mehr in entfernten Variationen wahrnimmt, in denen sich das widrige Gesetz der Liebe in einen zerstörerischen und vernichtenden Trieb zu verwandeln droht. Einige Jahre später wird Bachmann ihr erfolgreichstes Radiohörspiel Der gute Gott von Manhattan (1958) um das Thema der Liebe aufbauen, um Natur und Phänomenologie der Beziehimg zwischen Mann und Frau bewußt an den Grenz-Fall heranzuführen. Obgleich sie wußte, daß es »keine Flucht vor der Gesellschaft« gibt, rät die Schriftstellerin, keine Möglichkeit, die vorgegebenen Grenzen zu überschreiten, unversucht zu lassen und den Blick zu richten »auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es in der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe«.'3 Auf diesen kompositorischen Plan bewegt sich auch der Zyklus Lieder auf der Flucht zu, wo der Gegensatz zwischen dem »Möglichen« und dem »Unmöglichen« '4 bis an die Grenzen des Zusammenbruchs genützt wird und das Potential der Liebeserfahrung seinen dämpfenden Kontrapunkt oft in der Landschaft finden muß. Es geht hier um die 12
Es war dies das Echo auf den Gesang der Bennschen Sirenen: »Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,/ was alles erblühte, verblich/es gibt nur zwei Dinge: die Leere/und das gezeichneteich.« (G. Benn: Nur zwei Dinge, 1953, in: Ders.: GW, Gedichte, S. 427.)
13 Vgl. I. Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, W. IV, S. 276. 14 Vgl. ebd., S. 276: »Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an.«
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mediterrane Landschaft, um jene desolaten Gegenden, die allen Naturkatastrophen zu widerstehen wissen, ein Landschaft, welche die Fliehenden zu neuem Leben erweckt haben (Das erst geborene Land). Der Süden wird angerufen, um als Gleichgesinnter der gefährlichen Flucht des lyrischen Ich beizustehen, das seinerseits wieder mit besorgter Anteilnahme auf die Integrität der geliebten Landschaft blickt. Ein nie erlebtes Neapel, das unter dem Schnee begraben liegt und vom Himmel wie vom Meer aus belagert erscheint, ist gezwungen, sich aufzugeben und dabei sogar seine wichtigsten Merkmale, Chiffren seiner Identität, preiszugeben: die Eleganz der Palmen, das goldene Leuchten der Orangen und Mandarinen, die Fröhlichkeit der Kinder auf den Straßen: Der Palmzweig bricht im Schnee, die Stiegen stürzen ein, die Stadt liegt steif und glänzt im fremden Winterschein. Die Kinder schreien und ziehn den Hungerberg hinan, sie essen vom weißen Mehl und beten den Himmel an. Der reiche Winterflitter, das Mandarinengold, treibt in den wilden Böen. Die Blutorange rollt. (W.1,138)
Die Struktur des ersten Liedes ist von seltener technischer Vollkommenheit: Das Prinzip des Kontrapunktes regelt nicht nur die Abfolge der drei Vierzeiler, in denen sich Ausschnitte aus der ungewohnten verschneiten Staddandschaft mit dem Auftreten der hungernden und wehklagenden Kinder abwechseln. Auch die Klangbilder sind präzis auf bipolare Komponenten abgestimmt: die Palme auf den Schnee, das Mandarinengold auf die wilden Böen. Auf das Drama der Stadt folgt - neuerlich als Kontrapunkt angelegt - das Drama des lyrischen Ich, das in vier Distichen von klassischer Einfachheit gefaßt ist. Ein Fragment Sapphos (168B) wird ohne Verfremdung in Erinnerung gerufen - ».. ./ich aber liege allein« - und hebt das Drama in den Stil der hohen Liebeslyrik, indem es nicht nur ein berühmtes literarisches Analogon ins Gedächtnis ruft, sondern auch eine besondere Wahlverwandschaft evoziert. Denn nicht von einer Liebesidylle will die Dichterin er-
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zählen, auch nicht von einer romantischen Episode, sondern von der Liebe als archetypische und elementare Erfahrung1?, welche eine ganze Existenz in Frage zu stellen vermag. Aus diesem Grund bleibt das vom Titel her suggerierte Thema letztlich zweideutig: handelt es sich einerseits um eine Flucht vor den Gefahren und der Kälte der Welt, um in der Liebe Zuflucht zu finden und in ihrer Flamme gereinigt zu werden, so geht es auch um ein Fliehen vor dem zu erwartenden Verdikt, mit dem am Ende die Liebe ihr Opfer vernichtet: »Verendend im Qualm geht die Flamme in sich.«'6 Für diese zweite Flucht scheint es keine Zuflucht zu geben, nicht in der Natur, die ohne Licht und Wärme bleibt (»Die Sonne wärmt nicht, stimmlos ist das Meer«, ΧΠΙ, i) und die »betäubte und betäubende Erde« (ΥΊΠ, 2) in den Untergang zerrt, und auch nicht bei den Menschen, die des Brotes bedürfen und vom Heiligen jenen Schutz einfordern, nach dem vergebens auch das Opfer der Liebe verlangt. Was diesem Opfer bleibt, ist das Lied, der Wohlklang, der das Wunder der Eisesschmelze hervorbringt und mit seiner Harmonie Menschen und Dinge neu zum Leben erweckt. Und doch ist dies nur eine Abhilfe, die anderen zugute kommt, eine Zuflucht für solche, die dem Gesang des Dichters auch nach dessen Tod noch lauschen (»Wart meinen Tod ab und dann hör mich wieder«; XIV, x). Das zum Uberleben bestimmte Lied ist, wenn überhaupt, der Triumph einer versagt gebliebenen Liebe: Der Person des Dichters wird freilich das Privileg dieses Triumphes nicht zuteil, sondern bloß das gewöhnliche Gesetz der Liebe, das Dahinschwinden des ursprünglich strahlenden Lichts in einen blassen Abglanz, dem Aufgesang zum endgültigen Schweigen: Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. (XV, 4) Mit diesem Geflecht von Grundmotiven vermengen sich, gleichsam durch konzeptuelle Notwendigkeit und durch den ästhetischen Rahmen bestimmt, andere Motive: Ihr feierliches Ergebnis wird zwar im letzten Lied nicht durch eine lineare Entfaltung erreicht, sondern durch den Kontrapunkt, der zum Kompositionsprinzip der Dissonanzen wird, Dissonanzen, die sich in allen Etappen des Zyklus einstellen.'? 15 Vgl. Wolfram Mauser: Ingeborg Bachmann. Fluchtlinien ihrer Lyrik. In: W. Schmidt-Dengler (Hg.): Formen der Lyrik in der österreichischen Gegenwartsliteratur. Wien 1981, S. 56-70. 16 Vgl. dazu Marie Luise Kaschnitz: Zwischen Immer und Nie. Gestalten und Themen der Dichtung. Frankfurt/M. 1971, S. 2 31: »Verendend im Qualm geht die Flamme in sich - das ist gewiß ein schauerlicher Tod der Liebe, die jahrhundertelang in so strahlenden Bildern und mit so blühenden Worten gefeiert worden ist.« 17 »Der Zyklus«, stellt Luigi Reitani in seiner kürzlich vorgelegten Ubersetzung fest, »fuhrt jene kontrapunktische Technik, die den ganzen Band >Anrufung des Großen Bären< charakterisiert«, zu virtuosen Höhen. Vgl. L. Reitani: Invocazione all'Orsa Maggiore. Milano 1994, S. 158.
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Auch in seiner veränderten metrischen Form (Distichen anstelle von Quartinen) weist das zweite Lied eine tiefergehende Spiegelstruktur auf, indem es wiederholt auf das erste anspielt. Das lyrische Ich nimmt am Schicksal, das über die Stadt hereingebrochen ist, mit einer Vereinsamimg teil, welche die Merkmale des winterlichen Eises trägt. Das fügt dem Ich zwar Wunden zu, nicht aber den Verlust der Sehkraft. Bei allem Mit-Leiden mit der vom Winter erdrückten Stadt will die Dichterin auf das Wertvollste, das ihr der Süden geschenkt hat, nicht verzichten: auf das »Sehen«. Die Augen bleiben offen, auch wenn, so das Ich, niemand »für mich eine Lampe« schwingt und das Fehlen jeglichen Wortes der Liebe dieses Ich dem Schweigen und den Toten ausliefert. Auch hier fügen sich Zitate aus der antiken Welt (Hero und Leander) sowie aus der biblischen Geschichte (das Pfingstwunder, das die Apostel befähigt, »in allen Zungen« zu reden) dem neuen Kontext geradezu selbstverständlich ein und bestätigen die besondere Dimension gelebter Literatur, als welche Ingeborg Bachmann die Tradition auffaßt'8. Insgesamt fällt dem zweiten Lied die Aufgabe zu, das Thema im Sinn eines Gegengesangs weiterzuführen, der den Grad der Trostlosigkeit der Landschaft über die statische Abfolge der Subjektaussagen verstärkt. Auf diese antworten wiederum die beiden Quartinen im dritten Lied: Je tödlicher die Vereinsamung der Stadt und des Subjekts, um so heller das Bild der ägäischen Sporaden. Die Sporaden sind allerdings weniger als Hommage an Sappho zu sehen denn als Suche nach antithetischen Klangbildern für Farben, für Entfernungen von Raum und Zeit: die Früchte, die auf den griechischen Inseln reifen, bleiben in weiter Ferne; unüberbrückbar ist auch die Entfernimg, zur »einsame[n] Segelhand«, die zwar Hilfe anbietet, sich jedoch damit begnügen muß, das gelobte Land bloß anzuzeigen, ehe die Schiffe versinken. Es mag sich hier um das Ende einer Illusion handeln, des Glaubens an den unvergänglichen Wert der absoluten, in der klassisch-mythologischen Welt verankerten Kunst. Nach dem Verschwinden dieser glänzenden Insel-Fragmente kehrt die Flucht wieder an ihren Ausgangsort zurück, d. h. nach Neapel, das von winterlicher Kälte gegeißelt, von allen Seiten belagert und schließlich zur Aufgabe gezwungen wird. Diese Nachrichten von der Belagerung, von den »fliegenden Kommandos« und der Kapitulation erfolgen im nüchternen Stil der Kriegsberichte. Der Zusammenprall zwischen diesem militärischen Stil und den Bildern des Mittelmeeres führt allerdings die Zerstörung von Reim und Versmaß herbei und kündet ein bislang verdecktes Drama an, - eine Entwicklung, die mit einem überraschenden Einsatz beginnt: Das Drama der Stadt verschmilzt mit dem Schicksal der Fliehenden zu einer neuen, dynamischen Spra-
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Vgl. dazu die bekannte Aussage im Interview mit Dieter Zilligen vom 22. 3 . 1 9 7 1 : » E s gibt für mich keine Zitate, sondern die wenigen Stellen in der Literatur, die mich aufgeregt haben, die sind für mich das L e ben.« In: I. Bachmann: Gul, S. 120.
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che, welche die Grenze der Quartine aufsprengt und den Gebrauch freier Rhythmen verlangt, eine neue Form, welche die Ausgeliefertheit Neapels und die verzweifelte Gefangenschaft des lyrischen Ich miteinander verbindet. Der »eher vage und verallgemeinernde« Charakter der Ortsnamen ist in diesem Kontext bereits herausgestellt worden: Posillipo, Vomero, Camaldoli, »sagen dem Leser, der die Gegend Neapels nicht kennt, sehr wenig; wenig aber auch demjenigen, dem die Landschaft vertraut ist, denn mit diesen Namen ist offensichtlich nichts für die Gegend Charakteristisches gemeint.«1» Sollte das wirklich zutreffen, dann mag das Charakteristische auch durch den Kontrast heraufbeschworen werden. In unserem Fall gewinnt ein Fossil des touristischen Bildarsenals wie der lichtübersäte Golf von Neapel seine suggestive Kraft gerade durch den besonderen Kontext, in den es gestellt wird, zurück: »Mit allen Lichtern hat der Golf sich ergeben.« (Ι\ζ 3) Dasselbe gilt für Posillipo und den Vomero, den der Sturm in Gesellschaft von Blitz und Donner hinaufpeitscht bis an den Rand des Himmels. Ahnlich haben die Camaldoli einen neuen Horizont aus der Begegnung zwischen Pinien und Wolken erhalten. Vielleicht ist die Wahl der Namen auch auf deren musikalische Rhythmik zurückzuführen (der Daktylus Camaldolis z. B. scheint die Silhouetten der Pinien gegen den Himmel ins Unendliche hin zu verlängern), doch die Grundtendenz zielt wohl auf Etappen einer ungewöhnlichen Flucht in der napoletanischen Landschaft. Die Vergeblichkeit des Entrinnens wird ja im Bezug zu einer Stadt am Meer dargestellt, einem vollkommenen Gefängnis, aus dem das Ich nicht einmal dann fliehen könnte, wenn ihm wie dem mythischen Arion von einem barmherzigen Delphin Hilfe angeboten würde (Πζ 17-18). Die kühnen Metaphern vom Meeresdunst, der sich in eine schützende Mauer verwandelt, und jenen der Wellen, die sich zurückziehen, um den Fliehenden zu verschonen, drücken der erzählten Geschichte den Stempel der Absolutheit auf: Die Mauern der Festung erscheinen unbezwingbar, sind sie doch innerhalb desselben Subjekts aufgerichtet. Der Widerspruch zu den Sorgen der Stadt bricht im fünften Lied schärfer auf, das auch nicht mehr in Strophen gegliedert ist, sondern aus einem ununterbrochenen Fluß von Beschwörungen besteht, die die Fliehende ausspricht, damit das Leben in der Stadt in all seinem Glanz und all seiner Armseligkeit wiederhergestellt werde. Ein bewunderswertes Crescendo von Bildern und Metaphern fügt sich zu einer Huldigung der mediterranen Landschaft, der unerschöpflichen Lebensreserven, die zu ihrer Flora gehören (Kapern, Korinthen, Feigen), Bilder, die angerufen werden, um den Winter zu vertreiben und den Sommer mit neuem Leben auszustatten. Was aber letztlich die Epiphanie des Sommers ermöglicht, ist eine ursprüngliche, zyklische Kraft; es ist dieselbe, die »Geburt, Blut, Kot 19 Vgl. W. Mauser: I. Bacbman, S. 57.
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und Auswurf; /Tod« (VJ 7-8) dieses mißtrauischen, faulen und alten Volkes regelt, das im Gesicht die Zeichen »Händel« und »Gefahr« trägt, weil es am Fuß des Vulkans und seines Lavagotts aufgewachsen ist. Auch in diesem Fall neigen die Metaphern der Abstraktion zu, wiewohl sie auf präziser historisch-geographischer Basis gründen. Der Abschnitt des Gedichts, welcher der Liebeserfahrung gewidmet ist (Lieder VI-ΧΠ) darf als eines der bemerkenswertesten Dokumente der Bachmannschen Poetik des Anschreibens gegen die bestehenden Normen gesehen werden, als Versuch, den Raum des Möglichen beständig auszuweiten, immer jenem Bild des Phönix auf der Spur, der das Unaussprechliche verkörpert.20 Die »Norm« spricht die Dichterin bereits am Beginn ihres Erlebnisses polemisch an (VI, 1-5), um Distanz zu setzen zu den unzähligen Liebesgeschichten, zu den Ritualen von Gesten und Schwüren, wie sie durch eine tausendjährige Tradition überliefert sind. Ihr Vorhaben zielt nun darauf, die zähen Hüllen aufzureißen, damit das Eigentliche der Liebeserfahrimg ans Licht komme. Dazu wird die südliche Landschaft in ihrer elementarsten und unverdorbensten Chiffre eingesetzt. Denn nur das Feuer des Vulkans, die Urkraft seines Kraters sind in der Lage, die Gefängnisse dieser verschlossenen Körper aufzusperren und in die Epiphanie der Liebe einzuschmelzen. Hier hat die Bachmann freilich eine doppelte Barriere zu nehmen: jene, die der Liebeslyrik durch jahrhunderdange Konventionen gesetzt wurde und die vielleicht noch intrikateren Begrenzungen, die sich über die von Frauen geschriebene Liebeslyrik erstrecken. Ist es also schon schwer genug, gegen die Hinterhalte einer von außen kommenden Zensur anzutreten, so ist die Konfrontation mit den Widerständen einer Selbstzensur ein noch größeres Wagnis. In dieser Hinsicht nehmen einige Aussagen des elften Liedes (»... wirfst die Messer ... Wahnsinn, Verachtung, dann die Rache ...«) die unüberbrückbare Opposition der Geschlechter vorweg, ein Thema, das die Autorin in zahlreichen Reflexionen im Malina-Text weiterentwickeln wird. Um die Schönheiten des Körpers des Geliebten zu erhöhen, ohne gleichzeitig ins Banale zu geraten oder sich von einer Pseudomoral begrenzen zu lassen, greift die Dichterin auf Metaphern biblischer Herkunft zurück, die auf das Register der Märchensprache abgestimmt werden (»Wir traten ein in verwunschene Räume«, VI, 14), auf eine Perspektive des staunenden Anschauens der unzähligen im menschlichen Körper versteckten Reichtümer21, mit denen das lyrische Ich eine Beziehung von überraschender Synergie aufnimmt: 20 Das Bewußtsein, dabei allzusehr auf die Recherche nach dem Unmöglichen bestanden zu haben, geht vielleicht aus der Verkleinerung des Gesamtzyklus auf neun Lieder hervor, welche I. Bachmann 1964 für eine Ausgabe vorgelegt hatte. Von den sechs ausgeschlossenen Liedern/Gedichten gehören immerhin vier diesem Abschnitt an. 21 Deren Aufzählung erfolgt mit psalmodierender Kadenz und wird unterstrichen durch die anaphorische Wederholung des Adverbs innen.
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Innen sind deine Adern ruhig/ und ganz mit dem Gold gefüllt/ das ich mit meinen Tränen wasche/ und das mich einmal aufwiegen wird. (VE, 14-17)
Das Vorbild des Hohen Liedes erfahrt bei Bachmann zwei wesentliche Veränderungen: jede Aussage wird zunächst durch das Adverb innen relativiert, das sich zum geschlossenen Raum, zu den bezaubernden Zimmern, in welche die Liebenden eingetreten sind, funktional erweist, aber es bringt gleichzeitig die Begrenzung der Aussagen auf die Perspektive des innen mit sich, in der nur diese allein Gültigkeit besitzen.22 Wichtig ist auch festzuhalten, daß die biblischen Metaphern stets einer konkreten Anschauung der Natur verpflichtet sind, deren Vorzüge angerufen werden, um die Attribute des Geliebten vergleichend herauszustellen. Seine Augen sind ζ. B. »wie Augen der Tauben an den Wasserbächen/ mit Milch gewaschen«, seine Lippen »wie Rosen die mit fließenden Myrrhen triefen«, oder seine Beine sind »wie Marmelsäulen/ gegründet auf güldnen Füßen«.23 Im Gedicht Ingeborg Bachmanns ist die Metapher hingegen Frucht einer subjektiven Abstraktion, die es dem lyrischen Ich gestattet, von der Betrachtung des Geliebten hin zur eigenen Person überzugehen: Innen sind deine Augen Fenster auf ein Land, in dem ich in Klarheit stehe. Innen ist deine Brust ein Meer, das mich auf den Grund zieht. Innen ist deine Hüfte ein Landungssteg für meine Schiffe, die heimkommen von zu großen Fahrten.
(VH, 1-7) Die Dynamik dieser Metaphern eröffiiet dem Ich die Möglichkeit, sich von den Fesseln der Kontingenz zu lösen, um einen Gesang zur Herausforderung des eigenen Todes anzustimmen: »Innnen sind deine Knochen helle Flöten/ aus denen ich Töne zaubern kann,/ die auch den Tod bestricken werden ...«(VH, 22-24). Dem Leser wird klar, wie
2 2 Dieser Kontrast wird auch von M . L . Kaschnitz herausgestrichen: »In Ingeborg Bachmanns 7. >Lied auf der Flucht< wird das ersehnte Innen des Geliebten seinem nur angedeuteten harten feindlichen Außen gegenübergestellt.« In: Dies.: Zwischen Immer und Nie, S. 232. 2j
Zit. nach: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift. Nach der deutschen Übersetzung van D. Martin Luther. Württembergische Bibelanstalt, Stuttgart 1905, S. 572.
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geschickt dem bis an die Grenzen des Unaussprechlichen zelebrierten Gesang der Sinnenfreuden ein Ende (die Knochen des toten Geliebten verwandeln sich in Flöten) gesetzt wird.24 Noch kühner präsentiert sich die poetische Exploration im darauffolgenden Lied. Liest man das Gedicht losgelöst von seinem Kontext, so drückt es in aufgewühltem Ion die Verzweiflung der Dichterin über die Vergeblichkeit der Versuche aus, im Wort die Unendlichkeit des Universums einzufangen. Obgleich der Himmel, das Meer und die Erde ausdrücklich benannt werden, ist es gerade letztere, die der poetischen Gestaltung gegenüber ein unauflösbares Gewirr entgegenstellt. Beherrscht von Gewalten, die ihr selbst unbekannt sind, hingegeben einer sinnlosen Bewegung, betäubend selbst in ihrer sicheren Niederlage, kann die »Erde« in jeder ihrer Erscheinungen mit all ihren Wahrzeichen ihres Hochmuts nicht anders als untergehen. Welcher Sinn aber kommt diesen Invektiven in Irakischem Tonfall (ich denke hier etwa an den dritten Teil von Abendland) im Kontext des gesamten Zyklus zu? Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen: im Lichte der apokalyptischen Perspektive wird das Thema von Grund aus in Frage gestellt. Aus der tausendjährigen irratio, aus der die Erde geformt ist, und welche die Grenzen jeder individuellen Anstrengung sprengt, kann es keine Flucht geben. Die vorangegangene Liebeserfährung wird daher auch brutal zurechtgerückt, allerdings nicht deshalb, weil die Sinnenfreuden zerbrechlich und täuschend wären2', sondern weil sich die Erde, der Ort der angestrebten Verwirklichung, als unheimlich und unzuverlässig herausstellt: die Küsse, von denen zu Beginn des Liedes »Erde, Meer und Himmel (...) zerwühlt« sind, verschwinden spurlos in die endlosen Weiten ihrer »Steppen, Wüsten und Tundren« (VHI, 17) sowie in apokalyptischen Erschütterungen, die der Erde in »zuckenden Magnetfeldern« oder »ihr noch unbekannten Kraftketten« (VIII, 19-21) widerfahren. Hat es also noch Sinn, diese Erde mit Liebesliedern zu quälen (»Heimgesucht von meinen Lauten, diese Erde ...« VIII, 9-10), diese geschlagene Erde? Gibt es noch Platz für die sentimentalen Leiden des einzelnen in diesem dem Untergang geweihten Erdental? Wenn wir davon ausgehen, daß die Liebesekstase eine Absolutheit und Vollkommenheit der apokalyptischen Sprache bedingt, so gewinnt letztere eine besondere autonome Form, eine zentrifugale Kraft, die nicht nur dazu fuhrt, die Szenerie weit über die glücklose mediterrane Landschaft hin auszudehnen, sondern auch das Thema und die Sprache des lyrischen Werks überhaupt in Zweifel zu ziehen. Es scheint, als sei un-
24 Norbert Gabriel sieht in diesem Bild eine Wiederaufnahme des Orpheus-Mythos. Vgl. ders.: Lieder auf der Flucht. Überlegungen zu Ingeborg Bochmanns Gedichtzyklus. In: Κ Κ Polheim (Hg.): Sinn und Symbol. Festschrift für Joseph P. Strelka. Frankfurt a. M. 1987, S. 475-490, hier S. 482. 25 Dies ist ζ. B. die Ansicht Mausers; vgl. ders.: 7. Bochmann, S. 58f., doch er zieht dabei nicht das VOL Lied heran, das sich auf die erwähnte anthologische Edition des Zyklus bezieht.
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ser Planet, der am Ende dem doppelten Schicksal von Untergang und Auferstehimg überlassen bleibt, von einem »Grenzwort« (Erde) gekennzeichnet, das bereits von seinem Gehalt her in eine unbegrenzte Welt hineinfuhrt.26 Daher auch der Wechsel von Oktaven, Quartinen und Terzinen, wobei sich der Vers einmal in den Elfsilbler ausdehnt, um daraufhin wieder bis fast auf den Einsilbler zusammenzuschrumpfen. Und daher auch das Crescendo von Evokationen, das von einem Bild ins andere schwellenlos übergeht, ein Strom, der gleichsam ex abrupto über das Lied hereinstürzt und nur gewaltsam aufgehalten werden kann. Was darauf folgt, ist die Wiederaufnahme und der Epilog des Grundthemas. Die Richtung des Niedergangs verändert sich nicht, auf die Verwüstungen des Kosmos folgt die Korrumpierung der Liebe; nur die Sprache schlägt einen anderen Ton an, sie wird irdischer. Der sentenzenartige Stil kehrt zurück, begrenzt die Aussagen auf wenige knappe Verse; zurück kehrt auch die regelmäßige Abfolge der Terzinen und die Berührung mit der neapoletanischen Welt: die dort übliche Beschwörimg unglückbringender Zeichen im XI. Lied (Schwarze Katze, Ol auf dem Boden; böser Blick), die für Abergläubige Boten eines bevorstehenden Unglücks sind, aber durch Apotropaika, durch positive Gegenkräfte neutralisiert werden können (Korallenhörner ζ. B.). Doch auch diese können jene gefährliche menschliche Zerbrechlichkeit nicht bezwingen, die eine Liebeserfahrung in eine zerstörerische Krise (Lied X) zu verwandeln weiß, in der sich das Individuum dem Verlust der mühsam und jahrelang angesammelten Schutzkräfte aussetzt. Im Lied XI ist unschwer eine Protesthaltung des weiblichen Ich gegen die kindische Gewalt der Männer auszumachen, eine Art Vorwegnahme der Undine-Monologe.2? Auch die Suche nach Assonanzen (willst, Wetterleuchten, wirfst) sowie nach Bildern, die eine unheilbar kämpferische Anima suggerieren, scheint dies zu bestätigen. Hier wie anderswo besteht die Bachmann auf eine bewußte Kontaminierung der Welten des Krieges und des Friedens, wobei letztere ihrer Uberzeugung nach bloß ein Zustand eines verdrängten Krieges sei28. Aus diesem Grund macht sie uns zu Zeugen 26 »Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land/ ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr« wird es in Böhmen liegt am Meer (1964) heißen, wo sich jedoch die eschatologische Perspektive in Bewußtheit von »eschaton« verwandelt, der letzten Wahrheit über die prekäre Natur jedes Irdischen, das vom lyrischen Ich (wenn nicht als Fiktion) bewohnt wird, indem sie falsch und unverankert im shakespearschen Böhmen ist. Vgl. dazu insbes. Erich Fried: »Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land.« Zu Ingeborg Bachmanns Böhmen-Gedicht (1983). In: Kein objektives Urteil, S. 388-394. 2 7 Vgl. dazu A. Stoll: Erinnerung als ästhetische Kategorie des Widerstands im Werk I. Bachmanns. Frankfurt a. M. 1991, S. 126. 28 Von den Versen Alle Tage bis zur späten Prosa hin verstärkt sich in der Schriftstellerin kontuinierlich die Gewißheit, »Der Krieg, der wirkliche Krieg, ist nur die Explosion dieses Krieges, der der Frieden ist.«
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geworfener Messer, selbst wenn diese bloß »der Luft die warmen Adern« auftrennen. Das Ausbrechen so wenig nobler Leidenschaften wie Wahnsinn, Verachtung und Rache findet seinen adäquaten Ausdruck in den Hyperbeln der Feuerwerke, die das Subjekt blenden und aus »den offenen Pulsen« hervorbrechen. Zu dieser Konstellation eines unreifen Individuums, wie sie traditionell dem männlichen Geschlecht zugeschrieben wird, gehört auch das Ritual von Reue von Widerruf (V. 6). Doch die Schlußfolgerung aus diesem Archetypus der Liebeserfahrung, der »reine Atem« nach dem Gewitter (V 9) und die sofortige Verlagerung dieser Erfahrung in die Traumwelt bzw. in jene des Märchens, schließen auch das weibliche Subjekt ein, das mit gespieltem Interesse der Reihe von Erfolgen und Niederlagen zuschaut, welche in ähnlicher Weise auch dem Märchenprinzen widerfahren. Und es begleitet ihn im neuerlichen Aufstieg bis zur letzten Sprosse, die »ins Leere« fuhrt, in die Delusion des Aufwachens. Es ist daher angebracht, anstelle des Modells des feministischen Protests von Undine gebt eher von einer Manifestation einer »intellektuellen Androgynität« zu sprechen, die ihre vollkommene Ausarbeitung im Roman Malina finden wird.2® Das weibliche Ich gewinnt im zwölften Lied deudich an Gewicht. In zwei kurzen Terzinen beschränkt es sich darauf, die Organe zu benennen, durch welche die Verurteilung zur Ausführung gelangt. Mund, Auge und Hand besetzen die Stelle des Reims, indem sie in anaphorischer Position sich so lange abwechseln, bis sie die für die Exekution vorgesehene Ordnung erreicht haben: und die mich schleiften, die Augen! Mund, der das Urteil sprach, Hand, die mich hinrichtete! (ΧΠ.4-6)
Interview mit D. Zilligen, 22. 3. 1971, Gul, S. 70. Paolo Chiarini streicht hierzu die Notwendigkeit einer diachronischen Recherche über diese Bachmannsche Konstante heraus, die vom brutalen Krieg, der emblematisch mit dem Faschismus assoziiert wird, bis hin zur raffinierten Sublimierung des Verbrechens in der Alltäglichkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens reicht. In: Ingeborg Bachmanns Poetik. Neue Gedankengängezu alten Themen. In: Kein objektives Urteil, S. 320-334, hier S. 333—334. 29 Diese Bezeichnung stammt von Chiarini, zit. ebd., S. 321, und verweist auf die Beziehung zwischen Malina und dem Erzähl-Ich. Bachmann hat bekanntlich mehrmals die ihr unerklärbare Vorliebe, aus männlicher Perspektive zu erzählen, thematisiert. Sie hat u. a. hinzugefügt, daß sie im Protagonisten von Malina ihre zentrale Gestalt gefunden habe, »daß ich nur von einer männlichen Position aus erzählen« könne. Aber sie habe sich auch oft gefragt, »warum eigentlich? Ich habe es nicht verstanden, [...] warum ich so oft das männliche Ich nehmen mußte ...«(Interview mit Toni Kienlechner, 9.4.1971), in: Gul, S. 99-100).
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Weit komplexer dagegen ist die Struktur des darauffolgenden Liedes. Seinen drei Quartinen sind jeweils ein einzelner Vers bzw. zwei Distichen nachgestellt. Die Töne dieses Epilogs bewegen sich auf eine einzige Richtung hin: das Meer ist wagnerianisch stimmlos, die Sonne ohne Wärme, die eisige Kälte der Gräber widersteht jeglicher Glut. Hilfe ist nicht in Sicht, weder durch Heilige noch durch Menschen. In der Leere ertönt nur das Echo einer beschwörenden Stimme, des lyrischen Ich, das erlöst sein will von einem Tod, der bereits zu lange andauert. Es bittet um Hilfe, damit es von seiner Schuld (aber auch von seiner Unschuld!) wieder auferstehen kann. Aus der Strophe geht allerdings nicht klar hervor, an wen diese Aufrufe eigendich gerichtet sind: an eine überirdische Gewalt (wie es die Heiligengestalt nahelegt), an den Geliebten, der längst schon sein Verdammungsurteil gefällt hat, oder an die heroische Eigenschaft des Subjekts selbst, gleichsam als Präludium der Selbstanrufung am Ende der dritten Quartine? Auch der Widerspruch im ersten Distichon läßt sich nicht mit mathematischer Genauigkeit erklären: Ich bin noch schuldig. H e b mich auf. Ich bin nicht schuldig. H e b mich auf.
(ΧΙΠ, 10-11) Es scheint sich dabei 11m Verse zu handeln, die einer zweiten Stimme vorbehalten bleiben, welche die Aussagen der ersten verzögert und damit in eine Grenzsituation gelangt, in der wieder einmal die Sprache selbst an die Grenze zum Schweigen anstößt. Der Tod der Liebe ist wie die Ekstase, die ihm vorausgeht, eine Erfahrung, die sich der Sprache entzieht. Aber auch das Thema der Schuld, das die Bachmann mit dem Künstler-Sein identifiziert, kann uns nicht überraschen, vor allem, wenn es in dieser Grenzlandschaft angestimmt wird, wo sowohl die Proklamation der Unschuld als auch die Berufung auf Schuld als Heuchelei erscheinen müßte. Noch rätselhafter wirkt der Widerspruch im letzten Distichon: »Ich bin es nicht/ Ich bin's« (ΧΙΠ, 16-17). Auch hier tönt eine zweite Stimme durch, welche der ersten zur Antwort gibt, es sei an der Zeit, den Blick zu schärfen, das Eis zu brechen, das die Augen gefangenhält, und nach Rettung in den blauen Meeresgründen Ausschau zu halten. Welchen Sinn aber soll man der zuerst zitierten Aussage unterlegen? Mehr als ihr Inhalt beeindruckt die Anwesenheit eines Ich, das sich selbst in Zweifel zieht und das unwiederbringliche Ende einer Erfährung, die Notwendigkeit des Abschieds, wahrnimmt. Wir wissen jetzt, was damit gemeint ist: Die lyrische Welt, die bis zu diesem Augenblick beharrlich der wirklichen Welt entgegengesetzt wurde, findet keine Kraft mehr zur Rechtfertigung ihrer Existenz. Zu tief ist der Riß zwischen der Welt der Bilder und der Welt der Erfahrung geworden, als daß die Dichterin sich deren subversiven Kraft noch an-
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vertrauen könnte: »Was auch geschieht«, hatte früher in Mein Vogel ihr kämpferischer Geist formuliert, »die verheerte Welt/sinkt in die Dämmrung zurück/ [...] und vom Turm [...] blicken ruhig und stet die Augen der Eule herab.«'0 Offenbar ist etwas eingetreten, das diese Behauptung nicht mehr vertretbar erscheinen ließ. Der aufmerksame Blick der Eule, die niemals die zeitliche Orientierung verliert (»Was auch geschieht: du weißt deine Zeit«), hat das Zeichen gegeben, daß es Zeit geworden ist, andere Töne anzuschlagen, Abschied zu nehmen vom Zauber des Verses und des Metrums, von den Schnörkeln der Metaphern und Bilder, wie Keine Delikatessen vorschlagen wird: Wer wird sich den Schädel zerbrechen/ über so überflüssige Dinge .. .31
»Ich bin es nicht./ Ich bin's« (ΧΠΙ, 16-17): Dieses Distichon markiert den Ubergang von einer Existenzform in eine andere, den Tod der Liebe und der Landschaft, welche die Liebe gefängenhielt, die tragische Kluft zwischen Kunst und Leben, die oft den Tod des Künstlers will, damit sein Wort verstanden wird. In unserem Fall scheint es, als gelänge es dem Lied, am Ende das Wunder der Auferstehung zu vollbringen. Nachdem die Härte des Eises aufgebrochen ist, bringt das Tauen den Wohlklang in die Stadt zurück; Feste und Gesang kehren zum Volk in die via Toledo heim. Doch die emphatische Beschwörung des Wunders (»O großes Tauen ...«, XTVJ 5) wird von einer plötzlichen Wendung zum Geliebten unterbrochen: Erwart dir viel! (ΧΙ\ζ 6)
Weder ein Ausruf, diesmal jedoch durch einen einzelstehenden Vers, der die Spannung weiter steigert. Danach werden die Wunder der Kunst aufgelistet, wird offenbar, was von der Wedergeburt des Liedes erwartet werden kann: eine metrisch komponierte Natur (Silben im Oleander), die Verwandlung ihrer Farben in Laute (Wort im Akaziengrün), die Bezähmung ihrer Kräfte (Kaskaden aus der Wand); - und dies alles getränkt im Rhythmus der Musik: »Die Becken füllt, /hell und bewegt, / Musik« (ΧΙ\ζ 10—12). Es handelt sich also um ein Programm der Negation, die Kundgebung dessen, was die Dichterin eben nicht mehr ausführen will. »Oleander, Akaziengrün, Kaskaden« klingen zweifellos nach jenen »Worthappen erster Güte«, die später in Keine Delikatessen schroff verworfen werden. Und auch die Rolle der Silben und Worte wird bald zurückverwiesen auf ein zum Sterben bestimmtes »leeres Geroll«:
30 Vgl. I. Bachmann: Mein Vogel. In: W. I, S. 96. 31 Ebd., S. 172.
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Und nicht nur dies: das Bild im Staubgespinst, leeres Geroll von Silben, Sterbenswörter.32 Gewollt störend ist wohl auch die Analogie zwischen dem Kompositum Akaziengrün, das sich der Konvivenz mit >einem Wort< beugen muß, und Mandelblüte, von der es in Keine Delikatessen ironisch heißen wird: Soll ich/ eine Metapher/ ausstaffieren/ mit einer Mandelblüte? ... (W. 1,172) Nur der Musik spricht Bachmann die höhere Kraft zu, das Absolute anzurufen, jene durch das Wort nicht mehr erreichbare Dimension.» Es wird hier also auf die Musikalität des Verses und der Strophe Bezug genommen, die durch phonetische Kombinationen erzielt wird. Doch selbst diese Praxis wird später als kulinarisch verworfen: »Soll ich [...] erforschen die Libido eines Vokals/ ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten?« (W. 1,173) Was zunächst eine feierliche Verherrlichung des Wunders der Kunst erscheint, entpuppt sich am Ende als Requiem auf die absolute Kunst. Zwar wird dies noch nicht mit der Schärfe der späten Lyrik ausgesprochen; im Gegenteil, trotz der angeführten Einschränkungen klingt am Ende des letzten Lieds (XV) nochmals durch, »wie stark die Versuchung ist, eine abstrakte Absolutheit des Gedichts zu setzen und an dessen überzeitlicher, alles versöhnender Macht festzuhalten«.^ Aber wie der von Rilke ausgesprochene Primat des Lieds - »Einzig das Lied überm Land/heiligt und feiert« - existentialistisch auf die Zeit eingeschränkt wird, deren sich der Dichter >nicht mehr< erfreuen kann,35 so durchzieht den ganzen Zyklus die Sorge, Wahrheit und Poesie könnten zwei nicht mehr versöhnbare Wege einschlagen. Damit wird die Flucht mit einer eschatologischen Spannung aufgeladen, die den Vers als Form selbst in Frage stellt. Deutsch von Primus-Heinz Kucher
32 Vgl. Ihr Warte (1961), W. I, S. 163. 33 Vgl. dazu das Interview mit E. Rudolph, 23. 3.1971. In: Gul; S. 85. 34 Vgl. R. Svandrlik: Ästhetisierung undAsthetikkrittk, TuK, SB 1984, S. 28-49, hier S. 45. 35 Vgl. R. M. Rilke: Sonette an Orpheus, XIX. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von E. Zinn, Frankfurt a. M. 1955, Bd. i, S. 743. Bachmanns Schlußverse »Doch das Lied überm Staub danach/wird uns übersteigen« (XV 5-6) lesen sich dazu wie ein intertextuell bestätigender Kommentar.
Fabrizio Cambi
Ein Ich zwischen Scheitern und Annäherung ans Wort Böhmen liegt am Meer (1964-66)
Böhmen liegt am Meer Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern. Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich. Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. Zugrunde - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und bin unverloren. Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.
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W e Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans M e e r begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt. Ich grenz noch an ein W o r t und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,
ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.
Böhmen liegt am Meer (BaM)1 zählt bekanntlich zu jenen berühmten und exemplarischen Gedichten im lyrischen Werk von Ingeborg Bachmann, in denen die utopische Spannkraft in einer zwar unbestimmten, zugleich aber in einer auf vielfaltige, eindringliche wie ungewiß scheinende Horizonte zuhaltende literarische Landschaft zur Entfaltung gelangt. Die zahlreichen Deutungsvorschläge - ich nenne hier stellvertretend nur den suggestiven Kommentar Erich Frieds sowie die anregende Interpretation Gerhard Kaisers2zielen auf eine Auflösung der dichten und rätselhaft allegorisch-märchenhaften Vision in eine Vielzahl von Perspektiven und ziehen dabei thematisch ausgerichtete Dekodifizierungen vor, welche Aspekte der Komposition, des metrisch-formalen Aufbaus auf eine eher subalterne Ebene verdrängen. Die hier vorgeschlagene Interpretation will hingegen die formalen Entscheidungen der Autorin auf einer nicht bloß deskriptiven Ebene nachzeichnen und deren Stellenwert in der Bachmannschen Poetik herausarbeiten. Einige Vorbemerkungen und Hinweise, die fur die Einordnung des Gedichts ins Werk der Autorin und in die literarische Tradition hilfreich erscheinen, seien hier allerdings gestattet. Böhmen liegt am Meer ist die lyrische Übertragung einer kurzen Reise nach Prag, die Bachmann im Januar 1964 während ihres berlinischen Aufenthalts unternommen hat. Poetische Bilanz dieses Aufenthaltes in Prag, der durch das im Nachlaß enthaltene Bild der Prager Altstadt an der Moldau bezeugt wird, ist eine Sammlung von Gedichten, die trotz des heterogenen Spektrums der Fassungen ein einheitliches Gewebe von wechselseitigen Spiegelungen und Entsprechungen aufweist, die gleichsam einen mehrsträngigen utopischen Pfad auf verschiedenen Ebenen und aus miteinander verflochtenen Blickwinkeln explizieren. Genauer gesagt handelt es sich um drei Gedichte, Böhmen liegt am Meer, Prag Jänner 64 und Enigma, Werner Henze gewidmet,
ι 2
Vgl. I. Bachmann: W I , S. 167. Vgl. E . Fried-.»Ichgrenze noch an ein Wort und an ein andres Land.« In: Ders.: Über Ingeborg Bacbmann. Anmerkungen zu ihrem Gedicht»Böhmen liegt am Meer« und ein Nachruf. Berlin 1983, S. 3 - 1 4 , sowie G . Kaiser: Geschichte der deutseben Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Zweiter Teil, S. 759-776.
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dessen erste Fassung Auf der Reise nach Prag zum Titel hatte. 1968 wurden sie mit dem Gedicht Keine Delikatessen in der von Hans Magnus Enzensberger edierten Zeitschrift »Kursbuch« veröffentlicht. Hier ist es nicht möglich, die Wechselbeziehungen dieser Gedichte zu vertiefen, die gegenseitig als dialektische Darlegung des jeweils anderen verstanden werden können. BaM, das 1964 verfaßt und 1966 im Programma del Festival di Spoleto zum ersten Mal gedruckt wurde, ist eines der von der Dichterin meistvorgelesenen Gedichte und wurde von ihr selbst als »das Gedicht meiner Heimkehr, nicht einer geographischen Heimkehr, sondern einer geistigen Heimkehr«' definiert Das rettende und erneuernde, wenn auch begrenzte An-Land-Gehen auf der böhmischen Erde bedeutet die Sublimierung der Hoffnung derjenigen, die auf die Hoffnung verzichtet haben. Sie ist auch die lyrisch-existentielle Projektion einer beleuchtenden Reise in ein Land, wo sich in einer Zeit politischen Tauwetters mögliche neue Perspektiven fur eine sozialistische Demokratie eröffneten. In dieser Hinsicht ist die nach wenigen Monaten verfaßte Schilderung Berlins in der Prosa Ein Ortfür Zufälle (1964) als Gegenstück zu verstehen. Aber die Schiffahrt auf dem böhmischen Meer, deren Kurs von der Landschaft einer literarischen Tradition von Shakespeare bis Paul Fleming, von Franz Kafka und Franz Fühmann bis zum Theaterstück Böhmen am Meer von Volker Braun bestimmt erscheint, wird bei Bachmann zum Topos des der Stummheit entrissenen, der »Gaunersprache« abgerungenen lyrischen Wortes, das selbst in seinem Wissen um den prekären Zustand infolge langer Vagabondage den Versuch unternimmt, eine kommunikative Funktion zurückzugewinnen. Das auf einem komplexen und umfangreichen metrisch-rethorischen Aufbau basierende Gedicht besteht aus 24 Versen und kann als Reihenfolge von drei Kompositionsetappen gelesen werden, dessen Inhalt einer präzise formalen Struktur entspricht. Die ersten 12 Verse, die das Corpus eines durch Wiederholungen betonten egozentrischen Ich- Gedichts (das Pronomen »ich« kommt iymal und zumindest einmal in jedem Vers vor) darstellen, sind Alexandriner, und jeder bildet eine durch Interpunktion in sich abgeschlossene selbstständige syntaktische Einheit. Im zweiten Teil (V. 13-20), in dem das lyrische Ich die Grenzen der Egozentrik durch die Mitbeteiligung der ausdrücklich apostrophierten Figuren und Gruppen der Welt Shakespeares überwindet, geht das strenge alexandrinische Versmaß in einen mit Enjambement versehenen dehnbaren Blankvers über, der zum Prosaischen und zum Gesprächsstil neigt. Mit den letzten zwei Strophen (V 21-24), i*1 denen sich das lyrische Ich mit dem Bohemien, »der nichts hat, den nichts hält«, identifiziert, kehrt der hymnische Rhythmus des Alexandriners wieder. 3
Vgl. Statement zu Gerda Hallers Fernsehfilm Ingeborg Badmumn in ihrem erstgeborenen Land (1973), ÖNB, Nachlaß Nr. 2349.
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Die Beschreibung der formalen Strukturen provoziert bereits die Frage nach den ausgewählten metrischen Gesetzen, die weit in die lyrische Tradition zurückreichen. Die Bachmannsche Rezeption des Alexandriners, die eher aus seiner Adaption an das deutsche Sonett in der Barockliteratur als aus der klassischen Verskunst des französischen Trauerspiels stammt, hebt die paradigmatische Verwendung der Zäsur hervor, die jeden Vers in zwei Halbzeilen drastisch aufteilt. Die zwei jeweils streng getrennten Halbverse verstärken durch ihre apodiktische Wortstellung einen emphatischen und zugleich knappen Tonfall. Der jambischen Abfolge entspricht ein zwingendes und unbestreitbares Satzgefüge: Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gem.
Die Verwendung des Alexandriners erscheint vom diesem Standpunkt aus dem hypothetischen Satzbau des jeweiligen Verses angemessen, der den Zustand des in der dialektischen Lage von »Zugrundegehen« und »Unverlorensein«, von Geworfenheit und Wiederhinaufkommen ringenden lyrischen Ich beschreibt. Innerhalb des für die Barockdichtung typischen festen und genauen alexandrinischen Versmaßes, das Aporien und irdische Antithesen aufnimmt, um sie aufzuheben und das Transzendente zu erschließen, beschreibt Bachmann durch eine rasche Abfolge von Protasis und Apodosis den möglichen Prozeß der Wiedergewinnung der wegen ihrer Auflösimg verlorenen Identität des Ich. Die Häufung von »Wenn-dann-Beziehungen«, ein Paradigma der Bachmannschen Dichtung, schreibt den ersten acht Versen den epigrammatischen Stempel zu, der sich gleichsam als Übung eines auf die Ausdehnung der folgerichtigen Mechanismen auf die existentielle Bewegtheit hingezielten linguistischen Spiels herausstellt. Dem Echo möglicher Konsonanzen mit der Lyrik von Paul Fleming (man nehme zum Vergleich das Sonett An sich: »Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren! [...] Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren«*) sowie von Andreas Gryphius (wie im Sonett An sieb selbst »Mir grauet von mir selbst /[...] Vnd eine Noth muß uns mit allem Vorsatz tödten«) verflüchtigen sich in BaM in stoizistische Perspektiven und religiöse Ausgänge. Das Wiederauftauchen aus dem »Grund«:
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Vgl. Paul Fleming: An sich. In: Deutsche Dichtung des Barock. München, o. J., S. 62.
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Ich will nicht mehr für mich. Ich will zugrunde gehen [...] Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf; Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren
und das Aufwachen entfalten sich in innerhalb eines säkularisierten existentiellen und kommunikativen Plans. Der Alexandriner lockert sich (V 13 und folgende) im Blankvers und im jambischen Fünfheber, welche die Apostrophe verstärken: »Kommt her, ihr Böhmen alle«, eine der zahlreichen hortativen Wunschformen, die für den Versuch einstehen, den monologisierenden Appell durch ein »wir« zu überwinden. Diese Ansprache stellt ihrerseits eine Art säkularisierte Neuauflage des im Matthäus-Evangelium enthaltenen Christuswortes dar, und zwar insofern, als es einen Ubergang vom Ich-Gedicht zu einem ökumenischen Appell anzeigt, um ein befreites und zur Abbildung einer neuen Welt fähiges Wortfeld erwachsen zu lassen. Innerhalb dieser formalen und doch schon thematisierenden Schemata entwickelt sich eine Reise des lyrischen Ich, die sich durch eine virtuos aufgebaute Montagetechnik mit vielen Zitaten und mehr oder weniger offenbaren Bezügen als parallel und zugleich entgegengesetzt zu den Anliegen der Komödie The Winter's Tale (1610-11) von Shakespeare erweist. Es handelt sich um ein in einer ausgefeilten Subtextur verankertes Gedicht, das enge dialektische Verbindungen mit literarischen Traditionen der Vergangenheit enthält. Beispielsweise spielt der dritte Vers Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich es gern
auf Love's Labour's Lost an; in der bereits erwähnten Apostrophe Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe / unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, / und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen / Und zum Weinen sind
werden Figuren und eine an Shakespeare erinnernde Meeresumwelt aufgezählt, die auf Herkunftsorte von bekannten dramatischen Werken zurückzufuhren sind: die »Illyrer« sind die Personen von Twelfth Night, or What You Will, die »Veroneser« jene in The Two Gentlemen of Verona, die »Venezianer« diejenigen von The Merchant of Venice. Aber außer diesen deutlichen Anklängen, die die Böhmen-Metapher als eine möglichen ersehnten Glücks von Leben und Liebe bekräftigen, sticht die beinahe umgekehrte Rezeption von The Winter's Tale ins Auge. Hier ist Böhmen das Land der Verbannung, »carrying the babe, with a Mariner« (EU, 3), für Perdita, die »Verlorene«, die Leonte, der von Eifer-
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sucht gequälte König Siziliens, seiner für untreu gehaltenen Frau Hermione entreißt. Ihre Heimkehr nach Sizilien mit dem Sohn des Königs von Böhmen bringt die versteinerte Mutter Hermione ins Leben zurück, indem sie dem Totenreich entrissen wird. Durch den bejahenden Indikativ des Titels (Böhmen liegt am Meer) will Bachmann eine deutliche Beziehung zu Shakespeare herstellen, aber Böhmen als Land der Trostlosigkeit sowie des Uberlebens und schließlich der Rettung von Perdita wird bei ihr zum Anlaß einer Dialektik von Abgrund-Grund, Meer-Land, Unter- und Auftauchen, Tod-Leben, mit einer indirekten Wiederbelebung des Mythos von Persephone und Proserpina. In den ersten zwölf Versen kommt das Substantiv »Grund« zweimal in der doppelten sich ergänzenden Bedeutung vor: als »Grund als feste Basis« (»Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund«, V 2) und »aus dem Grund hinauf«, mit einer Bewegung von unten nach oben (»Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren« V. 12). Das letzte stellt eine ähnliche Bedeutung - wenn auch in der Bewegung nach unten - dar, die im Gedicht Abendsfragich meine Mutter (1948) zu merken ist: »Tief im Grund verlang ich immer / alles resdos zu erzählen« (W I, S. 10), oder in Menschenlos·. »Wir, in die Zeit verbannt / und aus dem Raum gestoßen, / wir, Flieger durch die Nacht und Bodenlose« (WI, S. 19). Die zwei Bedeutungen, die sich im lyrischen Text im gemeinsamen Sinn einer innerlichen Wiedererweckung und Existenzerhellung vervollständigen, begrenzen die Phase der Verfallenheit, eines notwendigen Stadiums für das durch das anaphorische Adverb »zugrunde« beschriebene Hinaufsteigen: Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen. Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. (V 9 - 1 1 )
Der Wille zum Verzicht auf das eigene Ich, die Ich-Entsagung und der darauflfolgende Entschluß, in die Wassertiefe hinabzustürzen, dabei aber auch auf den Grund der Dinge zu gehen, sind die Schlußfolgerung der symmetrischen Verse 4 und 8: Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich. Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich. in der das Anderssein die Anerkennung und zugleich die Aufhebung des Ich zur Folge hat. Der Verzicht auf das Ich und der Verlust der Distanz zwischen dem eigenen Selbst und dem anderen, die das principium individmüonis erhält, ist der äußerste Versuch, sich am anderen festzuhalten und in eine rettende Wechselseitigkeit zu fließen. Die Dialektik von »Zugrund« - »Von Grund auf« erinnert an die Schlußsätze der Bachmannschen
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Dissertation über Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (1949), wo vor der für »inadaequat für den Ausdruck eines Lebensgefuhls« gehaltenen Heideggerschen Metaphysik die Möglichkeiten der Kunst angegeben und das Sonett Le gouffre (1862) von Charles Baudelaire (»Pascal avait son gouffre, avec lui se mouvant. /[...] En haut, en bas, partout, la profondeur, la greve, / Le silence, l'espace affreux et captivant...«) sowie Goyas Gemälde Saturno (1821-23) angerufen werden. In der »profondeur« Baudelaires, in der man das »nichtende Nichts« erfaßt, wird bekanntlich der Mythos der Vernichtung Kronos, der seine Kinder verschlingt, bildlich dargestellt. Die Darstellung der Geworfenheit und des negativen Grundes der Existenz kann nur der Kunst anvertraut werden und wird hier durch die Verbindung Baudelaire-Goya erläutert, die Ingeborg Bachmann aus ihrer Kenntnis des Aufsatzes des französischen Dichters Quelques caricaturistes etrangers (1857) vertraut war. Aus dem Abgrund des Zugrundegehens und des existentiellen Verderbens (»Und irrt euch hundertmal/ wie ich mich irrte und Proben nie bestand«, V 1 9 - 2 0 ) kann man wieder emporsteigen und hoffen (»so hoffe ich auf Land«, V 7), vorausgesetzt ein Lebenshauch und ein Liebeswort wecken das versteinerte Ich wieder auf. Der geworfenen Existenz, der zum Totenreich verurteilten Persephone wird - zumindest vorläufig und unter bestimmten Umständen - Wiedervereinigung mit Demeter-Ceres, ihrer Tochter Erde, zugestanden, indem sie durch das befruchtende Sonnenlicht die wenngleich vergängliche Gewißheit eines »guten Grunds« wiedererlebt. Das durch das fließende und schwerelose Element ermöglichte Hinaufsteigen fuhrt nicht zu sicherer Rettung, sondern zu einer Verdrängung der Gefahr endgültiger Verdammnis, wie das negative Präfix un bezeugt: »Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren« (V12). Zwei Jahre vor der Reise Bachmanns nach Prag veröffentlichte der in der D D R lebende böhmische Schriftsteller Franz Fühmann die Erzählung Böhmen am Meer (1962), eine historisierende, narrative Variation der shakespeareschen Komödie.5 In ihr lebt die Hauptperson Hermine, eine betagte böhmische Zimmervermieterin, die in der Nachkriegszeit an die Nordseeküste ausgewandert ist, in einer Art stummer und verzweifelter Trance den Alpdruck des bedrohlichen und aggressiven Meeres. Dieses erinnert sie an den Versuch, sich zu ertränken, als sie als Dienstmädchen von einem adligen, reichen und zum Nationalsozialisten gewordenen Großgrundbesitzer entehrt worden war. Der Ich-Erzähler, der in den Ferien The Winter's Tale von Shakespeare mitgenommen hat, versucht, die Ursache des seltsamen Benehmens der Frau mit der Hilfe des Gedächtnisses zu ergründen, bis sich ihre verzweifelte Stummheit durch die Solidarität und Wärme der Gemeinschaft und ihres Sohns abmildert Dieser wird sein böhmisches Leben auf den Meeresufern aufbauen. In ihrer Einleitung zur Ubersetzung ins Italienische 5
Vgl. Franz Fühmann: Böhmen ant Meer. Rostock 1962.
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hebt Maria Teresa Mandalari die »utopische Übereinstimmung« zwischen diesem Werk lind dem Gedicht Bachmanns hervor.6 Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie Fühmanns Text kannte, denn es können mögliche Berührungspunkte zwischen dem ersten Vers: »Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus«, der allerdings auch an die von Salz und Brot erinnert: »So nehm ich vom Salz, wenn uns das Meer übersteigt, / und kehre zurück / und legs auf die Schwelle / und trete ins Haus« ( W I , 58), und der Fühmannschen Beschreibung: »Ich sah mich um und sah zwischen der Straße und dem Dünenzug schilfgedeckte Häuser mit Gärten davor, in denen es grünte« ausgemacht werden. Der auf einen betont historisierenden Neohumanismus abzielenden utopischen Botschaft Fühmanns korrespondiert eine »utopische Richtung des dichterischen Wortes« im Sinne Musils und Blochs in den zwei abschließenden Bachmannschen Strophen, die freilich durch Adverbien und Adjektive eingeschränkt erscheinen: ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr [...] begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.
Das Meer selbst, aus dem das Ich wieder auftaucht, um sich »an ein andres Land« zu nähern, ist »strittig«, zweifelhaft und anfechtbar. Trotzdem war es der Preis und das Ziel für den Böhmen, in den sich das Ich hineinlebt. Dieses Ich ist »begabt«, hat es ja zum Geschenk die Fähigkeit erhalten, seine Wahlheimat zu sehen. Der Böhme und Bohemien ist »ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält« (V 26), und erblickt in seinem Unterwegssein ein utopisches Land. Die Grenze und die Annährung an das Wort stellen den Versuch dar, zu einer an und fur sich unberührbaren Welt zu gelangen, und konstituieren das utopische Movens des über die Zukunft hinwegsehenden Menschen, der auch die erstgeborene Aussicht wiedergewinnt, das heißt den »Kindheitsfluß«, wie ihn Bachmann in Prag Jänner 64 definiert. Die Utopie ist fur Bachmann keine Alternative zur Geschichte; sie erwächst aus dem Zustand desjenigen, der sie erlebt, erleidet und ablehnt, aber nicht auflösen oder durch mystizistische Anschauungen verdrängen kann. Die Utopie als Gefühl der Leere, als Streben nach einer Welt, zu der man imbestimmt neigt, und als Bewußtsein eines »noch-nicht« wurzelt ja in der historischen Gegebenheit, die das Subjekt in den negativen Formen der Angst und der Schuld erlebt, wie in den Versen aus Salz und Brot. »Wir teilen ein Brot mit dem Regen, ein Brot, eine Schuld und ein Haus« ( W I , 58). Das regressive Betrachten einer in Große Landschaft bei Wien heraufbeschworenen Vergangenheit ist nicht als Sehnsucht nach einem verlorenen geschichtlichen Erbe zu verstehen, das Bachmann unmißverständlich verurteilt, 6
Vgl. Μ. T. Mandalari: Franz Fiibmarm, nova 1993, S. 15.
un tedesco deWest.
In: F. Fühmann: La Boemia in rioa al mare. Ge-
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sondern als Richtung - von der Vergangenheit in die Zukunft - , die demjenigen Wurzeln bereitstellt, »der nichts hat, den nichts hält«. Im schon erwähnten unveröffentlichten Statement zum Film von Gerda Haller hebt Bachmann die enge Beziehung von Hoffnung, Leben und Liebe hervor, die sich als bestimmende Elemente der »geistigen Heimkehr« erweisen: Böhmen heißt nicht für mich, daß es Böhmen sind, sondern alle, wir alle sind Böhmen. U n d wir hoffen auf dieses Meer und auf dieses Land. U n d wer nicht hofft und wer nicht lebt und wer nicht liebt und wer nicht hofft auf dieses Land, ist fur mich kein Mensch. U n d deswegen habe ich gesagt: >Kommt her, ihr Böhmen alleWarten auf GodotBrotletzte WorteRätselWiener Schulen< in einen Zusammenhang stellt, ist rätselhaft. Beide Musikstile scheinen sich völlig zu widersprechen und auszuschließen wie Symphonie und Lied, im Kontext der von Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen gewählten kunstkritischen Dichotomie: >Schlagsahne< und >Brotletzten Gedichte< insgesamt, die »Auferstehungssymphonie« mit Klopstocks Hymne »Die Auferstehung« und den Kernversen: »Es geht dir ja nichts verloren!« - »Sterben werd ich, um zu leben!« In: S. Bothner: Derjanusköpfige Tod, S. 317—333.
23 Von Flüchtigkeitstippfehlem bereinigte Textkonstitution·, die Werkausgabe von 1978 nennt nicht die Herkunft der Quellenangabe ( W I, S. 660), anders Κ Bartsch (S. 130), der das Nachlaß Bl. Nr. 442/ Κ 1 1 7 1 zitiert; Faksimile bei H. Höller: LuG, S. 147. 24 Poesie als ein Element unter vielen Medien (»Kino«, »Illustrierte«) wird von Bachmann in einer imponierend innovativen diätetischen Metaphorik mit »Schlagsahne« verglichen: Poesie auf der Ebene der
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Daß eine solche musikalische Schwarzweißmalerei der Logik musikästhetischer Entwicklung und der musikgeschichtlichen Wirklichkeit nicht entspricht, ist Bachmann als Freundin und Librettistin des bedeutenden gegenwärtigen Komponisten, Hans Werner Henze, natürlich bewußt. Sie entdeckt in ihrer Collage Analogien zwischen dem Vollender der Klassik und dem Neutöner und Initiator der Moderne sowie ihrer Auffassung der Wirksamkeit von Gedichten. Ein offensichtliches analoges Moment liegt in der Form, der Wahl extremer Kürze. Dies manifestiert sich darin, daß Peter Altenberg, der Wiener Autor von sogenannter Prosakleinkunst, die Texte selbst auf eine Postkarte schrieb, womit schon in der Vorlage eine Entscheidung zur verknappenden, aphoristisch zugespitzten, pointillistischen Aussage im Rahmen des modernen prosaischen Kommunikationsmediums gegeben ist, ebenso daß für einen Kinderchor eine besonders einfache, klare und universale Sprache gewählt werden muß. Die Bedeutung der beiden Quellen zielt somit auf die Qualität der kleinen Form. Sowohl für Altenberg wie für Mahler konzentriert sich die utopische Hoffnung auf den Ausdruck des Kindlichen als Naivem im Sinne eines unverbrüchlichen Zufriedenseins mit dem Fragmentarischen, Geringen, Wenigen, Bruchstückhaften, Offenen, Unsoliden, das eine Welt in sich birgt und deshalb zur Zuflucht der von der Überfülle der Jahrhundertwende Gequälten wird, ohne daß eine Teilhabe an einem lebensgeschichtlich vergangenen Reich der Kindheit und Jugend - nach Bachmann das >wirkliche Kapital· des Künstlers2 5 - möglich und erreichbar scheint. Das intensive Leben und Erleben des Kleinen, Wenigen, Spurenhaften, scheinbar Mangelhaften, des archaisch Naiven, der Brosamen von einem nicht mehr zugänglichen Tisch, die dennoch als Ort des Ganzen intensiver als das Extensive wirken können, wird für den Modernen, Sentimentalischen zum Rätsel.
ablenkenden Belustigungsspiele ist substantiell künstlich aufgebläht, vom Nährwert her, zur Versorgung der Lebensfunktionen durch >leere< Kalorien überflüssig sowie geschmacksverderbend, weil Appetit im spezifischen Sinn als existentielles Verlangen gegenüber einem fremdbestimmten Lustgefühl zurücktritt und zum Konsum des Redundanten verkommt, degeneriert. Poesie also ist nach der Diät-Metapher weder Schlagsahne noch Dessert, sondern Grundnahrungsmittel »Brot«, dargeboten einer ums Uberleben bemühten Gattung Mensch, die sich auf die Arbeit am Leben konzentriert und um die Verbesserung seiner Bedingungen bemüht. Daß »Poesie wie Schlagsahne« aufgefaßt wurde, hat Bachmann am eigenen Leib erfahren und wie keine andere Autorin und kein Autor, explizit in ihrer Poetologie, den Frankfurter Vorlesungen, und ihrer Poesie, den wenigen Gedichten, die sie weiterhin schrieb, thematisiert. Bachmanns Gedichte wurden kaum als von der Autorin losgelöstes Kunstwerk rezipiert, sondern stets eng an die Person und Erscheinungsweise der Dichterin gebunden. 25
Veit Mölter: »Liebe führt in die Einsamkeit« [Interview mit Ingeborg Bachmann], Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 69, 23. März 1 9 7 1 , Buchbeilage, in: Gul, S. 79.
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Das Rätsel des »Enigma«-Gedichtes kann sich nicht nur in der Musik, sondern muß sich vor allem darin erweisen, daß es etwas Rätselhaftes - trotz aller Aussagen und aller Exponierung eines Gedankens oder eines Gefühls - in der Sprache wahrt, eine Verschwiegenheit in deutlicher, expliziter Zeugenschaft des lyrischen Ichs. Zunächst und vor allem sind in der spezifischen Struktur dieses Gedichts die Spanne und die Spannung zwischen Sprechen und Schweigen als Rätsel des lyrischen Ausdrucks, eines lautenden, klingenden, klangvollen Nichts, einer Lautung, eines Klanges des Nichts, aufzuzeigen.
Die endgültige Form
Das Gedicht »Enigma« ist eines der kürzesten, die Bachmann geschrieben hat; es besteht aus zwölf Versen, gegliedert in sechs Versgruppen. Ebenso zeigt sich die Form in der Wortanzahl in den einzelnen Versen, zunächst gesteigert (von 4, 5,6 auf 9 - in Vers 4, wo die Sprache selbst zum Thema wird - ), dann sich verkürzend und einpendelnd (3, 5, 5, 3), und schließlich besteht die absolute Vereinzelung der Worte in vier isolierten Versen. Das Gedicht führt die Wirkung der Wortstellung innerhalb eines Satzes anhand der Versgliederung vor und zeigt damit sprachkritisch und verstehenskritisch, wie sich die Bedeutung eines Satzes durch Einbettung des Wortes in einen unterschiedlichen Kontext ändert. Diese Vergewisserung mit Hilfe der Umstellprobe bezieht sich auf mehrere Situationen. Der Vers 1, »Nichts mehr wird kommen«, kehrt in Vers 6, »es wird nichts mehr kommen«, wieder. Die vier Worte werden um das »es« auf fünf Worte erweitert. In Vers 2 erscheint die Negation von Vers 1, »nichts mehr«, als definitive Negation »nicht mehr«; das Prädikat »wird« erfährt dabei durch das mehrteilige »wird [...] werden« eine Steigerung und folglich eine Präzision. Im Vers 7 erhält die Negation durch das Modalverb eine Modifizierung des temporalen Aspekts, des Futurs: »Du sollst ja nicht weinen«. Schließlich gewinnt in einer Triade das prädikativ tragende Verb »sagen« als Selbstreflexion des Dichtens mittels scheinbar degradierender Einordnung in das extensivierte Wortfeld prosaischer Kommunikation eine zentrale Bedeutung. Relevant dafür sind jeweils mit dem Satzzeichen Punkt abgeschlossene Aussagen: -Vers 3: »Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.« -Vers 8: »sagt eine Musik.« -Verse 9-12: »Sonst/ sagt/ niemand/ etwas.« Diese Sagweisen nennen Qualitäten des >Sagensenig-
jo Mahler ist mit Prag verbunden durch seine Tätigkeit als Zweiter Kapellmeister von August 1885 an, die er als sein »erstes größeres Engagement« bezeichnet und durch das ihm die erste öffentliche Aufführung eigener Kompositionen gelingt, nach: Wolfgang Schreiber: Gustav Mahler mit Selbstzeugnissen und Briefdokumenten. Reinbek 1985,1971, S. 36f.
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matischen< Quellenangaben zum Gedicht hat auch Mahler das explizite Programm später fortgelassen'1 - im ersten Satz in das mythische Bild des vollen Lebens, des Lebens auf seinem Höhepunkt, in direkter Präsenz: »Pan erwacht, der Sommer marschiert ein, da klingt es, da singt es, von allen Seiten sprießt es auf. Und dazwischen wieder so unendlich geheimnisvoll und schmerzvoll, wie die leblose Natur, die in dumpfer Regungslosigkeit kommendem Leben entgegenharrt.«'2 In dem Attribut »geheimnisvoll« liegt eine Anspielung als Verbindung zwischen Musik-Vorlage und Gedicht »Enigma«, wie sie zwischen Bachmann und Henze im vertrauten Dialog über Musikalisches naheliegt. Gleichzeitig ist auch die Wertungsrichtung des >Geheimnisvollen< benannt, das >Schmerzvolle< und verunsichernd Herausfordernde im Gegensatz zur anderen möglichen Auffassung des Geheimnisvollen als oberflächlich Reizvollen, also auch hier die entscheidende kunstkritische Dichotomie von Kunst als Ernst und als Spiel. Das Rätselvolle als das Kommende des Sommers, das Leben in seinem Werden und Vergehen, erscheint bei Mahler in den Kommentaren, Herkunftsbezeichnungen und Redeeinleitungen, mit denen er die fünf von sechs symphonischen Sätze als Aussagen unterschiedlicher Erzähl-Instanzen betitelt:'' - »Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen«, - »Was mir die Tiere im Walde erzählen«, - »Was mir der Mensch erzählt«, - »Was mir die Engel erzählen«, - »Was mir die Liebe erzählt«. Mit dieser Folge von fünf Sätzen tritt ein Panorama des landläufig als Sprache der Lyrik Assoziierten auf. Verschiedene Erzählweisen geben einem sonst nicht Zugänglichen Ausdruck, vermittelt durch Sprechinstanzen, ausgehend von den Naturinstanzen in transzendierender Weise zu immer abstrakteren, abstrahierenderen Organen: Blumen, Tiere, der Mensch, Engel, die Liebe; dabei stehen die Pluralformen im Kontrast zu den beiden Singularformen. Das populärste Stück ist der zweite Satz der Symphonie, das sogenannte »Blumenstück«, das sich herausgenommen aus der Komposition oberflächlich sentimental ausnimmt, wie alle isoliert betrachteten, zum Potpourri versammelten Mahler-Sätze, zum Beispiel das Adagietto der Fünften Symphonie in der Filmmusik zu Fellinis »Der Tod in Venedig« (1971). 31 Vgl. Gustav Mahler: Briefe iSjg-ign. Hg. v. Alma Mahler, Wien 1924, S. 198 (1896), zitiert nach W. Schreiber, S. 141; vgl. Hans Renner und Klaus Schweizer: Reclams Konzertführer. Orcbestermusik. Stuttgart 10 i976, S. 430. 32 Vgl. ebd., S. 43of. 33 Ebd., S. 431.
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Mahler geht es um etwas anderes, Komplexes, Symphonisches als Vielstimmiges: »Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes«.34 Welches Rätsel bei Mahler mit dem Attribut >geheimnisvoll< benannt ist, zeigt der zitierte Liedtext im fünften, vorletzten symphonischen Satz: »Was mir die Engel erzählen«. Jesus fragt beim letzten Abendmahl seinen Jünger Petrus, den von ihm als Leiter der Kirche ausgewählten >felshart< durchsetzungsfähigen Mann, in einem menschlichen Gestus des aufmerksamen Betrachtens und der Anteilnahme: »Wenn ich dich anseh', so weinest du mir«, und Petrus antwortet in einer Frage voller Reue über sein moralisches Versagen angesichts der Übertretung der Zehn Gebote: »Ach, sollt* ich nicht weinen«, was Jesus mit dem Hinweis auf das ethische Grundprinzip Liebe gnädig verzeiht. Bachmann greift diesen Gedanken, den Umschwung vom pflichtgemäß strengen, deontologischen Denken des Alten Testamentes zur teleologischen Freiheit aus dem Geist des Neuen Testamentes, im Vers 7 ihres Gedichtes auf: »Du sollst ja nicht weinen«." Eine Parallelisierung der sechs symphonischen Sätze bei Mahler mit den sechs Versgruppen des Gedichts bei Bachmann begründet sich darin, daß die Schlüsselkorrespondenz durch dieses Zitat aus dem fünften Satz der Mahlerschen Symphonie in der fünften Versgruppe des Gedichts gegeben ist. Ausgehend von dieser Verbindung bestehen klare Bezüge, jeweils in einem negierenden Verfahren gegenüber einer zur Sentimentalität und nostalgischen Uberfülle degradierten Romantik. Es muß und darf hier offengelassen bleiben, inwieweit Mahlers Werk als bestätigender Höhepunkt und Endpunkt der Romantik oder als kritischer Umbruch aufgefaßt wird bzw. werden kann; die Ambivalenz des Werkes zwischen Romantik im bestätigenden oder ironischen Zitat zeigt die Bindung an das Alte und den zwangsläufigen Schritt ins Neue durch eine extreme Mischung der Musikstile, nicht als Ansammlung, sondern als gegenseitige Kontrastierung und damit Ergänzung im Fortschreiten einer musikalischen Bewegung. Wenn im folgenden nur der Mahler-Quelle nachgegangen wird und nicht der AlbanBerg-Quelle oder auch der Bezugnahme auf Henzes »Ariosi«, so hat dies nur ökonomische Gründe.36 Eine Parallelisierung allein mit der Mahler-Quelle erbringt frappierende Aufschlüsse für das Gedicht Bachmanns: 34
G . Mahler: Βηφ,
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Diese Verse werden auch zunächst, vor der zweifachen Wiederholung, weder vom Frauenchor (so aber
S. i6if.,
zitiert nach: W. Schreiber, S. 69.
H . Höller: L u G , S. 159) noch vom Knabenchor (so Bachmann in ihrem » P r o g r a m m « auf dem Nachlaß Bl. N r . 4 4 2 / K . 1 1 7 1 ) , vgl. Faksimile bei H . Höller: L u G , S. 1 4 7 ) gesungen, sondern v o m Altsolo, das schon den vierten Satz »Zarathustras Mitternachtslied« aus Nietzsches »Also sprach Zarathustra« gestaltete, vgl. auch W . Schreiber, S. 142. 36 Auch der Peter Altenberg-Text des Alban Berg-Liedes ist im Gedicht verändert aufgenommen, denn der
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Mahlers Thema im ersten symphonischen Satz (»Kräftig. Entschieden«), die Erwartung des nahenden Sommers, erscheint im Vers »Nichts mehr wird kommen« aufgenommen, geprüft und gegenbildlich, gegenwendig verabschiedet; die Zeichen des Frühlings im zweiten symphonischen Satz (»Tempo di Menuetto. Sehr massig«), die Blumen auf der Wiese, treten im Gedicht - wie der Frühling selbst - nicht mehr auf; die romantische >unendliche Frühlingssehnsucht< als Verhaltensweise und Erfahrungsform ist nicht mehr möglich; das archaische Signal der Vorhersage einer fruchtbaren, vielversprechenden Zukunft, des Kommenden, im dritten symphonischen Satz (»Comodo. Scherzando. Ohne Hast«) entsprechend der genauen Abfolge der Naturerscheinungen, die Laute der Tiere im Wald, wohl sich vor allem in den Liedern der Vögel artikulierend, wie bei Mahler im Ruf des Kuckucks, verklingt im Gedicht in einem immer schwächer werdenden Echo; denn die bewährten >guten Namen< - so wie >sommerlich< im Gedicht3? - funktionieren angesichts der veränderten Gegebenheiten nicht mehr; nach den drei naturverbundenen, real beziehbaren Phänomenen erzählt auch der Mensch nicht mehr wie bei Mahler im vierten symphonischen Satz (»Sehr langsam. Misterioso. Durchaus ppp«), sondern stellt sich dem Rätselsatz »es wird nichts mehr kommen«; es folgt der fünfte Satz, ironisch gebrochen (»Lustig im Tempo und keck im Ausdruck«) mit dem Gesang der Engel, die in der Mahlerschen Symphonie den Text, die Frage des Petrus, widerlegen und damit durch eine Negation die Position als neue Möglichkeit skizzieren und projektieren, im Gedicht als Sagweise der Musik aus der Mahlerschen Symphonie interpretiert; hier verändert sich innerhalb des Gedichtes die Qualität der Negation, hier wird zum erstenmal die positive Kraft der Negation sichtbar, das Nicht-Weinen nicht als Unfähigkeit zur Emotion, wie TrauLiedtext lautet: »Nichts ist gekommen, nichts wird kommen für meine Seele« (vgl. Werner Oehlmann: Reclams Liedßhrer. Stuttgart 1993,1973, S. 815). Zu prüfen wären auch noch die Bezüge des Gedichttitels auf musikalische Werke, die das Wort »Enigma« im Titel tragen: Verdis Kompositionsstudie für gemischten Chor a cappella aus den »Quattro pezzi sacri«, Nr. 1: »Ave Maria« (1893), dem eine »Scala enigmatica« als Bearbeitungsgrundlage zugrunde liegt, und Edward Elgars darauf anspielende »Enigma Variations« für Orchester (1899).
37 In der Kultur-Reflexion Ferragosto, die Bachmann für das Radio Bremen schrieb und die dort unter dem Namen »Sommerliches aus Rom« angekündigt war (Jörg Dieter Kogel: Nachwort. Geschichte einer Wiederentdeckung. In: Ingeborg Bachmann: Römische Reportagen, München/Zürich 1998, S. 86), wird die Erfahrung des >Sommerlichen< als Zeitbewußtsein erfaßt: »Das Kommen und Gehen und Wederkommen - die Utopie in Permanenz« (I. Bachmann: W i y S. 337). So begründet Bachmann in einem Interview ihren Aufenthalt in Rom durch Charakterisierung der Stadt als >letzten Ort des Aufgefangen-/UmfangenseinsErzähl mir, Liebe< analog zu Bachmanns eigenem Gedicht »Erklär mir, Liebe«' 8 nicht mehr möglich sind, andererseits ist die Botschaft der Liebe der Wille zum Weitermachen trotz Veränderungs- und Verlusterfahrungen, der Aufruf, an einem Endpunkt neu anzufangen.
Die beiden letzten Verssätze des Gedichts »Enigma« können dann unter Rückbezug auf die beiden letzten symphonischen Sätze des Mahlerschen Werkes folgendermaßen gelesen werden. Wenn du weinst, dann sagt niemand mehr etwas zu dir. Nur unter der Bedingung, daß du nicht mehr weinst, kann jemand etwas sagen und kannst du auch etwas hören. Erst in diesem sehr genauen Hinhören auf das Gesagte, in der Vereinzelung des Sagens im Versbruch vorgegeben, gelingt es, das Rätsel zu lösen, dies in der Aufmerksamkeit für das potentielle, immer präsent zu haltende Ende, das als eine These, wie im ersten Satz des Gedichts, allen Erfahrungen eingeschrieben ist In diesem Eingehen in die totale Verknappung (»Nichts mehr wird kommen«) liegt die Öffnung für das unvermutet Eindringende, eine negative Poesie der Leere, die sich wie in einem Sog, astronomisch gesprochen einem schwarzen Loch, wieder füllt, Energie in sich versammelt Umgekehrt gilt: Wer nicht den Vers »Du sollst ja nicht weinen« sagt oder sagen kann, der sagt überhaupt nichts. Hier erscheint Sprachkritik als eine neue Ethik des Sprechens, eine Ethik des Anteilnehmens, der Mitteilung. Nur auf der Basis der formalen Gestaltung, aus der sich die Betonungsfahigkeit jedes der vier Worte im Satz ergibt und somit verschiedene Sinne des Satzausdrucks, entwickelt sich eine vielstimmige Lektüre zwischen Negation des Alten und Position des Neuen. Die Entscheidimg, das Ende zu akzeptieren, und nicht nur das, es zu gestalten als notwendige Voraussetzung eines Neuanfangs, führt zum kunsttheoretisch fundamentalen Wandel von einer Kunst als Zudecken der Konflikte, als Uberwölbung der Lebensfragen durch täuschende Ersatzstoffe, als fast immaterielles Nahrungsangebot im Bild der >SchlagsahneBrotesSagweiseWeinens< zum Gedicht als Ort des klaren und lebensaufklärenden >SagensWeinen< zum >Sagen< zu gestalten und damit zu vermitteln, bleibt ein rezeptionsästhetisches und rezeptionsgeschichtliches >Rätsel * 9 7
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