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German Pages 380 Year 2017
Simone Suter Im Namen der Gesundheit
Kultur und soziale Praxis
Simone Suter, geb. 1968, studierte Erziehungswissenschaften an der Universität Bern und promovierte in Soziologie an der Universität Siegen. Sie lehrt und forscht am Institut Vorschule und Primarstufe der Pädagogischen Hochschule Bern mit den Schwerpunkten Bildung und soziale Ungleichheiten, Professionalisierungstheorien und Kindheitssoziologie.
Simone Suter
Im Namen der Gesundheit Gesundheitsförderung an Schulen zwischen Disziplinierung und Ermächtigung. Eine soziologische Studie
Diese Studie und das ihr zugrundeliegende Forschungsprojekt wurden vom Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der Pädagogischen Hochschule Bern unterstützt. Die Philosophische Fakultät der Universität Siegen, Fachbereich Soziologie, hat diese Arbeit unter dem Titel »Zwischen Ermächtigung, Paternalismus und Disziplinierung – eine soziologische Studie zu Gesundheitsförderung an Schulen« am 27. April 2016 auf Antrag der beiden Gutachter Prof. Dr. Stefan Kutzner und PD Dr. Ursula Streckeisen als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1. Einleitung | 11 1.1 1.2 1.3 1.4
Gesundheitsförderung an Schulen | 11 Erkenntnisinteresse und Problemstellung | 13 Zum methodischen Vorgehen | 15 Gliederung der Studie | 20
2. Zur These der Gesundheitsgesellschaft | 23 2.1 Einleitung: Gesund leben als allgegenwärtiges Motiv – Gesundheitsgesellschaft als Diagnose | 23 2.2 Die ökonomische Perspektive: Gesundheit als Wachstumsbranche | 29 2.3 Systemtheoretische Deutungen: Ausdifferenzierungen und Überlagerungen des Gesundheitssystems | 33 2.4 Das Streben nach Gesundheit als quasi-religiöse Lebenspraxis? | 37 2.5 Die These(n) der ›Gesundheitsgesellschaft‹ – ein Fazit | 43
3. Gesundheitskonzepte in wissenschaftlichen und in politischen Diskursen | 45 3.1 Philosophische, medizinhistorische und kultursoziologische Betrachtungen zum Gesundheitsbegriff | 45 3.1.1 Einleitung | 45 3.1.2 Das Wesen der Gesundheit – Streiflichter auf philosophische Debatten | 47 3.1.3 Gesundheit als unsichtbare Norm – strukturfunktionalistische Deutung | 52 3.1.4 Gesundheit als gesellschaftlich geprägte Vorstellung – historische und kultursoziologische Ansätze | 54 3.1.5 Gesundheit in der soziologischen Ungleichheitsforschung und in der Sozialberichterstattung | 59 3.1.6 Fazit: Die Schwierigkeit, Gesundheit fassen zu wollen | 65 3.2 Der Gesundheitsbegriff der WHO | 66
3.2.1 Die Begriffsdefinition der WHO | 67 3.2.2 Die Salutogenese als Kern eines ›neuen‹ Gesundheitsverständnisses | 72 3.2.3 Zur Diskussion und Kritik des Gesundheitsbegriffs der WHO | 88 3.3 Fazit: Der Gesundheitsbegriff der WHO als alternativloser Praxisbegriff | 92
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO von 1986 und daran anschließende Debatten | 93 4.1 Der Gegenstand der Analyse: die Ottawa-Charta als Schlüsseldokument der Gesundheitsförderung | 93 4.1.1 Fragestellung und methodische Vorgehensweise | 95 4.1.2 Zur Vorgeschichte der Charta: Ottawa, Europa und die WHO | 96 4.2 Analyse der Ottawa-Charta der WHO: ›Gesundheitsförderung‹ – ein Deutungsmuster? | 99 4.2.1 Die formale Gestalt der Charta | 99 4.2.2 Zum Gegenstand der Charta: Steigerung der Gesundheit | 102 4.2.3 Die Programmatik der WHO: Gesundheit für alle | 104 4.2.4 Gesundheit für alle: Recht oder verordnete Selbstbestimmung? | 109 4.2.5 Gesund zu sein, bedarf es wenig: Umfassendes Wohlbefinden im Alltag | 112 4.2.6 Gesundheitsförderung – eine Aufgabe der Politik? | 116 4.2.7 Die Aktionsstrategien von ›Gesundheitsförderung‹: Ein sozialtechnokratisches Programm | 118 4.2.8 Der Gesundheitsdienst als zentraler Akteur | 123 4.2.9 Auf dem Weg in die Zukunft: Moralischer Appell und Verpflichtung | 129 4.2.10 Fazit der Analyse: ›Gesundheitsförderung‹ im Sinne der WHO | 132 4.3 Diskussion der Ergebnisse vor dem Hintergrund anderer empirischer Befunde und theoretischer Zugänge | 135 4.3.1 Die Ottawa-Charta als politisches Manifest zum Abbau sozialer Ungleichheiten? | 136 4.3.2 Gesundheitsförderung als individualisierendes Instrument sozialer Regulation | 137 4.3.3 Gesundheit als Humankapital oder öffentliches Gut | 141 4.3.4 Normierende und stigmatisierende Effekte eines individualisierten Gesundheitsverständnisses | 144 4.3.5 Fazit aus der Diskussion | 148
5. Gesundheitsförderung an Schulen | 151 5.1 Zur Programmatik schulischer Gesundheitsförderung | 151 5.1.1 Wie Gesundheitsförderung an die Schulen kam | 151 5.1.2 ›Setting‹ und ›Empowerment‹ als zentrale Konzepte des gesundheitspolitischen Richtungswechsels | 156 5.1.3 Evaluation und Qualitätssicherung ›gesunder Schulen‹ | 162 5.2 Grundlegende Spannungsfelder der Gesundheitsförderung in der gesellschaftlichen Institution Schule | 165 5.2.1 Pädagogisierung und pädagogische Professionalisierung | 165 5.2.2 Bildung, Gesundheitsförderung und soziale Ungleichheiten | 168 5.2.3 Die Institution Schule als Ort der Disziplin im Foucault’schen Sinn | 169 5.3 Die AkteurInnen schulischer Gesundheitsförderung | 173 5.3.1 »Wir machen uns auf den Weg zu einer gesundheits fördernden Schule« – eine erste Feldbeobachtung | 173 5.3.2 Nationale AkteurInnen im Feld schulischer Gesundheitsförderung | 175 5.3.3 Städtische und kantonale Institutionen schulischer Gesundheitsförderung | 179 5.3.4 Zusammenfassung: Ein Netz unterschiedlicher AkteurInnen | 185
6. Deutungen der Lehrpersonen | 189 6.1 Methodisches und thematische Fokussierung auf ›Bewegung‹ | 189 6.1.1 Zur Analyse der Interviews mit den Lehrpersonen | 189 6.1.2 Thematische Fokussierung auf ›Bewegung‹ | 191 6.1.3 Feldbeschreibung: Zu den ausgewählten Schulen und befragten Lehrpersonen | 193 6.2 Typus 1: Arbeitspsychologische Deutung – Gesundheitsförderung als Instrument zur Steigerung des Lernerfolgs | 195 6.2.1 Karl Lüthi: Gesundheitsförderung zwischen öffentlichem Auftrag und persönlicher Mission | 195 6.2.2 Regina Pfister und Sarah Bachmann: Gesundheitsförderung als organisationale Maßnahme im Setting Schule | 214 6.2.3 Schlussbetrachtungen zum Typus 1: Arbeitspsychologischer Ansatz zur Disziplinierung der Körper zwecks Leistungssteigerung | 225 6.3 Typus 2: Paternalistisch-kompensatorische Deutung – Gesundheitsförderung als Mittel gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen | 227 a) Kompensatorisch-sozialisatorischer Ansatz | 227 6.3.1 Leonie Fässler: Gesundheitsförderung als institutionalisierter Sozialisationsauftrag | 227
6.3.2 Hanspeter Stähli: Gesundheitsförderung als Elternbildungsprojekt | 235 b) Quasi-therapeutische und präventive Deutung des Auftrags der Gesundheitsförderung | 243 6.3.3 Rosanna Wagner: Gezielte Förderung von Kompetenzen zur Kompensation defizitärer elterlicher Erziehungspraktiken | 244 6.3.4 Daniela Aerni und Lilliane Maggia: Kulturpessimistische Deutungen und quasi-therapeutische Interventionen | 247 6.3.5 Schlussbetrachtungen zum Typus 2: Paternalistisch-kompensatorische Interventionen zwischen Prävention und Therapie | 250 6.4 Typus 3: Emanzipatorische Deutung – Ermächtigung als Ziel von Gesundheitsförderung | 253 6.4.1 Christina Moser: Gesundheitsförderung im Dienste des Wohlbefindens – Erfahrungen ermöglichen und Gewohnheiten ändern | 253 6.4.2 Stefan Blaser: Gesundheitsförderung als spezieller Bildungs auftrag – Ambivalenzen gegenüber dem ›Gesundheitsding‹ | 265 6.4.3 Schlussbetrachtungen zum Typus 3: Ermächtigender Ansatz – Gesundheitsförderung als Erweiterung des Erfahrungsraums | 279 6.5 Typus 4: Strukturell-politische Deutung – Gesundheitsförderung als Legitimation angestrebten gesellschaftlichen Wandels und schulpolitischer Veränderungen | 281 6.5.1 Lisa Barandun: Pädagogische und politische Deutung von Gesundheitsförderung | 281 6.5.2 Rahel Brown: Pädagogische Deutung von Gesundheits förderung mit gesellschaftskritischer Ausrichtung | 301 6.5.3 Schlussbetrachtungen zum Typus 4: Struktureller Ansatz – Gesundheitsförderung als Legitimation gesellschafts-, schul- und berufspolitischen Wandels | 314
7. Diskussion und Ausblick | 317 7.1 Die Deutungen der Lehrpersonen vor dem Hintergrund des Gesundheits- und Professionalisierungsdiskurses | 317 7.1.1 Die vier Deutungstypen von Gesundheitsförderung im Verhältnis zu unterschiedlichen Gesundheits- und Professionsverständnissen | 319 7.1.2 Gemeinsamkeiten in den disparaten Deutungen von Gesundheitsförderung von Lehrpersonen | 322 7.1.3 Gesundheit und soziale Ungleichheiten | 323 7.2 Offene Fragen und mögliche Antworten – ein Ausblick | 325 7.2.1 Gesundheitsförderung als Deutungsmuster? | 325
7.2.2 Diffuser Gesundheitsbegriff als Ausdruck von Professionalisierungsbedarf? | 327 7.2.3 Gesundheitsförderung vor dem Hintergrund neoliberaler Regierungsformen: Tendenz zur Individualisierung? | 330 7.2.4 Der Aufstieg von Public Health: Ein kritischer Beitrag der Soziologie? | 330
Dank | 335 Verzeichnis der Abbildungen | 337 Abkürzungsverzeichnis | 339 Literatur | 341 Anhang | 371
1. Einleitung 1.1 G esundheitsförderung an S chulen »Wir machen uns auf den Weg zu einer gesundheitsfördernden Schule« – dies die Aufschrift einer Plakette, die häufig im Eingangsbereich von schweizerischen Primarschulen des Kantons Bern zu lesen ist. Eine Absichtserklärung, der Folge geleistet wird, wie ein Blick auf Homepages von Primarschulen zeigt. Unter der Rubrik Gesundheit oder Gesundheitsförderung findet sich eine Vielzahl von Programmen und Aktionen aufgelistet, die an Schulen aktuell durchgeführt werden: Projekte mit Bezeichnungen wie ›Znünibox‹1 oder ›Purzelbaum‹, ›Pausenkiosk‹ oder ›Bewegte Schule‹, ›Themenwoche Milch‹ oder Schneeschuhtouren für Lehrpersonen werden hier nebeneinander aufgeführt. Dabei sind Bewegung und Ernährung die zwei Themen, welche am häufigsten erscheinen; sie werden nicht nur in der Schule im Zusammenhang mit Gesundheit als bedeutsam erachtet, sondern sind auch in anderen Lebensbereichen Gegenstand von Aktivierungsbestrebungen. Gesundheitsförderung scheint sich im Feld oder – in der Sprache von Public-Health-ExpertInnen – im Setting Schule etabliert zu haben. Dass der Schule zum Erhalt und bei der Förderung von Gesundheit eine zentrale Rolle zugeschrieben wird, ist kein neues Phänomen und liegt auf der Hand. Als gesellschaftliche Institution setzt die Schule normative Ansprüche der Gesellschaft durch und versucht – in diesem Fall –, die Volksgesundheit zu regulieren (vgl. EDK 2005, 2010). Die Schule ist Akteurin und Mitgestalterin in gesellschaftlich aktuellen Themenfeldern. In der Literatur zu Public Health erscheint die Schule allerdings weniger als Akteurin denn als Adressatin gesundheitspolitischer Forderungen, als sogenanntes Setting, in welchem diese idealerweise umgesetzt werden können. Ob als Objekt oder Akteurin scheint die Schule den Gesundheitsdiskurs und damit auch das dominante Gesund1 | ›Znüni‹ wird in der Schweiz die morgendliche Zwischenmahlzeit genannt, die in der Schule heute in der 10-Uhr-Pause eingenommen wird (und nicht um 9 Uhr). Die Nachmittagszwischenverpflegung heißt entsprechend ›Zvieri‹ und verweist ebenfalls auf die Uhrzeit, an der Kinder verpflegt werden.
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heitsverständnis mitzuprägen (vgl. Paul, Schmidt-Semisch 2010). Nach Bittlingmayer scheint es »kaum eine sinnvollere und allgemein akzeptiertere Forderung in der Public Health zu geben, als in der Institution Schule umfassende Formen der Gesundheitsförderung zu verankern« (Bittlingmayer 2009: 269). Sie soll nach Göpel, einem der prominenten Beförderer der schulischen Gesundheitsförderung im deutschsprachigen Raum, zu einer »integrativen Klammer für die Verständigung über allgemeine Lebensinteressen« (Göpel 1995: 4) werden. Gesundheit wird, so das Konzept von Public-Health-Fachpersonen, zum gesellschaftlichen Bezugspunkt einer universellen Lebensethik und Gesundheitsförderung damit zu einer umfassenden Mission. Gesundheitsförderung an Schulen ist insofern eine herausfordernde und heikle Aufgabe, als sie Auswirkungen auf die Lebensgestaltung und die normativen Grundhaltungen von Heranwachsenden hat und somit auf Identitätsbildungsprozesse Einfluss nehmen kann. Bei SchülerInnen, deren Verhalten oder Körper vom dominanten Gesundheitsideal abweichen, besteht zudem die Gefahr des Labellings. Umgekehrt deutet die hohe Zahl von Magersüchtigen unter Jugendlichen auf eine wenig beleuchtete Kehrseite des Gesundheitsideals hin. Gesundheitsfördernde Maßnahmen sind zudem fast zwangsläufig mit einem Eingriff in familiäre Zuständigkeiten verbunden, gerade bei den Themen Ernährung und Bewegung sind familiale Lebenswelten zumindest implizit immer mitthematisiert. Klotter, ein Exponent der Public-Health-Kritik, diskutiert die gesellschaftliche Kontrolle des individuellen Körpers denn auch als Ausdruck eines »aufgeklärten Absolutismus« (Klotter 2008: 24). Mit Bezug auf Foucault spricht er bezüglich Public-Health-Strategien von einem Macht-Wissens-Regime, welches den individuellen und gesellschaftlichen Körper reguliert und kontrolliert (vgl. Foucault 1983: 166). Auf der anderen Seite steht der Auftrag der Gesundheitsförderung in enger Anbindung zum Anspruch, Chancengleichheit zu fördern und soziale Ungleichheiten im Bereich Gesundheit durch die Vermittlung von Gesundheitskompetenzen zu verringern (vgl. Bittlingmayer, Ziegler 2012; Sigrist, Marmot 2008; Richter 2005; Richter, Hurrelmann 2006). Gesundheitsdiskurse und -verständnisse werden nicht zufällig, sondern in Abhängigkeit vom sozialen, politischen und ökonomischen Kontext produziert, erhalten und reproduziert. Historisch betrachtet wird deutlich, dass Gesundheit als Kategorie der gesellschaftlichen und politischen Verständigung in den letzten dreihundert Jahren immer dann aufgegriffen wurde, wenn aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Zielsetzungen eine grundlegende Verhaltensänderung in der Bevölkerung anstand (Göpel, Schneider-Wohlfahrt 1994: 1; Labisch 1985). Auch Ann Robertson (1998) geht davon aus, dass sich in Gesundheitsverständnissen und -diskursen gesellschaftlicher Wandel und gesellschaftliche Verhältnisse ausdrücken. Ihrer Argumentation folgend, spiegeln sich in der Art und Weise, wie wir über Ge-
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sundheit sprechen, schreiben und wie wir sie definieren auf einer kulturellen Ebene normative Setzungen sowie grundsätzliche Vorstellungen und Überzeugungen über das Leben (ebd.: 155). Diskurse zur Gesundheit wie auch zur Gesundheitsförderung sind – aus kultursoziologischer und historischer Sicht wenig überraschend – kontextuell bedingt. Es finden Verständigungsprozesse über Deutungen statt, die immer auch eine Herrschaftsdimension beinhalten. Es ist ein Ziel dieser Untersuchung, die verschiedenen, auch widersprüchlichen normativen Hintergrundsetzungen, die mit Gesundheitsförderung und hier im speziellen mit schulischer Gesundheitsförderung einhergehen können, mit analytischer Distanz zu rekonstruieren und immanente Widersprüche herauszuarbeiten. Dabei soll, wie es Lupton (1995) formuliert, kritisch hinterfragt werden, wessen Stimmen gehört und privilegiert werden, welche Konflikte und Allianzen sich in aktuellen Debatten ausdrücken, welche Wissensformen sich durchsetzen und wer zu ihnen Zugang findet (Lupton 1995: 49).
1.2 E rkenntnisinteresse und P roblemstellung Der Fokus der vorliegenden Studie richtet sich auf die empirisch zu beantwortende Frage, wie Gesundheitsförderung von amtierenden Lehrpersonen gedeutet und legitimiert wird. Es soll dabei im Folgenden nicht nur analysiert werden, was an Schulen unter dem Label Gesundheitsförderung konkret gemacht wird, sondern auch, welche normativen Setzungen im Hintergrund wirksam sind. Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsbegriff stellt sich die übergeordnete Frage, wie der Auftrag staatlicher Gesundheitsförderung im Rahmen der Institution Schule umgesetzt wird und wer alles involviert ist. Was bedeutet die Verknüpfung von Gesundheit als gesamtgesellschaftlichem und individuellem Gut mit der Wahrnehmung der Aufgabe schulischer Gesundheitsförderung? Welche Aufgabe wird der Schule bezüglich Gesundheitsförderung überantwortet, und wie wird diese von amtierenden Lehrpersonen gedeutet? Nehmen die Lehrpersonen, als eine Art AgentInnen der Volksgesundheit, einen Eingriff in die Autonomie heranwachsender Subjekte vor? Oder befähigen sie die AdressatInnen von Gesundheitsförderung zu autonomer Lebensgestaltung? Kann die Verantwortung für die eigene Gesundheit überhaupt einzelnen Gesellschaftsmitgliedern übertragen werden? Die vorliegende Untersuchung setzt sich zentral mit diesen Fragen auseinander. Sie steht somit nicht in einer Reihe von eng an gesundheitsfördernde Projekte angebundenen Evaluationen; sondern sie soll einen Beitrag leisten, den Auftrag der Gesundheitsförderung vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Diskurse und Entwicklungen kritisch zu reflektieren und somit
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Grundlagenwissen zu schaffen. Ausgegangen wird hierbei von der von Karl Mannheim beschriebenen »Seinsgebundenheit« des Wissens (1964: 373ff.). Menschliches Denken, Erkennen und auch Handeln gilt es immer als von gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebenszusammenhängen geprägt anzusehen, als abhängig vom jeweiligen Standort. Der Blick auf die vermeintliche gesellschaftliche Wirklichkeit wird mit Fokus auf die möglichen Bedingungen der Verhältnisse betrachtet. Die hier gewählte soziologische Betrachtungsweise entspricht derjenigen einer reflexiven Beobachtungsinstanz. Bei den Deutungen der LehrerInnen wird keine biografische Verortung angestrebt, sondern vielmehr versucht, mittels einer Typenbildung unterschiedlicher Deutungen Verankerungen in unterschiedlichen Diskursen aufzuspüren. Das Projekt schaltet sich aber auch in den bildungssoziologischen Diskurs über die Wahrnehmung gesellschaftlicher Aufträge durch die Schule als Institution ein, wobei es insbesondere um ihre Rolle bezüglich der Reproduktion sozialer Ungleichheiten geht. Dabei gilt es, die Logik des Gesundheits- mit derjenigen des Bildungssystems in Beziehung zu setzen. Es soll damit ein Beitrag zur reflexiven Praxis geleistet werden, indem aus der geschilderten analytischen Distanz gesundheitsfördernde Projekte und darin das Handeln von Lehrpersonen analysiert werden. Die normativen Aspekte, die im Gesundheitsförderungsdiskurs enthalten sind, sollen sichtbar und damit diskutierbar gemacht werden. Ebenso soll der analytische Gehalt von Gesundheitsbegriffen herausgearbeitet werden. Von besonderem Interesse sind hierbei auftretende Widersprüche, die es sichtbar zu machen gilt. Sie können auf der Ebene der normativen Zielsetzungen bestehen, in der konkreten Ausformung sozialer Institutionen und Organisationsformen oder im alltäglichen Handeln von LehrerInnen, oder sie können sich in der Gestaltung der Lernarrangements manifestieren. Innerhalb der pädagogischen Profession oder Diskussion fehlt es bisher an einer berufsethischen Position bezüglich gesundheitsfördernder Ansätze – dazu möchte diese Studie einen Beitrag leisten. Eine weitere, übergeordnete Absicht der Untersuchung liegt darin, allenfalls ein Deutungsmuster ›Gesundheitsförderung‹ rekonstruieren zu können: In den unterschiedlichen Deutungstypen soll insbesondere durch die Analyse normativer Grundlagen von Gesundheitsförderung ein gemeinsamer Kern als Teil eines allgemeinen Deutungsmusters eruiert werden. Deutungsmuster sind nicht individuelle, sondern kollektive Sinngehalte, die jedoch den Individuen als routinisierte Formen der Wahrnehmung und Interpretation der Welt dienen und damit relevant sind für das Handeln (vgl. Honegger 2001). Oevermann definiert den Deutungsmusterbegriff als ein »Ensemble von sozial kommunizierbaren Interpretationen der physikalischen und sozialen Umwelt«, als nach »allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge« (Oevermann 1973: 3f.); sie stehen als eine kollektive Antwort auf eine gesellschaftliche Problemlage in einem funktionalen Bezug
1. Einleitung
zu einem Handlungsproblem. Beim Thema Gesundheitsförderung müsste es demnach um eine sozial verfügbare Form der Verdichtung, Abstrahierung und Verallgemeinerung von Deutungen eines Handlungsbedarfs im Bereich Gesundheitsversorgung und Krankenprävention gehen. So spricht beispielsweise Ursula Streckeisen angesichts der neuen Herausforderungen, vor die das Gesundheitswesen gestellt ist, von neuen »kulturellen Deutungsmustern« (Streckeisen et al. 2013: 7). Diese definieren die historisch neuen Beschwerden, sogenannte Zivilisationskrankheiten, als Ergebnis individueller Lebensführung und unterstreichen die Grenzen der modernen Medizin (ebd.). Ob es sich bei Gesundheitsförderung um ein solches, relativ neues Muster handelt, ist eine Frage, die am Schluss der Untersuchung aufgenommen werden soll.
1.3 Z um me thodischen V orgehen Annäherungen an das Feld Eine erste Annäherung an das Thema schulische Gesundheitsförderung erfolgte mittels Expertengespräche. Fachpersonen, die in unterschiedlichen Institutionen auf städtischer, kantonaler und nationaler Ebene schulische Gesundheitsförderung konzipiert und mitinitiiert haben, wurden zu ihrer Deutung von Gesundheitsförderung befragt. Es handelt sich insofern um ExpertInnen schulischer Gesundheitsförderung, als sie entweder an der Konzipierung und Formulierung von Programmen beteiligt waren, konkrete Projekte begleiten bzw. in Netzwerkarbeit oder in der Begleitung oder Ausbildung von Lehrpersonen tätig sind. Die Erkenntnisse aus diesen Gesprächen finden insbesondere in der einleitenden Beschreibung des Feldes ihren Niederschlag (vgl. Kap. 5). In der Folge wurden die aktuellen Projekte schulischer Gesundheitsförderung gesichtet. Ebenso wurden die Umsetzungsinstrumente, die beispielsweise vom Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen den Schulen zur Verfügung gestellt werden, betrachtet und teilweise ausgewertet. In diesem Zusammenhang fand eine intensive Literaturrecherche zu Gesundheitsförderung im Allgemeinen und schulischer Gesundheitsförderung im Speziellen statt. Der Großteil der Literatur zu dieser Thematik ist im sogenannten Public Health-Bereich, zugleich Wissenschaft und Handlungsfeld, anzusiedeln, bzw. verorten sich die AutorInnen selber darin. Sowohl die AutorInnen als auch die Literatur sind zumeist auf Umsetzung und Implementierung ausgerichtet. Auffallend ist, dass in den meisten Publikationen zu (schulischer) Gesundheitsförderung bis heute sich zumeist in der Einleitung ein Verweis auf die WHO findet; häufig wird die Ottawa-Charta erwähnt oder es werden gewisse Passagen daraus zitiert. Die 1986 verabschiedete Charta gilt innerhalb der Gesundheitsförderungsliteratur offenbar bis heute als das grundlegende
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Dokument. Auf der Suche nach einer begrifflichen und inhaltlichen Klärung, worum es sich bei Gesundheitsförderung überhaupt handeln könnte, ergab sich das Vorhaben, dieses Papier als dauerhaftes Element des Gesundheitsförderungsdiskurses einer genaueren Analyse zu unterziehen. In einer an Foucault anknüpfenden Perspektive können das Dokument und die daran anschließenden Verweise als eine unbewusste Vorlage verstanden werden. Im Sinne einer heuristischen Annahme könnte der Inhalt dieses Dokuments als eine Art Deutungsmuster wirksam und den Deutungen von Gesundheitsförderung durch Lehrpersonen vorgelagert sein. Die Analyse der Charta als Konsenspapier, in welchem verschiedene politische Diskurse verdichtet enthalten sind, erfolgt wiederum aus einer wissenssoziologischen Perspektive. In dieser Betrachtungsweise wird ein solches Dokument sowohl als »Ausdruck und Konstitutionsbedingung des Sozialen« (Keller 2008: 236) als auch als »dauerhafte und regelhafte, d.h. zeitliche und soziale Strukturierung von (kollektiven) Prozessen der Bedeutungszuschreibung« (ebd.) verstanden. Mittels der Analyse dieses Grundlagendokuments soll ein Beitrag geleistet werden zur Rekonstruktion normativer Grundlagen von Gesundheitsförderung. Zur Rekonstruktion der dem Grundsatzpapier zugrunde liegenden Logik(en) wurde die Charta in Anlehnung an die methodischen Vorgaben der Objektiven Hermeneutik sequenzanalytisch analysiert; es wurde versucht, eine Fallstruktur zu rekonstruieren als ein einer eigenen Logik folgendes Muster, allenfalls als ein Deutungsmuster. Ausgangspunkt dieser Studie war jedoch nicht das theoretische ›Problem‹ der Erörterung von Gesundheitsförderung an sich und auch nicht die Absicht der Rekonstruktion des Kerns eines Deutungsmusters. Am Anfang stand vielmehr, wie eingangs geschildert, die Beobachtung, dass an Schulen eine Vielzahl von gesundheitsfördernden Maßnahmen oder Projekten durchgeführt wird. Dabei fällt auf, dass beispielsweise im Kontrast zu England (vgl. Schorb 2008: 115f.) diese an den Schulen durchgeführten Interventionen kaum Konflikte auslösten, obwohl sie in sensible Bereiche hineinreichen, handelt es sich doch um Angelegenheiten, die der Autonomie der Subjekte zuzuschreiben sind und angesichts der noch zu entwickelnden Selbstständigkeit der Heranwachsenden auch den familiären Bereich betreffen. In der Schweiz scheint Gesundheitsförderung auf relativ große Akzeptanz zu stoßen. Einzig Umstände, wie die Banane, die auf die schwarze Liste ungesunder Zwischenverpflegung gesetzt wurde, oder die angebliche Entwendung mitgebrachter Mahlzeiten von einzelnen Kindern durch Lehrpersonen führten zu einem leisen kritischen Echo. Im Zentrum dieser Studie stehen Interviews mit Lehrpersonen als Ausführende der gesundheitsfördernden Programme. Dabei interessiert in mikrosoziologisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive, wie sie als BildungsexpertInnen den Auftrag der Gesundheitsförderung wahrnehmen, deuten, legitimieren und in den gesamten Bildungsauftrag integrieren. Rekonstruiert
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werden sollen sowohl die expliziten als auch die impliziten Denk- und Begründungsschemata, auf welche die Lehrpersonen zurückgreifen. Ebenso wird untersucht, ob und wie die Lehrpersonen bei der Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen soziale Ungleichheiten wahrnehmen und sich ein Bewusstsein dafür konkret auf der Handlungsebene manifestiert und manifestieren kann. Dabei ist speziell von Interesse, was mit Kindern geschieht, die vom Gesundheitsideal abweichen. Bei Gesundheit oder auch Gesundheitsförderung handelt es sich nicht um Konzepte, die sich direkt abfragen lassen; sie sind vielmehr latent vorhanden als Teil habitueller Dispositionen, allgemeiner Weltauffassungen oder hier möglicherweise auch des beruflichen Selbstverständnisses. Aus wissenssoziologischer Perspektive müssen die Lehrpersonen ihr Handlungsfeld, welches sie vorfinden und sich aneignen, immer wieder neu ausdeuten und erfinden (vgl. Soeffner 1989). In Bezug auf den Auftrag der Gesundheitsförderung bedarf es neuer und eigenwilliger Neuauslegungen des vorausgelegten Wissens. Es wird demnach darum gehen, die jeweiligen Gesundheitsverständnisse zu rekonstruieren und zu typisieren, deren normativen Gehalt herauszuarbeiten und die Ausrichtung und Legitimation des Förderungsbedarfs von Gesundheit zu rekonstruieren. Da es nicht darum geht, die in den Interviews angesprochenen Aspekte lediglich nachzuvollziehen, sondern latente Sinnstrukturen zu rekonstruieren, eignet sich die methodische Vorgehensweise der Sequenzanalyse, wie sie im Rahmen der Objektiven Hermeneutik entwickelt wurde (Oevermann 1991, 1996, 2000; vgl. auch Wernet 2000).
Zum methodischen Vorgehen: hermeneutische Rekonstruktionen unterschiedlicher Deutungen von Gesundheitsförderung Zwei Annahmen der Objektiven Hermeneutik sind sowohl für die methodischen Schritte als auch für die Nachvollziehbarkeit von grundlegender Bedeutung: Zum einen basiert die Methode auf der Grundannahme, dass die Tatbestände in der sozialen Welt ›sinnstrukturiert‹ sind. Sie sind konstituiert und konstituieren sich ständig neu durch sinnhafte Praktiken, d.h. durch deutende Auseinandersetzung mit der Welt. Diese in sich verfestigten Sinnstrukturen respektive die Prozesse der Konstitution von Sinn gilt es zu re-konstruieren. Eine weitere Grundannahme liegt im Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem: Die allgemeine Strukturierungsgesetzlichkeit der ›Dinge‹ in der sinnstrukturierten Welt manifestiert, artikuliert und reproduziert sich in all ihren einzelnen respektive in ihren besonderen Erscheinungen (vgl. Oevermann 2002). Ausgangspunkt der Methode der Objektiven Hermeneutik bildet die Sequenzialität der Lebenspraxis, konkret die Tatsache, dass jede Handlung an eine vorangehende anknüpft und damit Anschluss bietet für weitere Handlungen. Interviewtranskripte und auch ein Dokument wie dasjenige der WHO
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stellen als »Ausdrucksgestalten« (Oevermann 2000: 77ff.) Protokolle der sozialen Wirklichkeit dar. Mittels sequenzanalytischem Vorgehen kann die dem einzelnen Fall innewohnende Struktur rekonstruiert werden. Basierend auf der Regelgeleitetheit sozialen Handelns – worunter auch Sprech- und Denkakte fallen – nehmen Handelnde beim Vollzug ihrer Handlungen auf Regeln unterschiedlicher Art und unterschiedlicher Reichweite Zugriff. Somit kann an jeder einzelnen Sequenzstelle eine Auslegeordnung möglicher Anschlüsse gemacht werden. Mittels kontrastierender Geschichten wird der Raum möglicher Handlungs- oder Denkweisen erschlossen. Durch die Kontrastierung der vollzogenen Handlung mit dem Hintergrund sämtlicher Handlungsmöglichkeiten zeichnet sich allmählich die Spezifik des vorliegenden Falles ab. Es werden dabei mögliche Lesarten entwickelt, die an den daran anschließenden Sequenzen überprüft, verworfen, modifiziert oder ergänzt werden. Die Analyse erfolgt nach den Prinzipien der Wörtlichkeit, Extensivität und Sparsamkeit. Von besonderer Relevanz ist erfahrungsgemäß die Eingangssequenz, in welcher sich häufig die dem Fall zugrunde liegende Strukturgesetzlichkeit besonders deutlich abzeichnet. Die Bildung von Lesarten wird mehrmals wiederholt, bis sich an mehreren Sequenzstellen eine für diesen Fall typische Fallstrukturgesetzlichkeit herausstellt (Oevermann 2000: 123). Diese stellt einen inneren Zusammenhang her, eine für den Fall charakteristische Logik. Dabei, so Oevermann, führt jede Fallrekonstruktion »potentiell zu Erkenntnissen über allgemein gültige Regeln und Normen, deren Operationsweisen und Geltung anlässlich der Sequenzanalyse einzelner Zusammenhänge beispielhaft zur Evidenz gebracht wurde« (Oevermann 2000: 125f.). Mit Fallrekonstruktionen können somit generalisierungsfähige Erkenntnisse über die Fallstrukturen von sozialen Gebilden gewonnen werden, in denen der analysierte Fall Mitglied ist, denen er zugehört oder in die er eingebettet ist. In der vorliegenden Untersuchung sollen möglichst kontrastive Lehrpersonen-Perspektiven und -Deutungen von Gesundheitsförderung und deren Bedeutung innerhalb der Institution Schule zum Ausdruck kommen. Die Auswahl der zu interviewenden Lehrpersonen richtet sich nach den Vorgaben des »Theoretical Samplings« (Strauss, Corbin 1996), indem die aufgrund des theoretischen Vorwissens relevanten Strukturbedingungen für Gesundheitsförderung Berücksichtigung finden. Dies bedeutet zum einen, dass Schulen ausgewählt wurden, die über eine unterschiedliche soziale Zusammensetzung der SchülerInnenschaft verfügen. Des Weiteren wurden unterschiedliche Generations- und Geschlechtszugehörigkeiten der Lehrpersonen berücksichtigt. Aus den insgesamt 26 geführten Interviews wurden die zu analysierenden InterviewpartnerInnen in einem kontinuierlichen kontrastierenden Verfahren schrittweise ausgewählt. Das Sampling erfolgte in einem zirkulären Prozess von Auswertung und Erhebung (Strauss, Corbin 1996: 159).
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Damit die Deutungen der ausgewählten Lehrpersonen zum Ausdruck gelangen können, wurden diese in offen geführten Einzelinterviews befragt zum Auftrag der Gesundheitsförderung, zur Bedeutung, welche sie dem Auftrag beimessen, und zu ihren entsprechenden Werthaltungen. Die wortgetreu transkribierten, nicht-standardisierten Interviews bilden die Datengrundlage der hermeneutischen Sequenzanalyse. Bei der Auswertung der Interviews gelangt das im Rahmen der Methodologie der Objektiven Hermeneutik entwickelte und erkenntnistheoretisch begründete sequenzanalytische Interpretationsverfahren (Oevermann 2000; 2001) zur Anwendung. Mittels einer objektiv-hermeneutischen Interpretation sollen über die individuelle Sicht- und Darstellungsweise hinausreichende gesellschaftliche Bezüge herausgearbeitet werden. Es soll weiter die über den subjektiv gemeinten Sinn hinaus reichende latente Sinnstruktur als gesellschaftlich bedeutsamer Sachverhalt rekonstruiert und darauf zum Gesundheits- und zum Gesundheitsförderungsdiskurs in Beziehung gesetzt werden. Auf der Basis der rekonstruierten Einzelfälle erfolgt anschließend eine Typenbildung unterschiedlicher Deutungen des Gesundheitsförderungsauftrags (vgl. Kelle, Kluge 1999). Dabei geht es in einer verstehenden Perspektive nach Max Weber (Weber 1904 zit.n. Müller, Sigmund 2014: 235) darum, sich auf der Basis rekonstruierter Sinnzusammenhänge der Handelnden soziale Zusammenhänge zu veranschaulichen und verständlich machen zu können. Gemäß Webers Idealtypen wird Zufälliges und soziologisch weniger Bedeutsames ausgeblendet, um soziale Zusammenhänge identifizieren zu können. Nach Weber (1988 [1922]) wird der Idealtypus »gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen […] zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde« (ebd.: 191). Im Grenzfall können die zu heuristischen Zwecken vorgenommene Idealisierung und ein an diesem Ideal orientierter realer Fall zusammenfallen, häufig weichen aber die realen Fälle in einzelnen Aspekten vom Idealtypus ab oder können auch mehreren Typen zugerechnet werden. Der Idealtypus dient zum einen der Systematisierung empirisch-historischer Wirklichkeit, indem die Heterogenität des empirischen Materials sichtbar wird. Zum anderen können durch die Typenbildung über die individuelle Äußerung hinausreichende Denk- und Wahrnehmungsmuster herausgearbeitet und einander gegenübergestellt werden.
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1.4 G liederung der S tudie Kapitel 2: Zur These der Gesundheitsgesellschaft Im Sinne einer Grundlegung wird in diesem Kapitel ein Einblick gegeben in die Vielfalt von Gesundheitsdiskursen unterschiedlicher disziplinärer Herkunft. Ausgehend von der allgemeinen Unhinterfragtheit des Begriffs von Gesundheit und ihrem Förderungsbedarf werden unterschiedliche Interpretationen der gestiegenen Bedeutung von Gesundheit in unserer Gesellschaft einander gegenübergestellt.
Kapitel 3: Gesundheitskonzepte in wissenschaftlichen und in politischen Diskursen In einer Art Streifzug durch unterschiedliche disziplinäre Diskurse erfolgt eine Annäherung an verschiedene begriffliche Bestimmungen von Gesundheit. Daran schließt die Darstellung und Analyse des aktuell dominanten Gesundheitsbegriffs, der Definition von Gesundheit durch die WHO, an. Die als salutogenetische Wende bezeichnete Ausrichtung auf Wohlbefinden, im Gegensatz zum ›negativen‹, auf Krankheit bezogenen Gesundheitsbegriff, gehört zu den Grundfesten von Public Health, zugleich Handlungswissenschaft und politische Strategie. Die Genese von Public Health und die sich davon abhebende ›New Public Health‹, aus deren Entwicklungen die Strategie und Programmatik der Gesundheitsförderung hervorgehen, werden in einem Exkurs beleuchtet.
Kapitel 4: Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: die Ottawa-Charta der WHO von 1986 und daran anschließende Debatten In diesem Kapitel wird die Ottawa-Charta, bis heute als Grundlagendokument der Gesundheitsförderung gehandelt, einer Analyse unterzogen. Ziel dieses ersten empirischen Teils ist es, die inhärente Logik und die normativen Grundlagen von Gesundheitsförderung als einer gesundheitspolitischen Strategie zu rekonstruieren. Anschließend wird die rekonstruierte Logik des Dokuments Befunden aus Studien aus dem Bereich Gesundheitsförderung gegenübergestellt und diskutiert.
1. Einleitung
Kapitel 5: Zum Forschungsfeld Gesundheitsförderung an Schulen In diesem Kapitel wird dargestellt, wie Gesundheitsförderung in den 1990er Jahren an die Schulen kam und welche Programmatik ihr zugrunde liegt. Im Ansatz der ›gesunden Schule‹ wurden Organisationsentwickung und Qualitätsentwicklung miteinander verschränkt, gestützt etwa vom Schweizerischen Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen (SNGS). Spannungsfelder im Zusammenhang mit dem Auftrag der Gesundheitsförderung an der Institution Schule werden skizziert, insbesondere der Professionalisierungsbedarf im pädagogischen Feld und die Problematik der Reproduktion sozialer Ungleichheiten. In Foucault’scher Sichtweise wird die Schule als Ort der Disziplin beschrieben und Gesundheitsförderung in diesem Kontext kritisch beleuchtet. Es folgt eine Darstellung der AkteurInnen schulischer Gesundheitsförderung in der Schweiz und spezifisch im Kanton und in der Stadt Bern. Damit können die im folgenden Teil rekonstruierten Deutungen der Lehrpersonen in einem institutionellen Rahmen verortet werden.
Kapitel 6: Wie Gesundheitsförderung von Lehrpersonen gedeutet wird In diesem zweiten empirischen Teil der Studie wird untersucht, wie Gesundheitsförderung an Schulen von Lehrpersonen verstanden, ausgelegt und begründet wird. Bei der Auswertung von Interviews mit Lehrpersonen, die im Bereich Gesundheitsförderung tätig sind, wird der Fokus auf Maßnahmen im Bereich Bewegung gelegt; es werden unterschiedliche Konzeptionen und zugrunde liegende Verständnisse rekonstruiert. Die aus der sequenzanalytischen Rekonstruktion resultierenden vier Typen unterschiedlicher Deutungen von Gesundheitsförderung durch Lehrpersonen werden ausführlich dargestellt. Dies geschieht jeweils entlang der Veranschaulichung der rekonstruierten Logik anhand eines Falls. Es werden jeweils weitere Fälle dargestellt, um die Bandbreite verschiedenster Ausprägungen des einzelnen Deutungstypus aufzuzeigen.
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick Auf bauend auf die empirischen Kapitel 4 zur Analyse der Ottawa-Charta und Kapitel 6 zu den rekonstruierten Deutungen der Lehrpersonen erfolgt im Schlusskapitel eine Diskussion der Typologie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Gesundheitsdiskurse. Die aus der Rekonstruktion resultierenden unterschiedlichen Typen und deren Logiken werden verglichen und insbesondere auf Widersprüche wie auch auf Gemeinsamkeiten hin diskutiert. Die
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Frage, ob und wie soziale Ungleichheiten in Bezug auf Maßnahmen und Deutungen der Gesundheitsförderung eine Rolle spielen, wird nochmals aufgenommen. Ebenso wird in der Diskussion das Verhältnis von Gesundheits- und Berufsverständnis beleuchtet. Auf diese Weise werden Antworten formuliert auf die Frage, was Gesundheitsförderung im Feld der Schule bedeutet oder bedeuten kann. Am Schluss wird im Sinne eines Ausblicks die Frage aufgeworfen, wie es an der Schule zum Aufstieg eines Konzepts wie demjenigen der Gesundheitsförderung kommen konnte.
2. Zur These der Gesundheitsgesellschaft 2.1 E inleitung : G esund leben als allgegenwärtiges M otiv – G esundheitsgesellschaf t als D iagnose Gesund zu leben, so kann unschwer beobachtet werden, ist in hoch industrialisierten Gesellschaften zu einer dauerhaften Bestrebung einer Vielzahl von Menschen geworden. In den höheren Gesellschaftsschichten wird insbesondere die Freizeit häufig auch in Bezug auf das Kriterium gesund/ungesund gestaltet; entsprechend wird Sport getrieben, gezielt Entspannung gesucht, oder es werden gar therapeutische Maßnahmen ergriffen: Die Absicht dabei besteht darin, die eigene Gesundheit zu erhalten oder, noch besser, sie zu verbessern. Diese Durchdringung des Alltagslebens zeigt sich daran, dass fast sämtliche Handlungen auf das Kriterium ›gesund‹ und komplementär mitgedacht auch auf das Kriterium ›ungesund‹ hin beurteilt werden. So sind beispielsweise Menüpläne in öffentlichen Kantinen hierzulande nicht selten und selbstverständlich mit farbigen Punkten gekennzeichnet: Menüs mit einem roten Punkt werden nicht zum regelmäßigen Verzehr empfohlen, grün ist gut, gelb liegt dazwischen. Gleich einem Ampelsystem sollen die Farben unsere tägliche Nahrungszufuhr nach dem Kriterium gesund/ungesund steuern. Um die Förderung der Gesundheit kümmert sich auch eine steigende Anzahl von neu entstandenen oder entstehenden Berufen mit entsprechenden Dienstleistungen und Angeboten. Mit öffentlichen Geldern finanzierte Fachstellen nehmen sich im Namen von Public Health explizit der Förderung von Gesundheit an. In den Medien findet das Thema regelmäßig Resonanz, im Internet ist die Flut von Informationen zu Gesundheitsthemen nicht mehr zu überblicken, so wie auch die Ratgeberliteratur zu Gesundheitsfragen stetig zunimmt. Ebenso ist das Thema Gesundheit in der Werbung und in Unterhaltungsmedien omnipräsent. Sarah Nettleton1, die sich seit den 1970er Jahren mit Krankheit und Gesundheit auseinandersetzt, geht in ihrem Buch »Sociology of Health and Illness« 1 | Sarah Nettleton (geb. 1950), Professorin für Soziologie an der Universität von York/ Grossbritannien. Medizinsoziologische Schwerpunkte: Gesundheitsförderung, medizi-
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von einer grundsätzlichen Verschiebung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit von Krankheit hin zu Gesundheit aus. »Health, it seems, has become a ubiquitous motive in our culture.« (Nettleton 2013: 1)
Vor fünfzig Jahren, so hält sie einleitend fest, hätten die meisten Menschen, angesprochen auf Krankheit und Gesundheit, an Spitäler, Doktoren, ›Krankenschwestern‹, Medikamente und womöglich an die Taschenapotheke gedacht. Heute, so ihre Einschätzung, würde ein viel breiteres Spektrum an Bildern hervorgerufen: gesundes Essen, Vitamine, Pillen, Aromatherapie, alternative Medizin, Lauf bänder, Fitness-Center, Laufschuhe, Therapien, Gesundheitsuntersuchungen etc. Gesundheit, so ihr Fazit, hat eine hohe Präsenz in verschiedensten Lebensbereichen gewonnen, sie scheint allgegenwärtig geworden zu sein. Archivarische Zeugnisse deuten, so das Fazit einer Analyse zum Bedeutungswandel von Gesundheit des Medizinhistorikers Robert Jütte2, darauf hin, dass Gesundheit vor dem 20. Jahrhundert nicht den gleichen Stellenwert hatte wie heute; sie wurde nicht als Quelle des Lebens oder als dessen Ziel angesehen. Die Idee der ›absoluten Gesundheit‹ scheint neueren Datums zu sein (Jütte 2008: 60). Eine von Jütte angeführte Definition aus Zedlers Universallexikon von 1735 lautete dahingehend, dass Gesundheit einen Zustand des Menschen beschreibe, der so beschaffen sei, »dass er seine natürliche Verrichtung ungehindert ausüben könne« (ebd.). Gesund zu sein, war kein absoluter Begriff, sondern stand in Beziehung zur Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers, seiner Arbeitsfähigkeit (ebd.). Weitere Quellen scheinen darauf hinzuweisen, dass sich gesund fühlte, wer weniger Krankheitssymptome hatte als in früheren Lebensabschnitten, was aber nicht mit gänzlicher Beschwerdefreiheit gleichzusetzen war (Jütte 2008). Deutungen und Erklärungen dieses Wandels gibt es zahlreiche, auch widersprüchliche. Einigkeit besteht jedoch darin, dass sich, wie dies Brunnett (2007) festhält, im Zuge sozialen Wandels ein neues kulturelles Bedürfnis ausgeformt hat: »Das Ausmaß des Körperbewusstseins und des Interesses an Gesundheit wächst also in dem Maße, wie Körper aus der Notwendigkeit ihrer unmittelbaren Reproduktion als
nisch unerklärbare Symptome, Laienwissen, Lebensmittelallergien, Lebensbedingungen von ÄrztInnen; aktueller Fokus auf: Körpersoziologie. 2 | Robert Jütte (geb. 1954), Medizinhistoriker am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft, Promotion in Neuerer Geschichte an der Universität Bielefeld. Ein Forschungsschwerpunkt Jüttes ist die alternative Medizin, insbesondere die Homöopathie.
2. Zur These der Gesundheitsgesellschaf t Arbeitskraft freigesetzt werden. ›Gesundheit‹ wird auf diese Weise über eine existenzielle Notwendigkeit hinaus in ein kulturelles Bedürfnis erweitert.« (Brunnett 2007: 174)
Ähnlich wie Freizeit wird Gesundheit zu einem Bedürfnis und zugleich Bestandteil des Lebensstils, sie konstituiert sich dabei wesentlich über Konsum. Gesundheitsbewusstsein zu erwerben, reicht allerdings nicht aus; es muss auch symbolisch sichtbar gemacht werden und zwar am eigenen Körper. Was Brunnett im obigen Zitat mit »kulturellem Bedürfnis« umschreibt, ist vergleichbar mit der Feststellung von Labisch, der Gesundheit ebenfalls aufgrund von sozialem Wandel eine veränderte Bedeutung zuspricht: Während Gesundheit in früheren Epochen Mittel zum Zweck war, ist sie heute ein »primärer Wert« geworden und muss sich kaum mehr über andere Werte legitimieren (vgl. Labisch 1985, 1986). Während, wie die eingangs zitierte Nettleton beschreibt, vor fünfzig Jahren Gesundheit vorwiegend in Verbindung mit Krankheit und Prävention gedacht wurde, hat sich parallel zu diesem Verständnis ein zweiter Gesundheitsdiskurs entwickelt. Dessen Ausgangspunkt ist nicht die Patho-, sondern die Salutogenese und damit nicht die Frage, wie Krankheit behandelt oder verhindert werden kann, sondern wie Gesundheit gestärkt und gefördert werden kann. Dieser von Public-Health-ExpertInnen als ›salutogenetische Wende‹ (vgl. z.B. Schmidt, Kolip 2007; Ruckstuhl 2011) bezeichnete Diskurs wird häufig in Verbindung gebracht mit Konzepten von Aaron Antonovsky (1987) sowie der in der Ottawa-Charta festgehaltenen Neuausrichtung der Gesundheitspolitik auf internationaler Ebene. Zwar lassen sich in den New-Public-Health-Strategien Ausrichtungen feststellen, die den Bestrebungen zur Verbesserung der Hygiene bis ins 19. Jahrhundert vergleichbar sind. Doch scheinen mit dem Begriff ›Gesundheitsförderung‹ auch neue Bedeutungen einherzugehen, die eine Bezeichnung heutiger Gesellschaften als ›Gesundheitsgesellschaften‹ rechtfertigen. Welche Begründungen werden ins Feld geführt, um von heutigen, hochindustrialisierten Gesellschaften als ›Gesundheitsgesellschaften‹ zu sprechen? Welche Deutungen von gesellschaftlichem Wandel, welche Gesellschaftsbilder spiegeln sich darin, und welche Rolle wird dabei ›Public Health‹ – soziales und politisches Konzept und zugleich öffentliche Akteurin – und dem Programm der Gesundheitsförderung zugesprochen? »Auf dem Weg zur Gesundheitsgesellschaft?« – so lautet der Titel einer Tagung, die im März 2008 von den österreichischen, deutschen und schweizerischen Fachgesellschaften für Gesundheits- und Medizinsoziologie veranstaltet wurde.3 An dieser Tagung wurde die Frage zur Debatte gestellt, ob sich eine ak3 | Der internationale Medizin- und GesundheitssoziologInnenkongress vom 27.-29. März 2008 in Bad Gleichenberg, Steiermark wurde von der FH Joanneum, Österreich ver-
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tuelle Gesellschaftsdiagnose mit dem Begriff Gesundheit überschreiben lasse. Ist Gesundheit ein konstitutives Merkmal gesellschaftlicher Entwicklungen? Beeinflusst sie die Lebens- und Bewusstseinslagen auf der individuellen Ebene maßgeblich mit? Nimmt die Sorge um die Gesundheit in der Alltagsgestaltung und den Lebenseinstellungen einen wichtigen Platz ein? Was wird überhaupt unter dem Begriff ›Gesundheitsgesellschaft‹ verstanden? Als früheste Quelle des Begriffs erwähnt Jürgen M. Pelikan4, der an der oben erwähnten Tagung einen Plenarvortrag hielt, Schriften des umstrittenen, im Public-Health-Bereich publizierenden Soziologen Jost Bauch (ebd. 1996 zit.n. Pelikan 2009: 38). Dieser habe aus systemtheoretischer Sicht den Terminus ›Gesundheitsgesellschaft‹ zur Charakterisierung spätmoderner Verhältnisse bereits in den 1990er Jahren in Erwägung gezogen (vgl. Kapitel 2.3). Der Begriff der Gesundheitsgesellschaft wird jedoch meistens, so auch im Einleitungstext zur oben zitierten Tagung, auf Illona Kickbusch5 (2006) zurückgeführt und in einen Zusammenhang gebracht zu konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen inklusive der Tendenz, dass Gesundheit zunehmend als »aktiv hergestellt« aufgefasst wird. Insbesondere würden dabei »traditionelle Krankheits- und Behandlungskonzepte« als Ausdruck von Medikalisierung verstärkt infrage gestellt. Kickbusch, ursprünglich Soziologin und Politikwissenschaftlerin, gilt als eine der bekanntesten VerfechterInnen von Public Health; sie war maßgeblich mitbeteiligt am Verfassen der OttawaCharta, die als Grundlagendokument von Gesundheitsförderung gilt. Ausgangspunkt ihres Buchs »Die Gesundheitsgesellschaft« (2006) ist die Feststellung oder Behauptung, dass Gesundheit zum wichtigsten persönlichen, anstaltet. www.fh-joanneum.at/aw/home/Studienangebot_Uebersicht/department_ management/gmt/News_Events/~bfld/gesundheitsgesellschaf t/?lan=de (Stand: 15.3.2012). 4 | Jürgen M. Pelikan (geb. 1940), Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien. Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Medizin- und Gesundheitssoziologie und des WHO-Kooperationszentrums für Gesundheitsförderung in Krankenhaus und Gesundheitswesen. Leiter div. internationaler Projekte zur Gesundheitsförderung. Beratertätigkeit für WHO, EU und nationale österreichische Institutionen. 5 | Ilona Kickbusch (geb. 1948) machte einen Erstabschluss an der Fachhochschule für Bibliothekswesen (Stuttgart), einen Master in Politologie und Soziologie an der Universität Konstanz (›Poverty and Social Policy: A Comparison between the U.S.A. and the F.R.G.‹), anschließend das Doktorat (›Women and Human Services: A Critique of Theories of Service Society‹). Von 1998 bis 2004 war sie Professor and Director of the Division of Global Health, Department of Epidemiology and Public Health an der Yale School of Medicine, seit 2003 ist sie in der WHO in diversen Funktionen tätig. 2004 gründete sie ein Beratungsbüro. Sie ist weltweit Mitglied in diversen Boards, darunter der Careum-Stiftung, und Mitherausgeberin von Zeitschriften.
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politischen, sozialen und ökonomischen Faktor geworden ist und somit als »treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklungen« gilt. Kickbusch ist heute Inhaberin des internationalen Beratungsbüros »Health Consult« mit Sitz in der Schweiz. Indikatoren dafür, dass unsere Gesellschaft zu einer Gesundheitsgesellschaft wurde, sieht sie in der gestiegenen Lebenserwartung oder in der Tatsache, dass sich ein Markt für Krankheit und Gesundheit entwickelt hat, der einen hohen Anteil des Bruttosozialprodukts ausmacht. Berechnungen des schweizerischen Bundesamts für Gesundheit scheinen Kickbuschs Prognosen zu bestätigen: Heute sind 13,4 Prozent aller Beschäftigten im Gesundheitssektor tätig, der weiterhin als Wachstumsmarkt bezeichnet wird. In der Schweiz gelten die Pharma- und die Medizinaltechnologie-Industrie als solide Exportsektoren (BAG 2013: 16). Des Weiteren, so die Argumentation Kickbuschs, steht die gestiegene Bedeutung von Gesundheit im Zusammenhang mit Entwicklungen der Medizin; Gesundheit hat außerdem auch auf globaler Ebene an Bedeutung gewonnen, respektive ist bedroht (vgl. Kickbusch 2006). Es gibt nach Kickbusch keinen gesellschaftlichen Bereich, welcher den zentralen Handlungsprinzipien der Moderne mehr entspricht als Gesundheit: Expansion, Optionenvielfalt, Individualisierung, Differenzierung, Machbarkeit. Kennzeichnend für die Gesundheitsgesellschaft ist das ganzheitliche, aktive, individualisierte und expansive Gesundheitsverständnis. Gesundheit, so Kickbusch, ist grenzenlos und global, überall und machbar. KritikerInnen einer Entwicklung, die zu der von Kickbusch prognostizierten Gesundheitsgesellschaft führt, bestätigen indirekt die dahinter stehende Zeitdiagnose. So radikalisiert beispielsweise Klaus Dörner6 (2003) die aktuellen Entwicklungen, in denen Gesundheit eine zentrale Bedeutung hat, folgendermaßen: »Eine Gesellschaft, die Gesundheit zu ihrem höchsten Wert erklärt, treibt als Gesundheitsgesellschaft mit Hilfe ihres Gesundheitssystems sich selbst die Gesundheit aus. Anders ausgedrückt: Ein Krankheitsbewältigungssystem, das als Gesundheitssystem sich immer nur grenzenlos steigern will, wird zur Gesundheitsvernichtungsmaschine.« (Dörner 2003:14)
Dörner erachtet insbesondere die Steigerungslogik im Konzept der Gesundheitsförderung als problematisch. Mit Bezug auf die Medikalisierungskritik von Illich (1975) argumentiert Dörner: Indem das, was gesteigert werden soll, unklar und nicht zu fassen ist, führt die Entwicklung unweigerlich in die so6 | Klaus Dörner (geb. 1933) studierte Medizin, Soziologie und Geschichte und habilitierte an der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg. Von 1980 bis 1996 war er ärztlicher Leiter der Westfälischen Klinik in Gütersloh für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie. An der Universität Witten/Herdecke lehrte er Psychiatrie.
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genannte »Gesundheitsfalle« – so der Titel seines 2003 erschienenen Buchs. Als Beispiel für die Gesundheitsfalle führt Dörner den übermäßigen Einsatz von Gentests zum Zweck der Gesundheitsförderung an: »Diese neue Form der ›Überdiagnostik‹ eröffnet nicht nur ungeahnte neue Spielräume für Stigmatisierung. Sie verwandelt uns vielmehr auch in ein Volk der Noch-nicht-Kranken, da wir natürlich alle etliche Krankheitsdispositionen mit uns herumschleppen.« (Ebd.: 41)
Der Mensch gilt gemäß der von ihm kritisierten Gesundheitsförderungsideologie dann als krank, wenn ihm die Disposition zu einer möglichen Krankheit nachgewiesen werden kann, auch wenn er sich subjektiv gesund fühlt. Für diese Art der Krankheit gibt es nach Dörner keine Therapie. In gewisser Hinsicht ist, so Dörner (ebd.), damit jeder Mensch krank, da das Leben ein Seinzum-Tode ist, und somit kann er der Möglichkeit des Krankwerdens gar nicht entgehen (Dörner 2003: 41). Die im Titel der erwähnten gesundheits- und medizinsoziologischen Tagung gestellte Frage, ob wir uns auf dem Weg in die Gesundheitsgesellschaft befinden, ist im Einleitungstext der Tagungsankündigung bereits implizit beantwortet. Gesundheit werde in allen hoch entwickelten Gesellschaften »individuell und gesellschaftlich hoch bewertet« und eröffne »einen dynamischen Markt für Informationstechniken, Dienstleistungen und Produkte«. Es bilde sich »ein neuer Fokus in den politischen Diskursen um die Umgestaltung der Krankheitsversorgung und der solidarischen Finanzierung« 7. Trotz des Fragezeichens im Titel wird fraglos davon ausgegangen, dass wir in einer Gesundheitsgesellschaft leben, dass Gesundheit ihre Bedeutung verändert und vor allem an Bedeutung zugenommen hat. Diese Fraglosigkeit ist Anlass, die Begründungen und Gründe dafür genauer anzuschauen, auch im Hinblick auf die Frage, welche Interessen mit der damit propagierten Deutungshoheit verbunden sein könnten. Ausgehend von der Prämisse, in einer Gesundheitsgesellschaft zu leben, stehen sich bei genauerer Betrachtung denn auch verschiedenste Deutungen gegenüber bezüglich der Frage, wie sich eine solche Gesellschaft charakterisieren lässt, welches die treibenden Kräfte sind und auch, wo mögliche Gefahren liegen. Nachfolgend gelangen drei Erklärungsansätze zur gesteigerten gesellschaftlichen Bedeutung von Gesundheit zur Darstellung, welche Gesundheit aus je unterschiedlicher Perspektive betrachten.
7 | Vgl. Einleitung Abstractband der Tagung FH Joanneum (2008).
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2.2 D ie ökonomische P erspek tive : G esundheit als W achstumsbr anche Zwei Jahre vor der oben erwähnten Tagung erschien 2006 eine Publikation unter dem Titel »Auf dem Weg in die Gesundheitsgesellschaft«, diesmal ohne Fragezeichen. Als Dokumentation einer Workshop-Reihe in den Jahren 2003 bis 20058 wurde von Günter Spur9 unter Mitwirkung von »Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik« eine Publikation herausgegeben (ebd. 2006: 8). Die Teilnehmenden setzen sich zusammen aus Vertretern der Wirtschaft, Professoren der Volkswirtschaft, Finanzwissenschaft, Gesundheitsökonomie, Medizinaltechnik und nur ganz vereinzelt einem Mediziner, einer Sozialwissenschaftlerin oder Public-Health-ExpertInnen. Erklärtes Ziel der Tagung war es, nicht nur einzelne innovative ›Produktlinien‹ innovativer Gesundheitstechnologien zu entwickeln, sondern auch einen Auf bruch einzuleiten »zur methodischen Erneuerung der technologischen Gesundheitsversorgung in ihrer Gesamtheit« (Spur 2006: 7). Im Fokus steht somit ein neu entstandenes Marktsegment, welches sich, so die Prognose, tendenziell ausdehnt. Diese These deckt sich mit Alltagsbeobachtungen, die darauf hindeuten, dass sich hier ein Markt etabliert hat, in welchem um KundInnen und PatientInnen jeden Alters geworben wird, um sie in ihrem Gesundheitsstreben zu unterstützen. Der Beginn dieser Entwicklung zeichnet sich gemäß einer Darstellung des Soziologen Josef Hilbert10 seit Beginn der Jahrtausendwende ab, heute gehört die Gesundheitsbranche zu den grössten Arbeitgebern in Deutschland (vgl. Hilbert et al. 2008). Gesundheit wird somit nicht mehr in erste Linie als ein Kostenfaktor betrachtet, sondern als wichtiger Treiber der Wirtschaft. Dabei entwickelte sich ein neuer Sektor: Was früher zur Industrie gerechnet wurde, wie beispielsweise die Pharmaindustrie und Medizintechnik, ist nun dem neuen Sektor der Gesundheitswirtschaft zugehörig (Hilbert et al. 2008: 63). Innerhalb der sich ausbreitenden Gesundheitswirtschaft gilt der Fitness- und Wellnessbereich als einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige
8 | Organisiert und finanziert wurden die Workshops durch die Stiftung Brandenburger Tor der Landesbank Berlin Holding AG sowie durch acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. 9 | Günter Spur (1928-2013) war ein deutscher Ingenieurwissenschaftler und emeritierter Universitätsprofessor für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen an der TU Berlin. 10 | Joseph Hilbert, promovierter Soziologe an der Universität Bielefeld, aktuell geschäftsführender Direktor und Direktor des Forschungsschwerpunkts Gesundheitswirtschaft & Lebensqualität am Institut Arbeit und Technik, einer Forschungs- und Entwicklungseinrichtung der Fachhochschule Gelsenkirchen.
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im Privatsektor. Diese Einschätzung teilt auch Stephan Sigrist11 in seinem im Auftrag des Eidgenössischen Departements des Innern erstellten Berichts »Zukunftsperspektiven des Gesundheitsmarkts. Kostenfaktor und Wachstumschance«. Zusätzlich zum bisherigen »Krankheitsmarkt« sei ein neuer Markt für Gesundheit entstanden, der als Träger wirtschaftlichen Aufschwungs gehandelt wird (Sigrist 2006). Dahme und Wohlfahrt (2007) beschreiben das neue Segment folgendermaßen: »Im Hinblick auf kaufkräftiges Publikum ist mittlerweilen eine privat finanzierte Fitnessund Wellness-Infrastruktur entstanden, die verhaltensorientierte Präventionsangebote marktmäßig erstellt und die zu beschäftigungspolitischen Hoffnungsträgern der Dienstleistungsgesellschaft zählt. Gesundheitsförderung wird also dort betrieben, wo sie ins Kalkül passt: am Arbeitsplatz, um arbeitsplatzbedingten Erkrankungen vorzubeugen, als Angebote der Krankenkassen, um zukünftig Behandlungskosten zu sparen.« (Dahme, Wohlfahrt 2007: 76)
Gründe für diesen Wandel, insbesondere für den Bedeutungsgewinn der Gesundheitswirtschaft, liegen gemäß Ahrens (2007) in der Zunahme der Lebenserwartung und einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft, welche den Bedarf an gesundheitsbezogenen Dienstleistungen steigen lassen. Des Weiteren liegen Erklärungsfaktoren im medizinisch-technischen Fortschritt (Mikrobiologie, Nano- und Mikrosystemtechnik, Informations- und Kommunikationstechnologien) wie auch im relativen Wohlstand, der es den Menschen ermöglicht, für ihre Gesundheit privat Geld auszugeben. Diese ›Investitionen‹ stellen einen relevanten Faktor für das Wachstum der neuen Branche dar. Für viele Menschen wurde ein gesunder Lebensstil zu einem Statussymbol wie auch zu einem Konsum- und Genussgut. Dementsprechend gross und erklärbar ist die Ausweitung der pharmazeutischen und biotechnologischen Branche (Hilbert et al. 2008; Siegrist 2006). Was in den gängigen ökonomischen Herleitungen der Gesundheitsgesellschaft keine Erwähnung findet, ist der Bereich der Care-Ökonomie und dar-
11 | Stephan Sigrist, Biochemiker (ETH Zürich) mit Promotion zum Thema ›Wandel im Gesundheitswesen: strategische Ausrichtung der Pharmabranche‹, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit Entwicklungen in den Bereichen Pharma/Biotechnologie, Gesundheit und Food sowie mit generellen Makro-Trends in Wirtschaft und Gesellschaft. Aktuell ist er Leiter des Think Tanks W.I.R.E. (Web for Interdisciplinary Reseach & Expertise) des Collegium Helveticum, der transdisziplinären Forschungsstelle von ETH und Universität Zürich. Der Forschungsschwerpunkt von W.I.R.E. betrifft Entwicklungen und Trends in den Bereichen Lifesciences, Wirtschaft und Gesellschaft.
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in die Bedeutung von Gesundheit.12 So umfasst die unbezahlte und bezahlte Betreuungs-, Pflege- und Hausarbeit beträchtliche Anteile dessen, was unter ›Gesundheitsförderung‹ verstanden werden kann. Insgesamt bleibt jedoch das Wirtschaften und Arbeiten außerhalb der formellen ›Wirtschaft‹ als ›Soziales‹ oder ›Nicht-Ökonomisches‹ ausgeklammert.13 In vielen Analysen und Beschreibungen der Entwicklung eines Gesundheitsmarkts bleibt der Anteil unbezahlter Care-Arbeit an der Produktion von Wohlfahrt und Lebensstandard unerkannt oder unbenannt.14 12 | Diesem Ansatz folgend, werden bezahlte und unbezahlte Arbeit im Bereich der Care-Arbeit in einer Theorie vereint und die erwerbsorientierte Wirtschaftsweise in ihren lebensweltlichen Kontext eingebettet. Gesellschaftliche, ökologische, historische, räumliche und normative Zusammenhänge sollen damit (wieder) hergestellt werden (Jochachimsen, Kesting & Knobloch 2004). Hierzu gälte es, die Trennung zwischen Erwerbsarbeit und nicht-entlohnten und gesellschaftlich nicht anerkannten Arbeiten, wie wir sie aus der Zeit der Industrialisierung bis heute kennen, aufzuheben. Der englische Begriff ›Care‹ umfasst mehr als Betreuung und Pflege, nämlich Arbeit an, mit und für Menschen: direkte Pflege, Betreuung und Erziehung, Betreuungsaufgaben, Planung der Arbeit verschiedener Betreuungspersonen und -institutionen. Er umfasst auch Hausarbeit, die im Zusammenhang mit der Betreuung von Abhängigen anfällt. Vgl. EBG URL: www.ebg.admin.ch/themen/00008/00465/index.html?lang=de (29.4.2013). 13 | Die Sorge um sich selbst und andere wird in den Augen vieler Ökonomen und auch Ökonominnen erst dann relevant, wenn sie sich als Teilnahme am marktwirtschaftlich organisierten Wellness- und Gesundheitsangebot äussert, sprich Dienstleistungen und Produkte konsumiert werden und somit Mehrwert entsteht. Feministische ÖkonomInnen hingegen sprechen von einem »eigenen Wirtschaftsbereich, bei dem die Produktion und die Dienstleistungen, seien sie bezahlt oder nicht, primär und direkt auf das Wohlergehen von Menschen ausgerichtet sind und nicht auf die Produktion für einen anonymen Markt oder für Unternehmen« (Madörin 2009: 9; vgl. auch Joachimsen, Knobloch 2006). Nicht nur in der sogenannten Wirtschaft, sondern auch im Haushalt und in anderen Bereichen unbezahlter Arbeit wird Lebensstandard produziert und werden Dienste geleistet, die elementar sind für das Leben, für das ›gute Leben‹ (Madörin 2009: 12). 14 | Nicht thematisiert werden in der Logik der klassischen ökonomischen Ansätze vergleichbare Leistungen, die innerhalb der Familien insbesondere von Frauen für das Gesundheitssystem erbracht werden. Dabei, so eine Studie von Madörin, werden für die Versorgung und das Sorgen um Menschen mehr Stunden aufgewendet als für sämtliche Erwerbsarbeit insgesamt (Madörin 2010). Die Bedeutung von Care-Arbeit für die allgemeine Gesundheit ist unumstritten. Problematisch ist, dass die Ausgestaltung des schweizerischen Sozial- und Gesundheitssystem nach wie vor geprägt ist von einem konservativ-liberalen Familienbild, was vor allem Haushalte mit kleinem Budget belastet und zu widersprüchlichen Anforderungen führt. Wenn die implizit angenommene Person fehlt, die in jedem Privathaushalt gemäß dem idealtypischen Bild zur Verfügung
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Ebenso bleiben der Umstand wie auch dessen Folgen unerwähnt, dass spezifische Bereiche der Care-Arbeit, wie die Körperpflege, eine Ökonomisierung im Sinne einer Vermarktlichung erfuhren. Wenn jedoch der Begriff der Gesundheitsgesellschaft als kennzeichnend für die aktuelle Gesellschaftsformation aufgegriffen werden soll, dann gilt es, so die Forderung von ÖkonomInnen, die sich mit Geschlechterverhältnissen befassen, die unsichtbaren Anteile, die zum Erhalt und der Förderung von Gesundheit beitragen, sichtbar zu machen und in Analysen zu berücksichtigen – ganz im Sinne einer »Sorgeökonomie«, wie sie beispielsweise Knobloch skizziert (2009: 27ff.). Hierzu bedarf es eines Aufdeckens normativer Setzungen, wie sie in der Wirtschaftstheorie bis heute stillschweigend gemacht und als wertfrei dargestellt werden. So gilt es gemäß Knobloch zu thematisieren, wie die steigende Ökonomisierung im Gesundheitsbereich Druck auf die Care-Ökonomie ausübt: Die erhöhte Erwerbsbeteiligung der Frauen bei relativ gleichbleibender geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die hohe Anzahl von prekären Arbeitsverhältnissen und Teilzeitarbeitsstellen in sogenannten typisch weiblichen Erwerbsarbeitsfeldern oder auch die Entgrenzung von Arbeitszeiten führen dazu, dass Care-Arbeit im privaten Bereich zu einer hohen Belastung wurde (vgl. Madörin 2009, 2010). Ebenso belastend wirkt sich der Umstand aus, dass, wie dies Schilliger (2009) darlegt, die Organisationsund Funktionsweise von Care-Arbeit zunehmend kommerzialisiert wird und sich zu einer Ware verwandelt, die man auf dem Dienstleistungsmarkt ›einkaufen‹ kann, vorausgesetzt man verfügt über die notwendige Kaufkraft. So werden Versorgungslücken und Zeitnot im Haushalt immer häufiger mit der Anstellung einer prekär beschäftigten und bezahlten Hausarbeiterin, meist mit Migrationshintergrund, kompensiert. Die Vermarktlichung von CareArbeit, so die Argumentation Schilligers, entschärft zum einen das »Vereinbarkeitsproblem« und stützt somit das kapitalistische Wirtschaftssystem; zum anderen wird damit die geschlechtliche Arbeitsteilung in stereotyper Weise zementiert, respektive es entstehen neue Hierarchien zwischen Frauen entlang ethnischer und klassenspezifischer Trennlinien (Schilliger 2009: 98f.). Schilliger beschreibt die steigende Einbindung von Care-Arbeit in das klassische Wirtschaftssystem denn auch als »postfeministisches Arrangement«. Hierin zeigt sich eine kritische Haltung gegenüber Ökonomisierungsprozessen, wie sie beispielsweise Deppe (2002: 10) teilt, der diese als die »bruchlose und unkontrollierte Übertragung ökonomischer Gesetze und Instrumente auf außerökonomische Sachverhalte« bezeichnet. Abhilfe gegenüber paradoxen Effekten sieht Schilliger in einer Verkürzung der Erwerbsarbeit für alle und stehen sollte, um anfallende Care-Arbeiten zu erledigen, dann führt dies zu schwerwiegenden Engpässen, insbesondere wenn Kinder oder zu betreuende Erwachsene im Haushalt leben.
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einer Neuorganisation und -verteilung der Care-Arbeit. Hierzu bedarf es einer neuen Zeitpolitik. Ihren visionären Aufsatz schließt Schilliger mit einem Zitat von Nancy Fraser: »Das Kunststück besteht darin, die soziale Welt irgendwann so einzurichten, dass Bürgerinnen und Bürger das Geldverdienen, Betreuen, den Einsatz für die Gemeinschaft, politische Mitwirkung und gesellschaftliches Engagement unter einen Hut bringen können – und möglichst noch Zeit für vergnügliche Dinge haben.« (Fraser 2001 zit.n. Schilliger 2009: 104)
Die von Fraser skizzierte Gesellschaftsordnung, welche die Care-Arbeit neu denkt, hat – jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt – utopischen Charakter. Sie zielt auf eine Neudefinition von Arbeit, welche Reproduktionsarbeiten und Freiwilligenarbeit in denselben Rang erheben wie die bezahlte Erwerbsarbeit. Gesundheit wie auch Gesundheitsförderung sind in dieser gesellschaftlichen Neukonzeption zwar nicht explizit thematisiert; sie sind in der Frage von Betreuungsarbeiten und in der Sorge um sich und andere jedoch enthalten und bekämen in einer so skizzierten Gesellschaftsordnung ein anderes Vorzeichen und Gewicht. Die These, dass wir in einer Gesundheitsgesellschaft leben, kann nur aufstellen, wer aktuelle Formen der Arbeitsteilung und -definition nicht kritisch hinterfragt und wer innerhalb gängiger ökonomischer Modelle Gesundheit lediglich in Bezug auf Gesundheitskosten thematisiert. Somit kommt der Verwendung des Labels ›Gesundheitsgesellschaft‹ in ökonomischen Modellen die Funktion einer Verschleierung sozialer Ungleichheiten und Machtverhältnisse im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Form der Arbeitsteilung zu.
2.3 S ystemtheore tische D eutungen : A usdifferenzierungen und Ü berl agerungen des G esundheitssystems Der Deutung der ›Gesundheitsgesellschaft‹ als Ausdehnung des ökonomischen Systems steht eine systemtheoretische Interpretation des aktuellen Wandels entgegen. Sie geht, wie dies Luhmann (1987: 34) darlegt, von einer funktionalen Differenzierung des Gesundheitssystems aus, die zu ständig weiteren Ausdifferenzierungen geführt hat und führen wird. In der Deutung von Bauch (1996) wird das bisherige Gesundheitssystem von einem neuen System, demjenigen der Gesundheitsförderung, überlagert. Das Gesundheitswesen, so die gemeinsame Darstellung von Luhmann und Bauch, wird in historisch-genetischer Perspektive als System gesehen, welches sich zur funktionsspezifischen Bearbeitung von Krankheit und Gesundheit in
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einem langen Ausdifferenzierungsprozess etabliert hat, parallel zur Entwicklung der frühbürgerlichen, absolutistischen Gesellschaft. Eine wichtige Rolle in diesem gesellschaftlichen Differenzierungsprozess kam der Professionalisierungspolitik der Ärzteschaft zu. Diese Professionalisierungsbestrebungen gingen einher mit internen Hierarchisierungen wie auch mit der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin, was letztlich, so die Deutung der Systemtheoretiker, zu einer ›Medikalisierung‹ der gesamten Gesellschaft führte. Mit der fortschreitenden Rationalisierung aller Lebensbereiche verbreitete sich ein vorerst auf die Bedürfnisse des Bürgertums ausgerichteter Gesundheitsdiskurs. Der Körper wurde hierbei zur Voraussetzung von Leistungsfähigkeit, um die eigene Arbeitskraft einbringen zu können (Bauch 1996: 10f.). »Die Ärzteschaft wurde zum Katalysator der funktionalen Differenzierung und Autonomisierung des Gesundheitswesens, als sie über die Phasen der Staatsanlehnung, der liberalistischen Staatsabwehr und der Institutionalisierung von korporatistischer Selbstverwaltung Bearbeitungskompetenzen für Gesundheit/Krankheit an sich zog und monopolisierte und damit der Autonomisierung des Gesundheitswesens Vorschub leistete.« (Bauch 1996: 11)
Aus funktionalistisch-systemtheoretischer Perspektive wurde die Medizin zu einem geschlossenen System, das sich durch die Ausdifferenzierung eines eigenen Codes von anderen sozialen Systemen deutlich abtrennen konnte. Dieser Code besteht in der Unterscheidung zwischen krank und gesund. Er ist somit binär strukturiert, was die Transformation des einen Werts in den anderen erleichtert und es ermöglicht, von Codewerten anderer Systeme abzusehen. Innerhalb des Systems der Krankenbehandlung ist im Widerspruch zum Alltagsverstehen »krank der positive Wert, Gesundheit der negative« (Luhmann 1990: 179). Mit der Entwicklung und Technologisierung der Medizin wachsen die Krankheitsterminologien, der Begriff der Gesundheit hingegen wird inhaltsleer. Gesunde sind, medizinisch gesehen, noch nicht oder nicht mehr Kranke, oder sie leiden an einer unentdeckten Krankheit. Das Medizinsystem greift jedoch – und dies taxiert Luhmann als neues Phänomen – nicht mehr nur ein, wenn jemand krank ist: Durch die Verlagerung der Häufigkeit von den Infektions- zu den Zivilisationskrankheiten, zu Krankheiten, die als auf schwer zu kontrollierende Weise als Resultat der Lebensführung auftreten, erstreckt sich das Relevanzsystem auf die gesamte Lebensführung (Luhmann 2009: 184). Mit dem Aufkommen lebensstilzentrierter Prävention, mit der die Individuen aufgerufen werden, chronische Krankheiten zu verhindern und ihre Lebensweisen präventiv zu verändern, haben sich die Anforderungen und Erwartungen der Krankenrolle, wie sie von Parsons (1951) beschrieben wurde, auf Gesunde übertragen. Es fand eine Verschiebung vom »Wieder-gesund-werden« zum »Gesund-Bleiben« statt (Jungbauer-Gans/
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Schneider 2000: 228), was die Verwendung des Begriffs ›Gesundheitsgesellschaft‹ ebenfalls legitimiert und zugleich neu konnotiert. Dabei wird die Verantwortung für Gesundheitsrisiken auf die Individuen übertragen. Aufgabe der GesundheitsexpertInnen ist es, die Individuen anzuhalten, ihre Gewohnheiten gemäß den Empfehlungen zu verändern (Zick-Varul 2004: 34). Dabei erstreckt sich die Verantwortung nicht auf den individuellen Gesundheitszustand, sondern steht insbesondere in Zeiten steigender Gesundheitskosten in einem Zusammenhang mit dem Erhalt des Gesamtsystems. Gesundheit erhält so einen sozial-regulativen Wert (Schoene 1963: 115). Das Individuum kann der Verpflichtung nachkommen, sich an den geltenden Gesundheitsnormen zu orientieren, ist aber zugleich abhängig von den normgebenden Instanzen: Die benötigten Normen kann er oder sie nicht selber ermitteln – dies ist ExpertInnen vorbehalten. Indem sich die Verantwortlichkeit nicht mehr nur auf die Genesung, sondern auch auf die Gesunderhaltung, d.h. auf die Gesundheitsrisiken erstreckt, dehnt sich das Medizinsystem auf die Gesunden aus (Luhmann 1990: 190). Eine klare Unterscheidung zwischen ›gesund‹ und ›krank‹ ist nicht mehr möglich, was gemäß Luhmann mit ein Grund ist für die Selbsthypostasierung des Gesundheitssystems (vgl. Kap. 3.2.3). Die u.a. von Kickbusch vertretene These, dass sich gegenwärtig etwas Neues konstituiert, wird hier in einem gewissen Sinn abgelehnt: In den Begriffen Luhmanns handelt es sich vielmehr um eine Ausdifferenzierung eines spezifischen, gesundheitsbezogenen Funktionssystems, welches als Erweiterung zum Krankheitssystem existiert (Luhmann 2009, vgl. auch Krajic et al. 2009). Eine etwas andere Position nimmt Bauch ein, der im Anschluss an Luhmann ebenfalls eine Analyse der Expansion des Gesundheitssystems vornimmt. In der gestiegenen Bedeutung von Gesundheit sieht er einen Ausdruck der Etablierung eines neueren Segments, demjenigen der Gesundheitsförderung, welche das bisherige, auf Krankheit fokussierte Gesundheitssystem überlagert. Nicht ausreichend bedacht habe Luhmann, so die Kritik Bauchs, die ›neuen‹, ›chronisch-degenerativen‹ Krankheiten sowie Erkrankungen, die nicht akute, sofort zu behandelnde Schmerzen mit sich bringen, sondern sich in einem Graubereich zwischen Krankheit und Gesundheit befinden und nicht oder nicht sofort mit dem Verlust der Parsonschen gesellschaftlichen Rolle von Gesunden einhergehen. Mit dem Wandel des »Krankheitspanoramas« und der Entstehung eines neuen gesellschaftlichen »Morbiditätsprofils« (Bauch 1996: 14) transformiert sich auch der vom Medizinsystem geprägte Gesundheitscode: von krank/gesund auf lebensförderlich/lebenshinderlich. Es entsteht, so die Argumentation von Bauch, der Zwang zu einer Doppelkodierung. Dies entspricht der systemtheoretischen Prämisse, dass Sozialsysteme, die eine gewisse Stabilisierung erreicht haben, dazu neigen, über den Prozess der Inklusion und Diffusion die Grenzen zu erweitern. Dieser
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Prozess, der den vollzogenen Differenzierungsprozess partiell rückgängig macht, wird von Bauch als »Medikalisierung der Gesellschaft« und umgekehrt als »Vergesellschaftung des Gesundheitssystems« beschrieben (Bauch 1996: 85). Mit ›Medikalisierung‹ beschreibt Bauch den Umstand, dass sämtliche anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme unter gesundheitssystemischer Perspektive überprüft werden, ob sie pathologische körperliche Nebenfolgen haben und Krankheitssymptome aufweisen. Umgekehrt wird das Gesundheitssystem vergesellschaftet, indem politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Aspekte an Relevanz gewinnen (Bauch 1996: 62). In diesem Prozess wird das Medizinsystem gemäß Bauch von einem Gesundheitssystem, das sich zunehmend mit präventiver Sozialpolitik, Ökologie und gesunder Lebensführung im weitesten Sinn befasst, vereinnahmt oder überlagert. Gemäß Bauch ist damit in sämtlichen gesellschaftlichen Teilsystemen eine Legitimation auf der Ebene der Gesundheit oder allgemein des Lebens notwendig geworden. Die Gesundheitsperspektive, so Bauch weiter, dringt in alle gesellschaftlichen Bereiche ein und zwingt die funktional differenzierten Systeme, neben der traditionellen Funktionserfüllung die Gesundheitsperspektive zu internalisieren. Der Gesundheitscode nähert sich so der Funktion einer gesellschaftlichen Leitcodierung (Bauch 1996: 14f.). So hat die Forschung nicht mehr nur zu forschen, was wahr, sondern auch was lebensförderlich ist, die Wirtschaft nicht nur zu produzieren, was Gewinn abwirft, sondern auch, was zumindest nicht gesundheitsschädigend, im besten Fall gesundheitsförderlich ist. Ebensolches gilt für die Politik, die gemeinwohlorientiert zu sein und gesundheitsförderliche kollektive Entscheidungen zu treffen hat. Das Gesundheitssystem wird bei diesem Anspruch für sämtliche gesellschaftspolitischen, sozialen und ethischen Fragen der individuellen und kollektiven Lebensführung verantwortlich (vgl. Bauch 1996). Bauch interpretiert diesen Prozess der Kompetenzausweitung jedoch anders als Luhmann nicht als Stärkung der Profession der Ärzte, sondern als wechselseitigen, dialektischen Prozess. Indem zunehmend individuelle, psychische Probleme als Krankheiten betitelt werden, muss das naturwissenschaftliche Krankheitsverständnis zunehmend aufgegeben werden. Der Verursachungs-Wirkungszusammenhang fällt so prinzipiell in sich zusammen. Nach Bauch wird das Gesundheitswesen zunehmend für soziale Tatbestände zuständig gemacht. In diesem Zusammenhang spricht er von einer »soziologischen Finalisierung der Medizin und des Gesundheitswesens« (Bauch 1996: 64). Eine Konsequenz hiervon ist für ihn, dass das Gesundheitswesen Mitspracherecht in allen gesellschaftlichen Teilbereichen erlangt hat. »Das Gesundheitssystem tut (mittlerweilen) alles, um Lebensförderliches zu fördern und um Lebenshinderliches zurückzudrängen. In diese Codierung passt die traditionelle Krankenbehandlung […], in diese Codierung passt aber auch die Installation von Lärm-
2. Zur These der Gesundheitsgesellschaf t schutzwällen an der Autobahn, die als Maßnahme vorbeugender Gesundheitspolitik zu werten ist.« (Bauch 1996: 80)
Der neue Leit-Code – nicht mehr ›gesund/krank‹, sondern ›lebensförderlich/ lebenshinderlich‹ – hat nach Bauch den Vorteil, dass er zum einen die NebenCodes integrieren kann, zum anderen, dass mit dieser breiten und abstrakten Kodierung die Intervention des Gesundheitssystems in weite gesellschaftliche Bereiche abgedeckt und legitimiert ist. So könne beispielsweise ins Wirtschaftssystem hinein interveniert werden, indem vom Bundesgesundheitsamt vorgeschrieben wird, welche Inhaltsstoffe in Shampoos oder Badeölen vorhanden sein dürfen. Mit dem Anspruch, ressortübergreifend auch in andere Sozialsysteme wie dem der Wirtschaft, der Politik oder auch des Erziehungswesens ›eingreifen‹ zu können, werde die funktionale Autonomie anderer ausdifferenzierter Systeme relativiert (Bauch 1996: 81). Beiden Ansätzen, demjenigen von Luhmann und dem im Anschluss daran entstandenen Ansatz von Bauch, ist gemeinsam, dass sie von einer Expansion der Bedeutung von Gesundheit ausgehen. Gesundheit wandert somit aus dem Versorgungssystem hinaus in das soziale und wirtschaftliche Leben. Sie ist zu einem zentralen Konzept der aktuellen Gesellschaftsformation geworden, was den Begriff der ›Gesundheitsgesellschaft‹ legitimiert.
2.4 D as S treben nach G esundheit als quasi - religiöse L ebenspr a xis ? Der Umstand, dass Gesundheit als vermeintlich höchstes oder zumindest hohes, erstrebenswertes Gut angesehen wird und in sämtlichen gesellschaftlichen Teilbereichen eine Präsenz, wenn nicht sogar eine Dominanz erlangt hat, beinhaltet jedoch aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet noch eine weitere Dimension: eine spirituelle. Die Vorstellung eines erfolgreichen, glücklichen Lebens geht von einem Leben in Gesundheit aus. Gesundheit und das Streben danach, so die These eines Teils der nachfolgend dargestellten AutorInnen, habe in der heutigen säkularisierten westlichen Welt quasi-religiösen Charakter angenommen oder sei sogar als Ausdruck einer neuen Form von Religiosität zu lesen. Ehemals in der Gesellschaft tief verankerte religiöse Vorstellungen von Heil und Unsterblichkeit seien durch die hohe Bedeutsamkeit und Wertschätzung von Gesundheit ersetzt worden. Dass sich der Ort der Religion in der Moderne verlagert hat, ist unter vielen SozialwissenschaftlerInnen und auch TheologInnen unbestritten. Die Bedeutung der traditionellen institutionalisierten Orte der Religionsausübung, wie der Kirche, hat sich an andere gesellschaftliche Orte hin verlagert und erfuhr eine Pluralisierung, möglicherweise auch eine Individualisierung. Die steigen-
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de Anzahl von Kirchenaustritten galt denn auch lange Zeit als Bestätigung der in den 1960er Jahren aufkommenden Säkularisierungsthese, nach welcher Religion und Moderne als in einem Spannungsverhältnis stehend und sich gegenseitig ausschließend verstanden wurden. Die Säkularisierung wird dabei sowohl von VerfechterInnen als auch von den KritikerInnen des Säkularisierungstheorems anerkannt, hingegen fällt die Deutung für die Entwicklung der Religion unterschiedlich aus (Gärtner 2009: 113): als Erosion religiöser Überzeugungen oder als Transformation in neue Formen. Es gibt AutorInnen, welche die Deutung einer erodierenden Religion lediglich auf einen zu engen Religionsbegriff zurückführen und von einer eigentlich stetigen Bedeutung von Religion ausgehen (vgl. Gärtner 2009: 114), während andere das Aufkommen neuer Formen von Religiosität als Ausdruck einer »Resakralisierung« Europas deuten (vgl. Knoblauch 2006). Insbesondere die neuen religiösen Bewegungen sind ein Forschungsfeld, in dem ReligionssoziologInnen kontroverse Debatten führen und auch der Religionsbegriff als solcher zur Debatte steht. Von entscheidender Bedeutung für eine Einschätzung des Wandels ist der der Analyse zugrunde liegende Religionsbegriff, somit dessen theoretische Konzeption und Ausrichtung, mit welchem religiöse Phänomene untersucht werden sollen. Ist der Religionsbegriff nahe an kulturspezifischen religiösen Traditionen konstruiert, dann wird beispielsweise der Prozess des Bedeutungsrückgangs der Institution Kirche mit Säkularisierung gleichgesetzt; andere, von der Kirche ferne Rituale werden nicht als religiös (an)erkannt. Umgekehrt führt eine Loslösung des Religionsbegriffs von universellen oder kulturspezifischen Deutungshintergründen dazu, dass eine Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Phänomenen nicht mehr ohne Weiteres oder gar nicht mehr machbar ist. Ein zu weit gefasster Religionsbegriff würde dazu führen, dass alles unter Religion gefasst werden könne: psychologisch orientierte Selbsterfahrungs- oder Therapiegruppen, Fussball, Kunst oder auch Politik oder eben Gesundheitsförderung (vgl. Lütz 2008). Dorothea Lüdeckens und Rafael Walthert beispielsweise deuten den aktuellen gesellschaftlichen Wandel als Steigerung der Beweglichkeit oder der ›Fluidität‹ in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen; somit seien Formen von Religion an neuen und verschiedensten Orten anzutreffen (ebd. 2010). Die beiden AutorInnen gehen davon aus, dass Religionen wie auch umfassende Zugehörigkeiten allgemein in westeuropäischen Kontexten durch unverbindliche, zeitlich beschränkte und spezifischere Beteiligungen abgelöst würden und demnach zentrale Vorgaben und Hierarchien an umfassender Bedeutung verlieren. Insbesondere dauerhafte Zugehörigkeiten zu großen Gemeinschaften erachten die AutorInnen der Sammelschrift mit dem Titel »Fluide Religionen« als schwindendes Phänomen. An deren Stelle werde die Religiosität der Individuen durch eine Vielzahl sozialer Beziehungen geprägt. Dem Be-
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fund der fluiden Zugehörigkeiten stimmen Ostermann und Büssing (2007) insofern zu, als sie eine Abnahme konfessioneller Bindungen in westlichen Industrienationen nachweisen; zugleich werde das Bedürfnis nach Halt und Bedeutung in alternativen Sinnsystemen gesucht. Hierbei verweisen sie auf Klein (2000 zit.n. Ostermann, Büssing 2007: 217), der einen Esoterik-Boom und Pollock (2000 zit.n. Ostermann, Büssing 2007: 217), der eine Wiederkehr des Religiösen diskutiert. Sportliche Aktivitäten würden mit transzendenten Erfahrungen in Verbindung gebracht, eine Zunahme von Meditationstätigkeiten sei feststellbar. Seit Beginn der 1990er Jahre, so die beiden Autoren, ließe sich in medizinischen Publikationen ein merklicher Anstieg an Bezügen zu Spiritualität oder zu Religion nachweisen. Dies sei nicht ein an sich neues Phänomen, stünden doch Religion, Medizin und Heil respektive Heilung seit jeher in einem Zusammenhang. Die australische Soziologin Deborah Lupton setzt sich zwar nicht grundsätzlich mit religionssoziologischen oder -wissenschaftlichen Fragen auseinander; Ausgangspunkt ihrer Einschätzung ist vielmehr die Feststellung, dass Gesundheit in der täglichen Lebensführung einen steigenden Stellenwert einnimmt und dabei ehemals religiöse Werte ersetzt. Nicht mehr Gottesfurcht und Frömmigkeit, sondern neu das Ziel des Gesundseins sei moralischer Wert und Orientierungspunkt im täglichen Leben. »›Healthiness‹ has replaced ›Godliness‹ as a yardstick of accomplishment and proper living. Public health and health promotion, then, may be viewed as contributing to the moral regulation of society, focusing as they do upon ethical and moral practices of the self.« (Lupton 1995: 4).
Dementsprechend hat gemäß Lupton anstelle der Kirche als Instanz in Fragen der Moral und Lebensführung nun Public Health mit ihrem Programm der Gesundheitsförderung die Funktion der moralischen Regulierung übernommen. Die These, dass die hohe Bedeutung von Gesundheit im Lebensalltag und -entwurf vieler Menschen eine Art Substitut für Religion oder religiöse Handlungen sein könnte, wird innerhalb von theologischen und religionswissenschaftlichen, aber auch -soziologischen Diskursen somit kontrovers behandelt. Aus funktionalistischer Perspektive wird bezüglich der ›Kontingenzbewältigung‹ als eine den Religionen gemeinsame Funktion die Frage gestellt, ob eine ›Gesundheitsreligion‹ tatsächlich ein Äquivalent zu einer anderen, ›echten‹ Religion sein kann. Dominik Baltes15 kommt in seiner theologischen Studie 15 | Dominik Baltes (geb. 1978), Dr. theol. an der Universität Freiburg i.Br.; derzeit Studienreferendar für das höhere Lehramt an beruflichen Schulen sowie Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg.
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zum Schluss, dass das Streben nach Gesundheit als »religiös anmutende Lebenspraxis«, nicht jedoch als eigentliche Religion (Baltes 2008: 162-164) zu bezeichnen sei. Eine vermeintliche Gesundheitsreligion könne keine Antwort geben auf grundlegende Fragen des Daseins; im Gegenteil sei das Streben nach Gesundheit immer wieder mit dessen Scheitern konfrontiert, ganz zuletzt angesichts der Endlichkeit des Lebens. Gesundheit möge unsere »new salvation« (Williams 1998 zitiert nach Zick-Varul 2011: 12), unser neues Heil, und der Körper zu einem neuen religiösen Territorium geworden sein, welches durch Konsumrituale zu erreichen versucht wird. Doch bestehen, wie dies auch ZickVarul betont, grundlegende Unterschiede zu traditioneller Religiosität. So biete die neue konsumistische Selbst-Religiosität lediglich für eine beschränkte Zeit Absolution und Erlösung, und dies in Form eines ironischen oder zynischen Halb-Glaubens. Demnach stellt nach Zick-Varul der Gesundheitskult keine neue Religion dar, er bietet kein einheitliches System von Glaubensüberzeugungen und Praktiken. Es fehlt dabei an Ernsthaftigkeit des Glaubens und einem Kommitment, welches Religion traditionellerweise impliziert. Ebenso fehlt die kollektive Natur traditioneller Religion wie auch eine unhinterfragbare Autorität, auf welcher Religion gründet (ebd.). Innerhalb der Gesundheitswissenschaften, so die Feststellung von Matthias Stiehler (2001), war die theoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gesundheit und Religiosität noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht sehr weit gediehen. Dies hat sich offenbar in kurzer Zeit verändert, gibt es doch beispielsweise an der Universität Basel einen Masterstudiengang in »spiritual care«16 oder es ist auch eine verstärkte Institutionalisierung der Spitalseelsorge17 feststellbar. Nach Stiehler war Gesundheit seit jeher in allen Kulturen ein zumeist religiös gebundener Wertbegriff und bis ins 17. Jahrhundert waren Glaube, Heilung, Spiritualität und Medizin eng verknüpft (Stiehler 2001: 25). Trotz medizinischem Fortschritt und zahlreicher präventiver Maßnahmen ist Gesundheit bis heute einer der Bereiche, der mit existenzieller Unsicherheit behaftet ist und eine Frage des Schicksals bleibt. So stellt sich im Krankheitsund erst recht im Todesfall bis heute die Frage nach dem Sinn von Krankheit und Tod, letzlich nach dem Sinn des Lebens. »Dort wo das Leben bedroht ist, stellt sich zwangsläufig die Frage, wozu man lebt und stirbt.« (Stiehler 2001: 25)
16 | Ab Frühling 2015 bietet z.B. die Universität Basel einen interdisziplinären postgraduierten Masterstudiengang ›spritual care‹ an. URL: http://mas-spiritual-care.ch (Stand 24.6.2015). 17 | Vereinigung der katholischen und evangelischen Spitalseelsorge. URL: www.spi talseelsorge.ch (Stand 24.6.2015).
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Was Stiehler anspricht, benennt Oevermann mit dem Begriff der ›Bewährungsdynamik‹, die durch die Tendenz der Säkularisierung und Individualisierung beeinflusst wird (vgl. ebd. 2004). Die Bewährungsfrage beschränkt sich gemäß Oevermann heute ausschließlich auf die irdische Lebensführung und muss mehrheitlich ohne außergesellschaftliche Chancen auf Gnade auskommen. Folge davon sei, dass sich die Bewährungsdynamik verschärft, zumal eben kein allgemeiner Bewährungsmythos die Möglichkeit einer Erlösung biete. Dabei zeichnet sich gemäß Oevermann ab, dass auch die Leistungsethik der modernen Leistungsgesellschaft als Bewährungsmodell an Bedeutung verliert. Als Folge steigender Rationalisierung und der Verknappung von Erwerbsarbeit zeichnen sich vermehrt unterschiedlich generalisierte oder auch individualisierte Mythen der Selbst-Verwirklichung ab, die nicht mehr allgemein vergesellschaftet sind und keine generelle sinnstiftende Kraft haben, sondern sich vielmehr in einzelnen Konstruktionen des »guten Lebens« manifestieren (Oevermann 2004: 266). Oevermann deutet somit die zunehmende Säkularisierung nicht als Ende der Religion; nach ihm entstehen vielmehr paradoxale Konstruktionen, indem sich in der individuellen Ausgestaltung der Bewährungsdynamik religiös motivierte oder gestiftete Logiken zeigen, die sich in einem Spannungsverhältnis zur Rationalität befinden. Darunter lassen sich durchaus auch Praktiken der Gesundheitsförderung subsumieren (ebd. 2004).18 Eine etwas anders gelagerte und in ihrer Art einzigartige Auslegung der Bedeutung von Gesundheit und im Speziellen der Funktion von Public Health in heutigen Gesellschaften legt der neuseeländische Soziologe Kevin Dew dar (2007, 2009). Die sich in Public-Health-Debatten ausdrückende Sorge um die Gesundheit beschreibt er als »Kult der Menschheit«, welcher in Gesellschaften, die auf organischer Solidarität basieren, die Funktion der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts übernimmt. Dabei schließt er mit sei18 | Oevermanns ›Strukturmodell von Religiosität‹ setzt Monika Wohlrab-Sahr Kritik entgegen, indem sie bei dessen theoretischen Prämissen ansetzt. Für sie ist die Steigerung der Bewährungsdynamik als Folge des Säkularisierungsprozesses nicht die einzig mögliche Konsequenz. So könnten das Wegfallen der Jenseitsvorstellung oder fehlende richtende und verpflichtende Maßstäbe auch eine Lebensführung hervorrufen, die ohne ›angestrengte Selbstverwirklichung‹ auskommt. Empirisch sei dies bei Personen feststellbar, die ohne Fragen nach dem Sinn des Lebens anstelle der Fragen »Woher komme ich, wohin gehe ich?« einfach irgendwie weitergehen (Wohlrab-Sahr 2003: 394). Anstelle einer nach Oevermann (2004) unausweichlichen Steigerung der Bewährungsdynamik ist nach Wohlrab-Sahr somit auch eine »Entmythologisierung« des eigenen Lebens denkbar. Sie plädiert dafür, dass mit unterschiedlichen Formen von Religion auch unterschiedliche Formen struktureller Religiosität einhergehen können. Die Annahme eines universell geltenden Bewährungsproblems stellt sie als axiomatisch infrage.
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nen Ausführungen bei Durkheim an, welcher in der Gesellschaft vier widersprüchliche moralische Kräfte benennt: Altruismus, Egoismus, Fatalismus, Anomie. Die moderne Gesellschaft, so Durkheim und auch Dew, ist als individualistische und pluralistische zu kennzeichnen, mit einem hohen Ausmaß an Egoismus und Anomie. Ohne soziale Mechanismen, die Egoismus und Anomie eingrenzen helfen, würde die Gesellschaft zerfallen. Hierin nimmt nach Dew Public Health eine wichtige Rolle ein und enthält dabei eine Vielzahl an Charakteristiken, die in zeitgenössischen Gesellschaften die Rolle der Religion ausfüllen. Wiederum im Anschluss an Durkheim sieht Dew die Funktion der Religion darin, kollektive Repräsentationen und auch eine Form der sozialen Kohäsion und der gesellschaftlichen Integration anzubieten. Indem Public Health die Gesundheit des Individuums mit derjenigen der Bevölkerung verknüpfe, könne Gesundheit sowohl individuelles Ziel als auch eine kollektive Repräsentation darstellen. Die Sorge um die Gesundheit sei ein Anliegen, welches alle Menschen teilen können. Alle verfügen über Erfahrungen von Krankheit und über Wissen um die Voraussetzung der Gesundheit, um vollständig in der Gesellschaft partizipieren zu können (Dew 2007: 108). In der modernen Gesellschaft stellen nach Dew Wissenschaft und Religionen Versuche dar, die Realitäten der Natur, Menschheit und Gesellschaft in verständliche Sprache zu übersetzen. Es handle sich bei beiden um kollektive Repräsentationen, die sich der objektiven Wahrheit anzunähern versuchen. »Public health in this context offers a critique of the excesses of unregulated capitalism, performing an important function in a society based on social differentiation and individualism.« (Dew 2007: 108)
Public Health, so Dew, könne Argumentationen liefern gegen den entfesselten Kapitalismus und für eine Regulierung der Wirtschaft, um soziale Ungleichheiten nicht weiter wachsen zu lassen. Zugleich werde das Individuum reguliert und dem endlosen individuellen Vergnügen eine Grenze gesetzt. Public Health könne die Voraussetzungen schaffen, damit Individuen im Stande seien, ›healthy choices‹ machen zu können. Das Konzept der Übergewichts-Epidemie könne so verstanden werden, dass es zum einen für weniger exzessiven Konsum plädiere, sich jedoch nicht nur an Individuen, sondern auch an die Lebensmittelindustrie richte (Dew, Taupo 2009). New Public Health wird von Dew sowohl als Ausbau regulatorischer Kräfte als auch als emanzipatorische Kraft gesehen. »Public health tempers both the egoistic tendencies of individualism and restraints the anomic tendencies generated by capitalism.« (Jones 2001 zit.n. Dew 2007: 110)
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Die kollektivistische Positionierung von Public Health beinhaltet hier die Korrektur von gesundheitsschädigenden Konsequenzen des Individualismus und thematisiert die sozio-ökonomischen Folgen des Kapitalismus auf die Gesundheit (Baggott 2000: 3). Public Health ist in diesem Verständnis eine Institution, die in der aktuellen Gesellschaft eine moralisch-regulatorische Funktion wahrnimmt, sich auch mit dem Individualismus anlegt und deshalb in Konflikt oder Opposition mit anderen Institutionen gerät, die unterschiedliche regulatorische Funktionen wahrnehmen. Die Sorge um die Gesundheit als Kernaufgabe von Public Health deutet Dew somit als eine neue Form der Religiosität mit der Funktion, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu sichern.
2.5 D ie These (n) der ›G esundheitsgesellschaf t‹ – ein F a zit Die aufgefächerten Erklärungs- und Legitimationsversuche heutiger Gesellschaften als Gesundheitsgesellschaften lassen sich nicht ohne Weiteres zusammenfassen. Ein Fazit ist auch deshalb schwer zu ziehen, weil sich einzelne Ansätze teilweise widersprechen, andere ergänzen – respektive je ganz unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Gemeinsam ist sämtlichen Ansätzen, dass sie zum einen die These einer gewachsenen Bedeutung von Gesundheit stützen als auch konstatieren, dass sich die Grenze zwischen Krankheits- und Gesundheitsbegriff verändert hat, was die Geltungskraft des letzteren deutlich erweiterte. Den hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführten ökonomischen, strukturtheoretischen und religionswissenschaftlichen Deutungen soll noch eine weitere und letzte Perspektive angefügt werden: diejenige der Alternativlosigkeit. Der Gesundheitswissenschaftler Johann Behrens (2009) spricht sich ebenfalls für die Bezeichnung der ›Gesundheitsgesellschaft‹ aus, nicht weil Gesundheitsförderung neu dazugekommen sei, sondern vielmehr weil unter den Lehren des richtigen Lebens die Gesundheitslehre als einzige übrig geblieben sei. Die anderen Lehren, die vorher mit Autorität das ›richtige und gute Leben‹ normiert hatten – von den religiös-theologischen über die absolutistisch-ökonomischen, die philosophisch-nationalistischen, die demokratischen und sozialistischen Theorien – haben nach Behrens gegenüber der Gesundheitslehre an Autorität verloren und sich, wie die Theologie und Philosophie, vom Anspruch detaillierter normativer Regelung aller Lebensbereiche zurückgezogen. Übriggeblieben sei die Diätetik, die auf Kos 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung formuliert wurde als normative Theorie der Pflege des eigenen Körpers und Geistes und als Lehre einer geregelten Lebensweise. Neu sei lediglich, mit Anschluss an die systemtheoretische Deutung, dass nun mit Bezug auf Ge-
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sundheit begründet wird, was vorher unter Bezug auf Religion, Nationalismus, Sozialismus und Demokratie erfolgt ist: Dies gelte für StädtebauerInnen und ArchitektInnen, für PolitikerInnen wie auch für Bildungsfachleute. Teilhabe am sozialen Leben werde nun neu mittels Gesundheit begründet (Behrens 2009: 59). Die Bezeichnung der heutigen hochindustrialisierten Dienstleistungsgesellschaften als Gesundheitsgesellschaften wird, dies der Konsens in den obigen Entwürfen, nicht infrage gestellt, sondern scheint, der Argumentation Behrens folgend, vielmehr alternativlos. So, würde Behrens vielleicht weiter argumentieren, kann der Umstand der teilweise widersprüchlichen Verständnisse, unterschiedlichen Bedeutungen und vielfältigen Herleitungen der Gesundheitsgesellschaft als Spezifik aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse gedeutet werden. Die von Behrens behauptete Alternativlosigkeit kann aber auch als Ausdruck einer Verschleierung sozialer Konflikte gelesen werden: Durch das Propagieren einer Gesundheitsgesellschaft und darin von ›gesunden‹ Schulen oder auch ›gesunden‹ Städten wird ein Ideal gezeichnet, ohne soziale Ungleichheiten und Machtverhältnisse thematisieren zu müssen. Dabei fehlt – dies wurde in den unterschiedlichen Versuchen einer theoretischen Herleitung der ›Gesundheitsgesellschaft‹ deutlich – eine analytische Schärfe des Gesundheitsbegriffs. Diese mangelnde analytische Präzision öffnet dem Verständnis von Gesundheit als ökonomischem, religiösem oder quasi-religiösem Wert Tür und Tor, oder der Deutung von Gesundheit als Ausdruck von Modernisierung, Ausdifferenzierung, Säkularisierung, Expansion von gesellschaftlichen Subsystemen, oder auch als neuer moralischer Wert organischer Solidarität. Gemeinsam ist den dargelegten Erklärungsansätzen einzig die Prämisse, dass Gesundheit einen zentralen Stellenwert hat, was – dies ebenfalls eine durchgehende Konstante – als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels gedeutet wird. Wenn, wie Herzlich dies festhält, »alles Gesundheit sein kann und Gesundheit alles ist« (Herzlich 1998: 176), verliert Gesundheit an analytischer Aussagekraft, Entgrenzung trifft auf Beliebigkeit.
3. Gesundheitskonzepte in wissenschaftlichen und in politischen Diskursen
3.1 P hilosophische , medizinhistorische und kultur soziologische B e tr achtungen zum G esundheitsbegriff 3.1.1 Einleitung Welche gesellschaftliche Bedeutung kann ›Gesundheit‹ zugeschrieben werden und welches Konzept und welche Logik liegen der Gesundheitsförderung zugrunde? Diesen Fragen auf der Spur zeigte sich im vorangehenden Kapitel, dass es den gesellschaftlichen Gegenwartsdiagnosen zum Gesundheitsbegriff an analytischer Klarheit fehlt. Gesundheit kann sowohl eine quasi-religiöse Funktion zugeschrieben, als auch in Verbindung mit einer Ökonomisierungsstrategie gestellt werden. Die Bezeichnung der Gesellschaft als ›Gesundheitsgesellschaft‹ kann als Ausdruck eines Positionskampfs zwischen Public Health und Medizin gelesen werden oder als Folge einer Ausdifferenzierung innerhalb des Gesundheitswesens, als Antwort auf neue gesellschaftliche gesundheitliche Problemlagen. Gesundheit kann aber auch im Zentrum einer auf Gleichberechtigung und gesellschaftliche Transformation zielenden sozialen Bewegung stehen. Dabei ist anzunehmen, dass den unterschiedlichen zeitdiagnostischen Ansätzen, die eine ›Gesundheitsgesellschaft‹ propagieren, ein je anders gearteter Gesundheitsbegriff zugrunde liegt. In aktuellen Publikationen zum Thema Gesundheit aus dem europäischen und nordamerikanischen Raum sowie aus Australien fällt auf, dass sie häufig mit der Feststellung oder der Behauptung einer gewachsenen Bedeutsamkeit von Gesundheit in unserer Gesellschaft beginnen. Zur Erklärung des gestiegenen öffentlichen Interesses an Fragen der Gesundheit werden verschiedene Entwicklungen ins Feld geführt: Das Auftreten neuer Krankheiten, die unter anderem mit einem demografischen Wandel in Zusammenhang stehen, ein steigendes Gesundheitsbewusstsein innerhalb der Bevölkerung sowie Fragen der Finanzierbarkeit von Gesundheitsleistungen, die sogenannten Gesundheitskosten, und schließlich auch die Auswirkungen einer im Wachsen be-
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griffenen Gesundheitsbranche. Auf die Darlegung der gestiegenen Bedeutung von Gesundheit folgt in der Regel die Feststellung, dass ›Gesundheit‹ an sich schwierig zu definieren sei. Vorausgeschickt werden kann im Anschluss an diese häufig bekundeten Schwierigkeiten, Gesundheit zu definieren, die Vermutung, dass es sich beim Gesundheitsbegriff – ähnlich wie beim von Brubaker und Cooper (2007) betrachteten Identitätsbegriff – um ein Konzept handelt, das nicht ohne Weiteres fassbar ist. Vieles was Brubaker und Cooper in Bezug auf den Identitätsbegriff formulieren, trifft womöglich auch auf den Gesundheitsbegriff zu: So handelt es sich bei ›Gesundheit‹ ebenfalls um eine Kategorie der gesellschaftlichen und politischen Praxis1 wie auch gleichzeitig der gesellschaftlichen und politischen Analyse. ›Gesundheit‹ wird von Laien in Alltagssituationen benutzt, um die eigenen Empfindungen und Handlungen begreif bar zu machen, um Werthaltungen, Lebensweisen und allenfalls -ziele zu beschreiben. Ebenso wird der Gesundheitsbegriff von politischen Akteuren verwendet, um Menschen zu beeinflussen, ihren Alltag auf eine bestimmte Weise zu deuten, zu gestalten. Was Brubaker und Cooper in der Verwendung eines Begriffs wie demjenigen der Identität unterscheiden, kann auch auf ›Gesundheit‹ übertragen werden: nämlich, ob es sich um »starke« oder »schwache Konzeptionen« handelt. Bei Gesundheit kann dann von einer »starken Konzeption« gesprochen werden, wenn sie als etwas betrachtet und verstanden wird, das alle Menschen oder zumindest alle Gruppen haben, gehabt haben oder erstreben sollten. In dieser Konzeption wird von einer Vorstellung ausgegangen, was Gesundheit ist, bzw. sein könnte. Zugleich ist Gesundheit etwas, was der einzelne Mensch und auch die Gruppe haben kann, auch ohne sich dessen bewusst zu sein (vgl. ebd. 2007: 61). »Schwache Konzeptionen« brechen mit der Bedeutung des Begriffs und beschreiben ihn als »multipel, instabil, im Fluss, zufällig, fragmentiert, konstruiert« (ebd. 2007: 62), als nicht fassbar. Im ersten Teil dieses Kapitels sollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, unterschiedliche Gesundheitsverständnisse aus verschiedenen Theorietraditionen aufgefächert und auf deren Konzeptionalisierung hin betrachtet werden. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird die aktuell dominante Deutung genauer betrachtet, die nach besagtem Darlegen der Schwierigkeit, eine Begriffsdefinition zu finden, häufig ins Feld geführt wird: der Gesundheitsbegriff der WHO. Dessen zentrale Elemente werden skizziert und diskutiert, die Genese und Verortung dieses ›neuen‹ Gesundheitsverständnisses wird mittels eines 1 | Im Unterschied zu erfahrungsfernen Kategorien, die der Gesellschaftsanalyse dienen, verstehen Brubaker und Cooper im Anschluss an Bourdieu unter »Praxiskategorie« Kategorien der alltäglichen sozialen Erfahrung, die von gewöhnlichen sozialen Akteuren und Akteurinnen entwickelt und angewandt werden (Brubaker, Cooper 2007).
3. Gesundheitskonzepte in wissenschaf tlichen und in politischen Diskursen
Exkurses zu Public Health umrissen. Im Anschluss wird die Ottawa-Charta, ein Dokument der WHO und bis heute zentrale Referenz für Gesundheitsförderung, einer Analyse unterzogen. Diese Auseinandersetzung mit Gesundheit, Gesundheitsvorstellungen und -begriffen dient als Rahmung des eigentlichen Forschungsinteresses: der Untersuchung, was an Schulen im Bereich Gesundheitsförderung gemacht wird, welcher Logik die Interventionen im Namen von Gesundheit folgen und mit welcher Legitimation diese geschehen. Dieser Teil soll einen Boden schaffen für die spätere Einschätzung der Verständnisse und der Legitimierung von Gesundheitsförderung der interviewten Lehrpersonen: Von welchem Gesundheitsbegriff gehen sie aus? Nehmen sie auf aktuelle Gesundheitsdiskurse Bezug und, wenn ja, wie?
3.1.2 Das Wesen der Gesundheit – Streiflichter auf philosophische Debatten Gesundheit, so Martin Schnell2, Philosoph und Direktor eines universitären Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen, ist in der Regel nicht fühlbar. Solange man sie habe, werde sie als etwas Selbstverständliches hingenommen. Ihren Wert erkenne man erst, wenn man sie verloren hat. Gesundheit könne nicht anders als in der »Gewesenheit« thematisch werden – in dem Moment, in dem Krankheit eintritt (Schnell 2006: 346). Für den Philosophen Hans-Georg Gadamer3, einer der Philosophen, auf den sich Schnell bezieht und der in vielen Publikationen zu Gesundheitsförderung zitiert wird, gehört das Schweigen und die Verborgenheit zum Kern des Wesens der Gesundheit. »Das Geheimnis der Gesundheit bleibt verborgen. Zur Bewahrung der Gesundheit gehört die Verborgenheit, die im Vergessen besteht.« (Gadamer 1993: 173f.)
2 | Martin Schnell, Lehrstuhlinhaber für Sozialphilosphie und Ethik an der Universität Witten sowie Direktor des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen an der Universität Witten. 3 | Hans-Georg Gadamer (1900-2002), deutscher Philosoph, wurde international bekannt durch sein für die philosophische Hermeneutik grundlegendes Werk ›Wahrheit und Methode‹ (1960). Für Gadamer ist jegliches Verstehen, gleichgültig ob es sich um Texte, Kunst- und Bauwerke oder das Gegenüber in einem Gespräch handelt, an die Sprachlichkeit des Seins vor dem Horizont der Zeit gebunden. Dies setzt beim Interpretieren von Werken Offenheit, das Bewusstmachen der eigenen Vorurteilstruktur sowie die Bereitschaft zum Gespräch bzw. zu reflexivem Auseinandersetzen voraus. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Georg_Gadamer (Stand 3.9.2012).
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Wer gesund ist, ist sich dessen in aller Regel nicht bewusst. Erst wenn ich oder jemand mir Nahestehendes eine Krankheit bekommt oder merkt, dass er oder sie eine Krankheit hat, wird man sich gewahr, dass man vorher gesund war oder sich zumindest gesund fühlte. Im Moment des Krankwerdens verlieren Gesundheit und mit ihr das Alltagsleben ihre Selbstverständlichkeit. »Die Krankheit ist es, was sich aufdrängt, als das Störende, das Gefährliche, mit dem es fertig zu werden gilt.« (Ebd.: 135)
Krankheit bindet einen aus dieser Sichtweise an das Hier und Jetzt, sie kann einem den Blick und den Weg in die Zukunft versperren. Krankheit hindert – so auch Heidegger – daran, die Endlichkeit des Lebens zu vergessen und beraubt uns einer gewissen Unbeschwert- und Selbstvergessenheit (Heidegger 1986 zit.n. Lanzerath 2006: 38). »Gesundheit ist eben überhaupt kein Sich-Fühlen, sondern ist Da-Sein, In-der-WeltSein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig und freudig erfüllt zu sein.« (Gadamer 1993: 144)
In existenziell-anthropologischer Perspektive bedeutet Gesundheit In-Beziehung-Sein zur Welt, zu den Mitmenschen und tätig zu sein. Nach Gadamer tritt Gesundheit in einer Art unbemerktem ›Wohlgefühl‹ zutage, welches uns unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen werden und dabei Strapazen und Anstrengungen in den Hintergrund rücken lässt (ebd.). Gesundheit ist nicht direkt spürbar, sie macht nicht auf sich aufmerksam (ebd.: 198). Symptome, vom griechischen Wort für Zufall, bezeichnen, was auffällt, was sich unserer Wahrnehmung aufdrängt. Gesundheit ist aber eben gerade nicht auffällig, nicht fühlbar, nicht objektivierbar und demnach auch nicht mittels statistischer Normwerte zu erfassen. »Wenn man Gesundheit in Wahrheit nicht messen kann, so eben deswegen, weil sie ein Zustand der inneren Angemessenheit und der Übereinstimmung mit sich selbst ist, die man nicht durch eine andere Kontrolle überbieten kann.« (Gadamer 1993: 138f.)
Deutlich wird hier, dass Gadamer Gesundheit im Sinne eines Gleichgewichtskonzepts versteht. Die eigentliche Aufgabe von ÄrztInnen, so seine Ausführungen, ist demnach kein Herstellen von Gesundheit, kein ›Gesund-Machen‹, sondern vielmehr die Unterstützung bei der Wiederherstellung des Gleichgewichts, des harmonischen Rhythmus der körperlichen und seelischen Funktionen. In Gadamers Begrifflichkeit ist Gesundheit ein psychologisch-moralischer Tatbestand, der in Wechselbeziehung steht zur sozialen und natürlichen Umwelt. Gadamer vertritt somit eine holistische Position, die er von als reduk-
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tionistisch bezeichneten naturwissenschaftlichen Konzeptionen unterscheidet, welche Gesundheit als eine Art ›Naturzustand‹ sehen (vgl. ebd. 1993: 36, 166f.). Fritz Hartmann4 betont noch stärker als Gadamer, dass dieser Gleichgewichtszustand in der Obhut des einzelnen Menschen liegt und damit auch einen Teil seiner Autonomie darstellt. Ein sinnvolles Leben bemisst sich für Hartmann an persönlichen Voraussetzungen und Zielsetzungen. Er geht dabei nicht von einem Zustand absoluter Gesundheit aus, sondern auf der Basis seines jahrzehntelangen Umgangs mit chronisch Rheumakranken von einem »gelingenden bedingten Gesundsein, welches zugleich Ziel des ärztlichen Handelns darstellen muss« (Hartmann 1997 zit.n. Lanzerath 2006: 27). Gesundheit, so die Darstellung Hartmanns (1997a), gehört niemand anderem als einem selbst und äussert sich in innerem Befinden. Daraus lässt sich folgern, dass man in Gesundheitsfragen von sich selbst ausgeht, ja ausgehen muss. Gesundheit bedarf einer internen Evidenz. Eine solchermaßen verstandene, aus phänomenologischer Perspektive definierte Gesundheit mit einer stark subjektiven Komponente entzieht sich einer Messung und Kontrolle von außen. Sie bemisst sich in ihrer »inneren Angemessenheit«, in der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst (Gadamer 1993: 138). Gesundheit stellt, wie dies auch der französische Arzt, Wissenschaftshistoriker und Philosoph Georges Canguilhem5 formuliert, eine »Wahrheit des Körpers« dar, sie ist Ausdruck durchlebten und umsorgten Lebens (Canguilhem 2004 zit.n. Schnell 2006: 347). Georges Canguilhem, Zeitgenosse von Gadamer, stimmt mit diesem überein, dass Gesundheit ein philosophischer Begriff ist, in dem Sinne, als sie sich dem Zugriff von Instrumenten, Protokollen und wissenschaftlichen Messtechniken entzieht. Diese freie und unbedingte Gesundheit bezeichnet Canguilhem als individuelle, private und subjektive. Doch stellt er dieser Begrifflichkeit im Gegensatz zu Gadamer eine öffentliche Gesundheit gegenüber. Diese umfasst ethische und metaphysische Fragen, die auf Vorstellungen von Nützlichkeit, Lebensqualität und Glück zielen, was sich nicht beschränken lässt auf 4 | Fritz Hartmann (1920-2007) studierte Medizin, Psychologie und Philosophie. 1945 promovierte er als Mediziner in Göttingen und wurde 1956 als jüngster Ordinarius nach Marburg berufen. Er war zugleich Arzt, Internist und Rheumatologe und verfolgte in seiner Arbeit den Anspruch auf ethische Reflexion und historische Forschung in der Medizin. Einer seiner Schwerpunkte lag bei Fragen der ärztlichen Anthropologie. Er gilt als einer der Mitbegründer der ›wissenschaftlichen Rheumatologie‹. 5 | Georges Canghuilhem (1904-1995) war Philosoph und Mediziner und ein bedeutender Wissenschaftshistoriker Frankreichs. Nach seiner Habilitation 1955 wurde er anschließend zum Leiter des Instituts für Wissenschaftsgeschichte gewählt. URL: www. diaphanes.ch/titel/schriften-zur-medizin-1690 (Stand: 3.8.2013).
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eine Deutung von Gesundheit als rein innerem Zustand, aber auch nicht auf Public-Health-Verständnisse, die den Gesundheitszustand von Bevölkerungen fokussieren oder epidemiologische Risiken festzuhalten versuchen. Canguilhem kritisiert damit sowohl eine Einschränkung des Gesundheitsbegriffs auf subjektives Empfinden als auch ein rationalistisches, naturwissenschaftliches Verständnis eines messbaren Gesundheitszustandes. In den naturalistischen Modellen der modernen Medizin werde die Gesundheit auf die maschinengleiche Funktionstüchtigkeit des Körpers reduziert. Diese gehöre zwar zum Gesundsein, sei jedoch nur die eine Seite als Gegensatz zur Idee vom Kranksein (vgl. de Almeida Filho 2001). Canguilhem hebt somit eine weitere Facette des Gesundheitsbegriffs hervor, die dem (natur-)wissenschaftlichen Zugriff entzogen ist, auf Normen und nicht auf messbaren Fakten beruht und ebensowenig zu reduzieren ist auf lediglich inneres Sein: Gesundheit verstanden als Fähigkeit zum alltäglichen Lebensvollzug ist nach ihm nicht lediglich ›In-der-Welt-Sein‹, sondern vielmehr tätiges Gestalten. »Was die Gesundheit ausmacht, ist die Möglichkeit, die das augenblicklich Normale definierende Norm zu überschreiten, Verstösse gegen die gewohnheitsmäßige Norm zu überschreiten, Verstösse gegen die gewohnheitsmäßige Norm hinzunehmen und in neuen Situationen neue Normen in Kraft zu setzen.« (Canguilhelm 1943 zit.n. Bergdolt 2011)
Sein Begriff umfasst mehr als subjektive Befindlichkeit, er zielt auf den Grad der Autonomie des Subjekts, auf dessen Kapazität in der Welt tätig zu sein. Gesundheit in diesem Sinne besteht wesentlich darin, sich Ziele zu setzen, sie zu verwirklichen und dabei die Umwelt nach deren Maßgabe zu verändern. Gesundheit lässt sich nicht vom konkreten Lebenszusammenhang abstrahieren – hierin liegt ein Kritikpunkt Canghuilhems am medizinisch einseitigen Blick, der auf eine Verlängerung des Lebens gerichtet ist anstatt auf die Ermöglichung eines tätigen Lebens (Canguilhem 2013). Gesundheit, so Canguilhem, lässt sich nur in der Lebensgeschichte eines Subjekts und dessen Beziehungen zur Umwelt realisieren. Als Folge einer spezifischen Lebensweise impliziert Gesundheit die Fähigkeit, Krankheiten und sozialen Risiken entgegenzutreten. Hierbei schreibt er der Hygiene, einer traditionell medizinischen Disziplin, eine wichtige Rolle zu. Normen beinhaltend und dabei politische Ziele verfolgend greife sie in das Leben der Individuen regulierend ein. Gesundheit, so Canguilhem, ist mehr als nur eine private Wahrheit, sie vermischt sich mit objektiven Prozessen. Damit eröffnet sich ein erfahrungswissenschaftlicher Zugang zu Gesundheit, etwas was in der Konzeption von Gadamer, der Gesundheit als private, unfassbare und subjektive beschreibt, nicht denkbar ist.
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Canguilhem hebt hervor, dass Gesundheit immer in einem Verhältnis zu Krankheit steht, welches er als ein dialektisches beschreibt: »If health is life in the silence of the organs, there is no science of health per se. Health is organic innocence. And it must be lost, like all innocence, in order for knowledge to become possible.« (Canguilhem 1978 zit.n. de Almeida Filho 2001: 764)
So wie Canguilhem den Verlust der Gesundheit als Voraussetzung ansieht, um sich ihr wissenschaftlich annähern zu können, fordert er, dass die Medizin sich nicht nur der Bekämpfung von Krankheiten widmet, sondern auch dem Leben mit ihnen. Noch deutlicher will Friedrich Nietzsche, wohl auch durch eigenes biografisches Erleben veranlasst, den Wert der gemeinhin als negativ gewerteten und gefühlten Krankheit fassen: Er versteht Krankheit als Medium von Erkenntnis und Veränderung. Aus seiner persönlichen Erfahrung mit langjähriger Krankheit und wiederholten langen Phasen des Leidens plädiert er für einen Begriff der Gesundheit, der Krankheit als Bestandteil des Lebens begreift und nicht als ihr Gegenteil. »[…] eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe.« (Nietzsche 2013 [1887]: 127)
Das Leben bedarf für Nietzsche der Krankheit »als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntnis«. So würden Krankheit und Schmerz einen aus den Lebensgewohnheiten herausreißen, zwingen, eine andere Lebensführung einzunehmen und zwangsweise auf einen anderen Standpunkt stellen, der es ermögliche, die eigene Existenz und das Leben als solches mit anderen Augen zu betrachten. Die durch die Überwindung von Krankheit gewonnene oder wiedergewonnene Gesundheit bezeichnet Nietzsche als mit anderem Bewusstsein gefüllte und deshalb »große Gesundheit«. Dabei schreibt er dem Individuum eine hohe Verantwortung zu, sowohl im Umgang mit Krankheit als auch was die Deutung von Gesundheit betrifft. Eine erkenntnisstiftende Funktion von Krankheit erlange das Subjekt nur durch die Distanzierung, welche erst eine Transformation erlaube (Decher 2008). Bei den hier dargestellten philosophischen Betrachtungsweisen handelt es sich um einen unvollständigen Ausschnitt aus philosophischen Diskursen. Die Auswahl fiel auf Autoren, die in der Literatur zu Gesundheitsförderung häufig zitiert werden, also offenbar Deutungen von Gesundheit anbieten, welche anschlussfähig sind an aktuelle Diskurse. Ein gemeinsamer Nenner der
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hier referierten Philosophen besteht am ehesten darin, dass das Wesen der Gesundheit als ein innerer, objektiv nicht fassbarer Zustand verstanden wird. Eine weitere Perspektive, die Canguilhem hinzufügt, betont die aus Gesundheit resultierende Kraft für gestaltendes Sein, welche die Bezogenheit auf die umgebende Welt und gesellschaftliche Komponenten beinhaltet, verbunden mit Vorstellungen der Nützlichkeit, Lebensqualität und des Glücks. Gesundheit ist in diesem Verständnis mehr als ein innerer Zustand, sie hat auch eine öffentliche, gesellschaftliche Seite. Implizit und von einigen Philosophen auch explizit wird Kritik am medizinisch-naturwissenschaftlichen Gesundheitsbegriff geübt. Häufig wird er zum Ausgangspunkt genommen, eine philosophische Definition von Gesundheit zu entwickeln. Gemeinsam ist den hier rezipierten Philosophen, dass sie den Anspruch erheben, die eigentlich unfassbare Gesundheit im Sinne einer »starken Konzeption« (vgl. Brubaker, Cooper 2007) beschreiben zu können. Sie schreiben der Gesundheit eine unermessliche und in ihrer sozialen Dimension auch unbegrenzte Bedeutung zu und versuchen, sie insbesondere als inneren Zustand fassbar zu machen.
3.1.3 Gesundheit als unsichtbare Norm – strukturfunktionalistische Deutung Einer etwas anderen Ausrichtung folgen Theorien und Analysen, welche die Funktionalität von Gesundheit zum Ausgangspunkt nehmen. Bei dieser Betrachtungsweise stehen das Funktionieren von System und Subsystem im Fokus. Aus strukturfunktionalistischer Sicht stellt ›Gesundheit‹ eine Norm dar, die der Einzelne und die Einzelne erfüllen muss, wenn er oder sie innerhalb der Gesellschaft funktionsfähig sein soll. Normen ermöglichen gesellschaftliche Integration; Gesundheit wird diesem Ansatz folgend als das ›Normale‹ definiert, während Kranksein eine Abweichung darstellt. Im Verständnis von Talcott Parsons6 (1951), der von Uta Gerhard 7 (1993: 36) als eigentlicher Begründer der Medizinsoziologie betrachtet wird, ist es 6 | Für Parsons stellen innerhalb seiner Grosstheorie ›The social System‹ (1951) Gesundheit und Krankheit Schlüsselfaktoren sozialen Gleichgewichts dar. Ausgehend davon entwickelte er das Konzept der Krankenrolle. Krankheit und Krankheitsverhalten folgen spezifischen vorgeschriebenen Rollen. In Parsons funktionalem Ansatz wird Krankheit als dysfunktional und auch als abweichendes Verhalten, welches Sanktionen nach sich ziehen kann, gesehen. Patient und Arzt verfolgen das gemeinsame Ziel der Genesung. 7 | Uta Gerhard (geb. 1938), Soziologin und emeritierte Professorin der Universität Heidelberg. Einer ihrer Schwerpunkte lag in der Medizinsoziologie, wo sie sich beispielsweise mit Talcott Parsons Rollentheorie auseinandersetzte und Patientenkarrieren von chronisch Kranken analysierte.
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das Anormale, welches das Normale definiert. In seiner Darstellung stellt Krankheit eine Form abweichenden Verhaltens dar, weil im Fall einer Erkrankung den Rollenerwartungen nicht mehr Genüge getan werden kann. Begrifflich wird Krankheit von Parsons nicht lediglich als eine Funktionsstörung der organischen, sondern insbesondere der sozialen Anpassung gedeutet (1951: 430ff.). Die Krankenrolle, so die Ausführungen Parsons, stellt für den Kranken einen Weg dar, die normalen Rollenanforderungen für die Zeit der Krankheit zu suspendieren. Der Kranke ist damit aber zugleich verpflichtet, sich an der Überwindung der Krankheit zu beteiligen, sich gegebenenfalls ärztlicher Betreuung zu unterziehen und wieder gesund werden zu wollen. Ungleich anderen Formen abweichenden Verhaltens besteht bei der Erkrankung keine Schuld; das Individuum wird hierfür nicht verantwortlich gemacht, sondern ist vielmehr durch die Übernahme der Krankenrolle entlastet (Parsons 1951: 440). Umgekehrt definiert Parsons Gesundheit in strukturfunktionalistischer Manier als »Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist« (ebd. 1951). Gesundheit geht auf im sogenannt normalen Funktionieren. In einer späteren Arbeit unternimmt Parsons einen weiteren Versuch, Gesundheit zu fassen, indem er sie als »a symbolic circulating medium regulating human action and other life processes« (Parsons 1978 zit.n. de Almeida Filho 2001: 768) beschreibt. Wie die Währung habe auch Gesundheit keinen Wert an sich, sondern bekomme diesen erst während des Prozesses des Austauschs. Nach Parsons ist Gesundheit keine Fähigkeit, die im einzelnen Körper zu finden oder zu suchen ist; sie referiert somit nicht auf den individuellen Organismus, sondern ist vielmehr ein Medium in der Interaktion zwischen sozialen Subjekten. »Health ist the teleonomic capacity of an individual living system […] the capacity to cope with disturbances […] that come either from the internal operations of the living system itself or from interaction with one (or) more of its environments.« (Parsons 1978 zit.n. de Almeida Filho 2001: 768)
Gesundheit ist nach Parsons eine zielgerichtete Fähigkeit eines Lebenssystems und somit die Voraussetzung für dessen störungsfreies Funktionieren. Gesundheit zeigt sich indirekt in sozialen Interaktionen und in der sozialen Integriertheit in einem gesellschaftlichen System. Die strukturfunktionalistische Deutung von Gesundheit erfolgt aus einer ganz anderen Perspektive als die vorangehenden philosophischen Ansätze, die das ›Wesen‹ der Gesundheit zu erfassen versuchen. Dabei lassen sich die beiden Perspektiven durchaus verbinden, vielmehr können sie nebeneinander koexistieren. Eine verbindende Perzeption der beiden Perspektiven findet sich
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beispielsweise beim Philosophen Dirk Lanzerath8. Er fügt, im Anschluss an Canguilhelm, den individuumsbezogenen Deutungen der Gesundheits- respektive Krankheitserfahrung eine gesellschaftliche Perspektive hinzu. Das subjektive Erleben steht für ihn in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Funktionieren des gesellschaftlichen Systems. Angelpunkt hierbei ist die Integrationsfunktion von Gesundheit, oder aus der Perspektive des Subjekts des Gesundseins: In dem Moment, in dem wir krank werden, verändert sich durch die Desintegration in Raum und Zeit auch unser Verhältnis zu den anderen. Krankheitserfahrungen können einen isolieren, uns in Distanz zu anderen bringen, es mangelt die Kraft zur Sozialisation (Lanzerath 2008: 206).
3.1.4 Gesundheit als gesellschaftlich geprägte Vorstellung – historische und kultursoziologische Ansätze Die oben dargestellten Debatten kreisen um die Beschreibung des Wesens von Gesundheit – dabei die jeweilige Sichtweise der Philosophen abbildend – oder um die Beschreibung der Bedeutung von Gesundheit für das Funktionieren des gesellschaftlichen Systems. Historische und kultursoziologische Ansätze rekonstruieren, was die Menschen in spezifischen Kontexten unter Gesundheit verstehen. Gesundheit wird dabei als gesellschaftlich vermittelt betrachtet, womit der Anspruch auf eine einzige Definition derselben hinfällig wird. »Die Wahrnehmung von Krankheit und Körper ist stets zutiefst gesellschaftlich, kulturell geprägt. Selbst scheinbar elementare körperliche Phänomene wie Schmerz, Lust oder das Bewusstsein der eigenen körperlichen Grenzen sind, das zeigen soziologische und kulturanthropologische Untersuchungen, hochgradig kulturell überformt – ganz zu schweigen von den jeweiligen Körpermodellen und der Deutung komplexerer Krankheitserscheinungen.« (Stolberg 9 2003: 29)
Was Stolberg in Bezug auf Krankheit und Körperwahrnehmung beschreibt, gilt auch für den Gesundheitszustand: Jegliche Wahrnehmung ist »überformt« – sprich kulturell geprägt. Diese Überformungen zu erfassen, steht im Zentrum 8 | Dirk Lanzerath (geb. 1966), studierte Biologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften, ist promovierter Philosoph (PD Dr. phil.) und seit 2002 Geschäftsführer des Deutschen Referenzzentrums für Ethik und Biowissenschaften der Universität Bonn. 9 | Michael Stolberg (geb. 1957), war als promovierter Mediziner während zwei Jahren als Arzt tätig; anschließend Geschichtsstudium und 1992 Habilitation und Ernennung zum Privatdozenten für Geschichte der Medizin und Medizinische Soziologie an der TU München. Es folgt eine Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit zur Geschichte von Luftverschmutzung und Umweltkonflikten in der europäischen Frühindustrialisierung. Heute ist er Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg.
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des Bestrebens historischer wie auch soziologischer Forschungen. Ihr Ziel ist es nicht, das Wesen von Gesundheit an sich zu erfassen, sondern unterschiedliche Konzepte, Vorstellungen als auch normative Idealbilder von mit ›Gesundheit‹ assoziierten Zuständen zu charakterisieren, allenfalls zu kategorisieren und Veränderungen in den Gesundheitsvorstellungen darzustellen. Hierbei ist, im Anschluss an die Unterscheidung von Canguilhem eines privaten und eines wissenschaftlich-öffentlichen Gesundheitsverständnisses, eine Unterteilung von besonderer Relevanz: Es ist wesentlich, ob es sich um Laienvorstellungen oder ExpertInnendefinitionen handelt, und im Falle der letzteren, aus welchen Disziplinen diese ExpertInnen stammen und auf welche wissenschaftlichen Hintergründe und Wissensbestände sie sich beziehen. Im kultursoziologischen Verständnis existieren Konzepte von Gesundheit sowohl auf der Ebene des Alltagswissens, welches durch mediale und öffentliche Diskurse beeinflusst ist, als auch im Anschluss an professionelle Handlungskonzepte und Wissensbestände, die wiederum einen Einfluss auf Alltagsvorstellungen haben können. Eine Reihe verschiedener Untersuchungen hat den Effekt unterschiedlicher kultureller Hintergründe, den Einfluss spezifischer Diskurse sowie den historischen Wandel von Gesundheitsvorstellungen zum Gegenstand (vgl. Schaefer 1992; Faltermaier et al. 1998; Flick 1991, 1998, 2002; Herzlich, Pierret 1991; Crawford 2001). So haben beispielsweise Faltermaier, Kühnlein und BurdaViering (1998) subjektive Theorien von Gesundheit im Alltag zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht.10 Zwei Deutungen, innerhalb derer Gesundheit zu erfassen versucht wird, stellten sich als dominant heraus: Erstens ist es Gesundheit als ›Ressource‹, welche die Fähigkeit beschreibt, Krankheitserreger bekämpfen zu können, also nicht daran zu erkranken (vgl. Faltermeier; Kühnlein 2000). Dabei können wiederum drei Arten idealtypischer Vorstellungen – die Autoren sprechen von Modellvorstellungen – unterschieden werden, mittels derer der Krankheit zu trotzen versucht wird: eine sich im Verlauf des Lebens erschöpfende Ressource, eine regenerierbare und auch eine sich steigernde Ressource. Der zweite Laienbegriff, mit dem Gesundheit positiv zu fassen versucht wird, ist derjenige der ›Balance‹. Gesundheit wird als Gleichgewicht auf körperlicher und seelischer Ebene verstanden, ein Zustand, der nur momentweise erreicht werden kann, vergleichbar mit Glückszuständen. Hier sind die Ausformulierungen relativ vage und lassen sich lediglich subjektiv bestimmen. 10 | Als Ausgangspunkt ihrer Forschung steht die Feststellung, dass ein großer Teil der Aufrechterhaltung von Gesundheit wie auch der Krankenpflege von Laien im Alltag erfolgt und nicht innerhalb professioneller Versorgungssysteme. Zwei Drittel bis drei Viertel aller Gesundheitsprobleme werden innerhalb eines »Laiengesundheitssystems« behandelt, wobei der Anteil Frauen deutlich höher liegt. Diesen Laien, ihren Gesundheitsvorstellungen und ihren Praktiken gilt die Aufmerksamkeit ihrer Studie (Faltermaier et al. 1998: 14f.) (vgl. Theorien der Care-Arbeit).
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Dass das subjektive Gesundheitsverständnis mit dem gesellschaftlichen Kontext in gegenseitiger Wechselwirkung steht, zeigt sich bei Claudine Herzlich und Janine Pierret (Herzlich, Pierret 1991) in ihrer Untersuchung unterschiedlicher sozialer Repräsentationen von Krankheit. Aus Interviews zum Alltagsverständnis von Gesundheit konnten sie zentrale Vorstellungen von Gesundheit rekonstruieren, die in nachfolgenden Studien bestätigt und teilweise um weitere Dimensionen ergänzt wurden. Zusätzlich zu den bereits von Faltermaier und Kühnlein (2000) rekonstruierten Vorstellungen von Gesundheit als Ressource – oder wie Herzlich beschreibt: einem Reservoir im Sinne eines organisch-biologischen Charakteristikums des Individuums, welches sich in körperlicher Robustheit, Stärke und Widerstandspotenzial manifestiert – sowie zum Verständnis von Gesundheit als Gleichgewichtszustand im Sinne von Wohlbefinden, zeigt die Untersuchung einen dritten Typus auf: Es ist die Vorstellung von Gesundheit als einem Vakuum, als einem positiv nicht bestimmbaren Zustand, der als Abwesenheit von Krankheit beschrieben wird. Diese drei Deutungen von Gesundheit unterscheiden sich auch durch die Konzeptionalisierungen des eigenen Einflusses auf sie. Gesundheit ist, der Argumentation von Herzlich folgend, an sich absolut nicht bestimmbar; sie zeigt sich indirekt in unterschiedlichen Modi, die Welt zu sehen und in Beziehung zu ihr zu treten – als eine Frage des Umgangs mit Ressourcen, als Akt der Balance oder als positiv nicht bestimmbarer Zustand des Nicht-Krankseins respektive des Sich-nicht-krank-Fühlens. Dass individuelle Gesundheitsvorstellungen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zur Welt stehen – darauf weist eine weitere vielzitierte Studie von Blaxter (2001) hin, in welcher Gesundheitsvorstellungen rekonstruiert werden. Mittels offener Fragen macht sie in den Antworten vier Hauptkategorien der Unterscheidung von Gesundheitskonzepten ausfindig: Nicht-Fitsein vs. Fitness, Krankheit und Behinderung vs. Freisein von Krankheit, Krankheitserfahrungen vs. keine Krankheitserfahrungen sowie psychosoziale Probleme vs. Wohlbefinden. Von Bedeutung ist, dies die Erkenntnis von Blaxter, dass für die meisten Befragten Gesundheit nicht ein zwei-dimensionales, sondern vielmehr ein mehrdimensionales Konzept darstellt. Relevant sind funktionale Konsequenzen von Gesund- oder Kranksein, wobei sich gesundheitliches Wohlbefinden und moderate Beschwerden nicht ausschließen. Ebenso wurde deutlich, dass in vielen Alltagsvorstellungen von Gesundheit Anteile professioneller Konzepte enthalten sind (Blaxter 2001, Blaxter 1990 zit.n. Gawatz, Novak 1993: 25). Und nicht zuletzt zeigen sich den Antwortmustern aus der Untersuchung von Blaxter Korrelationen mit sozio-kulturellen Parametern der Befragten. Die Abhängigkeit der Gesundheitsvorstellungen von sozialstrukturellen Merkmalen ist denn auch Gegenstand zahlreicher weiterer Untersuchungen, in denen versucht wird, differenzierende Muster sowie Ursachen der Unter-
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schiede zu finden. So haben beispielsweise Forschende in Frankreich um den Medizinsoziologen und ursprünglichen Philosophen Alphonse d’Houtaud (d’Houtaud, Guéguen 1989 zit.n. Noack 1993: 23) eine Vielzahl von Gesundheitskategorien auf Häufigkeitsmuster und Korrelationen zur sozialen Lage hin untersucht (d’Houtaud, Field 1984). Die abgefragten Gesundheitskategorien sind sehr vielschichtig und umfassen Rubriken wie hedonistische Lebenseinstellung, Gleichgewicht, positives Körpergefühl, Vitalität, psychisches Wohlbefinden, (gesunde) Lebensweise, Hygiene, Gesundheit als Wert, Prävention, körperliche Fähigkeiten. Die Häufigkeitsmuster sind, wie zu erwarten war, sozialschichtabhängig: Tendenziell individuelle Normen sind in der Gruppe der Angestellten häufiger vertreten, ArbeiterInnen und ältere Personen hingegen reflektieren häufiger kollektive Normen. Gesundheitskonzepte, dies ein vielfach bestätigter Befund, stehen im Zusammenhang mit sozialen Rollen und Leistungsanforderungen, ebenso spielen Bildung und Lebensbedingungen eine Rolle. Sozialschichtunterschiede, aber auch Alters- und Geschlechtsunterschiede erweisen sich als signifikant, was in anderen Studien ebenfalls nachgewiesen werden konnte (Stacey 1989 zit.n. Noack 1993: 24). So zeigt beispielsweise Uwe Flick, der Gesundheitsvorstellungen als soziales Wissen und als soziale Repräsentation versteht, in seiner Studie zu Alltagsvorstellungen von Gesundheit auf, »dass Alltagswissen (z.B. über Gesundheit und Krankheit) unterschiedlich in der Gesellschaft verteilt ist und von der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen bestimmt wird« (Flick 2002: 300). Gesundheits- und Körperwerte haben zwar gesamtgesellschaftlichen Aufforderungscharakter, doch werden sie in unterschiedlichen sozialen Lagen unterschiedlich internalisiert und führen demnach zu unterschiedlichen Handlungsmustern. Einen ganz anderen Ansatz, Gesundheit auf einer aggregierten Ebene auf die Spur zu kommen, verfolgt Alfons Labisch (1992) in seinen medizinhistorischen Untersuchungen, in denen er Gesundheit und Krankheit als kulturspezifische Konstruktionen versteht und diese zu rekonstruieren versucht. Mit Gesundheit und Krankheit als »kulturelle Vorstellungen« beschreibt er für eine jeweilige Kultur spezifische Vorstellungen, die geteilt werden. Sie haben in seiner Darstellung einen gemeinsamen Kern, der für die gesamte Kultur und ihre Mitglieder als typisch gilt. Diese Vorstellung impliziert, dass in anderen Kulturen auch andere Gesundheitsvorstellungen dominant vorhanden sein können. Die von Labisch angenommene kulturelle Prägung ›einer‹ Gesundheitsvorstellung innerhalb ›einer Kultur‹ hat verallgemeinernde und essentialistische Aspekte, stehen doch einer solchen Konsistenz schon nur die Unterschiede innerhalb der Sozialstruktur eines kulturellen Raums entgegen und wird die Koexistenz verschiedener Subkulturen vernachlässigt (vgl. Flick 2002: 297f.). In einer historischen Analyse versucht Labisch ein seit der Antike kulturell-epochal dominantes Deutungsmuster von Gesundheit zu rekonstruieren.
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Fazit seiner Analyse ist, dass Gesundheit und Krankheit sich auf aktuelle Konzepte und Vorstellungen eines »biologischen Körpers« beziehen, dabei jedoch insgesamt den Charakter von »Worthülsen« haben, die sich aus vorgegebenen Blickrichtungen jeweils neu füllen (Labisch 1992: 17). Die Gemeinsamkeit der Gesundheitsbegriffe von der Antike bis heute liegt gemäß seiner Analyse lediglich darin, dass sie je Bezug nehmen auf ein spezifisches normatives Regelwerk. In diesem Regelwerk werden der »normale Körper«, d.h. kulturelle Vorstellungen davon, in die Sinn- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft eingeordnet. Ein Befund von Labisch ist dahingehend, dass mit dem Gesundheits- wie auch mit dem Krankheitsbegriff immer normative Urteile verbunden sind. Dietrich von Engelhardt11 (2004: 24) spricht im Anschluss an Labisch von der »Geschichte einer Idee«. Diese Idee des Gesundheitsbegriffs stehe im Zusammenhang mit dem medizinischen Handeln, mit sozialkulturellen Werten, sie sei aber auch abhängig von der Gesundheitspolitik, beeinflusst von der Gesundheitserziehung in einer spezifischen Epoche in einem spezifischen geografischen Raum, und je in individueller Weise verbunden mit dem Leben eines jeden Menschen (von Engelhardt 2004: 24). Sowohl von ärztlichen Fachpersonen als auch vom einzelnen Menschen oder der Gesellschaft als Ganzer werden mittels Gesundheitsvorstellungen implizit Urteile gefällt über physische, psychische, soziale oder geistige Erscheinungen. Der im deutschsprachigen Raum innerhalb von Public Health gewichtige Akteur Gerd Göckenjan12 kommt zum Schluss, dass sämtliche bisherigen Definitionsversuche unbefriedigend sind. Er verweist auf die Unmöglichkeit, »ein allgemeines Substrat von Gesundheit zu finden« (ebd. 1991: 18). Implizit legt er damit den Bedarf, Anspruch oder auch Wunsch einer allgemeinen Definition von Gesundheit offen. Sein Vorschlag ist es, mittels einer Historisierung von Gesundheitsbegriffen zu »untersuchen, in welchen sozialen, politischen, psycho-physischen Diskursen Gesundheit als Wert, als Ziel, als Legitimation usw. fungiert« (ebd.: 18). Gesundheit ›an sich‹ geht nach seinem Verständnis »in historischen Deutungsreihen und Folgen von Politikzielen« auf (ebd.: 18). Wird Gesundheit als zu rekonstruierendes soziales Konstrukt verstanden, so geraten immer gleich andere Konzepte in den Fokus: Körpervorstellungen, 11 | Dietrich von Engelhardt (geb. 1941), Philosoph, Wissenschafts- und Medizinhistoriker, war bis 2007 Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität Lübeck. 2008-2011 war er kommiss. Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der TU München. Seit 2009 ist er Dozent der Asklepios Medical School Budapest/Hamburg. 12 | Gerd Göckenjan (geb. 1946), Dr. der Staatswissenschaften, ist Professor i.R. für Gesundheitspolitik an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie und Poltik des Gesundheitswesens, Medizinsoziologie, Geschichte der Medizin und des Gesundheitswesens, Diskursgeschichte des Alters.
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Ideale der Lebensführung, Werthaltungen, gesellschaftliche Normen, Politikziele, soziale Ungleichheiten wie auch indirekt Ökonomisierungsprozesse. Diese normativen Hintergrundkonzepte herausarbeiten und verorten zu können, ist denn auch das zentrale Anliegen in der in dieser Untersuchung später folgenden Analyse der Deutungen des Verständnisses von Gesundheitsförderung an Schulen von Lehrpersonen.
3.1.5 Gesundheit in der soziologischen Ungleichheitsforschung und in der Sozialberichterstattung Gesundheit, sowohl der Zustand als auch die Vorstellung davon, steht in Zusammenhang mit der ›Position im sozialen Raum‹ und somit mit sozialen Ungleichheiten. Dies wird zum einen in den oben referierten Studien deutlich, welche Gesundheitsvorstellungen rekonstruieren: Die Deutungen von Gesundheit werden beeinflusst durch Gender- und Schichtzugehörigkeit. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit, wobei der Körper als Bedeutungsträger fungiert, sondern auch in Bezug auf subjektive Leibes- und Leidenserfahrung (vgl. u.a. Franck 2007: 22; Hradil 2006; Richter, Hurrelmann 2006; sowie bezüglich Gender: Burzan 2004; Cyba 2000). Zum andern weisen sozialstatistische Daten darauf hin, dass soziale Ungleichheiten auch mit der Entstehung und der Häufigkeit des Auftretens von Krankheiten korrelieren. Die Zugehörigkeit zu einer niederen Sozialschicht bildet in modernen Gesellschaften bis heute den stärksten Risikofaktor für Erkrankung und auch für Mortalität. Diese Zusammenhänge sind durch sozialwissenschaftliche Forschungen ebenso belegt, wie sie durch staatliche Datenerhebungen bestätigt werden (Siegrist 2002: 65). So weisen die vom Bundesamt für Statistik erhobenen Daten zur Gesundheit der Schweizer Bevölkerung ebenfalls einen eindeutigen Zusammenhang von Gesundheitsproblemen mit sozio-ökonomischen Positionen auf.13 Eine Zunahme von Übergewicht und Diabetes, als aktuelles Beispiel, ist zwar in allen Gesellschaftsschichten vorzufinden, jedoch sind Personen mit nur ob13 | Diese Gesundheitsbefragung wird seit 1992 alle fünf Jahre durchgeführt. Dies geschieht mittels telefonischen Interviews und schriftlichen Fragebogen. Die Erhebung liefert, so die einleitenden Worte im Bericht, »wichtige Informationen zum Gesundheitszustand der Bevölkerung, zum Gesundheitsverhalten sowie der Inanspruchnahme der Gesundheitsdienste« (BFS 2013). Dem Gesundheitsbericht liegt, so wird ebenfalls einleitend festgehalten, ein »ganzheitliches und dynamisches Gesundheitsmodell zugrunde«, welches auf dem Gesundheitsbegriff der WHO basiert (BFS 2013: 4). Auf der Basis von Selbsteinschätzungen der Befragten werden der Gesundheitszustand und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen erhoben und in einen Zusammenhang gesetzt mit sozio-demografischen Angaben.
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ligatorischem Schulabschluss deutlich stärker davon betroffen (BFS 2013: 8). Dasselbe gilt für die Belastung durch langandauernde Gesundheitsprobleme: Auch davon sind Personen mit einer höheren Ausbildung deutlich weniger betroffen (BFS 2013: 6). Um den Nachweis eines Zusammenhangs von Gesundheit und Ungleichheit zu erbringen, ist eine ›Operationalisierung‹ von Gesundheit notwendig, die immer wieder Anlass zu Kontroversen gibt oder geben könnte. Der Komplexität der Zusammenhänge kann in den Gesundheitsberichterstattungen nicht Rechnung getragen werden. So wird beispielsweise in aktuellen Erhebungen zum Thema Übergewicht und Adipositas das Maß für Übergewicht, der sogenannte Body Maß Index BMI14, verwendet, der kontrovers diskutiert wird. Zugleich fand der BMI Eingang in den Alltagsdiskurs über Ernährung und Körpergewicht. Die in den Gesundheitsberichterstattungen enthaltenen Kausalitäten geben ebenso Anlass zu Kontroversen: Dies geschieht etwa, wenn diagnostizierte Krankheiten wie Diabetes ungebrochen in einen kausalen Zusammenhang zu sogenanntem Risikoverhalten wie Rauchen oder Alkoholkonsum gestellt werden. Aktuelle kritische Diskussionen linearer, kausaler Argumentationsketten und problematischer Operationalisierungen von komplexen Konzepten wie demjenigen der Gesundheit (vgl. beispielsweise Rexford, Mitchell 2013; Becker 2013, 2014; Schmidt-Semisch, Schorb 2008), können in den Gesundheitsberichten nicht angemessen abgebildet werden. Politiknahe Sozialberichte nehmen die Kategorie ›soziale Ungleichheit‹ in ihr Befragungsdesign zwar auf, können jedoch der Komplexität der sozialwissenschaftlichen Konzepte und Forschungsbefunde nicht gerecht werden. Am Beispiel der gut dokumentierten Entwicklungen und Debatten um soziale Ungleichheiten in Bezug auf Gesundheit in England ist ersichtlich, wie die Kategorie ›soziale Ungleichheit‹ Eingang in Gesundheitsberichterstattungen gefunden hat, welche Schwierigkeiten damit einhergingen und vor allem welche sozialpolitischen Maßnahmen daraufhin ergriffen wurden: Diese gipfeln nicht nur einseitig in politisch gefärbten Aufforderungen zu individuellem gesundheitsbewusstem Verhalten, sondern es werden dabei gesundheitsbezogene Normen relativ unhinterfragt reproduziert.
14 | Das Bundesamt für Gesundheit wie auch die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz unterlegen ihrer Forderung nach mehr Prävention Berichte, in welchen sie auf der Basis des BMI eine Zunahme von übergewichtigen Schulkindern konstatieren. Übergewichtige, so ihre Argumentation, würden der Schweiz hohe finanzielle Kosten verursachen, insbesondere durch die vermeintlichen Folgeerkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck und durch indirekte Folgekosten aufgrund von Arbeitsausfällen oder vorzeitigen Todesfällen. Diese gängige Argumentationskette ist hypothetisch und empirisch nicht gesichert, nicht sicherbar.
3. Gesundheitskonzepte in wissenschaf tlichen und in politischen Diskursen
E xkurs: Sozialberichterstattungen und sozialpolitische Maßnahmen z.B. in England Eine der am häufigsten zitierten empirischen Untersuchungen zu sozialen Ungleichheiten im Bereich Gesundheit ist der »Black Report«, der 1980 in Grossbritannien im Auftrag des »Department of Health and Social Security« veröffentlicht wurde, benannt nach Sir Douglas Black, dem Präsidenten des Royal College of Physicians (Sir Douglas Black 2001). Der Bericht zeigt überdeutlich, dass die Chance, gesund zu sein, respektive das Risiko, krank zu werden, sozial ungleich verteilt auftreten. Unter Beizug der seit 1948 vom National Health Service jährlich erstellten Gesundheitsberichte macht der »Black Report« nochmals sehr deutlich, dass sich die Ungleichheiten stetig erhöht haben. Ursachen, so die Analysen, seien nicht im Gesundheitswesen zu suchen, sondern bei den großen sozialen Unterschieden, welche Gesundheit beeinflussen würden. Einkommen, Bildung, Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit wie auch physisch belastende und prekäre Arbeitsverhältnisse werden als verursachende Faktoren gesundheitlicher Ungleichheiten benannt. Die im Bericht empfohlenen Strategien sind denn auch in erster Linie sozialpolitischer Art, ausgerichtet auf den Abbau sozialer Ungleichheiten. Der Bericht wurde, kaum war er veröffentlicht, vom »Secretary of State for Social Services« beschlagnahmt, bevor er einer großen LeserInnenschaft zugänglich gemacht werden konnte. Diese politische Reaktion – nicht die Bekämpfung der Ungleichheiten betreffend, sondern die Veröffentlichung und Politisierung des Befunds – hat dem »Black Report« ungewollt zu ›Prominenz‹ verholfen (Purdy, Banks 2001, vgl. auch Bartley et al. 1998; Gray 1982). Vorläuferstudien, die ebenfalls auf den Zusammenhang von Gesundheit und sozialen Ungleichheiten verwiesen, gab es zwar, sie erlangten jedoch nicht dieselbe öffentliche Bedeutung. So wurde die »Whitehall Study«, welche 1967 die Gesundheit von Staatsbeamten untersuchte, kaum rezipiert, obwohl in dieser Studie ebenfalls ein deutlicher Zusammenhang zwischen Gesundheit, dem Auftreten von Krankheiten und sozio-ökonomischen Ungleichheiten nachgewiesen wird. Die Studie war nicht auf den Nachweis sozialer Ungleichheiten angelegt, sondern sollte individuelle Risiken für Herz-Kreislauferkrankungen, Atemwegserkrankungen und Diabetes aufzeigen. Michael Marmot15, dessen Name bis heute für den Kampf um gesundheitliche Chancengerechtigkeit steht, wurde 1985 vom »British National Health 15 | Michael Marmot (geb. 1945), Research Professor of Epidemiology and Public Health am University College London (UCL), leitet seit über 30 Jahren eine Forschungsgruppe im Bereich gesundheitlicher Ungleichheiten. Er wurde 2000 von der Königin zum ›Sir‹ geadelt für seine Leistungen im Bereich Epidemiologie und gesundheitlicher Ungleichheiten. Aktuell ist er Leiter des International Institute for Society and Health am UCL, Vorsitzender der von der WHO 2005 eingerichteten Commission on Social
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Service« eine Nachfolgestudie in Auftrag gegeben, in der ebenfalls Beamte und neu auch Beamtinnen befragt wurden. In der Studie »Whitehall II« sollten unter anderem die Zusammenhänge zwischen sozialem Status und Gesundheit weiter erforscht werden. Befunde aus dem »Black Report« und der »Whitehall Study I« werden weitgehend bestätigt und Zusammenhänge noch präziser erfasst. So wird beispielsweise eine Korrelation zwischen einem geringen Grad an Arbeitsplatzsicherheit und von fehlenden Gestaltungsmöglichkeiten in der Arbeit mit Erkrankungshäufigkeiten festgestellt (vgl. Marmot et al. 1991; 2005). Auch der nachfolgende »Acheson Report« – »Independent Inquiry into Inequalities in Health Report«, 1988 von Donald Acheson veröffentlicht – konsolidiert die bisherigen Befunde. Er zeigt, dass gesundheitliche Ungleichheiten im Zusammenhang stehen mit sozialer Schichtzugehörigkeit (social class). Ein Rückgang der Mortalitätsraten ist vor allem in den oberen Schichten zu beobachten. Auch dieser Bericht endet mit Strategieempfehlungen vor allem sozialpolitischer Natur. Elemente des Berichts fließen mit einiger zeitlicher Verzögerung in das Regierungspapier »Our Healthier Nation: a contract for health« von 1998 ein sowie in das nachfolgende »White paper«: »Saving Lives: Our Healthier Nation«. Kern der Maßnahmen der anschließenden Gesundheitsförderungsprogramme ist jedoch die Aufforderung an die Individuen, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen und einen gesünderen Lebensstil zu verfolgen. Schon deutlich weniger prominent und dezidiert werden lokale Organisationen zum Handeln aufgefordert, am wenigsten deutlich wird vom Staat verlangt, gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen zu fördern (vgl. Purdy, Banks 2001). Dementsprechend bekunden beispielsweise Fulop und Hunter (1999) ihre Enttäuschung: »Although expected, the absence of a target to reduce health inequalities is nevertheless disappointing. One of the aims of the strategy is to ›reduce the health gap‹, but the government argues that ›many of the underlying causes will take a generation or more to work through‹.« (Fulop, Hunter 1999: 140)
Am Beispiel der Debatten um die Sozialberichterstattungen in Grossbritannien kann exemplarisch aufgezeigt werden, wie die wiederholten eindeutigen Befunde zum Einfluss sozialer Ungleichheiten auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung keine Wirkung erzielen, wenn es darum geht, entsprechende sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen.
Determinants of Health, der Department of Health Scientific Reference Group sowie des Food, Nutrition and the Prevention of Cancer Report der WCRF/AICR. URL: www.ucl. ac.uk/epidemiology/people/marmotmg.htm (Stand: 26.3.2013).
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In einer Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen zu sozialen Ungleichheitsverhältnissen im Gesundheitsbereich besteht bezüglich normativen Grundlegungen eine grössere analytische Distanz und Sensibilität, als dies in Gesundheitsberichten möglich ist. Dabei kommt die Komplexität des Verhältnisses von Gesundheit und sozialen Ungleichheiten zum Ausdruck und weist auf Widersprüche hin, die in gesundheitsfördernden Programmen mit Titeln wie »Gesundheit für alle« unsichtbar bleiben. So zeigen beispielsweise Untersuchungen zum Verhältnis zwischen sozialer Schicht und Gesundheit respektive Krankheitsrisiken, dass der aktuelle Gesundheitsimperativ einen »Mittelschichtsbias« aufweist. Beim aktuell geforderten Umgang mit Gesundheit und Körper sind Leistungs- und Eigenverantwortungswerte als klassische Mittelschichtswerte gefordert, die in unteren Schichten nicht unbedingt auf Gesundheit bezogen werden (vgl. Kohn 1981; Bertram 1981). Sogar wenn Maximen wie ›Sport ist gesund‹, ›Rauchen ist schädlich‹ auf der kognitiven Ebene von breiten Bevölkerungskreisen geteilt werden, zeigen sie auf der Handlungsebene unterschiedliche Konsequenzen (Lamprecht, Stamm 1999: 66). Die Chancen und Ressourcen, gesetzte Ziele zu verfolgen, sind je nach sozialer Lage unterschiedlich, die Arbeits- und Lebensbedingungen gehen mit unterschiedlichen Belastungen und Risiken einher (vgl. Hradil 1987; Abel et al. 2007; Mielck 2005; Mielck et al. 1994; Noack 1993). Rosenbrock16 bezeichnet als »soziales Dilemma« (ebd. 2001: 757; vgl. auch Kühn 1999: 207), dass genau diejenigen Gruppen und Schichten der Bevölkerung, die das grösste Risiko tragen, zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, zugleich über die geringsten Möglichkeiten der Kontrolle ihrer Lebensumstände und der Selbsthilfe im wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Sinn verfügen. Das Verhältnis zum eigenen Körper und damit auch zur Gesundheit ist nicht einfach durch gesundheitsfördernde Programme beeinflussbar; darauf weisen verschiedene im Anschluss an Bourdieu gemachte Studien, welche Klassenlagen als prägend für Gesundheitsverhalten und -einstellungen eruieren. Bourdieu bezeichnet das Verhältnis zum Körper in den unteren Klassen als »instrumentelles«, wohingegen die mittleren Klassen über einen Körper- und Gesundheitskult verfügen, der »nicht selten mit einem übersteigerten Asketismus der Nüchternheit und Diätstrenge« gekennzeichnet ist (Bourdieu 1993: 16 | Rolf Rosenbrock (geb. 1945), Dr. rer. pol. der Volkswirtschaftslehre/Politische Ökonomie der Universität Bremen, hat 1996 habilitiert in Sozialwissenschaften/Gesundheitspolitik an der Universität Bremen und ist Leiter der Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Er hat zudem eine Lehrbefugnis als Professor an der Berlin School of Public Health in der Charité Universitätsmedizin der Humboldt-Universität Berlin. Bis 2012 war er Leiter der Forschungsgruppe ›Public Health‹ im Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) Berlin.
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340). Die oberen Klassen suchen nach exklusiven Orten, an denen sie Sport treiben und ihre Gesundheit pflegen. Ihre Praxis entspricht dem, was allgemein unter gesundheitsförderlichem Verhalten verstanden, gesellschaftlich gefordert und habituell auf die nächste Generation vererbt wird. Lamprecht und Stamm (1999: 77) weisen für die Schweiz nach, dass insbesondere das Bildungsniveau der Eltern, welches zur Entwicklung unterschiedlicher gesundheitsspezifischer Wahrnehmungs- und Perzeptionsmuster beiträgt, die Bewertung von sogenannten gesunden und ungesunden Praktiken maßgeblich prägt. Demnach erstaunt es nicht, dass in der Schweizerischen Gesundheitsbefragung Personen mit einer höheren Bildung ihre Gesundheit nicht nur häufiger als gut oder sehr gut bezeichnen, sondern dieser auch einen höheren Stellenwert einräumen als Personen mit einem tieferen Bildungsabschluss. Im Vergleich zum Bildungsniveau sind Zusammenhänge mit dem Einkommen weniger stark und konsistent (BFS 2010, 2013; Mielck 1994; 2005). Werden diese Befunde bezüglich ungleich verteilter Gesundheitschancen in Verbindung gebracht mit der von Bourdieu und Passeron (1971) auf die Formel »Reproduktion sozialer Ungleichheiten« (vgl. auch Bourdieu 1983, 1993) gebrachte Funktion des Bildungssystems, dann stehen die Vorzeichen des Auftrags ›Gesundheitsförderung an Schulen‹ in Bezug auf Schulkinder aus sozial niedrigen Schichten mehr als ungünstig (vgl. auch Lamprecht, Stamm 2008). Dennoch wird Gesundheitsförderung und dabei die Förderung von Kindern aus unteren sozialen Schichten in einem kompensatorischen, auf Chancengleichheit ausgerichteten Sinne legitimiert. Diese Herausforderung oder Problematik wird im Kapitel 5 zur schulische Gesundheitsförderung nochmals vertieft aufgegriffen. In der tendenziell gesellschaftskritischen Perspektive der sich teilweise auch in der Sozialberichterstattung niederschlagenden soziologischen Ungleichheitsforschung erscheint Gesundheit als gesellschaftliches, erstrebenswertes Gut, welches ungleich verteilt ist. Dem Nachweis von Zusammenhängen unterliegt nicht nur eine problematische Operationalisierung von Konzepten sozialer Schichtung, d.h. eine Festlegung von Indikatoren sozialer Ungleichheiten, sondern auch der Anspruch, ›Gesundheit‹ messbar zu machen. Basiert das Gesundheitsverständnis auf dem Bourdieu’schen Habituskonzept, dann sind bei einer Operationalisierung Verkürzungen nicht zu vermeiden. Werden die Wahrnehmung und Bewertung von gesundheitlichen Belangen und Körperkonzepten bis hin zu gesundheitsbezogenen Handlungsmustern als sozial vermittelt verstanden, ist nachvollziehbar, dass einfache, auf das Individuum zielende Aktivierungsmaßnahmen und Handlungsanleitungen zu kurz greifen (müssen). In der Konsequenz dieses Konzepts müssten Maßnahmen vielmehr vorwiegend politisch ausgerichtet sein, auf der strukturellen Ebene ansetzen und das Ziel des Abbaus sozialer Ungleichheiten verfolgen. Ein hinsichtlich sozialer Ungleichheiten sensibles Gesundheitsverständnis führt zur Wahrnehmung gesellschaftlich vermittelter unterschiedlicher
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Wertungen und Wahrnehmungsmuster, die sich auf das Gesundheitshandeln, aber auch auf Körperkonzepte beziehen. In der Auseinandersetzung mit soziologischen Ungleichheitstheorien wird somit deutlich, dass der in demokratischen Gesellschaften geltende Anspruch auf gleiche Gesundheitschancen nicht eingelöst wird. Dies weisen auch die nationalen Gesundheitsberichte jährlich nach. Damit erhalten Gesundheit und insbesondere Gesundheitsförderung eine machtkritische, sozialpolitisch bedeutsame Note.
3.1.6 Fazit: Die Schwierigkeit, Gesundheit fassen zu wollen Gesundheit begrifflich fassen zu wollen, ist ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Unterfangen. Nicht nur unterscheiden sich die Definitionen je nach Disziplin, auch innerhalb der Fachrichtungen bestehen kontroverse Deutungen. Die vorangehende Darstellung gewährt einen unvollständigen Einblick in unterschiedliche Diskussionen. Sie verdeutlicht vor allem den Eindruck einer vielfältigen Auffächerung in unterschiedliche Ansätze und Perspektiven. Die Art und Weise, wie der Begriff Gesundheit theoretisch zu fassen versucht wird, ist abhängig vom Kontext seiner Verwendung, von der theoretischen Tradition und dem Blickwinkel. So fokussieren rekonstruktive Zugänge eine historische oder sozialstrukturelle Verortung unterschiedlicher Gesundheitsverständnisse und sie machen auch den Wandel von Konzeptionen und Deutungen sichtbar. Strukturfunktionalistische Sichtweisen hingegen gehen von einem »starken Konzept« (vgl. Brubaker, Cooper 2007) von Gesundheit aus und machen unter anderem deutlich, dass Gesundheit Voraussetzung für soziale Teilhabe und für das Funktionieren des Systems ist. Dass der Zustand des ›Gesundseins‹ als Bedingung gesellschaftlichen Seins gilt und auf Grundlegendes oder Fundamentales des Menschseins verweist, wird in philosophischen Abhandlungen über Gesundheit deutlich, während eine machtkritische Perspektive auf die ungleiche Verteilung der Chancen auf Gesundheit aufmerksam macht. Implizit wird in beiden Perspektiven die hohe normative Bedeutung von Gesundheit in heutigen Gesellschaften deutlich, als scheinbare Grundvoraussetzung für ein gutes, glückliches Leben. Es erstaunt nicht, dass der Gesundheitsbegriff, wie dies in diesem kurzen Überblick deutlich wurde, mehrdeutig bleibt. Verschiedene Perspektiven koexistieren nebeneinander, ergänzen sich oder stehen teilweise im Widerspruch zueinander. Eine Unterscheidung, die im Folgenden im Fokus behalten werden soll, bezieht sich auf die Frage, ob mit ›Gesundheit‹ ein individuell-partikularistisches oder ein kollektiv-öffentliches Phänomen beschrieben wird. Gesundheit kann als ein dem Individuum immanentes Interesse verstanden werden, gesund sein zu wollen oder zu bleiben, oder als physiologisch-moralischer Zustand des Gleichgewichts oder als Ressource. Wird Gesundheit hingegen als ein kollek-
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tives Phänomen betrachtet, handelt es sich um eine gesellschaftliche Grösse, welche einen Zugriff auf die individuelle Autonomie womöglich legitimiert. ›Gesundheit‹ als kollektives Phänomen steht im Zusammenhang mit Prozessen, welche das Gesundsein feststellen. Damit kommen gesellschaftliche und autoritäre Institutionen ins Spiel, die über ein objektivierendes System der Kategorisierung verfügen wie der Staat, der Arzt, das Spital, der Arbeitsmarkt oder eben die Schule. Sie alle verfügen über symbolische Gewalt, beeinflussen wiederum die Selbst- und auch die Fremdkategorisierung. Zwischen diesen beiden Polen einer individualistischen oder einer kollektiven Deutung von Gesundheit als Gut steht die Auffassung von Gesundheit als etwas gesellschaftlich Vermitteltes und durch soziale (Ungleichheits-)Strukturen Geprägtes. Die Frage, was Gesundheit ist, soll, wie dies Brubaker und Cooper (2007) für den Identitätsbegriff festhalten, empirisch beantwortet werden. Im Anschluss an rekonstruktive Ansätze, die zeigen, was Menschen im Sinne subjektiver Theorien und in ihrem Alltagsverständnis unter Gesundheit verstehen, sollen im Folgenden Deutungen von Lehrpersonen rekonstruiert werden. Ihr Gesundheitsverständnis soll nach Möglichkeit in den hier aufgespannten wissenschaftlichen und politischen Gesundheitsdiskursen verortet werden. Insofern wird der Fokus darauf gelegt, welche Implikationen spezifische Verwendungen des Gesundheitsbegriffs haben und welche normativen Gehalte ›Gesundheit‹ transportiert.
3.2 D er G esundheitsbegriff der WHO Um, wie in der vorliegenden Studie geplant, unterschiedliche Deutungen von Gesundheitsförderung, deren Ausrichtung und Legitimation rekonstruieren zu können, kommt man nicht umhin, jene Begriffsdefinition in den Fokus zu nehmen, die die grösste Verbreitung gefunden hat: Es geht um den Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die WHO ist zugleich die Organisation, die auch den Begriff der ›Gesundheitsförderung‹ maßgeblich geprägt hat. Die Gesundheitsdefinition der WHO scheint bezüglich der schwer zu fassenden Begrifflichkeit von Gesundheit einen Ankerpunkt zu bieten. Bis heute ist es die häufigste Referenz in aktuellen Publikationen zu Gesundheit. Die WHO-Gesundheitsdefinition hat das heutige Gesundheitsverständnis, so die einhellige Meinung der Fachwelt, weitgehend geprägt, sie gilt »als repräsentativ für das Denken in der Gegenwart« (vgl. von Engelhardt 2004: 33; Lanzerath 2006; van Spijk 1991, 2011). Auch der Medizinhistoriker Jütte hält fest, dass diese Definition, trotz heftiger Kritik, vor allem was ihren Realitätsgehalt und die Bedeutungsbreite betrifft, die gesundheitspolitische wie auch die wissenschaftliche Diskussion bis heute maßgeblich mitbestimmt (ebd. 2008: 53).
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Es handelt sich dabei um den sozialpolitischen Gesundheitsbegriff einer internationalen Organisation, welche nach dem Zweiten Weltkrieg ein politisches Programm zur Sicherung oder Förderung der Weltgesundheit (und damit als Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens) aufgestellt hat, das sie bis heute verfolgt. Die WHO-Definition von Gesundheit findet Niederschlag auf sämtlichen Ebenen und bei zahlreichen AkteurInnen, die mit Gesundheitsfragen befasst sind – bis hin zu ihrer Übernahme als vermeintlich analytischem Begriff von Gesundheit in wissenschaftlichen Arbeiten.
3.2.1 Die Begriffsdefinition der WHO Gesundheit als ein Zustand umfassenden Wohlbefindens »Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« (WHO 1946)17
In diesem originalen Wortlaut diente die Gesundheitsdefinition aus dem Gründungsdokument der WHO der Deklarierung eines Grundrechts auf Gesundheit eines jeden Menschen – 1946, zwei Jahre vor der Deklaration der allgemeinen Menschenrechte. Gesundheit wird in der Definition der WHO18 gleichgesetzt mit einem Zustand »vollkommenen« Wohlbefindens. Gesundheit scheint mit einem quasi-paradiesischen Zustand zusammenzufallen. Andeutungen der Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens werden von diesem Gesundheitsbegriff ausgenommen. Kranke und gebrechliche Menschen kommen nicht vor. Es wird ein Idealzustand menschlicher Existenz beschrieben, ein individualisierter »Traum vom Gesundsein« (Bergdolt 2008: 1), eine Art Glückszustand, vorerst ohne weitere Finalität. Den Bestrebungen, einen so als anstrebenswert definierten Zustand zu erreichen, sind kaum Grenzen gesetzt – weder quantitativer noch inhaltlicher Art (vgl. Lanzerath 2006: 31). Wenn Wohlbefinden mit Gesundheit gleichgesetzt wird, bedeutet dies, dass es sich um einen subjektiv erlebbaren, objektiv nicht messbaren, inneren 17 | Die Originalversion wurde in englischer Sprache verfasst. URL: http://whqlibdoc. who.int/hist/official_records/constitution.pdf (Stand: 22.4.2013). Die Schweiz ratifizierte die WHO-Verfassung 1947. URL: https://www.admin.ch/opc/de/classified-com pilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf (Stand: 22.4.2013). 18 | Die Gesundheitsdefinition wurde formuliert von Dr. Brock Chisholm (Kanada), Dr. Gregorio Bermann (Argentinien) und Dr. Szeming Sze (China). Letzterer gehört zu den drei Medizinern, die als Initiatoren der Gründung der WHO an der United Nations Conference on International Organisation von 1945 in San Francisco gelten (vgl. WHO 1988: 33).
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Zustand handelt. Mittels dieser Subjektivierung grenzt sich die WHO gegenüber dem subjekt-indifferenten Gesundheitsbegriff der Biomedizin deutlich ab: Nicht das Urteil eines Mediziners ist ausschlaggebend, sondern das individuell wahrgenommene Befinden. Wenn die WHO-Definition Gesundheit am subjektiven Erleben festmacht, unterscheidet sie sich von anatomischen oder physiologischen Definitionen, die Gesundheit beispielsweise als »geordnetes Zusammenspiel normaler Funktionsabläufe« definieren und auf eine sogenannt angemessene, normale Funktion des Körpers verweisen, wie dies in der struktur-funktionalistischen Theorie von Parsons der Fall ist (vgl. Kap. 3.1.3). Gesundheit wird damit in das Subjekt hineinverlegt und als Zustand beschrieben, der sich vom betreffenden Individuum nicht ablösen lässt. Kennzeichnend für die Begrifflichkeit der WHO ist nicht nur die Subjektivierung von Gesundheit als positive und fühlbare Erfahrung, sondern auch die anschließende Dreiteilung in »körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden«. Bei den ersten beiden Kategorien handelt es sich um die bekannte Dichotomie zwischen Körper und Seele respektive der Psyche. Um die Wiederherstellung dieser beiden Aspekte war bisher im Krisenfall die medizinische Profession besorgt. Neu tritt eine dritte Dimension hinzu, diejenige des »sozialen Wohlbefindens«. Neben der psycho-physischen Dimension wurde damit versucht, so kann vermutet werden, den sozialen Aspekten von Gesundheit Rechnung zu tragen. Es wird nicht nur das vermeintlich klassische, medizinisch-naturwissenschaftliche Verständnis von Krankheit um die psychische Dimension erweitert, es werden neu auch soziale Aspekte, die mit Gesundheit, respektive Krankheit einhergehen, mit eingeschlossen. Es wird ein Konzept von Gesundheit skizziert, welches nicht oder nicht nur auf einem medizinischen oder mikrobiologischen Gesundheits- oder Krankheitsverständnis aufbaut, sondern auch auf Aspekte der sozialen Integration anspielt. In der WHO-Definition wird Gesundheit als Zustand »vollkommenen Wohlbefindens« in einem nachgestellten Nebensatz von zwei anderen Zuständen abgegrenzt: Zum einen von der Krankheit und zum anderen von Gebrechlichkeit. Der vom griechischen Arzt und Anatomen Galen19 (ebd. zit.n. 19 | Als antiker Mediziner galt Galens Beschäftigung der Frage, welche Bedeutung die Lebensweise des Kranken für die Heilung einer Krankheit habe. Von der erkannten Bedeutung der Lebensweise für die Genesung wurde umgekehrt abgeleitet, dass der Gesunde durch eine falsche Lebensweise krank werden könnte. Davon ausgehend begann Galen Prinzipien der Diätetik zu entwickeln, ausgerichtet auf eine gleichmäßige Ausbildung von Körper und Geist. Geregelt wurden damit Ernährung und Anstrengung im täglichen Leben, bezogen jedoch auf den einzelnen Menschen und seine Lebensverhältnisse. Der Gesundheit wurde damit der Wert eines höchsten Guts zugesprochen, daraus abgeleitet wurde die Verpflichtung zu einer entsprechend geordneten Lebensweise (Edelstein 1966: 162, 170).
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Edelstein 1966: 169) umschriebene dritte Zustand könnte im erwähnten »Gebrechen« angetönt sein: ein Zustand des ›weder krank noch gesund Seins‹, der neben Krankheit und beschwerdefreier Gesundheit für Menschen charakteristisch sei und mit gewissen Einbussen der Unabhängigkeit einhergehe. Dieses Zwischenstadium zwischen Beschwerdefreiheit und Krankheit kann subjektiv empfundenes Leiden, wie beispielsweise Kopf- oder Zahnschmerzen, Menstruationsbeschwerden, Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen oder gewisse Stressreaktionen, umfassen. Gesundheit im Sinne der WHO ist jedoch mehr als die Abwesenheit von Gebrechen und Krankheiten, eben umfassendes Wohlbefinden. Stiehler (2001), ein deutscher Theologe mit Schwerpunkt Gesundheitsförderung, spricht im Zusammenhang mit dem WHO-Gesundheitsbegriff von einer Art Heilsversprechen. Gesundheit, die als Zustand der Vollkommenheit umschrieben wird, spiegelt keine Realitätserfahrung wider, sondern stellt vielmehr eine Sehnsucht dar. Die Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht, so Stiehler, wird in der Bibel als religiöse Erfahrung thematisiert. Dass es sich beim beschriebenen »umfassenden Wohlbefinden« um einen nicht erreichbaren Idealzustand handeln könnte, darauf weist in der WHO-Gesundheitsdefinition nichts. Dem medizinischen Verständnis von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit wird vielmehr eine Wertaussage gegenübergestellt. Diese ist einem absoluten Gesundheitsverständnis verpflichtet, welches sämtliche gesellschaftlichen Bereiche tangiert und auch über den funktionalen Begriff hinausweist: Wer ein Gebrechen hat und dennoch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, gilt gemäß der WHO-Definition nicht als gesund. In dieser Absolutsetzung öffnet sich der Gesundheitsbegriff, so Stiehler, der Religiosität als Ausdrucksform für das Absolute und das Vollkommene (ebd. 2001: 35).
Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit Mit der Formulierung, Gesundheit sei »nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen«, also ›mehr‹ als nur die Abwesenheit von Krankheit, wird in der WHO-Definition eine Distanzierung vorgenommen gegenüber einem Gesundheitsverständnis, das gemeinhin als ›medizinisches‹ gehandelt wird. Zu finden ist die Definition von Gesundheit als »Abwesenheit von Krankheit« wortwörtlich in Schriften von Christopher Boorse, einem US-amerikanischen Philosophen der University of Delaware aus den 1970er Jahren (ebd. 2012; vgl. auch Lachenicht 2011; Lanzerath 2006). Gesundheit setzt er gleich mit einem Normalzustand, welcher dem ›natürlichen‹ Funktionieren des Organismus entspricht, womit er sich als ein Anhänger des Naturalismus zu erkennen gibt. Im Zentrum seines Ansatzes steht der Organismus und sein biologisches, ›natürliches‹ Funktionieren, worauf er seine biostatische Theorie auf baut. Es stellt den Versuch einer wertneutralen Definition dar; die Medizin
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versteht er als eine naturwissenschaftliche Disziplin, welche sich mit dem Erkennen und Behandeln von Krankheit befasst. »If diseases are deviations from the species biological design, their recognition is a matter of natural science, not of evaluative decision.« (Boorse 1977 zit.n. Welling 2013: 14)
Krankheit stellt er als eine Abweichung dar, welche als eine biologische Dysfunktionalität, als eine Negativabweichung vom natürlichen Zustand empirisch festgestellt werden könne. Diese Krankheitsdefinition von Boorse beschränkt sich auf die Beschreibung von Störungen der Funktionsfähigkeiten des Organismus, ohne auf die Bewertung derselben einzugehen, unabhängig davon, ob sie für die betroffene Person ein kleineres oder grösseres Übel darstellen. Es handelt sich um eine dem naturalistischen Ideal verpflichtete Feststellung einer biologischen Tatsache (vgl. Schramme 2011). Normal bedeutet für Broose ›natürlich‹, das, was sich empirisch als arttypisch herausgestellt hat. Ein solcher Krankheitsbegriff lässt sich, so die Darstellung von Boorse, denn auch relativ einfach bestimmen, mittels auf die Funktionalität des Organismus bezogene, empirische Messungen des Blutdrucks, der Zahl der Leukozyten, der Leberwerte etc. »Eine Krankheit ist ein Typ eines inneren Zustandes, der entweder eine Beeinträchtigung der normalen Funktionsfähigkeit darstellt, das heißt eine Verminderung einer oder mehrerer Funktionsfähigkeiten, so dass sie unterhalb der typischen Effizienz liegen, oder eine Einschränkung der Funktionsfähigkeit, verursacht durch Umwelterreger. Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit [Hervorh. d. Verf.].« (Boorse 1977 zit.n. Schramme 2012: 102)
Von ›Gesundheit‹ spricht Boorse, wenn keine Krankheiten feststellbar sind, wenn die Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt ist. Interessanterweise unterscheidet er in seinen weiteren Ausführungen jedoch zwei verschiedene Arten von Gesundheit: Zum einen spricht er von der »theoretischen Gesundheit«, die besteht, wenn bei der betreffenden Person keine zu behandelnde Krankheit vorliegt. Mit »praktischer Gesundheit« bezeichnet er zum anderen das subjektive Wohlbefinden einer Person. Wer theoretisch gesund sei, leide unter keiner nachweisbaren Krankheit, was aber nichts über sein subjektives Wohlbefinden aussage. Hingegen fühle sich der praktisch Gesunde subjektiv wohl, auch wenn er eine bisher unentdeckte Krankheit haben kann (Boorse 1977 zit.n. Lachenicht 2011: 25f). Der naturalistischen Definition von Gesundheit wird damit eine subjektive, normativistische hinzugefügt und damit die obige, vermeintlich klare Abgrenzung der Gesundheit von Krankheit relativiert.
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Die beiden Positionen, die naturalistische und normativistische, innerhalb von Krankheitstheorien bezeichnet Thomas Schramme (2011) nicht als ein Konkurrenzverhältnis, sondern als Seiten derselben Medaille. Die Normativisten, so Schramme, sprechen über die lebensweltliche Seite von Krankheit, die Naturalisten argumentieren und deuten aus einer medizinisch-theoretischen Perspektive und haben ein objektivistisches Krankheitsverständnis. In der englischen Sprache entspricht der Krankheitsbegriff der Normativisten ›illness‹, während die Naturalisten Krankheit als ›disease‹ definieren. Der enge, naturalistische Gesundheitsbegriff stellt dabei den eigentlichen Gegenpol zur weitgefassten Gesundheitsbeschreibung der WHO dar. Dass der Medizin eine verkürzte Sicht auf ›Gesundheit‹ zugeschrieben wird, hängt auch damit zusammen, dass eine Theoretisierung derselben nur am Rande zu finden ist. Die kurative Medizin ist vielmehr auf Krankheit(en) sowie auf deren Behandlung fokussiert. Während Gesundheit als »Krankheitsfreiheit« definiert wird, wird Krankheit als eine Störung von biologischen Prozessen dargestellt (Hauser 2004 zit.n. Kensche 2010: 32). Diese Störung gilt es zu orten und die Ursache der jeweiligen Krankheit ausfindig zu machen. Ist diese erkannt, so gelten die therapeutischen Bemühungen ihrer Beseitigung. Ziel ist es, den verlorenen Gesundheitszustand wieder herzustellen. So auch die Einschätzung von Luhmann (ebd. 1990): »Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist.« (Luhmann 1990: 187)
Innerhalb der Medizin lassen sich mittels diagnostischer Verfahren eine Vielzahl von Krankheiten differenziert beschreiben, während es, so Luhmann, für MedizinerInnen nur eine Gesundheit gibt. Und diese stellt als Nicht-Krankheit eine Art Normalzustand dar, ist aus naturwissenschaftlicher Sicht die »normale Struktur« (Noack 1993: 16). Ein Besuch beim Arzt oder der Ärztin – so die weitere Argumentation Luhmanns – ist mit Ausnahme von Kontrolluntersuchungen durch eine krankheitsbedingte Störung der Gesundheit motiviert, nicht durch die Frage, wie sich Gesundheit fördern oder erhalten lässt. Auch Uta Gerhard hebt als Kennzeichen des biomedizinischen Gesundheitsverständnisses hervor, dass dieses Gesundheit und Krankheit in einem dichotomen System fasst, und innerhalb der kurativen Medizin Gesundheit häufig als Nichtkrankheit und Krankheit als Nicht-Gesundheit aufgefasst wird. Sie hält jedoch in einer etwas differenzierteren Betrachtung fest, dass in der medizinischen Praxis immer auch auf psychologische und soziologische Konzepte eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums zurückgegriffen wird und der Bezug auf Gesundheit innerhalb der biopsychosozialen Medizin ebenfalls zentral ist (Gerhard 1993: 33). Damit zusammen hängt für Gerhard die
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erstarkte Bedeutung der zwischenmenschlichen Kommunikation im Dialog zwischen Arzt und Patient (ebd.: 34). Diese Überlegung ist auch bei Parsons zentral; er beschreibt das Arzt-Patientenverhältnis als zentral innerhalb der modernen Medizin (ebd.: 37). Auch Wieland hebt hervor, dass Medizin eine Handlungswissenschaft ist, die immer situations- und personenbezogen im Blick auf den Einzelfall verfährt – mit Bezug zu wissenschaftlichen Wissensbeständen. Beim medizinischen Handeln, so Wieland, steht idealtypisch immer der Patient, die Patientin mit seiner/ihrer Einzigartigkeit und damit auch Subjektivität im Mittelpunkt (Wieland 1975 zit.n. Gerhard 1993: 42). Die Beachtung und Hervorhebung biopsychosozialer Faktoren wurde innerhalb der Medizin explizit gefordert und gefördert, wie beispielsweise durch Engel, der in den 1970er Jahren das enge biomedizinische Denken und die Dominanz der Medizin in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen kritisierte (Engel 1979 zit.n. Ruckstuhl 2011: 47ff.). Einen systematischen Einbezug von psychologischen und soziologischen Perspektiven in die Wissensbestände der Medizin verortet David Armstrong (ebd. 1983 zit.n. Gerhard 1993: 34) bereits in den 1930er und 1940er Jahren. Damals wurde in England die Bedeutung von Umwelt- und Lebensbedingungen für das Ausbrechen und die Weiterverbreitung der Tuberkulose erkannt. Dementsprechend wurden im Bereich der Vorsorge und Versorgung unter dem Begriff der ›Hygiene‹ Maßnahmen ergriffen. Diese kurzen Ausführungen haben nicht den Anspruch, einen innermedizinischen Diskurs in seiner ganzen Breite und Komplexität abzubilden. Vielmehr verdeutlichen sie exemplarisch, dass es sich beim vermeintlich ›medizinischen Gesundheitsbegriff‹ häufig um Blicke von außen auf den medizinischen Diskurs über Gesundheit respektive Krankheit handelt. Ein medizinisches Gesundheits- und Krankheitsverständnis gibt es nicht. Neben dem als klassisch geltenden naturwissenschaftlichen, naturalistisch-phänomenologischen Zugang zu Gesundheit gibt es auch hermeneutische, interpretative Verständnisse, welche von einer Normierung explizit absehen. Die in der WHO-Definition vorfindbare Abgrenzung von einer bestehenden, vermeintlich als medizinisch zu bezeichnenden Gesundheitsdefinition sagt somit vor allem aus, dass etwas Anderes, womöglich Neues konstituiert werden sollte.
3.2.2 Die Salutogenese als Kern eines ›neuen‹ Gesundheitsverständnisses Der Gesundheitsbegriff der WHO wird fast einhellig als Ausdruck einer ›salutogenetischen Wende‹ gedeutet, als Reaktion auf die bis dahin im Gesundheitsbereich dominante Medikalisierung. Vielfach ist auch von einem ›Paradigmenwechsel‹ die Rede, der mit der Gesundheitsdefinition der WHO seinen Anfang genommen habe (vgl. weiter unten). Als neu wird in Bezug auf die WHO-
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Gesundheitsdefinition hervorgehoben, dass subjektive Wahrnehmungen von Krankheit und Gesundheit sich nicht länger an vermeintlich objektiven medizinischen Kriterien orientieren sollen. Gesundheit soll nicht mehr lediglich als Beseitigung einer von Ärztinnen festgestellten Pathologie verstanden werden, sondern als die Wiederherstellung oder Erhaltung der subjektiven Gesundheit durch Aktivierung von Selbstheilungskräften (Brunnett 2007: 173). Als zentraler Grundstein dieser ›neuen‹ Definition gilt das Konzept der ›Salutogenese‹, das auf Aaron Antonovsky (1997) zurückgeht. Nach Faltermaier et al. (1998) handelt es sich bei diesem Konzept bis 1998 um die einzige »wissenschaftlich begründete Theorie«, welche Aufschluss über die »Entstehung von Gesundheit« zu geben vermag. Hervorgehoben wird in der Salutogenese zum einen der aktive Beitrag der Individuen als relevanter Faktor der eigenen Gesunderhaltung und zum anderen auch die Bedeutung von sozialen Strukturen (Faltermaier et al. 1998: 198). Aaron Antonovsky20, amerikanisch-israelischer Medizinsoziologe, befasste sich einen großen Teil seines Berufslebens mit Stressforschung (ebd. 1991: 112). Eine der zentralen Forschungsfragen von Antonovsky war der Einfluss von Lebensbelastungen auf die Gesundheit. Er war an einer Studie beteiligt, in der, ausgehend von einem mehrfach replizierten Befund höherer Morbiditäts- und Mortalitätsraten der Unterschicht, nach zugrunde liegenden Prozessen und Zusammenhängen geforscht wurde. Davon ausgehend widmete Antonovsky weitere Untersuchungen der Frage, was genau bei der Konfrontation mit Stressoren – mit Anforderungen, die man sich nicht selbst gesucht hat und auf die man vorerst keine adäquate Antwort hat – geschieht. Dabei interessierten ihn die Krankheitsfolgen psychosozialer Faktoren, unabhängig davon, welchen Ausdruck diese Folgen annahmen und welche Krankheitsbilder damit verbunden waren. Er versuchte zu ergründen, was Auslöser für »dis-ease«, für nichtspezifische Krankheiten oder unspezifisches Unwohlsein, sein können. Sein Ziel war es, für die Prävention nutzbare Entstehungsfaktoren zu erkennen. Im Zuge seines Forschungsvorhabens kam einer Studie über ethnisch unterschiedliche Muster der Verarbeitung des Übergangs zur Menopause wegweisende Bedeutung zu. Unter den verschiedenen befragten Frauengruppen waren Frauen, die den Holocaust überlebt hatten und nach Israel geflüchtet waren. Antonovskys Hypothese war, dass sie, die Schreckliches erlebt und überlebt hatten, weniger gut adaptiert sein würden als die verschont gebliebenen 20 | Aaron Antonovsky (1923-1994), studierte in den USA, Yale University, Soziologie und emigrierte 1960 nach Israel, wo er am Institute for Applied Social Science und im Department of Social Medicine der Hebräischen Universität von Jerusalem-Hadassah arbeitete. Ab den 1970 Jahren wandte er sich als einer der Pioniere der Medizin- und später der Gesundheitssoziologie zu und stand u.a. der Abteilung der Gesundheitssoziologie vor.
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Frauen. Diese Hypothese konnte in der Auswertung der Befragungen bestätigt werden. Auffällig war jedoch, dass es Frauen in einzelnen Fällen schafften, trotz der schlimmen Erlebnisse eine Perspektive für das weitere Leben zu finden. Diese abweichenden Fälle erschienen ihm im Nachhinein spannender als die statistische Bestätigung des erwarteten Musters. Seine neue wissenschaftliche Fragestellung, die den Perspektivenwechsel weg von der Pathogenese hin zu Salutogenese einleitete, lautete nun: Wie kommt es dazu, dass Menschen gesund bleiben, auch wenn sie hohen Belastungen ausgesetzt sind? »Im menschlichen Leben sind Stressoren omnipräsent. Dennoch überleben viele Menschen, wenn auch bei weitem nicht die meisten, sogar mit einer hohen Stressorbelastung und kommen sogar gut zurecht. Abgesehen von Stressoren, die den Organismus direkt zerstören, ist es nicht vorhersehbar, wie sich die Gesundheit von Menschen entwickelt. Dies ist das Geheimnis, das die salutogenetische Orientierung zu enträtseln versucht.« (Antonovsky 1997: 16)
Zentrale Erklärungskraft innerhalb dieser neuen ›salutogenetischen‹ Orientierung erhielt das von ihm entwickelte Konzept des »sense of coherence«. Es beschreibt die Fähigkeit, die innere und äussere Welt wahrzunehmen und in einer strukturierten und strukturierenden Weise Probleme zu bewältigen. Bei diesem »sense of coherence« handelt es sich, Antonovskys folgend, um eine internalisierte, in der Kindheit erworbene Lebenseinstellung, die aus kognitiven und emotionalen Komponenten besteht, in vielerlei Hinsicht ein mit dem Habitus vergleichbares Konzept. Das Kohärenzgefühl oder -erleben ist nach Antonovsky Ausdruck einer gesundheitsfördernden Lebenshaltung, »eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat« (ebd. 1997: 36). Nach Antonovsky wird dieser »sense of coherence« in den ersten zehn Lebensjahren erworben und bleibt im weiteren Lebensverlauf relativ konstant, ist also später schwer zu beeinflussen. Konsequenz seiner theoretischen Annahme, dass es sich um eine Art habituelles Muster handelt, welches relativ unveränderlich bleibt, ist die hohe Bedeutung, die er der Kindheit beimisst. Lebenspraktisch findet dieser »sense of coherence«, den er in seinem 1987 veröffentlichten Buch »Unraveling the Mystery of Health« darstellt, erstens einen Ausdruck in der Einstellung, dass die Ereignisse im Leben eine gewisse verstehbare Struktur haben und vorhersehbar sind (»comprehensibility«). Zweitens zeigt sich der »sense of coherence« darin, Ressourcen einsetzen zu können, um die Anforderungen des Lebens zu bewältigen; dies können persönliche Fertigkeiten sein, aber auch soziale Beziehungen, Weltanschauungen, die einen Beitrag zur Einordnung der Ereignisse leisten (»manageability«). Und drittens kommt der »sense of coherence« in der Haltung zum Ausdruck, dass eine Welt existiert, die den persönlichen Einsatz wert ist, wobei die eigenen
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Handlungen als sinnvoll und das eigene Schicksal als beeinflussbar wahrgenommen werden (»meaningfulness«) (ebd. 1997). Zwei Aspekte von Antonovskys Konzeption stehen im Kontrast zur klassischen Stressforschung: Zum einen geht er davon aus, oder genauer: stiess er auf Befunde, die nachweisen, dass Stressoren nicht unbedingt gesundheitlich negative Folgen haben, sondern im Gegenteil auch ›salutogen‹ wirken können. Zum anderen erachtet er Stressoren nicht als Ausnahmeerscheinung, sondern als Normalität. Sein Menschen- und Weltbild basiert somit nicht auf Harmonie und Homöostase, sondern auf Ungleichgewicht und Heterostase als Normalzustand. Hierzu benutzt er die Metapher eines Flusses21, in dem wir uns während unseres Lebens befinden. Dieses verbringen wir nicht am sicheren Ufer, sondern eben mitten im Fluss, dabei immer wieder neuen Gefahren und Herausforderungen begegnend. Einige Klippen können wir umschwimmen, andere nicht. Seiner Theorie folgend ist entscheidend, wie gut wir schwimmen gelernt und welche Unterstützung wir in gefährlichen Situationen erhalten haben (Antonovsky 1991). Hier sind die Widerstandsressourcen von Bedeutung, die er auf unterschiedlichen Ebenen ortet: körperlich-konstitutionelle Faktoren, materielle, personal-psychische sowie sozial-interpersonale und sozio-kulturelle Ressourcen. Die Ressourcenausstattung ist somit auch abhängig von der historischen Epoche, den gesellschaftlichen Verhältnissen und darin der eigenen Position, welche wiederum die Sozialisationsbedingungen prägt, und den persönlichen Merkmalen. Antonovsky selber erachtete das von ihm entwickelte Salutogenese-Konzept ebenfalls als paradigmatisch und sah es als Grundlage eines neuen Verständnisses von Gesundheit, mit welchem das biomedizinische Krankheitsparadigma abgelöst oder zumindest ergänzt werden sollte. Die medizinische Vorgehensweise, so Antonovsky, ist vorwiegend eine retrospektive, die einer kausalen, häufig monofaktoriellen Logik folgt (ebd.). Diese Sichtweise wie auch die im medizinischen Verständnis enthaltene Dichotomie zwischen gesund und krank lehnen Antonovsky und ihm folgend insbesondere AutorInnen22 aus dem Bereich von New Public Health ab (vgl. Neubauer 2008 zit.n. Kensche 2010: 34-35).
21 | Alternativ verwendet er auch das Bild einer von Gletscherspalten durchzogenen Skipiste. 22 | Zu bekannten Kritikern gehören u.a. Thomas Szaz, Klaus Dörner, Michel Foucault und Franco Basaglia, ebenso Erving Goffmann, Heiner Deup oder auch Ernst von Kardoff.
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E xkurs zu Public Health – von Old zu New Public Health »The world is a fast flowing river« – so beginnt das Vorwort im von Asthon und Seymour (ebd. 1947: vii) verfassten Buch »The New Public Health. The Liverpool Experience«. Die beiden Autoren nehmen somit gleich zu Beginn Bezug auf Antonovsky und dessen Gesundheitsverständnis und stellen nachfolgend den bereits im Titel ihres Buchs markierten Paradigmenwechsel innerhalb von Public Health dar. Public Health an sich ist nichts Neues und keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. So können hygienische Maßnahmen vor 4000 Jahren bei den Babyloniern als erste Interventionen im Sinne von Public Health gedeutet werden. Klassischerweise werden die Anfänge von Public Health jedoch im 19. Jahrhundert verortet, wo Krankheitsepidemien in den schnell gewachsenen Industriestädten veränderte Hygienemaßnahmen erforderlich machten. In aktuellen Definitionen wird Public Health als ein »gesellschaftsbezogener Ansatz zur Verbesserung der Gesundheit« beschrieben, bei dem nicht in erster Linie die individuellen Akteure einbezogen werden, sondern es um übergreifende Prozesse der Krankheitsverhütung und Gesundheitsförderung geht (vgl. Altgelt, Kolip 2007; Flick 2002; Rosenbrock, Kümpers 2006). Anders als in der klassischen Medizin wird hier nicht fallspezifisch, sondern auf einer aggregierten Ebene gedacht und auch gehandelt. Dabei geht es um ein sowohl erkenntnisgenerierendes als auch handlungsorientiertes Unterfangen. Es umfasst somit einen analytischen wie auch einen pragmatischen, anwendungsorientierten Teil, dabei das idealistische Ziel einer umfassenden ›Gesundheitsverbesserung‹ verfolgend (Trojan, Legewie 2007). Trojan und Legewie (2007) verweisen in ihrer Definition von Public Health auf Winslow23, einen US-amerikanischen Bakteriologen und Experten für Public Health, der 1920 seine Disziplin folgendermaßen umschreibt: »Public Health is the art and science of promoting health, preventing disease and prolonging life […] through organized community efforts.« (Winslow 1920 zit.n. Trojan, Legewie 2007: 62)
Die Erreichung der propagierten Ziele: Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und Lebensverlängerung werden dabei als gemeinsam zu verfolgende Bestrebung deklariert. Unbenannt bleibt, wer diese Anstrengungen zu koordinieren und organisieren hat und in welchem Verhältnis die Organisa23 | Charles-Edward Amory Winslow (1877-1957), studierte am Institut of Technology in Massachusetts und arbeitete anschließend als Bakteriologe. Er wurde 1926 Präsident der »American Public Health Association« und ab den 1950er-Jahren Berater der WHO. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Charles-Edward_Amory_Winslow (Stand 22.6.2015).
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tion zu den »gemeinschaftlichen Anstrengungen« stehen soll (vgl. Trojan, Legewie 2007). Der Umstand, dass Public Health, zugleich mit ›öffentlicher Gesundheit‹ und ›Gesundheitswissenschaft‹ übersetzt, einen englischen Namen trägt, deutet darauf hin, dass Entwicklungen im angelsächsischen Raum von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Im deutschsprachigen Raum begannen sich Public Health respektive die Gesundheitswissenschaften, bedingt durch den Nationalsozialismus, erst mit einer Verzögerung in den 1980er Jahren zu etablieren.24 Fülgraff25 (1999) zeigt auf, dass es sich auch im deutschsprachigen Raum nicht um eine gänzlich neue Wissenschaft handelt; er bezeichnet die »soziale Hygiene«26 als Vorläuferdisziplin von Public Health, welche zur Zeit der Weimarer Republik im Gesundheitswesen eine 24 | In Westdeutschland kam es erst in den 1980er Jahren zu einer Wiederaufnahme der Tradition der Gesundheitswissenschaften. Sichtbar wurde dies gemäß Hurrelmann und Razum (2012) daran, dass die Zusammenarbeit von Medizin- und Naturwissenschaften mit Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zur Analyse der öffentlichen und der individuellen Gesundheit über einen Zeitraum von über zehn Jahren intensiv politisch gefördert wurde. In den 1990er Jahren wurden dazu in Deutschland in vier Regionen Forschungsverbünde eingerichtet und eine Vielzahl von Projekten finanziert. Parallel dazu und als wichtiger Meilenstein für die Institutionalisierungen wurden insgesamt neun universitäre Studiengänge Public Health eingerichtet. 1993 wurde an der Universität Bielefeld die erste deutsche »Fakultät für Gesundheitswissenschaften/ School of Public Health« gegründet. Gründungsdekan war Klaus Hurrelmann. Daneben wurden in steigender Zahl auch in bestehenden Hochschulstudiengängen gesundheitswissenschaftliche Bezüge hergestellt. 25 | Georges Michael Fülgraff (geb. 1933), ursprünglich Dr. med., bildete sich in den USA zum Pharmakologen aus. Nach seiner Habilitation wurde er zum Professor der Pharmakologie und Toxikologie an die Universität Frankfurt a.M. berufen und in den 1970er Jahren zum Präsidenten des Bundesgesundheitsamts ernannt. Nach zweijähriger Tätigkeit als Staatssekretär im Bonner Gesundheitsministerium ist er seither Berater und Gutachter in Fragen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes. URL: www.munzinger.de/ search/portrait/Georges+F%C3%BClgraff/0/16217.html (16.4.2014). 26 | Prägenden Einfluss auf die soziale Hygiene wie auch auf die Begriffsbildung der Sozialmedizin kam in Deutschland Rudolf Virchow zu. Seiner Auffassung nach wäre die Medizin eigentlich eine soziale Wissenschaft, die sich insbesondere den Problemlagen ärmerer Bevölkerungsschichten anzunehmen und den Fokus auf die sozialen Verhältnisse zu legen hätte. Er verfasste Ende des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Schriften, in welchen er Lebensverhältnisse beschrieb, in denen er die Ursache für das Auftreten beispielsweise von Typhus sah (Fülgraff 1999: 230). Im Unterschied zu Virchow, der mit der Beobachtung und Beschreibung von Lebensverhältnissen einen qualitativen Ansatz verfolgte, folgen heutige sozialepidemiologische Studien fast ausschließlich einer
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entscheidende Rolle gespielt hat. Die »soziale Hygiene«, auch »soziale Medizin« genannt, galt als eine institutionalisierte und etablierte Wissenschaft und umfasste beispielsweise die Sozialepidemiologie der Tuberkulose, der Geschlechtskrankheiten oder des Alkoholismus, die Gewerbehygiene, die Organisation des Gesundheitswesens, die soziale Pädiatrie und Gynäkologie, Ernährungslehre, Wohnungshygiene, Versicherungs- und Begutachtungsmedizin (Fülgraff 1999: 230). Die eingangs erwähnten Chronisten John Ashton und Howard Seymour, die zwar den angelsächsischen, konkret den britischen, Raum fokussieren, aber auch im deutschsprachigen Raum als Referenz gelten, unterscheiden in der Entwicklung von Public Health vier Phasen (ebd. 1988: 15ff.), aus welcher schließlich New Public Health hervorgegangen ist. Den Beginn der ersten Phase siedeln sie in den Jahren zwischen 1830 und 1850 an. Ausgangspunkt waren die harten Lebensbedingungen der Arbeiter in den rasch wachsenden Industriezentren Englands, wie beispielsweise in Liverpool, worauf auch der Untertitel ihrer Arbeit hinweist. Im Fokus der sich entwickelnden ›Sozialmedizin‹ waren die Bekämpfung von Infektionskrankheiten und die Linderung der Folgen von Armut. Die hauptsächlich ergriffenen Maßnahmen erfolgten in den Bereichen Wohnen, Wasserversorgung und Ernährung. Die zweite Phase begann um 1870 auf der Basis neuer Erkenntnisse bezüglich der Genese von Infektionskrankheiten sowie neu entdeckter Möglichkeiten der Immunisierung. Verantwortlich hierfür waren der Aufschwung der Naturwissenschaften sowie im Vergleich zur ersten Phase individuenzentrierte Maßnahmen, inklusive den nach der Jahrhundertwende zusätzlich ergriffenen Maßnahmen der Familienplanung. Die dritte Phase wird als »therapeutische Ära« bezeichnet, woraus hervorgeht, dass medizinische Behandlungsmaßnahmen gegenüber den vorangegangenen Phasen stark in den Vordergrund treten. Der Beginn dieser Phase wird von Ashton und Seymour etwa um 1930 gesehen, als Insulin und Sulfonamide als wichtige Medikamente entdeckt wurden. Dies war die Phase der Krankenversorgungspolitik. Ansehen und Bedeutung des öffentlichen Gesundheitsdiensts waren in dieser Zeit minimal. Die vierte Phase schließlich titulieren Ashton und Seymour mit »New Public Health«, womit ein Paradigmenwechsel angedeutet wird. Verwiesen wird damit auf eine Neuorientierung innerhalb von Public Health, die Mitte der 1980er Jahre diskutiert und als Innovation gedeutet und dargestellt wird. Ausgangspunkt dieser Wende ist in der Darstellung von Ashton und Seymour die Kritik am medizinischen System und an einer sich ausbreitenquantifizierenden Logik, indem die Auswirkungen sozialer Risiko- und Schutzfaktoren auf Morbidität und Mortalität berechnet werden.
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den Medikalisierung der Gesellschaft. Kritische Analysen, wie diejenigen von McKeown »The Modern Rise of Population and The Role of Medicine«27 von 1978 oder auch das 1975 von Illich veröffentlichte Buch mit dem Titel »Enteignung der Gesundheit«28 wurden als Offenbarung gelesen und hatten unter dem Schlagwort »Medikalisierungskritik« eine große öffentliche Wirkung (vgl. auch Ruckstuhl 2011: 65).
Medikalisierungskritik Mit dem Begriff der Medikalisierung wurde in der Soziologie zunächst das Wachstum der Krankenbehandlung verstanden. In einer wissenschaftlichtechnischen Gesellschaft übernimmt die Medizin notwendigerweise Sachkunde und Kontrolle über Gesundheit und Krankheit. Damit gerät die Medizin, geraten Ärztinnen und Ärzte, auf ein besonderes Feld, wie dies Labisch formuliert: In einem wissenschaftlich aufgeklärten Feld der den Menschen gegenüberstehenden Natur wie auch der ihnen in ihrem Körper eigenen Natur wirkt die moderne Medizin auf anthropologische Grundtatsachen ein – auf Tatsachen, die die Menschen gleichzeitig als Menschen bestimmen (Labisch 1992). Lanzerath bezeichnet denn auch die Ärzte als neue Priester der modernen Gesellschaft (Conrad, Schneider 1980, zit.n. Lanzerath 2006: 35). Gleichzeitig sind durch die (natur-)wissenschaftliche Orientierung der Medizin die Fragen nach dem Sinn und nach der Orientierung des Lebens ausgeschieden – Fragen, die grundsätzlich durch Wissenschaften nicht zu beantworten sind (Labisch 1992). Die Bedeutung des Begriffs der ›Medikalisierung‹ erfährt später einen Wandel und beinhaltet nun neu eine kritische Haltung gegenüber der Medizin und ihrer Expansion. Kritisiert wurde zum einen die Ausdehnung der Bio-Medizin in ihrer sozialen Herrschaftsfunktion. Der von Seiten der Medizin in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen erhobene Anspruch auf 27 | Mc Keown legte in seinem Buch von 1976 die These dar, dass es stärker der wirtschaftliche Aufschwung und die verbesserte Ernährungslage waren, die zu einer Verbesserung der allgemeinen Gesundheit führten, als die Errungenschaften der Medizin. Obwohl seine These in den 1970er und 1980er Jahren kontrovers diskutiert wurde, gilt sie als ein auslösendes Moment für die gestiegene Bedeutung von Public Health und öffnete die Tore für Konzepte wie dasjenige der Salutogenese (vgl. Purdy, Banks 2001). 28 | Ivan Illich (1926-2002) kritisiert in seinem Buch, wie die Gesundheits- und Medizintechnokratie Krankheit und Gesundheit vereinnahmen, wie verschiedene Interessengruppen wie die Ärzteschaft oder die Pharmaindustrie den Gesundheitsdiskurs dominieren, was gemäß seiner Einschätzung zu einer Entfremdung führt. Die Erfahrungen von Gesundheit, Krankheit und Tod werden aus dem ›normalen‹ Leben verbannt, stattdessen erlebt das Bild des reparablen Menschen einen Siegeszug, womit sich die Macht der Ärzteschaft vergrössert.
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Expertise, wurde infrage gestellt: Aspekte des Alltagslebens wie Alter, Geburt, Alkoholkonsum und Verhaltensweisen von Kindern (Illich 1995a: 35), wurden zu medizinischen Problemen gemacht, womit entsprechende Normierungsprozesse einhergingen. Die Medizin wurde, so die These, zu einer mächtigen Institution sozialer Kontrolle (Nettleton 2013: 25f.). Die klassische Kritik einer so verstandenen Medikalisierung richtet sich gegen die expansive Ausweitung der Bio-Medizin auf Körper, Gesundheit und Leben, was mit einer sozialen Enteignung von Gesundheit gleichgesetzt wird (vgl. Duden 1991; Illich 1995a). Ebenso wird zum andern die steigende Einbindung der Medizin in Politik und Ökonomie festgestellt und kritisch beurteilt, das gilt insbesondere für die Expansion des Medizinischen, die Menschen ihrer Autonomie und Eigenverantwortung beraubt (Brunnett 2007: 172). Erwähnung finden muss bezüglich kritischen Positionen gegenüber des Gesundheitsdiskurses in der Medizin (als auch später gegenüber Public Health) die Arbeit von Michel Foucault, der unter anderem die Entstehung des modernen medizinischen Diskurses erforschte. Im Verständnis von Foucault ist die moderne Medizin nicht als System des »rein objektiven Wissens« zu verstehen und auch nicht als »Ereignis einer aufgeklärten Haltung zur […] Krankheit«, sondern sie ist vielmehr ein Mittel zur Kontrolle der Gesellschaft, indem sie die ›Kranken‹ von den ›Normalen‹, d.h. den Gesunden scheidet (Finzsch 2006: 219). Dabei formuliert das moderne Medizinalwissen ein ›Ideal‹ des ›gesunden, normalen Körpers‹. Damit verbunden ist die Aufforderung an die Gesellschaftsmitglieder, sich diesem Ideal bestmöglich anzunähern. Der Medizinaldiskurs besitzt nach Foucault in seiner modernen Ausprägung disziplinierenden Charakter, insbesondere in Verbindung mit einer ›zwangsmäßigen‹ Gesundheitspolitik. Die durch Foucault geprägte Kritik an der Medikalisierung fasst Brunnett in ihrer Analyse aktueller Gesundheitsleitbilder folgendermaßen prägnant zusammen: »Von der Foucaultschen Perspektive der Machttechnologien ausgehend, ist Medizin genuin eine bio-politische Wissenschaft und Interventionstechnik. Das bedeutet, dass Medizin, – ganz im Gegensatz zum Alltagsverständnis – im Ansatz mit Politik und Macht verknüpft ist. Die Medizin nimmt mit den modernen Machtmechanismen der Disziplinierung und der Bio-Macht eine herausragende Rolle ein. Seit dem 18. Jahrhundert nehmen Ärzte die zentrale Funktion als Ratgeber und Experten ein, das medizinische Wissen entwickelte eigene Machteffekte.« (Brunnett 2007: 175-176)
Im Anschluss an Foucault zeigt Brunnett in einer diskurstheoretischen Analyse politischer Reden auf, wie in postfordistischen Gesellschaften Ansprüche an die Subjektivität der Arbeitenden mit einem neuen Gesundheitsverständnis einhergehen. Selbstmanagement von Psyche und Körper, Selbstaktivierung, eine gestiegene Bedeutung emotionaler und kommunikativer Arbeitsinhalte
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und eine gesunde Lebensgestaltung werden zu Voraussetzungen, um das Leitbild eines guten Lebens mittels »Selbstmodellierung« von Körper und Psyche verkörpern zu können (Brunnett 2007). Im Anschluss an Foucaults Sichtweise spielt die medizinische Deutungsmacht eine bedeutsame Rolle, damit der gesunde, moralische und hygienische Körper überhaupt zum Ansatzpunkt biopolitischer Regulierung gemacht werden kann. Die Medikalisierungskritik ist somit nicht grundsätzlich gegen das medizinische Wissen gerichtet, jedoch wurde dessen Anwendung hinterfragt. Problematisierend wurde der in verschiedensten Lebensbereichen verbreitete »medizinische Blick« (Krajic et al. 2009: 4) diskutiert – medizinische Konzepte, die sich zu gesellschaftlichen Normen entwickelten und davon abweichende Phänomene, ehemals als ›natürlich‹ definierte Lebensereignisse, als soziale Abweichung zu kontrollieren versucht. In der Kritik steht »die Ausweitung eines professionellen, individualisierenden bzw. biologisierenden Zugangs zur Kontrolle von (abweichendem) Verhalten und eine Zunahme professioneller Macht« (ebd.). Castel (1991: 295) weist ebenfalls darauf hin, dass nicht in erster Linie die praktizierenden Ärzte in die Lebensführung hineinreichende Kontrolle ausüben, sondern dass diese Tendenz vielmehr von administrativen Präventivmedizinern oder dem medizinischen Wissenschaftsbetrieb herkommt (Castel 1991 zit.n. Zick-Varul 2004: 39f.). Die Aufgabe der Medizin beschränkt sich nicht mehr auf die Heilung, sondern stellt sich zunehmend (auch) in den Dienst der Lebensoptimierung. Innerhalb der Medizin und in ihrer Zielbestimmung fand eine Verlagerung respektive Erweiterung statt. Als ›Hochzeit‹ der Medikalisierungskritik gelten die 1970er Jahre. Gesundheit wurde in dieser Zeit in vielen Industriegesellschaften Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und Kämpfe, neue Konstruktionen des Begriffs bildeten sich heraus. So entstanden in Deutschland und Frankreich ›Gesundheitsbewegungen‹ oder beispielsweise die in deutschen Städten verbreiteten ›Gesundheitsläden‹. Weil Gesundheit individuell wurde, müsse sie auch politisch sein, lautete eine Forderung aus dieser Zeit (vgl. Gérard Briche zit.n. Herzlich, Pierret 1991: 272). Im Zuge einer Politisierung der Bedeutung von Gesundheit gab es Bemühungen, die institutionalisierte Medizin zurückzudrängen, was gemäß Briche im Zusammenhang eines »neuen Gesundheitsbewusstsein« stand. Gesundheit wurde zum Maßstab aller Wertvorstellungen erhoben (ebd.: 274). Sarah Nettleton deutet die Entwicklungen im Gesundheitsbereich in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts ebenfalls als Paradigmenwechsel, den sie mit der Formel »from cure to prevention« umschreibt (Nettleton 2013: 227). Dieser Wandel lässt sich gemäß Nettleton in Dokumenten der Gesundheitspolitik ab Mitte der 1970er Jahre rekonstruieren. Ab dann tritt die Forderung, eher Gesundheit zu fördern, denn Krankheit und Beschwerden zu behandeln verstärkt und programmatisch auf. Inwieweit die Medizin im Gesundheits-
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wesen und in Gesundheitsdiskursen ihre Vormachtstellung behalten konnte oder diese an die neuen Gesundheitsberufe abtreten muss, ist Gegenstand von Kontroversen. Kühn und Rosenbrock beispielsweise sehen die Rolle der Medizin nach wie vor als gefestigt, nicht nur wegen »ihrem wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Gewicht«, sondern auch aufgrund ihrer »Fähigkeit, Krankheit und vorzeitige Sterblichkeit in ›Probleme‹ zu übersetzen, die mit den spezifischen Lösungsmöglichkeiten der industrialisierten Marktgesellschaft auch lösbar« seien (ebd. 2009: 64).
Neue Krankheitsbilder Als wichtiger Hintergrund und zugleich weiterer Auslöser dieses Paradigmenwechsels wird von Nettleton (2013) wie von vielen anderen sich zu New Public Health äussernden AutorInnen der in den 1980er Jahren feststellbare gesellschaftliche Wandel in den Industrieländern genannt. Dieser brachte eine Verlängerung der Lebensspanne und eine Erhöhung des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung mit sich. Ebenso sieht Nettleton eine Ursache für die Neuausrichtung im Gesundheitswesen in der gehäuften Erscheinung neuer Formen gesundheitlicher Beschwerden, die als »chronisch-degenerative Krankheiten« oder auch als »Zivilisationskrankheiten« beschrieben werden (vgl. Jacob 1994; Kocher, Oggier 2010). Dabei herrscht in der Literatur bis heute keine Einigkeit darüber, welche Krankheiten diesen sogenannten Zivilisationskrankheiten zuzurechnen sind und welche nicht. Es gibt daher keine vollständige und abgeschlossene Liste. Häufig erwähnt werden Herz- und Gefässkrankheiten, Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht und Adipositas, Gicht, Allergien, bestimmte Krebsarten, Essstörungen, bestimmte psychiatrische Erkrankungen sowie bestimmte Hauterkrankungen. Im Vergleich zu infektiösen, parasitären Krankheiten fehlt es bei diesen ›neuen‹ Formen von Krankheiten an konsensfähigem, verlässlichem Wissen hinsichtlich deren Entstehung, es lassen sich keine eindeutigen Kausalattributionen herstellen. An die Stelle von deterministischen Aussagen zur Ätiologie treten probabilistische (vgl. Jacob 1994: 169). So wird das Auftreten chronischer Krankheiten häufig als Folge individueller Lebensführung oder gesellschaftlicher Belastung gedeutet – seien dies Anforderungen der Arbeitswelt, Doppelbelastung, Leistungs- und Erfolgsdruck etc. – oder als Folge des Zusammenspiel von genetischen Faktoren, Umweltbelastungen und individueller Lebensführung. Dabei stellt das fehlende Wissen über chronisch-degenerative Krankheiten selbst einen unsicherheitsstiftenden Faktor dar, da zwar wahrscheinliche Krankheitsursachen benannt werden können, sichere Individualprognosen aber nicht möglich sind. Da es an allgemeingültigem Wissen über Ursachen, Verlauf und Ausgang der Krankheiten fehlt, wird etwa der Begriff der »individualisierenden Krankheiten« verwendet (vgl. Herzlich, Pierret 1991; Jacob 1994), was die Tendenz, die Verantwortung beim Individuum zu suchen, verstärkt.
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Zudem lässt sich eine klare Grenze zwischen akuter und chronischer Erkrankung nicht so einfach ziehen. Es gibt vermeintlich chronisch Kranke, deren Beschwerden nicht nur gelindert, sondern bei denen die Krankheit auch wieder verschwinden kann. Umgekehrt können chronische Krankheiten über viele Jahre hinweg latent vorhanden sein, bevor sie akut ausbrechen. Damit ist nicht nur der Parsons’sche Begriff der ›Rolle des Kranken‹ nicht mehr geeignet, diese neuen Kranken zu beschreiben, auch die Position der klassischen Medizin ist geschwächt, was das Feld in Richtung der sogenannten alternativen Medizin oder alternativer Methoden öffnet. Bei chronisch-degenerativen Erkrankungen haben, anders als bei epidemischen Krankheiten, »Realität und Vorstellung der Krankheit aufgehört, allgemeingültig zu sein, sie sind zu einer individuellen Beeinträchtigung geworden« (Herzlich, Pierret 1991: 67). »Das Individuum ist krank und dies impliziert in keiner Weise, dass sein Nachbar es ebenfalls sein muss. Seine Krankheit stellt weder eine Warnung noch eine Bedrohung für seine Umgebung dar. Sie betrifft den Menschen in seiner Körpererfahrung allein.« (Herzlich, Pierret 1991: 67)
Während bei epidemisch sich verbreitenden Infektionskrankheiten ein gesellschaftlicher Mechanismus zum Schutz und zur Verteidigung der Gemeinschaft in Gang kam, verstärkt die Individualität der Krankheit heute die Einsamkeit der Kranken. Zwar bedarf es keiner Isolierung der chronisch Kranken mehr, durch die Hervorhebung genetischer Mechanismen oder komplex wirkender immunologischer Prozesse wird die Krankheit jedoch stärker individualisiert und dem Individuum zugeschrieben (Herzlich, Pierret 1991: 67).29 Die im 19. Jahrhundert beginnende Individualisierung der Krankheit ging zugleich mit einer Sozialisierung von Gesundheit einher: Mit der industriellen Entwicklung wurde Gesundheit gleichgesetzt mit Arbeitsfähigkeit und Krankheit mit Arbeitsunfähigkeit. Was vormals vor allem für die Bauern galt, fand sich auch im städtischen Milieu bei den Arbeitern wieder: Gesundheit wurde zur Voraussetzung der Produktion – was bei der Entwicklung der Sozialgesetze einen bedeutsamen Ausgangspunkt darstellte. Parallel zur Professionalisierung der Ärzte ging die Etablierung von Sozialversicherungswerken voran. Damit ging neu ›krank sein‹ mit einem Recht auf ›sich behandeln lassen‹ einher. Vom »Recht, krank zu sein und sich auf angemessene Weise behandeln zu lassen«, kommt man nach Renaud (1981) unweigerlich zur »Pflicht, gesund zu sein«. Pflege und Behandlung werden zu einer obligatorischen Antwort auf Krankheit (ebd.: 21f.). 29 | Die offizielle Benennung von Übergewicht als ›Epidemie‹ hebt diese Individualisierung allerdings tendenziell auf, nicht jedoch die damit verbundene Stigmatisierung von Menschen mit einem vom Ideal abweichenden Gewicht.
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Abschließend meinen Herzlich und Pierret in ihrer »Geschichte der Krankheit«, dass die chronische Krankheit heute für fast alle Menschen zu einer sicheren Zukunftsaussicht geworden sei. Der Kranke ist zu einer eigenständigen kulturellen Persönlichkeit und einem gesellschaftlichen Akteur unserer Zeit geworden. Im Verlauf der doppelten Entwicklung zu Individualisierung und Sozialisierung ist eine neue Kategorie entstanden: der Kranke. Dieser ist nicht mehr nur aufgrund einer biologischen Befindlichkeit als krank zu bezeichnen, es handelt sich vielmehr um die Bezeichnung der Zugehörigkeit zu einem Status oder zu einer Gruppe, beispielsweise zu den ›Diabetikern‹. Die Krankheit ist für das Individuum zu einer sozialen Lage geworden (Herzlich, Pierret 1991: 284). Folglich stellen sich in der Medizin und bei der Behandlung von Krankheit Fragen, die die Moral, die Wirtschaft und die Zukunft der Wissenschaft ebenso wie die juristische Ausformung des Gesellschaftsvertrags betreffen (Herzlich, Pierret 1991: 284). Parallel zur Problematik chronischer Krankheit wurde das ideale Subjekt eines »chronisch Gesunden« konstruiert. Dessen Autonomie gründet auf dem fiktiven Ideal einer zu fördernden und zu erhaltenden Gesundheit. Kehrseite dieser Form von Mündigkeit ist der Zwang oder der Druck, die Verantwortung nicht nur für die eigene Gesundheit, sondern auch für die Mitmenschen und insbesondere die Nachkommen zu übernehmen. Potenzielle Krankheit oder Behinderung wird mithilfe des medizinischen Fortschritts und der Technologisierung nicht mehr als unplanbares Schicksal, sondern als vermeidbare Schuld gedeutet (vgl. Schäfer et al. 2008: 8). Mit den oben beschriebenen veränderten Krankheitsbildern geht mangels medizinischer kurativer Behandlungsmöglichkeiten ein Gefühl der Ohnmacht einher. Das führte, so die verbreitete These, zu einer gesteigerten Bedeutung von Public Health als einer Alternative zur auf das Individuum bezogenen, traditionell kurativen Medizin. Streckeisen spricht im Zusammenhang mit den gehäuft auftretenden ›Zivilisationskrankheiten‹ von einem neuartigen Handlungsproblem, mit welchem die industrialisierten Gesellschaften konfrontiert sind (Streckeisen 2014). Sie legt dar, wie sich vor dem Hintergrund der Verbreitung chronischer, degenerativer und psychosomatischer Beschwerden neue berufliche Tätigkeitsfelder und neue Gesundheitsberufe ausbilden, die einer Public-Health-Perspektive verpflichtet sind (2013: 240ff.). Letztere bearbeiten explizit die Aufgaben der Gesundheitsförderung und, so Streckeisen, kennen anders als die Krankheitsprävention keinen Krankheitsbezug mehr. In den neuen gesellschaftlichen und beruflichen Leitbildern stehen das gesundheitliche Subjekt und dessen Selbstverantwortung im Zentrum. Die salutogenetische Perspektive, so die Darstellung Streckeisens, überlagert die pathogenetische Sichtweise, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung gewinnen gleichermaßen an Bedeutung. Konkrete Felder der Gesundheitsförderung als neue, eigene Tätigkeitsfelder der Gesundheitsberufe zu konstitu-
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ieren und abzugrenzen, scheint jedoch nicht ganz zu gelingen. So lässt sich gemäß Streckeisen die Frage nicht abschließend beantworten, ob die Arbeit im Bereich der Gesundheitsförderung herkömmliche Berufsförmigkeit annimmt oder annehmen wird. In den zahlreichen Aus- und Weiterbildungsangeboten, die in der Schweiz seit zwei, drei Jahrzehnten entstanden sind, ist dementsprechend auch die Rede von Kompetenzen oder Aufgaben und nicht von Berufen (Streckeisen 2013).
(Neuer) Fokus auf soziale Verhältnisse In Beschreibungen von am Gesundheitsförderungsdiskurs Beteiligten und noch deutlicher von ChronistInnen, die sich selber der sogenannten New-Public-Health-Bewegung zugehörig fühlen, wird die Genese oder Erstarkung der New-Public-Health-Perspektive häufig als Paradigmenwechsel beschrieben (Franzkowiak 2011; Franzkowiak, Sabo 1993; oder auch Kickbusch 2006). Dieser wird in einen Zusammenhang mit verschiedenen Wellen sozialer Bewegungen ab den 1970er Jahren gestellt. New-Public-Health-Strategien scheinen, so die Darstellungen, Forderungen verschiedener sozialer Bewegungen, die Aufklärungs- und Emanzipationsabsichten verfolgten, aufzunehmen, um gegen die Dominanz des Medizinsystems anzukämpfen, in der Absicht, die Autonomie der Subjekte, insbesondere der PatientInnen zu stärken. Ruckstuhl beschreibt diesen Wandel dahingehend, dass sich ab Ende der 1960er Jahre eine erste kritische Bewegung zu formieren begann, welche sowohl Kritik am biomedizinischen Denken als auch an steigenden Gesundheitskosten beinhaltete. Sowohl in Deutschland als auch in den USA lasse sich in den 1970er Jahren ein Aufschwung von Gesundheitsbewegungen feststellen, die versuchten, der »Enteignung von Gesundheit« durch das Gesundheitssystem politischen und zivilen Widerstand entgegenzusetzen. So wurde explizit eine teilweise (Re-)Privatisierung von Gesundheit verfolgt, ein Ansatz, der sich bis heute im Gesundheitsbereich beispielsweise in Form von Selbsthilfegruppen erhalten hat. Gesundheit und auch Krankheit werden dabei in erster Linie als Sache der Betroffenen verstanden (Ruckstuhl 2011: 60ff.). Die Fokuserweiterung auf individuelle Lebensweisen, auch als ›individuenorientierter Verhaltensansatz‹ bezeichnet, wird in den späten 1970er und 1980er Jahren, so die Darstellung von Lupton (1995: 50), von sozialen Bewegungen erneut kritisiert. Nun gerieten die individuenorientierten, auf Lebensweisen gerichteten Public-Health-Strategien, die sich vom kurativen medizinischen Modell abwandten und das Ziel einer grösseren Gerechtigkeit hinsichtlich der Gesundheitschancen verfolgten, unter Beschuss. Die Kritik richtete sich gegen eine einseitige oder zu starke Subjektorientierung und so gegen damit einhergehende Prozesse des ›blaming the victim‹ (vgl. u.a. Bunton, MacDonald 1992). Im Zuge der Frauen-, Ökologie-, Friedens-, Dritte-Welt-,
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Antiatomkraft- und Gesundheitsbewegungen30 wurden nun auch im Rahmen und Namen von Gesundheitspolitik verstärkt politische und soziale Veränderungen angestrebt. Gefordert wurden im Zuge eines »sozialökologischen Gesundheitsverständnisses« mehr Lebensqualität, ein Abbau gesellschaftlicher Hierarchien und die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen (vgl. Ruckstuhl 2011: 99f.). Das damit einhergehende ›neue‹ Gesundheitsverständnis umfasst neben dem Fokus auf Gesundheit als eine eigenständige, positive Konzeption auch eine neue Perspektivierung, welche auf Hygienemaßnahmen aus dem 19. Jahrhundert rekurriert (Lutpon 1995: 50): Der Blick wird auf soziale Verhältnisse gerichtet, auf die ungleiche Verteilung von Gesundheitsressourcen und die daraus folgenden gesundheitlichen Ungleichheitsverhältnisse. Hierin spielen die Ergebnisse aus der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung, die ab den 1980er Jahren systematisch in die Sozialberichterstattung eingeflossen sind und dort Bestätigung fanden, eine wichtige Rolle (vgl. Kap. 3.1.5). Zentral für die als New Public Health bezeichnete Perspektive, die das programmatischen Ziel ›Gesundheit für alle‹ verfolgt, ist die Frage, wie die Gesundheit einer Gesamtpopulation entsteht und gefördert und wie die Wahrscheinlichkeit von Krankheiten in der Bevölkerung gesenkt werden können. Der zentrale Ansatz von New Public Health respektive deren Strategie heißt ›Gesundheitsförderung‹ (Rosenbrock 2001). Während bei der Old Public Health31 die Prävention und Versorgung von Problemgruppen im Zentrum stand, richtet sich New Public Health mittels Gesundheitsförderung an die gesamte Bevölkerung, somit auch und insbesondere an Gesunde – mit der Absicht, ihre Gesundheit zu erhalten und zu stärken. Als neue Bezugsdisziplinen sind die Ökonomie, die Politikwissenschaften und die Managementwissenschaften zu den Gesundheitswissenschaften gekommen. Entsprechend den Zielsetzungen von Gesundheitsförderung verschiebt sich der vormals auf Individuen und deren Verhaltensweisen fixierte Schwerpunkt der medizinischen Krankheitsprävention in Richtung Verhältnisprävention. Lebens- und Arbeitsbedingungen, die gesundheitliche Belastungen darstellen, sollen, so die Programmatik von New Public Health, beeinflusst und verändert werden. Zentraler Bezugspunkt gesundheitsförderlicher
30 | Eine eigentliche Gesundheitsbewegung ließ sich in Deutschland, jedoch nicht in der Schweiz beobachten. Dort machte sich lediglich eine Medizinkritik breit, die sich u.a. stark auf das Buch von Ivan Illich »Die Enteignung der Gesundheit« aus dem Jahr 1975 bezog. 31 | Bezugsdisziplinen waren die Medizin, die Sozialmedizin und die Epidemiologie, als auch die Gesundheitssoziologie und –psychologie.
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Maßnahmen, so der Psychologe und Soziologe Peter Franzkowiak 32, sind die »sozialräumlich bestimmbare Lebenswelt und weitere spezifische Settings, in denen sich der Alltag der Menschen vollzieht und wo sie ihre Muster der Lebensführung und ihre alltäglichen Lebensweisen ausprägen« (Franzkowiak 2011: 262). Die innerhalb von Public Health als ›Setting-Ansatz‹ gehandelte, hier von Franzkowiak programmatisch geschilderte Strategie wird im Kapitel ›Gesundheitsförderung an Schulen‹ hinsichtlich ihrer Begrifflichkeit noch ausführlich diskutiert (Diskussion der Begrifflichkeit vgl. Kap. 5.1.3). Neu an New Public Health oder der ›öffentlichen Gesundheitsbewegung‹, so sind sich GesundheitswissenschaftlerInnen und auch MedizinsoziologInnen weitgehend einig, sind der verstärkte Populationsbezug und die Abkehr vom medizinischen Gesundheitsbegriff mit seinem deutlichen Individuenbezug und der Fokussierung auf Krankheit. New Public Health wendet sich in ihrer Programmatik explizit gegen eine zunehmende Medikalisierung der Gesellschaft und dem damit einhergehenden Autonomieverlust der einzelnen Subjekte. In der Darstellung von Franzkowiak handelt es sich bei Gesundheitsförderung um ein »weltweit verankertes gesundheits- und sozialpolitisches Konzept der Weltgesundheitsorganisation WHO«. Die Ottawa-Charta, die 1986 von der WHO verabschiedet wurde, gilt weithin als Kristallisations- und Ausgangspunkt von New Public Health. Gemäß Franzkowiak gelten die in der Ottawa-Charta formulierten Grundsätze bis heute als weltweit akzeptierter Orientierungsrahmen für Praxis und Politik der Gesundheitsförderung (ebd. 2011: 259). Auch Ruckstuhl bezeichnet in ihrer historischen Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte von Gesundheitsförderung die Charta als Grundlage und als Leitbild für den »neuen und innovativen Ansatz« (ebd. 2011: 11). Nettleton verortet den Begriff der Gesundheitsförderung, respektive ›Health Promotion‹ ebenso in den Debatten der 1980er Jahre und spricht der in Ottawa gehaltenen ersten Konferenz zur Gesundheitsförderung Initiationscharakter zu (ebd.: 2013). Für Ilona Kickbusch, eine der führenden Mitstreiterinnen und Verfechterinnen des New-Public-Health-Ansatzes ist die Charta gar Basis eines neuen Ethos sowie einer neuen Ausrichtung und Profession im Gesundheitswesen.33 32 | Peter Franzkowiak (geb. 1952) ist Diplom-Psychologe und promovierte als Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Medizinsoziologie an der Universität Göttingen. Er war als Erziehungsberater tätig, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter in Forschungsprojekten zu Prävention im Jugendalter, wissenschaftlicher Assistent in Lehre und Forschung an der Abteilung für Medizinische Soziologie der Universität Freiburg, Professor an der Fachhochschule Koblenz im Fachbereiche Sozialarbeit/Sozialwesen, seit 2002 für Gesundheitswissenschaften und Sozialmedizin in der Sozialen Arbeit. 33 | Ein ebenfalls wichtiges politisches Dokument zu New Public Health stellt der nicht zufällig in Kanada verfasste Gesundheitsbericht des Gesundheitsministers Marc Lalon-
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Der diesem Dokument relativ einhellig zugeschriebenen entscheidenden Bedeutung für die Akzeptanz und Verbreitung des neuen Diskurses über Gesundheit und des Denkens in Public Health soll in dieser Studie nachgegangen werden. Konkret wird in Kapitel 4 die Ottawa-Charta einer Analyse unterzogen.
3.2.3 Zur Diskussion und Kritik des Gesundheitsbegriffs der WHO Der Versuch der WHO, den Gesundheitsbegriff in einen breiten Kontext der menschlichen Lebenswelt einzuordnen und ihn aus dem Korsett der medizinischen Definition zu befreien, wird kontrovers diskutiert. Lanzerath beispielsweise erachtet den Versuch grundsätzlich als verdienstvoll. An der Gesundheitsdefinition der WHO kritisiert er jedoch »die Identifizierung von Gesundheit mit Glück, die vorschnelle Kategorisierung des Individuums als krank, die Vermischung von Medizin und Moralität sowie die unklare Abgrenzung der Medizin zu anderen Berufsfeldern« (Lanzerath 2006: 32). Der historische Kontext, so fügt er mildernd hinzu, in welchem die Gesundheitsdefinition der WHO entstanden ist, trage einiges zur Erklärung des Pathos bei: Für die Vereinten Nationen stellt die Weltgesundheit einen wichtigen Aspekt des Weltfriedens dar und kann als Gegenreaktion gelesen werden auf die durchlebten Gräuel des Kriegs. Robert Jütte führt einen weiteren Verdienst dieser auch von ihm als utopisch eingeschätzten Begriffsdefinition an: Sie ist in die gesundheitspolitische Diskussion eingeflossen und hat das Gesundheitsverständnis in Richtung eines dynamischen Gleichgewichts verändert – im Sinne einer Anlehnung an ein bio-kybernetisches Modell, welches den Körper-Geist-Dualismus zu überwinden sucht (Jütte 2008: 53). Seit einem halben Jahrhundert wird nach Jütte Krankheit nicht mehr ausschließlich im naturwissenschaftlichen Sinn als lokalisierbare, pathologisch-anatomische Veränderung gedeutet und auch nicht als reine Funktionsstörung. Hinzugekommen sind die psychosomatische und die soziale Dimensionen sowohl von Krankheit als auch von Gesundheit. Gesundheit wird damit von einer medizinischen zu einer weitreichenden sozialen und politischen Frage; die Definition weitet den Blick, weg von der ärztlichen Praxis, auf gesellschaftliche Verhältnisse.
de von 1974 dar (vgl. Parish 1995: 16, Zick-Varul 2004: 65) mit dem Titel »A new Perspective on the Health of Canadians«. Die Gesundheitsberichterstattung war in diesem Dokument das erste Mal nicht mehr nur Medizinstatistik und Bilanz des medizinischen Versorgungsangebots, sondern eine Art Diagnose der Möglichkeiten, vorzeitigem Tod und Behinderung in Kanada vorzubeugen.
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Auf problematische Implikationen, die mit der Definition des Gesundheitsbegriffs einhergehen, weist beispielsweise Daniel Callahan34 hin. Er spricht der WHO als einer internationalen Organisation eine entscheidende Definitionsmacht zu und meint: »[D]efining general terms is not an abstract exercise but a way of shaping the world metapyhsically and structuring the world politically.« (Callahan 1973: 78)
Das ethische Problem bei der Begriffsdefinition seien die Folgen von Umsetzungen, die ein spezifischer Gesundheitsbegriff ermöglicht oder nahelegt. Gewisse Verwendungen des Begriffs und Umsetzungen gesundheitsfördernder Maßnahmen können, so Callahan, sozial problematische Resultate zeigen. Seine Kritik richtet sich insbesondere auf den Anspruch der Allgemeingültigkeit und die Assoziation von Gesundheit und generellem Wohlbefinden als positives Ideal. Dies führt nach Callahan zu einer kulturellen Tendenz, alle sozialen Probleme zu Gesundheitsproblemen zu machen, von kriegerischen Handlungen bis zum kleinen Verbrechen auf der Strasse. Eine weitere problematische Konsequenz sieht er im Verschwimmen der Grenzen der Verantwortlichkeit zwischen der medizinischen Profession und der Politik. Die Rolle der Medizin wird seiner Einschätzung nach bei dieser Gesundheitsdefinition überschätzt, die Mehrheit der menschlichen Probleme sei vielmehr sozialer und politischer Art. Die Medizin könne einzelne Leben retten, nicht jedoch das Leben der Gesellschaft. Callahan schlägt deshalb vor, den Gesundheitsbegriff zu redimensionieren und wieder zu beschränken auf das physische Wohlbefinden (ebd.: 78f.).35 Callahan hält fest, dass als Konsequenz des umfassenden Gesundheitsbegriffs der WHO in der Tendenz alle von diesem Idealzustand abweichenden, 34 | Daniel Callahan (geb. 1930) ist Philosoph und bekannt für seine Publikationen in biomedizinischer Ethik. Er war Mitbegründer des Hastings Centers in New York, einem Forschungs- und Ausbildungszentrum für Fragen der Ethik in Medizin, Biologie und Umwelt, dem er bis 1996 als Präsident vorstand. Heute ist er Direktor des internationalen Programms des Zentrums und des Projekts »The Goals of Medicine« – »Die Ziele der Medizin«. 35 | Konkret lautet der Vorschlag eines alternativen Gesundheitsbegriffs von Callahan: »Health is a state of physical well-being«. Dieser Zustand muss nicht komplett sein, er schließt lediglich zentrale Funktionsstörungen aus. Seine Definition umfasst mentales Wohlbefinden nicht, da man auch gesund sein könne und zugleich besorgt oder auch depressiv. Und ebensowenig umfasst die Definition soziales Wohlbefinden. Eine dermaßen reduzierte Definition könne weniger gut sozial missbraucht werden: Das unfolgsame Kind von nebenan kann so nicht mehr als ›sick‹ bezeichnet werden, ausgenommen, es hat Fieber (ebd. 1973: 79).
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extremen, anstössigen, missfälligen Menschen in die Krankenrolle gedrängt werden. Diese Kritik steht auch bei Thomas Szaz36 im Zentrum der Argumentation. Das Gesundheitskonzept hat sich weg von einer medizinischen hin zu einer moralischen Arena verschoben. Was nicht länger im Namen der Moral getan werden kann, erfolgt nun unter dem Begriff ›Gesundheit‹: »human beings labeled, incarcerated, and dismissed for their failure to the line of ›normalcy‹ and ›sanity‹« (Szaz zit.n. Callahan 1973: 82). Als Psychiater richtet Szaz seine Kritik vor allem auf den Begriff der ›Geisteskrankheit‹, als eine ›Erfindung‹, um Kontrolle oder Veränderungen bei Menschen zu rechtfertigen, welche durch ihr Verhalten die soziale Ordnung gefährden würden. Mit dem in der WHODefinition erweiterten Gesundheitsbegriff, der auch die ›geistige‹ Dimension umfasst, sieht er als Folgen Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen voraus, die aufgrund von abweichender Lebensführung in die Rolle von Kranken gedrängt werden. Ein Konflikt mit gesellschaftlichen Normen kann als Anzeichen einer inneren Störung der Person gelesen werden. Die Ausdehnung des Gesundheitsbegriffs auf umfassendes Wohlbefinden, die Gleichstellung von Gesundheit mit einer Art Glückszustand ist der häufigste Ansatzpunkt von Kritik. Ebenso steht der Punkt in der Kritik, dass umgekehrt Krankheit Glück zu schmälern scheint. Alles, was als Symptom an die menschliche Endlichkeit erinnert, wird aus der Idealvorstellung verbannt; die Wunschvorstellungen zielen geradezu in Richtung Unendlichkeit des Lebens. »Gesundheit funktioniert als eine Art Code, der völlig disparate Bereiche des menschlichen Lebens und Arbeitens […] unter einem Label fasst und so in einem Deutungsfeld vereint. Die Veränderung liegt darin, dass Gesundheit nicht mehr allein der medizinischen Expertise überantwortet ist, sondern längst als integraler Bestandteil von alltäglicher Lebensqualität, Wohlbefinden und Glück verstanden wird« (Mazdumar 2004 zit.n. Brunnett 2007: 173)
Die medizinische und psychologische Profession werden damit zu Gate-Keepern für Glück und soziales Wohlbefinden, zu magischen Heilern menschlicher ›misery‹. Thomas Schramme bezeichnet den WHO-Gesundheitsbegriff als »Chiffre für Glück«, einen Zustand, den wir nur sehr selten erleben wür36 | Thomas Szaz, 1920 in Budapest geboren, emigrierte 1938 in die Vereinigten Staaten. Er studierte Medizin und Psychiatrie und machte eine psychoanalytische Ausbildung in Chicago. 1948 eröffnete er eine psychoanalytische Praxis; ab 1956 war er Professor für Psychiatrie an der State University of New York in Syracuse; 1990 wurde er emeritiert. Thomas Szasz ist einer der schärfsten Kritiker der Psychiatrie und ihrer Behandlungs- und Verwahrungspraktiken. Er gehört zu den ersten Vertretern der AntiPsychiatrie, zusammen mit Ronald D. Laing, Robert Castel, David Cooper, Franco Basaglia und Erving Goffman.
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den, und als politische Utopie. Medizin, dies seine Auffassung, die er mit Callahan teilt, sollte sich darauf beschränken, Krankheiten zu behandeln. Letztere definiert er als »Störung der Funktionsfähigkeit eines Organismus«, wohingegen Wohlergehen oder- Wohlbefinden in seinen Augen kein bestimmendes Kriterium für ärztliches Handeln sind. Für das Glück seien andere Institutionen zuständig (Schramme 2013). In die Reihe der KritikerInnen am Gesundheitsbegriff der WHO gesellt sich auch Niklas Luhmann (1990), der diesen als Ausdruck der Selbsthypostasierung des Gesundheitssystems sieht. Dieser Prozess ist nach Luhmann funktional differenzierten Sozialsystemen eigen, da sie keine Grenzen kennen und den Regeln des »Selbstantriebs« folgen. Er charakterisiert dies mit der Metapher des Heuschreckenflugs. Es gibt ein »autopoietisches Prinzip« des Schwärmens der Heuschrecken, welches diese immer weiter vorantreibt, bis sie erschöpft zu Boden fallen. Dabei ist der Anstoß für die Heuschrecken eine Luftbewegung, auf die sie reagieren. Eine Bewegung in der Luft setzt eine Flügelbewegung in Gang, diese erzeugt wiederum eine Luftbewegung, es entsteht eine kybernetische Feedbackschleife. Dieses Prinzip des positiven Feedbacks gilt nach Luhmann auch für das Gesundheitssystem. Das Tätigkeitsspektrum und die Dichte dehnen sich kontinuierlich aus, bis fehlende Energiezufuhr zu Ruhepausen zwingen. In diesem Expansionsprozesses spielt gemäß Luhmann die WHO-Gesundheitsdefinition eine zentrale Rolle, indem sie Universalität beansprucht und ohne Begrenzung der Reichweite ist (ebd.: 1983). »Die Hypostasierung wird dadurch erreicht, dass man nicht auf das Heilen von Krankheiten, sondern auf das Herstellen von Gesundheit abstellt und damit einer Semantik folgt, die einen jeweils steigerungsfähigen Zustand, nämlich uneingeschränktes Wohlbefinden in Aussicht stellt.« (Luhmann 1983: 32f.)
Luhmann macht, wie beispielsweise auch Schmidt (2014), den Beginn einer Neuausrichtung der Gesundheitspolitik mit der über die Krankheitsheilung hinausgehenden Gesundheitsförderung an der WHO-Definition von Gesundheit von 1946 fest. Interessanterweise kommt die Kritik am New-Public-Health-Ansatz und dessen Gesundheitsbegriff nicht nur von außen. Er wird seit dessen Propagierung selbstreflexiv auch von im Bereich von Public Health direkt Involvierten vorgebracht. So spricht beispielsweise Franzkowiak von Gesundheitsförderung als einem Aktionsprogramm, welches keine eigentliche Theorie der Gesundheitserhaltung darstellt. Im wissenschaftlichen Sinne handelt es sich für Franzkowiak um kein »hinreichend theoretisch fundiertes Konzept«, sondern in großen Teilen eher um ein intuitiv ausformuliertes, salutogenetisch-systemisches Grundverständnis. Dennoch, so seine Schlussfolgerung, bilden der Gesundheitsbegriff und der Gesundheitsförderungsansatz eine pragmatisch
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brauchbare und überzeugende Handlungsorientierung für das Ziel, soziale Räume und Lebenswelten orts- und bedürfnisspezifisch gesundheitsfördernd zu gestalten (ebd. 2011: 271f.).
3.3 F a zit : D er G esundheitsbegriff der WHO als alternativloser P r a xisbegriff Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der von der WHO in die Welt gesetzte Gesundheitsbegriff die Absicht einer Neudefinition deutlich macht. Dies geschieht zum einen mittels einer Abgrenzung gegenüber einem auf Krankheit bezogenen Gesundheitsverständnis. Zum anderen wird versucht, den Gesundheitsbegriff positiv zu bestimmen. Hierin sind zugleich subjektivierende und entgrenzende Tendenzen enthalten: Indem das individuelle Wohlbefinden zum Gradmesser von ›gesund sein‹ avanciert und nicht mehr das ärztliche Urteil, erhält das Subjekt zumindest scheinbar mehr Autonomie. Zugleich ist mit der Vorstellung des vollständigen und umfassenden Wohlbefindens der Bereich dessen, was Gesundheit alles umfassen kann, unendlich gewachsen; dazu trägt insbesondere die Erweiterung um die soziale Dimension bei, welche gesellschaftliche Verhältnisse mit in den Fokus rückt. Trotz der von verschiedenen AutorInnen geäusserten Kritik und Vorbehalten, hat sich der WHO-Gesundheitsbegriff bis heute halten können. Womöglich mangels Alternativen scheint er sich durchgesetzt zu haben. Er ist offenbar zeitgemäß und hinsichtlich aktueller gesellschaftlicher Problemlagen wie auch/oder in Bezug auf politische Regierungsstrategien ein angemessener Begriff der Praxis. Trotz seiner fehlenden analytischen Schärfe und dem hohen programmatischen Gehalt wird er auch als analytischer Begriff verwendet. Lehrpersonen gehören zu den AgentInnen der Gesundheitsförderung. Sie übernehmen den Auftrag der Gesundheitsförderung, sie sind aufgefordert und verpflichtet, diesen in ihren Klassen konkret umzusetzen. Sie werden damit zu ExpertInnen für gesundheitsfördernde Maßnahmen, zugleich sind sie, was gesundheitliches Wissen betrifft, Laien. Wie die in dieser Untersuchung interviewten Lehrpersonen Gesundheit definieren, ob sie dies überhaupt tun, worauf sie sich beziehen, falls und welche Aspekte sie betonen, wird im Folgenden im Zuge der Analyse der unterschiedlichen Deutungen von Gesundheitsförderung rekonstruiert. Insgesamt ist es ein Anliegen dieser Studie, besser zu verstehen, was Gesundheitsförderung ist und sein kann in Gegenüberstellung zu dem, was sie programmatisch sein soll.
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO von 1986 und daran anschließende Debatten 4.1 D er G egenstand der A nalyse : die O t tawa -C harta als S chlüsseldokument der G esundheitsförderung Der Frage auf der Spur, was ›Gesundheitsförderung‹ ist, kommt der 1986 verfassten Ottawa-Charta der WHO zur Gesundheitsförderung zentrale Bedeutung zu. Es handelt sich bis heute um das meistzitierte Bezugsdokument gesundheitsfördernder Gesundheitspolitik. Die Charta erscheint in wissenschaftlichen Publikationen als Bezugsgrösse, sie wird in Referaten an Tagungen, auf Homepages von Lehrstühlen der Gesundheitswissenschaften als Referenz angegeben, sie wird als »umfassendstes, wissenschaftlich gut untermauertes Präventionskonzept« (Rosenbrock 1998) und zugleich gesundheitspolitische Strategie gehandelt.1 Insgesamt wird dem Dokument paradigmatischer Charakter zugesprochen. So gilt 1986 als Geburtsjahr der neuen Strategien der Gesundheitsförderung (Robertson, Minkler 1994: 295; vgl. auch Kickbusch 2003, 2006). Zitiert wird die Charta denn auch in offiziellen Papieren der schulischen Gesundheitsförderung in der Schweiz: Dort wird sie, in Form von Zitaten, als Legitimation beigezogen, es wird auf die in der Charta enthaltenen Strategien verwiesen, sie gilt als ›theoretische‹ Grundlage von Programmen. Das gilt beispielsweise für das vom Bundesamt für Gesundheit getragene Programm 1 | Beispielsweise in der Einleitung eines ExpertInnengesprächs des Vereins SV Wissenschaft Forschung und Lehre in der Österreichischen Sozialversicherung vom 20. Juni 2008: »Die Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa Charta als wissenschaftliches Konzept und gesundheitspolitische Strategie wird heuer 22 Jahre alt«. URL: http://www. sv-wissenschaft.at/portal27/forschungundlehreportal/content/contentWindow?view mode=content&contendid=10007.719578 (Stand: 4.3.2013)
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›bildung + gesundheit‹, wo handlungsleitende Prinzipien aus der Charta zusammenfassend aufgeführt werden.2 Ebenso wird in zahlreichen Grundlagenpapieren von Organisationen im Bereich Public Health, wie beispielsweise der Stiftung ›Gesundheitsförderung Schweiz‹, auf die sogenannten Grundprinzipien der Ottawa-Charta Bezug genommen, als erstem Meilenstein von Gesundheitsförderung.3 Auch der Gesundheitsdienst der Stadt Bern, für die städtischen Schulen bezüglich Gesundheitsfragen die relevante Institution, bezieht sich in seinen Konzepten und Papieren explizit und mehrfach auf spezifische Ausschnitte aus der Charta. Dasselbe gilt für die Stiftung ›Berner Gesundheit‹, welche für die nicht-stadtbernischen Schulen zentrale Anlaufstelle in Sachen Gesundheitsförderung ist.4 Ebenso wird in Grundlagenpapieren des Schweizerischen Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen auf die Charta Bezug genommen. Dies scheint ganz im Sinne der WHO zu sein, unter deren Namen das Dokument verfasst wurde; so bezeichnet beispielsweise Desmond O’Byrne5, der strategische Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung der WHO, die Charta »als Wegbereiter für eine neue Definition der Gesundheitsförderung in einer modernen Gesellschaft« (Byrne 2011). Als »strategisches Grundgerüst« und mittels »politischer Richtlinien«, so Byrne weiter, unterstützt die Charta Entwicklungen im Bereich Gesundheitsförderung. Ihr programmatischer Charakter, so scheint es, schlägt sich seit ihrer Erstellung in der sozialen Wirklichkeit nieder.
2 | ›bildung + gesundheit‹ Netzwerk Schweiz: Ein Programm vom Bundesamt für Gesundheit, das 2003 in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren lanciert wurde. Im Flyer wird explizit aufgeführt, dass sich das Arbeitsverständnis an der Ottawa-Charta orientiert. URL: www.bildungundgesund heit.ch/dyn/bin/1321-88558-1-flyer_de.pdf (Stand: 4.3.2013). 3 | Vgl. URL: http://geschaeftsberichte.gesundheitsfoerderung.ch/2013/de/gesund heitsfoerderung_schweiz_auf_einen_blick/ (Stand: 4.3.2013). Gleiches gilt für das 1988 gegründete »Forum Gesundes Österreich«, heute »Fonds Gesundes Österreich« benannt, der als »zentrale Förderungs- und Fortbildungsstelle für Gesundheitsförderung in Österreich« gilt. URL: www.fgoe.org/der-fonds (Stand: 4.3.2013). 4 | Im Leitbild der Stiftung Berner Gesundheit erscheint die Ottawa-Charta als hauptsächliche Quelle für verwendete Begriffsdefinitionen. URL: www.bernergesundheit.ch/ download/ueber_uns_leitbild_2013_d.pdf (Stand: 4.3.2013). 5 | URL: www.goinginternational.eu/pdfs/fachartikel/Byrne1_dt.pdf (Stand: 4.3.2013). Eine Aussage von O’Byrne aus dem Artikel »Medizin und Gesundheit: Gesundheitsförderung« (2011) findet sich häufig in Publikationen und Internet-Seiten zu schulischer Gesundheitsförderung: »Gute Gesundheit unterstützt erfolgreiches Lernen. Erfolgreiches Lernen unterstützt die Gesundheit. Erziehung und Gesundheit sind untrennbar.«
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
4.1.1 Fragestellung und methodische Vorgehensweise In der nun folgenden Analyse soll untersucht werden, wie die Normativität, die unvermeidlich mit Gesundheitsförderung einhergeht (Schnabel et al. 2009), in diesem Grundlagendokument verankert ist und welche Handlungsimperative sie transportiert (Bittlingmayer, Ziegler 2012: 11). Ebenso interessiert, welches Verständnis von Gesundheit dem Papier zugrunde liegt. Die folgende Analyse soll einen Beitrag leisten zur Rekonstruktion eines Deutungsmusters ›Gesundheitsförderung‹ – unter der Voraussetzung, dass es sich wirklich um ein solches handelt (vgl. Methodenkapitel 1.3). Von Deutungsmustern zu sprechen, ist nach Oevermann (1973) nur dann geboten, wenn es sich um die Konstitution sozialer Realität als ›faits sociaux‹ handelt, die »den Handelnden objektiv gegenübertreten« (ebd.: 11). An anderer Stelle fügt Oevermann hinzu, dass es sich bei Deutungsmustern um eine verdichtete und allgemeine Form einer Deutung handelt als Antwort auf ein neu entstandenes Handlungsproblem (Oevermann 1973: 3f.). Hier könnten dies beispielsweise die neuen Formen chronischer Krankheiten, sogenannter Zivilisationskrankheiten, in Industriegesellschaften sein, welchen die Medizin nicht befriedigend beizukommen vermag. Oder es wäre auch die Hypothese zu verfolgen, ob sich hierbei Aspekte zeigen, die auf eine neue Form von Religiosität verweisen oder die zumindest sinnstiftende normative Orientierung in der Lebensführung bieten. Oder es wäre zu klären, ob es sich um eine Strategie der Ökonomisierung handelt, im Sinne der »Selbstmodellierung« von Körper und Psyche (vgl. Brunnett 2007) zwecks Subjektivierung der Arbeitskraft, oder um eine Ausdehnung des Gesundheitssystems (vgl. Kap. 2). Zur Beantwortung obiger Fragestellungen wird die Charta mittels des sequenzanalytischen Verfahrens analysiert, nach Maßgabe der methodischen Vorgaben der Objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann 2002; Wernet 2000). Die erste Seite des Dokuments wird hier nachfolgend Sequenz für Sequenz in ihrem Wortlaut wiedergegeben, die Analyse der folgenden Seiten hingegen wird nur noch punktuell zur Darstellung gebracht, zur Erhärtung, Wiederlegung oder Erweiterung bestehender Hypothesen. Während der Analyse wurde kein Kontextwissen beigezogen, die Logik wurde aus dem Material heraus rekonstruiert. In die Darstellung der Analyse werden zur besseren Verständlichkeit und Situierung Elemente aus dem Kontextwissen integriert. Die WHO als Organisation wird nach einer kurzen Einleitung nicht weiter Gegenstand der Analyse sein. Einzig die Frage, was es bedeutet, wenn ein als Paradigmenwechsel beschriebenes Programm auf der Ebene einer Sonderorganisation der UNO, der Weltgesundheitsorganisation WHO, erfolgt, wird in die Diskussion einbezogen.
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4.1.2 Zur Vorgeschichte der Charta: Ottawa, Europa und die WHO Die Geschichtsschreibung von Gesundheitsförderung, dies muss vorausgeschickt werden, wird fast ausschließlich von im Bereich der Public Health Involvierten geschrieben. Sie vermischt sich damit, so kann vermutet werden, immer wieder mit der von ihnen verfolgten Programmatik. Folgt man den Chroniken der WHO, beginnt die Vorgeschichte der Ottawa-Charta im europäischen Regionalbüro der WHO in Kopenhagen. Dort soll 1981 die Programmplanung zur ›Gesundheitsförderung‹ ihren Anfang genommen haben. Zuvor, von 1948, dem Gründungsjahr der WHO, bis Anfang der 1970er Jahre, lag der Fokus der Programmatik und Politik der WHO gemäß Labisch (1989) nicht auf den sogenannten Industrieländern, sondern war vielmehr geprägt von der Entwicklung und dem Export naturwissenschaftlich-technischer Medizin in die Entwicklungsländer. Von ChronistInnen der Geschichte der Gesundheitsförderung wird der neu auf die Industrieländer und die dort vorherrschenden Probleme gelegte Fokus als Paradigmenwechsel beschrieben, verbunden mit einem veränderten Gesundheitsverständnis (vgl. Kickbusch 2003; Ruckstuhl 2011; Franzkowiak 2011). Der Grundstein hierzu wurde mit der vom europäischen WHO-Regionalbüro erlassenen Alma-Ata-Erklärung »Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000« von 1978 gelegt. An der von der WHO veranstalteten Internationalen Konferenz über ›primäre Gesundheitsversorgung‹ im heutigen Almaty in Kasachstan wurde die Deklaration verabschiedet, in der Gesundheit für alle zum Programm erklärt wurde. Dabei wurden sowohl den einzelnen Menschen das Recht und die Verpflichtung zugesprochen, sich an der Planung und Umsetzung ihrer Gesundheitsversorgung zu beteiligen, als auch den Regierungen zugleich die Verantwortung für die Gesundheit ihrer Bevölkerung übertragen (WHO 1978). Auf gesundheitspolitischer Ebene sollte ein soziales, am Lebensraum, beispielsweise der Gemeinde, orientiertes Modell der Gesundheitsvorsorge und Gesundheitssicherung weltweit zu einem leitenden Ideal werden. Erklärte Zielsetzung war ein für alle befriedigendes »soziales und ökonomisches Leben«. Gesundheit im Sinne »umfassenden Wohlbefindens« sollte für alle verwirklicht und damit soziale und wirtschaftliche Teilhabe garantiert werden – weltweit. Gesundheit wurde damit zur Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erklärt, was zu einer Fokussierung ungerechter Verteilung von Gesundheitsressourcen führen müsste (vgl. Epp 1986; Eakin 1996; auch Robertson 1996). Die Lebensbedingungen wie auch die sich darin spiegelnden sozialen Ungleichheiten werden indirekt als wesentliche Ursache für Gesundheit und Krankheit erkannt und teilweise auch anerkannt. Eine Weiterführung der Diskussionen im Rahmen dieser neuen Programmatik der Gesundheitspolitik spiegelt sich in der Entwicklung eines Programms mit dem Titel »Gesundheitserziehung und Lebensweisen« wieder, welches für
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
Europa 1981 vorgestellt und verabschiedet wurde (vgl. Exkurs in Kap. 3.2.2). Angeregt von der Kopenhagener WHO-Arbeitsgruppe, in welcher Ilona Kickbusch, Lowell S. Levin und Bernard Badura zu den Wortführenden gehörten, wurde zu einem interdisziplinären Diskurs angeregt über ›Wandlungen im sozialen, ökologischen und partizipativen Verständnis von Gesundheit und Krankheit‹. Diese Diskussionen fanden ihren Niederschlag im WHO-Dokument »Concepts and Principles of Health Promotion« (WHO 1984), welches als vorbereitendes Papier für die 1986 in Ottawa abgehaltene erste Konferenz zur Gesundheitsförderung diente. Mit dieser ›neuen‹ Programmatik verbunden war der Bedarf an neuen Lösungsansätzen. Gemäß dem umfassenden Gesundheitsverständnis, so die interne Geschichtsschreibung, galt es, die Bedürfnisse der Menschen zu berücksichtigen sowie Eigenständigkeit und Selbstbestimmung mittels Empowerment (vgl. Kap. 5) zu unterstützen. Wichtiger Teil der neuen Strategie war zunächst der ›Community-Ansatz‹, welcher auf partizipativer Basis Gemeinwesenentwicklung befördern sollte. Dies wurde als Prozess verstanden, bei dem ein Gemeinwesen seine Gesundheitsbedürfnisse selber formuliert, darüber nachdenkt, wie diese erfüllt werden können und selber darüber entscheidet, welche Prioritäten gesetzt werden sollen (Naidoo, Wills 2010: 237ff.). Diese in ihrer Philosophie auf Paolo Freire zurückzuführende Methode, die einem politisch-partizipativen Ansatz folgt, wurde in der Weiterführung durch den ›Setting-Ansatz‹ ergänzt, teilweise auch ersetzt. Es handelt sich hierbei um eine systemtheoretische Strategie, die ursprünglich aus der betrieblichen Organisationsentwicklung stammt und gesundheitsfördernde Interventionen in sozialen Systemen beschreibt (vgl. Pelikan 2007). Bedeutsam für den sich innerhalb der WHO abzeichnenden Wandel war gemäß Ruckstuhl (2011: 88) die Wahl von Halfdan Mahler6 zum WHO-Direktor. Für ihn, welcher der WHO von 1973 bis 1988 vorstand, stand soziale Gerechtigkeit ganz oben auf der Prioritätenliste der zu verfolgenden Ziele. Er wird als »Initiator« und »Architekt« der Umorientierung in der WHO bezeichnet (Ruckstuhl 2011: 88), die eine gerechte oder gerechtere Verteilung der 6 | Halfdan T. Mahler (geb. 1923) ist dänischer Arzt. Drei Jahre nach Abschluss seines Medizinstudiums trat er 1951 in die WHO ein und war verantwortlich für die TB-Bekämpfung in Indien. Ab 1962 arbeitete er als Leiter der WHO-Tuberkulose-Einheit in Genf. 1973 wurde er zum Generaldirektor der WHO gewählt. Dieses Amt übte er während drei Wahlperioden bis 1988 aus. Während seiner Amtszeit war das globale gesundheitspolitische Konzept der primären Gesundheitsversorgung zentrales Thema. Es wurde 1978 anlässlich der internationalen Konferenz von Alma-Ata zum ersten Mal deklariert und 1979 mit dem Ziel der »Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000« als Programm von der 32. Weltgesundheitsversammlung verabschiedet. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/ Halfdan_T._Mahler (Stand: 2.7.2013).
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gesundheitlichen Ressourcen zugunsten der benachteiligten Bevölkerungsgruppen zum Ziel hatte. Unter seiner Ägide wurde die vom regionalen Büro in Kopenhagen organisierte Konferenz in Ottawa abgehalten, an der ca. 200 Teilnehmende aus 38 fast ausschließlich industrialisierten Ländern teilnahmen; in anderen Chroniken7 ist die Rede von 240 Teilnehmenden aus 35 Ländern.8 Anwesend waren WissenschaftlerInnen, vorwiegend MedizinerInnen und SozialwissenschaftlerInnen, sowie ›policy-makers‹ und ›public health practioners‹ (Potvin, Jones 2011: 244), dazu auch einige wenige VertreterInnen sozialer Bewegungen. Die Ottawa-Charta steht am Anfang einer Folge von WHO-Konferenzen, die in unregelmäßigen Abständen in verschiedenen Städten unter dem Titel ›Health promotion‹ oder ›Gesundheitsförderung‹ abgehalten wurden: 1986 in Ottawa, 1988 in Adelaide, 1991 in Sundsvall (Schweden), 1997 in Jakarta, 2000 in Mexiko, 2005 in Bangkok, 2009 in Nairobi, 2013 in Helsinki. An den Konferenzen wurden jeweils verschiedene Schwerpunkte gelegt.9 Die in Ottawa verabschiedete Charta gilt, auch in der internen Geschichtsschreibung, als Gründungspapier dieses Richtungswechsels in der WHO-Gesundheitspolitik, als Abkehr von der präventiv ausgerichteten Gesundheitserziehung hin zur Gesundheitsförderung (vgl. Ruckstuhl 2011; Trojan, Legewie 2007).
7 | URL:www.gesundheitsfoerderndehochschulen.de/HTML/B_Basiswissen_GF/ B1_Historische_Entwicklung_und_gesetzliche_Grundlagen1.html (Stand: 15.6.2013). 8 | Von den Teilnehmenden an der Ottawa-Konferenz konnten folgende Personen ausfindig gemacht werden: Prof. Dr. Bernhard Badura von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld; Prof. Dr. Ilona Kickbusch, sie gilt als ›Mutter‹ der Charta (Badura 2006: 13); Dr. Hans Saan, Senior Consultant für Strategie und professionelle Entwicklung am Netherlands Institute for Health Promotion and Disease Prevention in Woerden, Niederlande; Dr. med. Halfdan Mahler; David V. McQueen, IUHPE Vice-President for Scientific and Technical Development, Associate Director for Global Health Promotion; Mihaly Kökény, ehemaliger Gesundheitsminister in Ungarn, Budapest. Kickbusch engagierte letzteren als Mitglied der Steuerungsgruppe für die OttawaKonferenz, als einzigen Vertreter eines kommunistischen Landes (vgl. Kickbusch 2006: 20). Ebenso nahmen Umweltaktivistinnen und VertreterInnen des Boston Womens’s Health Collective an der Konferenz teil. 9 | Vgl. URL: www.who.int/healthpromotion/conferences/en/(Stand: 4.3.2013).
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
4.2 A nalyse der O t tawa -C harta der WHO : ›G esundheitsförderung ‹ – ein D eutungsmuster ? 4.2.1 Die formale Gestalt der Charta Eine unübersichtliche Struktur Die Ottawa-Charta kann in vier Sprachen von der WHO-Homepage heruntergeladen werden: Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch.10 Grundlage der vorliegenden Analyse ist die deutschsprachige Online-Version11 (vgl. Anhang 1). Abbildung 1: Ottawa Charta for Health Promotion (Copenhagen, WHO, Regional Office for Europe, 1986, Online-Version) soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes istist zwangsläufig fest anan diese Grundvoraussetzungen Gesundheitszustandes zwangsläufig fest diese Grundvoraussetzungen gebunden. gebunden.
Interessen Interessenvertreten vertreten
Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, 1986 Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, 1986 Die erste Internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung hathat amam 21.21. November Die erste Internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung November 1986 inin Ottawa diedie folgende Charta verabschiedet. Sie ruft damit auf zuzu aktivem 1986 Ottawa folgende Charta verabschiedet. Sie ruft damit auf aktivem Handeln fürfür das Ziel „Gesundheit fürfür alle“ bisbis zum Jahr 2000 und darüber hinaus. Handeln das Ziel „Gesundheit alle“ zum Jahr 2000 und darüber hinaus. Die Konferenz verstand sich inin erster Linie alsals eine Antwort auf diedie wachsenden Die Konferenz verstand sich erster Linie eine Antwort auf wachsenden Erwartungen anan eine neue öffentliche Gesundheitsbewegung. Die Diskussion befasste Die Diskussion befasste Erwartungen eine neue öffentliche Gesundheitsbewegung. sich vorrangig mit Erfordernissen inin Industrieländern, eses wurden aber auch Probleme sich vorrangig mit Erfordernissen Industrieländern, wurden aber auch Probleme aller anderen Regionen erörtert. Ausgangspunkt waren diedie auf der Grundlage der aller anderen Regionen erörtert. Ausgangspunkt waren auf der Grundlage der Deklaration von Alma-Ata über gesundheitliche Grundbetreuung erzielten Deklaration von Alma-Ata über gesundheitliche Grundbetreuung erzielten Fortschritte, das WHO-Dokument „Gesundheit fürfür alle“ sowie diedie während der Fortschritte, das WHO-Dokument „Gesundheit alle“ sowie während der letzten Weltgesundheitsversammlung geführte Diskussion zum intersektoriellen letzten Weltgesundheitsversammlung geführte Diskussion zum intersektoriellen Zusammenwirken fürfür diedie Gesundheit. Zusammenwirken Gesundheit.
Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen einein höheres Maß anan Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen höheres Maß Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zuzu ermöglichen und siesie damit zur Stärkung Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglichen und damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zuzu befähigen. Um einein umfassendes körperliches, seelisches und ihrer Gesundheit befähigen. Um umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. InIn diesem und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. diesem Sinne istist diedie Gesundheit alsals einein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zuzu Sinne Gesundheit wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens verstehen und nicht alsals vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht fürfür einein positives verstehen und nicht vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht positives Konzept, das inin gleicher Weise diedie Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen Konzept, das gleicher Weise Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen fürfür diedie Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur beibei dem Gesundheitssektor sondern beibei Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur dem Gesundheitssektor sondern allen Politikbereichen und zielt über diedie Entwicklung gesünderer Lebensweisen allen Politikbereichen und zielt über Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf diedie Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin. hinaus auf Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.
Voraussetzungen Voraussetzungenfür fürdie dieGesundheit Gesundheit Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, einein Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen,
Ein guter Gesundheitszustand istist eine wesentliche Bedingung fürfür soziale, Ein guter Gesundheitszustand eine wesentliche Bedingung soziale, ökonomische und persönliche Entwicklung und entscheidender Bestandteil der ökonomische und persönliche Entwicklung und entscheidender Bestandteil der Lebensqualität. Politische, ökonomische, soziale, kulturelle, biologische sowie Lebensqualität. Politische, ökonomische, soziale, kulturelle, biologische sowie Umwelt und Verhaltensfaktoren können alle entweder der Gesundheit zuträglich sein Umwelt und Verhaltensfaktoren können alle entweder der Gesundheit zuträglich sein oder auch siesie schädigen. Gesundheitsförderndes Handeln zielt darauf ab,ab, durch oder auch schädigen. Gesundheitsförderndes Handeln zielt darauf durch aktives anwaltschaftliches Eintreten diese Faktoren positiv zuzu beeinflussen und der aktives anwaltschaftliches Eintreten diese Faktoren positiv beeinflussen und der Gesundheit zuträglich zuzu machen. Gesundheit zuträglich machen.
Befähigen Befähigenund undermöglichen ermöglichen Gesundheitsförderung istist auf Chancengleichheit auf dem Gebiet der Gesundheit Gesundheitsförderung auf Chancengleichheit auf dem Gebiet der Gesundheit gerichtet. Gesundheitsförderndes Handeln bemüht sich darum, bestehende soziale gerichtet. Gesundheitsförderndes Handeln bemüht sich darum, bestehende soziale Unterschiede des Gesundheitszustandes zuzu verringern sowie gleiche Möglichkeiten Unterschiede des Gesundheitszustandes verringern sowie gleiche Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaffen, damit alle Menschen befähigt werden, ihrihr und Voraussetzungen zu schaffen, damit alle Menschen befähigt werden, größtmöglichstes Gesundheitspotential zuzu verwirklichen. Dies umfasst sowohl größtmöglichstes Gesundheitspotential verwirklichen. Dies umfasst sowohl Geborgenheit und Verwurzelung inin einer unterstützenden sozialen Umwelt, den Geborgenheit und Verwurzelung einer unterstützenden sozialen Umwelt, den Zugang zuzu allen wesentlichen Informationen, diedie Entfaltung von praktischen Zugang allen wesentlichen Informationen, Entfaltung von praktischen Fertigkeiten, alsals auch diedie Möglichkeit, selber Entscheidungen inin Bezug auf ihre Fertigkeiten, auch Möglichkeit, selber Entscheidungen Bezug auf ihre persönliche Gesundheit treffen zu können. Menschen können ihr Gesundheitspotential persönliche Gesundheit treffen zu können. Menschen können ihr Gesundheitspotential nur dann weitestgehend entfalten, wenn siesie auf diedie Faktoren, diedie ihre Gesundheit nur dann weitestgehend entfalten, wenn auf Faktoren, ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können. Dies gilt fürfür Frauen ebenso wie fürfür beeinflussen, auch Einfluss nehmen können. Dies gilt Frauen ebenso wie Männer. Männer.
Vermitteln Vermittelnund undvernetzen vernetzen Der Gesundheitssektor allein istist nicht inin der Lage, diedie Voraussetzungen und guten Der Gesundheitssektor allein nicht der Lage, Voraussetzungen und guten Perspektiven fürfür diedie Gesundheit zuzu garantieren. Gesundheitsförderung verlangt Perspektiven Gesundheit garantieren. Gesundheitsförderung verlangt vielmehr einein koordiniertes Zusammenwirken unter Beteiligung der Verantwortlichen vielmehr koordiniertes Zusammenwirken unter Beteiligung der Verantwortlichen inin Regierungen, imim Gesundheits-, Sozialund Wirtschaftssektor, inin nichtstaatlichen Regierungen, Gesundheits-, Sozialund Wirtschaftssektor, nichtstaatlichen und selbstorganisierten Verbänden und Initiativen sowie inin lokalen Institutionen, inin und selbstorganisierten Verbänden und Initiativen sowie lokalen Institutionen, der Industrie und den Medien. Menschen inin allen Lebensbereichen sind daran zuzu der Industrie und den Medien. Menschen allen Lebensbereichen sind daran beteiligen alsals einzelne, alsals Familien und Gemeinschaften. Die Berufsgruppen und beteiligen einzelne, Familien und Gemeinschaften. Die Berufsgruppen und sozialen Gruppierungen sowie die Mitarbeiter des Gesundheitswesens tragen große sozialen Gruppierungen sowie die Mitarbeiter des Gesundheitswesens tragen große Verantwortung fürfür eine gesundheitsorientierte Vermittlung zwischen den Verantwortung eine gesundheitsorientierte Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Interessen inin der Gesellschaft. unterschiedlichen Interessen der Gesellschaft. Die Programme und Strategien zur Gesundheitsförderung sollten den örtlichen Die Programme und Strategien zur Gesundheitsförderung sollten den örtlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Länder und Regionen angepasst sein und diedie Bedürfnissen und Möglichkeiten der Länder und Regionen angepasst sein und unterschiedlichen Gesellschaftsund Wirtschaftssysteme sowie diedie kulturellen unterschiedlichen Gesellschaftsund Wirtschaftssysteme sowie kulturellen Gegebenheiten berücksichtigen. Gegebenheiten berücksichtigen.
10 | URL: www.euro.who.int/de/who-we-are/policy-documents/ottawa-charter-forhealth-promotion,-1986 (Stand: 4.3.2013). 11 | Die deutsche Version wird in einer Klammerbemerkung am Schluss des Dokuments als »WHO-autorisierte Übersetzung« betitelt, es folgen nach einem Doppelpunkt die Autorenangaben: »Hildebrandt/Kickbusch auf der Basis von Entwürfen aus der DDR und von Badura sowie Milz«. Eine solche Angabe fehlt bei allen andern Übersetzungen.
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Aktives, gesundheitsförderndes Handeln erfordert: Eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln Gesundheitsförderung beinhaltet weit mehr als medizinische und soziale Versorgung. Gesundheit muss auf allen Ebenen und in allen Politiksektoren auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Politikern müssen dabei die gesundheitlichen Konsequenzen ihrer Entscheidungen und ihre Verantwortung für Gesundheitsförderung verdeutlicht werden. Dazu wendet eine Politik der Gesundheitsförderung verschiedene, sich gegenseitig ergänzende Ansätze an, u. a. Gesetzesinitiativen, steuerliche Maßnahmen und organisatorisch strukturelle Veränderungen. Nur koordiniertes, verbündetes Handeln kann zu einer größeren Chancengleichheit im Bereich der Gesundheits-, Einkommens- und Sozialpolitik führen. Ein solches gemeinsames Handeln führt dazu, ungefährlichere Produkte, gesündere Konsumgüter und gesundheitsförderlichere soziale Dienste zu entwickeln sowie sauberere und erholsamere Umgebungen zu schaffen. Eine Politik der Gesundheitsförderung muss Hindernisse identifizieren, die einer gesundheitsgerechteren Gestaltung politischer Entscheidungen und Programme entgegenstehen. Sie muss Möglichkeiten einer Überwindung dieser Hemmnisse und Interessensgegensätze bereitstellen. Ziel muss es sein, auch politischen Entscheidungsträgern die gesundheitsgerechtere Entscheidung zur leichteren Entscheidung zu machen.
Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen Unsere Gesellschaften sind durch Komplexität und enge Verknüpfung geprägt; Gesundheit kann nicht von anderen Zielen getrennt werden. Die enge Bindung zwischen Mensch und Umwelt bildet die Grundlage für einen sozial-ökologischen Weg zur Gesundheit. Oberstes Leitprinzip für die Welt, die Länder, Regionen und Gemeinschaften ist das Bedürfnis, die gegenseitige Unterstützung zu fördern – sich um den anderen, um unsere Gemeinschaften und unsere natürliche Umwelt zu sorgen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Erhaltung der natürlichen Ressourcen als globale Aufgabe. Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein. Gesundheitsförderung schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Lebensbedingungen. Eine systematische Erfassung der gesundheitlichen Folgen unserer sich rasch wandelnden Umwelt – insbesondere in den Bereichen Technologie, Arbeitswelt, Energieproduktion und Stadtentwicklung – ist von essentieller Bedeutung und erfordert aktives Handeln zugunsten der Sicherstellung eines positiven Einflusses auf die Gesundheit der Öffentlichkeit. Jede Strategie zur Gesundheitsförderung muss den
Die Gesundheitsdienste müssen dabei eine Haltung einnehmen, die feinfühlig und respektvoll die unterschiedlichen kulturellen Bedürfnisse anerkennt. Sie sollten dabei die Wünsche von Individuen und sozialen Gruppen nach einem gesünderen Leben aufgreifen und unterstützen sowie Möglichkeiten der besseren Koordination zwischen dem Gesundheitssektor und anderen sozialen, politischen, ökonomischen Kräften eröffnen. Eine solche Neuorientierung von Gesundheitsdiensten erfordert zugleich eine stärkere Aufmerksamkeit für gesundheitsbezogene Forschung wie auch für die notwendigen Veränderungen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Ziel dieser Bemühungen soll ein Wandel der Einstellungen und der Organisationsformen sein, die eine Orientierung auf die Bedürfnisse des Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit ermöglichen.
Auf dem Weg in die Zukunft Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen. Füreinander Sorge zu tragen, Ganzheitlichkeit und ökologisches Denken sind Kernelemente bei der Entwicklung von Strategien zur Gesundheitsförderung. Alle Beteiligt en sollt en als ein Leitprinzip anerkennen, dass in jeder Phase der Planung, Umsetzung und Auswertung von gesundheitsfördernden Handlungen Frauen und Männer gleichberechtigte Partner sind.
Gemeinsame Verpflichtung zur Gesundheitsförderung Die Teilnehmer der Konferenz rufen dazu auf:
an einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik mitzuwirken und sich dafür einzusetzen, dass ein eindeutiges politisches Engagement für Gesundheit und Chancengleichheit in allen Bereichen zustande kommt; allen Bestrebungen entgegenzuwirken, die auf die Herstellung gesundheitsgefährdender Produkte, auf die Erschöpfung von Ressourcen, auf ungesunde Umwelt- und Lebensbedingungen oder eine ungesunde Ernährung gerichtet sind. Es gilt dabei, Fragen des öffentlichen Gesundheitsschutzes wie Luftverschmutzung, Gefährdungen am Arbeitsplatz, Wohn- und Raumplanung in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen; die gesundheitlichen Unterschiede innerhalb der Gesellschaften und zwischen ihnen abzubauen und die von den Vorschriften und Gepflogenheiten dieser Gesellschaften geschaffenen Ungleichheiten im Gesundheitszustand zu bekämpfen;
Schutz der natürlichen und der sozialen Umwelt sowie die Erhaltung der vorhandenen natürlichen Ressourcen mit zu Ihrem Thema machen.
Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen Gesundheitsförderung wird realisiert im Rahmen konkreter und wirksamer Aktivitäten von Bürgern in ihrer Gemeinde: in der Erarbeitung von Prioritäten, der Herbeiführung von Entscheidungen sowie bei der Planung und Umsetzung von Strategien. Die Unterstützung von Nachbarschaften und Gemeinden im Sinne einer vermehrten Selbstbestimmung ist ein zentraler Angelpunkt der Gesundheitsförderung; ihre Autonomie und Kontrolle über die eigenen Gesundheitsbelange ist zu stärken. Die Stärkung von Nachbarschaften und Gemeinden baut auf den vorhandenen menschlichen und materiellen Möglichkeiten der größeren öffentlichen Teilnahme und Mitbestimmung auf. Selbsthilfe und soziale Unterstützung sowie flexible Möglichkeiten der größeren öffentlichen Teilnahme und Mitbestimmung für Gesundheitsbelange sind dabei zu unterstützen bzw. neu zu entwickeln. Kontinuierlicher Zugang zu allen Informationen, die Schaffung von gesundheitsorientierten Lernmöglichkeiten sowie angemessene finanzielle Unterstützung gemeinschaftlicher Initiativen sind dazu notwendige Voraussetzungen.
Persönliche Kompetenzen entwickeln Gesundheitsförderung unterstützt die Entwicklung von Persönlichkeit und sozialen Fähigkeiten durch Information, gesundheitsbezogene Bildung sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und lebenspraktischer Fertigkeiten. Sie will dadurch den Menschen helfen, mehr Einfluss auf ihre eigene Gesundheit und ihre Lebenswelt auszuüben, und will ihnen zugleich ermöglichen, Veränderungen in ihrem Lebensalltag zu treffen, die ihrer Gesundheit zu gute kommen. Es gilt dabei, Menschen zu lebenslangem Lernen zu befähigen, und ihnen zu helfen, mit den verschiedenen Phasen ihres Lebens sowie eventuellen chronischen Erkrankungen und Behinderungen umgehen zu können. Dieser Lernprozess muss sowohl in Schulen wie auch zu Hause, am Arbeitsplatz und innerhalb der Gemeinde erleichtert werden. Erziehungsverbände, die öffentlichen Körperschaften, Wirtschaftsgremien und gemeinnützige Organisationen sind hier ebenso zum Handeln aufgerufen wie die Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen selbst.
Die Gesundheitsdienste neu orientieren Die Verantwortung für die Gesundheitsförderung wird in den Gesundheitsdiensten von Einzelpersonen, Gruppen, den Ärzten und anderen Mitarbeitern des Gesundheitswesens, den Gesundheitseinrichtungen und dem Staat geteilt. Sie müssen gemeinsam darauf hinarbeiten, ein Versorgungssystem zu entwickeln, das auf die stärkere Förderung von Gesundheit ausgerichtet ist und weit über die medizinischkurativen Betreuungsleistungen hinausgeht.
die Menschen selber als die Träger ihrer Gesundheit anzuerkennen und sie zu unterstützen und auch finanziell zu befähigen, sich selbst, ihre Familien und Freunde gesund zu erhalten. Soziale Organisationen und die Gemeinde sind dabei als entscheidende Partner im Hinblick auf Gesundheit, Lebensbedingungen und Wohlbefinden zu akzeptieren und zu unterstützen; die Gesundheitsdienste und ihre Mittel auf die Gesundheitsförderung hin umzuorientieren und auf das Zusammenwirken der Gesundheitsdienste mit anderen Sektoren, anderen Disziplinen und, was noch viel wichtiger ist, mit der Bevölkerung selbst hinzuwirken; die Gesundheit und ihre Erhaltung als eine wichtige gesellschaftliche Investition und Herausforderung zu betrachten und die globale ökologische Frage unserer Lebensweisen aufzuwerfen.
Die Konferenzteilnehmer rufen auf, sich in diesem Sinne zu einer starken Allianz zur Förderung der öffentlichen Gesundheit zusammenzuschließen.
Aufruf zu internationalem Handeln Die Konferenz ersucht die Weltgesundheitsorganisation und alle anderen internationalen Organisationen, für die Förderung von Gesundheit Partei zu ergreifen und ihre einzelnen Mitgliedsländer dabei zu unterstützen, Strategien und Programme für die Gesundheitsförderung zu entwickeln. Die Konferenz ist der festen Überzeugung, dass dann, wenn Menschen in allen Bereichen des Alltages, wenn soziale Verbände und Organisationen, wenn Regierungen, die Weltgesundheitsorganisation und alle anderen betroffenen Gruppen ihre Kräfte entsprechend den moralischen und sozialen Werten dieser Charta vereinigen und Strategien der Gesundheitsförderung entwickeln, dass dann „Gesundheit für alle“ im Jahre 2000 Wirklichkeit werden wird. [WHO-autorisierte Übersetzung: Hildebrandt/Kickbusch auf der Basis von Entwürfen aus der DDR und von Badura sowie Milz.]
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
Noch ohne auf den Wortlaut einzugehen, lässt sich zur formalen Gestaltung festhalten, dass es sich mit seinen sechs Seiten um ein relativ langes, textlastiges Dokument handelt. Das edierte Originaldokument in englischer Sprache verfügt nur minimal über eine etwas klarere textliche Struktur. Die in 14 etwa gleichrangige Kapitel unterteile Textstruktur, insbesondere auch die nicht existierende Inhaltsangabe, machen es schwierig, sich einen Überblick über das Dokument zu verschaffen. Eine klare Hierarchie der Titel ist nicht erkennbar, eine Nummerierung der Kapitel fehlt. Als unwahrscheinlich kann eine Absicht, mittels dieses Papiers eine Verrechtlichung anzustreben, angenommen werden, ansonsten wären potenzielle Artikel und Satzungen mit Nummern versehen. Die in der Charta zur Diskussion stehende Sachlage, so kann aus der Textstruktur und formalen Darstellung zusammenfassend gefolgert werden, ist keine einfache, sie lässt sich nicht ohne Weiteres abbilden und bedarf vieler Worte. Die Strukturierung des Dokuments deutet auf das Abbild einer Debatte hin oder auf die Wiedergabe einer oder mehrerer Argumentationen. Aus dem Fließtext stechen die sechs Aufzählungszeichen gegen Schluss des Dokuments durch ihre formale Gestaltung heraus; hier will etwas auf den Punkt gebracht werden. Doch auch diese Inhalte bedürfen relativ ausführlicher Formulierungen. Den Schluss des Dokuments bildet erneut ein Absatz in Fließtext.
Ein Dokument mit großer Reichweite Als einziges grafisches Element sticht optisch das Logo am Kopf des Dokuments hervor, womöglich der Absender respektive Urheber. Auch ohne Vorwissen wird aus der Betrachtung des Logos deutlich, dass die Welt als Ganze angesprochen oder involviert sein muss. Das bei Apotheken und auf medizinischen Informationsschriften und teilweise auch in Arztpraxen vorzufindende Symbol des von einer Schlange umwundenen Äskulapstabs deutet darauf hin, dass es thematisch um Krankheit und/oder Gesundheit gehen mag, vielleicht um eine weltweite angestrebte Verbreitung oder Verbesserung der medizinischen Versorgung. Der Lorbeerkranz, welcher das Logo umrahmt, kann sowohl für friedliche Absichten als auch für Siegesgewissheit und somit Kampf stehen. In jedem Fall steht das Logo für Taten mit großer Reich- und womöglich Tragweite. Im deutschsprachigen Papier ist das Logo umschrieben mit dem Namen ›Weltgesundheitsorganisation‹. Als eine Sonderorganisation der UNO gilt sie als international anerkanntes Völkerrechtssubjekt. Ein zwischenstaatlicher Zusammenschluss dieser Art bildet eine Vergemeinschaftung auf höchster Ebene, jener der sogenannten Weltgemeinschaft. Was hier dargelegt wird, so kann geschlossen werden, gilt im Namen aller Völker, aller Menschen. Im Gegensatz zu anderen Chartas wird nicht ersichtlich, wer die Charta erarbeitet hat, es sind keine Unterzeichnenden aufgeführt. Im deutschsprachigen Papier sticht zugleich das in Grossbuchstaben darunter stehende ›EUROPA‹ hervor – wobei unklar bleibt, ob es sich um einen
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Teil des Logos oder um einen übergeordneten Titel des Dokuments handelt. Wäre letzteres der Fall, dann würde sich die Weltorganisation im vorliegenden Papier ausschließlich dem geografischen Raum Europa widmen. Wäre ›Europa‹ noch Bestandteil des Logos, dann würde hier, unter Beizug von Kontextwissen, das europäische Regionalbüro als AutorInnenschaft zeichnen und möglicherweise Satzungen für die ganze Welt verfassen. Die Reichweite der Bedeutung dieser Schrift, so kann aufgrund der Analyse des Absenders zusammenfassend angenommen werden, ist eine weltumspannende, wobei Europa eine hervorgehobene Bedeutung zukommt. Dabei werden weder die Teilnehmenden der Konferenz, an der sie entstand, sichtbar, noch ist deutlich, ob die Charta von ihnen verabschiedet wurde. Thematisch geht es, dies kann aus dem Logo geschlossen werden, auf der Ebene einer internationalen Organisation um Fragen von Gesundheit und Krankheit.
4.2.2 Zum Gegenstand der Charta: Steigerung der Gesundheit Die oberste Zeile des Dokuments »Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, 1986« (WHO 1986: 1) gibt nun weiter Aufschluss, worum es beim vorliegenden Papier geht. Mit Charta – verwandt mit dem lateinischen Wort ›carta‹, das Papier – werden für das Staats- und Völkerrecht grundlegende Urkunden bezeichnet, es kann aber auch eine Bezeichnung für Satzungen und Selbstverpflichtungen von nicht-staatlichen Organisationen sein, wie z.B. Berufsverbänden, Selbsthilfegruppen oder lose vereinten KünstlerInnen, die mit dem Dokument gemeinsame Absichten kundtun.12 Charakteristisch für Chartas ist ihr appellativer Charakter, der sich häufig in nummerierten Forderungen oder Satzungen ausdrückt. In den meisten Fällen wird das Dokument mit einer Art Präambel eröffnet, anschließend folgen häufig in Paragrafen festgehaltene Programmpunkte. Mit der Wahl von ›Charta‹ als Dokumentenbezeichnung wurde der Anspruch an dessen Inhalt und Verbindlichkeit hoch gesetzt. Wenn auch je nach Charta ein moralischer Appell oder eine Selbstverpflichtung im Zentrum stehen, sollte hier wahrscheinlich ein Grundlagenpapier mit wegweisendem Charakter geschaffen werden. Inhaltlich geht es, dies zeigt sich im Titel und deutet sich auch im Logo an, um Fragen der Gesundheit, konkret der Gesundheitsförderung. Nicht Ge12 | Als prominentes Beispiel kann die ›Magna Charta‹ von 1215 erwähnt werden, eine Vereinbarung, die ein englischer König mit dem revoltierenden Adel schloss, oder die portugiesische Verfassungscharta, welche dem Volk 1826 von ihrem König ohne Mitwirkung aufoktroyiert wurde. Aus neuerer Zeit ist die Charta der Vereinten Nationen von 1945 zu erwähnen als Gründungsdokument der Organisationen zwecks Sicherung des Weltfriedens oder die Erklärung der Menschenrechte von 1948. URL: www.constitution. org/eng/magnacar.htm (Stand: 4.6.2013).
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
sundheit an sich, deren Erhalt oder ein Recht auf Gesundheitsversorgung werden mit der Ottawa-Charta gefordert. Gesundheit, das wird hiermit postuliert, muss oder soll gefördert werden. Der Zweck der Charta folgt einer Steigerungslogik; sie geht implizit von einem Förderungsbedarf aus, ›die Gesundheit‹ bedarf der Stärkung. Der Begriff der Förderung steht in einer engen Verbindung zu pädagogischem Handeln. So sind nach Brezinka (1990) sämtliche Formen erzieherischen Handelns »dadurch gekennzeichnet, dass sie aus der Absicht des Handelnden hervorgehen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern, sei es, sie zu verbessern, sei es, sie in ihren wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten« (ebd.: 297). Ausgangspunkt eines Förderungsbedarfs ist somit in aller Regel ein Defizit, eine Schwäche, ein Unvermögen, sich selbstständig zu entwickeln. Das zu Fördernde, zu Entwickelnde beinhaltet eine eigene Kraft, ein Potenzial, das aber zugleich der Unterstützung bedarf. Neben einer fachlichen Begleitung bedürfen Förderprogramme finanzieller Mittel. Somit braucht es einen (politischen) Willen, die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Etwas anders gelagert ist der Begriffsgehalt, der mit der Förderung von Ressourcen verbunden wird: Beispielsweise geht es bei der Förderung von Erdöl darum, etwas Verborgenes zum Zwecke der wirtschaftlichen Nutzung hervorzuholen, etwas zutage zu fördern, das ansonsten brach liegen würde. Es geht um Abbauen, Gewinnen, im Extremfall auch Ausbeuten. Gesundheit kann in wirtschaftlicher Sicht als eine Art Ressource betrachtet werden, die abgebaut und gewonnen werden kann. Dies entspricht am ehesten der Logik von Humankapitaltheorien, in welchen Gesundheit, ähnlich der Sprache oder der Bildung, zu einer Art Rohstoff und damit auch zu einer Ware wird. Mit der zugehörigen Frage, um wessen Eigentum es sich bei Gesundheit handelt und wer darauf zugreifen kann, wird ein heikles Feld eröffnet, zumal Gesundheit letztlich auf ein Lebewesen referiert. An das leibliche Sein gebunden, tangiert sie somit immer auch die Lebenspraxis der einzelnen Menschen. Welcher Logik der Förderungsbegriff hier folgt – ob Gesundheit als etwas Defizitäres und deshalb Unterstützungsbedürftiges, als ein an das Subjekt gebundenes individuelles Gut oder als ein allgemeines Gut, eine verborgene Ressource, die zutage gefördert werden muss, verstanden wird – ist an dieser Stelle noch nicht bestimmbar. Deutlich wird einzig, dass Gesundheit als ›etwas‹ verstanden wird, ›das‹ selber nicht stark genug ist, sich durchzusetzen, das der Förderung bedarf. Gesunde, so die Programmatik, sollen gesünder werden; Gesundheit als Ressource, öffentliches und privates Gut zugleich soll vermehrt werden. Damit eröffnet sich ein mehrfaches Spannungsfeld, welches mit dem normativen Motiv der Förderung im Zusammenhang steht: Es soll auf Subjekte eingewirkt werden, um sie zugleich als solche zu bestärken – die Grenze zur Manipulation oder Ausbeutung ist schwierig zu ziehen. Dieses Spannungsfeld vergrössert sich angesichts der mit dem Absender angedeuteten weltumspannenden Reichweite.
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4.2.3 Die Programmatik der WHO: Gesundheit für alle Der Text beginnt mit einer Verortung: Die erste Internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung hat am 21. November 1986 in Ottawa die folgende Charta verabschiedet. (WHO 1986: 1)
Hervorgehoben wird mittels der nummerischen Bezeichnung der Konferenz als »erste«, dass sich hier etwas Neues konstituiert und in Ottawa seinen Anfang nimmt. Zugleich deutet die Nummerierung an, dass weitere Konferenzen folgen werden oder beabsichtigt sind: Dem vorliegenden Papier unterliegt somit eine Programmatik. Dies zeigt sich auch in der Begrenzung des nachfolgenden Programms »bis zum Jahr 2000«, einer sachlich wenig sinnvollen Befristung, welche mit dem nachgeschobenen Nebensatz »und darüber hinaus« sogleich wieder aufgehoben wird. Im Text deutet sich somit ein Widerstreit an zwischen einer Programmlogik und einer in der Sache liegenden Logik, wobei letztere auf Steigerung und Entgrenzung tendiert. Gesundheit als Zustand, der nicht ultimativ erreicht werden kann, verunmöglicht die Befristung eines Programms; der Förderungsbedarf ist nie erschöpft. Der sich bereits im Titel »Gesundheitsförderung« manifestierende Handlungsbedarf bestätigt sich im einleitenden Text: Sie ruft damit auf zu aktivem Handeln für das Ziel ›Gesundheit für alle‹ bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus. (WHO 1986: 1)
Die Konferenz ruft auf zu »aktivem Handeln«. Musse als eine passive Form des Handelns wird hiermit tendenziell ausgeschlossen. Nicht expliziert wird hier, an wen die Aufforderung adressiert ist. Wird die sich im Logo zu erkennen gebende AutorInnenschaft, die WHO, mit in Betracht gezogen, richtet sich der Appell möglicherweise an die internationale Gemeinschaft, an Regierungen, an Vergemeinschaftungsformen auf höchster Ebene. Das Ziel wird mittels der programmatischen Formel »Gesundheit für alle« beschrieben. Mit der damit proklamierten Forderung nach Gleichheit wird ein universalistischer Anspruch erhoben. Implizit bedeutet der Aufruf aber auch, dass Gesundheit nicht für alle selbstverständlich ist und Ungleichheiten bestehen, die Anlass zur Formulierung dieses Programms gewesen sein mögen. Im Umstand, dass sich eine supranationale Organisation der Sache annimmt, wird deutlich, dass die nationalen Regierungen respektive deren Gesundheitssysteme alleine das Ziel nicht erreichen. Es bedarf eines weiteren, übergeordneten Akteurs, der die Förderung von Gesundheit fordert, und implizit dazu aufruft, bestehende Ungleichheiten zu beseitigen. Es kann nun eine Begründung erwartet werden, weshalb und wer zum Handeln aufgefordert wird oder auch, was die Vorgeschichte der Charta ist
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und weshalb sie erstellt wurde. Wer einen Aufruf macht, fügt diesem in aller Regel eine Begründung an. Ist diese glaubhaft, steigert dies die Chance, Gehör zu finden und den Worten Taten folgen zu lassen. In den Worten von Max Weber muss, wenn es sich nicht um Machtdurchsetzung handelt, Legitimität geschaffen werden, es bedarf der Akzeptanz der Herrschenden durch die Beherrschten (vgl. Weber 2010 [1922]: 157). Der obige Appell bedürfte demnach einer expliziten Legitimation sowie einer Präzisierung des Inhalts. Diese Konferenz verstand sich in erster Linie als eine Antwort auf die wachsenden Erwartungen an eine neue öffentliche Gesundheitsbewegung. (WHO 1986: 1)
Hier werden nun aber nicht der Inhalt oder das Ziel der Charta begründet oder erläutert, sondern es wird das Selbstverständnis der Konferenz dargelegt. Dass dieses nicht ein einheitliches, einfach zu bestimmendes, sondern vielmehr ein brüchiges war, zeigt sich an verschiedenen Stellen. Zum einen wird mit der Formulierung »in erster Linie« offengelegt, dass es in zweiter, möglicherweise dritter Linie noch weitere Selbstverständnisse gibt. Was sich in der Struktur des Papiers bereits als Lesart abzuzeichnen schien, nämlich dass die AutorInnenschaft nicht eine einheitliche war und um Konsens ringen musste, scheint sich hiermit zu bestätigen. Als dominant hat sich an dieser Konferenz das Selbstverständnis erwiesen, ›eine Antwort‹ geben zu können. Um Antworten geben zu können, bedarf es der Expertise, Macht oder des Charismas (vgl. Weber 2010 [1922]: 157-222). Antworten folgen in aller Regel auf Fragen – hier jedoch wird eine Antwort hinsichtlich »wachsender Erwartungen« gegeben – eine auf der Ebene der Sprache nicht konsistente Gegenüberstellung: Erwartungen können erfüllt, nicht beantwortet werden. Nicht nur der Umstand, eine Antwort auf Erwartungen an eine Bewegung geben zu wollen, scheint ein höchst fragwürdiges Unterfangen zu sein; es bleibt auch unklar, was genau mit dem Begriff »neue öffentliche Gesundheitsbewegung« bezeichnet wird. Zivilgesellschaftliche politische Bewegungen zeichnen sich im Gegensatz zu Parteien oder Vereinen dadurch aus, dass sie relativ unorganisiert und bezüglich der zu erwartenden Veränderungen zukunftsoffen sind und sich häufig gegen aktuelle Machtverhältnisse richten. Erwartungen an eine Bewegung zu richten, irritiert deshalb hier. In der Wortschöpfung »neue öffentliche Gesundheitsbewegung« scheinen sich aller Wahrscheinlichkeit nach Übersetzungsschwierigkeiten13 zu manifestieren, die auch in unterschiedlichen 13 | Bis heute findet sich kein adäquater deutscher Begriff zu Public Health und dementsprechend auch nicht zu New Public Health. Teilweise wird für Public Health ›Bevölkerungsgesundheit‹ verwendet; dieser Begriff hat sich aber nicht durchgesetzt, wohl, so vermuten verschiedene AutorInnen, auch wegen der Nähe zur ›Volksgesundheit‹ aus der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. Eckart 1990; Hurrelmann 1999).
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Traditionen und Entwicklungen des öffentlichen Gesundheitswesens begründet sein mögen. In der englischen Version des Chartatexts wird das Selbstverständnis etwas deutlicher: Gesundheitsförderung, also »health promotion«, wird verstanden »as a response to growing expectations to a new public health movement around the world« (WHO 1986e: 2). Wäre New Public Health zu diesem Zeitpunkt bereits ein geläufiger Begriff und eine etablierte neue Ausrichtung von Public Health, dann wäre von ›the‹ new public health movement die Rede. Hier wird nun aber vielmehr hervorgehoben, dass sich mit der Charta etwas Neues konstituiert. Dies stimmt auch mit den späteren begriffsgeschichtlichen Darstellungen überein: Die Geburtsstunde von New Public Health wird häufig auf die Ottawa-Konferenz datiert, an welcher verschiedene Ansätze aus kritischen und sich als fortschrittlich bezeichnenden Bewegungen zusammengetragen und in eine Form gebracht wurden (vgl. Exkurs in Kap. 3.2.2). Indem die Konferenz sich als Antwort versteht, nimmt sie eine Definitionsmacht in Anspruch. Die Konferenzteilnehmenden unter dem Logo der WHO stellen sich damit als hochgradig zuständig dar; sie erheben den Anspruch, Antworten geben zu können, und dies erst noch auf globaler Ebene. Indem sie glauben, über Antworten zu verfügen, machen sie sich zum Sprachrohr einer Bewegung oder aber zu einer übergeordneten Deutungs- respektive Machtinstanz, je nachdem, ob sie sich als Teil der Bewegung wahrnehmen oder nicht.14 Ihre Positionierung innerhalb oder gegenüber dieser neuen sozialen Bewegung, auf welche sie legitimierend Bezug nehmen, wird nicht klar. Wie auch immer der Bezug sein mag – sie verstehen sich als BegründerInnen oder MitbegründerInnen einer neuen Ausrichtung innerhalb von Public Health: New Public Health. Die folgende, weiterhin im Stil einer Pressemitteilung gehaltene Passage ist eine nach wie vor gegen innen gerichtete Darstellung, die beschreibt, was auf der Konferenz diskutiert wurde: Die Diskussion befasste sich vorrangig mit Erfordernissen in Industrieländern, es wurden aber auch Probleme aller anderen Regionen erörtert. (WHO 1986: 1)
Das eingeschobene »vorrangig« deutet erneut darauf hin, dass unterschiedliche Diskussionen geführt und in eine Rangfolge gebracht werden mussten. Die Erfordernisse in Industrieländern wurden prioritär diskutiert, die Erfor14 | Dass es personelle Bezüge der Konferenzteilnehmenden zu sozialen Bewegungen gibt, lässt sich rekonstruieren. Dabei handelt es sich bei den Teilnehmenden in der Mehrzahl um AkademikerInnen, um nicht praktizierende MedizinerInnen, die sich der Prävention verschrieben haben, oder um SozialwissenschaftlerInnen, die im PublicHealth-Bereich tätig sind. Viele von ihnen gehören zu den Gründungsmitgliedern von Public-Health-Institutionen oder -Organisationen (vgl. auch Ruckstuhl 2011).
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dernisse der anderen, der nicht-industrialisierten Länder, möglicherweise der Entwicklungsländer, waren somit nachrangig. Die Instanz, die feststellt, was erforderlich und problematisch ist, bleibt ungenannt. Der universalistische Anspruch oder Appell in Bezug auf Gesundheitsförderung wird hier nun explizit eingeschränkt auf die »Erfordernisse der Industrieländer«. Offenbar, so kann geschlossen werden, zeichnet sich dort deutlicher ab, was erforderlich ist. Erfordernisse sind im Vergleich zu Problemen artikulierter, pointierter und besser in Worte oder in Forderungen fassbar. Probleme hingegen scheinen weitreichender, diffuser und bedürfen einer vorangehenden Analyse. Der nachgestellte Satz, dass auf die »Probleme« aller anderen Regionen auch eingegangen und diese auch »erörtert« wurden, hat den Charakter einer Beschwichtigung im Sinne der »political correctness«. Wirklich befasst hat man sich an der Konferenz vor allem mit Gesundheitsförderung in den Industrienationen, also mit europäischen und – so lässt sich aus dem Austragungsort der Konferenz schließen – nordamerikanischen Anliegen. Ausgangspunkt waren die auf der Grundlage der Deklaration von Alma Ata über gesundheitliche Grundbetreuung erzielten Fortschritte, das WHO-Dokument ›Gesundheit für alle‹ sowie die während der letzten Weltgesundheitsversammlung geführte Diskussion zum intersektoriellen Zusammenwirken für die Gesundheit. (WHO 1986: 1)
Spätestens nach diesem Absatz wird deutlich, dass sich der Text an Interne, an Eingeweihte richtet: Weder kann vorausgesetzt werden, dass die vorangegangene Deklaration von Alma Ata einem breiten Publikum bekannt ist, noch dürften Nicht-Eingeweihte die angefügten spezifischen Dokumente der WHO kennen. Erst recht kann nicht davon ausgegangen werden, dass allgemein bekannt ist, worum es bei an WHO-Versammlungen geführten Diskussionen über »intersektorielle Zusammenarbeit« gehen könnte; eine Erläuterung fehlt. Die im Dokument bisher rekonstruierte selbstlegitimatorische und programmatische Logik der Charta bestätigt sich auch im obigen Passus in der Art der Argumentation: Ausgangspunkt stellen Fortschritte dar, die »auf der Grundlage« einer Deklaration im Bereich gesundheitlicher Grundbetreuung erzielt worden sein sollen. Dabei sind Fortschritte im Bereich Gesundheit schwer messbar; erst recht dürfte es schwierig sein, diese kausal auf eine vorgängige Deklaration zurückzuführen. Diese Argumentationsweise folgt einer Programm- oder auch einer Marketinglogik: Vermeintlich erzielte Fortschritte drängen zu einer Weiterführung und legitimieren die eingeschlagene Richtung. Der Text, bis hier vorwiegend an die VerfasserInnen selbst adressiert, stellt ein selbstreferenzielles System dar. Die Einleitung ist nicht geeignet, interessierte nicht eingeweihte Personen für die Sache der Gesundheitsförderung zu gewinnen. Dass es einer Selbstbekräftigung bedarf, dies die Hypo-
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these, deutet darauf hin, dass die Legitimation, möglicherweise auch intern brüchig gewesen sein könnte. Der Weber’schen Begrifflichkeit folgend, wird hier versucht, mittels einer Charta legale Herrschaft zu begründen (ebd.: 2010). Insbesondere mittels der Bezugnahme auf eine öffentlich-politische Bewegung wird versucht, Legitimation zu schaffen. Gesundheit soll im öffentlichen Interesse zum Gegenstand und zum legitimen Ziel von institutionellen Interventionen gemacht werden. Die AutorInnen ernennen sich zu AnwältInnen der Forderung nach »Gesundheit für alle« – beschränkt jedoch auf die Industrienationen – und verleihen der Charta den Charakter eines politischen Programms: Im Namen der Gesundheit aller, im Namen der Gerechtigkeit und der Gesundheit als einem gesellschaftlichen (und individuellen) Gut muss, dies die zentrale normative Setzung, Gesundheit gefördert werden. Die programmatische Formel »Gesundheit für alle« suggeriert, dass es sich bei Gesundheit um ein teilbares Gut handle, wie ›Brot für alle‹ oder ›Bildung für alle‹. Gesundheit ist jedoch, ungleich der Gesundheitsversorgung, weder eine Dienstleistung noch ein einfach teilbares Gut. Gesundheit ist, wie Bildung auch, immer auch am Individuum festgemacht und möglicherweise noch weniger direkt beeinflussbar als letztere. Wie bildungssoziologische Studien aufzeigen (vgl. Marmot 1996; Mielck 1994; 2005; Lamprecht, Stamm 2008) ist Bildung nicht ohne Weiteres teil- respektive vermittelbar, sondern reproduziert in institutionell veranlassten Bildungsprozessen vielmehr soziale Ungleichheiten oder verstärkt sie sogar (vgl. Bourdieu 1983; auch: Becker, Lauterbach 2004; Vester 2004, 2005). Dazu kommt, dass die intensivste Bestrebung, Gesundheit mittels »aktivem Handeln« fördern zu wollen, nicht zu garantieren vermag, dass alle auch gesund sind oder bleiben. Nicht nur können sich hierbei soziale Ungleichheiten reproduzieren, sondern Gesundheit an sich lässt sich nicht einfach durch rationale Interventionen beeinflussen. Dies gilt zum einen bei angeborenen oder kontingenten Krankheiten und Behinderungen. Aber auch vermeintliche gesundheitsfördernde Aktivitäten können beispielsweise bei zu hoher Intensität gegenteilige Wirkungen zeigen: Beispielsweise ist Sport eine häufige Ursache von Unfällen und kann zu übermäßigen Belastungen und ungewollten Langzeitfolgen führen. ›Gesundheit‹ lässt sich bezüglich ihrer rationalen Beeinflussbarkeit am ehesten mit ›Glück‹ vergleichen, welches ebenfalls einen erstrebenswerten Zustand darstellt, jedoch nicht für alle erreichbar ist und wenn, dann immer nur phasenweise im Leben. Glückseligkeit ist wie Gesundheit ein Idealzustand. Fraglich ist bei beiden, ob und wie stark man den angestrebten Zustand von Glück oder Gesundheit durch entsprechende Lebensführung oder gesellschaftliche Maßnahmen erreichen kann und ob wir dazu verpflichtet sind oder verpflichtet werden können.
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These 1: Die Charta stellt einen Akt der Selbstinthronisation dar, der im Namen der Gesundheit für alle erfolgt. In einem Akt der Selbstinthronisation wird die Ottawa-Charta im Namen oder in Bezug zu einer sozialen Bewegung zu einem Grundlagenpapier erklärt; es wird versucht, einen Paradigmenwechsel einzuleiten und diesen programmatisch auch festzuschreiben. In der Charta wird eine Aktivierung15 propagiert, nämlich Gesundheit zu fördern. Bereits die Struktur des Dokuments weist daraufhin, dass die Charta sich mit einem Gegenstand befasst, der schwer fassbar ist. Gesundheitsförderung folgt einer Logik der Entgrenzung, sowohl was das Ziel und die Reichweite als auch was die erforderlichen Mittel anbelangt: Gesundheit für alle Menschen – beschränkt jedoch auf die Industrienationen – kann nie genug gefördert werden.
4.2.4 G esundheit für alle: Recht oder verordnete Selbstbestimmung? Noch ist in den einleitenden Worten der Charta nicht dargelegt, was der eigentliche Gegenstand, nämlich ›Gesundheitsförderung‹, ist oder sein soll. Dieser Erwartung scheint nun im folgenden Abschnitt unter dem fettgedruckten Titel »Gesundheitsförderung« Genüge getan zu werden. Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen (WHO 1986: 1). Der Gleichheitsnorm ›Gesundheit für alle‹ wird hier nun ein anderes normatives Motiv zur Seite gestellt: Mit der postulierten Selbstbestimmung wird auf das Freiheitspostulat rekurriert, auf die Unabhängigkeit der Einzelnen als Gegenteil von Fremdbestimmung. Keller und Novak bezeichnen den Begriff Selbstbestimmung als »die (relativ) freie Verfügbarkeit des Menschen über sich selbst und sein Verhalten« (ebd. 1993: 313). Selbstbestimmung, so die Brockhaus-Definition16, beinhaltet die kognitive Fähigkeit eines Menschen, selbst Entscheidungen über sein Handeln, Verhalten und seinen Körper zu treffen. Dabei, so beispielsweise Hahn (1995), gehört das Streben nach Autonomie, 15 | Das ›Aktivierungsprinzip‹ wird seit den 1990er Jahren beispielsweise im Schweizer Sozialwesen implementiert, als ein »wesentliches Moment eines neu konzipierten Wohlfahrtsstaates« (Kutzner 2009: 44). Grundlegendes Prinzip ist, dass nicht von vorbehaltslosen Rechten ausgegangen wird, sondern diese immer in Zusammenhang stehen zu zu erbringenden Pflichten. Mittels ermutigenden Zuwendungen, gleichzeitigem Fördern und Fordern soll das Verhalten der LeistungsempfängerInnen in die gewünschte Richtung gelenkt werden (ebd.). 16 | Brockhaus (1993): Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. Band 20. Mannheim.
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nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung »wesenhaft zum Menschsein« (ebd.: 5), ohne dass er die drei Begriffe trennscharf voneinander unterscheidet. Mühl grenzt Selbstbestimmung von Selbstständigkeit ab, indem er erstere auf einer sehr grundlegenden Basis als die Möglichkeit des Individuums definiert, »Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Interessen oder Wertvorstellungen entsprechen« (ebd. 1997: 312). Im Wörterbuch der Sozialpolitik erscheint Selbstbestimmung als politische Forderung auf ein selbstbestimmtes Leben.17 So wird beispielsweise von Intersexuellen ein Recht auf Selbstbestimmung gefordert, von Menschen, die mit ›Varianten der Geschlechtsentwicklung‹ geboren werden und ein Recht auf Integrität ihres Körpers einfordern (NEK 2012). Ebenfalls ein Recht auf Selbstbestimmung fordert beispielsweise die Bewegung ›fat acceptance movement‹, indem sie sich gegen Stigmatisierungen und Krankheitszuschreibungen wehrt, die mit dem Adipositas-Diskurs einhergehen (Saguy, Riley 2005: 870). Diese zusammengewürfelten Beispiele verdeutlichen, dass ein Recht auf Selbstbestimmung immer dort eingefordert und thematisiert wird, wo die Selbstverständlichkeit des eigenen Daseins nicht gegeben und die Autonomie eingeschränkt ist. Mit der hier festgehaltenen Zielvorstellung, den Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen, wird suggeriert, dass Gesundheit ein Zustand ist, der durch die Individuen kontrolliert und selber bestimmt werden kann. In der englischen Version der Charta kommt der Aspekt der Kontrolle noch deutlicher zum Ausdruck, indem das Ziel von Gesundheitsförderung umschrieben wird mit »enabling people to increase control over, and to improve their health« (WHO 1986e: 1). Hier wird zugleich deutlich, dass die Richtung, in welcher die Kontrolle ausgeübt werden soll, vorgegeben ist: nämlich im Sinne einer Verbesserung der Gesundheit – so ebenfalls in der deutschen Version, wo von einer »Stärkung der Gesundheit« ausgegangen wird. Zu dieser gesetzten Richtung im Sinne einer zu fördernden Gesundheit steht die zugleich proklamierte Bezugnahme auf Selbstbestimmung im Widerspruch. Wird die persönliche Handlungsfreiheit gestärkt, das ›Maß an Selbstbestimmung‹ erhöht, kann wie Bittlingmayer und Ziegler (2012) dies beschreiben, »selbst- und fremdschädigendes Verhalten (z.B. Tabakkonsum/Passivrauchen) als Akt der Selbstbestimmung verstanden […] werden« (ebd.: 8), was jedoch nicht der zugleich postulierten Maxime von Gesundheitsförderung entspricht. Zum Zwecke der Stärkung der Gesundheit durchgesetzte Verhaltensgebote und -verbote wiederum führen unweigerlich zu einer Reduktion individueller Freiheit und somit der Selbstbestimmung. Grundsätzlich beinhaltet Selbstbestimmung, wenn sie zum Ziel erklärt wird, die Gefahr der Bevormundung. Wenn eine Person, bei der es um das 17 | Eintrag zu Selbstbestimmung im Wörterbuch der Sozialpolitik von Peter Wehrli: URL: www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=547 (Stand: 5.8.2014).
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Erwerben von etwas Gutem geht, dieses nicht als solches erkennt (Dworkin 2005a; vgl. auch Peter 2010), spricht Dworkin von einer »Spielart des Paternalismus« (ebd. 2005a, 2005b). Es eröffnen sich somit verschiedene Widersprüche, zum einen durch die Verordnung von Selbstbestimmung an sich, zum anderen durch eine Beschränkung der Selbstbestimmung mittels der vorgegebenen Norm, die Gesundheit in jedem Fall stärken zu sollen oder eben besser noch: zu wollen. In der Forderung nach Selbstbestimmung der eigenen Gesundheit wird die Beeinflussbarkeit derselben vorausgesetzt. Gesundheit wird zu etwas Prozesshaftetem, das von Einzelnen gestaltet und durch eine gesundheitsbewusste Lebensweise herbeigeführt respektive verdient werden muss. »Sie wird damit in die Verantwortung der Menschen gelegt. Umgekehrt ist Krankheit nicht länger abhängig von Schicksal und Disposition, sondern die Folge von Fehlverhalten und deshalb auch eine Art Strafe.« (Lamprecht, Stamm 1999: 64) Angesichts des problematischen Anspruchs, Gesundheit selber herstellen oder verwirklichen zu müssen, kann Gesundheit zu einer Überforderung werden, da der Mensch diese nur bedingt gestalten kann. Ebenso ist nicht immer klar auszumachen, was die Gesundheit letztlich verbessert oder stärkt. Und fraglich ist zudem, ob Gesundheit überhaupt verbesserbar ist. Kann man Gesundheit fördern, kann man gesünder als gesund sein? Im Namen der zu Befähigenden übernehmen die VerfasserInnen der Charta die Rolle eines Sprachrohrs. Ihre Selbstbeschreibung unterscheidet sich von traditionellen Rollen von HelferInnen oder von Erziehenden. Sie erlassen keine Verbote oder Vorschriften, sondern stellen sich in einen nicht weiter geklärten Zusammenhang zu einer Bewegung, sie machen sich im Namen der Selbstbestimmung zu deren Wortführenden. Die Richtung der Aktivierung ist vorgegeben: Es geht um die Stärkung der Gesundheit. Passivität ist nur dann legitim, wenn sie der Stärkung der Gesundheit dient. Dieser normativen Bestimmung von Gesundheitsförderung, mit dem Ziel, AkteurInnen zu objektiv besseren oder vernünftigeren Handlungsweisen zu bewegen, liegt zum einen ein rationales Menschenbild zugrunde. Sie beinhaltet zum anderen das bereits angesprochene ethische Problem des Paternalismus (vgl. Dworkin 2005b). Treffen die Maximen der Gesundheitspolitik nicht mit den Überzeugungen und Interessen von AkteurInnen zusammen, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen individuellem Willen und Gemeinwohlorientierung (vgl. Oelkers, Schrödter 2008). Was AkteurInnen autonom wollen, ist nicht unbedingt das, was das für sie »objektiv Gute« wäre (Gutmann 2011: 9). Es stellt sich die Frage, ob die Charta zur Legitimationsgrundlage wird, um bei einzelnen AkteurInnen, die sich nicht gemäß der gesetzten Maxime verhalten, in ihre Handlungsautonomie einzugreifen. Dieses Problem ist ein den Gesundheits- und Erziehungswissenschaften gemeinsames, welches sich in
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seiner Spannung nicht auflösen lässt, weder auf die eine noch die andere Seite (vgl. auch Bittlingmayer, Ziegler 2011: 35). Aus der deklarierten allgemein gültigen Norm kann somit auch eine Verhaltensverpflichtung seitens der Handelnden abgeleitet werden: Wer nicht gesund bleibt, der oder die wird einer individuellen Schuld, einer Unterlassung gesundheitsfördernder Maßnahmen verdächtigt. Gesundheitsförderung kann so zur moralischen Pflicht werden. These 2: Mit der programmatisch verordneten Gesundheitsförderung entsteht eine widersprüchliche Einheit zwischen Befähigung und Verpflichtung zum gesunden Leben, die im Widerspruch zur Selbstbestimmung steht oder stehen kann. Die Norm, die mittels der Charta gesetzt wird, ist klar: Es geht um eine Stärkung der Gesundheit. Damit werden alle verpflichtet, sich aktiv an der Förderung der eigenen Gesundheit zu beteiligen. Zugleich wird ein Recht auf Selbstbestimmung proklamiert, alle sollen das höchstmöglichste Maß an Gesundheit erreichen können. Implizit heißt dies, dass die Befähigung hierzu ungleich verteilt sein muss. Der hieraus entstehende Widerspruch zwischen Selbstbestimmung und verordneter Aktivierung im Sinne einer Verpflichtung zu Gesundheitsförderung bleibt verdeckt. Hinsichtlich der Rekonstruktion eines Deutungsmusters ›Gesundheitsförderung‹ kann festgehalten werden, dass, indem alle aufgefordert werden, ihre Gesundheit zu stärken, ein auf das Subjekt zentriertes Gesundheitsverständnis etabliert wird. Dass Gesundheit zu einem beträchtlichen Teil bestimmt wird von Arbeitsverhältnissen, der Lebensmittelindustrie, der Landwirtschaft, Umweltproblematiken, Verkehr etc. wäre auch eine Möglichkeit des Einstiegs gewesen. Gesundheit wird hier aber zuallererst in die Verantwortung des Subjekts gelegt.
4.2.5 G esund zu sein, bedarf es wenig: Umfassendes Wohlbefinden im Alltag Gesundheit soll – dies die Absicht der Charta – gestärkt werden; doch wie lässt sich der angestrebte Zustand beschreiben? Was wird unter ›Gesundheit‹ verstanden? Welches sind die propagierten Wege hierzu? Nachfolgend wird das Ziel mittels der Definition von Gesundheit ›en passant‹ eingeführt: Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. sie verändern können. (WHO 1986: 1)
In der Ottawa-Charta wird – ausgehend von einem subjektivierten und positivierten Gesundheitsbegriff, der demjenigen der WHO von 1946 (vgl. Kapitel
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3.2) entspricht – eine Mittel-Zweck-Beziehung beschrieben: Um Wohlbefinden zu erreichen, sind eine bestimmte Haltung und Aktivität notwendig. Voraussetzung, um den umschriebenen idealen Zustand erreichen zu können, sind aktive, gestaltende, sich selbst verwirklichende Subjekte. Wenn alle »ihre Bedürfnisse befriedigen, Hoffnungen und Wünsche wahrnehmen und verwirklichen«, dann, erst dann, kann umfassendes Wohlbefinden erlangt werden, erst dann sind, so die logische Folgerung, auch alle ›gesund‹. Vorausgesetzt wird, dass die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden, Hoffnungen und Wünsche verwirklicht werden können und sollen. Dass sich dabei unzählige Konfliktpotenziale eröffnen und individuelle Wünsche abgründig sein können, wird ausgeblendet. Ebenso bleiben mögliche Folgen ungezügelter Selbstverwirklichungsbestrebungen auf die ebenfalls angesprochene Umwelt unerwähnt. Etwa zeitgleich zur Ottawa-Charta formuliert Luhmann: »Wir können nicht voraussetzen, dass die Gesellschaft weiterhin mit der Umwelt, die sie schafft, existieren kann.« (Ebd. 1988: 169) Der sich in der Charta manifestierende Optimismus erscheint vor diesem Zitat beinahe zynisch, liegen doch die zentralen Probleme der modernen Gesellschaft, wie dies Luhmann formuliert, in den Rückwirkungen von Umweltveränderungen auf die Gesellschaft, die diese selbst ausgelöst hat. Der letzte Punkt der Aufzählung weicht von den anderen ab, die tendenziell einer hedonistisch-selbstverwirklichenden Logik folgen. Hier wird nun doch ein Leistungsanspruch geäussert, nämlich dass einzelne oder Gruppen »ihre Umwelt meistern bzw. sie verändern können«. Hier deutet sich eine Abkehr vom Bild des ausschließlich mit sich selbst befassten Subjekts ab. Der quasi paradiesische Zustand kann nicht ohne eigenes Zutun, nicht ohne Anstrengung erreicht werden. In der Formulierung des ›Meisterns der Umwelt‹ wird dem Subjekt die Rolle des Meisters zugesprochen. Die nachgeschobene Formulierung »bzw. verändern« relativiert das Machtverhältnis, betont zugleich eine gewisse Widerständigkeit der zu gestaltenden Umwelt. Dabei wird mit »Umwelt« ein neutraler, apolitischer Begriff verwendet, der aus der Biologie oder Psychologie stammt und nicht auf die gesellschaftliche Verfasstheit der die Menschen umgebenden Welt verweist. Im folgenden Absatz, weiterhin im Zuge der Klärung des Gesundheitsbegriffs, findet sich erneut ein Verweis auf eine interne Diskussion. Ohne Vorkenntnis nur schwer verständlich, richtet sich der Wortlaut der Charta wiederholt an Eingeweihte: In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. (WHO 1986: 1)
Mit dem einleitenden Passus »in diesem Sinne«, wird auf die eben dargelegte Gesundheitsdefinition referiert. Wenn Gesundheit als umfassendes Wohlbe-
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finden verstanden wird und nicht wie im durch die medizinische Logik geprägten Gesundheitsbegriff als Abwesenheit von Krankheit (Gesundheitsdefinition der WHO vgl. Kap. 3.2), dann hat dies Konsequenzen. Dann muss Gesundheit als wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens verstanden werden. Dass Gesundheit nichts Außeralltägliches, sondern Ziel des Alltags sein soll, ergibt sich jedoch keineswegs aus dem bisherigen Text. Im Gegenteil wird im vorangehenden Abschnitt Gesundheit als quasi paradiesischer Zustand umfassenden Wohlbefindens gezeichnet. Das alltägliche Leben ist jedoch kaum gleichzusetzen mit dem Aufenthalt im Paradies, begann doch der Alltag vielmehr erst mit der Vertreibung aus dem Garten Eden und war zuerst einmal gekennzeichnet von schweißtreibender Arbeit. Als handle es sich um eine dominante Deutung, Gesundheit zu einem Lebensziel machen zu wollen, grenzen sich die AutorInnen von dieser Position ab. Diese Abgrenzungsbewegung richtet sich kaum gegen die medizinische Gesundheitsdefinition; es scheint vielmehr, dass die AdressatInnen präventiv davor bewahrt werden sollen, sich obsessiv mit Gesundheit zu befassen und damit dem von Kühn geschilderten ›Healthismus‹ zu verfallen (ebd.: 1999) (vgl. Kapitel 4.3.2). Wenn Gesundheit aber Teil des alltäglichen Lebens ist und gesteigert werden soll, dann findet, vergleichbar mit einer unbeabsichtigten Nebenwirkung, eine grenzenlose Öffnung statt: Die Menschen sind zwangsläufig immer – in einem dauernden Prozess, Tag und Nacht – mit Gesundheit befasst. Ganz grundsätzlich ist die Vorstellung, dass Gesundheit ein Lebensziel sein könnte, paradox. Gesundheit ist eine Voraussetzung zum Leben, es bedarf ihrer, um sich eine Vielzahl von Lebenszielen überhaupt setzen zu können. Gesundheit als »vorrangiges Lebensziel« zu bezeichnen, unterstellt zudem, dass diesbezüglich freie Wählbarkeit besteht, als würde es sich um eine rationale Entscheidung handeln, Gesundheit zu wollen oder nicht. Ohne erkennbaren Zusammenhang zum Vorherigen folgt ein weiterer Satz, welcher das der Charta zugrunde liegende Konzept von Gesundheit erläutern soll: Gesundheit steht für ein positives Konzept, das die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten. (WHO 1986: 1)
Gesundheit, dies wird in der Formulierung deutlich, ist ein symbolischer Begriff, der im Sinne eines Platzhalters für etwas steht: für ein positives Konzept. Was immer ein positives Konzept sein mag – deutlich wird, dass Gesundheit sich nicht einfach definieren und fassen lässt. Konzepte kommen dann ins Spiel, wenn etwas Komplexes erfasst oder wenn die Erreichung eines Ziels skizzenhaft beschrieben werden soll. Gesundheit wird in dieser weiteren Defi-
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nition erneut klassifikatorisch auseinandergerissen, ohne die einzelnen Teile klar zu definieren oder voneinander abzugrenzen. Sie wird in einen Zusammenhang gestellt mit sozialen und individuellen Ressourcen, aber auch mit körperlichen Fähigkeiten. Letztere können ebenso auf die Konstitution verweisen als auch auf die Ertüchtigung des jeweiligen Körpers. Worauf sich »soziale Ressourcen« beziehen und worin sich diese von den individuellen unterscheiden, wird nicht expliziert. Die beim Gesundheitsbegriff gemachte Dreiteilung zu Beginn des Passus in »körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden« wird hier wieder aufgenommen und auf je spezifische Ressourcen bezogen, ohne dass die Dreiteilung in ihrem Gehalt und der Bedeutung hinlänglich konsistent und nachvollziehbar wäre. Bezogen auf das zu rekonstruierende Deutungsmuster ›Gesundheitsförderung‹ lässt sich aus der Analyse der obigen Passagen zusammenfassend festhalten, was in der Struktur des Dokuments bereits angelegt scheint: Es wird um eine Definition von Gesundheit gerungen. Dieses Ringen, welches stark auch Abgrenzungsbewegungen beinhaltet, deutet insgesamt auf eine fehlende Konsistenz des gedachten Gegenstandes hin respektive auf dessen Unfassbarkeit. Dabei findet die Hypothese eines nach innen gerichteten Selbstbekräftigungsdiskurses hier erneut Bestätigung. Mit dem Begriff des »positiven Konzepts« wird versucht, einen (intendierten) Paradigmenwechsel zu markieren. Der Gesundheitsbegriff im Sinne der sogenannten New Public Health wird vom medizinischen Gesundheitsbegriff, welcher Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit definiert, abgegrenzt. Mit »positiv« wird die Ressourcenorientierung im Gegensatz zum althergebrachten, auf Krankheit bezogenen ›negativen‹ Gesundheitsbegriff hervorgehoben, ohne dass der Gehalt dieses neuen positiven Begriffs ausreichend gefasst wird. Dieser ›neue‹ Gesundheitsbegriff zeichnet einen utopischen Zustand umfassenden Wohlbefindens, zu dessen Erreichen die Befriedung der Bedürfnisse, die Verwirklichung der eigenen Wünsche und eine entsprechende Gestaltung der Umwelt notwendig sind. Die Verantwortung wird hiermit in das Subjekt und dessen tätiges Sein hineinverlegt. These 3: Gesundheit wird in Form eines diffusen Konzepts mit subjektivierender und entgrenzender Logik zu definieren versucht. In der Definition von Gesundheit wird deutlich, dass mittels Abgrenzung von bisherigen Konzepten um eine neue Positionierung gerungen wird. Gesundheit wird beschrieben als umfassender und unbegrenzter, erstrebenswerter und zugleich alltäglicher Zustand, ohne dass, was mit »positivem Konzept« umschrieben wird, inhaltlich fassbar wird. Klar wird einzig, dass Gesundheit subjektiviert wird und sich am eigenen Befinden und Wohlbefinden bemisst. Und ebenso wird die vorgegebene Richtung bestärkt: Alle sollen ihre Gesundheit stärken, sämtliche zur Verfügung stehende Ressourcen gilt es zu nutzen, auszuschöpfen, sprich zu aktivieren, was die im Gesundheitsbgegriff enthal-
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tende Tendenz zu Entgrenzung verstärkt: Für das Wohlbefinden kann nie genug getan werden. Mit einer Subjektivierung einher geht die Frage der Verantwortung. Wenn Gesundheit Bestandteil des alltäglichen Lebens sein soll, wenn alle mehr Selbstbestimmung zur Steigerung der eigenen Gesundheit erhalten sollen, dann drängt sich die Frage auf, ob damit auch die Verantwortung den Subjekten übertragen wird. Gesundheit, dies wurde geklärt, bemisst sich am subjektiven Befinden. Doch wer trägt die Verantwortung für die Förderung der Gesundheit?
4.2.6 G esundheitsförderung – eine Aufgabe der Politik? Implizit liegt dem Aufruf ›Gesundheit für alle‹ zugrunde, dass nicht alle Menschen im Stande sind, den für alle anzustrebenden Zustand des vollkommenen Wohlbefindens zu erreichen – ansonsten bräuchte es keine solche Charta. Was nun ist die Aufgabe der WHO? Was soll Gesundheitsförderung? An wen ist der Appell adressiert? Darauf antwortet der letzte Satz im mit »Gesundheitsförderung« betitelten ersten Abschnitt: Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin. (WHO 1986: 1)
Erneut wird ein kausaler Zusammenhang beschrieben, der aus der bisherigen Argumentation nicht hervorgeht. Als wäre bereits klar, dass die Verantwortung für die Förderung der Gesundheit beim Gesundheitssektor liegt, wird dieselbe nun auf »sämtliche Politikbereiche« erstreckt. Wie Verantwortung an Bereichen festzumachen ist, bleibt offen. Ebenso bleibt offen, aufgrund welcher Legitimation die Verantwortung dem Gesundheitssektor übertragen wurde. Deutlich wird jedoch, dass die Aufgabe der Gesundheitsförderung nicht dem Individuum oder medizinischen ExpertInnen obliegt; sie soll, ganz im Sinn der systemtheoretischen Deutung einer Expansion, als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, was an die These der Ausdifferenzierung nach Luhmann und im Anschluss daran einer Überlagerung nach Bauch erinnert (vgl. Kap. 2). ›Gesundheit‹, wie weiter oben ausgeführt wurde, hängt ab von individuellen Ressourcen und Fähigkeiten. Das Individuum wird, so die Logik der Charta, verpflichtet, diese zur Stärkung der Gesundheit zu nutzen. ›Gesundheitsförderung‹ hingegen erscheint als in der Verantwortung der Politik liegend. Welches Politikverständnis dieser Auffassung zugrunde liegt, deutet sich im Nebensatz an: Das Ziel sei nicht beschränkt auf die »Entwicklung gesünderer
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Lebensweisen«, es bestehe darüber hinaus in der »Förderung umfassenden Wohlbefindens«. In diesen Formulierungen zeichnet sich ein technokratischer Zugang ab im Sinne Hermann Lübbes, der Technokratie definiert als »die Idee der Abschaffung der Politik mittels der Errichtung einer Herrschaft der Sachgesetzlichkeit und ihren technischen Imperativen« (ebd. 1998: 40). Bei technokratischen Zugängen stehen die Mittel zum Erreichen abstrahierter Ziele im Fokus. Hier geht es um das »umfassende Wohlbefinden«, welches nicht zur Diskussion gestellt und nicht als Resultat politischer Aushandlungsprozesse verstanden wird, sondern in seiner Abstraktheit als gesetzt gilt. Aus einer eigentlich politischen Diskussion wird eine technische Frage, nämlich wie sich, so der Wortlaut in der Charta, die ›gesünderen‹ Lebensweisen entwickeln lassen – laborähnlich, ohne Mitwirkung der betroffenen Menschen. Unterschiedliche Zielvorstellungen, divergierende Interessen und Handlungsabsichten stehen nicht zur Debatte. Inhalte und Ausrichtung der Gesundheitsförderung werden als eine entpolitisierte Angelegenheit verstanden, als eine technische, verwaltungsrationale Frage. In der Charta folgt im Anschluss an »Gesundheitsförderung« ein neues Kapitel mit dem Titel »Voraussetzungen für die Gesundheit«. Gesundheit für alle, dies das übergeordnete proklamierte Ziel, bedarf offenbar bestimmter Voraussetzungen. Diese zu schaffen, so kann aus dem vorherigen Absatz gefolgert werden, ist eine Aufgabe der Politik. Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes ist zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden. (WHO 1986: 1f.)
Als grundlegende Bedingungen von Gesundheit werden Forderungen aufgelistet, die während den 1960er und 1970er Jahren laut wurden und nach einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel rufen. Es wird das Bild einer friedlichen, gerechten und ökologisch verträglich gestalteten Gesellschaft gezeichnet. Und argumentativ wird ein Kausalzusammenhang geschaffen: Die Gesundheit, per Definition das umfassende Wohlbefinden aller Menschen, ist abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen. Vernachlässigt wird auch hier, wie bereits beim individuellen Gesundheitszustand, dass auch unter den besten aller Bedingungen Wohlbefinden ausbleiben kann. Umgekehrt ist Gesundheit auch für Menschen nicht ausgeschlossen, die in benachteiligten Verhältnissen leben, obwohl Wohlbefinden und Paradiesvorstellungen hier prekär sind. Im Zusammenhang mit der in der Präambel gemachten Einschränkung auf die Industrienationen erscheint Gesundheit als Distinktionsmerkmal;
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umfassendes Wohlbefinden wird zum Luxus von gut situierten Menschen in kriegsversehrten Regionen, in welchen ein gewisser Wohlstand herrscht. Im Vergleich zum ersten Kapitel findet in der Argumentation hier nun ein Wechsel der Ebene statt: Im Fokus steht nicht mehr das zu befähigende Subjekt; mithilfe sozialwissenschaftlicher und -politischer Parameter wird ein Zustand sozialer Gerechtigkeit umschrieben, welcher Voraussetzung sein soll für die Gesundheit. Diese Argumentationsweise entspricht zum einen einer sozialepidemiologischen Logik18, indem der Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen auf die Gesundheit in den Vordergrund gerückt wird. So werden in der Sozialepidemiologie soziale Determinanten wie z.B. die soziale Lage, Geschlecht, Wohn- und Arbeitsbedingungen bezüglich ihres Einflusses auf Gesundheit untersucht und somit die sozial- mit der gesundheitswissenschaftlichen Perspektive verbunden. Im Anspruch auf soziale Gerechtigkeit drückt sich zum anderen implizit auch der Wohlfahrtsgedanke aus, der planmäßig zum Wohl der Allgemeinheit ausgeübten, von Sozialstaaten getragenen Sorge, deren Umfang und Legitimation seit den 1990er Jahren zunehmend infrage gestellt wird (vgl. Frey 2002). Im obigen Textausschnitt der Charta sind sowohl Aspekte der sozialen Wohlfahrt angesprochen – als Ergebnis der Maßnahmen, die auf wirtschaftliche Sicherheit, Abbau von wirtschaftlichen Disparitäten und Bekämpfung von Armut ausgerichtet sind – als auch Aspekte der Lebensqualität, abhängig vom Einkommen und von immateriellen Faktoren wie beispielsweise der Umweltqualität und der Bildung. Das Subjekt scheint in dieser Passage von seiner Verantwortung vorerst entlastet. Im Vordergrund stehen die sozialen Determinanten, die einen Einfluss auf Gesundheit haben, und damit gesellschafts- und sozialpolitische Maßnahmen. Erst wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, kann den Subjekten die Möglichkeit gegeben und die Pflicht übertragen werden, ihre Gesundheit permanent zu steigern.
4.2.7 Die Aktionsstrategien von ›Gesundheitsförderung‹: Ein sozialtechnokratisches Programm Nun, da in der Argumentationslogik der Charta vermeintlich geklärt ist, welches das zu verfolgende Ziel ist und welche Voraussetzungen geschaffen wer18 | Sozialepidemiologie wird definiert als wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Auswirkungen horizontaler und vertikaler sozialer Ungleichheiten befasst oder von Mielck (2001) als »wissenschaftliche Analyse zur Beschreibung, Erklärung und Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit mit den Methoden der Epidemiologie«. Eine andere Definition stellt die Entstehung, die Auslösung und den Verlauf von Krankheiten in Abhängigkeit von sozialen Variablen in den Vordergrund.
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den müssen, damit dieses Ziel oder die Norm ›Gesundheit aller Menschen‹ erreicht werden können, sollte – so kann erwartet werden – ein Aktionsplan folgen. In der Struktur des Dokuments ist jedoch keine entsprechende Überschrift zu finden. Stattdessen folgen drei Kapitel mit den folgenden, im Infinitiv formulierten Titeln: »Interessen vertreten«, »Befähigen und ermöglichen«, »Vermitteln und vernetzen« (WHO 1986: 2). Infinitive, abgeleitet aus dem lateinischen ›infinitum‹ für das Unbestimmte oder das Unvollendete, zielen auf einen zu erreichenden Zustand. Solche Formulierungsweisen finden sich häufig in pädagogischen Dokumenten, wie beispielsweise in Lehrplänen oder in kompetenzorientierten Modulbeschrieben an pädagogischen Institutionen, aber auch in Selbstbeschrieben von beratenden, auch karitativen Institutionen, welche für bestimmte Zielgruppen Dienstleistungen anbieten. Ebenfalls denkbar ist der Kontext politischer Institutionen, auch Parteien, welche zu gesellschaftlichen Veränderungen aufrufen oder ihren Aktionsplan darlegen. Wer Subjekt, wer Objekt ist, bleibt bei im Infinitiv formulierten Aufrufen unbestimmt. Ebenso wird der Modus nicht klar, es bleibt offen, ob es um einen Befehl geht, eine Dienstleistung oder um eine Zielformulierung. Infinite Formulierungen können ermöglichenden Charakter haben oder denjenigen einer Vorschrift oder Anweisung und somit als Befehl gelesen werden. Ob sich die verschiedenen unbestimmten Modi in der Folge klären, wird mittels der Analyse der nachfolgenden Ausführungen aufzuzeigen sein. Die folgenden Abschnitte sind in sehr redundantem Stil verfasst und werden ab hier nun stark zusammengefasst dargestellt, fokussiert auf Aspekte, die für die Rekonstruktion des Deutungsmusters ›Gesundheitsförderung‹ von Bedeutung sind oder sein könnten. Aus dem Titel des ersten Abschnitts zu den Aktionsstrategien »Interessen vertreten« (engl. »advocate«) (WHO 1986: 2) geht nicht hervor, wer legitimiert ist, Interessen zu vertreten, noch wessen Interessen wem gegenüber vertreten werden sollen. Die Argumentation des vorangehenden Abschnitts, wonach es bestimmter Voraussetzungen bedarf, um Gesundheit zu ermöglichen, wird vorerst umgekehrt: »Ein guter Gesundheitszustand« wird nun zur Voraussetzung für »soziale, ökonomische und persönliche Entwicklung« erklärt. Ob hier die Makro- oder Mikroebene von Entwicklung angesprochen wird, ob von volkswirtschaftlicher oder persönlicher Ebene die Rede ist, bleibt unbestimmt, alles scheint miteinander vermengt zu werden. Gleich anschließend werden wiederum die Voraussetzungen betont, indem, so der Wortlaut der Charta »Umweltund Verhaltensfaktoren« der Gesundheit »entweder zuträglich sein oder sie auch schädigen« können. Sowohl auf die Faktoren der Umwelt als auch auf das individuelle Verhalten, so die weiterführende Argumentation, soll eingewirkt werden, und zwar mittels »aktivem anwaltschaftlichen Eintreten«. In der Logik von professions-
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theoretischen Ansätzen handelt anwaltschaftlich, wer über ein Mandat verfügt und vorgängig ein gegenseitig vereinbartes Arbeitsbündnis eingegangen ist. Gemäß der strukturtheoretischen Professionalisierungstheorie von Oevermann (1996) muss ein Bündnis, um professionellen Charakter zu haben und damit die Autonomiebestrebungen der Subjekte unterstützen zu können, auf Freiwilligkeit basieren und berufsethischen Standards folgen. Ein solches Arbeitsbündnis kann hier jedoch nicht gemeint sein. Ebenso wenig ein »paternalistisches Arbeitsbündnis«, wie es beispielsweise zwischen Sozialarbeitenden und KlientInnen geschlossen wird (vgl. Kutzner 2009b: 168) und welches auf einem gemeinsamen Interesse an der Lösung eines Problems beruht. Zwar kommt das Bündnis in der Sozialhilfe von Seiten des ›Klienten‹ nicht freiwillig zustande, jedoch handelt es sich um eine »professionell gerahmte Hilfebeziehung« (ebd.). Dies ist in Bezug auf gesundheitsfördernde Interventionen oder Maßnahmen nicht der Fall, hier wird vielmehr auf einer übergeordneten Ebene argumentiert, im Sinne von aggregierten Bedürfnissen und Interessensvertretungen. Der Begriff der Anwaltschaftlichkeit gelangt somit aus professionalisierungstheoretischer Sicht nicht adäquat zur Anwendung; nicht nur ist unklar, wer vertreten werden soll und will, sondern ebenso durch wen die Vertretung wahrgenommen wird, wem gegenüber und mit welcher Legitimation. Die bisherige Hypothese, dass es sich hier um ein tendenziell technokratisches Programm handeln könnte, welches Gesundheit zum Ziel hat und zugleich zum Gegenstand macht, findet erneut Bestätigung. Eine explizite Legitimation des Handlungsbedarfs fehlt, das Aktionsprogramm scheint im luftleeren Raum zu schweben. Der folgende Abschnitt »Befähigen und ermöglichen« (engl. »enable«) (WHO 1986: 2) zielt auf das Subjekt, betont aber indirekt die Verhältnisse, welche es überhaupt erforderlich machen, die Einzelnen befähigen zu müssen. ›Befähigen‹ und ›ermöglichen‹ sind beides Begriffe, die in Nachschlagewerken je gegenseitig als Synonyme angegeben werden und in ihrer Kombination häufig im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung oder im Kontext sozialarbeiterischer oder pädagogischer Ansätze erscheinen. Gesundheitsförderung erscheint damit als emanzipatorisches Projekt. Mit dem in der Folge gemachten Verweis, Gesundheitsförderung sei »auf Chancengleichheit auf dem Gebiet der Gesundheit« ausgerichtet, wird der in der Einleitung implizit aufscheinende Gerechtigkeitsaspekt nun explizit gemacht und hervorgehoben. Gesundheit als Idealzustand kann nur verwirklicht werden, wenn Chancengleichheit erreicht ist. Erst dann können alle Menschen befähigt werden, ihr – so der Charta-Text im Wortlaut – »grösstmögliches Gesundheitspotential« zu verwirklichen. Gesund zu sein, genügt offenbar nicht, sondern es bedarf einer Steigerung; alle sollen so gesund wie nur möglich sein, ihr Potenzial optimal ausschöpfen. Die verpflichtende Norm der gesundheitsfördernden Lebensführung wird
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hiermit erneut bekräftigt und über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu etablieren versucht. Gesundheitsförderung ist auf das Ziel, alle möglichst gesund zu machen, ausgerichtet und deshalb bestrebt, »bestehende soziale Unterschiede im Gesundheitszustand zu verringern, sowie gleiche Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaffen.« An dieser Stelle wird die Charta zu einer Kampfschrift gegen soziale Ungleichheiten. In Übereinstimmung mit Forschungen zu Gesundheit und sozialer Ungleichheit (vgl. u.a. Mielck 2005; Richter, Hurrelmann 2006; Sigrist, Marmot 2008) müsste eine gleiche Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern angestrebt werden, damit die Lebens- und damit auch die Gesundheitschancen egalisiert werden. Gesundheitsförderung wird aus dieser Perspektive zu einem politischen Instrument der Gesellschaftskritik, einer im Namen der Gesundheit auf Gleichheit ausgerichteten Programmatik folgend. Innerhalb derselben Passage, immer noch unter dem Titel »Befähigen und ermöglichen«, scheint am Schluss ein möglicher, jedoch latenter Widerspruch auf zwischen der allgemein verpflichtenden Norm, Gesundheit zu stärken und der Freiheit der Individuen, »selber Entscheidungen in Bezug auf ihre persönliche Gesundheit treffen zu können«. Die Individuen sind hier erstmals nicht mehr nur Objekte von Interventionen, sondern werden zu tätigen, gestaltenden Subjekten mit einem gewissen Freiheitsgrad. Damit wird offengelegt, dass Gesundheit ›persönlich‹ gedeutet werden kann. Das sich im Verhältnis zur öffentlichen Gesundheit ergebende Spannungsfeld wird jedoch nicht benannt. Oder aber es erscheint a priori außerhalb des Denkbaren, dass sich Menschen nicht entsprechend dem gesundheitsfördernden Imperativ verhalten könnten. Im Passus »Befähigen und ermöglichen« wird das Individuum an mehreren Stellen von einer als belastend deutbaren Selbstverantwortung befreit und aufgrund von sozialen Verhältnissen als nicht oder nur eingeschränkt handlungsfähiges Subjekt dargestellt: »Menschen können ihr Gesundheitspotential nur dann weitestgehend entfalten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können.« Die Verantwortung wird hier gewissermaßen solidarisiert und die Politik in die Pflicht genommen. Sie muss die Voraussetzungen schaffen, damit die Subjekte gestaltend auf ihre Umwelt Einfluss nehmen und – so die gesetzte Programmatik – ihr Gesundheitspotenzial grösstmöglich entfalten können. Der diesen Abschnitt beendende Satz »dies gilt für Frauen ebenso wie für Männer« verweist erneut auf die durchschlagende bürokratische Logik. Aus heutiger Sicht scheint sich hier eine Beflissenheit auszudrücken, Political Correctness Genüge zu tun. Mainstreaming erfolgt hier nicht nur in Bezug auf die verinnerlichte Doktrin, dass alle ausschließlich im Sinne der Gesundheits-
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förderung leben sollen und können sollen, sondern auch bezüglich Gendergerechtigkeit.19 Im letzten Kapitel zu den Aktionsstrategien »Vermitteln und vernetzen« (engl. »mediate«) (WHO 1986: 2) folgt ein Aufruf zu einer durchgängigen Gesundheitsrevolution – welche jedoch nicht explizit als solche bezeichnet wird: Der »Gesundheitssektor« alleine, so der Wortlaut der Charta, sei nicht imstande, das formulierte Programm umzusetzen. In der Formulierung, alle seien angehalten, die »Voraussetzungen und guten Perspektiven für die Gesundheit« zu garantieren, zeigt sich erneut das bereits festgestellte Muster der Entgrenzung: Alle sind angesprochen, alle sind verpflichtet, die Perspektiven für die Gesundheit zu verbessern. Dabei wird das Spektrum möglicher AgentInnen für Gesundheitsförderung folgendermaßen skizziert: Menschen in allen Lebensbereichen sind daran zu beteiligen als einzelne, als Familien und als Gemeinschaften. (WHO 1986: 2)
Im Duktus eines Manifests werden alle Menschen aufgerufen, sich an der Gesundheitsförderung zu beteiligen. Im Aufruf heißt es jedoch nicht, ›Menschen aller Länder, beteiligt Euch‹, sondern, »Menschen in allen Lebensbereichen sind daran zu beteiligen«. In dieser Formulierung leuchtet erneut der Aktivierungsansatz auf: als würde die Beteiligung nicht freiwillig und aktiv erfolgen, sondern veranlasst werden müssen, als könnten Menschen passiv, ohne ihre Einwilligung und ohne persönlich involviert zu sein, beteiligt werden. Mit dem Begriff »Menschen in allen Lebensbereichen« wird keine sozialstrukturelle oder politische Kategorie verwendet, sondern eine demografische, sozialstatistische Kategorie der Privathaushalte; der Begriff ist somit apolitisch. Nicht Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, sondern hauswirtschaftlich relevante Kategorien, wie Einzelne, Familien oder Gemeinschaften. 19 | Vor dem historischen Hintergrund gewinnt der mehrmals gemachte Einschub, dass die Forderung auf Gesundheit für Frauen wie für Männer gelten soll, eine andere Bedeutung. Saan und Wise (2011) weisen in einem Artikel, in welchem sie die drei Prinzipien »enable, mediate and advocate« und deren heutige Implikationen diskutieren, darauf hin, dass nicht nur die Publikationen von Antonovskys Salutogenese Einfluss auf die Diskussion in Ottawa hatten, sondern auch die Präsenz von Frauen aus dem Boston Womens’ Health Book Collective, die 1973 das Buch »Our Bodies, Ourselves« herausgaben, welches, in mehr als 25 Sprachen übersetzt, zu einem Bestseller wurde. Die im Kollektiv zusammengeschlossenen Frauen nahmen teilweise bereits in den 1960er Jahren an Protestbewegungen teil und fanden sich in einer Gruppe zusammen, um sich über Fragen von Gesundheit und Sexualität auszutauschen und einen politischen Ausdruck ihrer Forderungen, wie z.B. nach Informationen zu Geburtenkontrolle, Zwangssterilisation, Forderung auf selbstverwaltete Gesundheitszentren etc. zu finden.
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Auffallend ist, dass die drei in der Ottawa-Charta aufgeführten, nicht explizit als solche bezeichneten Aktionsstrategien »Interessen vertreten«, »Befähigen und ermöglichen« und »Vermitteln und vernetzen« in ihrer Begrifflichkeit in einem Passungsverhältnis zum sogenannten ›Empowerment‹ 20 -Ansatz stehen (vgl. Kap. 5.1.3). These 4: Die Charta ist ein sozialtechnokratisches Programm, welches im Kampf gegen soziale Ungleichheiten tendenziell auf die Subjekte zielt. In den programmatisch aufgeführten Handlungsappellen, mit sozialstatistischen Kategorien argumentativ untermauert, kann weder die Logik des Einzelfalls erfasst werden, noch werden politische Prozesse skizziert. In der Charta wird ein Programm entworfen, das sich weder mit der Logik von professionalisierten Arbeitsbündnissen vereinbaren lässt, in welchen nach dem Prinzip der Anwaltschaft die Interessen von MandantInnen vertreten werden, noch mit der Handlungslogik politisch agierender Gruppen, seien dies institutionalisierte Formen oder sozialen Bewegungen nahestehende Aktionsformen. Vielmehr werden zum Erreichen des sozialen Wohlfahrtsziels über die Köpfe der Einzelnen hinweg Maßstäbe gesetzt und Maßnahmen geplant, was die Paternalismushypothese zu bestätigen scheint. Gesundheitsförderung wird als Norm aller festgelegt: Alle sollen ihr grösstmögliches Gesundheitspotenzial verwirklichen (können). Der an Befunde sozialer Ungleichheitsforschung anschließende Anspruch auf Schaffung von Chancengleichheit richtet sich so letztlich auf das Subjekt: Dezidierte politische Forderungen nach einem Abbau sozialer Ungleichheiten oder nach rechtlichen Garantien existieren nicht, antinomische Spannungsfelder werden nicht thematisiert.
4.2.8 Der Gesundheitsdienst als zentraler Akteur Nachdem in der Charta die Voraussetzungen für Gesundheitsförderung sowie die Aktionsstrategien dargelegt und erläutert sind, könnte sie mit einem Appell und konkreten Punkten, zu welchen sich die Unterzeichnenden verpflichten, abgeschlossen werden. Die folgende Überschrift »Aktives, gesundheitsförderndes Handeln erfordert:« (WHO 1986: 3) deutet jedoch auf eine erneute Aufzählung von ›Erfordernissen‹ hin. Spätestens hier festigen sich Zweifel an einer redaktionellen Überarbeitung der vorliegenden Charta. Die Redundanz deutet auf eine weitschweifende und unstrukturierte Diskussion in der Versammlung
20 | In der deutschen Version erscheint der Begriff ›Empowerment‹ als solcher nicht, in der englischen Version taucht er lediglich im Abschnitt ›strengthen community action‹ auf.
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selber hin sowie darauf, dass bis zum Schluss um eine Definition von Gesundheitsförderung gerungen wurde. Unter dem erwähnten Übertitel erscheinen mehrere Unterkapitel. Was hier als übersichtliche Aufzählung erscheint, präsentiert sich in der Charta als ein durch Überschriften unterteilter Fließtext. Die zu Beginn gesetzte Strategie, zu aktivem Handeln aufzurufen, wird nun in einzelne Schritte unterteilt und erläutert: Eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen Persönliche Kompetenz entwickeln Die Gesundheitsdienste neu orientieren (WHO 1986: 3-6)
Die Aufzählung dieser fünf ›Erfordernisse‹ zu aktivem, gesundheitsförderndem Handeln hat keinen erkennbaren systematischen Auf bau. Erneut im Infinitiv werden Strategien oder Ziele formuliert, die mit Ausnahme des letzten Punkts bereits Erwähnung fanden und hier erneut aufgenommen und ausgeführt werden. Die einzelnen Abschnitte zu den fünf Punkten stellen Aufrufe dar, Gesundheitsförderung als Ziel in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu verankern und umzusetzen. Dies erfolgt auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau: So geht es bei der Entwicklung einer »gesundheitsfördernden Gesamtpolitik« um das Schaffen von Bewusstsein auf politischer Ebene. Konkret werden beispielsweise »ungefährlichere Produkte, gesündere Konsumgüter und gesundheitsförderlichere soziale Dienste sowie sauberere und erholsamere Umgebungen« (WHO 1986: 3) via eine der Gesundheitsförderung zu verpflichtenden Politik gefordert. Oder es werden politische Maximen formuliert, wie der bis heute gern zitierte Satz, dass »auch politischen Entscheidungsträgern die gesundheitsgerechtere Entscheidung zur leichteren Entscheidung« gemacht werden soll. Bei der »Gestaltung von Lebenswelten« geht es um gesellschaftliche Organisationsformen – beispielsweise der Arbeitsbedingungen, die eine »Quelle von Gesundheit, nicht von Krankheit« sein sollen. Auf einer moralischen Ebene soll die »gegenseitige Unterstützung« gefördert werden, »sich um den anderen, um unsere Gemeinschaften und unsere natürliche Umwelt zu sorgen« (WHO 1986: 3). Spielraum für autonome, selbstbestimmte Handlungen wird lediglich im Absatz »gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen« (WHO 1986: 4) angesprochen. Hier wird von einer Bottom-up-Logik ausgegangen, indem in Nachbarschaften und Gemeinden bestehende Teilnahme und Selbst-
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bestimmung unterstützt werden sollen, »ihre Autonomie und Kontrolle über die eigenen Gesundheitsbelange« gelte es zu stärken (WHO 1986: 4).21 Das im Abschnitt »Persönliche Kompetenzen entwickeln« (WHO 1986: 4) formulierte Entwicklungs- und Bildungsprogramm erscheint in Bezug auf schulische Gesundheitsförderung von Bedeutung. Im nachfolgenden Ausschnitt wird ausgeführt, welche Ziele bei der Entwicklung der »persönlichen Kompetenz« angestrebt werden sollen: Gesundheitsförderung unterstützt die Entwicklung von Persönlichkeit und sozialen Fähigkeiten durch Information, gesundheitsbezogene Bildung sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und lebenspraktischer Fertigkeiten. (WHO 1986: 4)
Nicht nur ist unklar, wie ›Gesundheitsförderung‹ die Entwicklung von Persönlichkeit und sozialen Fähigkeiten unterstützen soll, sondern es bleibt auch unklar, wo dieses Programm institutionell angesiedelt werden soll. Insbesondere die Beeinflussung sozialer Kompetenzen und die Vermittlung lebenspraktischer Fertigkeiten bergen die Gefahr, die Grenzen der Autonomie der Subjekte zu übertreten. Indem gesundheitsfördernde Maßnahmen in ein Entwicklungsprogramm eingebettet werden, welches Fähigkeiten und Fertigkeiten prägen soll, entsteht erneut die Tendenz einer sozialtechnokratischen Intervention. Deutlich wird hier, dass Gesundheitsförderung nicht Freiräume schaffen will, sondern Kompetenzauf bau und Sozialisierung in einem gesundheitsfördernden Sinn anstrebt. Zielpunkt ist das zu gesundheitsfördernder Lebensweise zu befähigende Subjekt. Den Menschen, so wird weiter unten formuliert, soll geholfen werden, »mehr Einfluss auf ihre eigene Gesundheit und ihre Lebenswelt« ausüben zu können. Das dahinterstehende rationale Menschenbild zeigt sich erneut in der Formulierung, dass Veränderungen »getroffen« werden sollen – als ließen sich die Lebenswelt und die eigene Lebensführung einfach durch rationale Entscheidungen gestalten. Es gilt dabei, Menschen zu lebenslangem Lernen zu befähigen, und ihnen zu helfen, mit den verschiedenen Phasen ihres Lebens sowie eventuellen chronischen Erkrankungen und Behinderungen umgehen zu können. (WHO 1986: 4)
Die im Bildungssystem gängige Formel des »lebenslangen Lernens« wird von der Gesundheitsförderung übernommen und zu ihrer Aufgabe gemacht. Die Menschen, so die Darstellung, brauchen Hilfe bei der Lebensbewältigung im Allgemeinen sowie im Umgang mit Zuständen, die vom Ideal absoluter Gesundheit abweichen. Hier nun zeichnet sich erstmals und einmalig eine Ab21 | In diesem Absatz »Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen« klingen Aspekte des Community-Ansatzes an.
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kehr vom am ›positiven Gesundheitsbegriff‹ orientierten Programm ab: Das Leben erscheint auf einmal als etwas, das es zu bewältigen gilt; chronische Erkrankungen und Behinderungen werden zu einem Teil der Lebensrealität, mit der ein Umgang gefunden werden muss. Hier wird ein kontrastierendes Bild zum paradiesähnlichen Zustand »umfassenden Wohlbefindens« skizziert. Dies ist jedoch die einzige Stelle, an welcher Bezug genommen wird auf Krankheit und Behinderung als Bestandteile des Lebens.22 Diese Ausnahme stärkt die Hypothese, dass die Charta von verschiedenen AutorInnen mitverfasst wurde und insbesondere diese Passage möglicherweise aus einer anderen Feder stammt als bisherige. Hier werden Krankheiten und Behinderungen zumindest als Eventualität in die Normalvorstellung von Leben integriert. Hinweise, wo das gesundheitsfördernde allumfassende Bildungsprogramm anzusiedeln ist, folgen im Luhmann’schen Sinne erneut einer entgrenzenden Logik: Erziehungsverbände, die öffentlichen Körperschaften, Wirtschaftsgremien und gemeinnützige Organisationen sind hier ebenso zum Handeln aufgerufen wie die Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen selbst. (WHO 1986: 4)
Gesundheitsförderung hat in kafkaesker Manier überall zu geschehen. Sie lässt sich nicht klar verorten, sie ist überall mit drin, zentral jedoch in Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen. Letztere stellen die bislang ungenannten, aber offenbar zentralen Institutionen dar, wo Gesundheitsförderung zu vollziehen ist, wo am meisten Handlungsbedarf und wohl auch -möglichkeiten gesehen werden. Die Verschränkung von Bildungs- und Gesundheitswesen wird mit Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit erwähnt. Den Gesundheitsdiensten, denen ein eigenes Kapitel »Die Gesundheitsdienste neu orientieren« (WHO 1986: 4f.) gewidmet ist, kommt eine hervorgehobene Bedeutung zu. In der folgenden Passage werden verschiedene Personengruppen als verantwortlich für die Gesundheitsförderung ernannt: Die Verantwortung für die Gesundheitsförderung wird in den Gesundheitsdiensten von Einzelpersonen, Gruppen, den Ärzten und anderen Mitarbeitern des Gesundheitswesens, den Gesundheitseinrichtungen und dem Staat geteilt. (WHO 1986: 4)
Dieses Muster der Diffusion von Verantwortung – von der Einzelperson über ExpertInnen in Sachen Gesundheit, Gesundheitseinrichtungen bis hin zum 22 | ›Krankheit‹ kommt im Kapitel »Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen« vor, jedoch in Form einer Abgrenzungsbewegung, indem mittels einer ›Soll-Formulierung‹ Arbeit programmatisch als »eine Quelle von Gesundheit und nicht der Krankheit« beschrieben wird.
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›Staat‹ – wurde bereits an anderen Stellen dieses Dokuments angetroffen. Das Gleiche gilt für den umfassenden Anspruch, mit dem Gesundheitsförderungsgedanken sämtliche gesellschaftlichen Teilbereiche im Sinne eines ›Gesundheitsförderungsmainstreamings‹ zu durchdringen. Mangels einer fassbaren Definition von Gesundheit und ihrer Förderung weckt die hier aus unterschiedlichen Sphären zusammengesetzte Gemeinschaft die Assoziation einer Glaubensgemeinschaft: Vereint im Kampf für die Förderung von Gesundheit gilt es, wo immer möglich den Förderungsgedanken zu verankern. Die Funktion der zentralen Gesundheitsdienste wird wie folgt umrissen: Sie müssen gemeinsam darauf hinarbeiten, ein Versorgungssystem zu entwickeln, das auf die stärkere Förderung von Gesundheit ausgerichtet ist und weit über die medizinisch-kurativen Betreuungsleistungen hinausgeht. (WHO 1986: 4)
Die innerhalb der Gesundheitsdienste vereinten Verantwortungsträger werden angehalten, ein Versorgungssystem zu entwickeln, das auf Gesundheitsförderung ausgerichtet ist und mehr sein soll als die bislang rein medizinische Versorgung. Der zu etablierende Gesundheitsbegriff, der den medizinischen, an Krankheit ausgerichteten Begriff weit überragt, ist hier erneut handlungsleitend und folgt einer entgrenzenden Logik. Es geht um mehr als nur um medizinisch-kurative Betreuungsleistungen. Womit die Bevölkerung aber tatsächlich neu versorgt werden soll, bleibt als eine Leerstelle ausgespart. Die Gesundheitsdienste müssen dabei eine Haltung einnehmen, die feinfühlig und respektvoll die unterschiedlichen kulturellen Bedürfnisse anerkennt. (WHO 1986: 5)
Diese Ausführung erweckt den Anschein, als würde hier ein Entwurf einer Handlungsethik dieses für die Gesundheitsförderung bedeutsamen, neuen Berufsfelds der Gesundheitsdienste skizziert, als Grundlage einer Neuorganisation. Möglicherweise fließen hier Forschungsergebnisse in den Text der Charta ein, die auf unterschiedliche kulturelle Deutungen und Praktiken im Gesundheitsbereich hinweisen. Vergleichbar mit dem im Kapitel »Befähigen und ermöglichen« gemachten Einschub, Männer und Frauen gleichermaßen als Gesundheitsentscheidende zu betrachten, wird hier nun auf kulturelle Differenz verwiesen, die es zu berücksichtigen und vor allem anzuerkennen gilt. Lange vor der Etablierung des sogenannten ›Diversity Managements‹ ist hier eine Sensibilisierung gegenüber Unterschieden sichtbar, ebenso auch ein Glaube daran, dass mittels des moralischen Aufrufs den beobachteten Tendenzen eines ›doing difference‹ Einhalt gegeben werden kann. Dabei wird erneut nicht auf ein Recht oder auf spezifische Maßnahmen oder Mittel verwiesen, sondern es erfolgt ein moralischer Appell.
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Im Namen der Gesundheit Sie [die Gesundheitsdienste] sollten dabei die Wünsche von Individuen und sozialen Gruppen nach einem gesünderen Leben aufgreifen und unterstützen sowie Möglichkeiten der besseren Koordination zwischen dem Gesundheitssektor und anderen sozialen, politischen, ökonomischen Kräften eröffnen. (WHO 1986: 5)
Als Ziel wird erneut die Bestärkung des Ideals eines »gesünderen Leben[s]« festgeschrieben. Hier scheint die Bekräftigung auf Freiwilligkeit aufzubauen, es geht um jene, die den Wunsch nach einem »gesünderen Leben« von sich aus äussern, seien dies Einzelpersonen oder »soziale Gruppen«. Es ist an den Gesundheitsdiensten, Koordinationsaufgaben zwischen dem Gesundheitssektor und allen anderen gesellschaftlichen »Kräften« wahrzunehmen. Dem Gesundheitsdienst wird eine Vermittlerrolle zugeschrieben zwischen den Empfängern der Maßnahmen, dem Gesundheitssektor und anderen gesellschaftlichen »Kräften«. Dies deutet implizit auf ein Verständnis hin, wonach die Gesundheitsdienste nicht Teil des »Gesundheitssektors« sind oder darin eine spezifische, eine koordinierende Position einnehmen. Implizit wird mit der Zuschreibung dieser Vermittlerrolle an der bisherigen Ausrichtung bestehender Gesundheitsdienste Kritik geäussert; offenbar wurde dort der Wunsch nach einem »gesünderen Leben« bisher nicht oder zu wenig in den Blick genommen. (Zu den Gesundheitsdiensten in der Schweiz vgl. Kap 5.3.3) These 5: Die Gesundheitsdienste sind innerhalb eines hybriden Berufsfelds ein zentraler Agent. Dem Gesundheitsdienst wird eine tragende Rolle bei der Umsetzung des Gesundheitsförderungsgedankens zugesprochen. Dabei handelt es sich um eine intermediäre Tätigkeit innerhalb eines hybriden Berufsfelds, welches Teil der öffentlichen Verwaltung ist – mit einem diffusen Bezug zum Gesundheitswesen und dem Anspruch, im Zuge des Mainstreamings des Gesundheitsförderungsgedankens unter anderem auch auf das Bildungswesen Einfluss zu nehmen. Mit der Verortung der Gesundheitsförderung in den Gesundheitsdiensten als Teil der staatlichen Verwaltung wird deutlich, dass es sich nicht um ein Feld handelt, das von klassischen Professionellen bearbeitet wird. Es handelt sich um einen öffentlichen Dienst, womit Verwaltungsangestellte die zentralen AkteurInnen sind. Sie haben sich um die Gesundheit der Bevölkerung zu kümmern, womit ihr Auftrag zuerst einmal nicht am Einzelfall orientiert ist. Anliegen aus den Gesundheitsdiensten, die auch im Bildungsbereich umgesetzt werden sollen, folgen somit einer verwaltungsrationalen und volkswirtschaftlichen Logik. Schulen sind zwar auch staatliche Institutionen, jedoch handeln hier Professionelle (oder Semi-Professionelle) (Schütze 1996): LehrerInnen, vergleichbar mit den ÄrztInnen im Spital, deren Arbeit ebenfalls durch
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hoheitsstaatliche und organisationale Bedingungen gerahmt ist. Auf welcher Basis an Wissensbeständen oder disziplinären Hintergründen ›Gesundheitsförderung‹ konzipiert ist, wird nicht geklärt und ist offenbar nicht erklärungsbedürftig. Es scheint sich um hybrides Wissen zu handeln, durchzogen mit Glaubenssätzen, das sich in die Logik der Verwaltung einpasst und in technokratischen Prozessen zur Gestaltung der Gesellschaft umgesetzt werden will.
4.2.9 Auf dem Weg in die Zukunft: Moralischer Appell und Verpflichtung Beim Lesen des Dokuments entsteht sowohl aufgrund der geringen formalen Strukturiertheit als auch inhaltlich der Eindruck, der Text könnte ständig weitergehen. Die drei folgenden Kapitel tragen die Titel: »Auf dem Weg in die Zukunft«, »Gemeinsame Verpflichtung zur Gesundheitsförderung« und »Aufruf zu internationalem Handeln«. Es handelt sich beim ersten um die Skizzierung einer der Gesundheitsförderung zugrunde liegenden Vision, beim zweiten um eine in einzelnen Punkten zusammengefasste Programmatik, welche mit einem Aufruf der Teilnehmenden endet, sowie beim dritten und allerletzten Abschnitt um eine ausformulierte Absichtserklärung. Im Kapitel »Auf dem Weg in die Zukunft« (WHO 1986: 5) wird vom zu erreichenden Ziel das folgende idyllische und visionäre Bild gezeichnet: Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen. (WHO 1986: 5)
Dieser bis heute vielzitierte Abschnitt zeichnet das Idealbild gelungener Gesundheitsförderung. Der skizzierte Endzustand gleicht einem computeranimierten Architekturbild, welches mit gesunden, liebenden und spielenden Menschen bestückt ist, die unbeseelt und irgendwie leblos ihr Leben leben. Es ist ein Bild, das an Juli Zehs Roman »Corpus Delicti« als Abbild eines totalitären Gesundheitsstaats erinnert (Zeh 2009). Der einer Werbebotschaft gleichende Text besagt, dass Gesundheit von Menschen geschaffen und gelebt wird – sie sind Träger von Gesundheit, ihr leibliches Sein beeinflusst ihre Gesundheit und letztere wiederum das Sein. Durch die mittels des gezeichneten Bilds gesetzte Norm idealer Lebensführung entsteht ein doppelter Handlungsbedarf: Zum einen sollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein solches ideales, gesundheitsbewusstes Leben ermöglichen. Gesundheit ist zum anderen aber
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auch abhängig von den Subjekten, von ihrer Fähigkeit, sich um sich selber und um die anderen zu kümmern. Gefordert wird somit immer auch eine spezifische Form der Lebensführung. Darauf Einfluss zu nehmen und eine Norm zu setzen, kommt einem Eingriff in die Autonomie der Lebenspraxis gleich. Von der vorgegebenen Norm einer gesunden Lebensführung ist eine Vielzahl von Lebenspraxen ausgeschlossen: Lustbetontes, zielloses Geniessen oder auch Unausgewogenheit, Exzentrik und Zügellosigkeit fallen aus dem Rahmen. Weder wird in dieser Sequenz von autonomen Subjekten ausgegangen noch werden die Menschen a priori als entscheidungsfähig angesehen – sie müssen hierzu vielmehr »in die Lage versetzt werden«. Woher nimmt eine Organisation oder Institution die Legitimation zu diesem Eingriff? Weshalb beschränkt sich eine Weltorganisation nicht darauf, Programme zu entwickeln, die sich an Regierungen richten und auf die Veränderung von Strukturen zielen? Warum liegt der Fokus nicht darauf, Veränderungen ermöglichende Strukturen zu schaffen, ohne Anspruch, auf der Ebene der Individuen zu intervenieren und tendenziell protestantische, rationale Lebensführungsmodelle als Norm zu etablieren und allenfalls durchzusetzen? Der nachfolgende, zweitletzte Abschnitt »Gemeinsame Verpflichtung zur Gesundheitsförderung« (WHO 1986: 5) ist in ganz anderem Stil verfasst: Es erfolgt eine nüchterne und konkrete, mittels sechs Punkten visualisierte Auflistung der Forderungen auf politischer Ebene. Bei kurzer Betrachtung der gesamten Charta sticht dieser Absatz durch die aufgelisteten Punkte als grafisches Gestaltungsmittel hervor. Aber auch inhaltlich unterscheidet er sich: Es findet sich hier nichts mehr von der Bevormundungslogik vorheriger Abschnitte, ebenso wenig werden Normen der Lebensführung vermittelt. Es wird ein politisches Programm dargelegt, welches auf unterschiedlichen Ebenen ansetzt, um soziale Ungleichheiten im Bereich Gesundheit zu vermindern sowie gesundheitsschädigenden Strukturen und Mechanismen Einhalt zu gebieten. Der Abschnitt stellt einen Aufruf dar, sich auf politischer Ebene für Gesundheit und Chancengleichheit einzusetzen. Dazu sind konkrete Forderungen aufgelistet: Es soll etwas unternommen werden gegen die »Herstellung gesundheitsgefährdender Produkte«, oder es sollen Maßnahmen gegen »die Erschöpfung von Ressourcen« oder gegen »ungesunde Ernährung« ergriffen werden, ebenso zur besseren Gestaltung von Arbeitsplätzen und zur Raum- und Siedlungsplanung. Menschen, so ein Passus innerhalb dieser Aufzählung, gilt es »als Träger ihrer Gesundheit« »anzuerkennen«, sie zu unterstützen, auch auf finanzieller Ebene, damit sie »sich selbst, ihre Familien und Freunde gesund« erhalten können. Das Unterkapitel endet mit dem Aufruf, die Gesundheit und ihre Erhaltung als wichtige gesellschaftliche Investition und Herausforderung zu betrachten und sich den globalen ökologischen Fragen unseres Lebens und Überlebens zuzuwenden. (WHO 1986: 5)
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
In diesem Passus ist die Rede von Gesundheit und deren Erhaltung (nicht: deren permanenter Steigerung). Ebenso wird hier nicht das Subjekt zur Verantwortung gezogen, sondern von gesellschaftlichen »Investitionen und Herausforderungen« gesprochen. Die Maßnahmen und Ziele finden sich nicht mehr lediglich auf der Ebene der individuellen Formen der Lebensführung, sondern vorwiegend auf einer Makroebene: Gesundheitsförderung wird als gesellschaftliche, ökologische Frage gedeutet. Es scheint, als würde dieses zweitletzte Unterkapitel nochmals aus einer anderen Feder stammen als sämtliche vorherigen Passagen. Hier scheinen AktivistInnen von Umweltorganisationen und andere PolitaktivistInnen am Werk gewesen zu sein, die eine ganz andere Ebene ansprechen als die unter dem Schlagwort ›Ermächtigung‹ auf die Lebensführung zielenden Maßnahmenpakete. Die aufgrund der formalen Struktur des Dokuments eingangs aufgestellte Hypothese der heterogenen AutorInnenschaft hat sich hier definitiv bestätigt. Die unterschiedliche Logik und die gegensätzlichen Fokusse dieser beiden letzten Abschnitte ziehen sich durch das gesamte Dokument. Sie werden nicht bearbeitet, als hätte man sich einvernehmlich auf eine Konvivenz unterschiedlicher Ansätze oder Ausrichtungen, letztlich Weltanschauungen, geeinigt. Es folgt ganz zum Abschluss noch ein allerletztes Unterkapitel mit dem Titel »Aufruf zu internationalem Handeln« (WHO 1986: 6). Bemerkenswert ist, dass in diesem Passus die WHO selber angerufen wird, für Gesundheitsförderung Partei zu ergreifen – als wäre der Aufruf zur Programmentwicklung und zur Förderung der öffentlichen Gesundheit zu diesem Zeitpunkt innerhalb der WHO oder zumindest in der gesamten WHO noch nicht etabliert. Der allerletzte Abschnitt der Charta lautet: Die Konferenzteilnehmer sind der festen Überzeugung, dass, wenn Menschen in allen Bereichen des Alltags, wenn soziale Verbände und Organisationen, wenn Regierungen, die Weltgesundheitsorganisation und alle anderen betroffenen Gruppen ihre Kräfte entsprechend den moralischen und sozialen Werten dieser Charta vereinigen und Strategien der Gesundheitsförderung entwickeln, ›Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000‹ Wirklichkeit werden kann. (WHO 1986: 6)
Hier nun wird offengelegt, dass es sich bei den in der Charta festgehaltenen Satzungen um eine »feste Überzeugung« der Konferenzteilnehmenden handelt, somit im weitesten Sinn um ein Glaubensbekenntnis. »Gesundheit für alle« ist die zentrale Parole und zugleich die Vision, mit der die Charta beginnt und auch endet. These 6: Die Widersprüche in der Vision einer ›heilen‹ Welt zeigen sich im Nebeneinander einer gesellschaftspolitischen und zugleich individualisierend-subjektivierenden Programmatik.
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Mit dem Aufruf und den dahinterstehenden Visionen treten die unterschiedlichen Logiken nochmals deutlich zutage. Zum einen wird der Zielzustand der ewigen Glückseligkeit, im Jargon der WHO des ›umfassenden Wohlbefindens‹, postuliert. Die Programmatik der Charta zielt, dieser Vorstellung folgend, auf eine Verinnerlichung dieser Norm, auf eine Übernahme der Verpflichtung ständigen Besorgtseins um die eigene Gesundheit und auch um jene der anderen. Demgegenüber steht das in einer ganz anderen Sprache verfasste politische Programm, welches auf Abbau sozialer Ungleichheiten ausgerichtet ist, Gesundheit in einem weiten Sinn als gemeinsam zu tragende ökologische Verantwortung versteht, dabei strukturelle Bedingungen der individuellen Lebensführung und somit auch soziale Ungleichheiten thematisiert. Hier sind politische Prozesse und gesellschaftliche Investitionen angesprochen. Diese beiden Logiken werden nicht als solche benannt, die Widersprüchlichkeit wird nicht reflektiert. Sie werden durch das gesamte Dokument nebeneinander aufgetürmt, ohne die damit unweigerlich verbundenen Dilemmata zu benennen. Widersprüche werden mittels des heilen Bilds umfassenden Wohlbefindens aller überdeckt. Das vor Augen gehaltene Ziel soll mittels technokratischer Logik in einem Top-down-Prozess verwirklicht werden.
4.2.10 Fazit der Analyse: ›Gesundheitsförderung‹ im Sinne der WHO Ausgangsfrage dieses Kapitels, der Analyse der Ottawa-Charta der WHO von 1986 war die Frage, welcher Logik das Programm ›Gesundheitsförderung‹ folgt, mit welchen Handlungsimperativen es einhergeht und was Gesundheitsförderung an sich ist. Dazu wurde mittels Sequenzanalyse die innere Struktur des Dokuments rekonstruiert sowie das dem Förderungskonzept zugrunde liegende Gesundheitsverständnis zu eruieren versucht. Handelt es sich bei ›Gesundheitsförderung‹ um ein Deutungsmuster und kann der Kern eines solchen rekonstruiert werden? Welche normativen Grundlagen liegen diesem Muster oder Konzept zugrunde? Ein eigentliches Deutungsmuster ›Gesundheitsförderung‹ lässt sich hier nicht rekonstruieren. Der Begriff der Gesundheitsförderung als solcher zerfällt vielmehr in unterschiedliche normative Setzungen, von denen je spezifische Forderungen ausgehen. Beim Versuch einer Rekonstruktion entsteht ein diffuses Bild – diffus23 im Sinne von unklar und ungeordnet, wie auch im Sinne von fehlender scharfer Begrenzung; es fehlen eine einheitliche Richtung wie auch eine Begrenzung der Reichweite.
23 | URL: www.duden.de/rechtschreibung/diffus (Stand: 23.6.2014).
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In der Textanalyse zeigte sich, dass es sich in vielen Passagen um einen internen Diskurs handelt; einander implizit widerstreitende oder koexistierende unterschiedliche Deutungen reihen sich aneinander respektive werden ineinander verschachtelt. Im Konzept der Gesundheitsförderung sind denn auch sämtliche im Kapitel ›Gesundheitsgesellschaft‹ dargestellten Deutungen subsumiert und miteinander vermengt. Kennzeichnend ist die durch das gesamte Papier hindurch bestehende und nicht aufgelöste Ambivalenz zwischen einem gesellschaftspolitischen Ansatz und einer individualisierenden Logik (These 3 und 4). In einer emanzipatorischen Semantik zeichnet sich zum einen das Verständnis von Gesundheitsförderung als einer politischen Aufgabe ab, welche Gesundheit für alle anstrebt und in macht- und herrschaftskritischer Tradition auf den Abbau sozialer Ungleichheiten zielt (These 6). Ein Recht auf Gesundheit wird dabei nicht explizit eingeklagt, die Forderung bleibt relativ diffus; die Begründungen fächern sich auf in ökologische, sozial-strukturelle und andeutungsweise feministische Perspektiven. Neben dieser tendenziell oder vermeintlich gesellschaftskritischen Position steht zum anderen die auf die individuelle Lebensführung zielende Forderung nach Selbstbestimmung als zweites dominantes Verständnis von Gesundheitsförderung. Allen soll ein höheres Maß an Selbstbestimmung ermöglicht werden, alle sollen befähigt werden, die eigene Gesundheit zu stärken (These 2).24 Die Teilnehmenden der Konferenz sehen sich als ExpertInnen (für Gesundheitsförderung) ermächtigt, mittels eines ergebnis- und partizipationsorientierten, rationalen und sozial verantwortlichen Diskurses die Welt (der Industrienationen) entsprechend dem postulierten Gleichheitsideal zu gestalten, oder vielmehr zu einer solchen Gestaltung aufzurufen (These 1). Dabei wird das Streben nach mehr Gesundheit von ihnen verordnet, implizit zur Pflicht der einzelnen Subjekte erklärt und in deren Verantwortung gelegt. In der paternalistischen Forderung, Gesundheitsförderung als handlungsleitende Norm zu verinnerlichen, zeichnet sich eine Bevormundungslogik ab: Die Topdown-Verordnung von Selbstbestimmung stellt einen Widerspruch in sich dar. Der auf Ermächtigung zielende Anspruch kann sich leicht verkehren in eine Zuschreibung von Verantwortung oder gar von individuellem Verschulden: Selbstbestimmung wird so zur Selbstverantwortung. Gesundheitsförderung ist hier nicht eine politische Forderung; die Stärkung der Gesundheit wird zur Verpflichtung und als solche der Verantwortung der Einzelnen übertragen (vgl. These 2). 24 | Interessanterweise erscheinen genau diese beiden Verständnisse im Bericht des BAG »Gesundheit 2020« in scheinbarer Verknüpfung respektive Eintracht nebeneinander. So wird das Kapitel Handlungsfeld 1 übertitelt mit: »Chancengleichheit und Selbstverantwortung stärken« (BAG 2013: 2).
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Ganz allgemein fehlt im vorliegenden Papier eine theoretische oder überhaupt eine Fundierung des Gesundheitsbegriffs. Gleich einem Perpetuum Mobile, »einer hypothetischen Konstruktion, die – einmal in Gang gesetzt – ohne weitere Energiezufuhr ewig in Bewegung bleibt und dabei durch freie Energie zusätzlich Arbeit verrichtet«25, dreht sich in der Ottawa-Charta alles um die nicht klar definierte ›Gesundheit‹ als anzustrebenden Idealzustand. Ein guter Gesundheitszustand wird zur Voraussetzung erklärt für Entwicklung und gute Lebensqualität. In einem Zirkelschluss wird letztere wiederum als Voraussetzung für eine gute Gesundheit gesehen (These 3). Der Kern der Definition von Gesundheit besteht in einer Abgrenzungsbewegung vom vermeintlich medizinischen, durch Krankheit bestimmten Gesundheitsbegriff. An dessen Stelle soll der neue, ›positive Begriff‹ treten. Beim vorliegenden Gesundheitsbegriff handelt es sich um ein an Individuen gebundenes subjektives Konstrukt mit tendenziell entgrenzender Logik. Zeitlich und sachlogisch sind die Bestrebungen, die eigene Gesundheit zu fördern, nicht eingrenzbar; sie sind grenzenlos. Zugleich findet sich in gewissen Passagen aber auch die Deutung von Gesundheit als einem öffentlichen Gut, auf welches im Sinne der Allgemeinheit zugegriffen werden kann. Die Frage, welches Gesundheitsverständnis hier vorliegend ist und was gefördert werden soll oder muss, lässt sich nicht beantworten. Den Gesundheitsdiensten kommt in der Programmatik der Charta eine tragende Rolle zu: Es entsteht das Bild eines hybriden Berufsfelds, das als Teil der öffentlichen Verwaltung in einem diffusen Bezug zum Gesundheitswesen steht (vgl. These 5). Es scheint, als würden an die Stelle der MedizinerInnen, die ehemals als Profession eine Definitionsmacht im Gesundheitsbereich hatten und als Anwältinnen von Gesundheit den Gesundheitsdiskurs dominierten, nun ›Health Promoters‹, ›Gesundheitsförderer‹ treten mit einem subjektivierten und positiven Gesundheitsbegriff, der Krankheit und Beschwerden tendenziell ausschließt und Universalität beansprucht. Mit einem so verstandenen Gesundheitsbegriff und dem Anspruch der Förderung mittels Aktivierung wird der Grundstein gelegt für die Entstehung eines neuen Berufs- und Tätigkeitsfelds. In Abgrenzung zur Medizin wird so ermöglicht, dass sich eine neue Sparte von Gesundheitsberufen oder zumindest ein neues Tätigkeitsfeld mit einem spezifischen Gesundheitsverständnis konstituieren kann, wie dies Streckeisen (2013) beschreibt. Mittels der Veröffentlichung der Charta wird somit ein Akt der Selbstinthronisation vollzogen, indem in vermeintlich anwaltschaftlicher Interessenvertretung Gesundheit für alle eingefordert und politischer Handlungsbedarf daran festgemacht wird – beschränkt wohlbemerkt auf die Industrieländer. Werte und Normen sollen im öffentlichen Interesse verändert, Selbstbestim25 | URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Perpetuum_mobile (Stand: 23.6.2014).
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mung von oben verordnet werden. Es zeichnet sich in der Charta eine als bürokratisch oder sozialtechnokratisch zu bezeichnende Logik ab, welche einen Akt der Bevormundung darstellt. Empowerment oder Befähigung im Verständnis der WHO dient, dies legt die Analyse nahe, nicht in erster Linie der Mobilisierung von politischem Widerstand, sondern fokussiert immer wieder die innere Kraft der Subjekte (zu Empowerment vgl. Kp. 5.1.3). Macht wird damit reduziert auf Selbstwirksamkeitserwartungen und Kontrollüberzeugungen. In einer psychologisierenden Weise wird der Fokus auf brachliegende Selbststeuerungspotenziale der Adressaten26 gelenkt und deutlich weniger auf strukturelle Probleme. Gesundheitsförderung ist umgekehrt aber auch nicht an individueller Problemlösung der Subjekte orientiert, sondern von letzteren wird eine Subsumtion unter ein sozialpolitisches Programm gefordert. Solche der Bevormundungslogik folgenden Programme können, so die Vermutung, schwerlich zur Autonomie beitragen, sondern bergen vielmehr die Gefahr der Selbstentfremdung in sich. Diese Spannungsfelder zwischen individueller und struktureller Ebene, zwischen professionell-anwaltschaftlicher und paternalistisch-bevormundender Logik (vgl. Kap. 5) werden nicht explizit gemacht, obwohl im die Konferenz vorbereitenden Papier »concepts and principles« (WHO 1984) vorgängig eine reflexive Bearbeitung der enthaltenden Antinomien stattgefunden hat. Womöglich wäre eine Offenlegung der mit Gesundheitsförderung einhergehenden Dilemmata‹ – so die Bezeichnung durch die AutorInnen des Papiers – keine gute Grundlage für ein, so die Hoffnung, Programm mit Durchschlagskraft. Als Resultat stellt die Ottawa-Charta eine Art Selbstbedienungsladen unterschiedlicher Deutungen dar.
4.3 D iskussion der E rgebnisse vor dem H intergrund anderer empirischer B efunde und theoretischer Z ugänge Der Befund aus der Analyse der Ottawa-Charta deckt sich teilweise mit Ergebnissen aus anderen Untersuchungen. Ausgehend von den thesenartig zusammengefassten Aspekten der rekonstruierten Logik der Ottawa-Charta werden nachfolgend daran anschlussfähige, weiterführende Studien dargestellt, was 26 | Im strategischen Papier des Bundesamts für Gesundheit BAG »Gesundheit 2020« heißt es, dass die Eigenverantwortung der Menschen gestärkt, aber auch eingefordert werden soll. Vorangehend wurden im Bericht die Verhaltensweisen aufgelistet, welche volkswirtschaftliche Kosten verursachen, die es zu vermeiden gelte: unausgewogene Ernährung und mangelnde Bewegung, übermäßiger Alkoholkonsum, Tabak und Drogen, aber auch die Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten und die zum Teil ungenügende Durchimpfung (Masern etc.) (vgl. BAG 2013: 8).
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eine Anbindung an unterschiedliche Theorien und anderer Thematiken ermöglicht.
4.3.1 Die Ottawa-Charta als politisches Manifest zum Abbau sozialer Ungleichheiten? Navarro27 (2009) wie auch Strong (1986) bezeichnen den von der WHO geführten Gesundheitsförderungs-Diskurs als apolitisch und technologisch-administrativ. Die von der WHO skizzierten Strategien seien zwar sozialpolitisch motiviert, jedoch liege das Schwergewicht auf dem Empowerment der Individuen und beinhalte kein Commitment, am sozio-ökonomischen Kontext, in welchem die Menschen ihr Leben führen, etwas zu ändern. Navarros Fazit seiner kritisch-marxistischen Analyse der Alma-Ata-Deklaration von 1978, eines Vorläuferpapiers der Ottawa-Charta, ist, dass die moralischen Appelle für soziale Gerechtigkeit und aufgeklärtes Selbstinteresse ›falsch‹ sind und ungenügend alternative Erklärungen und Lösungen präsentiert werden (Navarro 1984). So werden zwar Interventionen zur Verbesserung der Gesundheit aufgelistet, jedoch sind diese allesamt ›apolitisch‹, weil sie keine Referenzen zum politischen System enthalten und die strukturellen Determinanten nicht berücksichtigen. Seine Empfehlung lautet dahingehend, dass es in der WHO eines neuen Verständnisses bedarf, was Gesundheit und Gesundheitsanstrengungen sind. Er fordert konkrete Unterstützungen von Befreiungsbewegungen in ihrem Kampf gegen Krankheit und institutionalisierte Gewalt. Eine solche politische Basisgruppe, wie Navarro sie erwähnt, ist das »Peoples Health Movement« (PHM)28, eine Vereinigung von Gesundheitsprofessionellen, AktivistInnen, AkademikerInnen und Forschenden, die sich auf globaler Ebene ohne Regierungs- und Unternehmensbeteiligung vernetzt haben. Eines ihrer zentralen Anliegen ist es, die sozialen Determinanten von Gesundheit auf die Agenda der WHO zu setzen. Das »Peoples Health Movement« hat erstmals im Jahr 2000 internationale Konferenzen organisiert, an welchen sie auf die Missstände hinwiesen (Narayan 2006: 186). Im März 2005 konnten sie auf Einladung der WHO Einsitz in die »Kommission für soziale Determinanten von Gesundheit«, der »Commission on Social Determinants of
27 | Vicente Navarro (geb. 1937) ist Professor of Health and Public Policy, Sociology, and Policy Studies an der John Hopkins University in Baltimore und Professor of Political and Social Sciences an der Pompeu Fabra University in Barcelona. Als Gründer und früherer Präsident der International Association of Health Policy sowie Gründer und Herausgeber des »International Journal of Health Services« beschäftigt er sich mit gesundheitspolitischen Themen. 28 | URL: www.phmovement.org/(Stand: 23.6.2014).
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Health (CSDH)«29, nehmen. Ziel dieser Kommission war die Unterstützung von Ländern und »global health partners« beim Aufzeigen und Fokussieren der sozialen Faktoren, welche zu Krankheiten und gesundheitlichen Ungleichheiten führen. Die Kommission wollte die Aufmerksamkeit der Regierungen und Gesellschaften gewinnen und versuchen, bessere soziale Bedingungen für Gesundheit zu schaffen, insbesondere unter den verletzlichsten, den sozial schlecht gestellten Menschen. Die Kommission lieferte ihren Bericht im Juli 2008 der WHO ab und wurde anschließend aufgelöst. Seither erscheint das Thema »Social Determinants of Health« auf der Homepage der WHO noch unter »Programme«, und es werden unter demselben Titel weiterhin Diskussionspapiere verfasst. Neben der Unterstützung basisnaher Gesundheitsbewegungen gilt es nach Navarro, innerhalb von Public Health zum einen Analysen der strukturellen Barrieren, die der Forderung ›Gesundheit für alle‹ entgegenstehen, voranzutreiben. Zum anderen sei die Forschung bezüglich der internationalen Mobilität von Kapital und Arbeit und der möglichen Implikation auf Gesundheit zu intensivieren (ebd.: 2011: 118). Nach Nettleton und Bunton wird jedoch genau dies innerhalb von Public Health nicht gemacht: Weder, so ihre Kritik, werden die Konsequenzen des industriellen Kapitalismus thematisiert, noch wird eine grundlegende Kritik am System formuliert. Die zentralen Techniken und Werte innerhalb von Public Health und somit auch der Gesundheitsförderung sind vielmehr kongruent mit dem Kapitalismus, indem sie elitär, individualistisch und ideologisch sind. Was real unter dem Begriff Empowerment gemacht wird, so das Fazit von Nettleton und Bunton, passt nicht zu dessen rhetorischem Gehalt, nämlich in eine Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen zu treten (Nettleton, Bunton 1996: 46f.).
4.3.2 Gesundheitsförderung als individualisierendes Instrument sozialer Regulation Die aus der Analyse der Ottawa-Charta rekonstruierte dominante Tendenz der Subjektivierung auf der Basis eines unklaren Gesundheitsbegriffs findet in einigen Punkten eine Entsprechung in der theoretischen Analyse Regina Brunnetts (2009), in welcher sie die gegenwärtige »Kultur der Gesundheit« untersucht. Auf der Basis einer diskursanalytischen Untersuchung weist die Autorin nach, dass verschiedene Konzeptionen von Gesundheit und Prävention aus medizinkritischer Perspektive die Gemeinsamkeit aufweisen, dass sie dem Subjekt eine aktive Rolle verleihen und den Schwerpunkt auf Selbstbe29 | URL: www.who.int/social_determinants/en/(Stand: 23.6.2014). Unter den Gründungsmitgliedern befand sich unter anderen Sir Michal Marmot, der seinen Adelstitel aufgrund seines Engagements im Bereich gesundheitlicher Ungleichheiten erhielt.
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stimmung legen. Eigenverantwortung ist gefragt, ebenso eine Orientierung an einem positiven, lebensweltorientierten Umgang mit der eigenen Gesundheit (Brunnett 2009; Keupp 1995). Durch diese Prozesse, die Brunnett in einem allgemeinen Strukturwandel vom Fordismus zum Postfordismus verortet, wird die Hegemonie der Verobjektivierung von Gesundheit und Krankheit durch die Bio-Medizin zugunsten eines lebensweltorientierten, subjektbezogenen Gesundheitsverständnisses aufgeweicht (Brunnett 2007: 172). Gesundheit hat in der aktuellen Gesellschaftsformation neu einen symbolischen Wert, in welchem sich ökonomische Produktivität und Selbstmodellierung, zugleich Aktivierung und Individualisierung implizierend, zum »Kapital Gesundheit« verschränken (ebd. 2007; 2009). Bezüglich der in der Ottawa-Charta enthaltenen immanenten Ambivalenz zwischen individualisiertem Gesundheitsverständnis und auf Strukturen zielenden politischen Strategien der Gesundheitsförderung kann auch an eine Studie von Hagen Kühn angeschlossen werden, der die im Gesundheitsförderungsdiskurs der USA enthaltenen Ambivalenzen zum Ausgangspunkt nimmt. Ihm zufolge werden damit die Tore geöffnet, um in der Auswahl der Maßnahmen dem »Gesetz der gesellschaftlichen Zuchtwahl von Präventionskonzepten« (Kühn 1993: 13) Folge zu leisten. Mit dieser Formel umschreibt Kühn die empirisch feststellbare Gesetzmäßigkeit der sogenannten »normativen Ätiologie«, indem »die soziale ›Umwelt‹ präventive Ideen, Ansätze oder Konzepte in einer Weise selektiert und mutiert, in der nur die Angepasstesten überleben« (ebd.: 118-161). Darin zeigt sich, dass Prävention nicht (nur) auf wissenschaftlicher Erkenntnis und Vorstellungen über Krankheitsursachen basiert, sondern vielmehr einem Evolutionsmodell, dem »Darwinschen Gesetz der Präventionspolitik« folgt (Kühn, Rosenbrock 2009: 39f.). Entscheidend für die Auswahl von Maßnahmen ist die Verträglichkeit der Handlungsfolgen mit dem Status Quo: Am besten stehen die Chancen auf Umsetzung von präventiven Maßnahmen für medizinische Konzepte, die auf den Erreger, den Verursacher ausgerichtet sind. Ihnen folgen Maßnahmen lebensstilorientierter Prävention, die auf einer hohen Akzeptanz von sogenannten Risikofaktoren basieren, mit dem Fokus auf der Vermeidung individuellen Fehlverhaltens. Maßnahmen, die auf individuell-vermeidende Verhaltensweisen im Konsumund Freizeitbereich zielen, sind gegenüber sozial-verändernden Verhaltensweisen in der Arbeitswelt und Öffentlichkeit deutlich in der Überzahl – so wird gesundes Kochen und Essen deutlich mehr propagiert als die Aneignung von Kenntnissen, um die Arbeit gesundheitserhaltend zu gestalten (Kühn 2001: 14f.). Ganz am Schluss der Hierarchie stehen präventive Interventionen, welche gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse zum Gegenstand haben. Dabei erfolgt die Zuchtwahl von Präventionskonzepten nicht nur durch Selektion, sondern auch durch ›Mutation‹, indem Faktoren der gesellschaftlichen Ebene zu solchen der individuellen Ebene werden. Kühn fügt als Beispiel den
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Bedeutungswandel des Begriffs ›Stress‹ an, der ursprünglich im Zusammenhang mit arbeitsstrukturellen Bedingungen entstanden ist und zunehmend und häufig reduktionistisch als mangelhafte Fähigkeit des Individuums gedeutet wird (Kühn 1993: 14ff., 59). Die Tendenz, den Fokus auf die Selbstverantwortung des Individuums zu legen, lässt sich auch in der Ottawa-Charta und den in ihr beschriebenen Strategien erkennen. Dies führt zu einer Verstärkung dessen, was Kühn als »Healthismus« beschreibt: ein ständiges ›Besorgtsein‹ um die eigene Gesundheit. Diese extreme Form der Gesundheitsorientierung weist nach Schröder insofern ideologische Züge auf, als sie das Denken und Verhalten der Menschen prägt. In einem Passungsverhältnis hierzu stehen die kommerziell orientierten Vermarktungsstrategien einer steigenden Anzahl von Anbietern im Gesundheitssektor (ebd. 2009) (vgl. Kap. 2.2). Kühn erkennt in dieser Tendenz und dem darin implizit enthaltenen Menschen- und Gesellschaftsbild »eine Affinität, zur hegemonialen Ideologie der 1980er und 1990er Jahre, dem modernen (wirtschafts-)liberalen Neokonservatismus« (ebd. 1999: 208). Robin Bunton30 geht in seinen kritischen Analysen von Strategien der Gesundheitsförderung ebenfalls so weit, zu behaupten, dass die sogenannten New-Public-Health-Ansätze, wozu er explizit auch die Ottawa-Charta zählt, dem Foucault’schen Gouvernamentalitäts-Ansatz folgen und Ausdruck einer neuen Regierungsform seien. »Health promotion is not only a new form of health care provision but also a new form of social regulation and control.« (Bunton 1992: 4)
Die Charta, so seine Argumentation, fördert die Tendenz, dass Gesundheit und die neuen Gesundheitsbürokratien Kontrolle über unser Leben ausüben. Mittels gesundheitsfördernder Programme und der vermittelten Selbsttechnologien wird dem Individuum die Verantwortung auch für die eigene Gesundheit übertragen. Die politischen Aspekte in Zusammenhang mit dem Abbau sozialer Ungleichheiten treten in den Hintergrund, so Buntons Einschätzung in Übereinstimmung mit Kühn. Die Logik gesundheitsfördernder Programme, so das Fazit auch von Naidoo und Wills, ist anschlussfähig an die neoliberale Programmatik aktiver, eigenverantwortlicher Individuen (vgl. Naidoo, Wills 2010: 80ff.). Bröckling hält fest, dass ein planmäßiges Einwirken auf andere (»to empower people«) wie auf sich selbst (»self-empowerment«) einen Modus des Regierens konstituiert, der sich dadurch definiert, dass all seine Inter-
30 | Robin Bunton (geb. 1954) ist Soziologe an University of York, vormals an der Teeside University, ebenfalls in Grossbritannien. Er arbeitet mit Foucaults Ansatz und unterzieht Public Health und deren Strategien einer kritischen Analyse.
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ventionen die Fähigkeit zur Selbstregierung steigern sollen (ebd. 2003: 324).31 Zu diesem Schluss kommt Bröckling in seinem Artikel »Vorbeugen ist besser […]« (2008), in welchem er die Rationalität und die Technologien vorbeugenden Handelns analysiert, wobei er Gesundheitsförderung als Teil präventiver Maßnahmen betrachtet. Die Absicht, die Selbstbestimmung bezüglich der eigenen Gesundheit zu stärken und damit die Gesundheit zu fördern, kommt gemäß seiner Analyse einem sozialtechnokratischen Projekt gleich, welches definitionsgemäß einen »performativen Widerspruch« (ebd. 2003: 340) hervorrufen muss: Die institutionellen Bedingungen, die eine Person oder Gruppe in die Position versetzen, einander zu ermächtigen, untergraben zugleich den Akt des Empowerments (Gruber, Tricket 1987 zit.n. Bröckling 1987: 340) (vgl. Kap. 5). Eine individualisierende (Um-)Deutung, wie sie dem Empowerment-Ansatz widerfuhr, stellt Kühn auch in Bezug auf den sogenannten LebensweisenAnsatz fest (vgl. Kap. 5).32 Dabei wird, so einer der Hauptkritikpunkte Kühns, das gesundheitspolitische Dilemma ausgeblendet, dass Gesundheitsförderung sich am Habitus der oberen, ideologisch einflussreichen Schichten ausrichtet. Die eigene Gesundheit zu fördern, als Teil einer kulturellen Leitnorm, wird zu einem Imperativ für die gesamte Gesellschaft erhoben und gilt als legitime Form der Lebensführung (ebd. 1999: 208). Indem das soziale, psychische und physische Wohlbefinden – eine inhaltliche Leerstelle mit entgrenzender Steigerungslogik – zum gesellschaftlichen Bezugspunkt und Gesundheit zur Kategorie einer universellen Lebensethik erhoben werden, bekommt Gesundheitsförderung, so der in der Einleitung dieser Arbeit zitierte Göpel, die Bedeutung einer »integrativen sozialen Klammer für die Verständigung über allgemeine Lebensinteressen« (Göpel 1995: 4). Dass dabei soziale Differenzen und auch elitäre Tendenzen verstärkt und gleichzeitig verdeckt werden, wird von den oben referierten AutorInnen ausgeführt. So konnte in verschiedenen Forschungen gezeigt werden, wie Gesundheitsförderung sowohl Stereotype als auch Ungleichheitsverhältnisse festigen 31 | In einer Analyse der verschiedenen Verwendungszwecke und -kontexte des Empowerment-Ansatzes verdeutlicht Bröckling, dass der Begriff sowohl von Linken verwendet wird, um politischen Widerstand zu mobilisieren, als auch von Rechten, mit dem Ziel, ökonomische rationale und unternehmerische Akteure zu erzeugen (Cruikshank 1999 zit.n. Bröckling 2003: 325). 32 | In dieser uneinheitlichen Verwendung von Begriffen unterschiedlicher Provenienz zeigt sich ein bekanntes Muster innerhalb der Ottawa-Charta als auch allgemein in Schriften der Gesundheitsförderung. Die Begriffe oder Konzepte Lebensweise, Lebensführung, Lebensstil, Lebenswelt und Lebensbedingungen werden kaum klar definiert und auch nicht auf Autoren und Theoretiker zurückgeführt. Dies führt zu einer Mehrdeutigkeit, die beispielsweise Wenzel kritisiert (Wenzel 1983 zit.n. Ruckstuhl 2011: 98).
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kann. Beispielsweise wird die sogenannte ›traditionelle Frauenrolle‹ in der heterosexuellen bürgerlichen Familie als Stereotyp bestärkt (vgl. z.B. Zaretsky 1976 zit.n. Thorogood 2002: 64). Ebenso können gesundheitsfördernde Maximen, wie beispielsweise ›gesunde Ernährungsweisen‹ die Tendenz festigen, innerhalb von gesundheitsfördernder Normativität kulturelle Zuschreibungen zu machen – bis hin zur Reproduktion von rassistischen Stereotypen, indem von der kulturellen Leitnorm abweichende Praktiken kulturalisiert und abgewertet werden (vgl. Thorogood 2002).
4.3.3 Gesundheit als Humankapital oder öffentliches Gut Deppe skizziert seine kritische Sicht ausgehend von Beschreibungen Gesundheitsgesellschaft durch Ilona Kickbusch. Als Mitbegründerin ›New-Public-Health-Bewegung‹ beschreibt sie die gesteigerte Bedeutung Gesundheit im wirtschaftlichen und lebensweltlichen Bereich aus einer meintlich kultursoziologischen Perspektive:
der der von ver-
»Die neue Kultur von ›Gesundheit‹ zeichnet sich dadurch aus, dass sich Machbarkeit von Gesundheit, Produktion sowie Konsum von ›Gesundheit‹ durch Waren und Dienstleistungen zusammengeschlossen haben. Der Mehrwert Gesundheit wird zunehmend zum Entscheidungskriterium für Konsumenten bei Waren und Dienstleistungen.« (Kickbusch 2006: 8)
Diese Verschränkung von Gesundheitswesen und Ökonomie ist gemäß Kickbusch ein zentrales Kennzeichen der von ihr als »Gesundheitsgesellschaft« titulierten aktuellen Gesellschaftsformation. Implizit deutet sie damit die Entwicklung im Gesundheitsbereich im Sinne der Ökonomisierungsthese. Hier schließt Deppe an mit der Befürchtung, Gesundheit könne »von der blinden Macht der Ökonomisierung und der Konkurrenz aufgerieben« werden (ebd. 2002: 7). Wenn in einer Gesundheitsgesellschaft Waren und Dienstleistungen mit dem Ziel der Machbarkeit und Erhaltung von Gesundheit zusammenfallen, dann stellt sich für Deppe die Frage, wo die Grenze zwischen öffentlichen und privaten Ausgaben respektive der jeweiligen Verantwortung gezogen wird. Dabei stellt für ihn das Gesundheitssystem eine der letzten Bastionen des Sozialen dar, und er befürchtet, dass diesem »gesellschaftlich äusserst sensiblen Bereich« eine »neoliberale Durchdringung« drohe (ebd.: 7). Dahme und Wohlfahrt (2007) schließen sich dieser Deutung insofern an, als dass sie die aktivierende und sozialinvestive Sozial- und Gesundheitspolitik als Ausdruck eines Sozialstaatverständnisses deuten, in welchem die potenziellen Leistungsempfänger mittels Anreizen und Sanktionen gelenkt werden. Unter der Maxime des Förderns und Forderns findet eine Neuaufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft statt (ebd.: 72); mittels akti-
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vierender Politik sollen das Bürgerengagement und die Eigenverantwortung gefördert werden (ebd. 2007: 77). Dass Gesundheit zu einem Wirtschaftsfaktor wurde und eine neue gesellschaftspolitische Bedeutung erhalten hat, spielt für die Entwicklungen und Umdeutungen im Gesundheitsbereich eine zentrale Rolle. Es zeigt sich auch darin, dass Gesundheit als eine individuelle und kollektive Investition in das ›Humankapital‹ gedacht werden kann (Günter 2013: 2). Kreisky hebt kritisch hervor, dass dabei der schöne, schlanke, ideale Körper zum symbolischen Kapital, zum Statussymbol und damit zugleich zur Arena sozialer und ökonomischer Kämpfe wird (Kreisky 2008: 148). »Der Körper ist […] eines der Hauptschlachtfelder, auf dem der Zugriff von Gesellschaft und Gemeinschaft und ihrer Institutionen auf die Individuen definiert und exekutiert werden.« (Labisch 1998 zit.n. Kreisky 2008: 148)
Gesundheit, Schlankheit und Fitness werden nicht mehr länger als biologisches Schicksal, sondern als individuelle Aufgabe und Ausdruck persönlicher Leistung wahrgenommen. Nach Kreisky erfährt das Körperliche im fortgeschrittenen Kapitalismus eine Aufwertung. Nur intakte und gesunde Körper vermögen auch ein attraktives und marktkonformes Leben zu garantieren. Umgekehrt bedarf der propagierte ›gesunde‹ Lebensstil entsprechender Ressourcen, insbesondere ein ausreichendes Einkommen (Kreisky 2008: 149). Um an den ›neuen Märkten‹ der wachstumsstarken Wellness- und Fitnessbranche teilhaben zu können, ist es notwendig, den Körper entsprechend den Idealen in Form zu bringen. Disziplinierte Selbstverbesserung wird als Ausdruck gelingender Lebensführung gelesen. »To have a healthy body has become the mark of distinction that separates those who deserve to succeed from those who will fail.« (Crawford 1994: 1354)
Gesund und ungesund wurden damit zu Signifikanten von ›normaler‹ und ›abnormaler‹ Identität, zum Indikator des moralischen Werts des Individuums wie auch zum Mittel der Distinktion. Dass es sich bei Gesundheit zugleich um ein öffentliches Gut handelt und in demokratischen Gesellschaften die Gesellschaftsmitglieder nicht von dessen Konsum oder der Teilhabe an diesem ausgeschlossen werden dürfen, rückt dabei in den Hintergrund. Die neoliberale Semantik des aktivierenden Staats, so sind sich die hier aufgeführten AutorInnen einig, ist weitgehend anschlussfähig an die aus den 1980er Jahren stammenden Formulierungen und Forderungen der OttawaCharta. Es werden einseitig die auf das Subjekt gerichteten Aspekte hervorgehoben, wie die Förderung des sozialen Engagements der BürgerInnen, die Selbsthilfe oder die Eigenarbeit sowie die Arbeit von freien Organisationen
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und Vereinen. Zugleich kann sich der Staat als Leistungserbringer zurücknehmen, wie auch, wie dies Brunnett festhält, der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme legitimierbar ist (Brunnett 2007: 180). Dabei werden umgekehrt, so Dahme (2007), grundlegende, in der Charta festgehaltene Voraussetzungen zur Erreichung der WHO-Ziele zur Gesundheitsförderung heute nicht mehr akzeptiert, beispielsweise der Anspruch, dass die Weiterentwicklung der sozialen Infrastruktur nur durch einen Ausbau sozialer professionalisierter Dienstleistungen ermöglicht wird. Wohlfahrtsstaatliche Zielsetzungen dieser Art lehnt der aktivierende Staat ab. Gesundheitsförderung im aktivierenden Sozialstaat landet, so das Fazit von Dahme, auf radikalere Weise wieder beim Ausgangspunkt, den sie mit der Kritik der auf Individuen gerichteten Verhaltensprävention einmal skeptisch aufs Korn genommen hat (ebd.: 78f.). Dass der Schwerpunkt der Bestrebungen von New Public Health, wie sie in der Ottawa-Charta programmatisch skizziert sind, eher auf der Fokussierung der Individuen steht, auf der »Befähigung, die individuelle Gesundheit zu stärken«, scheint sich in aktuellen Strategien der Gesundheitsförderung, die u.a. von Verhaltensökonomen entwickelt werden, zu bewahrheiten. Dies zeigt sich auch in der Rhetorik und Logik heutiger Public-Health-Maßnahmen: Diese erfolgen kaum mittels expliziter Verbote und schon gar nicht in Form von Zwangsmaßnahmen, sondern sie folgen vielmehr der Logik eines »libertären Paternalismus«. Beispielhaft hierfür steht die von Thaler und Sunstein33 verfolgte und konzipierte Strategie, Entscheidungen auf eine Art zu beeinflussen, die den Entscheidenden nützt und sie gleichzeitig im Glauben lässt, selbst entschieden zu haben. In diesem vermeintlichen Eigeninteresse der Bevölkerung darf der Staat prinzipiell in alle Lebensbereiche eingreifen. Thaler und Sunstein versuchen, offenbar mit Erfolg, im Bereich Gesundheitsförderung mittels Anreizen und Anstössen, sogenannten ›nudges‹, solche ›klugen‹ Entscheidungen anzustoßen (Thaler, Sunstein 2014). Ziel ist es, Menschen zu helfen, ›bessere‹ Entscheidungen zu treffen, als sie sie von sich aus fällen würden, ohne jemandem etwas aufzuzwingen. Dieses Ziel verfolgen Thaler und Sunstein mit der Entwicklung einer »Entscheidungsarchitektur«, beispielsweise bei der Platzierung der Lebensmittel in Kantinen. Der Widerspruch zwischen einer liberalen Haltung und einer paternalistischen Absicht scheint in ihrem Ansatz aufgehoben zu sein, indem, so ihre Argumentation, die Wahlfreiheit durch staatliche Eingriffe nicht beeinträchtigt wird. Den Individuen ist mittels der vermeintlichen Wahlfreiheit scheinbar ausreichend Autonomie gewährt.
33 | Autoren des 2008 veröffentlichten Bestsellers ›Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt‹.
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4.3.4 Normierende und stigmatisierende Effekte eines individualisierten Gesundheitsverständnisses Der in der Ottawa-Charta selbsterklärte Paradigmenwechsel hat ein verändertes Gesundheitsverständnis eingeleitet, oder zumindest markiert es einen seither beobachtbaren Wandel. Die nachfolgend zitierten AutorInnen skizzieren mögliche Folgen dieses neuen Gesundheitsbegriffs auf Lebensführung und Selbstkonzepte. Ein Befund aus verschiedenen Untersuchungen liegt darin, dass aus dem als ›Paradigmenwechsel‹ beschriebenen Wandel des Gesundheitsverständnisses, bei dem Gesundheit als Wohlbefinden beschrieben und ins Subjekt hineinverlegt wird, ein verändertes Konzept des Subjekts resultiert. Nicht mehr länger das Resultat von Glück oder biologischer Disposition, muss die eigene Gesundheit durch eine gesundheitsbewusste Lebensweise verdient werden und wird in die Verantwortung der Individuen gelegt (vgl. Crawford 1984; White et al. 1995). So erstaunt es denn auch nicht, dass über zwei Drittel der Befragten einer schweizerischen Studie glauben, ihre Gesundheit sei primär vom eigenen Verhalten abhängig (vgl. Hättich 1995). Dieser Befund verweist auf die hohe Akzeptanz eines auf das Individuum zentrierten Präventionsgedankens in alltagstheoretischen Erklärungen des eigenen Gesundheitszustands. Gesundheitsförderung wird als Teil der Selbstkompetenz und somit Voraussetzung gelingender Lebensführung betrachtet. Das Konzept des ›gesundheitsfördernden Selbst‹, welches auf rationaler Selbstführung auf baut, hat gewisse Parallelen zum im selben Zeitraum Karriere machenden Begriff des »unternehmerischen Selbst« (vgl. Bröckling 2007; Brunnett 2007; Petersen 1996). Als mündige Bürger sollen die Subjekte, so Schmidt und Kolip (2007), sich selber proaktiv für ihr Wohlbefinden einsetzen, so wie der »Arbeitskraftunternehmer« (Voss, Pongratz 1998) bezüglich der eigenen Arbeitskraft mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation und damit auch mehr Risiken übernehmen muss. Gesundheit wird zur Pflicht und beinhaltet eine bestimmte Form der Lebensführung. Der ehemals fürsorgend-entmündigende Paternalismus gesundheitserzieherischer Konzepte wird durch einen vorsorgend-fordernden der Gesundheitsförderung ersetzt. Dies führt, so Schmidt, zu einer Zunahme der Steuerungs- und Kontrollaufgaben, auch im Bereich der privaten Lebensführung (Schmidt, Kolip 2007: 88). Nicht nur ›gesund sein‹ wurde zum Imperativ (Mazdumar 2008). Wir haben im Sinne eines »präventiven Selbst« (Lenwiler, Madarasz 2010) auch einen Dauerauftrag, unsere Gesundheit zu stärken, die als nötig erklärten Gesundheitsuntersuchungen durchzuführen, aktiv zu werden sowohl zur Vergewisserung und Sicherung der eigenen Gesundheit als auch in Bezug auf die Gemeinschaft, um die Gesundheitskosten nicht weiter ansteigen zu lassen. In Verbindung mit dem positivierten Gesundheitsbegriff steigern sich die zu
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unternehmenden Anstrengungen somit ins Unendliche. Man kann nie genug für seine Gesundheit und ihre Förderung tun. In der Programmatik von Gesundheit und deren Förderung gemäß der Ottawa-Charta wird davon ausgegangen, dass alle Individuen die Fähigkeit besitzen, sich rational für Gesundheit zu entscheiden, z.B. auf Risikoverhalten oder ungesunde Gewohnheiten zu verzichten. Ebenso besteht die Erwartung, dass die medizinischen Vorsorge- und Kontrolluntersuchungen wahrgenommen werden (Brunnett 2007: 178), mehr noch gilt es zu erkennen, welches die notwendigen Untersuchungen sein könnten. Gesundheit wird damit als Folge einer rationalen Gestaltung des Lebens gedeutet, als Frage des eigenen Willens, der eigenen Anstrengung. Krankheit ist entweder im fehlenden subjektiven Willen verankert oder ein Ausdruck der freien Wahl von Individuen, aus der dann Selbstverantwortung mit allen Konsequenzen folgt (Greco 2000 zit.n. Brunnett 2007: 179). ›Gesund‹ und ›ungesund‹ werden zu Signifikanten von normaler respektive abnormaler Identität und des moralischen Werts des Individuums. Wer nicht ein risikofreies Leben führt, hat einen Mangel an Selbstkontrolle, vollführt nicht die Aufgaben eines vollständig autonomen und verantwortlichen Bürgers (Petersen 1996: 53; vgl. auch Keupp 1995) respektive einer entsprechenden Bürgerin. Dabei vernachlässigt der Anspruch auf selbstgesteuerte Gestaltung des eigenen Lebens und die Ausformung eines gesunden Lebensstils nicht nur soziale Ungleichheiten, sondern auch die Veränderungsträgheit, die Lebensstil- und Mentalitätsmuster beinhalten (Hensen 2008: 326). Mit diesem Idealbild eines »self-contained and self-controlled individual« (Crawford 1994: 1359) einher geht ein Wechsel von einem externen zu einem internen Ansatz: Es gilt nicht mehr nur zu befolgen, was an Verhaltensweisen angesagt ist oder im Krankheitsfall medizinischen Anweisungen Folge zu leisten; die Menschen sind vielmehr angewiesen, ihren eigenen Gesundheitszustand fortlaufend zu überwachen, sie sind angehalten, ein permanentes Monitoring des eigenen Körpers und dessen Zustands vorzunehmen sowie entsprechend die eigenen Handlungsweisen zu kontrollieren. Welchen Effekt hierbei die neuen Möglichkeiten der Selbstüberwachung durch digitale, mobile und auch web-basierte und vernetzte Technologien haben, untersucht Lupton in einem laufenden Forschungsprojekt (Lupton 2013). Vermeintlich gesunde Verhaltensweisen werden in diesem Ansatz lediglich vorgezeichnet, nicht vorgegeben. Die Kontrolle über die Gesundheit kommt von der Person selber; es wird ein gesundheitsförderndes Subjekt gefördert respektive gefordert (Nettleton, Bunton 1996: 47). Wird ›gesund sein‹ und ›gesund leben‹ zur Norm, dann erscheint Krankheit für die Individuen selber und für die Umgebung zunehmend als selbst zu verantwortendes Versagen, als äusserliches Zeichen der missglückten Anpassung an die Lebensbedingungen. Damit verliert Krankheit ihre entlastenden
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Aspekte, die mit der Rolle des passiven, auf Sorge angewiesenen Patienten verknüpft waren. Stattdessen steht das stets aktive, selbst verantwortliche Subjekt paradigmatisch im Vordergrund (Brunnett 2007: 179f.). Die gestiegene Eigenverantwortung und aktive Gestaltung des Selbst wecken damit die Hoffnung auf soziale Zugehörigkeit und Teilhabe am Arbeitsmarkt und Konsum oder schüren umgekehrt die Angst vor sozialem Ausschluss (Brunnett 2007: 180). Während Gesundheit als Ausdruck gelingender Lebensführung gelesen werden kann, wird Krankheit zu einer Bedrohung. Sie ist ein Zeichen, dass der Körper stärker ist als die Vernunft, indem der Körper seine essenzielle Natur zeigt: fragil und sterblich. »The response to illness or its threat is to champion greater rationality and bodily control, pushing the materiality of mortal bodies away in a vain attempt to defy corporeal disorder and death.« (Lupton 1995: 9)
Lupton bezeichnet diesen Kampf gegen die Materialität fragiler und sterblicher Körper als aussichtslos. Grundsätzlich vernachlässigt werde in diesem vergeblichen Kampf, dass Gesundheit nicht rational herstellbar, nicht kausal beeinflussbar, sondern in hohem Grade ungewiss sei und man sich ihrer nicht sicher sein könne (vgl. Greco 2004 zit.n. Zick-Varul 2011: 7). Die Deutung von Kranksein als Verfehlung bezeichnet Robert Crawford als die Kehrseite einer neuen Gesundheitsmoral, als Folge davon, Gesundheit zum höchsten Wert zu erklären und in die Verantwortung der Subjekte zu legen (Crawford 1977). Lamprecht und Stamm (1999) deuten die Entwicklung, dass Training, Selbstdisziplin und Selbstkontrolle zur Pflicht und Voraussetzung für ein gesundes und glückliches Leben wurden, als »eine Neuauflage und -ausrichtung der protestantischen Ethik in säkularisierter Form« (vgl. Lamprecht, Stamm 1999: 66). Kontrolle und Beherrschung gehören zu den Grundwerten einer individualisierten Leistungsgesellschaft und beziehen sich somit in verstärktem Maße nun auch auf den eigenen Körper. Ihrer These wird aber auch widersprochen, indem das der Deutung unterliegende Konzept des »bürgerlichen Subjekts« als einzig mögliches infrage gestellt wird. Fluidere Formen, die nicht auf »maßvolle Selbststeuerung« angelegt scheinen, würden sich der vermeintlich zwingenden Logik der protestantischen Ethik entziehen können (vgl. WohlrabSahr 2003). Die Feststellung einer verstärkten allgemeinen Responsibilisierung in Bezug auf Gesundheit ist auch ein Resultat einer Analyse von Stefanie Duttweiler, in welcher sie die Wirkungen des ›Adipositas-Diskurses‹ untersucht. Gesundheitsbezogene Handlungen wurden zum Imperativ: Wer nichts für die eigene Gesundheit tut, wird als unverantwortlich wahrgenommen (Duttweiler 2008: 137). Mit diesem Gesundheitsverständnis einher geht, so lautet auch ihr Befund, eine Moralisierung des Körpers. Jede und jeder ist zu permanenter
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
Selbstbeobachtung angehalten. Wir alle müssen ›body inputs‹ einem Monitoring unterziehen: Sind unsere Handlungen nützlich oder schädlich, gesund oder ungesund? Essen oder schlafen wir ausreichend oder übermäßig? Wie steht es mit dem Tabak- oder Alkoholkonsum? Gesundheit wird zu einer Problematisierungsformel, die unseren Lebensalltag und auch den Lebensstil durchdringt (ebd.: 134). Die Verantwortlichkeit für sich wie auch für die Gesellschaft als Ganzes ist enorm gestiegen (ebd.: 124). Dies, so fügt Peterson an, sei umso erstaunlicher, als weder bezüglich der Maßnahmen, die nachweislich der Gesundheit zuträglich sind, noch bezüglich des Umfangs der zu vollziehenden gesundheitsfördernden Maßnahmen Konsens besteht. So ist beispielsweise nur schon die Frage der Zugabe von Fluor ins Salz umstritten, ebenso die Frage, in welchem Maß und in welcher Intensität ›körperliche Betätigung‹ gesund ist (Peterson 1996: 55). Nach Deborah Lupton mag Public Health Verbesserungen im Gesundheitszustand der Bevölkerung befördert haben. Zugleich aber tragen gemäß ihrer Einschätzung die involvierten Institutionen mittels ihrer Diskurse und Praktiken zur Produktion von »limited kinds of subjects and bodies« (Lupton 1995: 5) bei. Die damit einhergehenden Be- und Ausgrenzungen erfolgen mittels des Zeichnens binärer Gegensätze, welche mit diskriminatorischen moralischen Urteilen einhergehen. Deshalb fordert sie die Beleuchtung und kritische Betrachtung politischer und symbolischer Dimensionen, eine Analyse der Art und Weise, wie Praktiken und Policies von Public Health und Gesundheitsförderung gewisse Gruppen ›valorisieren‹ und andere marginalisieren, wie die Konzepte von Subjektivität und Rationalität privilegierende und exkludierende Folgen haben. Dabei bezieht sie auch die Sichtweise der Subjekte mit ein: Wie können sich diese innerhalb des Gesundheitsförderungsdiskurses konstituieren? Wie können sie ihre Entscheidungen treffen? Sie plädiert dafür, dass der komplexe sozioökonomische Kontext stärker mit berücksichtigt werden muss. Ebenfalls im Hinblick auf normierende Folgen des aktuellen Gesundheitsdiskurses hat eine Forschungsgruppe um Eva Barlösius Kinder und Jugendliche, die ›dick‹34 sind, befragt (Barlösius et al. 2012). Was bedeutet die tägliche Erfahrung der Mitglieder dieser stigmatisierten Risikogruppe, als ›dick‹ wahrgenommen und behandelt zu werden? Ein Ergebnis der Studie liegt darin, dass die Kinder und Jugendlichen ihr gesellschaftliches Verhältnis als durch ihren Körper bestimmt wahrnehmen. Aus Gruppendiskussionen resultierten denn 34 | Die Bezeichnung »dick« oder »dicker sein« ist eine Sprechweise, die von betroffenen und in der Studie befragten Jugendlichen gewählt wurde, um ihre Körper zu beschreiben. Die Forschendengruppe um Eva Barlösius verzichtet bewusst auf die gebräuchlichen Begriffe wie ›übergewichtig‹ oder ›adipös‹, um damit die hierin angelegten, gesellschaftlich akzeptierten Problematisierungen – insbesondere die Therapiebedürftigkeit – nicht zu übernehmen (ebd. 2012: 9).
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auch Forderungen der Jugendlichen nach Gleichberechtigung und Gleichbehandlung. Ebenso wünschen sich die Eltern, dass ihre ›dicken‹ Kinder mehr Selbstbewusstsein hätten und sich gegenüber sozialen Ausgrenzungen und Benachteiligungen zur Wehr setzen würden. Einen Körper zu haben, der von der gängigen Schlankheitsnorm sichtlich abweicht, dies zeigt nicht nur diese Studie, stellt heute eine Gefährdung von Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung dar. Interessant ist, dass zum Schluss der Studie die befragten Jugendlichen wie auch ihre Eltern Forderungen bezüglich gesellschaftlicher Haltungen und Umgangsformen formulieren, welche es ihnen verunmöglichen, ihr Leben so zu leben, wie sie sind und wie sie wollen (Barlösius et al. 2012). Verstärkt wird der von ihnen wahrgenommene Druck durch die gesellschaftlich verbreitete permanente Aufforderung zum Lernen, welche ihre Legitimation aus der Behauptung schöpft, die Menschen dadurch zu einem rationaleren und reflektierteren Verhalten zu befähigen (Ribolits 2004: 9). So sollen auch durch soziale Machtverhältnisse verursachte Probleme durch ›Arbeit an sich selbst‹ verringert werden. Nicht der Kampf gegen gesellschaftliche Bedingungen ist aufzunehmen, sich selbst gilt es zu ändern. Die hierin enthaltene Botschaft, dass jede und jeder die Macht hat, ihr oder sein Leben individuell zum Positiven zu wenden, entspricht der Pädagogisierungsthese: Zur Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme werden zunehmend nicht politische, rechtliche oder ökonomische, sondern pädagogische Strategien favorisiert. Hierzu bedarf es nach Elias des Auf baus einer Art »Selbstkontrollapparatur« (Elias 1997: 328), welche zum einen die Veränderung der Psychostrukturen der Menschen voraussetzt und zum anderen die Etablierung einer »Disziplinargesellschaft«. Der Erziehung und damit auch dem Bildungssystem kommen dabei wichtige Rollen zu (Elias 1997 [1939]).
4.3.5 F azit aus der Diskussion Bei der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung handelt sich um ein schillerndes Dokument, auf welches von verschiedensten Seiten Zugriff genommen wird. Bis heute ermöglicht die Charta als eine Art Selbstbedienungsladen, auch zueinander widersprüchliche Ansätze und Strategien zu legitimieren. Analysiert und genau gelesen wurde das Dokument jedoch kaum, es wird vielmehr als ein schier unerschöpflicher Schatz an vermeintlich schlagkräftigen Zitaten benutzt. Die Rekonstruktion der Logik der Charta mittels Sequenzanalyse machte deutlich, dass in der Charta durch die Fraglosigkeit, Gesundheitsförderung zu einem Imperativ zu erklären, ein Grundstein zur Etablierung eines gesellschaftlichen Zwangs zum ›Gesundsein‹ (vgl. Wolff 2013) gelegt wurde. Des Weiteren förderte die Analyse der Ottawa-Charta eine Ambivalenz zwischen individualisierenden und auf strukturelle Veränderung zielenden sozialpoli-
4. Zur offiziellen Programmatik von Gesundheitsförderung: Die Ottawa-Charta der WHO
tischen Ansätzen der Gesundheitsförderung zutage. Hierbei konnte eine Schlagseite hin zu individualisierenden Tendenzen festgestellt werden, indem Gesundheitsförderung zur Aufgabe der Subjekte erklärt und in deren Verantwortung gelegt wird. Maßnahmen struktureller oder gesundheitspolitischer Art rücken in den Hintergrund. Die im Anschluss an die Analyse referierten Studien, basierend auf machtkritischen, häufig auf Foucault bezogenen theoretischen Ansätzen, zeigen mögliche Konsequenzen einer unreflektierten Übernahme von Sätzen und Ansätzen aus der Ottawa-Charta auf. Mittels Rekonstruktionen gesundheitspolitischer Diskurse oder aus der Analyse von Gesprächen mit Betroffenen, von Gesundheitsförderungsmaßnahmen anvisierten Zielgruppen konnten Effekte und Nebeneffekte eines Gesundheits(förderungs)diskurses sichtbar gemacht werden, die auch aus der rekonstruierten Logik der Ottawa-Charta von 1986 ableitbar sind. Die Ottawa-Charta – dies war der Anlass, sich ihr anzunehmen – gilt bis heute als ›Grundlagendokument‹ schulischer Gesundheitsförderung. Wie Gesundheitsförderung in diesem Feld gelesen und umgesetzt wird, ist Gegenstand des nun folgenden Kapitels.
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5. Gesundheitsförderung an Schulen
In den vorangehenden Kapiteln wurden ausführlich Diskurse über Gesundheit und über die Schwierigkeiten, Gesundheit fassbar zu machen, referiert. Es wurde versucht, die Genese des gesundheitspolitischen Konzepts der Gesundheitsförderung darzulegen sowie die dabei widerstreitenden Logiken zu analysieren. Nun richtet sich der Fokus auf das eigentliche Forschungsfeld: auf Schulen, auf den Auftrag der Gesundheitsförderung und auf seine Deutung durch Lehrpersonen. Bevor untersucht werden kann, wie Gesundheitsförderung im Rahmen der Institution Schule thematisiert und gedeutet wird, bedarf es einer Verortung von Gesundheitsförderung im Rahmen der schulischen Bildung. Deshalb werden im Folgenden die Fragen erörtert, (1) welches die Ziele und Strategien von schulischer Gesundheitsförderung sind und (2) in welchem Zusammenhang diese zum allgemeinen Bildungsauftrag stehen respektive welche Spannungsfelder sich dabei öffnen. Bevor die Lehrpersonen zu Wort kommen, sollen (3) die im Rahmen von schulischer Gesundheitsförderung relevanten AkteurInnen dargestellt werden, um einen Überblick und Einblick in das eigentliche Forschungsfeld zu geben.
5.1 Z ur P rogr ammatik schulischer G esundheitsförderun g 5.1.1 Wie Gesundheitsförderung an die Schulen kam Im aktuell gültigen sowie im künftigen Lehrplan der bernischen Volksschule ist Gesundheitsförderung explizit als Thematik zu finden. Gesundheitsförderung gilt zum einen als »transversales Thema«, welches »überfachlich« verfolgt werden soll. Zum anderen findet man Gesundheitsförderung innerhalb der naturwissenschaftlichen bzw. sogenannten ›lebenskundlichen‹ Fächer, sei dies im Rahmen von zu vermittelnden Themen wie Ernährung, in Zusammenhang mit Sportunterricht oder Themenfeldern, die mit »Ich selber sein – Leben in Gemeinschaft« oder »Gesundheit – Wohlbefinden« umschrieben sind.
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Im Namen der Gesundheit
Während im »Lehrplan 95 des Kantons Bern« (ERZ 1995) gesundheitsfördernde Themen explizit unter Zusatzaufgaben auf einer Seite auf- und ausgeführt sind, erscheinen sie im »Lehrplan 21« (D-EDK 2014), dem neuen gemeinsamen deutschschweizerischen Lehrplan, in Form von ›Gesundheitskompetenzen‹. Diese Gesundheitskompetenzen, welche die SchülerInnen erlangen sollen (Greiter 2014), sind ihrerseits unter dem Begriff Lebenskompetenzen subsumiert. Diese sollen u.a. durch die Thematisierung von Gesundheitsfragen als fächerübergreifendem Thema erworben werden. Darunter fallen die Förderung der Selbstwahrnehmung und Empathie, der Umgang mit Gefühlen und Stress wie auch Entscheidungsfähigkeit und Problemlösefertigkeit sowie Kommunikations- und Beziehungsfähigkeiten. Gesundheitskompetenzen richten sich demnach auf Themen wie »den eigenen Körper kennen und dazu Sorge tragen«, »Krankheitsvorsorge und der Umgang mit Krankheiten«, »Einflüsse aus der Umwelt auf die eigene Gesundheit erkennen«. Darüber hinaus umfasst Gesundheitsförderung Themen wie Ernährung, Bewegung, Risikokompetenz, sexuelle Gesundheit, Suchtprävention, Gewaltprävention sowie Schuldenprävention (Högger 2013, 2014). Zusätzlich zu den curricular verankerten Inhalten werden an den meisten Schulen über den ordentlichen Unterricht hinaus weitere Programme und Aktivitäten explizit zu Gesundheitsförderung durchgeführt. Das reichhaltige Angebot unterschiedlichster Programme wie auch die vielfältige Palette von Anbietern zeigen indirekt, dass die öffentliche Schule für gesundheitspolitische Interventionen von verschiedenen Akteuren angegangen oder umworben wird (Gerlinger 2006; Bittlingmayer 2009; Rosenbrock, Kümpers 2006 u.a). Die Möglichkeit, bei Heranwachsenden primärpräventive Maßnahmen durchführen zu können – so wird in der Einleitung solcher gesundheitsfördernder Programme häufig argumentiert – macht eine Intervention plausibel. Die Gesundheit der Schulkinder müsse im frühen Alter gefördert werden, bevor oder noch besser damit keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen eintreten. Hier werden, so das Bundesamt für Gesundheit (BAG), die wichtigsten Weichen für die Gesundheit im Erwachsenenalter gestellt.1 Investitionen im Bereich der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, so der Wortlaut beim BAG weiter, führen langfristig zu einer ›gesünderen‹ und damit auch wirtschaftlich leistungsfähigeren Gesellschaft. Zur Legitimation gesundheitsfördernder Maßnahmen werden Einschätzungen des Gesundheitszustands von Kindern und Jugendlichen zitiert, welche teilweise alarmistische Züge tragen. Konstatiert werden somatische, psychische, psychosomatische und psychosoziale Auffälligkeiten und Krankheiten, welche die Gesundheit von Heranwachsenden nicht unerheblich zu be1 | URL: www.bag.admin.ch/jugendprogramme/index.html?lang=de (Stand 13.4. 2013).
5. Gesundheitsförderung an Schulen
einträchtigen, wenn nicht zu gefährden scheinen. Gemäß epidemiologischen Untersuchungen von 1989 bis 1999 (vgl. z.B. Hurrelmann 1998; Hurrelmann et al. 1991, 1995; Kolip et al. 1995; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1998; für die Schweiz z.B. Kuntsche et al. 2012; Obsan 2009) sollen rund 10 Prozent der Kinder von chronischen Krankheiten betroffen sein, wozu z.B. Krebserkrankungen, stoffwechselbedingte Krankheiten wie Diabetes und kindliches Rheuma gezählt werden. Etwa 30 Prozent aller Jugendlichen zeigen gemäß denselben Darstellungen offenbar psychosomatische Beeinträchtigungen, klagen über Kopfschmerzen, Unruhe, Nervosität, Kreuz- und Rückenschmerzen sowie Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen. Und etwa 10 bis 15 Prozent aller GrundschülerInnen und Jugendlichen leiden gemäß der Befragung unter psychischen Störungen, sei dies im emotionalen oder sozialen Verhalten oder auch als Leistungs- oder Teilleistungsstörungen. Ebenso sind bei Jugendlichen Suchtkrankheiten stark verbreitet, welche psychische und physische Abhängigkeit, Verlust der Konsumkontrolle bei Alkohol, illegalen Drogen und Arzneimitteln umfassen. Diese in verschiedenen Studien aus den 1990er Jahren immer wieder ähnlich festgehaltenen Symptome deuten beispielsweise Paulus und Brückner (2000: 26) als »Überbeanspruchungserscheinungen«. Als Ursachen werden die veränderten Lebensverhältnisse angeführt sowie die sich daraus ergebenden Belastungen im Alltag (vgl. Hurrelmann 1990, 1998). Darunter figurieren instabile Betreuungsstrukturen, sich im Umbruch befindliche Familienformen, veränderte Lebens- und Berufsperspektiven der Eltern, Werte- und Normenpluralismus, insgesamt Effekte sozialen Wandels – was sich gemäß verschiedenster AutorInnen erschwerend auf die Identitätsbildungsprozesse auswirkt. Die Schule wird, wenn auch deutlich weniger häufig, ebenfalls als ein Belastungsfaktor für SchülerInnen gehandelt (vgl. Paulus, Brückner 2000: 26). Der hohe Leistungsdruck, die hohen Leistungsanforderungen, unsichere Perspektiven wie auch ein missliches Klima in der Schule würden den Lebensalltag der Heranwachsenden erheblich belasten. Basis dieser in den 1990er Jahren erhobenen Situation sind Selbsteinschätzungen von SchülerInnen. Die Antworten auf Fragen vorwiegend zu Verhaltensweisen geben somit zum einen subjektive Einschätzungen, zum anderen den Status Quo wieder, ohne Vergleichskohorten aus früheren Jahrzehnten. Eine Ausnahme im Sinne längerer Datenreihen stellt die von der WHO seit 1983 durchgeführte internationale Studie »Health Behaviour in School-aged Children« (HBSC) dar. Sie zeigt in der Tendenz leicht sinkende Werte, was die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Schulalter betrifft. Festgehalten wird eine ansteigende Prävalenz für psychische und psychosomatische Beschwerden. Risikoverhaltensweisen wie Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum sind gemäß der Studie teilweise explosionsartig angestiegen. Angststörungen und ein vermehrtes Auftreten von Verhaltensstörungen (ADHS)
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deuten auf eine Verschlechterung auch des psychischen Wohlbefindens hin. Anzumerken gilt, dass es sich bei den konstatierten Krankheitssymptomen auch in dieser Studie nicht um ärztliche Befunde handelt, sondern um subjektive Einschätzungen der Kinder und Jugendlichen, die mittels Fragebogen ihren eigenen Gesundheitszustand beschreiben. Die Schlussfolgerungen aus diesen Untersuchungen gipfeln, obwohl sich eine drastische Veränderung nicht schlüssig beweisen lässt, praktisch alle in der Empfehlung, Gesundheitsförderung zu intensivieren und insbesondere das Konzept der ›gesundheitsfördernden Schule‹ umzusetzen (Arnhold 2005). In der Schweiz findet, vergleichbar mit Deutschland und Österreich, die Idee der ›gesundheitsfördernden Schule‹ denn auch in den 1980er und 1990er Jahren entsprechend Anklang und Verbreitung (Leppin 1997; Gerlinger 2006; Wulfhorst 2002; Michaelsen et al. 2009; Marchwacka 2013; für die Schweiz vgl. Vuille et al. 2004; Wicki, Bürgisser 2008). In derselben Zeit erscheinen im deutschen Sprachraum Handbücher und Lehrmittel zu schulischer Gesundheitsförderung, die sich an Lehrpersonen, aber auch an Schulleitende richten (Priebe et al. 1993; Brägger, Posse 2007; Barkholz et al. 1998; Buddeberg-Fischer, Ritzmann 2000; Freitag 1998; Marchwacka 2013). Das ›Setting Schule‹, so der Duktus dieser Programme, wird für sozial- und gesundheitspolitische Ziele zum interessanten Interventionsfeld. Hier kann eingewendet werden, dass die Schule seit jeher ein zentrales Feld war, in dem gesundheitspolitische Anliegen umzusetzen versucht wurden. So wurden im 19. Jahrhundert in der Schule sowohl Hygienemaßnahmen als auch zahnärztliche und schulärztliche Untersuchungen eingeführt, die seither regelmäßig durchgeführt werden. Neu scheint an den unter ›Gesundheitsförderung‹ laufenden Interventionen zu sein, dass sie sich stärker auf den Umgang des Subjekts mit sich selbst und mit seinem Körper richten, auf Praktiken der Lebensführung und damit die Identität stärker mit ins Spiel bringen. Vergleichbar mit der Entwicklung der sozialen Medien und einer dabei beobachtbaren Ästhetisierung des Lebensstils wird der eigene Körper zum Ausdruck von Selbstdisziplin und zum Symbol »guter Lebensführung« (Duttweiler 2008). Gesundheitsförderung zielt auf das Subjekt und nicht lediglich auf Verhaltensweisen, was bei Hygienemaßnahmen wie Händewaschen oder richtigem Zähneputzen der Fall ist. So lässt sich beispielsweise eine enge Verschränkung des Gesundheitsdiskurses mit dem Schönheitsideal aufzeigen. Heute gilt als gesund, wer einen idealen Körper hat, über das ›richtige‹ Körpergewicht verfügt und dem aktuellen Schönheitsideal entspricht, worin sich die Ästhetisierung der Lebensführung abzeichnet (Bette, Gugutzer 2012). Demnach werden das Subjekt und die Identität zum Ziel von Gesundheitsförderung. Ob sich dies in den Interventionen der Lehrpersonen abzeichnet, wird zu untersuchen sein.
5. Gesundheitsförderung an Schulen
Gesundheitsfördernde und ›gesunde‹ Schulen Ein Blick in die sozialpolitisch motivierten, programmatischen Schriften zu schulischer Gesundheitsförderung zeigt, dass die ›gesundheitsfördernde Schule‹ nicht allein zu gesundem Verhalten erziehen und/oder gesundheitsrelevantes Wissen vermitteln soll; sie soll im Sinne eines ›Settings‹ selber auch zur ›gesunden Schule‹ werden. Damit wird die Schule zum Subjekt und zugleich zum positiven Gegenbild einer ansonsten oder vormals ›kranken‹ Schule. Mit gesundheitsfördernden Strukturen gilt es, die bestehenden Organisationsformen und die Entwicklung von Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sich die Organisation als ›gesund‹ bezeichnen lässt. Eine ›gesunde Schule‹, so die Programmatik, ermöglicht es allen sich darin aufhaltenden Personen, in ihrer gesamten Entwicklung Unterstützung zu finden und trägt dazu bei, die Gesundheit aller zu fördern (Brägger et al. 2008; Brägger, Posse 2007; Hurrelmann 2006; Landert 2008). Die Schule wird dabei als Organisation gedacht, vergleichbar mit einem Betrieb; Gesundheitsförderung wird in die Schulentwicklung integriert (Hascher, Baillod 2008). Die Verbindung von gesundheitspolitischen Zielen mit dem Bildungsauftrag der Schule, an welchen die Maßnahmen teilweise anknüpfen, ist – so die Einschätzung einer Vielzahl von AutorInnen sowohl aus dem pädagogischen als auch aus dem Public Health Bereich – vielversprechend. Dies bedingt für einige AutorInnen jedoch eine Auseinandersetzung nicht nur mit der Organisationsform der Institution Schule, sondern auch mit dem Verständnis der darin stattfindenden Lehr- und Lernprozesse (Hascher, Winkler 2010: 46; Griebler, Dür, Kremser 2009). Die Gesundheit der Lehrpersonen ist, diesem Ansatz folgend, ein wichtiger Aspekt, auf den beispielsweise AutorInnen im 2010 von Peter Paulus herausgegebenen Sammelband »Bildungsförderung durch Gesundheit« gesondert hinweisen. Sie verstehen sie als einen weiteren zentralen Bestandteil der Entwicklung von ›gesunden Schulen‹ und zugleich der Sicherung von Schulqualität. Ebenfalls in den 1990er Jahren, etwa zeitgleich mit der Etablierung von Gesundheitsförderung an Schulen und der Verschränkung mit dem Qualitätsförderungsdiskurs, entsteht auch der Diskurs um Burnouts von Lehrpersonen. So wird zur Begründung der Durchführung sogenannter »Lehrergesundheitstage« auf das große »Burn-Out-Potenzial« auf Seiten der Lehrpersonen hingewiesen (Paulus 2010: 67f., 77ff.). Die einzelne Lehrperson als wichtige Ressource jeder Schule braucht, so die Forderung in der Gesundheitsförderungsliteratur, innerhalb des Kollegiums einen Raum wechselseitiger Anerkennung und Unterstützung (vgl. Paulus 2010; Weiß, Kiel 2013) und damit eine entsprechende Organisationsform und Kultur der Zusammenarbeit. Gesundheitsfördernde Maßnahmen wie auch die Etablierung von Gesundheitsförderung haben ab den 1990er Jahren innerhalb der Institution Schule einen regelrechten Siegeszug angetreten. Als eine der wenigen kritischen Stimmen im Zusammenhang mit der Etablierung von Gesundheitsförderung
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an Schulen spricht Maria Fölling-Albers von einer »Sozialpädagogisierung« der Schulen. Indem die Lehrpersonen sozialpädagogische Aufgaben übernehmen und damit Aufgaben und Lerngegenstände, die sich auf Alltagswelten beziehen, in der Schule an Bedeutung gewinnen, ist eine Entgrenzung zwischen schulischem Lernen und außerschulischen Lebenswelten beobachtbar (Fölling-Albers 2000). Der Schule im 21. Jahrhundert werden zusätzliche Aufgaben aus dem Gesundheitsbereich zugeschoben oder zugeschrieben, ohne dass die Ausbildung bzw. die Ressourcen entsprechend ausgebaut werden und vor allem ohne dass im Bildungsbereich eine innerprofessionelle Reflexion bezüglich der Programmatik von Gesundheitsförderung erkennbar ist.
5.1.2 ›Setting‹ und ›Empowerment‹ als zentrale Konzepte des gesundheitspolitischen Richtungswechsels Schulische Gesundheitsförderung wird häufig in Abgrenzung zur ›Gesundheitserziehung‹ definiert, was als Insigne eines Richtungswechsels in der Gesundheitspolitik gilt. Dieser als ›paradigmatisch‹ bezeichnete Wechsel, der sich in der Bezugnahme auf Konzepte wie dem Setting-Ansatz und EmpowermentStrategien manifestiert, kann auch als eine Reaktion auf eine gewisse Erfolglosigkeit individuenzentrierter Gesundheitspräventionsprogramme gedeutet werden. So wurde in den 1960er und 1970er Jahren der Fokus auf das Erforschen und Vermeiden von sogenanntem Risikoverhalten gelegt, sozialstrukturelle und gruppenspezifische Einflüsse wurden in Studien und daraus abgeleiteten Strategien weitgehend vernachlässigt (Berkemann, Breslow 1983 zit.n. Abel 1999: 44). In den 1980er Jahren wurde die klassische Gesundheitserziehung deshalb als ›reduktionistisch‹ und ›elitär‹ bezeichnet. Es wurde kritisiert, dass sie von oben verordnet und zudem an enge, dem biomedizinischen Paradigma verbundene Präventionsziele geknüpft sei und partizipative Anteile fehlen würden. Die Sichtweisen derjenigen, die Gesundheitsinformationen suchen, würden nicht oder zu wenig berücksichtigt, ebenso wenig fänden sozio-kulturelle Unterschiede in Gesundheitsvorstellungen und -praktiken ausreichend Beachtung. Vielmehr würden die Normen der Mittelschichten zur kulturellen Leitnorm erklärt und dominierten die Agenda. Die Gesundheitserziehung bilde dementsprechend nicht die Gesundheitsbedürfnisse der gesamten Bevölkerung ab (Abel 1999; vgl. auch Rosenbrock 2001: 760). Zudem zeige die starke Fokussierung auf vermeintliche Risikogruppen und deren Verhaltensweisen problematische Folgen der Stigmatisierung (Hurrelmann 2001: 98). Die ab den 1980er Jahren propagierte Gesundheitsförderung hingegen ist – so die erwähnten Autoren – im Gegensatz zur Gesundheitserziehung nicht von oben verordnet. Sie soll die Menschen ermutigen, die Kontrolle über ihr eigenes Handeln zu übernehmen, damit sie ein gesundes Leben führen können. So verstandene Gesundheitsförderung wird denn auch von verschiedenen
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AutorInnen als Speerspitze im Kampf gegen soziale Ungleichheiten verstanden und dargestellt. »Die alte paternalistische Orientierung auf individuelle Vorsorge, Betreuung und Erziehung soll«, so Rolf Rosenbrock (2001) programmatisch, »von Strategien zielgruppen- und lebensweltspezifischer Aktivierung und Mobilisierung abgelöst werden« (ebd. 2001: 758; vgl. auch Ruckstuhl 2011). Ziel der Gesundheitsförderung als eine präventive Strategie ist es, »allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen« (WHO 1986). Die so ausformulierte Programmatik lässt sich in vielen Punkten mit Vorstellungen der Reformpädagogik und Erkenntnissen der konstruktivistischen Lerntheorie vereinbaren, auch Forderungen der Schulkritik sind anschlussfähig (vgl. u.a. Dewey 2000; Geister 2006; Peschel 2002; Illich 1995b).
Der Setting-Ansatz Eines der beiden auch für schulische Gesundheitsförderung zentralen Konzepte ist der ›Setting-Ansatz‹. Er gilt innerhalb von New Public Health als Umsetzung des Anspruchs eines Fokuswechsels weg vom Individuum hin zu sozialen Verhältnissen (vgl. Exkurs zu ›Public Health‹, Kapitel 3.2). Mit ›Settings‹ werden alle Lebensbereiche bezeichnet, »in denen die Menschen regelmäßig einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen« (Gesundheit Berlin 2010 zit.n. Franzkowiak 2011: 261). Konkret sollen damit Orte wie die Schule, der Arbeitsplatz oder das Wohnumfeld beschrieben werden. ›Settings‹ sind, so die Definition von Franzkowiak, gleichzusetzen mit der »sozialräumlich bestimmbare(n) Lebenswelt«, in welcher »sich der Alltag der Menschen vollzieht und wo sie ihre Muster der Lebensführung und ihre alltäglichen Lebensweisen ausprägen« (Franzkowiak 2011: 261). In dieser Definition bleibt einiges vage und unbestimmt, beispielsweise die Unterscheidung der beiden Begriffe ›Lebensführung‹ und ›Lebensweise‹.2 Ebenso bleibt offen, ob oder inwieweit eine ›sozialräumliche‹ Bestimmung der Lebenswelt in Anlehnung an sozialarbeiterische Konzepte oder soziologische Theorien zu verstehen ist. Seltsam unbestimmt bleibt, inwiefern die Menschen in den ›Settings‹ ihr Leben selber gestalten und wo angelegte Muster, wie beispielsweise bereits gestaltete ›Settings‹, ihre Lebensführung prägen und sich der Alltag, in den Worten Franzkowiaks, einfach »vollzieht«. Deutlich wird in der Bezugnahme auf solche im weitesten Sinn sozialwissenschaftlichen Begriffe hingegen das Bestreben 2 | In den verschiedenen Verwendungen und Umschreibungen dieser beiden Begriffe spiegeln sich die Schwierigkeit und zugleich die Absicht, Komplexitäten gerecht werden zu wollen. Trojan und Legewie beispielsweise definieren den Begriff der Lebensweise, den sie mit »Lifestyle« übersetzen, als »ein kompliziertes Konzept, welches sowohl das Verhalten des Einzelnen als auch die dieses Verhalten bedingenden äusseren Lebensverhältnisse« umfassen sollte (ebd. 2007: 94f.).
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und zugleich Ringen darum, gesundheitsfördernde Interventionen nicht nur auf gesundheitsrelevantes Wissen, Einstellungen und Handeln der einzelnen Subjekte auszurichten (z.B. durch Information und Schulung), sondern gleichzeitig auch auf die den Lebensraum bestimmenden Faktoren. Der ›Setting-Ansatz‹ als ein zentrales Konzept der Gesundheitsförderung strebt damit tendenziell weg von individuenbezogenen Strategien der risikoorientierten Primär- und Sekundärprävention hin zu Fragen der Ressourcen und der Organisationsentwicklung, beispielsweise eben innerhalb der Institution Schule. Setting-Interventionen im Rahmen der Gesundheitsförderung umschreibt Rosenbrock als »lebensweltspezifische Aktivierung und Mobilisierung« (ebd. 2001: 758). Dabei bleibt erneut offen und vage, welcher Art die erwähnte ›Aktivierung‹ genau sein soll, von wem sie ausgelöst wird, auf wen sie sich bezieht und wer letztlich in welche Richtung aktiviert und mobilisiert werden soll. Im Setting-Konzept zeichnet sich zwar ein Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedingtheit individuellen Handelns ab, jedoch ohne die gesellschaftliche Dimension präzise zu fassen. Eine Nähe zu sozialwissenschaftlichen Begriffen ist erkennbar, jedoch ohne konkrete Anbindung an bestehende Theorien. Ebenso wenig finden sich Abgrenzungen der verschiedenen Begriffe untereinander. Sie werden vielmehr beliebig und in großer Nähe zu alltagssprachlichen Begriffen verwendet. Würde beispielsweise anstelle des Begriffs der ›Lebensweise‹ oder kontrastierend dazu beispielsweise der Begriff des auf Bourdieu zurückzuführenden ›Lebensstils‹ ins Feld geführt, könnte das nur angetönte und diffus bleibende Verhältnis zwischen »individuellen und kollektiven Lebensweisen« (vgl. Ruckstuhl 2011: 98) an analytischer Schärfe gewinnen. Anschlüsse an Theorien sozialer Ungleichheiten (Bourdieu 1983) würden möglich, was jedoch eine gesteigerte Komplexität der Zusammenhänge als auch eine Thematisierung von Macht- und Ohnmachtsverhältnissen zur Folge hätte. Diesem Anspruch versucht beispielsweise Thomas Abel, ein Sozial- und Präventivmediziner, gerecht zu werden, indem er mit dem Konzept ›gesundheitsrelevanter Lebensstile‹ den Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit mitberücksichtigt. Gesundheitsrelevante Lebensstile, so sein Ansatz, umfassen »kollektive Muster von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, Orientierungen und Ressourcen« (Abel 1999: 52). Die individuellen Handlungsvollzüge stellt er damit in einen Zusammenhang zu »sozialstrukturell verankerten Lebenschancen« (ebd.). Die Aufgabe der AkteurInnen in der Gesundheitsförderung ist es, so seine Argumentation, durch strukturelle und verhaltensbezogene Maßnahmen »Wechselmöglichkeiten und Veränderungen in Richtung gesundheitsförderlichem Lebensstil« aufzuzeigen. Aus seiner Analyse folgt die Forderung, dass die Gesundheitspolitik, die hierzu notwendigen strukturellen Bedingungen zu schaffen habe. Abels Konzept und seine Bemühungen um begriffliche Präzision finden in der Public-Health-Debatte jedoch kaum oder nur am Rande Niederschlag (vgl. Exkurs 3.1.5).
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Der Empowerment-Ansatz Aspekte der Macht und des Konflikts schwingen im zweiten, neben dem Setting-Ansatz in Gesundheitsförderungsprogrammen zentralen Konzept ›Empowerment‹ erkennbar mit. Von Wildt mit »Befähigung« umschrieben, häufig auch mit ›Ermächtigung‹ übersetzt, handelt es sich um ein innerhalb der Sozialen Arbeit verbreitetes und anerkanntes, ursprünglich politisches Konzept aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung3, welches auch in der OttawaCharta als Aktionsstrategie enthalten ist (vgl. Kap. 4). Der US-amerikanische Psychologe Julian Rappaport, auf den das Konzept häufig zurückgeführt wird, definiert es folgendermaßen: »Unter Empowerment verstehe ich, dass es unser Ziel sein sollte, für Menschen die Möglichkeiten zu erweitern, ihr Leben zu bestimmen.« (Rappaport 1985 zit.n. Bröckling 2003: 323)
Dem Konzept eigen ist eine ›ressourcenorientierte Wahrnehmung‹ der Individuen, eine Ausrichtung auf ihre Selbständigkeit, ihre Autonomie. Ziel ist die Erweiterung von Möglichkeiten, das Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Mit dem Begriff ›Empowerment‹ wird somit einerseits eine Wertorientierung bezeichnet, an der sich das Handeln ausrichten soll, anderseits auch ein theoretisches Modell, um Transformationen auf individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene zu bewirken (Bröckling 2003: 323). Der Begriff lässt sich somit als normative Richtschnur im Handlungsvollzug oder als analytische Kategorie verwenden, was die Fassbarkeit des Gehalts dessen, was der Begriff bezeichnet, erschwert. Die im Wort ›Empowerment‹ enthaltene Prozesshaftigkeit an sich ist ungerichtet, der Weg zum erklärten Ziel der Selbstbestimmung ist nicht skizziert. Es können demnach verschiedene Zugänge oder Deutungen gemeint sein, wie 3 | Explizit taucht der Empowerment-Ansatz im Jahre 1976 in einem Buch über ein Empowerment-Konzept in Black communities auf. Barbara Solomon beschreibt darin Prozesse der Selbstermächtigung innerhalb der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der politischen Gemeinwesenarbeit. Aufbauend auf diesem emanzipatorischen Prinzip leitet sie ein neues professionelles Verständnis für die Berufe im psychosozialen Feld ab. Empowerment wurde zum »Signum einer neuen Kultur des Helfens« (Herriger 2002: 19) und in andere gesellschaftliche Bereiche übertragen. Feministische Bewegungen, Selbsthilfebewegungen, Kampagnen zur politischen Bewusstseinsbildung und die Entwicklungszusammenarbeit lassen sich mittels dieses Prinzips beschreiben. Verbreitung fand das Empowerment-Konzept insbesondere innerhalb der Sozialen Arbeit, aber auch in der Psychiatrie, der Behindertenhilfe, der Strassensozialarbeit, den Erziehungswissenschaften, der Gesundheitsförderung und der Angehörigenunterstützung (vgl. Herriger 2002: 19ff.).
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diese Herriger für die Soziale Arbeit skizziert: Ermächtigung kann eine politische Ausrichtung haben mit dem Ziel der Umverteilung politischer Macht, oder es kann unter demselben Begriff eine lebensweltliche Ausrichtung verfolgt werden, womit die Individuen und der Anspruch auf autonome Lebensgestaltung in den Fokus geraten (Herriger 2002: 12ff.). Im Prozess der Ermächtigung kann die Fähigkeit des Einzelnen, Entscheidungen zu treffen und die Kontrolle über das persönliche Leben zu vergrössern, fokussiert werden. Der Begriff kann sich aber auch auf Gruppen beziehen, die über ihr gemeinschaftliches Handeln mehr Einfluss und Kontrolle über Gesundheit und die Lebensqualität gewinnen wollen (Brandes, Reker 2009). Gemeinsam ist allen Ausrichtungen und Lesarten von Empowerment, dass neue Handlungsspielräume eröffnet werden und zu einer grösseren Selbstbestimmung der Lebensgestaltung führen sollen. Hierzu bedarf es, auch hierin besteht weitestgehend Konsens, der Aktivierung eigener oder kollektiver Ressourcen. Franzkowiak (2011) hält, ausgehend von der gemeinsamen Bezugnahme auf dieses Konzept, noch weitere Parallelen zwischen der Sozialen Arbeit und der Gesundheitsförderung fest: In beiden Fällen kommen »sozialpolitische Aktivierungsstrategien, die auf Erschließung von Partizipationschancen und Mobilisierung sozialer Ressourcen zielen und die Entfaltung von individuellen Kompetenzen und die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten anstreben« (ebd.: 265) zum Einsatz. Ebenfalls gemeinsam sind die Ziele, eine autonome Lebensführung und Selbstbestimmung wie auch soziale Gerechtigkeit anzustreben. Gesundheitsförderung, so Franzkowiak weiter, birgt sozialarbeitsnahe Anteile und Handlungsstrategien; umgekehrt beinhaltet die Soziale Arbeit gesundheitsfördernde Potenziale. So wie sich die Soziale Arbeit funktionell als praktizierte Sozialpolitik verstehen lässt, die wissenschaftstheoretisch betrachtet je nach Land über eine spezifische Geschichte der disziplinären Verortung als auch der Herausbildung eines eigenen Berufsfelds verfügt, scheint Gesundheitsförderung sich in vergleichbaren Spannungsfeldern zu bewegen und zu entwickeln. Gemeinsame Bereiche sind beispielsweise die Sucht- und Aidsprävention, die Gewaltprävention in der Schule sowie Bereiche der Jugendarbeit. Ebenso finden sich gesundheitsfördernde Ansätze in den gemeindeorientierten, sozialräumlichen und netzwerkfördernden Ansätzen; sie sind auch in der Gemeinde- und Stadtteilentwicklung verankert. Dabei geht es um Aktivierung und Unterstützung von Menschen in ihren Lebenswelten. Zum einen wird eine Verbesserung der Lebensführung und -bewältigung angestrebt, zum anderen aber auch eine Belastungssenkung und Ressourcenstärkung (ebd.: 266). Ein Vergleich des gesundheitsfördernden Grundlagendokuments der Ottawa-Charta mit der Definition von Sozialarbeit, die im Jahr 2000 in Montreal durch den internationalen Sozialarbeitsverband, die »International Federation of Social Workers« (IFSW), vorgeschlagen wurde, zeigt weitere Gemeinsamkeiten auf:
5. Gesundheitsförderung an Schulen »Die Profession soziale Arbeit fördert den sozialen Wandel, Problemlösungen in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen, um ihr Wohlbefinden zu heben. Unter Nutzung von Theorien menschlichen Verhaltens und sozialer Systeme greift soziale Arbeit an den Punkten ein, in denen Menschen mit ihrer Umgebung interagieren. Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit sind für die soziale Arbeit fundamental.« (IFSW 2014)
Der wohl grösste gemeinsame Nenner von Inhalten der Ottawa-Charta und der Definition des Sozialarbeitsverbands findet sich im Ziel, das individuelle Wohlbefinden zu steigern oder, hier, »heben« zu wollen. Vergleichbar sind auch der Anspruch und das Selbstverständnis, stellvertretend für die einzelnen Menschen zu agieren. Im Unterschied zur Gesundheitsförderung tritt die Soziale Arbeit jedoch als etablierte Akteurin, im obigen Zitat als ›Profession‹, auf. Als solche verfügt sie über einen Kodex, der sich auf die Menschenrechtsdeklaration bezieht und sich auch der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet sieht. Der Gesundheitszustand gilt als Indikator für soziale Benachteiligungen und somit auch für soziale Problemlagen (Homfeldt; Sting 2006 zit.n. Franzkowiak 2011: 246; vgl. auch Kutzner 2009a: 27-34). Innerhalb der Sozialen Arbeit finden sich Diskurse, die das Mandat, die aktuellen Paradigmen, was die Ziele und Strategien betrifft, kritisch beleuchten. So stellt beispielsweise Kutzner fest, dass sich im schweizerischen Sozialwesen seit den 1990er Jahren das ›Aktivierungsprinzip‹ durchgesetzt hat, worin sich eine neue Konzeption des Wohlfahrtsstaats manifestiert. Die Leistungen der Sozialhilfe werden systematisch und standardisierten Regeln folgend an Gegenleistungen der SozialhilfebezügerInnen gekoppelt, um damit Verhaltensweisen der LeistungsempfängerInnen im gewünschten Sinne zu verändern. Diese Strategie steht in einem gewissen Widerspruch zur individuellen Hilfe (ebd. 2009: 44f.) und basiert auf einem spezifischen, utilitaristischen Menschenbild des Homo oeconomicus (ebd.: 49f.). Was im Zusammenhang der Gesundheitsförderung bislang fehlt, ist eine vergleichbare Auseinandersetzung mit als Antinomien bezeichneten unauflösbaren Widersprüchen, die in sozialen wie auch pädagogischen Feldern als Angelpunkt von Professionalisierungsbestrebungen gelten. Es gibt zwar Debatten über, wie dies Bröckling beschreibt, »performative Widersprüche« (ebd. 2003: 340), die mit dem Anspruch von Empowerment im Bereich Gesundheit einhergehen. Diese kritischen Auseinandersetzungen finden jedoch lediglich am Rande statt. Ob und wie Lehrpersonen auf das Empowerment-Konzept im ›Setting‹ Schule Bezug nehmen und, falls ja, worauf sich die Ermächtigung richten soll respektive richtet, wird im empirischen Teil zu eruieren sein. Zu bedenken gilt es, dass es sich bei den beiden Konzepten ›Empowerment‹ und ›Setting‹ nicht um genuin pädagogische Konzepte handelt, diese jedoch eng verwandt
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sind mit in Professionalisierungstheorien diskutierten Antinomien, die auch konstitutiv sind für das pädagogische Feld. Im Gegensatz zum Feld der Sozialarbeit, wo es um die Wiederherstellung der zeitweise eingeschränkten Autonomie der KlientInnen geht, kann es bei den ›KlientInnen‹ in der Schule, den SchülerInnen, nicht um eine Wiederherstellung der Autonomie gehen, sondern um einen in Zukunft zu erreichenden Zustand. Bevormundung ist in einem gewissen Sinne konstitutiv für das pädagogische Verhältnis.
5.1.3 Evaluation und Qualitätssicherung ›gesunder Schulen‹ Integraler Bestandteil der Gesundheitsförderungs-Programmatik ist die Evaluation und die damit verfolgte Qualitätssicherung der an Schulen implementierten Programme. Dabei sind sowohl die Programme als auch ihre Evaluation in aller Regel wenig theoriegeleitet; es findet sich keine oder nur eine schwache Fundierung der Begriffe, häufig bleibt es bei einem Verweis auf die Definition der WHO. Der Fokus richtet sich darauf, die Wirksamkeit der Programme zu überprüfen. Dabei wird die grundsätzliche Machbarkeit nicht hinterfragt, innerhalb der Institution Schule durch gezielte Maßnahmen Gesundheitsverhalten und -wissen verändern und damit Krankheitsprävention betreiben zu können, oder aber auch durch die Verbesserung des ›Schulklimas‹ die Bedingungen für Lehrpersonen und SchülerInnen optimieren und damit den Schulerfolg steigern zu können. Jean-Claude Vuille schildert datenreich die Geschichte der Gesundheitsförderung in der Stadt Bern (Vuille et al. 2004). Vuille war Leiter einer vom BAG und vom Schweizerischen Nationalfonds mitfinanzierten Evaluationsstudie zu Gesundheitsförderungsprojekten in der Stadt Bern. Zugleich war er maßgeblich am Aufbau des Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen in der Stadt Bern beteiligt. Deutlich wird aus den 1997 und 2002 durchgeführten Umfragen, dass Gesundheitsförderung als schulischer Auftrag bei den Lehrkräften breite Akzeptanz findet, obwohl ein großer Teil unter ihnen die eigene Ausbildung in Gesundheitsfragen als ungenügend erachtet. Die Einschätzung dessen, was unter dem Begriff ›Gesundheitsförderung‹ gemacht oder als Ziel verfolgt wird, scheint allerdings auf verschiedenen Ebenen nicht ganz einfach zu sein: »Obschon sich aus den in der Beobachtungsperiode 1997-2002 gesammelten Daten keine definitive Trendwende hin zum Besseren herauslesen lässt, und obschon sogar über gewisse Einbrüche (vor allem beim Schulklima) berichtet werden musste, steht nach Ansicht der Verfasserinnen und Verfasser ein Abbruch des Unternehmens ›Gesundheitsteams an Schulen‹ nicht zur Diskussion. Abgesehen davon, dass weit und breit kein besseres und besser erprobtes Modell in Sicht ist, gibt es konkrete Hinweise für die Nützlichkeit der getroffenen Maßnahmen.« (Vuille et al. 2004: 255)
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Die zentrale Frage, was die Investition in Gesundheitsförderung in Bezug auf die Gesundheit der SchülerInnen wie auch der in der Schule Arbeitenden gebracht hat, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Dennoch wird ohne Vorbehalt am Projekt festgehalten. Eine Klärung der Frage, was die Zielbeschreibung des ›Besseren‹ qualitativ ausmacht, ebenso wie eine Wende »zum Besseren« aussehen würde, findet sich in dieser Publikation nicht. Die Studie verspricht laut den Schlussbemerkungen keine »endgültigen Rezepte«, vermittelt aber wertvolle Erkenntnisse oder vielleicht vorläufige Rezepte, wo »der Hebel für zukünftige Maßnahmen« angesetzt werden kann. Der Wunsch nach Veränderung, sprich Verbesserung, bleibt trotz Verunsicherung aufrecht. Ganz allgemein scheinen die theoretisch ohnehin schwer fassbaren Konzepte der Gesundheitsförderung und der gesundheitsfördernden Maßnahmen empirisch nicht ohne Weiteres messbar zu sein, weshalb eine Wirkungsfeststellung nur schwer zu bewerkstelligen ist. Auch Jerusalem und Mittag (1994: 858) halten fest, dass sich Evaluationen schulischer Gesundheitsprogramme in einem »Stadium der wissenschaftlichen Erprobung befinden«. Zu einem in diesem Punkt vergleichbaren Resultat kommt auch eine national angelegte Evaluationsstudie, welche das vom BAG lancierte Rahmenprogramm »Schulen und Gesundheit«4 auswertet. Dem Programm, welches 1997 lanciert wurde, um Gesundheitsförderung in Schweizer Schulen zu entwickeln, fehlt es – so das Fazit der AutorInnen – noch weitgehend »an einer gemeinsamen Philosophie und an erkenntlichem Profil«. Die AutorInnen vermuten, dass dies auch damit zu tun hat, dass ganz unterschiedliche Institutionen involviert sind (Efionayi-Mäder, Chimienti, Cattacin 2003: 6). Eine von der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz in Auftrag gegebene Evaluationsstudie legt den Fokus auf die Untersuchung der Wirksamkeit von Weiterbildungen für Gesundheitsförderung an Schulen (Brägger, Landert 2008). Ab den 1990er Jahren, als eine Vielzahl von Schulen Mitglied im Schweizerischen Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen wurde, entstanden verschiedenste Weiterbildungsangebote für jene Lehrkräfte, die sich an den Schulen in Gesundheitsteams engagieren und die Idee einer ›gesunden Schule‹ umsetzen sollten (vgl. Kapitel 5.3.3, KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung). An den untersuchten Schulen finden sich, so ein Fazit der Studie, trotz Schulung der Lehrpersonen keine Konzepte sogenannter »nachhaltiger Gesundheitsförderung«. Stattdessen wurden aneinandergereihte Einzelprojekte 4 | Das Impulsprogramm des BAG »Schulen und Gesundheit« stützt sich auf eine enge Zusammenarbeit zwischen der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und der Schweizerischen Stiftung für Gesundheitsförderung. Es steht in Verbindung zum Partnerprogramm des Europäischen Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen (ENGS), welches in der Schweiz von Radix koordiniert wird. Die Schulen, welche Projekte in diesem Rahmen durchführen, werden finanziell unterstützt und inhaltlich begleitet.
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durchgeführt, ohne klare Einbettung in die Schulstrukturen und ohne inneren Zusammenhang. Als wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung wird – so das Hauptfazit dieser Untersuchung – ein Ausbau der Weiterbildung der Lehrpersonen postuliert (Dittrich, Uibel et al. 2013; Brägger, Landert 2008). Kein eigentliches Evaluationsprojekt, sondern eine umfangreichere und stärker theoriegeleitete Untersuchung der Oecotrophologin, sprich Haushaltsund Ernährungswissenschaftlerin, Ulrike Johannsen5 trägt den Titel »Die gesundheitsfördernde Schule. Gesundheitsförderung durch Organisations- und Schulentwicklung«. Johannsen geht der Frage nach, wie Konzepte der Organisationsentwicklung auf die soziale Institution Schule übertragen wurden und welche Effekte Gesundheitsförderung, die in einen Zusammenhang mit Schulentwicklung gestellt wird, haben kann. Dabei zeigt sie Grenzen der Übertragbarkeit von Managementstrategien auf die Schule als Bildungseinrichtung auf. Die Schule muss – so Johannsen –, um den Erziehungsauftrag erfüllen zu können, einer anderen Logik folgen als derjenigen einer Bildungsbürokratie. Die Erziehungsprozesse sind nur zum Teil zweckrational zu organisieren und lassen sich, in Übereinstimmung mit Befunden aus der Professionsforschung (vgl. Helsper 2002), vor allem nicht technologisieren. Eine Besonderheit, welche die Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen in der Institution Schule erschwert, liegt gemäß Johannsen in der spezifischen Form von Professionalität der Lehrkräfte; sie stehen im Spannungsfeld zwischen Verwaltungshandeln mit staatlicher Kontrolle und dem Autonomieanspruch pädagogischen Handelns. Dieses antinomische Spannungsfeld ist Ausdruck einer unvollendeten Profession, das im Zusammenhang steht mit der gesellschaftlichen Organisationsform des Bildungswesens; es ist für Lehrpersonen nicht aufhebbar und kann nur reflexiv gehandhabt werden. Lehrpersonen sind zudem grundsätzlich mit einer konstitutiven Ungewissheit konfrontiert, was die Effekte ihres pädagogischen Handelns betrifft (vgl. u.a. Helsper 2002). So lassen sich Erfolge laut Rolff auch im Bereich Gesundheitsförderung hauptsächlich bei Zielen der Wissensvermittlung feststellen; anspruchsvollere und zugleich diffusere Bildungsziele entziehen sich einer eindeutigen Erfolgskontrolle (vgl. Rolff 1995). Johannsen (2007: 84) stellt, wie schon Vuille, trotz dieser Schwierigkeiten die programmatischen Ziele von Gesundheitsförderung nicht infrage und betont insbesondere das Potenzial, welches in einer Kombination mit Konzepten aus der Organisationsentwicklung liege. Gesundheitsförderung birgt für die Autorin eine Anregung zur Selbstentwicklung in sich, womit ein doppelter Prozess sowohl des Lernens von Lehrpersonen als auch der Entwicklung und Veränderung von Strukturen in Gang kommt. Insbesondere in der Neudefi5 | Dr. Ulrike Johannsen ist seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ernährungs- und Verbraucherbildung der Universität Flensburg.
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nition der Beziehungen der Schule nach außen sieht Johannsen ein großes Potenzial. Trotz der von ihr kritisch dargestellten Diffusität, insbesondere was die explizit angestrebten gesundheitsfördernden Ziele auf der Ebene der Zielgruppe der SchülerInnen betrifft, hält auch sie am Konzept der schulischen Gesundheitsförderung fest. Wer sich zu Gesundheitsförderung äussert, so scheint es, übernimmt sogleich deren normative Grundlagen und folgt deren Stossrichtung. Die Schule als gesellschaftliche Institution für Bildung scheint für Gesundheitsförderung prädestiniert und unhinterfragt zu sein.
5.2 G rundlegende S pannungsfelder der G esundheits - förderung in der gesellschaf tlichen I nstitution S chule Neben einem starken schulische Gesundheitsförderung bejahenden Kanon, gibt es auch einige kritische Stimmen. Dür (2008) beispielsweise erachtet die institutionellen Rahmenbedingungen der Schule für den Auftrag der Gesundheitsförderung als hinderlich, wenn sie nicht sogar eine Umsetzung von ›echter‹ Partizipation und Empowerment verunmöglichten. Noch deutlicher fällt die Stellungnahme von Lenzen aus, der die Frage stellt, inwieweit Schulen als Erziehungseinrichtungen nicht sogar mitverantwortlich seien für problematische Entwicklungen, gerade was die Gesundheit der Heranwachsenden betrifft. Er bezeichnet die schulische Erziehung als »nicht minder gefährlich als ein Atomkraftwerk« (Lenzen 2002: 162), indem sie ihrerseits selber Stress, Leiden, Kränkungen, Passivität und Unlust erzeugt und dadurch für alle Schülerinnen und Schüler ein potenzielles Gesundheitsrisiko darstellt. Gesundheitsgefährdungen gehen, so stimmt Dür ein, nicht nur von zu hohen Leistungserwartungen aus, sondern insbesondere auch von einem belasteten Schulklima und von problematischen Kooperationen in der Klasse und Beziehungen zu Mitschülern und Lehrpersonen (vgl. Dür 2008: 17). Nachfolgend sollen drei Themenfelder aufgegriffen werden, die nicht direkt die Schule als Institution infrage stellen, sondern grundlegende Spannungen sichtbarmachen, die in Zusammenhang mit der Institution Schule, dem Bildungsauftrag und dem hierin wahrzunehmenden Auftrag der Gesundheitsförderung auftreten.
5.2.1 Pädagogisierung und pädagogische Professionalisierung Auf gesellschaftlicher Ebene lässt sich neben der Medikalisierung ein zweiter Prozess beobachten, der in vergleichbarer Weise in die Lebenswelt zu diffundieren scheint: derjenige der Pädagogisierung. So stellt beispielsweise Höhne eine »Expansion pädagogischer Semantik(en) in andere soziale Systeme wie Ökonomie, Politik« fest welche, so seine Diagnose, zu einer Umkodie-
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rung sozialer Probleme führt (Höhne 2004: 32). Als ein Mittel zum Zweck der Effektivitäts- und Leistungssteigerung deutet die Pädagogisierung, so die Argumentation Höhnes, auf »ein umfassendes Dispositiv im Foucault’schen Sinne hin, als ein komplexes Netz aus Diskursen, Wissen, Institutionen und Praktiken – mit dem eine bestimmte Form sozialer Macht […] verbunden ist« (ebd.). Ausdruck hiervon ist beispielsweise der Imperativ zum ›lebenslangen Lernen‹, einer permanenten Aufforderung der Selbstoptimierung, die in Verbindung mit Humankapitaltheorien als Anpassungsleistungen von Individuen in einem sich zunehmend beschleunigenden technologischen und sozialen Wandel gelesen werden kann (vgl. Ribolits 2004). Vergleichbar mit dem Prozess der Medikalisierung, bei dem medizinische Vorstellungen in das Alltagsverständnis einfließen, dringen bei der Pädagogisierung pädagogisch-psychologische Vorstellungen in die Lebenswelt ein und prägen Vorstellungen und Werthaltungen zu Ernährung, zu Körperpflege, zu ästhetischen Urteilen. Sie beeinflussen allgemein Normen und Praktiken der Lebensführung wie auch das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Dieser Prozess, aus welchem ein »präventives Selbst« hervorgeht (Lengwiler, Madaraz 2010), kann im Anschluss an Habermas als neue Form der Kolonialisierung der Lebenswelt (vgl. Habermas 1991: 189) und aus systemtheoretischer Perspektive als Ausdruck von Pädagogisierungsprozessen verstanden werden. Vom Tatbestand ausgehend, dass Gesundheitsförderung das Medizinsystem überlagert, durchdringt der Gesundheitsförderungsimperativ die Lebenswelt(en). Zum medizinischen Blick kommen die permanente Selbstbeobachtung und auf Stärkung von Gesundheit ausgerichtete Deutungs- und Handlungsweisen hinzu. Mit der Vermischung unterschiedlicher Systemlogiken überlagern sich, der Argumentation Bauchs (1996) folgend, auch die innerhalb der Systeme gültigen Kodierungen; so sollte im Erziehungssystem eigentlich geprüft werden, ob eine Person die Prüfungs- oder Leistungsanforderungen erfüllt oder nicht – und nicht, ob jemand gesund oder ungesund lebt respektive sich gesundheitsfördernd oder -schädigend verhält. In der strukturtheoretisch fundierten Professionalisierungsforschung wird die gesellschaftliche Tendenz einer Pädagogisierung insofern thematisiert und kritisch reflektiert, als grundsätzlich auf die Problematik entgrenzender, familialisierender pädagogischer Haltungen in Schulen verwiesen wird und auf die damit verbundene Gefahr paradoxer Verstrickungen (vgl. Koring 1989; Combe, Helsper 1994; Helsper 2002). Die für die pädagogische Professionalität konstitutive spezifische Distanz, welche zugleich diffuse Anteile von Nähe enthält, bedarf einer kontinuierlichen Reflexion dieses Spannungsverhältnisses. Im Zuge schulischer Bildungsprozesse bedarf es eines Arbeitsbündnisses, welches auf einer doppelt ausgerichteten Beziehungsstruktur auf baut. Das Subjekt, im Falle eines Schülers oder einer Schülerin eine noch nicht autonome Person, wird »als konkreter Fall und als ganze Person« zugleich thema-
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tisch (Oevermann 1996: 158). Mittels stellvertretender Deutung gewinnt die Lehrperson Einblick in das Denken und Handeln der SchülerInnen, was, so die idealtypische Vorstellung, Voraussetzung ist für eine sokratische Hinführung zur selbsttätigen Einsicht. Zielpunkt pädagogischen Handelns ist immer der Lernprozess, wobei Lernen verstanden wird als »Transformation von Wissens-, Erfahrungs- und Denkstrukturen« und die anzustrebende Autonomieentwicklung (Oevermann 1996: 157). Wenn Lehrpersonen ihr Handeln auf die Förderung der Gesundheit ihrer SchülerInnen ausrichten und damit Körperideale, Normen der Lebensführung oder Essgewohnheiten zum impliziten Gegenstand schulischer Prozesse machen, wenn die ganze Person und der Körper des Schülers zum Lerngegenstand wird, wird für die Lehrperson ein reflexiver Zugang zum pädagogischen Handeln schwierig. Und für die SchülerInnen wird es schwierig, einer Pädagogisierung, sei sie bezogen auf ihre Gesundheit, ihre Lebensführung oder das Verhältnis zu sich selbst, etwas entgegenzusetzen. Vielleicht spricht Dür deshalb von einem »blinden Fleck« (Dür 2008: 35), bei dem sich Lehrpersonen der unerwünschten und unbeabsichtigten Nebeneffekte ihres Tuns in Bezug auf die Gesundheit der ihnen anvertrauten SchülerInnen häufig nicht bewusst seien. Vielmehr sollten – der Argumentation Oevermanns folgend – im Vollzug des Arbeitsbündnisses zur Ermöglichung einer autonomen Praxis die Eigenkräfte geweckt und mobilisiert werden. Dazu bedarf es von Seiten der Professionellen »eine wissenschaftlich zu begründende stellvertretende Krisenbewältigung« (Oevermann 2002: 28f.). »Die pädagogische Praxis wird erzwungen von dem unabweislichen Problem, […] indeterminierte zukunftsoffene Individual-Ontogenesen, […] so in Regie zu nehmen, dass dabei einerseits die Chancen der individuierenden Emergenz von Neuem in der Konstitution des Subjekts nicht verschüttet werden, andererseits aber auch die Kontinuität und Stabilität des gesellschaftlichen Lebens erhalten bleibt.« (Oevermann 2002: 35)
Die Kunst eines Pädagogen, einer Pädagogin liegt in der Begleitung eines Prozesses der Erzeugung von Neuem; er oder sie soll nicht im Sinne eines Agenten, einer Agentin zur einer einseitigen Anpassung des neuen Lebens an das bestehende Wissen und an geltende Normen beitragen. Um diese Kunst vollbringen zu können, bedarf es nach Oevermann zum einen eines Forschungsdiskurses, der institutionell eingerichtet ist und es ermöglicht, beispielsweise gegenüber gesellschaftlichen Prozessen einer Pädagogisierung eine kritische Position einzunehmen. Zum anderen bedarf es des Erwerbs eines erfahrungswissenschaftlichen Habitus (Oevermann 2002: 28) als Voraussetzung dafür, dass »die je konkrete Fallstruktur rekonstruktiv verstanden« (ebd.: 31) werden und eine »Problemlösung fallangemessen« auf der Grundlage bestehender Routinen entwickelt werden kann (ebd.). Wird das pädagogische jedoch
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als ein bevormundendes, paternalistisches Verhältnis gedacht, so entwickelt sich daraus nicht die angestrebte Autonomie, sondern vielmehr eine Abhängigkeitsbeziehung (vgl. in Bezug auf die Sozialarbeit Kutzner 2009a: 47). Im Dilemma, einen Schüler oder eine Schülerin innerhalb eines asymmetrischen pädagogischen Abhängigkeitsverhältnisses zu Autonomie zu erziehen, gibt es nach Oevermann nur den Weg, Hilfe so zu gewähren, dass dabei zugleich ein Maximum an Selbsthilfe geweckt wird. Was dies in Bezug auf Gesundheitsförderung und der hierin sich manifestierenden Tendenz einer Pädagogisierung bedeuten kann, wird im empirischen Teil dieser Studie auszuloten versucht.
5.2.2 Bildung, Gesundheitsförderung und soziale Ungleichheiten Einen prägenden Einfluss auf künftiges Gesundheitsverhalten bei Heranwachsenden zu nehmen, stellt für zahlreiche AutorInnen den Hauptgrund dar, das Schwergewicht gesundheitsfördernder Strategien auf das ›Setting Schule‹ zu richten (vgl. Abel 1999; Rosenbrock, Kümpers 2006). In der Logik der Public-Health-ExpertInnen richtet die Gesellschaft im Hinblick auf Gesundheitsförderung die Erwartung an die Schule, dass sie allen ein gesundes Leben ermöglichen soll. Sie beziehen sich dabei auf einen egalitären Kern von Gesundheitsförderung, der sich in der programmatischen Absicht zeigt, die Gesundheitschancen aller zu verbessern und damit mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Zugleich eröffnet sich auch hier ein Feld von Widersprüchen. Denn im Gesundheitsverhalten wie auch in den Gesundheitsvorstellungen von Kindern und Jugendlichen (und auch bei den Lehrpersonen selber) schlagen sich immer auch sozioökonomische wie auch geschlechtsspezifische und kulturelle Faktoren nieder. Insgesamt sind es diese Einflüsse der familiären Herkunft, auf welche die Schule keinen Einfluss hat, die jedoch das Verhältnis zur eigenen Gesundheit und allgemein zum eigenen Körper nachhaltig prägen. Komplizierend kommt hinzu, dass die Schule nicht nur an der Bildung des als ›gesundheitsförderlich‹ angesehenen kulturellen Kapitals (vgl. Abel 1999) beteiligt ist, wie dies von Gesundheitsförderungsexperten beabsichtigt ist. Sie reproduziert immer auch soziokulturelle Unterschiede. Insbesondere im Wissen um die Befunde aus der soziologischen Ungleichheitsforschung – beispielsweise was den Mittelschichtsbias bezüglich des herrschenden Gesundheitsimperativs betrifft (vgl. Kap. 3.1.5) – werden noch so gut gemeinte Interventionen schulischer Gesundheitsförderung zur hilflosen Geste oder zum sozialtechnokratischen Akt, der häufig am Ziel der ›Befähigung‹ oder Unterstützung in der Entwicklung autonomer Lebenspraxis vorbeizielt. Generell, dies zeigt eine Mehrheit der Befunde, die an die Studie von Bourdieu und Passeron (1971) anschließen (vgl. Bourdieu 1979, 1983; Becker, Lauterbach 2004; Vester 2004, 2005; vgl. auch Kap. 3.1.5) vermag die Schule den Anspruch auf Chancengerechtigkeit nicht einzulösen. Im Gegenteil trägt sie
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bezogen auf den allgemeinen Bildungsauftrag zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten bei. Unter anderem die Selektionsfunktion der Schule hat den Effekt, soziale Ungleichheiten zu festigen. Nicht überraschend ist deshalb, dass in den Augen verschiedener AutorInnen insbesondere die Selektionsfunktion ein Hindernis für die Gesundheitsförderung darstellt, indem sie die »prinzipielle Gesundheitsfähigkeit der Schule als Institution« (Bittlingmayer, Ziegler 2012: 8) infrage stellt. Welche Effekte in der Schule durchgeführte Gesundheitsförderung bei den Heranwachsenden auslöst, ist weitgehend unerforscht und wird angesichts der Komplexität von Gesundheitskonzepten und der Schwierigkeit, die Kausalität von Gesundheit, Verhalten und Bewusstsein festzustellen, der Forschung auch nicht ohne Weiteres zugänglich sein. Wie soll die Schule als gesellschaftliche Institution, die es in der aktuellen Form nicht schafft, soziale Ungleichheiten bezüglich Bildung zu verringern, dies in Bezug auf Gesundheit vermögen (vgl. auch Stamm, Lamprecht 2008)?
5.2.3 Die Institution Schule als Ort der Disziplin im Foucault’schen Sinn Dass das Thema Gesundheit von der gesellschaftlichen Institution Schule bearbeitet wird, ist insofern naheliegend, als es sich bei ihr nicht nur um eine »Lernanstalt«, »sondern auch um eine Veranstaltung der Körper« handelt, in der es um Disziplinierung des SchülerInnenkörpers geht (Bilstein, Brumlik 2002: 4f.). Ihm wird, im Jargon von Foucault, die ›Disziplin‹ der aktuellen Gesellschaftsformation beigebracht. In der Schule heißt dies: So wie der Körper historisch gesehen während langer Zeit still zu sitzen hatte, ist er jetzt mehr denn je auch zu intensiver Bewegung angehalten. Gemäß der Analyse von Foucault gehört die Schule neben Gefängnissen, Spitälern, Fabriken und Armeen zu den wichtigsten Trägern institutionalisierter Disziplinierung. Ihnen obliegt es, eine neue Form der Macht zu etablieren, die geeignet ist, eine an Komplexität ständig zunehmende Gesellschaft zu kontrollieren, aber auch die Effektivität der Nutzbarmachung individueller und gesellschaftlicher Kräfte zu steigern. Seit dem 19. Jahrhundert sind solche Formen anonymer, entkörperlichter Machtsysteme kennzeichnend für unsere Gesellschaft. Demokratische Gesellschaften basieren auf formal gleichen Rechten für alle, zugleich werden Differenzierungen ausgebaut und diese zu legitimieren versucht. Eine zentrale Technik der Disziplin ist heute die ›Übung‹. Sie dient der Sanktionierung und zugleich ›Besserung‹ des Individuums mit dem Ziel der Effektivitätssteigerung des Systems. Mittels der institutionalisierten Prüfung wird das Relationsnetz gesichert und ständig neu strukturiert, und zugleich wird der einzelne Körper kontrolliert und nutzbar gemacht. Die Prüfung stellt gemäß Foucault eine Kombination hierarchischer Überwachung und normierender Sanktion dar (vgl. Foucault 1983 [1976]).
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In der Strukturierung des Raums und der Zuteilung zu eindeutig bestimmbaren sozialen Rängen nimmt die Institution Schule somit eine wichtige Funktion wahr (vgl. auch Bourdieu, Passeron 1971). Sie ist eine Institution, die nicht durch direkte Gewalt, sondern mit der Setzung und Vermittlung von Normalitätsmaßstäben Macht ausübt. Dabei ist die Bedeutung der Schule gestiegen, was nicht nur an der Ausdehnung der Zuständigkeitsgebiete und der Zeit, die sie beansprucht, ersichtlich ist. Auch der Charakter der Schule hat sich verändert – hin zu einer räumlich und zeitlich exakt durchstrukturierten Institution, in welcher die Techniken der Übung und der Prüfung »immerwährende«, nie abschließbare Mechanismen sind, die zu jedem Zeitpunkt das Unterrichtsgeschehen beeinflussen (vgl. Foucault 1983 [1976]). Foucault charakterisiert die Schule aufgrund der gestiegenen Bedeutung von Disziplinierungsmechanismen als »Gesellschaftsobservatorium«, ein Bild, das m.E. noch heute bedeutsam ist: »So muss die christliche Schule nicht einfach gelehrige Kinder heranbilden; sie hat auch zur Überwachung der Eltern beizutragen, indem sie sich über deren Lebensweise, Einkommensverhältnisse, Frömmigkeit und Sitten informiert. Die Schule bildet winzige Gesellschaftsobservatorien und übt auch über die Erwachsenen eine regelmäßige Kontrolle aus.« (Foucault 1983 [1976]: 271)
Die Schule übt nicht nur als Beratungs- und Kontrollstelle Einfluss auf ihr Umfeld aus; andere Institutionen werden, so Foucault, verschult und übernehmen Prinzipien und Techniken der Schule. Zuallererst gilt dies für die Institution Familie, aber auch für andere Institutionen, welche dazu tendieren, den Normalitätsgedanken auszuweiten und ihn als gesellschaftliches Bezugskriterium zu übernehmen. Die sozialen Beziehungssysteme werden gesichert, indem das Prinzip der Besserung mit der Steigerung individueller Effektivität und Produktivität gekoppelt wird. Insgesamt führt dies zu einer Psychologisierung und Pädagogisierung des gesellschaftlichen Lebens, wobei der Schule als normenvermittelnde Institution eine zentrale Rolle zukommt. Deleuze geht in seinem 1990 verfassten Text mit dem Titel »Postskriktpum über die Kontrollgesellschaften« (ebd. 1993: 254ff.) davon aus, dass die bei Foucault beschriebenen disziplinierenden »totalen Institutionen« Schule, Kirche, Krankenhaus, Gefängnis und Familie in eine Krise geraten sind. Sie funktionierten wesentlich über sogenannte »Einschließungsmilieus«, in welchen die Individuen diszipliniert wurden und sich unterzuordnen hatten. Ziel war die Produktion von guten, gesunden und gelehrigen Körpern und ihre Nutzbarmachung. Diese Einschließungsmilieus haben nach Deleuze im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht und werden nun durch beständige Reformen künstlich am Leben erhalten. Mit den Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien entwickeln sich die modernen Gesellschaften zu
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»Kontrollgesellschaften«, in denen Menschen nicht mehr in ein Relationsnetz eingeordnet werden, sondern sich selbst einordnen. An die Stelle der Disziplinierung tritt neu die Kontrolle. Diese operiert auf einer anderen Ebene als in geschlossenen Systemen; sie ist nicht mehr fassbar, weder örtlich noch von ihrer Form her. Während man in den Disziplinargesellschaften nie aufhört anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), ist man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgendetwas fertig: Die Schule ist vom lebenslangen Lernen oder der permanenten Weiterbildung abgelöst worden, die permanente Kontrolle ersetzt die Prüfung. Das Wesen der Disziplinierung ist heute somit weniger extrinsisch, sondern verläuft vielmehr im Marx’schen Sinne ›naturwüchsig‹, strukturell-intrinsisch6 (vgl. auch Breit et al. 2005). Foucault selber erfasst diese von Deleuze beschriebene Entwicklung anfangs der 1980er Jahre mit dem Konzept der Gouvernementalität, in welchem er Regierungslogiken mit Subjektivierungspraktiken verknüpft. Vergleichbar mit dem Konzept der ›Kontrollgesellschaft‹ von Deleuze zeigt er auf, wie in neoliberalen Gesellschaftsformen Selbsttechnologien gefördert werden, wie Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit zum Instrument werden, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den anderen zu verändern. Parallel zum Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme übernehmen nun ›selbstverantwortliche‹, rationale und zugleich moralische Individuen die Verantwortung (vgl. Lemke, Krasmann, Bröckling 2000: 30). Dass in einem solchen Verständnis von politischem Regierungshandeln die Schule an Bedeutung noch gewinnt, scheint plausibel. Der Nachweis solcher (Selbst-)Führungs- und Kontrolltechniken im Rahmen der Schule ist denn auch nicht weiter schwierig: Der Argumentation von Pongratz folgend, werden Teilnehmende an Bildungsprozessen zu »Selbstmanagern des Wissens« umdefiniert und SchülerInnen zu selbstständigen Kompetenzzentren erklärt (Pongratz 2004: 254). Schulen werden wie Unternehmen evaluiert, deren ›Outputs‹ gemessen und gesteuert. Auf der Ebene des Unterrichts manifestiert sich der Wandel in einem neuen Vokabular, welches vom Unterrichten als ›Lernmanagement‹ spricht und von Lernsituationen, die es zu arrangieren und zu steuern gilt. Lernen wird zu einer Frage der Ermöglichung (vgl. Arnold, Siebert 1995). Zugleich wird Ungewissheit, konstitutiver Bestandteil von pädagogischem Handeln, als Freiraum und Ressource umdefiniert, als etwas, das es zu erschließen gilt (Bröckling et al. 2000: 133). Freiheit und Herrschaft werden in dieser neuen Kontrollform in der paradoxen Figur ›freiwillige 6 | ›Naturwüchsig‹ bedeutet nach Marx nicht ohne Zutun der AkteurInnen: er bezeichnet damit menschliches Handeln, welches nicht Resultat freiwilliger, ausdrücklicher Kollektiventscheidungen ist, sondern Ausdruck eines Zwangsverhältnisses. Individuelle Handlungsfreiheit besteht dabei nicht, sondern nur die Möglichkeit, sich anzupassen – was zugleich die Gefahr der Entfremdung in sich birgt (vgl. Pies, Leschke 2005: 11ff.).
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Selbstkontrolle‹ oder ›Selbst-Führung‹ vereint (vgl. Pongratz 2004). Nach Bröckling wird erst durch diese Verschmelzung von »Telos, Theorie und Technologie« die Führung zur Selbstführung (Bröckling 2003: 324). Damit wird auch Empowerment zu einem prominenten Baustein zeitgenössischer »Menschenregierungskunst« (Foucault 1992 zit.n. Bröckling 2003: 324). Im Zentrum dieses neuen Modus des Regierens steht der Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement, von der Sozialversicherung zur Eigenverantwortung, von der Staatsversorgung zur Selbstsorge. Ziel und Voraussetzung dieser veränderten Programmatik sind die Konstruktion verantwortungsvoller, ökonomischer und moralischer Subjekte. Es findet eine ›Responsibilisierung‹ statt, indem das Subjekt verpflichtet wird, sich ständig selbst zu beobachten, zu überwachen und zu kontrollieren. Der dauernde, panoptische Blick der Anderen wird zum eigenen, gegen innen gerichteten Blick (vgl. Pongratz 2006; Lemke 2008; Grabau, Rieger-Ladich 2014). Han (2014) geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter, indem er die permanente Selbstoptimierung des ›unternehmerischen Selbst‹ – Ausdruck einer neuen Form des neoliberalen Herrschaftsregimes – als »Psychopolitik« bezeichnet: Neu im Fokus ist die ganze Person, die sich freiwillig und leidenschaftlich ausbeutet; die ganze Aufmerksamkeit, das ganze Leben unterliegt dem neoliberalen Imperativ der Selbstoptimierung. Diese dient allein dem perfekten Funktionieren des Systems und nicht etwa der Sorge um das gute Leben (ebd.: 43). Dabei spielen gemäß Han die digitalen Medien, das Aufzeichnen und Sammeln von Informationen und die Transparenz eine wichtige Rolle.7 Das neoliberale Regime zielt somit nicht mehr auf den Körper, sondern auf die Psyche: »Motivation, Projekt, Wettbewerb, Optimierung und Initiative gehören in die psychopolitische Herrschaftstechnik […].« (ebd.: 30) Ob sich Gesundheitsförderung in diese Logik der Menschenführung einpassen lässt, ob sie Teil einer neuen bio- oder psychopolitischen Regierungsform ist, ob mit Becker von einer »Biosozialbildungspolitik« (ebd.: 153) gesprochen werden kann und wie sich Lehrpersonen als PädagogInnen dazu positionieren, ist Teil der nachfolgenden Auseinandersetzungen.
7 | Interessanterweise ist eine Forderung des Berichts des BAG »Gesundheit 2020« jene nach grösserer Transparenz. Mit Unterstützung elektronischer Medien soll diese zwecks besserer Steuerung und Kontrolle des Gesundheitssystems gesteigert werden (BAG 2013: 13ff.).
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5.3 D ie A k teur I nnen schulischer G esundheitsförderun g Bevor die in dieser Studie im Zentrum stehenden Lehrpersonen, welche Gesundheitsförderung an Schulen umsetzen, zu Wort kommen, soll das Handlungsfeld, in dem sie agieren, abgesteckt werden. Die unterschiedlichen AkteurInnen, die in schulische Gesundheitsförderung involviert sind, werden ausgehend von Feldbeobachtungen nachfolgend kurz porträtiert.
5.3.1 »Wir machen uns auf den Weg zu einer gesundheits- fördernden Schule« – eine erste Feldbeobachtung Wer an bernischen Primarschulen zu tun hat und darauf achtet, findet meistens im Eingangsbereich den Beweis, dass der seit den 1980er Jahren als neu propagierte Ansatz der ›Gesundheitsförderung‹ Eingang in die Schulen gefunden hat. So hängt im Eingangsbereich vieler Schulen der Stadt Bern eine metallene Plakette wie die unten abgebildete. Weitere Hinweise, dass sich Gesundheitsförderung an Schulen etabliert hat, finden sich auch auf den Homepages der Schulen, und zwar in Form von gesundheitsfördernden Projekten, die in den Agenden angekündigt und unter der Rubrik Gesundheitsförderung dokumentiert werden. Zuerst soll aber ein Blick auf die besagte Plakette geworfen werden, welche einen aufschlussreichen Einblick in das Feld schulischer Gesundheitsförderung im Kanton Bern ermöglicht. Abbildung 2: Schild im Eingangsbereich der Primarschule Marzili, Bern (13.8.2013, Bild: Simone Suter)
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Ein aus Blech angefertigtes, mit Schrauben an einer Mauer befestigtes Schild deutet in aller Regel auf etwas Bedeutungsvolles hin, das von längerer Dauer sein muss, etwas, das gegen außen sichtbar gemacht werden will, damit es von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Das Schild könnte auch eine Auszeichnung sein, auf die man womöglich stolz ist, ein Bekenntnis zu etwas, ein Akt der Profilierung gegen außen wie beispielsweise das Schild des RotaryClubs am Eingang eines Restaurants. Das hier abgebildete Schild, dies kann sogleich festgestellt werden, wird an dieser spezifischen Schule nicht sehr ehrenvoll behandelt. Die aufgeklebten Etiketten zeugen zwar vom Konsum von Früchten, konkret von Clementinen; aber ob dies als Nachweis von gesundheitsförderndem Verhalten verstanden sein will, eher eine ironische bzw. widerständige Note darstellt oder in gar keinem Bezug zum kommunizierten Inhalt steht, sei dahingestellt. Wird das vorliegende Schild mit demjenigen beispielsweise des RotaryClubs verglichen, fällt der relativ große Anteil an Text auf. Die hier vorliegende Plakette ist offenbar ohne schriftliche Ausführungen nicht verständlich, wahrscheinlich, weil die beiden Logos, ungleich dem goldenen Zahnrad, nicht etabliert sind. Ohne ein Lesen des womöglich erläuternden Texts wird vorerst nicht evident, was die Tatsache dieser Mitgliedschaft symbolisieren soll. Erschwerend für das Verständnis kommt hinzu, dass nicht nur eine Mitgliedschaft, sondern eine doppelte besteht und dabei weder klar ist, in welchem Verhältnis die beiden abgebildeten Organisationen zueinander stehen noch welche Beziehung je zur Schule Marzili besteht. Der unten und oben mittels einer Linie gerahmte Satz sowie das Kleingedruckte versprechen weitere Informationen: Wir machen uns auf den Weg zu einer gesundheitsfördernden Schule
Ob hier die Schulleitung in einem Pluralis Majestatis für alle spricht, ob die Formulierung als Konsens aus einem basisdemokratischen Verfahren resultiert oder ob das ›Wir‹ die Schule und die beiden in den Logos abgebildeten Organisationen vereint, bleibt unklar. Vermutet werden kann, dass es sich nicht um eine Graswurzelbewegung handelt, darauf deuten das offizielle Schild ebenso wie die beiden Logos hin; sie sind Hinweise auf eine Begleitung und eventuell auch Kontrolle durch bestehende und womöglich übergeordnete Organisationen. Ein nicht klar definiertes Kollektiv macht sich hier auf den Weg, auf einen spezifischen Weg. Wahrscheinlich ist dieser Satz nicht wörtlich zu verstehen. Es geht nicht um eine geplante reale Reise zu einer anderen Schule, vielmehr steht der Satz für ein idealistisches Ziel, eine Vision: gemeinsam eine gesundheitsfördernde Schule zu werden und eine solche zu gestalten. Es wird also auf diesem metallenen Schild eine kollektive Absichtserklärung öffentlich gemacht. Es handelt sich zuerst einmal um ein Bekenntnis zu einem gemeinsamen Ideal oder Ziel und nicht um die Anerkennung eines bereits erreichten
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Ziels oder einer erbrachten Leistung. Das Schild hat somit Aufforderungscharakter, es beinhaltet einen Imperativ. Zugleich muss man annehmen, dass Schulen ohne ein solches Bekenntnis, von denen man sich mittels dieses Schilds abgrenzt, der Gesundheit abträglich, für sie schädlich sein könnten.
5.3.2 Nationale AkteurInnen im Feld schulischer Gesundheitsförderung Nachfolgend wird, ausgehend von der weitergeführten Analyse der Plakette, dargestellt, wie die schulische Gesundheitsförderung in der Schweiz strukturiert ist und welche AkteurInnen daran beteiligt sind. Das Kleingedruckte auf dem Schild wird schrittweise entziffert, die erwähnten AkteurInnen werden kurz porträtiert und durch weitere ergänzt, sodass ein Bild entsteht, wer im Kanton und in der Stadt Bern sowie schweizweit am Projekt Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen beteiligt ist.8 Die auf der Plakette in den Logos dargestellten und im Kleingedruckten links unten aufgeführten Organisationen stellen, der hiesigen Schreib- und Leserichtung folgend, den Ausgangspunkt der Ausführungen dar: Europäisches Netzwerk gesundheitsfördernder Schulen: ein Projekt des Bundesamtes für Gesundheit, koordiniert in der Schweiz durch Radix Gesundheitsförderung
Während das Europäische Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen wohl den wenigsten an diesem Schild vorbeigehenden PassantInnen ein Begriff sein wird, ist hingegen das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ein auf nationaler Ebene allseits bekannter Akteur und offenbar auch für die Gesundheitsförderung an Schulen zentral. Für die Maßnahmen im ›Setting Schule‹ von Bedeutung ist das vom BAG 1997 lancierte Impulsprogramm »Schule und Gesundheit«, welches Gesundheitsförderung an schweizerischen Schulen entwickeln sollte. Dabei wurde eng mit der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) sowie der Schweizerischen Stiftung für Gesundheitsförderung (heute: Gesundheitsförderung Schweiz, vgl. unten) zusammengearbeitet. Zugleich besteht eine enge Verbindung zum Partnerprogramm des Europäischen Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen (ENGS) (vgl. weiter unten). 1993 entstand aus dem Rahmenprogramm »Schule und Gesundheit« ein Programm mit dem Titel »bildung + gesundheit«, mit welchem eine weiterführende Verschränkung des Gesundheits- mit dem Bildungswesen angestrebt wurde. Das Programm – häufig unter dem Kürzel »b+g« präsentiert – wird beschrieben 8 | Die Informationen zu den nachfolgend kurz porträtierten AkteurInnen schulischer Gesundheitsförderung stammen zum einen aus deren Selbstdarstellungen in Broschüren oder aus deren Homepages sowie aus Interviews mit ExpertInnen.
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als »ein Zusammenschluss von Organisationen, die sich als Dienstleistende für die Gesundheitsförderung und Prävention im schulischen Kontext von der Vorschule bis zur Sekundarstufe II einsetzen«9. Im Rahmen dieses vom BAG finanzierten Programms wurde dann auch das Schweizerische Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen (vgl. weiter unten) initiiert und mitfinanziert. Ebenso fließen nationale Gelder via BAG in sogenannte Kompetenzzentren für schulische Gesundheitsförderung und über die dort weitergebildeten amtierenden Lehrpersonen in die Schulen. Als ein weiterer Meilenstein in Sachen schulischer Gesundheitsförderung gilt das gemeinsam vom Bundesamt für Gesundheit, dem Bundesamt für Sport, der Gesundheitsförderung Schweiz, den Kantonen sowie weiteren Akteuren im Bereich von Ernährungs- und Bewegungsfragen im Auftrag des Bundesrats 2008 lancierte »Nationale Programm Ernährung und Bewegung 2008-2012« (NPEB). In der Schule, so das Selbstverständnis, soll eine bewegungsfördernde Umgebung »Anreiz« bieten, sich körperlich zu betätigen. Die Schule und der Arbeitsplatz werden als ideale Settings »für das Ergreifen der Maßnahmen zu Ernährung und Bewegung« bezeichnet (BAG 2008: 24). Umsetzungen dieser nationalen Strategie finden sich in kantonalen Aktionsprogrammen, in welchen wiederum verschiedene Partner innerhalb der Kantone als auch zwischen ihnen zusammenarbeiten. Mit »Suisse Balance«10 wurde in diesem Zusammenhang vom BAG und der Gesundheitsförderung Schweiz 2002 eigens eine Projektförderungsstelle geschaffen, welche einer Vielzahl von Projekten und Programmen im Themenbereich Ernährung und Bewegung zur Genese verhalf (BAG 2011). Akteure in der Schweiz, die sich für ein gesundes Körpergewicht mit Fokus auf Kinder und Jugendliche engagieren wollen, werden, so der Text auf der Homepage von »Suisse Balance«, fachlich und praxisnah unterstützt. Ziel ist die »Förderung einer ausgewogenen Ernährung und ausreichend täglicher Bewegung«. 2013 wurde diese Projektförderungsstelle in die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz überführt. Bei der Gesundheitsförderung Schweiz handelt es sich um eine Institution, die 1989, drei Jahre nach der Verabschiedung der Ottawa-Charta (so notiert in der Chronologie auf der Hompepage der Gesundheitsförderung Schweiz), von 26 Schweizer Kantonen gegründet wurde. Seit 1998 setzt die ehemals Schweizerische Stiftung für Gesundheitsförderung genannte Institution einen Auftrag aus dem Krankenversicherungsgesetz um; sie ist gemeinsam getragen von Versicherern und Kantonen. Alle obligatorisch Versicherten tragen durch einen 9 | »bildung + gesundheit«, Programm des BAG und des SNGS, Schweizerisches Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen. URL: www.bildungundgesundheit.ch/dyn/1480. asp (Stand: 8.11.2014). 10 | Suisse Balance. URL: www.suissebalance.ch (Stand: 3.8.2011).
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jährlichen Beitrag von CHF 2.40 zur Finanzierung bei. Später wurde die Institution in Stiftung 19 – Schweizerische Stiftung für Gesundheitsförderung umbenannt und heißt nun seit 2002 Gesundheitsförderung Schweiz. Dem gesetzlichen Auftrag folgend »initiiert, koordiniert und evaluiert die privatrechtliche Stiftung Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit und zur Verhütung von Krankheiten«11 und fördert, so die Selbstdarstellung auf der Homepage12, Aktivitäten für die Gesundheit aller Menschen. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit Vertretern des Bundes, der Suva (Schweizerische Unfallversicherungsanstalt), der Medizinal- und Heilberufe, der Wissenschaft, der auf dem Gebiet der Krankheitsverhütung tätigen Fachverbände und weiterer Organisationen. Diese AkteurInnen, so die Selbstdarstellung weiter, engagieren sich gemeinsam für mehr Gesundheit und Lebensqualität. In der Strategie 2007-2018 wurden die Themen »gesundes Körpergewicht«, »psychische Gesundheit/Stress« sowie »Gesundheitsförderung und Prävention stärken« als Prioritäten festgelegt. Im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung an Schulen ebenfalls erwähnt werden muss das Bundesamt für Sport (BASPO), auch wenn es auf der obigen Plakette nicht erscheint. Das BASPO war an der Erstellung des Nationalen Programms ›Ernährung und Bewegung‹ mitbeteiligt und lanciert seither zahlreiche gesundheitsfördernde Projekte, welche in den Schulen rege implementiert werden. Insbesondere im Zusammenhang mit Adipositas, in den Medien als vermeintlich drohende ›Übergewichts-Epidemie‹ dargestellt, tritt das BASPO mit verschiedenen Bewegungsprojekten an die Schulen heran. Die Projekte richten sich auf den Sportunterricht aus, jedoch nicht ausschließlich. Ziel der Interventionen ist vielmehr die gesamte schulische Organisation, das sogenannte Setting Schule: So sollen Bewegung in den Unterricht gelangen, bewegte Pausen eingeführt werden und Schulmobiliar angeschafft werden, das sportphysiologischen Ansprüchen genügt. Die Diskussion einer Ausrichtung auf die raum-zeitliche Gestaltung der Schule kann zu einem Teil als eine Wiederaufnahme der historischen Hygienedebatten gelesen werden; Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Schulen kritisiert, auf die ihnen anvertrauten SchülerInnen eine gesundheitsschädigende Wirkung zu haben (Imboden 2003: 38f.). Weshalb Bewegungsförderung weiterführend zu implementieren ist, wird nun jedoch nicht mehr nur mit körperbezogenen, gesundheitsfördernden Argumenten begründet, sondern es werden auch auf der psychischen und sozialen Ebene Wirkungen in Aussicht gestellt. Teil des Auftrags von Bewegung und Sport wurde es auch, zu einem verstärkten Gesundheitsbewusstsein beizutragen, zu »einem aktiven und gesunden Lebensstil zu erziehen« 11 | Vgl. Art. 19 KVG; dort ist allerdings nicht von »initiieren«, sondern von »anregen« die Rede. 12 | Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz: URL: http://gesundheitsfoerderung.ch (Stand: 21.12.2014).
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(BASPO 2006: 1). Die vom BASPO konzipierten Projekte zielen denn auch auf individuelle Verhaltensänderung und Verantwortungsübernahme mittels der Aktivierung sämtlicher SchülerInnen. Interessanterweise findet sich auf der Plakette ganz oben ein Akteur, der an den Schulen in der Stadt oder dem Kanton Bern kaum bekannt sein wird: Das Europäische Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen (ENGS), ein gemeinsames Projekt der WHO, des Europarats und der Europäischen Kommission. Diese drei Institutionen lancierten das Projekt 1991, basierend auf der »konzeptionellen Grundlage« der Ottawa-Charta. Die angeschlossenen Schulen wurden mit Methoden der Organisationsentwicklung versorgt – mit dem Ziel, die Basiskonzepte der Partizipation und des Empowerments im Setting Schule erfolgreich umzusetzen. Heute heißt das Netzwerk Schools for Health in Europe (SHE)13. Der Zusammenschluss nationaler KoordinatorInnen aus 43 europäischen Ländern wird von CBO14, einem »Collaborating Centre« der WHO in den Niederlanden, verwaltet. Das SHE-Netzwerk umfasst 65 Forschende aus 25 Ländern und arbeitet eng zusammen mit dem HBSC-Netzwerk: »Health Behaviour in School-aged Children« ist eine große internationale Studie, die alle vier Jahre mit 11- bis 15-jährigen Kindern und Jugendlichen durchgeführt wird. Die Befragung umfasst Themen zu Gesundheit, Wohlbefinden, sozialem Umfeld und gesundheitsrelevantem Verhalten. Ergebnisse der Studie, die unter der »Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation«15 steht und an der die Schweiz sich seit 1986 beteiligt, werden häufig als Grundlage und Legitimation gesundheitsfördernder Projekte verwendet. Finanziert wird die Teilnahme der Schweiz an dieser Untersuchung vom Bundesamt für Gesundheit, den Kantonen und Sucht Schweiz (ehemals Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme). Am europäischen SHE-Netzwerk beteiligt sich die Schweiz seit 1993. Wird unter den Mitgliedern die Schweiz gesucht, erscheint dort die Organisation RADIX 16. Es handelt sich um eine 1972 gegründete nationale Stiftung, die im Auftrag der Gesundheitsförderung Schweiz und des Bundesamts für Gesundheit die kantonalen und regionalen Netzwerke im Rahmen des Schweizerischen Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen (SNGFS) koordiniert. Insgesamt sind 21 kantonale oder regionale Netzwerke mit über 1.700 Schulen 13 | SHE Network. URL: www.schools-for-health.eu/she-network (Stand: 21.12.2014). 14 | Centraal Begeleidings Orgaan (CBO) war ein ursprünglich nationales Institut zur Verbesserung der Pflege des medizinischen und des Pflegepersonals und wurde 2010 zu einem Teil von TNO Management Consultants. URL: www.cbo.nl/en/about/about-us (Stand: 21.12.2014). 15 | HBSC Schweiz. URL: www.hbsc.ch/?lang=de (Stand: 21.12.2014). 16 | RADIX. URL: www.radix.ch/index.cfm/9030CE38-F4B2-231D-B8B2A9E8C9695 72B/ (Stand: 4. Mai 2013).
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(rund 12 Prozent aller Schulen mit 288. 000 SchülerInnen und 33.600 Lehrkräften17) Mitglieder in diesem nationalen Netzwerk. Auch RADIX verweist auf die Ottawa-Charta der WHO als Orientierungspunkt der Arbeit. Auf der Homepage aufgelistete Arbeitsschwerpunkte sind »psychische Gesundheit, gesundes Körpergewicht und Sucht«. Als ein weiteres Arbeitsfeld wird die »gesunde Schule« aufgeführt mit dem erklärten Ziel, durch »Wohlbefinden« die Leistungsfähigkeit zu fördern. Gesundheit ist, so die Darstellung von RADIX, ein zentraler Aspekt von Schulqualität. In Zusammenarbeit mit dem Bund, den Kantonen und Fachorganisationen, so die Selbstdarstellung weiter, unterstützt RADIX als Institution aus dem Gesundheitswesen die Schulen in diesen Prozessen. Kern der Dienstleistungen der Stiftung ist die Einbindung der einzelnen Schulen in das Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen und ihre Versorgung mit Beratungen, Konzepten, Leitfäden und Maßnahmen. Längerfristiges Ziel ist es, die Organisation den Kantonen oder Städten zu übergeben; deshalb beteiligt man sich am Aufbau regionaler Netzwerke, bis diese selbstständig weitergeführt werden können.18 Die Ausgestaltung dieser kantonalen Netzwerke ist, wie im föderalistisch organisierten Bildungssystem nicht anders zu erwarten, trotz der von der WHO ausgehenden Initiative und übergeordneten Koordination sehr unterschiedlich. Diese hier nur kurz porträtierten Akteure im Bereich der Gesundheitsförderung auf nationaler Ebene sind für die einzelnen Schulen nicht alle sichtbar. Sie sind jedoch indirekt, wie deutlich wurde, sowohl bezüglich des Diskurses als auch der konkreten Ausgestaltung von gesundheitsfördernden Maßnahmen relevant. Das gilt insbesondere auch für die Bereitstellung finanzieller Ressourcen. Direkt sind die Schulen eher mit Ämtern und Fachstellen auf kantonaler oder städtischer Ebene konfrontiert, welche sie beraten und ihnen passende konkrete Programme weitervermitteln. Diese Programme wiederum sind häufig durch Bundesgelder mitfinanziert, und die konzeptionelle Ausarbeitung lokaler Angebote wird von den oben dargestellten Institutionen begleitet.
5.3.3 Städtische und kantonale Institutionen schulischer Gesundheitsförderung Auf der eingangs beschriebenen Plakette sind unten rechts die lokalen Akteure aufgeführt, die für die an den Schulen tätigen Lehrpersonen sichtbarer und näher sind als die auf nationaler Ebene agierenden Institutionen: 17 | Angaben von der Homepage von Gesundheitsförderung Schweiz. URL: http:// geschaeftsberichte.gesundheitsfoerderung.ch/2013/de/gesundes_koerpergewicht/ koordination_ueber_netzwerke/(Stand: 8.11.2014). 18 | Gespräch vom 1.2.2011 mit Edith Lanfranconi, Fachexpertin bei RADIX Zentralschweiz, Koordination Schweizerisches Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen.
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Der Auftrag des Gesundheitsdiensts20 der Stadt Bern, welcher wie auch das Schulamt der Direktion für Bildung, Soziales und Sport unterstellt ist, lautet folgendermaßen: »Der Gesundheitsdienst setzt sich ein für die Vorbeugung gesundheitsschädigender Einflüsse (Prävention), die Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens und für die Gestaltung eines gesundheitsfördernden und integrativen Lebensraumes.«21 Im stadtbernischen Gesundheitsdienst arbeiten »Ärztinnen, Schularztassistentinnen, Schulsozialarbeitende, Projektkoordinatoren und Projektkoordinatorinnen, Ernährungsberaterinnen, Gesundheitsinspektorinnen sowie Sekretärinnen und ein Ökonom«. Das »Kernangebot«, so die Darstellung auf der Homepage, umfasst folgende Dienstleistungen: »Schulärztliche Untersuchungen und Beratungen zu medizinischen, sozialen und erzieherischen Fragen, Läuse, Schulsozialarbeit und Familienhilfe, Kontaktstelle für Wohnverwahrlosung und Wohnhygiene (Gesundheitsinspektorat), Information und Projekte zu Ernährung und Bewegung, Gesundheitsförderung in Familie, Schule und Quartier22, Frühförderung, Gesundheitsförderung und Präventionsprojekte in der Schule sowie die Grundlagenerarbeitung zur Planung gesundheitsrelevanter Maßnahmen (z.B. Lebensqualitäts-Bericht)« (vgl. GSD Bern 2014). Der Städtische Gesundheitsdienst, so die Ausführungen von Stefanie Pürro, der Verantwortlichen für das Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen23, konnte in den frühen 1990er Jahren sämtliche Schulen der Stadt Bern für eine Mitgliedschaft im Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen gewinnen. Die Stadt Bern war auch insofern eine Pionierin, als sie als erstes regionales Netzwerk Mitglied im nationalen Netzwerk (SNGS) wurde. Begonnen hat die in den 19 | Der Begriff ›Gesundheitsteams‹ wurde 2008 ersetzt mit dem Begriff ›Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen‹ und existiert so heute nicht mehr (ausgenommen auf der analysierten Plakette und in einzelnen Schulen als weiterhin gelebte Praxis). 20 | Beim Gesundheitsdienst – der in der Ottawa-Charta als Institution des Gesundheitswesens erwähnt, aber als solcher nicht weiter expliziert wird – handelt es sich um einen Teilbereich des öffentlichen Gesundheitswesens, welches in der Schweiz qua Verfassungsauftrag den Kantonen obliegt. Mit dem Begriff Gesundheitsdienst werden Fachstellen bezeichnet, die den kantonalen Gesundheitsämtern unterstellt sind und Fragen der »öffentlichen Gesundheit« behandeln. Erklärtes Ziel dieses öffentlichen Dienstes ist »der Schutz und die Aufklärung der Bevölkerung in gesundheitlichen Belangen« (Sax 2008). 21 | Gesundheitsdienst der Stadt Bern. URL: www.bern.ch/stadtverwaltung/bss/ gsd (Stand: 14.5.2014). 22 | Das ›Quartier‹ ist der schweizerdeutsche Begriff für ›Stadtviertel‹. 23 | Gespräch vom 6.5.2011 mit Stefanie Pürro, Verantwortliche für das Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen beim Gesundheitsdienst der Stadt Bern.
5. Gesundheitsförderung an Schulen
1990er Jahren vom Gesundheitsdienst her aufgebaute Zusammenarbeit mit den Schulen mit der Bildung von »Gesundheitsteams« an Schulen. Sie sollten garantieren, dass Gesundheitsförderung »den Ansprüchen der Mitbestimmung genügen kann« (Gesundheitsdienst 2012: 32). Innerhalb der Gesundheitsteams war es die Aufgabe einer Koordinatorin oder eines Koordinators für Gesundheitsförderung (KGF), eine »breite Vertretung aus dem Kollegium sowie aus dem Umfeld« zu garantieren (ebd.). Die Zusammensetzung der Gesundheitsteams war nicht festgelegt; so konnten sie ausschließlich Lehrpersonen umfassen oder aber auch Mitglieder des Elternrats, SchulsozialarbeiterInnen, die Hauswartschaft oder SchülervertreterInnen. Diese in den 1990er Jahren ins Leben gerufenen Gesundheitsteams gibt es als Konzept heute nicht mehr, auch wenn sie an einzelnen Schulen noch weiter bestehen. Konzeptionell sind es nunmehr die KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung, die an den einzelnen Schulen eingesetzt werden. Sie stehen in regelmäßigem Austausch mit Kontaktpersonen des für sie zuständigen Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen. Gegenüber den früheren flächendeckend verordneten Präventionsabsichten von Seiten des Gesundheitsdienstes, des Schulamts und des Schulinspektorats reagierten die Schulleitungen der stadtbernischen Schulen vorerst ablehnend. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, so die Darstellung von Stefanie Pürro, dass ab 1992 sämtliche Schulen für die Mitgliedschaft im Netzwerk Gesundheitsfördernde Schulen gewonnen werden konnten. Im Wissen um eine ablehnende Haltung gegenüber von oben verordneten Maßnahmen verfolgte der Gesundheitsdienst nun eine andere Strategie: Den Schulen sollen gesundheitsfördernde Maßnahmen nicht verordnet werden, sondern sie sollen zu Gesundheitsförderung ›ermächtigt‹ und partizipativ eingebunden werden. Die Schulen sollen mittels ›Empowerment‹ befähigt werden, selber gesundheitsfördernde Maßnahmen umzusetzen und zu ›gesunden Schulen‹ zu werden. Als wichtigste Erklärung für den durchschlagenden Erfolg führt Pürro den Umstand an, dass mit den vom Gesundheitsdienst zur Verfügung gestellten Ressourcen sowohl für die Lehrpersonen, welche Koordinationsaufgaben übernahmen, als auch für Projekte Anreize geschaffen wurden.24 Eine weitere Erklärung sieht sie in der institutionellen Nähe zwischen dem Gesundheitsdienst (ehemals Schularztamt) und dem Schulamt: Beide Ämter unterstehen der Direktion für Bildung, Soziales und Sport. Den durchschlagenden Erfolg in der Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen sieht sie aber auch im 24 | Zum von Pürro geschilderten »Anreizsystem«: In der Stadt Bern erhalten alle KGF eine Entlastungslektion pro Woche und CHF 1.350 (vormals 1.400) pro Kalenderjahr für die Umsetzung von Projekten an der eigenen Schule. Die Lehrpersonen verpflichten sich zugleich zur jährlichen Teilnahme an der GSD-internen Weiterbildung, an den Austauschtreffen (dreimal zwei Stunden) und am Netzwerktreffen (ein Nachmittag).
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Zusammenhang mit dem großen Engagement der in den 1990er Jahren amtierenden Schulärztin und ihres Teams, was auch als politische Antwort auf die Ende der 1980er Jahre in der Stadt Bern gut sichtbare Drogenproblematik zu verstehen sei (vgl. Vuille et al. 2004). Die Aufgabe des Gesundheitsdiensts der Stadt Bern besteht darin, die Schulen in der Umsetzung des Auftrags der Gesundheitsförderung zu beraten und zu unterstützen, wie der auf der Homepage im Bereich »Schulprojekte« publizierte Text darlegt: »Um Erfolg in der Bildung zu haben, braucht es Schulen mit einem guten Schulklima. Das heißt Schulen, in denen gesund gelernt und gelehrt wird. Der Gesundheitsdienst der Stadt Bern unterstützt die Schulen seit 20 Jahren mit verschiedenen Projekten und Programmen in dieser Aufgabe.« (GSD 2012)
An der Seite der Schule zeichnet damit der Gesundheitsdienst als mitverantwortlich für den Bildungserfolg. Thematisch geht es bei den gesundheitsfördernden Angeboten für Schulen, die ebenfalls auf der Homepage aufgelistet sind, um Ernährung, Erziehung, Suchtprävention und Stärkung der Selbstkompetenz. Zum Gesundheitsdienst gehören neben den SchulärztInnen und der Abteilung Gesundheitsförderung auch die Schulsozialarbeit und das Frühförderungsangebot »primano«. Die Leitung des Gesundheitsdiensts, auch Fachstelle für Fragen des öffentlichen Gesundheitswesens genannt, oblag in der Stadt Bern bis 2011 ausschließlich MedizinerInnen, sogenannten Amtsärzten, die nicht mehr praktizieren und über eine Zusatzausbildung, häufig in Public Health, verfügen. Die heute Schularzt oder Schulärztin genannten Fachpersonen sind nicht mehr im klassischen Sinne ärztlich tätig, sondern sie führen beispielsweise beratende Gespräche mit Schulkindern und deren Eltern oder erheben in den Reihenuntersuchungen statistische Daten, welche der Planung von Maßnahmen dienen. Seit 2011 wird der Gesundheitsdienst von einer Schulärztin und neu einem Ökonomen und zugleich Arbeitspsychologen geleitet. In anderen Kantonen oder Städten werden die Gesundheitsdienste von JuristInnen oder auch Fachpersonen aus der Pflege (Zürich) geleitet (vgl. GSD 2012). Im Rahmen der Koordination der stadtbernischen ›Netzwerkschulen‹25 organisiert der Gesundheitsdienst der Stadt Bern alljährlich Weiterbildungsanlässe für Lehrpersonen, welche an ihrer Schule die Aufgabe der Koordination für Gesundheitsförderung übernommen haben; teilweise nehmen auch die Schulleitenden an den Treffen teil. Dort erhalten sie Inputs zu den aktuellen Gesundheitsthemen und diskutieren anschließend Umsetzungsangebote. Zu25 | ›Netzwerkschulen‹ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Schulen, die Mitglied im Schweizerischen Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen sind.
5. Gesundheitsförderung an Schulen
dem werden Dreijahresthemen festgelegt. So haben sich die stadtbernischen Schulen in der Periode zwischen 2009 und 2011 verpflichtet, im Bereich ›Bewegung und Ernährung‹ aktiv zu werden, in der Periode von 2011 bis 2014 arbeiten sie am Thema ›Lehrergesundheit‹. Nach Ablauf einer Periode ist die Schulleitung seit 2010 verpflichtet, gegenüber dem Schulinspektorat und der Schulkommission die eingeleiteten Maßnahmen sowie eine Evaluation derselben darzulegen. Seit Gesundheitsförderung zu einem Schwerpunkt in der städtischen Bildungsstrategie wurde, ist sie nun neu auch Bestandteil des kantonalen Controllings.26 Für die nicht-stadtbernischen Schulen im Kanton Bern ist die zentrale Stelle in Sachen Gesundheitsförderung die Stiftung Berner Gesundheit27; sie ging ursprünglich aus dem Verband Bernischer Fürsorgestellen für Alkoholkranke (gegründet 1931) hervor und verfügt heute über vier Regionalstellen.28 Nebst diversen Angeboten im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung leitet die Berner Gesundheit das vom BAG initiierte und von RADIX geleitete Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen und bildet KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung an Schulen aus. Sie organisiert Fortbildungen, Netzwerktreffen und macht Einzel- oder Gruppenberatungen von Lehrpersonen zu Gesundheitsförderung und Prävention.29 Die Mitgliedschaft im Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen ist für die kantonalbernischen Schulen freiwillig. Als weiterer, zentral auf die Schulen ausgerichteter kantonaler Akteur ist das Institut für Weiterbildung (IWB) der Pädagogischen Hochschule PH Bern zu nennen, welches bis 2014 einen Zertifikatslehrgang CAS Gesundheitsförderung30 angeboten hat.31 Dieser wurde, so die Ausführungen von Helen Ge26 | Bildungsstrategie der Stadt Bern. URL. www.bern.ch/leben_in_bern/…/bildungs strategie_2009_def1.pdf (Stand 14.3.2011). 27 | Berner Gesundheit URL: www.bernergesundheit.ch (Stand: 14.2.2011). 28 | Die Basis für den Auftrag der Berner Gesundheit im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention sind Art. 1 und 3 des Gesundheitsgesetzes (GesG) des Kantons Berns [Fassung vom 6. 2. 2001]. URL: https://www.sta.be.ch/belex/D/8/811_01. html (Stand 14.3.2011). Finanziert wird der Auftrag der Gesundheitsförderung in Bezug auf das NGS durch die Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (vgl. Gespräch mit Cornelia Werner, s. unten). 29 | Gespräch vom 23.2.2011 in Thun mit Cornelia Werner, Verantwortliche für das kantonale Netzwerk Gesundheitsfördernde Schulen, Berner Gesundheit. 30 | Ehemals Ausbildung »Am Puls« an der Zentralstelle für LehrerInnenweiterbildung des Kantons Bern. 31 | Gesundheit ist nun am Institut für Weiterbildung und Medienbildung (IWM, neuer Name) Thema auf der Ebene der Schulleitung als Teil von Management, Personalführung und Organisationsentwicklung, auf der Ebene der Lehrperson in Form von »BurnoutPrävention« oder auf der Unterrichtsebene beispielsweise mit »bewegtem Unterricht«.
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bert32, der damaligen Leiterin des Lehrgangs, in enger Zusammenarbeit mit dem interkantonalen Kompetenzzentrum Gesundheitsförderung entwickelt und teilweise auch gemeinsam durchgeführt. Das Kompetenzzentrum wurde vom BAG initiiert und heißt heute Zentrum Gesundheitsförderung der PH Luzern. Es setzt, so die Selbstdarstellung auf der Homepage, »innerhalb der PH Luzern, national und regional Impulse und verfügt über Kompetenzen für die nachhaltige Implementierung von Gesundheitsförderung im Setting Schule«33. Ebenfalls der Gesundheitsförderung nimmt sich das Kompetenzzentrum Schulklima an, welches auch der PH Luzern angegliedert ist. Zu den Aufgaben dieser Unterorganisation gehören unter anderem »die Mitarbeit in der Expertengruppe BNE+ (Bildung für Nachhaltige Entwicklung) zur Integration von Gesundheit in den Lehrplan 21, die Koordination der Weiterbildungsangebote für Beauftragte für Gesundheitsförderung, die Förderung der Zusammenarbeit der Fachstellen, Bildungsdirektionen und Pädagogischen Hochschulen für Gesundheitsförderung sowie die Bewertung und Empfehlung von Lehrmitteln für Gesundheitsförderung in Kooperation mit den b+g Partnern«34. Der oben erwähnte, vom IWB der PH Bern angebotene CAS-Kurs befähigt Lehrpersonen, an ihren Schulen als KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung tätig zu sein. Dieses spezifisch für die Schulen im Kanton Bern geschaffene Angebot wurde mittels einer Anschubfinanzierung des BAG, welches diese Ausbildung im Rahmen seines Programmes »Schule und Gesundheit« mit unterstützte, ins Leben gerufen und mithilfe des Gesundheitsdiensts aufgebaut. Die Ausbildung richtet sich an alle Lehrpersonen im Kanton Bern und erlangte ab 2002 die Anerkennung als Modul für die Ausbildung zum Erwachsenenbildner/zur Erwachsenenbildnerin (SVEB), was für Lehrpersonen einen weiteren Anreiz darstellt, eröffnet es ihnen doch, wenn auch nur vage, ein weiteres mögliches Tätigkeitsfeld (vgl. Vuille et al. 2004: 33). Der CAS-Kurs qualifiziert die Lehrperson, so die Ausschreibung des Studiengangs, »eine Schule in Zusammenarbeit mit der Schulleitung auf dem Weg der Gesundheitsförderung zu unterstützen«35. Konkret würden mittels dieses Studiengangs die angehenden Koordinatorinnen befähigt, »Strukturen 32 | Gespräch vom 28.2.2011 mit Helen Gebert, damalige Studienleiterin CAS Gesundheitsförderung am IWB PHBern. 33 | Zentrum Gesundheitsförderung der Pädagogischen Hochschule Luzern. URL: www.phlu.ch/weiterbildung/zentrum-gesundheitsfoerderung/(Stand: 14.3.2012). 34 | Kompetenzzentrum Schulklima der Pädagogischen Hochschule Luzern. URL: www.phlu.ch/weiterbildung /zentrum-gesundheitsfoerderung /kompetenzzentrumschulklima/(Stand: 14.3.2012). 35 | Ausschreibung des CAS-Kurs KoordinatorIn für Gesundheitsförderung KGF vom IWB PHBern. URL: www.phbern.ch/fileadmin/user_upload/Weiterbildung/Dokumente /CAS_Gesundheitsfoerderung_Studienplan.pdf (Stand: 14.3.2011).
5. Gesundheitsförderung an Schulen
und Prozesse in der Organisation Schule nach den Erkenntnissen der Gesundheitsförderung (Ottawa-, Jakarta- und Mexikocharta der WHO) zu gestalten.« Die programmatischen Inhalte der WHO-Charta werden hier mit »Erkenntnissen« gleichgesetzt, welche es ermöglichen sollen, die Schule gesundheitsfördernd zu gestalten. Einmal ausgebildet, erhält eine Koordinatorin für Gesundheitsförderung für ihre Arbeit je nach Gemeinde im besten Falle eine Entlastungslektion zugesprochen und verfügt über ein jährliches Budget (in der Stadt Bern beispielsweise in der Höhe von CHF 1.350.-), um Gesundheitsförderung an ihrer Schule ›implementieren‹ zu können.
5.3.4 Zusammenfassung: Ein Netz unterschiedlicher AkteurInnen An dieser Aufzählung der an schulischer Gesundheitsförderung direkt oder indirekt beteiligten Institutionen wird deutlich, dass sich den Schulen ein vielseitiges, vernetztes, teilweise auch unübersichtliches Angebot an gesundheitsfördernden Maßnahmen präsentiert, hinter denen verschiedenste Institutionen stehen. Zugleich bestehen unter den einzelnen AkteurInnen enge Verbindungen und vielfältige Formen der Zusammenarbeit. Abbildung 3: Ein Netz unterschiedlicher AkteurInnen
Dunkelgraue Felder: AkteurInnen im Feld schulischer Gesundheitsförderung/hellgraue Felder: Gesundheitsfördernde Inhalte, Maßnahmen
An den Schulen direkt sichtbar wird Gesundheitsförderung durch die im Lehrplan zu behandelnden Gesundheitsthemen, durch die Programme, die von verschiedenen, sowohl privaten als auch öffentlichen Anbietern an sie he-
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rangetragen und durchgeführt werden, durch Lehrpersonen, die als KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung in den Kollegien Gesundheitsförderung thematisieren und allenfalls, wenn sie zur Kenntnis genommen wird, durch die Plakette, welche vom Schweizerischen Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen an die Mitglieder verliehen wird und im Eingangsbereich zahlreicher Schulen aufgehängt ist. Die kollektive Absichtserklärung, sich auf den Weg zu machen zu einer gesundheitsfördernden Schule, ist kein Projekt einer einzelnen Schule wie in diesem Fall der Schule Marzili, sondern stammt aus der Feder von nationalen und letztlich sogar supranationalen AkteurInnen, wie schon die Logos und angefügten Organisationen vermuten lassen. Das Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen steht in enger Anbindung an den Gesundheitsdienst der Stadt Bern sowie an das Bundesamt für Gesundheit und ist letztlich eingebunden in ein von der supranationalen Organisation WHO aufgebautes und initiiertes Netzwerk. Insgesamt handelt es sich hauptsächlich um Institutionen des Gesundheitswesens, die, so kann vermutet werden, über die Deutungshoheit der ›gesundheitsfördernden Schule‹ wachen und über Expertise in Sachen Gesundheitsförderung verfügen. Interessant ist, dass als Referenz und Legitimation innerhalb der unterschiedlichen institutionalisierten Kontexte praktisch immer auf die Ottawa-Charta der WHO verwiesen wird (vgl. Kap. 4). Hinter der Schule Marzili als Bildungsinstitution hingegen steht weder eine staatliche noch eine städtische Stelle, welche die Expertise aus dem Bildungswesen repräsentieren würde. Das kann auch im Zusammenhang damit stehen, dass es im Bildungsbereich auf nationaler Ebene kein Äquivalent zum Bundesamt für Gesundheit gibt. Im Hintergrund der sich an den Schulen manifestierenden unterschiedlichen Formen der Umsetzung von Gesundheitsförderung – Projektwochen, Pausenaktivitäten, in den Unterricht integrierte Programme und Events – steht somit ein Netz von ExpertInnen aus dem Gesundheitsbereich, welche sich in verschiedenen Formen institutioneller Zusammenarbeit für die curriculare Verankerung, für die Weiterbildung der Lehrpersonen und die mannigfaltige Umsetzung von Gesundheitsförderung stark machen. Ein großer Teil der Projekte und Programme wird aus öffentlichen Geldern gespeist; teilweise sind sie aber auch marktförmig organisiert wie diejenigen Projekte, die von privaten Firmen oder auch Stiftungen an die Schule gelangen (z.B. fit4future, game4you). Ein wichtiger Akteur und Türöffner in der Stadt Bern ist der Gesundheitsdienst. Die ehemalige Bezeichnung Schulärztlicher Dienst deutet darauf hin, dass Schulärztinnen eine wichtige Position einnehmen. Bis heute ist es eine Schulärztin, die den Gesundheitsdienst mitleitet, Reihenuntersuchungen und Info-Veranstaltungen durchführt sowie Gesundheitskampagnen lanciert.
5. Gesundheitsförderung an Schulen
An dieser Feldbeschreibung wird ersichtlich, dass es sich bei Gesundheitsförderung um einen Top-down-Prozess handelt: Mit Geldern von Bundesämtern werden Projekte für die Schulen sowie Weiterbildungskurse für Lehrpersonen mitfinanziert, welche direkt den Gesundheitsförderungsdiskurs an Schulen mittels Interventionen beeinflussen sollen. Als legitimierende Instanz steht, wenn auch auf der Plakette nicht sichtbar, über allem die Weltgesundheitsorganisation WHO, indirekt erkennbar am Verweis auf das Europäische Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen, welches sich wiederum auf die WHO bezieht. Fraglich bleibt angesichts der ›Dominanz‹ der Akteure aus dem Gesundheitsbereich, inwieweit die an das Bildungswesen herangetragenen Angebote die Logik von letzterem berücksichtigen. Dies wird unter anderem in den nun folgenden Analysen zu rekonstruieren versucht.36 Sich gemeinsam auf den Weg machen, wie dies auf der Plakette formuliert ist, suggeriert eine Offenheit gegenüber dem, was kommen wird, sowie die Möglichkeit gemeinsamer Gestaltung. Das mit dem Schema veranschaulichte Netz beteiligter AkteurInnen deutet jedoch auf einen aus dem Gesundheitsbereich heraus veranlassten Top-down-Prozess hin. Ob Lehrpersonen bei der Umsetzung des Auftrags der Gesundheitsförderung über Freiräume verfügen und inwiefern sich Spannungen zum allgemeinen Bildungsauftrag ergeben, wird nachfolgend ebenfalls zu beantworten versucht. Dabei wird sich womöglich auch eine Antwort auf die einleitend aufgeworfene Frage abzeichnen, wie sich die Schule als eine Institution des Bildungswesens gegenüber der Aufgabe und dem Diskurs der Gesundheitsförderung positioniert.
36 | Neben dem Bedarf, die konzeptionellen Grundlagen gesundheitsfördernder Programme zu rekonstruieren, zeigen sich auch Forschungslücken bezüglich der finanziellen und auch der personellen Ressourcen, welche die Gesundheitsförderungsprogramme speisen. Dazu bedürfte es einer ökonomischen Analyse. Von juristischer Seite her müsste die gesetzliche Basis von Gesundheitsförderung insbesondere im Rahmen von schulischen Interventionen aufgearbeitet werden, was die vorliegende Untersuchung nicht zu leisten vermag.
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6. Deutungen der Lehrpersonen 6.1 M e thodisches und thematische F okussierung auf ›B e wegung ‹ 6.1.1 Zur Analyse der Inter views mit den Lehrpersonen Wie die Analyse der Plakette »Wir machen uns auf den Weg zu einer gesundheitsfördernden Schule« im vorigen Kapitel zeigt, handelt es sich bei Gesundheitsförderung um einen von oben initiierten und begleiteten Prozess, der von dort, vom Bundesamt für Gesundheit und in dessen Rücken der WHO, in eine bestimmte Entwicklungsrichtung gelenkt werden möchte. Aus soziologischer Sicht kann vermutet werden, dass Gesundheitsförderung, wie sie auf der Plakette dargestellt wird, als Ausdrucksgestalt staatlicher Akteure auf eine gesellschaftliche Problemlage antwortet. Die Frage, die nachfolgend im Zentrum steht, liegt jedoch vorerst auf einer anderen Ebene: Was bedeutet es für die einzelne Lehrperson, an einer gesundheitsfördernden Schule zu arbeiten? Welches ist ihr Auftrag, wie deutet sie diesen? Datengrundlage des folgenden empirischen Teils sind Gespräche, die mit Lehrpersonen geführt wurden, welche innerhalb ihrer Schule in der Gesundheitsförderung aktiv sind. Die Analyse der Interviews folgt einem sequenzanalytisch-hermeneutischen Vorgehen: Es soll rekonstruiert werden, nach welcher Logik die Lehrpersonen Gesundheitsförderung verstehen und umsetzen, beispielsweise wie stark sie zu Eigenverantwortlichkeit tendieren, ob soziale Ungleichheiten thematisch werden oder ob eine individualisierende, auf individuelle Verhaltensweisen gerichtete Logik vorherrschend ist. Ebenso wird zu analysieren sein, in welchem Verhältnis der Auftrag der Gesundheitsförderung zur Wahrnehmung des Bildungsauftrags steht. Ziel der Rekonstruktionen ist es, unterschiedliche Deutungstypen von Gesundheitsförderung der befragten Lehrpersonen zur Darstellung zu bringen. Im Rahmen schulischer Bildungsarbeit heißt ›fördern‹, aktiv zu werden. Wer Gesundheitsförderung als Auftrag annimmt und als relevant anerkennt, so kann angenommen werden, geht implizit von einem Handlungsbedarf aus. Es kann vermutet werden, dass sich die zu rekonstruierenden Typen in der
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Wahrnehmung der zugrundeliegenden Problematik wie auch bei den zur Anwendung gelangenden Mitteln und in deren Legitimation unterscheiden. Dabei steht die Legitimation der Mittel in einem wechselseitigen Verhältnis zur Problemwahrnehmung. Schließlich kann davon ausgegangen werden, dass, wer gesundheitsfördernd aktiv wird, ein bestimmtes Ideal verfolgt, welches seinen Handlungen eine gewisse Richtung gibt. Dieses Ziel, worauf gesundheitsfördernde Maßnahmen ausgerichtet sind, soll, so es denn vorhanden ist, ebenso rekonstruiert werden. Dass diese drei Dimensionen der Deutungen der Lehrpersonen – Ziel der Förderung, Wahrnehmung des Handlungsbedarfs, Wahl der Mittel – auf keinen Fall in einer widerspruchfreien Beziehung zueinander stehen, sondern in den Aussagen immer auch Brüche zum Ausdruck kommen, rückt in der Darstellung der Typologie etwas in den Hintergrund. Doch genau diese Brüche interessieren bei der Analyse, verweisen sie möglicherweise auf übergeordnete Widersprüche. Deshalb wird pro Typus immer zuerst ein Fall ausführlich dargestellt, anhand dessen der Kern der Deutung aufgezeigt werden kann. Anschließend folgen jeweils ein oder zwei weitere Fälle, um innerhalb des Typus auf Differenzen und allenfalls Brüche hinzuweisen. Diese weiteren Fälle können als Veranschaulichung und zugleich als Formen der Ausdifferenzierung innerhalb des Typus gelesen werden. Der Kern des Typus, wie er jeweils im ersten rekonstruierten Fall enthalten ist, gelangt am Schluss des Kapitels nochmals in verdichteter Form zur Darstellung. Wenn auch die nachfolgenden Rekonstruktionen der unterschiedlichen Deutungen zunächst nahe an den einzelnen Personen und ihren Aussagen erfolgen, geht es nicht darum, einzelne Personen zu porträtieren. Vielmehr sollen unterschiedliche Möglichkeiten der Deutung von Gesundheitsförderung aufgezeigt und die Spannbreite sichtbar werden, innerhalb derer ganz verschiedene Deutungen möglich sind. Allenfalls lässt sich aus den verschiedenen Deutungen auch ein Kern, sozusagen ein Deutungsmuster ›Gesundheitsförderung‹ ausmachen. Bei sämtlichen Gesprächen mit den Lehrpersonen wurde einleitend das Forschungsinteresse kundgetan. Vor dem eigentlichen Gespräch wurden die Interviewees gebeten, einige wenige Angaben zu ihrer Biografie zu machen: Geburtsjahr, Name des Ausbildungsinstituts und Abschlussjahr (tertiarisiert oder nicht) sowie eine Antwort auf die Frage, ob sie über spezifische Kenntnisse bezüglich Gesundheitsförderung verfügen. Anschließend folgten die Eingangsfragen, die in etwa immer gleich formuliert wurden: Was verstehen die Lehrpersonen unter Gesundheitsförderung? Weshalb braucht es Gesundheitsförderung an der Schule? Braucht es sie überhaupt, oder ist sie nicht vielmehr Sache der Eltern? Bei den KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung wurde zusätzlich nach ihrer Motivation gefragt, dieses Amt zu übernehmen. Bei den in den rekonstruierten Gesprächen vorkommenden Namen handelt es
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sich um anonymisierte Namen. Die Altersangaben beziehen sich auf den Zeitpunkt des Interviews. Das Gespräch wurde in Schweizerdeutsch gehalten; bei der Transkription wurden die Aussagen zugunsten einer besseren Lesbarkeit wenn möglich ins Hochdeutsche übersetzt. Ebenso wurden Satzstellungen angepasst, wenn dies die inhaltliche Aussage nicht verfälschte (vgl. Anhang 2). Die Interviews wurden fortlaufend nummeriert, sodass Zitate mit der entsprechenden Nummer des Interviews und der Seitenzahl in den transkribierten Gesprächen verortet werden können (Liste der Interviews vgl. Anhang 3).
6.1.2 Thematische Fokussierung auf ›Bewegung‹ In den Präambeln von Konzepten gesundheitsfördernder Maßnahmen wird häufig auf den vermeintlichen Befund der sich verschlechternden gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen verwiesen. In der vorliegenden Studie wird der Fokus der Analyse auf Maßnahmen und Diskussionen, die auf das Thema ›Bewegung‹ zielen, gelegt. Zur Erklärung zahlreicher neu auftretender Krankheitssymptome wird neben ›schlechter Ernährung‹ hauptsächlich ›Bewegungsmangel‹ angeführt, insbesondere als Ursache von Übergewicht und dessen extremer Form Adipositas. Die Datenlage ist bezüglich der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen allgemein nicht ganz so eindeutig, wie sie häufig dargestellt wird (vgl. Kap. 5), und Längsschnittvergleiche sind nicht oder nur unter Vorbehalt gewährleistet (vgl. Dür 2008: 20). Dennoch besteht – hier in Bezug auf Bewegung – die fast einhellige Übereinkunft, dass Handlungsbedarf da ist und die heutigen Kinder und Jugendlichen mit gesundheitsfördernden Maßnahmen zu aktivieren sind. »Und sie bewegen sich doch« – zu diesem Schluss gelangt Wilhelm Kleine (2003) in seiner Studie, in welcher knapp 400 Kinder und Jugendliche mithilfe von Protokollen in ihren Tagesaktivitäten beobachtet wurden. Ein genereller Bewegungsmangel im Alltag der Kinder konnte in dieser Studie nicht festgestellt werden. Vielmehr ist Bewegung nach wie vor die wichtigste Aktivität der Kinder überhaupt. Jürgen Kretschmer (2000, 2005) vergleicht in verschiedenen Studien bestehende Untersuchungen zur motorischen Leistungsfähigkeit sowie zur postulierten Verschlechterung derselben. Auch er zieht das Fazit, dass von einer generellen Leistungsverschlechterung nicht die Rede sein kann. Allenfalls zeigen sich Verschlechterungen in Teilleistungen, wobei in gewissen Bereichen auch Verbesserungen feststellbar seien. Trotz widersprüchlicher Ergebnisse wird in den Schlussfolgerungen der Untersuchungen die Hypothese einer verschlechterten motorischen Leistungsfähigkeit nicht gestützt (Kretschmer 2005: 46). Auch der vermeintliche Zusammenhang zwischen Medienkonsum, Fettleibigkeit und Aktivierungsgrad lässt sich empirisch nicht ohne Weiteres
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nachweisen. Entgegen der alltagstheoretischen Annahme ergeben sich hier keine eindeutigen Zusammenhänge (vgl. Bünemann 2005: 366). Messungen der Leistungsfähigkeit in Tests lassen den Schluss eines pauschalen Bewegungsmangels der heutigen Kindergeneration nicht zu. Ab wann sich Kinder zu wenig oder wann sie sich genügend bewegen, lässt sich nicht generell beantworten. Nach Funke-Wieneke (2004: 181-230) hat Bewegung eine weiterreichende und nicht lediglich physiologische Bedeutung. Sie erfüllt sowohl instrumentelle, soziale, symbolische als auch sensible Funktionen und trägt beispielsweise zur Bildung der Ich-Identität bei. So kritisiert auch Laging (2007) den Bewegungsbegriff als zu wenig umfassend, er weise kaum über motorische Fähigkeiten hinaus. Bewegung ist, wie Laging ausführt, jedoch mehr als motorische Leistungsfähigkeit; sie bedingt mehr als konditionelle (Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit) und koordinative Fähigkeiten. Bewegung ist, diesem Verständnis folgend, vielmehr eine mit Sinn belegte intentionale Handlung des Menschen. Sie »gehört wesensmäßig zum Menschen und ist ein fundamentales Medium der Vermittlung zwischen ihm und seiner Welt, zwischen Innen und Außen« (Ehni 1985: 35). Oder wie Trebels (2005: 160) formuliert: Sich-Bewegen ist sinnerschließendes Handeln im Alltag oder »Weltverstehen in Aktion«. Aus vermeintlichen motorischen Defiziten ein pädagogisches Programm zu entwickeln, ist vor dem dargelegten Begriffsverständnis gemäß den oben zitierten AutorInnen nicht sinnvoll. In der Fitnessdebatte, welche Sportunterricht als Therapeutikum sieht, wird, so führt Laging (2007: 84) aus, häufig von einem Menschenbild und Erziehungsverständnis ausgegangen, welches einerseits Kinder und Jugendliche eben nicht als Gestalter von Welt und andererseits Bewegung nicht als Handlung des Verstehens sieht. Eine Therapeutisierung und Überhöhung der Kompensationsfunktion der Schule ist gemäß Laging nicht angemessen. Eine Umorientierung des Sportunterrichts in Richtung Motorikschule erachtet er folglich als pädagogisch nicht sinnvoll. Kinder brauchen, dies seine Forderung, vielmehr formelle und informelle Räume in und außerhalb der Schule, die sie sich als aktive Gestalter von Welt bewegungsbezogen aneignen können. Auffallend ist, dass Defizitthesen wie ›Bewegungsmangel‹ oder auch ›übermäßiger Medienkonsum‹ als mögliche Ursache gesundheitlicher Probleme häufig mit kulturpessimistischen Deutungen einhergehen, indem sie mit belastenden Lebensumständen in Zusammenhang gebracht werden (z.B. Hurrelmann 1995). Schlagwörter wie Motorisierung, Mediatisierung, Verhäuslichung und Verbauung der Umwelt beschreiben allgemein »ungünstige Veränderungen in der Umwelt« und werden spekulativ zur Ursachenzuschreibung verwendet (vgl. Raczek 2002: 214). Diese Defizithypothesen prägen seit Mitte der 1980er Jahre generell die öffentliche Auseinandersetzung über Kindheiten (vgl. Hungerland 2008). Die Behauptungen in der Argumentation werden häufig kontrastiert mit diffusen Bildern der Kindheit, wie sie früher gewesen
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sein soll, ohne dass entsprechende Vergleichsdaten beigezogen werden (können). Insbesondere in der medialen Berichterstattung wird eine Zunahme von Störungen als evidente und allgemein bekannte Tatsache vorausgesetzt. Solche Steigerungsbehauptungen und kulturpessimistische Deutungen finden sich denn auch in subjektiven Theorien und Wahrnehmungen von Lehrpersonen wieder (Göpel et al. 1994). Ebenso umstritten wie der Tatbestand des angeblich herrschenden Bewegungsmangels, der sich in fehlender motorischer Leistungsfähigkeit der Kinder- und Jugendgeneration manifestieren soll, sind die skizzierten Maßnahmen zu dessen Behebung: Die Förderung leistungsschwacher Schüler durch Schulsport wird beispielsweise zwar häufig propagiert, jedoch ohne die Wirkungskraft von Schulsport oder die Zunahme von Funktionseinschränkungen empirisch nachgewiesen zu haben (vgl. Laging 2007). Offen ist auch, ob motorische Fähigkeiten wie Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit für die Funktionalität im heutigen Alltag und zur Förderung oder Erhaltung der Gesundheit tatsächlich gebraucht werden. Die Folgerungen der Studien zum Bewegungsmangel laufen dennoch in aller Regel auf die Forderung nach einer Intensivierung des Schulsports hinaus, auf die Integration von Fitnessbausteinen in den Schulalltag, mehr Sportunterricht oder zusätzliche Sportangebote in der Schule, und es wird eine trainingswissenschaftlichen Regeln folgende Unterrichtsgestaltung angestrebt. Darin zeigt sich die Dominanz eines naturwissenschaftlich-medizinischen Paradigmas, welches im Risikofaktorenmodell verhaftet ist: Bewegungsmangel ist in dieser Deutung ein Risikofaktor, der Mangel an physiologischen Reizen eine Gefährdung der körperlich-medizinischen Gesundheit (vgl. Laging 2007). Diese Defizithypothese einer scheinbar unbewegten Kindheit wird zwar von verschiedenen Autoren kritisch beurteilt (vgl. auch Thiele 1999), ist im Alltagsdiskurs jedoch kaum hinterfragt.
6.1.3 Feldbeschreibung: Zu den ausgewählten Schulen und befragten Lehrpersonen An fünf Primarschulen in der Stadt und im Kanton Bern wurden 27 Interviews mit Schulleitenden, KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung, d.h. Lehrpersonen mit einem besonderen Auftrag und i.d.R. einer spezifischen Ausbildung (vgl. Kapitel 5.3.3), sowie Lehrpersonen ohne Zusatzqualifikationen geführt und anschließend im Wortlaut transkribiert Die Beschränkung auf die Stufe Kindergarten bis 6. Klasse bedeutet, dass klassische Themen der Gesundheitsförderung respektive der Prävention wie Suchtprobleme noch nicht oder wenn, dann nur sehr am Rande, thematisiert worden sind. Hingegen steht das Thema der Bewegungsförderung im Zentrum – ebenso die Ernährung.
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Ausgewählt wurden vier städtische Schulen, die sich in der Zusammensetzung der sozialen Herkunftsmilieus der Kinder deutlich unterscheiden: Zwei Schulen weisen eine relativ homogene Zusammensetzung der SchülerInnenschaft bezüglich ihrer sozialen Herkunft auf; die eine Schule befindet sich in einem gutsituierten Stadtviertel (die Eltern sind mehrheitlich AkademikerInnen), die andere in einem Außenviertel (die Eltern haben mehrheitlich sogenannt bildungsferne Hintergründe, die Familien gehören zu tendenziell sozial niederen Schichten). Die zwei anderen Schulen verfügen über eine relativ ausgewogene Mischung bezüglich sozialer Herkunft und Migrationshintergrund. Zusätzlich wurde eine ländliche Schule untersucht, an der SchülerInnen bildungsnahe wie -ferne Hintergründe aufweisen, jedoch kaum über einen Migrationshintergrund verfügen. Das Sample der zu untersuchenden Schulen wurde so zusammengesetzt, dass möglichst unterschiedliche strukturelle Voraussetzungen bezüglich der Zusammensetzung der SchülerInnenschaft vorhanden und damit auch vergleich- und kontrastierbar sind. Vor dem Hintergrund von Befunden, welche die sozial ungleiche Verteilung von Gesundheitschancen aufzeigen (vgl. Kap. 3.1.5 und Kap. 5.2.2), müsste bei sozial nicht privilegierten Milieus der Handlungsbedarf bezüglich Gesundheitsförderung grösser sein oder sich anders äussern. Bei allen ausgewählten Schulen handelt es sich um sogenannte ›Netzwerkschulen‹, also Schulen, die Mitglieder des Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen sind. Sie machen Gesundheitsförderung explizit und gegen aussen sichtbar zum Thema, sie verfügen denn auch alle über eine Plakette wie die weiter oben abgebildete. Da sich an den etwa einstündigen Gesprächen ausschließlich Lehrpersonen beteiligten, die sich freiwillig gemeldet hatten, zeigten sich alle mehr oder weniger intrinsisch motiviert oder zumindest dem Thema nicht abgeneigt. Bedingt durch die Auswahl der InterviewpartnerInnen fehlen hier grundsätzlich kritische Stimmen. Dies ist auch ein Effekt der Art und Weise, wie die InterviewpartnerInnen rekrutiert wurden, nämlich via die Schulleitungen, die wiederum die KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung beauftragten, KollegInnen vorzuschlagen. Die Frage, ob es Lehrpersonen gibt, die gegen Gesundheitsförderung sind und diesen Teilauftrag verweigern, muss damit offen gelassen werden. Angesichts der dargelegten Vielschichtigkeit des Phänomens des ›Bewegungsmangels‹ und entsprechender Kontroversen in aktuellen Diskursen wird in der Analyse der Interviews der Fokus auf Bewegung gelegt. Auf Ernährungsfragen, deren Diskussion ebenso kontrovers wäre, wird lediglich am Rande eingegangen. Dies gilt nicht für die Interviewführung. Hier wurde die Relevanzsetzung den Lehrpersonen überlassen; sie führten aus, was für sie im Rahmen von Gesundheitsförderung sinn- und bedeutungsvoll ist.
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6.2 T ypus 1: A rbeitspsychologische D eutung – G esundheitsförderung als I nstrument zur S teigerung des L ernerfolgs 6.2.1 Karl Lüthi: Gesundheitsförderung zwischen öffentlichem Auftrag und persönlicher Mission Ein Auftrag von oben Nach einer kurzen Einleitung, in welcher das Forschungsprojekt umrissen und ein paar wenige biografische Daten erhoben worden sind, wird das Gespräch mit Karl Lüthi, einem Lehrer Mitte 50, der an einer 5./6. Klasse arbeitet, mit folgender Frage eröffnet: Dann nähme es mich einfach wunder, wieso oder wieso braucht es Gesundheitsförderung in Ihren Augen an der Schule u-, und, und wie, oder w- was ist (I 01, 1)
Die einleitende Frage enthält eine holprig und unvermittelt vorgetragene grundlegende Problematisierung von Gesundheitsförderung. Mit der ein wenig naiv klingenden Formulierung des »Wundernehmens«1 macht die Interviewerin den Gegenstand zu etwas tendenziell Mystischem, zumindest zu etwas Erklärungsbedürftigem. Zum einen fragt sie, weshalb es Gesundheitsförderung an der Schule braucht, und gleich anschließend hängt sie die noch grundlegendere Frage nach dem »Wie« an – womöglich, wie Gesundheitsförderung betrieben wird – und nach dem »Was« – wahrscheinlich, worum es überhaupt geht. Noch bevor sie ihre Frage vollständig gestellt hat, wird sie vom Gegenüber unterbrochen. Von Seiten des Interviewten besteht offenbar ein Drang, eine Antwort zu geben; er bedarf auch angesichts der grundlegenden Frage oder sogar Infragestellung keines langen Innehaltens. Woraus sich dieser Drang speist, ist noch offen, ebenso, wo der Interviewte mit seiner Antwort ansetzen wird: auf der Ebene der Legitimation, einer inhaltlichen Definition oder einer Auflistung von Maßnahmen – diese drei Optionen stellen mögliche Anschlüsse an die Frage dar. Ähm, anfangs mal ist es ein Auftrag, den wir haben//mhm//, also vom Lehrplan, ist ganz klar Gesundheitsförderung ein Auftrag, der uns, der uns vorgegeben ist, (I 01,2)
Lüthis Antwort bezieht sich auf die grundsätzliche Frage nach der Legitimation von Gesundheitsförderung. Er antwortet in pragmatischer Weise, dass 1 | Es handelt sich hierbei um eine schweizerdeutsche Form einer Interessensbekundung. Anstatt ›ich möchte wissen‹ wird häufig die Formulierung ›es nähme mich wunder‹ verwendet.
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es sich hierbei um einen im Lehrplan festgehaltenen Auftrag handle. Damit verortet er sich innerhalb eines institutionellen Rahmens und zwar als Ausführender. In diesem Verweis auf den Lehrplan, wo Gesundheitsförderung als »zusätzliche Aufgabe« auf zwei Seiten umschrieben ist (vgl. LP 952), zeigt sich eine Besonderheit der Profession von Lehrpersonen respektive der, nach Fritz Schütze, »Halbprofession«: Lehrpersonen sind einem staatlichen Auftrag unterstellt, was bezogen auf das Sozialwesen »Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen« bedeutet, die mit sich zwingend ergebenden Paradoxien einhergehen (Schütze 1996). Die Selbstdarstellung als ein staatlicher Beamter, dessen Handeln hoheitsstaatlich legitimiert ist und der in bürokratischer Manier den Vorschriften folgt, stellt somit eine Möglichkeit dar, Gesundheitsförderung zu legitimieren. In dieser ersten Deutung ist noch keine persönliche Affinität enthalten. Wer Gesundheitsförderung betreibt, erfüllt zuerst einmal einen von oben, von politischen Institutionen verordneten Auftrag. Die in der Frage suggerierte Besonderheit wird damit in Abrede gestellt, ebenso wird eine Problematisierung oder ein Infragestellen von Gesundheitsförderung hinfällig. Würde die Äußerung Lüthis nicht mit der Formulierung »anfangs« eingeleitet, was soviel heißt wie, ›zuerst einmal‹ sei es einfach ein Auftrag, könnte das Gespräch hier mit dem Verweis auf den Lehrplan abgeschlossen werden; die von der Interviewerin beabsichtigte Problematisierung wäre gescheitert. und dadurch dass die Stadt angefangen hat mit Teams, also Gesundheitsteams zu bilden, hat man das natürlich ein bisschen wie gebüschelt oder dem ein bisschen wie eine Struktur gegeben und ähm, geschaut, ja, was, was lässt sich denn da verwirklichen. (I 01,2)
Während beim Lehrplan der Kanton auftraggebende Instanz ist, taucht hier überraschend die Stadt als Auftraggeberin auf. Sie erscheint als verordnende Instanz, indem sie »Gesundheitsteams« einsetzt, womöglich eine Gruppe von ExpertInnen. Dies irritiert insofern, als im Lehrplan die Lehrpersonen direkt als ExpertInnen angesprochen sind. Bei den zusätzlichen Aufgaben, wie eben der Gesundheitsförderung, scheint dies offenbar nicht unbedingt der Fall zu sein, vergleichbar mit der Verkehrserziehung, welche explizit als Zusammenarbeit mit der Polizei beschrieben ist, oder auch mit der Sexualerziehung, wo häufig externe ExpertInnen beigezogen werden. Bei Gesundheitsförderung handelt es sich offenbar ebenfalls um einen besonderen Auftrag. 2 | Lehrplan 95 des Kantons Bern. URL: www.erz.be.ch/erz/de/index/kindergarten_volksschule/kindergarten_volksschule/informationen_fuereltern/lehrplaene/volksschule. assetref/dam/documents/ERZ/AKVB/de/03_Lehrplaene_Lehrmittel/lehrplaene_lehr mittel_vs_zusaetzliche_aufgaben_d.pdf (Stand 13.4.2013).
6. Deutungen der Lehrpersonen
Mit der Formulierung, man habe geschaut, was sich da verwirklichen lasse, deutet Lüthi auf einen Spielraum hin, innerhalb dessen die Mitglieder dieses Teams – ohne dass benannt wird, von wem hier die Rede ist – entscheiden oder zumindest mitentscheiden, was verwirklichbar ist und was nicht. Nicht klar wird, ob er diesem nicht weiter spezifizierten Team zugehörig ist oder nicht. In seiner Darstellung wird in diesen Gesundheitsteams von oben bestimmt, was Gesundheitsförderung an den Schulen ist und sein soll, möglicherweise auch, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Im Kontrast zur vermeintlichen Klarheit, dass Gesundheitsförderung ein Auftrag der Schule sei, steht die Folgerung aus Lüthis Aussage, dass es sich um etwas Unstrukturiertes handeln muss, etwas, das einer Ordnung, eines »Büschelns« bedarf. Der Gegenstand des Auftrags ist also nicht klar definiert und nicht einfach umsetzbar.
Wohlbefinden als Ziel von Gesundheitsförderung Die bis hierhin tendenziell bürokratischen Verweise, dass es sich um einen Auftrag handelt, der von Gesundheitsteams ausgearbeitet werden muss, verraten nichts über den Inhalt. Bislang beinhaltet die Äußerung auch noch keine persönliche Färbung: Lüthi, möglicherweise Mitglied in einem der städtischen Gesundheitsteams, legt nachfolgend eine Definition dar, die er als seine persönliche deklariert: Ähm, für mich ist gesundheitsfördernd auch etwas Umfassenderes als, als Zähneputzen und eh, nicht krank sein//mhm//, sondern für mich ist Gesundheitsförderung, hat sehr viel zu tun mit, ähm, mit Wohlbefinden in der Schule, mit gerne in die Schule kommen, mit Beziehung ähm, die Schüler untereinander, Schüler zu den Lehrpersonen, aber auch Lehrpersonen untereinander, auch Beziehung zu, zur Leitung und so, also das ist auch noch wichtig//mhm//. Also für mich hat Gesundheitsförderung ganz, ganz viel zu tun mit, wirklich mit einem, mit einem guten Schulklima (I 01,2)
In etwa dem Wortlaut der WHO-Definition folgend ist Gesundheitsförderung für ihn umfassender als nur Zähneputzen3 oder Nicht-krank-Sein. Spezifisch für die Formulierung aus der WHO-Deklaration, dass Gesundheitsförderung mehr ist als die »Abwesenheit von Krankheit« (vgl. Kap 3.2) ist, dass vorerst noch nicht benannt wird, was gemeint ist. Mit der Formulierung, dass Gesundheitsförderung mehr sei als das vielleicht Gemeinte, wird ein Raum ge3 | Dass Lüthi Zähneputzen als Beispiel erwähnt, von dem er seine Auffassung von Gesundheitsförderung sogleich abgrenzt, ist nicht zufällig. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts werden Schulkinder vom Schulzahnmedizinischen Dienst jährlich kontrolliert. Zusätzlich wurde ab den 1960er Jahren an den bernischen Schulen das obligatorische Zähneputzen mit Fluor eingeführt.
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öffnet, ohne Grenzen zu setzen, die inhaltliche wie auch die quantitative Bestimmung bleiben im Vagen. Anschließend beschreibt Lüthi, was Gesundheit für ihn ist: in der Schule Wohlbefinden herstellen, ein »gutes Schulklima« schaffen. Er möchte, dass alle gerne zur Schule kommen: Diese Vorstellung steht für ihn im Zentrum seiner gesundheitsfördernden Bemühungen. Gesundheitsförderung ist für ihn Beziehungsgestaltung der in der Schule Beschäftigten, inklusive der SchülerInnen. Als eine Lesart kann sein Bestreben, innerhalb der Institution Schule Wohlbefinden herzustellen, gelesen werden als Kontrapunkt zu einer auf Leistung und Selektion zielenden Ausrichtung oder überhaupt zu einer bürokratischen, nach rationalen Kriterien gestalteten Institution. Den Auftrag der Gesundheitsförderung wahrzunehmen bedeutet, die SchülerInnen nicht auf Leistungserbringende zu reduzieren, sondern sie als ganze Personen, die zur Schule kommen, wahrzunehmen. Die Aufmerksamkeit darauf zu richten, könnte heißen, die SchülerInnen vor den Anforderungen zu schützen, zu schonen, rationale und organisationale Aspekte der Institution bewusst in den Hintergrund zu stellen und soziale Aspekte hervorzuheben. Gesundheitsförderung legitimiert somit die von ihm als bedeutsam hervorgehobene soziale Dimension schulischer Interaktionen. Lüthi setzt sich, dies die eine Lesart, als Professioneller stellvertretend ein für die Gesundheit als ein soziales Gut und als Teil der Integrität der Lebenspraxis. Er stellt somit universalistische Prinzipien vor die formalen. Basierend auf einem so verstandenen anwaltschaftlichen Verständnis können im Rahmen des Auftrags der Gesundheitsförderung Beziehungen gepflegt werden. Ein dieser Auffassung zugrundeliegender Gesundheitsbegriff fokussiert vor allem die psychische Dimension. Seine Argumentation könnte aber auch, als eine zweite Lesart, diejenige eines Arbeits- und Organisationspsychologen sein. Dieser hat ein objektives Interesse, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass die Arbeitnehmenden möglichst motiviert sind, effizient arbeiten und gesund bleiben. Gegenstand von Arbeits- und Organisationspsychologen ist »das Erleben und Verhalten von Menschen am Arbeitsplatz und in der Zusammenarbeit mit anderen Personen«4, sie richten ihr Interesse somit ebenfalls auf Personen und soziale Interaktionen. Gesundheitsförderung in Betrieben wird jedoch nicht um der einzelnen Menschen willen betrieben, dahinter stehen (immer auch) die Interessen der Firma: Arbeits- und Organisationspsychologen sind beauftragt, mit gesundheitsfördernden Maßnahmen Gewinn- und Leistungsmaximierung zu verfolgen. Zu den Rahmenbedingungen eines Arbeitspsychologen gehören ge4 | Gemäß der Darstellung des Bereichs Arbeits- und Organisationspsychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich. URL: www.psychologie.uzh.ch/fach richtungen/aopsy.html (21.2.2014).
6. Deutungen der Lehrpersonen
steuerte Arbeitsbedingungen, eine hierarchische Struktur sowie (gegenseitig) kündbare Arbeitsplätze. Gesundheitsförderung im Verständnis von Lüthi zielt auf eine Schule, an welcher die Beziehungen wohlgestaltet sind. Dabei ist unklar, ob er hierbei tendenziell eher in einem pädagogisch-psychologischen Sinne argumentiert oder einer arbeits- und organisationspsychologischen Logik folgt. Unbesehen davon öffnen sich in Bezug auf das Ziel, umfassendes Wohlbefinden zu schaffen, verschiedene Widersprüche. Dem auch aus pädagogischer Sicht sinnvollen Ziel, den SchülerInnen zu Wohlbefinden zu verhelfen, steht der Aspekt entgegen, dass es sich beim Ort des Aufenthalts um eine Schule, eine staatliche Bildungsinstitution mit Selektions- und Leistungsfunktion handelt, was in Widerspruch stehen kann zum angestrebten Ziel, das Wohlbefinden zu fördern. So verursacht insbesondere der Selektionsauftrag der Schule nicht selten Kränkungen und subjektives Leiden (vgl. Streckeisen et al. 2007: 52). Ebenso problematisch ist der Umstand, dass an der Institution Schule Schulpflicht und somit ein unkündbares Verhältnis bestehen. Kinder werden durch administrative Vorgänge ohne Wahlmöglichkeiten in Gruppen ein- und Lehrpersonen zugeteilt. Insbesondere bezüglich der dort zustande kommenden Beziehungen befinden sie sich in einer Zwangsgemeinschaft. Dies stellt eine kontingente Rahmenbedingung dar zum Anspruch, Wohlbefinden herstellen zu wollen. Ganz grundsätzlich sind dem Bestreben eines Arbeits- und Betriebspsychologen Grenzen gesetzt: Zwar kann er versuchen, auf die eigenen MitarbeiterInnen einzuwirken; ob sich Wohlbefinden einstellt, bleibt letztlich den Individuen überlassen. Ob ein Angestellter motiviert oder nicht, gut oder schlecht gelaunt zur Arbeit kommt, ist letztlich nicht Sache des Betriebspsychologen und auch nicht der Betriebsleitung. Vorausgesetzt, die arbeitsvertraglichen Bedingungen werden eingehalten, gehört die persönliche Befindlichkeit in den privaten Bereich. Die Fragen der Entscheidungsfreiheit wie auch der Instrumentalisierung von Wohlbefinden stellen sich angesichts der unkündbaren Schulpflicht und der noch nicht ausgebildeten Autonomie von Heranwachsenden im Rahmen der Schule in verschärfter Weise. Offen ist bis hier, mit welchen Maßnahmen das angestrebte Wohlbefinden hergestellt werden soll und ob sich die Interventionen direkt auf die Gestaltung der Beziehungen und die subjektive Befindlichkeit richten oder auch strukturelle Bedingungen miteinbeziehen. Die oben skizzierten Strukturierungsgesetzlichkeiten innerhalb der Institution Schule stellen einen problematischen Rahmen dar, um Wohlbefinden herstellen zu wollen; sie bergen die Gefahr, Lehrpersonen und SchülerInnen zu funktionalisieren. Die Beziehungsgestaltung an Schulen ist an und für sich nicht frei, durch das Diktat allgemeinen Wohlbefindens kann sie noch unfreier werden. Auch wenn Wohlbefinden posi-
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tiv auf Lernleistungen wirken mag, kann dessen Herstellung als strategisches Schaffen von Wohlbefinden technokratische Züge tragen. Ich denke, das ist eines von den, von den we-, wesentlichsten Themen, dass es einem wirklich, ein, gelingt, ein, ein gutes k-, Klima zu schaffen, damit, dass alle gerne kommen//mhm//. (I 01,2)
Ob die SchülerInnen wie auch die LehrerInnen gerne kommen oder nicht, bleibt letztlich ihnen überlassen. Einzig dass sie zur Schule kommen, ist ihre Pflicht. Das Bestreben, ein »gutes Klima« zu schaffen, wie auch die Devise, »[…] dass alle Kinder gerne kommen« – so erstrebenswert dieses Ziel aus pädagogischer Sicht auch sein mag –, können etwas Entmündigendes beinhalten. Fraglich ist hier insbesondere, wie das Ziel erreicht werden will und worauf sich die Bestrebung, »ein gutes Klima zu schaffen«, richtet. Es ist unklar, ob an den Beziehungen und Einstellungen der SchülerInnen gearbeitet wird, oder ob mit dem, was in der Schule Sache ist, dort gemacht wird oder gemacht werden muss, die Motivation zu steigern versucht wird. Und ich denke, dann ist schon ganz viel v-, ähm, sind schon ganz viele Voraussetzungen geschaffen, dass man nachher auch Lernerfolg hat//mhm//. Wenn die Lehrer nicht gerne arbeiten kommen und die Kinder nicht gerne kommen, also dann wird es einfach// mhm//ein ›Murks‹//mhm//. (I 01,2)
Hier scheint sich abzuzeichnen, dass Gesundheitsförderung im Verständnis von Lüthi einer arbeits- und betriebspsychologischen Logik folgt: Gesundheitsförderung wird nicht um des Wohlbefindens an sich betrieben, sondern dient der Sicherung oder Steigerung des Lernerfolgs. Es geht also nicht nur um Lernprozesse, sondern um die Erzielung von Lernerfolg, der anhand von Kriterien gemessen werden kann. Als eine dritte Lesart wäre auch denkbar, dass er zur Legitimation seines eigentlichen Anliegens, nämlich Wohlbefinden herzustellen, den positiven Effekt auf den Lernerfolg hervorhebt. Es eröffnet sich hier eine für das pädagogische Handlungsfeld typische Antinomie: So wie ein gutes Klima pädagogisch und auch arbeits- und lernpsychologisch legitimierbar ist, können gesundheitsfördernde Maßnahmen auch als instrumentalisierender Zugriff zur Steigerung der Lernleistung gedeutet werden. Pointiert formuliert kann eine solche Bestrebung Gefahr laufen, im stählernen Gehäuse staatlicher Bildungsinstitutionen totalitäre Züge anzunehmen. Im Dienst des Lernerfolgs kann eine Kollektivierung legitimiert werden, zwecks von oben verordneter ›Klimaverbesserung‹ sind individuelle Bedürfnisse unter die kollektiven zu subsumieren. Eine solche Haltung braucht der interviewten Lehrperson nicht unterstellt zu werden, aber sie stellt
6. Deutungen der Lehrpersonen
in zugespitzter Weise dar, was sich in letzter Konsequenz abbilden lässt, wenn Wohlbefinden Voraussetzung von Lernerfolg sein muss. Gesundheitsförderung erscheint hier – dies die zugespitzte Hypothese – nicht primär ausgerichtet auf subjektiv fühlbares Wohlbefinden, sondern sie ist ein Instrument, um besseren Lernerfolg herzustellen. Zu bedenken ist an dieser Stelle, dass eine Steuerung von Sozialverhalten und von Beziehungen nicht wirklich möglich ist: Provoziert werden vielmehr Anpassungsleistungen, und authentisches Sein wird verunmöglicht (vgl. Burkhart 2006). Invasive Techniken, welche Wohlbefinden herstellen möchten, stellen zudem einen Eingriff in die persönliche Lebensführung dar. Technokratische Ansprüche in pädagogischen Handlungsfeldern stehen in einem Spannungsverhältnis zur Autonomie der Subjekte und dem pädagogischen Ziel ihrer Förderung. Ob sich diese sehr stark zugespitzte Lesart bestätigen wird, soll in den nachfolgenden Sequenzen überprüft werden.
Systemimmanente und entwicklungsbedingte Störungen des Wohlbefindens Im folgenden Abschnitt beschreibt Lüthi gestaltsicher, wie der Anspruch auf Wohlbefinden an verschiedenen Spannungsverhältnissen zu zerbrechen droht. Auf die etwas suggestive Nachfrage hin bestätigt er, dass der Selektionsauftrag der Schule Druck erzeugt und das Wohlbefinden nicht eben fördert, insbesondere auf der Stufe, die er unterrichtet: Also die 5./6. hat natürlich, denke ich, verschiedene, verschiedene Themen, also das eine ist, ist sicher die Selektion//mhm//, die da Druck macht, vor allem den Eltern, den Kindern ein bisschen weniger, also den Kindern auch natürlich, aber eh, das ist das eine (I 01,2)
Druck, so seine Einschätzung, entsteht auf dieser Stufe, auf welcher Selektionsentscheidungen getroffen werden, vor allem für die Eltern, weniger bei den Kindern. An einer späteren Stelle des Interviews meint er zur Selektion, dass er es eigentlich nicht »schön« finde, diese machen zu müssen (I 01, 13). Zugleich scheint er sich innerlich damit abgefunden zu haben, dass sie Teil des schulischen Auftrags ist. Mit dem eingeschobenen »eigentlich« deutet er an, dass er sie durchaus als hinderlich erachtet für das angestrebte Ziel, Wohlbefinden herzustellen. Aber liegt bei uns in der Gesell-, unsere Gesellschaft tickt anders//äh, ja//(lacht). Oder also Selektion will//ja//man halt einfach, ›ämu‹ [jedenfalls] die Starken. (I 01,2)
Hierin zeigt sich eine gegenüber den herrschenden Verhältnissen kritische Einstellung, ein Bewusstsein der Widersprüche, die zugleich als gegebene
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Rahmenbedingungen akzeptiert werden und akzeptiert werden müssen. Es scheint sich hier ein Ringen um das Arbeitsbündnis abzuzeichnen, damit einhergehend eine kritische Haltung gegenüber den Effekten von schulischer Selektion, welche jedoch aus pragmatischen Gründen aufgegeben wird. Letztlich wird Selektion als Platzanweisung und als Teil gesellschaftlicher Realität akzeptiert und damit auch die damit einhergehende Reproduktion sozialer Ungleichheiten durch die Schule (Streckeisen et al. 2007). Was der Wunschvorstellung, dass alle gerne zur Schule kommen, außerdem entgegensteht und aus seiner Sicht sogar das vordringlichere Thema erweist, ist etwas ganz anderes: und nachher was, was ich das Gefühl habe, dass in der 5./6. nachher halt einfach ein Thema ist, sind wirklich de-, der Anfang von der Pubertät//mhm//.(I 01,2)
Die Pubertät bzw. ihr Anfang wird für ihn auf der Schulstufe, auf der er unterrichtet, zu einem vordringlichen Thema. Diese spezifische Lebensphase der jugendlichen Schülerinnen lässt sich, so seine Vermutung, nicht ohne Weiteres mit dem Anspruch auf Wohlbefinden vereinen. Die Pubertät als Phase des biografischen Umbruchs beeinträchtigt das von ihm angestrebte Ideal eines guten Schulklimas. Gemäß seiner Relevanzsetzung scheint auf der Stufe der 5./6. Klasse die Pubertät das angestrebte Wohlbefinden mehr zu beeinträchtigen als der Selektionsdruck; darauf deutet hin, dass er das Thema von sich aus anspricht und seine diesbezüglichen Schilderungen viel ausführlicher ausfallen. Aber das ist schon, also das merkt man schon, dass dann, vor allem die Mädchen, ähm, sehr in einer Umbruchphase sind//mhm//. Und das macht es, denke ich manchmal, für sie auch noch ein bisschen ähm, schwieriger in die Schule zu kommen, weil es halt dann je nach dem an welchem Platz sie gerade sind. Aber für mich selber ist, ist es nachher im Unterricht schon wichtig, dass, dass ich probiere auch das im Unterricht umzusetzen, so, so ein gutes Klima zu haben//mhm//.(I 01,2)
Die beobachteten und sorgfältig beschriebenen Spannungen stehen seinem Ziel entgegen, in der Schule Wohlbefinden zu schaffen. Dabei hätten es insbesondere Mädchen in der Pubertät schwierig, für sie ist es, so die Vermutung von Lüthi, schwieriger, zur Schule zu kommen, sich wohl zu fühlen, je nachdem, an welchem »Platz« sie sind. Damit meint er wahrscheinlich nicht die Sitzordnung im Klassenzimmer, sondern möglicherweise die soziale Rangordnung. Aus pädagogischer Sicht eröffnet sich hier erneut ein Spannungsfeld: Zum einen handelt es sich bei der Pubertät um eine wichtige Phase für die Entwicklung. Krisen als Bestandteil von individueller Entwicklung müssten irgendwo
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Platz haben. Sie sind aber zugleich schwer zu vereinbaren mit der schulischen Ordnung, insbesondere mit klassischen Formen des Unterrichtens, und stehen einem planvollen Durchlaufen von Lernprozessen im Weg. Eine pädagogische Konsequenz könnte sein, den Krisen einen gewissen Platz einzuräumen, sie nicht ganz zu neutralisieren. Dies steht jedoch einer strengen Befolgung des Lehrplans entgegen, der wenig Raum lässt für persönliche Krisen. Im Folgenden interessiert, welche Maßnahmen oder Strategien angesichts dieser krisenhaften Momente zur Anwendung gelangen. Wohlbefinden herzustellen, so die Ausführungen von Lüthi, steht im Widerspruch zu schulischen Strukturen und Ordnungen. Die Bestrebung stösst jedoch auch auf entwicklungsbedingte Widerstände, bedingt durch die während der Pubertät auftretenden Krisen, die einem guten Klima in der Klasse, aber auch dem individuellen Wohlbefinden entgegenstehen können. Gegenüber systemischen Zwängen wie der Selektion, welche das Wohlbefinden beeinträchtigen, sieht er keinen Handlungsspielraum. Hingegen sieht er Möglichkeiten, im Bereich des persönlichen Wohlbefindens intervenieren und das Schulklima verbessern zu können.
Bewegung als Methode zur Herstellung eines guten Schulklimas und zur Steigerung der Motivation Unmittelbar anschließend an die Schilderung der Umbruchsphase, in der sich gemäß seinen Beobachtungen insbesondere die Mädchen befinden, legt er in der folgenden Passage seine Maßnahmen dar: Wir haben äh, wir bezeichnen uns ja noch als eine ›bewegte Schule‹, (I 01,2)
Interessant ist seine Äußerung, sie würden sich als eine »bewegte Schule« »bezeichnen«. Diese Distanzierung deutet darauf hin, dass es sich um eine gegen außen sichtbare Bezeichnung, um ein Label handelt, das aber nicht zwangsläufig gleichgesetzt werden kann mit dem, was innerhalb der Schule tatsächlich passiert. Was eine »bewegte Schule« ist, erschließt sich nur Eingeweihten. Irritierend ist die direkte Verbindung eines adjektivisch verwendeten Verbs mit einer Institution, ähnlich wie die ›gesunde Schule‹ (vgl. Kapitel 5.1.1). Bewegung kann zudem ganz unterschiedliche Bedeutungshorizonte aufspannen: Zum einen kann der Begriff eine politisch-historische Konnotation haben, wie dann, wenn beispielsweise Städte als ›bewegte Städte‹ bezeichnet werden, weil sie entweder eine politisch häufig links geprägte Geschichte haben oder in bestimmten Zeitepochen einem großen Wandel ausgesetzt waren. Eine »bewegte Schule« könnte dementsprechend eine politisch ausgerichtete oder aktive Institution sein. Oder aber es handelt sich bei ›Bewegung‹ um eine ganz andere, eine emotional-motivationale Ebene, wo ein Ereignis bewegen oder etwas auslösen kann. Eine solche Schule, konkret die sich dort aufhalten-
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den Menschen, befinden sich in einem emotional angeregten Zustand. Bewegung kann aber schließlich auch im physischen Sinne gemeint sein, im Sinne einer zu physischer Bewegung veranlassenden oder diese ermöglichenden Bildungsstätte; alle, die sich in der Schule aufhalten, sind in Bewegung. Fraglich und nicht absehbar ist, woher die Energie stammt, zumal etwas, das sich in Bewegung befindet, passiv, von außen bewegt worden sein oder sich aus sich heraus bewegt haben kann: Liegt das bewegende Ereignis außerhalb der Schule und ist ihr Zustand ein passiver, rezeptiver, oder findet sich der Auslöser innerhalb der Schule? Diese Frage bleibt ebenso offen wie jene, wer die Bewegung ausgelöst hat, auf welcher Ebene was bewegt wird und welche Qualität die Bewegung hat.
E xkurs zur ›Bewegten Schule‹ In schulische Gesundheitsförderung ›Eingeweihte‹ erkennen im Begriff ›Bewegte Schule‹ ein Programm, das gesamtschweizerisch vom Bundesamt für Sport (BASPO) seit den 1990er Jahren an zahlreichen Schulen durchgeführt wird. Es handelt sich um »verschiedene Ideen für Schulkonzepte, welche Bewegung in die Schule bringen sollen und eine ganzheitliche schulische Bildung fordern« (BASPO undat.: 5). Teil der Maßnahmen ist das Bewegungsförderungsprogramm ›schule.bewegt‹5, an dem einzelne Schulen teilnehmen können. Hier nun erscheint die Schule als Akteurin, wohingegen sie im Programm ›Bewegte Schule‹ als Ziel gesundheitsfördernder Maßnahmen erscheint. Voraussetzung zur Teilnahme am Programm ›schule.bewegt‹ ist, dass in sämtlichen Klassen sich die SchülerInnen zusätzlich zum Sportunterricht täglich mindestens 20 Minuten bewegen. Die an diesem Programm teilnehmenden Schulen werden mit didaktischen Unterlagen und Ideen regelmäßig ›versorgt‹. Begründet wird das Programm, welches sich gegen die sogenannte ›Sitzschule‹ richtet, lerntheoretisch und medizinisch-gesundheitswissenschaftlich; es werden auch schulprogrammatische Begründungsmuster angeführt im Sinne eines Beitrags zum guten Schulklima. In der Broschüre, welche sich an Lehrpersonen richtet, umschreibt das BASPO sein Programm folgendermaßen: »Kinder und Jugendliche sollen in der Schule täglich die Möglichkeit erhalten, sich im Rahmen von regelmäßigen Sport- und Bewegungsangeboten vielseitig zu bewegen. Die Bewegte Schule motiviert Kinder zu einem bewegten Lebensstil und lebenslangem Sporttreiben. Indem die Bewegte Schule das Lernen und Lehren mit Bewegung beglei-
5 | ›schule.bewegt‹ ist ein Bewegungsförderungsprogramm des Bundesamts für Sport. BASPO (undat.). URL: www.schulebewegt.ch (Stand: 23.3.2014).
6. Deutungen der Lehrpersonen tet, trägt sie zum Gelingen des Schulalltags bei, vermittelt die Inhalte der Bewegungsförderung differenziert und bietet den notwendigen Raum für Bewegung.« 6
Die hier formulierten Ansprüche sind auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu verorten: Erstens werden die Schulen aufgefordert, den SchülerInnen Angebote zu machen, sich innerhalb des Schulalltags regelmäßig bewegen zu können. Die Lehrpersonen sind aufgefordert, Angebote zu schaffen, von denen Kinder und Jugendliche Gebrauch machen können oder auch nicht – so jedenfalls der Wortlaut im Programm. Die SchülerInnen sollen sich jedoch nicht nur in der Schule bewegen können, die Absicht reicht weiter; die Kinder sollen zweitens angeregt werden, sich in der alltäglichen Lebensführung mehr zu bewegen und ›ein Leben lang‹ Sport zu treiben. Und drittens soll sich die Bewegung auf den gesamten Schulalltag erstrecken, Lernen und Lehren sollen von Bewegung begleitet werden. Bewegungsmainstreaming bis in die private Lebensführung hinein wäre somit das Ziel. Der Begriff der »Bewegten Schule« 7 wird (zumindest in der Schweiz) häufig auf den Sportpädagogen Urs Illi zurückgeführt. In den 1980er Jahren veröffentlichte er Fachbeiträge zu diesem Thema. Seine Konzeption einer bewegten Schule setzte sich zusammen aus einzelnen Aspekten wie: bewegtes Lernen, bewegtes Sitzen, bewegliches Schulmobiliar, allgemein eine bewegungsfreundliche Schulzimmereinrichtung, mentale Entspannung sowie die Schaffung von Bewegungsangeboten in den Unterrichtspausen. Insbesondere die »Bewegungspause« geht auf Illi zurück: Die SchülerInnen sollen die Möglichkeit erhalten, entsprechend ihren Bedürfnissen Pausen einzulegen, um anschließend wieder konzentrierter weiterarbeiten zu können (Illi, Pühse 1997: 48). In der Frage, ob solche Pausen in Eigenverantwortung oder durch die Lehrperson veranlasst werden sollen, spricht sich beispielsweise Ehni (1997: 103) dafür aus, dass solche Pausen individuell und keinesfalls »verpädagogisiert« erfolgen sollen. Umgekehrt macht sich beispielsweise der ebenfalls Bewegungspausen befürwortende Müller (1997: 24f.) für eine Inszenierung und Rhythmisierung durch die Lehrperson stark. Die Forderung von Illi und auch von Ehni nach selbstbestimmten Pausen würde konsequenterweise auch andere didaktische Neugestaltungen des Lernprozesses nach sich ziehen, die auf eine Öffnung des Unterrichts hinauslaufen (Klupsch-Sahlmann 1995). 6 | BASPO, Broschüre zum Programm ›Bewegte Schule‹. URL: www.baspo.admin. ch/internet/baspo/de/home/themen/foerderung/spor t _schule/bewegte_schule. html (Stand: 14.3.2013). 7 | Der Begriff ›Bewegte Schule‹ erscheint ebenfalls im Veranstaltungskalender des Instituts für Weiterbildung der PH Bern, wie es auch in Deutschland und Österreich entsprechend benannte Programme und Publikationen gibt.
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Lüthi erläutert den nicht selbstverständlichen Begriff der »Bewegten Schule« von sich aus folgendermaßen: das heißt wir sind//mhm//eine Schule, die, ähm ... probiert sehr viel Bewegung in den Unterricht einzubringen, also bewegte Pausen und bewegtes Lernen, das unten anfängt vom Kindergarten, wo wir nachher probieren raufzuziehen bis in die Sechste//mhm//. (I 01,2)
Jetzt wird deutlich, dass Lüthis vorige scheinbare Distanzierung von einer Schule, die sich als bewegte »bezeichnet« und es vielleicht nicht einfach ist, nicht grundsätzlicher Natur ist. Die Schule sei bestrebt und »probiere«, möglichst viel Bewegung in den Unterricht einzubringen. Dabei handelt es sich somit vielmehr, so kann vermutet werden, um ein auch von Lüthi hochgehaltenes Ideal, welches auf Widerstände trifft und aus seiner Sicht nicht ohne Weiteres oder nicht zu seiner Zufriedenheit umsetzbar scheint. Der Fokus der spezifischen Umsetzung an ›seiner‹ Schule richtet sich auf den Unterricht: Dort soll mehr Bewegung eingebracht werden. Indirekt kann aus dieser Schilderung geschlossen werden, dass seine implizite Vorstellung von Unterricht eine tendenziell immobile, mit wenig Bewegung verbundene ist. Dem soll entgegengewirkt werden. Ein möglicher Widerstand gegen die Einführung von Bewegung kann somit auch in der dominanten Vorstellung von Unterricht liegen, während dem die SchülerInnen die vorgegebenen 45 Minuten sitzend verbringen. Zur Erläuterung, wie Bewegung eingebracht werden soll, führt Lüthi zwei Begriffe ein: »Bewegte Pausen« und »bewegtes Lernen«. Das sind die beiden Mittel, mit denen sich die Lehrpersonen dem Ziel einer »Bewegten Schule« annähern wollen. Bei den »bewegten Pausen« handelt es sich – so kann aus der Absicht, diese in den Unterricht zu integrieren, gefolgert werden – um eingeschobene Unterbrüche der Lektion. Es geht nicht um Pausen im Sinne von Leerstellen, wie die stummen Unterbrüche in der Musik oder ehemals die Sendepausen bei Radio und Fernsehen. Diese ›leeren‹ Pausen dienen der Erholung; man kann sich ausruhen, Atem holen, wieder Energie schöpfen, um danach weiterfahren zu können. »Bewegte Pausen« hingegen sind aktivierte Unterbrüche; es geht darum, sich in einer begrenzten Zeitspanne zu bewegen. Sie stellen Unterbrüche des Unterrichts dar, zu dem sie in einem Gegensatz stehen; sie bringen gezielt Bewegung hervor und sind keine Pausen, in denen nichts stattfindet. Insofern erhält eine solche Pause eine andere Bedeutung als ein Untätigsein, eine Ruhepause; sie stellt im Gegensatz zum Vorher und Nachher eine aktive Zwischenphase dar und ist nur insofern eine Pause, als der Unterricht, möglicherweise das Lernen, unterbrochen wird und somit eine Lernpause eingeschaltet wird.
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Der zweite Begriff »bewegtes Lernen« zielt auf den Kernprozess des Unterrichts, der demgemäß auch in Bewegung stattfinden soll. Ob damit Bewegung physischer Art oder ob Lernen in Verbindung mit emotionaler Beteiligung gemeint ist, ist damit nicht erklärt. Gesagt ist bis dahin einzig, dass Bewegung während des Unterrichts und während des Lernens stattfindet, was wiederum bewegte Pausen hinfällig machen würde. Wo ich denke, wo nebst allen ähm, hirnförderlichen Maßnahmen auch ganz viel äh, bringt für, für ein gut-, für ein gutes Klima, um eine gute Atmosphäre zu schaffen//mhm//. Wo, wo ich denke, wo, wo mithilft, dass die Kinder auch gerne kommen//mhm//, und das probieren wir umzusetzen i-, im, im, im Alltag, ja mit ganz vielen Sachen. (I 01,2-3)
Legitimation für die Programmatik einer »Bewegten Schule« findet Lüthi bei neurobiologischen Theorien – ein in pädagogischen Zusammenhängen aktuell häufig verwendetes Argumentationsmuster. Lüthi kreiert hier mit den »hirnförderlichen Maßnahmen« ein eigenes Wort, als gälte es, direkt das Hirn der SchülerInnen zu fördern. Dies kann, wiederum sehr zugespitzt, als ein technokratischer Zugriff auf komplexe Prozesse wie das Lernen gelesen werden oder als ungelenke Bezugnahme auf eine nicht vertraute Sprache einer fremden Wissenschaft. Bewegung im Unterricht und in Pausen trägt, so Lüthi weiter, zum Wohlbefinden, zu einer »guten Atmosphäre« bei, dazu, dass die Kinder gerne zur Schule kommen. Bewegung wird somit Mittel zum Zweck, sie fördert das Lernen und soll letztlich dazu beitragen, dass die Kinder lieber oder gerne zur Schule kommen. In Bezug auf die vorangehende Schilderung, hilft sie möglicherweise auch, die Pubertätskrisen der Mädchen in Schach zu halten oder zu überbrücken. Der vermutete tendenziell technokratische Zugriff auf Bewegung als Teilbereich von Gesundheitsförderung findet in folgender Aussage erstmals eine deutliche Bestätigung: ›Bewegte Schule‹ hilft schon auch, auch wirklich das Lernen zu verbessern (I 01, 3)
Das von ihm zitierte und wohl auch portierte Programm ist Mittel zum Zweck, es verbessert den ›Outcome‹, ohne dass Lüthi diesen Begriff verwenden würde. In einer »Bewegten Schule«, so seine Überzeugung, wird besser gelernt. Das Lernen zu verbessern, ist somit auch eine erklärte Zielgrösse seiner gesundheitsfördernden Bestrebungen. wir machen das, dass man, dass man den no-, normalen Unterricht unterbricht und nachher ähm, tut jonglieren, bei uns fangen sie in der ersten Klasse an, üben mit Jonglieren//mhm//und bei mir können sie es in der Regel dann, fast, fast alle. Ähm, oder,
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Im Namen der Gesundheit oder so Maßage machen, also, oder sonst Überkreuzbewegungen mit, mit so re-, ähm, Reihenlernen, nein gut, das ist, oder auch mit sp-, mit Verschen aufsagen, das ist das Eine, das ist, sind bewegte Pausen und das Andere ist, dass wir ähm, probieren, auch Sequenzen zu haben, wo sie in der Bewegung lernen//mhm//. (I 01, 3)
Lüthi erläutert noch anschaulicher, wie man sich eine »Bewegte Schule« vorzustellen hat. Er greift erneut auf die beiden Begriffe »bewegte Pausen« und »bewegtes Lernen« zurück. Bei ersteren handelt es sich um Unterrichtsunterbrüche, während denen die SchülerInnen beispielsweise jonglieren, sich gegenseitig massieren oder sogenannte »Überkreuzbewegungen« machen, kombiniert mit dem Aufsagen von Versen. Solche Pausen unterbrechen den »normalen Unterricht« – hier scheint nun explizit eine pädagogisch-didaktische Frage auf, nämlich jene nach dem Verständnis von »normalem Unterricht«. Darunter fällt offenbar Unterricht, welcher an sich wenig Bewegung ermöglicht und deshalb nach »bewegten Pausen«, nach Auflockerungen verlangt. Die Pausen sind nicht als Freiräume gedacht, die autonom gestaltet werden; es handelt sich um angeleitete Bewegungssequenzen, welche im Hinblick auf den »normalen Unterricht« als Unterbrüche erscheinen und sich durch Aktivität auszeichnen. Die darin stattfindende Bewegung wird als ein klassenübergreifendes Programm von der ersten bis in die sechste Klasse aufgebaut und in den Unterricht integriert: Die SchülerInnen lernen, aktive Pausen zu machen. Die bewegten Unterrichtsunterbrüche unterscheidet Lüthi von »in der Bewegung lernen«. Dieses ermöglicht er, wie er an späterer Stelle ausführt, beispielsweise mit einem Balken: Die SchülerInnen lesen, vor- und rückwärts balancierend, einen Text, der an die Wand geheftet ist. Diese Übung dient zugleich als Lese- wie auch als Gleichgewichtstraining. Und letzteres soll ersteres positiv beeinflussen. Blitzrechnen wird auf der »Bärenrolle« geübt, einem Brett, das auf einer Röhre liegt und auf dem balanciert werden muss, oder auf einem »Therapiekreisel«. Es zeigt sich hier, dass Lüthi Bewegung vor einer didaktisch-pädagogischen Hintergrundfolie als Mittel versteht, Lernprozesse positiv zu beeinflussen. Sowohl »bewegtes Lernen« als auch »bewegte Pausen« sind letztlich mit der Zielvorstellung verbunden, den Lernerfolg zu steigern und Lernprozesse zu unterstützen. Und eben, das eine ist wirklich für das Klima, aber das Andere ist auch, dass wir glauben, dass, dass Bewegung die Konzentration fördert, dass Bewegung hilft beim Lernen, dass es besser vernetzt wird//ja//und das die Hi-, ja alles so, d-, d-, äh, beide Hirnseiten halt besser vernetzt werden//ja//. (I 01, 3)
Hier listet Lüthi nochmals die unterschiedlichen Begründungen auf, die für eine »Bewegte Schule« sprechen. Bewegungspausen verbessern, so das Credo,
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einerseits das Klima und dienen andererseits der Steigerung des Lernerfolgs. Dazu verweist er erneut auf angebliche Befunde aus der Hirnforschung. Interessant ist, dass er das Bekenntnis zur Bewegung als Glaubenssatz formuliert und erst anschließend einen Bezug zu den Neurowissenschaften herstellt, als wäre dies ebenfalls eine Frage des Glaubens oder würde den eigenen Glauben bekräftigen. Dass er unter Lernerfolg nicht einfach gute Schulleistungen versteht, sondern auch die Qualität der Lernprozesse mit einschließt, wird nachfolgend deutlich: Aber dann denke ich auch gerade durch das, dass wir eben sehr viel im, im Bereich Bewegung machen, ähm, probieren wir dem ja auch entgegenzuwirken, dass die Kinder nicht nur den Kopf füllen, sondern dass es wirklich ein ganzheitliches, möglichst ein ganzheitliches Lernen ist//ja, mhm//. Und dass sie, ja, dass sie gerne in die Schule kommen//ja//. (I 01, 3)
Beim Wort »Ganzheit« handelt es sich gemäß Gadamer (1993) um eine sehr junge Wortbildung, welche in den Lexika des 19. Jahrhunderts nicht auffindbar ist. Voraussetzung für den Begriff war, so seine These, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, insbesondere der Medizin, so »dass man sich in dem Labyrinth der Spezialisierungen wie verirrt vorkommen konnte und die Orientierung im ganzen vermisste« (ebd. 1993: 136). Ganzheit beschreibt er als einen kunstvollen, durch den Gegenbegriff der Spezialisierung und im unaufhaltsamen Zug der modernen Wissenschaft und all ihrer Verfahren notwendig gewordenen Begriff. Er findet insbesondere im pädagogischen Feld Verwendung. Mit »ganzheitlichem Lernen« werden häufig Forderungen aus der Reformpädagogik verbunden, in Abgrenzung zum Lernen im gemäß Lüthi »normalen Unterricht«. Neben den traditionellen kognitiv-intellektuellen Aspekten sollen, so die Forderung oder der Wunsch Lüthis, hier auch körperliche sowie affektiv-emotionale Aspekte in das Lernen miteinbezogen werden. Häufige Formulierungen sind ›Lernen mit allen Sinnen‹ oder der berühmte Dreisatz ›Kopf, Herz, Hand‹ von Pestalozzi. Neuerdings scheinen aber auch Erkenntnisse aus der Hirnforschung diesen Ansatz zu stärken und ›wissenschaftlich‹ zu untermauern. Aus neurobiologischen Forschungen wird, wie von Lüthi dargelegt, gefolgert, dass Lerneffekte dann am grössten und nachhaltigsten sind, wenn möglichst viele Sinne involviert sind und beide Hirnhälften in Wechselbeziehung zueinander arbeiten. Daraus leitet sich die Forderung, wie sie Lüthi beschreibt, nach einer Gestaltung von Unterricht und von Räumen ab, die »ganzheitliches Lernen« ermöglichen sollen. Dieses kann offenbar gleichgesetzt werden mit Lernen in Bewegung. Auch das konstruktivistische Lernparadigma lässt sich mit dem Begriff »ganzheitliches Lernen« in Verbindung bringen. Lernprozesse werden so ar-
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rangiert, dass sie Erfahrungen ermöglichen, ein Entdecken und Erforschen beinhalten und Anschlüsse an die Lebenswelten der Schulkinder und an ihr Vorwissen ermöglichen. Der Begriff des »ganzheitlichen Lernens« scheint, Gesundheitsförderung vergleichbar, entgrenzenden Charakter zu haben. Es lässt sich nicht eingrenzen, was zur Ganzheitlichkeit gehört und was nicht. Und entsprechend den unterschiedlichen Paradigmen, vor denen Ganzheitlichkeit gefordert wird, finden sich unterschiedliche Ausrichtungen. »Ganzheitliches Lernen«, wie hier von Lüthi formuliert, spielt an auf die Dichotomie zwischen Körper und Geist; beide sollen während dem Lernen aktiviert werden, indem sich der Körper z.B. mittels eines Therapiekreisels während des Lernens bewegt oder indem nach Phasen konzentrierter Arbeit im Stillstand bzw. im Sitzen eine bewegte Pause eingeschaltet wird. Bewegung wie das Jonglieren – dies wird hier erneut deutlich – wird in arbeits- und organisationspsychologischem Sinn als Mittel zum Zweck eingesetzt. Es geht darum, besser lernen zu können, Lernen »ganzheitlicher« zu machen und dadurch zu optimieren. Zugleich verfolgt Lüthi damit das Ziel, dass die Schulkinder »gerne in die Schule kommen«. Ganzheitlich könnte im pädagogischen Kontext auch heißen, die gesamte Person in den Lernprozess zu involvieren, Lernprozesse ausgehend von ihren je persönlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen zu gestalten und nicht ein von oben vermitteltes Lernprogramm zu absolvieren oder aufzuoktroyieren. Lüthi jedoch beschränkt den Begriff der Ganzheitlichkeit auf die Mobilisierung des Körpers während des Lernens oder in den Pausen. Wer lernt und sich bewegt, lernt ganzheitlich und lieber.
Pragmatischer Ansatz: Optimierung innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens Lüthi fügt wiederholt an, dass Bewegung innerhalb der Schule als ein motivationaler Faktor dazu beitragen soll, dass die Kinder gerne oder zumindest lieber zur Schule kommen: Die anstrengenden, mühsamen, entbehrungsreichen Phasen schulischen Lernens – der Kopfarbeit – sollen unterbrochen werden von Bewegungssequenzen und bewegten Lernformen. Also ich maße es mir nicht an, dass sie, dass sie immer gerne lernen, und dass es immer wirklich ›fägt‹, aber wenn man weiß, wie engagiert die Kinder sind, wenn sie etwas lernen wollen//ja//, und was sie dort bereit sind zu investieren, ist natürlich schon immer wieder die Frage, wie können wir das bei uns als Schule hinbringen//ja//. Und das können wir sicher nicht immer zu hundert Prozent//ja nein, das, also ja//, das ist, die Illusion mach ich mir nicht. (I 01, 12)
In dieser Sequenz scheint eine Art Ambivalenz auf, wenn er beschreibt, wie engagiert Kinder sind, wenn sie etwas lernen wollen, und sie dann, wie er sagt, sehr viel zu investieren bereit seien. Hier scheint er ein Idealbild zu zeich-
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nen, das er sogleich als unrealistisch wieder in den Hintergrund schiebt. Er beschreibt dabei erneut in sehr präziser und anschaulicher Weise, wie sich intrinsische Motivation am Lernen zeigt, unabhängig davon, ob es sich um eine »Bewegte Schule« handelt oder nicht. Dass sie als Lehrpersonen nicht immer fähig sind, dies in der Schule »hinzubringen«, erachtet er als eine Realität. Er zeigt hier, wie bereits bei der Frage der Auswirkung der Selektion auf das Wohlbefinden der SchülerInnen, eine realistische und allenfalls desillusionierte Haltung. Sein Ansatz ist pragmatisch, indem er versucht, innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen bestmögliche Bedingungen zu schaffen, also mit »bewegtem Lernen« und Unterbrüchen durch »bewegte Pausen« die Motivation und Lernbereitschaft zu steigern. Dass ein solcher Ansatz erfolgreich sein kann, ist gut denkbar, sind doch für Kinder Pausen und Sport sehr wichtige Elemente des schulischen Alltags und stellen möglicherweise auch für sie eher Gegenpole dar zu dem, was häufig unter ›eigentlichem‹ schulischen Lernen verstanden und auch erlebt wird. Lüthi versucht, so könnte interpretiert werden, die Schulkinder mittels in den Unterricht integrierter Bewegung bei Stange zu halten. Lüthi baut bewegte Sequenzen auch zur Beruhigung in den Unterricht ein. Er verwendet die Bewegungselemente als Methodik, um die mit dem Anfang der Pubertät einsetzende Umbruchsphase aufzufangen, Wohlbefinden zu schaffen, Konflikte zu unterdrücken oder zumindest unter Kontrolle zu halten. Gegen die krisenhafte Umbruchsphase setzt er Bewegungselemente strategisch ein, um ein gutes Klima zu schaffen; er will kanalisieren und kontrollieren. Dazu braucht es Disziplinierung, an sich eine Grundbedingung von schulischem Unterricht; hier ist sie besonders vonnöten, weil biografische Umbruchsphasen einer zusätzlichen Anstrengung zur ›Domestizierung‹ bedürfen. Im Anliegen, Wohlbefinden zu schaffen, manifestiert sich implizit auch ein Kontrollanspruch. Konflikte als Lernfelder werden so tendenziell ausgeschaltet. Die Gefahr liegt darin, dass eine Entwicklungsphase ›abgewürgt‹ und stattdessen Wohlbefinden geschaffen respektive erzwungen wird. Damit wird das Authentizitätsideal von Persönlichkeitsentwicklung verletzt, welches Freiräume bedarf, um sich zu finden, Individualität auszuhalten und auszuleben – was sich schwer vereinbaren lässt mit klassischen Vorstellungen von schulischem Unterricht. Diese Ambivalenzen scheinen in den Schilderungen von Lüthi auf; er ist sich bewusst, den SchülerInnen innerhalb des schulischen Rahmens nicht das geben zu können, was sie vielleicht bräuchten. Aus einer realistischen Haltung heraus sucht er pragmatische Wege, das Schulklima möglichst positiv zu beeinflussen, ohne den gegebenen Rahmen infrage zu stellen. Dabei räumt er den ihm anvertrauten SchülerInnen deutlich weniger Freiräume ein, als er sie für sein eigenes, persönliches Wohlbefinden als wichtig erachtet. Bereits in der Eingangssequenz legt Lüthi dar, dass sich seine hand-
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lungsleitende Vorstellung von Wohlbefinden nicht nur auf die Beziehungen der SchülerInnen erstreckt, sondern auch auf das Verhältnis der Lehrpersonen untereinander und jenes zur Schulleitung. Für sein eigenes Wohlbefinden sind Freiräume von großer Bedeutung, insbesondere diejenigen, die ihm von Seiten der Schulleitung geboten werden: ich erlebe es wirklich gut, ist, sehr viel Freiheiten gegeben//mhm//, ähm, wenig, wenig von oben diktieren, sondern sehr viel ermöglichen//mhm//, unterstützen auch von Leuten, die etwas wollen, machen wollen (I 01, 8)
Diese persönliche Wertsetzung greift die Interviewerin auf und versucht überzuleiten auf Fragen der Partizipation auf SchülerInnenebene. In ihrer Frage fasst sie Aspekte zusammen, die Lüthi zuvor als für ihn wichtige Elemente der Zusammenarbeit und als positive Aspekte des Arbeitsverhältnisses hervorgehoben hat. Sie überträgt diese auf die Ebene der SchülerInnen mit der Frage, ob ihnen auch Freiheiten gewährt werden und sie sich partizipativ einbringen können. Diese Analogie ist insofern nicht ganz statthaft, als es sich nicht um mündige, den Erwachsenen gleichgestellte Subjekte handelt, sondern eben um auf dem Weg zu ihrer Mündigkeit zu begleitende. Zudem befinden sie sich nicht wie die Lehrpersonen in einem kündbaren Arbeitsverhältnis, sondern erfüllen eine Pflicht. Das muss nicht bedeuten, dass Kinder nicht auch partizipativ in Prozesse mit einbezogen werden können – innerhalb des durch den Lehrplan abgesteckten Rahmens. Wir haben keine Schülerräte//ja//. Was wir haben in verschiedenen Klassen, sind so Klassenräte, Klassengesprächsrunden, aber wir haben nicht, nicht einen institutionalisierten Schülerrat//mhm//. Ähm, das müsste so vom Gesundheitsteam her kommen, ich bin dort nie so Fan gewesen von dem auf dieser Stufe//mhm//, weil ich habe dort ein bisschen das Gefühl, das ist so, manchmal der Eindruck beim Schülerrat ist es wie beim Elternrat, ähm, es ist ein bisschen wie ein Feigenblatt und man verspricht so viel und nachher, wenn man dann nachher (›hinschaut‹?), ja was könnt ihr denn wirklich// mhm//mitbestimmen, merkt man aufs//so ziemlich nichts, ja//Mal, es ist eigentlich gar nichts, oder ganz wenig, oder, also bei einem Schülerrat wirklich mitbestimmen, ist es dann häufig sehr wenig. (I 01, 9)
Wieder zeigt er eine sehr pragmatische, kritische und zugleich nüchterne Haltung und tut seine möglicherweise der vorfindbaren Realität sehr nahestehenden Beobachtungen kund. Mitwirkung auf SchülerInnenebene beschränkt sich bei ihnen, wie er anschließend konkretisiert, auf Fragen beispielsweise des »Wichtelns« in der Weihnachtszeit, d.h., ob, wie und in welchem Umfang Geschenke gemacht werden sollen. Mehr unter Partizipation zu fassen, ist nach Lüthi nicht realistisch und damit unlauter.
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Bei der erneut durch die Interviewerin eingebrachten Nachfrage, ob die SchülerInnen sich bei der Themenwahl oder in Unterrichtsfragen einbringen können, meint er: Ähm, Unterrichtsthemen weniger//ja//, weil das ist ja, vieles ist vorgegeben//ja//. Was ich mache, ist, sie können im NMM einmal im Jahr ähm, in einer gewissen Zeit ein eigenes Thema wählen//mhm//, wo sie wirklich nachher etwas arbeiten können, das sie für sich ganz alleine, also das sie interessiert//mhm, das sie dort wie können//, aber sonst ist es ja, vieles wirklich vorgegeben//ja, mhm//. Und anderes gibt’s schon, sie stürmen häufig und sagen, Herr Lüthi tun wir Te-, Theater spielen in der Fünften oder so Sachen, wo ich ihnen muss sagen, dort muss auch ich schauen, was liegt drin und was liegt nicht drin. (I 01, 9)
Erneut stellt er sein Agieren als eines innerhalb eines klar geregelten Rahmens dar; er verweist indirekt erneut auf den Lehrplan und beschreibt seine Situation so, als hätte er klare Vorgaben, sodass er den Kindern keine Wahlmöglichkeiten bieten könne, oder nur ausnahmsweise, einmal im Jahr während einer beschränkten Zeit. In diesem klar definierten Zeitraum können sie eigenen Interessen nachgehen anstatt vorgegebenem Stoff zu folgen. Wenn sich seine Beobachtung intrinsischer Motivation von SchülerInnen – er drückt aus, wie engagiert die Kinder seien, wenn sie etwas lernen wollen – auf diese kurze Zeit bezieht und er lediglich einmal im Jahr auf ihre Interessen eingeht, geht sein Pragmatismus weit. In dieser Passage scheint sich zu bestätigen, dass sich Lüthi innerhalb des gegebenen schulischen Rahmens arrangiert hat und versucht, trotz den auch aus seiner Sicht eng gesteckten Grenzen die Bedingungen so zu gestalten, dass sich die SchülerInnen wohlfühlen, gut lernen können und vor allem auch Lernerfolge erzielen. Lüthi weiß, dass sie dabei womöglich nicht ganz so motiviert sind, wie sie dies wären, wenn sie ihren eigenen Interessen nachgehen könnten.
Resumée: Pragmatische und zweckrationale Deutung von Gesundheitsförderung – Bewegung zur Herstellung von Wohlbefinden zwecks Steigerung des Lernerfolgs Gesundheitsförderung ist bei Lüthi, bezogen auf die Arbeit mit den SchülerInnen, ein Mittel zum Zweck; sie stellt eine pragmatische Form zur Optimierung von Lernprozessen innerhalb eines gegebenen institutionellen Rahmens dar. Weil es angesichts der Vorgaben des Lehrplans nicht möglich scheint, den Unterricht an den Interessen der SchülerInnen auszurichten oder Freiräume für entwicklungsbedingte Krisen einzuräumen, versucht Lüthi, durch Bewegung systematisch Wohlbefinden zu erzeugen. Das soll letztlich der Steigerung von Lernerfolgen und der Unterstützung von Lernprozessen dienen.
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Gegenüber den von ihm wahrgenommenen Ambivalenzen nimmt er eine pragmatische Haltung ein. In den Schilderungen Lüthis werden implizite Normalitätsvorstellungen von Unterricht deutlich im Sinne eines lehrerzentrierten, klassenweisen Unterrichts, womöglich mit gleichschrittiger Didaktik. Gesundheitsförderung heißt, Bewegung in den Unterricht zu integrieren: in Bewegung zu lernen, Bewegungspausen einzuschalten und damit letztlich den Lernerfolg zu steigern. Lüthi stellt Gesundheitsförderung auch in einen Zusammenhang zu Schulentwicklung: Gemeinsam verfolgen die Lehrpersonen und die Schulleitung das gegen außen sichtbare Ziel, eine ›Bewegte Schule‹ zu werden.
6.2.2 R egina Pfister und Sarah Bachmann: Gesundheitsförderung als organisationale Maßnahme im Setting Schule Kernelemente aus dem Interview mit Lüthi finden sich in vergleichbarer Art auch in den beiden anderen der arbeits- und betriebspsychologischen Deutung zuzuordnenden Interviews. Nachfolgend kommen ausgewählte Sequenzen zur Darstellung, welche insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Bedürfnissen der SchülerInnen und den Erfordernissen der Organisation, hier der Schule, weiter ausleuchten und auch die Spannweite an Deutungsmöglichkeiten innerhalb dieses Typus aufzeigen.
Am Anfang war der Auftrag Bezeichnend für alle drei Lehrpersonen dieses Typus ist, dass sie Gesundheitsförderung zuerst einmal, also auch gleich zu Beginn des Gesprächs, als einen Auftrag darstellen. Damit wird ein vermeintlich klarer Rahmen geschaffen, sie stellen sich als Ausführende eines von oben verordneten Auftrags dar. Verwiesen wird hierbei auf den Lehrplan oder auf die Stadt Bern, womit die Frage nach einer Legitimation hinfällig scheint. Im Verlauf des Gesprächs zerfällt jedoch diese vermeintliche Klarheit, es tauchen Ambivalenzen auf. Regina Pfister, eine 44-jährige Lehrperson, die an derselben städtischen Schule als Koordinatorin für Gesundheitsförderung tätig ist wie Karl Lüthi, betont ebenfalls gleich zu Beginn, dass es sich um einen Auftrag von außen handle, der an die Schule herangetragen und von dieser übernommen wurde. Sie hebt zusätzlich hervor, dass es für dessen Umsetzung finanzieller Mittel bedarf: für die Weiterbildung der mit der Koordination beauftragten Lehrpersonen und die Information der Lehrpersonen durch externe Fachpersonen an Kursen. Finanzen werden auch benötigt für die Anschaffung von Geräten, die es zur Umsetzung von Gesundheitsförderung an Schulen brauche:
6. Deutungen der Lehrpersonen eben halt mit den Bewegten Pausen, mit diesen vielen Geräten, die wir anschaffen können, mit diesem Geld, das, das ein Gesundheitsteam nachher in, in das Schulhaus hineinbringt eigentlich, äh, können wir dann auch entsprechend uns ausrüsten (I 02, 1)
Die Umsetzung des Auftrags wird finanziell unterstützt, was die Ausstattung mit Geräten und Methoden ermöglicht. Wer sich ausrüstet, hat ein Abenteuer, eine Reise oder auch einen Kampf vor sich. Gesundheitsförderung ist offenbar ein solches Unternehmen, das der finanziellen Mittel, der Investitionen bedarf. Wofür genau die Lehrpersonen oder auch die Schule als Ganzes auszurüsten sind und welches Ziel damit verfolgt wird, ist noch offen. Deutlich wird einzig, dass das Geld von außen kommt und die Schule, an der Pfister arbeitet, offenbar über eine gute Ausstattung verfügt. Auch Sarah Bachmann, die als Junglehrerin an einer ländlichen Schule das bereits bestehende Amt der Koordinatorin für Gesundheitsförderung (vgl. Kapitel 5.3.3) übernimmt, beginnt ihre Ausführungen eher formalistisch mit ihrer Ernennung in das bestehende Amt. Also, die Gemeinde hat mich einfach ... gewählt. Ich bin ja (wie?) von der Gemeinde angestellt//mhm//aber die Ausbildung habe ich nicht gemacht, aber an der PH ... habe ich Gesundheitsförderungsmodule gehabt (I 03, 1)
Gesundheitsförderung wird von ihr dargestellt als ein Amt. Die Besetzung dieses Amts bezeichnet sie als einen Akt der politischen Gemeinde, welcher der Logik institutionalisierter Abläufe folgt. Konkret bedeutet »von der Gemeinde angestellt« sein, dass ihr Entlastungslektionen bezahlt werden. Bemerkenswert ist – was sie selbst in ihrer Schilderung hervorhebt –, dass sie gewählt wurde, obwohl sie nicht qualifiziert sei. Rechtfertigend fügt sie an, dass sie während ihrer Grundausbildung Gesundheitsförderungsmodule »gehabt habe«. ›Etwas gehabt haben‹ ist ein typischer Ausspruch im schulischen Kontext, der nichts über die Qualität oder den Inhalt aussagt, lediglich darüber, dass etwas absolviert wurde. Zugleich verdeutlicht Bachmann mit ihrer Aussage, dass Gesundheitsförderung eigentlich nicht voraussetzungslos wäre und zumindest aufgrund formalisierter Abläufe einer Qualifikation bedarf. Zugleich ist eine Anstellung auch ohne Nachweis einer inhaltlichen Qualifikation möglich. Es folgt eine weitere Sequenz, in welcher sie Gesundheitsförderung als bürokratischen Akt und als Teil institutionalisierter Abläufe darstellt. Mhm, also wir haben ganz unterschiedliche Sachen ... ich tue einfach mit dem Schulleiter anfangs Jahr immer zusammensitzen//mhm//und nachher tun wir zusammen äh Jahresziele festlegen, und an denen tue ich nachher arbeiten, das ganze Jahr und tue auch immer die SchuKo [Schulkommission] informieren, was ich gemacht habe, oder mal einen Bericht schreiben, so dass eben die Gemeinde ein bisschen mitbekommt,
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Im Namen der Gesundheit was wir machen. Und am Ende vom Schuljahr tun wir das nachher wie evaluieren und zusammen schauen »was habe ich erreicht?« und »was könnte man vielleicht noch besser machen?« oder »was nehmen wir dazu?« und dort sind eigentlich wirklich, ganz unterschiedliche Sachen. (I 03, 2)
In ihrem Selbstverständnis als Koordinatorin für Gesundheitsförderung sieht sie sich als rechte Hand des Schulleiters; sie plant und evaluiert gemeinsam mit ihm die Maßnahmen und legt gegenüber der Gemeinde als Auftraggeberin jährlich Rechenschaft ab. Dabei wird nicht klar, ob vor allem ihre Arbeit rechenschaftspflichtig ist oder die in der Schule zu erreichenden Ziele dargelegt werden müssen. Sie beschreibt einen idealtypischen Ablauf im Sinne des New Public Managements mit formalisierten, bürokratisch organisierten Abläufen, wobei die inhaltliche oder fachliche Auseinandersetzung in den Hintergrund tritt oder gar nicht vorkommt. Die Frage nach dem Handlungsbedarf oder auch eine Legitimation erübrigen sich bei allen drei Lehrpersonen dieses Typus. Gesundheitsförderung bedarf vorerst keiner weiteren Legitimation, es reicht ein Verweis auf die institutionalisierte Verfasstheit des Auftrags sowie der Abläufe. Zugleich deutet ein solcher Verweis auf die Akzeptanz des organisatorischen, allenfalls auch bürokratischen Rahmens hin, auf wenig Systemkritik oder reformerische Absichten. Gedacht wird innerhalb des gegebenen Rahmens, auch der eigene Status als Auftragsausführende wird nicht hinterfragt. Von allen drei Lehrpersonen dieses Typus wird der Umstand hervorgehoben, dass es sich bei ihren Schulen um Pionierinstitutionen in Sachen Gesundheitsförderung handelt. Das durch das Schweizerische Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen verliehene Label »Wir sind auf dem Weg zu einer gesundheitsfördernden Schule« ist denn auch prominent im Eingangsbereich der betreffenden Schulen aufgehängt und scheint einer Profilierung der Einzelschule gegen außen dienlich zu sein. Obwohl alle drei Lehrpersonen in ihrer Antwort auf die Eingangsfrage, was Gesundheitsförderung ist, anführen, dass es sich um einen Auftrag handelt, folgen bei allen persönlich gefärbte Begründungen. Das deutet insgesamt darauf hin, dass der institutionalisierte Auftrag vor allem formal definiert und doch nicht so klar ist, wie es scheint.
Auch hier: mehr Bewegung zur Steigerung des Lernerfolgs … Gesundheitsfördernde Maßnahmen dienen, darin sind sich die Lehrpersonen dieses Typus einig, der Steigerung des Lernerfolgs. In den Deutungen der Lehrpersonen dieses Typus ist Bewegung somit ein Mittel, um die Konzentration beim und die Motivation zum Lernen aufrecht zu erhalten, was sich – so die von allen behauptete Kausalität – positiv auf das Lernergebnis auswirke. Die Legitimierung von Bewegung als Mittel ist je unterschiedlich, persönlich
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gefärbt und möglicherweise auch abhängig von der Stufe, auf der die Lehrpersonen unterrichten: Während Lüthi bei den jungen Jugendlichen, die sich am Anfang der Pubertät befinden, Wohlbefinden herstellen möchte, legitimieren Pfister und Bachmann ihre gesundheitsfördernden Maßnahmen mit dem Bewegungsdrang der jüngeren Kinder. Dabei heben die beiden Lehrpersonen ihre persönliche Affinität zu Bewegung an sich hervor, indem sie sich als ›Bewegungsmenschen‹ bezeichnen, wie Pfister, die sich nachfolgend als Speziallehrkraft für Sport darstellt und die Bedeutung von Bewegung auch für die Kinder als genuin wichtig hervorstreicht. Äh, als Turnlehrerin, als Sportlehrerin, das ist mal das Eine, weil ich das einfach auch wahnsinnig wichtig finde, dass sich die Kinder bewegen können, auch während dem Unterricht. Also dass man äh, den Unterricht so bewegt wie möglich macht//mhm//und äh, wir haben hier eben auch die bewegten Pausen sogar dazwischen//mhm, genau//. (I 02, 2)
Die Mittel, die ergriffen werden, sind bei allen ähnlich: Benutzt werden Geräte im Schulzimmer, welche innerhalb der räumlichen Gegebenheiten »bewegten Unterricht« und auch kurze, geleitete Bewegungspausen ermöglichen, sowie weitere Materialien und auch Spielgeräte, welche den Kindern in den »richtigen« Pausen zur Verfügung stehen. Insgesamt sind alle Schulen der Lehrpersonen dieses Typus sehr gut »ausgerüstet« und verfügen über viele Geräte und Materialen, welche Bewegung in der von ihnen gedachten Form ermöglichen. Die unter dem Titel Gesundheitsförderung ergriffenen Maßnahmen stehen bei allen im Dienste der Optimierung des Lernerfolgs. Pfister führt, wie oben dargestellt, als ersten Punkt ihre Überzeugung an, dass sich Kinder auch während des Unterrichts bewegen müssen. Als zweiten Punkt legt sie dar, dass es »eigentlich ein Auftrag« sei, der an die Schule herangetragen wurde und den sie als Lehrkräfte auszuführen haben und drittens … ... ist es aber auch meine äh, meine ureigenste äh, Überzeugung, dass äh, wenn gesundheitsmäßig, wenn es den Kindern gut geht und vielleicht auch den Lehrkräften, das wäre ja eigentlich auch zu erstreben//(unverständlich)//, äh, oder je besser, dass es allen Beteiligten in diesem Schulhaus geht äh, umso besser geht auch das ganze Lernen natürlich//mhm//(I 02, 2)
Der von Pfister verwendete Ausdruck, dass es einem »gesundheitsmäßig gut gehe«, ist nahe am von Lüthi angestrebten allgemeinen Wohlbefinden. Wenn es allen »Beteiligten« in einem Schulhaus gut gehe, dann gehe »natürlich« auch das Lernen besser. Auch bei Pfister dient Gesundheitsförderung der Bestimmung der Institution Schule, der Hervorbringung von Lernerfolg, der Unterstützung des »Lernens« – wobei hier bei der Formulierung das »gan-
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ze Lernen« nicht klar ist, ob sie ganzheitliches Lernen oder das Lernen im Ganzen, insgesamt anspricht. Den Zusammenhang zwischen Gesundheitsförderung und Lernen beschreibt sie als selbstverständlich, als etwas, wovon sie überzeugt und dessen Richtigkeit sie sich gewiss sei. Eine in dieser Weise vorgebrachte Überzeugung kann auch emotionale und möglicherweise irrationale Aspekte beinhalten; sie ist nicht gleichzusetzen mit Wissen, es kann sich auch um eine Frage des Glaubens handeln. Dabei handelt es sich, wie sie im Folgenden darlegt, nicht nur um ihre »ureigenste« Überzeugung, sondern um eine allgemeine an ihrer Schule. und man weiß ja auch, dass äh, es gibt so viele Studien über das, dass diese Bewegung eben das Lernen wahnsinnig unterstützt//mhm//, äh, und fordert, nicht abnimmt, aber unterstützt oder, wenn man etwas bewegt lernt und, und diese Überzeugung ist eigentlich hier in diesem Schulhaus bei diesen Lehrkräften oder im Kollegium eigentlich sehr gut angekommen//mhm//, habe ich das Gefühl. Und wird, glaube ich, sehr umgesetzt. (I 02, 3)
Ihre Überzeugung ist somit nicht (nur) Glaubenssache, sondern wird gespeist aus Studien, aus welchen das Wissen resultiere, dass Bewegung das Lernen unterstützt, »wahnsinnig« unterstützt, wie sie sich ausdrückt. Diese Überzeugung, dieses Credo sei im Kollegium »sehr gut angekommen«. Das kann heißen, die Sache findet Anklang, gefällt und passt den Lehrkräften. Oder es könnte auch bedeuten, dass der Inhalt verstanden, aufgenommen, verinnerlicht wurde. Dass es sich bei den erwähnten Studien erneut um solche aus der Hirnforschung handelt, ist nicht überraschend. Bewegung wird auch von Pfister als Mittel beschrieben, um die Verbindung der beiden Hirnhälften zu fördern und somit den Lernprozess zu unterstützen. Indem die Schule diese Bewegungspraktiken aufnimmt, so Pfister, passt sie sich den neusten Erkenntnissen an. Wir haben so Balken oben im Klassenzimmer, wo sie darüber gehen können, wieder hinten anstehen und wieder gehen, äh, statt dass sie das müssen sitzend am Pult machen beispielsweise//mhm//. So in dieser Art, das kann man mit ganz, ganz, ganz einfachen Mitteln eigentlich fördern und dann bewegen sie sich gleichzeitig und dann sind einfach auch die beiden Hirnhälften viel besser äh, im Gang, als wenn sie//mhm//ganz einseitig am Pult sitzen. (I 02, 4)
Hier zeigt sich eine Argumentation, wie sie schon bei Lüthi rekonstruiert wurde: ›Bewegtes Lernen‹ steigert die Lernbereitschaft und auch die -fähigkeit. Mit Bewegungssequenzen und -pausen wird die starre Struktur der Sitzschule durchbrochen und zugleich, so die Anleihe bei neurobiologischen Theorien, würden die beiden Hirnhälften besser »in Gang« gesetzt, wie es Pfister mit
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einem mechanistisch-physikalischen Bild beschreibt. Handlungsbedarf entsteht in ihrer Deutung ebenfalls vor allem aufgrund der starren Strukturen, in denen schulisches Lernen stattfindet. Eine gute Atmosphäre im Klassenzimmer findet Pfister, vergleichbar mit der Wertsetzung Lüthis, sehr zentral; sie ist ebenfalls überzeugt, dass Wohlbefinden sich positiv auf das Lernen auswirkt. Ihr Verhältnis zu den Kindern wie auch dasjenige unter den Kindern macht sie jedoch im Gegensatz zu Lüthi nicht zum Gegenstand von Gesundheitsförderung. Sie will nicht Beziehungen beeinflussen, sondern lediglich das Lernen angenehmer gestalten oder, wie sie sagt, »kindgerechter« machen. Es ist ja klar, dass sie müssen schreiben lernen, rechnen lernen//mhm//, lernen und, und, und, und man probiert einfach in der Umsetzung ähm//mhm//, es ihnen viel angenehmer zu machen, oder kindesgerechter zu machen//mhm//und so ›fägig‹ [lustig, spannend] wie möglich. (I 02, 12-13)
Ihre Argumentation beinhaltet ebenfalls einen gehörigen Schuss Pragmatismus oder auch Realismus; es geht nicht darum, Lernen zu etwas Angenehmem werden zu lassen, sondern es lediglich »angenehmer« oder »so ›fägig‹ wie möglich« zu gestalten. Damit werden die mit Lernprozessen auch einhergehenden ›Krisen‹ abzuschwächen versucht. Dazu dienen die in den Unterricht integrierten Bewegungselemente, welche als gesundheitsfördernde Maßnahmen in die Schule gebracht werden. Ziel der Schule ist das Lernen, das Erlernen der sogenannten Kulturtechniken – von Bildungsprozessen ist hier nicht die Rede. Zum Anspruch, die Schule mit mehr Bewegung kindgerechter zu gestalten, gesellt sich auch bei Bachmann, der jungen Lehrerin auf dem Lande, eine persönliche Neigung, Bewegung in den Unterricht und in den Schulalltag zu integrieren. Auf die Frage, ob Bewegung für sie ein eigentliches Kernthema im Bereich Gesundheitsförderung sei, meint sie: Ja, bei mir ist es wirklich Bewegung, weil ich es ›halt‹ auch selber gerne mache, und ähm, zwischendurch mal schnell die Jonglierbälle hervor nehmen und ein bisschen jonglieren//ja//das ist sicher das, ja, was mich am meisten bewegt hat, aber es hat ›nachher‹ auch ganz viele andere Sachen, die wir jetzt an der Schule machen, aber die meisten Sachen, die es gibt, gehen ›nachher‹ eigentlich immer auf Bewegung wieder zurück// mhm//ja.//I: Mhm, ja, das ist ziemlich//das ist ›halt‹ ja, weil dort mein Interesse ist vor allem//ja//und auch die Kinder kann man ›halt‹ so, sehr gut packen//mhm//und haben jetzt ›uh‹ Spaß (leise). (I 03, 1-2)
Ihr Engagement für mehr Bewegung in der Schule liegt nicht nur in ihrer persönlichen Passion begründet, sondern auch darin, dass die Kinder Spaß an
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Bewegung haben und man sie mit bewegten Sequenzen gut »packen« könne. Indirekt drückt sich darin aus, dass Kinder gepackt werden müssen und nicht als per se motivierte Lernende angesehen werden. Interessant ist die hohe Bedeutung, die der persönlichen Neigung zukommt; sie prägt die konkrete inhaltliche Bestimmung von und auch das Maß der Investition in Gesundheitsförderung. Der zu Beginn der Gespräche hervorgehobene öffentliche Auftragscharakter von Gesundheitsförderung beinhaltet somit einen beträchlichen persönlichen Interpretations- und Gestaltungsspielraum. Pfister führt zusätzlich zu ihrer Überzeugung und der großen Bedeutung, die Bewegung für sie persönlich hat, ein weiteres Argument für die gezielte Integration von Bewegung in den Unterricht an: Es geht um die sozialen Bedingungen des Aufwachsens der Kinder. Ja, ja. Mit viel mehr Zeug, das im Moment ›umher ist‹, das, das sie beschäftigt und das auch noch ist, es sind sch-, wahrscheinlich auch viel mehr los rundum i-, in ihrer Familie, Zuhause und überall. Ähm, das sind Sportsa-, Sportclubs, wo sie noch gehen, das sind so viele Sachen, wo diese Kinder total manchmal irgendwie absorbiert sind. Und äh, und darum, durch das auch unruhiger und das wirkt nachher mit der Bewegung wirklich, das schon//mhm//, schon sehr stark. (I 02, 5)
Interessanterweise konstatiert sie nicht den vielbesagten ›Bewegungsmangel‹; ihre Beobachtung geht vielmehr in die Richtung, dass die Kinder zu viel Bewegung oder Unruhe im täglichen Leben erfahren. Diese Wahrnehmung situiert sie als lokale und macht sie am Stadtviertel und dessen sozialer Zusammensetzung fest als eine Art Ausdruck von Überfluss in einem Wohlstandsviertel. Interessant ist, dass sie diesem Aktivitäten- und Bewegungsübermaß, einer homöopathischen Therapie gleich, mit noch mehr Bewegung begegnet, diesmal wohldosiert im Rahmen des schulischen Unterrichts.
Gesundheitsförderung als Ausdruck impliziter Schulkritik In den Ausführungen der diesem Typus zugehörigen Lehrpersonen schwingt eine zumeist implizite Kritik am Unterricht mit: Weder scheint es möglich, die Motivation der Kinder aufrecht zu erhalten, noch trage schulischer Unterricht in seiner herkömmlichen Form dem Bewegungsdrang der Kinder Rechnung. Bei Bachmann, der jüngsten der interviewten Lehrerinnen, ist der Zusammenhang zwischen den gesundheitsfördernden Maßnahmen und einer latenten Schulkritik am ausgeprägtesten: Also ich persönlich finde es einfach sehr schlimm, wenn die Kinder den ganzen Tag nur sitzen und die Kinder ja wirklich eigentlich einen Bewegungsdrang hätten und man merkt, wenn man sagt es ist kleine Pause ä-, ä-, dann stehen alle auf und, und wollen
6. Deutungen der Lehrpersonen sich bewegen, und von dem her, wollen wir einfach, dass sie sich auch ein bisschen in der Stunde können, können bewegen und man ihnen so gerecht wird, den Kindern (I 03, 4)
Gesundheitsförderung verbindet sie mit einer Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder. Ihrem Bewegungsdrang würden durch schulische Strukturen enge Grenzen gesetzt. Damit greift sie das Motiv einer spezifischen Schulkritik auf, deren Vorläufer bis ins 19. Jahrhundert reichen und beispielsweise in Argumenten von Hygienikern oder auch von Vertretern reformpädagogischer Kreise gegen die ›Sitzschule‹ ihren Ausdruck fanden. Ihre vorgetragene Kritik an der Schule ist insofern latent, als sie keine grundlegende Änderung des von ihr ins Visier genommenen Unterrichts in Betracht zieht, sondern durch Bewegung dessen negative Folgen zu mindern versucht. Indirekt weisen die Schilderungen auf ein spezifisches Verständnis von Schule hin: Sie bedeutet für die Lehrpersonen dieses Typus offenbar mehrheitlich sitzen, still sitzen; Schule wird im herkömmlichen Sinn ohne Bewegung ›gehalten‹. und wir merken auch dass sie es viel lieber machen, wenn sie sich bewegen können//I: Also das andere… das Schulische//das andere, genau, wenn man es kombinieren kann (I 03, 4)
Bewegungspausen werden als motivierend für den Unterricht betrachtet, als gut für die den Kindern abverlangten, ihrer Natur offenbar zuwiderlaufenden und zwangsweise zu erbringenden Leistungen. Bewegung und schulisches Arbeiten werden hier als Gegensätze dargestellt. Bewegung bekommt, wie bereits bei Lüthi und auch bei Pfister rekonstruiert, eine instrumentelle Funktion, indem sie innerhalb der bestehenden schulischen Strukturen den Lernprozess verbessern soll: Anstelle alternativer pädagogischer Konzepte wird auf eine gesundheitsfördernde Maßnahme gesetzt, welche das bestehende System aufrechterhält und die Normvorstellungen von Unterricht unangetastet lässt.
Ambivalenzen gegenüber dem disziplinierenden Charakter von Gesundheitsförderung Das Einfügen von Bewegungselementen in den Unterricht bringt jedoch auch Schwierigkeiten mit sich. Das Sich-ein-bisschen-bewegen-Dürfen ist offenbar nicht unproblematisch. Dieser Umstand wird anhand der Schilderungen von Bachmann, der Junglehrerin, deutlich: weil man sie einfach fast nicht mehr ›oben herunterbringt‹ [beruhigen kann]//mhm// ja, und da habe ich jetzt das Glück dieses Jahr, dass sie wirklich gerade wieder super mitmachen, weil ich denke es ist sicher auch ein, ein, ein daran Gewöhnen oder einfach
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Im Namen der Gesundheit ein Lernen, bis die Kinder wissen ›drei Minuten und nachher ist fertig‹//mhm//das muss man sicher mit ihnen trainieren (I 03, 5)
Bewegungsförderung bedarf eines hohen Grads an Disziplinierung: Die Kinder müssen sich daran gewöhnen, dass sie sich nur drei Minuten bewegen dürfen und danach wieder der Arbeit nachgehen müssen. Freude und Spaß scheinen sie vor allem während der knapp bemessenen »bewegten Pausen« zu haben, Lernen scheint in der Wahrnehmung von Bachmann nicht Teil eines natürlichen Drangs der Kinder zu sein, von Neugierde ist nicht die Rede. Es wird deutlich: Wenn gesundheitsfördernde Maßnahmen auf ein Unterrichtsverständnis wie das oben dargelegte treffen, bringen sie zwar eine Intensivierung der Bewegungsaktivität hervor, bedürfen aus pädagogischer Sicht jedoch auch einer zusätzlichen Disziplinierung der SchülerInnen. Wie Bachmann es formuliert, müssen solche Wechsel trainiert und die SchülerInnen daran gewöhnt werden. Diesem Prozess der Disziplinierung scheint Bachmann ambivalent gegenüber zu stehen. Die in der obigen Sequenz als problematisch geschilderte, zusätzlich notwendige Disziplinierung versucht Bachmann im weiteren Verlauf des Gesprächs noch klarer zu fassen. So erscheint in ihrer Antwort auf die Frage nach Idealvorstellungen von Schule eine Ambivalenz auf zwischen einer Bevormundungslogik und dem Bestreben, den SchülerInnen Autonomie zu gewähren. Im Gegensatz zu Lüthi, der aus pragmatischen Gründen davon absieht, partizipative Elemente in eine rational organisierte Institution einbringen zu wollen, erwähnt sie diesen Aspekt von sich aus: ja eine gesunde Schule wirklich, die ... die lebt und vielleicht wo, wo die Kinder auch können helfen mitbestimmen an gewissen Orten, aber sicher nicht an allen Orten oder mithelfen wie jetzt in diesem Ideenbüro, dass sie den anderen Kindern können helfen aus irgendeiner Situation//mhm//und nachher sehen »ah ja, ich kann dieses Kind beraten«//mhm//aber sicher, dass sie nicht an allen Orten können mitbestimmen (I 03, 14)
Hier erscheint nun nach der »bewegten« auch noch die »gesunde Schule« als Begriff. Nach Bachmann ist eine »gesunde Schule« eine Schule, die lebt. Sie steht im Gegensatz zu einer Schule, die nicht lebendig ist, an der kein Ausdruck von Leben wahrnehmbar ist; sie steht aber auch im Gegensatz zu einer kranken Schule. Erneut irritiert die Verwendung des Adjektivs ›gesund‹ für eine Institution, als würde hier ein lebender Organismus beschrieben. Eine »gesunde Schule« sieht Bachmann dann verwirklicht, wenn Kinder, »mitbestimmen helfen« können – nicht wirklich selber mitbestimmen, sondern nur dabei helfen, und dies auch nur an bestimmten Orten. Einem Abwehrreflex ähnlich beschwichtigt sie und relativiert die höchste Form der Partizipation: Die Kinder können »sicher nicht überall mitbestimmen«. Ein möglicher und zugleich institutionalisierter Ort, wo Partizipation für sie denkbar ist, ist das
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erwähnte »Ideenbüro«. Dieses Büro, so die Darstellung auf der Homepage des gleichnamigen Vereins, »ist eine Anlaufstelle für Probleme aller Art in einer Schule. Dabei beraten grössere Kinder die kleineren. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrung sind sie Experten für die Probleme Gleichaltriger oder Jüngerer und finden oft bessere Lösungen als Erwachsene.«8 Der Verein, der die Verbreitung der Idee des Ideenbüros zum Zweck hat, wurde mehrfach durch Preise ausgezeichnet u.a. von der Jacobs Foundation und von UNICEF Schweiz. Verglichen wird das Projekt mit einem Think Tank – ein ebenso schillernder, wie inhaltlich unbestimmter Begriff, der verschiedenste Institutionen umfassen kann, mit sowohl öffentlichen wie privaten Trägerschaften. Der Kerngedanke von Think Tanks besteht darin, Beratung insbesondere im politischen Bereich zu betreiben. Die Tätigkeit des Ideenbüros, als ein von KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung an zahlreichen schweizerischen Schulen eingeführtes Projekt, kann als Teil der Institution Schule verstanden werden und soll, so die Darstellungen, zu einem »reibungslosen Ablauf« beitragen. Werden die Beiträge, die auf der Internetseite des Ideenbüros aufgeschaltet sind, betrachtet, so fällt auf, dass ein Hauptthema der im Ideenbüro Tätigen zu sein scheint, wie man überhaupt auf Ideen kommt und wie Ideen gesammelt werden können bis hin zur Frage, welches Logo den Briefkasten zieren soll, in welchen die anderen SchülerInnen ihre Beiträge einwerfen sollen. Ein zweites großes Thema sind soziale Konflikte, die die SchülerInnen des Ideenbüros beratend zu lösen versuchen. Diese vom Ideenbüro wahrgenommene Aufgabe wird von Bachmann als Entlastung des Klassenrats positiv bewertet. Es stellt sich die Frage, ob es bei dieser von oben geschaffenen Institution um Partizipation geht, um eine Einbindung der SchülerInnen in die (Mit-)Gestaltung der Schule. Es könnte sich – vergleichbar mit den als Think Tank bezeichneten, die Politik beratenden Organisationen – um eine spezifische Form von Machtausübung handeln, indem, wie dies beispielsweise Luhmann kritisch benennt, für die Gemeinschaft relevante Entscheidungen letztlich von Einzelnen getroffen werden und der partizipative Anspruch nur ein scheinbarer ist. Die nachfolgende Schilderung deutet denn auch darauf hin, dass die im Ideenbüro tätigen SchülerInnen von außen an sie herangetragene Aufträge im Sinne einer Dienstleistung erledigen und möglicherweise wenig Eigenes einbringen: eine Milch-Shake-Bar haben wir gemacht gehabt die letzten paar Wochen//mhm//da haben sie in der Pause gehen können, Shakes kaufen gehen ... und dann haben wir auch geschaut ä-, auf die Ernährung, eben warum Milch, dass man es drei Mal pro Tag soll ›nehmen‹ und dann tun sie eigentlich nachher so Projekte wie machen in diesem Ideenbüro (I 03, 15) 8 | Ideenbüro. URL: www.ideenbuero.org/infos/(Stand 4.5.2012).
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Kinder des Ideenbüros setzen in diesem geschilderten Beispiel von Erwachsenen vorfabrizierte »Projekte« um. Nicht nur wird in diesem Beispiel ein Konsumationsangebot gemacht für Waren, welche käuflich erworben werden müssen, sondern es wird zugleich informiert über Milchkonsum und Gesundheit. Dabei, so kann angenommen werden, findet wohl weniger ein Diskurs statt, als dass vielmehr eine Art Propaganda übernommen wird. Einer Marketinglogik folgend, scheint das Verkaufen und das Informieren im Vordergrund zu stehen. Es handelt sich denn auch nicht um ein eigentliches Projekt, sondern es wird vielmehr so getan, als würde ein Projekt »wie« gemacht. Zudem bleibt unklar, in welchem Verhältnis sie als Lehrperson zu diesem Büro steht, wer mit »wir« umschrieben wird. Eine vom Ideenbüro zu unterscheidende Institution ist der Klassenrat, den Bachmann nachfolgend erwähnt: den Klassenrat finde ich auch ganz etwas Wichtiges, wo die Kinder wirklich untereinander austauschen können und auch wir können Rückmeldungen geben, ich ihnen kann Rückmeldungen geben und dass man kann schauen, wie man möchte weiterarbeiten und wie man jetzt das genau angeht irgendein Problem//I: mhm, also dann vor allem// das scheint mir schon eine gesunde//mhm//gehört auch zu einer gesunden Schule. (I 03, 15)
Den Klassenrat stellt sie als weiteres Beispiel eines von ihr als wichtig erachteten Orts dar, wo Partizipation stattfinden kann. Sie zeichnet ihn als ein Forum, wo sich die Kinder austauschen können – wobei ein Austausch nicht gleichzusetzen ist mit Mitbestimmung. Zugleich skizziert sie den Klassenrat als Ort, wo man sich »Rückmeldungen geben« kann. Von hervorgehobener Bedeutung erscheint die Möglichkeit, dass sie als Lehrperson Rückmeldungen geben kann, womit sie dem demokratischen Ansinnen gegenseitiger, gleichwertiger Kritik die Autorität der Lehrperson entgegenstellt. Beim geäusserten Anspruch auf Mitbestimmung wird zurückbuchstabiert, wenn lediglich geschaut wird, wie man weiterarbeiten kann. Ein Infragestellen des Weiterarbeitens ist nicht vorgesehen, es geht lediglich darum, wie am vorgegebenen Programm weitergearbeitet werden kann oder soll. es sind mehr so, so kleinere Sachen//mhm//aber dass sie merken, sie dürfen teilweise auch helfen, es ist nicht einfach alles vorgegeben//mhm//scheint mir noch wichtig. (I 03, 15)
Als ein Beispiel, an dem die SchülerInnen erfahren können, dass nicht alles vorgegeben ist, erwähnt sie anschließend die Pultordnung. Wer neben wem sitzt und arbeitet, ist häufig eine Quelle sozialer Spannungen und soll deshalb
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Gegenstand von Aushandlungsprozessen werden – ein im Hinblick auf Stigmatisierungsprozesse nicht unproblematisches Unterfangen.
Resümee: Gesundheitsförderung zur Aufrechterhaltung des Betriebs – und ihre Kehrseiten Gesundheitsförderung, hier fokussiert auf Bewegung, wird als ein Auftrag wahrgenommen, den die Lehrpersonen dieses Typus zu erfüllen haben; er dient der Aufrechterhaltung des bestehenden, routinisierten Schulbetriebs. Die Lehrpersonen erachten die Implementierung von Bewegungselementen als notwendig, insbesondere für einen »kindgerechten Unterricht« und das Wohl der Kinder. Dabei üben die Lehrpersonen dieses Typus implizit Kritik an starren, disziplinierenden Schulstrukturen, ohne letztere jedoch grundsätzlich infrage zu stellen. Sie gehen nicht soweit, Schule anders zu denken, sondern machen mit gesundheitsfördernden Maßnahmen und sogenannten, auf scheinbarer Mitwirkung der SchülerInnen basierenden ›Projekten‹ die bestehende Schule erträglicher und letztlich, so die Absicht, effizienter.
6.2.3 S chlussbetrachtungen zum Typus 1: Arbeitspsychologischer Ansatz zur Disziplinierung der Körper zwecks Leistungssteigerung Bewegungsintensivierung – also »bewegte Pausen« und »bewegtes Lernen« – ist Mittel zum Zweck; sie soll den Lernerfolg steigern, die Lernmotivation stärken oder zumindest aufrechterhalten und das Halten ›normalen‹ Unterrichts ermöglichen. Dass solche Maßnahmen nötig sind, verweist auf Problematiken, die mit der institutionellen Verfasstheit schulischen Lernens zu tun haben. Indirekt wäre also genau daran eine Systemkritik festzumachen. Diese bleibt bei den Lehrpersonen dieses Typus aber weitgehend implizit, Veränderungen werden als unrealistische Visionen nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Mit der propagierten Wechselwirkung von Gesundheit und Lernerfolg wird im Bereich Schule eine Perspektive auf Gesundheit eingenommen, wie sie mit der betrieblichen Gesundheitsförderung in Wirtschaftsunternehmen bereits etabliert ist. In diesem Sinne schlagen verschiedene AutorInnen aus dem pädagogischen Feld vor, schulische Gesundheitsförderung in schulisches Qualitätsmanagement zu integrieren (vgl. auch Dür 2008; Paulus 2010; Griebler, Dür und Kremser 2009). ›Gesundheit‹ rückt damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wird Mittel zum Zweck für andere soziale Prozesse: hier für den Lernerfolg. In den Deutungen der diesem Typus zugehörigen Lehrpersonen wird sichtbar, wie sich in der Wahrnehmung des Auftrags schulischer Gesundheitsförderung der Diskurs mit demjenigen der Schulqualitätsentwicklung vermischt: Zielpunkt, ohne dass dieser explizit so benannt wird, scheint die ›gute,
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gesunde Schule‹ zu sein. Schule und Gesundheit werden zusammengedacht: Eine ›gute‹ ist eine ›gesunde‹ Schule und umgekehrt (vgl. Dordel, Breithecker 2003; Paulus 2010). Dabei scheint in der sich ab den 1990er Jahren häufenden Publikation von Handbüchern zu gesundheitsfördernden Schulen weder eine begriffliche Klärung des einen noch des anderen Begriffes auffindbar noch erforderlich, ebensowenig wird das Verhältnis zwischen ›gut‹ und ›gesund‹ als klärungsbedürftig erachtet (Brägger, Posse 2007; Vuille et al. 2007; Wulfhorst 2002; Naidoo, Wills 2010; Michaelsen et al. 2009; Wicki, Bürgisser 2008; Marchwacka 2013). Sportwissenschaftliche Untersuchungen nehmen innerhalb dieses Diskurses und auch in der Argumentation der Lehrpersonen dieses Deutungstypus eine hervorgehobene Bedeutung ein. Sie versuchen aufzuzeigen, wie sich eine gesteigerte motorische Leistungsfähigkeit positiv auf den Lernerfolg auswirkt. Maßnahmen im Bewegungsbereich würden die konzentrative Leistungsfähigkeit verbessern, zur Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts, zu einer grösseren Schulzufriedenheit und Lernfreude führen (vgl. Conzelmann et al. 2011; Dordel, Breithecker 2003). Durch Bewegung sollen die intellektuelle Leistungsfähigkeit und die Qualität des Lernens verbessert werden, ohne an bestehenden, häufig routinisierten pädagogisch-didaktischen Praktiken etwas ändern zu müssen. Interessant ist, dass in allen drei hier analysierten Interviews dieses Typus sich latente und teilweise auch explizit erwähnte Konflikte zwischen einer Bevormundungslogik und einer auf Autonomie ausgerichteten pädagogischen Haltung finden. Diese Ambivalenzen zeigen sich beispielsweise in einer kritischen Haltung gegenüber der Selektionsfunktion des staatlichen Schulsystems, die jedoch, dem Realitätsprinzip folgend, als gegeben angenommen wird. Mit einem gewissen Pragmatismus wird versucht, innerhalb des bestehenden Systems die Bedingungen so zu gestalten, dass möglichst schulischer Erfolg erzielt werden kann. Es werden Maßnahmen ergriffen, die innerhalb des bestehenden Rahmens das Lernen angenehmer gestalten. Die Schule wird von den Lehrpersonen dieses Typus letztlich als starre, unveränderliche Ordnung wahrgenommen, als eine – mit Foucault – Instanz für die »sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens« (Foucault 1983: 167). An dieser Ordnung gibt es nicht viel zu ändern. Charakteristisch für die Logik dieses Typus und zugleich Ausdruck ihres Engagements sind der hohe Grad an Institutionalisierung gesundheitsfördernder Maßnahmen, die rege Teilnahme an Programmen der Gesundheitsförderung und eine reiche Ausstattung an (Spiel-)Geräten. Es handelt sich bei den Schulen, in denen die Lehrpersonen dieses Typus tätig sind, interessanterweise um Schulen in gut situierten Stadtvierteln respektive um eine Landschule weitab von Problemen, wie sie an sozialen Brennpunkten manifest werden. Gesundheitsförderung dient diesen Schulen zur Profilierung gegen außen.
6. Deutungen der Lehrpersonen
6.3 T ypus 2: Paternalistisch - kompensatorische D eutung – G esundheitsförderung als M it tel gegen gesellschaf tliche F ehlent wicklungen Sämtliche dem kompensatorischen Typus zugehörigen Lehrpersonen verfügen über ähnliche Deutungen des Handlungsproblems: Zur Begründung, weshalb sie an ihrer Schule Gesundheitsförderung betreiben, führen sie negative Folgen gesellschaftlichen Wandels an. Die einer kompensatorischen Logik folgenden Maßnahmen, die sie im Rahmen der Gesundheitsförderung ergreifen und worauf sie ihren Fokus richten, lassen sich in zwei Untergruppen unterteilen: Die einen legen den Schwerpunkt auf sozialisatorische Bestrebungen, die anderen versuchen in einer Art therapeutischer Absicht, spezifische Fähigkeiten gezielt zu fördern. Zu Beginn wird wiederum die Deutung je einer Lehrperson pro Untergruppe ausführlich dargestellt. Ergänzend werden je weitere, leicht divergierende Aussagen und Deutungen zusätzlicher Lehrpersonen angefügt.
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K ompensatorisch - sozialisatorischer A nsat z
6.3.1 Leonie Fässler: Gesundheitsförderung als institutionalisierter Sozialisationsauftrag Leonie Fässler, eine 33-jährige Lehrerin, seit knapp einem Jahr gemeinsam mit einer Kollegin als Koordinatorin für Gesundheitsförderung in einer Schule tätig, die sich, wie sie sagt, in einem »gut durchmischten Quartier« befindet, beschreibt Gesundheitsförderung als ein institutionalisiertes Amt, das sehr umfangreich ist. Mit der Übernahme dieser Aufgabe drückt sich bei ihr ein Gestaltungswille aus: Sie möchte etwas bewirken, die Aussicht darauf motiviert sie. Durch die Schaffung gesundheitsfördernder Angebote tue die Schule »etwas sehr Gutes«. Was Gesundheit ist, worauf Gesundheitsförderung zielt, ist auch für Fässler schwierig in Worte zu fassen, es scheint eher etwas Gefühlsmäßiges zu sein. Gesundheit ist etwas, bei dem, bei dem ich das Gefühl habe, das macht wirklich, bietet neben allem, was man sonst in der Schule hat, einen, einen wichtigen Teil, den vielleicht ein paar Kinder ›eben‹ zuhause nicht mehr mitbekommen, was man ›eben‹ hier ein bisschen unterstützen kann. (I 04, 4)
Fässler stellt Gesundheitsförderung als einen zusätzlichen Auftrag oder vielmehr ein Angebot dar, neben dem, was man sonst in der Schule »hat«. Von hervorgehobener Bedeutung sind für sie diejenigen Kinder, die zu Hause ohne
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dieses Angebot etwas nicht mehr mitbekommen würden – was genau dies sein könnte, bleibt ausgespart. Gesundheit oder Gesundheitsförderung, so kann gefolgert werden, bedeutet für sie Unterstützung der zu Hause Deprivierten. Früher, so ihre implizite Vorstellung, war das offenbar anders, haben alle Kinder zu Hause dieses ›Etwas‹ mitbekommen, heute nicht mehr. Damals musste die Schule womöglich nicht aktiv werden, sie musste keine sozial ausgleichende Funktion wahrnehmen, sich nicht oder nicht in dieser Weise um das Thema Gesundheit kümmern. Heute hingegen muss ihrer Auffassung nach die Schule im Bereich Gesundheitsförderung eine kompensatorische Funktion übernehmen. Zu ihrem Mandat rechnet Fässler auch, die Eltern in die Pflicht zu nehmen, zu informieren über Belange, die sie dem Bereich der Gesundheitsförderung zuschreibt. Zugleich bereitet ihr diese Intervention auch Unbehagen. Ausgehend von einem Merkblatt, welches sie Eltern, deren Kinder nicht ein als ›gesund‹ befundenes Znüni mitbringen, individuell abgibt, meint sie: Und eigentlich fände ich es schön, wenn man einfach allen Eltern eines abgibt, dass es dann diese Eltern nicht, ja so ein bisschen diese Eltern ein bisschen muss speziell betreuen, die es ›eben‹ nicht so gut machen, sondern die bekommen einfach so dann auch mit//mhm//sonst muss man dann wirklich als Lehrperson sehr sanft vorgehen und Ihnen das//mhm//auf sie hinweisen oder das finde ich schon ein bisschen, das ist für mich sehr unangenehm, weil ich ja noch so jung bin und dort tue ich schon noch eher vorsichtig. (I 04,5)
Durch eine Art ›Gesundheitsmainstreaming‹ könnte, so ihre Hoffnung, eine von ihr befürchtete Stigmatisierung derjenigen Eltern verhindert werden, die ihre Sache »eben nicht so gut« machen. Ein an alle Eltern ausgehändigtes Merkblatt (hier dasjenige des Gesundheitsdiensts der Stadt Bern, das gemeinsam mit dem Schulzahnarztamt herausgegeben wird) bekäme so den Status einer festen Regel: Wer entsprechend den Vorgaben handelt, lebt gesund, wer die dort aufgelisteten Maßnahmen befolgt, macht es »gut«. Die Aufgabe, gewisse Eltern zurechtzuweisen, ist ihr unangenehm, besonders, so ihre Schilderung, auch wegen ihres noch jungen Alters. Mit zunehmendem Alter, so die darin enthaltene implizite Vorstellung, wird diese Aufgabe einfacher und bedarf eines weniger vorsichtigen Vorgehens. Zum noch jungen Alter fügt sie anschließend explizit als zweite Erschwernis hinzu, dass sie selber noch nicht Mutter ist. Alter und Mutterschaft, so ihre Auffassung, würde ihre Aufgabe im Bereich Gesundheitsförderung erleichtern: Mit mehr Erfahrung, so denkt sie, würde sie glaubwürdiger. Gesundheitsförderung bedarf in ihrem Verständnis somit der Lebenserfahrung. Über die Jahre gesammeltes Alltagswissen erscheint ihr ausreichend, um einen Expertinnenstatus zu erreichen, um legitimerweise Eltern in ihrem Erziehungshandeln
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anzuweisen. Diese Darstellung deutet auf ein charismatisches ExpertInnenverständnis hin. Vor dem Hintergrund einer für Berufseinsteigende charakteristischen Unsicherheit, Eltern überhaupt und im Besonderen auf ihr Handeln anzusprechen, erachtet sie es als Vorteil, auf institutionalisierte Programme und Praktiken Bezug nehmen zu können. Diese geben ihr Sicherheit und entlasten sie davon, ihre Handlungsweisen begründen zu müssen. Eine sachliche Begründung und auch eine Auseinandersetzung wird so hinfällig; es reicht, sagen zu können: ›Wir machen das so.‹ Solche institutionell abgesicherten und eingespielten Abläufe setzt sie gleich mit Professionalität. Vor dem Hintergrund des Professionsverständnisses nach Oevermann (1996) stellt sich hier die Frage, inwieweit institutionalisierte Praktiken fallspezifisches Handeln ermöglichen. Professionelles Handeln zeichnet sich dadurch aus, auf den einzelnen Fall bezogen zu erfolgen, der Problemlösung aus Sicht des Klienten oder der Patientin verpflichtet und professionsintern wie auch gegen außen begründbar. Die Institution oder institutionalisierte Praktiken als »bewusst gestaltete oder ungeplant entstandene stabile, dauerhafte Muster menschlicher Beziehungen« (Hillmann 1994: 375) hingegen stehen für Routinen, die eine bestimmte soziale Ordnung aufrechterhalten, der Einzelfall muss unter allgemeine Prinzipien subsumiert werden. Dieser letzte Aspekt, hoheitsstaatlichen Zwängen unterworfen zu sein, ist einer der Gründe, weshalb Lehrpersonen zu den sogenannten Semi-Professionen gerechnet werden (vgl. Schütze 1996). Konkret stellt sich die Frage, ob Fässler der vermuteten Problematik von Familien, deren Kinder ungesunde ›Znüni‹ mitbringen, gerecht wird, ob sich also die Eltern durch ein Merkblatt ernstgenommen oder in ihrer Autonomie angegriffen fühlen. Es stellt sich weiter die Frage, ob die Eltern mit der schriftlichen Information etwas anfangen und ob komplexe und sensible Muster wie familiäre Ernährungsweisen durch Informationsblätter beeinflusst werden können. Ganz grundsätzlich und in erster Linie stellt sich die Frage, wer über die Deutungshoheit bezüglich der Definition von gesunden und ungesunden Zwischenmahlzeiten verfügt.
Sondermaßnahmen bei einzelnen Fällen: stellvertretend für die Eltern handeln Wenn Kinder deutlich übergewichtig seien – was nicht nur von ihr mit Bewegungsmangel und falscher Ernährung gleichgesetzt wird –, fühlt sich Fässler als Lehrperson zu einer Intervention verpflichtet. Vergleichbar mit der Arbeitsweise einer Sozialarbeiterin beginnt sie eine Art ›Case-Management‹. also es gibt wirklich Fälle, bei denen, bei denen, also ich habe letztes Jahr ein Kind in der Klasse gehabt, das wirklich sehr übergewichtig gewesen ist und da ist dann das Jugendamt eingeschaltet worden und die schauen jetzt und der hat wirklich schon ein
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Im Namen der Gesundheit bisschen abnehmen können//ja//weil er einfach Bewegung hat, er macht es eigentlich gerne, aber er hat nie die Möglichkeit gehabt und dann haben wir (ihn?) so einschleusen können in all diese Kurse, die wir hier im Schulhaus haben (I 04,25)
Neben den normalen Kindern gibt es in ihrer Wahrnehmung »wirkliche Fälle«, also einzelne Kinder die »wirklich sehr übergewichtig« sind. Als gäbe es andere, nicht wirkliche Fälle, wahrscheinlich Kinder, die nicht wirklich, sondern nur scheinbar übergewichtig sind, als solche wahrgenommen und zu solchen gemacht werden. Fässler scheint sich mittels dieser Spezfizierung abzugrenzen von Dramatisierungen, von einer Tendenz, Kinder zu Fällen zu machen, die gar nicht wirklich übergewichtig sind, sondern vielleicht einfach ein wenig dicker (vgl. Barlösius 2012). Implizit drückt sie damit aus, dass die Grenze zwischen denen, die wirklich übergewichtig sind, und denjenigen, die lediglich ein wenig mehr Gewicht haben, schwer zu ziehen ist. Der Fall, von dem sie spricht, sei jedoch ein klarer, »wirklicher« Fall, seinetwegen wurde sogar das Jugendamt eingeschaltet – ein verwaltungsrationaler, institutionalisierter Ablauf, mit dem sie erneut die eigene Wahrnehmung und das eigene Handeln legitimieren kann. Das Jugendamt schaue jetzt für das Kind, anstelle der Eltern und der Lehrperson. Und tatsächlich konnte das betreffende Kind, ein Junge, bereits »ein bisschen abnehmen«: Abnehmen zu können, ist offenbar das selbstverständliche Ziel. In der Schilderung wird der Junge zum Objekt, zum Fall. Weil er nun »einfach Bewegung« habe, habe er auch ein wenig abgenommen. Die Ausdrucksweise deutet darauf hin, dass das Kind sich nicht autonom bewegt, sondern es »hat« Bewegung: Dies geschieht innerhalb eines Settings, eines spezifischen Rahmens. So zu sprechen, stellt eine Versachlichung dar und drückt eine Distanzierung vom Subjekt aus, es handelt sich tendenziell um eine sozial-technokratische Auffassung von Problemlösung. Die nachfolgende Äußerung, er mache es »eigentlich« gerne, bestätigt, dass er nicht autonom handelt – erst jetzt, indem er zu Bewegung angehalten wird, bewegt er sich respektive wird er bewegt. Dabei erhält er keine individuell auf ihn zugeschnittene Bewegungstherapie, sondern er wird in bestehende Kurse eingeteilt. Sie habe ihn »eingeschleust«; ›einschleusen‹ hat den Beigeschmack von etwas Illegitimem: jemanden unbemerkt, heimlich durch ein Kontrollsystem hindurchbringen, als hätte das Kind kein Anrecht auf die Teilnahme oder würde gewisse Bedingungen unterwandern. Die Bezeichnung »in all diese Kurse« zeugt nicht von hohem Ansehen derselben oder aber von keiner klaren Kenntnis, worum es bei diesen Kursen eigentlich geht, was da genau gemacht wird. Offenbar reicht die Teilnahme an einem solchen Kurs nicht, der Junge nimmt gleich an »allen« teil. und dann hat die Mutter, die völlig überfordert ist, überhaupt nichts damit zu tun gehabt//ja//und dieses Kind hat seinen Spaß gehabt und hat das machen können und es
6. Deutungen der Lehrpersonen ist. die Mutter nicht noch mehr belastet gewesen mit dem//ja//und ich denke solche Sachen ist ›halt‹ auch immer gut, dass man solche Leute ein bisschen kann ... ja, die einfach sonst schon viel zu tun haben (I 04, 25)
Der ganze Akt, so die Darstellung Fässlers, dient auch der Entlastung der Mutter, die »völlig überfordert« sei. Damit wird ein weiterer Kausalzusammenhang geschaffen zwischen Übergewicht, fehlender Bewegung und nun noch der überforderten Mutter. Sie hat dank den Institutionen nichts mehr damit zu tun – was bedeuten kann: keinen Aufwand mehr, zugleich aber auch keinen Zugang mehr zu dem, was ihr Kind macht, machen muss, was mit ihm gemacht wird. Die Maßnahme scheint in der Wahrnehmung von Fässler erfolgreich zu sein: Der Junge hat »seinen Spaß«, konnte »das« machen, was ihm offenbar gut tut, und die Mutter wurde nicht noch zusätzlich belastet. Den Fall schildert sie als Erfolgsgeschichte, die Interventionen deutet sie als Dienst am Wohl des Kinds. ich habe jetzt auch ein Kind in der Klasse, bei dem die Mutter ›am Rand läuft‹ und ich denke das passiert einfach schon in der heutigen Zeit, dass alleinerziehende Elternteile ... ja einfach manchmal an die Grenzen kommen und dann ist, solche Sachen sind einfach noch ›gerade‹ zu viel und noch das Kind in einen Kurs bringen//mhm//oder noch schauen am Morgen, was es ›Znüni‹ mitgibt und dann tut man ›halt‹ einfach das ›gerade‹ einpacken, was man hat//mhm//und dann hat man nicht noch Zeit, eine Viertelstunde Brötchen zu schmieren oder am Tag vorher noch überlegen im Migros »was kaufe ich jetzt genau?«//mhm//ich denke. solche Leute kann man wirklich unterstützen mit solchen Projekten. (I 04,25)
Hier wird erneut deutlich, dass sie die gesundheitsfördernden Projekte und Interventionen als Unterstützung von Familien, insbesondere von alleinerziehenden Müttern betrachtet, die selber zu wenig Ressourcen haben, um ihre Kinder adäquat zu ernähren oder ihnen ausreichend Bewegung zu ermöglichen. Darin sieht sie eine Funktion von Gesundheitsförderung: die Eltern zu unterstützen, den Kindern eine gesunde Lebensführung zu ermöglichen – wenn nicht anders möglich auch über den Weg des Jugendamts. Gesundheitsförderung ist somit eine Erweiterung des Bildungsauftrags in Richtung der Sozialarbeit, zum Schutz des Kindswohls – ohne dass sie dies explizit so benennt. Sie erachtet es als ihre Aufgabe und innere Pflicht, Kindern aus schwierigen familiären Verhältnissen gesundheitsfördernde Unterstützung zu bieten. Als Lehrperson verbringt sie viel Zeit mit den Schulkindern, kann ihre Entwicklung beobachten und ist in der Wahrnehmung des Bildungs-, Schulungs- und Erziehungsauftrags im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags auch verpflichtet, sich am Kindswohl zu orientieren und zu diesem Zweck mit Eltern und
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allenfalls Vormundschaftsbehörden zusammenzuarbeiten. Inwieweit Abweichungen vom sogenannten Normalkörper auch unter diesen Auftrag fallen, sei dahingestellt; hier wird ›Übergewicht‹ jedenfalls unhinterfragt als Anlass zum Handeln angenommen.
Verinnerlichung von Selbstdisziplin: Bewegung im Alltag als Mittel gegen Übergewicht Im Bereich Bewegungsförderung erfolgen Fässlers Interventionen auf einer ganz anderen Ebene und mit einer anderen Begründung als bei den Lehrpersonen des arbeits- und lernpsychologischen Typus. Gesetzt ist jedoch auch bei ihr, dass Bewegung gut und notwendig ist und ermöglicht werden soll. Innerhalb der Klasse veranstaltet sie kaum angeleitete Bewegungssequenzen oder leitet nicht an zu »bewegten Pausen«. Ein Grund dafür liegt in ihrer Auffassung von Unterricht sowie in der Tatsache, dass sie an einer Mehrjahrgangsklasse arbeitet: wir haben eigentlich so einen Unterricht, bei dem jedes Kind nach einem Plan arbeitet und eigentlich dort arbeitet, wo es ›gerade‹ selber auswählt und dann ist jedes Kind sowieso an einem anderen Ort und dann//ja//si-, tue ich ja nicht frontal unterrichten und es müssen alle mir zuhören und niemand darf sich bewegen, also die dürfen wirklich, können auch ihr Zeug nehmen und mal hinten gehen arbeiten oder lesen können sie auch einfach mal da hinten, in die Lese-Ecke ein bisschen gehen sich hinlegen oder so, also wirklich jeder, der es ›gerade‹ braucht. (I 04,8)
Die Planarbeit gibt vor, was die Kinder zu tun haben, wobei sie innerhalb des vorgegebenen Programms relativ frei wählen können, wann sie was tun möchten. So erfolgt auch Bewegung nach eigenem Gutdünken, nach Bedarf. Angeleitete Bewegungssequenzen würden, so schildert Fässler anschließend, die Kinder nur aus der Konzentration herausreißen und zudem von den Schulkindern auch als »blödelig« empfunden. Wenn, dann gestalte sie kurze, spielerische Sequenzen, beispielsweise wenn vom Unterricht her eh die Sozialform gewechselt werden muss. Bewegung gehört für sie jedoch vor allem in den Sportunterricht und auf freiwilliger Basis in die Pause. Zu den angeleiteten Bewegungssequenzen innerhalb des Unterrichts meint sie weiter Ja, ja also nicht zu-//I: Also nicht dass//zu extrem//jaja//dass wir ›gerade‹ immer wieder solche Übungen machen, bei denen wir sagen ›jetzt tun wir eine Hand bewegen oder einen Fuss bewegen‹ das, das nicht//ja//weil ich eigentlich selber das ja nicht so gerne habe. (I 04,9)
6. Deutungen der Lehrpersonen
Von angeleiteten Bewegungssequenzen hält sie nicht viel, auch weil sie selber nicht gerne direktiv zu Bewegung angeleitet wird. Angeleitete Bewegungssequenzen, so das Bild, das sie zeichnet, machen Individuen zu Marionetten. Ihr Verständnis von Bewegung, die sie fördern will – das wird dabei deutlich – ist nicht zu vergleichen mit der betriebspsychologischen Deutung des ersten Typus und auch nicht mit angeleiteten, quasi-therapeutischen Bewegungssequenzen und -übungen, wie sie von Lehrpersonen weiter unten beschrieben werden. Ich finde die Kinder sollen auch lernen einfach im Alltag//mhm//sich bewegen, ›eben‹ die Treppen oder, oder einfach, ja, nicht zu faul sein, um schnell das holen gehen oder das holen gehen//mhm//so ein bisschen so und, und ähm die, ja in der Freizeit können sie ja immer noch Fussball spielen und so, das muss ich nicht unbedingt anbieten (I 04,9)
Ihr Ziel wäre es, den Kindern zu vermitteln, dass sie sich im Alltag bewegen sollen. Ihre persönlich motivierte Absicht reicht damit in die Lebenswelt der Schulkinder hinein und zielt auf innere Haltungen. Kinder sollen lernen, sich im Alltag zu bewegen. »Nicht zu faul sein«, um sich zu bewegen, um »etwas holen zu gehen«. »Etwas holen gehen« deutet auf einen Extraaufwand hin, ›schnell etwas holen gehen‹ ist eine häufige Anweisung von Erwachsenen an Kinder, von Vorgesetzten an Untergebene und bedeutet einen Dienst, der mit physischer Anstrengung verbunden ist. Es bedarf jedoch eines Anstoßes, einer inneren Motivation oder eines Befehls, damit man etwas holen geht; die innere Bereitschaft gilt es in der Vorstellung von Fässler bei Kindern zu verinnerlichen. Dasselbe gilt für das Treppensteigen – übrigens ein vom BAG propagiertes Mittel für Erwachsene, um auf die empfohlenen 30 Minuten Bewegungszeit pro Tag zu kommen.9 Die Treppe hochzusteigen statt den Lift zu nehmen, ist eine rationale Entscheidung; der Extraaufwand wird in Kauf genommen, weil die Aktivität der Gesundheit zuträglich sein soll. Dabei muss die eigene Bequemlichkeit überwunden und ein Verzicht geleistet werden. Dies bedarf der Selbstdisziplin, von Fässler umschrieben mit »nicht zu faul zu sein«. Diese Haltung, innere Disziplin und rationale Denkweise, sollen Kinder verinnerlichen; sie dabei zu unterstützen, erachtet sie als ihre Auf9 | Bis 2012 wurde vom BAG täglich 30 Minuten Bewegung empfohlen. 2013 wurde diese Empfehlung im Einklang mit internationalen Entwicklungen neu formuliert. Neu wird der wöchentliche Gesamtumfang der körperlichen Aktivität betont, aktuell zweieinhalb Stunden Bewegung pro Woche in Form von Alltagsaktivitäten und Sport, idealerweise auf mehrere Tage verteilt. Die Empfehlungen wurden vom Netzwerk Gesundheit und Bewegung Schweiz hepa.ch überarbeitet und herausgegeben. URL: www.bag.admin.ch/ aktuell/00718/01220/index.html?lang=de&msg-id=48830 (Stand: 13.4.2014).
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gabe als Lehrerin. Sie fungiert dabei als Hüterin der gesunden Lebensweise, und in gewissen Fällen interveniert sie. Die Schule vermittelt durch Gesundheitsförderung, was gesunde Lebensweisen sind und wirkt bei Bedarf auch auf die Eltern ein. Die Lehrperson schaut nicht weg, sondern hin, beobachtet, kontrolliert, informiert weiterführende Stellen und schafft Angebote für diejenigen Kinder, die zu Hause nicht ausreichend Unterstützung erfahren, d.h. nicht gut ernährt werden und nicht ausreichend Bewegung haben. Der institutionalisierte Charakter von Gesundheitsförderung hilft der Lehrerin, ihr Handeln zu legitimieren – eigentlich würde es sich, so Fässler implizit, um eine Aufgabe der Eltern handeln. Sportliche Tätigkeiten in der Freizeit überlässt sie den Familien, außer bei denjenigen, die keinen Zugang haben zum Vereinssport. Bei Sonderfällen hilft sie bei der ›Einschleusung‹ via Sozialdienst in eine obligatorische Teilnahme am freiwilligen Sportangebot der Schule. Der besagte Junge musste, so die Darstellung der Lehrerin, zu seinem Glück gezwungen werden. ich finde ich möchte eigentlich nur in einem Schulhaus arbeiten, in dem solche Ziele auch drin Platz haben//mhm//und solche Projekte drin Platz haben und nicht nur das Schulische an und für sich, sondern ›eben‹ auch Gemeinschaftsprojekte//mhm//oder ›eben‹ gezielt auf Gesundheit oder das Platz hat drin, weil das ist etwas, das ja ... das man einfach in der heutigen Zeit ist einfach wichtig, dass die Kinder das mitbekommen und wenn es ›eben‹ eine Schule nicht macht und eine Schule ist ja doch irgendwo ein, ein ... ja gegen außen hin so repräsentativ und wenn dann ist das auch ein Zeichen »uns ist das vielleicht nicht so wichtig« oder ähm//mhm//wir haben jetzt ›gerade‹ keine Zeit für das, und warum sollen dann die Eltern Zeit haben für das oder warum soll es ihnen dann wichtig sein, wenn die Schule es nicht macht. (I 04,7)
Die Schule ist ihrer Auffassung nach nicht nur für »das Schulische« zuständig. Es müsse auch Platz sein für Projekte oder Aufgaben, welche die Gemeinschaft oder eben auch die Gesundheit betreffen. Fässler sind Ziele, die mit diesen zusätzlichen Themen verbunden sind, von zentraler Wichtigkeit. Und sie erachtet es als eine Frage des »Schulhauses«, ob diesen ein Gewicht beigemessen wird oder nicht. Hierzu leistet sie als Koordinatorin für Gesundheitsförderung ihren Beitrag.
Resümee: Vermittlung von Normen der Lebensführung als Zusatzauftrag der Schule In Gesundheitsfragen spricht Fässler der Schule eine Vorbildfunktion zu: Die Schule wirkt normativ auf die familiären Verhältnisse, zum anderen agiert sie subsidiär für diejenigen Eltern, die ihren Auftrag in Sachen Gesundheitsförderung nicht wahrnehmen (können). Insgesamt, so die Einschätzung von Fässler, wird in der aktuellen Gesellschaft der Gesundheit nicht ausreichend Ge-
6. Deutungen der Lehrpersonen
wicht gegeben. Hier müsse die Schule ein Zeichen setzen: Wenn es die Schule nicht mache, weshalb sollen die Eltern es für wichtig befinden?
6.3.2 Hanspeter Stähli: Gesundheitsförderung als Elternbildungsprojekt Kennzeichnend für diesen Typus ist die Auffassung, dass die Schule im Namen des Wohls der Kinder vermehrt Aufgaben übernehmen muss, die eigentlich von den Eltern getragen werden sollten. Dabei legen die Lehrpersonen ganz unterschiedliche Schwerpunkte und erachten dementsprechend auch unterschiedliche Mittel als zielführend. Der in der Folge beschriebene Lehrer setzt stark auf die Zusammenarbeit mit den Eltern, um seinem Ziel näher zu kommen, den Medienkonsum einzudämmen.
Gesundheitsförderung als er weiterter Auftrag Hanspeter Stähli, 53 Jahre alt und an einer 6. Klasse tätig, sieht, angesprochen auf Gesundheitsförderung, ebenfalls dringenden Handlungsbedarf und erachtet es als seine Aufgabe als Lehrperson, hier aktiv zu sein. Auf die Frage, was Gesundheitsförderung seiner Auffassung nach sei und welchen Stellenwert diese für ihn habe, beginnt er folgendermaßen: Also es gibt Bereiche, die, die müssen wir übernehmen für die Eltern//ja//(Kindergeschrei im Hintergrund), hoppla (L schließt die Türe, räuspert sich) (I 05, 1)
An den Anfang stellt er die Tatsache, dass gewisse Bereiche von der Schule übernommen werden müssen, wobei er die Zwangsläufigkeit betont, als würden die Lehrpersonen dies nicht freiwillig oder qua Auftrag tun. Angesprochen auf Gesundheitsförderung hebt er diese als etwas Zusätzliches hervor, das unfreiwillig übernommen werden müsse. Hierbei stellt sich die Frage nach seinem Verständnis der Schule als gesellschaftlicher Institution und ihrer Funktion. Er spricht, als wäre es nicht grundlegend für die Verfasstheit der Schule, dass ihre Aufgaben den Bereich der Erziehung tangieren. Wer die Schule als gesellschaftliche Institution versteht, wie beispielsweise Bernfeld (1990)10 und später auch Bourdieu und Passeron (1971) oder wie Fend, der die 10 | Nach Bernfeld liegt die Genese der Institution Schule nicht in den mittels Didaktik zu vermittelnden expliziten Lehrplaninhalten begründet: »Die Institution Schule ist nicht aus dem Zweck des Unterrichts gedacht und nicht als Verwirklichung solcher Gedanken entstanden, sondern ist da, vor der Didaktik und gegen sie. Sie entsteht aus dem wirtschaftlichen – ökonomischen, finanziellen – Zustand, aus den politischen Tendenzen der Gesellschaft; aus den ideologischen und kulturellen Forderungen und Wertungen, die dem ökonomischen Zustand und seinen politischen Tendenzen entsprangen; aus
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Schule als Ort »der gesellschaftlich kontrollierten und veranstalteten Sozialisation« (Fend 1981: 2) beschreibt, würde die Subsidiarität zwischen Elternhaus und Schule als gegeben annehmen und keine Trennung vornehmen zwischen ›schulischen Unterrichtsinhalten‹ und solchen, die zusätzlich übernommen werden müssen. Indem Stähli zugleich hervorhebt, Bereiche für die Eltern »übernehmen zu müssen«, erhebt er Gesundheitsförderung zu etwas Besonderem, Außerordentlichem. Unklar bleibt, wen er mit »wir« umschreibt, ob er hier für den gesamten Lehrerstand spricht, für sein Kollegium oder gar nur für sich und die Arbeit mit seiner Klasse.
Bewegung als Mittel gegen Medienkonsum Es folgt die Beschreibung des zusätzlich anstelle der Eltern zu übernehmenden Bereichs: also es ist der ganze Medienkonsum, welchem, welchem die Kinder ja wahnsinnig ausgesetzt sind//mhm//. Also Fernseher schauen, gamen, Telefon… und damit hängt nachher zusammen, dass sie eine gewisse Bewegungsarmut haben, oder//mhm//(I 05,1)
Es geht um Medienkonsum, dem die Kinder ausgesetzt seien. Mit »wahnsinnig« verwendet er einen Kraftausdruck, welcher alltagssprachlich ein ›ungesundes‹ Maß beschreibt. In seiner Aufzählung der verschiedenen Typen von Medien verrät er seine Generationenzugehörigkeit, indem er beispielsweise die von Heranwachsenden verwendeten Begriffe nicht erwähnt: ›chatten‹, ›SMS‹, ›iPhones‹ und sonstige Termini erscheinen hier nicht, stattdessen das altmodisch anmutende »Telefon«. Folge dieses Medienkonsums, so seine Kausalitätskette, an der für ihn kein Zweifel besteht, sei eine »gewisse Bewegungsarmut«. Möglich wäre, dass er mit der Spezifizierung als eine »gewisse« Armut Fingerfertigkeiten im Umgang mit den elektronischen Geräten ausklammert, oder dass er in Rechnung stellt, dass der Medienkonsum ja sportliche Betätigung nicht a priori ausschließt, sich die Heranwachsenden ja nur während sie vor den Geräten sitzen, nicht bewegen. Den Eltern jedenfalls spricht er die Fähigkeit grundlegend ab, bezüglich der Medien, denen die Kinder ausgesetzt seien, adäquat, im Sinne des Wohls der Kinder handeln zu können. Die Schule, den (zweck-)irrationalen Anschauungen und Wertungen, die die psychische Beziehung alt–jung, die Bürgerschaft in einer bestimmten Gesellschaft, in einer bestimmten Ordnung ihrer Klassen, unbewusst und unkorrigiert erzeugt. In welcher Richtung immer diese Kräfte wirken mögen, es ist von vornherein unwahrscheinlich, dass sie die Erreichung des didaktischen Zwecks garantieren, es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass sie ihm neutral gegenüberstehen. Sondern es ist sehr zu erwarten, dass sie ihn vielfach brechen und ablenken.« (Bernfeld 1990: 27)
6. Deutungen der Lehrpersonen
so seine Haltung, muss hier subsidiär eine Aufgabe übernehmen, die eigentlich diejenige der Eltern wäre. Und das probiert man so mit diesem ›schule.bewegt‹ ein bisschen aufzufangen//mhm//, das kann man ja kommen lassen (I 05,1)
Gegen Bewegungsarmut gibt es offenbar ein Programm, welches Abhilfe verspricht. Dieses trägt den Namen ›schule.bewegt‹11 und man könne es »kommen lassen« – als würde es sich um eine Versandware handeln, die bestellt werden kann und die ins Haus, hier ins Schulhaus, geliefert wird. Die von ihm gewählte Formulierung zeugt nicht gerade von hoher Wertschätzung und Relevanz, die er dem ins Haus geholten Programm zuspricht. Ebenso drückt er gegenüber dessen Erfolg Skepsis aus: Man probiere »das« ein bisschen aufzufangen. In seiner Darstellung scheint er sich von diesem Versuch eher zu distanzieren, er spricht nicht mehr in der ›Wir-Form‹; ganz gelingen wird das Vorhaben wahrscheinlich nicht. Eben das haben wir und das baue ich so ein, diese Bewegungen, dass sie dann nachher nicht, es ist nicht das gleiche, wie wenn sie nach draußen Fussball spielen gehen oder so//mhm//, sondern es sind koordina-, koordinative Spiele//mhm//, und so weiter. Ähm, Sachen, wie sie sich sonst nicht bewegen würden, das baue ich ein in den Wochenplan//mhm//, also es sollte ja so annähernd 20 Minuten geben pro Tag. (I 05,1)
Gesetzt ist, dass sie an der Schule, an der er arbeitet, diese Programme haben und er gemäß der Auflage diese Bewegungssequenzen nun in seinen Unterricht einbaut, gleich einem Baukastensystem – de facto ist er dazu sogar verpflichtet, was er nicht erwähnt. Im Rahmen des Programms werden spezifische Koordinationsbewegungen geübt – als ob sie, die Kinder, sich sonst nicht bewegen würden –, Bewegungen, welche der didaktischen Absicht folgen, die Koordination zu verbessern. Das angefügte tägliche Soll von 20 Minuten deutet auf den Programmcharakter hin, dem er sich, trotz einer gewissen Skepsis, beugt.
11 | ›schule.bewegt‹ ist der Titel eines Bewegungsförderungsprogramms, mit dem das vom Bundesamt für Sport BASPO geleitete Projekt ›Bewegte Schule‹ konkret an den Schulen umgesetzt werden soll. Schulen, die sich anmelden, verpflichten sich, pro Schultag mindestens während 20 Minuten die Bewegungsideen, die sie zugestellt bekommen, umzusetzen und damit die Schulkinder zu intensiver Bewegung während des Unterrichts anzuhalten. URL: www.schulebewegt.ch/internet/Schulebewegt/de/ home/Mitmachen.html (Stand: 12.3.2015).
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Gesellschaftliche Fehlentwicklungen mithilfe des ›Elternnetzes‹ auffangen Unvermittelt wechselt er gleich im Anschluss an die Darlegung der unterschiedlichen Kategorien von Bewegung zurück zu den Medien, dem eigentlichen Thema, das ihn umtreibt, und das er, gemeinsam mit einer Kollegin, ganz oben auf die Agenda setzt. Hiermit ist das »Wir« konkretisiert; es bezieht sich nicht auf alle Lehrer und auch nicht auf das Kollegium seiner Schule, sondern auf eine Kooperation mit einer Kollegin derselben Schulstufe – eine Zusammenarbeit die, wie er später ausführt, von der Schulleitung gutgeheißen wurde. Ähm, das mit den Medien, da sind wir daran, die Kollegin und ich, wir haben so ein Elternnetz aufgebaut, in welchem die Eltern unter sich arbeiten, diskutieren//mhm// und nachher gibt es so Plenumsanlässe, an welchen wir nachher austauschen. Und da ist jetzt der erste Anlass, geht es eben tatsächlich um, um Medien, Schüler und, und Medienkonsum. Und dort wollen wir einfach diese Eltern auch ein bisschen sensibilisieren//mhm//, darauf zu schauen, wie viel diese Kinder eigentlich vor, vor diesen Kasten sitzen. (I 05,1)
Nun schildert er, was er mit viel Engagement und Überzeugung zusammen mit seiner Kollegin auf baut. Er macht hier nun nicht einfach mehr nur mit und probiert etwas, sondern hier ist er involviert und versucht, selber etwas zu gestalten. Ein Elternnetz, das die Kollegin und er aufgebaut haben, soll die Eltern anregen, »unter sich zu arbeiten, zu diskutieren«. Als Lehrpersonen sind sie die Organisatoren und Gründer dieses Netzes und nehmen Teil an den Plenumsanlässen, an welchen der Austausch stattfindet. Zusätzlich, so die Konzeption, soll es Arbeitsphasen geben, während denen die Eltern sich im privaten Rahmen treffen und unter sich arbeiten. Die Namensgebung »Elternnetz« lässt die Anwesenheit von Lehrpersonen als fraglich erscheinen. Oder es könnte sich um ein Instrument in ihren Händen handeln, die Eltern näher an die Schule zu binden oder die Eltern untereinander näher zu bringen, zu organisieren. Dass die Initiative von den Lehrpersonen kommt, hat etwas Irritierendes und wirft die Frage auf, was der erwartete Nutzen der Schule sein könnte und welche Rolle die Lehrpersonen hierin spielen. Netzwerktheorien aus der betriebswirtschaftlichen Literatur heben die Qualität der Beziehungen hervor, die bei einer netzwerkartigen Koordination entsteht. Sie sei im Sinne einer »vertrauensvollen Kooperation«, im Gegensatz zu den üblichen Formen der Steuerung, nicht vom Markt oder der Hierarchie geprägt. Nicht Preise oder Anweisungen würden die Kooperation prägen, sondern eben Vertrauen. Dabei, so beispielsweise Sydow (2006), bestehen die Netzwerke aus weitgehend autonomen Komponenten, die auf freiwilliger Basis zur Durchführung gemeinsamer Projekte kooperieren. Gemeinsam wird versucht, mittels Zu-
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sammenarbeit ein selbstgestecktes Ziel zu erreichen. Bezogen auf das hier zur Diskussion stehende »Elternnetz« wäre zu untersuchen, inwieweit es sich um ein gemeinsam festgelegtes Ziel handelt, ob die beiden InitiatorInnen, Stähli und seine Kollegin, ihre Ziele offenlegen und wie weit eine durch Lehrpersonen initiierte Veranstaltung den Charakter von Freiwilligkeit behalten kann. Explizites Ziel dieses Netzes ist es, so die Ausführungen Stählis, die Eltern »ein bisschen zu sensibilisieren«. Die Eltern sind zunächst einmal aufgefordert zu »schauen«, wie viel Zeit ihre Kinder vor den Medien sitzen. Auf etwas schauen heißt, etwas zu betrachten, unter die Lupe zu nehmen, aber auch sich zu achten, hier auf die zeitliche Dauer. Die Aufforderung richtet sich an die Eltern, Untersuchungen zum Verhalten ihrer Kinder anzustellen. Beim zu untersuchenden Medienkonsum wird nicht differenziert zwischen den verschiedenen Medien und Tätigkeiten, sondern es soll gemessen, quantifiziert werden, wie viel Zeit vor »diesem Kasten« verbracht wird – sei dies der Fernseher oder der Computer. Die kleinen Geräte – die Smartphones, wie angenommen werden kann – sind von dieser Erhebung ausgenommen, zumal sie ja auch nicht zum Stillsitzen zwingen und auch nur in kurzen Sequenzen in Betrieb genommen werden, was eine Messung deutlich erschwert. Zugleich haben sie dem Fernseher bezüglich Konsumdauer den Rang abgelaufen.12 Die Formulierung »vor dem Kasten sitzen« deutet darauf hin, dass der Medieninhalt von den Urhebern des Netzes als problematisch eingestuft und mit passivem Konsum gleichgesetzt wird. I: Also darf ich schnell fragen, das Elternnetz, das ist eigentlich wie thematisch offen, das hat sich jetzt ergeben, das, das aus diesen Gesprächen//ja//von den Eltern ds-
Die Interviewerin möchte herausfinden, wer innerhalb des Netzes die Themen setzt. Implizit erfragt sie den Grad der Steuerung durch die InitiatorInnen respektive die Möglichkeit der Mitbestimmung der teilnehmenden Eltern. Wir haben das angefangen, um die Eltern näher an die Schule hinzubringen//ja//und nachher ist es naheliegend, dass man, dass man einfach solche Probleme stellt// mhm//, die, ja die wir hier auch abfedern müssen, also man merkt es ja auch in der Schule, wie diese Kinder schreiben, oder wie sie nicht mehr stillsitzen können, wie sie alles gerade sofort haben müssen und so weiter//mhm//, es ist ein ganzer Berg, den ich 12 | Dies gilt jedenfalls für Jugendliche, so die seit 2010 alle zwei Jahre durchgeführte JAMES-Studie, in welcher über 1.000 Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren in der Schweiz zu ihrem Medienverhalten befragt werden. Durchgeführt wird die Studie von der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften im Auftrag von Swisscom. http://psychologie.zhaw.ch/de/psychologie/forschung/medienpsychologie/medienumgang/james.html (Stand: 12.3.2015).
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Im Namen der Gesundheit jetzt da aufzählen könnte, im Verhalten von den Kindern, welches ich zu einem großen Teil zurückführe auf, auf dieses Medienverhalten//mhm//. (I 05,2)
Wer sich ›gesunde Schule‹ nennen will, muss mit Eltern Themen wie Medienkonsum ansprechen und gewisse »naheliegende Dinge« problematisieren. Von Seiten der Eltern würde der Medienkonsum gar nicht als problematisch erkannt, so die Einschätzung Stählis. In der Schule hingegen werden die Konsequenzen manifest und müssen, so seine Darstellung, dort auch abgefedert werden. So ist es für ihn nichts als logisch, dass die Schule aktiv wird und das Problem den Eltern »stellt«. Deshalb gründete er das »Elternnetz«, mit dem er die Eltern näher an die Schule binden will. Er möchte als Lehrperson seinen Einfluss ausdehnen, in die Elternhäuser hinein, und Einfluss nehmen auf das Freizeitverhalten, da dieses Auswirkungen zeigt auf das allgemeine Verhalten der Kinder sowie auf deren schulische Leistungen. Um nicht ohnmächtig zuschauen zu müssen, gründet er das »Elternnetz«. Gesundheitsförderung gibt Stähli die Legitimation, den Bildungsauftrag, wie er ihn versteht, auf die Eltern auszudehnen. Hierbei wählt er eine spezifische Form: keinen Elternabend, den er obligatorisch erklären könnte, sondern ein auf zumindest formaler Freiwilligkeit basierendes Netz, das dem gegenseitigen Austausch, und aus seiner Sicht der Aufklärung dient. Einfach mal so, in die Luft gestellt//mhm//. Unter-, Untersuchungen gibt es glaube ich nicht wirklich stichhaltige, also habe ich noch nicht gefunden, aber so logisch überlegt, müsste es eigentlich so sein//mhm//. Ja, das dünkt mich ganz wichtig, wenn man von einer gesunden Schule spricht, dass, dass man das auch thematisiert. (I 05,2)
Zum von ihm als problematisch wahrgenommenen Medienverhalten verfügt er, wie er freimütig offenlegt, nicht über spezifisches, wissenschaftlich abgesichertes Wissen; er bedient sich seines gesunden Menschenverstands, überlegt logisch und zieht Schlüsse aus den Beobachtungen, die er in der Schule macht. Seine Kausalitätsketten sind klar, er scheint bereits im Voraus zu wissen, welches die Probleme sind. Die beobachteten Verhaltensweisen der SchülerInnen – wie sie schreiben (wobei hier nicht klar wird, ob er den Schreibstil, den Inhalt, die Schrift oder Grammatik meint), wie sie nicht stillsitzen können und unfähig sind zu Bedürfnisaufschub – führt er fraglos auf den zu großen außerschulischen Medienkonsum zurück. Nun konfrontiert er die Eltern mit dem von ihm erkannten Problem, dies stellt er »einfach mal so in die Luft«. I: Und das ist dann aus Eigeninitiative entstanden von euch//ja//beiden, ja, aha//(unverständlich)//. Und der Anlass ist aber, dass ihr schon wie findet dazu-, also äh, so ein bisschen zugespitzt, der Zustand von den Kindern ist so, dass es so etwas braucht, eben so eine Zusammenarbeit und -
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Nachdem geklärt ist, wer die Themensetzung zumindest zu Beginn dieses »Elternnetzes« vornimmt, möchte die Interviewerin noch mehr wissen zum Modus und zur Begründung dieser freiwilligen Zusammenarbeit, die, was der Name »Elternnetz« an sich nicht ausdrückt, von den zwei Lehrpersonen initiiert und inhaltlich gesteuert wird. Eine verstärkte Zusammenarbeit, ja, weil ähm, zum Teil sind es Eltern, die wir finden äh, die kommen nur, wenn, wenn etwas schief geht, oder//mhm//, und andere Eltern, die wir zitieren müssen, weil etwas schief geht, oder, und Eltern, die wir nie sehen, oder nicht also herkommen, aber sehen, dem Kind geht es nicht gut//mhm//, es ist irgendwie etwas nicht gut, es hat manchmal recht happige Sachen, die umher sind, und wenn wir da so diese, ein Netz spannen könnten, dass auch die Eltern untereinander zusammen sprechen, das wäre einfach die Idee. (I 05,2)
Die Initiative, einen solchen Austausch unter Eltern zu initiieren, entspringt nicht nur den Beobachtungen der Verhaltensweisen oder Schwierigkeiten der SchülerInnen, sondern auch einer Unzufriedenheit mit der Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule. Diese, so Stähli, sei nicht auf einer guten Ebene. Der Kontakt zu Eltern kommt offenbar nur zustande, wenn etwas nicht gut läuft. Er möchte mehr, seine Idealvorstellung wäre, dass die Eltern untereinander im Austausch stehen: Der gemeinsame Schulbesuch ihres Kindes und gemeinsame Themen aus dem Erziehungsalltag sollten Grund genug sein, um untereinander und mit der Schule in Kontakt zu treten. Sein Anspruch ist ein gemeinschaftsbildender, er möchte die Eltern zu einer Gruppe vereinen. Er ist bereit, dafür seine Zeit einzusetzen und sich außerhalb des Rahmens seiner Anstellung zu engagieren. Und durch das auch mehr mit der Schule sprechen würden, oder//mhm//, dann wäre der Austausch auf einer besseren Ebene//mhm//, als er jetzt ist. Und jetzt ist es so ziemlich hierarchisch, oder, ich mache ja die Noten, schlussendlich, und die Sekschüler. (I 05,3)
Seine Idealvorstellung ist ein reger Austausch mit den Eltern. Würden sie untereinander in einem engeren Verhältnis stehen, dies seine Prämisse, würde der Austausch auf einer »besseren Ebene« stattfinden. Gut ist der Austausch dann, so seine Ansicht, wenn er auf einer gleichberechtigten Ebene stattfindet und damit kein hierarchisches Gefälle besteht zwischen Lehrperson und Eltern. Er zeichnet hier das Bild einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern (Stange 2012), welches die damit einhergehenden Widersprüche ausblendet. Die von ihm als störend wahrgenommene Hierarchie, die sich am deutlichsten in der Befugnis der Notengebung manifestiert, versucht er mittels des »Elternnetzes« aufzulösen – als könnte er im Rahmen dieses Anlasses an Plenarveranstaltungen seine Rolle als Lehrperson abstrei-
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fen. In der vorangehenden Sequenz stellt er sich denn auch als Laie dar, was die Entwicklung im Bereich Medien betrifft, seine Einschätzung sei nicht wissenschaftlich erhärtet. Dass seine Meinung als Lehrperson dennoch ein anderes Gewicht hat und er eine andere Perspektive einbringen kann als die Eltern seiner SchülerInnen, unterschlägt er. Vielmehr versucht er, sich an einer späteren Stelle als Vater einzubringen: Ihm persönlich sei übermäßiger Medienkonsum fremd, er habe selber vier Kinder und kenne dies nicht. Seine Erklärung, weshalb Kinder einen so hohen Medienkonsum haben, legt er in folgender Passage dar: Es ist eigentlich fast durchgehend//durchgehend, ja//, es hat vielleicht ähm, in beiden Klassen drei Kinder, die Sport machen und die haben weniger von diesem Konsum// mhm//, aber die, die keine Tätigkeit haben neben der Schule, die sind dem einfach ausgeliefert//mhm//. Und es ist klar, oder, also bei vielen müssen beide Eltern arbeiten gehen, haben gar keine Zeit um zu den Kindern zu schauen, oder sind alleine mit einem Kind, oder mit den Kindern//mhm//, das ist etwas, etwas sehr auffälliges, oder, wie viele, dass alleine sind. Also ›ämu‹ [jedenfalls] dort bestehen große Gefahren nachher, dass die Kinder sich überlassen sind zu Hause und dann einfach machen, was sie, was sie Lust haben//mhm//, ja logisch, und ihnen niemand hilft in dem, oder//mhm//. (I 05,4)
Zum einen sieht er den Grund des hohen Medienkonsums darin, dass nur wenige Sport treiben würden – als bestünde das einzige Entkommen vor dem Sog der Medien darin, anderen Tätigkeiten nachzugehen. Zum anderen sieht er, vergleichbar mit Fässler, eine Ursache problematischer Bedingungen des Aufwachsens in den familiären Verhältnissen begründet: Wenn beide Eltern erwerbstätig seien oder ein Elternteil alleinerziehend, habe dies zur Folge, dass die Kinder oft alleine zu Hause seien, sich selbst überlassen. Die Ursache des Problems sieht Stähli in der fehlenden elterlichen Präsenz und Aufsicht, was, wie er später in seine Analyse mit einbezieht, im Zusammenhang mit ökonomischen Verhältnissen stehe. Er erachtet es als seine Aufgabe als Lehrperson, hier zu intervenieren, zu agieren. Den Fokus richtet er auch hier auf die Eltern: Jaja, ich sage den Eltern beim Elterngespräch, sie sollen es den Kindern verbieten// ja//, das Gamen, sag ihnen gerade hinaus//ja//, weil ich finde es wirklich schlecht, es tut ihnen nicht gut//ja//. Und was sie nachher damit machen, das müssen sie wissen. (I 05,7)
Dass er sich der Grenzen seines Einflusses schon auch bewusst ist, drückt sich im Nachsatz aus, wonach die Eltern selber »wissen« müssten, was sie mit seinen Ratschlägen anfangen. Als wäre das Ziehen von Konsequenzen eine Frage des Wissens und eine willentliche Entscheidung. Diese Formulierung,
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häufig von Eltern gegenüber den eigenen Kindern verwendet, vermittelt nur scheinbar eine Entscheidungsfreiheit: Zwar enthält sie das Eingeständnis, dass es letztlich den Angesprochenen überlassen sei, was sie tun. Zugleich wird implizit klar, dass derjenige, der so spricht, über das Wissen bezüglich der richtigen Handlungsweise zu verfügen glaubt: Für Stähli ist ganz klar, »gamen« tut den Kindern nicht gut. Wer sie dennoch spielen lässt und das Gamen nicht verbietet, handelt gegen das von ihm dargelegte bessere Wissen. Er hat damit seine Pflicht getan, die Verantwortung liegt nun eindeutig bei den Eltern, die im Elterngespräch informiert wurden.
Resümee zum kompensatorisch-sozialisatorischen Untertypus: Normenvermittlung als gesellschaftliches Korrektiv Lehrpersonen dieses Untertypus versuchen, mit gesundheitsfördernden Maßnahmen normativ auf die familiären Verhältnisse einzuwirken. Die Problematiken, denen sie im Rahmen von Gesundheitsförderung beikommen möchten, verorten sie außerhalb der Schule. Ohne über spezifische Expertise zu verfügen, wollen sie diesem Missstand in Zusammenarbeit mit den Eltern beikommen. Ziel der gesundheitsfördernden Interventionen sind zum einen das elterliche Erziehungsverhalten, zum anderen aber auch das Verhalten der Schulkinder. Zusätzlich zur intensiv betriebenen Elternarbeit sind die Lehrpersonen dieses Typus bestrebt, die Normen guter, gesunder Lebensführung und das Bewusstsein dafür auch im Rahmen des Unterrichts zu vermitteln. Dazu gehören der maßvolle Umgang mit Medien und ausreichende Bewegung im Alltag.
b) Q uasi - ther apeutische und pr äventive D eutung des A uf tr ags der G esundheitsförderun g
Die Lehrpersonen dieses Untertypus sehen den Handlungsbedarf gesundheitsfördernder Interventionen ebenfalls im sozialen Wandel und insbesondere im Erziehungsstil der Eltern begründet. Auch sie würden gerne Werte gesunder Lebensführung vermitteln, legen den Fokus ihrer Interventionen jedoch auf konkrete, bei den Kindern beobachtete Kompetenzen, insbesondere im Bereich der Bewegung. Hier sehen sie sich veranlasst, in einem quasi-therapeutischen Sinn einzugreifen und Defizite gezielt zu kompensieren oder, besser noch, präventiv zu verhindern, dass solche entstehen.
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6.3.3 Rosanna Wagner: Gezielte Förderung von Kompetenzen zur Kompensation defizitärer elterlicher Erziehungspraktiken Gesundheitsförderung als auferlegte Pflicht Rosanna Wagner, Kindergärtnerin gegen Ende vierzig, rekurriert bei der Darlegung ihres Verständnisses von Gesundheitsförderung ebenfalls auf die Pflicht, als Lehrperson im Bereich Gesundheitsförderung etwas unternehmen zu müssen. Die Institution Schule müsse hier etwas übernehmen, was die Eltern nicht zu leisten im Stande seien. Eigentlich wäre Gesundheitsförderung Sache der Eltern, die Schule hat diese jedoch subsidiär mitzutragen. Mhm, es, ich fände es, es wäre schön, wenn es Sache von den Eltern wäre, aber ich merke einfach, dass dem in meinen Augen nicht äh gerecht wird, oder und deshalb ist die Schule, finde ich, auch verpflichtet, wenn wir schon können, gewisse Sachen zu übernehmen, in dem Sinn, dass wir sagen »es gibt nichts Süsses zum Znüni« und das einfach durchziehen oder dass wir einfach schauen, dass diese Kinder Bewegung haben. (I 06,2)
Auch Wagner drückt hier deutliche Kritik gegenüber den Erziehungsberechtigten aus: Aus ihrer Sicht können die Eltern es nicht »einfach durchziehen«; sie vermögen nicht sicherzustellen, dass die Kinder ausreichend Bewegung haben und vermögen das Verbot »süsser Znünis« nicht durchzusetzen. Wagner sieht sich verpflichtet, eine kompensatorische Aufgabe wahrzunehmen: Im Namen eines Kollektivs übernimmt sie Verantwortung dafür, dass die Kinder überhaupt Bewegung haben. Was sie mit der Spezifizierung »diese Kinder« meint, von wem sie diese damit abgrenzt und wen sie in diese Formulierung einbezieht, bleibt offen. Dass die Schule im Bereich Gesundheitsförderung einer Pflicht nachkommen muss, erachtet sie als zusätzliche Belastung; es wäre schön, wenn dies Sache der Eltern wäre und sie sich nicht darum zu kümmern bräuchte. Ich merke an einem Montagmorgen (räuspert sich) an einem ›wüsten‹ Wochenende ist, sind viele im Kino gewesen, sind viele irgendwie haben einen Film geschaut und dann gehen wir ins Turnen//mhm//am Montagmorgen. Das finde ich super. Also mir ist es wichtig. Und ich finde, ich übernehme das gerne, ich finde manchmal ist es auch ein bisschen ein, ein, ein Aufwand, oder wir machen einen Waldmorgen, wir sind wirklich immer einfach draußen… (I 06, 2)
In dieser wie auch in folgenden Sequenzen drückt die Kindergärtnerin implizit ihre Erwartung aus, dass die Eltern sich mit ihren Kindern draußen bewegen sollten und zwar auch bei schlechtem Wetter. Wer sich an Wochenenden mit
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den Kindern nicht draußen aufhält, erfüllt die von ihr gesetzte Norm nicht. Ihre Beobachtungen, insbesondere nach Schlechtwetter-Wochenenden, sind jedoch dahingehend, dass viele Kinder anstatt nach draußen ins Kino gehen oder zu Hause einen Film schauen.
Kompensation von Defiziten im Bereich Bewegung Die Bestrebungen der Lehrpersonen dieses Typus richten sich schwergewichtig auf die Kompensation von bei den Kindern beobachteten Defiziten. So sieht sich Wagner nach einem regnerischen Wochenende veranlasst, die fehlende Bewegung kompensatorisch nachzuholen, sei es durch den am Montag angesetzten Turnunterricht, durch einen wöchentlichen Waldmorgen oder durch weitere täglich stattfindende Bewegungsimpulse wie Trampolinhüpfen, Seilspringen, Gummitwist. ich persönlich habe ein, ein, mein Ziel ist, dass meine ›Kindergärteler‹ da rausgehen und jeder kann den Purzelbaum zum Beispiel//ja//also da habe ich, ich finde das wichtig oder Stelzenlaufen, ich habe gemerkt, wenn man das m-, als Kind nicht lernt, ist es nachher, kann man das nachher fast nicht mehr lernen//mhm//und solche Sachen die, und das ist mir wichtig. (I 06,3)
Anders als bei den Bewegungssequenzen des ersten Typus, die der Steigerung des Lernerfolgs dienen, besteht hier das Ziel, dass die Kinder während den Kindergartenjahren Kompetenzen im Bereich Bewegung erlangen; sie sollen beim Schuleintritt Fähigkeiten wie einen Purzelbaum schlagen und Stelzenlaufen erworben haben. Diese Kompetenzen erachtet Wagner als wichtig, auch weil sie im fortgeschrittenen Alter schwer oder schwieriger zu erwerben seien. Weshalb diese Fähigkeiten an sich wichtig sein sollen, bleibt offen, deren Vermittlung stellt ein bedeutsames persönliches Ziel dar. Die Begründung der kompensatorischen Bestrebungen richtet sich auch bei Wagner auf die Freizeitgestaltung der Familien. Sie hat die mit ›Freude an der Natur‹ überschriebene Norm verinnerlicht, wonach es gut, wenn nicht unverzichtbar sei für Kinder, wenn Eltern sich gemeinsam mit ihnen draußen aufhalten und bewegen würden. Ist dies nicht der Fall, muss sie die Lücke füllen. Weißt du, auf die eine Seite kannst du sagen, ist eigentlich Sache von den Eltern, es sollte ja jeder selber wissen und auf die andere Seite ist ›eben‹ die Gesellschaft schlussendlich als gemeinsames, die, die das auch tragen muss, schlussendlich tragen wir diese Krankheitskosten von diesen Kindern oder ›eben‹ irgendwelche Defizite und so müssen wir ja als Gesellschaft ausbaden//mhm//und deshalb finde ich, wir, ob wir jetzt wollen oder nicht, wir kommen nicht darum herum als Institution, als Schule//mhm//
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Im Namen der Gesundheit da Gegensteuer zu geben, ich denke es ist das//mhm, mhm,//ob wir wollen oder nicht. (I 06,7-8)
Hier nun wird die von ihr antizipierte Konsequenz aufgezeigt: Wer in der Kindheit nicht ausreichend Bewegung hat, entwickelt Defizite und verursacht später Gesundheitskosten. »Ausbaden« müssen dies letztlich »wir als Gesellschaft«. Sie legt damit ihre Konzeption einer solidarischen Gesellschaft dar, welcher ein Gemeinwillen mit absolutem Charakter zugrunde gelegt ist, ein Prinzip universeller Richtigkeit. Es gilt der Grundsatz, dass Kinder, ähnlich wie Rousseaus Emile, Bewegung in der Natur brauchen. Subsidiär zu den Eltern muss die Schule die Aufgabe übernehmen, um die Gesellschaft vor hohen Folgekosten zu bewahren. Sie rekurriert hier nicht auf das Wohl des Kindes und nimmt nicht die Perspektive ›betroffener‹ Kinder ein, sondern bringt das Gemeinwohl ins Spiel. Es ist nicht ein explizit von oben erteilter Zusatzauftrag, der sie zu diesem Engagement anhält; sie erachtet Gesundheitsförderung in diesem Sinn als Teil des Auftrags als Lehrperson an einer Schule. Dabei ist für sie Bewegungsförderung nicht nur aus kompensatorischen Gründen wichtig, sondern auch im Sinne der Prävention. Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung schreibt sie der Sportbegeisterung präventiven Charakter zu: Aber weißt du, ich bin jetzt auch, vielleicht bin ich auch ein bisschen extrem, ich, ich habe ausgeprägt Sport gemacht, immer mein ganzes Leben und, und das hat immer eine wichtige Funktion gehabt in meinem Leben und ›eben‹ auch, ich glaube, ich komme, bin auch deshalb irgendwie um Alkoholprobleme und Zigaretten rauchen und all dieses Zeug bin ich drum herum gekommen, weil ich einfach wirklich ausgeprägt Sport gemacht habe//mhm//und mich bewegt habe… (I 06,9)
Ihre gesundheitsökonomische Begründung geht über die kompensatorische Behebung von Defiziten hinaus. Ihre Argumentation erstreckt sich auf präventive Anliegen: Sport bewahrt vor möglichem Suchtverhalten; wer ausgeprägt Sport treibt, kann dies nicht vereinbaren mit Suchtmittelkonsum. Was Wagner hier selbstreflexiv offenlegt, ist in den gesundheitsbezogenen Werthaltungen sämtlicher Lehrpersonen implizit enthalten: Biografische Erfahrungen prägen die Gesundheitsvorstellungen, wirken in die als sinnvoll erachteten Interventionen mit hinein und prägen Bilder und Normen, was für heutige Kinder als gesund und richtig erachtet wird.
6. Deutungen der Lehrpersonen
6.3.4 Daniela Aerni und Lilliane Maggia: Kulturpessimistische Deutungen und quasi-therapeutische Inter ventionen Beobachtete Defizite bei den Schulkindern Eine zweite Lehrperson, die demselben Deutungstypus wie Wagner zuzordnen ist und auf der Mittelstufe unterrichtet, hat – anders als sie – keine Vorbehalte, offen Kritik an elterlichen Erziehungspraktiken zu üben. Als Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit von Gesundheitsförderung an der Schule meint Daniela Aerni: Also ich denke, dass es das wahrscheinlich braucht, weil es sonst für ganz viele Kinder, also ganz viele Kinder gar nichts machen würden, auch im Hinblick, dass es so viele dicke Kinder gibt und so und ehm, … ich denke es ist sicher gut, (I 07, 2)
Ihre Argumentation ist akzentuiert, ihre Wahrnehmung des allgemeinen Zustands der Kinder und ihrer Lebenswelt trägt alarmistische Züge. Kinder heute sind in ihrer Wahrnehmung hochgradig gefährdet, viele würden ohne Intervention der Schule »gar nichts machen«. Die Schule müsse, so Aerni, hier Verantwortung übernehmen, auch angesichts der vielen »dicken Kinder«. Hier übernimmt sie aus dem öffentlichen Diskurs die Darstellung von Übergewicht als etwas Quasi-Epidemisches. Auffallend ist, dass es in ihren Äußerungen vorerst keine Anzeichen gibt, dass sie aus der Perspektive der betroffenen Kinder agiert; es scheint vielmehr, als würde deren Aktivierung mit dem Ziel erfolgen, dass es statistisch weniger dicke Kinder gibt. aber, ich finde es halt schwierig, dass die Schule immer mehr muss so an Verantwortung übernehmen von daheim und gleich auch ist es einfach halt auch situationsbedingt, also wenn ich gewisse Quartiere hier anschaue, da ist es recht schwierig, sich draußen zu bewegen, und wenn ich denke, wie ich aufgewachsen bin, dann ist das einfach anders//mhm//und ich denke eh, also es ist sicher sehr etwas Wichtiges (I 07,2)
Grundsätzlich beklagt sie diese zusätzliche Übernahme von Verantwortung durch die Schule, es sei »schwierig«. Zugleich erachtet sie die Problematik als »situationsbedingt«, Defizite sind nicht ausschließlich den Eltern zuzuschreiben, sondern auch abhängig von den wohnräumlichen Bedingungen. Interessanterweise beschreibt sie die Verhältnisse der Umgebung ihrer Schule als ungünstig, während befragte KollegInnen diese gerade gegenteilig einschätzen; sie schildern ein Stadtviertel, welches den Kindern Möglichkeiten für freies Bewegen biete. Die Kontrastfolie von Aerni sind jedoch nicht aktuellen Bedingungen an anderen Orten; sie vergleicht die heutige mit ihrer eigenen Kindheit – und die sei anders, besser gewesen.
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Lilliane Maggia, wie Wagner ebenfalls Kindergärtnerin, beschreibt sehr anschaulich, welche gesundheitsfördernden Maßnahmen sie in Betracht zieht. Ihre Schule gilt, was sie sogleich hervorhebt, als ›Pionierschule‹ in Sachen Gesundheitsförderung und befindet sich in einem Wohnviertel in bevorzugter Lage. Die gute Ausstattung ermögliche es erst, gezielt an den Bewegungskompetenzen arbeiten zu können. ja, ja, es ist einfach jetzt noch so ein wenig gezielter bei mir//mhm//und eh, andere Kindergärten, die auch einen Purzelbaumkindergarten haben, die haben zum, zum Beispiel eine Bewegungsecke geschaffen//ja//bei, einfach Geräte, die die Kinder animieren// mhm//wirklich differenziertere Bewegungen zu machen//mhm//(I 08, 5)
Dank spezifischer Einrichtungen, die insbesondere in sogenannten »Purzelbaumkindergärten«13 vorzufinden sind, können die Kinder animiert werden, »wirklich differenzierte Bewegungen zu machen«, d.h. spezifische Bewegungsabläufe in einer eigens eingerichteten Ecke zu üben und sich nicht einfach ungerichtet zu bewegen. Die gezielte Anleitung zur Bewegung stellt für Maggia etwas auch in ihrer Arbeit Grundlegendes dar. Ja, also es ist ja auch erwiesen, dass das Bewegen, Bewegung ist sehr, eh eine Grundlage für nachher darauf aufzubauen//mhm//und es wird auch sehr geschätzt, die Eltern, die finden das super//mhm//das Feedback ist durchwegs positiv//ja//dass wir auch draußen sind, ist positiv und ich merke es ja den Kindern an, dass sie es eben (brauchen?)//ja//(I 08,7)
Wenn auch unbenannt bleibt, wofür eine Grundlage gelegt werden muss, wird erneut eine kompensatorische Absicht deutlich: Die Kinder würden einige Fähigkeiten nicht mitbringen, die Defizite nehme sie deutlich wahr. Die entsprechende Grundlagenarbeit muss in den Augen Maggias nun als Sonderangebot der Schule, zusätzlich zur eigentlichen Arbeit als Kindergärtnerin, geleistet werden. Diese kompensatorische Arbeit an Bewegungskompetenzen werde von den Eltern sehr geschätzt. 13 | Mit ›Purzelbaumkindergarten‹ wird ein spezifisch für die Vorschulstufe entwickeltes Projekt bezeichnet, das erstmals im Kanton Basel-Stadt und mittlerweilen in 15 Kantonen durchgeführt wird. Kerngedanke des Konzeptes ist es, für mehr Bewegung und gesunde Ernährung im Kindergarten zu sorgen. Die Kinder sollen »den Spaß an der Bewegung entdecken« und von den »vielfältigen Möglichkeiten, die ihren Bewegungsdrang berücksichtigen«, profitieren. Je Kanton werden unterschiedliche Fortbildungen für Lehrpersonen angeboten, welche es erst ermöglichen, das Prädikat ›Purzelbaumkindergarten‹ zu verwenden. Vgl. Radix URL: www.radix.ch/Gesunde-Schulen/Ernaehrungund-Bewegung/Purzelbaum-Kindergarten/PKNnq/ (Stand: 13.4.2013)
6. Deutungen der Lehrpersonen
Maggia beobachtet Bewegungsdefizite auch im feinmotorischen Bereich: Jaha, ja man merkt, also sie sind natürlich, man merkt es dann auch zum Teil im, im feinmotorischen Bereich//mhm//dort merkt man es schon, also von Kindern, die nicht eine Schere halten können//mhm//das habe ich vor 20, 30 Jahren noch nicht erlebt, oder, das Schneiden beibringen, vor 30 Jahren, ihnen das müssen erklären, wie die Schere heben, wo darauf schauen, (??) und das Ziel ist erreicht, haben, können wunderbar einer Linie nach schneiden//mhm//und heutzutags ist das eine knorzige Arbeit, bis, bis zum Schuleintritt erreicht (I 08,12)
Kinder können gemäß ihren Beobachtungen nicht mehr mit einer Schere schneiden, später fügt sie an, dass viele Kinder auch eine schlechte, nicht lockere Stifthaltung hätten, was von der Logopädin bestätigt werde. Diese Defizite führt Maggia darauf zurück, dass heutige Kinder gewisse Erfahrungen nicht mehr machen würden aufgrund der – wie sie es explizit benennt – fortschreitenden »Verhäuslichung«. Deshalb sei sie als Lehrperson angehalten, diese mittels gezielter, trainingsähnlicher Bewegungsarrangements zu kompensieren. Es ist einfach ein anderer Schwerpunkt, also bei mir ist der Schwerpunkt Primärerfahrung jetzt, Erlebnisse//mhm//und nicht einfach nur über den Kopf Wissen eh reinbeigen//mhm//nein, bei mir steht Erlebnis//mhm//das Erlebnis im Vordergrund, ja (I 08,14)
Als Kindergärtnerin übernimmt sie aufgrund gesellschaftlicher Fehlentwicklungen eine kompensatorische Funktion. Sie sieht sich angehalten, Gegensteuer zu geben und Erfahrungen zu ermöglichen, die gemäß eigener Beobachtung und Einschätzung in heutigen Familien zu kurz kommen und zu Defiziten führen. Sie arbeitet gezielt mit den Kindern an motorischen Fähigkeiten und leitet an zu Übungen spezifischer Bewegungen. Dies geschieht im Einvernehmen mit den Eltern.
Resümee zum zweiten Untertypus: Quasi-therapeutische Inter ventionen beim zivilisationsgeschädigten Kind Bei der Konstatierung von Defiziten herrscht bei den Lehrpersonen dieses Untertypus ein Konsens: Aus ihrer Sicht ergibt sich ein Handlungsbedarf als Folge veränderter Bedingungen des Aufwachsens und dabei klar auch aufgrund veränderter familiärer Erziehungspraktiken und -werte. Diese Praktiken und Werte zu beeinflussen, steht bei ihnen jedoch weniger im Zentrum: Sie widmen sich den Kindern und ihrer Förderung. Im Namen der Gesellschaft fühlen sie sich verpflichtet, diese kompensatorische Aufgabe wahrzunehmen.
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6.3.5 S chlussbetrachtungen zum Typus 2: Paternalistisch-kompensatorische Inter ventionen zwischen Prävention und Therapie In den Äußerungen der Lehrpersonen des paternalistisch-kompensatorischen Typus spiegelt sich bezüglich der Lebenswelten heutiger Kinder ein Defizitdiskurs, wie er insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren auch in der Kindheitsforschung dominant war. Thiele (1999) beispielsweise skizzierte ein provokatives Bild, welches körperliche Degenerierung sowie intellektuelle und emotionale Verarmung der heutigen Kinder beinhaltete; der Wandel der Kindheit wurde als Verfalls- oder Niedergangsgeschichte verstanden (Lenzen 1997). Etikettierungen der Kinder als »Medienfreaks« oder »Körperwracks« (Zimmer 1997: 21) stammen aus dieser Zeit und fanden Eingang in den populären wie auch in den wissenschaftlichen Diskurs. Kennzeichnend für diese Art von Thematisierung sozialen Wandels und seiner vermeintlichen Effekte auf die aktuelle Kindheit ist eine verklärende Glorifizierung von Kindheit(en) in der Vergangenheit. Elemente dieser Diskurse sind in den Aussagen der Lehrpersonen dieses Typus vorfindbar. Kinder werden dabei zu stillen ›Opfern‹ gesellschaftsstruktureller Rahmenbedingungen gemacht. Honig bezeichnet diesen Defizitdiskurs, der sozialen Wandel als Gefährdung deutet, als »problempolitische Formel« (Honig 1999: 131). Dissonanzen, wie sie innerhalb des Diskurses um Bewegungsmangel und entsprechende Maßnahmen exisitieren, werden ausgeblendet (vgl. Kap. 5). In ihrer Rolle als Lehrpersonen sehen sich die VertreterInnen dieses paternalistisch-kompensatorischen Typus veranlasst, Gegensteuer gegen die von ihnen konstatierten gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu geben. Sie glauben, bei den Kindern Defizite wahrzunehmen, deren Ursachen sie in den aktuellen Lebensbedingungen verorten, die sie als ungünstig einschätzen. Insbesondere die Freizeitgestaltung durch ihre Eltern betrachten sie aus einer wertkonservativen Haltung heraus kritisch; aus einer paternalistischen Haltung glauben sie zu wissen, was für die Kinder gut ist. Ihre Problemwahrnehmung richtet sich nicht auf den schulischen Rahmen, sie üben auch kaum Schulkritik; ihre Kritik ist auf die Bedingungen des Aufwachsens gerichtet. Insbesondere bei den von ihnen ergriffenen Maßnahmen lassen sich zwei Untergruppen beschreiben: • Die eine Gruppe von Lehrpersonen versucht, die SchülerInnen in ihren Werthaltungen zu beeinflussen, sie von, wie sie glauben, ungesunden Formen der Lebensführung wegzubringen. Im Zentrum ihrer Deutung des Auftrags Gesundheitsförderung steht die Absicht, Kindern ebenso wie den Eltern Normen und alternative Werte der Lebensführung zu vermitteln.
6. Deutungen der Lehrpersonen
• Die zweite Untergruppe, vorwiegend Lehrpersonen der Unterstufe und des Kindergartens, machen spezifische Angebote, mit denen sie in therapeutischer Absicht gezielt die – vor allem motorischen – Fähigkeiten der Kindergarten- und künftigen Schulkinder kompensatorisch beeinflussen und fördern wollen. Gesundheitsförderung wird in diesem Typus mit zwei Ansätzen umzusetzen versucht: einerseits als erzieherisch-sozialisatorische und andererseits als kompensatorisch-therapeutisierende Aufgabe. Bei fast allen Lehrpersonen dieses Deutungstypus tritt nicht überraschend eine ausgeprägte Sport- und Bewegungsbegeisterung hervor. Sie teilen die Überzeugung, dass Bewegung wichtig ist für die Entwicklung und für das Wohlbefinden. Dies manifestiert sich in einem hohen Ausstattungsniveau der Schulen mit Geräten wie Balken und Brettern zum Balancieren, Seilspielgeräten, Stelzen sowie vielen Arten von Spielen; und es kommt auch in vielen institutionalisierten Formen von Bewegung, der Teilnahme an Programmen wie ›Bewegtem Unterricht‹, ›Purzelbaumkindergarten‹, ›Bewegten Pausen‹ oder der Durchführung regelmäßiger Waldmorgen zum Ausdruck. Mithilfe dieser Geräte oder Programme arbeiten sie mit den Kindern und wollen kompensieren, was diese in ihrer Lebenswelt nicht mitbekommen haben. Vor einer solchen Therapeutisierung, im konkreten Fall des Sportunterrichts, warnt beispielsweise Rolf Laging. Er spricht sich gegen eine Überhöhung der Kompensationsfunktion der Schule und für eine Stärkung des Bildungsauftrags aus. Dieser dürfe nicht zum Therapeutikum für gesellschaftliche Markt- und Gesundheitsinteressen werden. Laging kritisiert, dass es den Kindern in therapeutischen Settings verunmöglicht werde, sich als GestalterInnen von Welt und Bewegung wahrzunehmen (Laging 2007). Im Verlauf der Interviews wird von den meisten Lehrpersonen eine spezifische Gruppe von Kindern fokussiert, die widersprüchlich charakterisiert wird: Zum einen sind Kulturalisierungen häufig, aber auch die Zugehörigkeit zu niederen sozialen Schichten sowie die Wohnverhältnisse werden zur Beschreibung und Begründung von Defiziten beigezogen. Ebenso werden Übergewicht und schlechte motorische Fähigkeiten auf eine nicht adäquate Lebensführung und nicht ideale Bedingungen der Lebenswelt zurückgeführt, was durchaus auch empirischen Befunden aus Studien entspricht (vgl. Kap. 5.1.3). In den Fokus geraten jedoch vorwiegend Familienverhältnisse, die, so die Deutung der Lehrpersonen, kein ›gutes Aufwachsen‹ der Kinder ermöglichen. Angesprochen sind alleinerziehende Elternteile und Familien, bei denen beide Elternteile erwerbstätig sind, was dazu führe, dass Kinder sich selbst überlassen seien. Ebenso werden teilweise Einkindfamilien als problematisch erachtet. Die Analyse der Ursachen einer in ihren Augen nicht vorteilhaften Lebensführung wird nicht weiter vertieft und bleibt häufig widersprüchlich und oberflächlich. Klar und
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unhinterfragt ist jedoch bei allen Lehrpersonen der als sicher angenommene Zusammenhang von ungünstiger Lebensführung mit später auftretenden gesundheitlichen Problemen – zuerst in der Schule, dann im Erwachsenenleben und in letzter Konsequenz als Ursache für steigende Gesundheitskosten. Durch den Auftrag der Gesundheitsförderung sehen sich die Lehrpersonen dieses kompensatorisch-paternalistischen Typus legitimiert, innerhalb des bestehenden schulischen Rahmens Einfluss zu nehmen auf Werthaltungen und Verhaltensweisen der Schulkinder und auch ihrer Eltern.14 Dabei verfolgen sie die Absicht, den Kindern die bestmögliche Entwicklung zu gewährleisten und Lernvoraussetzungen für den Erwerb von Kompetenzen zu schaffen, die sie aufgrund von Mängeln in der Lebenswelt nicht entwickeln konnten. Durch den Auftrag der Gesundheitsförderung sehen sie sich berechtigt, Eingriffe in Sphären vorzunehmen, die ansonsten der Familie oder spezifischen therapeutischen Fachpersonen zugerechnet werden. Kennzeichnend für diesen Typus ist, dass seine VertreterInnen die Aufgabe der Gesundheitsförderung explizit normativ deuten. Sie sind der Überzeugung, den Kindern alternative und aus ihrer Sicht ›bessere‹ Formen der Lebensführung vermitteln zu müssen. Nicht nur fehlt eine diskursive Verortung der eigenen Wert- und Normvorstellungen, sondern es wird nicht in Rechnung gestellt, dass die SchülerInnen als Gegenüber in ihrer Autonomie und Rollenhandlungsfähigkeit noch ungefestigt sind und zudem in einer Abhängigkeit von den Lehrpersonen stehen, die sie in ihren schulischen Leistungen zu beurteilen haben. Diese doppelte Abhängigkeit wird nicht reflektiert, die Widersprüchlichkeit in der Einheit von spezifischen und diffusen Anteilen in der Sozialbeziehung der Lehrperson als Professionelle zu den SchülerInnen als eine Art KlientInnen wird dadurch noch verstärkt.15 (vgl. Kap. 5.2.1) Bei beiden Untertypen werden die Schulkinder mit der Forderung der Lehrperson konfrontiert, dass sie sich, sollten sie von der Norm der richtigen Lebensführung abweichen, in ihrem individuellen Verhalten zu verändern haben. Sie werden konfrontiert mit einer ihnen gegenüber kritischen Haltung 14 | Die Lehrpersonen kommen so, ohne explizite Bezugnahme, den Forderungen von Forschungen zu Gesundheitsförderung an Schulen nach, die zum Schluss kommen, dass ohne Einbezug der Eltern in Gesundheitsfragen nichts erreicht werden könne, insbesondere bei nicht bildungs- oder schulnahen Eltern (vgl. Marzinzik, Kluwe 2009; Hartung, Kluwe, Sahrai 2009). 15 | Hierbei wird Bezug genommen auf die von Oevermann im Anschluss an Parsons von letzterem eingeführte begriffliche Unterscheidung von »Spezifität« und »Diffusität«, welche die beiden gegensätzlichen sozialen Orientierungen innerhalb des Arbeitsbündnis bezeichnen: zum einen der »diffuse« Anteil, der sich am Prototyp der Primärbeziehungen orientiert zum anderen, der »spezifische«, durch normative Rollendefinitionen gekennzeichnete Beziehungsanteil (Oevermann 1996: 109).
6. Deutungen der Lehrpersonen
und mit Maßnahmen, die ihnen auf unterschiedlichen Ebenen Anpassungen und Veränderungen abfordern. So wie eine solche konfrontative Haltung Optionen eröffnen kann, sind auch stigmatisierende Wirkungen möglich. Die wiederholte Thematisierung und Problematisierung von als ungesund etikettierten Verhaltensweisen oder sogar von Wesenszügen und Körpermerkmalen können – so zeigen die Aussagen von sich selbst als ›dick‹ bezeichnenden Jugendlichen in einer Studie von Barlösius (2012: 7) — zu Kränkungen führen (vgl. Saguy, Riley 2005).16 Die Eltern oder das betroffene Kind werden als Individuen für Normabweichungen verantwortlich gemacht.
6.4 T ypus 3: E manzipatorische D eutung – E rmächtigung als Z iel von G esundheitsförderun g Die Lehrpersonen dieses Typus zielen mit ihren Förderungsabsichten respektive -ansprüchen ebenfalls auf Individuen, d.h. auf die SchülerInnen. Gegenüber den Lehrpersonen der Typen 1 und 2 mit einem individualisierenden Fokus, welche Gesundheitsförderung entweder in einem arbeits- und lernpsychologischen Verständnis als Mittel zur Steigerung des Lernerfolgs sehen oder in kompensatorischer Absicht Werte und Verhalten verändern wollen, haben die Lehrpersonen dieses Typus ein anderes Verständnis ihrer Intervention: Ihren Handlungen und Deutungen liegt eine empanzipatorische Absicht zugrunde, welche der Autonomie der Subjekte Rechnung zu tragen versucht. Dabei nehmen sie die SchülerInnen als Subjekte wahr, deren Autonomieentwicklung sie begleiten möchten – im Bewusstsein, dass es sich um vergesellschaftete Wesen handelt. Ihre Idealvorstellung ist es, die SchülerInnen zu einer eigenen und möglichst gesunden Lebensgestaltung zu befähigen.
6.4.1 Christina Moser: Gesundheitsförderung im Dienste des Wohlbefindens – Erfahrungen ermöglichen und Gewohnheiten ändern Christina Moser, 48 Jahre alt, trifft an der Schule, an welcher sie erst seit ein paar Jahren arbeitet, auf ein bereits bestehendes, institutionalisiertes Amt im Bereich Gesundheitsförderung. Pragmatisch meint sie auf die Frage, weshalb sie die Aufgabe der Koordinatorin für Gesundheitsförderung übernommen 16 | In den USA setzt sich die NAAFA (National Association for the Advancement of Fat Acceptance), eine Menschenrechtsorganisation, für die Verbesserung der Lebensqualität von ›fat people‹ ein und bildet sowohl auf politischer als auch auf Ebene der Forschung einen Gegenpol zu den breiten ›Antiobesity Studies‹, indem auf der Ebene nationaler Programme geforscht und politisch agiert wird (vgl. Saguy, Riley 2005: 872ff.).
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habe, dass an großen Schulen gewisse Aufgaben einfach übernommen werden müssen. Sie verfolgt, so scheint es, keine übergeordnete Mission. Dennoch hält sie fest, dass, wenn Arbeiten verteilt werden müssten, sie lieber eine übernehme, die für sie Sinn mache. Grundsätzlich, so fügt sie an, arbeite sie gerne für die Gemeinschaft. I: Das heißt jetzt aber bezogen auf die Gesundheitsförderung, da kann man auch daraus schließen, dass du das für einen wichtigen Bestandteil hältst//mhm//jetzt von der Schule oder von der Bildungsarbeit oder ... (I 09, 1)
Nach den Ausführungen Mosers, wie sie zum Amt der Koordinatorin für Gesundheitsförderung gekommen ist, versucht die Interviewerin auf die persönliche Motivation und Bedeutung, die Moser der Gesundheitsförderung zuschreibt, zu sprechen zu kommen. Aus der Äußerung, dass Moser, wenn sie zur Übernahme einer Arbeit verpflichtet ist, etwas tun wolle, das für sie mit Sinn verbunden sei, schließt die Interviewerin, dass Gesundheitsförderung für sie wichtig sei, und lässt somit die pragmatische Begründung der Amtsübernahme nicht gelten. Diese Unterstellung legt sie offen. Die Umschreibung von Gesundheitsförderung als einem »wichtigen Bestandteil« von Schule ist auch hier Ausdruck der Unfähigkeit, Gesundheitsförderung als solche in Worte zu fassen. Zugleich stellt die Interviewerin damit die Frage, ob Gesundheitsförderung in der Schule zur Bildungsarbeit gehört oder als eine zusätzliche Aufgabe aufgefasst wird. Ja einfach überhaupt, also vom, vom Menschsein (lacht) also ich finde das ganz einen, einen wichtigen Aspekt, dass, dass ich als Mensch ähm in der Gesellschaft, in Beziehungen überhaupt ich mit mir ›halt‹ einen, dort auch den Fokus darauf habe//mhm// einfach we-, wegen meinem eigenen Wohlbefinden ›halt‹. (I 09, 1)
Moser erklärt Gesundheitsförderung oder möglicherweise Gesundheit zu einem wichtigen Aspekt des »Menschseins« an und für sich. Gesundheitsförderung beschränkt sie nicht auf das schulische Feld. Diese Feststellung stellt sie nicht als absolut gültige Verallgemeinerung in den Raum, sondern als persönliche Einschätzung. Interessant ist ihre dreifache Auslegung von »Menschsein«: Zum einen sieht sie den Menschen als ein gesellschaftliches, vergesellschaftetes Wesen, zum anderen gehören für sie die sozialen Interaktionen zum Menschsein, und drittens fügt sie eine auf das Individuum fokussierte Sicht des einzelnen Menschen in der Beziehung mit oder zu sich selbst an, womit sie Makro-, Meso- und Mikroebene des menschlichen Seins anspricht. Bei der weiteren Begründung der Bedeutung von Gesundheit und Gesundheitsförderung nimmt sie eine subjektphilosophische Perspektive ein: Wer einen Fokus auf seine Gesundheit legt, wer seine Gesundheit fördert,
6. Deutungen der Lehrpersonen
erhält oder steigert sein Wohlbefinden. Dabei spricht sie zuerst einmal von sich selber, von ihrem eigenen Wohlbefinden als einem ganz auf sie selber bezogenen Zustand. Und ich glaube, dass man das ein Stück weit ... ähm ... auch in einer Schule sollte ähm gewichten, oder//mhm//(I 09, 1)
Erneut beginnt sie, von ihrer persönlichen Einstellung, von dem, was sie »glaubt«, zu sprechen, wagt aber mit einer gewissen Vorsicht oder Zurückhaltung eine Verallgemeinerung: Man sollte »das« bis zu einem gewissen Grad auch in einer Schule »gewichten«. »Ein Stück weit« sollte man etwas tun, also nicht aufs Ganze gehen oder nicht nur in der Institution Schule. Woraus sich ihre Vorsicht speist, ist bis zu dieser Stelle noch nicht ersichtlich. Jedenfalls schreibt sie sich Gesundheitsförderung nicht allzu gross auf die Fahne, obwohl sie sie als etwas Grundlegendes und Sinnvolles erachtet. das sind Kinder und, und ein Stück weit kann man ihnen wirklich Sachen auch ein bisschen mit auf den Weg geben, wenigstens vielleicht als Anstoß oder, oder Gewohnheiten, auch Gewohnheiten ähm auf eine Art wie ein bisschen geben, also überhaupt ins Leben rufen, die unter Umständen we-, wenn sie dann spä-, später einmal älter sind oder so, wo sie vielleicht darauf zurückgreifen können noch. (I 09, 1)
Ein Vorbehalt scheint im Zusammenhang mit dem Tatbestand zu stehen, dass es sich um Kinder handelt, um noch nicht Erwachsene. Dieser besondere Status als Heranwachsende, Werdende ermöglicht es, dass man ihnen zumindest »ein Stück weit« »Sachen auch ein bisschen mit auf den Weg geben« kann. Bei Erwachsenen könnte dies schwieriger sein, sie sind schon auf dem Weg und nicht besonders offen für Anstösse, einmal eingeschliffene Verhaltensweisen oder Werthaltungen zu verändern. Ebenso könnte sich in den Formulierungen »ein Stück weit« und »ein bisschen« etwas mit auf den Weg geben ein zumindest latentes Bewusstsein abzeichnen, dass dies bei Kindern nicht so einfach und nur teilweise möglich ist, oder, als eine zweite Lesart, dass es hier der Sorgfalt bedarf. Womit der Vorbehalt begründet wird, ist noch nicht rekonstruierbar. Deutlich wird aber Mosers Anliegen, den SchülerInnen etwas mit auf den Weg geben, etwas vermitteln oder zumindest einen Anstoß geben zu wollen. Zugleich ist sie sich bewusst, dass es nicht so einfach ist, Gewohnheiten ›mitzugeben‹. Ihr Ringen um die treffende Formulierung könnte darauf hindeuten, dass sie sich der Widerstände oder womöglich auch der Widersprüche bewusst ist oder diese zumindest erahnt. Gesundheitsförderung – dies kann aus ihrer Äußerung gefolgert werden – bedeutet für sie Gewohnheitsbildung, eine Veränderung bestehender Gewohnheiten, das Erkennen alternativer Handlungsmöglichkeiten. Sie möchte
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etwas wecken in den Kindern und ihnen Möglichkeiten aufzeigen, die sich möglicherweise irgendwo ablagern und auf die sie »unter Umständen« später, wenn sie erwachsen und selber handlungs- und entscheidungsfähig sind, zurückgreifen können. Habitustransformationen, wie sie sie herbeiführen möchte, stellt sie als ein schwieriges und auch heikles Unterfangen dar – sie erachtet es jedoch, trotz der Hysteresis des Habitus und trotz ihres Vorbehalts, überhaupt auf Gewohnheiten Einfluss nehmen zu dürfen, als möglich, dass die Kinder »später einmal« auf etwas »zurückgreifen« können. Ja, dass es eben zum Beispiel ... toll sein kann, wenn man sich bewegt und dass das kann Wo-, ein Wohlbefinden ähm im Körper//mhm//hervorrufen, dass das, dass das etwas ist, das eigentlich Spaß macht und schön ist oder//mhm//mit den anderen zusammen, zum Beispiel das. Und ähm ... dass Bewegen, also gerade, ich, ich gehe jeweils mit Kindern sehr viel auch in die Natur und nach draußen, also ›halt‹ [eben] in, nicht in der Turnhalle jetzt nur (oder?) dass man mit ihnen wirklich ins Hallenbad geht, auf die Eisbahn geht, in den Wald (schnauft), ja. (I 09, 2)
Ihre Strategie besteht darin, Erlebnisse zu ermöglichen, damit die Kinder positive Erfahrungen machen können und erleben, dass Bewegung Spaß machen und dabei »Wohlbefinden im Körper« hervorrufen kann. Interessant ist, dass sie Bewegung als etwas darstellt, das »eigentlich« Spaß macht – also nicht nur oder nur in einem gewissen Sinn – allenfalls können auch Widerstände damit verbunden sein. Es ist, als bräuchte man dieses Wissen, damit man sich überhaupt bewegt und sich dann auch wohlfühlen kann. Diese Logik enthält einen Aspekt der Selbstdisziplinierung oder zumindest -überlistung; bei Moser basiert er auf positiver Erfahrung, nicht einfach auf einer von außen veranlassten Verhaltensmodifikation oder Disziplinierung. Wichtig ist ihr, dass die Kinder dies erkennen und selber erfahren, also eine eigene Einsicht auf der Basis eigener Erfahrung erlangen. In Zusammenhang mit Gesundheitsförderung erwähnt Moser Aktivitäten, die sie zu diesem Zweck mit den SchülerInnen unternimmt: Sie treibt mit ihnen nicht nur in der Turnhalle Sport, sie geht in die Natur, in den Wald, aber auch ins Hallenbad, in die Eishalle. Die Aufzählung der von ihr veranlassten Erfahrungsmöglichkeiten enthält eine spezifische Werthaltung: Ganz oben steht auch bei ihr – wie bei vielen Erwachsenen, darunter viele der hier interviewten Lehrpersonen – die Naturerfahrung. Sich draußen frei zu bewegen, hat dieser Auffassung nach eine ganz andere Qualität, als in der Turnhalle angeleitet Sport zu treiben.
6. Deutungen der Lehrpersonen ich glaube einfach daran, dass sich das irgendwie ablagert und je nachdem kommt es einem vielleicht wieder in den Sinn, dann kann man anknüpfen an die positive Erinnerung,//mhm//solche Sachen. (I 09, 1)
Ihre Überzeugung, die sie nicht als absolut gesicherte Tatsache, sondern als Glaube darstellt, ist es, dass sich diese Erfahrungen »irgendwie ablagern«. Sie »glaubt« an die, wenn auch kleine, Möglichkeit einer Habitustransformation. Auf der Basis von abgespeicherten positiven Erlebnissen skizziert sie mögliche künftige Verhaltensänderungen im Bereich von Bewegung, sie hofft auf ein Erinnern und allenfalls Wiederaufnehmen der in der Schule mit positiven Gefühlen verbundenen erlebten Aktivitäten. Als zweite gesundheitsfördernde Strategie, die Lehrpersonen in der Institution Schule offensteht, erwähnt sie die Aufklärung – die Information über richtige Ernährung, die Erläuterung der Bedeutung von Bewegung im Alltag. Letztlich erachtet sie diese Strategie jedoch nicht als zielführend; auch wenn man wisse, was eigentlich gesund sei, handle man doch häufig anders, eben aufgrund von Gewohnheiten. also dort denke ich ist, ist es sicher toll mit kleinen Kindern das, das auch wie, wie mit ihnen zusammen zu machen, also nicht einfach nur, aha das wäre dann gesund, sondern (??) mit ihnen zusammen diesen ›Znüni‹ dann zubereiten, essen, so dass das i-, auch wieder in der Gruppe geschieht ... ja und, und dann sind es ›halt‹ [eben] eb-, in diesen Bereichen finde ich sind sie ›halt‹ [einfach] sehr auch im Elternhaus, das kommt total darauf an, wie das jemand zuhause, da ist der Einfluss meiner Meinung nach viel grösser von Zuhause, als den, den wir in der Schule haben. (I 09, 2)
Ein Erfolgsrezept, welches sie insbesondere bei kleinen Kindern als adäquat erachtet, ist die Kombination von Wissensvermittlung und Erfahrungen. Mit der Vermittlung von sachlichen Informationen verbindet sie nicht moralische Appelle, sondern in erster Linie gemeinsames Erleben. Die Effekte ihrer Intervention erachtet sie dennoch als beschränkt, bei der Ernährung seien sie noch kleiner als bei der, wie sie an anderer Stelle sagt, »Bewegungs-Geschichte«; der Einfluss des Elternhauses sei gross, »wie die Mutter kocht oder nicht kocht«, sei gewohnheitsbildend, dem könne man durch gelegentliches Einnehmen von Zwischenmahlzeiten nicht beikommen. Mit grösseren Kindern ohne Begründung gemeinsam ein Znüni zu essen, kommt für sie nicht mehr infrage – vielleicht weil diese aufgetischte Gemüsedipps verweigern oder zumindest ironisch kommentieren würden? Moser stellt der Sozialisation im Elternhaus die Wissensvermittlung und das gemeinschaftliche Erleben in der Schule gegenüber, zwei aus ihrer Sicht legitime Strategien schulischer Gesundheitsförderung. Ihren Fokus legt sie eindeutig darauf, das Erfahrungsspektrum zu erweitern. Ihr geht es weniger
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um eine inhaltliche, intellektuelle Auseinandersetzung und schon gar nicht um moralische Erziehung; was ihr vorschwebt, ist, Einfluss auf eine habituelle Ebene nehmen zu können.
Respekt vor der Autonomie und der Hysteresis von Gewohnheiten Vergleichbar mit den Lehrpersonen anderer Typen erachtet auch Moser sozialen Wandel und dessen Auswirkungen auf die Lebenswelten heutiger Kinder als Grund, dass im Bereich Gesundheitsförderung in der Schule ein gewisser Handlungsbedarf entsteht. Neben Bewegung und Ernährung ist für sie im Rahmen von Gesundheitsförderung der »Umgang miteinander« ein zusätzliches Thema. Kinder würden heute, so ihre Einschätzung aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen im beruflichen Leben, im Umgang mit Konflikten weniger Grenzen akzeptieren. Dieser Problematik würden sie an ihrer Schule schon seit geraumer Zeit mit dem Interventionsprojekt »Peacemaker«17 erfolgreich begegnen. Ebenso hätten die heutigen Kinder kaum mehr Erfahrungen mit »Spielen im Wald«, würden die Gefahren nicht kennen, wüssten nicht mehr, wie auf Bäume klettern. Viele von ihnen seien im Wald noch nie auf Abwegen gewesen, man müsse ihnen nahelegen, eigene, neue Wege zu suchen, ansonsten spazieren sie ausschließlich auf dem Weg. Heutige Kinder kommen – so eine weitere Beobachtung – auch nicht mehr auf die Idee, auf Baumstämmen zu balancieren. Man müsse ihnen die Augen öffnen, Möglichkeiten, was man alles »könnte«, erst aufzeigen – Dinge, die ehemals selbstverständlich waren – und dann würden sie es schon ausprobieren und auch toll finden. Und einfach weil sie es irgendwie nicht wissen und sie wissen es nicht, weil es ihnen nie jemand gezeigt hat oder weil sie es einfach noch gar nie, es ist wie a-, es ist neu// mhm//ja (leise) und klar, dafür können sie Sachen, die wir nicht gekonnt haben, also (lacht) (I 09,5)
Interessant ist, dass die Option, dass sie »es« nicht machen, weil sie es gar nicht wollen oder es ihnen keinen Spaß macht, in ihrer Wahrnehmung nicht existiert. Dennoch wird in ihren Ausführungen deutlich, dass sie dem von ihr konstatierten sozialen Wandel so neutral wie möglich zu begegnen versucht. Sie ist bestrebt, wahrzunehmen und positiv zu werten, was die heutigen Kinder an neuen Fähigkeiten mitbringen. Ihrer Prägung ist sie sich bewusst; sie verschweigt nicht, dass sie beispielsweise Mühe hat, als Normalität zu ak17 | Es handelt sich bei ›Peacemaker‹ um ein nationales Gewaltpräventionsprogramm von NCBI Schweiz (National Coalition Building Institute, URL: www.ncbi.ch), welches kantonal finanziert wird. Dabei werden einzelne SchülerInnen in der Funktion von MultiplikatorInnen zu sogenannten FriedensstifterInnen ausgebildet, die bei Gewalt und Konflikten eingreifen.
6. Deutungen der Lehrpersonen
zeptieren, dass die heutigen Kinder wenig oder keine Erfahrungen mit freiem Spielen im Wald haben. Einfach es ist wie so, das ist auch noch schwierig um es eben dann, um es zum Beispiel nicht zu werten oder? Jetzt in meiner (?)//mhm//wo ich jetzt sage »hey Mann, das ist ja wahnsinnig« zu sagen ja, das ist jetzt einfach, so ist das und ... ok//mhm//mhm. ja ... (I 09,5)
In der Bestrebung, dem beobachteten Wandel möglichst neutral zu begegnen, drückt sich ein reflexives Bewusstsein von generationenspezifischen Wertmaßstäben aus sowie der Anspruch auf ein möglichst wertschätzendes und offenes Wahrnehmen des Gegenübers. Im Gegensatz zu Lehrpersonen des kompensatorischen Ansatzes stellt sie denn auch nicht ein Programm auf, mit dem sie konkrete, messbare Verhaltensveränderungen herbeiführen oder eine Kompetenzerweiterung durch trainingsähnliche Settings erwirken will; sie bietet Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen, auf die die SchülerInnen später zurückgreifen können, wenn sie wollen. Ja oder ihnen auf eine Art vielleicht so ein bisschen wie ähm, es geht ja vielleicht, also das kann man, da kannst du noch keine Gewohnheit irgendwie generieren mit einem Jahr vielleicht neunmal in den Wald gehen, das kann ›tss‹ sorry, ja das das ist zu wenig// mhm//aber, aber vielleicht positive blöd, einfach positive Erinnerungen irgendwo abspeichern//mhm//egal, vielleicht eben ›klick‹ macht es irgendwann einmal später ›boing‹//mhm//genau//mhm//und sonst ist es einfach für diese neun Mal toll gewesen. Das ist wirklich eine Erfahrung wert//ja, mhm//mhm. (I 09,6)
Moser geht nicht von einem sozialtechnokratischen Verständnis aus, Gewohnheiten bewusst und gezielt verändern zu können. Ihr Ziel ist es, den Erfahrungsraum der SchülerInnen zu erweitern und wenn es bei der einmaligen positiven Erfahrung bleiben sollte, ist dies auch in Ordnung. Dabei zieht sie die Autonomie der SchülerInnen in Betracht, sie sieht die Beschränktheit ihres Einflusses auf die Lebensführung der SchülerInnen als gegeben an und will diese Konstellation auch respektieren. Sie folgt einem ermöglichenden Ansatz, wobei sie die Möglichkeiten vorgibt. Thematisch beschränkt sie sich nicht auf Bewegungsförderung und gesunde Ernährung, sondern erachtet es generell als »gesundheitsfördernd«, wenn in sämtlichen Bereichen gesellschaftlichen Lebens Erfahrungen möglich gemacht werden: Ich, ich finde einfach auch grundsätzlich ein Schulzimmer verlassen, ›halt‹ einfach sehr etwas Wichtiges//mhm//also auch in die Kultur konsumieren gehen oder, oder einmal ähm bei einer Exkursion jemanden beiziehen, eine andere Person als, als Fachperson, einfach damit, ich glaube das ist, das ist ein gutes (?) für mich, einfach so ein bisschen
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Im Namen der Gesundheit andere Fenster einmal öffnen, was es auch noch gibt//mhm//finde ich auch gesundheitsfördernd, oder//mhm//grundsätzlich, (I 09,7)
Ihre oberste Maxime und pädagogische Überzeugung ist es, Erfahrungen zu ermöglichen, die später vielleicht einmal abruf bar sein werden. Damit verbindet sich bei ihr die Hoffnung, denjenigen Kindern, die über wenig Ressourcen verfügen, Tore zu öffnen, die ihnen sonst verschlossen sind, beispielsweise zur Musik. Sie versteht die Erweiterung des Möglichkeitsraums als Angebot, das von Lehrpersonen generiert wird: weil einfach auch, da kann bei jemanden irgendwo ... wirklich kann es machen ›bing‹ »ich habe gerne Musik«//mhm//das muss man ja wie überhaupt einmal herausfinden und, und wenn man zuhause keinen Radio gehabt und keinen Plattenspieler, nichts hat, man kein Instrument spielen darf, aber man ist vielleicht in einem Konzert gewesen, auf einmal macht es ... »würde mir gefallen«//mhm//einfach so//mhm//(I 09,7)
Ihre Absicht, Chancenungleichheiten entgegenzuwirken, stellt kein blindes ideologisches Programm dar; sie erachtet ihren Einfluss vielmehr als gering, tendenziell erscheint es als unwahrscheinlich, dass jemand aufgrund eines Erlebnisses etwas Neues entdeckt, aber es ist eben dennoch möglich. Auch ihre KollegInnen verfolgen die bei ihr unter Gesundheitsförderung laufende Strategie, den Kindern vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen, wie sie gleich anschließend ausführt. An ihrer Schule scheinen vielfältige Aktivitäten außerhalb des Schulareals zum Schulalltag zu gehören. Zum Thema Partizipation äussert sich Moser lediglich auf Nachfrage der Interviewerin. Sie erwähnt den funktionierenden SchülerInnenrat und auch die Klassenräte, die der Initiative der Klassenlehrpersonen überlassen seien. Den Klassenrat beruft sie selber nach Bedarf ein, es sei kein regelmäßiges Gefäss. In den Räten würden Themen der SchülerInnen aufgenommen, häufig gehe es um Konflikte, bei denen gemeinsam nach Lösungen gesucht würde. Die Rolle der Erwachsenen ist es ihrer Auffassung nach, aufzuzeigen, was machbar ist und was nicht, oder beispielsweise zur Wahl des Themas von Projektwochen eine demokratische Abstimmung zu ermöglichen. Die Logik bestätigt sich, die sich bereits in den vorherigen Ausführungen gezeigt hat: Als Lehrperson versteht sie sich als steuernde Instanz für die Wahl der zu öffnenden Erfahrungsräume. Mit ihrer Prioritätensetzung, Freiräume zu schaffen und Erfahrungen zu ermöglichen, auch außerhalb des Schulhauses und der Lektionentafel, scheinen auch die Eltern einverstanden zu sein. ... der große, große Teil von diesen Eltern hat, hat sich enorm bedankt dafür, dass es eben. dass so viel anderes Platz hat//mhm//weil, weil die gefunden haben »ja diese
6. Deutungen der Lehrpersonen Kinder gehen total gerne in die Schule« und, und, und die haben keinen Stress und irgendwie ... trotzdem wachsen sie hinein, dass wir Prüfungen haben und dass es dann ein bisschen darauf ankommt und dass man lernt und man, man, das eine tut das andere nicht ausschließen//mhm//die haben diese, diese Fenster als, als sehr angenehm erlebt, als Eltern//mhm//und sogar als, also sehr, sehr wertvoll//mhm//die haben sich sehr, für das eigentlich sehr bedankt, dass meine Kolleginnen und ich, dass wir viele ... einfach auch andere, f-, andere, andere Sachen eingebaut haben und//mhm//ja. (I 09,12-13)
Ihre Art zu unterrichten, scheint sich von gängigen Vorstellungen von Unterricht zu unterscheiden. Von einer Auffassung von Schule, die auf Prüfungen und Noten ausgerichtet ist, distanziert sie sich. Zwar ist sie sich bewusst, dass es dazu gehört, dass »es dann ein bisschen darauf ankomme« – womit sie womöglich die schulische Selektion meint. Das eine schließe das andere nicht aus: Fenster zu eigenen Erfahrungen können geöffnet und dennoch das, was allgemein als das »Schulische« bezeichnet wird, verfolgt werden. Wichtig ist ihr, dass die Kinder gerne zur Schule gehen, keinen Stress haben und dennoch in das Leistungssystem hineinwachsen. Eine so verstandene Umsetzung des Bildungsauftrags, dies ist sie sich bewusst, ist begründungspflichtig. Dass sie die Eltern überhaupt erwähnt und damit indirekt auf deren Bedenken eingeht, deutet darauf hin, dass sie sie als wichtigen Teil des Arbeitsbündnisses betrachtet. Würde ihr Verständnis von Schule – oder eher: von Bildung – bei den Eltern auf unüberwindbare Widerstände stoßen, wäre dies aus ihrer Sicht problematisch. ich meine, du kannst jeden Monat einmal einen Tag [lang] nach draußen gehen, problemlos, also//mhm//und das dann auch begründen//mhm//quasi vor den Eltern und sagen, ja wir machen das und das und das und das vor Ort und ... im Deutsch schreiben wir darüber und das//jaja//also da muss man einfach ein bisschen schlau sein auch, falls dort jemand kommen würde und, und das Gefühl hätte ›ja hallo‹ und dann kann man ja das bestens begründen. (I 09,13)
Die Öffnung des Klassenzimmers und das Auf brechen des ›ordentlichen Unterrichts‹ lassen sich, wie sie ausführt, ohne Weiteres mit schulischen Zielen begründen. Moser ist es wichtig, den Eltern ihre Handlungsweise zu begründen, damit diese verstehen, dass Lernen nicht auf das Klassenzimmer beschränkt sein muss.
Man landet irgendwann auf der politischen Ebene … Ausgehend von ihrer Schilderung der Umstellung von Jahrgangs- auf Mehrjahrgangsklassen an ihrer Schule, macht Moser deutlich, dass sie kein gro-
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Im Namen der Gesundheit
ßes Vertrauen hat in politische Entscheidungen und deren Träger, gerade was schulische Reformen betrifft. Da haben (?) sehr viele Leute zu wenig überlegt//mhm//was das kosten würde, wenn man es gut machen würde//mhm//und das kann man sich ja dann auch nicht leisten// mhm//und ich bin gespannt, ich sage jetzt das hier unter vier Augen ... ich bin gespannt wie lange dass es geht, bis dieser Riesentanker ... ähm irgendwie diese Richtung auch wieder ändert. (I 09,15)
Ihre Kritik zielt auf die mangelnde Kohärenz und auf die fehlende Klarheit in der Ausrichtung der Reformen sowie auf die mangelnde Bereitschaft, die notwendigen personellen Mittel für die schulstrukturellen Veränderungen, hier die Einführung von Mehrjahrgangsklassen, zur Verfügung zu stellen. Das müssen wir ja auch irgendwie, irgendwo ehrlich sehen und dann muss ›halt‹ irgendjemand beschließt ›halt‹ etwas. Ich denke einfach wirklich schade am Ganzen ist, ich glaube wir müssten einfach mehr Personal haben//mhm//(irgendwie?). (I 09,4)
Politische Entscheidungen erachtet sie als willkürliche Akte einzelner Personen, die sie weder fachlich begründen, noch deren finanziellen Konsequenzen bedenken und auch nicht nach der demokratischen Legitimation fragen. Tendenziell beobachtet sie eine große Überlastung bei ihren LehrerInnenkollegInnen; deshalb ist für sie auch das Thema »Lehrergesundheit« relevant. Zusammen mit ihrer Kollegin im Rahmen ihrer Aufgabe als Koordinatorinnen für Gesundheitsförderung plant sie auf der Basis einer Umfrage im Schulhaus Angebote für Sport und Entspannung über den Mittag. Von Seiten der Politik erwartet sie wenig bis nichts. Wenn strukturelle Veränderungen in Angriff genommen werden – wie die Umstellung auf Mehrjahrgangsklassen –, bedarf es ihrer Meinung nach deutlich mehr Personal. Konkret fordert sie mehr Teamteaching-Stunden und auch eine bessere Unterstützung in Notlagen. Oder jetzt, jetzt konkret wie, wie kommen wir, ich meine, da muss man ja einfach das Budget anschauen, wir kommen nicht zu mehr Personal//mhm//wie auch? Also//jaja// da, da habe ich dann wie das Gefühl, das ist einfach, das ist jetzt wirklich ein, ein rosaroter Wunsch, sonst vergessen wir es gleich, also machen wir doch einfach diejenigen Sachen, die möglich sind. (I 09,18-19)
Viele KollegInnen seien nicht politisch denkend oder aktiv wie sie, die seit Jahrzehnten Mitglied der LehrerInnengewerkschaft ist. Aber auch sie glaube nicht an eine grundlegende Veränderung, mehr Mittel für den Personalbereich seien ein rosaroter Wunsch. Dennoch richtet sie ihre Kritik an die politischen
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Entscheidungsträger und gerät dabei in Rage. Nicht nur kritisiert sie das Fehlen personeller Ressourcen bei Umstrukturierungen; generell tritt sie für eine Umverteilung der Gelder zugunsten der unteren Stufen ein. Diese müssten über mehr Mittel verfügen und die dort tätigen Lehrpersonen besser entlohnt werden. Im Vergleich mit der Zeit ihres Berufseinstiegs sei der Lehrberuf heute anstrengender geworden. Die Kinder sieht sie dabei als Spiegel der Gesellschaft und stellt mehr Störungen und schwierige Konstellationen fest. Man könne nicht mehr einfach nur unterrichten. Natürlich, ja genau//mhm//ja, ja richtig, es bräuchte mehr Geld an der Basis und vielleicht weniger bei der Elite, ich weiß es nicht, dass ist das, was ich manchmal denke. ›gopf‹.//I: Also Elite, du meinst zum Beispiel Gymnasium oder?//Jaa, die, das sind ja, damals bei mir, das sind kleine Klassen gewesen, es gibt immer wieder ziemlich kleine Klassen an den Gymnasien (und?) so, und ich denke das, das sind, das sind jene, sorry, das ist, das sind Pralinen, das ist vorher alles gesiebt worden und wir drehen durch mit irgendwie… (I 09,20)
Hier legt sie ihre politische Haltung dar, auch was die Stellung ihres Berufsstands der VolksschullehrerInnen betrifft. Die ungerechte Verteilung der Mittel führe längerfristig zu Problemen, die dann wieder mittels Symptombekämpfung zu beheben versucht würden. Jetzt sind wir wirklich, ich glaube man landet ›halt‹ dann eben schon//mhm//irgendwann in der Politik, ja. (I 09,21)
Ob sie mit ihrer Formulierung, »irgendwann lande man schon in der Politik«, meint, dass man im Gespräch immer dort lande, oder dass sie sich früher oder später politisch stärker engagieren werde, ist nicht ganz klar. Zwar sei sie Mitglied der Gewerkschaft, sie engagiere sich dort jedoch nicht aktiv, obwohl sie, wie deutlich wird, klare Vorstellungen von politischen Forderungen in ihrem Berufsfeld hat.
Das pädagogische Prinzip: Fenster öffnen Obwohl Moser über eine dezidierte Meinung zu bildungspolitischen Fragen verfügt, agiert sie (bis jetzt) nicht auf der politischen Ebene. Sie verfolgt innerhalb der bestehenden, nicht idealen Rahmenbedingungen das Ziel, den Möglichkeitsraum der SchülerInnen so gut es irgendwie geht, zu erweitern. Auch sie wählt einen pragmatischen Weg, ohne sich jedoch durch gängige schulische Praktiken einschränken zu lassen. Mosers Verständnis von Gesundheitsförderung und gesunder Lebensführung, das ihrer pädagogischen Arbeit zugrundeliegt, stellt sie wie folgt dar:
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Im Namen der Gesundheit Ja ... ja und ›eben‹ ich meine ›eben‹ solche Fenster öffnen, ich, ich finde das wichtig, weil ich einfach bei mir weiß, ich, ich kann mich gut regenerieren, ich kenne meine, meine ich habe mehrere, mehrere solche, solche, solche Möglichkeiten, ich bin gerne draußen// ja//ich bewege mich gerne//mhm//also das ist das Einfachste oder, ›halt‹ ein bisschen in den Wald oder gehen rudern oder so das, das geht das, das ist und ich weiß einfach aus der Erfahrung, dass es, nachher ist es immer besser wie vorher. (I 09,21)
Erneut begründet sie ihre pädagogischen Absichten mit persönlichen Erfahrungen: Sich draußen zu bewegen – das erlebt sie offenbar immer wieder –, ist für sie eine gute Form der Regeneration, es geht ihr danach besser. Die Entwicklung individueller Strategien, um sich selbst mit neuer Kraft zu versehen, ist in ihrem Verständnis von Gesundheitsförderung zentral, ohne dass sie dies so benennt. Regeneration, auf lateinisch Wiedergeburt, bedeutet erneute Belebung, Erneuerung von Energien, auch der eigenen Arbeitskraft. Regenerieren bedeutet auch, etwas zurückzugewinnen, wiederzuerlangen. So verstandene Gesundheitsförderung zielt nicht auf eine Steigerung, sondern vielmehr auf einen Zustand des Gleichgewichts. Den Prozess der Regeneration, als etwas Individuelles verstanden, verbindet sie mit einer gewissen Überwindung. Regeneration geschieht nicht von selbst, sondern bedarf der Ressourcen. Also wenn es mich jetzt ›anscheißt‹ dann gebe ich mir ›halt‹ einen Tritt in den Hintern// mhm//weil ich weiß das, ich habe es tausendmal erlebt, also »mach es jetzt einfach« äh//mhm//ich kann super abtauchen beim Lesen, bei einem Buch//mhm//und das muss jeder Mensch für sich selber herausfinden, was funktioniert bei mir, wenn es zu viel wird, zum irgend in einer Form gesund bleiben//mhm, mhm//und je mehr man hier zur Verfügung hat an, an Auswahl und das bewusst kann einsetzen, desto ja, desto ›eben‹, desto länger bleibst du auch in diesem Beruf gesund oder, oder, oder//mhm// und das finde ich, das muss man den Kindern sagen//mhm//und, und, und ... ja und ihnen wie aufzeigen und, und ein bisschen mit auf den Weg geben, oder, ja. Und das verstehen die Kinder schon. (I 09,21)
Erneut zeigt sich, dass ein Verhalten, um »in irgendeiner Form gesund zu bleiben«, für sie verbunden ist mit einer gewissen Selbstdisziplin: Man muss sich zu etwas zwingen, im Wissen darum, dass einem die Aktivität gut tun wird. Deutlich wird im obigen Zitat, dass ihre Interventionen letztlich darauf zielen, den Umgang mit sich selbst zu verändern. Sie erachtet es als notwendig, sich Strategien anzueignen, um sich vor Überbelastung zu schützen, um sich regenerieren zu können und damit die Gesundheit zu erhalten. Wer nicht über solche Strategien verfüge, dem drohe die Ausbeutung und die Erschöpfung. Hierin zeigt sich ihr Verständnis des Lebens als Kampf, als Überlebenskampf. Ihr Ziel ist es, den Kindern ein möglichst breites Spektrum an Regenerierungsstrategien aufzuzeigen. Dass man sich Strategien aneignen soll, um mit
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Belastungen umzugehen – so ihre Überzeugung –, würden Kinder schon verstehen. Damit drückt sie aus, dass es anspruchsvoll ist, sich solche Strategien anzueignen, und zugleich wird deutlich, dass sie Kinder als Gegenüber ernst nimmt und ihnen etwas zutraut. Interessanterweise beschränkt sich Gesundheitsförderung für Moser inhaltlich nicht auf Bewegung und gesunde Ernährung; es kann auch gesundheitserhaltend sein, ein Buch zu lesen. Welche Form für wen geeignet ist, könne nur jede und jeder für sich selber herausfinden. Sie stellt dies als eine zu erkundende Frage dar; es gibt kein einfaches, unmittelbar einsichtiges Rezept, das für alle Gültigkeit haben kann.
Resümee: Gesundheitsförderung als individuelle Ermächtigung Im Zusammenhang mit den obigen politischen Äußerungen respektive dem fehlenden Vertrauen, Veränderungen auf politischer Ebene herbeiführen zu können, beschränken sich die gesundheitsfördernden Strategien Mosers auf eine individuelle, innerpsychische Ebene. Wer nicht an Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene glaubt, dem oder der bleibt nichts anderes übrig, als sich auf sich selbst zu besinnen, was auch als eine Art Resignation gedeutet werden könnte. Zugleich stehen Fragen der Ermöglichung im Zentrum ihrer ›gesundheitsfördernden‹ Bestrebungen: Sie ist sich der Ungleichheiten bewusst und sieht, dass die Möglichkeiten, Erfahrungen unterschiedlichster Qualität zu machen, gesellschaftlich ungleich verteilt sind. Dementsprechend sieht sie eine der zentralen Aufgaben von Lehrpersonen darin, insbesondere den Kindern mit kleinen Erfahrungsräumen das Möglichkeitsspektrum zu öffnen. Und damit soll ihnen die Chance geboten werden, auch später einmal Gewohnheiten verändern zu können – alles mit dem Ziel, sich selber immer wieder regenerieren zu können und letztlich am Leben zu bleiben, teilhaben zu können.
6.4.2 Stefan Blaser: Gesundheitsförderung als spezieller Bildungs- auftrag – Ambivalenzen gegenüber dem ›Gesundheitsding‹ Typisch für Lehrpersonen dieses Typus scheint das Ringen darum zu sein, was der Inhalt von Gesundheitsförderung überhaupt ist und sein soll. Ebenso stellen sich ihnen Fragen der Legitimation: Inwieweit sollen, müssen und dürfen sie als Lehrpersonen die Heranwachsenden beeinflussen? Nachfolgend sollen am Beispiel eines Lehrerkollegen von Moser diese Fragen und auch Ambivalenzen noch deutlicher herausgearbeitet werden.
Dialog oder Wissensvermittlung? Stefan Blaser, 34 Jahre alt, ist seit knapp zehn Jahren an derselben Schule auf der Mittelstufe tätig. Auch er wird im Interview zu Beginn mit der Frage kon-
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frontiert, welche Bedeutung für ihn Gesundheitsförderung in Zusammenhang mit Schule habe, ob Gesundheit überhaupt zum Aufgabengebiet der Schule gehöre und, falls ja, warum. Mit dieser Frage eröffnet die Interviewerin zwei Problemfelder: Zum einen wird die Bedeutung von Gesundheit/Gesundheitsförderung zur Diskussion gestellt, wobei zwei unterschiedliche Begriffe zusammengebracht werden. Zum anderen stellt sie mit ihrer Frage den Auftrag der Gesundheitsförderung an sich infrage, sie zieht dessen Legitimität in Zweifel. Damit fordert sie das Gegenüber zu einer präzisen Positionierung heraus oder ermöglicht sie. Der durch die Interviewerin gesäte Zweifel kann weiter ausgeführt oder aber vehement abgelehnt werden. Blaser verhält sich dazu wie folgt: Mich dünkt es, dass, es gehört sicher dazu (I 10, 1)
Er beginnt seine Ausführungen mit einer persönlichen Stellungnahme, ohne damit ein klares Statement zu machen. Das Verb »dünken« hat etwas Vages, beinhaltet Unsicherheit. Der vermeintliche Zweifel wird jedoch mit dem nachgestellten Nebensatz abgewehrt: »Es«, wohl Gesundheitsförderung, gehört sicher dazu – zu den schulischen Aufgaben. Diese Äußerung beinhaltet eine Art Selbstbeschwichtigung, die Abwehr eines Zweifels – die Sache soll hier nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. In der Kombination mit dem einleitenden »mich dünkt es« zeichnet sich hier eine Ambivalenz ab: Es könnte sich die Ahnung ausdrücken, dass »es« eben doch nicht dazugehören könnte, der Zweifel wird als rational möglich stehen gelassen. Bis hierhin hat seine Positionierung insofern eine Ähnlichkeit mit derjenigen von Moser, als sich beide auf ihre persönliche Einschätzung berufen und daraus ihre Deutung von Gesundheitsförderung entwickeln, ohne sich auf ein spezifisches Programm abzustützen oder sich auf einen von oben verordneten Auftrag zu berufen. und am Besten dünkt es mich, wenn das möglich ist, einen Dialog quasi zwischen dem Elternhaus und der Schule//mhm//, also das ist eine Erfahrung, die ich auf jeden Fall gemacht habe ähm, (I 10, 1)
Es folgt eine weitere persönliche Einschätzung seinerseits – die Beurteilung dass es schön wäre, wenn ein Dialog zwischen dem Elternhaus und der Schule stattfinden würde. Das ist offenbar eine reale Option, wobei der Dialog entweder kein wirklicher ist, sondern nur »quasi«, oder dann ein Dialog »quasi« zwischen Eltern und Schule, womit die einander gegenüberstehenden Institutionen fraglich werden. Klar ist, dass Gesundheit und Gesundheitsförderung für Blaser idealerweise eine gemeinsame Aufgabe von Eltern und Schule darstellen. Interessant ist, dass er das Elternhaus zuerst nennt: Ist Gesundheitsförderung in seiner Idealvorstellung Aufgabe der Eltern und nicht der Schule? Gehört sie also doch nicht ganz zum Auftrag der Schule? Implizit legt er dar,
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dass er Eltern und Schule als zwei Pole wahrnimmt, als zwei getrennte Lebenswelten, die in einen Dialog treten sollten, wenn es um Fragen der Gesundheit und der Gesundheitsförderung geht. Bezeichnend für einen Dialog ist, dass niemand den Lead hat, sondern etwas ausgehandelt wird. Die Eltern könnten z.B. über Allergien ihrer Kinder informieren oder die Schule kann fordern, dass die Kinder ausreichend ernährt erscheinen, oder die jeweiligen Maximen werden dargelegt etc. Die Definitionsmacht liegt in der Darstellung Blasers zwischen Schule und Eltern, es ist eine Frage der Aushandlung, die zwischen Gleichberechtigten ohne fachliche Expertise im Bereich Gesundheit stattfindet. und eben das kann jetzt verschiedene Aspekte haben, dünkt mich, einer kann sicher einmal die Ernährung sein//mhm//, dünkt mich, eben was sind gesunde Znüni beispielsweise ähm, (I 10, 1)
Verhandel- oder diskutierbar sind verschiedene Aspekte von Gesundheitsförderung oder Gesundheit. Als erstes nennt er »die Ernährung« als einen möglichen, aber nicht zwingenden Aspekt von Gesundheitsförderung. Seine Ausdrucksweise, von der »Ernährung« zu sprechen, hat etwas Konzeptionelles oder auch etwas Programmatisches. Würde er Ernährungsfragen aufgreifen, stünde das Diskursive im Vordergrund. Erneut schiebt er die Formulierung »dünkt mich« nach: Er bleibt somit weiterhin vage, als wäre er sich oder der Sache nicht sicher. Die Konkretisierung des Aspekts Ernährung erfolgt denn auch in Frageform, nämlich: »Was sind gesunde Znüni?« Zugleich wird die Verhandelbarkeit eingeschränkt, »gesunde Znüni« sind nicht beliebig, nicht alle denkbaren Zwischenmahlzeiten sind auch gesund. Die von ihm zur Auswahl gestellten Imbisse folgen bestimmten Kriterien, die aus ernährungswissenschaftlicher Sicht begründbar sein müssen, sie beinhalten somit eine Norm, nämlich der Gesundheit zuträglich zu sein. Interessant ist, dass er von »gesunden Znüni« in der Mehrzahl spricht, also sich innerhalb einer festgelegten Norm ein Verhandlungsspielraum eröffnet. das Thema Ernährung ist ein Thema, das ich je nachdem, wenn es die Kinder noch nicht gehabt haben, auch in der vierten oder fünften Klasse sicher einmal durchnehme (I 10, 1-2)
Nun wechselt er unangekündigt die Ebene: Auf einmal spricht er von Unterricht, von Themen die man »gehabt« haben kann, die man »durchnehmen« kann. Hier nun ist der Dialog weg, ebenso die Eltern, nun tritt er als Lehrperson allein gegenüber seiner Klasse auf. Er wählt das Thema, das im Verlauf einer Schulkarriere durchgenommen werden muss, als Teil eines Programms, wahrscheinlich des Lehrplans. Hier stellt sich in Bezug auf seine erste Äußerung
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die Frage, ob er den Dialog nur vorschiebt und dabei aber ein klares Programm verfolgt, das nichts Dialogisches mehr beinhaltet. Dies würde bedeuten, dass er einen Scheindialog führt, einen »quasi Dialog«, dabei aber eigentlich von klaren Normen ausgeht. Oder aber er führt einen Dialog nur mit den Eltern, während er den SchülerInnen Wissen und allenfalls Normen vermittelt? und wenn es nicht schon in der 3./4. vorgekommen ist, mache ich das eigentlich noch gerne//ja//und zwar nicht irgendwie ähm, als Gesundheitspapst, sage ich einmal//ja//, (I 10,2)
Die Formulierung »mache ich es eigentlich noch gerne« wirkt immer noch unbestimmt: Die eigene Haltung dazu ist diffus; auch inhaltlich bleibt unklar, was eigentlich gemacht wird, als würde in technokratischer Manier einfach etwas vollzogen, hier eben »durchgenommen«. Was genau macht er gerne? In einen Dialog treten? Diskussionen führen? Normen und Wissen vermitteln? Indem er die Figur des »Gesundheitspapsts« aufgreift und sich sogleich davon distanziert, wird erneut eine Ambivalenz sichtbar. Dass er diese Figur aufgreift, zeigt, dass er sich der normgebenden Wirkung von Gesundheitsförderung bewusst ist. Dabei zeichnet er eine Figur einer unanfechtbaren Autorität, die auf Glauben beruht. Wer nicht gläubig ist, misst den Worten des Papsts kaum Bedeutung zu, dennoch haben seine Worte große Wirkungskraft. Der Begriff »Gesundheitspapst« wird nicht für Geistliche, sondern umgangssprachlich für Mediziner gebraucht, die nicht (lediglich) als professionelle Ärzte in ärztlichen Praxen arbeiten, sondern in Verknüpfung mit Medien wegweisende Funktionen wahrnehmen, dabei häufig auch in gewisser Nähe zur Pharmaindustrie stehen. Interessant ist der Begriff »Gesundheitspapst« auch in Bezug auf die These der Gesundheit als neue Religion, respektive eines Religionsersatzes (vgl. Kap. 2). Blaser scheint mit seiner Abgrenzung von Gesundheitspäpsten die beratende oder predigende Funktion von sich zu weisen. Er sieht sich als Lehrer, nicht als ein Papst, der Glaubenssätze, und Normen predigt. Interessant ist nun aber seine Begründung: weil da habe ich auch nicht das absolute Know-how, (I 10,2)
Nicht weil er diese Funktion ablehnen würde, weil er sich gegen Demagogie stellen würde, weil er nicht autoritär predigen will, was gut und was schlecht ist, distanziert er sich von Gesundheitspäpsten. Er tut dies, weil er sich dazu nicht autorisiert fühlt, mangels »absolutem Know-how«. Implizit scheint er davon auszugehen, dass solch absolutes Know-how existiert. Wenn er dieses hätte, würde er dann allenfalls predigen? Dabei verweist der Begriff Know-how darauf hin, dass er nicht von Wissen im Sinne von Erkenntnis um ihrer selbst
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willen ausgeht, sondern von Technologien und Verfahren – als wäre wissenschaftliches Grundlagenwissen keine Kategorie für ihn, was für Lehrpersonen seiner Generation, die noch keine tertiarisierte Ausbildung genossen haben, nicht verwunderlich wäre. Ob im Bereich der Gesundheitsförderung Wissen die Basis darstellt oder ob es um Verfahren, Anleitungen, Handhabungen geht, die nicht auf wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis basieren, ist eine Frage, die zu untersuchen wäre. Wer im Rahmen der Institution Schule ein Experte oder eine Expertin in Sachen Gesundheitsförderung sein könnte, ist an sich unklar. Lehrpersonen, wie dies Blaser deutlich macht, sind es sicher nicht, MedizinerInnen sind zu stark auf Krankheiten fokussiert, allenfalls können ›konvertierte‹ MedizinerInnen diese Funktion wahrnehmen, beispielsweise SchulärztInnen, oder eben Gesundheitspäpste. aber sicher, dass die Kinder ein bisschen Bescheid wissen, was tut mir gut und was eher nicht//ja//, (I 10,2)
Gemäß seinen weiteren Ausführungen über die den Schulkindern zu vermittelnden Inhalte geht es nicht um Wissen, sondern darum, dass die SchülerInnen »ein bisschen Bescheid wissen«, was einem gut tut und was eher nicht. Wissen gilt es hierzu nicht in einem absoluten Sinne zu erwerben, sondern bezogen auf sich selber. Deutlich wird, dass Blaser nicht rigide ist in seinen Kategorien, dass er vermeintliche Grenzen immer wieder aufweicht. Als Lehrperson, die Wissen vermittelt und Ernährung »durchnimmt«, gerät er unweigerlich in die Nähe eines Predigers, der Normen über das gute Leben, die gute Lebensführung formuliert. Diese Nähe scheint er zu erahnen und sich zugleich von ihr distanzieren zu wollen. In der Formulierung »ein bisschen Bescheid wissen, was gut tut, was eher nicht« scheint der Aspekt eines gewissen Autonomiespielraums auf, der erneut mit Ambivalenzen verbunden ist – zwischen dem Bescheidwissen, was auf einen rationalen, erwerbbaren Wissensbestand hindeuten kann, jedenfalls auf bewusstes, abruf bares Wissen, und dem subjektiven Empfinden, was mir gut tut und was eher nicht. So kann es sein, dass mir Schokolade gut tut, obwohl ich darüber Bescheid weiß, dass der Konsum von Süssigkeiten nicht ›gesund‹ ist. Dabei scheint Blaser dazu zu tendieren, dass diese Frage nur innersubjektiv entscheidbar ist und kein Gesundheitspapst definitiv entscheiden kann, was mir persönlich gut tut und was eher nicht; dies weiß nur ich selbst (oder letztlich nicht einmal ich selber). Was auch typisch zu sein scheint für seine Argumentation: Das Gegenteil von dem, was einem gut tut, ist nicht das, was einem schadet, sondern lediglich etwas, das eher nicht so gut tut. also das wü-, das Ziel wäre, eben nicht, dass ich zum Beispiel sage, Coca-Cola ist vom Teufel//ja//, sondern, dass ich ihnen sage, im Maße ist das gut und es ist vielleicht nicht
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Im Namen der Gesundheit das Beste für in einer Zehn-Uhr-Pause ähm, dass sie das so ein bisschen lernen einzuordnen, dass sie die Ernährungspyramide kennen ähm, also das dünkt mich sicher mal ein Aspekt (I 10, 2)
Hier nun legt er seine liberale Haltung dar. Er spricht nicht ein Verbot aus, ist nicht rigide. Er gibt einen Spielraum vor, innerhalb dessen die SchülerInnen entscheiden können. Ab und zu eine Cola zu trinken, schadet nicht. Eher nicht in der Zehn-Uhr-Pause – vielleicht weil dies einem öffentlichen Akt gleichkäme. Eine weitere Ambivalenz zeigt sich in der Aussage, dass sie lernen sollen, dieses Getränk und dessen Bedeutung »ein bisschen einzuordnen«. Als Raster, in das sie z.B. das Süssgetränk einordnen können, erwähnt er die Ernährungspyramide. Diese Pyramide, womit er wohl die schweizerische Version meint, sollen die SchülerInnen kennen und darin die Nahrungsmittel ›ein bisschen‹ einordnen können.
E xkurs zur Ernährungspyramide Es handelt sich um eine »pyramidenförmige Ernährungsempfehlung«, die in der Schweiz erstmals 1998 gemeinsam von der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben wurde. 2005 und letztmals 2011 wurde die Pyramide überarbeitet. Sie stellt nicht irgendeine, sondern »die Empfehlung einer ausgewogenen Ernährung für gesunde Erwachsene dar«. Auf verständliche Weise soll veranschaulicht werden, wie viel es von welchen Lebensmitteln braucht, um dem eigenen Körper genügend Energie, Nähr- und Schutzstoffe zuzuführen. »Sie«, so der erläuternde Text, »fördert Gesundheit und Wohlbefinden und trägt dazu bei, Krankheiten vorzubeugen.«18 Die schweizerische Pyramide entstand in Anlehnung an die 1992 erstmals veröffentlichte US-amerikanische Lebensmittelpyramide des »United States Department of Agriculture« (USDA), dem Landwirtschaftsministerium. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Versionen von Pyramiden, beispielsweise auch eine deutsche oder eine österreichische, wie auch die im Jahr 2008 von der »Harvard School of Public« herausgegebene, an die große Hoffnungen geknüpft wurde, was die ›Bekämpfung‹ von Übergewicht betrifft (vgl. Willett 2008 zit.n. Krumwiede 2002). Die jeweiligen Pyramiden unterscheiden sich teilweise in der Anzahl Stufen, auf denen je unterschiedliche Lebensmittel wie auch verschiedene Mengen empfohlen werden. Beispielsweise findet sich auf der schweizerischen Version zuoberst bei den Süssigkeiten eine Tüte mit Kartoffel-Chips, die in den Versionen anderer Länder fehlt.
18 | Schweizerische Gesellschaft für Ernährung. URL: www.sge-ssn.ch/de/ich-unddu/essen-und-trinken/ausgewogen/lebensmittelpyramide/(Stand 14.2.2015).
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Gegenüber der ursprünglichen, amerikanischen Version der Lebensmittelpyramide wurde Kritik laut, indem ihr fehlende Wissenschaftlichkeit unterstellt wurde. Ebenso wurde die Nähe zur Lebensmittelindustrie als problematisch eingestuft. In der Schweiz fällt beispielsweise auf, dass Swissmilk, die Dachorganisation Schweizer Milchproduzenten (SMP), in ihren für die Schule hergestellten Unterrichtsmaterialien sehr häufig auf die »Schweizerische Ernährungspyramide« verweist, was angesichts der Position der Milch auf der drittobersten Stufe und der Empfehlung, drei Portionen pro Tag zu konsumieren, nicht erstaunt. Im Vergleich: In Österreich steht die Milch lediglich auf der viertobersten Stufe, in Deutschland ebenfalls auf der drittobersten, jedoch mit der Empfehlung, lediglich zweimal täglich Milchprodukte zu konsumieren. Ebenso Anlass zu regelmäßigen Debatten gibt die Position von tierischen Fetten, die bei vielen Pyramiden auf der gleichen Stufe angesiedelt sind wie Oliven- und Rapsöl. Auch Eier mussten in den letzten Jahren mehrmals die Ebene wechseln. Ein weiterer Kritikpunkt liegt darin, dass mit einer einzigen Pyramide für ganze Bevölkerungen der Heterogenität nicht Rechnung getragen werde. Die Pyramide bietet lediglich für eine kleine Personengruppe Orientierung; die Bedürfnisse beispielsweise von Personen über 60, von VegetarierInnen oder VeganerInnen oder auch von Personen mit Allergien werden auf dieser Einheitspyramide nicht abgebildet. Als problematisch stellen sich insbesondere die einer Art ›Heilsversprechen‹ gleichkommenden Begleittexte der Pyramiden heraus: Mit dem Befolgen der in der Pyramide enthaltenen Empfehlungen werden Erwartungen verbunden, beispielsweise was den Rückgang von Übergewicht oder den Schutz von Erkrankungen wie Krebs betrifft; diese Erwartungen werden regelmäßig enttäuscht oder auch auf der Basis von evidenzbasierter medizinischer Forschung widerlegt (Groeneveld 2004). Sicher ist lediglich, dass die Debatten um die ideale Zusammensetzung der Ernährung(spyramide) weitergeführt werden und es bisher keine übereinstimmenden und eindeutigen Ernährungsempfehlungen von unabhängiger Seite gibt oder geben kann.
Gratwanderung zwischen Predigt und Aufklärung In den Ausführungen Blasers bleibt bislang unklar, ob er Ver- und Geboten grundsätzlich ablehnend gegenüber steht, ob er kritisch ist gegenüber einer Essensregelung, gegenüber einer Normen vermittelnden Gesundheitsförderung und somit auch gegenüber den Weisungen von Gesundheitspäpsten oder eines Bundesamts für Gesundheit. Blaser folgt womöglich lediglich einem moderaten Diskurs der Gesundheitsförderung, welcher ein gewisses Maß an ungesundem Lebenswandel in ein dennoch normatives Modell integriert: Ein bisschen ungesund zu leben, ist der Gesundheit zuträglich, während ausschließlich gesund zu leben, zu rigide wäre. Ab und zu, in ›gesundem‹
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Maße geniessen, liegt drin; im Sinne eines kontrollierten Genusses soll auch mal etwas Verbotenes konsumiert werden dürfen. Blaser könnte auch gegenüber der in der Ernährungspyramide enthaltenen Hierarchie kritisch eingestellt sein, es aber dennoch als sinnvoll erachten, die Lebensmittel dort ein »bisschen einzuordnen«. Fraglich bleibt somit, ob die ambivalente Haltung Blasers von Widerspenstigkeit zeugt, oder ob er in gebrochener Form einer Gesundheitsförderungsideologie folgt. und eben auch mit den Eltern zusammen zu schauen, was sind gute Znüni//mhm//(I 10, 2)
Wieder wechselt der Fokus auf die Eltern – sie sind es schließlich, die den Kindern die Zwischenmahlzeiten mitgeben. Der angekündigte Dialog wird nicht geführt, eben nur »quasi«: Mit ihnen »schauen« ist nicht gleich diskutieren; hier geht es um Anschauung, geleitetes Schauen und nicht um ein Aushandeln, was »gute Znüni« sein könnten. Es werden zwar wiederum mehrere Znünis erwähnt, die als »gut« gelten, sie sind aber klar definiert, es besteht kein Verhandlungsspielraum. Fraglich ist, vor welchem Hintergrund die Einordnung der Znünis geschieht – ist es die Ernährungspyramide? und dort habe ich eben den Eindruck gewonnen oder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das nicht abhängig ist unbedingt von der Nationalität, das ist nicht unbedingt abhängig vom Einkommen, das jemand hat, sondern von der Esskultur, die man Zuhause hat//mhm//, (I 10, 2)
Was als gesundes Znüni wahrgenommen wird, ist gemäß Blasers Erfahrung abhängig von der »Esskultur« im Elternhaus. Damit koppelt er das Gesundheitsbewusstsein ab vom Raum der sozialen Positionen, »Esskultur« setzt er aber auch nicht gleich mit kulturellem Hintergrund oder nationalstaatlicher Zugehörigkeit. Essgewohnheiten sind, so seine Beobachtung, abhängig von der je Familie praktizierten Kultur des Essens. Was eine solche »Esskultur« entstehen lässt und prägt, darüber liefert seine Sicht (noch) keine Anhaltspunkte. Die von ihm hier angesprochene Trägheit der Gewohnheiten, und dabei der große Einfluss, den er dem Elternhaus beimisst, sind vergleichbar mit der Wahrnehmung von Moser. weil man sieht alles, vom extremst gesunden Znüni, bis 5./6. schon immer ge-, mehr bei den Mädchen eigentlich, dass ein paar meinen, alles was ich esse, macht dick, also dass das in das hineinspielt und man ihnen nachher erklärt, nein wenn du das isst, das brauchst du, das ist, macht ganz und gar nicht dick, aber das ist sicher so ein Punkt, der mich auch wichtig dünkt. (I 10, 2)
6. Deutungen der Lehrpersonen
Gegenüber den in seinem Berufsfeld beobachtbaren Phänomenen zeigt er – dies wird aus seinen Schilderungen wiederholt deutlich – eine offene, neugierige Haltung. Zunächst einmal beobachtet er, was da alles, hier in Bezug auf Essgewohnheiten, zusammenkommt. Auf der einen Seite stehen für ihn die »extremst gesunden Znüni«, die Kindern von ausgeprägt gesundheitsbewussten Eltern mitgegeben werden. Von solchen extrem gesunden Znünis distanziert er sich und bestätigt damit erneut, kein Gesundheitspapst zu sein; er scheint vielmehr zu einem ›gesunden Mittelmaß‹ zu tendieren. Am anderen Ende, jenem der extrem Gesundheitsbewussten oder gar Gesundheitsfanatiker, sieht er die Kinder oder eher jungen Jugendlichen, die gar nichts mehr essen wollen, weil sie, vor allem Mädchen, Angst davor haben, dick zu werden. Ihnen gegenüber spricht er in direkter Rede Klartext: »Das brauchst du« – hier gibt es kein Erproben oder Lavieren mehr. Insgesamt versteht er den Auftrag der Gesundheitsförderung als einen der Aufklärung, der Wissensvermittlung, des Aufzeigens und Erfahrbarmachens, was gut für einen selbst ist und was man braucht zum Leben. Dass dieser Auftrag nicht ohne Widersprüche ist, deutet sich in der Argumentationsweise von Blaser an: Er distanziert sich von einer Predigerfunktion wie derjenigen eines Gesundheitspapsts ebenso, wie er es als seinen Auftrag erachtet, den SchülerInnen zu vermitteln, was man zum Leben braucht, vor allem dann, wenn er – so kann vermutet werden – essgestörte junge Menschen vor sich hat. Ja, oder auch, ihnen einfach zu zeigen, dass das dazu gehört und dass sie unbedingt zuhause etwas schon zum Frühstück essen, dass sie hier zum Znüni etwas essen, ich tu ihnen dann das auch mit dem Blutzuckerspiegeln und -werten erklären, mit der Energie, die man braucht, die der Körper braucht//mhm//, dass man eben nicht nur beim Sport Energie braucht, auch beim Denken//mhm//. Also das ist sicher etwas mal, für mich ein wichtiges Thema//mhm//, was dann äh-, was die Schule angeht (I 10, 2)
Hier legt er nun sein Verständnis von Gesundheitsförderung als Bildungsauftrag dar. Er erachtet es als seinen Auftrag, zu gesundheitlichen Fragen Wissen zu vermitteln, eine Art Aufklärung über die Vorgänge im Körper, über die körperlichen Bedürfnisse und den täglichen Energiebedarf zu betreiben. Hier nun entfällt das dialogische Element vollständig, hier geht es um generalisiertes Wissen. Mit der Anforderung, dass die SchülerInnen zuhause etwas zum Frühstück zu sich nehmen, greift er in die Privatsphäre der Eltern ein, ohne einen Dialog darüber führen zu wollen. Jedoch versucht er, den SchülerInnen die Zusammenhänge, die er als gesichertes Wissen betrachtet, aufzuzeigen. Bis hier lässt sich keine eindeutige Lesart bestimmen, vielmehr scheint sich die These der Gebrochenheit zu bestätigen: Es fehlt eine klare Positionierung, seine Deutungen und Werthaltungen pendeln zwischen idealen Zielsetzungen und einem pragmatischen Akzeptieren von gegebenen Bedingungen. Auf
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jeden Fall beweist er eine Sensibilität gegenüber Widersprüchen und eine Abneigung gegenüber Dogmen.
Gesundheitsförderung als Projekt: SchülerInnen Erfahrungen ermöglichen Blaser geht, vergleichbar mit Moser, bei der Umsetzung seiner gesundheitsfördernden Absichten auch über den klassischen Unterricht hinaus: und ein bisschen in dieser Verbindung hat es zu seiner Zeit einen Pausenkiosk gegeben, also den gibt’s immer noch//mhm//ähm, der Schülerinnen- und Schülerrat, zu dem komme ich dann auch, weil das dünkt mich, ist für mich auch noch etwas, das in dieses Gesundheitsding hineinkommt, hat jetzt eigentlich gesagt, sie möchten, dass es ihn noch öfters gibt, weil im Moment ist es so, dass er pro Quartal einmal organisiert wird im Minimum//mhm//, von einer von der fünften oder sechsten Klassen (I 10, 2)
Die anfangs zum Ausdruck gekommene Vagheit gegenüber dem, was Gesundheitsförderung ist und umfasst, findet sich erneut in seiner indirekten, als offen dargestellten Frage, was alles in dieses »Gesundheitsding« hineinkomme. Zu einem ›Ding‹ wird, was sich nicht definieren oder benennen lässt. Überraschend zählt er im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung den SchülerInnenrat als institutionalisierte Form der Partizipation auf. Im SchülerInnenrat sei der Wunsch laut geworden, den von ihm erwähnten »Pausenkiosk« wieder zu öffnen. Blaser nimmt dies, wie er anschließend erzählt, zum Anlass, gemeinsam mit den SchülerInnen ein Projekt daraus zu machen und sie in die Planung und Durchführung zu involvieren. Damit nimmt er die SchülerInnen in ihren Wünschen ernst. Im Rahmen des Projekts seien an die 300 Znünis vorbereitet worden. Wichtig war ihm dabei – nebst dem Anspruch, die Lieferanten aus dem Viertel zu berücksichtigen – die SchülerInnen miteinzubeziehen, sie teilhaben und mitentscheiden zu lassen. An einer späteren Stelle schildert er, dass dieser Pausenkiosk »ein bisschen von allem etwas« im Angebot gehabt habe, mal ein Weggli mit Schokolade, mal Karotten, und dass die Teilnahme, also die Konsumation, freiwillig gewesen sei. Nicht überraschend ist seine Haltung gegenüber dem SchülerInnenrat, die er an einer späteren Stelle darlegt: und nachher eben der Schülerinnen- und Schülerrat hat im weitesten Sinn auch ein bisschen etwas damit zu tun, weil es geht ja, Gesundheit hat für mich mit Wohlbefinden zu tun, und im Schülerinnen-/Schülerrat haben die Kinder die Möglichkeit, ihre Anliegen äh, auszutauschen. Es gibt teilweise auch Sachen, wo sie ganz klar Wünsche deponieren an uns Lehrerinnen und Lehrer und dort habe ich den Eindruck, das ist auch etwas Wichtiges, dass sie sich auch ernst genommen fühlen//mhm//und so eine gemeinsame oder gegenseitige Wertschätzung, dünkt mich etwas Wichtiges und eben, das sind alles Sachen, die in die
6. Deutungen der Lehrpersonen Gesundheit hineingehen//mhm//dünkt mich, also das Wohlbefinden, kommt man gerne hier hin, ist man entspannt relativ, ist eine gute Stimmung hier, das dünkt mich, das hat alles aufeinander einen Einfluss//mhm//und darum würde ich eben nach dem Schülerinnen- und Schülerrat, würde ich auch diesen ›Peacemaker‹ hineinnehmen. (I 10, 3)
Gesundheitsförderung zielt für ihn auf »Wohlbefinden«, und das ist davon abhängig, ob die Kinder die Möglichkeit haben, ihre Anliegen – hier stockt er eine Sekunde – »auszutauschen«. Hiermit beschreibt er implizit, und ohne zu beschönigen, die Machtverhältnisse: Im SchülerInnenrat geht es nicht darum, Forderungen zu stellen oder einen Rechtsanspruch geltend zu machen, sondern lediglich darum, Anliegen auszutauschen oder sie allenfalls bei den Lehrpersonen zu deponieren. Damit wird kein Versprechen abgegeben, ihnen auch nachzugehen. Gemäß seiner Darstellung stellt sich Wohlbefinden jedoch bereits beim Austausch, bei der Artikulation eines Wunschs ein. Worauf er anspielt, wenn er sagt, dass sich die SchülerInnen ernstgenommen fühlen sollen, bleibt unklar. Wenn sich die Wertschätzung darauf reduziert, die Wünsche als solche bloss wahrzunehmen, dann hat ein solcher SchülerInnenrat die Funktion eines Beschwichtigungsrituals: Mitwirkung wird beschränkt auf Mitsprache, ohne Anspruch auf Umsetzung und ohne Verbindung zu Entscheidungskompetenzen. Aufgrund seiner Schilderungen, wie er auf Wunsch des SchülerInnenrats mitgeholfen hat, den Pausenkiosk zu realisieren, kann angenommen werden, dass er bemüht ist, auf die Wünsche der SchülerInnen tatsächlich einzugehen, dass er sich diese nicht nur anhört, sondern auch um eine Realisierung bemüht ist. Auch hier zeigt sich erneut eine Logik der Gebrochenheit, die sich aus der Mischung von idealen Zielsetzungen und der gleichzeitigen pragmatischen Akzeptanz der Rahmenbedingungen zwangsweise ergibt. Tendenziell skeptisch und kritisch gegenüber steht er der Teilnahme an gesundheitsfördernden Programmen, wie dem »fit4future«19, einer Stiftung, welche in Schulen Angebote im Bereich Gesundheitsförderung macht. Ein solches Programm bezeichnet er als einen »Hype«. Dennoch nimmt er daran teil. Er zählt in der Folge eine Anzahl weiterer Aktivitäten auf, die an ›seinem‹ Schulhaus regelmäßig durchgeführt werden und den Kindern die Möglichkeit bieten, sich mit Spaß zu bewegen: Neben dem regulären Sportunterricht sind dies Spieltage oder Angebote des freiwilligen Schulsports. Obwohl sein Fokus auf der Arbeit in seiner Klasse und auf der Umsetzung von mit SchülerInnen 19 | Bei ›fit4future‹ handelt es sich um eine private Stiftung, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz agiert und den Zweck verfolgt, »Bewegungsarmut, Übergewicht, Stress und Aggressionen frühzeitig entgegenwirken und so einen Beitrag zur Gesundheitsförderung im Kindesalter« zu leisten. Gründer ist Hans-Dieter Cleven, langjähriger Manager des Metro-Konzerns. URL: www.fit-4-future.ch (Stand: 22.3.2014).
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entwickelten Projekten liegt und er deshalb an anderen Angeboten nicht beteiligt ist, erachtet er sie als sinnvolle Optionen, Erfahrungen zu ermöglichen. Ebenso hebt er die Bedeutung der Tagesschule in Sachen Gesundheitsförderung hervor; damit seien die Kinder, deren Eltern erwerbstätig sind, nicht einfach sich selbst überlassen. eine Tagesschule ist etwas ganz Wichtiges, dass die Eltern wissen, wo die Kinder sind. Ähm, die Tagesschulküche funktioniert nach Vorgaben der Stadt, die sich eben auch an der Ernährungspyramide//ja//orientieren. Man schaut auch, dass man diesen Kindern in der Tagesschule ein bisschen ein ausgewogenes Programm bieten kann, das heißt eben Zeichnen, und sie ein bisschen runterschalten, Aufgaben machen, auch hinausgehen, Sport treiben, ›schlöflä‹ [Schlittschuh laufen] gehen//ja, mhm//, darum dünkt mich, die Tagesschule ist sicher auch etwas Gutes. (I 10, 7)
Eine sozialisatorische Funktion hat nicht nur die Schule, sondern auch die Tagesschule. Den Kindern ein »ausgewogenes Programm« bieten können, ist für Blaser ein Anspruch, dem er sich verpflichtet fühlt. Die Orientierung der Essenszubereitung an der Ernährungspyramide erwähnt er erneut als Qualitätssiegel gesunder Ernährung. Wie bereits Moser möchte auch er den Schulkindern ein Fenster öffnen, Erfahrungen ermöglichen, die sie sonst nicht machen könnten, und alternative Lebensweisen näher bringen. Den Handlungsbedarf in Sachen Gesundheitsförderung sieht er, wie sämtliche der befragten Lehrpersonen, vorwiegend in den Lebensverhältnissen der Kinder begründet. Es hat sicher pro Klasse eins bis zwei äh, stark übergewichtige Kinder hat es ›äuä‹ doch, ich weiß es zwar jetzt nicht, wenn man in andere Schulhäuser ginge und das anschauen würde, wie das ist. Ähm, und dort fällt es aber doch ein bisschen auf eben, ich bin jemand sehr Offenes, der da überhaupt nicht wertet, ich habe diesen Dialog gerne, aber es sind doch häufig Migrantenkinder, das ist auffallend, vielleicht ist das etwas, das da noch auffällt, oder das, das interessant ist, das weiß ich nicht//mhm//und das hat sicher x Gründe. (I 10, 9)
Seine Beobachtungen versucht er, ohne ideologische Haltung und ohne zu dramatisieren, darzulegen. Ihm fällt auf, dass vor allem Kinder mit Migrationshintergrund übergewichtig sind. Dabei kulturalisiert er seine Beobachtung nicht, sondern er versucht, verschiedene Faktoren aufzufächern, die für diese Häufung einer Erklärung sein könnten: Also die einen haben wirklich keine Zeit und dort tut man halt ähm, einfach schnell Pommes Frites, sag ich mal, in eine Mikrowelle, weil es geht schnell und dann kann man schon weiter, nachher ein bisschen die mangelnde Bewegung halt wirklich vor dem
6. Deutungen der Lehrpersonen Fernseher sitzen ist das Highlight. Und da-, so merkt man ein bisschen etwas und das ist vielleicht mehr ein bisschen von dem her, dass wir gesagt haben hier, man muss diesen Kindern etwas bieten, es ist nicht unbedingt, was Ernährung angeht, aber vielleicht Alternativen aufzeigen von ja, die es gibt zum Fernseher//mhm//. Das ist sicher ein Thema, immer//mhm//. (I 10, 9)
Blaser unterscheidet zwei Typen von Eltern: Die einen können sich aufgrund ungünstiger Verhältnisse und dabei insbesondere fehlender Zeit nicht um eine gute Ernährung oder die Freizeitbeschäftigungen der Kinder kümmern. Bei den anderen sieht er nicht soziale Verhältnisse als Ursache, sondern fehlender Wille respektive die Haltung, dass vor dem Fernseher zu sitzen, in gewissen Familien das Höchste sei. Wie er zu dieser Einteilung kommt, erläutert er nicht. Unabhängig davon, aus welchen Familienverhältnissen die Kinder kommen, erachtet er es als seine Aufgabe, ihnen etwas zu »bieten«. Gemeinsam mit den KollegInnen versucht er, Angebote zu schaffen und damit diesen Kindern Alternativen aufzuzeigen. Zu seiner persönlichen Strategie und zu seiner pädagogischen Überzeugung gehört es, die Schule gegen außen zu öffnen: wir haben sicher jeden, jedes Quartal ein bis zwei große Events, die offen sind//mhm//, wo das Quartier hineinkommt, hineinsieht. Ähm, und mich dünkt, das ist nicht entstanden daraus, aus einem Handlungsbedarf, wir müssen für diese Kinder etwas machen, weil das kommt sonst nicht gut, sondern eher wir bieten diesen viel, dass es eben nicht nur, sagen wir jetzt mal, das Lernen ist, sondern dass es ein Ort ist, wo man ja, wo den Kindern viel gibt, wo sie aber auch viel müssen geben, also es ist ein Geben und ein Nehmen. (I 10, 8)
Blaser versucht, nicht aus einer problematisierenden Perspektive heraus Hilfsangebote zu kreieren oder in paternalistischer Absicht unterstützend zu wirken. Sein Anspruch ist es, ein reiches Angebot zu bieten. Umgekehrt erwartet er von den Kindern ein entsprechendes Engagement. Unter Öffnung der Schule gegen außen versteht er jedoch nicht nur Schulanlässe, sondern auch die Zusammenarbeit von Schule und Stadtviertel. So erachtet er es beispielsweise als wichtig, dass die Schule Einsitz in die Quartierkommission 20 genommen hat, damit sie sich bei der Umgebungsgestaltung einbringen und an sozialen Anlässen teilnehmen oder etwas dazu beitragen kann. Und das dünkt mich sehr etwas Wichtiges, also das hat Zukunft, weil äh, das zentral zu regeln, geht nicht//mhm//, so quartiermäßig dünkt mich, ist das etwas Gutes und dass 20 | Mitwirkungsorganisation des Stadtviertels.
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Im Namen der Gesundheit eben die Schule auch drin ist, ist doch wichtig, weil das ist nachher ein Zusammenspiel gewesen aus Elternrat, aus der Schule und aus der Quartierkommission. Dass man beispielweise hier diesen Fussgängerstreifen gerade da unten gesichert hat//mhm//. (I 10, 13)
Seine Vorstellung von schulischer Arbeit erstreckt sich auf die Mitgestaltung des direkten Umfelds; er verfolgt einen sozialräumlichen Ansatz, indem er die Schule als Mitgestalterin der unmittelbaren Umgebung, des Viertels versteht. Offenbar ist man von diesem von ihm präferierten Ansatz wieder abgekommen – er spricht jedenfalls in der Vergangenheit. Als gelungenes Beispiel einer solchen Zusammenarbeit nennt er die Erstellung eines Fussgängerstreifens zum Schutz der Schulkinder. Ebenso würde er eine noch intensivere Zusammenarbeit mit den Eltern begrüssen. Er beklagt an einer nachfolgenden Stelle des Gesprächs, dass die ehemals an Samstagen durchgeführte »Elternpartizipation« nicht mehr weitergeführt werde. Er würde es begrüssen, wenn diese Idee der regelmäßigen Samstagsschule wieder aufgenommen würde; zur Zeit findet einmal im Jahr ein solcher Anlass statt, an dem Eltern, Verwandte oder Bekannte einen Input gestalten oder einen Ausflug anbieten, z.B. in eine Backstube. Tendenziell beobachtet er eine abnehmende Bereitschaft der Eltern, sich zu engagieren. Solche Formen der Zusammenarbeit gehören für ihn zum anfangs erwähnten »Dialog« zwischen dem Elternhaus und der Schule, inklusive der Einschränkungen oder Vorbehalte, die er mit dem vorangestellten »quasi« andeutet. Gegen Ende des Gesprächs äussert sich auch Blaser zum Thema Selektion. Auch er betont die in den Schulstrukturen angelegten Widersprüche, beispielsweise diejenigen, die mit der Gleichzeitigkeit des Integrations- und Selektionsauftrags entstehen. Also ich bin jemand, der gesagt hat, als dieses ganze Integrationsthema gekommen ist, für mich ist das ein bisschen ein Widerspruch. Man kann nicht um jeden Preis, ähm, integrieren//mhm//und dabei noch selektionieren, das, das äh,//beißt sich, ja//das beißt sich sehr und darum muss man sicher schauen, wie das weitergeht (I 10, 23)
Dabei bezieht er keine klare Position; er ist kein expliziter Gegner der Selektion, die auf der von ihm unterrichteten Stufe sehr bedeutsam ist, sondern sucht einen pragmatischen Umgang damit. Die Verschärfung dieses Widerspruchs durch die gleichzeitige Anforderung, Integration zu ermöglichen, nimmt er kritisch wahr, ohne sich jedoch politisch zu äussern. Auch hier zeigt sich eine gewisse Gebrochenheit, indem er in der Arbeit mit den SchülerInnen Widersprüche zwar kritisch wahrnimmt, sich dann aber pragmatisch für das Schaffen von unter den gegebenen Vorzeichen bestmöglichen ›klimatischen‹ Bedingungen einsetzt.
6. Deutungen der Lehrpersonen
Resümee: Gesundheitsförderung mittels Wissensvermittlung – ein ambivalentes Unterfangen Blasers Ziel seiner Bildungsbestrebungen ist die Ermächtigung der ihm anvertrauten SchülerInnen. Er möchte sie befähigen, auch in Gesundheitsfragen autonome und informierte Entscheidungen treffen zu können. Dass es sich dabei um eine Gratwanderung handelt, ist er sich bewusst – dies zeigen die immer wieder aufscheinenden Abgrenzungen zu dogmatischer Wissensvermittlung und zu normativer Beeinflussung auf. Sein Verständnis von Gesundheitsförderung ist ein sehr breites, es beschränkt sich nicht auf Bewegungssequenzen oder das Erläutern des Auf baus der Ernährungspyramide. Er ist bestrebt, die SchülerInnen zu involvieren, ihnen in projektartigem Unterricht eine sachliche oder dialogische Auseinandersetzung z.B. mit Gesundheitsthemen zu ermöglichen. Seine Rolle sieht er im Abstecken eines aus seiner Sicht geeigneten Rahmens.
6.4.3 Schlussbetrachtungen zum Typus 3: Ermächtigender Ansatz – Gesundheitsförderung als Erweiterung des Erfahrungsraums Das Ziel der Lehrpersonen dieses Typus ist es, die SchülerInnen mittels Erfahrungen, die sie ihnen ermöglichen, und durch eine sachliche und persönliche Auseinandersetzung mit Themen aus dem Bereich Gesundheit zu eigenständigem Denken und Handeln zu ermächtigen. Dazu agieren sie nicht lediglich innerhalb des schulischen Settings, sondern treten in Dialog mit den Eltern und öffnen die Schule gegenüber dem Stadtviertel. Zwar erkennen sie in Sachen Gesundheitsförderung respektive generell bezogen auf den Bildungsauftrag die politische Dimension; sie fokussieren jedoch in ihrer Arbeit die Individuen und versuchen, einzelfallbezogen die Schulkinder mit Strategien auszustatten, die ihnen ein subjektiv empfundenes ›gesundes‹ Leben ermöglichen sollen. Die Ursachen von Bewegungsmangel orten auch sie in der Lebenswelt, wozu für sie auch die Schule zählt. Es findet dabei aber keine Individualisierung oder ›Schuldzuweisung‹ statt; das Verhalten der Kinder wird nicht als ›individuelles‹ Fehlverhalten, auch nicht ihrer Eltern, gedeutet. Die Ursachen für allfällig problematisches Bewegungs- oder Ernährungsverhalten werden im sozialen Wandel oder in sozialen Ungleichheiten und ihrem Einflusses auf Möglichkeiten der Lebensgestaltung gesehen. Sozialer Wandel wird wahrgenommen und als Teil gesellschaftlicher Normalität gedeutet, jedoch nicht dramatisiert. Die Lehrpersonen dieses Typus sind bemüht, eine nicht wertende Perspektive einzunehmen; der eigenen Werthaltung sind sie sich bewusst und reflektieren sie. Ebenso sind sie bestrebt, eine kritische Distanz zum normativen Gesundheitsförderungsdiskurs zu bewahren, was ihr Bestreben um ein professionel-
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les Arbeitsbündnis und dabei den Respekt vor der Autonomie der SchülerInnen verdeutlicht. Das Schwergewicht ihres beruflichen Handelns liegt denn auch in der Arbeit mit den SchülerInnen. Sie verfolgen im Blick auf den Auftrag der Gesundheitsförderung wie auch generell auf den Bildungsauftrag eine tendenziell subjektphilosophische Ausrichtung: Ihr Fokus richtet sich auf die Genese des Subjekts, die Entwicklung seiner Autonomie. Ihr Schwergewicht liegt auf dem Bildungsprozess, auf dem Bestreben, den Kindern zu Autonomie zu verhelfen, sie zu »Wohlbefinden« zu ermächtigen und ihnen Optionen anzubieten. Dabei definieren sie »Wohlbefinden« als etwas Individuelles: Jede und jeder müsse für sich herausfinden, was ihm oder ihr Wohlbefinden verschaffe. Sie sind bestrebt, die Schulkinder in ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen und ihnen zugleich als wertvoll taxierte Erlebnisse zu ermöglichen. Dass sie sich dabei auf einer Gratwanderung befinden und sich dessen bewusst sind, ist an zahlreichen Stellen der Interviews sichtbar. Habitustransformationen als strategisches Ziel geraten denn auch unweigerlich in Konflikt mit der Autonomie der Subjekte; dieser Konflikt wird an verschiedenen Stellen benannt. Innerhalb der von ihnen als eng wahrgenommenen schulischen Strukturen, welche ein positives Erleben nur beschränkt ermöglichen, nehmen sie sich relativ große Freiheiten im Sinne einer Öffnung dieser Strukturen. Der Dialog ganz grundsätzlich und konkret mit den Eltern ist für sie ein wichtiger, wenn nicht der zentrale Bestandteil von Gesundheitsförderung und der schulischen Arbeit überhaupt. Die Deutungen der Lehrpersonen dieses Typus sind anschlussfähig an die theoretischen Betrachtungen von Beatrix Wildt (1997), welche die Schule als Lernort und Arbeitsplatz versteht, der Handlungs- und Gestaltungsfeld ist mit dem Ziel, soziale und politische Kompetenzen zu fördern. Eine in diesem Verständnis verortete Gesundheitsförderung schließt an bereits formulierte Reformkonzepte von Schule an, »die gekennzeichnet sind durch Begriffe wie Demokratisierung und Integration, Schulöffnung und Entwicklung des Schullebens, Mitbestimmung, Selbstentwicklung und Vernetzung« (Wildt 1997: 54). Im Denken der Lehrpersonen dieses Typus findet sich Gesundheitsförderung nicht in einer dominanten Stellung. Sondern an erster Stelle steht der Bildungsauftrag, die Schule wird in erster Linie als eine Bildungsinstitution verstanden. Die Gesundheitsperspektive wird nur insoweit eingenommen, als sie der Schule und den schulischen Anforderungen entspricht und nicht in Widerspruch gerät zu pädagogischen Professionalitätskonzepten, welche die Autonomie der Subjekte und den Lernprozess der SchülerInnen ins Zentrum stellen (vgl. auch Rowling21 2010). 21 | Louise Rowling, seit 2006 assoziierte Honorarprofessorin in Health Promotion an der Universität in Sidney, bezieht sich in ihren Ausführungen auf die Entwicklungen von gesundheitsfördernden Schulen in Australien, wo ein Diskurs zwischen verschiedenen
6. Deutungen der Lehrpersonen
6.5 T ypus 4: S truk turell- politische D eutung – G esundheitsförderung als L egitimation angestrebten gesellschaf tlichen W andels und schulpolitischer V er änderungen Die nachfolgend zur Darstellung gelangenden Lehrpersonen richten im Gespräch über schulische Gesundheitsförderung den Fokus immer wieder auf gesellschaftliche und schul- wie auch berufspolitische Fragen. Ziel ihres Engagements im Bereich Gesundheitsförderung ist die Umgestaltung von Schule und Gesellschaft.
6.5.1 Lisa Barandun: Pädagogische und politische Deutung von Gesundheitsförderung »Alles umkehren« mit Gesundheitsförderung – berufs- und schulpolitische Forderungen Bevor die Interviewerin die eigentliche Einstiegsfrage zum Thema formulieren kann, stellt Lisa Barandun, 55 Jahre alt, ausgehend von der Darstellung ihrer berufsbiografischen Lauf bahn, zu der sie von der Interviewerin aufgefordert wurde, eine Forderung in den Raum: Die Lohnungleichheit zwischen Unterund Oberstufe wie auch zwischen Gymnasial- und Primarstufe sei aufzuheben oder zumindest zu vermindern. Ihre berufspolitischen Forderungen – die auch von Moser, bei ihr jedoch gegen Ende des Gesprächs, formuliert werden –, stellt Barandun an den Beginn und erklärt sie explizit »zur Gesundheitssache«. Sie selber habe auf sämtlichen Stufen gearbeitet, sie habe angefangen auf der Gymnasialstufe und sei schrittweise gegen »unten« gewandert. Den damit zusammenhängenden finanziellen Abstieg reklamiert sie als nicht gerechtfertigt. Zum einen sei die Belastung auf unteren Stufen ungleich höher, die zu übernehmende Verantwortung grösser und zum andern sei die Bedeutung der Bildungsprozesse zu Beginn der Schulzeit folgenreicher. also die Lohnverhältnisse sind unverhältnis-//mhm//also ungleich verteilt, das darf nicht sein//ja//dort müsste man sich ganz klar Finnland angleichen, das ist auch Gesundheitssache, das ist eine Frechheit, je weiter runter, je weniger Lohn (I 11, 2)
Indem Barandun ihre Kritik am ungerechten Lohnsystem an den Anfang des Gesprächs stellt respektive noch vor das eigentliche Gespräch, macht sie deutlich, dass sie Fragen der Gesundheitsförderung zuerst einmal auf einer Professionellen verschiedenen AkteurInnen wie Lehrpersonen, Eltern, Gemeindearbeitenden und Health Professionals stattfindet mit dem Ziel, gemeinsam ein Konzept zu entwickeln (ebd. 1996).
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berufspolitischen Ebene verortet. Fragen sozialer Ungleichheiten erklärt sie zur »Gesundheitssache«. Etwas zu einer Sache zu erklären, bedeutet, sie zum Anlass von Verhandlungen oder Erörterungen zu machen und somit zu einem Gegenstand der Auseinandersetzung. In der mittel- und althochdeutschen Wortbedeutung22 wurde mit ›Sache‹ ein Rechtsstreit, eine Rechtsangelegenheit bezeichnet. Die ursprüngliche Wortbedeutung erfährt in der heutigen Sprache eine Ausdehnung: Wird etwas zu einer Sache erklärt, geht es nicht mehr nur um ein Vergehen oder eine Schuld, sondern allgemein um etwas, das jemand zu vertreten, zu vollbringen, zu tun hat und somit als seinen Auftrag, seine Pflicht wahrnimmt. Wird etwas zu einer ›Sache‹ erklärt, z.B. zur Privatsache, wird damit implizit die Frage der Verantwortung mitthematisch, was letztlich wieder auf die ursprüngliche Wortbedeutung verweist als eine Frage des Rechts oder auch der Moral. Referenz des kritischen Blicks von Barandun auf hiesige Arbeitsverhältnisse im LehrerInnenberuf ist Finnland, dort seien die Löhne besser und gerechter verteilt. Der Handlungsbedarf – so die weiteren Ausführungen Baranduns – verschärfe sich im Fall ihrer Schule angesichts der sozialen Zusammensetzung der Elternschaft. Bei ihrem aktuellen Arbeitsort handelt es sich um eine Schule in einem Außenviertel mit einem hohen Anteil Familien aus unteren sozialen Schichten. Zudem würden viele Kinder mehrsprachig aufwachsen, was im Schulsystem nicht als zusätzliche Kompetenz, sondern als Mangel an Deutschkenntnissen gedeutet werde. In ihren weiteren Ausführungen weist sie immer wieder auf ungünstige sozio-ökonomische Verhältnisse hin. Es finden sich aber auch Kulturalisierungen der festgestellten sozialen Ungleichheiten, indem sie die für sie als Lehrperson sich stellenden grösseren Herausforderungen an der unterschiedlichen kulturellen Herkunft der Kinder festmacht. wenn solche Eltern da sind, müssten ganz klar kleinere Klassen sein, Teamteachen und das, da wär nachher für die Lehrergesundheit gesorgt (I 11,3)
Die Tendenz einer Kulturalisierung findet sich andeutungsweise auch in der Beschreibung der Eltern als andersartige, »solche« Eltern; sie – im Gegensatz zu den anderen – würden mehr von ihnen als Lehrpersonen verlangen und bedürften somit anderer Betreuungsverhältnisse. Hier konkretisiert sich, worauf sich die »Gesundheitssache« bezieht: zuerst einmal auf die Gesundheit der Lehrperson. Die Verantwortung dafür schreibt sie jedoch nicht den einzelnen Lehrpersonen zu, sondern der Bildungspolitik. Mit einem besseren Betreuungsschlüssel, so ihre Argumentation, wäre für die LehrerInnengesundheit gesorgt.
22 | URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Sache (Stand 28.11.2012).
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Anders als bei den Lehrpersonen des lern- und arbeitspsychologischen Deutungstyps richtet sich bei Barandun Gesundheitsförderung zuerst einmal nicht auf die SchülerInnen, auf deren Verhalten oder Lebensweisen, sondern auf die Arbeitsbedingungen und damit auf die Gesundheit der Lehrpersonen. Obwohl sie Schwierigkeiten, mit denen sie als Lehrperson konfrontiert ist, der Andersartigkeit bestimmter Eltern zuschreibt, scheinen sich ihre Bestrebungen für Veränderungen auf eine strukturelle, politische Ebene zu richten und nicht in individuellen Schuldzuweisungen zu enden. Bezüglich der Arbeitssituation und -belastung der Lehrpersonen auf den unteren Schulstufen seien, so ihre Forderung, dringend Maßnahmen nötig. Ihre Ausführungen schließt sie mit der Skizzierung von zwei Szenarien: Entweder müssten, insbesondere in einem Stadtviertel wie dem ihrigen, mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, oder dann gelte es, das Schulsystem grundlegend zu verändern. Ansonsten würden die Schulkinder mit schlechten Voraussetzungen zusätzlich benachteiligt. Es sind somit nicht berufsständische Interessen, die ihre Forderungen speisen, ihr Anliegen ist die angemessene Förderung sozial benachteiligter Schulkinder. Konkret schlägt sie für das erste Szenario einen anderen Betreuungsschlüssel vor. Insbesondere auf der Vorschulstufe bräuchte es in Stadtvierteln wie diesem eine andere personelle Ausstattung und kleinere Klassengrössen. Ansonsten würden die Lehrpersonen »ausbrennen«, wie sich dies zur Zeit an ihrer Schule bei KollegInnen beobachten lasse. Die zweite Möglichkeit liegt für sie darin, das Schulsystem »zu kehren«, was für sie heißt: Einfach viel mehr vom Kind aus denken, so, so wie ich dann möchte Basisstufe haben, einfach das Reformpädagogische reintun und nachher das Kind bestimmt den Weg und die Zeit und das Tempo//mhm//, dann ginge es eher (I 11,3)
Hier nun zeigt sich ihre pädagogische Überzeugung, die sie sogleich auch explizit benennt: Sie folgt dem in der Reformpädagogik häufig geäusserten Topos der ›Kindorientierung‹. »Vom Kind aus denken« ist denn auch eine Formel, die bis heute zur Kritik der Schule verwendet wird.23 Ähnlich wie bei der Befolgung eines Rezepts würde die hier interviewte Lehrerin, wenn sie könnte, das »Reformpädagogische reintun«, also in die staatliche Schule integrieren und damit dem Kind mehr Freiräume gewähren. Welche Vorstellungen vom »Kind« hier wirksam sind und inwiefern diese mit tatsächlichen Bedürfnissen der Kinder in Übereinstimmung sind, sei dahingestellt. Dass sie der Kindorientierung jedoch den Bildungsauftrag nicht unterordnet, zeigt sich darin, 23 | So beispielsweise der Kinderarzt Remo Largo, der 2010 ein Buch mit dem Titel »Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken« veröffentlicht hat und darin eine kindgerechte, individualisierende Pädagogik fordert.
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dass sie den Kindern zwar mehr Mitbestimmung bezüglich Zeit, Tempo und möglichen Wegen gewähren will, die Zielvorgabe, wohin der Weg führen soll und was gelernt werden soll, jedoch nicht zur Debatte stellt. Ihre Systemkritik sowie ihre reformpädagogischen Visionen speist sie mit Vergleichen zwischen dem schweizerischen und dem finnischen Schulsystem. Zu den hiesigen Schulstrukturen meint sie: die sind sehr starr//ja//stabil ist für mich ein zu gutes Wort, das ist sehr, sehr starr// ja//und wenn man dort ein wenig anfangen könnte aufzuweichen, dass man sieht, jetzt in Finnland, ich habe mich sehr mit Finnland beschäftigt, wie die das zustande bringen, eben 9 Schuljahre ohne Noten, das geht//mhm//, das ist möglich, oder 9 Schuljahre zusammen hinauf, nicht teilen, oder wirklich bleiben, jaha,//mhm//ohne Selektion zwischendurch, das geht (I 11,4)
Anders als jene Lehrpersonen, welche Gesundheitsförderung hauptsächlich in einem innerschulischen Rahmen denken, steht bei Barandun die Kritik am Schulsystem ganz vorne und bleibt während des gesamten Gesprächs von zentraler Bedeutung. Finnland, dies verdeutlicht sich hier nochmals, stellt für sie das Ideal dar, ihr Referenzrahmen reicht über das eigene Schulsystem hinaus. Ihr Appell richtet sich erneut an die Politik, diesmal an BildungspolitikerInnen, von denen sie Entscheidungen fordert, welche ihrer Meinung nach zugunsten der Lehrpersonen und der Schulkinder die Qualität der Schule erhöhen würden. Ihre Position ist klar: Sie wünscht sich eine Schule, die fördert und nicht selektioniert, die Lernprozesse und nicht in erster Linie Lernerfolge ins Zentrum stellt. Pädagogisch scheint das bei ihr zu heißen: anwaltschaftlich für das Kind einstehen und weniger die Interessen der Leistungsgesellschaft verfolgen. und wir verlieren so viel Zeit in der 5./6.//mhm//mit einfach nur Prüfungsvorbereitung, das ist grauenhaft, wie man die Kinder plagt//mhm und sich selber auch noch grad// ja, die Lehrer sowieso, das macht doch keine Freude mehr, man ist, man kann nicht fördern und selektionieren, das geht nicht//mhm//man ist, das darf nicht die gleiche Person sein//mhm//und was machen wir da?//mhm//unwahrscheinlich, was dort, man weiß es, pädagogisch ist es so klar, aber man macht Fehler um Fehler//mhm//das ist grauenhaft. Man kann, man kann schauen gehen, man kann nach Finnland gehen und schauen wie es läuft, und//mhm//es läuft gut, also, warum geht man es nicht holen, warum macht man es nicht? (I 11, 4)
Selektion setzt sie gleich mit »Kinder plagen«, diese Aufgabe beschreibt sie als »grauenhaft«, als etwas, das bei ihr Entsetzen oder Furcht auslöst, jedenfalls eine heftige emotionale Reaktion hervorruft. Die Vorbereitungen auf die Prüfungen sowie diese selber tituliert sie als Zeitverschwendung, weil nicht
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wirklich gelernt werde.24 Dabei würden nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrpersonen »geplagt« – so könne Schule doch keine Freude machen. Ihre Position entspricht dem in einer Studie von Streckeisen et al. (2009) rekonstruierten Typus »Fördern jenseits der Selektion«, welcher Lehrpersonen umfasst, die zwischen Fördern und Auslesen einen Widerspruch sehen. Sie folgen dabei einem anwaltschaftlichen Berufsverständnis und stellen sich auf die Seite der SelektionsverliererInnen. In der Schule möchten sie einen Schonraum schaffen, in dem die SchülerInnen ohne Selektionsdruck gefördert werden können. Selektion setzen sie gleich mit einer Tortur, welche sich ungünstig auf die Selbstwertentwicklung auswirken könne (Streckeisen et al. 2009: 81f.). Barandun beschreibt das Schulsystem als ein Art eisernes Gehäuse, welches in seiner Starrheit Leiden zu verursachen scheint: Die Verwendung der Kraftausdrücke »plagen« und »grauenhaft« deutet auf eine Systemkritik, die mit persönlicher Betroffenheit einhergeht. In ihrer Haltung drückt sich eine fundamentale Kritik am hierarchisch strukturierten Schulsystem aus. Positive Orientierung findet Barandun zum einen im finnischen Schulsystem, mit dem sie sich identifizieren kann, und ebenso in reformpädagogischen Ansätzen, ohne dass sie diese genauer ausbuchstabieren würde. Ihre pädagogischen Grundsätze findet sie tendenziell eher auf der Unterstufe und dort insbesondere auf der Basisstufe verwirklicht: Dort wird nicht jahrgangsmäßig unterrichtet, den einzelnen Kindern werde individuell Zeit gelassen werde, sodass sie entsprechend ihrem Tempo und ihren Interessen lernen könnten. Nachfolgend verdeutlicht sie, was sie mit »alles umkehren« meint: Außer man kehrt alles um, und dann hält man so Schule. so Schule, wie ich dann mal geben will, Basisstufen, und dann geht man vom Kind aus und dann kann man nachher so je-, dann kann man nachher ein EK-Kind 25 integrieren, das ist nachher//mhm//anders, dann hat jedes sein Programm (I 11,6)
»Alles umkehren« bedeutet für Barandun, vom Kind auszugehen, was heißt, dem einzelnen Kind individuelle Lernwege, -tempi und -prozesse zu ermöglichen. Erst so sei es möglich, ein Kind mit dem Status ›Einführungsklasse‹ 24 | Mit dieser Kritik an »Prüfungen« ist ihre Argumentation anschlussfähig an eine aus dem angelsächsischen Raum stammende Debatte, die mit dem Begriff »teaching to the test« negative Effekte eines auf standardisierte Leistungsprüfungen ausgerichteten Unterrichts aufzeigt (vgl. u.a. Volante 2004). 25 | EK ist im Kanton Bern die Abkürzung für die sogenannte Einführungsklasse, welche es Kindern, denen die Schulreife noch nicht ganz attribuiert wird, ermöglicht, die 1. Klasse in zwei Jahren zu absolvieren. Mit dem Art. 17 des bernischen Volksschulgesetzes zur Integration (vgl. Fussnoten unten) ist diese Form der Sonderbeschulung jedoch nicht mehr vorgesehen.
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in eine sogenannte Normalklasse zu integrieren. Auf der Basisstufe sieht sie dieses Prinzip verwirklicht, nur dort ist ihrer Meinung nach Integration, wie sie im bernischen Volksschulgesetz verlangt wird, möglich. Dort würden nicht alle im gleichen Takt beschult, jedes Kind habe sein eigenes Programm und könne somit in seinem eigenen Tempo lernen. So möchte sie als Lehrerin gerne arbeiten können, weshalb sie denn auch in nächster Zukunft den Stufenwechsel auf die unterste Stufe, eben auf die Basisstufe, vollziehen will. Voraussetzungen für den von ihr angestrebten Systemwechsel sind zu einem anders formulierten pädagogisch-didaktischen Programm auch andere räumliche Verhältnisse: Riesen viel Platz//ja//, sie können direkt raus, oder das ist, das ist ganz ein anderes Umfeld//ja//, das ist nachher, ein Kindergarten ist umgebaut worden in eine Basisstufe, dann hat man mindestens zwei Schulzimmer für dieselben, für gleich viele Kinder// mhm//, dann hat man das Material, dann kann man einrichten, dann kann man Ecken machen, da ist die Math-Ecke, die Deutsch-Ecke, da kann man sich bewegen, da kann man Kartenspiele machen, und das Kind sagt, was es ›gelustet‹, und nachher schreibt es das auf, was es gemacht hat, das ist ganz eine andere Einstellung,//mhm//(I 11, 6)
Bis zu dieser Stelle spricht sie, immer noch weitgehend unaufgefordert, über ihre pädagogischen Visionen einer anderen Schule und formuliert ihre Forderungen. Implizit erscheint in dieser Sequenz ein erster Anhaltspunkt für ihr Bewegungsverständnis: In ausreichend großen Räumlichkeiten können sich die Kinder relativ autonom bewegen. Indem sie ihren Interessen nachgehen, bewegen sie sich von selbst. Eine dergestalt organisierte Unterrichtsform mit vielen Freiräumen und Bewegungsfreiheiten bedarf, so kann angenommen werden, wohl kaum einer geleiteten Bewegungssequenz oder ›Bewegungspause‹. Das von ihr skizzierte Lernatelier beinhaltet viele Freiheiten und beschreibt eine alternative schulische Ordnung der Strukturierung von Raum und Zeit (vgl. Geister 2006). Mit dem Satz »nachher schreibt es das auf, was es gemacht hat« deutet sie aber auch auf eine gewisse Kontrolle hin, auf eine Rechenschaftspflicht, bei der die Kinder nachzuweisen haben, was sie gearbeitet haben. Einerseits könnten die Kinder – so Barandun – in einer anders strukturierten Schule besser lernen, auf der anderen Seite könne sie als Lehrperson erst so den Integrationsauftrag ernsthaft zu erfüllen versuchen: und dann kann man anfangen zu integrieren, aber nicht hier//mhm//, das geht nicht, das funktioniert nicht//mhm//, das ist ein Widerspruch in sich,//mhm,//man will-, man kann nicht das alte System behalten und nachher anfangen etwas Neues reinbringen,// mhm//das geht nicht, da muss man die Möglichkeiten haben, die in dem System einzeln betreuen zu können oder in kleinen, in kleinen Gruppen//mhm//. Ja, es läuft viel nicht gut, wirklich//mhm//und dort gibt es noch soo viel zu verbessern (I 11, 6)
6. Deutungen der Lehrpersonen
Ohne eine Anpassung des Systems vorzunehmen, so ihre Kritik, seien sie als Lehrpersonen beauftragt, SchülerInnen mit besonderen Bedürfnissen in die Regelklassen zu integrieren; dies, den ›Integrationsartikel‹26 und dessen Umsetzung, bezeichnet sie als das »Neue«. Ohne Anpassungen, ohne die Ermöglichung von individueller Betreuung, vermehrtem Team-Teaching oder vermehrter Arbeit in Kleingruppen würde die Reform, dies ihre Prognose, scheitern. Kritik übt Barandun an späterer Stelle auch an der neuen Form der Schulleitung und am Konzept der »geleiteten Schulen«. Ihre Ausführungen erfolgen weiterhin spontan, ohne direkte Fragen der Interviewerin. So legt sie offen, dass sie der neuen Leitungsstruktur innerhalb der Schulen grundsätzlich kritisch gegenüberstehe. Spezifisch an ihrer Schule beklagt sie die fehlende Transparenz des neuen Schulleiters. Sie fühlt sich von ihm nicht ernst genommen, ihr fehlen Begründungen für die durch das Kollegium zu vollziehenden Änderungen; was fehle, sei eine pädagogische Leitung. Die Hauptfunktion des Schulleiters bestehe darin, weiter oben verordnete Weisungen weiterzugeben und umzusetzen, ohne diese notwendigerweise plausibel zu machen. Heutige SchulleiterInnen in sogenannten geleiteten Schulen verfügen ihrer Ansicht nach nicht über für das Schulfeld adäquate Führungsfähigkeiten, hingegen würden sie eine perfekte Administration betreiben. Dies, so fügt sie an, dürfe die Interviewerin gerne aufschreiben. Für die der Leitung unterstellten Lehrpersonen sei dies eher eine Be-, denn eine Entlastung und der Lehrergesundheit nicht zuträglich. Schulleitungspersonen müssten gemäß ihrer Vorstellung viel stärker über pädagogisches denn über Management-Wissen verfügen. Ihr Idealbild eines Schulleiters ist dasjenige einer pädagogischen Fachperson, die auch über theoretische Kenntnisse verfügt, welche Formen von Lernförderung und -begleitung für Kinder in den jeweiligen Entwicklungsphasen adäquat sein könnten.
26 | Barandun verweist damit auf den 2001 im Kanton Bern revidierten Artikel 17 des Volksschulgesetztes VSG. Dieser hat zum Ziel, »Kinder mit besonderem Bildungsbedarf in Regelklassen zu fördern, soweit dies möglich und sinnvoll ist.« Nach dem Inkrafttreten des Art. 17 VSG wurde von der Erziehungsdirektion eine neue Verordnung zu den besonderen Maßnahmen (BMV) erarbeitet, die am 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist. Diese Verordnung regelt die Maßnahmen zur besonderen Förderung, den Spezialunterricht und die besonderen Klassen. Der Kanton, »will damit die Chancengerechtigkeit und die individuelle Förderung im Kindergarten und in der Volksschule realisieren«, was u.a. unbeabsichtigte Normierungsprozesse und bürokratische Abläufe hervorzurufen scheint. vgl. URL: www.erz.be.ch/erz/de/index/direktion/organisation/generalsekreta riat/bildungsplanung_und-evaluation1 (Stand: 13.4.2013).
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Im Namen der Gesundheit Er hat so keine Ahnung, dass sich Kinder bewegen müssen ›unten nach‹ [auf unteren Schulstufen], der hat keine Ahnung was in diesem Alter passiert, und warum dass die sich bewegen, das, das gehört zur Entwicklung, die müssen, damit dass die Hirnstrukturen sich verbinden können, (I 11, 9)
Hier skizziert sie indirekt ihre Idealvorstellung einer Schulleitungsperson als pädagogische Fachperson. Zugleich bringt sie zentrale Unterrichtsprinzipien zur Darstellung. So wie sie Unterricht idealerweise denkt, findet Bewegung quasi automatisch, nämlich innerhalb von individualisierenden Lern- und Arbeitsformen statt. Die bereits in anderen Interviews zum Ausdruck gebrachten Begründung des Bewegungsbedarfs und letztlich der Unterrichtsgestaltung mit einem Verweis auf die Hirnforschung ist auch bei ihr zu finden: Die Kinder müssen sich bewegen, im Sinne eines inneren Dranges, damit sich die Hirnstrukturen verbinden können. Im Gegensatz zur Überzeugung der Lehrpersonen, welche Gesundheitsförderung in einer betrieblichen oder quasi-therapeutischen Perspektive denken, bedarf es ihrer Auffassung nach dazu jedoch nicht gezielter Fördermaßnahmen im Sinne angeleiteter Bewegung, sondern lediglich gewisser Freiräume für Kinder. aber wenn man das nicht weiß, meint man, das sei eine gute Schule, wenn die einfach rein am Pültli hocken, Classroom-Management in der Unterstufe oder, da schreie ich nur//mhm//(I 11, 9)
Wenn man nicht wisse, dass Kinder Bewegung brauchen, dann würde die Schule als »gut« erachtet, in der still am Pult gearbeitet wird. Mit dem Konzept des »Classroom-Managements« verbindet Barandun die Vorstellung klassischen Unterrichts in einer »Sitzschule«, in der die Kinder gemanagt werden – was allerdings dem Konzept nicht ganz gerecht wird. Möglicherweise schreibt sie diesen Ansatz der Denkweise des Schulleiters zu, der in ihrer Wahrnehmung als eine Art Schulmanager auftritt. Erneut zeigt sich in der Wortwahl Baranduns ein hoher Grad an Emotionalität: Beim Begriff »Classroom-Management« an der Unterstufe – womit sie implizit andeutet, dass sie dieses Konzept für die Mittel- und Oberstufe möglicherweise als adäquat(er) erachtet – würde sie nur »schreien«. Beginnt jemand auf ein Stichwort, hier einen Fachbegriff aus der Erziehungswissenschaft, hin zu schreien, ist eine sachliche Auseinandersetzung nicht mehr möglich. Die angedeutete Reaktion scheint zum einen eine Überreaktion darzustellen; zugleich könnte sie auch ein Zeichen der Ohnmacht oder Bedrohung sein: Schreien ist in den seltensten Fällen ein Ausdruck von Souveränität. und bei mir, wenn die schriftlich schaffen, dürfen die überall, überall, die dürfen auf dem Boden, unter meinem Tisch, das ist der Lieblingsplatz, und hier unten//mhm//und
6. Deutungen der Lehrpersonen nachher gibt es Tücher drüber und einfach, aber wenn der reinkommt, das gibt dem Vögel, (I 11, 9-10)
Erneut formuliert sie, jetzt in Bezug auf ihre individualisierende Form des Unterrichtens, in wenig sachlicher Weise die Reaktion des Schulleiters. »Vögel bekommen« meint umgangssprachlich: nicht recht bei Verstand sein, den Kopf verlieren. Mit der Metapher, die auf dem Volksglauben basiert, dass sich in Köpfen von Geisteskranken Vögel eingenistet hätten, beschreibt sie, dass der blosse Anblick des von ihr gestalteten Unterrichtens den Schulleiter krank machen würde. Sie praktiziert eben kein »Classroom-Management«, welches die Schulkinder zum Stillsitzen zwingt; bei ihr dürfen die Kinder an schriftlichen Aufträgen arbeiten, wo sie wollen. Während ein geordnetes Am-PultSitzen den Anschein einer »guten Schule« erwecke, entstehe bei ihrem didaktischen Arrangement der Eindruck eines Chaos. er sieht nachher schon, weil er weiß, was ich alles gemacht habe, an der Oberstufe, er sieht die Ausbildung, er sieht was ich für eine gute Arbeit geschrieben habe, er sieht schon, dass ich von einem Ort komme, aber er kann es nicht nachvollziehen//mhm// oder, das ist für ihn uaaah//mhm//Chaos. (I 11, 10)
Eine Junglehrerin mit ähnlichen Unterrichtspraktiken würde sich – so gibt sie indirekt zu verstehen – gegenüber der Kritik oder der Skepsis des Schulleiters nicht legitimieren können. Bei ihr als erfahrener Lehrperson scheint er hingegen akzeptieren zu müssen, was er, wie sie sagt, eigentlich »nicht nachvollziehen« könne, sondern dabei »Vögel« bekomme. Der Schulleiter, so ihre Deutung, würde diese didaktisch-pädagogischen Konzepte der Unterstufe nicht wirklich anerkennen, sondern sie lediglich akzeptieren und zwar aufgrund ihrer Erfahrung auf höheren Stufen und ihrer Kompetenznachweise formaler Art. Eine pädagogische Begründung oder eine Unterstufendidaktik als Referenz scheint hier nicht ausreichend und nicht kommunizierbar zu sein. Noch hat die Interviewerin ihre eigentliche Einstiegsfrage nicht gestellt, während Barandun mit ihren Erörterungen weiterfährt. Sie hat ein hohes Sendungsbewusstsein und zugleich eine klare Vorstellung dessen, was sie zu Gesundheitsförderung an Schulen zu sagen hat. Nicht nur erklärt sie die Arbeitsbedingungen der Lehrpersonen an Schulen zur Gesundheitssache, sondern sie erachtet auch die bestehenden schulischen Strukturen für das Lernen der Schulkinder als nicht adäquat. Barandun, dies wird in dieser ersten Sequenz deutlich, ist mit dem Schulsystem auf verschiedenen Ebenen nicht zufrieden. Diese kritische Haltung drückt sich zum einen in emotionalen Kraftausdrücken aus, zum anderen leistet sie Widerstand, indem sie sich Freiheiten der Gestaltung des Unterrichts nimmt und damit unter anderem den Schulleiter herausfordert. Aus pädagogischen Gründen fordert sie mehr Freiräume und
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mehr Freiheiten, damit sich SchülerInnen freier bewegen und individuell lernen, aber auch die räumliche und zeitliche Ordnung für ihr Lernen selber gestalten können. Ihre Forderung nach mehr personellen Ressourcen schließt sich daran an, ebenso die Forderung nach architektonischen Anpassungen im Sinne einer anderen räumlichen Ausstattung. Gesundheitsförderung – ohne dass sie dies explizit so benennt – bedeutet für sie eine Veränderung des strukturellen Rahmens der Schule.
Die Arbeit im Gesundheitsteam: Klassische Themen anders gewendet Barandun wurde der Interviewerin vom Koordinator Gesundheitsförderung der Schule aufgrund ihrer aktuellen Tätigkeit im Gesundheitsteam als Gesprächspartnerin vorgeschlagen. An der Schule, an welcher Barandun arbeitet, haben zwei Lehrpersonen das Amt der KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung inne. Sie leiten, so der Beschrieb auf der Homepage der Schule, auch das ›Gesundheitsteam‹, das aus verschiedenen Lehrpersonen und Mitgliedern des Elternrats besteht (vgl. Kap. 5). Als »aktuelles Projekt« dieses Gesundheitsteams erscheinen auf der Internetseite die Vereinbarung mit Eltern, LehrerInnen, SchülerInnen sowie der letzte Elternbrief, welcher Informationen über das »Projekt Vereinbarung« und das »Projekt Läusekontrolle« beinhaltet. Nachdem die Thematik der Gesundheitsförderung von Barandun, wie oben dargelegt, spontan auf einer ganz anderen Ebene als der in allen andern Gesprächen üblichen behandelt wird, versucht die Interviewerin nun das Gespräch auf die Tätigkeiten des Gesundheitsteams zu lenken, was bei den meisten anderen Interviewten im Vordergrund steht. I: Jetzt nähme mich noch Wunder, Sie haben gesagt, Sie sind eben in dem Gesundheitsteam, was, was macht man dann in dem Gesundheitsteam? Was ist denn dort, was sind dort Themen, oder,//mhm//was für eine Gesundheit-, jetzt, Sie haben jetzt ja sehr stark so von der Lehrergesundheit//mhm//und von den Schulstrukturen geredet//A: ja, ja genau//und jetzt in dem Gesundheitsteam, ist das denn jetzt (I 11, 10)
Die Interviewerin versucht hier, eine Wende einzuleiten, den Fokus weg von der politischen und strukturellen Ebene hin auf den Alltag zu lenken, zu dem, was konkret vollzogen wird, was in Gesundheitsteams – so die Vorstellung der Interviewerin – üblicherweise »gemacht« wird. Als könnten politische Aktivitäten nicht auch Teil der Aufgabe eines Gesundheitsteams sein, möchte die Interviewerin auf das von ihr erwartete und in ihren Augen eigentliche Thema, die vermeintlich typischen Inhalte schulischer Gesundheitsförderung zu sprechen kommen.
6. Deutungen der Lehrpersonen Also eine andere und ich, wir haben jetzt ganz fest uns auf die Pausenplatzspiele konzentriert und haben die entworfen und aufgemalt und gemessen und schauen jetzt mit einer Steuergruppe vom Quartier, sind dort am Zusammenarbeiten, dass wir ganz sicher dann Einblick nehmen können und auch ein-, also Plätze nehmen in der Planungs-, in der Steuerungskommission vom Umbau hier, dort sind wir ganz, ganz fest drin (I 11, 10)
Barandun greift nun, wie von der Interviewerin erwartet, einen solchen vermeintlich typischen Inhalt von Gesundheitsförderung auf: Pausenplatzspiele, sprich Angebote zu Spiel und Bewegung, die außerhalb des Unterrichts, während Pausen in der regulären Schulzeit auf dem Schulhof stattfinden. Barandun schildert, wie sie, in nicht sehr wertschätzender Bezugnahme auf eine Kollegin, solche Spiele »entworfen«, »aufgemalt« und »gemessen« haben. Es kann vermutet werden, dass die Konzentration auf Pausenplatzspiele der Steigerung der Bewegungsintensität oder der Spielfreude während der Pause dienen soll. Barandun erwähnt die im Rahmen von Gesundheitsförderung mit den Pausenplatzspielen häufig verbundene Absicht, die Kinder zu möglichst viel Aktivität zu animieren, jedoch nicht; es wird auch nicht klar, ob sie eine solche verfolgt oder einfach den Auftrag erfüllt und ein neues Angebot schafft respektive ein bestehendes optimiert. Nachdem das Pausenplatzspiel konzipiert ist, begibt sie sich erneut auf die Ebene politischer Tätigkeit: Sie beschreibt, wie sie versuche, mittels Einsitznahme in eine Steuergruppe des Quartiers auf den Umbau des Schulhausareals Einfluss zu nehmen. Sie will nicht nur Einsitz nehmen und Einblick gewinnen, sondern sie will »Plätze nehmen«, also innerhalb einer städtischen Kommission Raum und Einfluss beanspruchen, um auf den zu planenden Schulhausumbau Einfluss nehmen zu können. dass wir schauen, dass wir dann wie den Zug nicht verpassen, dass dann die Wünsche von den Lehrern, von den Kindern, von uns von der Steuerungsgruppe dann dort einfließen, das ist mal ein riesen Anliegen//mhm//(I 11, 10)
Als Mitglied des Gesundheitsteams will sie nicht in eigener Regie die Gestaltung des Pausenplatzes übernehmen. Mit dem Plan der Einsitznahme in der zuständigen Kommission wird vielmehr das Bestreben nach Mitsprache und Mitgestaltung sichtbar, worin sich ein demokratisches Verständnis ausdrückt. Barandun nimmt die unterschiedlichen Ebenen der Mitsprechenden ernst, indem sie gemeinsam mit ihrer Kollegin dafür sorgen will, dass sich Lehrpersonen, Kinder und Mitglieder der Steuergruppe beteiligen und ihre Wünsche äussern können. Von der Interviewerin erneut provoziert mit der Frage, was denn in ihrem Gesundheitsteam sonst noch ganz konkret unternommen werde, folgt nun eine Auflistung der Tätigkeiten. Implizit drückt die Interviewerin mit ihrer
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Frage aus, dass auch die erwähnte Einsitznahme in die Kommission nicht ganz ihrem oder dem klassischen Verständnis von schulischer Gesundheitsförderung entspricht. In der durch die Interviewerin provozierten nachfolgenden Aufzählung erwähnt Barandun schulinterne Weiterbildungen, das »Läuseproblem« und schließlich eine im Schulhaus aufgehängte Galerie mit Fotografien sämtlicher Lehrpersonen; damit werde sichtbar, wer alles dort arbeite, und so könne der Anonymität entgegengewirkt werden. Am »Znüni-Projekt«, welches in klassenübergreifenden Aktionen durchgeführt wird, nehme sie ebenfalls teil, um den Kindern zu zeigen, was es alles gibt. Auch im Rahmen der Arbeit des Gesundheitsteams, so führt sie ihre Aufzählung weiter, werde der Bedarf eines Frühstücks vor Schulbeginn immer wieder thematisiert. Eigentlich müsste man – dies die Konsequenz aus den Beobachtungen und gemeinsamen Diskussionen –, mit den SchülerInnen vor Ort frühstücken können. Eine Ausdehnung der schulischen Strukturen im Sinne einer Ganztagesschule sei innerhalb des bestehenden Schulsystems jedoch nicht möglich, weder räumlich noch von der zeitlichen Strukturierung her – was sie zu beklagen scheint. In ihrer Aufzählung folgen Projekttage für das Kollegium, beispielsweise eine Reise ins Emmental mit der Frage: »Was wollen wir überhaupt mit dieser Schule?«, Spieltage für die Kinder oder eine Diskussion im Kollegium über die Umsetzung von Partizipation mit Klassenräten. Relativ atemlos und ohne weitere Ausführungen zählt sie sämtliche Themen, Projekte und Anlässe auf, die an ihrer Schule im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung durchgeführt worden sind und an denen sie sich ebenfalls beteiligt oder zumindest teilnimmt. Ausführlicher als die anderen Projekte der Gesundheitsförderung, die sie ähnlich einem zu absolvierenden Pflichtprogramm abarbeitet, schildert sie die Partizipation von SchülerInnen in Klassen- und Schülerräten: mit den Klassenräten und dem Schülerrat, den wir initiiert haben, dass es jetzt in jeder Klasse einen Klassenrat gibt und ... das funktioniert ganz unterschiedlich, habe ich gemerkt, ein paar machen es ganz selten und ein paar machen es jede Woche//mhm//, aber dort wo man es fleißig macht, merkt man auch, es, es funktioniert und die Kinder haben Freude und und spüren die, die ja, die Partizipation wo sie dürfen haben und dass sie können mitbestimmen//mhm//das ist wunderbar,//mhm//zu merken wenn ein Lehrer mal muss die Hand aufhalten, es, es ist einfach gut,//mhm//wir haben wäuts [ausgesprochen] Freude an solchen Strukturen, die kommen sehr gut an, hm, ... was weiß ich noch auswendig? (I 11, 11)
Ihre Schilderung erweckt den Anschein, als wäre die Umsetzung von Partizipation vom Gesundheitsteam initiiert worden. Je regelmäßiger, so ihre Feststellung, der SchülerInnen- oder Klassenrat einberufen werde, umso besser funktioniere er und umso mehr freuten sich die SchülerInnen, aber auch die
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KollegInnen daran. Die Formulierung einer »Partizipation, die sie haben dürfen« deutet darauf hin, dass dieser Grenzen gesetzt sind und es sich um eine den SchülerInnen gewährte und nicht um eine erkämpfte oder ihnen rechtlich zustehende handelt. Eine punktuelle Gleichstellung von SchülerInnen und Lehrpersonen im Klassenrat, wo letztere nicht uneingeschränktes Rederecht geniessen, begrüsst sie und findet sie »wunderbar«. Die ›klassischen‹ gesundheitsfördernden Aktionen scheint Barandun mitzumachen, ohne dass diese den Kern ihrer eigenen Vision von ›Gesundheitsförderung‹ tangieren. Diejenigen gesundheitsfördernden Maßnahmen, die sie als wichtig erachtet und auch deutlich ausführlicher schildert, richten sich auf schulreformerische und politische Veränderungen: Die Forderung nach mehr Gerechtigkeit im Sinne einer besseren Entlohnung der Unterstufenlehrpersonen wie auch jene nach einer Umverteilung der Ressourcen – in dem Sinne, dass Schulen in Stadtvierteln mit sozio-ökonomisch schlechter gestellten Familien ein grösseres Budget zur Verfügung haben sollten, damit Chancengerechtigkeit gewährt werden kann – sind die Anliegen, die ihr wichtig sind und die sie zur »Gesundheitssache« erklärt. Ebenso stellt sie den aus reformpädagogischen Ideen gespeisten Schulsystemwandel, grössere Freiräume für individuelle Lernprozesse oder die Abschaffung der Selektion in einen Zusammenhang mit dem Gesundheitsförderungsdiskurs. Der Schülerrat und Klassenrat als institutionalisierte Stätten der Mitwirkung sind für sie ebenfalls bedeutsame Angelegenheit, die sie der Gesundheitsförderung zurechnet. Im Gegensatz zu Lehrpersonen anderer Typen erklärt sie pädagogische wie auch schulpolitische Forderungen zur »Gesundheitssache« – es handelt sich um Themen, die bei anderen nicht oder nur am Rand erscheinen. Der Zweck heiligt die Mittel: Wenn Barandun schulreformerische Anliegen zur Gesundheitssache erklärt, im Namen der Gesundheit der Lehrpersonen Lohnforderungen stellt oder schulstrukturelle Veränderungen beispielsweise der zeitlichen oder räumlichen Strukturierung als gesundheitsfördernd propagiert, erhalten die propagierten Ziele ein andere Färbung – gegen Gesundheit wird sich kaum jemand stellen, gegen Lohnforderungen oder reformpädagogische Anliegen allein hingegen schon.
Strukturelle Maßnahmen auch mit Fokus auf die Schulkinder Im Bereich der Gesundheitsförderung geben nach Barandun vor allem schulpolitische und -strukturelle Fragen Anlass zu Kritik oder sind ein Grund, aktiv zu werden. Symptome dafür sieht sie in der angeschlagenen Lehrergesundheit wie auch in Lernschwierigkeiten von Kindern aufgrund einer nicht adäquaten Schulform, welche – so ihre Formulierung – Leiden verursache. Direkt angesprochen auf die Frage, ob sie nicht auch beim Gesundheitszustand der Kinder Handlungsbedarf wahrnehme – wie dies in der Argumentation anderer interviewter Lehrpersonen der Fall war –, meint sie, dass es schon
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auch »zu dicke« Kinder gäbe bei ihnen. An Informationsveranstaltungen und Elterngesprächen würden die Eltern übergewichtiger Kinder denn auch auf die entsprechenden Kursangebote verwiesen. Das eigentliche Problem sieht sie, wie auch Lehrpersonen anderer Typen, in der Freizeitgestaltung; dies wäre, so meint sie, schon auch einmal ein Thema. Es gäbe z.B. Eltern, die ihre Kinder in der Freizeit aus Angst nicht ins Freie lassen würden. Doch, fügt sie sogleich an, dies sei kein Hauptthema, sie finde die Lehrergesundheit vordringlich. Nach einer kurzen Pause kehrt sie dennoch zu den Kindern und dem Thema der Freizeitgestaltung zurück: Aber bei den Kindern, dann müsste man vielleicht ma-, das erste dünkt mich, Aufgabenhilfe wirklich anbieten, dass die Lehrkraft da wäre und eine Stunde bekäme, wo sie mit den Kindern Aufgaben machen könnte. Und nicht dass die Kinder wieder an spezielle Orte hin müssten. Das, ich finde es nicht gut. Das dünkt mich,//mhm/das sollte integriert sein. Die Lehrkraft sollte sehen, welches Kind wie lange Aufgaben macht, weil es ist so ungleich verteilt, oder, klar haben wir nachher Aufgabenhilfen, aber bis so eine Aufgabenhilfe greift, ist, geht es fast ein halbes Jahr, bis man merkt, auch immer wieder, manchmal geht es, manchmal nicht, bis man dann handelt, oder//mhm//geht es ein halbes Jahr und in dieser Zeit hätte man schon viel mehr können, eine Stunde pro Woche ist man noch bezahlt und schaut man noch für die Aufgaben, schaut man und die, die sie haben, können gehen, einfach so in dieser Art//mhm//(I 11,13)
Mit ihrem Vorschlag, bei der Freizeitgestaltung der Schulkinder etwas zu verändern, landet sie nicht bei einem Interventionsprogramm, welches auf das Verhalten der Kinder zielt, sondern erneut bei einer schulstrukturellen Frage: den Hausaufgaben und der Aufgabenhilfe. Das Erledigen der Hausaufgaben würde sie in die Schule hineinverlegen, zu einem Aufgabenbereich der Lehrperson erklären und nicht nach Hause delegieren. Damit wären die Hausaufgaben um der sozialen Gerechtigkeit willen im eigentlichen Sinne abgeschafft, die Schule würde im besten Fall ein bisschen weniger zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten beitragen und die Freizeit wäre wirklich freie Zeit. Erneut schlägt sie vor, die von der Schule zu übernehmenden Aufgaben auszudehnen; nicht nur das Frühstück sollte vor Ort eingenommen werden, auch die ›Haus‹-Aufgaben sollten von der Lehrperson direkt begleitet werden. Beides sind Maßnahmen, die im Konzept einer Ganztagesschule verwirklicht und begründet sind; Barandun verbindet sie mit dem Ziel, die Lernbedingungen zu verbessern und die Reproduktion sozialer Ungleichheiten durch die Institution Schule zu vermindern. Beim zweiten Anlauf der Interviewerin, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, ob Barandun bei den Schulkindern keine Problematik erkennen könne, die Anlass biete zu gesundheitsfördernden Maßnahmen, benennt sie deren Freizeitgestaltung; sie beschreibt sie als zu passiv oder dann zu aktiv:
6. Deutungen der Lehrpersonen und sonst haben sie eigentlich, entweder hocken die Kinder vor dem Fernseher oder haben ein viel zu belastetes Programm mit x x Angeboten,//mhm//das haben wir auch,// mhm//Kinder wo hier ins Tanzen, nachher noch ins Ballett haben wir auch und nachher noch in die Musik und nachher noch schwimmen gehen und viel zu befrachtet (I 11,13)
In der Beschreibung der Freizeitbeschäftigung trifft sie sich mit den Vorstellungen der meisten hier interviewten Lehrpersonen: Entweder würden die Kinder maßlos Medien konsumieren oder dann in übertriebenem Maß institutionalisierte Freizeitangebote besuchen. Barandun skizziert hier ein Entwederoder, ein Zuviel oder ein Zuwenig an Aktivitäten, was sie beides als ungeeignet taxiert. Vergleichbar mit vielen anderen Lehrpersonen hat auch sie eine Idealvorstellung im Kopf, die in der aktuellen Realität der üblichen Freizeitgestaltungen offenbar nicht verwirklicht ist: und die Eltern schicken sie nachher nicht ins Atelier »füre« [nach vorn], wo sie sich austoben können//mhm//nebendran, oder die haben wie den Bezug nicht, dass man, dass dort auch betreut wird, dass die dort die Möglichkeit haben, dass das wichtig ist, dass sie können rum klettern und springen und//mhm//, umegheien, umerennen‹//mhm// jaha, aber das ist, das ist halt hier, ja von den Gebäuden her auch, wo es auch nicht gegeben ist. Aber die Möglichkeit würde bestehen, oder wir haben ein Kinderatelier, das läuft sehr gut//das ist dann wie ein Quartierzentrum?//ja, genau. Genau, dort können die Kinder gehen. (I 11,13)
Als alternative Freizeitaktivität beschreibt sie ein ihrer Meinung nach ideales, jedoch zu wenig genutztes Angebot: das »Atelier«, ein betreuter Spielort für Kinder im Stadtviertel. Hier könnten die Kinder klettern, springen, rennen – Aktivitäten, die bei der Mehrzahl der interviewten Lehrpersonen als ideale Freizeitbeschäftigungen gelten, insbesondere wenn sie draußen unter freiem Himmel stattfinden. An Elternabenden »tippe« sie dieses Thema jeweils an mit der Aufforderung, die Kinder ins Atelier zu schicken und sie mehr spielen zu lassen. Damit reiht sie sich in die Garde der Lehrpersonen ein, die aufgrund von ›falschen‹ Freizeitaktivitäten oder Passivität in der Freizeit einen Bewegungsmangel konstatieren. In ihrer Vorstellung wäre es gut – oder, wie einige sagen, ›gesund‹ oder ›gesundheitsfördernd‹ –, wenn die Kinder mehr draußen spielen und sich bewegen würden. Während einige in ihrer Rolle als Lehrperson kompensatorisch eingreifen oder gezielt auf die Eltern oder auf die Kinder einzuwirken versuchen, im Sinne einer Beeinflussung ihrer Lebensführung, scheint Barandun erneut vor allem auf einer strukturellen Ebene zu wirken: Sie »tippt« die Eltern an, informiert sie über bestehende Angebote und engagiert sich selber bei der Gestaltung des Pausenplatzes, wo sich Kinder auch in der Freizeit aufhalten können.
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Bewegung als Befreiung vom Korsett schulischer Strukturen Zu Bewegungssequenzen, wie sie als gesundheitsfördernde Maßnahmen üblich sind und in Pausen veranstaltet und in den Unterricht integriert werden, äussert sich Barandun nicht von sich aus. Erst als sie explizit gefragt wird, was sie zu Programmen, wie beispielsweise ›schule.bewegt‹, meine, nimmt sie Stellung. Ihre Schule nimmt an diesem Programm teil; damit wären alle Lehrpersonen verpflichtet, an ihrer Klasse täglich mindestens 20 Minuten Bewegung einzubauen – auf der Grundlage von vorliegenden Vorschlägen in Form von ›Bewegungskarten‹, aber auch als Umsetzung eigener Ideen (vgl. Kp. 6.2.1, Exkurs zur »Bewegten Schule«). Ich finde es einfach künstlich//mhm//, jetzt tun wir ein Zetteli ziehen und jetzt machen wir alle hiphop oder, das ist gut gemeint, oder es ist eigentlich schon gut, aber, aber die Kinder sollten sich selber bewegen, frei und und unkontrolliert und das, so bewegen, wie sie es brauchen,//mhm//und nicht jetzt tun wir alle wie ein Flügeli oder (lacht) ich finde es lächerlich, aber es ist schon besser als nichts//mhm//auf jeden Fall//mhm//. (I 11,14)
Im Rahmen des Unterrichts gezielt zu Bewegung anzuleiten und sämtliche Kinder gleichzeitig anzuhalten, sich nach vorgegebenen Formen zu bewegen, erachtet sie als »künstlich«. Es muss eine Gegenvorstellung zum Künstlichen existieren, nämlich diejenige ›natürlicher‹ Bewegung: sich selber autonom bewegen, frei und unkontrolliert, ohne Anleitung und entsprechend den individuellen Bedürfnissen. Ihren Ausführungen liegt ein anderer Bewegungsbegriff zugrunde als jener, der in den Programmen zu Bewegungsförderung verwendet wird. Ihr geht es um autonome Formen der Bewegung. Mit Bewegung verbindet sie nicht in erster Linie eine Förderungsabsicht, kein gezieltes, quasi-therapeutisch angeleitetes Bewegen; ihr Ziel wäre es, Raum und Möglichkeiten zu schaffen, sich frei zu bewegen. Dabei überlässt sie es den einzelnen SchülerInnen, wie, wann und wie viel sie sich bewegen. Angeleitete Bewegungssequenzen bezeichnet sie als lächerlich – und zugleich als besser als nichts. Ihrer Auffassung nach brauchen Kinder lediglich genügend Freiräume, dann würden sie sich von selber bewegen: Das Kind sollte irgendwo liegen können, irgendwo schreiben können, wo es ist, ›chnöilige, büchlige‹ [kniend, auf dem Bauch liegend]//mhm//. Kinder sind Kinder und wir, wir, es sind nicht kleine Erwachsene//mhm//möglichst einfach da wo sie nachher schreiben, wo sie ihr Zeug machen,//mhm//dürfen sie ihren Platz frei wählen//mhm//, viel lieber so und nicht jetzt tun wir alle wie eine Schlange, jetzt tun wir alle – ich finde es lächerlich wirklich (lacht)//ja//alles das gesteuerte Zeug, nein, da bekomme ich Schreikrämpfe (I 11,15)
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Erneut fühlt sie sich veranlasst zu schreien und bekommt oder antizipiert nun sogar richtige »Schreikrämpfe«. Anlass zu diesem emotionalen Ausbruch gibt eine durch eine andere Lehrperson veranstaltete Sequenz, in welcher alle »wie eine Schlange tun sollen«. Sie bezeichnet solche Übungen als ein Beispiel für »das gesteuerte Zeug«, welches bei ihr Wut- und Ohnmachtsgefühle auslöst. Wenn alle SchülerInnen gleichzeitig veranlasst werden, dasselbe zu tun, bezeichnet sie dies als Fremdsteuerung, was ihren pädagogischen Grundsätzen entgegensteht. Anstelle von angeleiteter, gesteuerter Bewegung erachtet sie es vielmehr als notwendig, die Schulstrukturen zu ändern, den Zwang zum Stillsitzen aufzuheben und ›dem Kind‹ freie Bewegung zu ermöglichen. Sie rekurriert hier auf eine Vorstellung vom Kind, das sich vom Wesen her von Erwachsenen unterscheidet, was seinen Anspruch und sein Bedürfnis betrifft, sich frei bewegen zu können. Kinder sollen selber bestimmen können, wo und was sie lernen und arbeiten, sie sollen selber entscheiden, wann und wie sie sich bewegen. Auf die Anmerkung der Interviewerin, es gäbe an den Schulen viele Bewegungsprojekte der von ihr kritisierten Art, meint sie: Ja, ja es ist gut gemeint, aber es ist doch//mhm//, aber eigentlich stimmt das System nicht, ein Kind darf man doch nicht still hocken [sitzen] lassen, das ist nicht kindgemäß//mhm//dort müsste man ansetzen, und nicht: jetzt tun wir alle wie – wie Maschinen (lacht) (I 11, 14)
Bewegungsprogrammen gegenüber, das macht sie mehr als deutlich, ist sie persönlich abgeneigt. Sie erachtet sie als systemerhaltend, weil mit ihnen verdeckt werde, dass eigentlich das System geändert werden müsste. Dabei argumentiert sie pädagogisch mit dem Begriff der »Kindgemäßheit«: Solche geleiteten Bewegungssequenzen seien insbesondere für Heranwachsende nicht passend; »still zu hocken«, entspreche dem Wesen von Kindern nicht. Folglich, so könnte man schließen, handelt es sich um eine für Erwachsene durchaus angemessene Form. Der Begründung, dass solche Bewegungsformen nicht kindgemäß seien, hängt sie ein weiteres Argument an: Ich weiß, ich denke dort einfach ein wenig anders, ich habe mich soviel befasst mit Kindern und was in der Kinderentwicklung überhaupt lo- also abgeht oder was dort Wichtiges passiert, was, wie wir unsere Erwachsenenwelt über die Kinder stülpen, das ist einfach grauenhaft//mhm//wie wir uns benehmen dort, was wir, das ist, das ist für mich einfach Kindsmisshandlung, das, wirklich//mhm//, was in der Schule passiert ist für mich Kindsmisshandlung, intellektuell und körperlich auch noch gerade und psychisch sowieso//mhm//ja, man muss es einfach mal so sagen//mhm//, das ist, das ist nicht, nicht geschaut was ist ein Kind und nicht vom Kind aus gedacht, und was braucht ein Kind//mhm//das ist tragisch//ja//(I 11,15)
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Ihre Ausführungen beziehen sich nun nicht mehr nur auf veranstaltete Bewegungssequenzen, sondern generell auf den Umgang von Erwachsenen mit Kindern. Sie prangert die fehlende Berücksichtigung der Perspektive der Kinder bei der Gestaltung schulischer Strukturen an. Dass sie die Strukturen als völlig unangemessen erachtet, unterstreicht sie erneut mit einem Kraftausdruck, sie spricht von »Kindsmisshandlung«. In der Schule würden Kinder misshandelt. Dabei spricht sie nicht von sexuellem Missbrauch, sondern davon, dass die Bedürfnisse und das Wesen der Kinder bei der Gestaltung der Schule und des schulischen Alltags nicht berücksichtigt würden. Dieses Verkennen dessen was sie für Kinder als angemessen erachtet, beschreibt sie als »grauenhaft« – ein weiterer Ausdruck, der auf emotionale Erregung hindeutet und verbunden ist mit physischen Reaktionen. Erneut zeigt sich hier ihre Auffassung deutlich, dass die Schule sich mehr an den Bedürfnissen der Kinder auszurichten hat und nicht in erster Linie eine Disziplinierungs- und Sozialisationsfunktion wahrnehmen soll. Kinder – so ihre Vorstellung – brauchen Freiraum, um sich entwickeln zu können, und Unterstützung, um herauszufinden, was sie benötigen. Ihre Kritik am Korsett schulischer Strukturen zieht auch Forderungen zur räumlich-zeitlichen Gestaltung von Schule und Unterricht nach sich. In den Fokus ihrer Kritik gelangt insbesondere die bürokratisch-rationale Gestaltungslogik, welche Veränderungen entgegensteht, wie sie sie anstrebt. Darum will ich runter, darum will ich anders anfangen Schule haben, aber nicht in dem Zimmer drin, da kann ich nicht meine Art Schule haben, das geht nicht//ja, schwierig, ja das ist zu eng//. Ich kann doch kein Material, wo können wir noch Material aufstellen, wo?//mhm//. Die ›Schäfte‹ [Schränke] die, die sind nicht mobil, wir können die nicht verstellen, die Wandtafel ist dominant, das, ja, nachher ist schon grad fertig, die Pulte die müssen wir da haben, die Schubladen brauchen wir, weil die Pulte so sind, die Pulte sind riesig, die, Kinder sind, die Pulte sind viel zu schwer zum rumschieb- ja, wär eigentlich gut gedacht, aber das Kind, das kann das nicht rumstoßen, das ist viel zu schwer// mhm//der Platz ist nicht mehr, die Pulte sind gewachsen, aber das Schulzimmer nicht, eh, wie bitte? (I 11,15)
Sie fühlt sich in den bestehenden Schulstrukturen eingeengt. Sie sucht nach mehr Freiräumen, mehr Platz und mehr Freiheiten für die SchülerInnen wie auch für sich selber in ihrer Rolle als Lehrerin – und findet sie in herkömmlichen Schulzimmern nicht. In ihrer Wahrnehmung hat sie es mit einem eisernen Gehäuse zu tun, welches nach klaren, bürokratischen Regeln verfasst ist und nicht pädagogischen Grundsätzen folgt. Die Logik, nach der Schulhäuser gebaut und Schulzimmer eingerichtet sind, entspricht nicht den Anforderungen und Bedürfnissen, die sie als förderlich für das »Schule haben« erachtet. Ihr Gestaltungswille – so erlebt sie es – stösst überall an Grenzen. Dabei wür-
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den die Pulte, die mobil und individuell verstellbar sind, ihrem Unterrichtsverständnis entgegenkommen, wenn sie nicht zu schwer und somit nicht »kindgemäß« wären. Sie stellt ihre Situation dar, als würde ständig über ihren Kopf hinweg entschieden und das Schulzimmer, ihr Arbeitsort, entgegen ihren Präferenzen und pädagogischen Überzeugungen und wider besseren Wissens nicht adäquat eingerichtet. Es ist eine Anstalt, ganz genau, ja//mhm//, das ist doch daneben (leise flüsternd). Dort verpasst man so viele Chancen, einfach//mhm//um einen viel entspannteren Betrieb herbringen [herbeiführen] können, wenn die Kinder in der Pause klettern dürften, könnten die wieder viel besser ›schaffen‹, aber doch, und Bäume wo sie sich ein wenig ›verschlüfen‹ könnten, ja, wo man etwas machen könnte, aber doch nicht solche Besen,//I: ja nein//uns hat es »dschuderet« und nachher grau,//jaja//das sei, Schulfarbe, ist grau oder, darf nicht, nein//ja//(lacht) ja, das ist wahnsinnig, oder Fensterbänkli, wo man nichts drauf stellen kann, da müsste man doch breitere Fensterbänke, schon nur rein einrichtungsmäßig, das darf nicht wahr sein//ja//(I 11,16)
Bei Barandun liegt ein anderes Verständnis von Schule vor als das herrschende. Sie eckt im gegenwärtigen hiesigen Schulsystem an verschiedenen Stellen und bei diversen Ämtern und Regulierungen an. Verschärfte Auflagen der Feuerwehr engen z.B. aus ihrer Sicht ihre Gestaltungsmöglichkeiten ein. Ihrer Kritik liegt ein spezifisches Verständnis des Kerns des Bildungsauftrags zugrunde: Zu dessen Umsetzung bedürfte es mehr Freiraum, um den SchülerInnen mehr Autonomie zu ermöglichen – Autonomie als Voraussetzung für qualitativ hochwertige Lernprozesse. Gesundheitsförderung verbindet Barandun mit der Kritik an einer Schule, die in ihrer Wahrnehmung Züge einer ›totalen Institution‹ im Goffmannschen Sinne (vgl. Goffmann 1973) trägt. Die Schule ist zwar nicht allumfassend, aber das Leben der Kinder spielt sich doch zu einem großen Teil darin ab. So sind innerhalb der Schule sämtliche Tätigkeiten und Lebensäußerungen geplant und werden durch explizite Regeln vorgeschrieben. Die Lehrpersonen übernehmen darin als Autoritätspersonen eine Überwachungsfunktion. Diese wird indirekt unterstützt durch architektonische Gegebenheiten bis hin zur Zimmereinrichtung, welche durch ihre Struktur die Kontrolle erst ermöglichen. Sogar die Pause ist nicht frei, indem versucht wird, durch die Gestaltung der Pausenhöfe die erwünschten Bewegungsformen hervorzurufen. Die Gestaltung der Innen- und Außenräume der Schule folgt – so die Darstellung von Barandun, ganz im Sinne von Goffmanns Begriff der ›totalen Institution‹ (ohne dass sie explizit darauf rekurriert) – einem rationalen Plan, der dazu dient, die Ziele der Institution zu erreichen. Die aktuelle Form der Schule ist nach Barandun nicht geeignet, die Entwicklung der Kinder bestmöglich zu begleiten; sie führt vielmehr – wiederum in Goffmans Terminologie – zu einer
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»Beschränkung des Selbst« (Goffmann 1974). Barandun versucht, sich gegen eine Kolonisierung zu wehren, gegen die geforderte Anpassung der Schulkinder und ihres Verhaltens an die schulische Welt und Logik. Sie nimmt eine widerständige Haltung ein, die Ausdruck findet in den von ihr verwendeten Kraftausdrücken. Die sich darin zeigende Emotionalität könnte, so kann vermutet werden, auch gespeist sein von Ohnmachtsgefühlen, die beim Aufeinanderprallen ihres persönlichen Engagements und der starren Strukturen der Institution Schule fast zwangsläufig aufkommen.
Resümee: Reformpädagogische, berufs- und schulpolitische Anliegen als »Gesundheitssache« Für Barandun bedeutet schulische Gesundheitsförderung die Veränderung schulischer Strukturen. Sie erklärt schul- und berufspolitische Forderungen zur »Gesundheitssache«. Ein zentrales Moment ist die Forderung nach mehr Partizipationsmöglichkeit auf allen Ebenen. Dieses zeigt sich in ihrem Bestreben, selber mitzuwirken und möglichst auf allen Ebenen Mitwirkung zu ermöglichen. So fordert sie beispielsweise eine stärkere Einbindung des Kollegiums in pädagogische Schulentwicklungsprozesse. Im Rahmen von pädagogischen Konferenzen, so ihre Vision, gilt es, Begründungen für Maßnahmen, für Raumansprüche oder Pausenhofgestaltungen zu entwickeln und eine gemeinsame pädagogische Haltung zu entwickeln. Barandun versucht nicht, die Verhaltensweisen der Schulkinder zu verändern; sie bezeichnet im Gegenteil auf die Schulkinder zielende gesundheitsfördernde Maßnahmen als »gesteuertes Zeug«, das sie lächerlich findet oder gar als einen Akt der »Gewalt« wahrnimmt. In der täglichen Arbeit mit den SchülerInnen versucht sie vielmehr, innerhalb bestehender Grenzen Freiräume zu schaffen, in denen die Kinder lernen und sich entwickeln können und Räume so zu gestalten, dass sie sich möglichst frei bewegen können. Bewegung ermöglicht sie durch ihre Unterrichts- und Raumgestaltung, sie veranstaltet keine angeleiteten Bewegungssequenzen. Lernen ist in ihrem Verständnis nicht zu trennen von Bewegen, die beiden Tätigkeiten stellen keine Dichotomie dar. Lernen passiert in Bewegung. Ihre Vorstellung von kindgemäßen Lernräumen legitimiert sie mit Bezügen zur Entwicklungspsychologie und pädagogischen Theorien. Ihr Selbstverständnis gegenüber den ihr anvertrauten SchülerInnen ist anwaltschaftlich; es basiert darauf, dass sie sich damit auseinandersetzt, was kindgemäß sein könnte.
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6.5.2 Rahel Brown: Pädagogische Deutung von Gesundheitsförderung mit gesellschaftskritischer Ausrichtung Gesundheitsförderung als Beitrag zum ›Wohl des Kindes‹ Rahel Brown, Mitte vierzig, beginnt ihre Ausführungen auf die Frage, wie sie dazu gekommen sei, Koordinatorin für Gesundheitsförderung zu werden, mit der Bemerkung, dass sie vom Kollegium gewählt worden sei. Vorher hätte sie sich einfach aus eigenem Interesse an gesundheitlichen Fragen um diese Themen gekümmert, nun sei sie im Einverständnis mit dem Kollegium »wirklich« Koordinatorin. Auffällig ist, dass sie gleich zu Beginn ihre Tätigkeit als Koordinatorin für Gesundheitsförderung durch die Wahl des Kollegiums legitimiert und im weiteren Verlauf des Gesprächs immer wieder in der ›Wir‹-Form spricht, von gemeinsam gefällten oder getragenen Entscheidungen. Sie ist an einer Schule in einer kleinen Stadt im Kanton Bern tätig, wo Gesundheitsförderung nicht obligatorisch umzusetzen ist. Bei der Koordinationsfunktion handelt es sich somit nicht um einen Auftrag von oben; sie wird auf Initiative entweder der Gemeinde, der Schulleitung oder einer einzelnen, motivierten Lehrperson veranlasst worden sein und vom Kollegium getragen. Die Identifikation mit Gesundheitsförderung, so kann angenommen werden, scheint hoch zu sein und wird als kollegiales, demokratisches Projekt verstanden. Die Auffassung Browns von Gesundheitsförderung, welche sie als eine gemeinsame Aufgabe des Kollegiums betrachtet, lautet folgendermaßen: Gesundheit, in diesem Sinne gesundheitsfördernd einfach ähm, auf, auf sehr umfassend, sehr ganzheitlich, also alles, das äh zum ... Wohl vom Kind, äh das Wohl vom Kind tut unterstützen und das Kind, wenn es sich wohl fühlt oder dann, kann es Vertrauen fassen und dann, dann//mhm//ja kann es (sich?) besser entwickeln, einfach so ein bisschen nach diesem Prinzip und rundherum (I 12, 2)
Alles was zum Wohl des Kindes beiträgt, bezeichnet sie als gesundheitsfördernd. Die beiden Adjektive, mit denen sie beschreibt, wie das Wohl unterstützt werden kann, haben beide eine große Reichweite: Während »umfassend« auf etwas hindeutet, das umschlossen, umfangen wird, zielt »ganzheitlich« auf eine Absolutheit, ist allumfassend. »Ganz« bedeutet ursprünglich »heil, unverletzt und vollständig«.27 Was diese Ganzheit bei Brown umfasst, ob sie sich auf das Aktivieren des Körpers zum besseren Lernen beschränkt wie Lüthi (Typus arbeits- und betriebspsychologische Deutung), wird noch zu rekonstruieren
27 | Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: www.dwds.de/?view= 1&qu=ganz (4.5.2014).
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sein. Obwohl noch ungewiss ist, was Brown genau zu fördern beabsichtigt, zeichnet sich hier bereits eine Tendenz zur Entgrenzung ab.
E xkurs zum Wohl des Kindes Das von Brown ins Feld geführte ›Wohl des Kindes‹ ist gegenüber dem von anderen Lehrpersonen angestrebten Wohlbefinden ein abstrakterer Begriff, der nicht oder nicht nur am Subjekt und dessen subjektiver Befindlichkeit festgemacht wird, sondern eine Außensicht beinhaltet. Im juristischen Bereich, konkret im Schweizerischen Zivilgesetzbuch, gilt der Begriff des ›Kindeswohls‹ als »Leitmotiv bei Fragen der Betreuung, Erziehung und Bildung des Kindes«28. Es handelt sich hierbei um einen leitenden Rechtsbegriff, der jedoch unbestimmt ist und deshalb bei der Anwendung im Einzelfall inhaltlich gefüllt werden muss. »Das Kindeswohl drückt sich darin aus, dass in einem Familiensystem aufgrund der gegebenen Ressourcen jene Betreuungsentscheidungen getroffen werden, welche dem Kind die bestmöglichen Voraussetzungen zu seinem Wohlergehen bieten.«29 Die Eltern gewährleisten gemäß dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch mit Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und treffen »unter Vorbehalt seiner eigenen Handlungsfähigkeit die nötigen Entscheidungen«.30 Die Bundesverfassung schützt den Anspruch von Kindern und Jugendlichen »auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung«.31 Die Kinderrechtskonvention von 1989 setzt das ›Wohl des Kindes‹ ins Zentrum: »Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsor28 | ZGB Art. 296, Abs. 1: »Die elterliche Sorge gilt dem Wohl des Kindes.« 29 | ZGB, Art. 302, Abs. 1. 30 | ZGB Art. 301, Abs. 1. Die daraus resultierenden Pflichten werden beispielsweise im Leitfadenpapier der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB des Kantons Bern ausbuchstabiert. Das Kindeswohl gilt als Inbegriff »aller begünstigenden Lebensumstände, um dem Kind zu einer guten und gesunden Entwicklung zu verhelfen«. Aufgeführt werden elementare Dinge, wie »ausreichende Ernährung, wettergerechte Kleidung, ein Dach über dem Kopf, aber auch Schutz vor körperlicher und seelischer Gewalt, liebevolle Zuwendung, Lob und Anerkennung, Respekt und Achtung, Verbindlichkeit in den Beziehungen und eine sichere Lebensorientierung«. Die hier aufgezählten Inhalte wie auch ihr Umfang können sehr unterschiedlich gedeutet werden und ausfallen, es bestehen große Ermessensspielräume. Entscheidend ist, so das Papier weiter, was für ein Kind aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften in der gegebenen Situation das Beste ist, »also welche Lebensbedingungen seiner guten und gesunden Entwicklung am besten dienen«. Woran sich die Norm der »guten und gesunden Entwicklung« bemisst, bleibt unbestimmt. 31 | Bundesverfassung Art. 11 Bundesverfassung.
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ge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.«32 Auch der Bildungsauftrag der öffentlichen Institution Schule hat sich am Wohl des Kindes auszurichten. In der bernischen Kantonsverfassung heißt es: »Das Bildungswesen hat zum Ziel, die harmonische Entwicklung der körperlichen, geistigen, schöpferischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten zu fördern sowie das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Umwelt zu stärken. Kanton und Gemeinden unterstützen die Eltern in der Erziehung und Ausbildung der Kinder.«33 Die Rechte der Kinder werden folgendermaßen definiert: »Jedes Kind hat Anspruch auf Schutz, Fürsorge und Betreuung sowie auf eine seinen Fähigkeiten entsprechende, unentgeltliche Schulbildung.«34 Dem Schutz des Kindes dienen auch die Verschwiegenheits- und Anzeigepflicht der Schule gegenüber den SchülerInnen und Eltern bzw. das Recht auf Persönlichkeitsschutz (Amtsgeheimnis).35 In der Sozialarbeit und Sozialpädagogik ist eine Gefährdung des Kindeswohls denn auch in jedem Fall ein Grund, tätig zu werden, auch gegen den Willen der sorgeberechtigten Personen. Den tendenziell protektionistischen Ausdeutungen des Kindeswohls ist im Schweizerischen Zivilgesetzbuch das Recht auf Anhörung des Kindes angefügt: »Das Kind schuldet den Eltern Gehorsam; die Eltern gewähren dem Kind die seiner Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung und nehmen in wichtigen Angelegenheiten, soweit tunlich, auf seine Meinung Rücksicht.« (Vgl. ZGB Art. 301, Abs. 2) Anschließend an diesen letzten Beisatz leitet Cyrill Hegnauer36 sein Verständnis des modernen Kindesrechts ab, im Sinne einer Verpflichtung, die Persönlichkeit des Kindes zu achten. Er sieht im Recht auf Anhörung den auf Autonomie gerichteten Anspruch verbürgt, dass »dort, wo das Kind eigene Handlungsfähigkeit besitzt, […] ihm eine seiner Reife angemessene Freiheit der Lebensgestaltung zu gewährleisten« (ebd. 1999) ist. Bei der Ausbuchstabierung der rechtlichen Zielbestimmungen in Zusammenhang mit dem Kindeswohl findet sich die Ambivalenz 32 | Übereinkommen über die Rechte des Kindes, Art. 3, Abs. 1. URL: https://www. admin.ch/opc/de/classified-compilation/19983207/index.html (Stand 2.9.2014). 33 | Verfassung des Kantons Bern, Art. 42, Abs. 1f. 34 | Ebd., Art. 29, Abs. 2. 35 | ZGB Art. 413; Art. 28. 36 | Cyril Hegnauer war von 1973 bis zur Emeritierung 1986 Professor für Zivilrecht an der Universität Zürich. Er wirkte bei der Revision des Familienrechts maßgeblich mit und gilt als einer der ausgewiesensten Experten auf diesem Gebiet; vgl. Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz: www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D27304.php (Stand 2.9.2014).
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zwischen fürsorgerischem Handeln und Schutz sowie dem Gewähren von Autonomie wieder – eine für das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden typischen Antinomie.
Spannungsfeld zwischen dem Wohl des Kindes und anderen Aufträgen Im Verständnis der hier interviewten Lehrperson ist Gesundheitsförderung darauf ausgerichtet, das Kindeswohl zu unterstützen. Erst wenn für das Wohl des Kindes gesorgt ist – so die Logik von Brown –, kann sich das Kind auch wohlfühlen. Dieses subjektive Empfinden wiederum wird von ihr zur Voraussetzung erklärt, dass das Kind Vertrauen fassen könne. Vertrauen ist in ihrer Darstellung den Kindern nicht einfach gegeben, sondern sie müssen es »fassen« können, erst dann sei die Voraussetzung für eine »bessere« Entwicklung gegeben. Worin sich die Steigerung nicht nur einer guten, sondern einer besseren Entwicklung bemisst, wird noch zu klären sein. Vertrauen ist in ihrem Verständnis etwas Interaktives und abhängig vom Umfeld, von den umgebenden Menschen. Mit der Unterstützungs- und Schutzbedürftigkeit der Kinder hebt sie in etwas anderer Weise und dennoch vergleichbar mit Barandun die strukturellen Bedingungen hervor, die erfüllt sein müssen, damit ein Kind sich bestmöglich entwickeln kann. Brown argumentiert mit ihrem Bezug auf das ›Kindeswohl‹ auf einer abstrakteren, ideelleren, jedoch weniger politischen Ebene als Barandun. Es kann bereits hier vermutet werden, dass auch sie den Bedingungen der Schule gegenüber kritisch eingestellt ist und diese nicht a priori als förderlich für die Entwicklung von Kindern erachtet. Die Schule hat sich als staatliche Bildungsinstitution nicht nur am Wohl des Kindes auszurichten, sondern nimmt eine Vielzahl an Funktionen wahr, die dem Auftrag zum Schutz des Kindeswohls teilweise auch entgegenstehen können. Brown nimmt womöglich eine anwaltschaftliche Position im Sinne des Kindes wahr – dies die Vermutung auf Basis der analysierten Eingangssequenz: Die Schule sollte stärker, als dies gegenwärtig der Fall ist, dem Wohl des Kindes zuträglich sein. Mit dem Begriff des ›Kindeswohls‹ nimmt Brown implizit Bezug auf einen Rechtsdiskurs. Weshalb sie die Bezugnahme auf das Kindeswohl besonders hervorhebt, ist noch offen. Auf welcher Ebene Strategien erwogen werden, ist damit noch nicht gesagt. Ebenso sind die Fragen offen, wie die Schule gestaltet sein muss, damit sie dem Kindeswohl dient oder was es bedeutet, »bessere« Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder zu bieten. Brown scheint dazu dezidierte Antworten zu haben; darin könnte ihre Motivation liegen, sich als Koordinatorin für gesundheitsfördernde Maßnahmen einzusetzen.
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Die Schule als Ort gesellschaftlicher Erneuerung: Die Entwicklung zum Entspannteren Die Kerngedanken ihrer Vorstellung einer gesundheitsförderlichen Schule legt Brown in folgendem Abschnitt dar: Ich denke es hat einfach, wir haben, ja wir haben, wir haben viele Kinder, die, die eine ziemliche Herausforderung haben mit ihrem Lebensalltag schon//mhm//, einfach ähm… und dann scheint es mir kann die Schule einfach wie einen Beitrag leisten zum Gesünderen und zum Entspannteren//mhm//, aber (spricht lauter und lacht) das ist ja nicht die Entwicklung von unserem Schulsystem an und für sich, das Entspanntere, also es ist so ein//mhm//(I 12,5)
Bezeichnend für Brown scheint das Denken im Kollektiv, in ökologischer Perspektive und auch auf Systemebene: Sie beschreibt nicht individuelle Probleme, Verhaltensauffälligkeiten oder ungesunde Verhaltensweisen der Kinder, sondern sie geht davon aus, dass es der Lebensalltag ist, der die Kinder herausfordert. Sie verortet die Schwierigkeiten im gesellschaftlichen Umfeld. Zugleich fasst sie die SchülerInnen mittels der Formulierung »wir haben viele Kinder« in ein Kollektiv: Sie nimmt sich ihrer an und zwar nicht nur in der Rolle als SchülerInnen, sondern als ›Kinder‹, im Sinne ganzer Personen. Aufgabe der Schule ist es nach Brown, dass sie als Lehrperson einen »Beitrag leistet hin zum Gesünderen und zum Entspannteren«. Die beiden Adjektive in gesteigerter Form wurden hier zu Substantiven gemacht. Damit fällt das Substantiv, auf welches sich die Eigenschaftswörter beziehen, weg. Es bleibt somit unklar, was gesünder und entspannter sein respektive werden soll: das Leben, das Arbeiten, das Lernen oder der Körper? Gesundheitsförderung zielt auf einen Zustand, der als solcher nicht genau bezeichnet werden kann; klar ist nur, dass er gesteigert werden kann, gesünder und entspannter als bisher. Die Entwicklung im hiesigen Schulsystem verläuft jedoch, so Brown, genau in die andere Richtung. Für ihre Denkweise ist wiederum kennzeichnend, dass sie auf der Ebene von Systemen und der Gesellschaft denkt. es ist einfach, finde ich, eine große Herausforderung, aber das, das ist der Anspruch an mich. und ähm … ja und, und der Wunsch auch im Kollegium einfach dass möglichst, im Machbaren bleiben, aber machen//mhm//also es wirklich äh, dem Platz geben, es geht mehr darum dem Platz und Raum zu geben, dafür vielleicht anderes ›fahren lassen‹// mhm//ähm. (I 12, 5)
Gesundheitsförderung ist ihr ein persönliches Anliegen, sie verbindet damit einen Anspruch, der, im Kollegium demokratisch abgesichert, einem gewissen Pragmatismus verpflichtet ist: Sie wollen im Bereich des »Machbaren« bleiben. Damit zeigt sie zugleich implizit an, dass ihre eigentlichen Ziele über das
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Machbare hinaus führen und womöglich in einem utopischen Bereich liegen, nicht so einfach machbar sind. Der Kompromiss liegt darin, »dem Platz und Raum zu geben«. Wozu Platz und Raum geschaffen werden soll, bleibt merkwürdig ausgespart: dem diffus bleibenden Entspannteren? Dem Gesünderen? Platz geben heißt, anderes wegzuschieben oder auszusparen, Raum schaffen bedeutet, ›das nicht Ausgefüllte‹ zu kreieren. Sogleich stellt sich die Frage, zu welchem Zweck das geschehen soll. Leerer Raum motiviert, ihn neu füllen. Leerraum an sich und insbesondere im Kontext von Bildungsinstitutionen ist schwer denkbar: Raum für Meditation und Entspannung, für Wellness und Körperpflege? ja, also ich sehe nicht einfach Gesundheitsförderung in dem Sinn, dass man es so k-, konkret thematisiert mit den Kindern, sondern einfach dass man in verschie-, aus diesen verschiedenen Bereichen, die das wirklich fördert, äh, ähm das angeht als, als, als ganze Schule//mhm//(I 12,5-6)
Für Brown ist Gesundheitsförderung nicht etwas Curriculares, eine Thematisierung spezifischer Inhalte. Sie stellt sich vielmehr ein Projekt vor, etwas das von der »ganzen Schule« angegangen werden müsse und hat dabei nicht einzelne Lektionen oder Aktionen in den einzelnen Klassen im Blick, sondern etwas Gesamtschulisches. Indem dass Gesundheitsförderung eben nichts »konkret« zu Thematisierendes sei, bleibt ihre Beschreibung insgesamt kryptisch. und mir scheint es einfach, du hast vorher noch gesagt das von der Gesellschaft, also inwiefern hat die Schule einen Auftrag in diesem Bereich und inwiefern ist das vielleicht, sind das andere ... und mir scheint es, es gibt so, es gibt doch diesen Spruch ähm »it takes a village to raise a child«//mhm//, ähm mir scheint es, es braucht wirklich von allen Seiten//mhm//ei-, ei-, ein Umdenken. (I 12,6)
Ihr Leitsatz ›it takes a village to raise a child‹ wird häufig als afrikanisches Sprichwort gehandelt und als Bild genommen für eine noch intakte Sozialwelt. Das Motto verdeutlicht, dass sie die innerschulische Perspektive auf bricht und gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Gestaltung einer Lebenswelt proklamiert, in welcher ein Kind ›wohl‹ aufwachsen kann. Dabei wird der ländliche, kleinräumige Kontext des Aufwachsens im Dorf auf städtische Kontexte übertragen. Das Sprichwort veranschaulicht ihre Auffassung, dass es von allen Seiten, nicht nur innerhalb der Schule, eines Umdenkens bedürfte. Sie gibt damit ihrem Anspruch oder ihrer Wunschvorstellung kollektiven Handelns Ausdruck, wie sie auch zugleich ihr Bestreben, gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, zu legitimieren versucht. »Umdenken« bedingt die Einnahme einer neuen Sichtweise und anschließend die Veränderung der Denkgewohnheiten, es geht um einen Lernprozess. Gesundheitsförderung
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steht für sie stellvertretend für ein solches Umdenken und damit für gesellschaftlichen Wandel. Also mir scheint es dort, dort ist wirklich von allen Seiten der Auftrag, also an, an seien es, seien es Clubs oder seien es äh Sportclubs oder seien es ähm, ja irgendwie die Gemeinden, die Stadt//ja//äh, seien es die Schulen, seien es Elternver-, Eltern- äh vereine//ja//dass ei-, ein Umdenken in diese Richtung total nötig ist//mhm (I 12,6)
Gesundheitsförderung ist für sie ein umfassender »Auftrag«, der sich an sämtliche Akteure richtet, welche im Kontakt sind mit Kindern und Jugendlichen. Woher der »Auftrag« stammt, wer ihn erteilt, bleibt unbenannt. Alle sind zum »Umdenken« aufgefordert – womöglich in Richtung von mehr Entspannung. Anschließend folgt ihre Begründung der Notwendigkeit des Umdenkens: um, um, um den Kindern, den Jugendlichen einfach die, eine Chance zu geben, weil, weil, weil unsere Gesellschaft so in ein Rasen hineinkommt und in ein Konsumieren, i-, also das ist einfach die Richtung von, von dem was uns die Wirtschaft quasi aufzwängt//mhm//die, die Wirtschaft, einfach die wirtschaftliche, die wirtschaftlichen Zwänge drängen die gan-, a-, die Leute und die Kinder so in das hinein//jaha//und ähm ... und die Kinder in dem stärken, dass sie dann diesen Zwängen nicht immer so unterliegen, oder auch die Familien, das ist denke ich wirklich ein Auftrag, der sehr umfassend ist. (I 12, 6)
Die Heranwachsenden sollen eine »Chance« bekommen, nicht vom marktwirtschaftlichen System absorbiert zu werden. Gesundheitsförderung versteht Brown als Bremse gegen das »Rasen«, in das unsere Gesellschaft hineinkomme, gegen den von der Wirtschaft aufoktroyierten Zwang zum »Konsumieren«, gegen alle wirtschaftlichen Zwänge. Gesundheitsförderung ist für sie Mittel und Legitimation zugleich, um der Dominanz der ökonomischen Logik der Leistungsgesellschaft etwas entgegenzusetzen. Ihr Ziel ist es, die Kinder darin zu unterstützen, dass sie diesen Zwängen nicht erliegen. Sie entfaltet damit ihre Weltsicht und legt ihre gesellschaftskritische, ideologische Ausrichtung als wirtschafts- und fortschrittskritisch dar. Gesundheitsförderung deutet sie als Teil des antikapitalistischen Widerstands und macht sie zur Keimzelle einer alternativen Gesellschaftsordnung. Gesundheitsförderung verbindet sie mit einer gesellschaftlichen Neuorientierung, mit einem Umdenken weg von Leistungsdruck und Konsumzwang. Thematisch finden sich viele Anschlüsse an Forderungen, die in den Jugendbewegungen der 1980er Jahre (welche in ihre eigene Jugendzeit fielen), geäussert wurden und damals im öffentlichen Diskurs sehr präsent waren.
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Sie ist sich des Umstands bewusst, dass die von ihr angestrebten Veränderungen nicht einfach vom Himmel fallen und auch nicht einfach mit gesundheitsfördernden Maßnahmen innerhalb der Schule erwirkt werden können. Also ich denke die Bereitschaft zum Verändern kommt manchmal dann, wenn irgendwie Druck ist oder, oder äh Not und das ist, also Not, Unwohlsein von Kindern oder Gewaltvorkommen oder ähm//mhm//äh… wenn von der Gesundheitsentwi-, also von der äh… äh, ja wenn es dann wirklich mm zunimmt, dass Kinder dick werden, äh übermäßig, oder nicht einfach ›fest‹ und… ja, einfach die Folgeentwicklungen von der//mhm//unserer Gesellschaft…//mhm.//(I 12,6)
Die aktuelle Zeit erachtet sie als günstig für einen gesellschaftlichen Wandel. Was andere Lehrpersonen als Indikatoren ungesunder individueller Lebensweisen deuten und zum Anlass für Maßnahmen zur Verhaltensänderung nehmen, deutet sie gesellschafts- und wirtschaftskritisch als Symptome eines Systemfehlers. Das »Unwohlsein von Kindern«, »Gewaltvorkommen« oder ›Übergewicht‹ sind in ihrer Deutung Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen, die einen notwendigen Richtungswechsel indizieren. Gesundheitsförderung wird so zum institutionalisierten Mittel, gesellschaftlichen Wandel einzuleiten, um eine Wende voranzutreiben. Die Förderung der Gesundheit bedeutet in ihrem Verständnis die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und Werte in Richtung einer alternativen Ordnung. Bei ihren Ausführungen hat sie eine Kontrastfolie vor Augen, nämlich ein anderes Schulsystem in einem anderen Land; das deutete sich bereits in der Äußerung an, dass das hiesige Schulsystem sich nicht gerade in Richtung von mehr Entspannung entwickle. Ja es liegt an unserem Umfeld, oder ... dort sehe ich (jemanden?) also sehe ich ein bisschen ein Vor-, habe ich ein bisschen ein Vorbild im Kopf, im Moment nur (lacht), es gibt es sicher an vielen Orten, aber ähm, zum Beispiel in, in Südkalifornien, ist diese Entwicklung auch so stark gewesen, also der eingeschränkte Bewegungsraum von den Kindern//mhm//, diese Fehlernährung, ähm und dort haben jetzt aber die Gemeinden, das sind, das sind die Gemeinde gewesen, die haben die Stadtparks neu belebt. (I 12,11)
Bewegungsdefizite der Kinder sind in ihrer Deutung auf gesellschaftliche Umstände zurückzuführen, auf einen eingeschränkten Bewegungsraum. In Kalifornien – dies ein Teil ihrer Kontrastfolie – hätten die Gemeinden dies erkannt und Parks neu gestaltet sowie Angebote für Sport und sonstige Anlässe geschaffen, insbesondere, wie sie weiter ausführt, in Stadtvierteln mit hohem Ausländeranteil. Die Initiative sei von der Gemeinde ausgegangen, vergleichbar mit dem ›Dorf‹ aus dem Sprichwort.
6. Deutungen der Lehrpersonen Die haben äh ziemlich einen großen einfach so Stadtpark und dort haben sie zwei riesen-, riesengroße Spielplätze//mhm//alles mit diesem//I: (Soft-Boden?)//Softboden//ja//und allerlei Geräte, die wirklich ganz gut sind so, wo Bewegung auf aller, auf// ja//jede erdenkliche Art//jaha//möglich ist, Kletterpark und so weiter. Und der ist, der ist immer voll dieser Park//ja//, voller Leute, da ist einfach ein Treffpunkt//jaha//, ist ein neuer Treffpunkt//ja//und das scheint mir, das bringt vieles in Bewegung für die Leute//jaha//für die Familien//jaha//ja, solche Sachen scheinen mir möglich ... oder hier, hier wo wir den Winter haben, da müssten wir ›halt‹ mehr Spielhallen noch kreieren (I 12,12)
Plätze und Räume müssen nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch in der Umgebung, in den Stadtvierteln geschaffen werden. In der Schweiz brauche es aufgrund des langen Winters mehr Angebote an »Spielhallen«, sprich Freiräume, die genutzt und belebt werden, wo Treffpunkte entstehen können. Sie sieht nicht nur bei der Schaffung von sportlichen Angeboten einen Handlungsbedarf; auch im sozialen Bereich erhofft sie sich Veränderungen, die mehr soziale Kontakte ermöglichen und so zu mehr Bewegung im Freien führen. Die von ihr skizzierten Maßnahmen sind Elemente einer Stadtpolitik und -entwicklung, die sie als angemessene Reaktion auf die bei Kindern diagnostizierten Probleme wie Übergewicht und motorische Schwierigkeiten betrachtet. Gegen Ende des Gesprächs nimmt die Interviewerin nochmals Bezug auf die von Brown angedeutete Vision einer veränderten Gesellschaft. Sie stellt die Frage, ob sie dieses Ziel innerhalb der Schule zu verwirklichen versuche und damit, was sie so nicht explizit formulierte, die Schule zu einer Agentur gesellschaftlichen Wandels machen möchte. Ja, es ist ein, es ist das, was ich glaube und dort kann ich einen Beitrag leisten//mhm, mhm//, dort habe ich ein gewisses Wirkungs-, habe ich ein Wirkungsfeld//mhm//wo, wo ich denke das ist machbar und sinnvoll//mhm//, ein bisschen wie ein Tropfen auf den heißen Stein, aber (lacht) aber//ja, also ja//doch immerhin//ja//und ähm ... (I 12, 11)
Brown gibt sich als gesellschafts- und wirtschaftskritisch zu erkennen und sieht ihren Beitrag darin, innerhalb der Schule ihren Beitrag gegen den zu hohen Druck einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft zu leisten – zum Wohl des Kindes. Dies tut sie mit einer großen inneren Überzeugung; sie glaubt daran, dass dies die gute Richtung ist, in die die gesellschaftliche Entwicklung gehen muss. Die Schule ist ihr Wirkungsfeld, in welchem sie durch ihre Arbeit als Lehrperson und als Koordinatorin für Gesundheitsförderung Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen zu bewirken versucht. Ihre Arbeit in der Schule erachtet sie jedoch explizit als »einen Tropfen auf den
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heißen Stein« und damit als etwas, das angesichts der Hitze verdampft, nicht viel nützt, aber dennoch besser ist als nichts. ja ich denke das haben, das haben, das ist im Kollegium schon bei vielen so getragen// ja//oder so gesehen, ähm in der Gesellschaft… dort, also ich bewege mich ›halt‹ nachher nicht politisch noch, oder irgendwie jetzt, also was müsste man äh, was man städtisch machen könnte oder in gewissen ... //mhm//scheint mir wäre viel möglich (lacht) (I 12, 11)
Wichtig ist ihr, sich nicht als Einzelkämpferin zu verstehen, sondern sich in den Dienst des Kollegiums zu stellen und davon auszugehen, dass es sich um eine gesellschaftlich erwünschte Veränderung handelt. Ihrer Überzeugung nach braucht es auch oder vor allem außerhalb der Schule Veränderungen – beispielsweise im Bereich der Stadtentwicklung. Dazu beizutragen fühlt sie sich allerdings nicht prädestiniert, weil sie sich nicht als politisch tätigen Menschen sieht.
Innerberufliche Maßnahmen: Mehr Zusammenarbeit, mehr Öffnung, mehr Freiräume und Platz Browns Deutung von Sinn und Zweck der Gesundheitsförderung wirft die Frage auf, wie innerhalb einer Schule die skizzierte Schaffung von Freiräumen erreicht werden kann, wie eine Schule zum Wohl des Kindes und damit in ihren Augen zu mehr Entspannung beitragen kann. Ihre Schule nimmt an Programmen, wie ›Bewegte Schule‹ teil, möglicherweise ist sie als Koordinatorin für Gesundheitsförderung an ihrer Schule sogar die hierfür verantwortliche Ansprechperson; dennoch haben diese Programme für sie persönlich wenig Bedeutung, sie erwähnt sie nur beiläufig. Aufgrund ihres Verständnisses von Gesundheitsförderung sieht sie einen Ansatzpunkt innerhalb der Schule darin, fokussierter zu arbeiten; die Lehrpersonen sollten nicht alles machen, was gefordert ist, sondern dem Druck der Schule standzuhalten versuchen und stattdessen Freiräume schaffen. Gesundheitsförderung soll nicht ein zusätzliches Thema sein, sondern ermöglichen, die Inhalte auf das Relevante zu reduzieren. Zumal im Lehrplan schon alles da sei, wie sie ausführt, es bedürfe keiner zusätzlichen Inhalte. Damit richtet sie sich implizit gegen die verschiedenen Gesundheitsförderungsprogramme und -aktionen, die an Schulen herangetragen werden, und gegen das Bestreben, ein weiteres Unterrichtsfach oder transversales Thema zu schaffen. Entscheidend ist für sie vielmehr Folgendes: ähm, dass man es selektiver auf-, aufgleist und, und besser koordiniert diese Stufen// mhm//und für das, das vorher, das muss man recht viel ›halt‹ nachher Bereitschaft haben zum Zusammenarbeiten und dort ist glaube ich für mich viel ähm ... die große
6. Deutungen der Lehrpersonen Bremse noch bei den Lehrkräften ... weil mich das einfach in der Schweiz noch so sehr… ähm, das ist einfach ein Prozess//mhm//, das ist einfach noch nicht//ja//, an den einen Orten weit und an anderen Orten noch nirgends//mhm//dieses Zusammenarbeiten und die Schulhaustüren öffnen, die Klassenzimmertüren öffnen//mhm//und sich hereinschauen lassen ... ähm da sind viele, haben die Offenheit noch, noch gar nicht//ja// ... und das braucht, das ist, das ist natürlich der ähm. die Grundlage, die es braucht, denke ich, um solche Sachen überhaupt nachher anzugehen//mhm//(I 12,7)
Brown strebt innerhalb des Kollegiums eine Verstärkung der Zusammenarbeit über die Stufen hinweg an – im Sinne einer Öffnung gegen innen und des Setzens gemeinsamer Schwerpunkte. Dies würde auch die Festlegung gemeinsamer Arbeitszeiten zugunsten verstärkter Zusammenarbeit mit sich bringen, wie sie anschließend festhält. Hier sieht sie sich jedoch mit Widerständen von Seiten der KollegInnen konfrontiert, die eine solche Entwicklung als Autonomieverlust deuten. Indem Brown die Verhältnisse als spezifisch schweizerisch charakterisiert, individualisiert sie den aus ihrer Sicht hinderlichen Widerstand nicht, sondern nimmt ihn auch als systembedingt wahr. Ihre Strategie besteht darin, einen Prozess anzustoßen, der nicht von oben verordnet ist – sie möchte die Leute dafür gewinnen. Nach ihr gilt es, das richtige Maß an Veränderung zu finden, beispielsweise zwischen Einbindung und dem Aufrechterhalten von Autonomie in der Arbeitszeitgestaltung. Eine veränderte und verstärkte kollegiale Zusammenarbeit oder Transparenz – Aspekte, die auch im Zusammenhang mit der Forderung nach Professionalisierung wichtig sind – sieht sie als Voraussetzung, um »solche Sachen« angehen, Gesundheitsförderung betreiben zu können. Auf die Frage, ob Partizipation, wie sie in der Programmatik der ›Netzwerkschulen‹ propagiert werde, auch Bestandteil ihrer Vorstellung von Gesundheitsförderung sei, meint sie mit Bestimmtheit: Absolut, ja, also die Mitbestimmung vom Kind//mhm//ähm ... äh scheint mir ein wichtiger Anteil, also dass äh, sie können sich nachher als-, mehr identifizieren mit der ... //mhm// mit der eigenen Schule oder Klasse oder so wenn sie dort äh mits-, mitreden. (I 12,8)
Partizipation erwähnt sie nicht von sich aus als bedeutsam, sie macht auch keinen expliziten Bezug zur Gesundheitsförderung. Für sie hat Mitbestimmung die Funktion der Steigerung der Identifikation mit der Institution. Sie argumentiert hier nicht im Sinne des Bildungsziels, Mündigkeit anzustreben oder politische Bildungsprozesse zu initiieren, sondern Mitgestaltung und Mitsprache im Unterricht sind ihr wichtig: das scheint mir so ein wichtiger Teil von den Kindern, also nicht nur das mitreden sondern ihren Beitrag, das was sie selber machen können, äh ... einen Weg zusammen fin-
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Im Namen der Gesundheit den in schwierigen Situationen, Vorschläge machen//mhm//ähm ... Wünsche für Feste oder was auch immer einbringen ähm… ja, wenn sie, dann haben sie auch viel mehr das Gefühl von »wir haben hier Platz«//mhm//, das ist für uns, diese Schule ist, gehört uns// mhm//(ja?) oder das haben wir mit-, mitgestaltet//ja//das scheint mir ein wichtiger Teil. (I 12,8)
Angesprochen auf Partizipation auf Schülerebene spricht sie dieser einen hohen Stellenwert zu. Implizit spielt Partizipation auch bereits in ihren vorherigen Äußerungen eine Rolle: Wenn sie von mehr Freiräumen und Wahlmöglichkeiten spricht, wird unausgesprochen die Möglichkeit zu mehr Partizipation geschaffen. Partizipation beschränkt sich bei ihr nicht auf »mitreden«, sondern umfasst auch eigene Beiträge und ein Mitgestalten der SchülerInnen. Sie sollen, so ihre Formulierung, das Gefühl bekommen, die Schule gehöre ihnen – auch wenn dem de facto nicht so ist. Mitbestimmung ist nach ihrer Darstellung in verschiedenen Bereichen möglich, von der Gestaltung von Festen bis zu Problemlösungen in schwierigen Situationen. Wichtig ist Brown, dass den Kindern nichts »vorgegaukelt« werde. Die Grenzen der Möglichkeiten seien klar vorzugeben und bei konkreten Vorhaben auch vorzusondieren. Trotz der klaren Grenzen, die unbedingt offenzulegen seien, erachtet sie Partizipation als wichtig; sie trage zu mehr »Wärme und zum Lebendigen« der Schule bei. Partizipation stellt für sie keine Bedrohung dar. Trotz der klaren Begrenztheit, lässt sie nicht davon ab, das Mögliche zu versuchen – besser einen Tropfen auf den heißen Stein als gar keinen. Brown setzt vor allem und wiederholt auf das Schaffen von Wahlmöglichkeiten, auf projektartigen Unterricht. dass man das Gestalten, Sportunterricht zum Beispiel//klassenübergreifend//öffnet, ja in diese Richtung//mhm//und den Kindern mehr freie Wahl lässt//mhm//ähm, äh, mehr Möglichkeiten bietet und mehr freie äh, äh Wahl lässt oder in gewissen, was man anbietet ... und das dann mehr fast ähm projektmäßig unterrichtet ... wird, in diesen Fächern, (I 12,8)
Bestehende Strukturen aufzuweichen, erachtet sie in jenen Fächern als möglich, die nicht selektionswirksam sind und zugleich bei den SchülerInnen zu den beliebtesten Fächern gehören. Hier zeigt sich exemplarisch, dass sie nach moderaten, ›machbaren‹ Lösungen sucht. So spricht sie von »fast« projektmäßigem Unterricht: Das kommt der Realität von sogenannten Projekten in den Schulen in aller Regel näher, da es sich selten um ›echte‹ Projekte im Sinne z.B. von Dewey handelt, die idealtypisch zukunftsoffen sein sollten und gemeinsam geplant und durchgeführt werden (vgl. Dewey 2000). Dass sie Projektunterricht erwähnt, erstaunt nicht, handelt es sich doch um eine in den 1970er Jahren in reformpädagogischen Kreisen formulierte Idee: Unterricht
6. Deutungen der Lehrpersonen
soll in Nähe zum täglichen Leben stehen und ausgehend von einem konkreten Problem interdisziplinäres Denken, Selbstständigkeit und Teamarbeit fördern. Diese Form von didaktischem Setting ist als Reaktion auf den damals sehr eng geleiteten und weit verbreiteten Frontalunterricht zu verstehen. Im Verlauf des Gesprächs kommt auch Brown auf die Gesundheit der Lehrpersonen zu sprechen. Diese steht, wie bei Barandun, relativ hoch oben auf der Prioritätenliste der gesundheitsfördernden Agenda. Trotz der im Kollegium gemeinsam verfolgten Absicht, Veränderungen in Richtung von mehr Entspannung herbeizuführen, gilt es die durch zusätzliche Angebote verursachte Mehrbelastung im Auge zu behalten. Was ich einfach in diesem Ganzen drin sehe, ist immer wieder die Gesundheit von den Lehrkräften, eben das//mhm//also das ist, finde ich dort sind wir in einem ziemlichen Spannungsfeld//mhm//wo, wo, wo wir einfach müssen Sorge tragen//mhm//zueinander also gerade als Kollegium//jaha, ja, es macht dann keinen Sinn, wenn man über die Grenzen hinweg (?)//ja, ja, ja und gegenseitig auch ge-, äh Kollegium, Schulleitung und umgekehrt, also so das ›Sorge tragen zueinander‹ ist irgendwie mir in letzter Zeit wichtig geworden (I 12,10)
Lehrpersonen, so auch ihre Einschätzung, stehen unter Druck und befinden sich in einem von ihr nicht weiter spezifizierten »Spannungsfeld«. »Sorge zu tragen« zu den Lehrkräften, untereinander Rücksicht zu nehmen, erachtet sie als wichtig. Die im Kollegium wahrgenommenen Spannungen deutet sie als Teil eines möglichen internen Professionalisierungsprozesses, den sie nicht, wie dies Barandun explizit und vehement macht, in Zusammenhang stellt zu Forderungen auf berufs- oder schulpolitischer Ebene. Konkret verfolgt sie längerfristig das pragmatische Ziel der Förderung der Zusammenarbeit und der verstärkten Öffnung innerhalb des Kollegiums. Sie versucht, innerhalb des Kollegiums und nicht auf berufs- oder schulpolitischer Ebene zu agieren.
Resümee: Gesellschaftskritische Anwältin des Kindswohls und Initiatorin von Professionalisierungsbestrebungen Brown tritt in ihrer Funktion als Lehrperson und auch in ihrem Zusatzamt als Koordinatorin für Gesundheitsförderung anwaltschaftlich für das Wohl des Kindes ein. Dabei ortet sie Problematiken, die sie in den Zusammenhang eines sehr weit gefassten Gesundheitsbegriffs stellt. Sie setzt nicht beim individuellen Verhalten an, sondern wirft gesellschaftliche Fragen auf. Sie ist bestrebt, gemeinsam mit dem Kollegium mehr Entspannung, d.h. weniger Druck, in der Schule zu realisieren. Gesundheitsförderung versteht sie somit nicht als etwas Zusätzliches, etwas, das noch dazu kommt, sondern im Gegenteil als weniger: weniger Stoff, weniger Druck, weniger Spannung.
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Brown gibt sich explizit zu erkennen als Lehrerin, die zwar gesellschaftlichen Wandel anstrebt, ohne jedoch im politischen Feld zu agieren. So stellt sie auch beim Thema Lehrergesundheit keinerlei berufspolitischen Forderungen auf. Vielmehr ist sie bestrebt, intern im Kollegium die Zusammenarbeit zu stärken und damit implizit Professionalisierungsprozesse voranzutreiben. Browns Visionen setzen einen gesellschaftlichen Wertewandel voraus: Ihren Beitrag dazu leistet sie innerhalb der Schule, unter anderem in der Funktion als Koordinatorin für Gesundheitsförderung.
6.5.3 S chlussbetrachtungen zum Typus 4: Struktureller Ansatz – Gesundheitsförderung als Legitimation gesellschafts-, schul- und berufspolitischen Wandels Bei den Deutungen von Gesundheitsförderung der Lehrpersonen dieses Typus liegt der Fokus auf der Problemwahrnehmung auf einer gesellschaftlich-strukturellen Ebene. Sie deuten Gesundheitsprobleme als gesellschaftlich bedingt und sind bestrebt, qua Amt als KoordinatorInnen für Gesundheitsförderung oder auch einfach als Lehrpersonen eine Veränderung auf struktureller Ebene herbeizuführen – sei dies innerhalb der Schule, der Gemeinde oder der Gesellschaft. Sie legitimieren ihren Veränderungsanspruch mit der beabsichtigten Steigerung des Wohls des Kindes; in dessen Namen zielen sie auf eine andere Gestaltung der Lebenswelt und damit auch der Schule. Im Unterschied zu den anderen Typen erfolgen gesundheitsfördernde Interventionen bei diesen Lehrpersonen kaum je in direktem Kontakt mit den SchülerInnen und nicht in Form von auf sie gerichteten Interventionen. Den SchülerInnen gegenüber nehmen diese Lehrpersonen vielmehr eine anwaltschaftliche Haltung ein und setzen sich ein für ihr Wohl – oder was sie dafür halten; sie versuchen, Spielräume zu vergrössern und Auseinandersetzungen zu ermöglichen. Die Bestrebungen der Lehrpersonen dieses Typus sind explizit darauf ausgerichtet, wo immer möglich Freiräume für die Schulkinder zu schaffen, damit sie sich autonom(er) bewegen können und mehr Spielräume erhalten. Den SchülerInnen soll »Platz« eingeräumt werden, wo sie sich individuell entfalten, entwickeln und ihre Umwelt mitgestalten können. Das Handeln der Lehrpersonen ist aus professionalisierungstheoretischer Perspektive insofern als ›anwaltschaftliches‹ zu verstehen, als sie die Bedürfnisse der SchülerInnen stellvertretend deuten und bemüht sind, ihre Sichtweise zu verstehen und ernst zu nehmen (vgl. Oevermann 1996). Fehlen die Expertise und das Bemühen, die Perspektive der SchülerInnen zu verstehen, verkehrt sich Anwaltschaftlichkeit jedoch in Paternalismus. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn anstelle der tatsächlichen Bedürfnisse der Schulkinder Kindheitsbilder der Lehrpersonen stehen.
6. Deutungen der Lehrpersonen
Gesundheitsförderung, verbunden mit einer spezifischen pädagogischen Auffassung, zielt für die Lehrpersonen dieses Typus auf eine alternative Gestaltung der Bildungsinstitutionen wie auch allgemein der Gesellschaft, der Lebenswelten. Bildung verstehen sie im Sinne von Habermas als Prozess, der umschrieben werden kann mit »unter Obhut vorgeschossener Mündigkeit mündig werden« (Habermas 1961 zit.n. Leser 2011: 45). Die Lehrpersonen dieses Typus verfügen über ein spezifisches Lehr-Lernverständnis und damit verbunden über eine spezifische Vorstellung von Autonomie und deren Förderung.37 Bildung erfolgt für sie in einer Anbindung an aufklärerische, politische Ziele. Gegenüber der Selektionsfunktion, die sie in einem immanenten Widerspruch zum Bildungsauftrag sehen, sind sie kritisch und fordern schulreformerische Veränderungen. In ihren Ausführungen deuten sie implizit immer wieder auf ein Vakuum hin, auf Professionalisierungsbedarf: Sie fordern einen verstärkten pädagogischen Diskurs. Typisch für diese Lehrpersonen ist, dass sie über das System hinausblicken, in dem sie arbeiten und Vergleiche anstellen, sei es zu Schulsystemen anderer Länder, zwischen unterschiedlichen historischen Epochen oder Schulstufen. Aufgrund ihrer Biografie haben sie je eine Außensicht gewonnen, welche sie eine Systemperspektive einnehmen lässt. Ihre Systemvergleiche stellen wirksame Kontrastfolien dar für die Beurteilung der aktuellen Bedingungen. Die Lehrergesundheit ist für die Lehrpersonen dieses Typus ein großes Thema, welches gegenüber der auf Kinder ausgerichteten Gesundheitsförderung Priorität erhält. Zum Thema werden auch hier die strukturellen und politischen Probleme des Schulsystems sowie die pädagogische Kritik daran. Die Hauptarbeit im Bereich Gesundheitsförderung leisten sie denn auch innerhalb des Kollegiums, indem sie pädagogische Konzepte zur Diskussion stellen, Impulse vermitteln, die Zusammenarbeit neu zu gestalten, und Vernetzungsarbeit mit anderen schulnahen Berufsleuten leisten. Die hier rekonstruierten Deutungen von Gesundheitsförderung stehen in einem Passungsverhältnis zu Ergebnissen einer Studie von Dür (2008). In seiner Untersuchung gesundheitsfördernder Schulen kam er zum Schluss, dass die institutionellen Rahmenbedingungen hinderlich für die Umsetzung von auf Ermächtigung zielenden Ansätzen seien (vgl. Kap. 5). Es bedürfe, so die Forderung Dürs, der Bedingungen, die den Handelnden Optionen und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen (Dür 2008: 144). Maßnahmen des Empowerments im Schulkontext müssten gemäß Dür ansetzen bei der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit zwischen den LehrerInnen an einer Schule und bei der Teamentwicklung als Basis für die Verbesserung der pä37 | In der Ausleuchtung dieser Antinomie und der daraus ableitbaren Konsequenzen für die Ausgestaltung des pädagogischen Arbeitsbündnisses liegt gemäß Oevermann unter anderem Professionalisierungsbedarf (vgl. Oevermann 2008: 64).
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dagogisch-didaktischen Qualität einer Schule. Bezogen auf die SchülerInnen bedarf es nach Dür der Einführung ›ermächtigender‹ Unterrichtsmethoden, wie beispielsweise offener, dynamischer Lernformen, eigenverantwortlichen Planens und Arbeitens, lernzielorientierter Beurteilung. Die Förderung eines partnerschaftlichen Schulklimas mittels Verhaltensvereinbarungen, die Gestaltung von Schulereignissen und Schulcommunity-Veranstaltungen erachtet er ebenfalls als bedeutsame Rahmenbedingungen. Vergleichbar mit den Deutungen der beiden Lehrpersonen kommt auch Dür zum Fazit, dass es darum geht, im schulischen Vermittlungsprozess Freiräume zu schaffen, damit Lernen im Verständnis konstruktivistischer Lerntheorie stattfinden kann (Dür 2008: 228). In konkreten gesundheitsfördernden Projekten werde der Kernprozess des Lernens jedoch selten miteinbezogen; stattdessen entstehen, so Dür, »eine Vielzahl von gesunden Schulbuffets, Gesundheitstagen und räumlichen Veränderungen«, oder es werden Programme zur Verhaltensprävention entwickelt und umgesetzt (Dür 2008: 45ff.). Eine vergleichbare Kritik bringen Rosenbrock und Kümpers (2006) an: Eine langfristige Wirkung könne nur dann erzielt werden, wenn die Schule selbst zum Gegenstand von Veränderung werde und sich Schulstrukturen veränderten (ebd.). Die Schule müsse selbst zum Projekt werden, was einer pädagogischen Neuausrichtung bedarf. Ein solcher Partizipationsansatz – verstanden als Teil von Gesundheitsförderung – stoße innerhalb der Institution Schule jedoch an Grenzen. Vielfach verflache sich die Absicht in sogenannte Pseudo-Partizipation. Es stellt sich im Anschluss an die Überlegungen von Rosenbrock und Kümpers grundsätzlich die Frage, ob mit Empowerment nicht zwangsläufig ein Zwang einhergeht und dieses Konzept damit im Widerspruch zur zu befördernden Autonomie der Subjekte steht.
7. Diskussion und Ausblick
Wie Lehrpersonen den Auftrag deuten, den sie im Rahmen des Programms »Auf dem Weg zu gesundheitsfördernden Schulen« erteilt bekommen, ist die Frage, die am Anfang dieser Untersuchung aufgeworfen wurde. Was bedeutet es, wenn Lehrpersonen sich für die Förderung von Gesundheit engagieren? Was genau machen sie, und wie legitimieren sie ihr Tun? Antworten kommen in einer Typologie zum Ausdruck, die aus rekonstruierten Deutungen von Lehrpersonen gebildet wurde. Es entstand ein Bild disparater Deutungen. Auch in der Hoffnung, dieser Disparatheit einen Rahmen geben zu können, richtete sich ein zweiter Fokus dieser Untersuchung auf die Rekonstruktion der Logik von Gesundheitsförderung, diesmal auf der konzeptionellen, programmatischen Ebene. Was Gesundheitsförderung ist bzw. sein soll, wurde auf der Basis der Analyse der bis heute als Grundlagendokument gehandelten Ottawa-Charta der WHO zu rekonstruieren versucht. Bis zum Schluss blieb diffus und nicht eingrenzbar, was Gesundheit, um die es auf unterschiedlichen Ebenen geht, genau ist. Entsprechend können die in der konzeptionellen Grundlegung der Gesundheitsförderung aufscheinenden Widersprüche wie auch die Disparatheit der Deutungen von Lehrpersonen nicht überraschen. Nach einer Zusammenfassung und Diskussion der Befunde bilden im Ausblick weiterführende Fragen und aus der Untersuchung entstandene Thesen, insbesondere in Bezug auf die Rolle der Soziologie, den Abschluss.
7.1 D ie D eutungen der L ehrpersonen vor dem H intergrund des G esundheits - und P rofessionalisierungsdiskurses Die befragten Lehrpersonen beziehen sich – mit einer Ausnahme – nicht explizit auf einen Gesundheitsförderungsdiskurs, sondern gehen vielmehr von einem Alltagsverständnis von Gesundheit und Gesundheitsförderung aus. Es finden sich in ihren Ausführungen denn auch keine theoretischen Bezüge, selbst die Ottawa-Charta findet keine Erwähnung, begriffliche Grundlegungen fehlen. Diese vermeintliche Klarheit, wonach Gesundheit als eine »starke
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Konzeption« (Brubaker, Cooper 2007) und als etwas nicht zu Hinterfragendes verstanden wird, verstellt den Blick auf eine Reflexion oder Analyse des eigenen Tuns. Dies geschieht im Unterschied beispielsweise zu SchulärztInnen, die zwar auch über »starke Konzeptionen« (ebd.) von Gesundheit verfügen, befragt zu ihrem beruflichen Auftrag der Förderung der Gesundheit jedoch mit großer Selbstverständlichkeit und explizit auf verschiedene Diskurse Bezug nehmen – sei es auf den traditionellen, bevölkerungsmedizinischen, auf jenen der neueren Gesundheitsförderung oder auf einen pädagogisch-psychiatrischberaterischen Diskurs (vgl. Streckeisen 2014). In der fehlenden Verortung innerhalb von Diskursen dürfte sich ein historisch erklärbarer Professionalisierungsbedarf von Lehrpersonen manifestieren. Die in der Schweiz erst an der Wende zum 21. Jahrhundert erfolgte Tertiarisierung der LehrerInnenausbildung steht einer für die MedizinerInnen seit dem 19. Jahrhundert selbstverständlichen wissenschaftlichen Sozialisation gegenüber (Streckeisen 2014). Hierin mag ein Grund liegen, weshalb ein Bezug zu wissenschaftlich gesichertem Wissen über Gesundheit und über ihre Förderung von den befragten Lehrpersonen kaum gesucht wird; wenn überhaupt beziehen sie sich allenfalls in sehr assoziativer Weise und ohne kritische Distanznahme auf aktuell prominente neurowissenschaftliche Befunde und versuchen, ihre Maßnahmen damit zu begründen.1 Dass die Lehrpersonen keinen diskursiven Bezug zu Gesundheitsförderung suchen, steht möglicherweise auch in einem Zusammenhang mit der Tatsache, dass Gesundheitsförderung an Schulen ein von oben verordneter Auftrag ist, der in Lehrplänen, Weiterbildungen und konkreten Programmen verschiedenster Anbieter an die Schulen herangetragen wird. Zwar suggeriert die vom Schweizerischen Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen den Schulen verliehene Plakette mit der Aufschrift »Wir machen uns auf den Weg zu einer gesundheitsfördernden Schule«, dass es sich dabei um eine autonome Entscheidung handelt und von der Einzelschule ein zukunftsoffener Weg eingeschlagen wird. In Wirklichkeit ist dieser Weg jedoch vorgezeichnet, die Schulen haben eine von oben verordnete Programmatik zu erfüllen. Die Legitimation durch ein Dokument einer supranationalen Gesundheitsorganisation, deren Grundlage nicht in erster Linie wissenschaftliche Befunde, sondern eben gesundheitspolitische Ziele sind, wird offenbar von Bildungsfachpersonen nicht infrage gestellt. Jedenfalls fanden sich in den Gesprächen mit den Lehrpersonen keine Anzeichen dafür. In den Deutungen des Gesundheitsför1 | Hier stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob im Bereich der Gesundheitsförderung wissenschaftliche Diskurse die Basis darstellen, oder ob es vielmehr um Verfahren, Anleitungen und Handhabungen geht, die nicht auf wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis basieren. Auf diese Frage, die weiter zu untersuchen wäre, wird im abschließenden Ausblick angespielt.
7. Diskussion und Ausblick
derungsauftrags durch die Lehrpersonen sind vielmehr implizite Verweise auf unterschiedliche persönliche Werthaltungen gegenüber der Gesellschaft und sozialem Wandel allgemein enthalten. So werden in der Rekonstruktion der Deutung des Auftrags der Gesundheitsförderungen persönliche Affinitäten zu Sport und Bewegung oder allgemein Normen der Lebensführung wie auch Berufsauffassungen manifest.
7.1.1 Die vier Deutungstypen von Gesundheitsförderung im Verhältnis zu unterschiedlichen Gesundheits- und Professionsverständnissen Der Zusammenhang zwischen den rekonstruierten Gesundheitsverständnissen und unterschiedlichen Berufs- oder Professionsverständnissen soll nachfolgend – unter Bezugnahme auf eine auf schweizerische Verhältnisse ausgerichtete Typologie von Berufsverständnissen – diskutiert werden. Bucher und Nicolet (2003: 95, 109) haben in ihrer Untersuchung »Leitbild Lehrberuf« die von Terhart (2002: 94-103) formulierte Unterscheidung zwischen einem idealistischen, einem technokratischen und einem pragmatisch-realistischen Berufsverständnis aufgegriffen und weiterentwickelt.2 Eine neuere, auf den Kanton Bern bezogene Studie (Gasser, Bühler, Glaser 2011) mit Fokus auf unterschiedliche Reflexionsverständnisse ergab im Anschluss an die erwähnten Untersuchungen und in weitgehender Übereinstimmung drei unterschiedliche Ausprägungen: Die Lehrperson als reflexiv-professionalisierte Praktikerin, als soziotechnokratische Perfektionistin und als charismatische Meisterin (Gasser, Bühler, Suter 2014). Inwiefern diese Berufsverständnisse, die implizit in den Interviews zu Gesundheitsförderung zu finden sind, mit unterschiedlichen Deutungen von
2 | Die Typen von Bucher und Nicolet (2003) sind folgendermaßen charakterisiert: 1a) »Charismatisches Lehrerbild«: Die Lehrperson wird als »KünstlerIn« verstanden, deren Persönlichkeit im Zentrum steht und deren Erfahrung und persönliches Charisma Erfolg garantiert. 1b) »Demokratisches Lehrerbild«: Beim demokratischen Lehrerbild versteht sich die Lehrperson als »erste(r) BürgerIn«, welche Verantwortung für die »res publica« übernimmt. Auch die diesem Typus Zugeordneten stellen ihre Intuition und Persönlichkeit in den Mittelpunkt ihres beruflichen Handelns. 2) »Technokratisches Lehrerbild«: Im Zentrum dieses Typus hingegen steht die Lehrperson als »IngenieurIn«, als AnwenderIn von Theorien empirisch basierter Unterrichtswissenschaft im Zentrum. Die Funktionalität der Theorien muss sich im Unterricht bewähren. 3) »Pragmatisches Lehrerbild«: Dieser Typus schließlich versteht sich als »ProjektgestalterIn«, der/die Verantwortung für Schulqualität übernimmt und auf der Basis von Fach- und Innovationskompetenz unterrichtet.
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Gesundheit und Gesundheitsförderung korrespondieren, wird nachfolgend dargestellt. Beim Typus 1 liegt der in einem arbeitspsychologischen Sinn gedeuteten Gesundheitsförderung ein strukturfunktionalistisches Verständnis von Gesundheit zugrunde: Gesundheit dient dem Systemerhalt und ist Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft; innerhalb der Schule ist sie Voraussetzung für erfolgreiches Lernen. Ausgerichtet auf Leistungssteigerung bedarf es eines permanenten adäquaten Gesundheitsverhaltens, einer dauernden Aktivierung und auch Disziplinierung der SchülerInnen. Gesundheit wird hierbei in Verbindung mit einer Leistungsethik gedacht, sie wird zum normativen Ausdruck eines gelungenen Lebens; die Norm, im Sinne eines ständigen Tätigseins, gilt es permanent zu reproduzieren (vgl. Kap. 6.2). Das Professionsverständnis der Lehrpersonen dieses Typus ist entsprechend der Leistungsorientierung geprägt durch ein tendenziell technokratisches Unterrichtsverständnis. Im Vordergrund stehen die rationelle, effektive Planung und die störungsfreie Durchführung zielorientierten Unterrichts zur Realisierung bestmöglichster Schulleistungen. Handlungsleitend ist, was funktioniert, »what works« (vgl. Wild-Naef 1999 zit.n. Oelkers 2000: 1) – ganz im Sinne einer strukturfunktionalistischen Sicht- und Deutungsweise. Die durchaus nicht unkritisch wahrgenommenen Nebenwirkungen von Selektion werden pragmatisch in Kauf genommen und als gesellschaftliche Notwendigkeit akzeptiert. Dasselbe gilt für die mit Gesundheitsförderung einhergehenden disziplinierenden Effekte. Beim Typus 2 steht die subjektbezogene Vermittlung von Normen der Lebensführung an Schulkinder und deren Eltern im Zentrum. Gesundheit ist beim paternalistisch-kompensatorischen Ansatz eine Frage der richtigen Lebensführung und stellt eine normative Anforderung dar: Zum Gesundsein braucht es eine entsprechende Haltung und den Erwerb dazu erforderlicher Lebenskompetenzen. Wie bereits beim Typus 1 bedarf Gesundheit einer permanenten Aktivierung; der Ansatz steht der protestantischen Leistungsethik nahe – nur wer ständig an sich arbeitet und sich den Normen entsprechend verhält, kann ein gesundes, gutes Leben führen. Gesundheit, als ein Wert an sich, ist eine handlungsleitende Norm, welche andauerndes der Gesundheit förderliches Verhalten vorschreibt (vgl. Kap 6.3). Das Berufsverständnis hinter dieser pädagogischen Begründung von Gesundheitsförderung kommt bei diesem Typus jenem des charismatischen Meisters, der charismatischen Meisterin nahe. Der Kern desselben liegt darin, die ›eigene Botschaft‹ an die Lernenden zu bringen. Ihre Maßnahmen und Ziele erachten die Lehrpersonen dieses Typus nicht als begründungsbedürftig – sie entstehen intuitiv ›aus dem Bauch heraus‹. Damit einher geht ein Lehrund Lernverständnis des »Imitationslernens«, die Lehrkräfte stehen als ganze
7. Diskussion und Ausblick
Person mit ihren Normen und Werthaltungen vorbildhaft im Zentrum des Geschehens (vgl. Stienen, Bühler, Gasser, Tamcan 2011: 3ff.; Forneck et al. 2009). Lehrpersonen des Typus 3 verstehen Gesundheitsförderung im Sinne von Ermächtigung als Teil des Bildungsauftrags. Ziel ihrer pädagogischen Bestrebungen ist die Autonomieentwicklung. Das zeigt sich auch im Bereich Gesundheit, indem sie die SchülerInnen mittels Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten und dem Ermöglichen von Erfahrungen zu selbstbestimmtem Handeln befähigen möchten. Gesundheit wird bei ihnen mit Subjektivität und individuellem Wohlbefinden gleichgesetzt und zugleich in Beziehung gesetzt zum »Tätigen-in-der-Welt-Sein«, wie dies Canghuilhelm der subjektiven Gesundheitsdefinition von Gadamer beifügte (vgl. Kap. 3.1.2). Diese Fähigkeit schreiben die Lehrpersonen jedoch nicht allein dem individuellen Vermögen zu, sondern erachten sie als von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig (vgl. Kap. 6.4). Das Lehrerbild dieses Typus basiert weitgehend auf einem demokratischen Verständnis. Sie übernehmen in ihrer Rolle als Lehrperson Verantwortung für die Gesellschaft; das gilt insbesondere für ihre Bestrebung, angesichts sozial ungleich verteilter Chancen einen Ausgleich zu schaffen – allgemein und auch in Bezug auf Fragen der Gesundheit. Im Berufsverständnis sind reflexiv-professionelle Anteile enthalten: Zum einen benennen die Lehrpersonen teilweise dem pädagogischen Handeln immanente Paradoxien; zum anderen sehen sie innerhalb von Gesundheitsförderung die Möglichkeit, kritisches Denken zu fördern und die SchülerInnen mittels Bildungsprozessen zu ermächtigen, ihr Leben zu gestalten. Die Lehrpersonen des Typus 4 mit einer politisch-strukturellen Deutung von Gesundheitsförderung beziehen ihren Auftrag auf gesellschaftliche und schulsystemische Fragen. In ihrem Verständnis erscheint Gesundheit am deutlichsten als ein kollektiv-öffentliches Gut und ist nicht ausschließlich am Individuum festgemacht; dementsprechend richten sich ihre Bestrebungen im Bereich Gesundheitsförderung auf die Veränderung der Rahmenbedingungen. Ihr Ziel wäre es, die Lebenswelt und somit auch die Schule so zu gestalten, dass möglichst viele Freiräume entstehen und schädigende Einflüsse ferngehalten werden können. Sie verstehen sich als politisch denkende oder gesellschaftlich aktive Lehrpersonen mit einem demokratischen Verständnis (vgl. Streckeisen et al. 2009). Mit dem expliziten Benennen antinomischer Spannungen im pädagogischen Feld und dem Fokus auf das pädagogische Arbeitsbündnis kommen sie dem Bild der Lehrperson als »reflektierte Praktikerin« (vgl. Bucher, Nicolet 2003) nahe. Dieser Typus basiert auf einem Gesundheits- und auch auf einem Bildungsverständnis, die sich an einem Idealbild gesellschaftlicher Verhältnisse im Sinne von Demokratie und Chancengleichheit orientieren und den Bedarf gesellschaftlicher Veränderung deklarieren respektive zum Programm machen (vgl. Kap. 6.5).
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7.1.2 Gemeinsamkeiten in den disparaten Deutungen von Gesundheitsförderung von Lehrpersonen Dass die Deutungen der Lehrpersonen so unterschiedlich, ja disparat ausfallen, erstaunt nicht vor dem Hintergrund eines diffusen Konzepts von Gesundheitsförderung, wie es paradigmatisch in der Ottawa-Charta zum Ausdruck kommt. Mit Bezug auf diese Grundlage könnten sowohl gesundheitsfördernde Maßnahmen legitimiert werden, die einer betriebspsychologischen Logik folgen und innerhalb des bestehenden Settings den SchülerInnen zu besserem Lernerfolg verhelfen sollen (Typus 1), als auch die in kompensatorischer Logik ergriffenen sozialisatorischen oder quasi-therapeutischen Interventionen (Typus 2). Gemeinsam ist der Deutung dieser beiden ersten Typen, dass Gesundheit als Ausdruck einer persönlichen Leistung verstanden wird, als Resultat steten Besorgtseins und permanenter Aktivierung. Ziel von Gesundheitsförderung ist in diesem Verständnis eine Leistungssteigerung durch permanente Arbeit an sich selbst. Musse ist nur dann vorgesehen, wenn sie der Regenerierung dient. Die Bezugnahme auf eine so verstandene Gesundheitsförderung kann als ein biopolitischer Zugriff auf das Verhalten und letztlich auf den Körper der Kinder gedeutet werden: Die SchülerInnen werden im Namen der Gesundheitsförderung bewegt, aktiviert, zum Gegenstand von normativen Urteilen und zum Thema von Gesprächen zwischen Lehrpersonen und Eltern. Der Auftrag der Gesundheitsförderung ermöglicht es Lehrpersonen somit, in Bereiche hinein zu agieren, die (auch) der Institution Familie zugeordnet und hochgradig komplex sind. Mit dem Fokus auf individuelle Verhaltensweisen bleiben strukturelle Rahmenbedingungen unberührt. Die beiden Typen 3 und 4 der ermächtigend-emanzipatorischen und der strukturell-politischen Deutungen von Gesundheitsförderung folgen einem Verständnis von Gesundheit als kollektivem Gut. Die Lehrpersonen dieser Typen, die mit Gesundheitsförderung auf die Ermächtigung der Subjekte oder auf die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen zielen, würden in der Ottawa-Charta ebenfalls Passagen finden, die sie in ihrer Deutung und Handlungsweise bestärken würden. Gesundheit ist in diesem Verständnis ein öffentliches Gut, welches ungleich verteilt ist und deshalb politisch motiviertes Handeln erforderlich macht, das auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie auf die Stärkung der Autonomie der Subjekte zielt. Im Zusammenhang mit der Ausrichtung des Bildungsauftrags wird bei beiden eine Kritik an der Leistungsgesellschaft laut. Gesellschafts- und bildungspolitische Fragen werden lediglich beim Typus 4 explizit diskutiert, beim Typus 3 allenfalls berührt. Interessant – und auch logisch – ist, dass die Konnotation und die Konzeption von Bewegung und ihrer Förderung in den unterschiedlichen Auffassungen von Gesundheitsförderung ebenfalls ganz unterschiedliche Ausprä-
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gungen erfahren: Bei den beiden auf individuelle Verhaltensweisen zielenden Deutungstypen (Typus 1 und 2) erhalten bewegungsfördernde Maßnahmen tendenziell eine disziplinierende oder auch trainingsähnliche oder quasi-therapeutische Funktion und werden als Mittel zur Steigerung oder Sicherung des Bildungserfolgs eingesetzt. Dagegen gehen die Lehrpersonen der beiden Deutungstypen, die auf strukturelle Veränderungen zielen (Typus 3 und 4), von selbstbestimmter Bewegung aus und suchen dementsprechend inner- und außerhalb der schulischen Ordnung nach Freiräumen. In den rekonstruierten Deutungen von Gesundheitsförderung, mit denen je spezifische Deutungen von Gesundheit und dem Berufsverständnis einhergehen, finden sich trotz großer Disparität einige Gemeinsamkeiten. Sämtliche Lehrpersonen, die im Bereich Gesundheitsförderung engagiert sind, teilen den kritischen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse: Ausgehend von Systemkritik, von Zivilisationskritik bis hin zu ausgeprägtem Kulturpessimismus und Kritik am Individualismus versuchen die Lehrpersonen, mit Gesundheitsförderung auf gesellschaftlichen Wandel zu reagieren bzw. ihn zu gestalten. So unterschiedlich sie den Wandel auch wahrnehmen und bewerten: Dass sie sich im Bereich Gesundheitsförderung engagieren, ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Veränderungen. Eine weitere Gemeinsamkeit in den rekonstruierten Deutungen der interviewten Lehrpersonen zeigt sich im inneren Antrieb, Veränderungen im Dienste der ›Gesundheit‹ anzustreben. Den Deutungen der Lehrpersonen ist somit gemeinsam, dass sie Gesundheit – was auch immer sie darunter verstehen – als etwas betrachten, das beeinflussbar und gestaltbar ist, was der salutogenetischen Perspektive entspricht. Diese Gestaltbarkeit stellt einen gemeinsamen Bezugspunkt der verschiedenen Deutungen und intendierten Handlungen dar. Gesundheit wird als etwas aktiv Herstellbares betrachtet. Damit wird Gesundheit zu einer Leistung, zu etwas, das durch permanente Sorge, ausgewogene Lebensführung, individuelle Anstrengung oder auch politisches Engagement hergestellt werden kann. Gemeinsames Ideal aller Lehrpersonen, was die Gesundheit der SchülerInnen als auch ihre eigene betrifft, ist es, einen optimalen Zustand herzustellen.
7.1.3 Gesundheit und soziale Ungleichheiten Die Selbstverständlichkeit, mit der die Lehrpersonen den Auftrag der Gesundheitsförderung wahrnehmen, besteht auch darin, dass es kaum rationale Einwände dagegen gibt. Werden jedoch im Zuge eines gesellschaftlichen »Gesundheitsimperativs« (Mazumdar 2008) personenbezogene Gesundheitsstrategien und Verhaltensweisen zur Verpflichtung und die Person zum Interventionsobjekt, dann eröffnen sich unterschiedliche Spannungsfelder. Ein solches Spannungsfeld liegt im Zusammenhang von Gesundheit und sozialen Un-
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gleichheiten begründet sowie in der programmatischen Absicht der Gesundheitsförderung, die Gesundheitschancen aller zu verbessern und damit mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Eine Schwierigkeit dieses Unterfangens liegt darin, dass Gesundheit nicht nur subjekt- respektive leibgebunden in spezifischen Lebensweisen verankert ist; Gesundheit ist immer auch sozialstrukturell ungleich verteilt und wird von gesellschaftlichen Strukturbedingungen stark beeinflusst (vgl. u.a. Hensen 2008; Bröckling 2003; Brunnett 2007, 2009; Schmidt 2007). In Strategien, die einer sozialtechnokratischen Rationalität folgen, oder bei der Förderung individueller Verhaltensweisen zur Stärkung des Subjekts wird die strukturelle Ebene jedoch ausgeblendet. Subjekte werden auf diese Weise für ihre Gesundheit verantwortlich gemacht, Selbstbestimmung verkehrt sich damit in Selbstverantwortung. Unter den hier rekonstruierten Deutungstypen weicht lediglich der politisch-strukturelle Typus 4 von einer individualisierenden Logik deutlich ab; nur sein Gesundheitsverständnis kann in einen Bezug gesetzt werden zum egalitären und politischen Kern eines Gesundheitsförderungskonzeptes, wie er in der Ottawa-Charta unter anderem auch enthalten ist. Lehrpersonen des ermächtigend-emanzipatorischen Typus 3 zeigen eine hohe Sensibilität für sozial bedingte Ungleichheiten und versuchen, indem sie den SchülerInnen vielfältige Erfahrungen ermöglichen, ausgleichend zu wirken. Auch sie folgen letztlich jedoch einer Subjektzentrierung, indem die Verantwortung für ein ausgeglichenes, gesundes Leben auch in ihrer Deutung beim Individuum liegt. Bei den anderen beiden Typen 1 und 2, die einer arbeitspsychologischen oder kompensatorischen Logik folgen, werden soziale Ungleichheiten nicht systematisch thematisiert. Sie setzen vielmehr auf die Kraft der Individuen, sich innerhalb des Schulsystems dank gesundheitsfördernder Maßnahmen entfalten und behaupten zu können. ›Ungünstige Verhältnisse‹ des Aufwachsens werden, wenn sie überhaupt wahrgenommen werden, in paternalistischbevormundender Weise kulturalisiert oder individualisiert und der nicht ›richtigen‹ Lebensführung der Familien zugeschrieben. Der Aspekt der sozialen Ungleichheit wurde in dieser Untersuchung auch bei der Auswahl der Schulen berücksichtigt, indem verschiedene Schulen eine möglichst große Heterogenität bezüglich der sozio-ökonomischen Bedingungen der im Einzugsgebiet wohnhaften Familien abbilden sollten. Interessant ist der Befund, dass der Gesundheitsförderung an den beiden Schulen in einem gutsituierten Stadtviertel und im ländlichen Umfeld mit je einem geringfügigen Anteil an Kindern aus sozial tieferen Schichten ein hoher Stellenwert zukommt. An diesen beiden Schulen werden zahlreiche gesundheitsfördernde Projekte durchgeführt, ebenso ist der Grad ihrer Ausstattung mit gesundheitsfördernden Geräten und Spielen sehr hoch. Gesundheitsförderung wird an beiden Schulen gerne als Aushängeschild im Sinne
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eines Nachweises hoher Schulqualität, als Ausweis einer ›guten, gesunden Schule‹ hervorgehoben. In den beiden Schulen in sozial schlechter gestellten Wohnvierteln stehen aus Sicht der Lehrpersonen bei der Gesundheitsförderung grundlegende, strukturelle Maßnahmen im Vordergrund: dazu zählen der Ausbau der familien- und schulergänzenden Betreuung, die Hausaufgabenbetreuung, die Gestaltung des Schulhausareals, der Kampf um ausreichende personelle Ressourcen, die Stärkung der Zusammenarbeit innerhalb des Kollegiums zur Verbesserung der Qualität der pädagogischen Arbeit. Den ›klassischen‹ gesundheitsfördernden schulischen Maßnahmen sprechen die Lehrpersonen vor allem symbolischen Charakter zu; in ihnen sehen sie eine obligatorische Aufgabe, der Folge geleistet werden muss, deren Nachhaltigkeit und auch Dringlichkeit aber hinterfragt wird. In den beiden Schulen mit einer ›gut durchmischten‹, also heterogenen SchülerInnenschaft richten sich die mit ›gesundheitsfördernd‹ betitelten Bestrebungen stark auf die innere Struktur, auf Veränderungen in der Zusammenarbeit im Kollegium, auf den Versuch, andere, offenere Lehrformen einzuführen, um der Heterogenität der Lernvoraussetzungen der SchülerInnen gerecht zu werden. Dieser sich in dieser qualitativen Untersuchung abzeichnende Zusammenhang zwischen der sozial-strukturellen Zusammensetzung der SchülerInnenschaft und der Funktion und Deutung von Gesundheitsförderung müsste in quantitativer Hinsicht überprüft werden.
7.2 O ffene F r agen und mögliche A nt worten – ein A usblick Eine Vermutung, die zu Beginn der Untersuchung festgehalten wurde, liegt darin, dass es sich bei ›Gesundheitsförderung‹ um ein Deutungsmuster handeln könnte, welches auf eine gesellschaftliche Problemlage, auf ein Strukturproblem Antworten bietet (vgl. Lüders 1991; Meuser, Sackmann 1992: 15). Eine weitere Frage gesellte sich im Verlauf der Untersuchung hinzu: Wie konnte es dazu kommen, dass Gesundheitsförderung als ein, wie sich mehrfach zeigte, diffuses Konzept überhaupt Karriere machen konnte? Abschließend werden mögliche Antworten diskutiert sowie Hypothesen und wiederum weiterführende Fragen formuliert.
7.2.1 Gesundheitsförderung als Deutungsmuster? Wenn ein gemeinsamer Kern der Deutungen der Lehrpersonen zum einen bei zu verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen liegt und zum anderen von allen eine Strategie der Aktivierung in Betracht gezogen wird, wobei eine unhinterfragte Bezugnahme auf den Auftrag der Gesundheitsförderung in der
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Schule feststellbar ist, könnte es sich bei letzterem um ein soziales Deutungsmuster (vgl. Lüders 1991; Meuser, Sackmann 1992) handeln. Oevermann definiert in einer frühen Schrift, dass Deutungsmuster »funktional immer auf eine Systematik objektiver Handlungsprobleme bezogen« (Oevermann 1973: 3) seien, die deutungsbedürftig und als Probleme an sich immer auch schon kulturell interpretiert seien. Als gesellschaftliche Herausforderung im Gesundheitsbereich stehen die chronisch-degenerativen Krankheiten, die in Zivilisationsgesellschaften zur häufigsten Todesursache wurden, zur Disposition. Gesundheitsförderung könnte eine Art Antwort auf diese latente Bedrohung sein, mit dem Ziel der Eindämmung des Auftretens solcher Erkrankungen, wie dies auch Streckeisen (2014) oder Schäfer et al. (2008) nahelegen. Die Medizin kann für die wenigsten dieser Zivilisationskrankheiten kurative Behandlungen anbieten, die eine Genesung herbeizuführen vermögen. Für Individuen stellen Programme der Gesundheitsförderung eine Handlungsmöglichkeit dar; sie werden zumindest scheinbar ermächtigt oder befähigt, der Bedrohung etwas entgegenzusetzen und persönlich aktiv zu werden. Der gesellschaftliche Anspruch auf Selbstbestimmung kann trotz der Unsicherheit bezüglich der Genese wie auch der Behandlung von chronisch-degenerativen Erkrankungen aufrechterhalten werden. Und zugleich wird den Individuen damit die Verantwortung für ihre Gesundheit übertragen. Auf der Ebene der Schule als gesellschaftliche Institution lässt sich die Übernahme dieser Aufgabe begründen mit dem Auftrag, den die Schulen von Organisationen aus dem Bereich Gesundheit erteilt bekommen. Unter den Lehrpersonen ist die Deutung, dass es sich bei Gesundheitsförderung um eine Antwort oder Reaktion auf die Bedrohung neuer Krankheiten handeln könnte, nur bei einzelnen explizit nachzuweisen. Gesundheitsförderung tritt ihnen zwar als ein »fait social« gegenüber, jedoch sind die allgemeinen Konsistenzregeln, welche die Argumentationszusammenhänge gemäß dem Oevermann’schen Deutungsmusterbegriff strukturieren (vgl. Oevermann 1973: 3f.), nicht erkennbar. Unter den unterschiedlichen Deutungstypen fehlt eine einheitliche Richtung, eine gemeinsame Logik; vielmehr stehen sich widerstreitende, disparate Deutungen gegenüber. Ohne dass ein inhaltlicher Konsens über den zu fördernden Gegenstand Gesundheit besteht, erscheint Gesundheitsförderung als geeignetes Mittel, gestaltend wirken zu können. Womöglich ist Gesundheitsförderung, wie dies Lindner und Freud (2001: 73) formulieren, »zum symbolischen Sedativum und zugleich zur ultima ratio einer immer unübersichtlicheren Gesellschaft« geworden. Eine Konsequenz der Übernahme einer staatlich verordneten Präventionsaufgabe ist die Vermittlung von Normen der Lebensführung. Aktivierung, Selbstbeobachtung, kontrollierter Konsum oder Idealvorstellungen von Körpergewicht können, wie dies beispielsweise Lamprecht und Stamm interpretieren, als eine Neuauflage und -ausrichtung der »protestantischen Ethik« in
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säkularisierter Form gedeutet werden (Lamprecht, Stamm 1999: 66). Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung gehören zu den Grundwerten einer individualisierten Leistungsgesellschaft, nicht nur bezogen auf die Umwelt, sondern in verstärktem Maße nun auch auf den eigenen Körper. Die Schule scheint in der Förderung und Verinnerlichung von ›Selbst-Technologien‹ einen Beitrag zu leisten.
7.2.2 Diffuser Gesundheitsbegriff als Ausdruck von Professionalisierungsbedarf? Ein Grund, weshalb sich die individualisierende Lesart des Gesundheitsförderungsdiskurses gegenüber einer politisierenden durchsetzen konnte,3 liegt unter anderem auch in der diffusen Konzeption von Gesundheit. Der Diskurs basiert auf einer unklaren und wenig analytischen, auf das Subjekt ausgerichteten Definition von Gesundheit und zugleich auf der unhinterfragten, hohen gesellschaftlichen Bedeutung, die ihr zugeschrieben wird. ›Gesundheit‹ bedeutet viel, zu viel, ist allumfassend, ohne Grenzen und mehrdeutig. Das betrifft sowohl den Alltagsbegriff von Gesundheit als auch denjenigen konzeptioneller Art in gesundheitspolitischen Dokumenten wie beispielsweise der Ottawa-Charta und schließlich auch jenen theoretisch-wissenschaftlicher Diskurse. Diffuse Konzeptionen sind zu schwach, um theoretische Klärung leisten zu können – es bedarf anderer Kategorien, um analytisch zu arbeiten. Gesundheit scheint, wie dies Brubaker und Cooper (2007) für den Begriff Identität dargelegt haben, als analytisches Konzept ungeeignet (vgl. Kap. 3.1.1). Der Gesundheitsbegriff ist mehrdeutig, widersprüchlich, essenzialistisch und eignet sich nicht als Kategorie der Analyse. In der Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsbegriff und mit Gesundheitsdiskursen sind einige theoretische, wissenschaftliche Entwürfe wie die Salutogenese mit dem darin bedeutsamen »sense of coherence« – ähnlich dem Habitus-Konzept – oder der »Capability-Ansatz« aufgetaucht, die anstelle eines diffusen Alltagsbegriffs einen analytischen Zugang ermöglichen könnten, jedoch im Gesundheitsförderungsdiskurs eine marginale Rolle spielen. Das Konzept des »sense of coherence«, aus einer qualitativen Forschung von Aaron Antonovsky (1991) stammend, ist das Resultat von Einzelfallrekonstruktionen (vgl. Kap. 3.2.2). Es lässt sich nicht auf ganze Gruppen oder Populationen anwenden und ist als Prozess nicht sozialtechnokratisch herbeiführbar. 3 | Mit Ausnahme des strukturell-politischen Typus, dem drei Lehrpersonen, alle im Alter von rund 50 Jahren, angehören, finden sich in den Deutungen zum einen wenig Anzeichen einer kritischen Haltung gegenüber den Public-Health-Aufgaben, und zum anderen wird Gesundheit vorwiegend als individuelles Gut betrachtet.
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Faltermaier et al. (1998) halten dieses Konzept für die einzige wissenschaftlich begründete Theorie innerhalb der Gesundheitswissenschaften, welche Aufschluss über die »Entstehung von Gesundheit« zu geben vermöge. Sie wurde vielfach zitiert und weiterentwickelt; dabei wurde jedoch einseitig der aktive Beitrag der Individuen als relevanter Faktor zur eigenen Gesunderhaltung hervorgehoben und die Bedeutung von sozialen Strukturen tendenziell vernachlässigt (Faltermaier et al. 1998: 198). Zum selben Schluss kommt eine Analyse der Weiterentwicklung und Verwendung des Salotugenese-Konzepts durch Susanne Hartung (2011); sie zeigt auf, dass in der Rezeption im deutschsprachigen Raum vor allem die individualpsychologische Sicht dominiert. Die von Antonovsky gedachte Einheit von Kohärenzgefühl, der Gesundheit des Einzelnen und dem sozialen Umfeld, den gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebensbedingungen, wird damit aufgebrochen. Ein zweites Konzept, welches einen analytischen Zugang zu Gesundheit ermöglichen könnte, ist der »Capability-Ansatz« von Bittlingmayer und Ziegler (2012). Sie unternehmen dabei ebenfalls einen Versuch eines Beitrags zur Theoriebildung von Gesundheitsförderung. Der Begriff »capability« stammt ursprünglich aus der Entwicklungsökonomie, zieht die Perspektive der Ungleichheitsforschung systematisch mit ein und wurde von Amartya Sen und Martha Nussbaum weiterentwickelt (vgl. Abel, Schori 2009). Ausgangspunkt der beiden deutschen Autoren Bittlingmayer und Ziegler ist der Tatbestand, dass Gesundheitsförderung, wie sie im Rahmen der als anwendungsorientierten Wissenschaft bezeichneten Public Health definiert wurde, immer normativ ist. Aus der Perspektive des Capability-Ansatzes, den sie propagieren, würden Problematiken wie die Ausblendung von Normativität oder des Paternalismus sowie auch mit der Formulierung von Gesundheitszielen einhergehende Spannungsfelder sicht- und damit diskutierbar. Damit rücken gerechtigkeitstheoretische Fragen zum Verhältnis von Gleichheit und Freiheit ins Zentrum. Bittlingmayer und Ziegler (2012) plädieren dafür, den »doppelten Bezugsrahmen der Gleichheit und Freiheit«, mit dem Gesundheitsförderung und Gesundheitswissenschaften konfrontiert seien, wieder oder überhaupt erst in den Fokus zu rücken. Es gelte, im Zusammenhang mit Konzepten wie ›Empowerment‹ normative Fragen zu diskutieren und Paternalismen systematisch zu bezeichnen, da gesundheitsfördernde Maßnahmen sich immer in einem Spannungsfeld von auf Autonomie zielender Ermächtigung, Paternalismus und Disziplinierung befänden. Statt dass sich der Gesundheitsförderungsdiskurs an Gesundheitsberichten und sozialepidemiologischen Daten als Referenz orientiert, fordern sie die Berücksichtigung der politischen Theorie und allgemein von Theoriebezügen, die im Diskurs an den Rand gerückt worden seien. Die mit Gesundheitsförderung einhergehenden antinomischen Spannungen bedürfen einer systematischen Reflexion, die zum Bestandteil innerbe-
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ruflicher Diskurse werden muss. Die beiden oben kurz dargestellten Konzepte könnten dazu einen Beitrag leisten. Dabei ist der sich manifestierende Professionalisierungsbedarf in der thematischen Ausrichtung des Gesundheitsdiskurses vergleichbar mit Professionalisierungsbestrebungen, die im pädagogischen Feld im Gange sind. So sind Lehrpersonen generell mit der widersprüchlichen Aufgabe konfrontiert, zum einen kollektiv legitimierte Normen zu vermitteln und zum anderen anwaltschaftlich für die Interessen der SchülerInnen einzutreten. Solche widersprüchlichen Anforderungen an die Berufsrolle gilt es zu erkennen und zu diskutieren, wie dies professionalisierungstheoretische Ansätze, die im Anschluss an Talcott Parsons (1985) entwickelt worden sind, darlegen. Ein Ansatz, der im pädagogischen Feld Teil des innerberuflichen Diskurses wurde, stammt aus der strukturtheoretisch fundierten professionalisierungstheoretischen Tradition. Als Kern der pädagogischen Arbeit wird die Unterstützung der Lernprozesse und der Autonomiebestrebungen der Subjekte erachtet; deshalb ist ein fallorientiertes Vorgehen indiziert, um die Bedürfnisse der SchülerInnen zu erkennen und nicht eine Subsumtion unter allgemeine Klassifikationen vorzunehmen. Zur Unterstützung eines Verstehensprozesses bedarf es eines Bezugs auf wissenschaftliches Wissen (vgl. Ackermann, Owczarski 2000; Oevermann 1996). Klar wird dabei, dass es nicht zielführend ist, anstelle eines fallspezifischen Verstehensprozesses auf technokratisch implementierbare Instrumente zurückzugreifen. Notwendig ist die Orientierung am Prinzip der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹, die an die bei Kindern genuin vorhandene Neugierde anknüpft (Oevermann 1996). Klaus Günther (2002) fasst das paradoxe Unterfangen der Ermächtigung folgendermaßen in Worte: »Die Ermächtigung des Einzelnen zum Subjekt seiner Handlungen kann immer nur eine Selbstermächtigung sein. Nur dann, wenn das Subjekt sich selbst als ein eigenverantwortliches Subjekt frei wählen kann, kann es zu einem eigenverantwortlichen Subjekt werden. […] Eine bloss zugewiesene, auferlegte oder gar erzwungene Eigenverantwortung schlägt in das Gegenteil um – es handelt sich dann nur noch um Fremdbestimmung.« (Günther 2002: 121)
Die fehlende Reflexion von immanenten Widersprüchen der impliziten normativen Grundlegungen des Gesundheitsförderungsdiskurses verschärft die unauflösbaren Spannungen zwischen Werten der Freiheit, Verantwortung und Gerechtigkeit. Dieser Widerspruch, wenn er nicht professionell bearbeitet und sichtbar gemacht wird, verkehrt Selbstbestimmung in Autonomieverlust, Ermächtigung in Kontrolle.
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7.2.3 Gesundheitsförderung vor dem Hintergrund neoliberaler Regierungsformen: Tendenz zur Individualisierung? Dass sich die auf das Individuum zentrierten Maßnahmen gegenüber den politisch-strukturellen Ansätzen durchgesetzt haben, liegt auch in gesellschaftspolitischen Veränderungen begründet. In Europa setzen sich die Ansätze der Gesundheitsförderung aus den späten 1980er Jahren in den 1990er Jahren durch, parallel zu und verschränkt mit neoliberalen Gesellschaftskonzeptionen, Wirtschaftsmodellen und auch dem ›New Public Management‹. Gesundheitsförderung steht zu diesem sich neu etablierenden Modus des Regierens in einem Passungsverhältnis; sie steht im Dienste einer spezifischen Machtform, die auf das Leben der gesamten Bevölkerung zielt. Gesundheitsförderung fügt sich in eine bestimmte Regierungsform ein, die emanzipatorischen Kräften entgegensteht, welche sich als Gegenwehr gegen sozio-ökonomische Folgen des Kapitalismus verstehen (Jones 2001 zit.n. Dew 2007: 110). Gesundheitsförderung kann in dieser Lesart und im Anschluss an Foucaults Konzept der Bio-Macht (vgl. Foucault 1983) als neue Form des Paternalismus gedeutet werden; der bisherige fürsorgend-entmündigende Staat wird durch einen vorsorgend-fordernden ersetzt. Zielsetzung moderner Gesundheitspolitik ist nicht mehr, möglichst alle Menschen gegen Krankheitsrisiken abzusichern, sondern die Individuen zu verpflichten und allenfalls zu befähigen, selber Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen. Gesundheit wird damit zur Pflicht und beinhaltet eine bestimmte Form der Lebensführung (Schmidt 2007: 88). Damit verbunden ist eine Tendenz zur Individualisierung des Gesundheitshandelns: Krankheit und Gesundheit sind keine Fragen des Schicksals, der Umstände oder biologischen Disposition mehr, sondern werden der individuellen Verantwortung übertragen. Strukturelle Unterschiede im Umgang mit dem Körper und die unterschiedliche Betroffenheit von gesundheitlichen Risiken werden dabei ausgeblendet (Lamprecht, Stamm 1999: 82). Diese Tendenz zeichnet sich sowohl bereits im gesundheitspolitischen Grundlagendokument der Gesundheitsförderung ab als auch – mit Ausnahme des strukturell-politischen Typus – in den Deutungen der Lehrpersonen.
7.2.4 Der Aufstieg von Public Health: Ein kritischer Beitrag der Soziologie? Zur Frage, wie ein solch diffuses Konzept wie dasjenige der Gesundheitsförderung Karriere machen konnte, soll zum Schluss eine These aufgestellt werden. Sie hat sich aus der Auseinandersetzung mit Gesundheitsförderung und der entsprechenden Literatur entwickelt. Es geht um den Verdacht, dass die Soziologie oder vielmehr SoziologInnen mit einem spezifischen Wissenschaftsverständnis, die sich im Bereich Gesundheitsförderung betätigen, eine beträcht-
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liche Rolle gespielt und zum Aufschwung von New Public Health als Disziplin, Handlungsfeld und Strategie beigetragen haben. In der Analyse der Ottawa-Charta, dem ›Geburtsdokument‹ von Gesundheitsförderung, finden sich bereits deutliche Hinweise, die auf den Beginn einer neuen ›Disziplin‹ respektive eines neuen Berufsfelds hindeuten. Eine vorher medizinisch dominierte Argumentationslogik wird durch eine Logik der Versozialwissenschaftlichung abgelöst oder überlagert. So zeichnen sich in den Argumenten, die insgesamt einer bürokratischen Logik folgen, sozialwissenschaftliche Anleihen4 ab (vgl. Kap. 4.3.7). Sie deuten auf die disziplinäre Herkunft der Public-Health-FunktionärInnen oder Angestellten von gesundheitsfördernden Institutionen hin: Zahlreiche der AutorInnen der WHO-Charta wie auch späterer Papiere zur Gesundheitsförderung verfügen über einen sozialwissenschaftlichen Hintergrund. Bei der Erarbeitung der Charta machten sich die AutorInnen mit legitimatorischer Funktion zudem Kritikpunkte sozialer Bewegungen zu eigen, denen sie sich zugehörig fühlten oder deren Wortführende sie waren.5 Diese Beobachtung wird von Sarah Nettleton und Robin Bunton (1996) geteilt. Auch sie stellen fest, dass eine große Anzahl von AutorInnen im PublicHealth-Bereich über einen sozialwissenschaftlichen Hintergrund verfüge und sich dabei in den Dienst von Gesundheitsförderung stelle, indem sie die ›Mission‹, die Botschaft von Public Health übernehme. Dabei unterstellen die beiden AutorInnen den Public-Health-SozialwissenschaftlerInnen, über zu wenig Distanz zur Sache der Gesundheitsförderung zu verfügen und keinen analytischen Zugang zum Phänomen der ›Gesundheit‹ an sich (mehr) zu haben. Sie hätten sich in den Dienst der Gesundheitsförderung gestellt und in diesem Rahmen Interviews und Umfragen gemacht, Bedarfsanalysen durchgeführt 4 | Zur Legitimation der Notwendigkeit gesundheitsfördernder Interventionen werden Begriffe aus den Sozialwissenschaften, insbesondere aus sozialstatistischen Untersuchungen, ins Feld geführt, aus Vorhersagemodellen extrapoliert und mit der Perspektive auf das Subjekt vermischt oder zu vereinen versucht. Bittlingmayer und Ziegler (2012: 9) bezeichnen diesen ausgeprägten Bezug auf sozialstatistische Ergebnisse beispielsweise in Gesundheitsberichterstattungen als ein typisches Merkmal der Gesundheitswissenschaften. Diese starke Anlehnung an die Sozialepidemiologie wird von den beiden Autoren kritisiert. Indem die festgelegten Kategorien übernommen würden, werde zugleich die Chance verpasst, die Gesundheitsziele zu hinterfragen und allenfalls mitzugestalten (ebd.: 9). 5 | Wohl nicht zufällig war eine Mehrheit der Konferenzteilnehmenden in Ottawa in ihrer disziplinären Herkunft SozialwissenschaftlerInnen oder MedizinerInnen, letztere jedoch mehrheitlich nicht (mehr) als ÄrztInnen tätig, sondern an universitären oder staatlichen Institutionen, wo sie Vorhersagemodelle auf- und Kausalitäten herstellen, die in Programme und Strategien münden.
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und statistische Erhebungen zu Krankheitsvorkommen und Gesundheitsfürsorge gemacht. »Hitherto however, what sociologists have failed to do is to adquately develop analyses of the phenomen itself.« (Burrows, Nettleton, Bunton 1996: 2f.)
Was jedoch fehle, sei eine Auseinandersetzung mit der Frage, was Gesundheit und Gesundheitsförderung sind und sein können. Mit einigen Ausnahmen (vgl. Nettleton, Bunton 1996) wurden innerhalb der institutionellen und professionellen Entwicklung von Gesundheitsförderung oder Public Health wenig kritische Untersuchungen und wenig Grundlagenforschung publiziert. Die Forschung konzentrierte sich vielmehr auf die Perspektive der ›Health Promoters‹, auf Umsetzungsfragen und auf die Zielgruppen und deren Bedürfnisse oder auf eine Erhebung ihres Gesundheitsverhaltens. Mit anderen Worten stellte sich die Soziologie in den Dienst der Konstituierung eines neuen Berufsfelds, beteiligte sich an der Generierung ›professionellen Wissens‹, ohne grundsätzliche Fragen, die das Fundament einer Profession bilden sollten, vorgängig zu stellen und zu klären (Nettleton, Bunton 1996: 57). Als KritikerInnen der Medikalisierung und zugleich als ExponentInnen von New Public Health scheinen sie sich damit ein neues Berufsfeld geschaffen zu haben. Strong meint sogar, dass mit der Versozialwissenschaftlichung, mit dem Ersatz der medizinischen Gesundheitsdefinition durch eine sozialwissenschaftliche, die Soziologie ihr kritisches Potenzial verloren habe (ebd. 1979: 83). Krajic et al. (2009) argumentieren zur Vereinnahmung der Soziologie im Public-Health-Bereich in einer etwas moderateren Weise. Sie sehen einen Grund dafür, dass sich SoziologInnen in diesem Bereich weniger an der Kerndisziplin Soziologie orientieren als vielmehr an der Weiterentwicklung der Subdisziplin, in den Forschungsgeldern und in den entsprechenden längerfristigen Karrieremöglichkeiten. Public Health als angewandtes Feld mit starker Referenz zum politischen System und als ein sich ausdifferenzierendes Feld für neue Gesundheitsberufe bietet Chancen für die berufliche Tätigkeit von SozialwissenschaftlerInnen. Dieses neue Tätigkeitsfeld folge jedoch in aller Regel einer angewandten, interventionsorientierten, pragmatischen Perspektive. Daraus leiten Krajic et al. ebenfalls ein Defizit an Theorieentwicklung ab; die spezifisch soziologische Perspektive werde nicht als Chance gesehen und genutzt (Krajic et al. 2009). Dieser Diagnose stimmt auch Nettleton zu, die zugleich die Margnialisierung einer Soziologie der Gesundheitsförderung – ›Sociology on Public Health‹ – beklagt, welche die Vorannahmen, die der Gesundheitsförderung zugrunde liegen, kritisch analysieren könnte (Nettleton 2013: 232ff.). In diesem Sinne ist die Herausforderung evident: Es geht darum, einen Weg zu finden, um kritische, grundlegende Fragen und Befunde in den Gesund-
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heits(förderungs)diskurs und – im Zusammenhang mit schulischer Gesundheitsförderung – auch in Professionalisierungsdebatten im pädagogischen Feld einzubringen. Es besteht Bedarf an alternativen Konzepten zum diffusen Gesundheitsbegriff und an einer diskursiven Verortung des Gesundheitsbegriffs der WHO als sozialpolitischem Handlungskonzept und keinesfalls an der Akzeptanz desselben als ›theoretischer Grundlage‹. Ein analytischer Zugang bringt vermeintlich selbstverständliche Handlungs- und Denkmuster ins Wanken: Der Auftrag der ›Gesundheitsförderung‹ ist grundsätzlich infrage zu stellen, es bedarf einer professionalisierungstheoretisch begründeten Legitimation, um im Bereich ›Gesundheit‹ in der Rolle als Lehrperson aktiv zu werden. Weder der Verweis auf ›umfassendes Wohlbefinden‹ noch das Vermeiden von möglichen gesellschaftlichen Gesundheitskosten sind legitime Begründungsmuster, wenn es um die Förderung der Autonomie der Subjekte geht – was im Zentrum des Bildungsauftrags steht.
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Dank
Danken möchte ich an dieser Stelle Stefan Kutzner für seine Bereitschaft, mein Dissertationsvorhaben zu unterstützen. Die angenehmen und von ihm wohlwollend geleiteten Kolloquien in Siegen trugen dazu bei, den Faden und den Mut nicht zu verlieren, und gaben immer wieder neue Impulse. Ebenso bedanken möchte ich mich bei Ursula Streckeisen, die sich im Wissen um die Diffusität des Gesundheitsförderungsgedankens bereit erklärt hat, Gutachterin meiner Arbeit zu sein. Froh war ich nicht nur um die Diskussionen mit ihr und die inspirierenden und zugleich kritischen Beiträge von ihr, sondern auch um ihre Präsenz an den gemeinsam besuchten gesundheitssoziologischen Tagungen. Und, biografisch etwas zurückliegend, danke ich auch Claudia Honegger, die meinen Blick auf die Welt nachhaltig geprägt hat. An meinem Institut danke ich Caroline Bühler für ihr Vertrauen; sie im Hintergrund zu wissen, war mir eine wichtige Stütze. Der Pädagogischen Hochschule PHBern verdanke ich die Finanzierung dieses Forschungsprojekts, aus welchem meine Dissertation hervorging, und ebenso die zur Verfügung gestellte Infrastruktur, wie das Büro mit großem Fenster. Dort bin ich Nathalie Gasser vis-à-vis als wichtigem und geschätztem Gegenüber dankbar für ihren mutmachenden Zuspruch und entscheidende Literaturhinweise im richtigen Moment. Die Sitzungen der Fallwerkstätten der PHBern haben mir wichtige Impulse gegeben, ebenso die von Angela Stienen und Kathrin Oester geleiteten Kolloquien der ehemaligen Abteilung ›Schule und Gesellschaft‹ am IFE PHBern. Matthias Hui danke ich so richtig an anderer Stelle, ohne ihn wäre ich wohl kaum zu einem Ende gekommen. Ein großes Merci gilt Andrea Feller. Und ein ebensolches meinen Eltern für ihr Da-Sein. Schließlich gilt der Dank auch denjenigen Lehrpersonen, Schulleitenden und ExpertInnen in Sachen Gesundheitsförderung, die sich Zeit genommen haben, mir Antworten auf meine nicht ganz naheliegenden Fragen zu geben. Dass sich die Grenzenlosigkeit des Gesundheitsbegriffs in meiner Arbeit niederschlägt, konnte ich leider nicht verhindern. Was Gesundheit ist – davon habe ich nach wie vor keine klare Vorstellung. Davon, wohin ihre Förderung
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führen kann, hingegen schon. Diesbezüglich gilt Mary Baker Eddy ein jenseitiger Dank; wegen, allerdings nicht dank ihr, sind wohl meine Sensibilität gegenüber Gesundheitsideologien und meine Kritik an Paternalismen geschärft.
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 1: Ottawa-Charta for Health Promotion (Copenhagen, WHO Regional Office for Europe, 1986, Online-Version) | 99 Abbildung 2: Fotografiertes Schild im Eingangsbereich der Primarschule Marzili Bern (13.8.2013) | 173 Abbildung 3: Ein Netz unterschiedlicher Akteure | 185
Abkürzungsverzeichnis
BAG Bundesamt für Gesundheit BASPO Bundesamt für Sport BFS Bundesamt für Statistik BMI Body Mass Index Bildung für Nachhaltige Entwicklung BNE BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung D-EDK Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz EBG Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann Schweizerische Konferenz der kantonalen EKD Erziehungsdirektoren ENGS Europäisches Netzwerk gesundheitsfördernder Schulen ERZ Erziehungsdirektion des Kantons Bern GSD Bern Gesundheitsdienst der Stadt Bern GesG Gesundheitsgesetz HBSC Health Behaviour in School-aged Children IFSW International Federation of Social Workers IWB (heute: IWMB) Institut für Weiterbildung der Pädagogischen Hochschule Bern (heute: Institut für Weiterbildung und Medienbildung) KoordinatorIn für Gesundheitsförderung KGF KNGS Kantonales Netzwerk Gesundheitsfördernde Schulen Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK NPEB Nationales Programm Ernährung und Bewegung (2008-2012) Obsan Schweizerisches Gesundheitsobservatorium Peoples Health Movement PHM SGE Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SMP Schweizer Milchproduzenten SHE Schools for Health in Europe SNGS Schweizerisches Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen WHO World Health Organisation, Weltgesundheitsorganisation, Sonderorganisation der UNO
Literatur
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Anhang A nhang 1: O t tawa -C harta for H e alth P romotion (C openhagen , WHO R egional O ffice for E urope , 1986 , O nline V ersion , deutsch)
Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, 1986 Die erste Internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung hat am 21. November 1986 in Ottawa die folgende Charta verabschiedet. Sie ruft damit auf zu aktivem Handeln für das Ziel „Gesundheit für alle“ bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus. Die Konferenz verstand sich in erster Linie als eine Antwort auf die wachsenden Erwartungen an eine neue öffentliche Gesundheitsbewegung. Die Diskussion befasste sich vorrangig mit Erfordernissen in Industrieländern, es wurden aber auch Probleme aller anderen Regionen erörtert. Ausgangspunkt waren die auf der Grundlage der Deklaration von Alma-Ata über gesundheitliche Grundbetreuung erzielten Fortschritte, das WHO-Dokument „Gesundheit für alle“ sowie die während der letzten Weltgesundheitsversammlung geführte Diskussion zum intersektoriellen Zusammenwirken für die Gesundheit.
Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.
Voraussetzungen für die Gesundheit Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen,
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soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes ist zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden.
Interessen vertreten Ein guter Gesundheitszustand ist eine wesentliche Bedingung für soziale, ökonomische und persönliche Entwicklung und entscheidender Bestandteil der Lebensqualität. Politische, ökonomische, soziale, kulturelle, biologische sowie Umwelt und Verhaltensfaktoren können alle entweder der Gesundheit zuträglich sein oder auch sie schädigen. Gesundheitsförderndes Handeln zielt darauf ab, durch aktives anwaltschaftliches Eintreten diese Faktoren positiv zu beeinflussen und der Gesundheit zuträglich zu machen.
Befähigen und ermöglichen Gesundheitsförderung ist auf Chancengleichheit auf dem Gebiet der Gesundheit gerichtet. Gesundheitsförderndes Handeln bemüht sich darum, bestehende soziale Unterschiede des Gesundheitszustandes zu verringern sowie gleiche Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaffen, damit alle Menschen befähigt werden, ihr größtmöglichstes Gesundheitspotential zu verwirklichen. Dies umfasst sowohl Geborgenheit und Verwurzelung in einer unterstützenden sozialen Umwelt, den Zugang zu allen wesentlichen Informationen, die Entfaltung von praktischen Fertigkeiten, als auch die Möglichkeit, selber Entscheidungen in Bezug auf ihre persönliche Gesundheit treffen zu können. Menschen können ihr Gesundheitspotential nur dann weitestgehend entfalten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können. Dies gilt für Frauen ebenso wie für Männer.
Vermitteln und vernetzen Der Gesundheitssektor allein ist nicht in der Lage, die Voraussetzungen und guten Perspektiven für die Gesundheit zu garantieren. Gesundheitsförderung verlangt vielmehr ein koordiniertes Zusammenwirken unter Beteiligung der Verantwortlichen in Regierungen, im Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftssektor, in nichtstaatlichen und selbstorganisierten Verbänden und Initiativen sowie in lokalen Institutionen, in der Industrie und den Medien. Menschen in allen Lebensbereichen sind daran zu beteiligen als einzelne, als Familien und Gemeinschaften. Die Berufsgruppen und sozialen Gruppierungen sowie die Mitarbeiter des Gesundheitswesens tragen große Verantwortung für eine gesundheitsorientierte Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft. Die Programme und Strategien zur Gesundheitsförderung sollten den örtlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Länder und Regionen angepasst sein und die unterschiedlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme sowie die kulturellen Gegebenheiten berücksichtigen.
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Aktives, gesundheitsförderndes Handeln erfordert: Eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln Gesundheitsförderung beinhaltet weit mehr als medizinische und soziale Versorgung. Gesundheit muss auf allen Ebenen und in allen Politiksektoren auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Politikern müssen dabei die gesundheitlichen Konsequenzen ihrer Entscheidungen und ihre Verantwortung für Gesundheitsförderung verdeutlicht werden. Dazu wendet eine Politik der Gesundheitsförderung verschiedene, sich gegenseitig ergänzende Ansätze an, u. a. Gesetzesinitiativen, steuerliche Maßnahmen und organisatorisch strukturelle Veränderungen. Nur koordiniertes, verbündetes Handeln kann zu einer größeren Chancengleichheit im Bereich der Gesundheits-, Einkommens- und Sozialpolitik führen. Ein solches gemeinsames Handeln führt dazu, ungefährlichere Produkte, gesündere Konsumgüter und gesundheitsförderlichere soziale Dienste zu entwickeln sowie sauberere und erholsamere Umgebungen zu schaffen. Eine Politik der Gesundheitsförderung muss Hindernisse identifizieren, die einer gesundheitsgerechteren Gestaltung politischer Entscheidungen und Programme entgegenstehen. Sie muss Möglichkeiten einer Überwindung dieser Hemmnisse und Interessensgegensätze bereitstellen. Ziel muss es sein, auch politischen Entscheidungsträgern die gesundheitsgerechtere Entscheidung zur leichteren Entscheidung zu machen.
Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen Unsere Gesellschaften sind durch Komplexität und enge Verknüpfung geprägt; Gesundheit kann nicht von anderen Zielen getrennt werden. Die enge Bindung zwischen Mensch und Umwelt bildet die Grundlage für einen sozial-ökologischen Weg zur Gesundheit. Oberstes Leitprinzip für die Welt, die Länder, Regionen und Gemeinschaften ist das Bedürfnis, die gegenseitige Unterstützung zu fördern – sich um den anderen, um unsere Gemeinschaften und unsere natürliche Umwelt zu sorgen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Erhaltung der natürlichen Ressourcen als globale Aufgabe. Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein. Gesundheitsförderung schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Lebensbedingungen. Eine systematische Erfassung der gesundheitlichen Folgen unserer sich rasch wandelnden Umwelt – insbesondere in den Bereichen Technologie, Arbeitswelt, Energieproduktion und Stadtentwicklung – ist von essentieller Bedeutung und erfordert aktives Handeln zugunsten der Sicherstellung eines positiven Einflusses auf die Gesundheit der Öffentlichkeit. Jede Strategie zur Gesundheitsförderung muss den
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Schutz der natürlichen und der sozialen Umwelt sowie die Erhaltung der vorhandenen natürlichen Ressourcen mit zu Ihrem Thema machen.
Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen Gesundheitsförderung wird realisiert im Rahmen konkreter und wirksamer Aktivitäten von Bürgern in ihrer Gemeinde: in der Erarbeitung von Prioritäten, der Herbeiführung von Entscheidungen sowie bei der Planung und Umsetzung von Strategien. Die Unterstützung von Nachbarschaften und Gemeinden im Sinne einer vermehrten Selbstbestimmung ist ein zentraler Angelpunkt der Gesundheitsförderung; ihre Autonomie und Kontrolle über die eigenen Gesundheitsbelange ist zu stärken. Die Stärkung von Nachbarschaften und Gemeinden baut auf den vorhandenen menschlichen und materiellen Möglichkeiten der größeren öffentlichen Teilnahme und Mitbestimmung auf. Selbsthilfe und soziale Unterstützung sowie flexible Möglichkeiten der größeren öffentlichen Teilnahme und Mitbestimmung für Gesundheitsbelange sind dabei zu unterstützen bzw. neu zu entwickeln. Kontinuierlicher Zugang zu allen Informationen, die Schaffung von gesundheitsorientierten Lernmöglichkeiten sowie angemessene finanzielle Unterstützung gemeinschaftlicher Initiativen sind dazu notwendige Voraussetzungen.
Persönliche Kompetenzen entwickeln Gesundheitsförderung unterstützt die Entwicklung von Persönlichkeit und sozialen Fähigkeiten durch Information, gesundheitsbezogene Bildung sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und lebenspraktischer Fertigkeiten. Sie will dadurch den Menschen helfen, mehr Einfluss auf ihre eigene Gesundheit und ihre Lebenswelt auszuüben, und will ihnen zugleich ermöglichen, Veränderungen in ihrem Lebensalltag zu treffen, die ihrer Gesundheit zu gute kommen. Es gilt dabei, Menschen zu lebenslangem Lernen zu befähigen, und ihnen zu helfen, mit den verschiedenen Phasen ihres Lebens sowie eventuellen chronischen Erkrankungen und Behinderungen umgehen zu können. Dieser Lernprozess muss sowohl in Schulen wie auch zu Hause, am Arbeitsplatz und innerhalb der Gemeinde erleichtert werden. Erziehungsverbände, die öffentlichen Körperschaften, Wirtschaftsgremien und gemeinnützige Organisationen sind hier ebenso zum Handeln aufgerufen wie die Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen selbst.
Die Gesundheitsdienste neu orientieren Die Verantwortung für die Gesundheitsförderung wird in den Gesundheitsdiensten von Einzelpersonen, Gruppen, den Ärzten und anderen Mitarbeitern des Gesundheitswesens, den Gesundheitseinrichtungen und dem Staat geteilt. Sie müssen gemeinsam darauf hinarbeiten, ein Versorgungssystem zu entwickeln, das auf die stärkere Förderung von Gesundheit ausgerichtet ist und weit über die medizinischkurativen Betreuungsleistungen hinausgeht.
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Die Gesundheitsdienste müssen dabei eine Haltung einnehmen, die feinfühlig und respektvoll die unterschiedlichen kulturellen Bedürfnisse anerkennt. Sie sollten dabei die Wünsche von Individuen und sozialen Gruppen nach einem gesünderen Leben aufgreifen und unterstützen sowie Möglichkeiten der besseren Koordination zwischen dem Gesundheitssektor und anderen sozialen, politischen, ökonomischen Kräften eröffnen. Eine solche Neuorientierung von Gesundheitsdiensten erfordert zugleich eine stärkere Aufmerksamkeit für gesundheitsbezogene Forschung wie auch für die notwendigen Veränderungen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Ziel dieser Bemühungen soll ein Wandel der Einstellungen und der Organisationsformen sein, die eine Orientierung auf die Bedürfnisse des Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit ermöglichen.
Auf dem Weg in die Zukunft Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen. Füreinander Sorge zu tragen, Ganzheitlichkeit und ökologisches Denken sind Kernelemente bei der Entwicklung von Strategien zur Gesundheitsförderung. Alle Beteiligt en sollt en als ein Leitprinzip anerkennen, dass in jeder Phase der Planung, Umsetzung und Auswertung von gesundheitsfördernden Handlungen Frauen und Männer gleichberechtigte Partner sind.
Gemeinsame Verpflichtung zur Gesundheitsförderung Die Teilnehmer der Konferenz rufen dazu auf:
an einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik mitzuwirken und sich dafür einzusetzen, dass ein eindeutiges politisches Engagement für Gesundheit und Chancengleichheit in allen Bereichen zustande kommt; allen Bestrebungen entgegenzuwirken, die auf die Herstellung gesundheitsgefährdender Produkte, auf die Erschöpfung von Ressourcen, auf ungesunde Umwelt- und Lebensbedingungen oder eine ungesunde Ernährung gerichtet sind. Es gilt dabei, Fragen des öffentlichen Gesundheitsschutzes wie Luftverschmutzung, Gefährdungen am Arbeitsplatz, Wohn- und Raumplanung in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen; die gesundheitlichen Unterschiede innerhalb der Gesellschaften und zwischen ihnen abzubauen und die von den Vorschriften und Gepflogenheiten dieser Gesellschaften geschaffenen Ungleichheiten im Gesundheitszustand zu bekämpfen;
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die Menschen selber als die Träger ihrer Gesundheit anzuerkennen und sie zu unterstützen und auch finanziell zu befähigen, sich selbst, ihre Familien und Freunde gesund zu erhalten. Soziale Organisationen und die Gemeinde sind dabei als entscheidende Partner im Hinblick auf Gesundheit, Lebensbedingungen und Wohlbefinden zu akzeptieren und zu unterstützen; die Gesundheitsdienste und ihre Mittel auf die Gesundheitsförderung hin umzuorientieren und auf das Zusammenwirken der Gesundheitsdienste mit anderen Sektoren, anderen Disziplinen und, was noch viel wichtiger ist, mit der Bevölkerung selbst hinzuwirken; die Gesundheit und ihre Erhaltung als eine wichtige gesellschaftliche Investition und Herausforderung zu betrachten und die globale ökologische Frage unserer Lebensweisen aufzuwerfen.
Die Konferenzteilnehmer rufen auf, sich in diesem Sinne zu einer starken Allianz zur Förderung der öffentlichen Gesundheit zusammenzuschließen.
Aufruf zu internationalem Handeln Die Konferenz ersucht die Weltgesundheitsorganisation und alle anderen internationalen Organisationen, für die Förderung von Gesundheit Partei zu ergreifen und ihre einzelnen Mitgliedsländer dabei zu unterstützen, Strategien und Programme für die Gesundheitsförderung zu entwickeln. Die Konferenz ist der festen Überzeugung, dass dann, wenn Menschen in allen Bereichen des Alltages, wenn soziale Verbände und Organisationen, wenn Regierungen, die Weltgesundheitsorganisation und alle anderen betroffenen Gruppen ihre Kräfte entsprechend den moralischen und sozialen Werten dieser Charta vereinigen und Strategien der Gesundheitsförderung entwickeln, dass dann „Gesundheit für alle“ im Jahre 2000 Wirklichkeit werden wird. [WHO-autorisierte Übersetzung: Hildebrandt/Kickbusch auf der Basis von Entwürfen aus der DDR und von Badura sowie Milz.]
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A nhang 2: Tr anskrip tionsregeln . = kurze Pause (pro Sekunde 1 Punkt) …. = lange Pause (???) = ungefähr drei Wörter sind unverständlich (ist das so?) = der schwer verständliche Text könnte auf ›ist das so?‹ lauten (lacht), (Hund bellt) = Klammerbemerkungen zum Geschehen während des Interviews //genau// = gleichzeitiges Sprechen zweier Personen ich, eh, was haben Sie jetzt = Satzabbrüche werde durch Kommas markiert ‚Znüni‹ = Nicht ins Hochdeutsche übertragbare Begriffe werden im Schweizerdeutschen belassen. [Zwischenmahlzeit am Morgen] = Eine sinngemäße Übersetzung von Helvetismen wird in [eckige Klammern] gesetzt Grundregel: Der schweizerdeutsche Text wird 1:1 ins Hochdeutsche übertragen. Unschöne Satzkonstruktionen werden konsequent beibehalten.
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A nhang 3: L iste der tr anskribierten I ntervie ws Interview 01: Karl Lüthi (1957), Primarschule K., 5./6. Klasse. Gespräch vom 24.11.2011 Interview 02: Regine Pfister (1967), Primarschule K., 3./4. Klasse, KGF. Gespräch vom 21.11.2011 Interview 03: Sarah Bachmann (1986), Primarschule O., 5./6. Klasse, KGF. Gespräch vom 25.10.2011 Interview 04: Leonie Fässler (1985), Primarschule P., 1./2.Klasse, KGF. Gespräch vom 10.1.2011 Interview 05: Hanspeter Stähli (1958), Primarschule M., 5./6 Klasse. Gespräch vom 9.12.2011 Interview 06: Rosanna Wagner (1966), Kindergärtnerin der Schule K. Gespräch vom 21.11.2011 Interview 07: Daniela Aerni (1976), Primarschule P., 3./4. Klasse. Gespräch vom 2.2.2012 Interview 08: Liliana Maggia (1958), Kindergärtnerin an der Schule K., KGF. Gespräch vom 17.11.2011 Interview 09: Christina Moser (1964), Primarschule P., 4. Kl., KGF. Gespräch vom 10.1.2012 Interview 10: Stefan Blaser (1979), Primarschule P., 5./6. Klasse. Gespräch vom 20.1.2012 Interview 11: Lisa Barandun (1958), Primarschule Kl., 1./2. Klasse. Gespräch vom 13.3.2012 Interview 12: Rahel Brown (1969), Primarschule M., KGF, 1./2. Klasse. Gespräch vom 22.1.2011
Soziologie Uwe Becker Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 216 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3056-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3056-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3056-5
Gabriele Winker Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart., 11,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3040-4 E-Book: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4
Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem (Hg.) Diskursforschung Ein interdisziplinäres Handbuch (2 Bde.) 2014, 1264 S., kart., 2 Bde. im Schuber, zahlr. Abb. 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2722-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2722-4
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Carlo Bordoni Interregnum Beyond Liquid Modernity März 2016, 136 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3515-7 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7
Kijan Espahangizi, Sabine Hess, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek, Simona Pagano, Mathias Rodatz, Vassilis S. Tsianos (Hg.)
movements. Journal für kritische Migrationsund Grenzregimeforschung Jg. 2, Heft 1/2016: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 272 S., kart. 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3570-6 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich: www.movements-journal.org
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